Schopenhauer und Goethe: Biographische und philosophische Perspektiven 9783787330096, 9783787330089

Schopenhauers Verhältnis zu Goethe hat seine eigene Dramaturgie: Von Bewunderung und gemeinsamen Diskussionen geprägt, f

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Schopenhauer und Goethe: Biographische und philosophische Perspektiven
 9783787330096, 9783787330089

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Daniel Schubbe, Søren R. Fauth (Hg.)

Schopenhauer und Goethe Biographische und philosophische Perspektiven

Meiner

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Dänischen Forschungs­rates für Kommunikation und Kultur.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3008-9 ISBN eBook: 978-3-7873-3009-6

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werk­ druck­papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Daniel Schubbe »Gegengewicht im Zeitgeist«. Schopenhauer, Goethe und die ­Polarität des Denkens: Zur Einleitung des Bandes . . . . . . . 11 I.  Biographische, werk- und kulturhistorische Aspekte

Robert Zimmer Baccalaureus und der Einzige. Schopenhauer und Goethe: Die Geschichte einer Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Thomas Regehly ›Licht aus dem Osten‹. Wechsellektüren im Zeichen des ­Westöstlichen Divans und anderer Werke Goethes und ­Schopenhauers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Rolf Selbmann Schräge Blicke. Schopenhauers indirekte Goethe-Bilder . . . . . 98 II.  Erkenntnis, Wissenschaft und Sprache

Brigitte Scheer Goethes und Schopenhauers Ansichten vom ­Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Sascha Dümig Lebendiges Wort? Schopenhauers und Goethes Anschauungen von ­Sprache im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Steffen W. Lange Goethe und Schopenhauer. Wissenschaftliche Erkenntnis durch Metapher, Ä ­ hnlichkeit und Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . 184

Alexander Roth Das Dynamische der Erkenntnis. Goethe, Schopenhauer und die Anfänge der L ­ ebensphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 III.  Naturphilosophie und Evolu­tionstheo­rie

Manja Kisner In der Anschauung liegt die Wahrheit. Eine Analyse von ­Schopenhauers Intellektualität der Anschauung in ihrem Bezug zu Goethes Naturlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Jens Lemanski Die ›Evolu­tionstheo­rien‹ Goethes und ­Schopenhauers. Eine kritische Aufarbeitung des wissenschafts­geschichtlichen ­Forschungsstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 IV.  Ästhetik, Literatur und Musik

Barbara Neymeyr Das »Labyrinth des Lebens« im Spiegel der Literatur. Zur exemplarischen Funktion der Faust-Tragödie und anderer Werke Goethes in Schopenhauers Ästhetik und Willensmetaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Helmut Schanze »Sie steht ganz abgesondert von allen andern«. Musik und die ›Schönen Künste‹ bei Goethe und ­Schopenhauer . . . . . . . . 336 V. Farbenlehre

Niklas Sommer Der physiologische Idealismus. Die Apologie der Farbenlehre . 351 Theda Rehbock Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre verstanden? . . . . . . . 371

6  |  Inhalt

VI.  Ethik und Moral

Heinz Gerd Ingenkamp Goethe und Schopenhauer zu Moral und Ethik . . . . . . . . . . . . 409 Søren R. Fauth, Børge Kristiansen Zum Verhältnis von Goethes »Urworte. Orphisch« und ­Schopenhauers Charakterologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Zitierweise der Werke Schopenhauers und Goethes . . . . . . . . . . 475 Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484

Inhalt  |  7

Vorwort

 D

er vorliegende Band geht auf die Tagung ›Schopenhauer und Goeth­e‹ zurück, die vom 4. bis 6. September 2014 im GoetheNatio­nal­museum in Weimar stattfand. Die Tagung wurde von ­Søren R. Fauth und Daniel Schubbe unter Beteiligung der Goethe-Gesellschaft in Weimar und der Schopenhauer-Gesellschaft organisiert. Den Erfolg der Tagung verdanken wir auch vielen Helferinnen und Helfern. Unser herzlicher Dank gilt Lore Hühn, Martina Koni­czek, Petra Oberhauser, Judith Werntgen-Schmidt, Jochen Golz, Matthias Koßler und Thomas Regehly. Die vielen Diskussionen auf der Tagung haben gezeigt, dass das biographische und thematische Verhältnis zwischen Schopenhauer und Goethe vielschichtig ist und es neben den erfolgten auch viele ›verpasste Gespräche‹ zwischen beiden gibt, die wichtige Anknüpfungspunkte für ein besseres Verständnis dieser Denker und ihrer ideengeschichtlichen Rolle bieten. Daher haben wir uns entschieden, die auf der Tagung gehaltenen Vorträge systematisch zu ergänzen. Unsere weiteren Einladungen haben dankenswerterweise Heinz Gerd Ingenkamp, Barbara Neymeyr, Thomas Regehly, Brigitte Scheer und Robert Zimmer angenommen. Auch der Beitrag von Søren R. Fauth und Børge Kristiansen wurde zusätzlich aufgenommen. Allen Autorinnen und Autoren danken wir herzlich für ihre Mühe und ihr Engagement. Ein besonderer Dank gilt auch ­Peter Wasmus. Er hat mit großer Akribie und beeindruckendem Elan an der Korrektur der Beiträge mitgewirkt. Für die Finanzierung der Tagung danken wir der FernUniversität in Hagen und dem Dänischen Forschungsrat für Kommunikation und Kultur, der auch den Druck dieses Bandes unterstützt hat. Zudem danken wir dem Meiner Verlag für das Interesse an dem Band und Marcel Simon-Gadhof für das engagierte Lektorat. Århus und Münster im Juni 2016

Søren R. Fauth Daniel Schubbe

Daniel Schubbe

»Gegengewicht im Zeitgeist« Schopenhauer, Goethe und die Polarität des Denkens: Zur Einleitung des Bandes 1. Denken im Zeichen von Anschauung, Standpunktwechsel und Polarität Schopenhauer wäre nicht Schopenhauer, wenn sein Umgang mit der lange auf sich warten lassenden Wertschätzung seines Werkes durch die Zeitgenossen seine Spitze in einer resignierten Selbstkritik gefunden hätte. Stattdessen reagiert er mit einem gesteigerten Selbstbewusstsein, das ihn der Zeitgenossenschaft enthebt – die Nicht­ beachtung wird durch das Unvermögen der anderen verwunden: Nur dürfen meine Zeitgenossen nicht glauben, daß ich jetzt für sie arbeite: wir haben nichts miteinander zu thun; wir kennen einander nicht; wir gehen fremd aneinander vorüber. – Ich schreibe für die Einzelnen, mir Gleichen, die hie und da im Lauf der Zeit leben und denken, nur durch die zurückgelaßnen Werke mit einander kommuniziren, und dadurch Einer der Trost des Andern sind.1

Sosehr er sich aber auch im überzeitlichen Gespräch mit den Großen der Ideengeschichte sieht, es gibt die wenigen zeitgenössischen Gesprächspartner, deren Umgang Schopenhauer sich wert ist – Goethe gehört zu diesen: Mein ganzes Leben hindurch habe ich mich schrecklich einsam gefühlt und stets aus tiefer Brust geseufzt: »Jetzt gieb mir einen Menschen!« Vergebens. […] nichts als elende Wichte, von beschränktem Kopf, schlechtem Herzen, niedrigem Sinn habe ich gefunden; Goethe, Fernow, allenfalls F. A. Wolf und wenige Andere ausgenommen […].2

1 HN 2 HN

IV (1), S. 150. IV (2), S. 117.   |  11

So schreibt Schopenhauer noch um 1831, zu einer Zeit, als beide schon weit aus dem »Gesichte«3 des anderen verschwunden sind. Die gemeinsamen Gespräche zwischen Goethe und Schopenhauer haben sich indessen eher zu einer verpassten Gelegenheit ent­wickelt, wenn auch eine, die Schopenhauer in seinem Lebenslauf »zu den erfreulichsten und glücklichsten Ereignissen meines Lebens«4 zählt. Manchmal stehen einer Begegnung nicht nur Umstände oder Charaktere entgegen, sondern auch Themen, die sich derart in den Mittelpunkt schieben, dass anderes in den Hintergrund tritt. Obgleich »die Unterhaltung keineswegs auf Fragen, welche die Farbenlehre betrafen, beschränkt [blieb], sondern unsere Gespräche […] auf alle möglichen philosophischen Gegenstände gelenkt«5 wurden, war es bei Goethe und Schopenhauer die Farbenlehre, die ein intensives Arbeiten ermöglichte, aber eben auch verunmöglichte, gleichsam überschattete und eine regelrechte Entzweiung zur Folge hatte: In der Auseinandersetzung über die Farbenlehre war der Keim der Trennung angelegt, wenn vielleicht für Goethe zwingender als für Schopenhauer, dessen werben um Anerkennung ja bekanntlich noch eine Weile andauerte und schließlich eher deprimiert endete. Die Farbenlehre ist es schließlich auch, die in der Forschung das Interesse am Thema ›Schopenhauer und Goethe‹ dominiert. In systematischer Hinsicht greift der Blick auf die Farbenlehre jedoch zu kurz. Goethe ist in Schopenhauers Werk vielfach präsent, eben nicht nur in Bezug auf die Farbenlehre. Dabei ist es aber mehr als fraglich, welche Rolle Goethe für Schopenhauers Philosophie spielt. Schopenhauer zitiert ihn häufig, nimmt häufig auf ihn Bezug, aber dennoch scheint Goethe – anders als beispielsweise Kant – keine klare Rolle in der Entwicklung und Ausgestaltung der Schopenhauer’schen Philosophie zu haben. Goethe kommt in der Reihe derer, die SchoTag- und Jahres-Hefte, WA I/36, S. 112: »Dr. Schopenhauer trat als wohlwollender Freund an meine Seite. Wir verhandelten manches übereinstimmend mit einander, doch ließ sich zuletzt eine gewisse Scheidung nicht vermeiden, wie wenn zwei Freunde, die bisher mit einander gegangen, sich die Hand geben, der eine jedoch nach Norden, der andere nach Süden will, da sie denn sehr schnell einander aus dem Gesichte kommen.« 4 BmG, S. 57. 5 Ebd., S. 58. Zur Vielfältigkeit der Bezüge zwischen Schopenhauer und Goethe vgl. auch Arthur Hübscher: Denker gegen den Strom, Kap. 3. 3 Goethe:

12  |  Daniel Schubbe 

penhauer als Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis seines Werks aufführt (so die »Hauptschriften Kant’s«, die »Schule des göttlichen Platon« und die »Wohlthat der Veda’s«6) nicht vor. Es überrascht daher nicht, dass die Schopenhauer-Forschung Goethe, wenn auch nicht übersehen, so doch stiefmütterlich behandelt hat; allerdings hat diese Nicht-Beachtung Tendenzen verstärkt, die daran gewöhnt haben, Schopenhauers Philosophie allzu sehr durch die Brille der Genannten zu lesen, und damit schließlich zu nicht unbeachtlichen Einseitigkeiten und Schattenseiten im Verständnis der Philosophie Schopenhauers geführt haben. Wie dem auch sei, es ist nicht zu übersehen, dass Goethe für Schopenhauer eine geradezu epochale Rolle spielt. Schon 1810 schreibt er: Wäre nicht mit Kant zu gleicher Zeit Goethe der Welt gesandt, gleichsam um ihm das Gegengewicht im Zeitgeist zu halten, so hätte jener auf manchem strebenden Gemüt wie ein Alp gelegen und es unter großer Qual niedergedrückt, jetzt aber wirken beide aus entgegengesetzten Richtungen unendlich wohlthätig und werden den deutschen Geist vielleicht zu einer Höhe heben, die selbst das Alterthum übersteigt.7

Diese Textstelle gibt einen Hinweis auf die Bedeutung Goethes in Schopenhauers Denken. Nach Schopenhauer hebt Goethe aus entgegengesetzter Richtung eine Einseitigkeit auf, die durch Kant gegeben ist. Doch was soll Goethe kompensieren? Ein paar Zeilen vorher heißt es: »Es ist vielleicht der beste Ausdruck für Kants Mängel, wenn man sagt: er hat die Kontemplation nicht gekannt.«8 Dieser Ausdruck aus dem Jahr 1810 sollte nicht vorschnell von den bekannten Ausführungen und Bestimmungen der Kontemplation in Die Welt als Wille und Vorstellung aus gelesen werden; vieles ist zu dieser Zeit noch im Entstehen begriffen. Doch zeigt der Verweis, dass Schopenhauer auf der Suche nach Erkenntnisformen ist, die das transzendental-analytische Instrumentarium erweitern. In diesem Zusammenhang experimentiert er schließlich mit verschiedenen Begriffen wie beispielsweise dem ›besseren Bewusstsein‹ (als 6 W

I (Lü), S. 10 f. I, S. 13. 8 Ebd. 7 HN

»Gegengewicht im Zeitgeist«  |  13

Gegenbegriff zum ›empirischen Bewusstsein‹) oder dem ›wahren Kritizismus‹, der lehrt, dass »der Verstand die bedingte, das beßre Bewußtseyn aber (und nicht jener) die absolute Erkenntnißweise ist«.9 Schopenhauer arbeitet daran, eine Betrachtungsart zu gewinnen, die die von Kant vorgestellte Methode des Philosophierens übersteigt, ohne jedoch in schulmetaphysische Dogmatismen zurückzufallen.10 Auch Goethe scheint diese Einschätzung zu teilen. Am 17. Februar 1829 äußert er in Bezug auf die kantische Philosophie: Kant hat die Kritik der reinen Vernunft geschrieben, womit unendlich viel geschehen, aber der Kreis nicht abgeschlossen ist. Jetzt müßte ein Fähiger, ein Bedeutender, die Kritik der Sinne und des Menschenverstandes schreiben […].11

»Kontemplation«, »Kritik der Sinne« – diese Ausdrücke zeigen schon in die Richtung einer gemeinsamen Orientierung zwischen Goethe und Schopenhauer: die Betonung einer »verständigen Anschauung gegen die vom Zeitgeist favorisierte Vernunftreflexion«12 – wie es Rüdiger Safranski ausdrückt. Die Betonung der Anschauung hält Safranski somit auch für einen Aspekt, den Goethe bei der Lektüre von Schopenhauers Dissertation Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde angesprochen haben dürfte.13 Die Betonung der Anschauung ist für Schopenhauer schließlich auch methodologisch ein Abgrenzungskriterium gegenüber Kant: Daher ist ihm [Kant; D. S.] die Philosophie eine Wissenschaft aus Begriffen, mir eine Wissenschaft in Begriffe, aus der anschaulichen Erkenntniß, der alleinigen Quelle aller Evidenz, geschöpft und in allgemeine Begriffe gefaßt und fixirt.14   9 HN

II, S. 268. Friedhelm Decher: Das »bessre Bewußtsein«; Daniel Schubbe: Philosophie des Zwischen, S. 71–76. 11 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, 17. 2. 1829, FA II/12, S. 310 f. Vgl. zum Verhältnis von Goethe und Kant u. a. auch Werner Lam­ brecht: Anschauende und begriffliche Erkenntnis; Eckart Förster: Die 25 Jahre der Philosophie, S. 253 ff. 12 Rüdiger Safranski: Schopenhauer, S. 266. 13 Vgl. ebd.; s. auch den Beitrag von Manja Kisner in diesem Band. 14 W I (Lü), S. 577 (Hervorhebung im Original). 10 Vgl.

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Eine unmittelbare, intuitive Erkenntnis wird hier leitend, deren Erfassen Schopenhauer mit dem Kniff beschreibt, das lebhafteste Anschauen oder das tiefste Empfinden, wann die gute Stunde es herbeigeführt hat, plötzlich und im selben Moment mit der kältesten ab­strakten Reflexion zu übergießen und es dadurch erstarrt aufzubewahren. Also ein hoher Grad von Besonnenheit.15

Auch Goethe, der es ebenfalls durchaus kennt, die »Phänomene zu erhaschen«,16 sieht seine Methode treffend gekennzeichnet, wenn das anschauliche Moment betont wird: Herr Dr. Heinroth in seiner Anthropologie […] spricht von meinem Wesen und Wirken günstig, ja er bezeichnet meine Verfahrungsart als eine eigenthümliche: daß nämlich mein Denkvermögen gegenständlich thätig sei, womit er aussprechen will: daß mein Denken sich von den Gegenständen nicht sondere; daß die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste durchdrungen werden; daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei; welchem Verfahren genannter Freund seinen Beifall nicht versagen will.17

Ob der Begriff der Anschauung aber von Goethe und Schopenhauer in gleichem Sinne verstanden wird, lässt sich indessen durchaus bezweifeln.18 Vielleicht ist es daher angemessener, die diesbezügliche Verbindung darin zu suchen, dass beide einem phänomenbasierten Ansatz folgen. So heißt es bei Schopenhauer: Man ist fast immer der Meinung gewesen die Aufgabe der Philosophie sey etwas tief Verborgenes zu finden das von der Welt verschieden und von ihr bedeckt und beschattet sei. […] Vielmehr ist es uns jetzt 15 HN

IV (1), S. 59. an F. H. Jacobi, 29. 12. 1794, WA IV/10, S. 219. 17 Goethe: Bedeutende Förderniß durch ein einziges geistreiches Wort, WA II/11, S. 58 (Hervorhebung D. S.). 18 Vgl. z. B. Robert Zimmer: Arthur Schopenhauer, S. 97 f.: »Dass er [Goethe; D. S.] sich ausgerechnet durch die Bedeutung des Begriffs ›Anschauung‹ in Arthurs Arbeit angezogen gefühlt hat, mag ein Missverständnis gewesen sein. Für Goethe bedeutete ›Anschauung‹, sich dem objektiven Reichtum der Welt zu öffnen. Für Schopenhauer bezeichnet sie die vom Verstand erzeugte, räumlich, zeitlich und kausal strukturierte ›Vorstellung‹, die Art also, wie die Welt uns durch unsere Anschauungsweise als Objekt ›erscheint‹.« 16 Goethe

»Gegengewicht im Zeitgeist«  |  15

offenbar daß die Welt nicht ein großes X für ein U ist, nicht ein großer Taschenspielerstreich, daß nicht etwas zu suchen sei das dahinter steckt; sondern daß der Karakter der Welt durchaus Ehrlichkeit ist, daß sie selbst das ist wofür sie sich giebt, und daß wir um alle Offenbarung zu erlangen nichts brauchen als zu merken auf das was vor uns ist und die Welt wohl ins Auge zu fassen.19

Goethe formuliert pointiert: »Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre.«20 Das Gespräch zwischen Schopenhauer und Goethe ist insofern auch von Bedeutung, als es eben – mit den bereits zitierten Worten Schopenhauers – als »Gegengewicht im Zeitgeist« zu lesen ist und damit auch einen Teil der methodologischen Diskussion um die Philosophie und Wissenschaften im 19. Jahrhundert bildet. Da die methodologischen Fragen sowie eine Analyse des Anschauungs­ begriffs in diesem Band vielfach zur Sprache kommen, möchte ich hier den Blick diesbezüglich erweitern, denn Schopenhauers Gegenüberstellung von Kant und Goethe zur Kompensation ihrer jeweiligen Einseitigkeit im oben angeführten Zitat eröffnet noch eine andere Perspektive: Die damit genannte, jeweilige Korrektur aus entgegengesetzter Richtung ist ihrerseits nämlich eine Denkfigur, die sich durch das Werk Schopenhauers wie ein roter Faden zieht. Explizit formuliert findet sich diese Figur beispielsweise im zweiten Band der Parerga und Paralipomena: Jedes angeblich voraussetzungslose Verfahren in der Philosophie ist Windbeutelei: denn immer muß man irgend etwas als gegeben ansehen, um davon auszugehn. Dies nämlich besagt das δος μοι που στῳ, welches die unumgängliche Bedingung jedes menschlichen Thuns, selbst des Philosophirens, ist; weil wir geistig so wenig, wie körperlich, im freien Aether schweben können. Ein solcher Ausgangspunkt des Philosophirens, ein solches einstweilen als gegeben Genommenes, muß aber nachmals wieder kompensirt und gerechtfertigt werden. […] Um nun also die hierin begangene Willkürlichkeit wieder auszugleichen und die Voraussetzung zu rektificiren, muß man nachher den Standpunkt wechseln, und auf den entgegengesetzten treten, von welchem aus man nun das Anfangs als gegeben Genommene, in 19 HN

I, S. 115 f. (Hervorhebung im Original). Maximen und Reflexionen, Nr. 488, HA 12, S. 432.

20 Goethe:

16  |  Daniel Schubbe 

einem ergänzenden Philosophem wieder ableitet: sic res accendunt lumina rebus.21

Dieser methodische Standpunktwechsel, den Volker Spierling als erster entschieden zur Grundlage einer Schopenhauer-Auslegung gemacht hat,22 ermöglicht es, die vielen gegenläufigen Tendenzen, ja oftmals geradezu widersprüchlichen Gedankenläufe in Schopenhauers Werk, die oft auch Stein des Anstoßes gewesen sind und zur Ablehnung geführt haben, auszuarbeiten und aufeinander zu beziehen.23 Schopenhauers Werk liegt insgesamt eine polare Struktur zu Grunde, die sich u. a. in den vier Büchern der Welt als Wille und Vorstellung in jeweils einer Beziehungsstruktur wiederspiegelt: Im ersten Buch ist dies die Korrelation zwischen Subjekt und Objekt, im zweiten die Analogie zwischen Leiberfahrung und Naturauslegung, im dritten die Kontemplation zwischen dem reinen Subjekt des Erkennens und der Idee, im vierten das Mitleid zwischen Mitleidendem und Leidendem. Die Methode des Standpunktwechsels führt innerhalb dieser polaren Struktur schließlich zu aporetischen Verstrickungen, die eine der Herausforderungen für eine angemessene Deutung des Schopenhauer’schen Werkes darstellen.24 Bei Goethe findet sich nun eine ähnliche Figur, denn auch er versteht ›Polarität‹ als entscheidendes Prinzip der Natur und Naturbetrachtung:25 Goethes Denken ist somit nicht nur für Schopenhauer der ›Standpunktwechsel‹ zu einer kantischen Form des 21 P

II (Lü), S. 39. z. B. Volker Spierling: Arthur Schopenhauer, S. 223–240. Eine Aufnahme und Ausgestaltung dieser ›Methode‹ zu einer ›Philosophie des Zwischen‹ findet sich in Daniel Schubbe: Philosophie des Zwischen. 23 Vgl. Volker Spierling: Arthur Schopenhauer, S. 223–240; Daniel Schubbe: Philosophie des Zwischen, Kap. 1 und 2. 24 Vgl. Jens Lemanski/Daniel Schubbe: Art. »Konzeptionelle Probleme und Interpretationsansätze der Welt als Wille und Vorstellung«, S. 41 f. 25 In einem Brief Goethes an Schweigger fällt sogar der Begriff »Welt­ anschauung«: »Seit unser vortrefflicher Kant mit dürren Worten sagt: es lasse sich keine Materie ohne Anziehen und Abstoßen denken, (das heißt doch wohl, nicht ohne Polarität,) bin ich sehr beruhigt, unter dieser Autorität meine Weltanschauung fortsetzen zu können, nach meinen frühesten Überzeugungen, an denen ich niemals irre geworden bin.« (Goethe an Schweigger, 25. 4. 1814, WA IV/24, S. 227.) 22 Vgl.

»Gegengewicht im Zeitgeist«  |  17

Denkens, sondern überhaupt ein Gesprächspartner für ein Denken in Spannungen. Goethe gibt dafür eine Liste: Dualität der Erscheinung als Gegensatz: / Wir und die Gegenstände, / Licht und Finsterniß, / Leib und Seele, / Zwei Seelen, / Geist und Materie, / Gott und die Welt, / Gedanke und Ausdehnung, / Ideales und Reales, / Sinnlichkeit und Vernunft, / Phantasie und Verstand. / Sein und Sehnsucht. / Zwei Körperhälften, / Rechts und links, / Atemholen. / Physische Erfahrung: / Magnet. / […]. Was in die Erscheinung tritt, muß sich trennen, um nur zu erscheinen. Das Getrennte sucht sich wieder, und es kann sich wieder finden und vereinigen; im niedern Sinne, indem es sich nur mit seinem Entgegengestellten vermischt, mit demselben zusammentritt, wobei die Erscheinung Null oder wenigstens gleichgültig wird. Die Vereinigung kann aber auch im höhern Sinne geschehen, indem das Getrennte sich zuerst steigert und durch die Verbindung der gesteigerten Seiten ein Drittes, Neues, Höheres, Unerwartetes hervorbringt.26

Das Thema ›Polarität‹ hat auch in den persönlichen Gesprächen Goethes und Schopenhauers über die Farbenlehre eine Rolle gespielt,27 wobei sich in diesem Punkt auch ein Konflikt zeigt, insofern dieser die Polarität auf die »Thätigkeit der Retina«28 bezieht und eine physiologische, nicht physische Begründung der Farben anstrebt.29 In diese Richtung scheint auch Schopenhauers Erstaunen über Goethes Realismus einzuschwenken: »Aber dieser Goethe […] war so ganz Realist, daß es ihm durchaus nicht zu Sinne wollte, daß die Objekte als solche nur da seien, insofern sie von dem erkennenden Subjekt vorgestellt werden.«30 Allerdings dürfte die Aufteilung der jeweiligen Positionen – hier Schopenhauer als Idealist, dort Goethe als Realist – selbst durchaus einigen (Selbst-)Miss26 Goethe:

[Polarität], WA II/11, S. 164 ff.

27 Vgl. die Briefe von Schopenhauer an Goethe vom 16. 9. 1815 (BmG, S. 13)

und 11. 11. 1815 (BmG, S. 19 f.). 28 F (Lü), S. 677. 29 Vgl. auch Arthur Hübscher: Denker gegen den Strom, S. 70; Ludger Lütke­ haus: Wer/Wen das Licht sieht …, S. 88: »Schopenhauers ›Polarität‹ erweist sich demgemäß als ausschließlich interne, subjektive Polarität, nicht als spannungsvolles, Steigerung ermöglichendes objektiv-subjektives Zusammenspiel von Empfindung und Empfundenem, Farbe und Auge, Licht und Finsternis.« 30 Gespr, S. 31 (Hervorhebung im Original). 18  |  Daniel Schubbe 

verständnissen geschuldet sein. Bei Schopenhauer zeigt sich dies beispielsweise darin, dass seine Philosophie im Sinne des Standpunktwechsels durchaus realistisch-materialistische ›Kompensationen‹ eines idealistischen Standpunktes kennt,31 bei Goethe darin, dass das Anschauen der Phänomene kein bloßes Registrieren eines Vorhandenen ist, sondern durchaus mit theo­retischen Konzepten verbunden ist: Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisiren.32

Dass sich in dieser Verbindung durchaus eine methodologische Herausforderung verbirgt, zeigt u. a. der kleine Disput Goethes mit Schiller in Bezug auf die Metamorphose der Pflanzen, den Goethe wie folgt schildert: Ich erwiderte darauf, daß […] es doch wohl noch eine andere Weise geben könne, die Natur nicht gesondert und vereinzelt vorzunehmen, sondern sie wirkend und lebendig, aus dem Ganzen in die Theile strebend darzustellen. Er [Schiller; D. S.] wünschte hierüber aufgeklärt 31 Vgl.

u. a. den ›Subjekt-Materie-Dialog‹ in W II (Lü), S. 27 ff.; Volker Spierling: Schopenhauers transzendentalidealistisches Selbstmißverständnis. 32 Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Theil, WA II/1, S. XII; vgl. auch Maximen und Reflexionen, Nr. 725, HA 12, S. 467: »Wir wissen von keiner Welt als im Bezug auf den Menschen […].«; und »Einwirkung der neuern Philosophie«, WA II/11, S. 48 f.: »Kants Kritik der reinen Vernunft war schon längst erschienen, sie lag aber völlig außerhalb meines Kreises. Ich wohnte jedoch manchem Gespräch darüber bei, und mit einiger Aufmerksamkeit konnte ich bemerken, daß die alte Hauptfrage sich erneure, wie viel unser Selbst und wie viel die Außenwelt zu unserm geistigen Dasein beitrage. Ich hatte beide niemals gesondert, und wenn ich nach meiner Weise über Gegenstände philosophirte, so that ich es mit unbewußter Naivetät und glaubte wirklich ich sähe meine Meinungen vor Augen. Sobald aber jener Streit zur Sprache kam, mochte ich mich gern auf diejenige Seite stellen welche dem Menschen am meisten Ehre macht, und gab allen Freunden vollkommen Beifall, die mit Kant behaupteten: wenn gleich alle unsere Erkenntniß mit der Erfahrung angehe, so entspringe sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung. Die Erkenntnisse a priori ließ ich mir auch gefallen, so wie die synthetischen Ur­ theile a priori: denn hatte ich doch in meinem ganzen Leben, dichtend und beobachtend, synthetisch, und dann wieder analytisch verfahren; die Systole und Diastole des menschlichen Geistes war mir, wie ein zweites Athemholen, niemals getrennt, immer pulsirend.« »Gegengewicht im Zeitgeist«  |  19

zu sein, verbarg aber seine Zweifel nicht; er konnte nicht eingestehen, daß ein solches, wie ich behauptete, schon aus der Erfahrung hervorgehe. Wir gelangten zu seinem Hause, das Gespräch lockte mich hinein; da trug ich die Metamorphose der Pflanzen lebhaft vor, und ließ, mit manchen charakteristischen Federstrichen, eine symbolische Pflanze vor seinen Augen entstehen. Er vernahm und schaute das alles mit großer Theilnahme, mit entschiedener Fassungskraft; als ich aber geendet, schüttelte er den Kopf und sagte: »Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.« Ich stutzte, verdrießlich einigermaßen; denn der Punct, der uns trennte, war dadurch auf’s strengste bezeichnet. Die Behauptung aus Anmuth und Würde fiel mir wieder ein, der alte Groll wollte sich regen; ich nahm mich aber zusammen und versetzte: »Das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe.«33

Dieser Disput um die Anschaulichkeit der Idee offenbart ein jeweils gänzlich anderes Verständnis von ›Idee‹ und führt zu Goethes ›Urphänomen‹, das eng mit seiner »Methodologie des intuitiven Verstandes«34 verbunden ist. An dieser Stelle schließt sich die Frage nach Schopenhauers Verständnis der Kontemplation für die Ideen­erkenntnis an, zumal die Idee bei ihm unter Rückgriff auf die Phantasie ebenfalls ›anschaulich‹-intuitiv erkannt wird, so dass sich scheinbar für Schopenhauer und Goethe sagen lässt, dass das in der wirklichen Welt gegebene und mit dem poetischen Sinn wahrgenommene gleichartige Individuelle, das sich unter keinen Allgemeinbegriff subsumieren und sich daher nicht begrifflich zusammenfassen läßt, denkend zusammenschauen [lässt] als demselben Typus angehörig, der sich in dem gleichartigen Mannigfaltigen ausprägt.35

Doch zurück zur Frage der Polarität. Es liegt die Frage auf der Hand, ob bei Schopenhauer die Polarität erkenntnistheo­retisch, bei Goethe hingegen ontologisch verstanden wird. Dies führte an dieser Stelle im Rahmen einer ›Einleitung‹ aber zu weit; abschließend soll 33 Goethe:

Glückliches Ereigniß, WA II/11, S. 17 f. Förster: Die 25 Jahre der Philosophie, S. 253 u. ö.; vgl. auch David E. Wellbery: Die goethische Methodologie des intuitiven Verstandes; s. auch den Beitrag von Manja Kisner in diesem Band. 35 Werner Lambrecht: Anschauende und begriffliche Erkenntnis, S. 76; s. auch den Beitrag von Brigitte Scheer in diesem Band. 34 Eckart

20  |  Daniel Schubbe 

vielmehr die Frage aufgegriffen werden, wie mit den gegenläufigen Standpunkten auf theo­retisch-systematischer Ebene umgegangen werden kann. In einem Brief an Schiller formuliert Goethe folgenden Gedanken: Weil die Natur von so unerschöpflicher und unergründlicher Art ist, daß man alle Gegensätze und Widersprüche von ihr prädizieren kann, ohne daß sie sich im mindesten dadurch rühren läßt, so haben die Forscher von jeher sich dieser Erlaubnis redlich bedient, und auf eine so scharfsinnige Art die Meinungen gegeneinander gestellt, daß die größte Verwirrung daraus entstand, welche nur durch eine allgemeine Übersicht des Prädikabeln zu heben ist.36

Die Frage nach der Vereinigung der unterschiedlichen Perspektiven ist bei Schopenhauer ebenfalls als Problem präsent: Dies ist der Kern der Frage nach dem einen Gedanken, den Schopenhauer angesichts der vielen Standpunktwechsel in Die Welt als Wille und Vorstellung zu denken vorgibt: »Was durch dasselbe [Werk; D. S.] mitgetheilt werden soll, ist ein einziger Gedanke.«37 So prononciert Schopenhauer diesen ›einen Gedanken‹ gleich im zweiten Satz der »Vorrede zur ersten Auflage« auch ins Spiel bringt, die Diskussion darüber, was dieser eine Gedanke sein könnte, ist durchaus offen und hat in der Schopenhauer-Forschung eine lange Tradition.38 Betont man aber die deskriptive Zusammenstellung der unterschiedlichen Perspektiven im Rahmen einer »vollständige[n] Wieder­holung, gleichsam Abspiegelung der Welt in ab­strakten Begriffen«,39 so zeigt sich Schopenhauers Denken nicht als eine transzendentalphilosophische Beschränkung der Reichweite unserer Erkenntnis im Sinne Kants, die schließlich durch eine eigensinnige Metaphysik des Willens überschritten wird, sondern vielmehr als eine Morphologie verschiedener Erkenntnisformen und Mensch-Welt-Beziehungen,40 die in dem einen Gedanken verbunden sind. Allerdings wird man hier Schopenhauers Verständnis von ›Morphologie‹ als naturwis36 Goethe

an Schiller, 17. 2. 1798, WA IV/13, S. 68 f. I (Lü), S. 7. 38 Vgl. einführend Jens Lemanski / Daniel Schubbe: Art. »Konzeptionelle Probleme und Interpretationsansätze der Welt als Wille und Vorstellung«, S. 36 f. 39 W I (Lü), S. 131. 40 Vgl. Daniel Schubbe: Formen der (Er-)Kenntnis, S. 361–364. 37 W

»Gegengewicht im Zeitgeist«  |  21

senschaftliche Teildisziplin, die auf Vorstellungen bezogene »verwandte Gestalten« aufzeigt, die »wenn bloß so betrachtet, gleich unverstandenen Hieroglyphen vor uns stehen«,41 erweitern müssen. Verknüpft man nicht wie Schopenhauer die morphologische Methode ausschließlich mit der korrelativen Sicht auf die Dinge nach Maßgabe des Satzes vom Grund, so wie sie im ersten Buch der Welt als Wille und Vorstellung entfaltet wird, dann bietet sich der Begriff als Kennzeichnung seiner Philosophie durchaus an: Den Beschreibungsebenen möglicher Mensch-Welt-Beziehungen (Korrelation, Analogie, Kontemplation, Mitleid) geht Schopenhauer schließlich ebenfalls in ihren Formen und gegenseitigen Beziehungen deskriptiv nach und betreibt so auf einer Metaebene eine morphologische Zusammenstellung einzelner Erkenntnis- und Erfahrungsdimen­ sio­nen. Der Goethe’schen Morphologie als Darstellung »Geprägte[r] Form die lebend sich entwickelt«42 stellt sich so eine philosophische Morphologie zur Seite.

2. Zu den Beiträgen des Bandes Das Verhältnis zwischen Schopenhauer und Goethe ist in der Forschung bislang nur ansatzweise systematisch diskutiert worden. Die hier versammelten Aufsätze, die nicht nur tatsächliche, sondern auch verpasste Gespräche aufzeigen, sollen einen Anfang bieten, dieses Desiderat erstmals aus verschiedenen Perspektiven aufzu­ arbei­ten. Dieser Zielsetzung entsprechend ist der Band in sechs Kapitel gegliedert: Das erste Kapitel beschäftigt sich mit biographischen und kulturhistorischen Aspekten. So verfolgt Robert Zimmer in seinem biographischen Beitrag die Beziehung zwischen Schopenhauer und Goethe über verschiedene Stationen hinweg: Von den persönlichen Begegnungen und wissenschaftlichen Gesprächen über die zunehmende Entzweiung bis hin zu Schopenhauers Einsatz um ein für sein Verständnis angemessenes Goethe-Denkmal. Thomas Regehly begibt sich auf die Spuren der »Wechsellektüren« Goethes und 41 W

I (Lü), S. 147. Urworte. Orphisch, WA I/3, S. 95.

42 Goethe:

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Schopenhauers. Er zeichnet damit nach, wie Schopenhauer und Goethe ihre Werke gegenseitig zur Kenntnis genommen haben. Dadurch entsteht ein vielschichtiges und kritisches Bild von Lektüren und Anknüpfungspunkten. Die Auseinandersetzung um das Goethe-Denkmal stellt Rolf Selbmann zusammen mit der Auseinandersetzung um die Farbenlehre in den Mittelpunkt seines Beitrags. Er deckt dabei über »schräge Blicke« (Selbst-)Missverständnisse und Verklärungen auf, die Schopenhauers Goethe-Bild ausmachen. Das zweite Kapitel thematisiert Fragen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheo­rie sowie der Sprachphilosophie. Brigitte Scheer erläutert das Wissenschaftsverständnis Goethes und Schopenhauers sowie die Art und Weise, wie Wissenschaft und Kunst bei beiden ineinander greifen. Dabei zeigt sie auch Anknüpfungspunkte der Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Wissenschaften auf. Schopenhauers und Goethes dezidierte Beschäftigung mit Sprache diskutiert Sascha Dümig. Sein Beitrag zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass er die Auffassungen Schopenhauers und Goethes mit Ansätzen beispielsweise von Noam Chomsky und Jerry Fodor vergleicht und dadurch die Aktualität Goethes und Schopenhauers kritisch aufzeigt. Steffen W. Lange konzentriert sich auf die wissenschaftstheo­retische Rolle von Ähnlichkeitsbeziehungen, Metaphern und Analogien bei Schopenhauer und Goethe. Er verdeutlicht so methodologische Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der konkreten wissenschaftlichen Arbeit der beiden Forscher. Dadurch wird es möglich, Schopenhauers und Goethes ›intuitives‹ Denken mit den Objektivitätsforderungen der Wissenschaften zu kontrastieren. Die ›dynamischen‹ Elemente in Schopenhauers und Goethes Erkenntnis- und Wissenschaftstheo­rie nimmt Alexander Roth zum Anlass, die beiden Denker mit Blick auf die Lebensphilosophie zu diskutieren. Aus der Sicht Hans-Georg Gadamers und Henri Bergsons zeigt sich bei Goethe und Schopenhauer eine erfahrungsfundierte Herangehensweise, die eine spezifische Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Verständnis von Rationalität ermöglicht. Das dritte Kapitel steht im Zeichen naturphilosophischer und evolu­tionstheo­retischer Fragestellungen. Manja Kisner zeigt in ihrem Beitrag, dass für Schopenhauers Philosophie und Goethes naturtheo­retische Studien die Rolle der Anschauung zentral ist. Der »Gegengewicht im Zeitgeist«  |  23

Anschauungsbegriff erlaubt es, die spezifischen Vorgehensweisen Goethes und Schopenhauers zu verdeutlichen, aufeinander zu beziehen, aber auch voneinander abzugrenzen. Jens Lemanski widmet sich hingegen der strittigen Frage nach einer Evolu­tionstheo­rie im Denken Schopenhauers und Goethes. Sein Beitrag bietet eine ausführliche Darstellung und kritische Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur. Die so erreichte Bilanz des Forschungsstandes dürfte für künftige Behandlungen des Themas unhintergehbar sein. Das vierte Kapitel versammelt Beiträge zur Ästhetik, Dichtung und Musik. Dass Schopenhauer häufig auf literarische Werke zurückgreift, um philosophische Thesen zu untermauern, verdeutlicht der Beitrag von Barbara Neymeyr. Sie zeigt das Panorama der Goethe-Bezüge im Denken Schopenhauers auf und veranschaulicht anhand zentraler Werke Goethes wie Faust, Torquato Tasso und einschlägiger Gedichte die methodologische Verknüpfung zwischen Philosophie und Literatur bei Schopenhauer. Helmut Schanze stellt die Musik in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Ausgehend von der herausgehobenen Stellung der Musik in Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung fragt Schanze nach Goethes Verhältnis zur Musik, insbesondere der Tonlehre, die dieser im Anschluss an seine Farbenlehre im Blick hatte. Es zeigt sich, dass Schopenhauer auch auf diesem Feld eine systematische »Überbietung« formuliert, die Anknüpfungspunkte ergibt. Das sechste Kapitel umfasst Beiträge über die wohl berühmteste Auseinandersetzung zwischen Schopenhauer und Goethe: die Farbenlehre. Unter Berücksichtigung wissenschafts- und erkennt­nis­ theo­retischer Auffassungen Goethes und Schopenhauers entfaltet Niklas Sommer die Auseinandersetzung um Goethes Farbenlehre und zeigt, in welchen Punkten die beiden Farbenlehrer schließlich voneinander abweichen mussten. Theda Rehbock verschärft die Auseinandersetzung um die Farbenlehre, insofern sie fragt, ob Schopenhauer Goethes Ausführungen überhaupt verstanden habe. Dies ermöglicht ihr, (Selbst-)Missverständnisse der beiden Denker zu entlarven und so einen neuen wissenschaftshistorischen Blick auf die Auseinandersetzung um die Farbenlehre zu gewinnen. Das siebte Kapitel schließt den Band mit Betrachtungen über Ethik und Moral bei Schopenhauer und Goethe ab. Heinz Gerd Ingenkamp vergleicht detailliert die Äußerungen Schopenhauers und 24  |  Daniel Schubbe 

Goethes über Moral und Ethik, indem er die Darstellungsarten, Erkenntnisquellen und Inhalte der diesbezüglichen Auffassungen beleuchtet. Dadurch zeichnet er ein differenziertes Bild der ethischen und moralischen Ansätze des Dichters und des Philosophen. Søren R. Fauth und Børge Kristiansen unternehmen eine wechselseitige Erläuterung von Schopenhauers Charakterlehre, die ein wichtiger Bestandteil seiner »Metaphysik der Sitten« ist, und Goethes Gedichtzyklus »Urworte. Orphisch«. Es zeigt sich, dass dieser Gedichtzyklus und die Überlegungen Schopenhauers zur Charakterlehre geeignet sind, zentrale Motive des jeweils anderen aufzunehmen und zu verdeutlichen, wodurch die gegenseitige Bezugnahme von Philosophie und Dichtung sich einmal mehr als sinnvoll erweist.

Bibliographie Decher, Friedhelm: Das »bessre Bewußtsein«. Zur Funktion eines Begriffs in der Genese der Schopenhauerschen Philosophie. In: SchopenhauerJahrbuch 77 (1996), S. 65–83. Förster, Eckart: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion. Frankfurt a. M. 2011. (= Philosophische Abhandlungen, Bd. 102) Hübscher, Arthur: Denker gegen den Strom. Schopenhauer: Gestern – Heute – Morgen. Bonn 31987. Lambrecht, Werner: Anschauende und begriffliche Erkenntnis. Eine vergleichende erkenntnistheo­retische Analyse der Denkweisen Goethes und Kants. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 10 (1956), S. 63–84. Lemanski, Jens / Schubbe, Daniel: Art. »Konzeptionelle Probleme und Interpretationsansätze der Welt als Wille und Vorstellung«. In: D ­ aniel Schubbe / Matthias Koßler (Hg.): Schopenhauer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2014, S. 36–43. Ludger Lütkehaus: Wer/Wen das Licht sieht … Die Taten und Leiden der Farbenlehrer. In: Arthur Schopenhauer: Der Briefwechsel mit Goethe und andere Dokumente zur Farbenlehre. Hg. von Ludger Lütkehaus. Zürich 1992, S. 79–104. Safranski, Rüdiger: Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 1990. Schubbe, Daniel: Philosophie des Zwischen. Hermeneutik und Aporetik bei Schopenhauer. Würzburg 2010. (= Beiträge zur Philosophie Schopenhauers, Bd. 9) »Gegengewicht im Zeitgeist«  |  25

– : Formen der (Er-)Kenntnis. Ein morphologischer Blick auf Schopenhauer. In: Günter Gödde / Michael B. Buchholz (Hg.): Der Besen, mit dem die Hexe fliegt. Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten. Bd. 1: Psychologie als Wissenschaft der Komplementarität. Gießen 2012, S. 359–387. Spierling, Volker: Schopenhauers transzendentalidealistisches Selbstmißverständnis. Prolegomena zu einer vergessenen Dialektik. München 1977. – : Arthur Schopenhauer. Eine Einführung in Leben und Werk. Leipzig 1998. Wellbery, David E.: Die goethische Methodologie des intuitiven Verstandes. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60 (2012), S. 1003–1010. Zimmer, Robert: Arthur Schopenhauer. Ein philosophischer Weltbürger. München 2010.

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I. Biographische, werk- und kulturhistorische Aspekte

Robert Zimmer

Baccalaureus und der Einzige Schopenhauer und Goethe: Die Geschichte einer Begegnung 1. Baccalaureus Schopenhauer? Nicht ganz zu Unrecht hat man jenen Baccalaureus, den Goethe im zweiten Akt des zweiten Teils des Faust auftreten lässt, mit dem jungen, frisch promovierten Dr. Schopenhauer in Verbindung gebracht,1 der sich im Herbst 1813 bei seiner Mutter in Weimar einquartierte: Auf die Bühne tritt der ehemalige »Lockenkopf« mit »Spitzenkragen«, ein bis zur Überheblichkeit selbstbewusster junger Mann, »[e]ntwachsen akademischen Ruten«,2 der das Haus seines alten Lehrers aufsucht und den Anspruch erhebt, mit der angeblich verrotteten Bildungswelt der älteren Generation aufzuräumen. Mit dem Satz: »Hat einer dreißig Jahr vorüber, / So ist er schon so gut wie tot«3 reiht er sich in eine ganze Tradition deutscher akademischer Jugendrevolten ein. Doch mehr noch: In dem rhetorisch pompös vorgetragenen Weltschöpferanspruch: »Dies ist der Jugend edelster Beruf! / Die Welt, sie war nicht, eh’ ich sie erschuf; / Die Sonne führt’ ich aus dem Meer herauf; / Mit mir begann der Mond des Wechsels Lauf«4 karikiert Goethe einen in Schopenhauers gerade fertig gestellter Dissertation Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde vertretenen erkenntnistheo­retischen Idealismus, nach der die von uns wahrgenommene Welt lediglich 1 Einer

der Ersten, der diese Verbindung herstellte, war Wilhelm Hertz: Die Baccalaureus-Szene in Goethes ›Faust‹. Erich Trunz zieht in seinem FaustKommentar die Verbindung zu den idealistischen Systemen von Fichte, Schelling und Schopenhauer (vgl. Goethe: Faust, S. 618). Auch Ludger Lütkehaus hat die ›Baccalaureus-Szene‹ als eines der Dokumente in die Ausgabe des Briefwechsels zwischen Schopenhauer und Goethe aufgenommen (vgl. BmG, S. 51 ff.). 2 Goethe: Faust, S. 206, V. 6724, 6731. 3 Ebd., S. 208, V. 6788. 4 Ebd., V. 6796.   |  29

›Vorstellung‹, also von den Erkenntnisvoraussetzungen des Subjekts abhängig ist. Hier werde, so Goethe in einem Brief an Schopenhauer mit dezenter Ironie, der Neigung Ausdruck verliehen, »die Welt aus dem Subject zu erbauen«5 – was dem Spinozisten Goethe durchaus suspekt bleiben musste. Auf die Grobheit seines Auftretens hingewiesen, reagiert der Baccalaureus mit der Aussage: »Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.«6 Die verbale, die Unverschämtheit streifende Direktheit des Bac­ca­ laureus findet bei dem frisch gebackenen Dr. Schopenhauer durchaus ihr Pendant. Auch der junge, mit blonden Locken ausgestattete Philosoph war wegen seines streitbaren Auftretens und seiner ungeschminkten Wortwahl gefürchtet. Autoritäten hatten in seinen Augen nur dann Bestand, wenn ihnen eine anerkennungswürdige geistige Leistung zugrunde lag. Kritik aus sozialen Rücksichten zurückzuhalten, war seine Sache nicht. Und noch in seinen späten Aphorismen zur Lebensweisheit bezeichnet er Höflichkeit, auch wenn er ihren gesellschaftlichen Wert anerkennt, als eine »falsche Münze«.7 Goethes etwas zwiespältige Erfahrung mit dem provozierend selbstbewusst auftretenden jungen Schopenhauer mag sich in manchem sehr wohl in der Karikatur des Baccalaureus spiegeln. Doch es bleibt eine Karikatur und hat mit dem Profil des jungen Philosophen, seiner Haltung zu Goethe und der Beziehung, die sich zwischen beiden entwickelte, nur begrenzte Ähnlichkeiten. Schopenhauers Sozialverhalten mag Anstoß erregt und Goethe zuweilen irritiert haben: Doch er blieb ein Leben lang ein Verehrer des großen Klassikers. Er empfand die Möglichkeit, von Goethe persönlich empfangen zu werden und mit ihm in Kontakt treten zu können, als Glück und außerordentlich große Ehre. Die Wertschätzung Goethes, der für ihn der »Einzige«8 blieb, hat er nie aufgegeben. Und weit davon entfernt, die Autorität des fast 40 Jahre Älteren, der der Generation seines Vaters angehörte, anfechten zu wollen, betrachtete er ihn immer als die »hohe Zierde unseres Jahrhunderts und der deutschen Nation […], dessen Namen alle Zeiten im Munde 5 Goethe

an Schopenhauer, 16. 11. 1815, BmG, S. 26. 6 Goethe: Faust, S. 208, V. 6771. 7 P II, S. 493. 8 Schopenhauer an Goethe, 11. 11. 1816, BmG, S. 22. 30  |  Robert Zimmer 

führen werden«.9 Schopenhauer und Goethe, der Baccalaureus und der Einzige: Es war eine durchaus komplexe Beziehung, in der sich gegenseitige Achtung und Wertschätzung mit Enttäuschung und Kritik mischten, ohne dass es jemals zum Bruch gekommen wäre.

2. Die Schopenhauers und Goethes in Weimar ab 1806 Dass Schopenhauer schon sehr früh in seinem Leben Goethe begegnen konnte, hing mit dem Umstand zusammen, dass sich beide Familien in Weimar auf engstem Raum zusammenfanden. Im April 1805 hatte sich der Vater Arthur Schopenhauers, Heinrich Floris Schopenhauer, aus dem Speicher seines Hamburger Wohnhauses gestürzt. Krankheit und Depression hatten den 58-jährigen erfolgreichen Kaufmann, der eine Frau, zwei Kinder und ein beträcht­ liches Vermögen hinterließ, in den Tod getrieben. Die Lebens­ umstände der Familie änderten sich nun radikal. Das Handelshaus wurde aus dem Register gelöscht, das Wohnhaus verkauft und das Vermögen zu je einem Drittel auf die Frau, Johanna Schopenhauer, und die beiden Kinder, Arthur und Adele Schopenhauer, aufgeteilt. Arthur Schopenhauer, damals 17 Jahre alt, hatte seinem Vater versprochen, eine kaufmännische Lehre abzuschließen und blieb zu diesem Zweck zunächst in Hamburg. Die Philosophie spielte zu diesem Zeitpunkt noch keine Rolle in seinem Leben, wohl aber der Wunsch, einmal aus dem Kaufmannsjoch befreit zu werden und ein akademisches Studium aufnehmen zu können. Die Mutter, Johanna Schopenhauer, 1766 geboren und knapp 20 Jahre jünger als ihr Mann, zog es dagegen aus Hamburg fort. Sie war eine kulturell hochgebildete Frau, die mehrere Sprachen beherrschte und dem geselligen Leben zugewandt war. Mit 38 Jahren ergriff sie die Chance zu einem Neuanfang in ihrem Leben. Ihr Ziel war eine gesellschaftlich und kulturell anregende Existenz, in der sie sich in Kreisen bewegen konnte, in denen nicht nur von Bilanzen und Geschäftsbeziehungen die Rede war und in denen auch ihre kreativen Leistungen als Frau gewürdigt wurden.

9

Ebd., S. 57. Baccalaureus und der Einzige  |  31

Ihr Blick fiel auf Weimar. Zwar weniger urban als Hamburg oder Danzig, ein eher beschauliches Landstädtchen, in dessen Straßen Misthaufen lagen und Schafherden durchzogen, war es doch der Wohnort Goethes und das Zentrum der damaligen Elite des deutschen Geisteslebens. Im Mai 1806 unternimmt Johanna in Begleitung von Felix Ratzky, der Liaison ihrer jüngeren Schwester Charlotte, eine Erkundungsreise Richtung Thüringen. In Weimar angekommen, knüpft sie erste Kontakte, so zu ihrem Danziger Landsmann und Autor Johannes Daniel Falk, der in persönlicher Verbindung zu Goethe steht. Auch mit Carl Ludwig Fernow, dem Kunstgelehrten und Italienkenner, wird sie bekannt. Er sollte zu einem der engsten Freunde der Familie werden. Johanna entschließt sich, eine Vierzimmerwohnung nahe dem Theater zu mieten. Sie kehrt Ende Mai nach Hamburg zurück und bereitet dort den Umzug vor. Am 28. September 1806 zieht Johanna Schopenhauer mit ihrer neunjährigen Tochter Adele in ihr neues Weimarer Domizil. Sie werden bis 1829 in Weimar wohnen. Für Johanna Schopenhauer wird es die fruchtbarste und erfolgreichste Periode in ihrem Leben werden. Doch auf kurze Sicht steht ihr eine äußerst schwierige Zeit bevor. Die napoleonischen Kriege haben Weimar wieder erreicht. Die Franzosen stehen vor der Stadt. Etwas mehr als zwei Wochen nach Johannas Umzug nach Weimar findet in nächster Nähe die Schlacht von Jena und Auerstädt statt, in der Preußen und mit ihm seine sächsischweimarischen Verbündeten vernichtend geschlagen werden. Für alle Bewohner Weimars bedeutete dies eine unmittelbare Gefahr für Leben und Eigentum. Seit September war preußisches Militär in Weimar einquartiert. Goethe hatte zunächst die politischen Wolken, die am Himmel aufzogen, ignoriert. Noch unter dem Eindruck des Todes Schillers stehend, zog er sich in die Arbeit zurück und widmete sich der Vollendung seiner Farbenlehre. Erst als nach der verlorenen Schlacht marodierende französische Soldaten durch Weimar ziehen, kann er sich den Ereignissen nicht mehr entziehen. Sie treffen ihn hart und unvorbereitet. Infanteristen mit gezücktem Bajonett dringen in sein Schlafzimmer ein.10 Goethe muss um Leben und Eigentum fürchten. Mit Glück, Geschick und dank Christianes beherztem Eingreifen gelingt es schließlich, die 10 Vgl.

Rüdiger Safranski: Goethe, S. 475.

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Soldaten wieder aus dem Haus zu drängen. Goethe war mit dem Schrecken davongekommen. Doch andere Häuser in Weimar brennen oder werden geplündert. Auch das Haus der Johanna Schopenhauer wird bedroht. Mit Klugheit und Tatkraft kann aber auch sie ihr Domizil retten. Zu Hilfe kommen ihr dabei ihre französischen Sprachkenntnisse, ihre gesellschaftliche Gewandtheit und ihr Mut, sich mit dem französischen Stadtkommandanten ins Benehmen zu setzen. Die Tatsache, dass sie darüber hinaus noch unermüdlich Hilfe für die notleidende Stadtbevölkerung organisiert, verschafft ihr schließlich die Anerkennung der Weimarer Eliten und das Eintrittsbillet in die höhere Weimarer Gesellschaft. Sie war schnell in Weimar angekommen und begann nun, eine eigene gesellschaftliche Rolle zu spielen. Unter allen sozialen Verbindungen, die nun entstanden oder sich vertieften, war die zu Goethe nicht nur die prominenteste, sondern auch die wichtigste. Auch für Goethe war einiges neu und anders geworden. Als Folge der für ihn traumatischen Kriegsereignisse hatte er beschlossen, seine privaten Verhältnisse dauerhaft zu ordnen. Er beschloss, Christiane Vulpius, die Mutter seines Sohnes August, zu ehelichen und sein Haus am Frauenplan mit allen damit verbundenen Rechten zu erwerben. Seine Eheschließung erfolgte ohne Zustimmung des Weimarer Hofes, der sich auch weiterhin weigerte, Christiane zu empfangen. Hier sah Johanna Schopenhauer, eine republikanisch gesinnte und aufgeklärte Patriziertochter ohne Standesdünkel, ihre Chance. Kurz vor der Schlacht von Jena und Auerstädt, am 12. Oktober 1806, hatte Goethe ihr zum ersten Mal seine Aufwartung gemacht. Unmittelbar nach seiner Heirat stellte er ihr seine Frau vor. »[I]ch dencke«, so schrieb sie an ihren Sohn, »wenn Göthe ihr seinen Namen giebt können wir ihr wohl eine Tasse Thee geben.«11 Goethe blieb zwei Stunden und war über den Empfang, den Johanna Schopenhauer Christiane bereitete, hoch erfreut. Es war eine kluge Aktion, die ihr das Wohlwollen Goethes für lange Zeit sicherte. Johanna Schopenhauer verstand es sehr schnell, sich einen etablierten Platz im Weimarer Kulturleben zu sichern. Sie nahm nun den polnischen Hofratstitel ihres verstorbenen Mannes an und begann 11

Johanna Schopenhauer an Arthur Schopenhauer, 24. 10. 1806, FB, S. 108. Baccalaureus und der Einzige  |  33

ab November 1806, in ihrer Wohnung regelmäßig ›Teeabende‹ für die Weimarer Gesellschaft zu geben. Jeden Donnerstag- und Sonntagabend wurde Konversation gemacht, vorgelesen oder Theater gespielt. Es gab Butterbrot und Tee. Es wird Johanna gelingen, einen der bedeutendsten Salons im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts zu führen, in dem nicht nur alles verkehrt, was im Weimarer Geistesleben Rang und Namen hat, sondern der auch prominente Besucher von außerhalb anzieht. Fernow, Wieland, Fürst Pückler, Zacharias Werner, Zelter – sie alle kommen. Doch der Mittelpunkt ihres Salons wird Goethe. Als regelmäßiger und höchst geschätzter Gast genießt er hier alle Freiheiten. Er liest oder spielt vor, treibt Konversation oder zieht sich auch zuweilen ins Nebenzimmer zurück, um sich künstlerisch zu betätigen. Schon Silvester 1806 ist Goethe als Mittelpunkt eines ausgewählten Zirkels bei Johanna zu Gast: »Göthe war auf sein Bestes«, schreibt sie ihrem Sohn, »und alle versichern mir seit vielen Jahren keinen ähnlichen Abend erlebt zu haben, auch war das alte Jahr schon seit zwey Stunden vorüber wie wir uns trennten.«12 Nicht zuletzt die Ereignisse um die französische Besetzung Weimars hatten die Familien Schopenhauer und Goethe zusammengeführt. Die Beziehung war bereits nach kurzer Zeit eng, vertraut und sollte über viele Jahre halten. Eine nicht unwesentliche Rolle in dieser langjährigen Beziehung sollte die kleine Adele spielen, die sich mit Ottilie von Pogwisch, der späteren Schwiegertochter Goethes, anfreundete. Die Lebensschicksale der beiden Mädchen glichen sich. Beide waren in Danzig geboren, fast gleichaltrig und mit ihren Müttern 1806 nach Weimar gekommen. Beide hatten früh den Vater verloren: die eine durch Tod, die andere durch die frühe Trennung der Eltern. Beide verkehrten beinahe täglich im Hause Goethe und nahmen diesen quasi als Ersatzvater an. Goethe durchlebte in diesen Jahren keine ganz einfache Zeit. Er stand zwar auf der Höhe seines Ruhms, sah sich aber als Zeuge einer Zeitenwende. Das alte Reich und mit ihm die alte gesellschaftliche Ordnung zerfiel unter dem Druck der napoleonischen Herrschaft. Für ihn selbst begann das Alter und eine Zeit der Abschiede. Schiller starb 1805, die Herzoginmutter Anna Amalia 1807 und die eigene 12 Johanna

Schopenhauer an Arthur Schopenhauer, 5. 1. 1807, ebd., S. 136.

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Mutter 1808. Nach der Regelung seiner privaten Verhältnisse wollte er nun auch keine Zeit mehr verlieren, seine wichtigen literarischen Projekte zu vollenden. Er gab bisher unveröffentlichte Manuskripte in den Druck und begab sich endlich daran, den ersten Teil des Faust fertigzustellen, der 1808 erschien. Parallel zur Farbenlehre arbeitet er an dem aus Wilhelm Meisters Wanderjahre ausgegliederten Projekt der Wahlverwandtschaften. Der Roman erscheint 1809, die Farbenlehre geht ein Jahr später in den Druck. 1807 eröffnete Johanna Schopenhauer, nachdem sie sich mit Fernow beraten hatte, ihrem Sohn Arthur die Möglichkeit, Hamburg zu verlassen, die Kaufmannslehre abzubrechen und sich einem akademischen Studium zu widmen. Dazu musste zunächst das Abitur nachgeholt werden. Johanna wählt für ihren Sohn das Gymnasium in Gotha. Arthur Schopenhauer verlässt im Mai 1807 Hamburg. Er holt den fehlenden Bildungsstoff schnell nach, doch er gerät immer wieder in Konflikte mit Autoritäten. Bereits nach fünf Monaten muss er die Schule wieder verlassen. Er hat ein Spottgedicht auf einen Lehrer verfasst, das in die Öffentlichkeit gelangt war. Auf Vermittlung der Mutter erhält er nun in Weimar Privatunterricht. Johanna mietet für Arthur eine eigene Wohnung in Weimar, da sie in ihrem Haus soziale Unstimmigkeiten mit ihrem Sohn befürchtet, dessen schroffe und rechthaberische Verhaltensweisen ihr wohl vertraut sind. Auch wusste sie, dass der Sohn ihr vorwarf, seinen Vater vor dessen Tod vernachlässigt zu haben und mit seinem Erbe fahrlässig umzugehen. Sie teilt ihm ihre Bedenken ganz offen mit: »Ich habe Dir immer gesagt es wäre sehr schwer mit Dir zu leben, und je näher ich Dich betrachte je mehr scheint diese Schwierigkeit für mich wenigstens zuzunehmen«.13 Arthurs Anwesenheit in ihrem Haus ist auf die Mittagszeit und die Gesellschaftsabende beschränkt. An diesen Abenden im Hause seiner Mutter trifft der junge, knapp 20-jährige Arthur Schopenhauer zum ersten Mal auf Goethe, für den er die höchste Verehrung hegt. Doch ein persönlicher Kontakt kommt in den zwei Jahren, die er zunächst in Weimar verbringt, nicht zustande. Der junge Mann steht auf den Gesellschaf13 Johanna

S. 198 f.

Schopenhauer an Arthur Schopenhauer, 13. 12. 1807, ebd.,

Baccalaureus und der Einzige  |  35

ten seiner Mutter meist mürrisch und schweigend in der Ecke oder zieht sich auf sein Zimmer zurück. Er ist nicht gesellig. Die Kunst, sich gefällig zu machen, Konversation zu pflegen und auf Menschen zuzugehen, beherrscht er nicht. Wenn er gehofft hatte, dass Goethe auf ihn zugehen würde, sah er sich getäuscht. Dieser mag den etwas knorrigen Charakter des jungen Mannes gespürt haben. Er spricht ihn jedenfalls nicht an. Man sieht sich zuweilen, doch ein Kontakt entsteht nicht. Als Goethe im September 1808 von Napoleon zum Fürstentag nach Erfurt eingeladen wird, reist er nicht in Gesellschaft des jungen Arthur Schopenhauer, der sich ebenfalls dorthin begibt. Arthur reist gemeinsam mit Johannes Daniel Falk. Goethe und Schopenhauer erleben das Ereignis auf völlig unterschiedliche Weise, was sich in ihrem Urteil über Napoleon widerspiegelt. Während Goethe, der das Kreuz der Ehrenlegion erhalten wird, geschmeichelt ist und von Napoleon als »mein Kaiser« spricht, empfindet Schopenhauer das Auftreten der deutschen Fürsten als unterwürfig und entwürdigend und nennt Napoleon einen »Völkerunterdrücker«. Auch als Arthur im Sommer 1809 Goethe zusammen mit seiner Mutter in Jena besucht, scheint der Kontakt nicht über Formalitäten hinausgegangen zu sein. Goethe hält den Besuch im Tagebuch fest, erwähnt den jungen Schopenhauer aber nicht. Im Sommer 1809 legt Arthur Schopenhauer sein Abitur als Externer ab. Johanna wünscht, dass ihr Sohn ein Studium aufnimmt, das ihm den Lebensunterhalt sichern kann. Sie bittet Goethe um ein Empfehlungsschreiben für ihren Sohn, der sich an der Universität Göttingen immatrikulieren will. Goethe erklärt sich bereit, eine lauwarme Empfehlung an den Göttinger Professor Georg Sartorius zu schreiben, in der er darum bittet, den jungen Mann »gütig auf[zu] nehmen«,14 um dann aber etwas reserviert hinzuzufügen: »Uebrigens muß ich ihm selbst überlassen, inwiefern er Ihr Wohlwollen verdienen […] kann.«15 In die engen Familienbeziehungen zwischen den Schopenhauers und Goethe wird Arthur Schopenhauer aber noch nicht einbezogen.

14 Goethe 15 Ebd.

an G. Sartorius, 3. 10. 1809, WA IV/51, S. 262.

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In Göttingen studiert Arthur Schopenhauer mit Beginn des Wintersemesters 1809/1810 zunächst vier Semester lang Medizin und Naturwissenschaften. Aber er entdeckt dort auch, maßgeblich inspiriert durch Gottlob Ernst Schulze, die Philosophie, die er von 1811 an auch offiziell zu seinem Hauptfach erwählt. Um Fichte zu hören, wechselt er im gleichen Jahr auf die junge Berliner Universität. Als im Frühjahr 1813 die politischen Wirren um den Rückzug Napoleons und die Mobilmachung in Preußen einen ordnungsgemäßen Lehrbetrieb an der Berliner Universität im Sommersemester 1813 unmöglich machen, zieht er sich ins thüringische Rudolstadt zurück. Dort, im Gasthaus »Zum Ritter«, verfasst er innerhalb weniger Monate seine Doktorarbeit Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Im Oktober 1813 wird er von der Universität Jena in absentia mit magna cum laude promoviert. Seine Dissertation lässt er in der Rudolstädter ›Hof-Buch und Kunsthandlung‹ drucken. Ein Exemplar schickt er sofort an Goethe in Weimar. Er hat sein Gesellenstück abgeliefert und seine philosophische Grundrichtung im Sinne des erkenntnistheo­retischen Idealismus gefunden: Die Welt ist Vorstellung, dem Satz vom Grunde unterworfen. Was sie in Wahrheit, jenseits der Welt der Vorstellung ist, wird ihn als Projekt die nächsten Jahre beschäftigen. Er ist nun 25 Jahre alt und voller Selbstbewusstsein. Ein Schüler ist er nicht mehr und will auch keiner mehr sein. Er lebt jetzt schon im Bewusstsein, ein bedeutender Philosoph zu werden. Mit diesem Bewusstsein kehrt er am 5. November 1813 ins Haus seiner Mutter nach Weimar zurück. Rudolstadt war kein Zufluchtsort mehr: Die kriegerischen Auseinandersetzungen hatten sich zunehmend auch dort bemerkbar gemacht. Der Auftritt des Baccalaureus steht bevor.

3. Die persönlichen Begegnungen Schopenhauers mit ­Goethe 1813 –1814 Arthur Schopenhauer kehrt in den ersten Novembertagen 1813 nach Weimar zurück und wird dort ein halbes Jahr, bis Mai 1814 bleiben. Diesmal hat ihn die Mutter ausdrücklich eingeladen, in ihrem Haus zu wohnen – eine Entscheidung, die sich rächen sollte. Es werden Monate unangenehmer familiärer Zerwürfnisse, die Baccalaureus und der Einzige  |  37

Schopenhauer im Rückblick aber dennoch zu den kostbarsten seines Lebens rechnen wird. Der Grund dafür sind die persönlichen Begegnungen mit Goethe, die nun endlich zustande kommen. Als er einige Jahre später dem Habilitationsgesuch an die Berliner Universität einen Lebenslauf anfügt, versäumt er es nicht, auf diese für ihn, im Winter 1813/14 beginnende, hoch bedeutende Zeit hinzuweisen: Mit hereinbrechendem Winter, der mir in meinem ländlich abgele­ genen Zufluchtsort, welcher zudem damals Militär hatte, gar zu trau­ rig erschien, wandte ich mich wieder nach Weimar, wo ich den ganzen Winter zubrachte. Damals aber, zum Troste in solchen Leiden, ward mir zu Teil, was ich zu den erfreulichsten und glücklichsten Ereignissen meines Lebens zähle: denn jene in Wahrheit hohe Zierde unseres Jahrhunderts und der deutschen Nation, der große Goethe, dessen Namen alle Zeiten im Munde führen werden, würdigte mich seiner Freundschaft und seines vertrauten Umgangs. Bis dahin nämlich war ich ihm bloß von Ansehen bekannt und pflegte er mich nicht anzureden; nachdem er aber in meiner Abhandlung geblättert hatte, kam er aus eignem Antriebe mir entgegen und fragte ob ich seine Farbenlehre studieren wolle […]. Aus diesem vertrauten Umgange habe ich überaus großen, unglaublichen Nutzen gezogen.16

In der Tat hatte Goethe sich bereits Anfang November 1813 mit Schopenhauers Dissertation beschäftigt. Die wichtige Rolle, die dieser der Anschauung, vor allem im Zusammenhang mit den ›Seinsgründen‹ zumisst, hatte Goethe, für den Anschaulichkeit die Basis seiner Welterfahrung war, aufmerksam gemacht. In den Augen Goethes war der junge, vorher wenig beachtete Schopenhauer nun ein interessanter philosophischer Kopf, den man für die eigene Sache gewinnen konnte. Die Sache, die ihm am Herzen lag, war die Farbenlehre. Der nun 64-jährige Goethe, der in jenen Jahren an seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit arbeitete, sah sich in einer Zeit, in der die nationalen und antinapoleonischen Gefühle hochschlugen und ihm seine napoleonfreundliche Haltung zum Vorwurf gemacht wurde, veranlasst, sein Leben und Werk vor sich und der Welt zu bilanzieren. Als Dichter eine nationale Institu­tion, war er in seinem 16 BmG,

S. 57 f. Die lateinische Urfassung ist abgedruckt in GBr, S. 53 f.

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Selbstverständnis ein mindestens genauso bedeutender Naturforscher, der die mechanistische Naturerklärung Newtons widerlegt habe. Auf diesem Gebiet hatte ihm aber die Welt die verdienten Lorbeeren versagt. Seine Farbenlehre war weitgehend unbeachtet geblieben oder als eine Art poetisierender Pseudowissenschaft aufgenommen worden. Goethe fühlte sich in höchstem Maße missverstanden: »Auf alles was ich als Poet geleistet habe«, äußerte er sich gegenüber Eckermann, »bilde ich mir gar nichts ein […]. Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der Einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zugute, und ich habe daher ein Bewußtsein der Superiorität über Viele«.17 Dass Goethe seine kühle und souveräne Distanz gegenüber Schopenhauer aufgab, weil er in der für ihn so wichtigen Sache der Farbenlehre Unterstützung brauchte, öffnete dem frisch promovierten Philosophen die Tür zu einer persönlichen Beziehung. So geschah nun das, was Schopenhauer immer erhofft hatte: Bereits kurz nach seiner Rückkehr nach Weimar im November kam Goethe bei einem der Gesellschaftsabende in Johannas Salon auf ihn zu und lobte ausdrücklich seine Dissertation. Noch im gleichen Monat lässt er den jungen Mann zu einer ersten Diskussion über die Farbenlehre in sein Haus bitten. Zahlreiche intensive Begegnungen sollten nun den Winter hindurch folgen. Schopenhauer war euphorisch. In einem Brief an den Altphilologen Friedrich August Wolf vom 24. November 1813, in dem er sich für seine plötzliche Abreise aus Berlin im Jahr zuvor entschuldigt, versäumt er nicht hinzuzufügen: »Ihr Freund, unser großer Göthe, befindet sich wohl, ist heiter, gesellig, günstig, freundlich: gepriesen sey sein Name in alle Ewigkeit!«18 Unser »großer Göthe«: Schopenhauer fühlte sich in den Kreis der Goethianer aufgenommen. Beide Seiten, so schien es, konnten von der Begegnung profitieren. Goethe hatte einen Proselyten gewonnen und Schopenhauer fühlte sich nicht nur in den Kreis derjenigen aufgenommen, die mit Goethe persönlich verkehrten, sondern sah sich auch in einer für Goethe wichtigen Sachfrage als Gesprächspartner geachtet. Seinem 17 Johann

Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, 19. 2. 1829, S. 320. an F. A. Wolf, 24. 11. 1813, GBr, S. 7.

18 Schopenhauer

Baccalaureus und der Einzige  |  39

Ego schmeichelte dies umso mehr, als seine Mutter der Titel der Dissertation Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde nur die abschätzige Bemerkung entlockte, dies sei wohl eher etwas für Apotheker. Auch in ihrer philosophischen Grundhaltung schienen sich Schopenhauer und Goethe nicht fern zu stehen: Beide hatten gerade eine intensive Spinoza-Lektüre hinter sich19 und schienen sich philosophisch auf gemeinsamem Boden zu bewegen. Doch schon von Anfang an war die Beziehung zwischen Goethe und Schopenhauer von einem Missverständnis geprägt. Sie betraf die Rolle und Autorität Schopenhauers in den Begegnungen und Diskussionen. Selbstredend sah sich Goethe gegenüber einem 39 Jahre Jüngeren nicht auf Augenhöhe, sondern in der Rolle des Meisters, der sich einen Lehrling heranziehen wollte. Dem trug Schopenhauer nur bedingt Rechnung. Seine Verehrung und Achtung für Goethe als Dichter und öffentliche Figur stand nie in Zweifel. So wahrt er in der sozialen Kommunikation den Abstand, den Alter, Stand und Funktion erfordern: »Ihre Excellenz, nehme ich mir die Freiheit zu fragen, ob ich wohl diesen Abend aufwarten dürfte«20 – so beginnt eines der ehrerbietig formulierten Billets, mit denen Schopenhauer im Winter 1813/14 eine Verabredung mit Goethe einleitete. Goethe, dem klar war, dass dem Kontakt mit Schopenhauer jede ›gesellige‹ Note fehlen und es sich mehr um eine ›Arbeitsbeziehung‹ handeln würde, hatte sich mündlich auserbeten, die Treffen nur auf seine ausdrückliche Einladung hin folgen zu lassen. Schopenhauer akzeptierte die sozialen Konventionen und seine Rolle als ›Eingeladener‹. Doch in theo­retischen Sachfragen gab es für Schopenhauer keine Subordination. Im Gegenteil: Goethes Einladung, mit ihm über die Farbenlehre zu diskutieren, wurde von ihm als Ritterschlag empfunden, der ihn berechtigte, mit dem großen Goethe von gleich zu gleich zu diskutieren. Wenn es um Theo­rie ging, sah sich Schopenhauer in seinem Element und durchaus auf Augenhöhe mit Goethe. Es war das überbordende Selbstbewusstsein des Baccalaureus, den keine Amtsautorität mehr beeindruckt. Hier gab es von Anfang an Konfliktpotential. 19 Vgl.

Arthur Hübscher: Denker gegen den Strom, S. 67. an Goethe, [13. 1. 1814], BmG, S. 9.

20 Schopenhauer

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Goethe ließ Schopenhauer Apparaturen und Instrumente zur Herstellung von Farberscheinungen schicken, doch die Treffen zwischen beiden fanden überwiegend in Goethes Haus am Frauenplan statt, wo Goethe seine Experimente vorführen und erläutern konnte. In den ersten Monaten kam es fast wöchentlich zu einer Zusammenkunft, in der über die Farbenlehre hinaus auch grundsätzliche philosophische Fragen angesprochen wurden. Goethe wollte dem jungen Mann das Rüstzeug mitgeben, mit dem dieser sachverständig für ihn in den öffentlichen Meinungskampf einsteigen sollte. Dem jungen Baccalaureus dagegen schien es, dass Goethes Farbenlehre zunächst noch einer philosophischen Grundreinigung unterzogen werden müsse. Schopenhauer, der auf dem Weg war, sein eigenes philosophisches System zu begründen, fühlte sich durch Goethes Farbenlehre kreativ herausgefordert. Diese schien ihm eine systematisierte Ansammlung von Beobachtungen und klugen Bemerkungen, die aber noch einer theo­retischen Fundierung bedurften. Auch ging man von unterschiedlichen erkenntnistheo­retischen Positionen aus. Schopenhauer konnte sich nicht mit dem Goethe’schen Realismus anfreunden, der von ›Taten des Lichts‹ sprach und die Farben aus einer objektiven Mischung von Licht und Dunkel entstehen ließ. Licht und Farben gehörten für Schopenhauer vielmehr in die den Erkenntnisvoraussetzungen des Subjekts eingepasste Welt der Vorstellungen. Es scheint sicher, dass Schopenhauer Goethe diesbezügliche Korrekturvorschläge machte und dieser miterleben musste, wie der Schüler zum Lehrer wurde. Dass Goethes zu Beginn des Jahres 1814 den später unter »Epigrammatisches« veröffentlichen Satz »Trüge gern noch länger des Lehrers Bürden, wenn Schüler nur nicht gleich Lehrer würden«21 notierte, zeigt sein Rollenverständnis, aber auch die Wirkung einer schleichenden Irritation auf seiner Seite, die sich noch verstärken sollte. Der Eindruck, den beide aus den monatelangen Treffen mitnahmen, war deshalb auch ganz unterschiedlich. Goethe spürte, dass der hoffnungsvolle Proselyt begonnen hatte, in eine ganz andere Richtung zu gehen und sich unüberbrückbare Differenzen aufgetan hatten. Schopenhauer dagegen war höchst dankbar für die ge21 Goethe:

Gedichte, S. 467. Baccalaureus und der Einzige  |  41

meinsam mit Goethe verbrachte Zeit und sah sich weiterhin auf der Goethe’schen Frontseite gegen Newton. Er war der Überzeugung, dass die von ihm vorgeschlagene erkenntnistheo­retische Fundierung der Farbenlehre, die das Licht als ›Taten des Auges‹ begriff, die Goethe’sche Position gegen Newton stärken und ihr mehr Gewicht verleihen würde. Für Schopenhauer gehörten deshalb die Begegnungen mit Goethe zu den Höhepunkten seines Lebens. Er wollte aber und konnte offenbar nicht begreifen, dass Goethe sich auf die philosophischen Einwände eines 38 Jahre Jüngeren nicht einlassen wollte, zumal nicht in einer Angelegenheit, in die er so viel Arbeit und Herzblut gesteckt hatte und von der er absolut überzeugt war. Schopenhauer hatte sich als gleichwertiger Gesprächspartner gesehen, was er, in Bezug auf die Farbenlehre, in den Augen Goethes nie war. Deshalb irritierte ihn auch die Kühle, die sich nun wieder in Goethes Verhalten ihm gegenüber zeigte. In einem Brief an Karl August Böttiger vom 24. April 1814, am Ende der Weimarer Zeit, wird zwischen den Zeilen die Enttäuschung spürbar, dass der ›große Goethe‹ dabei war, ihm seine Gunst wieder zu entziehen: Aus gar vielerlei Gründen ist Weimar nicht der rechte Ort für mich, am wenigsten im Sommer. Zwar hätte ich diesen Winter nirgends in der Welt lieber seyn mögen als hier, da der große Göthe mich seines näheren, mir unendlich lehrreichen Umgangs würdigte: aber theils bereist er im Sommer die Bäder, theils steht schon der große Abstand des Alters mir zu einer dauerhaften Verbindung mit ihm entgegen, theils endlich darf man wegen des Unbestandes mit welchem er bald diesen bald jenen auf eine Weile zu sich hinaufziehet, nicht auf ihn in seinen Plänen Rechnung machen. Mein beß’res und eigentliches Leben ist mein philosophisches Studium, dem ist alles übrige tief untergeordnet […].22

Es klang nach dem Ende der nicht ganz geglückten Begegnung zwischen dem Baccalaureus und seinem Meister. Es gab aber in der Tat mehrere Gründe, Weimar zu verlassen. Im Mai 1814 hatte sich Schopenhauer endgültig mit seiner Mutter überworfen. Mit deren Hausfreund, Müller von Gerstenbergk, hatte er über Monate einen zermürbenden häuslichen Kleinkrieg gepflegt. Der Mutter selbst 22 Schopenhauer

an K. A. Böttiger, 24. 4. 1814, GBr, S. 10.

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warf er in einer heftigen Szene Verrat am Vater und Verschwendung seines Vermögens vor. Zuletzt verkehrten beide nur noch schriftlich miteinander. Schließlich zog Johanna einen Schlussstrich: »Die Thüre die Du gestern nach dem Du Dich gegen Deine Mutter höchst ungeziemend betragen hattest so laut zuwarfst fiel auf immer zwischen mir und Dir«,23 schrieb sie ihm am 17. Mai. Im Mai verlässt Schopenhauer Weimar. Das Zerwürfnis mit der Mutter wurde nie bereinigt. Mit Goethe und dessen Farbenlehre jedoch hatte er nicht abgeschlossen. Schopenhauer war in Weimar als ein höchst selbstbewusster Jungakademiker aufgetreten, der seine Umwelt nicht mit Kritik verschonte; er hatte aber auch auf Anerkennung seiner Person und seiner Leistungen gehofft. Als er aus Weimar schied, war er mit der Welt nicht im Reinen. »Willst Du Dich Deines Wertes freuen, / So mußt der Welt Du Wert verleihen«24 gab Goethe ihm mit auf den Weg.

4. Briefverkehr und letzter Besuch: 1814 bis 1819 Schopenhauer zog nach Dresden, wo er die philosophisch produktivste Zeit seines Lebens verbrachte. Hier entstand sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung. Doch zuvor brachte er seine eigene Farbentheo­rie zu Papier, die von Goethe inspiriert war, aber doch in entscheidenden Punkten von ihr abwich. Innerhalb von wenigen Wochen entstand im Verlauf des Jahres 1815 die Schrift Ueber das Sehn und die Farben. Mit ihr glaubte Schopenhauer, der Goethe’schen Farbenlehre ein philosophisches Fundament gegeben und ihre Schwachstellen ausgeräumt zu haben. Zwar würdigte er Goethes ›systematische‹ Darstellung, doch nimmt er für sich in Anspruch, diese in den Rang einer Theo­rie gehoben zu haben, die es verdient, als Gegentheo­rie zu Newton angesehen zu werden. So enthalten die positiven Bemerkungen über Goethes Farbenlehre die bitteren Tropfen einer Herabstufung derselben unter das Theo­ rieniveau. Dies musste in Goethes Ohren wie ein vergiftetes Lob klingen: 23 Johanna Schopenhauer an Arthur Schopenhauer, [17. 4. 1814], FB, S. 220. 24 Später

aufgenommen in »Sprichwörtlich« (Goethe: Gedichte, S. 430). Baccalaureus und der Einzige  |  43

Wenn wir […] die Neutonische Irrlehre, von Goethe, theils durch den polemischen Theil seiner Schrift, theils durch die richtige Darstellung der Farbenphänomene jeder Art, welche Neuton’s Lehre verfälscht hatte, auch völlig widerlegt sehn; so wird doch dieser Sieg erst vollständig, wenn eine neue Theo­rie an die Stelle der alten tritt […]. Es sei ferne von mir, Goethes sehr durchdachtes und in jeder Hinsicht überaus verdienstliches Werk für ein bloßes Aggregat von Erfahrungen ausgeben zu wollen. Vielmehr ist es wirklich eine systematische Darstellung der Thatsachen: es bleibt jedoch bei diesen stehn.25

Schopenhauer sah sich in der Rolle desjenigen, der der Goethe’schen Sache den entscheidenden Sieg verschaffte, indem er Newtons Ansatz theo­retisch zum Einsturz gebracht habe. Deshalb glaubte er in aller Ernsthaftigkeit, er könne Goethe als Herausgeber für die Schrift gewinnen. Im Juli 1815 schickt er diesem mit einer entsprechenden Anfrage das Manuskript nebst Begleitbrief. Goethe empfängt das Manuskript in Wiesbaden, einer Station seiner Tour den Rhein abwärts. Er antwortet zunächst nicht. In den kommenden Monaten entwickelt sich nun ein Briefwechsel, der die ganze Komplexität der inzwischen entstandenen Situation widerspiegelt: Schopenhauer wirbt beharrlich, aber mit zunehmender Frustration, um die Anerkennung seiner philosophischen Leistung durch Goethe, während dieser seine eigene Abwendung von Schopenhauer hinter einer souveränen, nie unfreundlichen und zuweilen ironischen Distanz verbirgt, die dessen Ansinnen ins Leere laufen lässt. Nachdem Goethe noch nicht einmal den Empfang des Manuskripts bestätigt hatte, schreibt Schopenhauer am 3. September 1815 den ersten jener Briefe, in denen sich die Verehrung für Goethe mit gekränktem Selbstwertgefühl und trotziger Selbstbehauptung mischt: Es würde thörigt und vermessen seyn, wenn ich mir deshalb die leiseste Andeutung eines Vorwurfs gegen Ewr Excellenz erlauben wollte. Andrerseits jedoch hat mir die Gesinnung, aus der ich meine Schrift Ewr Excellenz übersandte, keineswegs die Verpflichtung auferlegt, mich jeder Bedingung zu unterwerfen, unter der allein Sie diese Schrift zu lesen und zu berücksichtigen geneigt seyn möchten. Ich 25

F, S. 3.

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weiß von Ihnen selbst, daß Ihnen das literarische Treiben stets Nebensache, das wirkliche Leben Hauptsache gewesen ist. Bei mir aber ist es umgekehrt: was ich denke, was ich schreibe, das hat für mich Werth und ist mir wichtig: was ich persönlich erfahre und was sich mit mir zuträgt, ist mir Nebensache, ja ist mein Spott.26

Das war stark. Der Ton streifte knapp an der Unverschämtheit vorbei und Goethe hätte an dieser Stelle den Kontakt mit kühler Verbindlichkeit beenden können. Es ist der erste von mehreren Briefen, in denen Schopenhauer die Balance zwischen Stolz, Gekränktheit und nie angezweifelter Wertschätzung Goethes zu halten versucht. Er wirft sein Selbstwertgefühl und seine Selbsteinschätzung als philosophischer Autor in die Waagschale und glaubt aufgrund seiner philosophischen Leistung Anspruch darauf haben zu können, dass Goethe sich mit ihm auf eine ernsthafte Auseinandersetzung einlässt – zumal in einer Angelegenheit, die für beide, Goethe und Schopenhauer, offenbar sehr wichtig war. Vier Tage später antwortet Goethe nun. Während in Schopenhauers Briefen die unterschwellige Frustration immer wieder zutage tritt, ist bei Goethe davon nichts zu spüren. Er ist offensichtlich nicht verstimmt. In einem gelassenen und beinahe heiteren Ton versucht er, der Sache die Schärfe zu nehmen, ohne sich auf ein Urteil einlassen zu müssen: Ihre freundliche Sendung, mein werthester, hat mich zu guter Stunde in Wiesbaden getroffen, so daß ich lesen, überdencken und mich an Ihrer Arbeit erfreuen konnte. Hätte ich ein schreibendes Wesen neben mir gehabt; so hätten Sie viel vernommen. […] So eben schon wieder den Fuß im Stegreife bitte ich nur sich kurze Zeit zu gedulden und mir das Werck biß ich nach Weimar komme zum Geleit zu lassen. Alsdann erfolgt es zurück mit Bemerckungen wie sie der Tag bringt und erlaubt.27

Schopenhauer hätte gewiss viel dafür gegeben, jenes ›schreibende Wesen‹ zu sein, dem es vergönnt gewesen wäre, viel zu ›vernehmen‹. Er konnte nicht wissen, dass in Goethes Leben die Auseinandersetzung mit dem jungen Doktor der Philosophie über die Farbenlehre völlig an den Rand gerückt und dessen Stimmung 26 Schopenhauer 27 Goethe

an Goethe, 3. 9. 1815, BmG, S. 10. an Schopenhauer, 7. 9. 1815, ebd., S. 11. Baccalaureus und der Einzige  |  45

davon auch kaum noch berührt wurde. Als Goethe Schopenhauers Brief im Frühsommer in Wiesbaden erhalten hatte, befand er sich, wie im Jahr zuvor, auf einer Rheinreise, deren Höhepunkt der mehr­wöchige Aufenthalt bei Johann Jakob von Willemer und dessen Pflegetochter Marianne auf der Gerbermühle nahe Frankfurt war. Goethe hatte sich in die junge Marianne verliebt und wurde hierdurch zu den Suleika-Gedichten seines West-östlichen Divans inspiriert. Er war in Hochstimmung und hatte anderes zu tun, als sich mit der trockenen Abhandlung des Baccalaureus zu beschäftigen. Erst am Ende seiner Reise raffte er sich zu jener kurzen, eher ausweichenden Nachricht auf. So vernahm Schopenhauer zunächst nichts und musste sich ungeduldig auf die Bemerkungen vertrösten, die Goethe angekündigt hatte: »Mit gesteigerter Erwartung«, schreibt er am 16. Septem­ber 1815, »sehe ich nunmehr den Bemerkungen über meinen Versuch entgegen, welche Sie aus Weimar mir mitzutheilen gütigst ver­hei­ ßen«.28 Gleichzeitig versäumt er es nicht, Goethe mit dem Ergebnis eines weiteren Versuchs zur Farbenlehre zu konfrontieren, aus dem hervorgeht, dass die Farbe keine Ursprungsfarbe, sondern eine Mischfarbe ist, was Goethe bestritten hatte. Dass der Takt es gerade in dieser Situation geboten hätte, den bestehenden Divergenzen nicht noch weitere hinzuzufügen, kam Schopenhauer, der sich, unabhängig von den Umständen, immer einer unbestechlichen Wahrheitssuche verschrieben hatte, nicht in den Sinn. Als Goethe sich schließlich mit einem Schreiben vom 23. Oktober 1815 auf eine ausführlichere Antwort einlässt, liefert er ein Meisterwerk der Diplomatie. Er würdigt Schopenhauer als »selbstdenkendes Individuum«, das sich »treu und redlich«29 mit dem Thema befasst habe und streift die strittigen Punkte, ohne den Hauch einer Kontroverse aufkommen zu lassen: Abstrahire ich nun von Ihrer Persönlichkeit und suche das was Ihnen gehört mir anzueignen, so finde ich sehr vieles was ich aus meinem bestimmten Gesichtspuncte gar gern gleichmäßig ausdrücke. Komme ich aber an das, wo Sie von mir differiren, so fühle ich nur allzu sehr, daß ich jenen Gegenständen dergestalt entfremdet bin und daß es mir 28 Schopenhauer 29 Goethe

an Goethe, 16. 9. 1815, ebd., S. 12. an Schopenhauer, 23. 10. 1815, ebd., S. 14.

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schwer ja unmöglich fällt, einen Widerspruch in mich aufzunehmen, denselben zu lösen, oder mich ihm zu bequemen. Ich darf daher an diese strittigen Punkte nicht rühren […].30

Eine Formulierung, die Schopenhauer nicht zu nahe tritt, sich aber auch nicht einlässt. Goethe will Schopenhauer zur weiteren Diskussion der Sachfragen an den Physiker Thomas Johann Seebeck delegieren, dem Mitentdecker der entoptischen Farben, mit dem er auf seiner Reise in Kontakt getreten war. Er wollte die leidige Diskussion mit Schopenhauer loswerden und war ohnehin nicht mehr in der Stimmung, nochmals näher in das Thema einzusteigen. Er wird diesbezüglich sogar ungewöhnlich explizit. Es erfordere, so Goethe, in seiner gegenwärtigen Lage »zu große Anstrengung, zu gewaltsamen Anlauf, mich wieder in die sonst so geliebte und betretene Region zu versetzen«.31 Es war dies der Wink mit dem Zaunpfahl, die Sache ad acta zu legen. Dazu war Schopenhauer aber unter keinen Umständen bereit. So wollte er sich nicht abspeisen lassen, nachdem er mit seiner Schrift, so seine Wahrnehmung, Goethe einen entscheidenden Dienst geleistet hatte. Mehr noch: Er sah sich nun herausgefordert, bei aller Verehrung, sein eigenes Selbstverständnis als bedeutender philosophischer Denker Goethe gegenüber herauszustellen. Der umfangreiche Brief, den er nun am 11. November 1815 an Goethe schreibt, gehört zu den bedeutendsten Briefen und Selbstzeugnissen Schopenhauers. Er enthält nichts weniger als die Rechtfertigung seiner philosophischen Existenz. Er enthält aber ebenso eine Auseinandersetzung mit den jeweiligen unterschiedlichen Positionen. Goethe ist offenbar weder bereit, sich zu einer Herausgeberschaft der Schrift noch zu einer eindeutigen Unterstützung ihres Inhalts herzugeben. Darüber bleibt Schopenhauer höchst irritiert. Den Grund dafür sieht er in den weiterhin bestehenden Divergenzen in Einzelfragen wie der Herstellung des Weißen, der Frage, ob der polare Gegensatz physisch oder physiologisch begründet ist, und schließlich der Entstehung des Violetten. Schopenhauer geht auf all diese Fragen, die er als »kleine[n] Berichtigungen«32 seinerseits ver30 Ebd. 31

Ebd., S. 15.

32 Schopenhauer

an Goethe, 11. 11. 1815, ebd., S. 20. Baccalaureus und der Einzige  |  47

steht, noch einmal ausführlich ein, ohne etwas in der Sache zurückzunehmen. Eher deutlich weist er auf den grundsätzlichen Unterschied zwischen seiner philosophisch-theo­retischen und Goethes eher klassifikatorischen Studien zum Thema hin: Meine Theo­rie ist die Entfaltung eines einzigen untheilbaren Gedankens […]: sie gleicht daher einem Gewölbe, aus welchem man keinen Stein nehmen kann, ohne daß das ganze einstürzte. Ihr Werk dagegen ist die systematische Zusammenstellung vieler […] und mannigfaltiger Thatsachen […].33

›Der einzige Gedanke‹, der die organische Einheit des Systems verbürgt: Den ›einen Gedanken‹ wird Schopenhauer auch bemühen, wenn er Jahre später den systematischen Zusammenhang seiner Welt als Wille und Vorstellung begründen sollte.34 Schon jetzt hat er den Entwurf seiner Willensmetaphysik im Auge. Er trage, so bescheidet er Goethe, »weit andre Theo­rien als die der Farbe, beständig im Kopfe herum«.35 Da blitzen Selbstwertgefühl und gekränkter Stolz wieder auf. Dabei kommt es ihm bei aller Enttäuschung und Kränkung jedoch nie in den Sinn, den Rang Goethes in Frage zu stellen. Dass Schopenhauer, der sowohl für sein cholerisches Temperament als auch für seine Grobheit in der verbalen Auseinandersetzung mit anderen bekannt war, sich soweit zurücknehmen konnte, dass er es vermochte, in dieser Situation dem Meister immer noch die ihm zustehende Reverenz zu erweisen, gehört zu seinen großen menschlichen Leistungen. Selbst den für ihn enttäuschenden, einem Urteil ausweichenden Brief Goethes kann er würdigen, »weil Alles«, so schreibt er, »was von Ihnen kommt für mich von unschätzbarem Werth, ja mir ein Heiligthum ist«.36 Goethe ist, so der Baccalaureus zum Meister, »kein Einzelner, sondern der Einzige«.37 Die Beschäftigung mit theo­retischen Fragen, so hatte er Goethe gegenüber schon geäußert, waren für ihn das Zentrum seines Lebens. Nichtbeachtung seiner philosophischen Leistung kam ihm 33

Ebd., S. 18. ›einzige Gedanke‹ ist »Die Welt ist die Selbsterkenntnis des Willens« (Rudolf Malter: Der Eine Gedanke, S. IX). 35 Schopenhauer an Goethe, 11. 11. 1815, BmG, S. 23. 36 Ebd., S. 15. 37 Ebd., S. 22. 34 Dieser

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einer Nichtbeachtung seiner Persönlichkeit gleich. Er sieht sich nun zur Klarstellung seines Selbstverständnisses veranlasst. Das von Goethe lauwarm formulierte Lob der Treue und Redlichkeit greift er auf und macht es nicht nur zum Prinzip seiner philosophischen Wahrheitssuche, sondern deklariert es als Charaktereigenschaft der eigenen Person: Dieser philosophische Muth aber, der Eins ist mit der Treue und Redlichkeit des Forschens, die Sie mir zuerkennen, entspringt nicht aus der Reflexion […], sondern ist angeborne Richtung des Geistes. Mit meinem Wesen innig verwebt, zeigt jene Treue und Redlichkeit sich nebenher auch im Praktischen und Persönlichen […].38

Was er als Wahrheit erkannt habe, so die Botschaft an Goethe, wird er nicht zurücknehmen, auch wenn es sich gegen den großen Meister richtet. Es würde sein Selbstverständnis als Philosoph in Frage stellen. Dabei versteigt er sich zu Formulierungen, die man nicht zu Unrecht als »Überbietungsgesten«39 deuten kann: »Ich weiß mit vollkommner Gewißheit, daß ich die erste wahre Theo­rie der Farbe geliefert habe, die erste, so weit die Geschichte der Wissenschaften reicht.«40 Deshalb kann auch der von Goethe ins Spiel gebrachte Thomas Seebeck für ihn keine Option sein. Dass er genau mit solchen Ausschließlichkeitsthesen sich eine positive Stellungnahme Goethes verbaute, erkannte er nicht. Schopenhauer behauptete seine Position und war sich seines Ranges als Denker bewusst. Was ihm aber fehlte, war die öffent­ liche Reputation, die es ihm erlaubt hätte, mit seiner Schrift die Öffentlichkeit zu erreichen. »Was ich bedarf und wünsche«, schreibt er Goethe im selben Brief, »ist Autorität: Sie sind so reich daran«.41 Aber er konnte nicht auf Goethe zählen. Und die mangelnde öffentliche Autorität wird ein nagendes, immer wieder angesprochenes Problem in seinem Leben bleiben. Bis Juni 1816 wechselten die Briefe regelmäßig hin und her. Goethe verteidigte in seiner Antwort vom 16. November 1815 noch einmal seine Auffassung vom Violetten, vermied aber weiterhin jedes 38

Ebd., S. 16. 39 Ludger Lütkehaus: Wer/Wen das Licht sieht …, S. 92. 40 Schopenhauer an Goethe, 11. 11. 1815, BmG, S. 20. 41 Ebd., S. 22 f. Baccalaureus und der Einzige  |  49

Urteil, wobei er dem besorgten Schopenhauer, der ein Plagiat fürchtete, versicherte, er habe die Schrift niemandem gezeigt. Schließlich bat Schopenhauer frustriert um die Rückgabe seines Manuskripts: Meine erste, stets ungewisse Hoffnung, daß Sie durch einige Theilnahme jener Arbeit zur Publicität verhelfen würden, ist allmählig zerstöhrt: die gewisse Erwartung welche ich hegte, doch in jedem Fall Ihr Urtheil zu vernehmen, schwindet, nachdem ich beinahe sieben Monat vergeblich darauf warte, nun auch dahin: meine letzte Bitte ist also, daß Ewr Excellenz nunmehr die Güte haben wollen, mir das Manuskript zurückzuschicken, damit diese Sache denn doch zu einem Ende gekommen sei […].42

Goethe wiederum, den gelassenen Ton beibehaltend, versucht zu erklären, ohne zu kränken: Er habe sehr wohl versucht, sich mit Schopenhauers Manuskript noch einmal zu beschäftigen, sei dann aber zu der Einsicht gekommen, »daß es ein vergebnes Bemühen wäre, uns wechselseitig verständigen zu wollen. […] Lassen Sie mich von Zeit zu Zeit wissen«, so schließt er seinen Brief vom 28. Januar 1816, »womit Sie sich beschäftigen und Sie werden mich immer theilnehmend finden, denn ob ich gleich zu alt bin, mir die Ansichten anderer anzueignen, so mag ich doch sehr gern, insofern es nur immer möglich ist, mich geschichtlich unterrichten, wie Sie gedacht haben und wie Sie denken«.43 Mit gleicher Post schickte er das Manuskript an Schopenhauer zurück. Es war ein einigermaßen versöhnlicher und doch bestimmter Schlusspunkt. Kein Streit, kein Zerwürfnis, aber eine bleibende Dis­ tanz. Und Schopenhauer verstand: »Ewr Excellenz«, so antwortet er am 7. Februar 1816, »haben es gesagt, in Ihrer Biographie: ›so ist doch immer das Finale, daß der Mensch auf sich zurückgewiesen wird.‹ Auch ich muß jetzt schmerzlich ausseufzen: ›ich trete die Kelter allein‹«,44 eine Formulierung, die er immer wieder aufgreifen wird. Goethe übermittelte noch ein paar bibliographische Informationen, doch die Fronten waren geklärt. Goethe notierte in seinen Tag- und Jahres-Heften ernüchtert: 42 Schopenhauer

an Goethe, 23. 1. 1816, ebd., S. 28. an Schopenhauer, 28. 1. 1816, ebd., S. 31 f. 44 Schopenhauer an Goethe, 7. 2. 1816, ebd., S. 32. 43 Goethe

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Dr. Schopenhauer trat als wohlwollender Freund an meine Seite. Wir verhandelten manches übereinstimmend mit einander, doch ließ sich zuletzt eine gewisse Scheidung nicht vermeiden, wie wenn zwei Freunde, die bisher mit einander gegangen, sich die Hand geben, der eine jedoch nach Norden, der andere nach Süden will, da sie dann sehr schnell einander aus dem Gesichte kommen.45

Innerlich hatte Goethe mit dem Vorhaben abgeschlossen, Schopenhauer als Proselyten für seine Farbenlehre zu gewinnen. Er betrachtete die Begegnungen mit dem jungen Schopenhauer als zunächst hoffnungsvolle, interessante, aber insgesamt enttäuschende Episode. Schopenhauer ließ seine Schrift noch im gleichen Jahr im Leipziger Verlag Johann Friedrich Hartknoch drucken und schickte sie mit Brief vom 4. Mai 1816 an Goethe. Dieser antwortet und bestätigt den Empfang erst am 16. Juni. Er hatte inzwischen andere Sorgen. Seine erkrankte Frau starb am 6. Juni. Die Diskussion mit dem jungen Schopenhauer, für den er durchaus fachlichen Respekt hegte, war für ihn inhaltlich abgeschlossen. Dass er diesen nicht mehr als Anhänger einstufte, machte er am 19. Juni 1816 in einem Brief an Friedrich Ludwig Schultz deutlich: Dr. Schopenhauer ist ein bedeutender Kopf, den ich selbst veranlaßte, weil er eine Zeitlang sich hier aufhielt, meine Farbenlehre zu ergreifen, damit wir in unsern Unterredungen irgend einen quasirealen Grund und Gegenstand hätten, worüber wir uns besprächen. […] Nun ist, wie Sie wohl beurtheilen, dieser junge Mann, von meinem Standpunct ausgehend, mein Gegner geworden […].46

Dies musste Schopenhauer natürlich anders sehen. Er hat sich nie als Gegner, sondern als philosophischer Vollender der Goethe’schen Farbenlehre verstanden. Aber auch er wendet sich nun vom Thema Farbenlehre ab und widmet sich in Dresden ganz der Fertigstellung seines Hauptwerks. Im März 1818 schließt er das Manuskript ab und kann Brockhaus, den Verleger seiner Mutter, für den Druck gewinnen. Nun will er, auf den Spuren Goethes, seine eigene Italien­ reise nachholen. In einem Brief vom 23. Juni 1818 wendet er sich noch einmal an Goethe. Der Anflug von Bitterkeit ist nun aus seiTag- und Jahres-Hefte, WA I/36, S. 112. an Christoph F. L. Schultz, 19. 7. 1816, BmG, S. 50 f.

45 Goethe: 46 Goethe

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nen Briefen verschwunden, auch wenn, wie er zugeben muss, seine Farbentheo­rie noch kein nennenswertes Echo in der Öffentlichkeit gefunden hat. Stolz kann er berichten: »Mein Werk, welches nun zu Michael erscheint ist die Frucht nicht nur meines hiesigen Aufenthalts, sondern gewissermaaßen meines Lebens.«47 Er bittet Goethe um mögliche Informationen und Ratschläge für die Reise, vor allem aber um eine Empfehlung, die ihm in Italien Türen öffnen könnte. Goethe erweist ihm den Gefallen und legt seinem Antwortbrief vom 9. August 1818 eine Karte bei, die eine Empfehlung an Lord Byron enthielt, die neue Berühmtheit unter den Poeten Europas, den Goethe außerordentlich schätzte, den Adele Schopenhauer verehrte und den Schopenhauer als einen Pessimisten und damit einen Bruder im Geiste bewunderte. Goethes letzter Brief an Schopenhauer formuliert die freundliche Distanz, die er von nun an beibehalten wird: Endlich einmal wieder von Ihnen zu hören war mir sehr angenehm: Sie gehen rasch Ihren Weg mit Freudigkeit, wozu ich Ihnen Glück wünsche. Das angekündigte Werk lese gewiß mit allem Antheil. Geben wir uns doch viele Mühe zu erfahren, wie unsre Ahnherrn gedacht, sollten wir unsern werthen Zeitgenossen nicht gleiche Aufmerksamkeit widmen.48

Es sollte mehr als eine Floskel sein. Denn während Schopenhauer ab Herbst 1818 bereits in Italien weilte, überbrachte seine Schwester Adele Goethe das große Werk des Bruders. Am 5. Februar 1819 konnte sie diesem stolz berichten, dass Goethe sehr wohlwollend reagiert und sich mit dem Buch beschäftigt habe: Goethe empfing es mit großer Freude, zerschnitt gleich das ganze dicke Buch in zwei Theile und fing augenblicklich an, darin zu lesen. Nach einer Stunde sandte er mir beiliegenden Zettel und ließ sagen: Er danke Dir sehr und glaube daß das ganze Buch gut sei. […] es sei ihm eine große Freude, daß Du noch so an ihm hingest, da ihr euch doch eigentlich über die Farbenlehre veruneinigt hättet, indem Dein Weg von dem seinen abgienge. In diesem Buche gefalle ihm vorzüglich die Klarheit der Darstellung und der Schreibart, obschon Deine 47 Schopenhauer 48 Goethe

an Goethe, 23. 6. 1818, ebd., S. 41. an Schopenhauer, 9. 8. 1818, ebd., S. 43.

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Sprache von der der Andern abweiche, und man sich erst gewöhnen müsse, die Dinge so zu nennen, wie Du es verlangst.49

Für Schopenhauer war dies eine hoch erfreuliche und ermutigende Nachricht, da die Welt als Wille und Vorstellung ihm ungleich mehr bedeutete als seine Schrift über die Farbenlehre. Als er den Brief der Schwester erhielt, hatte er bereits einige Monate seines Italienaufenthaltes hinter sich. Von der Empfehlungskarte an Lord Byron, mit dem er sich gleichzeitig im Herbst 1818 in Venedig aufhielt, machte Schopenhauer allerdings keinen Gebrauch, weil er fürchtete, seine damalige italienische Geliebte und Byron-Verehrerin könnte ihm Hörner aufsetzen. Am 28. Mai 1819 schreibt Adele Schopenhauer ihrem Bruder jenen Brief, der ihn auf seiner Rückreise in den Norden wieder in Venedig erreichte und der Nachrichten enthielt, die die Familie Schopenhauer zutiefst erschütterten. Das Danziger Handelshaus Muhl, bei dem Mutter und Schwester ihr Geld angelegt hatten, war insolvent. Der Familie drohte der finanzielle Absturz. Im Gegensatz zu Mutter und Tochter war Arthur Schopenhauer, der nur einen Teil seines Vermögens bei Muhl angelegt hatte, entschlossen, mit Muhl keine Kompromisse einzugehen. Er brach seine Reise ab und kehrte nach Deutschland zurück. Eine seiner Stationen war Weimar. Für den 19. August 1819 verzeichnet Goethe in seinen Tage­ büchern: »Kam Dr. Schopenhauer, brachte mit demselben den Abend zu. Über seine Studien, Reisen und nächste Vorsätze.«50 Es sollte die letzte persönliche Begegnung zwischen beiden sein. Gänzlich harmonisch lief sie jedoch nicht ab. Ermutigt durch Goethes positive Reaktion auf sein Werk, hatte Schopenhauer nachmittags unangemeldet vorgesprochen. Goethe reagierte kühl. Er schätzte keine unangemeldeten Besuche, zumal wenn er mit einem anderen Gast im Gespräch vertieft war. Schopenhauer war verletzt und ging unverrichteter Dinge. Am Abend allerdings erneuerte er seinen Besuch, der nun wesentlich freundlicher und angeregter ausfiel. Wie immer besprach man Fachliches. Es war kein erfreuliches Ende, aber doch ein versöhnlicher Abschluss. Schopenhauer hatte sich damit abgefunden, Goethe für seine Version der Farbenlehre nicht gewin49 Adele 50 Zit.

Schopenhauer an Arthur Schopenhauer, [5. 2. 1819], FB, S. 273 f. nach Gespr, S. 35. Baccalaureus und der Einzige  |  53

nen zu können. Seiner Verehrung für den »Einzigen« hatte dies keinen Abbruch getan. Und Goethe hatte verstanden, dass er es mit einem schwierigen, aber dennoch wohl bedeutenden Kopf zu tun hatte. Er notierte in seine Tag- und Jahres-Hefte für das Jahr 1819: »Ein Besuch Dr. Schopenhauers, eines meist verkannten, aber auch schwer zu kennenden, verdienstvollen jungen Mannes, regte mich auf und gedieh zur wechselseitigen Belehrung.«51

5. Epilog: Schopenhauer im Dienste des Goetheschen ­Nachruhms In den Jahren bis zu seinem Tod 1832 war Goethe bemüht, seinem Werk einen Abschluss zu geben. Unter den Spätwerken, die Goethe in seinem letzten Lebensjahrzehnt vollendete, waren Wilhelm Meisters Wanderjahre, Faust II und Dichtung und Wahrheit. Die Farbenlehre stand nicht mehr im Mittelpunkt seiner Arbeit. Goethe hatte resigniert zur Kenntnis nehmen müssen, dass sie nicht ihr verdientes Echo gefunden hatte und dass diejenigen, die sich wie Schopenhauer als Schüler angeboten hätten, ihre eigenen Wege gegangen waren. Dieser erlebte in den 1820er Jahren die wohl schwierigste Zeit seines Lebens. Sie war geprägt von ständigen Auseinandersetzungen mit der Mutter um die Verwaltung der Familienfinanzen, von Beziehungskrisen und nicht zuletzt von den vergeblichen Bemühungen, an der Universität Fuß zu fassen.52 Auch sein Hauptwerk hatte kaum Beachtung gefunden. Ein Jahr nach Goethes Tod lässt sich Schopenhauer endgültig in dessen Geburtsstadt Frankfurt am Main nieder. Der Baccalaureus war nun endgültig selbst ein Meister geworden, allerdings im Gegensatz zu Goethe ein in der Öffentlichkeit unbekannter Meister, dem niemand Lorbeerkränze flocht und der nicht jene öffentliche Autorität besaß, die er sich gewünscht hatte. Die Weltsicht des Philosophen Schopenhauer unterschied sich inzwischen erheblich von der Goethes, vor allem was die pessimistische Einschätzung der Weltordnung und der menschlichen Natur Tag- und Jahres-Hefte, WA I/36, S. 151. dazu Robert Zimmer: Akademische Karriere und das Verhältnis zur akademischen Philosophie. 51 Goethe: 52 Vgl.

54  |  Robert Zimmer 

betraf. Dessen ungeachtet hat er sich auch in seinen späten Jahren immer als Anwalt Goethes verstanden und nie aufgehört, Goethe als die neben Kant bedeutendste deutsche Geistesgröße zu würdigen. Kein Autor wird von ihm öfter zitiert. Ein Ölbild Goethes hing bis zu Schopenhauers Tod über seinem Sofa. Dass er die Möglichkeit hatte, für einige Jahre in engem Kontakt zu Goethe zu treten und sich mit ihm auszutauschen, gehört für ihn zu den bedeutsamsten Ereignissen seines Lebens. Dass Goethe ihn in seinen Erinnerungen positiv erwähnte, lässt er gegenüber Gesprächs- und Briefpartnern immer wieder gerne einfließen.53 1837 tritt die Stadt Frankfurt an ihn mit der Bitte heran, ein Gutachten zu einem geplanten, von Bertel Thorvaldsen zu schaffenden Goethe-Denkmal zu verfassen. Schopenhauer plädiert dafür, die Geistesgröße Goethe nicht, wie einen Politiker oder Feldherrn, als Körperstandbild, sondern als monumentale Büste darzustellen, mit der Inschrift: »Dem Dichter der Deutschen seine Vaterstadt, 1838.«54 »Aber auch schlechterdings keine Silbe mehr!«, rät der Goethe-Verehrer: Dadurch daß diese Inschrift Göthe’s Namen nicht nennt, sondern voraussetzt, ist sie zu seinem Ruhme unendlich beredter als das wortreichste Encomium je seyn könnte. Denn sie besagt, daß er der Einzige, der Unvergleichliche ist, der, den Jeder kennen muß, den keine Zeit vergessen, kein Nachfolger je verdunkeln kann.55

Es ging allerdings nicht nach Schopenhauers Willen. Thorvaldsen lieferte nicht, so dass schließlich ein von Ludwig von Schwanthaler geschaffenes Standbild errichtet wurde, das erst 1844 eingeweiht werden konnte. 1849 starb Schopenhauers Schwester Adele, die zu Goethe in einem besonders engen Verhältnis gestanden hatte. Sie wurde am 28. August 1849, ausgerechnet am 100. Geburtstag Goethes, in Bonn begraben. Mit der engsten Freundin Adeles in ihren letzten Jahren, Sibylle Mertens-Schaaffhausen, trat Schopenhauer nun wegen des 53 So

z. B. in dem Brief vom 10. 12. 1836 an seinen alten Jugendfreund Anthime Grégoire de Blésimaire: »Göthe a parlé de moi dans sés mémoires avec estime […].« (GBr, S. 157.) 54 BmG, S. 62. 55 Ebd. Baccalaureus und der Einzige  |  55

Nachlasses der Schwester in brieflichen Kontakt. »Von den Denkmälern meiner Schwester, in welche Sie die Göthe-Münzen umgestaltet haben, werde ich mit vielem Danke eines annehmen«,56 schreibt er ihr am 27. November 1849. Dabei fordert er nun das ein, was er in jungen Jahren bei Goethe vorausgesetzt, selbst aber ermangelt hatte: »Ich kriege mit der Zeit auch Autorität.«57 Es ist zu diesem Zeitpunkt noch mehr Anspruch als Wirklichkeit. Im Jahre 1849 ist er in der Öffentlichkeit noch so gut wie unbekannt. Dies sollte sich erst zwei Jahre später mit dem Erscheinen seiner Parerga und Paralipomena ändern. Im gleichen Brief berichtet er von seinem Eintrag ins GötheAlbum, dessen Herausgabe die Stadt anlässlich des Goethe’schen Geburtstages plante und zu dem die literarische und politische Prominenz Deutschlands eingeladen war. Auch Schopenhauer war zur Mitwirkung aufgefordert worden. Dabei hatte er mit leidenschaftlicher Feder zwei Pergamentblätter vollgeschrieben und die Gelegenheit ergriffen, eine »Philippica […] adversus physicos«58 zu verfassen, also nochmals nachdrücklich auf die in seinen Augen schändliche Nicht-Beachtung der Farbenlehre »des größten Mannes, welchen, neben Kant, die Nation aufzuweisen hat«,59 unter den Naturwissenschaftlern hinzuweisen. Schopenhauers rhetorisches Talent läuft hier zur Hochform auf: Nicht bekränzte Monumente, noch Kanonensalven, noch Glockengeläute, geschweige Festmahle mit Reden, reichen hin, das schwere und empörende Unrecht zu sühnen, welches Göthe erleidet in Betreff seiner Farbenlehre. Denn, statt daß die vollkommene Wahrheit und hohe Vortrefflichkeit derselben gerechte Anerkennung gefunden hätte, gilt sie allgemein für einen verfehlten Versuch, über welchen […] die Leute vom Fache nur lächeln […].60

Die Attacke richtet sich gegen bezahlte Universitätslehrer, die »eine Wissenschaft nicht ihrer selbst, sondern des Lohnes wegen betreiben«.61 Schopenhauer schlägt vor, in den Akademien einen 56 Schopenhauer an Sibylle Mertens-Schaaffhausen, 27. 11. 1849, ebd., S. 68. 57

Ebd., S. 69.

58 Schopenhauer 59

BmG, S. 66. Ebd., S. 65 f. 61 Ebd., S. 66.

an Frauenstädt, 9. 12. 1849, ebd., S. 70.

60

56  |  Robert Zimmer 

wissenschaftlichen Wettbewerb auszuschreiben, in dem die Aufgabe gestellt wird, Goethes und Newtons Farbenlehre zu unter­ suchen und zu vergleichen. Der Ausgang ist für ihn unzweifelhaft: »wie sollten«, so fragt er am Ende seines Eintrags, die Mährchen Recht behalten, gegen Göthe’s klare und einfache Wahrheit, gegen seine auf ein großes Naturgesetz zurückgeführte Erklärung aller Farbenerscheinungen, für welches die Natur überall und unter jedweden Umständen ihr unbestochenes Zeugniß ablegt! Eben so gut könnten wir befürchten, das Ein Mal Eins widerlegt zu sehn.62

So verkaufte der ehemalige Baccalaureus, der angetreten war, die Defizite der Goethe’schen Farbenlehre aufzuzeigen und ihr ein theo­retisches Fundament zu geben, diese nun als unbezweifelbare apriorische Wahrheit. Seine Motive liegen dabei offen: Es ging darum, auf unbeachtet gebliebenes Verdienst hinzuweisen und sich auf diese Weise mit Goethe zu identifizieren. Goethes Farbenlehre war von den »physicos« ebenso wenig gewürdigt worden wie Schopenhauers eigenes Werk von den bezahlten Lohndienern der Universitätsphilosophie. Der Eintrag ins Goethe-Album war ihm Gelegenheit, als streitbarer Verfechter Goethes gegen eine wissenschaftliche Öffentlichkeit aufzutreten, gegen die sich ohnehin tiefer Groll aufgestaut hatte. In dem Brief, den er am 9. Dezember an seinen ›Erzevangelisten‹ Julius Frauenstädt schreibt, klagt er zum wiederholten Male über das gegen ihn gerichtete Schweigekartell: »Von meiner Vierfachen Wurzel 2ter Auflage haben sie nicht ein Mal den Titel in irgend einer ihrer Litterarischen Zeitungen angezeigt«,63 um dann, in einer Formulierung, die er bereits in dem Brief an Sibylle MertensSchaaffhausen benutzt hatte, das Verhältnis zu Goethe mit Hilfe einer biblischen Referenz zu idealisieren: Goethe sieht von oben herab auf das Album seiner Vaterstadt, hat gewiß zehnmal mehr Freude über mein Donnerwetter, als über alle Lobhudeleien der Uebrigen, sagt »Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe« […].64 62

Ebd., S. 67 f.

64

Ebd., S. 70.

63 Schopenhauer

an Frauenstädt, 9. 12. 1849, ebd., S. 69 f.

Baccalaureus und der Einzige  |  57

Und dies war in der Tat Schopenhauers Selbstverständnis: der Erbe Kants und Goethes, der verlorene Sohn der deutschen Klassik zu sein.

Bibliographie Bergmann, Ulrike: Johanna Schopenhauer. ›Lebe und sei so glücklich als du kannst‹. Leipzig 2002. Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe. Hg. von Christoph Michel unter Mitwirkung von Hans Grüters. Berlin 2011. Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust. Hg. und kommentiert von Erich Trunz. München 2007. – : Gedichte. Vollständige Ausgabe. Stuttgart o. J. Hertz, Wilhelm: Die Baccalaureus-Szene in Goethes ›Faust‹. Ein neuer Beitrag zum Thema: Goethe und Schopenhauer. In: Jahrbuch der GoetheGesellschaft 9 (1922), S. 55–77. Hübscher, Arthur: Denker gegen den Strom. Schopenhauer: Gestern – Heute – Morgen. Bonn 31987. Lütkehaus, Ludger: Wer/Wen das Licht sieht … Die Taten und Leiden der Farbenlehrer. In: Arthur Schopenhauer: Der Briefwechsel mit Goethe und andere Dokumente zur Farbenlehre. Hg. von Ludger Lütkehaus. Zürich 1992, S. 79–104. – (Hg.): Die Schopenhauers. Der Familien-Briefwechsel von Adele, Arthur, Heinrich Floris und Johanna Schopenhauer. München 1998. [= FB] Malter, Rudolf: Der Eine Gedanke. Hinführung zur Philosophie Arthur Schopenhauers. Darmstadt 1988. Safranski, Rüdiger: Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie. München 1987. – : Goethe. Kunstwerk des Lebens. München 2013. Schubbe, Daniel / Koßler, Matthias (Hg.): Schopenhauer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2014. Zimmer, Robert: Arthur Schopenhauer. Ein philosophischer Weltbürger. München 2010. – : Art. »Die Familie Schopenhauer«. In: D. Schubbe / M. Koßler (Hg.): Schopenhauer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2014, S. 1–7. – : Art. »Akademische Karriere und das Verhältnis zur akademischen Philosophie«. In: D. Schubbe / M. Koßler (Hg.): Schopenhauer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2014, S. 12–17.

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Thomas Regehly

›Licht aus dem Osten‹ Wechsellektüren im Zeichen des Westöstlichen Divans und anderer Werke Goethes und Schopenhauers* 1. Vorbemerkung Wechsellektüren sind gegenseitige Lektüren: Der eine liest ein Buch, und der andere liest ein oder mehrere Bücher dessen, der sein Buch gelesen hat. Am Beispiel des Westöstlichen Divan lässt sich zeigen, wie Lesbarkeiten aufeinanderprallen können. Unter ›Lesbarkeit‹ wird nicht die digitale Verfügbarkeit verstanden, sondern der Entwurf einer neuen Lesbarkeit, die in der Regel zwar mit Lektüre zu tun hat, aber weit darüber hinausgreift. Denn das Verfügbare ist nur das Vorhandene, nicht das Zuhandene, es wird vielleicht gelesen, aber nicht verstanden, und wenn es verstanden wird, kann es nicht mitgeteilt werden. Eine neue Lesbarkeit ist deshalb nichts anderes als eine neue Nicht-Unlesbarkeit, die das Unlesbarwerden oder Unlesbargewordensein bestimmter Bücher, Lehren oder Weltentwürfe zur Voraussetzung hat, weil das Überkommene und Tradierte in eine Krise geraten ist. Die Grundbücher der neuen Lesbarkeiten, um die es im Folgenden vor allem geht, sind in ein und demselben Jahr – 1819 – erschienen. Gemeinsam ist ihnen zunächst die Nichtbeachtung, mit der beide nach Erscheinen gestraft wurden. Für beide gilt, dass ihre Wahrheit von der Mitwelt als »fern und weit« aufgefasst wurde, eine Wahrheit, von der nur wenige sagen konnten, dass sie sich hinabberge »in tiefste Gründe«.1 Gemeinsame und verbindende Themen sind nicht schwer zu entdecken: die persische Sufi-Mystik, die weltschaffende Kraft der Liebe (Goethe) bzw. des mit Liebe (ishq und Maya) assoziierten Willens und dann eben Für Anmerkungen und Hinweise danke ich Jasmin Behrouzi-Rühl, Frank Brungräber, Konrad Heumann, Michael Regehly, Joachim Seng, Mathias Weber und vor allem den Teilnehmern des Frankfurter SchopenhauerJour Fixe des Jahres 2015, dessen Thema ›Schopenhauer trifft Goethe‹ war. 1 WöD I, S. 64. *

  |  59

der Neuentwurf des ›Buches der Welt‹, einmal in weltliterarischer und das andere Mal in weltphilosophischer Perspektive. In beiden Fällen wurde der Welt-Kompass neu justiert. Da Lesbarkeit aber zunächst und zumeist mit Büchern zu tun hat und sich der Bogen erst am Schluss zum ›Buch der Welt‹ oder gar zu einem neuen Weltentwurf rundet, dem letzten Thema des Dichters wie des Denkers, geht es vorerst um eine Spurensuche anhand der Wechsellektüren, von denen wir dank der Tradition ­etwas Genaueres wissen können. Am Anfang steht Goethe, der das Hauptwerk Schopenhauers mit einer ›Divination‹ gelesen, genauer: nicht-gelesen hat, die er im Westöstlichen Divan darlegt. Auch am Ende stehen Verse des ›Dichters der Deutschen‹, dessen im Divan geäußerte Einsichten Schopenhauer und der Philosophie mehr zu denken geben können, als man einem Poeten gemeinhin zutraut.

2. Goethe liest Schopenhauer 2.1  Dissertation und Anschauung

Johanna Schopenhauer, die nach dem Tod ihres Mannes und der Realisierung ihres Erbes im Mai 1806 nach Weimar übergesiedelt war und sich durch ebenso kluges wie umsichtiges Auftreten nach der Schlacht bei Jena und Auerstädt (14. Oktober 1806) in den folgenden Wirren schnell und nachhaltig einen guten Namen machen konnte, hatte gleich erkannt, dass es Weimar an einem »VereinigungsPuncte« für die bessere Gesellschaft fehlte, »und sie sind alle froh, ihn bey mir zu finden«.2 Ihre »Theezirkel« fanden zweimal in der Woche in ihrer Wohnung statt, am Donnerstag und am Sonntag, und wurden bald zu einer touristischen Attraktion. Goethe besuchte den Salon zum ersten Mal am 12. Oktober 1806.3 Johanna hatte ihn durch ihre gastfreundliche Aufnahme Christianes in ihren geselligen Kreis für sich gewonnen. Goethe hatte seine »Mesalliance« und Mutter seines Sohnes nach glücklich überstandenen Kriegswirren am 19. Oktober 1806 in der Weimarer Jakobskirche 2 Johanna 3 Rose

Schopenhauer an Arthur Schopenhauer, 14. 11. 1806, FB, S. 119. Unterberger: Die Goethe-Chronik, S. 268.

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geheiratet. Christiane durfte sich seit der im kleinsten Kreis vollzogenen Trauung »Geheimräthin Christiane von Goethe« nennen. Am Folgetag erschien das frisch vermählte Paar in Johannas Salon, wovon sie ihren im Hamburger Kontor missvergnügt ausharrenden Sohn am 24. Oktober 1806 mit nicht geringem Stolz unterrichtete.4 Den Dichterfürsten zu sehen, war das Mindeste, was sich die Besucher Weimars erhofften, vielleicht sogar mit ihm zu sprechen, einen Stammbucheintrag davonzutragen oder sogar in vertrautem Umgang mit diesem »vollkommenste[n] Wesen«5 zu kommen, wünschten sich viele Besucher, es war allerdings nur den wenigsten vergönnt. Dieser Weg, der durchaus nicht jedem offenstand, führte durch Johannas Salon. Arthur, aufgrund des Fernow’schen Gutachtens und der Einladung seiner Mutter befreit von den Bürden der ungeliebten, dem Vater zugesagten Kaufmannslehre, musste sich erst qualifizieren, bevor Goethe ihn seiner Aufmerksamkeit für würdig befand. Zunächst nahm er, schon jetzt ungesellig, in seiner Funktion als Sohn des Hauses und Beobachter an diesen sehr geselligen Treffen im Salon Johannas teil, welcher den Nährboden abgab für den enzyklopädischen, am Bildungsauftrag der Weimarer Klassik orientierten Wissensdrang des jungen Mannes. Wie gelangte er nun zu den ›höheren Weihen‹, wie kam es zur Zusammenarbeit mit Goethe? Nachdem der junge Schopenhauer in bewundernswert kurzer Zeit in Gotha und Weimar die Gymnasialausbildung nachgeholt und vor allem die ›alten Sprachen‹ gelernt hatte, zog er im Mai 1809 zum Studium nach Göttingen. Zunächst für Medizin und naturwissenschaftliche Fächer eingeschrieben, wechselte er unter dem Eindruck der Vorlesungen Gottlob E. Schulzes zur Philosophie. Bedenken der Mutter gegen diese brotlose Kunst wurden von der Autorität Wielands zerstreut. 1811 immatrikulierte er sich an der Berliner Universität für Philosophie, führte aber seine naturwissenschaftlichen Studien mit großer Intensität weiter. Als die Kriegswirren Berlin zu erreichen drohten, zog er sich 1813 in den kleinen, nicht weit von Weimar gelegenen Ort Rudolstadt zurück, um dort seine Dissertation zu schreiben, 4 Vgl.

Johanna Schopenhauer an Arthur Schopenhauer, 24. 10. 1806, FB,

S. 107 f. 5 Johanna Schopenhauer an Arthur Schopenhauer, 28. 11. 1806, ebd., S. 123. ›Licht aus dem Osten‹  |  61

die er dann an der Universität Jena einreichte, um in absentia zum Doktor der Philosophie promoviert zu werden. Seine Arbeit mit dem ungewöhnlichen Titel Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Eine philosophische Abhandlung erschien im selben Jahr in der Hof-Buch- und Kunsthandlung Rudolstadt. Ein Exemplar ließ er dem verehrten Goethe zukommen, den er aus seiner früheren Weimarer Zeit zwar von Angesicht kannte, dem der Schüler sich damals aber kaum zu nähern gewagt hatte. Goethe, der regelmäßig mit seiner Frau Johannas Salon besuchte, wurde durch diese Zusendung auf den jungen Denker aufmerksam. Das ihm zugeeignete Exemplar ist erhalten.6 Es handelt sich um ein Vorzugsexemplar auf Velinpapier, dessen Lektüre Goethe sich im November 1813 widmete, wie dem Tagebucheintrag vom 4. November 1813 zu entnehmen ist. »Schoppenhauer Zureichender Grund […] Riemer über Schoppenhauer«, findet sich dort notiert, mit der charakteristischen, an den Frankfurter Dialekt erinnernden Verballhornung des Nachnamens. Weitere Hinweise bietet Goethes Tagebuch nicht.7

2.2  Farben und Dissens

In seinem sehr ausführlichen, die Grenzen der Konvention sprengenden und auf Latein verfassten Lebensbericht (curriculum vitae) an den Dekan der Berliner philosophischen Fakultät, den Altphilologen Philipp August Boeckh, der seinem Antrag auf Erteilung der venia legendi vom 31. Dezember 1819 beigefügt war, äußert Schopenhauer sich euphorisch über seine Begegnung mit dem Dichter. Damals […] ward mir zu Teil, was ich zu den erfreulichsten und glücklichsten Ereignissen meines Lebens zähle: denn jene in Wahrheit hohe Zierde unseres Jahrhunderts und der deutschen Nation, der große Goethe, dessen Namen alle Zeiten im Munde führen werden, würdigte mich seiner Freundschaft und seines vertrauten Umgangs.8 6 Vgl.

De XVI, S. 55. Ruppert (Bearbeiter): Goethes Bibliothek, S. 456, Nr. 3126; Goethe: Tagebücher, [4. 11. 1813], WA III/5, S. 82; bzw. GT 5.1, S. 101, 5.2, S. 609; Robert Steiger/Angelika Reimann: Goethes Leben von Tag zu Tag, Bd. V, S. 756, 758. 8 GBr, S. 654 f.; vgl. Gespr, S. 25 f., Daten der Zusammenkünfte ebd., S. 27– 30; Urs App: Schopenhauer’s Initial Encounter with Indian Thought, S. 46 f.; 7 Hans

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Diese Darstellung trägt durchaus Züge einer Selbststilisierung, die mit dem für beide Seiten wenig erfreulichen Ausgang ihrer Kooperation zu tun hat. Ende 1813, an einem Salonabend, heißt es in der autobiographischen Suada weiter kam er [Goethe; Th.R.] aus eignem Antriebe mir entgegen und fragte ob ich seine Farbenlehre studieren wolle, indem er versprach, mir mit allen dazu dienenden Hilfsmitteln und Erläuterungen Beistand zu leisten, so daß dieser Gegenstand den Winter über unseren öfteren Unterhaltungen, möge ich nun seinen Sätzen Zustimmung geben oder opponieren, Stoff bieten könne.9

Der konjunktivische Zusatz deutet schon an, dass eine Opposition zu den Positionen des Meisters von Anfang an – und zwar nachträglich – im Bereich des Möglichen angesiedelt wird. Goethes zwei Bände zur Farbenlehre waren 1810 zusammen mit einem Ergänzungsband veröffentlicht worden, die Aufnahme war aber mehr als spröde, so dass er nach Adepten und Proselyten Ausschau hielt, die geeignet waren, seinem Werk und damaligem »Lieblingsstudium«10 etwas mehr Resonanz zu verschaffen. Da er der Mutter Schopenhauers verpflichtet und freundschaftlich verbunden war, bot sich der junge Philosoph als Propagandist und ›Rezeptionsverstärker‹, wie man sagen könnte, an – der wollte sich aber mit dieser Funktion keineswegs begnügen, was sich recht bald zeigte. Man traf sich, unterhielt sich über vieles und experimentierte gemeinsam, bis die angespannte Situation im Hause der Mutter es dem Sohn ratsam erscheinen ließ, den Wohnsitz nach Dresden zu verlegen. Am 8. Mai 1814 verabschiedete er sich von Goethe, der ihm die Verse »Willst du dich deines Werthes freuen; / So mußt der Welt Du Werth verleihen« ins Stammbuch schrieb.11 Schopenhauer nahm diesen Stammbucheintrag in seine Selbstanalyse auf, Robert Steiger/Angelika Reimann: Goethes Leben von Tag zu Tag, Bd. VI, S. 227, 287, 359 f. 9 GBr, S. 655. 10 Gespr, S. 26. 11 De XVI, S. 118, Nr. 19; HN IV (2), S. 121. In der ersten Fassung hieß es »Willst du dich deines Lebens freun […]«. Ein Faksimile ist im ersten Schopenhauer-Jahrbuch von 1912 abgedruckt. In seinem Exemplar der Gedichte Goethes von 1815 notierte Schopenhauer sich mit Bleistift am Rand »Mihi A. S.« (vgl. HN V, S. 408). ›Licht aus dem Osten‹  |  63

das heißt in sein Konvolut »Eis eauton«, mit einem interessanten Zusatz: »Goethe … schrieb mir ganz seinem Charakter gemäß ins Stammbuch«.12 Dass es um seinen eigenen Charakter ging, den der Dichter hier unangenehm genau in zwei Versen glossiert hatte, war ihm wohl zu viel des Guten. Bekanntlich war der junge Mann keineswegs gewillt, der Welt irgendeinen »Werth« zu verleihen. Ganz im Gegenteil hatte er sich bereits im April 1811 »einer Filosofie mit Leib und Seele ergeben«, die »sehr streng« ist und von ihm forderte, dass »jede Neigung, Begierde, Leidenschaft müssen unterdrückt und bekämpft werden«, und zwar im Sinne eines fortgesetzten »Krieg[es]«.13 Dies hatte Wielands Enkelin, Wilhelmine Schorcht, nach einer Begegnung mit Schopenhauer an den befreundeten Karl Reinhold geschrieben. Im Rückblick, nach einem halben Jahrhundert, erläutert Schopenhauer David Asher gegenüber seine damalige psychische In-Disposition. Er sei »sehr zurückhaltend und fast menschenscheu [gewesen] und hatte bereits einen entschiedenen Hang zur Schwermuth«, was er zur Erhellung von Goethes Charakterisierung seiner Person in einer Notiz der »Tag- und Jahres-Hefte« (1830) anführt, dieser habe es bei Arthur »mit einem meist verkannten, aber auch schwer zu kennenden, verdienstvollen jungen Mann« zu tun gehabt.14 Schopenhauer arbeitete in Dresden zunächst seine kleine Abhandlung Ueber das Sehn und die Farben aus. Vermutlich plante er, die Schrift mit einem Vorwort oder gar einem Geleitwort des großen Goethe zu veröffentlichen. Diesen ›Wunsch‹ hatte er wohl in seinem ersten, nicht erhaltenen Brief geäußert.15 Die Nachfrage vom Anfang September 1815, ob denn Sendung (sc. Schrift) und Brief wohlbehalten eingetroffen seien, beantwortete Goethe aus Wiesbaden, wo er sich im Zuge seiner zweiten Reise an Main und Neckar aufhielt. Schopenhauers Schrift befand sich immerhin im Reisegepäck und begleitete den Dichter nach Frankfurt. Nach der Lektüre der Hafis-Übersetzung Hammer-Purgstalls, die Cotta ihm 1814 zugesandt hatte, und der Begegnung mit Marianne von Willemer nahm sein Westöstlicher Divan langsam und stetig Gestalt an. 12 HN

IV (2), S. 121. 13 Gespr, S. 23. 14 Ebd., S. 35. 15 Vgl. Schopenhauer an Goethe, 11. 11. 1815, BmG, S. 17. 64  |  Thomas Regehly 

Das in Wiesbaden verfasste Register vom 30. Mai 1815 führt bereits 100 Gedichte auf.16 Der junge Schopenhauer scheute sich nicht, im nächsten Brief an den vielbeschäftigten Mann offen die strittigen Punkte anzu­ sprechen, so die Herstellung des Weißen. Weitere mögliche Streitpunkte einer gleich wieder heruntergespielten Disharmonie werden im nächsten, sehr ausführlichen Brief vom 11. November 1815 benannt:17 Es sind neben der erneut und penetrant erwähnten Herstellung des Weißen die Beschränkung des polaren Gegensatzes auf den physiologischen Bereich und die Entstehung des Violetten. Goethe beruft sich nun seinerseits auf seine »Subject«-Ansichten und erläutert bereitwillig seine Vorstellung vom Violetten, woraufhin Schopenhauer ihm in seinem überzogenen Selbstbewusstsein erklären zu müssen meint, in Sachen des Violetten das unumstößlich Richtige geäußert zu haben: »denn ich weiß, daß durch mich die Wahrheit geredet hat, – in dieser kleinen Sache, wie dereinst in größern«.18 Von diesen »größern« Sachen konnte Goethe natürlich noch nichts wissen, weshalb diese Andeutung als anmaßender Spruch in der Luft hängen bleibt. Schopenhauer hatte aber – wie wir heute wissen – bereits kurz vor dem Verlassen Berlins im Sommer 1813 seinen damaligen Gedankenzetteln anvertraut, dass »[u]nter meinen Händen und vielmehr in meinem Geiste« ein Werk »erwächst«, nämlich »eine Philosophie, die Ethik und Metaphysik in Einem seyn soll«.19 Hier kündigt sich der ›eine Gedanke‹ an, dessen Einheit er später immer wieder betonen wird und den er bereits 1816 in einen einzigen »Ausdruck« zusammenzwingen konnte: »die Welt ist die Selbsterkenntniß des Willens«.20 Bereits 1814 hatte er das Wollen hart mit dem Erkennen konfrontiert: »Daß aber neben dem Wollen auch das Erkennen […] da ist, dies ist die einzige gute Seite des Lebens, das wahre Evangelium der Erlösung, sichert dem 16 Goethe:

Westöstlicher Divan. Hg. von Hans-J. Weitz, S. 281–284, vgl.

S. 463. 17 Vgl. Schopenhauer an Goethe, 11. 11. 1815, BmG, S. 15–24. 18 Schopenhauer an Goethe, 23. 1. 1816, ebd., S. 29. 19 HN I, S. 55. 20 Ebd., S. 462. Zur Diskussion des ›einen Gedankens‹ vgl. Rudolf Malter: Der eine Gedanke; Jens Lemanski/Daniel Schubbe: Konzeptionelle Probleme und Interpretationsansätze der Welt als Wille und Vorstellung, S. 36 f. ›Licht aus dem Osten‹  |  65

Willen, wie schlimm er auch sei, doch endliche Befreiung d. i. Insich-gehn.«21 Wenig später bringt er seine »Lehre« – ein erstaun­ licher Ausdruck für diese Phase der ›Genese‹ des Hauptwerks! – in Zusammenhang mit einer Offenbarung, wie sie ansonsten nur den kanonischen Texten der Weltreligionen zuzuschreiben ist: »daß aber den Willen die Erkenntniß begleitet ist das wahre Evangelium, der Weg der Erlösung, indem der Wille, nachdem er sich erkannt hat, sich wendet und endet«.22 Für Goethe machte der anmaßende Ton der zitierten, brieflich mitgeteilten Sätze die unangenehme Musik, welche die Abfassung eines Geleitworts zur Farbenschrift des jungen Denkers nicht ratsam erscheinen ließ. In einem Raum ja, wenn auch nur für kurze Zeit, aber zwischen zwei Buchdeckeln wollte er mit diesem hotspur nicht zusammenkommen. Im Februar 1816 konnte Schopenhauer Goethe das Erscheinen der Druckschrift in Aussicht stellen,23 die er Goethe dann im Mai 1816 mit einem Begleitbrief zuschickte.24 Die in Leipzig bei J. F. Hartknoch erschienene Arbeit Ueber das Sehn und die Farben, eine Abhandlung umfasste 88 Seiten. Goethe versah das ihm vom Verfasser zugeeignete Exemplar mit seinem Exlibris.25 Da es ›beschnitten‹ ist, scheint er zumindest darin geblättert zu haben. Der erste Satz – Schopenhauer ist ein Meister der ersten Sätze! – betont fast marktschreierisch die Neuheit der hier präsentierten Einsichten: »Der Inhalt nachstehender Abhandlung ist eine neue Theo­rie der Farbe, die schon am Ausgangspunkte von allen bisherigen sich gänzlich entfernt.«26 Goethes große Verdienste werden im zweiten Abschnitt zwar überdeutlich hervorgehoben, aber der Leser erfährt im selben Atemzug, dass der Dichter, Geheimrat und Minister lediglich eine Sammlung von »Thatsachen« vorgelegt habe, eine Art Daten-Auftrieb, aber »[e]ine eigentliche Theo­rie […] ist nicht in Goethes Far21 HN

I, S. 188; vgl. die Notiz aus demselben Jahr »Der Zweck des Lebens […] ist die Erkenntniß des Willens. […] das Erkennen ist die Verheißung der Erlösung, ist das wahre Evangelium: das Wollen dagegen ist die Hölle selbst.« (Ebd., S. 167.) 22 HN I, S. 205. 23 Vgl. Schopenhauer an Goethe, 21. 2. 1816, BmG, S. 36 f. 24 Schopenhauer an Goethe, 4. 5. 1816, BmG, S. 38; vgl. De XVI, S. 56. 25 Hans Ruppert (Bearbeiter): Goethes Bibliothek, S. 729, Nr. 5081. 26 F, S. 1. 66  |  Thomas Regehly 

benlehre enthalten«.27 Der junge Autor bietet nun in halbpoetischer Manier eine Fülle von Bildern auf, die den bedeutenden Mann im höchsten Maße befremden mussten. Schopenhauers Schrift beginnt mit dem wenig schmeichelhaften Vergleich der Theo­rie oder der »vollendeten Wissenschaft« mit einem »wohlorganisierten Staate« und »poliziertem Reiche«, dessen »Beherrscher das Ganze […] jeden Augenblick in Bewegung setzen kann«, während der Besitzer und Daten-Sammler jemand ist, der »nur eine empirische, ungeordnete, wenn gleich sehr ausgebreitete Kenntnis derselben sich erworben hat«, und sich mit einem »wilden« Volk auf eine Stufe gestellt sehen muss. Diese Art der Barbarei müsse letztendlich durch eine wissenschaftliche Theo­rie – wie die vorliegende Schopenhauers – überwunden werden, was der nächste, wenige Sätze später aufgebotene Vergleich anschaulich, ja hörbar macht. So wie nämlich der »Septimen-Akkord« die harmonische Auflösung »gewaltsam fordert«, musste die in dieser Abhandlung vorgestellte Theo­rie die Daten-Überfülle vollenden und abschließen.28 Bereits in seinem Brief vom 11. November 1815 hatte der junge Autor Goethes Farbenlehre mit einer Pyramide verglichen, zu der seine Theo­rie erst »die Spitze derselben« liefere,29 was den Minister und Farbenrevolu­ tionär befremden oder zumindest amüsieren musste. Da Goethe in seiner Italienischen Reise den Pyramidenvergleich auf die Entwicklung der Kunst angewendet hatte, die in Raffaels Werken ihre Pyramidenspitze erhalten habe, windet er dem bewunderten Dichter das höchst anschauliche Bild aus der Hand, um es gegen ihn zu wenden. Ein weiterer Vergleich: Während der Entdecker und erste Kartograph eines neuen Landes (sc. Goethe) die Augen auf Berge, Flüsse und Wälder heftet, gleicht der Theoretiker (sc. Schopenhauer) dem Wanderer, der einen hohen Berg besteigt und nun in der Lage ist, 27

Ebd., S. 4. Untersuchung, die sich in systematischer Absicht mit dem Metapherngebrauch Schopenhauers und seinen mitunter ›verunglückten‹ Bildern befasst, steht noch aus. Beispielhaft ist Hans Blumenbergs Miszelle über das Uhrengleichnis (vgl. HN III, S. 146; aufgenommen in P I, S. 443), in Hans Blumenberg: Die Sorge geht über den Fluß, S. 169 f. Das Ergebnis ist wenig schmeichelhaft: »Der einsame Besitzer der wahren Zeit in einer Stadt mit lauter falschgehenden Turmuhren ist kein Weiser, sondern ein Narr.« (Ebd., S. 170.) 29 Vgl. Schopenhauer an Goethe, 11. 11. 1815, BmG, S. 21. 28 Eine

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»das Land in Einem Blick« zu überschauen.30 Auch wenn es in der Farbenlehre im Grunde genommen weder um eine Lehre noch um Farben geht, wie Theda Rehbock gezeigt hat, Goethe also weder eine wissenschaftliche Theo­rie aufstellen wollte noch die »Farben« für sich stehen, sondern Platzhalter sind für die Anschauung und die Erfahrung im Rahmen einer durch Aufklärung und wissenschaftlichen Fortschritt bedrohten Lebenswelt, war dies doch zu starker Tobak, und Goethe konnte nicht umhin, im Rückblick auf seine Zusammenarbeit mit dem jungen Feuerkopf in einem Brief an einen Vertrauten zu sagen, dass der designierte Propagandist im Laufe der Kooperation »mein Gegner geworden« sei.31 Diese Einschätzung färbte auch auf die Lektüre des Hauptwerks ab, wie der Bericht Adeles über Goethes Aufnahme des Buches zeigen wird.

2.3  Weltwerk und Sonnenauge

Nach Abschluss der Arbeit an seinem Werk drängte es Schopenhauer, das Sehnsuchtsland der Deutschen zu besuchen, das seine Eltern auf der grand tour von 1803 und 1804 ausgespart hatten: Italien. Das Buch war im Druck, der Verleger mit Instruktionen und Schmähungen überhäuft worden und der Autor ein reicher junger Mann, den es mit Macht in den Süden zog. Der große Goethe hatte ihm die Erfahrung Italiens voraus, eine erste ›Hegire‹, die den Charakter einer Flucht aus den als unerträglich empfundenen Weimarer Verhältnissen trug. Es gibt nur wenige Zeugnisse von dieser Reise, einige Briefe, Erwähnungen und Notizen. Von seiner Zeit in Venedig sprach der alte Denker aber zu Vertrauten gern. Christoph Poschenrieder hat eine gut recherchierte, glänzend imaginierte Geschichte der venezianischen Monate geschrieben, die uns erstmals den jungen Mann, wie wir ihn von dem idealisierten Porträt Ludwig Sigismund Ruhls kennen, in lebendiger Aktion vor Augen führt.32 In Rom erhielt er endlich den Brief seiner Schwester, die er dringend gebeten hatte, sich nach Erscheinen des Buches um erste 30

Ebd., S. 20.

31 Goethe an Christoph F. L. Schultz, 19. 7. 1816, BmG, S. 51; vgl. WA IV/27,

S. 103 ff. 32 Christoph Poschenrieder: Die Welt ist im Kopf. 68  |  Thomas Regehly 

Reaktionen zu kümmern, vor allem aber ihm mitzuteilen, wie Goethe, auf dessen Spuren er doch wandelte, sein Werk aufgenommen habe. Vermutlich im Februar 1819 schrieb sie ihm das Erwünschte, das in erstaunlicher Weise Goethe als Autor des Divans lebendig werden lässt. Schopenhauer hatte dem Dichter sein Hauptwerk bereits brieflich angekündigt: »Der Titel des Buchs, den bis jetzt außer dem Verleger und mir noch kein Mensch weiß, ist: ›Die Welt als Wille und Vorstellung […].‹ – Brockhaus erhält den Auftrag Ewr Excellenz ein schönes Exemplar zu übersenden.«33 Goethe versicherte ihm daraufhin, das angekündigte Werk »mit allem Antheil« lesen zu wollen.34 Am 18. Januar 1819 war es schließlich so weit, dass die Schwester das Dedikationsexemplar im Frauenplan expedieren konnte.35 »Brachte Fräulein Schopenhauer das Werk von Arthur Schopenhauer: Die Welt als Vorstellung und Wille. Ward einiges gelesen und mitgeteilt.«36 Gleich bei der ersten Erwähnung unterläuft Goethe eine aufschlussreiche Verdrehung: Die »Vorstellung« verdrängt den Willen vom angestammten ersten Platz, dem ersten Satz des Buches entsprechend, der auf Goethe wie ein wenig erfreuliches Fanal gewirkt haben muss: »Die Welt ist meine Vorstellung.« Weitere Hinweise auf eine Lektüre sind rar. Für den nächsten Tag wird notiert: »Hofrath Meyer. Schopenhauers Werk und über dasselbe.«37 In Adeles Lesebericht ist jedes Wort von Belang.38 Sie stand – kurz gesagt – vor der schwierigen Aufgabe, ihrem genialischen Bruder klarzumachen, dass Goethe das Buch zwar mit großem In33 Schopenhauer

an Goethe, 23. 6. 1818, BmG, S. 41. an Schopenhauer, 9. 8. 1818, ebd., S. 43. 35 Vgl. De XVI, S. 56. 36 Goethe: Tagebücher, [18. 1. 1819], WA III/7, S. 7; bzw. GT 7.1, S. 12, 7.2, S. 518. 37 Ebd. Außerdem finden sich Einträge für den 21. 1. 1819 (vgl. WA III/7, S. 8; bzw. GT 7.1, S. 13), erneut mit verdrehtem Titel, und für den 24. 1. 1819 (vgl. WA III/7, S. 9; bzw. GT 7.1, S. 14), wo Goethe nur von »Schopenhauers Welt« spricht. 38 Aus Adele Schopenhauers Tagebüchern geht hervor, dass sie die Nachricht vom Tode des alten Quandt am 9. 1. 1819 erhalten hatte, am 16.1. das Buch ihres Bruders von dem befreundeten jungen Quandt erhielt, der die Verteilung der zehn Freiexemplare übernommen hatte, und sie am 5.2. ihren Bericht nach Neapel schickte, vgl. die Tagebücher der Adele Schopenhauer, Bd. II, S. 8 f., 12. 34 Goethe

›Licht aus dem Osten‹  |  69

teresse aufgenommen habe, was vermutlich nicht ganz stimmt, von einer gründlichen Lektüre aber lieber sprach, als diese tatsächlich in Angriff zu nehmen, vor allem nicht in der vom Verfasser detailliert in seiner Vorrede empfohlenen Weise. Als Voraussetzung eines angemessenen Verständnisses des Textes vor dem Beginn der Lektüre deren Wiederholung zu fordern, dann noch das Studium der Dissertation, der Farbenschrift, der Werke Kants und Platons sowie schließlich die der esoterischen Upanischaden, grenzte an eine Unverfrorenheit, die sich ein Montaigne leisten konnte, aber kein Unbekannter wie Arthur Schopenhauer. Die Aufforderung zu einer solchen Lektüre musste einen jeden befremden. Adele schreibt: Nun laß uns von Deinem Werke reden. Ich erhielt es vor kurzem. Quandt’s Vater ist todt, daher die Verzögerung. Goethe empfing es mit großer Freude, zerschnitt gleich das ganze dicke Buch in zwei Theile und fing augenblicklich an, darin zu lesen. Nach einer Stunde sandte er mir beiliegenden Zettel und ließ sagen: Er danke Dir sehr und glaube daß das ganze Buch gut sei. Weil er immer das Glück habe, in Büchern die bedeutendsten Stellen aufzuschlagen, so habe er denn die bezeichneten Seiten gelesen und große Freude daran gehabt. Darum sende er die Nummern, daß Du nachsehen könnest was er meine. Bald gedenkt er Dir selber weitläufiger seine Herzensmeinung zu schreiben; bis dahin solle ich Dir dies melden.39

Der Bericht springt nun über in die indirekte Rede, um dann wieder zu Goethes direkter Rede zurückzukehren. Wenige Tage darauf sagte mir Ottilie, der Vater sitze über dem Buche und lese es mit einem Eifer, wie sie noch nie an ihm gesehen. Er äußerte gegen sie: auf ein ganzes Jahr habe er nun eine Freude; denn nun lese er es von Anfang zu Ende und denke wohl soviel Zeit dazu zu bedürfen. Dann sprach er mit mir und meinte, es sei ihm eine große Freude, daß Du noch so an ihm hingest, da ihr euch doch eigentlich über die Farbenlehre veruneinigt hättet, indem Dein Weg von dem seinen abgienge. In diesem Buche gefalle ihm vorzüglich die Klarheit der Darstellung und die Schreibart, obschon Deine Sprache von der der Andern abweiche, und man sich erst gewöhnen müsse, die Dinge so zu nennen wie Du es verlangst. Habe man aber einmal diesen Vortheil erlangt und wisse: daß Pferd nicht Pferd, sondern cavallo und 39 Adele

Schopenhauer an Arthur Schopenhauer, [5. 2. 1819], FB, S. 273.

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Gott etwa dio oder anders heiße, dann lese man bequem und leicht. Auch gefalle ihm die ganze Eintheilung gar wohl – nur ließ ihm das ungraziöse Format keine Ruh, und er bildete sich glücklich ein, das Werk bestehe in zwei Theilen. Nächstens hoffe ich ihn wieder allein zu sprechen; vielleicht äußert er etwas Befriedigenderes. Wenigstens bist Du der einzige Autor, den Goethe auf diese Weise mit diesem Ernste liest; das, dünkt mich, muß Dich freuen.40

Adele schildert dann ihre eigenen Lesebemühungen, die sie mit ihrer Freundin Ottilie unternimmt, sagt aber gleich, was jedem Leser auffallen musste: »die Vorrede erschreckte mich«.41 Auch der durchaus geneigte Leser – hier Adele – wird durch den Gestus der Vorrede vor den Kopf gestoßen. Bei aller Liebe und prinzipiellem Wohlwollen kommt er nicht weit, scheitert recht bald an »fremden Worten und Ausdrücken« und der eigenartigen Terminologie des Autors, die Goethe gleich auffiel, aber schon von einem Rezensenten der Dissertation bemängelt wurde, der sich einer »babylonische[n] Sprachverwirrung« ausgesetzt sah.42 Adeles Brief ist einerseits ein vorzügliches Dokument für Goethes Art der Lektüre und zugleich der vollkommene Ausdruck seines zutiefst ambivalenten Verhältnisses dem jungen Schopenhauer gegenüber. Andererseits belegt sie auch die gravierenden Hemmnisse der Rezeption, die der Autor sich selbst in den Weg geräumt hatte. Die Kunst, dies alles in einen diplomatischen, dabei geschwisterlich-herzlich gehaltenen Brief einzuflechten, bezeugt die große Intelligenz und die hohe Kultur des Herzens der viel zu lange völlig unterschätzten Schwester Schopenhauers.43 Zurück zu den Büchern. Goethes Handexemplar besteht, wie wir sahen, aus zwei Teilen. Das »ungraziöse Format« machte ihm zu schaffen, so dass er es kurzerhand – wenn auch organisch – zerlegte. Der eine Teil umfasst die Bücher I bis III, der zweite Teil das IV. Buch 40 Ebd.,

S. 273 f. In ihren Tagebüchern merkt Adele an, dass Goethe genau wie ihr Bruder durchaus eine »eigene Sprache« spreche, vgl. Adele Schopenhauer: Tagebücher, Bd. II, S. 8. 41 Adele Schopenhauer an Arthur Schopenhauer, [5. 2. 1819], FB, S. 274. 42 Reinhard Pieper: Die zeitgenössischen Rezensionen der Werke Schopenhauers, S. 186. 43 Gabriele Büch: Alles Leben ist Traum; sowie das Buch über Adeles langjährige Freundin: Gabriele Büch: La principessa tedesca. ›Licht aus dem Osten‹  |  71

und den Anhang, die »Kritik der Kantischen Philosophie« betreffend.44 Der Akt des Zerschneidens wird von Adele mit Bedacht nicht gleich zu Anfang in seiner ganzen Gewaltsamkeit evoziert. Diese Geste hätte den Rompilger vermutlich zu Recht schockiert. Nach Schilderung der todesfallbedingten Verzögerung schildert sie zunächst einmal Goethes »große Freude«, die das abrupte Zerteilen des Lebenswerks ein wenig erträglicher macht. Spontan, »augenblicklich«, wie Adele schreibt, machte er sich an die Lektüre, die nun aber einen ganz besonderen Charakter hat. Er lässt sich vom »rechten Augenblick« leiten, beginnt also nicht von vorne, sondern schlägt vermutlich beide Teile einmal auf, ganz auf sein Glück vertrauend, »in Büchern die bedeutendsten Stellen aufzuschlagen«. Das Ergebnis teilt er Adele in Form eines Zettels mit, der »Nummern«, das heißt die Seitenzahlen enthält, die anzeigen sollen, wo er Bedeutendes oder Ansprechendes entdecken konnte. Der Zettel enthält zwei Seiten aus dem dritten Buch und zwei aus dem vierten. In Gwinners Biographie von 1862 findet sich die – hinsichtlich der späteren Ausgaben natürlich nicht authentische – Angabe »S. 320 und 440 der ersten, 251 und 344 der zweiten, 261 und 360 der dritten Auflage«.45 Der heutige Leser merkt sofort, dass bei dieser Angabe etwas nicht stimmen kann. Mit jeder neuen Auflage änderte sich durch den Umbruch auch der Satzspiegel, damit die Verteilung des Textes auf die verschiedenen Seiten. Wenn wir wissen wollen, was Goethe meinte, müssen wir uns an die erste Auflage von 1819 halten. Zudem überrascht, dass Gwinner nur eine Seite nennt, während der Zettel doch vier »Nummern« enthalten haben soll.46 In den neueren Ausgaben lässt sich die Referenz gar nicht mehr feststellen. Schon die bloße Zahlenangabe verwundert auf den ersten Blick. Mehr konnte oder wollte Goethe nicht mitteilen? Adele spürte die Merkwürdigkeit einer derartigen Notiz Ruppert (Bearbeiter): Goethes Bibliothek, S. 456, führt an »XVI, 384 S.«, d. h. XVI Seiten der Vorrede und die Seiten 1–384 der ersten drei Bücher, und »S. 385–725«, d. h. das vierte Buch nebst Anhang, aber ohne das aus Reisegründen nur bis Seite 176 reichende Druckfehlerverzeichnis, also »2 Pp.«, d. h. zwei Pappbände, ohne einen in der Regel vom Besitzer beim Buchbinder in Auftrag gegebenen Einband. 45 Wilhelm Gwinner: Arthur Schopenhauer, S. 43. 46 Vgl. De XVI, S. 256 Anm. zu De XIV, S. 250, 27/28. 44 Hans

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und kündigte deshalb an, dass der Dichter »bald […] weitläufiger seine Herzensmeinung […] schreiben« werde – was nicht geschah. Nicht nur die Zahlenform erinnert an die Chiffernbriefe, die Goethe mit Marianne von Willemer wechselte47 und die verschlüsselte Botschaften enthielten, denen die zweibändige Hafis-Ausgabe von Hammer-Purgstall als Grundlage diente. Auch das Leseglück, der kairos des inspirierten Lesers, verweist auf den Westöstlichen Divan, an dessen Vollendung Goethe zu jener Zeit arbeitete, so dass er »bis zum Ende revidiert in die Druckerei abgegeben«48 werden konnte. Im »Buch der Sprüche« des Divan stehen nun diejenigen Verse, die Aufschluss geben über die Methode seiner Lektüre: »Wer mit gläubiger Nadel sticht / Überall soll gutes Wort ihn freuen.«49 Diese Lesetechnik wurde im Arabischen als Fal (›gutes Omen‹) bezeichnet. Goethe erläutert sie in dem Abschnitt der »Noten und Abhandlungen«, der »Buch-Orakel« überschrieben ist. Diese Stelle konnte nun wiederum Schopenhauer noch nicht kennen, da der Divan erst im August 1819 vorlag, sie hätte aber ihn und Adele weiter beruhigen können. Der »düster befangene, nach einer aufgehellten Zukunft sich umschauende Mensch« wendet sich auf diese Weise, Rat suchend, »an irgend ein bedeutendes Buch, zwischen dessen Blätter man eine Nadel versenkt und die dadurch bezeichnete Stelle beym Aufschlagen gläubig beachtet«.50 Dieser überaus vertrauensvolle und voraussetzungsreiche Umgang mit Büchern wurde im Westen in erster Linie mit dem »Buch der Bücher«, der Bibel, geübt, aber auch mit anderen Werken, aus denen Losungen für das Bestehen eines widrigen Alltags gezogen wurden. In Dichtung und Wahrheit erinnert sich Goethe daran, wie seine Mutter einmal das Güldene Schatzkästlein des Carl Heinrich von Bogatzky mit der Nadel befragte, als ihr Sohn krank darniederlag, und eine »für die Gegenwart sowohl als für die Zukunft sehr tröstliche Antwort erhalten Birus/Anne Bohnenkamp (Hg.): »Denn das Leben ist die Liebe …«, S. 78–101. 48 Johann Wolfgang von Goethe an August von Goethe, 20. 7. 1819, in: Goethe: Westöstlicher Divan. Hg. von Hans-J. Weitz, S. 420. 49 WöD I, S. 62 50 Ebd., S. 208. 47 Hendrik

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hatte«.51 Im Osten, ›im Orient‹, wurde diese Sitte Hafis gleich nach seinem Ableben zuteil. Was zunächst wie ein brutaler Akt aussieht, erweist sich, sofern die Lebens- und Lesewelt des Divan als Hintergrund herangezogen wird, als eine außerordentliche Ehrung und Zeichen großer Wertschätzung. Dass Schopenhauer damit wenig anfangen konnte, steht auf einem anderen Blatt. Auf jeden Fall handelt es sich um eine dezidiert unphilosophische Art der Lektüre, oder, etwas distanzierter gesagt, um eine auf das genialische Werk des anmaßenden Feuerkopfes angewandte Voodoo-Praktik. Die von der Schwester liebenswürdig imaginierte Art der gründlichen Lektüre des Werks, ein ›Studium‹ desselben, fand nie statt. Die weiteren Teilaspekte ihrer Darstellung waren ebenfalls eher unglaubwürdig: »auf ein ganzes Jahr« – bei Goethes Auslastung durch unzählige Ämter und Verpflichtungen klingt dies fast absurd. Dass Goethe das Buch »von Anfang bis Ende« lesen wollte, hatte nicht nur mit der Realität wenig zu tun, sondern passte auch nicht zur speziellen Art des Goethe’schen Lesens, wie sie im Divan entwickelt und dem lesenden Nutzer anempfohlen wurde. Vermutlich hätte auch gleich der erste Satz, der prägnante Anfang des Werks, zum Lektüreabbruch geführt. Für Goethe war die Welt nicht »meine Vorstellung« – wie natürlich für Schopenhauer auch nicht. Aber um dies zu erkennen, hätte der Leser sukzessive bis zum zweiten Buch, zumindest bis zum § 17 – die Paragraphierung findet sich erst in der zweiten Auflage von 1844 – fortschreiten müssen. Adeles Erwähnung des »Ernstes« und »Eifers« Goethes, ist »politisch« motiviert und entspringt einer familiären Klugheitslehre, geschult am Umgang mit schwierigen Personen. Den Bruder dann noch aus einem Meer anderer Autoren als den einzigen Autor herauszuheben, dem Goethe sich ganz widme, ist überzogen und grenzt an Schmeichelei. Der späte Schopenhauer beklagte sich deshalb durchaus mit Recht darüber, dass Goethe sein Hauptwerk nicht gelesen, d. h. nicht durchstudiert habe, wie es sich für ein grundlegendes philosophisches Werk gehört. Dieser Verdacht tingierte und verbitterte seine Erinnerung an den »Dichter der Deutschen«. Aus einem von Eckermann überlieferten Vergleich Goethes aus dem Jahr 1824, der 51 Goethe:

S. 1511 f.

Dichtung und Wahrheit, FA I/14, S. 111; zitiert in: WöD II,

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die Unzerstörbarkeit des Geistes mit dem nächtlichen Fortleuchten der Sonne zusammenbringt, folgerte er unter Hinweis auf die Verwendung dieses Vergleichs in seiner ersten Auflage52 wenig überzeugend: »[…] also hatte er mein Buch gelesen.«53 Besonders seltsam erscheint Goethes ›stechende‹ Lektüre, wenn sie gegen andere Arten einer in der Regel euphorischen, ja rauschhaften Aufnahme des Werks gehalten wird, wie sie von Philipp Mainländer, Friedrich Nietzsche, Thomas Mann, Karl Eugen Neumann und anderen, auch zeitgenössischen Lesern, überliefert sind. In den Buddenbrooks findet sich diese Gegenposition höchst anschaulich dargestellt. Thomas Buddenbrook, der ungeübte Leser, gerät unversehens ins Zentrum der Philosophie Schopenhauers, und er weiß nicht, wie ihm geschieht. Das Gegenteil philosophischer Klarheit stellt sich ein. »Er fühlte sein ganzes Wesen auf ungeheuerliche Art geweitet und von einer schweren, dunklen Trunkenheit erfüllt; seinen Sinn um­nebelt und vollständig berauscht.«54 Dieses »Schopenhauer-Erlebnis«, wie es unglücklicherweise betitelt wurde, könnte im Gegensatz zur ›stechenden‹ Lektüre Goethes als ein ›schlürfendes Lesen‹ bezeichnet werden. Damit sind zwei wirkungsmächtige Extreme der Schopenhauer-Lektüre markiert. Auf der einen Seite die Minimalform, die der ›Dichter der Deutschen‹, das ›Jahrtausendgenie‹, dem Hauptwerk des jungen Denkers angedeihen ließ und die sich aus dem Bericht der Schwester mit wenig Mühe herauslesen lässt, auf der anderen Seite das Maximum einer ins Pathologische ausgreifenden Aufnahmebereitschaft, die sich ebenfalls mit übergroßem Schwung über den Buchstaben hinwegsetzt, ja hinwegschwingt, um im künstlichen Paradies einer alles durchdringenden Ergriffenheit zu verschweben. Aber halten wir uns an die von Goethe notierte »Nummer« der Erstausgabe, die dank des verdienstvollen Nachdrucks, den Rudolf Malter 1987 besorgte, durchaus keine Rarität mehr ist.55 Im späteren § 45, auf den wir verwiesen werden, geht es um die »Erfahrung der 52 Vgl.

W 1, S. 401, 528. I, S. 331 (Fußnote, Zusatz zur Druckvorlage 1844). 54 Thomas Mann: Buddenbrooks, S. 668, dazu: Thomas Regehly: Das Weltgedicht im Kleiderschrank, S. 109. 55 Während Arthur Hübscher in seinem Aufsatz von 1973 nach der »Wirkung« dieser »Stellen« in Goethes Werk sucht, geht es hier um die Erschlie53 W

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Schönheit«,56 die »rein a posteriori« gar nicht möglich ist, sondern immer »wenigstens zum Theil« apriorischen Charakter haben muss. Diese »Anticipation« ist nur dem »echten Genius«, phylogenetisch gesprochen, dem Volk der Griechen, möglich. So erklärt sich die Vorbildlichkeit der griechischen Antike: »Nur so konnte der geniale Grieche den Urtypus der menschlichen Gestalt finden und ihn als Kanon der Schule der Skulptur aufstellen […].«57 Das »Glück« hatte Goethe hier in einem doppelten Sinne auf die Sprünge geholfen. Zum einen schlug er wie von selbst diese zentrale Passage über die »menschliche Schönheit«58 auf, zum anderen bot das mit einzubeziehende Umfeld dieser Seiten höchst Vertrautes. Auf Seite 319 zitiert Schopenhauer nämlich einen der berühmtesten Sätze aus den Wahlverwandtschaften, mit Nennung des Dichternamens: »[…] daher sagt Göthe: ›wer die menschliche Schönheit erblickt, den kann nichts Uebeles anwehen: er fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in Übereinstimmung.‹«59 Um dieses ästhetische Credo geht es im folgenden Abschnitt, insbesondere auf den Seiten 320 f. Noch erstaunlicher ist allerdings, dass am Ende der Seite 321 das dem Werk vorangestellte Motto nicht nur wiederaufgenommen wird, sondern – als anscheinend unvollständiges – eine philosophische Ergänzung erfährt. Das Motto stammt aus dem weit ausgreifenden Gelegenheitsgedicht Goethes für den geschätzten Kollegen und Freund, den Bergrat Christian Gottlob von Voigt, und lautet: »Ob nicht Natur zuletzt sich doch ergründe?«60 Diese vorsichtige, fast skeptische Frage wird aus dem großangelegten Widmungsgedicht herausgebrochen und – kurz gesagt – durch Schopenhauers Buch beantwortet. Die Antwort wird vorbereitet durch den Anschluss der zitierten Passage über die »menschliche Schönheit«, auf welche Goethe von seinem »Glück« – auch ohne von der Nadel angeleitet ßung des gemeinsamen »Textraums« (Arthur Hübscher: Goethes unbequemer Schüler, S. 12 f.). 56 W 1, S. 320. 57 Ebd., S. 321. 58 Ebd., S. 318. 59 Goethe: Die Wahlverwandtschaften, HA 6, S. 283. 60 Goethe: Herrn Staats-Minister von Voigt zur Feier des 27. Septembers 1816, WA I/4, S. 15; bzw. HA 1, S. 344, 409; zuerst veröffentlicht in der Jena­ ischen Literatur-Zeitung 75 (1816) (vgl. De XVI, S. 129, Nr. 5). 76  |  Thomas Regehly 

zu werden – gestoßen war. Gleiches, so heißt es dort, werde nur von Gleichem erkannt: »[…] nur Natur kann sich selbst verstehn: nur Natur wird sich selbst ergründen: aber auch nur vom Geist wird der Geist vernommen.«61 Mit der Motto-Frage erweist der Autor dem Dichter zwar seine Reverenz, aber der Denker, so zeigte sein Buch, ist nicht nur für die Natur zuständig, sondern seine Domäne ist der Geist, dem der Naturgeist selbst in begrifflicher Form korrespondiert. Dass ›Geist‹ ebenfalls ein zentraler Begriff des dichterischen Denkens ist, das im Divan seinen vollkommenen Ausdruck gefunden hat, konnte Schopenhauer an dieser Stelle nicht bewusst sein. Es heißt im Divan so nebensächlich wie apodiktisch: »[…] denn das Leben ist die Liebe / Und des Lebens Leben Geist.«62 Gerade der Divan zeigt also, dass Schopenhauer mit seiner »christlich motivierte[n] Entgegensetzung von Geist und Natur«63 sich auf Goethe durchaus nicht berufen konnte. Was ist mit der zweiten »Nummer«? Ein Blick in die Erstausgabe des Hauptwerks zeigt, dass Goethe erneut mit erstaunlichem Geschick gerade auf die Seiten des vierten Buches geraten ist, die seinem Denken korrespondieren. Kurz gesagt handelt es sich um das Kernstück der Schopenhauer’schen Lehre vom »erworbenen Charakter«, eine Erörterung, die mehr oder weniger eingeschoben wurde und nicht zur »eigentlichen Ethik« gehöre, da sie eher für das »Weltleben« wichtig sei und den Spielraum absteckte, den der Einzelne im Rahmen der ›geprägten Form‹ seines Charakters hat.64 Ganz im Sinne Goethes heißt es: »Denn es giebt eigentlich gar keinen Genuß anders, als im Gebrauch und Gefühl der eigenen Kräfte, und der größte Schmerz ist wahrgenommener Mangel an Kräften, wo man ihrer bedarf.«65 Diese Beobachtung Schopenhauers einleitend findet sich ein Zitat aus dem Faust, den Schopenhauer zeit 61 W

1, S. 321 f. Allerdings ging auch Goethe keinesfalls von einer »ontologischen Spaltung zwischen Mensch und Natur« aus, wie Theda Rehbock zu recht feststellt (vgl. Theda Rehbock: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹, S. 162 f.). 62 WöD I, S. 88. Birus macht auf den neutestamentlichen Hintergrund dieser Zeile aufmerksam (vgl. WöD II, S. 1242 f.). 63 Martin Heidegger: Übungen für Anfänger, S. 47. 64 W 1, S. 443. 65 Ebd., S. 440. ›Licht aus dem Osten‹  |  77

seines Lebens über die Maßen schätzte, und ein Hinweis auf den »Dämon«, der einen jeden zwingt, »sich treu [zu] bleiben und seine Bahn [zu] durchlaufen«.66 In der Goethe-Forschung ist die zen­ trale Bedeutung der Kategorie des Dämonischen für Die Wahlverwandtschaften bekannt.67 Zu Beginn der eben zitierten Seite betont Schopenhauer die Bedeutung der »Maximen« für das besonnene Handeln, um die »eigentliche Selbstkenntnis« zu erwerben,68 deren Gegenteil die »Unkenntnis der eigenen Individualität« darstellt.69 Der Autor spricht hier ausdrücklich nicht von der ›Selbsterkenntnis‹, die es – als Erkennen des Erkennenden – seiner und auch der Auffassung Goethes zufolge nicht geben kann. Was es geben kann, ist die ›Selbsterkenntnis des Willens‹, der metaphysisch gesprochen als ›Charakter‹ erscheint. Hier sind die luziden Differenzierungen der Dissertation (§ 43) zwischen dem ›Ich erkenne‹ und dem ›Ich will‹ einzusetzen, die deutlich machen, dass bereits der Verfasser der Dissertation nach Wegen suchte, dem Unglück des Wollens zu entkommen – und zwar durch Erkenntnis. Der Exkurs über den »erworbenen Charakter« befasst sich mit dem »Weltgebrauch« der Philosophie. Es überrascht nicht, dass Schopenhauers Glückslehre, die Franco Volpi 1999 aus dem Nachlass rekonstruiert hat, diesen Abschnitt als Lebensregel Nr. 3 in seine Eudämonologie einbeziehen konnte.70 Die direkt anschließende Lebensregel Nr. 4 sollte »das zu S. 442 des Werks Beigeschriebene« bringen, eine Marginalie über das Verhältnis der Ansprüche zum Besitz, die Franco Volpi zufolge in den Anfang des III. Kapitels der Aphorismen zur Lebensweisheit eingegangen ist.71 Diese ›Kunst, nicht unglücklich zu sein‹ – wie ich sie lieber nennen möchte – wird bereits in den Berliner Jahren ab Oktober 1826 skizziert. Da Schopenhauer sie erstmals in seinem Erfolgsbuch, den Parerga und Paralipomena, 1851 veröffentlichte, werden diese ›Paränesen und Maximen‹ in den Aphorismen zur Lebensweisheit gemeinhin mit 66

Ebd., S. 438. Goethe: Die Wahlverwandtschaften, HA 6, S. 670. 68 W 1, S. 437. 69 Ebd., S. 442. 70 Arthur Schopenhauer: Die Kunst, glücklich zu sein. 71 Vgl. die Anmerkung zum Stichwort »David« in VN IV (De), S. 417; Arthur Schopenhauer: Die Kunst, glücklich zu sein, S. 37; P I, S. 367 f. 67 Vgl.

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dem alten Denker in Verbindung gebracht, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass es bereits für den jungen Mann darum ging, sich der ›misslichen Sache‹ des Lebens – durch Maximen gewappnet – gewachsen zu zeigen, anders gesagt mit dem Leben in einer philosophisch akzeptablen Weise fertig zu werden. Der Begriff des Charakters findet im Übrigen seine erstaun­ liche Entsprechung in Goethes Begriff der ›Persönlichkeit‹, der im Westöstlichen Divan an prominenter Stelle begegnet, wie wir noch sehen werden. Goethe hat also auch mit der zweiten »Nummer« Wesent­liches getroffen, er ist wie von selbst »mit gläubiger Nadel stechend«72 auf zentrale und vor allem gemeinsame Gedanken gestoßen, denen im Einzelnen nachzugehen ihm aber Zeit und Interesse fehlte. Immerhin hatte man sich ja, wie die Schwester aus seinem Munde gehört hat, »über die Farbenlehre veruneinigt«.73 Nur dem bewundernswerten diplomatischen Geschick Goethes – und wohl auch seiner Verpflichtung der Mutter des ungebärdigen jungen Mannes gegenüber – ist es zu verdanken, dass es nicht zu einem offenen Bruch einschließlich eines Abbruchs der Beziehungen gekommen war.

3. Schopenhauer liest Goethe 3.1  ›Licht aus dem Osten‹

Dass Weimar, die kleine, lange Zeit unbedeutende Residenzstadt an der Ilm, Anfang des 19. Jahrhunderts zum »Fixstern kultureller nationaler Größe«74 aufgestiegen war, lag zweifellos an Goethe, dem »Einzigen«, wie er immer wieder von Zeitgenossen genannt wurde, »der wahre Statthalter des poetischen Geistes auf Erden«.75 Johanna hatte sich diese Stadt mit Bedacht und Kalkül zum Wohnsitz gewählt. Ihr war es gelungen, Goethes Vertrauen und Freundschaft zu erwerben, was sie detailliert und sehr anschaulich an ihren Sohn nach Hamburg berichtete. Wie sehr der junge Schopenhauer den 72 WöD

I, 62 Schopenhauer an Arthur Schopenhauer, [5. 2. 1819], FB, S. 273. 74 Siegfried Seifert: Weimar, S. 6. 75 Novalis: Blüthenstaub, Nr. 106, S. 103. 73 Adele

›Licht aus dem Osten‹  |  79

Dichter, Wissenschaftler und Minister schätzte, zeigt seine Selbstbiographie, aus der ebenfalls schon zitiert wurde. Er nannte ihn dort die »hohe Zierde unseres Jahrhunderts und der deutschen Nation […], dessen Namen alle Zeiten im Munde führen werden«.76 Später forderte er in seinem Gutachten für ein Goethe-Denkmal an die Frankfurter Stadtväter, dass auf dem Postament als Inschrift stehen solle: »Dem Dichter der Deutschen seine Vaterstadt, 1838.«77 Die Begründung bezeugt das Ausmaß seiner Verehrung für den »Riesenbruder« Kants.78 Mit dieser Inschrift solle man es bewenden lassen. Aber auch schlechterdings keine Silbe mehr! Dadurch daß diese Inschrift Goethe’s Namen nicht nennt, sondern voraussetzt, ist sie zu seinem Ruhme unendlich beredter als das wortreichste Encomium je seyn könnte. Denn sie besagt, daß er der Einzige, der Unvergleichliche ist, der, den Jeder kennen muß, den keine Zeit vergessen, kein Nachfolger je verdunkeln kann.79

Dieser Vorschlag entspreche den Grundsätzen der Ästhetik wie keine anderen sonst. »Und somit ist sie, in ihrer lakonischen Kürze, erhaben, im Beschauer Ehrfurcht erweckend.«80 Angesichts dieser Verehrung ist es nicht verwunderlich, dass Schopenhauer von Jugend an bis ins Alter immer wieder Schriften des verehrten Mannes, mit dem er persönlichen Umgang pflegen durfte, gelesen hat. Er war bestens vertraut mit den Gedichten und Liedern Goethes, kannte die einzige Gedichtsammlung, die Goethe je als ein geschlossenes Werk publiziert hat, den Westöstlichen Divan, die Dramen konnte er als regelmäßiger Theatergänger zum Teil bereits in Weimar auf der Bühne sehen. Er zitiert aus Clavigo, Götz von Berlichingen, Egmont, der Iphigenie, der Natürlichen Tochter. Den Tasso schätzte er besonders, weil dort »das Leiden, das wesentliche Märthyrerthum des Genius als solchen“, und „dessen stetige[r] Übergang zum Wahnsinn«81 eindrucksvoll geschildert werden. Auch werde das Genie in diesem Drama als »zum praktischen Leben […] ungeschickt und unbrauch76

BmG, S. 57. Ebd., S. 62. 78 W 1, S. 719; vgl. W I, S. 627. 79 BmG, S. 62. 80 Ebd. 81 W I, S. 225. 77

80  |  Thomas Regehly 

bar, daher auch meistens unglücklich«82 charakterisiert – alles Züge des genialen Menschen, die Schopenhauer nur zu vertraut waren. Den Faust bezeichnete er als eines der »vollkommensten Meisterstücke« der Weltliteratur.83 Auch die Romane schätzte er sehr, von Werthers Leiden über den Wilhelm Meister bis zu den Wahlverwandtschaften, wie wir gesehen haben. Die Prosaschriften wie Dichtung und Wahrheit, die Italienische Reise, die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten hatte er gelesen. Mit der Farbenlehre und den naturwissenschaftlichen Schriften wie der Metamorphose der Pflanzen war er vertraut. Ein Blick in das Verzeichnis der Bücher Goethes, die sich in Schopenhauers Bibliothek befanden, informiert über die Fülle an Titeln und den Facettenreichtum der Schopenhauer’schen Lektüre.84 Er besaß die Werkausgabe von 1806–1808, zahlreiche Bände der Ausgabe letzter Hand, die 1832–1842 erschienen war, sowie Einzelausgaben von Dramen wie Faust, Des Epimenides Erwachen, zwei Ausgaben der Gedichte, von denen ihm die Lieder besonders zusagten, ferner die Erstausgabe des Bandes über Winkelmann und sein Jahrhundert (1805), der Wahlverwandtschaften (1809) und des hier immer wieder herangezogenen Westöstlichen Divans (1819), die Propyläen von 1798 bis 1800, den Versuch über die Metamorphose der Pflanzen, Briefausgaben und die Übersetzung von Diderots Dialog Rameaus Neffe. Von dieser Übersetzung wurde er im Jahr 1816 zu einer erstaunlichen Selbstcharakterisierung angeregt, die umgewandelt ihren Weg in die Vorrede zur ersten Auflage des Hauptwerks fand: Ich gestehe übrigens daß ich nicht glaube daß meine Lehre je hätte entstehn können, ehe die Upanischaden, Plato und Kant ihre Strahlen zugleich in eines Menschen Geist werfen konnten. Aber freilich standen (wie Diderot sagt) viele Säulen da und die Sonne schien auf alle: doch nur Memnons Säule klang. Rameau’s Neffe.85

Aus dem nur dem Manuskript anvertrauten ›Geständnis‹ werden in der offiziellen Vorrede an das leider wenig geneigte Publikum 82 W

II, S. 320. 83 Ebd., S. 468. 84 Vgl. HN V, S. 405–411, Nr. 1450–1465. 85 HN I, S. 422. Vgl. Denis Diderot: Das erzählerische Gesamtwerk in vier Bänden, Bd. IV, S. 83; bzw. ders.: Œuvres, S. 467. ›Licht aus dem Osten‹  |  81

die Lese-Empfehlungen, die er zum Verdruss der gebildeten Mitwelt selbstbewusst und unbarmherzig auszubuchstabieren unternahm. Außerdem besaß er Goethes autobiographische Schriften, die unter dem Titel Aus meinem Leben 1817 bis 1822 erschienen waren. Bei den genannten Titeln handelt es sich wohlgemerkt lediglich um den erschlossenen Bestand. Welche Bücher Goethes nicht mehr in seiner Bibliothek zu finden waren, welche er aus öffentlichen Biblio­theken oder von Freunden und Bekannten ausgeliehen hatte, ist schwer auszumachen. Man wundert sich vor allem, dass kein Exemplar der beiden Bände zur Farbenlehre (1810) nachgewiesen wird, als deren Verfechter er sich in Frankfurt wortstark gerierte. Der separat veröffentlichte Band mit den Erklärungen zu den Tafeln mit 16 kolorierten Kupferstichen ist immerhin noch vorhanden. Es wäre sinnvoll, getreu der Devise ›Einzelne und Einzelnes‹ (Norbert Altenhofer) jeder dieser Lektüren detailliert nachzugehen, die Bücher in der Bibliothek Schopenhauers auf Anmerkungen, Glossen und Lesespuren durchzusehen, was bislang noch nicht systematisch geschehen ist.86 Arthur Hübscher hat zwar im fünften Band des Handschriftlichen Nachlasses viele dieser Glossen transkribiert und veröffentlicht, gelegentlich auch Unterstreichungen erwähnt, von den bemerkenswerten Bildern und Kritzeleien ganz zu schweigen.87 Dies kann hier nicht geschehen. Ein erster Überblick muss genügen, wobei es sich empfiehlt, exemplarisch vorzugehen, um den Charakter der Wechsellektüren auch von Schopenhauers Seite deutlich zu belegen. Der Westöstliche Divan soll bei diesem Versuch im Vordergrund stehen. Erstaunlich bleibt, dass die Gemeinsamkeiten des Dichters und des Denkers in Hinsicht auf ein neues Verhältnis zum Orient noch nicht genauer untersucht wurden. Beide haben auf ihre Weise das Tor zum Osten geöffnet: Schopenhauer durch die in seiner Zeit für Philosophen ungewöhnliche Hochschätzung der indischen Weisheit, Goethe durch seine Flucht aus dem zerstrittenen Europa in das Persien des zum ›Zwillingsbruder‹ erkorenen Hafis. Auch ein so vorzüglicher Kenner wie Urs App, dem wir eine epochemachende Neu86 Thomas

Regehly: Schopenhauer, der Weltbuchleser, S. 79–90. in Arthur Schopenhauer: Kritzeleien.

87 Abbildungen

82  |  Thomas Regehly 

einschätzung der indischen Lehre für die Konstitu­tion des Hauptwerks verdanken, schreibt in seinem ansonsten höchst in­struk­tiven Buch Schopenhauer’s Compass von 2014 lediglich: »It is well known that Goethe had a deep interest in the orient […].«88 Eine äußerliche Parallele bietet das Erscheinungsdatum der Welt als Wille und Vorstellung und Westöstlicher Divan im Jahr 1819. Beide Bücher sollten sich als Ladenhüter erweisen. Schopenhauer rechnete seit 1823 mit einer Neuauflage und musste erfahren, dass ein Großteil der Erstauflage vom Verleger makuliert worden war, bevor es 25 Jahre nach der Erstveröffentlichung endlich zur zweiten Auflage kam. Goethes einzige von ihm selbst als ein ›Werk‹ im emphatischen Sinne publizierte Gedichtsammlung war noch Anfang des 20. Jahrhunderts zum Ladenpreis zu haben. Die beigefügten, in vielfacher Hinsicht bedeutenden »Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis«, so der Titel des zweiten Teils der Sammlung, hatten das Publikum nicht erreicht und schon gar nicht für dieses leidenschaftliche, durchkomponierte und philosophisch durchaus relevante Buch begeistern können. Die Nichtbeachtung seitens des Publikums, der Mit- und Nachwelt, spricht aber nicht dagegen, sowohl Goethe als auch Schopenhauer im Sinne Foucaults als ›Diskursivitätsbegründer‹ zu bezeichnen, die jeweils auf ihre Art – wie man heute sagt – interkulturell dachten und den Eurozentrismus zu überwinden suchten. Goethes Divan gilt heute als ›Magna Carta des Orientalismus‹, und das Hauptwerk des »philosophischen Weltbürgers« Schopenhauer (Robert Zimmer) öffnete nicht nur der Philosophie das Tor zum Osten. Weder bei Schopenhauer noch bei Goethe finden sich aber weiterführende Hinweise auf dieses gemeinsame Bemühen um den Orient. Goethe hatte Schopenhauers Hauptwerk, wie diesem schmerzlich bewusst war, nicht gelesen, zumindest nicht so durchstudiert, wie Adele es in ihrem Brief dem Bruder geschildert hatte. Nicht nur der erste Satz des Buches hätte den ›Olympier‹ – wie gesagt – verdrossen, auch der Vergleich der Entdeckung der Sanskrit-Literatur mit der Renaissance, der »Wiederbelebung der Griechischen«,89 [sc. Literatur; Th. R.] wäre ihm vermutlich überzogen vorgekomApp: Schopenhauer’s Compass, S. 157. 1, S. XIII.

88 Urs 89 W

›Licht aus dem Osten‹  |  83

men. Die ›indischen Fratzen‹ waren Goethe bekanntlich ebenso abhold wie die Fachterminologie der Philosophen, deren indische Form ihm noch fratzenhafter erscheinen musste als die zeitgenössische. Schopenhauer besaß zwar – wie erwähnt – die Erstausgabe des Divan, den ihm seine Schwester gleich nach Erscheinen in ihrem Brief vom 12. November 1819 ans Herz gelegt hatte,90 aber er benutzte dieses Buch eher für seine eigenen Zwecke, als dass er es zu lesen unternahm. Der Ausdruck ›Antihermeneutiker‹, auf Schopenhauer angewandt,91 bezieht sich auf sein Verhältnis zu Büchern und Texten, das sein etwas ruppiger Umgang mit dem Westöstlichen Divan bezeugt, der doch in seinen Gedichten und schon in der dialogischen Struktur wesentliche Hinweise auf eine neue Auslegung der Lebenswelt enthält, eine poetisch explizierte ›Hermeneutik der Alterität‹, die eigens herauszuarbeiten wäre. Schopenhauer aber suchte dort nach Belegen für seine Argumente, um seinen ›einen Gedanken‹ plastischer zu gestalten. Da die Philosophen nun einmal mit Begriffen als ihren Instrumenten arbeiten und Gedichte keine Argumente im engeren Sinne liefern, kann der eigene Gedankengang durch Zitate aus Dichtungen anschaulicher werden. Das ist der Tenor des Zugriffs – anders kann man es nicht nennen – auf die Gedichte des Divan. Es bleibt ein Desiderat der Forschung, die verschiedenen Formen der Zitation und »Quellenbenutzung«, wie sie in Schopenhauers Schriften begegnen, detailliert darzustellen, wie von Christa Dill für den Divan praktiziert.92 Diesem im Dienst der eigenen Lehre stehenden Ansatz kommen die drei Bücher mit Sprüchen, das »Buch der Betrachtungen«, das »Buch des Unmuts« und das »Buch der Sprüche«, am weitesten entgegen, wobei sich das zwischen die beiden anderen Spruchbücher gelagerte und auf diese Weise ein wenig ausbalancierte und abgefederte »Buch des Unmuts« dem temperamentvollen Gebrauch besonders anbot. Aus dem »Buch der Betrachtungen« zitiert er die ersten beiden Zeilen des ersten Gedichts: »Das glücklichste Wort, es wird ver90 Vgl.

Adele Schopenhauer an Arthur Schopenhauer, 9. 11. 1819 [verschickt: 12. 11. 1819], FB, S. 301. 91 Thomas Regehly: Schopenhauer, der Weltbuchleser; und ders.: »The Ancient Rhapsodies of Truth«. 92 Christa Dill: Wörterbuch zum West-östlichen Divan, S. IX, Hinweise von Katharina Mommsen: Goethe und Diez, S. 309 ff., aufnehmend. 84  |  Thomas Regehly 

höhnt / Wenn der Hörer ein Schiefohr ist.«93 In dem Kapitel »Von Dem, was einer vorstellt« aus den Aphorismen zur Lebensweisheit wird der Leser mit einer Zitaten-Kaskade geradezu überschüttet, die von Jesus Sirach, Hamlet, Goethe und Lichtenberg über ›Vater Gellert‹ wieder zu den Divan-Versen »Wenn wir Andern Ehre geben, / Müssen wir uns selbst entadeln« zurückkehrt und hinreichend belegen soll, dass sich der Weise von Narren tunlichst fernzuhalten habe. Das in diese Kaskade eingereihte, oben angeführte Zitat boykottiert den Reim der ersten Strophe ebenso wie die zweite Strophe, um in den argumentativen Zusammenhang eingepasst zu werden. Im vorhergehenden Kapitel »Von Dem, was einer hat« begegnen immerhin vier Zeilen, die im Divan-Gedicht eine ganze Strophe ausmachen. Die Verse »Über’s Niederträchtige / Niemand sich beklage; / Denn es ist das Mächtige, / Was man dir auch sage«94 bringen sowohl die Grundstimmung des mehr als dreißig Jahre lang ignorierten Welträtsel-Lösers zum Ausdruck, wie sie auch eine Maxime formulieren, die geeignet ist, als ›hartes Sprüchlein‹ (Nietzsche) dem erfolglosen Autor Trost zu spenden, mit Angabe der Quelle. Im selben Duktus ist das nächste Zitat gehalten, das nur wenige Seiten weiter im Divan zu finden ist, wieder eine ganze Strophe mit Fundstellenangabe, das dem Kapitel 20 »Über Urtheil Kritik, Beifall und Ruhm«95 einverleibt wurde: »Denn es ist kein Anerkennen, / Weder vieler, noch des einen, / Wenn es nicht am Tage fördert, / Wo man selbst was möchte scheinen.«96 Die erste Strophe stellt die ›Eigenliebe‹ heraus, als l’amour propre das Thema der französischen Moralistik seit La Rochefoucauld, die dritte Strophe bringt die Schwundstufe einer vorsichtigen Hoffnung auf den Sieg des ›Rechten‹ angesichts des herrschenden Defätismus zum Ausdruck und wird in der zweiten Auflage der Dissertation 1847 zitiert, diesmal mit Quellen- und Seitenangabe: »Morgen habe denn das Rechte / Seine Freunde wohlgesinnet / Wenn nur heute noch das Schlechte / Vollen Platz und Gunst gewinnet.«97 In § 34, »Die Vernunft« betitelt, holt Schopenhauer weit aus, um das Ausmaß des 93 WöD

I, S. 44; P I, S. 420. S. 58; P I, S. 373. 95 P II, S. 482–508. 96 WöD I, S. 59; P II, S. 494. 97 WöD I, S. 49; G, S. 121. 94 Ebd.,

›Licht aus dem Osten‹  |  85

›Schlechten‹ abzustecken. Der zitierten Divan-Strophe kommt dabei eine Scharnierfunktion zu, der die Beschreibung eines epochalen Wandels folgt. »Eine längst prophezeite Epoche ist eingetreten […].«98 Diese fulminante Zeitdiagnose hat keinerlei Entsprechung in der ersten Auflage von 1813, so dass sich der Autor selbst wieder zur Ordnung rufen muss: »Doch ich kehre zu meinem Thema zurück.«99 Auch das »Buch der Sprüche« wird zur Illustration herangezogen. Wenige Zeilen nach den Versen, die Goethes Art der ›stechenden‹ Lektüre des Hauptwerks inspiriert zu haben scheinen, stehen Verse, die das Außergewöhnliche des genialen Werks betonen: »Wie etwas sey leicht, / Weiß der es erfunden und der es erreicht.«100 Schopenhauer zitiert sie im Kapitel 10 des zweiten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung, »Zur Syllogistik« überschrieben, das auf seine umfangreiche und lesenswerte Logik zurückgreift, die er 1820 den wenigen Hörern seiner Vorlesung als seine »Theo­rie des ab­ strakten Erkennens« vorgestellt hatte. Hier findet sich kein Hinweis auf die Quelle; die Verse können durchaus als Replik auf den Verriss der Logik in der Studierstubenszene des Faust I verstanden werden. Im Kapitel »Von Dem, was einer vorstellt« greift Schopenhauer auf ein Gedicht zurück, das auf derselben Seite im »Buch der Sprüche« steht. Um die »stille Wuth der Nichtswürdigkeit« zu charakterisieren, zieht er Goethes Verse heran: »Was klagst du über Feinde? / Sollten Solche je werden Freunde / Denen das Wesen, wie du bist / Im Stillen ein ewiger Vorwurf ist?«101 Eine derartige ›Klage‹ sei überflüssig und zwecklos, suggerieren die zur Maxime erhobenen, wiederum Trost spendenden Verse. Überhaupt eignen sich diese Verse vortrefflich zur Absicherung und Selbststilisierung des lange Zeit verkannten Genies, das gerade durch das Buch, in dem sie stehen, endlich die ersehnte Anerkennung fand. Die Abwehr der Narren ist ein wiederkehrendes Thema des »Buchs der Sprüche«. Auch Schopenhauer hatte bekanntlich eigene Strategien entwickelt, sich Schwätzer, unangenehme Personen und Geistestouristen vom Leib zu halten, wie viele Anekdoten bezeugen. Im Sinne einer Verhal  98 Ebd.   99

Ebd., S. 123. I, S. 62; W II, S. 119. 101 WöD I, S. 62; P I, S. 395. 100 WöD

86  |  Thomas Regehly 

tensdiät war es ihm wichtig, seine geistige Kraft nicht in Geplänkeln und mit Geschwätz zu vergeuden. Auch diese Einsicht geben Goethes Verse aus dem Divan vor: »Laß dich nur in keiner Zeit / Zum Widerspruch verleiten, / Weise fallen in Unwissenheit / Wenn sie mit Unwissenden streiten.«102 Die für Schopenhauer wirkungsmächtigsten Verse aus dem Divan stammen aus dem »Buch Suleika«, dem er sich ansonsten kaum genähert hat, obwohl es im Zentrum der Sammlung steht und das Muster des Einklangs von ›Poesie als Auslegung‹ bildet, nicht nur aufgrund seiner dialogischen Struktur. Die Grundeinteilung der auch heute noch sehr beliebten Aphorismen zur Lebensweisheit scheint von zwei Zeilen eines Gedichts aus diesem Buch inspiriert worden zu sein. Der »Unterschied im Loose der Sterblichen«, so heißt es einleitend, lasse sich auf die »drei Grundbestimmungen zurückführen«, die da lauten »Was einer ist – Was einer hat – Was einer vorstellt«.103 Damit ist auch die Einteilung der Kapitel II bis IV festgelegt. Das Wichtigste sei der Charakter, wie Kant sagt, oder, wie Schopenhauer jetzt mit direktem Bezug auf Goethe sagen kann, die »Persönlichkeit«. Die bekannten Verse lauten: »Volk und Knecht und Ueberwinder / Sie gestehn, zu jeder Zeit, / Höchstes Glück der Erdenkinder / Sey nur die Persönlichkeit.«104 Die letzten beiden Verse, bei Goethe als indirekte Rede gestaltet, finden sich, von Schopenhauer in eine These überführt, in den Gedankenbüchern ab 1828 mehrfach zitiert, als der Philosoph sich mit der GracianÜbersetzung befasste. In seinem Entwurf einer »Eudämonologie«, wie er selbst sagte, der »Kunst, glücklich zu sein« (Franco Volpi), die er schon in jungen Jahren ausarbeitete, wandelt sich der Vers zu der indikativischen Proposition »Das größte Glück ist die Persönlichkeit«. Dieser auch metrisch umgestaltete Satz – aus dem vier­ hebigen Trochäus wird ein fünfhebiger Jambus – dient als Stütze für immerhin drei Glücksregeln.105 Er wird dann aber vor allem für 102 WöD

I, S. 64; P II, S. 26 (dort: »zu keiner Zeit«; »verfallen«). I, S. 335. 104 WöD I, S. 84; P I, S. 338. 105 Es handelt sich um die Regeln Nr. 38 (vgl. HN IV (1), S. 131 (»Cogitata«, S. 361, 1833); Arthur Schopenhauer: Die Kunst, glücklich zu sein, S. 75), S. 44 (vgl. HN III, S. 599 (»Adversaria«, S. 272, 1830); Arthur Schopenhauer: Die 103 P

›Licht aus dem Osten‹  |  87

die ›Neue Einleitung‹ genutzt,106 die Schopenhauer 1828 formulierte und welche – wie gezeigt – die ›Grundeinteilung‹ der Aphorismen vorgab. Der Blick in das Handexemplar, das im Schopenhauer-Archiv aufbewahrt wird, zeigt intensive An- und Unterstreichungen beider Strophen. Die Verse »Höchstes Glück der Erdenkinder / Sey nur die Persönlichkeit« sind stark unterstrichen, ebenso wie die Worte »… sich nicht selbst vermißt« und »was man ist«, wodurch die Überschrift des II., den Grund legenden Kapitels bereits ausgesprochen wird. Wie oben angemerkt macht Schopenhauer aus Goethes konjunktivischen Versen einen positiven Aussagesatz. Schon in den ersten Notizen ignoriert er den Konjunktiv gänzlich. Im Divan ist es eine Hypothese, die von Suleika geäußert wird, was in der apodiktischen Feststellung des Glücksforschers in keiner Weise zum Ausdruck kommt. Wichtiger noch ist die Ausblendung der Folgestrophe, in der Hatem das Thesenhafte und Sentenziöse spöttisch kommentiert und dadurch zurückweist. »Kann wohl seyn! So wird gemeynet« antwortet er, diesen Ausspruch in den Bereich des Meinens, der doxa, verweisend. Diesem allgemeinen Gerede setzt er seine besondere Form des Glücks entgegen, die personal, leibhaftig und vor allem schön ist: »Alles Erdenglück vereinet / Find’ ich in Suleika nur.«107 Dichtung argumentiert nicht, ihre Form ist das Argument. Dass die dialogische Struktur die Chance an die Hand gibt, alles Thesenhafte sogleich zu kommentieren, zu deuten und aus der Zurückspiegelung in die Situation eines lebendigen Gesprächs zu verwandeln, sprengt die Grenzen der Philosophie. Es überrascht deshalb auch nicht, dass Schopenhauer aus dem »Usch nameh«, dem »Buch der Liebe«, nicht zitiert, obwohl der von Goethe gewählte Titel deutlich genug auf ishq, die Kraft der allmächtigen, weltschöpfenden Liebe verweist, für die im Sanskrit-Text das Grundwort ›Maja‹ stand.108

Kunst, glücklich zu sein, S. 88) und Nr. 50 (vgl. HN III, S. 601 (»Adversaria«, S. 275, 1829); Arthur Schopenhauer: Die Kunst, glücklich zu sein, S. 95). 106 Vgl. HN III, S. 384 (»Foliant«, S. 363); Arthur Schopenhauer: Die Kunst, glücklich zu sein, S. 99. 107 WöD I, S. 84. 108 Vgl. Urs App: Schopenhauer’s Compass, Kap. 6. 88  |  Thomas Regehly 

3.2  Wahlverwandtes

Nur ein einziges Zitat in Schopenhauers veröffentlichten Schriften stammt aus den »Noten und Abhandlungen«, dem zweiten Teil des Westöstlichen Divans. Im »Versuch über das Geistersehn und was damit zusammenhängt« aus dem ersten Band der Parerga und Paralipomena heißt es: Goethe erzählt […], daß zwei liebende Paare, auf einer Lustfahrt begriffen, einander Charaden aufgaben: »Gar bald wird nicht nur eine jede, wie sie vom Munde kommt, sogleich errathen, sondern zuletzt sogar das Wort, das der andere denkt und eben zum Worträthsel umbilden will, durch die unmittelbarste Diviation erkannt und ausgesprochen«.109

Diese Geschichte findet sich in dem Kapitel »Blumen- und Zeichenwechsel«, das die orientalische Neigung, »Rätsel aufzugeben«, behandelt, »wodurch sich zugleich die Fähigkeit ausbildet, Räthsel aufzulösen, welche denjenigen deutlich sein wird, deren Talent sich dahin neigt, Charaden, Logogryphen und dergleichen zu behandeln«.110 Auch in den zeitgenössischen okzidentalen Salons wurde diese Art der Unterhaltung geschätzt, wie die von Schleiermacher, dem Theoretiker des ›geselligen Betragens‹, überlieferten »Scharaden« zeigen. Die »leidenschaftliche Divination«, die hier vorausgesetzt wird, führt Goethe dazu, zur Beglaubigung einer derartigen Gabe an den »organischen Magnetismus« zu erinnern, der die Basis für bemerkenswerte »psychische Erscheinungen« dieser Art bilde.111 Schopenhauer nimmt diesen Wink auf und erläutert die hier waltende »unmittelbarste Divination« durch eine Anekdote von seiner Italienreise. Meine schöne Wirthin in Mailand, vor langen Jahren, fragte mich, in einem sehr animirten Gespräche […], welches die drei Nummern wären, die sie als Terne in der Lotterie belegt hatte? ohne mich zu besinnen, nannte ich die erste und die zweite richtig, dann aber, durch

109 P

I, S. 324. WöD I, S. 209. 111 Ebd., S. 212. 110

›Licht aus dem Osten‹  |  89

ihren Jubel stutzig geworden, gleichsam aufgeweckt und nun reflektirend, die dritte falsch.112

Das Aufwachen verunmöglicht die dezidiert präreflexiven Einsichten, die Reflexion des Intellekts durchkreuzt das Phänomen. Schopenhauer kommt an dieser interessanten Stelle wie von selbst auf Gemeinsames und Verbindendes zu sprechen, nämlich Italien und das Interesse am ›animalischen Magnetismus‹. In Goethes Die Wahlverwandtschaften – besonders im 11. Kapitel des zweiten Buches – spielen Pendelversuche sowie das Gestein- und Metallfühlen eine wichtige Rolle, die in der Forschung mit einem italienischen Metall- und Wasserfühler namens Campetti in Verbindung gebracht wurden, den der Naturphilosoph und Experimentator Johann W. Ritter nach München holte, um dort Proben seines außergewöhnlichen Könnens zu geben. Schelling stellte in einem Bericht den Zusammenhang zum Somnambulismus her: »Es scheint, daß die eigentümliche Fähigkeit der Erz- und Wasserfühler nur als ein geringerer Grad des Somnambulismus angesehen werden könne […].«113 Diese Einschätzung entspricht derjenigen Schopenhauers: Der höchste Grad einer solchen Einwirkung findet bekanntlich bei sehr hellsehenden Somnambulen Statt, die dem sie Befragenden eine entfernte Heimath, seine Wohnung daselbst oder sonst entfernte Länder, die er bereist hat, genau und richtig beschreiben.114

Die willensmetaphysische Begründung folgt auf dem Fuße: »Das Ding an sich ist in allen Wesen das selbe, und der Zustand des Hellsehns befähigt den darin Befindlichen, mit meinem Gehirn zu denken, statt mit dem seinigen, welches tief schläft.«115 In seiner Berliner Zeit hat Schopenhauer den Kontakt mit Somnambulen gesucht, später in Frankfurt hat er sich nachdrücklich für den Magnetiseur Regazzoni eingesetzt, der von ortsansässigen Ärzten schlicht als 112 P

I, S. 324. W. J. Schelling: Notiz von den neuen Versuchen über die Eigenschaften der Erz- und Wasserfühler und den damit zusammenhängenden Erscheinungen, SW I/7, S. 493 (zitiert in Goethe: Die Wahlverwandtschaften, HA 6, S. 722). 114 P I, S. 324 f. 115 Ebd., S. 325. 113 Friedrich

90  |  Thomas Regehly 

»Betrüger denunciert« werden sollte.116 Schopenhauer dekretierte: Wer in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Nichtexistenz des thierischen Magnetismus behaupte, entlarve nur seine eigene Unwissenheit. Von den Wahlverwandtschaften hat Schopenhauer noch in der Zeit ihres Entstehens erfahren können, da Goethe 1809 Lesungen in Weimarer Zirkeln veranstaltete.117 Er besaß die Erstausgabe118 und wäre fast zum Bücherboten geworden, wie aus dem Empfehlungsschreiben Goethes für den angehenden Studenten an den Göttinger Professor Georg Sartorius hervorgeht.119 Im zweiten Band der Parerga und Paralipomena kommt Schopenhauer im Kapitel über die »Objektivation des Willens in der erkenntnislosen Natur« auf das »modernste Buch, das Goethe geschrieben hat«120 zu sprechen und liefert ein bemerkenswertes Resümee dieses Romans: Auch den Wahlverwandtschaften von Goethe liegt, wie schon der Titel andeutet, wenn gleich ihm unbewußt, der Gedanke zum Grunde, daß der Wille, der die Basis unsers eigenen Wesens ausmacht, der selbe ist, welcher sich schon in den niedrigsten, unorganischen Erscheinungen kund giebt, weshalb die Gesetzmäßigkeit beider Erscheinungen vollkommene Analogie zeigt.121

Der kritische, nach Distanz klingende Einschub »wenn gleich ihm unbewußt« wird durch das Phänomen selbst entschärft, dessen Auslegung von der wesentlichen Unbewusstheit der in Frage stehenden subliminalen Prozesse ausgeht. Goethe »trieb und liebte« die Naturwissenschaften, »wiewohl er sich der Sache nicht in abstracto bewußt war«, schreibt Schopenhauer und fügt hinzu: »Mehr noch, als dies aus seinen Schriften hervorgeht, ist es mir aus seinen persönlichen Aeußerungen bewußt.«122 Goethe konnte mit seinen dichterischen Mitteln nicht zur begrifflichen Erkenntnis des Willens gelangen, er wollte es auch gar nicht, könnte man hinzufügen. Wilhelm Gwinner: Arthur Schopenhauer, S. 97. Die Wahlverwandschaften, HA 6, S. 689 f. 118 Vgl. HN V, S. 410, Nr. 1463. 119 Vgl. De XVI, S. 104, Nr. 9. 120 Erich Trunz in HA 6, S. 673. 121 W II, S. 336 f. Im Hauptwerk wird der Ausdruck ›Wahlverwandtschaften‹ nur in Hinsicht auf die Chemie gebraucht (vgl. W 1, S. 161), häufiger in der Vorlesung (vgl. VN II, S. 97, 124 f., 176). 122 W II, S. 338; vgl. Gespr, S. 32. 116

117 Goethe:

›Licht aus dem Osten‹  |  91

Schopenhauer zufolge war allein die Willensmetaphysik in der Lage, hier eine überzeugende Erklärung anbieten zu können, da sie sich als fähig erwiesen hatte, das vom Dichter vorgelegte Material zu entziffern. Um wieviel reicher die dichterische Argumentation sein kann als die Postulierung von ab­strakten Thesen – dies sollte der Hinweis auf die »Persönlichkeit« als »höchstes Glück der Erdenkinder« zumindest andeuten.

3.3  Zwiespalt und Abschied

Einige wenige Angaben zu anderen Werken Goethes, die sich in Schopenhauers Bibliothek befanden, müssen hier genügen. Es fällt ins Auge, dass Schopenhauer sich in Briefen oder Gutachten als vorbehaltloser Bewunderer des Dichters präsentiert, ja als dessen ›Rächer‹ in Sachen Farbenlehre. Zum 100. Geburtstag des ›Olympiers‹ hatte die Stadt Frankfurt in der Stadtbibliothek an der ›Schönen Aussicht‹ ein Album ausgelegt, in dem alle ›Notabilitäten Deutschlands‹ sich verewigen sollten. In seinem Brief an Julius Frauenstädt vom 9. Dezember 1849 beschreibt er, wie er seinen Eintrag angelegt hat, nicht ohne gleich auf das verbindende Moment der Ablehnung hinzuweisen, die sowohl Goethes Farbenlehre wie seiner Philosophie durch die Mitwelt widerfahren ist. Dabei nimmt er – wie üblich – kein Blatt vor den Mund. Ich bin meiner Sache gewiß, habe mich also dermaaßen deutlich gemacht, daß es ein Skandal seyn wird. Goethe sieht von oben herab auf das Album seiner Vaterstadt, hat gewiß zehnmal mehr Freude über mein Donnerwetter, als über die Lobhudeleien der Uebrigen, sagt »Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe« und begreift, wie dämonisch er getrieben war, als er 1813 mich zu seinem persönlichen Schüler darin gleichsam preßte, vorherfühlend: Exoriare aliquis meis ex ossibus ultor [Aus meinen Knochen soll ein Rächer mir erstehen; Th. R.].123

Diese persönliche Äußerung an den ›Erzapostel‹ war durchaus nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Das überstarke Sendungsbewusstsein, das aus der ironisch geschilderten, nachgestellten Taufszene 123 Schopenhauer

an Frauenstädt, 9. 12. 1849, BmG, S. 70; GBr, S. 240.

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im Weimarer ›Jordan‹, der Ilm, den Leser förmlich anspringt, wäre der Rezeption seines Werks sicherlich nicht hilfreich gewesen. Aus der Gegnerschaft, die Adele noch authentisch bezeugte, ist dreißig Jahre später eine Art Gotteskindschaft geworden. Das Wort »dämonisch« verweist wieder auf den schon erwähnten Kontext in den Wahlverwandtschaften, den Schopenhauer hier nur andeutet, um seine Legitimation als selbsternannter Meisterschüler des zu Verewigenden plastisch vor Augen zu führen.

4. Ausklang Erstaunlicherweise sprechen die noch privateren Anmerkungen Schopenhauers in Büchern Goethes eine ganz andere Sprache. Hier geht der widerborstige Denker mit dem »Dichter der Deutschen« recht ruppig ins Gericht. Zu dessen autobiographischen Aufzeichnungen heißt es: »So zugeknöpft auch diese selbstbiographischen Tagebücher sind, so sehn wir ihn doch deutlich in einer desultorischen tändelnden Polymathie ohne Ziel und Zweck, in der er sich grade zu bewundern scheint.«124 Oft notierte er sich am Rand, dass er Plagiate entdeckt habe. So findet sich in den Gedichten von 1815 zum »Heideröslein« der Kommentar »ist gestohlen« mit Angabe der Quelle »Herder’s Volkslieder: Bd: 2. p. 228«.125 Zu Goethes Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären von 1790 notiert er erbarmungslos auf dem Vorsatzblatt: »Die Grundgedanken des ganzen Buchs sind genommen aus Caspar Wolff v. d. Generation p. 229, p 148. p 243 u.s.w. – Das Breite u. Unbestimmte des Vortrags gehört Göthen selbst an.«126 Schonungslos notiert er einmal am Rande »Deliramenta senilia«.127 Immer wieder wird die zu große Nähe zu den Phänomenen und der Mangel einer begrifflichen Durchdringung moniert. So heißt es einmal »Er hat das Phänomen beschrieben, aber eine Erklärung gar nicht versucht […].«128 Eine entsprechende Kritik findet sich bereits in der ersten Auflage der Farbenschrift, 124 HN

V, S. 406. Ebd., S. 407. 126 Ebd., S. 410; vgl. W II, S. 58, 380. 127 HN V, S. 406. 128 Ebd., S. 406 f. 125

›Licht aus dem Osten‹  |  93

wo die großen Verdienste des ministerialen Datensammlers Goethe hervorgehoben werden, um dann unbarmherzig das Fehlen einer Theo­rie zu bemängeln, wofür Schopenhauer dann – wie gesehen – eine Fülle wenig schmeichelhafter Bilder anzubieten hatte. Er konnte es zeit seines Lebens nicht recht verwinden, dass der große Dichter, den er als »vollkommenen Menschen« ansah, sein Hauptwerk nicht gelesen hatte.129 Der Philosoph trat zwar herein, seine Lehre konnte den Dichter aber nicht überzeugen. Auch Schopenhauer schöpfte kaum aus der Quelle der Dichtung. Dabei hätte er im Divan eine erstaunliche Hochschätzung des Denkens finden können, begleitet von einer ebenso erstaunlichen (Selbst-)Kritik am Handwerk des Dichtens, allerdings an einem Ort und in einer Situation, die man gemeinhin als ›unphilosophisch‹ abqualifiziert. In der Schenke, im »Buch des Schenken«, teilt der jugendschöne Schenke dem »großen Dichter« mit: »Reim auf Reim will was bedeuten, / Besser ist es viel zu denken. / Singe du den andern Leuten / Und verstumme mit dem Schenken.«130

Gwinner: Arthur Schopenhauer, S. 42. – Hans Zint meint, Schopenhauer hätte dem »Meister« Goethe sein Hauptwerk »auf den Knieen überreicht« und wäre mit einigen Redewendungen abgespeist worden (vgl. Hans Zint: Schopenhauers Goethe-Bild, S. 29 f.). 130 WöD I, S. 110. 129 Wilhelm

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Rolf Selbmann

Schräge Blicke Schopenhauers indirekte Goethe-Bilder Der junge Mann hatte bei Goethe Kredit. Schließlich führte seine Mutter Johanna Schopenhauer in Weimar einen ästhetischen Salon, in dem sich der Dichterfürst ausgesprochen wohlfühlte.1 Außerdem war es niemand anders als Goethe gewesen, der 1809 durch ein Empfehlungsschreiben dafür gesorgt hatte, dass der junge Mann, Johannas Sohn, nach seinen naturwissenschaftlichen Studien in Göttingen auch in den Wissenschaftskreisen Berlins freundlich aufgenommen wurde.2 Von diesen und anderen Eckdaten der Goethe-Nähe Schopenhauers soll im Folgenden nicht die Rede sein, wenngleich ihre Kenntnis die Voraussetzung bildet, dem Titel meines Vortrags entsprechend schräge Blicke auf Schopenhauers Umgang mit Goethe und auf seine Erinnerung an ihn zu werfen. Für diese schrägen Blicke wähle ich zwei ganz unterschiedliche Beobachtungsfelder aus, die aber beide eine besondere Leuchtkraft haben, obwohl sie in der Forschung eine sehr unterschiedliche Aufnahme gefunden haben, nämlich erstens Arthur Schopenhauer als Goethes Schüler in der Farbenlehre; diese Fragestellung ist von der Forschung hinreichend bearbeitet worden. Das zweite Beobachtungsfeld hat bisher kaum Interesse gefunden, ich meine Schopenhauers Denkschrift von 1837 zur geplanten Errichtung eines Goethe-Denkmals in Frankfurt. In einem dritten Schritt versuche in dann eine Art von Schlussfolgerung zu ziehen, in der deutlich werden soll, dass und inwiefern diese schrägen Blicke auf Goethe ein vielleicht ungewöhnliches, aber dann doch differenziertes Bild von Schopenhauers Umgang mit Goethe freilegen.3 Anke Gilleir: Johanna Schopenhauer und die Weimarer Klassik. 2 Vgl. Arthur Hübscher: Goethes unbequemer Schüler, S. 3. 3 Diese schrägen Blicke sollen keine verschrobenen sein, wie diese Abrechnung mit dem Zeitgeist der Gegenwart: Michael Dirrigl: Goethe und Schopenhauer. 1 Vgl.

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1. Der Lehrer und sein aufmüpfiger Schüler Seine Dissertation Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, bereits 1813 fertiggestellt, widmete Arthur Schopenhauer, wie konnte es anders sein, seinem wohlwollend-väter­ lichen Förderer und ärgerte sich, dass der berühmte alte Herr nur zögerlich reagierte und auch dann in seiner Antwort über wohlgesetzte, freundlich-leere Floskeln nicht hinausging. Was Goethe über Schopenhauers Buch wirklich dachte, formulierte er gegenüber seinem Freund Knebel in einem Brief vom 24. November 1813 schon deutlicher, freilich immer noch zurückhaltend und abwägend: Der junge Schopenhauer hat sich mir als einen merkwürdigen und interessanten jungen Mann dargestellt; du wirst weniger Berührungspuncte mit ihm finden als ich, mußt ihn aber doch kennen lernen. Er ist mit einem gewissen scharfsinnigen Eigensinn beschäftigt ein Paroli und Sixleva in das Kartenspiel unserer neuen Philosophie zu bringen. Man muß abwarten, ob ihn die Herren vom Metier in ihrer Gilde passiren lassen; ich finde ihn geistreich und das Übrige lasse ich dahin gestellt.4

Bemerkenswert ist Goethes genauer Blick, mit dem er sowohl den »scharfsinnigen Eigensinn« Schopenhauers erkannte als auch die Schwierigkeiten voraussah, die dessen philosophischer Ansatz als Provokation innerhalb der etablierten Philosophie seiner Zeit auslösen würde. Als sich Arthur Schopenhauer von November 1813 bis Mai 1814 in Weimar aufhielt, mit Goethe lange Gespräche führte und wohl auch gemeinsame Experimente zu dessen Farbenlehre unternahm, schlug sich dieser rege Gedankenaustausch in Schopenhauers Schrift Ueber das Sehn und die Farben von 1816 nieder, die wohl auch huldigend gemeint war, die Goethe aber eher irritierte als begeisterte. Denn die Schlussfolgerungen, die der junge Mann aus den gemeinsamen Farbenexperimenten zog, konnte Goethe so nicht nachvollziehen. Deshalb hatte er schon im Mai 1814 dem jungen Mann »in Gefolg und zum Andenken mancher vertraulicher Gespräche«, wie er formulierte, ins Stammbuch geschrieben: 4 Goethe

an Knebel, 24. 11. 1813, WA IV/24, S. 44. Schräge Blicke  |  99

Willst du dich deines Lebens freuen, So mußt der Welt du Wert verleihen.

An diesem Epigramm ist weniger bemerkenswert, dass Goethe es auch in seine Sammlung »Sprichwörtlich« von 1815 aufnahm – mit einer kleinen, aber entscheidenden Abänderung allerdings: »deines Lebens« wurde durch »deines Wertes« ersetzt.5 So entstand ein Parallelismus (»deines Wertes« – »Wert verleihen«), der das Geistreiche des Doppelverses steigerte. Mit dem Begriff der »Welt« als Zielvorgabe im zweiten Vers hatte Goethe außerdem, ohne dass er es wissen konnte und ohne dass Schopenhauer dies schon jetzt reflektierte, den Titelbegriff von Schopenhauers opus magnum von 1819 vorweggenommen. Goethe quittierte Schopenhauers Farben-Schrift bekanntlich mit gedrechselt-ausweichenden Formulierungen, nachdem er sich wochenlang jeder Äußerung enthalten hatte, so dass Schopenhauer am 3. September 1815 brieflich eine Reaktion anmahnte: »Ewr Excellenz haben indessen mich bisher keiner Antwort darauf gewürdigt«.6 Schopenhauer insistierte nicht nur auf einer Antwort, sondern legte in einem Brief vom 16. September 1815 »noch einen Experimentalbeweis« nach, der freilich weniger Goethes Farbendenken als vielmehr seine eigene darauf aufbauende »Theo­rie« stützen sollte.7 Aus Goethes Antwort, die mehr als einen Monat später, nämlich am 23. Oktober 1815 erfolgte, kann man schon herauslesen, dass dem alten Herrn das aufgesetzte Selbstbewusstsein seines Schülers unheimlich war: »Abstrahire ich nun von Ihrer Persönlichkeit und suche das was Ihnen gehört mir anzueignen«. Und Goethe grenzte sich auch gleich von Schopenhauer ab: »wo Sie von mir differiren«.8 Schopenhauers mehrseitiger Antwortbrief vom 11. November 1815 reagierte programmatisch; mit ihm verlässt Schopenhauer die Rolle des Schülers endgültig. Schopenhauer gibt sich als Philosoph, nicht als Naturforscher zu erkennen, der nicht gewillt ist, bei dem stehenzubleiben, was sein Lehrer Goethe vorgelegt hat, nämlich bloß eine »systematische Zusammenstellung«; er behauptet von sich selbst: »Meine 5 Goethe:

Sprichwörtlich, MA 9, S. 127. 6 Schopenhauer an Goethe, 3. 9. 1815, BmG, S. 10. 7 Schopenhauer an Goethe, 16. 9. 1815, ebd., S. 12. 8 Goethe an Schopenhauer, 23. 10. 1815, ebd., S. 14. 100  |  Rolf Selbmann 

Theo­rie ist die Entfaltung eines einzigen untheilbaren Gedankens«. Dann erdreistet sich Schopenhauer sogar, an Goethes Farbenlehre »kleine Irrthümer« zu korrigieren und auf diejenigen Punkte hinzuweisen, »wo meine Theo­rie mit Ihrer Farbenlehre disharmonirt«. Die Kritik wird zwar als »beiläufig« und »höchst unbedeutend« bagatellisiert,9 um dann umso heftiger die Abgrenzung von Goethes Projekt, immerhin die Frucht jahrzehntelanger Bemühungen, voranzutreiben. Schopenhauer zeigt äußerstes Selbstbewusstsein: Ich weiß mit vollkommner Gewißheit, daß ich die erste wahre Theo­ rie der Farbe geliefert habe, die erste, so weit die Geschichte der Wissenschaften reicht: ich weiß auch daß diese Theo­rie einst allgemein gelten und den Kindern in den Schulen geläufig seyn wird:10

Da kann es Goethe wenig trösten, dass Schopenhauer seine Vorarbeiten gleichsam nebenher durchaus anerkennt (»Ew. Excellenz früheres und größeres Verdienst«). Dann folgt Schlag auf Schlag. Zuerst: »Meine Theo­rie verhält sich zu Ihrem Werke völlig wie die Frucht zum Baum.«11 Dann: »Allein für die eigentliche Theo­rie Newtons, die Sie umgestoßen haben, haben Sie keine neue gegeben. Dies eben ist meine Arbeit gewesen.« Und schließlich: »Vergleiche ich Ihre Farbenlehre einer Pyramide, so ist meine Theo­rie die Spitze derselben.«12 Aus Schopenhauers Sicht hat sich hier der Schüler aus den Fesseln der Abhängigkeit von seinem Lehrer emanzipiert, zumal er am Ende seiner Selbstdarstellung betont, er habe die gemeinsame Arbeit mit Goethe an den Farbexperimenten immer »nur als Nebensache behandelt«; denn er »trage weit andre Theo­rien als die der Farbe, beständig im Kopfe herum«.13 Aus Goethes Sicht hat sich Schopenhauer vergaloppiert. Ganz vorsichtig möchte er Schopenhauer in das gemeinsame Projekt zurückholen, indem er sich bemüht, »meine Ansichten zu eröffnen«. Dabei spart Goethe nicht mit Ironie, wenn er in seinem Brief am 16. November Schopenhauers transzendentalphilosophische Position spöttisch aufgreift:   9 Schopenhauer

10

Ebd., S. 20. 11 Ebd., S. 20 f. 12 Ebd., S. 21. 13 Ebd., S. 23.

an Goethe, 11. 11. 1815, ebd., S. 18.

Schräge Blicke  |  101

Wer selbst geneigt ist die Welt aus dem Subject zu erbauen, wird die Betrachtung nicht ablehnen, daß das Subject in der Erscheinung immer nur Individuum ist, und daher eines gewißen Antheils von Wahrheit und Irrtum bedarf, um seine Eigenthümlichkeit zu erhalten. Nichts aber trennt die Menschen mehr, daß die Portionen dieser beyden Ingredienzen nach verschiedenen Proportionen gemischt sind.14

Mit diesem zarten Hinweis auf die getrennten Wege beider Denkrichtungen scheint für Goethe die Auseinandersetzung ausgestanden; nicht so für Schopenhauer, der am 23. Januar 1816 nochmals an Goethe schreibt. Auch wenn »diese Sache denn doch zu einem Ende gekommen sei«,15 scheint Schopenhauer das schlechte Gewissen zu plagen, durch seinen Tonfall Goethe eventuell vor den Kopf gestoßen zu haben. Der Duktus indes (»ich weiß, daß durch mich die Wahrheit geredet hat«) verrät, dass Schopenhauer sich im Besitz der rechten Lehre sieht und nicht begreifen kann, dass Goethe dies nicht einsieht (»Im Grunde wundert es mich«). Da hilft es wenig, wenn Schopenhauer »tausend Mal« versichert, er sei Goethes »Verfechter« und nicht sein »Gegner«; in der Sache will er offensichtlich nichts zurücknehmen: Aufrichtig gesagt, ist es mir gar nicht möglich mir vorzustellen, daß Ewr. Excellenz die Richtigkeit meiner Theo­rie nicht erkennen sollten: denn ich weiß, daß durch mich die Wahrheit geredet hat, – in dieser kleinen Sache, wie dereinst in größern, – und Ihr Geist ist zu regelrecht, zu richtig gestimmt, als daß er bei jenem Ton nicht anklingen sollte. Wohl aber kann ich mir denken, daß ein subjektiver Widerwille gegen gewiße Sätze, die mit einigen der von Ihnen vorgetragenen nicht ganz zusammenstimmen, Ihnen die Beschäftigung mit meiner Theo­rie verleidet, daher Sie solche stets zurücklegen und aufschieben, und, indem Sie Ihre Beistimmung mir weder geben noch versagen können, ganz schweigen. Im Grunde wundert es mich daß dieses so ist, schon darum, weil ich tausend Mal mehr Ihr Verfechter (und zwar recht aus dem Grunde) als Ihr Gegner bin […].16

Darauf antwortet Goethe schon am 28. Januar, konziliant und endgültig zugleich. Sein beschwichtigender Hinweis, man brauche »ja 14 Goethe

an Schopenhauer, 16. 11. 1815, ebd., S. 26. an Goethe, 23. 1. 1816, ebd., S. 28. 16 Ebd., S. 29. 15 Schopenhauer

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nicht immer einstimmig zu sein«, betont eine unüberbrückbare Distanz; es sei »nur allzu deutlich, daß es ein vergebnes Bemühen wäre, uns wechselseitig verständigen zu wollen«.17 In seinem Dissens mit Schopenhauer verfällt Goethe in ein Denkmuster, das schon seinen Gegensatz zum frühen Schiller bestimmt hatte und das er erst mit jenem von ihm selbst zur Epochenmarke stilisierten Glück­lichen Ereigniß von 1794 ausgeräumt hatte.18 Hier wie dort heißt es: »Idee und Erfahrung werden in der Mitte nie zusammentreffen«.19 Damit verabschiedet sich Goethe endgültig von Schopenhauer, höflich, aber bestimmt, unter Benutzung einer Floskel, die er für solche Fälle parat hatte: »Lassen Sie mich von Zeit zu Zeit wissen, womit Sie sich beschäftigen«.20 Auch wenn der Briefwechsel zwischen Goethe und Schopenhauer nicht abreißt, so bleibt er doch auf der Ebene des oberflächlich Höflichen und Distanzierten, wenn Schopenhauer anlässlich seiner bevorstehenden Italienreise Goethe um »noch irgend einen Rath, eine Weisung« bittet oder ihm die Fertigstellung seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung mit der Hoffnung ankündigt, »falls Sie noch die Geduld haben, sich in einen fremden Gedankengang hineinzulesen«.21 Aus heutiger Sicht22 darf man wohl ein grundsätzliches Missverständnis auf beiden Seiten konstatieren. Jedenfalls überwog bei Goethe das Wohlwollen gegenüber Schopenhauer so lange, wie dieser als der geistreiche Sohn Johannas in Erscheinung trat; es ließ nach, als Goethe gewahr wurde, dass Schopenhauer in der Farbenlehre zwar von Goethe den Ausgangspunkt nahm, jedoch eine eigene Position besetzte, die über naturwissenschaftliche Beobachtungen hinaus in den Bereich der Philosophie reichte. Unter der Hand aber reagierte Goethe mit dem kryptischen und spöttischen Gedicht »Lähmung«, das einen Sprung vom Eigenen ins Fremde und wieder zurück verarbeitete:

17 Goethe

an Schopenhauer, 28. 1. 1816, ebd., S. 31. dazu meinen Aufsatz »Klassische ›Bildungsstufen‹ oder ›Aufsprung zu einer höhern Cultur‹?«. 19 Goethe an Schopenhauer, 28. 1. 1816, BmG, S. 31. 20 Ebd., S. 32. 21 Schopenhauer an Goethe, 23. 6. 1818, ebd., S. 41. 22 Vgl. Rüdiger Safranski: Schopenhauer, S. 276–286. 18 Vgl.

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Was Gutes zu denken, wäre gut, Fänd’ sich nur immer das gleiche Blut; Dein Gutgedachtes, in fremden Adern, Wird sogleich mit dir selber hadern.

Das Gedicht endete mit der vielsagenden Sentenz: Trüge gern noch länger des Lehrers Bürden, Wenn Schüler nur nicht gleich Lehrer würden.23

Die Enttäuschung auf beiden Seiten saß tief. Goethe brauchte bis 1816, als er sich in seinen Tag- und Jahres-Heften zu einer distanzierten Bewertung durchrang. In einem schönen Bild konstatierte er aus der Erinnerung zwar die »Scheidung«, kündigte aber die Freundschaft nicht auf: Dr. Schopenhauer trat als wohlwollender Freund an meine Seite. Wir verhandelten manches übereinstimmend mit einander, doch ließ sich zuletzt eine gewisse Scheidung nicht vermeiden, wie wenn zwei Freunde, die bisher mit einander gegangen, sich die Hand geben, der eine jedoch nach Norden, der andere nach Süden will, da sie denn sehr schnell einander aus dem Gesichte kommen.24

Umgekehrt hatte Schopenhauer das Lehrer-Schüler-Verhältnis zu Goethe nie ganz aufgegeben. Noch 1840 legte er in einem englisch geschriebenen Brief großen Wert darauf, dass er Goethes »personal scholar« und sein erster bekennender Proselyt in der Farbenlehre gewesen sei.25 Schopenhauers Schwester Adele wusste ganz genau, wie sie ihrem Bruder eine Freude machen konnte, wenn sie ihm aus Weimar berichtete, dass Goethe nach der Zusendung von Die Welt als Wille und Vorstellung sogleich mit der Lektüre des Buches begonnen habe und es nun »von Anfang zu Ende« lese: »Wenigstens bist Du der einzige Autor, den Goethe auf diese Weise mit diesem Ernste liest«.26 Für Goethe war der philosophierende Sohn seiner Weimarer Salonfreundin zweifellos ein kluger Kopf, der aber mit seinen zugespitzten Gedankengängen einen eigenen Weg ging, dem nicht leicht 23 Goethe:

Lähmung, MA 9, S. 92. 24 Goethe: Tag- und Jahres-Hefte, WA I/36, S. 112. 25 Zit. nach GG 2, S. 935. 26 GG 3.1, S. 100 f. 104  |  Rolf Selbmann 

zu folgen war. Für Schopenhauer war und blieb Goethe bis über dessen Tod hinaus der große Dichter, dessen persönliche Bekanntschaft zeitlebens davor bewahrte, der kurvigen Wirkungsgeschichte Goethes auf den Leim zu gehen. Weder der distanzlosen Huldigung der Goetheverehrer noch der hämischen Kritik des Vormärz konnte Schopenhauer viel abgewinnen.

2. »Man wolle nicht aus Goethes geweihter Person eine ­Zierpuppe machen« Ohne zu weit auszuholen: 1819, zum 70. Geburtstag Goethes, kam in Frankfurt am Main die Idee auf, dem nach Weimar abgewanderten Dichterfürsten in seiner Geburtsstadt ein monumentales Denkmal, ja geradezu ein Nationaldenkmal zu errichten. Die verzwickte Planungsgeschichte spielt nur am Rande eine Rolle.27 Zuerst war ein Tempel auf der Maininsel ins Auge gefasst, für den der Bildhauer der berühmten Schiller-Büste, Johann Heinrich Dannecker, eine Goethebüste anfertigen sollte; die Anregung war von Goethes Freund Sulpiz Boisserée ausgegangen. Doch bald schon wurde von einem eiligst gegründeten Denkmalskomitee ein ganzfiguriges Standbild ins Spiel gebracht, für das der damals renommierteste Bildhauer Christian Daniel Rauch den Auftrag erhalten sollte. Der Goethefreund Boisserée hatte bereits sinnige Sockelreliefs aus Goethes Versepos »Hermann und Dorothea« angedacht, die den patriotischen Charakter des Denkmals hätten hervorheben sollen. Ein öffentliches Denkmal für einen noch Lebenden, ein Nationaldenkmal für einen so wenig patriotischen und volkstümlichen Dichter? In der Öffentlichkeit regten sich Bedenken. Da griff Goethe, der mit Boisserée in engem Kontakt stand und über das Hin und Her innerhalb des Denkmalkomitees bestens informiert war, in die Diskussion ein. Mit seinem Aufsatz »Betrachtungen über ein dem Dichter Goethe in seiner Vaterstadt zu errichtendes Denkmal« vom 19. Mai 1821 stellte er klar, dass er keinesfalls gewillt war, sein Bild für die Nachwelt dem Zufall oder gar wohlmeinenden, aber ungeschickt planenden Dilettanten zu überlassen. Goethe leitete seine »Betrach27 Vgl.

mein Buch Dichterdenkmäler in Deutschland, S. 43 f., 64 ff. Schräge Blicke  |  105

tungen« mit einer captatio benevolentiae ein, die seine fundamentale Kritik in höfliche Formulierungen kleidete. Seinen Einwand, als »wohlmeinendes Wort« getarnt,28 eröffnete er mit einem allgemein gehaltenen Hinweis, dass sich die ursprünglich bescheidene Idee einer Denkmalsehrung in eine falsche Richtung entwickelt habe: »Es begegnet gar oft, daß ein wichtiges Geschäft, wenn gleich vor seinem Angriff wohl überlegt, doch im Gefolg einen andern Gang nimmt, der bedenklich werden könnte.«29 Dann lobte er die ursprüngliche Idee einer Büstenaufstellung in einem geschlossenen Raum. Dieser »höchst ehrenhafte Vorschlag«, eine »mäßige abgeschlossene Zelle, errichtet in einer heitern freien Gartenanlage«, die »ohne außer­ ordentlichen Aufwand« auf der naturbelassenen Maininsel sollte errichtet werden, habe noch seinen Beifall gehabt.30 »Seit jener Zeit« habe sich allerdings »gar viel geändert«; Insel und Umgebung, »ein schönes Ufer mit einer Reihe prächtiger Häuser gegenüber«, seien mittlerweile zugebaut. Durch diese Veränderungen erscheine das ursprünglich geplante Denkmal »kleinlich«, so dass eine »mächtigere Substruction« und »ein bedeutender Sockel«, vor allem aber »eine Statue statt der Büste« nötig seien, um dem Denkmal die entsprechende Aufmerksamkeit zu sichern;31 im Grunde seien diese Umbauten der Insel aber »entstellende Eisbrecher«; außerdem gäbe es dort, so Goethe nicht ohne Ironie, eine »heilsame Schwimm- und Badeanstalt«, die dann weichen müsse.32 Nachdem er die Pläne des Frankfurter Denkmalkomitees gleichsam im Main versenkt hat, präsentiert Goethe seinen eigenen Plan. In der mittlerweile errichteten Bibliothek der Stadt sieht er »wenigstens vorschlagweise« die Möglichkeit, nicht bloß eine Büste, sondern tatsächlich eine Statue aufzustellen, da dieser Aufstellungskontext ohne »großen, incalculablen architektonischen Aufwand« mit der »billig zu erwartenden Beitragssumme« der bisherigen Sammlungen zu bewerkstelligen sei.33 Goethe ist also durchaus darüber 28 Goethe:

Betrachtungen über ein dem Dichter Goethe in seiner Vaterstadt zu errichtendes Denkmal, WA I/42.2, S. 42. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 42 f. 31 Ebd., S. 43. 32 Ebd., S. 44. 33 Ebd., S. 46 f. 106  |  Rolf Selbmann 

informiert, dass die Sammlungen für sein Denkmal – im Unterschied zu dem später errichteten Schillerdenkmal – nicht gerade einträglich waren.34 Goethes Vorschlag für sein Denkmal in der neuen Frankfurter Bibliothek ist so konkret wie umfassend: irgend einen Saal plastisch auszuschmücken und eine sitzende Statue von Rauch, dem allgemein anerkannten, talent- und kunstvollen Bildhauer, der schon eine glückliche Büste des Dichters verfertigte, dort aufzustellen. Was die Basreliefs betrifft, so wären aus den Werken des Dichters ohne Unterschied solche Momente auszuziehen, die dem Bildhauer am günstigsten sind.35

Man sieht, wie Goethe seine altbekannte Aversion gegen ganzfigurige Denkmäler, offenkundig durch den schützenden Kontext der Bibliotheksaufstellung, inzwischen aufgeben hat. Ein kleiner, aber nicht unerheblicher Vorbehalt blieb bestehen. Goethes »Mißgefühl« gegen eine solche monumentale Denkmalaufstellung für einen noch Lebenden konnte nur ausgeglichen werden, wenn eine »solche Auszeichnung« nicht »ausschließlich und einzig bleiben« würde – soll heißen, dass in der Frankfurter Bibliothek künftig weitere Statuen aufgestellt und so eine Art Pantheon bedeutender Geister entstehen würde. Goethe erspürte sehr feinsinnig, dass sich »in einem Theile des Publicums schon einiges Mißfallen« gegen eine so monumentale Ehrung regte.36 Er unterstellte freilich eine falsche Motivation: »Fromme Seelen sehen etwas Heidnisches, dem Götzendienst Ähnliches in dieser Anstalt, welches ihnen kaum zu verargen ist«.37 In Wirklichkeit konnte ein liberales und patriotisch gesinntes Bürgertum nicht akzeptieren, dass einem so wenig national und bürgerlich ausgerichteten Dichter, der vielen sogar als Fürstenknecht und Hofdichter galt, ein nationales Denkmal errichtet werden sollte. Daher schlief das Projekt vorläufig ein. Mit Goethes Tod 1832 lebte die alte Denkmalsidee jedoch wieder auf. Goethe hatte mittlerweile den Tiefpunkt seiner Popularität beim Bildungsbürgertum durchschritten, seine Werke galten nun 34 Ludwig

Döry: Der lange Weg zum Goethedenkmal, S. 292. Betrachtungen über ein dem Dichter Goethe in seiner Vaterstadt zu errichtendes Denkmal, WA I/42.2, S. 47. 36 Ebd., S. 47. 37 Ebd., S. 48. 35 Goethe:

Schräge Blicke  |  107

als unverlierbarer Bildungsbesitz. Im Verlauf der weiteren Entstehungsgeschichte des Frankfurter Goethedenkmals entbrannte der alte Konflikt wieder ganz neu, ob für einen Geistesheroen wie einen Dichter ein ganzfiguriges Standbild oder eine Büste die adäquateste Darstellung sein sollte. Dieser Konflikt schien längst gelöst, war doch im Geist des aufkommenden Realismus die Entscheidung für eine ganzfigurige Statue eindeutig gefallen. Als Arthur Schopenhauer 1837 mit einem harschen Brief an das Frankfurter Denkmalkomitee in den Meinungsstreit eingriff, er nannte es ein »Gutachten über das Goethesche Monument«, hatte sich das Denkmalkomitee nach der Blamage des ersten Scheiterns neu gegründet. Inzwischen war die Anregung Goethes von 1821 aufgegriffen und für die Frankfurter Bibliothek 1834 eine Sitzstatue an Marchesi Pompeo in Auftrag gegeben worden; sie konnte allerdings erst 1840 aufgestellt werden. In dieser zugespitzten Situation ist Schopenhauers Brief zu verorten. Schopenhauer schien auf den ersten Blick die überholte klassizistische Position noch einmal zu formulieren, wenn er für eine Büste und gegen ein ganzfiguriges Standbild votierte. Wenn man indes genauer hinschaut, und das ist die leitende These dieses Teils meiner Untersuchung, dann erkennt man, dass Schopenhauers Stellungnahme die Argumentationsstruktur der Einwände Goethes von 1821 punktgenau aufgreift. Mit diesem seinem schrägen Blick auf Goethe enthüllte Schopenhauer über den Umweg des zu planenden Denkmals ein ganz eigenständiges Goethebild. Schopenhauer zog gleich vom Leder: »Ich vernehme indessen, daß die Komposition des Monuments dem Thorwaldsen übertragen sei«.38 Der damals berühmte Bildhauer Bertel Thorvaldsen hatte soeben das 1835 enthüllte Schiller-Denkmal in Stuttgart geschaffen und damit großes Aufsehen erregt. Thorvaldsen galt dem liberalen Bürgertum als ein Anhänger der Restauration. In diesem Geist hatte er Schiller in nachdenklicher Pose mit gesenktem Kopf dargestellt und dies auch begründet; er habe »den mitten in einer frivolen Zeit gleichwohl ernst und tragisch gebliebenen Dichter dantesk auffassen müssen«.39 Außerdem hatte Thorvaldsen in bronzenen Sockelreliefs Schillers Werke als allegorische Figuren gefasst, die in einer Apo38

BmG, S. 59 f. Heinje: Zur Geschichte des Stuttgarter Schiller-Denkmals von Bertel Thorvaldsen, S. 402. 39 Sylvia

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theose des Dichters gipfelten. Dagegen hatte schon Franz Dingel­ stedt zur Denkmalsenthüllung mit einem polemischen Gedicht »Vor Schillers Standbild in Stuttgart. An Thorvaldsen« im Namen des liberalen und patriotischen Bürgertums protestiert: Wie? dieser Kopf- und Nackenhänger, Der wie ein Säulenheiliger steht, Wär’ meines Volkes Lieblingssänger, Der deutschen Jugend Urpoet?40

Schopenhauer spielte ganz offen darauf an: Nicht aber wolle man aus Göthe’s geweihter Person eine Zierpuppe der Stadt machen: man setze ihn nicht in die Allee auf einem Lehnstuhl, im antiken Pudermantel, eine Rolle in der Hand, als wolle er gemüthlich sich frisiren lassen und die Zeitung dazu lesen; oder lasse ihn in pensiver Stellung dastehn, als könne er den Reim nicht finden. Den Helden darf man heroische Stellungen geben, aber den Dichtern nicht: daraus entspringt die Verlegenheit […].41

Aber Schopenhauer ging noch weiter. Er sah, »trotz Geld und Thorwaldsen«, das Projekt in eine falsche Richtung laufen und erteilte dem Denkmalkomitee seinen »Rath« und zwar »im Interesse Goethes und des guten Geschmacks«, während er gleichzeitig befürchtete, dass dieser »unberücksichtigt bleiben werde«. Indem er sich als einen »Wohlmeinenden« ausgab,42 griff er – wissend oder nicht – dieselbe Formulierung auf, die Goethe 1821 in seiner Wortmeldung gebraucht hatte.43 Als eine Art selbst ernannter Nachlassverwalter Goethes formulierte dann Schopenhauer in seinen folgenden »Leitenden Grundsätzen« eine Denkmalvorstellung, hinter der ein apodiktisches Goethebild zum Vorschein kam: »Das Denkmal eines großen Mannes soll einen erhabenen Eindruck machen: Das Erhabene ist stets einfach.«44 Das Erhabene bildet den Schlüsselbegriff für Schopenhauers Goethebild. Schopenhauer forderte zwar eine Büste für Goethe und begründete dies: Dingelstedt: Sämmtliche Werke, Bd. 1, S. 164. BmG, S. 64. 42 Ebd., S. 60. 43 Goethe: Betrachtungen über ein dem Dichter Goethe in seiner Vaterstadt zu errichtendes Denkmal, WA I/42.2, S. 42: »wohlgemeintes Wort«. 44 BmG, S. 60. 40 Franz 41

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Statuae equestres & pedestres, also ganze Figuren, Standbilder, sind, wohl erwogen, nur dem Andenken solcher Männer angemessen, welche mit ihrer ganzen Persönlichkeit, mit Herz und Kopf zugleich, ja oft auch noch mit Arm und Bein dazu für die Menschheit thätig gewesen, also Helden, Herrschern, Heerführern, Staatsmännern, Volksrednern, Religionsstiftern, Heiligen, Reformatoren u. s. w. […]: hingegen Männern von Genie, also Dichtern, Philosophen, Künstlern, Gelehrten, als welche eigentlich nur mit dem Kopfe der Menschheit gedient haben, gebührt bloß eine Büste, die Darstellung des Kopfes.45

Allerdings bestand er darauf, dass diese Büste »so kolossal als die Mit­tel es gestatten« sein46 und mit einer Sockelinschrift – »Dem Dichter der Deutschen seine Vaterstadt« – ausgestattet sein müsse;47 alles andere sei »schwach, flach und trivial«: Aber auch schlechterdings keine Silbe mehr! Dadurch daß diese Inschrift Göthe’s Namen nicht nennt, sondern voraussetzt, ist sie zu sei­nem Ruhme unendlich beredter als das wortreichste Encomium je seyn könnte. Denn sie besagt, daß er der Einzige, der Unvergleichliche ist, der, den Jeder kennen muß, den keine Zeit vergessen, kein Nachfolger je verdunkeln kann. Und somit ist sie, in ihrer lakonischen Kürze, erhaben, im Beschauer Ehrfurcht erweckend. Ihre Einfachheit entspricht der ernsten Einfachheit des Monuments selbst, welches, aus einer bloßen Büste bestehend, nicht durch Arme, Beine und deren Positur an Göthe’s menschliche Person, sondern nur durch sein erhabenes Antlitz an seinen unvergänglich gewordenen Geist erinnert.48

Auch der Vorstellung, man könne das Unbehagen an der Ausstellung einer Ganzfigur in der Öffentlichkeit dadurch abmildern, indem man einen Innenraum in Form eines Baldachins andeutete, wie es am Lutherdenkmal in Wittenberg oder am Hebeldenkmal in Karlsruhe versucht worden war, erteilte Schopenhauer eine Absage; er bezog sich dabei ganz auf Goethe, der in seinen »Betrachtungen« seine Zweifel an einer architektonischen Umbauung eines Büstendenkmals formuliert hatte: »Ein Säulengang in nördlichen 45

Ebd., S. 60 f. 46 Ebd., S. 61. 47 Ebd., S. 62. 48 Ebd. 110  |  Rolf Selbmann 

Gegenden ist kaum anzurathen.«49 Ein solcher Raum, »von oben erleuchtet, ringsum verschlossen«, atme nichts als »Kellerluft«.50 Ganz in diesem Sinne dekretierte Schopenhauer: »Ein Tempelchen, Säulendach oder dergl. zum Schutz der Büste wird immer sich kleinlich ausnehmen und an ein Heiligenkapellchen oder einen Sommer­ pavil­lon erinnern.«51 Für die ›Ausführung‹ der Büste hatte Schopenhauer ganz konkrete Vorstellungen, die sich sowohl an klassizistischen, als auch an realistischen Prinzipien ausrichteten. Diese gleichsam vermittelnde Position bezog Schopenhauer auf ein Goethebild, dass sich an verklärten Bildvorgaben orientierte: Die Büste darf schlechterdings nicht Göthen, wie er in den letzten Jahren war, nicht im Greisenalter darstellen, wo die Gewalt der Zeit seine schönen Züge verunstaltet hatte und der Verfall sich auf die flächer gewordene Stirn erstreckte. Aus seinen besten Jahren, wo das Gesicht bereits den vollen Charakter angenommen hatte, ohne jedoch schon Spuren des Verfalls zu tragen, besitzen wir glücklicherweise zwei sehr gute Büsten […].52

In seiner Argumentation entfernte sich Schopenhauer immer mehr von der ursprünglich ins Auge gefassten klassizistisch-strengen Büstenform. Dieser Prozess lief über einen »Lorbeerkranz auf dem Haupt«: »Wenn die Büste von Marmor wäre, könnte er von Bronze seyn.« Daran schloss sich die Überlegung an: »Bei unserm Klima ist Bronze viel zweckmäßiger als Marmor«53 und endete in der Konsequenz, dass »eine Büste, sei sie auch noch so groß, immer sehr viel leichter zu gießen als eine Statue« sei.54 Im Sinne dieser sich vom Klassizismus verabschiedenden, aber noch nicht ganz bei der dezidiert realistischen Haltung angekommenen Position Schopenhauers war auch die Konstruktion des Sockels projektiert. Schopenhauer lehnte sowohl die allegorischen Figuren (Thorvaldsens) als auch die mimetischen Abbildungen von 49 Goethe:

Betrachtungen über ein dem Dichter Goethe in seiner Vaterstadt zu errichtendes Denkmal, WA I/42.2, S. 44. 50 Ebd., S. 45. 51 BmG, S. 63. 52 Ebd., S. 62 f. 53 Ebd., S. 63. 54 Ebd., S. 64. Schräge Blicke  |  111

Werkgestalten ab und plädierte für eine emblematische Darstellung von Goethes Dichtungen: Die Seiten des Postaments etwan mit Scenen aus Göthe’s Werken zu verzieren und vielleicht auf einer Seite das Klärchen, auf der andern das Gretchen und in der Mitte den Teufel, der auf dem Blocksberg tanzt, anzubringen, wäre in meinen Augen kindisch und läppisch. Die Embleme der Dichtkunst im Allgemeinen, nach antiken Mustern mit Geschmack ausgeführt, sind allein passend und würdig.55

Man sieht ganz deutlich, dass und wie Schopenhauers Goethebild sowohl von Konstanten als auch von Veränderungen bestimmt ist. Auf der einen Seite schließt er sich der auch von Goethe bevorzugten Ehrung durch eine bescheidene Büste an, auch wenn er sie ganz anders als dieser begründet, nämlich nicht wie Goethe als Zeichen einer bescheidenen Ehrung, sondern als Form der Konzentration. Auf der anderen Seite ist Schopenhauers Goethebild von der Vorstellung des Erhabenen geprägt, das sich in den Denkmalformen des Kolossalen, des Einfach-Großen und des Würdigen ausdrückt. Dem Bedürfnis des aufkommenden Realismus, den Dichter in ganzer Figur und gleichsam von Angesicht zu Angesicht vor sich zu haben, widersteht er noch. Die tatsächlichen Planungen für das Frankfurter Goethedenkmal übergingen Schopenhauers Kritik völlig, ja konterkarierten sie sogar. Der Bildhauer Ludwig Schwanthaler, der schließlich den Auftrag erhielt, hatte mit seinen Denkmälern für Jean Paul in Bayreuth und Mozart in Salzburg Modelle entwickelt, wie ein Klassiker dem bürgerlichen Betrachter näherzubringen war. Schwanthaler entwarf einen Dichterfürsten, der sich ruhmesgewiss auf einen deutschen Eichenstamm lehnte, durch eine Rolle als Dramatiker, ja als Theaterdirektor oder Diplomat gekennzeichnet war und den Lorbeerkranz fest im Griff hielt. Den Sockel umlief ein Panorama der klassischen Werke des Dichters. Den Vergleich mit dem Stuttgarter Schillerdenkmal Thorvaldsens benutzte Schwanthaler ausdrücklich, um sich von ihm abzugrenzen. Dem Stuttgarter Schiller von Thorvaldsen als dem grüblerischen Einsamen in einer »frivolen Zeit«56 setze 55

Ebd., S. 63. Heinje: Zur Geschichte des Stuttgarter Schiller-Denkmals von Bertel Thorvaldsen, S. 402. 56 Sylvia

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Schwanthaler den ruhmessicheren Weltmann Goethe gegenüber. Diese gewandelte Sicht zeigten vor allem die Sockelreliefs. Hatte Thorvaldsen Schillers Werk in die Ab­straktion allegorisiert, wollte sie Schopenhauer bei Goethe auf die »Embleme der Dichtkunst im Allgemeinen« eindampfen, so lieferte Schwanthaler ein um den Sockel herum lesbares Bildband bekannter Figuren aus Goethes Werken. Was Schopenhauer als Schreckgespenst an die Wand gemalt hatte, wurde nun Wirklichkeit und begeisterte die zeitgenössischen Betrachter. Faust und Mephisto, Iphigenie und Thoas, Götz und Tasso, Hermann und Dorothea, der Erlkönig und die Braut von Korinth standen in bunter Reihe. Sie illustrierten und personalisierten einen Werkkatalog, der den Dichter auf eingängige, schlackenlose und stilisierte Klassik reduzierte. Erst wenn man sich vergegenwärtigt, was alles fehlte – Faust II, die Wahlverwandtschaften, die Wanderjahre, um nur die auffälligsten Lücken zu nennen –, erst dann wurde die Intention Schwanthalers klar: Der gereinigte Klassiker war zusammen mit dem Literaturkanon des Bildungsbürgertums auf den Sockel gekommen. Schopenhauers Goethebild hatte in einer solchen Flut realistischer Bildlichkeit keinen Platz; es war offensichtlich gänzlich aus der Zeit gefallen. Schopenhauer bestand auf einer emblematischen, d. h. geistig-geistreichen Erinnerung an die Dichterpersönlichkeit, während die Gegenseite eine mimetische Abbildung der äußeren Erscheinung Goethes bevorzugte. Schopenhauer konnte Goethe auf eine ab­strakte Form des Gedenkens beschränken, weil er ihn noch persönlich gekannt hatte. Die Nachgeborenen brauchten das handgreifliche realistische Bildzeichen der ganzen Figur.

3. Schlussfolgerungen Beide schräge Blicke Schopenhauers auf Goethe veranschaulichen ein besonderes Goethebild, das mehr noch als das betrachtete Objekt den Betrachter charakterisiert. 1. Schopenhauers Goethe-Bild während und nach seiner Auseinandersetzung um die Farbenlehre ist von der Figur des aufbegehrenden, seinen Lehrer schließlich sogar belehrenden Schülers geprägt. Das hat Schopenhauer so nicht verstanden, er hat seine Schräge Blicke  |  113

Verehrung Goethes nie aufgegeben, selbst bei schroffer Herausstellung der Gegensätze. Im Grunde hat Schopenhauer das LehrerSchüler-Verhältnis zu Goethe nie aufgekündigt. 2. Im Medium des Denkmals wird Goethe für Schopenhauer zu einer ›geweihten Person‹, die nicht mit normalmenschlichen Maßstäben zu messen ist. Wenn es nicht zu paradox klänge, dürfte man formulieren: Obwohl oder gerade weil Schopenhauer ihn noch persönlich gekannt hat, kann ihm Goethe zum Denkmal werden. Und weil er Goethe noch persönlich gekannt hat, kann Schopenhauer der Gefahr der monumentalen, kitschig-pompösen Heroisierung des Dichterfürsten widerstehen, der das fortschreitende 19. Jahrhundert dann erliegen wird.

Bibliographie Dingelstedt, Franz: Sämmtliche Werke, Bd. 1. Berlin 1877. Dirrigl, Michael: Goethe und Schopenhauer. Mit zwei Exkursen: Giacomo Leopardi – August Graf von Platen-Hallermünde. Ein Vademecum für Wahlverwandte. Regensburg 2000. Döry, Ludwig: Der lange Weg zum Goethedenkmal. In: Trophäe oder Leichenstein? Kulturgeschichtliche Aspekte des Geschichtsbewußtseins in Frankfurt im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1978. (= Kleine Schriften des Historischen Museums, Bd. 12) Gilleir, Anke: Johanna Schopenhauer und die Weimarer Klassik. Betrachtungen über die Selbstpositionierung weiblichen Schreibens. Hildesheim/ Zürich/New York 2000. (= Germanistische Texte und Studien, Bd. 64) Heinje, Sylvia: Zur Geschichte des Stuttgarter Schiller-Denkmals von Bertel Thorvaldsen. In: Gerhard Bott / Frank Günther Zehnder (Hg.): Bertel Thorvaldsen. Untersuchungen zu seinem Werk und zur Kunst seiner Zeit. Köln 1977, S. 399–418. Herwig, Wolfgang (Hg.): Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biederstein. Zürich/Stuttgart 1967. [= GG] Hübscher, Arthur: Goethes unbequemer Schüler. In: Schopenhauer-Jahrbuch 54 (1973), S. 1–18. Safranski, Rüdiger: Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie. Eine Biographie. München 1987. 114  |  Rolf Selbmann 

Selbmann, Rolf: Dichterdenkmäler in Deutschland. Literaturgeschichte in Erz und Stein. Stuttgart 1988. – : Klassische »Bildungsstufen« oder »Aufsprung zu einer höhern Cultur«? Eine Neulektüre von Goethes Glückliches Ereigniß. In: Goethe-Jahrbuch 131 (2014), S. 98–104.

Schräge Blicke  |  115

II. Erkenntnis, Wissenschaft und Sprache

Brigitte Scheer

Goethes und Schopenhauers Ansichten vom ­Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst 1. Das Problem der Vergleichbarkeit Ein unmittelbarer Vergleich beliebig vieler materieller Aussagen Goethes und Schopenhauers zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft erbringt eher das Ergebnis differierender Ansichten als deutlicher Übereinstimmungen im Denken beider Autoren. Eine vorschnelle Feststellung von Analogien bei der Bestimmung des jeweiligen Konzepts von Wissenschaft und Kunst könnte entscheidende Differenzen verunklären. Es drohte der Vergleich von Unvergleichbarem, denn Differenzen sind ja nicht zuletzt zwischen den Überzeugungen zweier so hoch individuierter, starker Persönlichkeiten wie Goethe und Schopenhauer zu erwarten, deren Charaktere und Temperamente in vielem geradezu konträr sind: Goethe begeisterungsfähig für das Leben; Schopenhauer dagegen pessimistisch, distanziert und nüchtern im Hinblick auf die Bewertung der Menschen und des Weltprozesses. Statt einer anfänglichen Ausbreitung der Vielheit der Aspekte im Reflektieren Goethes und Schopenhauers über das Thema Kunst und Wissenschaft scheint vielmehr eine gezielte Befragung beider Autoren hinsichtlich bestimmter systematischer Problemstellungen bei der möglichen Relation von Kunst und Wissenschaft angezeigt. Zum Beispiel die Frage, welche Wahrheitsbegriffe Goethe und Schopenhauer zugrunde legen, wenn sie davon ausgehen, dass sowohl die Wissenschaft wie die Kunst Erkenntnis vermitteln. Die hohe Selbstreflektiertheit, verbunden mit einer genialen sprach­ lichen Ausdrucksfähigkeit beider Autoren, verlangt nach einer differenzierten Darstellung ihrer Ansichten auch dort, wo Ähnlichkeit zu bestehen scheint. Für die Bewertung ihrer Aussagen über das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft ist es zudem wesentlich, dass Goethe und Schopenhauer eine unterschiedliche Zeitzeugenschaft sowohl für die   |  119

Kunstproduktion ihrer Zeit wie auch für die Entwicklung der Naturwissenschaften besitzen, die im 19. Jahrhundert eine deutliche Beschleunigung durch Technisierungs- und Erfindungsprozesse erfahren. Zur Zeit des naturforschenden Goethe wird die Bedeutung des umfassenden Systems einer Wissenschaft allmählich durch die Aktivität einer Forschungswissenschaft abgelöst, in der die apparategestützte, arbeitsteilige Methode ausschlaggebend wird, während Goethe an der durch die menschlichen Sinne vermittelten Phänomenbetrachtung mit (für ihn) guten Gründen festhält. Es wird darauf ankommen, diese Gründe zu erläutern. Als Schopenhauer sein Studium 1809 an der Universität in Göttingen begann, war dies ein Ort, an dem man die fortgeschrittensten Naturwissenschaften mit ihrer zunehmenden Spezialisierung kennenlernen konnte. Dort wurde Schopenhauer unter anderem mit der physiologischen Hirnforschung bekannt gemacht, deren Ergebnisse er in seinem Werk nutzte. In Berlin setzte Schopenhauer sein Studium in mehreren naturwissenschaftlichen Fächern fort. Es ist davon auszugehen, dass Schopenhauer die Arbeitsweise und die Fortschrittsideologie der damaligen Naturwissenschaften gründlich kennengelernt hat. Diese Erfahrung liegt der in seinem Werk geäußerten Wissenschaftskritik zugrunde. – Zu Goethes Lebzeiten war dagegen die Spezialisierung der einzelnen Naturwissenschaften noch nicht so strikt wie in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die in Goethes früher Dichtung evozierte ganzheitliche ›Natur‹ konnte man sich noch als eben die Natur vorstellen, die die Wissenschaften erforschen wollten.1 Die möglichen Bedenken, dass bei dem hier geplanten Vergleich am Ende beiden Autoren Unrecht geschehen könnte, denn es müssten doch die Argumente eines ›Vollphilosophen‹ mit den Auffassungen eines Dichters verglichen werden, diesem Bedenken kann entgegengehalten werden, dass Goethes Denken in einem Maß selbstreflektiert, kontrolliert und auf das Wesentliche ausgerichtet 1 Auffallend

viele Naturforscher und Mediziner haben vor Goethes Zeit, aber auch noch über diese hinaus die Natur sowohl dichtend wie wissenschaftlich bearbeitet und sich dabei nicht zwiegeteilt empfunden. Etwa Albrecht von Haller oder Carl Gustav Carus. Die Fragmentierung der Erfahrung, die in der Wissenschaft der fortgeschrittenen Moderne herrscht, hatte noch nicht von ihnen und ihren Gegenständen Besitz ergriffen. 120  |  Brigitte Scheer 

ist, wie es die Philosophierenden auszeichnet. Es kann nicht falsch sein, ihn, neben den vielen anderen ihm zugesprochenen Professio­ nen, auch einen Philosophen zu nennen.2 Schopenhauer dagegen war allenfalls ein Gelegenheitsdichter, aber die Nähe und Verständnistiefe seines Bezugs zu allen Kunstformen erlaubt ihm ein begründetes Urteil über das Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft gemäß deren Entwicklungsstand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schopenhauers außerordentlich kreative philosophische Sprache mit ihrem Reichtum an Metaphern zeigt eine gewisse Affinität zu dichterischen Sprachformen. Das Gefühl der Nähe zu Goethes Gedankenwelt drückt sich unter anderem dadurch aus, dass Schopenhauer keinen anderen Autor so oft zitiert und lobend erwähnt wie Goethe und dass er ihn natürlich nicht mit so unbarmherziger Polemik attackiert wie so manchen Zeitgenossen.

2. Ein neuer Ansatz zur Metaphysik der Natur Sowohl Goethe als auch Schopenhauer zeigen im Ansatz ihrer philosophischen Denkbewegung einen deutlich metaphysischen Gestus: Das Ausgreifen in die Totalität. Goethe fragt nach dem Wesen der Natur, Schopenhauer nach dem Wesen der Welt. Solche Vorhaben wirken im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert nicht nur in den Wissenschaften, sondern auch in der Philosophie bereits als obsolet. Die kritische Philosophie Kants kann mit dem Begriff ›Welt‹ keinen möglichen Gegenstand der empirischen Erkenntnis mehr verbinden, weil diese Welt nirgends als ganze ›gegeben‹ ist. Der Begriff ›Welt‹ wird zur bloßen Idee, zum regulativen und nicht mehr konstitutiven Prinzip. Die von Goethe gemeinte Gesamtnatur, die er dichterisch immer wieder aufruft und gestaltet, geriete, nachkantisch betrachtet, bei jedem Versuch einer dezidiert metaphysischen Naturlehre in die gleiche erkenntnistheo­retische Beschränkung. 2

Goethe bekennt zwar in seinem Aufsatz »Einwirkung der neueren Philo­ sophie«: »Für Philosophie im eigentlichen Sinne hatte ich kein Organ« (HA 13, S. 25). Unter Philosophie »im eigentlichen Sinne« versteht Goethe hier geschlossene philosophische Systeme, Theo­r ien der Endursachen und doktrinäre Metaphysiken jeglicher Art, die ihm fern liegen. Ansichten vom ­Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst  |  121

Goethe hält die erkenntniskritische Kopernikanische Wende Kants für eine endgültige Einsicht, aber nicht nur diese Überzeugung hindert ihn daran, eine metaphysisch angelegte Naturbestimmung anzuzielen. Vielmehr das Gefühl der Endlichkeit, Ehrfurcht und Demut gegenüber der als göttlich und unendlich angesehenen Natur. In dem frühen Fragment Goethes über »Natur«3 spricht sich das Überwältigt-Sein gegenüber der Größe und der Widersprüchlichkeit der Qualitäten des Naturprozesses aus, so dass Goethes Haltung der Resignation als konsequentes Moment seiner Naturforschung hier schon deutlich wird. Goethe hat sich selbst zu keiner Zeit als Philosoph verstanden und sich vor allem von den analytischen Verfahren der Philosophie distanziert.4 Sein Wissenschaftsbegriff und die von ihm inaugurierte morphologische Forschung ließ sich mit der Philosophie der Zeitgenossen – Kant, Fichte, Hegel – nicht verbinden, was die Distanz zum Fach Philosophie verstärkt haben mag. Aus heutiger Sicht ist Goethe zweifelsfrei auch Philosoph zu nennen, zumal der Ausweis eines Systems als Zeichen überzeugender Philosophie heute eher fragwürdig geworden ist. Sowohl Goethe wie Schopenhauer stellen zwar die zur Metaphysik geradezu einladende Frage nach dem Wesen der Natur, wissend, dass die bis dato in der traditionellen Metaphysik entwickelten Antworten und Systeme im Nachgang der Aufklärung und der kantischen Vernunftkritik nicht mehr überzeugen. Aber anstelle unkontrollierbarer Spekulation über das Wesen der Natur verlangen beide Denker, die Forschung nach dem Wesen der Natur konsequent in der Erfahrung zu verankern,5 wobei Schopenhauer hofft, dass sich 3 Über

die Autorschaft Goethes gibt es bei den Goetheforschern keine Einhelligkeit, wohl aber über den Goethe’schen Tenor der Qualifizierung der ›Natur‹. Erich Trunz hält Georg Christoph Tobler für den Autor, der Gespräche mit Goethe geführt hat (vgl. »Die Natur«, HA 13, S. 45–47). 4 In einer Aufzeichnung vom 27. September 1786 während der italienischen Reise berichtet Goethe hochironisch, aber auch selbstkritisch, von seiner »botanischen Philosophie«, in der er gerade »steckengeblieben« sei (Goethe: Italienische Reise, HA 11, S. 60). Es geht dabei um die Suche nach der ›Urpflanze‹, aus der sich alle Pflanzen sollen entwickeln lassen, also nicht um ein analytisches Verfahren, sondern um die Zusammenschau des Wesentlichen der Pflanzen in einer Gestalt. 5 Bezeichnend ist Goethes Zuruf in Maximen und Reflexionen, Nr. 488: »Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre.« 122  |  Brigitte Scheer 

am Ende der empirischen Forschungsmöglichkeit die Aussicht auf die Metaphysik eröffnet. Bedingung hierfür sei aber das tatsäch­ liche Ausschöpfen der Erfahrung. Um die Grenzen der Erkenntnis der physischen Natur aufzufassen, ist Schopenhauer zufolge bereits eine »möglichst vollständige Naturerkenntniß« nötig und, was die Metaphysik angeht, möge »Keiner sich an diese wagen, ohne zuvor eine, wenn auch nur allgemeine, doch gründliche, klare und zusammenhängende Kenntniß aller Zweige der Naturwissenschaft sich erworben zu haben«.6 Schopenhauer rühmt Kants Verdienst, eine klare Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich getroffen zu haben, kritisiert aber zugleich, dass Kant das Konzept des Ding an sich völlig unbearbeitet gelassen habe. Schopenhauer stellt fest, dass seine eigene Herleitung der Erkenntnismöglichkeit am Leitfaden der kantischen Erkenntnislehre zu einer ab­strakten Subjekt-Objekt-Konstellation führe, die zwar die Veränderungen in der äußeren Welt nach dem Satz vom Grund erklärbar mache, aber die eigene Bedeutung der dabei involvierten Vorstellungen (Erscheinungen) gar nicht berühre, so dass diese unwirklich »wie ein wesenloser Traum«7 an uns vorüber zögen. Kant hatte sich allerdings dagegen verwahrt, die ›Erscheinung‹ auch nur in die Nähe des Scheins zu bringen. Sie bedeutet ihm das in den Formen von Raum und Zeit auf bestimmte Weise gegebene Mannigfaltige der Anschauung, das begrifflich (noch) nicht Identifizierte, das heißt das für den Menschen Wirk­ liche. Schopenhauer führt aber die kantische Erscheinung, für seine Denkstrategie bereits depotenziert, »als bloße[r] Vorstellung« ein, um daraufhin das Wesen und die Bedeutung dessen, was da vorgestellt wird, auf Seiten des Ding an sich zu suchen, denn die metaphysisch orientierte Frage nach dem Was der Dinge sei dadurch, dass (HA 12, S. 432.) – Im gleichen Geist erklärt Schopenhauer, »daß die Lösung des Räthsels der Welt aus dem Verständnis der Welt selbst hervorgehn muß; daß also die Aufgabe der Metaphysik nicht ist, die Erfahrung, in der die Welt dasteht, zu überfliegen.« (W I, S. 507.) 6 W II, S. 198. Diese Forderung war gewiss schon zu Schopenhauers Zeiten aufgrund der zunehmenden Spezialisierung der Wissenschaften kaum erfüllbar und ist es gegenwärtig gar nicht mehr. Sie versteht sich aber als Abwehr des Vorwurfs, die Metaphysik übergehe die Erfahrung, um ihre transzendenten Ziele an deren Stelle zu setzen. 7 W I, S. 118. Ansichten vom ­Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst  |  123

es Vorstellungen von ihnen gibt, keineswegs beantwortet. Schopenhauer fragt, was die Dinge darüber hinaus sind, und versucht eine Antwort von dem Gegenstand aus zu gewinnen, den er für den dem Menschen vertrautesten erachtet, nämlich seinem Leib. Die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich müsse auch in diesem Fall getroffen werden können. Der menschliche Leib ist einerseits, wie andere Dinge auch, mögliches Objekt eines ihn vorstellenden Subjekts, also Erscheinung. Der Leib des Menschen kann aber auch, jenseits der Vorstellungssituation, im inneren Empfinden des Menschen völlig unmittelbar bewusst werden. Es ist dies eine einzigartige Erfahrungsweise, eine leibbedingte Selbstempfindung, die es so bei anderen Erscheinungen der Welt nicht geben kann und die Schopenhauer als Schlüssel für das Ansichsein der Welt verwenden will. Das Selbstbewusstsein des Menschen erfährt seinen Leib im inneren Aufmerken als ein Drängen und Streben, das unmittelbar die Regungen seines Körpers begleitet. Schopenhauer nennt dieses a-rationale Drängen »Wille« und erkennt darin das Ansichsein oder das Wesen des menschlichen Leibes. Er versteht überdies die Erkundungsmöglichkeit des Doppelcharakters des Leibes als paradigmatisch und spricht per kühnem Analogieschluss allen Dingen der Welt dieses gleichartige Ansichsein zu. So wie der menschliche Leib als Manifestation, beziehungsweise ›Objektität‹ des Willens aufgefasst werden soll, so vertritt Schopenhauer die Konzeption, dass alle Dinge dieser Welt Manifestationen oder Objektivationen des Willens sind. Der Wille äußert sich in der Natur, im Weltprozess, als ein andauerndes Drängen nach Objektivation. Daher setzt Schopenhauer den Willen gleich mit dem Willen zum Leben oder dem Dasein. Dieses Geschehen ist charakterisiert durch das Streben nach Überwältigung und Verdrängung anderer Objektivationen. So kommt es zum Widerstreit des Willens mit sich selbst.8 In dem Entäußerungsprozess des Willens stellt sich dennoch eine gewisse Ordnung dadurch her, dass der Wille sich nicht unmittelbar in unendlicher Verzweigung und Vielfalt manifestiert, sondern dass sich eine Stufenfolge zunehmender Bewusstheit des Willens von sich selbst herstellt. Die jeweiligen Stufen weisen eine Typik der zugehörigen Erscheinun8 Vgl.

W I, S. 172 ff.

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gen auf, die durch entsprechende Ideen geprägt wird. Schopenhauer führt den Begriff der Idee im zweiten Buch seines Hauptwerks zur Erläuterung der Objektivationsstufen ein und erklärt: »wir nennen eine jede solche Stufe eine ewige Idee, in Plato’s Sinn«.9 Die Objektivation des Willens in ganz unmittelbarer Weise erfolgt also durch die Idee, die Schopenhauer daher auch die adäquate Objektität nennt. Sie ist das anschaubare, aber nicht-sinnliche, gestalthafte Allgemeine, das den Erscheinungen einer bestimmten Gattung von Seiendem ihr Gepräge und ihre Erkennbarkeit verleiht. Goethe handelt in analoger Weise vom ›Typus‹, ›Muster‹ oder ›Urphänomen‹. Beide Denker sprechen den Ideen oder Urphänomenen keine transzendente Entität zu, sondern betonen ihre heuristische Funktion. Die so verstandene Idee ist die entscheidende Voraussetzung für die von Schopenhauer reklamierte nicht-begriffliche Erkenntnis in den Künsten. Schopenhauer kommt mehrfach in seinem Werk auf seine Herleitung des Wesens der Welt oder der Natur zurück, an entscheidender Stelle auch im Ergänzungsband zum Hauptwerk in dem Kapitel »­Ueber das metaphysische Bedürfnis des Menschen«. Mit der menschlichen Vernunft ist zugleich das Bewusstsein der sicheren Todeserwartung und der Hinfälligkeit menschlichen Lebens verbunden. Die Menschen bedürfen des Trostes und der hilfreichen Sinn­suche in dieser Situation. Beides kann ihnen keine der Wissenschaften bieten, da sie allesamt das Wesen des Menschen nicht thematisieren. Neben der Religion – aus Schopenhauers Sicht für die weniger Gebildeten – ist aber die Metaphysik, die Erkenntnis des Wesens der Natur, in der Lage, dem Tod des Individuums seinen Schrecken zu nehmen. Im Kontext der Erörterung dieser ›letzten Dinge‹ weist Schopenhauer auf die große Bedeutung der Metaphysik hin. Der Mensch ist für ihn ein animal metaphysicum; diese Tatsache zu leugnen, heißt, eine Unterbestimmung des Menschen zu verantworten. 9 W

I, S. 159. Welcher Art Platons Auffassung von den Ideen gewesen sei, legt Schopenhauer in knapper Form in seinen Vorlesungen über die Metaphysik der Natur dar: »[…] er [Platon; B. S.] versteht darunter die bleibenden, unveränderlichen Gestalten der in Raum und Zeit sich darstellenden Wesen, die Typen, die Urformen derselben, Musterbilder jener Nachbilder, nicht entstanden, nicht vergehend, immer seiend. Also wesentlich anschauliche, nicht ab­strakte Vorstellungen.« (VN II, S. 145.) Ansichten vom ­Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst  |  125

Schopenhauer weist in dem oben erwähnten Kapitel erneut darauf hin, dass die Erfahrung in ihrem ganzen Umfang für den Ursprung der Metaphysik notwendig ist. Er betont: »Ueberdies nun ist die Erkenntnißquelle der Metaphysik nicht die äußere Erfahrung allein, sondern eben so wohl die innere.«10 Zur Bekräftigung dieser Einsicht zitiert Schopenhauer einige Verse aus Goethes Faust I, in denen der Protagonist in seiner Suche nach dem eigentlichen, höheren Wissen durch den Erdgeist geführt und belehrt wird. Die ausgewählten Verse schildern, wie Faust dem Erdgeist in offenbarer Dankbarkeit eröffnet, wie er durch die Anschauung der äußeren Natur seine Verwandtschaft mit den übrigen Lebewesen erfahren hat und wie er in innerer Empfindung, konzentriert auf sich selbst, das Aufscheinen bislang geheimer, tiefer Wunder erlebt hat. Du führst die Reihe der Lebendigen Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen: _ _ – Dann führst Du mich zur sichern Höhle, zeigst Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust Geheime tiefe Wunder öffnen sich.

Schopenhauer kommentiert die Verse11 konsequenter Weise nicht, denn dass hier philosophische, metaphysische Gehalte rein mit den Mitteln der Anschauung zur Darstellung kommen, entspricht vollkommen dem Erkenntnisideal Schopenhauers, für den die anschauliche Erkenntnis den Vorrang vor der ab­strakt-begrifflichen erhält. Anders als Schopenhauer unternimmt Goethe keinen Versuch einer philosophisch-systematischen Herleitung des Wesens der Gesamtnatur. Das führte aus seiner Sicht unweigerlich ins ›Unerforschliche‹, zum Beispiel zur Frage nach dem Ursprung des Seienden, die Goethe allenfalls dichterisch als persönliche Empfindung, Vermutung oder Konfession beantwortet. Goethe zufolge ist jedoch in aller Naturforschung der pure Skeptizismus unangemessen, denn die Natur ist für den aufgeschlossenen, behutsamen, intensiv wahrnehmenden Forscher, der ja Teil dieser Natur ist, eine 10 W

II, S. 201. handelt sich um die Verse 3225 bis 3234, die Schopenhauer wiedergibt (vgl. W II, S. 199). 11 Es

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sich für alle Sinne mitteilende Natur. Goethe drückt diese Ansicht unter anderem durch einen dichterisch formulierten Einspruch gegen pessimistisch gesonnene Naturforscher aus, die der Meinung sind, die Natur verberge ihr Inneres und der Forscher müsse sich allein mit dem Äußeren begnügen. Goethe bezieht sich bei seinem Widerspruch auf ein zu seiner Zeit wohlbekanntes Lehrgedicht des Physikers und Dichters Albrecht von Haller mit dem Titel: »Die Falschheit menschlicher Tugenden«. Mit Hilfe der Metapher von Kern und Schale der Natur möchte von Haller die Menschen darauf hinweisen, dass der Naturforscher stets nur mit der äußeren Schale der Natur befasst sei, ohne je zum inneren Wesen der Natur zu gelangen. Goethe formuliert seinen Widerspruch gegen diese Auffassung in dem Gedicht »Allerdings« mit der Widmung: »Dem Physiker«,12 wobei er offensichtlich nicht nur zu dem besonderen Physiker sprechen will, sondern zu den Vertretern dieses Faches insgesamt, das repräsentativ für die kausalmechanische Deutung und Behandlung von Natur geworden ist und in dem kein Platz für die Frage nach dem Wesen der Natur gelassen ist. Goethe zitiert aus dem umfangreichen Lehrgedicht allein die zwei Verszeilen von Hallers, die auf dessen ab­strakte Trennung von Erscheinung und Wesen der Natur hinweisen: »Ins Innre der Natur dringt kein erschaffner Geist, Zu glücklich, wenn sie noch die äußre Schaale weist;« hierauf antworten Goethes Verse: »Mich und Geschwister / Mögt ihr an solches Wort / Nur nicht erinnern: / Wir denken: Ort für Ort / Sind wir im Innern.« Hierbei bleibt offen, ob Goethe mit den »Geschwistern« die gleichgesinnten Forscher oder die der Natur zugewandten Menschen überhaupt meint. In jedem Fall haben sie am Wesen der Natur fühlend oder wissend teil, indem sie selbst Naturwesen sind. Gegen die vermeintlich verschlossene Natur erklärt Goethe: »Alles gibt sie reichlich und gern; / Natur hat weder Kern / Noch Schale, / Alles ist sie mit einem Male«. Dies ist die poetische Fassung von Goethes Überzeugung und Erfahrung, dass Erscheinung und Wesen, Außen und Innen, bei den Naturphänomenen nicht voneinander zu trennen sind. Das denkende Anschauen überzeugt den Naturforscher von deren Dialektik. 12 Vgl.

Goethe: Allerdings. Dem Physiker, HA 1, S. 359. – Gernot Böhme widmet Goethes polemischem Gedicht von 1820 eine detaillierte Erörterung (vgl. Gernot Böhme: Natur hat weder Kern noch Schale). Ansichten vom ­Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst  |  127

Drei Jahre vor der Veröffentlichung von Goethes polemischem Gedicht hatte sich Hegel in seiner Enzyklopädie 1817 ebenfalls provoziert gesehen, gegen Albrecht von Hallers13 statische Unterscheidung von innerem Wesen und äußerer Erscheinung den Ertrag seiner Wesenslogik vorzubringen. Diese besagt: »Das Wesen muss erscheinen«,14 um wirklich sein zu können. In die Erscheinung gehen Inneres und Äußeres als bloße Momente eines Ganzen ein. Die Reflexion des Verstandes sucht jedoch die Absicherung im Festhalten der getrennten Momente von Innen und Außen, während der Begriff (die Vernunft) deren Identität einsehen kann.15

3. Goethes Verschwisterung von Naturforschung und ­Kunstproduktion Die empirische Basis von Goethes wissenschaftlicher Forschung sind die sichtbaren Naturerscheinungen, die er ›Phänomene‹ nennt. Dabei kommt ihm die Bedeutung des griechischen ›phainomenon‹ entgegen, die mit »Das-sich-an-ihm-selbst-zeigende«16 ausgedrückt werden kann. Im Verfolg des strikten Phänomenalismus überzeugt sich Goethe davon, dass die getrennte Behandlung von Wesen und Erscheinung eine unfruchtbare Ab­straktion bedeutet, dass die Phänomene, hinreichend zur Anschauung gebracht, ihr Wesen zum Ausdruck bringen, wobei ›Wesen‹ so viel heißt wie ›Typus‹, ›Muster‹, ›Idealgestalt‹. Hier zeigt sich für Goethe eine durch Anschauung, Vergleich und gezielte Versuche offenbar werdende Gesetzlichkeit der Natur, ohne eine transzendente Metaphysik zu bemühen und ohne der Natur vom Subjekt her Gesetze vorzuschreiben. Die 13 Hegel vermeidet die ausdrückliche Nennung des Namens und vermerkt

lediglich bei den entscheidenden Versen von Haller, die auch Goethe zitiert hatte, »sagt ein Dichter«. Der gebildete Leser wusste in dieser Zeit auch so, wer gemeint war (vgl. Georg W. F. Hegel: Enzyklopädie, § 140). 14 Georg W. F. Hegel: Enzyklopädie, § 131. 15 Hegel gibt für dieses notwendige Verhältnis ein praktisches Beispiel: Wenn das moralische Wesen eines Menschen sich nicht nach außen, das heißt in seinen Handlungen, zeigt, sondern nur als innere Gesinnung existiert, »so ist eines so hohl und leer als das andere« (ebd., §140). 16 Martin Heidegger übersetzt so in Sein und Zeit und ergänzt mit dem Begriff »das Offenbare« (Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 28). 128  |  Brigitte Scheer 

wissenschaftliche Darstellung erfolgt in drei Schritten: 1) das empirische Phänomen, 2) das durch Versuche zum wissenschaftlichen Phänomen gewordene und 3) das reine Phänomen, der Typus oder das Urphänomen. Der philosophische Begriff des Typus geht letztlich auf Platon, das heißt auf seinen Idea-Begriff zurück. Statt ab­ strakter, klassifizierender Begriffe bietet der Typus die Chance, das wiedererkennbare Urbild einer Gegenstandsmenge darzustellen. Wo der diskursive Begriff zur befriedigenden Gesamtdarstellung versagt, wird der Typus durch ›denkendes Anschauen‹ gewonnen, beziehungsweise durch komplexe Gestalten veranschaulicht. Das Verfahren des denkenden Anschauens ist Goethe zufolge das wichtigste Mittel der nicht-mathematisierten Wissenschaft und zugleich ein Hauptmittel der Konzeptualisierung und Darstellung in den Künsten. Die Erfassung des Typus ist keine selektiv vorgenommene Verkürzung der empirischen Wahrnehmung, sondern die geistige Intensivierung der Wahrnehmung derart, dass sie ein Ganzheit­ liches in Zeit und Raum aufnimmt, das der Empfindung der Ganzheitlichkeit des eigenen Leibes korrespondiert. Die mit den Phänomenen betriebene Wissenschaft, die nicht nur bei der Gestalt, sondern auch bei der Beobachtung des Gestaltwandels zu anschaubarer Regelhaftigkeit gelangt, nennt Goethe Morphologie, die er als Methode auf alle Teilgebiete der Naturforschung anwendet, die er selbst betreibt. Goethe bezeichnet das methodische Ideal seiner morphologischen Wissenschaft als »zarte Empirie« und erklärt: Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theo­rie wird. Diese Steigerung des geistigen Vermögens aber gehört einer hochgebildeten Zeit an.17

Diese Wissenschaft verlangt ein sensuell empfindliches wie auch ein ›geistiges Auge‹, ein Gedächtnis und Gefühl für Formen und Formveränderung, für Farben, für Ausdruckscharaktere aller Art, und so nimmt es nicht wunder, dass eine Affinität zwischen dieser Wissenschaftsform und der Kunst besteht.18 In den Maximen und Maximen und Reflexionen, Nr. 509, HA 12, S. 435. Schäfer wählt für seinen Beitrag im Goethe-Handbuch den Titel »Goethes naturwissenschaftliche Kunstauffassung«. Die reversible Fassung 17 Goethe: 18 Armin

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Reflexionen erklärt Goethe hierzu: »Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis19 zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst«.20 Die Kunst ist diese würdigste Auslegerin, weil sie die lebendigen Gestalten der Natur in eben solchen eigengesetzlichen Gestalten anschaubar macht und nicht durch Begriffe verfremdet. Goethe spricht hier deutlich aus eigener Erfahrung: In den Zeiten intensiver Naturforschung, wie zum Beispiel während der italienischen Reise, aktiviert Goethe seine eigene zeichnerische Kunst und zudem sein Verständnis der Farben und der Formfindung durch die intensive Rezeption der bildenden Kunst. Während des Aufenthalts in Italien verändert und vertieft sich Goethes Kunstanschauung. Er bekennt, dass er bis dahin die Kunst vornehmlich als »Abglanz der Natur« aufgefasst habe, dann aber, unter dem Eindruck griechischer und römischer Kunstwerke der Antike, als »Natur selbst«. Goethe vermutet, »daß sie [die Griechen; B. S.] nach eben den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur verfährt und denen ich auf der Spur bin«.21 Das von Aristoteles und Thomas von Aquin formulierte Prinzip des ars imitatur naturam versteht Goethe als ein Nachahmen nicht der Naturdinge, sondern der Verfahrensweise der Gestalten bildenden natura naturans selbst. Später thematisiert Goethe seine morphologischen Einsichten immer wieder in einer Art Lehrgedicht (»Metamorphose der Pflanzen«, »Metamorphose der Tiere«) oder auch in rein lyrischen Versen. Er sieht keinen Widerspruch in diesem Verfahren, weil seine eigene Auffassung von einer idealen Naturwissenschaft dem poetiist ebenso berechtigt: Goethes künstlerische Naturauffassung. Das Formbildungsinteresse des Künstlers geht auf die genetische Behandlung der Naturerscheinungen über und konzipiert deren Gestaltwandel oder Metamorphosen. 19 Goethe versteht unter dem offenbaren Geheimnis ›das Urphänomen‹, eine Grundgestalt, die allen vergleichbaren Phänomenen zugehört, die niemals weder isoliert sinnlich noch rein geistig gegeben ist, sondern den Phänomenen als ihr quasi durchscheinendes Muster mitgegeben ist und sich dem hingebungsvollen Schauen erschließt. Das Urphänomen markiert zugleich die Grenze empirischer Erfahrung und bewirkt Goethes Resignation gegenüber der unfassbaren Vielfalt der Individuen der Natur oder dem Geheimnis des Lebens. 20 Goethe: Maximen und Reflexionen, Nr. 720, HA 12, S. 467. 21 Goethe: Italienische Reise, HA 11, S. 168. 130  |  Brigitte Scheer 

schen Darstellungsmodus nicht zuwider ist. Außerdem zeigt sich in dieser Gewohnheit, dass Goethe sich als die eigentlichen Adressaten seiner Forschungsergebnisse ein breites Publikum und nicht allein Fachvertreter der einzelnen Wissenschaften wünscht. Dies umso mehr, als ihm zunehmend bewusst wird, dass die Naturwissenschaften, nach seiner Idealmethode betrieben, einen hohen Gewinn für die Bildung und Humanisierung der Menschen bewirken könnten.22 Dies war zu Goethes Zeit, in der man die Sprachen und die Kultur der Antike als die wesentlichen Bildungsgüter ansah, ein recht revolu­tionärer Gedanke. »Irgendein Naturstudium«,23 wie Goethe sich ausdrückt, ist also vor allem zur Selbstbildung des Menschen geeignet, zur Einsicht in die Stellung des Menschen innerhalb der Natur, in der er nicht die Erfahrung des maitre et possesseur de la nature macht, wie es Descartes Forderung war, sondern im Goethe’schen Geist seine Abhängigkeit von und die Verwandtschaft mit der übrigen Natur entdeckt, womöglich auch seine Liebe zur Natur, die ihm Begeisterung schenkt und vor jeder Zerstörungsabsicht hinsichtlich der Natur schützt. Goethes Verschwisterung von Naturforschung und Kunstproduktion befördert auch die Schätzung der Naturschönheit, wie es bei vergleichbarer Konstellation von Naturforschung und Kunst bereits in der Renaissance geschehen war.24 Es ist naheliegend, dass Goethe seine Vorstellung von einer idealen Wissenschaft von derjenigen Wissenschaft ableitet, die er selbst in völliger Wahlfreiheit betreibt, der Morphologie, und deren fruchtbare Interaktion mit der Dichtung und der bildenden Kunst sich ihm erwiesen hat. Neben der Hervorhebung verwandter Verfahren in der Kunst und der morphologischen Praxis betont Goethe jedoch zugleich einen prinzipiellen Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft, der die Struktur des jeweils Produzierten betrifft. Goethe formuliert den grundsätzlichen Unterschied in sei22 In

einer Aufzeichnung vom 5. 10. 1787 auf der Italienreise erinnert Goethe an Platos Forderung, es möge kein der Mathematik Unkundiger in seine Schule eintreten, und ergänzt: »wäre ich imstande, eine [Schule; B. S.] zu machen, ich litte keinen, der sich nicht irgendein Naturstudium ernst und eigentlich gewählt« (ebd., S. 413). 23 Ebd. 24 Die Kunsthistorikerin Anne Eusterschulte spricht in Bezug auf die Geisteshaltung der Renaissance von einer »Artifizierung der Natur« (vgl. Anne Eusterschulte: Nachahmung der Natur, S. 20). Ansichten vom ­Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst  |  131

ner Farbenlehre wie folgt: »die Kunst schließt sich in ihren einzelnen Werken ab; die Wissenschaft erscheint uns grenzenlos«.25 Die Grenzenlosigkeit der Wissenschaft ist aus Goethes Sicht jedoch völlig negativ besetzt. Weder das Produkt noch das Verfahren der Wissenschaft bringen ein Ganzes zustande. Dem veräußerten Wissen ermangelt das Innere, der Reflexion das Äußere. Für Goethe folgt daraus: »so müssen wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgendeine Art von Ganzheit erwarten«.26 Eine solche Ganzheit erwartet Goethe allerdings als das Produkt einer idealisch konzipierten Wissenschaft, da er schon in der von ihm betriebenen Morphologie die erfolgreiche Bestimmung von Ganzheiten (Gestalten, Lebewesen, ganzheitliche Formationen) und ihren Entwicklungen geleistet hat. In jedem wissenschaftlichen Resultat soll sich, wie in den Werken der Kunst, die Fähigkeit der Kunst überhaupt, hier entsprechend der Gesamtcharakter einer Wissenschaft ausdrücken. Für eine solche Idealwissenschaft würden allerdings auch alle Kräfte des forschenden Individuums benötigt, die für die Produktion der Kunst notwendig seien. Goethe stellt einen recht umfangreichen Katalog solcher menschlichen Kräfte auf, die man vom ganzheitlich arbeitenden Forscher erwarten müsse und die einen wahren Künstler auszeichneten. Da dieser Katalog dazu dienen kann, wesentliche Einsichten in Goethes Vorstellungen vom Künstler und den Künsten zu gewinnen oder zu rekapitulieren, sei er hier vollständig wiedergegeben: Um aber einer solchen Forderung sich zu nähern, so müßte man keine der menschlichen Kräfte bei wissenschaftlicher Tätigkeit ausschließen. Die Abgründe der Ahndung, ein sicheres Anschauen der Gegenwart, mathematische Tiefe, physische Genauigkeit, Höhe der Vernunft, Schärfe des Verstandes, bewegliche, sehnsuchtsvolle Phantasie, liebevolle Freude am Sinnlichen, nichts kann entbehrt werden zum lebhaften fruchtbaren Ergreifen des Augenblicks, wodurch ganz allein ein Kunstwerk, von welchem Gehalt es auch sei, entstehen kann.27

Diese aus Goethes Gedanken über die Verschwisterung von Kunst und Wissenschaft hervorgegangene Aufstellung wird zum VerMaterialien zur Geschichte der Farbenlehre, HA 14, S. 40. Ebd., S. 41. 27 Ebd. 25 Goethe: 26

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ständnis von Goethes Wissenschaftskritik wie auch zum Verständnis seiner Kunsturteile und Rezensionen vorteilhaft sein.

4. Form und anschauliche Wahrheit Das Verhältnis von Naturforschung und Kunst, von Wissenschaft und Dichtung, findet nicht nur in Goethes geäußerten Ansichten seinen Platz, sondern betrifft Goethe unmittelbar existenziell in seiner zwiefachen Begabung und Produktivität als Naturforscher und Dichter. Aus Goethes Sicht haben Kunst und Wissenschaft vornehmlich den einen großen ›Gegenstand‹, nämlich die Natur. Goethes Grundsatz des reinen Phänomenalismus in allen Wissenschaften, in aller Erkenntnis, schafft über den gemeinsamen Gegenstand Natur hinaus eine Affinität von Naturwissenschaft und Kunst: Beide bearbeiten eine sichtbare Gestalten- oder Gegenstandswelt.28 Hätte man Goethe veranlassen wollen, diesen ›Gegenstand‹ definitorisch zu bestimmen, so hätte er wohl erklärt, dass die Natur das an sich diskursiv Unaussprechliche sei, allerdings besitze die Kunst die Möglichkeit der Darstellung des Unaussprechlichen. In den Maximen und Reflexionen äußert Goethe: »Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen«.29 Da die Kunst diese begriffslose Vermittlerin ist, macht es Goethe zufolge keinen Sinn, ihre Werke durch Begriffe zu erläutern. Die diskursive Interpretation eines Kunstwerks bewirkt laut Goethe zwar eine geistige Anregung, aber nicht, den spezifischen Wahrheitsgehalt des Werkes aufzufassen. Trotz des Ausschlusses einer genauen Bestimmung hinsichtlich des Naturganzen, lassen sich doch Charakteristika der Natur in Goethes Dichtung wie auch in seinen theo­retischen Texten finden, die ihm unabdingbar scheinen.30 Die sich durchhaltende Vorstellung ist den Maximen und Reflexionen, Nr. 725, erklärt Goethe: »Wir wissen von keiner Welt als im Bezug auf den Menschen; wir wollen keine Kunst, als die ein Abdruck dieses Bezugs ist.« (HA 12, S. 467.) Goethe betont die transzendentale Bedingtheit der Menschenwelt, zugleich auch die ethische Aufgabe der Künste, nicht in heterokosmische Welten auszuweichen, wie zum Teil die Romantiker, sondern eine ›Phantasie für die Realität‹ zu entwickeln. – Der späte Goethe nannte sich gern einen Realisten. 29 Ebd., Nr. 729, HA 12, S. 468. 30 In dem Fragment mit dem Titel »Die Natur« (1783) hat Goethe eine 28 In

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die einer Gestalten schaffenden und zerstörenden, sich entwickelnden und überall bewegten Natur, die dem Menschen als unendlich erscheint. Goethes Haltung gegenüber dieser Natur ist durch seine Erziehung, Bildung und eigenes Erleben gekennzeichnet von Demut, Respekt, Bewunderung und religiös fundierte Verehrung. Aus dieser Einstellung erwächst auch Goethes ontologischer Wahrheitsbegriff, den er unter anderem während der intensiven Naturerlebnisse seiner Italienreise zum Ausdruck bringt. Unter dem Datum des 9. Oktober 1786 notiert Goethe eine Empfindung, die er des Öfteren in poetischer oder diskursiver Weise geäußert hat. Er hat an diesem Tag in der venezianischen Lagune vielerlei Meerestiere beobachtet und äußert daraufhin: »Was ist doch ein Lebendiges für ein köstliches, herrliches Ding! Wie abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr, wie seiend!«31 Die Natur selbst garantiert eine Sachwahrheit, auf die die menschlichen Verstehensprozesse sich stützen können. Auf dieser Grundlage entwickelt sich Goethes Impuls, das Verfahren der gestaltbildenden Natur verstehen zu wollen, ihre Formprozesse des Entstehens und Vergehens aufzuklären. Selbst angesichts der vermeintlich chaotischen Naturerscheinungen der Witterungsprozesse – heute spricht man dort vom ›determinierten Chaos‹ – sucht Goethe in seiner »Witterungslehre« nach möglichen Regeln des atmosphärischen Geschehens. Dabei fällt eine aufschlussreiche Bemerkung Goethes über das fortdauernde Interesse, das ihn in gleicher Weise mit der Kunst wie auch mit der Wissenschaft verbindet: »Wie sehr mir die Formung des Formlosen, ein gesetzlicher Gestaltenwechsel des Unbegrenzten erwünscht sein mußte, folgt aus meinem ganzen Bestreben in Wissenschaft und Kunst«.32 Im Kontext dieses Bekenntnisses bedeutet der Begriff ›Kunst‹ nicht allein die bildende Kunst, sondern auch die Dichtung. Der Stoff, das rohe Material der Dichtung, ist für Goethe das Wirkliche oder Historische in seiner Zufälligkeit, in diesem Sinne das Formlose. Durch die dichterische Bearbeitung des an sich Realen, Materiellen gewinnt es erst Form und Bedeutung. ›Das Bedeutende‹ ist ganze Liste solcher meist widersprüchlicher Qualitäten des Naturprozesses aufgestellt (vgl. HA 13, S. 45–47). 31 Goethe: Italienische Reise, HA 11, S. 93. 32 Goethe: Zur Witterungslehre. Luke Howard to Goethe, HA 13, S. 304. 134  |  Brigitte Scheer 

Goethe zufolge überhaupt das Wesentliche aller Kunstproduktion. Dies ist eine sprachliche Kategorie, die nicht allein auf das signifikative Moment der Sprache abzielt, sondern auf den Vorgang des ganzheitlichen Verstehens, zum Beispiel das Verstehen von Symbolen, die begrifflich nicht zu fixieren sind. Die Wirklichkeit als das bloß Zufällige, Einzelne oder Geschichtliche ist dem Dichter oder Künstler Goethe nicht hinreichend interessant.33 Aus ihren zerstreuten Elementen muss mit Hilfe der Imagination ein notwendiger, ganzheitlicher, in sich bedeutender Zusammenhang geschaffen werden, um dem Anspruch der Kunst gerecht zu werden. Dieser besteht darin, einen diskursiv nicht zu fassenden Wahrheitsgehalt zur Erscheinung zu bringen. Goethe veranschaulicht diesen Gedanken unter anderem am Beispiel seines 1809 erschienenen Romans Wahlverwandtschaften und erklärt gegenüber Eckermann, »daß darin kein Strich enthalten, der nicht erlebt, aber kein Strich so, wie er erlebt worden« sei.34 Goethes tragischer Roman Wahlverwandtschaften ist ein überzeugendes Beispiel dafür, dass selbst in einem epischen Werk jene Konkretion des Poetischen erreicht wird, die Goethe als künstlerisches Ideal ansieht. Er entwirft eine auf wenige Personen abgestellte Handlung, in der eine scheinbar fraglose eheliche Bindung und Treue durch das Eindringen anderer Personen in Auflösung gerät, und zwar durch eine in ihren Auswirkungen dämonische Macht der Anziehung, durch die Eduard der jungen Ottilie, der schönen Verwandten seiner Frau, verfällt. Sowohl Eduard wie Ottilie kämpfen gegen ihre Leidenschaft; ihre nur bedingten Mittel hierbei richten jedoch gegen die Unbedingtheit ihrer Liebe nichts aus. Am Beispiel der jungen Ottilie wird die Tragik einsichtig, dass nur ein völliges Entsagen und die schließliche Selbstaufgabe eine Rettung aus dem ansonsten unlösbaren sittlichen Konflikt bewirken kann. Der Konflikt ist der Widerspruch zwischen der gesellschaftlich akzeptier33 Goethe zeigt, wie auch Schopenhauer, wenig Interesse an der Geschichte,

wie sie die Geschichtswissenschaft betreibt. Allein die Naturgeschichte fesselt ihn, das heißt die Entwicklungsgeschichte in der Form der Metamorphosenlehre. Während der italienischen Reise schreibt Goethe in platonisierender Weise: »Die Gestalt dieser Welt vergeht, ich möchte mich nur mit dem beschäftigen, was bleibende Verhältnisse sind« (Notiz vom 23. 8. 1787, HA 11, S. 386 f.). 34 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, 17. 2. 1830, S. 167. Ansichten vom ­Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst  |  135

ten Lebensführung der Person und der Unterworfenheit des Menschen unter dunkle naturhafte Mächte. Das tragische Geschehen wird nicht nur erzählerisch vermittelt, sondern durch eine Kette von Symbolen in seiner Zuspitzung gezeigt. Das Symbol ist ein von Goethe bevorzugtes Mittel des poetischen Ausdrucks.35 Hier im Roman wählt Goethe bildhafte Naturphänomene oder an ihnen selbst bedeutende Artefakte mit ihrem Verweischarakter, um den notwendigen Verlauf hin zum tragischen Schluss mit der Sichtbarkeit der Symbolik zu verstärken. Dies führt den Leser zur Erfahrung eines ›Folgerechten‹, das Goethe primär an der von ihm erforschten Entwicklung der Naturwesen, nämlich der Metamorphose, wahrnimmt, das er aber auch zu einem Desiderat des künstlerischen Werkes erklärt. In beiden Fällen geht es nicht um die ab­strakte, logische Folgerichtigkeit, sondern um die sichtbare Regelhaftigkeit einer Entwicklung. So verändern sich zum Beispiel die Symbole aus der Natur und zeigen Zeichen des Verfalls oder der Bedrohung. Aus Goethes Sicht ist das bildhafte Symbol poetischer als die naturnahe, ausführliche Schilderung der Dinge und Handlungen, denn es lässt sich viel an Bedeutung aus ihm entwickeln, ohne dass es auf einen einzelnen Begriff zu bringen ist.36 Implizit drückt sich hier auch Goethes Kritik am breiten Kunstpublikum der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts aus, das die möglichst perfekte Naturähnlichkeit und Schilderung schon als einen Wert der Kunst betrachtet. Es zeigt sich, dass Goethes Diktum über sein generelles Verfahren in Kunst und Wissenschaft sich in seinem Roman bewährt, dass die Kunst anders, aber durchaus analog zur Wissenschaft das Formlose zu formen versucht, indem sie zum Beispiel einem vielschichtigen Schicksalsgeschehen eine Fassung und Deutung gibt. Ähnlich verfährt der Wissenschaftler, der in der Fülle von einzelnen Phänomenen nach Regeln und Gesetzen ihres Zusammenhangs forscht und dadurch eine Einsicht in den Status und die Bedeutung der einzelnen Erscheinung gewinnt, also eine empirische Wahrheit Bedeutung drückt Goethe in den Maximen und Reflexionen, Nr. 752, folgendermaßen aus: »Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeinere repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen.« (HA 12, S. 471.) 36 Mit dieser Eigenschaft ähnelt Goethes Konzept des Symbols der ›ästhetischen Idee‹ Kants. 35 Dessen

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erfährt. In der Formung des Romangeschehens hin zum tragischen Ende zeigt sich eine Wahrheit, das »Kunstwahre«,37 wie Goethe sagen kann, das aus der Überzeugung von der Unbedingtheit der Liebenden folgt: Sie verraten weder ihre natürliche Leidenschaft für­ einander noch das Sittengesetz, indem sie die völlige Entsagung und den Tod auf sich nehmen. Das Organ für das Wahrheitliche dieser Konsequenz ist das (sittliche) Gefühl, dem das gesamte Geschehen in seiner dichten Symbolik anschaubar gemacht wird.38 Goethe hat relativ selten Äußerungen über seinen dichterischen Arbeitsprozess gemacht. So sind seine Ansichten über künstlerische Methoden und Werte und das Verhältnis von Kunst und Natur eher aus seinen zahlreichen Rezensionen und der unmittelbaren Betrachtung von Werken der bildenden Kunst zu gewinnen. Beispielhaft für einige von Goethes sich durchhaltenden Wertvorstellungen im Bereich der bildenden Kunst sind seine Äußerungen über Claude Lorrains Landschaftsgemälde, die Goethe in allen Phasen seines Lebens mit höchstem Lob auszeichnet. Die Landschafts­malerei war erst seit kurzem und insbesondere durch Lorrain zu einem selbständigen Genre der Malerei avanciert, nachdem sie zuvor bloß den Rahmen für die Historienmalerei oder mythologische Inhalte abzugeben hatte. Goethe versucht – außer in seinen eigenen kolorierten Zeichnungen – auch in seinem Aufsatz über »Landschaftliche Malerei« sich über deren Anforderung und Chancen klar zu werden. Zudem bleibt er hierüber längere Zeit mit Carl Gustav Carus im Gespräch, der ebenfalls sowohl praktisch wie theo­retisch mit der Landschaftsmalerei befasst ist. In dem Fragment gebliebenen Aufsatz Goethes wird zunächst ein knapper historischer Rückblick auf die Landschaftsmalerei gegeben, um dann die hervorragende Position Lorrains zu betonen: »Von Claude Lorrain, der nun ganz ins 37 Vgl.

Goethes kleiner Dialog »Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke« (1797), HA 12, S. 67 ff. 38 An dieser Stelle ist nur eine äußerst selektive Behandlung von Goethes Wahlverwandtschaften möglich, in der allein bestimmte Verfahrensweisen (konzise Formung einer Kunstwelt, Symbol, Zuspitzung der Tragik ) Erwähnung finden können. Es seien aus der Fülle der gründlichen Bearbeitungen jedoch genannt: Paul Stöcklein: Wege zum späten Goethe; Walter Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften; Käte Hamburger: Wahrheit und ästhetische Wahrheit. Ansichten vom ­Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst  |  137

Freie, Ferne, Heitere, Ländliche, Feenhaft-Architektonische sich ergeht, ist nur zu sagen, daß er ans Letzte einer freien Kunstäußerung in diesem Fache gelangt«. Und wie um Goethes Hauptanliegen in aller Kunst, nämlich das Wesen der Natur, behandelt zu wissen, heißt es in dem Aufsatzfragment: »Im Claude Lorrain erklärt sich die Natur für ewig«.39 Die Natur an sich, für Goethe das Unaussprechliche, spricht sich hier in ihrer stummen Sprache aus. Goethes Fazit soll offensichtlich auf die überzeitliche, idealische Fassung von Natur durch eine imaginierte, aber keineswegs entrückte Landschaft hinweisen. Die Originalgemälde, die Goethe zum Teil schon früh in der Kasseler Galerie, später in Rom sehen konnte, scheinen die Bereiche, in denen Lorrain »sich ergeht«, zu bewähren, wobei das »Heitere« unbedingt als atmosphärische, geradezu witterungsbedingte Gegebenheit gelesen werden muss. Goethe hat nicht zuletzt Lorrains Fähigkeit bewundert, die Wolkenformationen, die differenzierten Lichteinwirkungen und die Gesamtatmosphäre malerisch so perfekt realisiert zu haben. Das »Feenhaft-Architektonische«,40 das Lorrains Bildern zukommen soll, ist schwerer zu deuten. Gemeint sein könnte, dass Lorrain hier neben den frei konzipierten Gegenständen des Gemäldes auch eine eigenständige nicht realistische Raumstruktur erfindet, die der Landschaft etwas FeenhaftGeheimnisvolles verleiht. Im Gespräch mit Eckermann betont Goethe an Lorrains Werken, dass sie »die höchste Wahrheit, aber keine Spur von Wirklichkeit« hätten, ein Kriterium gelingender genialer Kunst, das Goethe des Öfteren hervorhebt. Das »erscheinende Wahre« in den Gemälden Lorrains ist Goethe zufolge der Ausdruck der »Welt seiner schönen Seele«41 und setzt wohl zu ihrem Verständnis eine Seelenverwandtschaft voraus. Goethes Begeisterung für die Landschaftsbilder Lorrains weisen keineswegs darauf hin, dass Goethe das Wesen der Natur in der Sanftheit und Milde empfunden hat, die in Lorrains Bildern zum Ausdruck kommen, wohl aber dass Goethe die Behandlung des Lichts bei diesem Maler besonders geschätzt hat, denn seine Landschaften »werden beherrscht von einem atmosphärischen Licht, dessen Differenzie39 Goethe:

Landschaftliche Malerei, HA 12, S. 218. Ebd., S. 222. 41 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, 10. 4. 1829, S. 157. 40

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rung und Nuancierung Claude Lorrain unausgesetzt beschäftigt haben«.42 In einem andern Kontext, nämlich in Goethes Rezension von Sulzers Buch Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung ist Goethe dermaßen empört über Sulzers Unterstellung, die gesamte Schöpfung sei darauf angelegt, dem menschlichen Auge und ebenso den andern Sinnen zu gefallen, und diese Absicht müssten die Künstler fortsetzen, dass er ein leicht übertriebenes Gegenbild von der Natur entwirft, das dem pessimistischen Schopenhauer alle Ehre machen würde. Gegen Sulzers verlogene Naturbetrachtung setzt Goethe die Überzeugung: Was wir von Natur sehn, ist Kraft, die Kraft verschlingt; nichts gegenwärtig, alles vorübergehend, tausend Keime zertreten, jeden Augenblick tausend geboren, groß und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche; schön und häßlich, gut und bös, alles mit gleichem Rechte nebeneinander existierend. Und die Kunst ist gerade das Widerspiel; sie entspringt aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten. […] der Mensch durch alle Zustände befestigt sich gegen die Natur, ihre tausendfache Übel zu vermeiden und nur das Maß von Gutem zu genießen […].43

Dieser energische Einspruch Goethes erfolgt noch in seiner Sturmund Drang-Periode. Der späte Goethe hat es vor allem mit polemischer Kritik an dem Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit zu tun.

5. Goethes Wissenschaftskritik Goethe bemerkt in den Naturwissenschaften seiner Zeit, vor allem im Übergang zum 19. Jahrhundert, die Anfänge einer rein naturalistischen oder materialistischen Einstellung zur Natur. Dem Erfolg dieser Naturbehandlung soll außer der Abwehr der metaphysischen Fragestellungen die Mathematisierung von Fakten und Zusammenhängen dienen, ferner die Spezialisierung in den verschiedenen Disziplinen und die Neudefinition des Experiments als Vorgang strikter Wiederholbarkeit und Delegierbarkeit an Maschinen. 42 Vgl.

Ernst Osterkamp: Art. »Lorrain, Claude«, S. 513. »Die schönen Künste« von J. G. Sulzer, HA 12, S. 18.

43 Goethe:

Ansichten vom ­Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst  |  139

Goethe betrachtet die Wissenschaften durchaus pragmatisch. Sie sollten den Menschen dienen und daher auch von Menschen und nicht anonym betrieben werden, nicht von Maschinen oder Rechenprozessen. Goethes morphologisches Interesse sieht einen Gegensatz zwischen der Gestalt und einer mathematischen Erfassung. Der bis heute verständliche humanitär begründete Einspruch Goethes gegen die Wissenschaftspraxis des 19. Jahrhunderts lässt sich durch den Hinweis auf die vielfachen Erfolgserlebnisse der Wissenschaftler nicht beschwichtigen. Goethes morphologisch betriebene Naturforschung mit ihrer »zarten Empirie« ist den Naturwissenschaftlern im Übergang zum 19. Jahrhundert nicht vermittelbar, weil völlig andere Standards zur Geltung gekommen sind. Das ausdauernde Beobachten und Vergleichen der Naturphänomene, wie es Goethe durchführt, der weitgehende Verzicht auf Induktion und frühzeitig entwickelte Hypo­thesen werden in einer fortschrittsgläubigen und auf Beschleunigung drängenden Epoche eher als Zeitverlust angesehen. Hinzu kommt Goethes Ablehnung der weitgehend mathematisierten Wissenschaft, die den Wissenschaftlern eine Zunahme der Verlässlichkeit ihrer Ergebnisse bringen soll und damit auch deren technische Nutzung ermöglicht. In Goethes Ablehnung der pauschalen Mathematisierung der Wissenschaften liegt keine Nichtachtung der mathematischen Disziplin, sondern Goethes Grundsatz, jedes Objekt der Wissenschaft seinem Wesen gemäß zu behandeln. In den Maximen und Reflexionen drückt Goethe diesen Grundsatz wie folgt aus: »In Kunst und Wissenschaft sowie im Tun und Handeln kommt alles darauf an, daß die Objekte rein aufgefaßt und ihrer Natur gemäß behandelt werden.«44 Dies ist ein anspruchsvolles Programm, aber Goethe kann für sich beanspruchen, dass er in seiner morphologischen Forschung damit gearbeitet hat. Das reine Auffassen der Objekte kann, wie gezeigt wurde, nicht voraussetzungslose Hinnahme bedeuten. Goethe weiß, dass schon das Anblicken der Objekte theo­ riehaltig ist. Anzustreben ist eine ideologiefreie Bemühung um den wissenschaftlichen Gegenstand. Das Objektivitätsideal der neuen Wissenschaftler verlangt das Zurückdrängen der Persönlichkeitsfaktoren in der Forschung, ein 44 Goethe:

Maximen und Reflexionen, Nr. 900, HA 12, S. 492.

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Verlangen, das mit Goethes Bewertung des idealen Forschers unvereinbar ist. Denn Goethe wünscht sich, wie oben ausgeführt, einen Naturforscher, dessen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften denen des Künstlers gleichen, damit die Ganzheit seines Wesens der Ganzheit der zu erforschenden Gegenstände (Gestalten, Phänomene) entsprechen kann. Das erhoffte Wissen der neuen Naturwissenschaften sollte dagegen ein überpersönliches sein, das deshalb auch zu verschiedensten Zwecken zu nutzen wäre. Die Vorstellung vom frei verfügbaren, vom Forscher abgelösten immensen Pool an Wissensdaten hat Goethe bereits abgeschreckt, ehe sie in unserer sogenannten ›Wissensgesellschaft‹ des 21. Jahrhunderts voll realisiert wurde. Goethe erklärt in den Maximen und Reflexionen hierzu: Wer sich von nun an nicht auf eine Kunst oder Handwerk legt, der wird übel dran sein. Das Wissen fördert nicht mehr bei dem schnellen Umtriebe der Welt; bis man von allem Notiz genommen hat, verliert man sich selbst.45

Wie sehr Goethe durch solche »schnellen Umtriebe« in den Wissenschaften befremdet war, zeigt beispielhaft seine Kritik am Vorgehen Alexander von Humboldts in der geologischen Forschung, die ja Goethe auch im morphologischen Sinne betrieben hatte. Goethe hat Humboldts neue Werke stets studiert und den Austausch mit dem Freund gepflegt. Im Jahr 1823 erhält Goethe Alexander von Humboldts neuestes Werk Über den Bau und die Wirkungsart der Vulkane in verschiedenen Erdstrichen, in dem Humboldt versucht, den Neptunismus, dem Goethe zustimmt, in seiner Bedeutung für die Entstehung der Erdkruste durch den Vulkanismus (auch Plutonismus) abzulösen. Zunächst ist Goethe verwundert darüber, wie viele allgemeine ›Hilfswissenschaften‹ wie Chemie, Physik usw. Humboldt für seine geologische Forschung hinzuzieht. Schließlich muss Goethe feststellen, dass aus der Sicht der neueren Geologie die Werner’sche46 Theo­rie, der er selbst anhing, widerlegt sein soll. Die Annahmen der Neuerer, der Vertreter des Vulkanismus, scheinen Goethe zu spekulativ verfahren zu sein, denn sie befassen sich mit 45 Ebd.,

Nr. 176, HA 12, S. 388. 46 Gemeint ist Abraham Gottlob Werner (1794–1817), Mineraloge und Geologe an der Bergakademie in Freiberg. Er begründete die Geologie als Erfahrungswissenschaft. Ansichten vom ­Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst  |  141

»Wirkungen freilich der tiefsten Vorzeit, die kein Auge jemals in Bewegung gesehen, noch weniger irgendein Ohr den Tumult, den sie erregten, vernommen hat. Was sieht denn hier also ein Mitglied der alten Schule? Übertragungen von einem Phänomen zum andern, sprungweise angewendete Induktionen und Analogien, Assertionen, die man auf Treu und Glauben annehmen soll«.47 Man merkt, dass Goethe neben der Methodenkritik, die er vorträgt, schmerzlich empfindet, dass die moderne Naturwissenschaft in einem Tempo fortschreitet, bei dem das Wissen einer ganzen Generation übersprungen wird. Aus heutiger Sicht erscheint die Forderung der Theo­rie-Zurückhaltung und Beschränkung auf die Empirie, sogar auf den Augenschein und das Gehör in einer Wissenschaft wie der Geologie als absurd. Man vertraut vielmehr auf technisch ermöglichte Spurensicherungen, selbst aus Zeiten vor jedem organischen Leben auf der Erde, um deren Gewordensein zu verstehen. Für Goethe ist aber ein quasi anonym gewonnenes Wissen eine contradictio in adjecto. Auch in den Wissenschaften, wie in den Künsten, bildet und entäußert sich das Selbst. Für Goethes eigene Wissenschaftspraxis ist das deutlich geworden. Die Geschichte der Wissenschaften hat sich jedoch gegenteilig orientiert: Das anonym, bei Ausschaltung der menschlichen Sinne, durch Apparate des Messens und Synthetisierens gewonnene Wissen findet seine konsequente Fortsetzung in der Erforschung und Nutzung der ›künstlichen Intelligenz‹ in unserer Zeit. Neben den Enttäuschungen über bestimmte Auswüchse des Mechanismus in den Wissenschaften, die Goethe in seinen letzten Lebensjahren erfährt, brachte er auch mehr als 30 Jahre lang seine Frustration über die mangelnde allgemeine Anerkennung der Farbenlehre zum Ausdruck, die stets im Schatten von Newtons Farbenlehre stand. Adolf Meyer-Abich, der die Stimmigkeit und Aktu­ alität von Goethes morphologischer Naturforschung dargestellt hat, erklärt hierzu: Goethes Farbenlehre ist im Gegensatz zu Newtons Optik eine reine und echte Morphologie der Farben. Die Farben sind für Goethe ­keine 47 Der

Text stammt aus dem nicht veröffentlichten Nachlass unter dem Titel »Verschiedene Bekenntnisse. Alexander von Humboldt gewidmet« (Aufzeichnung vom 16. 3. 1823, Goethe-Gesamtausgabe Cotta, Bd. 20, S. 472 f.). 142  |  Brigitte Scheer 

Wellenbewegungen im Äther, die physikalisch gemessen werden müßten, sondern ›Urphänomene‹ einer nur als ein Ganzes erfaßbaren Natur.48

Im Folgenden nennt Meyer-Abich Goethes Farbenlehre auch eine »idealistische Morphologie«, während Newtons Farbentheo­rie eine reine Physik der Farben darstelle. Leider endet er mit der Feststellung: »Selbstverständlich haben sie alle beide recht«.49 Meyer-Abich hält Goethes Polemik gegen Newtons Theo­rie der Farben daher für unnötig. Das ist aber die geschichtsvergessene moderne Ansicht über diesen Zwist. Zur Akzeptanz einer Wissenschaft und ihren Ergebnissen gehört für Goethe auch die Anerkennung angemessener Methoden. Hier die »zarte Empirie«, dort die Quantifizierung eines ›Urphänomens‹, die einer Vernichtung gleichkommt.

6. Schopenhauer über Kunst und Wissenschaft. Mit dem Rückblick auf Goethe Anders als der späte Goethe sieht Schopenhauer in der Entwicklung der Wissenschaften des 19. Jahrhunderts nicht so sehr Verfallserscheinungen und Verfehlungen gegenüber Mensch und Natur. Er hat keinen Anlass, gegen die Wissenschaft oder den Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit zu polemisieren, denn er erkennt in ihnen genau die Verfahren und dauerhaft beschränkten Erkenntnismöglichkeiten, die ihm durch seine philosophisch-kritische Betrachtung der empirischen Wissenschaften deutlich geworden sind und die der Wissenschaft eine klare, praktisch wichtige, wenn auch weniger bedeutsame Stelle in seinem System eingebracht haben. Die empirischen Wissenschaften, die Schopenhauer grundsätzlich in Morphologie und Aetiologie einteilt, haben es mit den bleibenden Formen der Erscheinungen oder aber mit den Veränderungen ihrer Materie im Verhältnis zueinander zu tun. Die aetiologischen Wissenschaften verfolgen in ihrer Forschungsarbeit das Warum dieser Veränderungen, ohne das Was der Erscheinungen, das heißt deren Wesen, aufMeyer-Abich: Die Vollendung der Morphologie Goethes durch Alexander von Humboldt, S. 55. 49 Ebd., S. 61. 48 Adolf

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klären zu können. Sie behandeln die Erscheinungen nach Maßgabe des Satzes vom Grund, das bedeutet bei den Naturwissenschaften überwiegend nach dem Grund des Werdens oder der Kausalität. Die Aufklärung über Kausalverhältnisse ermöglicht den Menschen zwar, die Natur zweckdienlich zu behandeln und eine Technik zu ihrer teilweisen Beherrschung auszubilden, aber das Wesen der Naturerscheinungen selbst bleibt bei diesem Vorgang verdeckt.50 Der Intellekt, dessen Genese Schopenhauer darin sieht, dass sich der Wille im Prozess seiner zunehmenden Bewusstwerdung ein Mittel zur effektiveren Beschaffung seiner begehrten Wunschziele zulegt, ist in den Wissenschaften folglich nicht rein erkennend tätig. Schopenhauer beobachtet im Verfahren der Wissenschaften weniger den Drang nach Erkenntnis, als vielmehr den Drang nach Problemlösungen, der dem Drängen des Willens assoziiert ist, seine selbstischen Ziele zu erreichen. Der »Zweck der Wissenschaft« ist in Schopenhauers Einschätzung denn auch nicht »größere Gewißheit«, sondern »Erleichterung des Wissens«, die in der durch das »Herabsteigen vom Allgemeinen zum Besonderen begründeten systematischen Form der Erkenntniß liegt«.51 Diese Struktur der Wissenschaftlichkeit habe jedoch dazu verleitet, das Beweisverfahren als den eigentlichen Ort der Wahrheit anzusehen. Schopenhauer kann daher zur Kritik solchen Irrtums nur immer wieder die unmittelbare Anschauung als die eigentliche Quelle aller Erkenntnis und aller Wissenschaft herausstellen: »Für eine neue Wahrheit« ist »nicht zuerst ein Beweis, sondern unmittelbare Evidenz zu suchen« und »alle letzte, d. h. ursprüngliche Evidenz, ist eine anschauliche«.52 Hier ist zu erinnern, dass Schopenhauers Fassung der empirischen Anschauung keine bloße Hinnahme von Empfindungen ist (von im50 Im

Kontext seiner Wissenschaftslehre gebraucht Schopenhauer ein erschreckendes Bild zur Charakterisierung derjenigen empirischen Wissenschaften, für die das Ausklammern des Wesens der Erscheinungen nicht einmal bewusst wird: »Empirische Wissenschaften, rein ihrer selbst wegen und ohne philosophische Tendenz betrieben, gleichen einem Antlitz ohne Augen.« (W II, S. 141.) Das Antlitz ohne jeden Ausdruck von Innerlichkeit steht hier für die verfehlte Vorstellung einer wesenlosen Natur als bloßer ›Faktenaußenwelt‹ (vgl. Goethes Kritik an einer anonym und mechanistisch betriebenen Naturforschung). 51 W I, S. 76. 52 Ebd., S. 78. 144  |  Brigitte Scheer 

pressions, wie Hume meinte), sondern bereits eine Deutung im Hinblick auf die Ursache durch den anschauenden Verstand darstellt, also mit Recht ›intellektual‹ genannt wird. Analog spricht Goethe vom ›denkenden Anschauen‹. Beide Autoren bahnen mit dieser Auffassung eine Affinität von Sinnlichkeit und Intellekt an, ohne die eine systematisch entwickelte Kunstauffassung nicht plausibel wäre. Für Schopenhauer selbst sind die Naturwissenschaften ein notwendiges Wissensgebiet und Studium, um sein philosophisches System lückenlos zu beglaubigen. Er hat nicht den Wunsch, selbstständiger Naturforscher zu werden, und muss nicht wie Goethe erleben, dass die Methoden seiner eigenen Naturforschung als überlebt angesehen werden. Schopenhauers Bezug zur Natur war nicht auf bedeutende Weise emotional bestimmt, wie es allerdings für Goethes sowohl poetische wie wissenschaftliche Produktion entscheidend war. Frühe Beobachtungen des jungen Schopenhauer, zum Beispiel auf ausgedehnten Reisen, haben ihn das harte Konkurrenzverhalten in der Natur wie auch in der menschlichen Gesellschaft beobachten lassen. Die gelegentlichen Wohltaten der schönen Natur waren für ihn überdeckt durch die Wahrnehmung des allumfassenden Leidens der Menschheit. Zu diesem erkennbaren Leiden gehörte im frühen 19. Jahrhundert auch die gesundheitsschädigende Schwerstarbeit vornehmlich der armen Bevölkerung. Schopenhauer erwartet, dass mit Hilfe der Wissenschaft bzw. der in der Technik angewandten Wissenschaft eine Erleichterung der von Menschen zu leistenden Arbeit erreicht wird. Gleiches erhofft er auch für die z. T. übermäßig ausgebeuteten Nutztiere, vor allem für die Pferde. Die in den Wissenschaften erworbene Erkenntnis hat Schopenhauer zufolge ihren höchsten Wert »in der Mittheilbarkeit und in der Möglichkeit, fixirt aufbehalten zu werden: erst hiedurch wird sie für das Praktische so unschätzbar wichtig«.53 Schopenhauer denkt hier an einen durch begriffliche Fassung des Wissens herzustellenden Fundus der Wissenschaft, der im Laufe der Zeit durch neue Generationen von Forschern teils revidiert oder angereichert werden kann und für das Handeln und das Herstellen der Technik vernünftige Anleitung geben soll. Die ›Übersetzung‹ der anschau53

Ebd., S. 66. Ansichten vom ­Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst  |  145

lich gewonnenen Erkenntnis in (ab­strakte) Begriffe – und dies ist die wichtigste Aufgabe der Wissenschaft – ist allerdings aus Schopenhauers Sicht eine große Schwierigkeit, wenn man dabei sowohl dem Allgemeinen wie dem Besonderen der erfahrenen Anschauung gerecht werden will. Es sind dabei nicht nur die erkenntnislogischen Fähigkeiten der Vernunft gefragt, die Schopenhauer in seiner Begriffslehre vorträgt,54 sondern auch eigene Verfahrensweisen der Kunst wie Bild- und Gestaltwahrnehmung, also ein produktives Sehen und Empfinden. Solche Überlegungen beschäftigen Schopenhauer auch in dem Moment, in dem er den grundsätzlichen Status der Philosophie festzulegen versucht. Dass die Philosophie für Schopenhauer gleichbedeutend mit Metaphysik ist, geht aus seinem gesamten Werk hervor, es wird für diese Gleichstellung argumentiert. Eher implizit zeigt sich in der besonderen philosophischen Sprachfindung Schopenhauers die Verwandtschaft seiner Philosophie mit der Kunst. So kann Schopenhauer in dem Ergänzungsband zu seinem Hauptwerk als ein Fazit seiner Wissenschaftslehre äußern: Die Philosophie oder Metaphysik […] tritt nicht in die Reihe [der Wissenschaften; B. S.]. […] Sie ist als der Grundbaß aller Wissenschaften anzusehn, ist aber höherer Art als diese und der Kunst fast so sehr als der Wissenschaft verwandt.55

In dieser Äußerung nimmt die Philosophie eine Mittelstellung ein und bleibt beiden Seiten gegenüber offen. Ein wesentliches Moment der Verbindung von Wissenschaft, Philosophie und Kunst ist die Überzeugung Schopenhauers, dass in allen drei Disziplinen das Genie die eigentliche Entwicklung, Neuerung und Dynamisierung erzeugt. Schopenhauer versteht unter dem Genie einen Menschen, der sich intensiv für das rein Objektive interessiert, der also den Willen als ihn bestimmende Macht zumindest auf Zeit zurückdrängen kann und zur reinen Kontemplation, nämlich der Anschauung der Ideen, gelangen kann. So kann Schopenhauer auch sagen, Genialität sei »nichts anderes, als die vollkommenste Objektivität«.56 Der geniale Künstler ist darüber hinaus kraft seiner Besonnenheit in der Lage, die geschaute Idee in einem Werk zur Erscheinung zu bringen. 54

Vgl. ebd., S. 46 ff. II, S. 140. 56 W I, S. 218. 55 W

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Kunst ist Schopenhauer zufolge »Werk des Genius« und betrachtet das »Wesentliche der Welt«.57 Durch die Darstellung der Ideen in den Kunstwerken übernimmt die Kunst eine Aufgabe, die sich auch die Philosophie vorbehält, ohne aber im Medium der Anschauung bleiben zu können. Da jedoch Schopenhauer zufolge die Ideen »wesentlich ein Anschaubares und daher, in seinen nähern Bestimmungen, Unerschöpfliches«58 sind, kann die notwendig begrifflich verfahrende Philosophie von den Ideen nur unvollkommen oder inadäquat handeln. Der eigentliche Ort der Metaphysik erweist sich in Schopenhauers Philosophie als die Kunst. Die in ihr praktizierte Metaphysik konnte leichter populär werden als Schopenhauers Herleitung des Willens als das universale Ansich der Welt. Auch Goethe betrachtet den Künstler von Niveau als genial, hat sich jedoch niemals bereitgefunden, der Kunst eine so bestimmte Aufgabe oder einen Zweck – Darstellung der Ideen – zuzuweisen, wie es Schopenhauer in seiner Metaphysik der Kunst unternimmt. Goethe und Schopenhauer sind sich jedoch hinsichtlich der wesentlichen Qualitätsmerkmale großer Kunstwerke einig, z. B. in der Auffassung, das Wahre müsse in ihnen allein auf dem Weg der Anschauung übermittelt werden. Folgende Äußerung Schopenhauers aus dem Ergänzungsband zu seinem Hauptwerk ist in ihrem Gehalt so nah dem Denken Goethes angesiedelt, dass sie auch von diesem ausgesprochen sein könnte: »Ganz befriedigt durch den Eindruck eines Kunstwerks sind wir nur dann, wann er etwas hinterläßt, das wir, bei allem Nachdenken darüber, nicht bis zur Deutlichkeit eines Begriffs herabziehn können«.59 Goethe würde hier sein Diktum über die Kunst bestätigt finden, wonach sie Darstellung des Unaussprechlichen ist. Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass sowohl Goethe wie auch Schopenhauer nicht von ungefähr zur Prüfung des Verhältnisses von Kunst und Wissenschaft veranlasst wurden. Beide sind Zeugen einer revolu­tionären Entwicklung in den europäischen Wissenschaften, die sich unter Führung der Physik gänzlich dem Ideal des Materialismus verschworen haben. Die Geistesgeschichte Europas zeigt dem Gebildeten, welchen Verlust dies für die Wis57

Ebd., S. 217. II, S. 466. 59 Ebd., S. 466 f. 58 W

Ansichten vom ­Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst  |  147

senskultur bedeutet. Daher sind Goethe wie auch Schopenhauer mit dem Wesen der Kunst vor allem unter dem Gesichtspunkt beschäftigt, dass sie eine eigene Wissensform darstellt und erhellen auf solche Weise die Verluste, die durch den Absolutheitsanspruch der empirischen Wissenschaften drohen. Goethes und Schopenhauers Potenzial für die Wissenschaftskritik liegt, wie darzulegen war, in ihrer emphatischen Verteidigung des Wahrheitsanspruchs der Künste, aber auch in der Anerkennung der kunstnah betriebenen Wissenschaft und Philosophie.

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Sascha Dümig

Lebendiges Wort? Schopenhauers und Goethes Anschauungen von ­Sprache im Vergleich Sucht man Deckungsgleichheiten oder aussagekräftige Differenzen in den Werkgestaltungen Goethes und Schopenhauers, indem man ein spezifisches thematisches Gerüst verwendet, ist man nicht nur mit den grundsätzlichen Schwierigkeiten in der Auseinandersetzung mit zwei so unterschiedlichen Denkern konfrontiert. Stehen sich die Systematizität des Philosophen und die Gestaltungsfreiheit des Dichters per se als zwei schwerlich ineinander übersetzbare Modi geistigen Ausdrucks gegenüber, so ist das Thema Sprache als Phänomen wiederum in sich ein solch überbordend komplexes wie auch aufgrund der Mannigfaltigkeit einnehmbarer wissenschaftlicher Fachperspektiven ein ebenfalls von einer notwendigen Vagheit kontrastierender Anschauungen geprägtes Instrument des Vergleichs. Man kommt in diesem Sinne nicht umhin, dem durchpulsten Gewebe der Gedanken durch eine nur hinreichende Reduktion Gewalt anzutun. Der Symbolbegriff soll entsprechend in einer solch zusammenführenden Bespiegelung den analytischen Brennpunkt bilden, von dem aus die Wege der Denkbewegungen rekonstruiert werden. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht finden sich anhand eines solchen Vorgehens zwei divergente Entwicklungslinien: Während Schopenhauers Sprachanschauung Aspekte vorwegnimmt, die in kogni­ tionswissenschaftlichen Theo­rien einer modular strukturierten, symbolbasierten Informationsverarbeitung ihre Fortsetzung finden, so zeigen sich bei Goethe Vorstellungen von Sprache als Symbolsystem, die in ihrer Grundstruktur in Richtung der Theo­rien von Ferdinand de Saussure und Charles Sanders Peirce weisen und demgemäß mehr als eine Obertonreihe in literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskursen mitschwingen. Vor allem der Exemplifikation von Schopenhauers Anschauung unterliegt hier bewusst ein reformatorisches Movens. Meines Er150  |   

achtens verunmöglichte der vergilbte Usus traditioneller philosophischer Interpretation eine angemessene Eingliederung Schopenhauers in die Ahnenreihe diverser Einzelwissenschaften wie der Evolu­tionsbiologie und der Kognitiven Neurowissenschaft und ist ihr weiterhin hinderlich. Die Konturen eines ambitionierten neuen Bildes der Werkvielfalt Schopenhauers kann nur heller im Lichte der kontrastierenden Gedanken des wohl ›Einzigen‹ hervortreten, von dem der Philosoph eine Anerkennung wünschte. Und auch wenn hier der Weg des Vergleiches nurmehr in einer losen Synopse münden kann – die Anschauungen geschieden »wie wenn zwei Freunde, die bisher miteinander gegangen, sich die Hand geben, der eine jedoch nach Norden, der andere nach Süden will«1 –, so lässt sich doch vielleicht gerade in diesem Gegensatz in Bezug auf den sie beide einenden Logos mit Heraklit sagen: »Sie verstehen nicht, wie das Auseinandergehende mit sich selbst zusammengeht: gegenspännige Zusammenfügung wie von Bogen und Leier.«2

1. Schopenhauers Anschauung von Sprache Man könnte zweifeln, ob Schopenhauer etwas Relevantes zum Thema Sprache zu sagen habe, wenn man sich die Ausführungen von Eugenio Coseriu mit dem Titel Der Fall Schopenhauer: Ein dunkles Kapitel in der deutschen Sprachphilosophie vor Augen hält. Schopenhauers Ausführungen zu dieser Thematik gehörten zu den »Schattenseiten einer Disziplin – in diesem Fall der Sprachphilosophie und der Linguistik« und er vertrete »eine typisch laienhafte Ideologie bezüglich der Sprache und der Sprachen«.3 Es lohnt sich, hier genauer hinzuschauen, umso mehr, als ein solch allgemeines Urteil nur im Lichte einer adäquaten Expertise auf dem entsprechenden Gebiet gerechtfertigt werden kann. Das Gebiet allerdings, dass Coseriu mit Sprachphilosophie und Sprache im Allgemeinen identifiziert, ist vornehmlich das der Sprachtypologie. In grober Vernachlässigung des Kontextes von Schopenhauers philosophiTag- und Jahres-Hefte, WA I/36, S. 112. nach Margot Fleischer: Anfänge europäischen Philosophierens, S. 16. 3 Eugenio Coseriu: Der Fall Schopenhauer, S. 13. 1 Goethe: 2 Zit.

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schem System demonstriert Coseriu auf Basis eines Flickenteppichs aus sprachtypologischen Analysen Schopenhauers das vermeintlich Falsche und Ungenügende derselben. Hierzu ein repräsentatives Beispiel: Als falsche Meinung kann man anführen: Die Deutschen seien Goten; im Französischen würden sich keine deutschen Wörter finden, und dies sei sogar auffällig; parlare komme wahrscheinlich von ›perlator, Ueberbringer, Botschafter‹; sp. aceite bedeute ›Öl‹ (und nicht ›Essig‹, was es anscheinend bedeuten müßte) infolge einer Verwechslung; dt. Affe komme von Afer, ›weil die ersten von Römern den Deutschen zugeführten Affen ihnen durch dieses Wort erklärt wurden‹; dt. Ferkel komme von ferculum, ›weil es ganz auf den Tisch kommt‹.4

Aus der Sicht des Sprachtypologen, dies muss betont werden, ist dies ein durchaus legitimes Vorgehen und in seiner Richtigkeit unbenommen. Und es wird auch niemand Coseriu in seiner abschließenden Meinung widersprechen, dass wer »Etymologien deutscher Wörter wissen will«, »nicht bei Schopenhauer […] nachschauen« wird, »sondern in einem etymologischen Wörterbuch«.5 Wer allerdings bei einem solch einseitigen, fachspezifischen Vorgehen und dilettantischer Werksichtung zum Schluss kommt, er habe Schopenhauers Beitrag zur Sprachphilosophie und Linguistik im Allgemeinen erschöpfend erfasst, muss sich gleichfalls den Vorwurf gefallen lassen, dass er eine typisch fachidiotische Ideologie bezüglich der Sprache und Sprachen vertritt und mit seiner stumpfen Polemik daselbst einen nicht gerade erhellenden Beitrag zur Wissenschaftshistorie geleistet hat. Es lohnt sich, an dieser Stelle eine von Noam Chomsky getroffene Unterscheidung hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes der Linguistik einzuführen, namentlich die zwischen E(xternalisierter)und I(nternalisierter)-Sprache.6 Während eine E-Sprachen-Lingu­ istik in der Tradition des amerikanischen Strukturalismus taxonomisch vorgeht, d. h. auf Basis von gesammelten Sprachdaten in diesen enthaltene Regularitäten beschreibt und insofern Sprache als ein externales Objekt unabhängig vom Sprecher begreift, ist die 4

Ebd., S. 18. Ebd., S. 19. 6 Vgl. Noam Chomsky: Knowledge of Language. 5

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Forschungsperspektive einer I-Sprachen-Linguistik eine grundsätzlich andere. Hier wird Sprache als ein internes, mentales Vermögen, eine potentiell unendliche Anzahl von Sätzen zu generieren, verstanden, so dass der Fokus darauf gerichtet ist, wie Sprache als kognitives System eines Individuums repräsentiert und sprachliche Information verarbeitet wird. Unter Zugrundelegung dieser Unterscheidung kann festgehalten werden, dass Schopenhauers Beitrag zu einer E-Sprachen-Linguistik mit Coseriu berechtigter Weise durchaus angezweifelt werden kann, sein Beitrag unter der Perspektive einer I-Sprachen-Linguistik allerdings erst herausgearbeitet werden muss, um sich ein adäquates Urteil in Hinblick auf Sprachphilosophie und Linguistik im Allgemeinen bilden zu können. Ein wesentliches Element der I-Sprachen-Linguistik ist die Annahme, dass Sprachverarbeitung auf Basis der Funktionsweise einer Turingmaschine modelliert werden kann. Diese besteht schematisch aus einem unendlichen Speicherband, auf dem Zeichen von einem programmgesteuerten Lese-/Schreibkopf gelesen und geschrieben, d. h. abgerufen und gespeichert werden können. Diese Prozedur erfolgt nach Maßgabe der Algorithmen des Programms, die im Grunde nichts anderes als Verhaltensgesetze sind, nach der Form: Wenn Maschine N sich im Zustand Z1 befindet und auf dem Speicherband das Zeichen X1 steht, dann gehe in Zustand Z2 über.7 Wichtig für die Idee der Turing-Maschine ist, dass sie einer struktursensitiven Symbolverarbeitung folgt, d. h., die Eingabe- und Ausgabesymbole sind für das Verhalten der Maschine wesentlich.8 Auch wenn Schopenhauer lange vor dem Computerzeitalter lebte, gab es auch zu seiner Zeit Datenübermittlungssysteme, die auf Basis von Symbolen operierten. Schopenhauer greift diese auf und nutzt sie kongenial als wissenschaftliche Metapher für die Darstellung der Sprachverarbeitung, d. h. der Sprachproduktion und des Sprachverstehens. Sprachverarbeitung funktioniert seiner Meinung nach nicht anders als ein Telegraphensystem, durch das ein ab­­ strakter Code schnell und genau in einen anderen Kopf übermittelt Ansgar Beckermann: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, S. 160. 8 Vgl. Jerry Fodor/Zenon W. Pylyshyn: Connectionism and cognitive architecture. 7 Vgl.

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wird.9 Die Telegraphenmetapher ist zentral für Schopenhauers Konzeption der Übertragung sprachlicher Daten, weshalb es sinnvoll ist, sich eine genaue Vorstellung von der Funktionsweise eines Telegraphensystems zu machen.10 Optische Telegraphie mit Hilfe von Feuer- und Rauchsignalsystemen gab es schon in der Antike, seine historisch wirksamste Form fand sie allerdings im optischen Flügeltelegraphen Semaphor von Claude Chappe. Unter Napoleon begann 1794 der Ausbau eines Kommunikationsnetzes mit dieser Telegraphie, bei der am oberen Ende einer eisernen Achse ein beweglicher Querbalken befestigt war, an dessen Enden sich wiederum jeweils ein beweglicher Zeigerbalken befand. Dadurch, dass die drei Balken in eine diskrete Position gebracht werden konnten, waren 196 Figuren über Rollen und Seile einstellbar. Jede Nachricht wurde über 92 besonders gut erkennbare Figuren übermittelt, wobei ein NachrichtenCode aus zwei Zeichen zusammengesetzt war. Insgesamt konnten so 8464 (92 x 92) definierte Botschaften generiert, encodiert und dechiffriert werden. In Preußen waren modifizierte Varianten ab 1832 im Einsatz, wobei ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die wetterunabhängige elektrische Telegraphie eingeführt wurde. 1884 gab Scheffler eine Definition eines Telegraphen, die sich allgemein durchgesetzt hat: Telegraph ist jede Vorrichtung, welche eine Nachrichtenbeförderung dadurch ermöglicht, daß der an einem Ort zum sinnlichen Ausdruck gebrachte Gedanke an einem entfernten Ort wahrnehmbar wieder erzeugt wird, ohne daß der Transport eines Gegenstandes mit der Nachricht erfolgt.11

Jede Form der Telegraphie nutzt also letztlich einen sinnlichen Ausdruck, mittels dessen die symbolische Information en- und decodiert werden kann. Nach Schopenhauer ist dieses Medium der Sprache   9 Vgl.

W I (Lü), S. 76 f. der Mathematiker Claude Edward Shannon die Idee hatte, die Boole’sche Algebra mittels einfacher Telegraphenrelais zu implementieren, was letztlich eine wesentliche Vorbedingung des Digitalcomputers war, bezeichnet Winkler den Computer auch als ein Kind der Telegraphie (vgl. Hartmut Winkler: Medium Computer, S. 213). 11 Zit. nach Frank Haase: Kleists Nachrichtentechnik, S. 88. 10 Da

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die Rede, die den eigentlichen Gegenstand der äußeren Erfahrung darstellt. Rede ist hier insofern das phonetisch Messbare, also das artikulatorisch und auditiv Erfassbare, und insofern das Träger­ medium des ab­strakten Codes. Diese physikalischen Ereignisse sind allerdings nicht zu verwechseln mit dem, was Schopenhauer unter Sprache versteht. Worte sind intern repräsentiert, unabhängig von einer jeweiligen physikalischen Realisierung oder, wie er es selbst definiert, Worte sind die »Zeichen der Begriffe«.12 Sie werden also durch ihren symbolischen Gehalt und nicht durch ihre konkrete Manifestation in der sinnlichen Anschauung definiert. Der Gehalt, der ab­strakte Code, den das Zeichen enkodiert, ist nach Schopenhauer mit den Begriffen der Vernunft zu identifizieren. Hier vertritt er wohl, ohne expliziten Rekurs, die Anschauung von Sprache als Organon, wie sie von Platon im Kratylos konzipiert wurde: Die Zeichen der Begriffe, die Worte sind ein so nothwendiges Hülfsmittel des Denkens, daß ohne sie keine willkürliche Vergegenwärtigung der Begriffe, folglich gar kein Denken möglich ist […]. Daher könnten wir ohne Worte oder Zeichen nicht einmal bis 20 zählen […]. Der Anschauung präsentirt sich bald die eine bald die andre Eigenschaft […] und für unser sinnliches an Zeit und Succession gebundenes Bewußtseyn muß diese Gegenwart durch ein Wort bezeichnet werden.13

Da Schopenhauer zwischen der Rede als äußerem Gegenstand und Sprache als intern repräsentierten Zeichen oder Symbolen eine klare Trennlinie zieht, unterscheidet sich seine Organon-Konzeption hierdurch wesentlich vom Organon-Modell, das Karl Bühler später entworfen hat. In letzterem Modell fungiert das gesprochene Wort im Sinne einer Doppelperspektive sowohl als Schallereignis als auch als funktional zu bestimmendes Zeichen, ohne dass eine interne Symbolverarbeitung postuliert wird.14 Die Ausführungen von Schopenhauer kann man heute am ehesten in Relation zu ko12 VN

I, S. 260. S. 260 f. (Hervorhebung im Original). 14 Schopenhauer spricht zwar auch von hörbaren und sichtbaren Zeichen (vgl. P II (Lü), S. 492), unter Berücksichtigung des Gesamtkontextes seiner Ausführungen zur Sprache kann man aber schließen, dass er hiermit die physikalische Realisierung eines sprachlichen Zeichens meint. 13 Ebd.,

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gnitiven Verarbeitungsmodellen stellen, z. B. zum Mehrkomponentenmodell des Arbeitsgedächtnisses von Baddeley und Hitch.15 Hier wird angenommen, dass mittels einer phonologischen Schleife Informationen für die gedankliche Bearbeitung online gehalten werden können, ganz in dem Sinne also, wie Schopenhauer sich die Werkzeugfunktion von Sprache vorstellt. Wichtig ist an dieser Stelle zu betonen, dass Schopenhauer hier keine Identifikation von Denken und sprachlichen Zeichen vornimmt. Denken findet auch ohne sprachliche Zeichen statt, die beliebige Hervorrufung und Vergegenwärtigung sind hingegen durch den Gebrauch der Zeichen gewährleistet. Wie ist nun aber genau die Übertragung gedachter, begrifflicher Information beschaffen? Diese geschieht nach Schopenhauer nicht assoziativ, d. h. der Sprachcode wird, während jemand spricht, nicht in innere Bilder oder Bedeutungen übersetzt, die alle in Relation zueinander stehen und deren Interpretation in dieser Schnelligkeit kaum möglich wäre. Vielmehr findet das Verstehen des Codes ohne Übersetzung statt, der Sinn der Rede wird unmittelbar vernommen, genau und bestimmt aufgefasst, ohne daß in der Regel sich Phantasmen einmengten. […] Es ist die Vernunft die zur Vernunft spricht, sich in ihrem eignen Gebiete hält, und was sie mittheilt und empfängt, sind eben Begriffe, sind ab­strakte, allgemeine, nichtanschauliche Vorstellungen, welche ein für alle Mal gebildet und verhältnißmäßig in geringer Anzahl, doch alle unzähligen Objekte der wirklichen Welt befassen, enthalten und vertreten.16

Der symbolische Gehalt, den sprachliche Zeichen übermitteln, ist also dergestalt kategorial, dass er nur ab­strakte Merkmale, eine Codierung anschaulich gegebener Objekte impliziert. Sprache selbst, im Unterschied zum Sprechen, ist nach Schopenhauer demnach reine Begriffssprache. In einer etymologischen Begründung betont er, dass »im Griechischen und im Italiänischen Sprache und Vernunft durch das selbe Wort bezeichnet [wird]: ὁ λoγoϛ, il discorso. Vernunft kommt von Vernehmen, welches nicht synonym ist mit 15 Vgl. 16 VN

Alan D. Baddeley / Graham J. Hitch: Working Memory. I, S. 265 (Hervorhebung im Original).

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Hören, sondern das Innewerden der durch Worte mitgetheilten Gedanken bedeutet«.17 Die Überführung in anschauliche Vorstellungen des Verstandes vermittels Phantasma erfolgt sekundär zur eigentlichen Sprachverarbeitung. Insofern hat die Sprachverarbeitung auf atomare Begriffe oder, wenn man so will, rein mentale Konzepte Zugriff, wobei die Bedeutung von Wörtern im Rahmen einer mengentheo­retischen Beschreibung eventuell nur Teilmengen eines begrifflichen Gehaltes repräsentieren kann und somit auch Wörter unterschiedlicher Sprachen häufig in ihrer Bedeutung nicht deckungsgleich sind, sondern untereinander größere oder kleinere Schnittstellen auf der Hintergrundfolie des Begriffs ausbilden. Von dem lateinischen Wort ­›honestum‹ z. B. meint Schopenhauer, dass seine Bedeutungssphäre durch deutsche Wörter wie ›tugendhaft‹, ›ehrenvoll‹, ›anständig‹, ›ehrbar‹, ›geziemend‹ oder ›rühmlich‹ nie konzentrisch getroffen würde, sondern eben im Sinne der mengentheo­retischen Anschauung wie folgt:18

honestum

Für Schopenhauer mündet diese Unschärfe der Wortbedeutungen allerdings zugleich in ein Plädoyer für Polyglottie und damit gegen Sprachpurismus: Bisweilen auch drückt eine fremde Sprache einen Begriff mit einer Nüance aus, welche unsere eigene ihm nicht giebt und mit der wir ihn jetzt gerade denken: dann wird Jeder, dem es um einen genauen Ausdruck seiner Gedanken zu thun ist, das Fremdwort gebrauchen, ohne sich an das Gebelle pedantischer Puristen zu kehren.19

Einem in Schopenhauers eigenen Ausführungen begründeten Missverständnis gilt es jedoch hier vorzubeugen: Im Sinne eines sprachlichen Relativismus der Sapir-Whorf-Hypothese könnte man geneigt 17 W

I (Lü), S. 73. VN I, S. 262 f. 19 P II (Lü), S. 488. 18

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sein, der Sprache eine spezifische Prägekraft in Bezug auf das Denken zuzuordnen, Begriffsbildung als von Sprache abhängig zu sehen: Man muß also, bei Erlernung einer neuen Sprache, ganz neue Sphären von Begriffen in seinem Geiste abstechen: es müssen Begriffssphären in uns entstehn, wo noch keine waren: wir erlernen also nicht bloß Worte, sondern erwerben Begriffe.20

Da oben schon betont wurde, dass Schopenhauer keine Identität von Wort und Begriff annimmt, muss man die Äußerung wohl spezifischer fassen: Wir erwerben Begriffe durch neue Worte in dem Sinne, dass Aspekte der gleichbleibenden Menge von Begriffen nun nicht nur dunkel gedacht, sondern auch dauerhaft vergegenwärtigt, d. h. online gehalten werden können. Wie im Verlaufe obiger Darlegungen deutlich geworden sein sollte, dekomponiert Schopenhauer in der Nachfolge Kants die menschliche Kognition in einzelne Vermögen, die über definierte Schnittstellen Informationen austauschen können. In der modernen Neuropsychologie wird die psychologische Realität einheitlich arbeitender kognitiver Funktionen unter Maßgabe von Läsionsstudien, d. h. diskreter Verletzungen von Hirngewebe, begründet. Sogenannte (Doppel-)Dissoziationen gelten hier als Evidenz: So konnte nachgewiesen werden, dass der Ausfall einer Funktion (z. B. das Sehen von Form) bei Erhalt der vollen Leistungsfähigkeit einer anderen (z. B. das Sehen von Farbe) stattfinden kann und umgekehrt. Dies gibt einerseits Aufschluss darüber, was überhaupt als eine Funktion gelten könne, andererseits zeigt es an, wo eine Funktion im Gehirn vornehmlich lokalisiert ist. Auch Schopenhauer war sich solcher Dissoziationen bewusst und wies in diesem Kontext wiederum auf die Dissoziierbarkeit von Denken und Sprache hin, allerdings auch auf den submodularen Aufbau der Sprache selbst: Kopfverletzungen mit Verlust von Gehirnsubstanz wirken, in der Regel, sehr nachtheilig auf den Intellekt: sie haben gänzlichen oder theilweisen Blödsinn zur Folge, oder Vergessenheit der Sprache, auf immer oder auf eine Zeit, bisweilen jedoch von mehreren gewußten Sprachen nur einer, bisweilen wieder bloß der Eigennamen […].21 20 VN 21 W

I, S. 263. II (Lü), S. 287.

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Schopenhauer konnte leider nicht mehr an den wegweisenden Untersuchungen von Paul Broca (1861) und Carl Wernicke (1874) zu der Lokalisation spezifischer Sprachfunktionen partizipieren,22 seine Hinweise zur neuronalen Fundierung und Teilstörbarkeit von kognitiven Funktionen insbesondere der Sprache sind bei seinen Kenntnismöglichkeiten allerdings beachtlich. Unbedingt muss man an dieser Stelle die Parallelen zu modernem funktionalistischen Gedankengut betonen. Schopenhauer geht nicht von einer völligen Kommensurabilität von Gehirnvorgängen und mentalen Prozessen aus. Wenn überhaupt, dann gilt es nur für das Erkenntnisvermögen des Verstandes, welches diskret mit seiner Funktion im Gehirn lokalisierbar und in dieser leiblich gebundenen Manifestation des Willens auch Teil der leiblichen Evolu­tion ist, die Schopenhauer schon vor Darwin als Daseinskampf konzeptualisiert: Das Gehirn, mit seiner Funktion des Erkennens, ist nichts weiter, als eine vom Willen, zu seinen draußen liegenden Zwecken, aufgestellte Vedette, welche oben, auf der Warte des Kopfes, durch die Fenster der Sinne umherschaut, aufpaßt, von wo Unheil drohe und wo Nutzen abzusehen sei, und nach deren Bericht der Wille sich entscheidet.23

Trifft dies auf den Verstand zu, den Tiere im Wesentlichen mit den Menschen teilen, so wird die Vernunft in Schopenhauers Werk nicht in einen solchen evolu­tionären und neurophysiologischen Kontext gestellt. Im Gegenteil existiert keine Stelle in Schopenhauers Werk, an der die Vernunft ebenfalls direkt mit der Evolu­tion des Gehirns verbunden wird. Es scheint so, als würde er die Vernunft aufgrund ihrer Nichtbezogenheit auf materielle Inhalte als eine Art virtuelles Vermögen definieren, das so auch keiner diskreten neurophysiologischen Lokalisation oder Manifestation bedarf. Nur indirekt, über die Sprachfunktion, fügt er die Vernunft in die Genese von Organismen ein. Während das Tier Empfindungen und Stimmungen durch körperlichen Ausdruck und Laute signalisiert, verwendet der Mensch Sprache zur Vermittlung oder zum Verbergen von Gedanken, sie ist Erzeugnis und Werkzeug seiner Vernunft,24 so wie es oben vorgestellt wurde. Jürgen Tesak: Geschichte der Aphasie. II (Lü), S. 281 (Hervorhebung im Original). 24 Vgl. W I (Lü), S. 73. 22 Vgl. 23 W

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Schopenhauer argumentiert also bezogen auf die ab­strakten Systeme Sprache und Vernunft gerade nicht für eine beobachtbare Kommensurabilität mit dem Gehirn bzw. seinen neuronalen Aktivitäten. Vertreter einer solchen Position halten grundsätzlich die Annahme P für notwendig wahr, dass für jedes mentale Prädikat einer erklärenden psychologischen Beschreibung mindestens eine logische Beziehung zu einem beobachtbaren Verhalten (hier: die lokalisierte Gehirnaktivität) bestehen muss.25 Schopenhauer befindet sich hier im Einklang mit späteren mentalistischen26 und (computer-)funktionalistischen27Ansätzen, da hier explizit bestritten wird, dass P notwendig wahr ist. In Anbetracht bisheriger Ausführungen können wir Schopenhauers Vorstellung menschlicher Kognition und Kommunikation in dem auf der gegenüberliegenden Seite abgebildeten Modell zusammenfassen (Abb. 1). Schopenhauers Taxonomie der Informationsverarbeitung ähnelt in frappanter Weise derjenigen, die Jerry Fodor in seinem maßgeblichen Essay The Modularity of Mind28 vorgeschlagen hat. Fodor unterscheidet hier zwischen Transduktoren, Input-Systemen und zentralen Systemen. Transduktoren konvertieren distale physikalische Reize in analog strukturierte neuronale Ereignisse. Erst in einer solchen Form werden Reize funktional relevant, indem sie von den Input-Systemen bzw. Modulen erkannt und berechnet werden können. Sogenannte ›Zentrale Systeme‹ erhalten die Produkte dieser Berechnungen zur weiteren Verarbeitung. Diese verläuft isotrop respektive holistisch, d. h. alle verfügbaren Informationen, worunter auch unser Wissen von der Welt insgesamt fällt, können in diesem Verarbeitungsprozess herangezogen werden. In Abgrenzung zu dieser holistischen Verarbeitung der zentralen Systeme erstellt Fodor eine Auflistung von neun Merkmalen, die eine modulare Verarbeitung charakterisieren. Wir können erstaunlicher Weise diese Auf-

Jerry Fodor: Psychological Explanation, S. 51. Jerrold J. Katz: Mentalism in Linguistics. 27 Vgl. Jerry Fodor / Zenon W. Pylyshyn: Connectionism and cognitive architecture. 28 Jerry Fodor: The Modularity of Mind. 25 Vgl.

26 Vgl.

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Abb. 1: Schopenhauers Modellierung kognitiver Verarbeitung

Lebendiges Wort?  |  161

Verstand Anschauliche Vorstellungen

Leib Unmittelbares Objekt

Sprachverarbeitung

Phantasma Erinnerungsbilder anschaulicher Vorstellungen

Vernunft Begriffe

Kognition von Person 1

Objekte

Rede akustisches/ visuelles Phänomen Leib Unmittelbares Objekt

Vernunft Begriffe

Verstand Anschauliche Vorstellungen

Phantasma Erinnerungsbilder anschaulicher Vorstellungen

Sprachverarbeitung

Kognition von Person 2

listung anhand obiger Beschreibungen Schopenhauers zum Sprachverstehen fast deckungsgleich abbilden:29 Schopenhauer

Fodor

»der Sinn der Rede wird unmittelbar Zwangsläufiges Operieren: Die Berechnung des Inputs der vernommen, Transduktoren verläuft quasi reflexhaft und nicht willentlich Schnelligkeit: Interpretationen oder Problemlösungen können viel Zeit in Anspruch nehmen, Module verarbeiten hingegen mit unglaublicher Schnelligkeit Begrenzte Zugänglichkeit für zentrale Prozesse: Automatisch produzierte grammatische Strukturen und spezifische Wortbedeutungen sind im Nachhinein nicht erinnerbar, nur eine globale Bedeutung genau und bestimmt aufgefasst,

Seichter Output: »tiefere« semantische Interpretationen erfolgen erst später in der Verarbeitung

ohne daß in der Regel sich Phantas- Informationelle Abgeschlossenheit: Hintergrundwissen hat men einmengten. keinen Einfluss auf die Verarbeitung Es ist die Vernunft, die zur Vernunft Domänenspezifität: Input-Systeme können nur den Input spricht, sich in ihrem Gebiete hält, verarbeiten, für den sie spezifiziert sind und was sie mittheilt und empfängt, sind ab­strakte Begriffe, nichtanschauliche Vorstellungen, welche ein für alle Mal gebildet und verhältnismäßig in geringer Anzahl, doch alle unzähligen Objekte der wirklichen Welt befassen, enthalten und vertreten.« W I (Lü), S. 76 f.

Uniforme Ontogenese: Der Spracherwerb ist uniform, d. h. verläuft bei allen Menschen in gleicher Art und Weise, so dass von variierenden Umweltbedingungen und Persönlichkeitsfaktoren abgesehen werden kann und eine angeborene, ab­strakte Strukturerwartung gegeben sein muss

Zusätzlich Schopenhauers Verweis Implementierung in fixer neuronaler Struktur: Module sind auf Läsionen und Dissoziationen hard-wired und in artspezifischer Weise im Gehirn lokalisiert Charakteristische Störungsmuster: Module können ausfallen, ohne Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- oder Problem­löse­leis­ tungen zu beeinträchtigen

Tab. 1: Vergleich von Schopenhauers und Fodors Charakteristika kognitiver Verarbeitung 29 Daniel Schmicking: Zu Schopenhauers Theo­r ie der Kognition bei Mensch

und Tier, S. 154, weist auf Parallelen zwischen Fodor und Schopenhauer in Hinblick auf Wahrnehmungsillusionen hin. Er hebt hier besonders auf die Moduleigenschaft der informationellen Abgeschlossenheit ab. Insgesamt deutet Schmicking Schopenhauers Theo­rie der Kognition allerdings in Richtung des embodied-cognition-Ansatzes. Einer solchen Einordnung wird an dieser Stelle nicht zugestimmt. Vielmehr soll hier die Unabhängigkeit der Kognition im Sinne einer ab­strakten Symbolverarbeitung von den wesentlich vitalen Willensäußerungen betont und beibehalten werden. Der Leib wird hier somit als Voraussetzung kognitiver Funktionen verstanden, aber nicht als inhaltlich konstituierendes Element repräsentationaler Prozesse. 162  |  Sascha Dümig 

Es soll hier natürlich nicht in einer naiven Retrospektive versucht werden, Fodors Philosophie des Geistes in Schopenhauer hineinzulesen und damit den historischen Kontext und die damit einhergehenden weltanschaulichen Unterschiede zu negieren. Es soll vielmehr hervorgehoben werden, dass in Schopenhauers Werk eine detaillierte Modellierung von im Gehirn operierenden Vermögen und ihren Interaktionen vorhanden ist, die strukturell als klarer Vorläufer einer Theo­riebildung gelten darf, die einer modernen, kognitionswissenschaftlichen Linguistik unterliegt. Um zur Ausgangsfrage zurückzukehren, ob Schopenhauer ein dunkles Kapitel in der Sprachphilosophie darstelle, so lässt sich dies aus der Perspektive einer I-Sprachen-Linguistik eindeutig verneinen. Vielmehr ist von Schopenhauer erstmalig in der Philosophiegeschichte ein systematischer Entwurf vorgelegt worden, in der die neuronale Implemetierung kognitiver Systeme, die Verarbeitung kognitiver Repräsentationen und deren Übertragung durch physikalische Medien berücksichtigt wurde. Aber in seinem Rekurs auf einen ab­strakten Code sieht sich Schopenhauers Sprachkonzeption auch Problemen ausgesetzt, die heutige Computerfunktionalisten betreffen. Es ist der Zeichenbegriff selbst, der nach Georg Christoph Tholen (in Bezugnahme auf Martin Burckhardt30) in Bedrängnis gerät: Denn indem Boole ›die Algebra vom Zahlzeichen löste [und] die Null und die Eins nicht mehr als Repräsentanten von einem Ding begreift, sondern (sie) zu Markern des Systems macht, innerhalb dessen die Dinge erscheinen‹, wird […] das ›Universalmedium des Stroms‹ zu einem Träger oder Boten, der sich der von ihm übertragenen Bedeutung oder Botschaft enthält.31

Auch nach Schopenhauers Modellierung der Sprachverarbeitung und seiner Vorstellung von Symbolverarbeitung bleibt letztlich die Frage, wie durch Sprache verbindliche Erkenntnisse der Anschauung, ja gar der Ideen der Objekte vermittelt werden können. Ist nicht auch hier der ab­strakte Code nur ein Marker des Systems und nicht eigentlich Repräsentant? Da in der Sprache Vernunft zur Vernunft spricht, dürfte sie die gleiche Verachtung treffen, die Scho30 Martin 31 Georg

Burckhardt: Unter Strom, S. 44. Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien, S. 43. Lebendiges Wort?  |  163

penhauer eben der Vernunft als Vermögen entgegenbringt. Dieses Vermögen hat doch nach ihm keinen materiellen, sondern bloß einen formellen Inhalt, und dieser ist der Stoff der Logik, welche daher bloße Formen und Regeln zu Gedankenoperationen enthält. Den materiellen Inhalt muß die Vernunft, bei ihrem Denken, schlechterdings von außen nehmen, aus den anschaulichen Vorstellungen, die der Verstand geschaffen hat. […] Sie hat nichts, als Formen.32

Grundsätzlich scheint der Weg zu einer wahren Erkenntnis versperrt, da die Rückübersetzung in Vorstellungen nur über den Weg der Phantasmen geschehen kann und auch bei diesen enden muss. Diese sind Wiederholungen, Erinnerungsbilder von anschaulichen Vorstellungen, die schon einmal durch den Leib vermittelt wurden; deshalb aber auch die Erfahrung des eigenen Leibes in der jeweils aktuellen Anschauung in sich integriert und gespeichert haben. Da der Leib als unmittelbares Objekt solchermaßen als Vergleichsmoment immer gegenwärtig bleibt, wird der Unterschied des Phantasmas zu realen gegenwärtigen Objekten in der Erfahrung nie aufgehoben, es sei denn in Form von Visionen, in denen der Leib und mit ihm die reale Gegenwart völlig aus dem Bewusstsein verschwinden. Da dies auch nach Schopenhauer ein Zustand ist, der mehr dem Bereich der Psychopathologie zuzuordnen ist, wird es leider nicht verständlich, wie er zu der Einschätzung kommt, der Dichtkunst eigne ein erkenntnisvermittelndes Potential: Wie der Chemiker aus völlig klaren und durchsichtigen Flüssigkeiten, indem er sie vereinigt, feste Niederschläge erhält; so versteht der Dichter aus der ab­strakten, durchsichtigen Allgemeinheit der Begriffe, durch die Art wie er sie verbindet, das Konkrete, Individuelle, die anschauliche Vorstellung, gleichsam zu fällen. Denn nur anschaulich wird die Idee erkannt […].33

Man muss wohl eingestehen, dass hier vielmehr Schopenhauer als überzeugter Kunstverehrer spricht, nicht Schopenhauer, der Erkenntnistheoretiker. Ein Phantasma als solches besteht, wie wir oben gesehen haben, nur durch die zeitliche Differenz der Lei32 G

(Lü), S. 125 (Hervorhebung im Original). I (Lü), S. 323.

33 W

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berfahrungen, der vergangenen und gegenwärtigen, und die reale Gegenwart der Objekte kann durch dieses Phantasma eben nicht hergestellt werden, »weil das unmittelbare Objekt, als eine zum ganzen der Erfahrung gehörige Vorstellung, nach den Gesetzen dieser Erfahrung, als Materie beharrt«.34 Schopenhauer scheint in Bezug auf die Möglichkeit der Kunst die Augen zu verschließen vor der logischen Konsequenz seiner Betrachtungen: dass jede anschau­ liche Vorstellung in der kategorialen Fassungsmacht von Sprache, ihrer grundsätzlich indifferenten Ab­straktheit auf immer verloren ist. Unabhängig davon, wie kunstfertig das Werkzeug Sprache auch verwendet wird, es ist ipsa natura mit keiner inhärenten Passung zur Wirklichkeit geformt. Mit Schopenhauer mag man es auf die einfache Formel bringen: Wenn mit den Begriffen der Vernunft an die Stelle von Vorstellungen (Anschauungen) die Vorstellungen von Vorstellungen getreten sind,35 so sind mit der Sprache Vorstellungen für die Vorstellung von Vorstellungen entstanden. Jean-Paul Sartre hat diese Konsequenz und Grenzerfahrung später in seinem Roman Der Ekel schonungslos verarbeitet und in Bildern quasi-mystischer Illumination dargestellt: Die Wurzel des Kastanienbaums bohrte sich in die Erde, genau unter meiner Bank. Ich erinnerte mich nicht mehr, dass es eine Wurzel war. Die Wörter waren verschwunden und mit ihnen die Bedeutung der Dinge, ihre Verwendungsweisen, die schwachen Markierungen, die die Menschen auf ihrer Oberfläche eingezeichnet haben.36

2. Goethes Anschauung von Sprache Auch für Goethe war die fehlende Passung von Sprache und Welt ab einem gewissen Zeitpunkt maßgeblich und wurde von ihm als Bruch im dichterischen Schaffen wie auch in der Weltbezogenheit insgesamt gefühlt und erlitten. Interessanterweise scheint dieser Bruch und mit ihm die Möglichkeit einer Versöhnung dem Dichter Goethe mehr als dem ansonsten radikalen Philosophen Scho34 VN

I, S. 247 (Hervorhebung im Original). ebd., S. 266. 36 Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 144. 35 Vgl.

Lebendiges Wort?  |  165

penhauer ein bewusstes, explizites und in der Praxis des Lebens zu meisterndes Thema gewesen zu sein. Während Schopenhauers philosophische Anschauung sich in seinem Hauptwerk im jungen Erwachsenenalter einmalig und in den wesentlichen Grundzügen manifestierte, findet man bekanntermaßen bei Goethe ein beständiges Ringen um Einheit in der realen Widerständigkeit einer polaren Wirklichkeit. Wenn auch von Ursula Wertheim37 betont wird, dass es keinen weltanschaulichen Bruch zwischen dem jungen und alten Goethe gibt, ein modifizierter Spinozismus das eigentliche Fundament seines Denkens bleibe, so muss man mit Heinz Hamm38 hervorheben, dass dieses Denken in seiner fortschreitenden Entwicklung zügig einen früheren Empirismus überwunden hatte und hierdurch später eine echte Subjekt-Objekt-Dialektik zeigte. Auch das Bild der Sprache war selbstredend Teil dieser sich entwickelnden Denkbewegung und so kristallisieren sich auch hier im zeitlichen Kontinuum seines Schaffens Konturen heraus, die man annäherungsweise als Stufen erfassen kann. Hans R. Schweizer39 hat diese Abfolge in bestechender Klarheit aufgezeigt, so dass hier die Aufgabe zuvorderst darin besteht, die Linien mit einem sprachwissenschaftlichen Blick noch einmal nachzuzeichnen und das so Gewonnene eventuell unter eine neue Perspektive zu bringen. Wenn man von einem frühen Empirismus Goethes spricht, darf man fragen, was dies genau für seine Auffassung von Sprache bedeute. Es liegt nahe, diese Anschauung unter Zugrundelegung des Gedichts »Sprache« aus dem Jahre 1774 zu rekonstruieren: Was reich und arm! Was stark und schwach! Ist reich vergrabner Urne Bauch? Ist stark das Schwert im Arsenal? Greif milde drein, und freundlich Glück Fließt, Gottheit, von dir aus! Faß an zum Siege, Macht, das Schwert, Und über Nachbarn Ruhm!40 Ursula Wertheim: Von Tasso zu Hafis. Hamm: Der Theoretiker Goethe. 39 Hans R. Schweizer: Goethe und das Problem der Sprache. 40 Goethe: Sprache, WA I/2, S. 256. 37 Vgl.

38 Heinz

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Ist man bereit, der historisch-semantischen Analyse von Karl Eibl41 zu folgen, in der das »milde« in der vierten Zeile des Gedichts in seiner adverbialen Bedeutung als »stark, kräftig« übersetzt werden kann, so ergibt sich ein noch lückenloserer Bezug des Gedichts zu einem Brief von Goethe an Herder Mitte Juli 1772, in dem er über sein Erlebnis beim Lesen einiger Wörter von Pindar berichtet: »Diese Worte sind mir wie Schwerter durch die Seele gangen. […] Drein greifen, packen ist das Wesen jeder Meisterschaft.«42 Was ist das für eine Erfahrung, die für Goethe derart überwältigend ist, dass er vermeint, Sprache als Gottheit bezeichnen zu können? Entledigt von allem Pathos im Grunde das Phänomen der Referentialität. Sprache wird hier verstanden als ein Medium, dass sich auf Wirklichkeit bezieht, sich in dieser Bezogenheit offenbart und solchermaßen vom Menschen erfasst werden kann. Äußeres wird Kraft der Sprache zu einem Inneren und in dieser Innerlichkeit dem Menschen verfügbar, wie Goethe auch noch später am 21. August 1774 in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi plastisch erläutert: Sieh Lieber, was doch alles schreibens anfang und Ende ist die Reproducktion der Welt um mich, durch die innre Welt die alles packt, verbindet, neuschafft, knetet und in eigner Form, Manier, wieder hinstellt […].43

Diese Formgebungskraft der inneren Welt ist dem jungen Goethe noch eigentlich, so dass das Widerständige, das Reproduzierte der wirklichen Welt im Hintergrund bleibt. Nur das Zugreifen, die Tat des innerlich nachfühlenden Dichters erschließt letztlich den Reichtum der Wortbedeutung: Der vergrabene Bauch der Urne und das Schwert im Arsenal offenbaren nicht ihre immanente Fülle, »[w]enn ich nun aber überall herumspaziert bin, überall nur dreingeguckt habe, nirgends zugegriffen«.44 Eine solche Anschauung, die den Tatcharakter des menschlichen Geistes bei der Erschaffung von Sprache betont, war mit Sicherheit vor allem durch persönliche Gespräche mit Herder gegenwärtig 41 Karl

Eibl: Sind Interpretationen falsifizierbar?, S. 178. 42 Goethe an Herder, Mitte Juli 1772, WA IV/2, S. 16 f. 43 Goethe an F. H. Jacobi, 21. 8. 1774, WA IV/2, S. 186 f. 44 Goethe an Herder, Mitte Juli 1772, WA IV/2, S. 17. Lebendiges Wort?  |  167

und stand grundsätzlich einer Augustinischen Doktrin entgegen, die nur das Wort der Bibel gelten lassen wollte und der in ihr dargestellten Ursprungsgeschichte der Sprachentstehung zu glauben hieß. Herders preisgekrönte Schrift Abhandlung über den Ursprung der Sprache von 1772 vertrat in seiner theo­retischen Darstellungsweise die Perspektive auf das Phänomen Sprache als »gefasstes Zeichen« der menschlichen Seele: Seine besonnen sich übende Seele sucht ein Merkmal – das Schaf blöket, sie hat ein Merkmal gefunden. […] Der Schall des Blökens, von einer menschlichen Seele als Kennzeichen des Schafs wahrgenommen, ward kraft dieser Besinnung Name des Schafs, und wenn ihn nie seine Zunge zu stammeln versucht hätte. Er erkannte das Schaf am Blöken, es war gefaßtes Zeichen, bei welchem sich die Seele an eine Idee deutlich besann. Was ist das anders als Wort? Und was ist die ganze menschliche Sprache als eine Sammlung solcher Worte?45

Etwas ironisch kommentiert Herder 1772 in einem Brief an Merck die enthusiastische, schöpferische Umsetzung solcher Ideen seines jungen Freundes und Schülers,46 aber der Haltung, dass Wort und Tat zusammen gehören und demgemäß tätiges Handeln und dichterische Produktion miteinander verbunden sind,47 bleibt Goethe lange verhaftet, so dass er noch in Italiänische Reise (1787) die Rückführung gelesener Worte in eine Reichhaltigkeit inneren Erlebens hervorhebt: Wer hat es nicht erfahren, daß die flüchtige Lesung eines Buchs, das ihn unwiderstehlich fortriß, auf sein ganzes Leben den größten Einfluß hatte und schon die Wirkung entschied, zu der Wiederlesen und ernstliches Betrachten kaum in der Folge mehr hinzuthun konnte.48

Ein Bruch mit dem Phänomen Sprache ist hier noch nicht zu erkennen, inneres Schöpfertum überwiegt noch die Widerständigkeit äußerer Realität. Wenn wir oben also Referentialität als Kenn45 Johann

S. 33.

Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache,

46 »Goethe

fing Homer in Straßburg zu lesen an, und alle Helden wurden bei ihm so schön, groß und frei watende Störche.« (Wilhelm Bode: Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen, Bd. 1, S. 42.) 47 Vgl. Hans R. Schweizer: Goethe und das Problem der Sprache, S. 70. 48 Goethe: Italiänische Reise II, WA I/31, S. 20. 168  |  Sascha Dümig 

zeichnung dieser frühen Phase bestimmt haben, so ist damit die bewusste Ergriffenheit durch den konstitutiv handelnden Charakter der Sprache in der Bezugnahme auf dem Geist Gegenüberstehendes umschrieben, ein Gegenüberstehendes, das letztlich der Sprache als ein potentiell Enthüllbares entgegenkommt. Diese Anschauung einer Passung von Geist, Sprache und Wirklichkeit kann mithin eben als eine empirische gefasst werden. Jahre später hat sich der Bezug zu diesem Werkzeug und Werk des Geistes grundsätzlich geändert: »Alle Erscheinungen sind unaussprechlich denn die Sprache ist auch eine Erscheinung für sich die nur ein Verhältniß zu den übrigen hat, aber sie nicht herstellen (identisch ausdrücken) kann«,49 schreibt Goethe nun in seinen »Paralipomena zur Farbenlehre«. Anstatt unmittelbar zu offenbaren, stellt die Sprache nun eine zu überwindende Barriere zur Wirklichkeit dar. In einem Brief an Schiller vom 28. September 1800 beschreibt er auch genau, was an der Sprache diese Barriere bildet: Das Stoffartige jeder Sprache so wie die Verstandesformen stehen so weit von der Production ab daß man gleich, sobald man nur hineinblickt, einen so großen Umweg vor sich sieht daß man gern zufrieden ist wenn man sich wieder herausfinden kann.50

Das Stoffartige der Sprache, ja jeder Einzelsprache, wie in seiner Äußerung kenntlich wird, ist letztlich die koventionalisierte phono­ logische Form. Goethe ringt in dieser mittleren Schaffensphase mit Eigenschaften der Sprache, die etwa hundert Jahre später von dem Genfer Linguisten Ferdinand de Saussure in seinem Cours de linguistique générale51 als Konventionalität und Arbitrarität gefasst werden. Die Beziehung zwischen dem Lautbild (Signifikant) und der zu bezeichnenden Vorstellung (Signifikat) ist eine nicht notwendige, willkürliche (Arbitrarität), tritt dennoch aber unter einer synchronen Perspektive als ein schon geformtes Gebilde auf (Konventionalität). Freilich geht Goethe bei seiner Beurteilung von Arbitrarität nicht soweit wie moderne Autoren, z. B. Jacques Lacan, der den Signifikanten als das Erste setzt und somit das Konzept der Arbitrarität aus einer psychoanalytischen Perspektive radikalisiert. Die Dinge 49 Goethe:

Paralipomena zur Farbenlehre, WA II/5.2, S. 298. an Schiller, 28. 9. 1800, WA IV/15, S. 122. 51 Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale. 50 Goethe

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mit ihrem Sinngehalt blieben von Goethe unberührt, allerdings schob sich Sprache mit einem selbstständigen und unabhängigen Sein zwischen Geist und Objekt. Hier machte sich aller Wahrscheinlichkeit nach ein weiterer wichtiger Einfluss auf Goethes Denken geltend. In einem Brief vom 16. März 1775 berichtet Lavater davon, dass Goethe behauptete, Johann Hamann sei der Autor, von dem er am meisten gelernt habe.52 Viel zitiert in diesem Kontext ist die Äußerung Hamanns: »Sprache ist […] der Mittelpunkt des Missverstandes der Vernunft mit ihr selbst.«53 Wie Elisabeth Leiss betont, ist der Kernpunkt von Hamanns Sprachtheo­rie, dass Vernunft der Sprache nachgeordnet ist, sie unterliegt als a priori bereits jeglichem bewussten Akt denkender Tätigkeit: Der Mensch ist nicht primär ein vernünftiges Lebewesen – das ist er auch – sondern primär ein semiotisches Lebewesen, das zudem in einem semiotischen Universum lebt. Das Zeichensystem des Menschen ahmt das Zeichensystem der Natur nach. Die Rede vom ›Buch der Natur‹ ist nach dieser Theo­rie keine Metapher mehr. Metaphorischer Gebrauch liegt bestenfalls vor, wenn man von der ›Sprache des Menschen‹ spricht. Sprache ist Nachahmung der Natur: Mimesis.54

Und eben dann, wenn das Sein der Sprache nicht gesehen, in einem Primärsetzen der Vernunft und des Denkens das Verhältnis umgedreht und verkannt wird, eben dann ist der Missverstand der Vernunft mit sich selbst gegeben, der »Schlangenbetrug der Sprache«.55 Dieser Letztere ist es, die sich aufdrängende Arbitrarität und ihre Unausweichlichlichkeit im gesellschaftlichen Kontext, die Goethe umtreibt oder, wie Schweizer es ausdrückt: Er kommt zur Einsicht, daß die Sprache die Erscheinungen nicht unmittelbar erfassen kann.Was vorher im Erleben und im dichterischen Ausdruck ohne weiteres gegenwärtig war, tritt jetzt als das Unaussprechliche auf, das man ›trotzdem immer wieder auszusprechen‹ versuchen muss.56

52 Vgl.

Arthur Henkel: Goethe und Hamann, S. 453. 53 Zit. nach Otfried Höffe: Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 16. 54 Elisabeth Leiss: Die Vernunft ist ein Wetterhahn, S. 267. 55 Johann Georg Hamann: Golgatha und Scheblimi!, S. 47. 56 Hans R. Schweizer: Goethe und das Problem der Sprache, S. 80. 170  |  Sascha Dümig 

Plakativ könnte man also von einem frühen »linguistic turn« Goethes sprechen. Dieser ist natürlich eingebunden in weitergehende Modifikationen der weltanschaulichen Grundüberzeugungen Goethes, die sich über die Jahre der vielfältigen Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Weimar ergeben hatten. Betonte Goethe schon in seiner anfänglichen Spinoza-Rezeption die Bedeutung der Einzeldinge, in denen sich Göttliches in einem harmonischen Ganzen je offenbart, so drängt sich ihm im Laufe seiner Tätigkeiten immer mehr die Frage nach der praktischen Beherrschbarkeit der Einzeldinge auf; ihre jeweils genaue Natur, das Einzelphänomen selbst, rückt nun in den Fokus der Betrachtungen. In der Konzentration auf die Natur der Objekte drängen sich nunmehr auch die präformierten Eigengesetzlichkeiten derselben als Aufgabe des tätigen Erfassens auf. »[M]an gibt da gern jede Prätension an’s Unendliche auf, da man nicht einmal mit dem Endlichen im Anschauen und Gedanken fertig werden kann«,57 so schreibt er im Zuge seiner ab 1779 begonnenen Beschäftigung mit der Geologie und deutet damit die Grenzen und Beschränkungen für diese Aufgabe an. Insgesamt ist es wohl die zunehmende Beschäftigung mit den Naturwissenschaften, die ihn zur Übernahme einer bereits geprägten Sprache zwingt, um über die Möglichkeiten des Ausdrucks überhaupt forciert nachzudenken. Dies tat er schon früher in einem Brief vom 26. April 1774 an Pfenninger: […] alles was unter uns Widerspruch scheint nur Wortstreit ist der daraus entsteht weil ich die Sachen unter andern Combinationen sentire und drum ihre Relativität ausdrückend, sie anders benennen muß. Welches aller Contraversien Quelle ewig war und bleiben wird.58

Dass in den Worten nicht der eigentliche Sinn der wirklichen Dinge liegt, wurde früh von Goethe schon geahnt, aber erst später zu einem wesentlichen Thema der Auseinandersetzung. Wenn Goethe nun zu dem Schluss kommt, dass die Sprache selbst eine Erscheinung für sich ist, das Stoffartige der Sprache das Besondere der anderen Erscheinungen mehr verbirgt als enthüllt und keine Identität 57 Goethe: 58 Goethe

Original).

Briefe aus der Schweiz, WA I/19, S. 238. an Pfenninger, 26. 4. 1774, WA IV/2, S. 155 (Hervorhebung im

Lebendiges Wort?  |  171

mit dem Gegenstand verbürgt, so ist hiermit nicht nur ein Negatives aufgetan. Wenn es vielmehr das Verhältnis der Erscheinung Sprache zu den anderen Erscheinungen ist, was als das Konstitutive anzusehen ist, so liegt hierin gerade für den Dichter die Perspektive einer genuin schöpferischen Gestaltungsmöglichkeit. Den Brennpunkt von Goethes spätem Denken bildet in diesem Zusammenhang der Begriff des Symbols.59 Alle Erscheinungen werden nun in ihren Verhältnissen zueinander, in den sich offenbarenden Bezügen gedeutet, so dass jedes einzelne Ding einen Verweis auf anderes anzeigt. Die Einzeldinge bewahren so ihr individuelles Gegebensein, sind aber im Ganzen aufeinander verweisend: »Kein Phänomen erklärt sich an und aus sich selbst; nur viele zusammen überschaut, methodisch geordnet, geben zuletzt etwas was für Theo­rie gelten könnte.«60 Nur in diesen ihren Verhältnissen, ihren symbolischen Relationen, ist mögliche Identität vorhanden; Identität also nicht im Sinne eines spiegelnden Abbildens, sondern im Sinne einer immanenten Formbezogenheit. Von besonderem Interesse ist hier die von Goethe im Jahre 1805 angedeutete Symboltheo­rie. Hier entwirft er eine Stufenfolge von Symbolrelationen, die ersichtlich an die aristotelischen Stufen in der Schrift De anima angelehnt ist.61 Alle Dinge stehen in Symbolrelationen, die sich in der Sprache gleichfalls als solche zeigen. Nur die Ebene der mathematischen Symbole ist in der Sprache nicht ausdrückbar, da sie direkt auf der Anschauung beruhen und so der Form nach »im höchsten Sinne identisch mit den Erscheinungen werden können«.62

59 Auch

an dieser Stelle muss noch einmal zusätzlich betont werden, dass eine umfassende Darstellung nicht geleistet werden kann. Für eine solche siehe z. B. Werner Keller: Goethes dichterische Bildlichkeit. 60 Goethe: Über Naturwissenschaft im Allgemeinen, WA II/11, S. 106. 61 Aristoteles: Über die Seele. 62 Goethe: Symbolik, WA II/11, S. 168. 172  |  Sascha Dümig 

Symboltyp Symbole, die mit dem Gegenstand ­physisch-real identisch sind Symbole, die mit dem Gegenstand ­ästhetisch-ideal identisch sind Symbole, die (Bedeutungs-)Relationen von verwandten Erscheinungen aus­ drücken Symbole, die von der Mathematik her­ genommen sind

Sprachliche Realisierung Ein Wort, das Tönendes ausdrückt, wie knall Eine übereinstimmende Empfindung wird wiedergegeben, wie z. B. durch die Verbalflexion knall-en Pronominale Gruppierung: mein, dein, ich, du Nur in der Anschauung gegeben, nicht in der Sprache vorhanden

Tab. 2: Zusammenfassung der von Goethe angenommenen Symbolrelationen allgemein und in der Sprache63

Die dargestellten Symbolrelationen sind der semiotischen Klassifikation des Objektbezugs eines Zeichens von Charles Sanders Peirce überraschend ähnlich. Dieser unterscheidet Ikon, Index und Symbol. Während der ikonische Objektbezug durch Ähnlichkeit charakterisiert ist (bei Goethe die physisch-reale Identität des Onomatopoetikums knall), ist es der indexikalische durch seinen hinweisenden Charakter (die Verbalflexion weist auf ein Erfahrenes hin).64 Letzterer zwingt die Aufmerksamkeit auf ein Objekt, ohne es allerdings zu beschreiben, wie eben eine grammatische Markierung nur die doppelt verweisende Relation zwischen zwei Entitäten ab­ strakt encodiert, ohne allerdings die seienden Entitäten oder die Relation inhaltlich zu bestimmen. Der symbolische Objektbezug ist hingegen gerade dadurch bestimmt, dass die Denotation, die Bezugnahme auf ein bestimmtes Objekt oder einen Sachverhalt, wesentlich ist. Das Symbol ist nach Peirce das Zeichen, das durch Konvention gebildet wurde, d. h. ein Interpretant65 hat durch den 63 Vgl.

ebd. Peirce wird Empfindung der ikonischen Ebene, Erfahren der indexikalischen Ebene zugeordnet. Hier scheint weniger ein Unterschied im Gemeinten als vielmehr in der Terminologie vorhanden zu sein. 65 »A sign, or representamen, is something which stands to somebody for something in some respect or capacity. It addresses somebody, that is, creates in the mind of that person an equivalent sign, or perhaps a more developed sign. That sign which it creates I call the interpretant of the first sign. The sign 64 Bei

Lebendiges Wort?  |  173

gewohnten Gebrauch eine definierte und quasi gesetzmäßige Beziehung zwischen einem Zeichen und einem Objekt hergestellt. Ähnlich definiert Goethe Symbole auf der dritten Stufe als solche, [d]ie einen Bezug ausdrücken, der nicht ganz notwendig, vielmehr einiger Willkür unterworfen ist; aber doch auf eine innere Verwandtschaft der Erscheinungen hindeutet. Ich möchte sie mnemonisch im höhern Sinne nennen, da die gemeine Mnemonik sich völlig willkürlicher Zeichen bedient.66

Bei Peirce wie bei Goethe ist das Symbol also mitnichten ein rein kognitives Datum, sondern es ist durch seine ikonischen Anteile respektive seine perzeptuelle Qualität immer gemischtes Zeichen.67 Was allerdings als Erscheinung wahrgenommen wird, ist niemals das Ganze derselben: »Das Besondere unterliegt ewig dem Allgemeinen; das Allgemeine hat ewig sich dem Besondern zu fügen.«68 Da Goethe niemals epistemologische Dualismen gelten lassen wollte, so ist es auch an dieser Stelle lohnend, die Analogien zu Peirce hervorzuheben. Peirce sprach nicht vom Allgemeinen und Besonderen, sondern vielmehr vom unmittelbaren und dynamischen Objekt. Das unmittelbare Objekt ist ein solches unter einer besonderen Perspektive, unter der es nur wahrgenommen werden kann, während das dynamische Objekt perspektiv-neutral unter einer Aperspektive69 ist und nur solchermaßen allgemein und ideel ist. Es ist insofern der »Grenzwert der infiniten Reihe der perspektivischen Repräsentationen«.70 Die Perspektivität wie der Symbolbegriff selbst setzen einen Interpretanten voraus, dasjenige, was Relationen und mit ihnen Bedeutung konstitutiert. Bei Goethe wie stands for something, its object. It stands for that object, not in all respects, but in reference to a sort of idea […]..« (Charles S. Peirce: Collected Papers, Bd. 2, zit. nach Robert Corrington (Hg.): An Introduction to C. S. Peirce, S. 149.) 66 Goethe: Symbolik, WA II/11, S. 168. 67 Vgl. dazu auch Erika Linz: ›Language of Thought‹, S. 57. 68 Goethe: Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik, WA I/42.2, S. 131. 69 Mit Gebser wird Aperspektive hier nicht als das Gegenteil von perspektivisch verstanden, sondern als Synthese dieser Gegensätzlichkeit enthoben, den Polaritäten der Subjekt-Objekt-Spaltung übergeordnet (vgl. Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 26). 70 Gerhard Schönrich: Zeichenhandeln, S. 131. 174  |  Sascha Dümig 

Peirce ist dies kein statisches Subjekt, welches wie in der Philosophie Descartes’ den Dingen gegenübersteht und die Ideen derselben als ein grundsätzlich Artfremdes erkennt, sammelt und ordnet. Wenn Goethe schreibt, »[d]ie Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelös’t, vielmehr in die Individualität desselben verschlungen und verwickelt«,71 so ist dies nahe an der Vorstellung von Peirce, dass der Interpretant in der Einheit des semiotischen Dreiecks mit Objekt und Zeichen als dasjenige anzusehen ist, für das ein Zeichen für etwas steht und dessen Bedeutungszuweisung selbst wiederum Zeichen wird und dies ad infinitum.72 Interpretant 2

Interpretant 1

Z

Z

I

…..

I

O

O Abb. 2: Die unendliche Semiose nach Peirce

Auch wenn das dynamische Objekt oder das Allgemeine bzw. die Idee,73 wie Goethe es nennen würde, in einem solchen Prozess niemals erkannt werden kann, so spricht es sich doch eben in diesem gleichsam aus: »Alles was im Subject ist, ist im Object und noch etwas mehr. Alles was im Object ist, ist im Subject und noch etwas mehr.«74 In der Verschlungenheit von Subjekt und Objekt im Prozess 71 Goethe:

Über Naturwissenschaft im Allgemeinen, WA II/11, S. 159. bezeichnet dies als ›infinite semiosis‹. 73 »Was man Idee nennt: das, was immer zur Erscheinung kommt und daher als Gesetz aller Erscheinungen uns entgegentritt.« (Goethe: Maximen und Reflexionen über Kunst, Natur und Wissenschaft, WA I/42.2, S. 256.) 74 Goethe: Über Naturwissenschaft im Allgemeinen, WA II/11, S. 162. 72 Peirce

Lebendiges Wort?  |  175

der Symbolbildung liegt Potential der Steigerung und Schöpfungskraft und ausgehend von einer solch semiotischen Perspektive kann man nun auch Goethes Vorstellung von Symbolik nachvollziehen, wenn es heißt: »Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeinere repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen.«75 Bezogen auf die Sprache unterscheidet Goethe in seiner späteren Schaffensphase klar zwischen der konventionellen Form, die dem Geistreichen wie dem Geistlosen zur Verfügung steht, und dem, was sich in ihr verkörpert. Letzteres ist das Denken, so dass folglich nur dem Geistlosen ein bedeutendes Wort niemals lebendig sein kann. Der Geistreiche hingegen kann gleichfalls Sprache bereichern, er »knetet seinen Wortstoff, ohne sich zu bekümmern, aus was für Elementen er bestehe«.76 Da Denken beim späten Goethe im Sinne von Peirce als (unendliche) Semiose verstanden werden kann,77 wird die Widerständigkeit der Sprache aufgehoben. Die materiale Qualität des Wortes (als Symbol), seine phonologische oder graphemische Form, wird im Gesamt der Trias mit Objekt und Interpretant gesehen und nun somit als Moment einer dynamischen Genese, eines potentiell teleologischen Prozesses konzeptualisiert.78 Wie Gadamer betont, »liegt in der Auszeichnung des Symbolbegriffs […] bei Goethe der entscheidende Ton darauf, daß die Idee selbst es ist, die sich darin Existenz gibt«, und dies war für Goethe »offenkundig nicht so sehr eine ästhetische als eine Wirklichkeitserfahrung«.79 Sprache wird 75 Goethe: Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik, WA I/42.2,

S. 151 f. 76 Goethe: Über Kunst und Alterthum, WA I/41.1, S. 116. 77 »Alles Denken muß daher ein Denken in Zeichen sein. […] Aus der These, daß jeder Gedanke ein Zeichen ist, folgt, daß jeder Gedanke sich an einen anderen wenden muß, denn das ist das Wesen eines Zeichens.« (Charles S. Peirce: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, S. 31.) 78 Auch bei Peirce ist dieses teleologische Moment gegeben. 79 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 82 f. (Hervorhebung im Original). Geppert sieht hierin u. a. Differenzen zwischen Goethe und Peirce: »Goethes Symbol ist letztlich objektiv-idealistisch in der Selbstevidenz und Erfahrbarkeit der Naturidee begründet, es ist gegenständlich orientiert und begrenzt. Sein Analogon bei Peirce dagegen ist formal-funktionell in der Erkenntnisvoraussetzung des vollständigen Zeichens fundiert und ineins damit regulativ, konditional-idealistisch, in einer zukünftigen Wissens-Kommunität.« (Hans Vilmar Geppert: Der realistische Weg, S. 208.) 176  |  Sascha Dümig 

nun als Teil eines Prozesses, eines bildnerischen Denkens vorgestellt, in dem sie kraft dieser Teilhabe Wirklichkeit auf eine spezifische Weise spiegeln kann. »Man bedenkt niemals genug, daß eine Sprache eigentlich nur symbolisch, nur bildlich sei und die Gegenstände niemals unmittelbar, sondern nur im Widerscheine ausdrücke«,80 schreibt Goethe in der Farbenlehre, was mancher Autor als ein Zitat aus dem Geiste einstiger Sprachskepsis interpretiert.81 Wie allerdings Werner Keller betont, greift der gealterte Goethe bewusst nach der bildhaft-symbolischen Sprache der Dichtung: Die Mehrdeutigkeit des Worts verhilft dem späten Goethe dazu, für seine Dichtung einander überlagernde Sinnkreise zu erreichen. […] Verliert das Einzelwort seine strenge Kontur, so gewinnt es einen Doppelsinn, der die Bedeutungsschichten aufeinander bezieht und ineinander spiegelt.82

Auch wenn Sprache also nicht die Gegenstände unmittelbar erreichen kann, so entsteht durch sie doch »gleichsam eine neue Welt, die aus Nothwendigem und Zufälligem besteht«.83 Sprache kann Sinnbilder der Wirklichkeit erschaffen, sie verweist auf das »Gewebe dieser Welt«,84 von dem sie als Erscheinung unter Erscheinungen, Zeichen in einer Kette aus semiotischen Relationen, ja selbst integraler Bestandteil ist.85 Es ist genau dies der Grund, weshalb Goethe behaupten kann, dass die Darstellung des Dichters auf höchstem Niveau mit »der Wirklichkeit wetteifert«.86 Keine bessere Zusammenfassung ist am Ende der Ausführungen zu Goethes Sprachauffassung zu geben, als eine solche unter der Zur Farbenlehre. Didaktischer Theil, WA II/1, S. 302. Uwe Pörksen: Wissenschaftssprache und Sprachkritik, S. 112. 82 Werner Keller: Goethes dichterische Bildlichkeit, S. 41. 83 Goethe: Symbolik, WA II/11, S. 167. 84 Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, WA I/21, S. 108. 85 Trotz der Betonung des produktiven Erzeugungscharakters von Sprache verfällt Goethe nie einem Sprachfetischismus, wie ihn die moderne Analytische Philosophie und Wittgensteins späte Philosophie charakterisiert. Genau darum sind die Analogien zu einer pragmatisch-semiotischen Perspektive in Anlehnung an Peirce ungleich stärker. 86 Goethe: Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik, WA I/42.2, S. 176. 80 Goethe: 81 Vgl.

Lebendiges Wort?  |  177

Maßgabe einer Strophe, die er als fast Siebzigjähriger zur Bildhaftigkeit der Sprache niedergeschrieben hat: Worte sind der Seele Bild – Nicht ein Bild! sie sind ein Schatten! Sagen herbe, deuten mild Was wir haben, was wir hatten. – Was wir hatten wo ist’s hin? Und was ist’s denn was wir haben? – Nun, wir sprechen! Rasch im Fliehn Haschen wir des Lebens Gaben.87

Goethe beginnt hier in der ersten Zeile mit der Betonung der tätigen Referentialität aus der Subjekt-Perspektive, die er in jungen Jahren als maßgeblich vertreten hatte, um diese sofort wieder zu verwerfen. In den nächsten fünf Zeilen verweist er auf die Unerreichbarkeit der Wirklichkeit durch Worte, der Unmöglichkeit in den gesprochenen Zeichen den bezeichneten Dingen Dauer zu verleihen. Versöhnend wird in den letzten beiden Zeilen des Gedichts auf den pragmatischen Aspekt des Sprechakts verwiesen. Im Sprechen sind wir dauernd schaffend und erhaschen so die Gaben des Lebens. Letzteres gilt es zu betonen, da es nicht eine Schöpferkraft subjektiver Willkür ist, sondern eine solche, die durch Teilhabe am Naturgeschehen gekennzeichnet ist und durch die Mitgestaltung an einem Objektiven besticht, wie Goethe es in seinen »Materialien zur Geschichte der Farbenlehre« auch betont: »Ein ausgesprochnes Wort tritt in den Kreis der übrigen, nothwendig wirkenden Naturkräfte mit ein.«88

3. Goethes und Schopenhauers Anschauungen von Sprache – Abschließende Bemerkungen Die wesentlichen Demarkationslinien zwischen Schopenhauer und Goethe bezogen auf das Themenfeld Sprache sind nun bezeichnet. Lebendig kann nur sein, was Teilhabe an Wirklichkeit hat. Genau 87 Goethe:

[Werth des Wortes], WA I/4, S. 71. Vgl. auch die Ausführungen in Werner Keller: Goethes dichterische Bildlichkeit, S. 42–45. 88 Goethe: Zur Farbenlehre. Historischer Theil I, WA II/3, S. 136. 178  |  Sascha Dümig 

diese Teilhabe ist in der Konzeption von Schopenhauer negiert. Wörter operieren mit den ab­strakten Begriffen des Vermögens der Vernunft, vermitteln Vermitteltes, sind Codierungen im Sinne streng nur je auf sich verweisender Marker in einem in sich geschlossenen, ab­strakten Sprachsystem. Sprache repräsentiert demnach die wirklichen Dinge nur in einem ureigensten Sinne. Wörter sind hier der inner-mentale und atomar vorgestellte Baustoff, mit deren Hilfe sich ein ab­straktes Modell der Wirklichkeit nachbilden lässt, das aber insofern immer nur innerlich und verweisend bleibt und niemals ein anschaulicher Teil der Wirklichkeit werden kann. Für Goethe hingegen kann der Gedanke nicht gelten, dass Sprache nur eine Funktion mit Modellierungscharakter basierend auf einer neuronalen und evolu­tionär entstandenen Hardware sei. Durchläuft er auch Phasen, in denen ihm die Teilhabe der Sprache an der lebendigen Wirklichkeit aufgrund ihrer Eigenschaften der Konventionalität und Arbitrarität fragwürdig wird, so unterliegt seinem Denken doch immer die Idee der inneren Einheit der Erscheinungen, in der jede eigene Geltung besitzt, so dass der späte Goethe sagen kann: Die Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgethan. Alles was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein Begriff.89

Dadurch, dass Sprache als Erscheinung unter Erscheinungen gedacht wird, in der Feststellung »Begriffe sprechen wir aus«, ist die Teilhabe der Sprache an der Wirklichkeit gesichert, ist sie nicht mehr nur Werkzeug eines atomischen Subjekts, sondern Bestandteil einer sich symbolisch offenbarenden Ganzheit: Das Wahre, mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns direct erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen.90

89 Goethe: 90 Goethe:

Maximen und Reflexionen über Kunst, WA I/48, S. 180. Versuch einer Witterungslehre, WA II/12, S. 74. Lebendiges Wort?  |  179

Wenn wir also auf der Seite Schopenhauers das sprachliche Symbol als weltentleerte kognitive Repräsentation vorfinden, so schauen (nicht erkennen) wir bei Goethe durch das Symbol als weltimmanentes Medium das unbegreifliche Leben selbst. In den unterschiedlichen Einordnungen von Sprache in das Gefüge der Wirklichkeit wird natürlich auch eine grundsätzliche weltanschauliche Differenz offenbar. Häufig wird auf die Ähnlichkeit zwischen Goethes Weltverständnis und der Philosophie Hegels rekurriert und es stellt sich natürlich die Frage danach, wieso Schopenhauer nicht mit vergleichbarem Furor gegen Goethes Anschauungen anging, wie er es gegen die von ihm verhasste ›Hegelei‹ tat. Hier muss letztlich auch das verborgene Einende zwischen Schopenhauer und Goethe liegen. Hamm hat die Unterschiede zwischen Hegels und Goethes Anschauungen zusammengefasst, die dieses Einende kenntlich ­machen: Hegels Philosophie nimmt die Wirklichkeit als ein hierarchisch gegliedertes Ganzes von unendlich vielen Bestimmungen, das aus einem Leitprinzip lebt. Sie sieht ihre Aufgabe darin, diese Totalität durch Erkenntnis zu entfalten und jeder Bestimmung nach ihrem unterschiedlichen Verhältnis zum Leitprinzip ihren Platz im Ganzen zuzuweisen. Mit der Positionsbestimmung verbindet sich eine Wertung: Spitzenstellung des mit Bewußtsein begabten Menschen gegenüber der Natur und Spitzenstellung der theo­retisch-philosophischen Erkenntnis gegenüber den anderen Formen geistiger Tätigkeit des Menschen. Auch für Goethe lebt die Wirklichkeit aus einem ›Zentrum‹. Doch er ordnet die einzelnen Bestimmungen nicht auf das ›Zentrum‹ hin, sondern nach ihren Beziehungen untereinander. Das ›Zentrum‹ erhält nicht die Macht, in der Wirklichkeit Wertunterschiede zu setzen.91

Zusammen mit Goethes eigenen Worten »Die Natur dagegen hat kein System sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Centrum zu einer nicht erkennbaren Gränze«,92 wird das Gemeinsame von Schopenhauer und Goethe ersichtlich: Unabhängig davon, ob das menschliche Repräsentationsvermögen in seiner Ab­ straktheit und damit Weltferne wie bei Schopenhauer betont wird oder die Verfangenheit in der Subjekt-Objekt-Spaltung mit der tätigen Teilhabe menschlicher Vermögen (wie eben der Sprache) am 91 Heinz

Hamm: Der Theoretiker Goethe, S. 157. Zur Morphologie. II. Theil, WA II/7, S. 81.

92 Goethe:

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Naturganzen wie bei Goethe aufgehoben wird; es bleibt letztlich das Primat einer gegebenen Wirklichkeit, die sich anthropozentrischen Machtansprüchen menschlicher Vermögen nicht unterordnen lässt. Dieses bleibt, ob auch das Wort als leblos-entleibtes Modell im Subjekt gedacht wird oder als lebendig mitschwingend im Kanon der Symbole einer einheitlichen Welt.

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Lebendiges Wort?  |  183

Steffen W. Lange

Goethe und Schopenhauer Wissenschaftliche Erkenntnis durch Metapher, ­Ähnlichkeit und Analogie 1. Der historische Kontext Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verändern sich die Fragestellungen für die Befassung mit der lebendigen Natur. Goethes naturphilosophische und naturtheo­retische Überlegungen stehen in diesem Kontext der Veränderung. Mathematisch strenge Naturbeschreibung, das hatte Newton um 1700 für die Mechanik gezeigt, ist in der Lage, stringent und korrekt die Natur und ihre Gesetz­mäßig­ keiten zu erklären. Die Fähigkeit, anhand weniger grundlegender Gesetze die Himmelsmechanik präzise zu erklären und diese gleichzeitig mit der Erdmechanik verknüpfen zu können, übte eine große Faszination auf das 18. Jahrhundert aus. Die Natur so wie ein Uhrwerk beschreibbar zu machen, ist ein Ideal der Neuzeit. Ratio­nale Einsichten in die Zusammenhänge der Natur sollen es nicht nur ermöglichen, die Natur zu beschreiben, sondern auch in sie eingreifen zu können. Die physikalischen Gesetzmäßigkeiten hatten sich als mathematisch beschreibbar erwiesen und dadurch einen großen Teil der Natur im Detail berechenbar gemacht. Weniger sicher und einheitlicher waren die Erklärungsversuche für die lebendige Natur. Es gibt zwei Wege, damit umzugehen: 1. das mathematisch-mechanische Paradigma so verfeinern, dass es auch auf die lebendige Natur anwendbar ist; oder 2. eine spezielle Methode für die Erklärung der lebendigen Natur entwickeln. Im historischen Rückblick lässt sich feststellen, dass der erste Weg der erfolgreichere war. Aus philosophischer, wissenschaftstheo­retischer und wissenschaftshistorischer Perspektive sind aber auch diejenigen Modelle interessant, die sich nicht durchsetzen konnten. Mit dem Blick auf Goethe und den knapp zwei Generationen jüngeren Schopenhauer lässt sich eine wissenschaftstheo­retische Kontrastfolie zu dem rein mathematischen Weltmodell gewinnen. Beide 184  |   

bieten, mit ihrer methodologisch alternativen Perspektive auf die lebendige Natur, einen umfassenden Ansatz. In meinem Beitrag werden die beiden Ansätze Goethes und Schopenhauers auf methodologische Übereinstimmung und Gegenläufigkeit untersucht. Dabei soll gezeigt werden, mit welcher Methode der Naturforscher bzw. der Naturphilosoph jeweils zu seinen Erkenntnissen gelangt. Dies geschieht bei Goethes Ansatz in den Vollzügen des morphologischen Vergleichs; bei Schopenhauers Ansatz dagegen geht es um den Abgleich von metaphysischem Prinzip und empirischen Befunden, was über die denkende Vermittlung geschieht. Ein mathematisches Paradigma erschien sowohl Goethe als auch Schopenhauer, wenn man explizit an der Besonderheit des Lebens festhalten wollte, für den lebendigen Teil der Natur nicht umsetzbar. Zwar versuchten Denker wie Descartes und La M ­ ettrie, die Erscheinungen des Lebendigen auf Mechanik und damit auf Mathematik zu reduzieren. Dieser Versuch blieb aber letztlich unbefriedigend und inkonsistent. Der notwendige Verzicht auf die menschliche Freiheit, die sich aus der konsequenten Anwendung solch einer Weltdeutung ergeben hätte, musste im Zeitalter der Aufklärung geradezu obszön wirken. Während Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790) die Unvereinbarkeit von Freiheit und naturwissenschaftlicher Welterklärung konstatierte, verschob Schelling in den 1790er Jahren den Ansatz dahin, die gesamte Natur als Organismus zu begreifen und damit den Freiheitsbegriff als geradezu konstituierend für die Naturphilosophie und eine an ihr orientierte Naturwissenschaft aufzufassen. Um 1800 zerfiel die biologische Forschung in einen beschreibenden und einen historischen Teil, deren systematischer Zusammenhang im Grunde nicht klar war: Eine Naturordnung im Sinne von Linné und eine Naturgeschichte im Sinne von Buffon standen sich als zwei unvereinbare Teile gegenüber. Eine wichtige und prägende Idee einer Ordnung der Natur, deren Wurzeln in die Antike zurückreicht, war die einer scala naturae, die, so Lovejoy, in einer »Kette der Wesen« gedeutet wurde, in welcher sich die Vollständigkeit und Lückenlosigkeit der Natur abbilden sollte.1 Davon ausgehend sind Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784 bis 1791) als Versuch zu 1 Arthur

O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen, S. 221 ff. Goethe und Schopenhauer  |  185

verstehen, die Ordnung der Natur mit der Idee der Geschichtlichkeit zu verbinden. Herder ist nicht der erste zeitgenössische Denker des 18. Jahrhunderts, der diesen Versuch unternimmt, allerdings ist er in seiner Zeit einer der systematischsten und insbesondere für Goethe der einflussreichste. Nicht nur die Stelle des Individuums in der taxonomischen Ordnung bestimmt nach Herder die Struktur der Natur, sondern auch dessen Stellung im Verlauf der Zeit: »Sobald in einer Natur voll veränderlicher Dinge Gang sein muß, sobald muß auch Untergang sein, scheinbarer Untergang nämlich, eine Abwechslung von Gestalten und Formen.«2 Schon während des gesamten 18. Jahrhunderts veränderte sich die Vorstellung von Zeitlichkeit. Zunächst wurde die Menschheitsgeschichte von einer Heils- zu einer Fortschrittsgeschichte uminterpretiert. Diese Neu­ interpretation wirkte sich schließlich auch auf die Naturvorstellungen aus, Naturgeschichte wird so erst möglich. Die scala naturae wurde nun nicht mehr als manifeste Ordnung, sondern als eine prozessuale Struktur verstanden.3

2. Goethe: Morphologie als Naturerfahrung Die Morphologie ist die Lehre von der Gestalt, Form oder äußeren Erscheinung. Goethe war gar nicht so sehr an einer systematischen, methodologischen Fundierung seiner eigenen Tätigkeit als Naturforscher interessiert. Ihn bewegte vor allem die Tätigkeit an und mit der Natur selbst. Dennoch hat er sich und anderen in vielen kurzen Texten Rechenschaft über sein methodisches Vorgehen abgelegt. Einschlägig ist diesbezüglich der kleine Aufsatz »Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt« von 1792.4 Für Goethe stand fest, dass jeder Impuls für eine Befassung mit der Natur nur je individuell zu begreifen ist: »Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr wird, betrachtet er sie in Bezug auf sich selbst, Gottfried Herder: Zur Philosophie der Geschichte, Bd. 2, S. 18. Margit Wyder: Goethes Naturmodell, S. 16–114. 4 Der Text stammt von 1792, veröffentlicht wurde er 1823. Er diente wohl zunächst und vor allem zur Selbstvergewisserung bzw. zur Klarstellung in einem kleinen Kreis (vgl. Wolf von Engelhardt: »Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt«, S. 9). 2 Johann 3 Vgl.

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und mit Recht.«5 Wobei es für den Wissenschaftler vor allem darauf ankommt, sich selbstreflexiv seiner Begrenzungen und Wahrnehmungsbedingungen bewusst zu werden und bewusst zu bleiben und nicht, wie die empirisch-experimentelle Naturwissenschaft, von einer möglichen reinen Beobachtung auszugehen.6 Dies steht in konträrem Gegensatz zur empirisch-mathematischen Naturwissenschaft in der Nachfolge Bacons, Galileis und Newtons, die immer rasanter und erfolgreicher voranschritt. Problematisch fand Goethe daran, dass die Erkenntnis der Natur in einer Funktionalanalyse der einzelnen Gegenstände in der Natur aufgehen sollte. Die Gegenstände werden auf ihre Verhältnisse zueinander zurückgeführt und in mathematisch berechenbare Kausalverhältnisse gebracht. Systematisch macht Kant diese Vorstellung von Natur und Wissenschaft deutlich, wenn er sagt – und dies erkenntnistheo­retisch begründet –, eigentliche Wissenschaft sei nur das, worauf Mathematik anwendbar ist.7 Die Forderung dieser Art Naturwissenschaft ist es, die Natur und insbesondere ihre Gegenstände in möglichst kleine, gut analysierbare Einzelteile zu zerlegen. Der Analyse des Einzelnen als isoliertem Gegenstand wiederstrebt Goethes Auffassung der Natur. Die Natur ist vielmehr fortlaufender Wandel, sie ist ständige Metamorphose.8 Daraus folgt für ihn, dass die Natur mit einem allein analytischen Herangehen nicht verstehbar ist. Der Forscher soll anerkennen, dass er sich innerhalb der Natur befindet und nicht aus ihr heraustreten kann. Außerdem ist es sinnlos, die einzelne Gestalt analysieren zu wollen, da der Natur ihr Geheimnis nur in einer Zusammenschau ihrer Teile zu ent­ locken ist: »Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt / Geprägte Form die lebend sich entwickelt.«9 Eine Vielzahl von Phänomenen ist zu betrachten und in ihren Beziehungen zu verstehen, um aus Ähnlichkeitsbeziehungen Ordnungsfundierungen zu gewinnen.10   5 Goethe: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, LA I/3, S. 285.   6 Vgl.

Uwe Pörksen: Die Selbstüberwachung des Beobachters, S. 211. Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, S. 470.   8 Vgl. Olaf Breidbach: Goethes Naturverständnis, S. 149.   9 Goethe: Urworte. Orphisch, FA I/2, S. 501. 10 Vgl. Olaf Breidbach: Die Typik des Wissens und die Ordnung der Dinge, S. 331 f.   7 Vgl.

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Goethes methodologischer Ansatz besteht in der Forderung eines panoptischen Sehens, bei dem Typ und Individuum gleichzeitig erfasst werden. Der Blick analogisiert die einzelnen Individuen und gewinnt so das Typische.11 Hierbei geht es nicht darum, etwas einfach zu abstrahieren, indem einzelne Eigenschaften isoliert werden, sondern unter diesem speziellen ›Goethe’schen Blick‹ bleibt das Individuum ein Ganzes;12 nur dadurch ist es möglich, dass sukzessives Verstehen und simultanes Verstehen gekoppelt werden können.13 Dies geschieht, indem die Sukzession und darin die Übergänge simultan erfasst werden, die Phänomene generieren aus ihrem Wechsel die Idee des Ganzen; so wie die Struktur eines Bienenstocks an den Zwischenräumen zwischen den eigentlich rele­ vanten Zellen sich zeigt und erst in der Gesamtschau das Ganze deutlich wird. Man gewinnt eine bestimmte Vorstellung von Ähnlichkeiten, wenn man in der Naturbeschreibung die Differenzen zwischen den Individuen deutlich macht. Dabei ist der subjektive Prozess des Erzeugens von Ähnlichkeiten in der lebendigen Natur objektiv sichtbar. Das lebendige Individuum bestimmt sich geradezu durch das selbstständige Erzeugen seiner Nachkommen, die ihm ähnlich und zugleich von ihm verschieden sind.14 Dies lässt sich dann von den wahrnehmbaren Phänomenen auf die begriffliche Deutung von Natur übertragen. Nur mit Hilfe von Bekanntem kann man Neues aufschließen und der Erfahrung zugänglich machen.15 Die morphologische Methode arbeitet heraus, wie aus Differenz und Ähnlichkeit die Harmonie des Ganzen darstellbar wird. Die Zusammenziehung der Einzelnen konstruiert das Allgemeine. Daraus erklärt sich Goethes Ablehnung eingreifender Experimente. Weil die Natur keine Sprünge macht, darf auch der Naturforscher nicht von einer isolierten Eigenschaft zur nächsten springen, in der Meinung, daraus etwas ableiten zu können. »Es ist nicht nichts, der

Reinhard Schulz: Naturwissenschaftshermeneutik, S. 54 f. Goethe: Zur Morphologie. Die Absicht eingeleitet, LA I/9, S. 8. 13 Vgl. Eckart Förster: Goethe und die Idee einer Naturphilosophie. 14 Vgl. David E. Wellbery: Form und Idee, S. 25. 15 Vgl. Goethe: Versuch einer allgemeinen Vergleichslehre, LA I/10, S. 118– 122. 11 Vgl.

12 Vgl.

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Versuch bricht den Gegenstand, ist eine Form des Zugriffs, vermittelt nur eine Perspektive, verrät nur einen Aspekt.«16

3. Schopenhauer: Die Metapher als Vor-Begriffenes Zwischen dem schon reifen Goethe und dem jungen Schopenhauer kommt es zu einem Austausch, der zwar kurz ist, dafür aber für die Philosophie Schopenhauers fruchtbare Impulse liefert. Für Schopenhauer war Goethe einer der zentralen denkerischen Vorbilder, was nicht zuletzt durch das Motto, welches er seinem Hauptwerk insgesamt vorangestellt hat, symbolisiert wird. In Schopenhauers philosophischem Gebäude sind Analogien und Metaphern an tragenden Stellen eingelassen. Wenn man die Architektur von Schopenhauers Philosophie untersuchen will, stellen Metaphern wichtige Ansatzpunkte dar. Dies soll an dieser Stelle für die systematische Verknüpfung von ›Wille‹ und ›Kraft‹ skizziert werden. Die Beschreibung der Metapher als sprachliches Instrument geht auf Aristoteles zurück. Platon hatte die Metapher als dem wahren Wissen abträglich verworfen, da Bilder die Wirklichkeit ebenso fehlerhaft wiedergeben wie die Wirklichkeit die Ideen. Für Aristoteles hingegen war die Metapher ein legitimes rhetorisches Werkzeug, mit dem man eine Rede sinnvoll anreichern kann. Infolge der Entwicklung dieser beiden Linien ist die Metapher heute in der Sprachwissenschaft ein allgemein anerkannter und diskutierter Gegenstand; problematischer sieht es dagegen in der Philosophie aus, besonders in der Erkenntnistheo­rie. Hier hat sich, wenn auch mit Abstrichen, die Linie Platons durchgesetzt, die in der Metapher keinerlei erkenntnistheo­retischen Gewinn sieht. Vielmehr wird die Metapher bis heute als ein Hindernis auf dem Weg zur Wahrheit verstanden. Dies ist freilich nur eine mögliche erkenntnistheo­retische Richtung. Daneben gibt es seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen breiter werdenden Strom von philosophischen Ansätzen, die in der Metapher sehr wohl ein Instru­ment der Erkenntnisgewinnung und Wahrheitsaneignung erblicken und sie der philosophischen 16 Uwe

Pörksen: Die Selbstüberwachung des Beobachters, S. 211. Goethe und Schopenhauer  |  189

Analyse und Kritik unterziehen. Blumenberg (1960/2007), Taureck (2004) oder Holz (1997) – um nur einige Namen zu nennen – haben versucht, sich der Metapher von philosophischer Seite her zu nähern, ihr einen philosophischen Pro­blemhorizont abzugewinnen. Die analytische Philosophie allerdings und in ihrer Folge die Wissenschaftstheo­rie schrecken in der Regel davor zurück, in Metaphern zu sprechen, bzw. sie ignorieren syste­matisch, dass sie es tun. Der Metapher haftet noch immer etwas Unseriöses, Unwissenschaftliches an. Der Poet darf so sprechen, dem seriösen Wissenschaftler dagegen ist es nicht erlaubt. Dabei zeigt insbesondere die idealistische deutsche Philosophie, welches kreative Potential sich ergibt, wenn man einen metaphorischen Gebrauch der Sprache nicht von vornherein ausschließt. Beim Reden in und mit Metaphern gelingt es dem Denken in besonderem Maße, sich neue Bereiche aufzuschließen. Die Metapher repräsentiert nach Blumenberg etwas Vor-begriffliches; gleichzeitig ist sie eine Anomalie im Text.17 Sie ist kein klassischer Begriff, aber auch kein bloßes sprachliches Ornament. Die Metapher entfaltet sich im Raum zwischen Mythos und Logos. Sie ist eine Miniaturerzählung von der Welt, in ihr liegen verschiedene mögliche Deutungsgehalte eingefaltet verborgen, die sich evolvieren können und so helfen, ein neues Verständnis von der Welt zu entwickeln. Dabei benutzt die Metapher das in einem anderen Bereich als Deutung Akzeptierte, um in einem neuen Bereich eine andere Deutung zu etablieren. Diese Übertragung kann man als ›Metaphernsprung‹ bezeichnen. Bei dem Sprung der Metapher bleibt ein Aspekt gleich, den man den ›Metaphernkern‹ nennen könnte. Der Metaphernkern von ›Sphinx‹ ist ›rätselhaft sein‹, so kann ein Mensch ebenso eine Sphinx sein, wie ein Steinmonument dies sein kann. Der Kern ermöglicht es, das mit der Metapher intendierte Bild wachzurufen, seine Struktur zu erkennen und diese im neuen Bereich fruchtbar zu machen. Der Metaphernkern hat als Gehalt eine sinnliche Erfahrung, die so allgemein ist, dass eine Deutung aus verschiedenen individuellen Perspektiven möglich ist. Hier ist an Kants ästhetisches Urteil zu denken, das zunächst zwar subjektiv gefällt wird, dann aber Anspruch auf intersubjektive Zustimmung 17 Vgl.

Hans Blumenberg: Theo­r ie der Unbegrifflichkeit, S. 61.

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erhebt.18 Geht der Metaphernkern verloren oder verblasst er sehr stark, dann ist auch die Metapher als solche nicht mehr deutlich. Beispielhaft hierfür ist der Ausdruck ›Tischbein‹, der metaphorische Gehalt ist hier fast völlig zurückgetreten. Die Metapher kann einen bereits vorhandenen Ausdruck ersetzen – z. B. Baumkrone für Baumspitze – oftmals geschieht dies in poetischer Absicht. Von besonderem Interesse für die Philosophie ist die andere Einsatzmöglichkeit einer Metapher, nämlich die, eine lexikalische Leerstelle zu füllen; eine Bezeichnung zu finden für eine Erfahrung, die bisher sprachlich nicht erfasst wurde bzw. über die jetzt differenzierter gesprochen werden soll. An dieser Stelle könnte man einwenden, dass ein neuer Begriff dies leistet. Da Begriffe aber in Begriffsgefüge bzw. in Konzepte eingepasst sind, können sie zwar graduelle Verschiebungen mitmachen, aber keine revolu­tionären Sprünge. Begriffe können sich ausdifferenzieren oder ihre Bedeutung verschieben, nicht aber das vollziehen, was mit dem Terminus ›Sprung‹ deutlich werden soll. Das kann wiederum eine erkenntnistheo­retisch aufgefasste Metapher leisten. Eine Metapher nimmt ein sinnlich verankertes Konzept mit sich, um daran ein Phänomen beschreiben zu können, das entweder vorher anders oder gar nicht beschrieben werden konnte. Begriffe sind Darstellungen eines Konzeptes, mit dem Erkenntnissubjekte die Wirklichkeit erfahren. Wirklichkeit realisiert sich überhaupt nur als ein solches Konzept. Die Gesamtheit der zeitgleich möglichen Konzepte ist das Wissensgefüge.19 Das Wissensgefüge beschreibt die Gesamtheit des jeweils Wissbaren und der in einer spezifischen Zeit insgesamt denkbaren Konzepte und damit den Raum der möglichen Wirklichkeit. Der Begriff kann also nicht einfach aus seiner Hierarchie herausgelöst werden und an einen anderen Ort im Wissensgefüge verschoben werden. Begriffe schweben nicht frei und lassen sich nicht beliebig mit den Dingen verknüpfen, vielmehr gewinnen sie ihre Bedeutung aus der Struktur, in die sie verwoben sind. Zwar sind sie arbiträr, keinesfalls aber beliebig. Es macht den spezifischen Gewinn eines Begriffs aus, definiert und damit festgelegt zu sein. So ist die Verschiebung der Bedeutung von 18 Vgl.

19 Vgl.

Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 285. Wolfgang Neuser: Wissen begreifen, S. 46. Goethe und Schopenhauer  |  191

Begriffen zwar möglich, aber nur in sukzessiven Prozessen. Den Unterschied zwischen Begriff und Metapher kann man in diesem Sinne an ihrer inneren Viskosität festmachen. Dabei liegt es auf der Hand, dass sich keine festen Grenzen angeben lassen, wann genau man eine Bezeichnung ›Begriff‹ und wann ›Metapher‹ nennen kann. Sinnvoll ist der Versuch der Differenzierung dennoch, da man aus ihr ein Verständnis für die Entstehung von Begriffen gewinnen kann. Der Metapher kommt sowohl ein ästhetisches als auch ein intuitives Moment zu. Man kann z. B. sagen: ›Goethe war das Zentralgestirn des deutschen Geisteslebens um 1800‹. Ob die metaphorische Übertragung gelingt, hängt von verschiedenen Aspekten ab. Zum einen hängt das Verständnis der Metapher davon ab, dass die Zuhörer mit dem Konzept ›Zentralgestirn‹ vertraut sind. Zum anderen müssen sie mit Goethe und seinem Werk hinlänglich vertraut sein und müssen das deutsche Geistesleben um 1800 einigermaßen einschätzen können. Zudem muss das Ziel der Metapher nachvollziehbar sein, ihr Sinn muss sich erschließen. Und nicht zuletzt: Die Metapher darf nicht zu trivial sein, sie muss ein gewisses kreatives Potential haben, sie muss die Erkenntnis über die Welt erweitern. Das Subjekt, welches Metaphern benutzt, handelt mit einem spontanen Akt. Die Behauptung, dass ein Konzept ein Phänomen besser beschreiben kann, als es bisher der Fall war, hat etwas, das sich rational erfassbarer Eindeutigkeit entzieht. Ist aber eine Metapher einmal akzeptiert, muss sie einem rationalen Diskurs offen stehen. Dabei wäre wiederum zwischen einer poetischen Metapher und einer philosophischen Metapher zu unterscheiden. Die poetische Metapher ist Teil eines künstlerischen Prozesses. Sie kann aus ästhetischen Gründen gelungen sein oder nicht. Die philosophische Metapher muss etwas darüber hinaus leisten. Sie soll einen neuen Bedeutungsbereich erschließen. Dazu hat sie sich dem rationalen Diskurs zu stellen, ob sie das, was sie ausdrücken soll, tatsächlich hinreichend präzise ausdrückt. Schopenhauers Denken ist an zentralen Stellen ein metaphorisches Denken. Um dies deutlich zu machen, soll seine Verwendung der Begriffe ›Kraft‹ und ›Wille‹ betrachtet werden. Für Schopen-

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hauer lässt sich der Begriff ›Kraft‹ vom Begriff ›Wille‹ ableiten.20 Das ist der Grundstein seiner philosophischen Architektur. Wie geht er dabei vor? Er benutzt ›Wille‹ und ›Kraft‹ nicht begrifflich, sondern metaphorisch. Ein Vorgehen, das er übrigens selbst darlegt, ohne allerdings den Begriff ›Metapher‹ zu verwenden. Er schreibt: Man hat jedoch wohl zu bemerken, daß wir hier allerdings nur eine denominatio a potiori gebrauchen, durch welche eben deshalb der Begriff Wille eine größere Ausdehnung erhält, als er bisher hatte. Erkenntniß des Identischen in verschiedenen Erscheinungen und des Verschiedenen in ähnlichen ist eben, wie Plato so oft bemerkt, Bedingung zur Philosophie.21

Für Schopenhauer ist also genau dies das philosophische Vorgehen, dass ein Begriff in einem anderen Bereich angewandt wird, mit dem er ursprünglich nichts zu tun hat. Die Ausdehnung eines Begriffs auf einen anderen bzw. einen viel weiteren Bereich, als er bisher abgedeckt hat, sollte als metaphorischer Gebrauch verstanden werden. Denn der erkenntnistheo­retischen Funktion der Metapher obliegt es, identischen Strukturen in unterschiedlichen Bereichen Bedeutung zu geben. Schopenhauer selbst hat freilich keine erkenntnistheo­retisch fundierte Metapherntheo­rie. Wenn er etwas über Metaphern äußert, so bezieht sich dies zumeist auf sprachliche Aspekte, wobei gleichzeitig die besondere Wirkung von Schopenhauers Sprache in der überaus reichen Verwendung aller Arten von Metaphern liegt. Wie begründet Schopenhauer es inhaltlich, den Begriff ›Kraft‹ mit dem des ›Willens‹ gleichzusetzen? Er weist auf den Umstand hin, dass Kräfte in der Physik nichts anderes als Funktionsbegriffe sind, die eine Leerstelle in der Theo­rie zu füllen vermögen. Und als diese funktionalen Begriffe bleiben sie »qualitas occultae«.22 Ziel der Erkenntnistheo­rie ist, zwischen Phänomenen begründete, rationale Ordnungsbeziehungen aufzuweisen. In der Naturwissenschaft bzw. Naturphilosophie spricht man davon, dass zwischen physikalischen Objekten Kausalbeziehungen der Form ›B folgt notwendig auf A‹ herrschen. Allerdings können wir seit und mit Hume keinesfalls 20 W

I, S. 133. Ebd., S. 132. 22 Ebd., S. 96. 21

Goethe und Schopenhauer  |  193

tatsächlich wissen, ob diese Beziehungen im strengen Sinne kausal sind. Von Kausalbeziehungen sprechen wir nach Hume dann, wenn wir mit einer gewissen erkenntnistheo­retisch begründeten Sicherheit erwarten können, dass Phänomene sich regelmäßig, zeitlich und räumlich aufeinander bezogen, wiederholen. Der Newton’sche Begriff der Kraft erlaubt es, die Theo­rie zu schließen – nicht mehr und nicht weniger –, denn überall dort, wo es Kausalbeziehungen gibt, lassen sich diese physikalisch im Verweis auf Kräfte darstellen.23 Notwendige Beziehungen lassen sich in der Natur nicht beobachten, da ›Notwendigkeit‹ ein Terminus aus dem Bereich der Logik ist. Dies muss sich als problematisch für die Naturwissenschaft erweisen und bedarf deshalb der philosophischen Reflexion. Die Behauptung, es gäbe objektive Kräfte, ist laut Schopenhauer, hierin folgt er Hume, nicht zu rechtfertigen. Was wir lediglich wahrnehmen, ist, dass unter bestimmten Umständen zwei Phänomene korrelieren. Hume folgert aus dieser Korrelation, dass wir erfahrungsbegründet auf eine ›Als-ob-Kausalbeziehung‹ schließen dürfen; dagegen setzt Schopenhauer die Ursache-Wirkungs-Beziehung als apriorische Bedingung von Erkenntnis. Ob der Eindruck dieser Beziehung als ›Kraft‹ oder als ›Wille‹ benannt wird, ist kontingent, die Wahl bestimmt sich danach, welche Perspektive man bei der Betrachtung der Wirkungsbeziehung hervorheben will. Mit beiden werden je zwei unterschiedliche Konzepte verbunden. Das Konzept ›Kraft‹ ist gültig in der objektiven, materiellen, also physikalischen Welt – das Konzept ›Wille‹ beschreibt eine existentielle, eine leibliche Beziehung zur Welt. Wie lassen sich beide Konzepte – das metaphysischsubjektive und das naturwissenschaftlich-objektive – verbinden? Sie lassen sich dann plausibel verbinden, wenn man nachweist, dass sie die gleiche Struktur haben. Diese Strukturgleichheit aufzu­decken, ist der metaphorische Aspekt. Schopenhauer behauptet, dass es viel einfacher und evidenter sei, vom Konzept ›Wille‹ auszugehen als vom Konzept ›Kraft‹. Denn ›Kraft‹ beschreibt nur physikalische Vorgänge, während ›Wille‹ neben der subjektiven Evidenz auch ein viel breiteres Spektrum an Phänomenen beschreiben kann: Führen wir daher den Begriff der Kraft auf den des Willens zurück, so haben wir in der That ein Unbekannteres auf ein unendlich Bekann23 Vgl.

Wolfgang Neuser: Natur und Begriff, S. 34 f.

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teres, ja, auf das einzige uns wirklich unmittelbar und ganz und gar Bekannte zurückgeführt und unsere Erkenntniß um ein sehr großes erweitert. Subsumiren wir hingegen, wie bisher geschah, den Begriff Wille unter den der Kraft; so begeben wir uns der einzigen unmittelbaren Erkenntniß, die wir vom innern Wesen der Welt haben, indem wir sie untergehn lassen in einen aus der Erscheinung abstrahirten Begriff, mit welchem wir daher nie über die Erscheinung hinauskönnen.24

Schopenhauers wohl wichtigstes Argument dafür, von der intrinsischen Perspektive auszugehen, ist deren größere Bekanntheit für das erkennende Individuum. Der innere Zustand ist unmittelbar zugänglich und somit evident. Dass der Metapher ein so wichtiger Beitrag zur Schopenhauer’schen Philosophie zukommt, verdankt sich seiner Aufspaltung der Erkenntnis in intuitive und in ab­ strakte.25 Die ab­strakte Erkenntnis erfolgt begrifflich. Die intuitive Erkenntnis verläuft sinnlich, ihr stehen keine Begriffe zur Verfügung. Der Übergang von der Sinnlichkeit zur Begrifflichkeit kann sich nur mit Hilfe vorbegrifflicher Formung vollziehen. Die Metapher ist in der Lage, dies zu leisten. Sie führt eine Deutungsoption an die zunächst nichtbegriffliche Sinnlichkeit heran und ermöglicht es dieser dadurch, sich so zur Begrifflichkeit zu abstrahieren: Die Metapher ist die Nahtstelle, die das, was sich genau genommen nicht sagen läßt, in die Sprache übersetzt. Dabei ist die Metapher eine Denkfigur, die Begriffe nicht fixiert und festlegt wie die Definition sondern in ein Assoziationsgefüge öffnet, und damit gerade die Figur der Analogie unterstützt.26

In Form von Intuition bewahrt sich Sinnlichkeit und weist auf Begrifflichkeit hinaus. Die Metapher stellt der Vernunft, im Sinne Schopenhauers, den Rahmen zur Verfügung, wie das Phänomen begrifflich zu fassen ist, das der Verstand zwar sinnlich strukturieren, aber nicht auf den Begriff bringen kann.27 Die Metapher ermöglicht das Spiel der Urteilskraft, also das Unterordnen des Sinnlichen unter eine begrifflich-kategoriale Struktur.28 Die Metapher 24 W

I, S. 133. 25 Vgl. Daniel Schubbe: Philosophie des Zwischen, S. 126 ff. 26 Ebd., S. 137. 27 Vgl. Daniel Schubbe: Formen der (Er-)kenntnis, S. 377 ff. 28 Vgl. Daniel Schubbe: Philosophie des Zwischen, S. 131. Goethe und Schopenhauer  |  195

präformiert die begriffliche Erkenntnis in einer Doppelbewegung zwischen möglicher Form und notwendiger Ab­straktion.

4. Mit- und Gegenläufigkeit der Methoden Goethes und Schopenhauers »Daß nun das, was der Idee nach gleich ist, in der Erfahrung entweder als gleich, oder als ähnlich, ja sogar als völlig ungleich und unähnlich erscheinen kann, darin besteht eigentlich das bewegliche Leben der Natur, das wir in unsern Blättern zu entwerfen gedenken.«29 In diesen Worten eröffnen sich gleichermaßen die Unterschiede und die Übereinstimmungen der Methoden Goethes und Schopenhauers. Ein grundsätzlich trennender Aspekt der beiden Methoden ist ihr jeweiliger Geltungsanspruch. Während sich Goethe explizit als Naturforscher sah, der nahezu körperlich die Natur aus ihren Phänomenen zu erfassen suchte, sah sich Schopenhauer von vornherein als Philosoph, der grundsätzlich und immer das Prinzip der Welt im Blick hat. Aus diesen unterschiedlichen Perspektiven – der philosophischen und der naturforschenden – ergibt sich die Frage, wie die begriffliche mit der empirischen Sichtweise vereinbar ist, wie sinnliche und begriffliche Beschreibung der Gegenstände verbunden werden können. Schopenhauer interessiert sich als Philosoph für allgemeine Prinzipien, während es Goethe immer auch, ja vor allem, um das einzelne Phänomen geht. Dies führt auf einen weiteren trennenden Punkt hin: den Wahrheitsanspruch. Schopenhauers Anspruch ist es, überzeitliche Wahrheiten darzustellen. Damit fällt er, in bestimmter Hinsicht, aus dem zeitgenössischen Denken heraus. Wie man an Goethe und auch an Herder sehen kann, ist es geradezu ein Signum der Wissenschaft der Jahrhundertwende um 1800, dass der Faktor Zeit auf jede Dimension des Denkens angewendet wurde und so die moderne Vorstellung von Geschichte kreiert wurde. Für Goethe ist die Natur ein Prozess, ein lebendiger Bewegungsgang, nur so ist Morphologie denkbar.30 Hierin stimmt 29 Goethe: 30 Vgl.

Zur Morphologie. Die Absicht eingeleitet, LA I/9, S. 9. Olaf Breidbach: Goethes Metamorphosenlehre, S. 209.

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er mit der Schelling’schen Naturphilosophie überein, die das Prozesshafte der Natur stets hervorhebt. Gemeinsam ist den Methoden von Goethe und Schopenhauer, dass sie darauf beruhen, aus Ähnlichkeitsbeziehungen wissenschaftliche Vergleichbarkeit abzuleiten. Die Beziehungen beruhen allerdings nicht auf funktionalen Zusammenhängen, die sich mathematisch darstellen lassen, sondern auf einem jeweils intuitiven Erkenntnisschritt. Damit steht sowohl Schopenhauers wie auch Goethes Erkenntnisweg in erheblichem Kontrast zur Objektivitätsforderung der modernen Naturwissenschaft, deren Ziel es ist, den Beobachter zu neutralisieren. Das Erkenntnissubjekt in Form des Beobachters, Forschers oder Wissenschaftlers ist sowohl für den Ansatz Goethes als auch für denjenigen Schopenhauers entscheidend. Das Erkenntnissubjekt muss, um zu Erkenntnis zu gelangen, festlegen, was ähnlich ist bzw. welche Eigenschaft überhaupt auf Ähnlichkeit untersucht werden soll, welche Ähnlichkeiten relevant sind und welche nicht. Ein genaues Beobachten ist also für beide Methoden zentral – beide sind durch Intuition fundierte M ­ ethoden.

Bibliographie Blumenberg, Hans: Theo­rie der Unbegrifflichkeit. Frankfurt a. M. 2007. Breidbach, Olaf: Die Typik des Wissens und die Ordnung der Dinge. Zur Systematik des Goetheschen Sammelns. In: Markus Bertsch / Johannes Grave (Hg.): Räume der Kunst. Blicke auf Goethes Sammlungen. Göttingen 2005, S. 322–341. – : Goethes Metamorphosenlehre. München/Paderborn 2006. – : Goethes Naturverständnis. München/Paderborn 2011. Engelhardt, Wolf von: »Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt«: Goethes Aufsatz im Licht von Kants Vernunftkritik. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 10 (2000), S. 9–28. Förster, Eckart: Goethe und die Idee einer Naturphilosophie. In: Jonas Maatsch (Hg.): Morphologie und Moderne. Goethes »anschauliches Denken« in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800. Berlin 2014, S. 43–56. Herder, Johann Gottfried: Zur Philosophie der Geschichte. Bd. 2: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hg. von Wolfgang Harich. Berlin 1952. Goethe und Schopenhauer  |  197

Kant, Immanuel: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Berlin 1903. (= Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I.4) – : Kritik der Urtheilskraft. Berlin 1908. (= Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I.5) Lovejoy, Arthur O.: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Frankfurt a. M. 1993. Neuser, Wolfgang: Natur und Begriff. Studien zur Theo­rienkonstitu­tion und Begriffsgeschichte von Newton bis Hegel. Stuttgart/Weimar 1995. – : Wissen begreifen. Zur Selbstorganisation von Erfahrung. Wiesbaden 2013. Pörksen, Uwe: Die Selbstüberwachung des Beobachters. Goethes Naturwissenschaft als Brückenschlag zwischen menschlicher Erfahrung und wissenschaftlicher Methode. In: Goethe-Jahrbuch 118 (2001), S. 202–216. Schubbe, Daniel: Philosophie des Zwischen. Hermeneutik und Aporetik bei Schopenhauer. Würzburg 2010. – : Formen der (Er-)Kenntnis. Ein morphologischer Blick auf Schopenhauer. In: Günter Gödde / Michael B. Buchholz (Hg.): Der Besen, mit dem die Hexe fliegt. Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten. Bd. 1: Psychologie als Wissenschaft der Komplementarität. Gießen 2012, S. 359–387. Schulz, Reinhard: Naturwissenschaftshermeneutik. Eine Philosophie der Endlichkeit in historischer, systematischer und angewandter Hinsicht. Würzburg 2004. Wyder, Margit: Goethes Naturmodell. Die Scala naturae und ihre Transformationen. Köln/Weimar/Wien 1998. Wellbery, David E.: Form und Idee. Skizze eines Begriffsfeldes um 1800. In: Jonas Maatsch (Hg.): Morphologie und Moderne. Goethes »anschauliches Denken« in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800. Berlin 2014, S. 17–42.

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Alexander Roth

Das Dynamische der Erkenntnis Goethe, Schopenhauer und die Anfänge der ­Lebensphilosophie 1. Goethes Beziehung zur Philosophie Es ist nahezu unmöglich, einen auch nur im Ansatz erschöpfenden Beitrag über Johann Wolfgang von Goethes Verhältnis zur Philosophie und Wissenschaft zu liefern, ohne die geistesgeschichtlich vielleicht folgenreichste Passage des Faust zu zitieren. Wenn Mephistopheles im ersten Teil von Goethes Faust-Dichtung den akademisch noch unbedarften Schüler im Studierzimmer auf seine von Ironie und Sarkasmus geprägte Irrfahrt durch die Untiefen der wissenschaftlichen Disziplinen mitnimmt und schließlich mit dem quintessenzischen Bonmot »Grau, teurer Freund, ist alle Theo­ rie, / Und grün des Lebens goldener Baum«1 endet, ist schon der ganze Kosmos von Goethes Philosophie- und Wissenschaftsverständnis eröffnet. Ein ausgewiesener Kenner dieser spezifischen ›Kosmo­logie‹ war Hans-Georg Gadamer. Sein Aufsatz »Goethe und die Philosophie«, der auf einem Vortrag basiert, den Gadamer im Rahmen der von der Goethe-Gesellschaft 1942 veranstalteten Goethe-­Woche hielt, war der Initialpunkt, der zur vorliegenden Untersuchung einer zunächst vielleicht eigenwillig anmutenden Trias ›Goethe, Schopenhauer und die Anfänge der Lebensphilosophie‹ unter dem Primat der Untersuchung eines ›Dynamischen der Erkenntnis‹ veranlasste. So soll es im Folgenden darum gehen, ausgehend von Gadamers Analyse die vieldimensionale Beziehung Goethes zur Philosophie hinsichtlich eines bestimmten Aspektes zu beleuchten. Das merkwürdige respektive denkwürdige Moment in dieser Beziehung hat Gadamer sehr pointiert herausgearbeitet:

1 Goethe:

Faust, S. 87.   |  199

Goethe, dieser allseitige und durchdringende Geist, der die ganze Daseinsmasse seiner Zeit wie kein anderer in sich verarbeitet und verwandelt hat, hat zeit seines Lebens der Philosophie und Metaphysik gegenüber eine eigentümliche Zurückhaltung gewahrt.2

Ich möchte hier mit einer Frage anschließen: Wie kann es möglich sein, dass Goethe – trotz einer durch sein Werk hindurch immer wieder in Erscheinung tretenden Skepsis und Distanzhaltung gegenüber der Philosophie – nachweislich einen derart großen Einfluss auf zeitgenössische und nachfolgende Generationen von philosophischen Denkern ausüben konnte? Um die Ambivalenz der Sache deutlich zu machen, muss betont werden, dass Goethes Verhältnis zur Philosophie keinesfalls von einer überwiegend negativen oder gar gänzlich ablehnenden Haltung geprägt war. Die Zeugnisse, die für eine rege und interessierte Beschäftigung Goethes mit der Philosophie sprechen, sind vielfältig und gründlich aufgearbeitet worden. Man denke hierbei beispielsweise an Goethes Spinoza-Studien3 oder seine zeitweise sehr intensive Beschäftigung mit der Philosophie Kants;4 diese Studientätigkeiten Goethes zeigen, dass er sozusagen durchgehend in einer inneren philosophischen Gedankenbewegung stand. Gerade die Beschäftigung Goethes mit der Philosophie Kants gibt Aufschluss darüber, wie das oben zur Diskussion gestellte Phänomen einer gleichzeitigen Distanzierung von und späteren Einflussnahme Goethes auf die Philosophie zu erklären ist. Ich folge darin Gadamers These, dass »in seiner [Goethes; A. R.] Abwehr der Philosophie eine eigene philosophische Erkenntnis verhüllt«5 ist. So verlautbart Goethe in seiner Lektüre von Kants Anthropologie am 19. Dezember 1789: »Übrigens ist mir alles verhaßt was mich blos belehrt, ohne meine Thätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.«6 Diese im ersten Moment etwas lapidar wirkende Äußerung lässt tatsächlich tief in Goethes philosophischen und wissenschaftstheo­retischen Kosmos blicken. Hier artikuliert sich in einer noch recht rohen, 2 Hans-Georg

Gadamer: Goethe und die Philosophie, S. 56. 3 Vgl. z. B. Martin Bollacher: Der junge Goethe und Spinoza. 4 Vgl. z. B. Georg Simmel: Goethe und Kant. 5 Hans-Georg Gadamer: Goethe und die Philosophie, S. 70. 6 Goethe an Schiller, 19. 12. 1789, WA IV/13, S. 346. 200  |  Alexander Roth 

intuitiven Art eine Kritik an Philosophie und wissenschaftlicher Theo­rie als eine nach rein rationalistischen Kriterien organisierte Form der Begriffsarbeit, als eine Geistestätigkeit, der gegenüber Poesie und Religion, die durch einen ursprünglichen, unmittelbaren und lebendigen Charakter gekennzeichnet sind, immer schon etwas Vermitteltes anhafte. Gadamer spezifiziert, woran es dieser theo­retischen Art von geistiger Beschäftigung im Sinne Goethes mangelt; so geht es laut Gadamer Goethe in erster Linie um die oben zitierte »Vermehrung seiner Tätigkeit« und im Zuge dessen um einen »Seinszuwachs in der Erfahrung der eigenen bildenden und gestaltenden Lebendigkeit«.7 Dem philosophiegeschichtlich geschulten Blick wird es nicht entgangen sein, dass sich in dieser wissenschaftskritischen Befürwortung einer guten, als lebendig empfundenen Art von theo­retisch-wissenschaftlicher Beschäftigung, die sich in Opposition zu einer als schlecht oder zumindest defizitär empfundenen, ›grauen‹ Art von theo­retischer Wissenschaft sieht, die spinozistische Seite des metaphysisch denkenden Dichters Goethe offenbart. Angeregt von einem zeitweise sehr intensiven intellektuellen Austausch mit Herder, beschäftigt sich Goethe immer wieder eingehend mit Spinoza und dessen Konzeption einer Metaphysik der Natur.8 Die Vorstellung, die aus dieser Lektüre resultiert, ist geprägt von einem Natur- und Gottesverständnis, das Goethe zwar in die Nähe des pantheistischen Spinozismus der Romantik rücken lässt, das in seiner besonderen wissenschaftstheo­ retischen – und das heißt bei Goethe immer auch: wissenschaftskritischen – Stoßrichtung aber einen sich im Schwärmerischen versenkenden Pantheismus, wie ihn die Vulgärromantik in Teilen kannte, in besonderer Weise transzendiert. Gadamer erfasst genau diesen Wesenszug in Goethes Wissenschaftsverständnis, wenn er betont, dass es für Goethe Merkmal einer gelingenden wissenschaftlichen Beschäftigung ist, nicht nur umfassend und nach allen Seiten hin zu forschen und zu beobachten, sondern in der Konsequenz gestaltend in die Welt einzugreifen. Dies zeichnet für Goethe nicht nur den wissenschaftlich tätigen Menschen im Besonderen aus; dieses Sich-gestaltend-in-der-Natur-Bewegen ist vielmehr ein 7 Hans-Georg 8 Vgl.

Gadamer: Goethe und die Philosophie, S. 58. Hans Dietrich Irmscher: Goethe und Herder, S. 251. Das Dynamische der Erkenntnis  |  201

anthropologisches Potential, das den Mensch in seiner Singularität als erkennendes Naturwesen charakterisiert. Auf diese Weise entwickelt Goethe ein auf Produktivität hin ausgerichtetes, in diesem Sinne dynamizistisches Modell einer spinozistisch geprägten Naturmetaphysik: »Nicht mystisches Aufgehen im Unendlichen, sondern ›im Endlichen nach allen Seiten gehen‹ ist die sehr unspinozistische Lehre, die Goethe aus seinen Spinozastudien zieht.«9 Die Gadamersche Lesart von Goethes philosophischer Beschäftigung instruiert uns jedoch nicht nur über das Verhältnis Goethes zur Philosophie Spinozas, sondern gibt Aufschluss über eine weitere, für die Erschließung von Goethes philosophischem Weltbild nicht minder bedeutende Auseinandersetzung: So ist erwähnenswert, dass der Begriff von intellektueller Produktivität, der nach Gadamer dem sozusagen unspinozistischen Spinozismus Goethes entwächst, sich in einem bestimmten Sinne als dezidiert anti-hegelianisch entpuppt. Dabei muss erwähnt werden, dass Goethe und Hegel zeitweise in freundschaftlichem Briefwechsel standen; aus dieser geistesgeschichtlich denkwürdigen Korrespondenz geht hervor, dass Hegel das Werk Goethes mit großem Interesse rezipiert, ja sogar einen dezidierten Einfluss Goethes auf seine philosophische Arbeit konstatiert.10 Doch diese vermeintliche Harmonie der Überzeugungen hat eine raue Kehrseite: Gleichwohl Goethe in bestimmten Punkten der Relevanz der Hegel’schen Philosophie Tribut zollt, wird aus einigen philosophiebezogenen Äußerungen Goethes deutlich, dass er den philosophischen Entwurf Hegels in einem bestimmten Punkt ablehnen muss. So ist zwar auch Goethe daran gelegen, eine Art von philosophischem und wissenschaftlichem Denken zu etablieren, das zu einer Versöhnung von Natur und Intellekt, zu einer Überbrückung des Hiatus zwischen Idee und Erfahrung und schließlich: zu eben jener Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt führt, die der Philosophie in einer jahrtausendalten Geschichte   9 Hans-Georg

Gadamer: Goethe und die Philosophie, S. 60.

10 »[W]enn ich den Gang meiner geistigen Entwicklung übersehe, sehe ich

Sie überall darein verflochten und mag mich einen Ihrer Söhne nennen; mein Inneres hat gegen die Ab­straktion Nahrung zur widerhaltenden Stärke von Ihnen erhalten und an Ihren Gebilden wie an Fanalen seinen Lauf zurechtgerichtet.« (Hegel an Goethe, 24. 4. 1825, in: Johannes Hoffmeister (Hg.): Briefe von und an Hegel, Bd. 3, S. 83.) 202  |  Alexander Roth 

im Ganzen noch nicht gelingen sollte.11 Goethe äußert eine gewisse Hoffnung, dass die Philosophie Hegels eine solche Vermittlung leisten könnte: »Wo Objekt und Subjekt sich berühren, da ist Leben. Wenn Hegel mit seiner Identitätsphilosophie sich mitten zwischen Objekt und Subjekt hineinstellt, und diesen Platz behauptet, so wollen wir ihn loben.«12 Es ist nun der freien Interpretation überlassen, ob aus dieser Einschätzung Goethes vorsichtiger Optimismus oder subliminal geäußerte Skepsis spricht. Sicherlich, der grundlegende Impuls in Hegels spekulativer Philosophie, mit dem konkreten Begriff eine Vermittlung von Realem und Idealem anzustreben, muss dem nach Verbindung strebenden Goethe zunächst sympathisch sein und ihm die oben zitierten goutierenden Worte abgewinnen. Gleichzeitig jedoch wird Goethe seine Vorbehalte gegenüber der Hegel’schen Philosophie nie ganz aufgeben. So verlautbart er 1827 in einem Gespräch an seinen engen Freund Friedrich von Müller: »Ich mag nichts Näheres von der Hegelschen Philosophie wissen, wiewohl Hegel selbst mir ziemlich zusagt. So viel Philosophie, als ich bis zu meinem seligen Ende brauche, habe ich noch allenfalls im Vorrat, eigentlich brauchte ich gar keine.«13 In diesem geständnisartigen Gespräch scheint sich ein anderer Goethe zu äußern als derjenige, der noch zuvor große Hoffnungen oder, vorsichtiger: Erwartungen auf respektive in die Identitätsphilosophie Hegels gesetzt hat. Der Goethe in dem Gespräch mit Müller scheint auf den ersten Blick nicht nur von der Hegel’schen Philosophie enttäuscht worden zu sein, sondern sich generell von der Philosophie resignierend abzuwenden. Doch hier lohnt ein genauerer Blick bzw. eine erneute 11 Um

eben jenes zentrale Philosophikum drehte sich auch Goethes KantLektüre, wie die Gesprächsaufzeichnungen zwischen Goethe und Johann Peter Eckermann zeigen; so sagte Goethe in einem vertraulichen Gespräch mit Eckermann: »Die Unterscheidung des Subjekts vom Objekt, und ferner die Ansicht, daß jedes Geschöpf um sein selbst willen existiert, und nicht etwa der Korkbaum gewachsen ist, damit wir unsere Flaschen pfropfen können: dieses hatte Kant mit mir gemein, und ich freute mich, ihm hierhin zu begegnen. Später schrieb ich die Lehre vom Versuch, welche als Kritik von Subjekt und Objekt und als Vermittlung von beiden anzusehen ist.« (Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, Bd. 1, S. 229 f.) 12 G. Parthey, 28. 8. 1827, in Goethe: Briefe, Tagebücher und Gespräche, FA II/10, S. 521. 13 Günther Nicolin (Hg.): Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, S. 342. Das Dynamische der Erkenntnis  |  203

Lektüre von Gadamers Aufsatz. Dieser legt nahe, Goethes »oft und oft betonte und betätigte Zurückhaltung gegen die Philosophie«14 nicht als ein Kapitulieren vor der Philosophie zu lesen, sondern ganz im Gegenteil Goethe in diesem Sinne als einen frühen, vielleicht sogar als den ersten Kritiker einer Form von spekulativ-philosophischem Denken und Arbeiten zu verstehen, die mit Hegel und seiner Auslegung der kantischen Philosophie unter dem epochemachenden Namen Deutscher Idealismus in die Philosophiegeschichte eingegangen ist. Gadamer plädiert dafür, Goethe als »den ersten Kritiker des Begriffs der philosophischen bzw. metaphysischen Wahrheit«15 und somit als den geistigen Vater einer idea­ lismuskritischen Linie in der deutschen Philosophiegeschichte zu verstehen, die dann mit Schopenhauer und Nietzsche einen Kulminationspunkt erreicht. Ich stimme Gadamer in dieser Einschätzung der Relevanz Goethes bei, möchte jedoch im Folgenden eine anders geartete Spur verfolgen, die sich von dem oben erreichten Punkt aus durch die Philosophiegeschichte zieht; diese zweite Linie kreuzt zwar an vielen Stellen die Geschichte der philosophischen Idealismuskritik, ist jedoch nicht mit dieser identisch. Die Rede ist von einer philosophiehistorischen Linie, deren Weg vom philosophischen Weltverständnis Goethes ausgehend über einige Zwischenstationen direkt in den Kosmos der Lebensphilosophie führt. Um diesen Weg philosophiegeschichtlich schlüssig nachzeichnen zu können, bedarf es jedoch zunächst einer Analyse desjenigen philosophischen Entwurfes, der als ein früher intellektueller Vorläufer einer sich später etablierenden Lebensphilosophie verstanden werden muss. Die Rede ist von der Philosophie Schopenhauers.

2. Schopenhauers philosophisches Weltbild vor dem ­Hintergrund der Goethe-Rezeption Der philosophische Entwurf Arthur Schopenhauers ist für die vorliegende Untersuchung nun in besonderer Weise von Bedeutung, gilt Schopenhauer doch nicht nur als ein herausragender Ideenver14 Hans-Georg 15

Ebd., S. 28.

Gadamer: Goethe und die Philosophie, S. 68.

204  |  Alexander Roth 

mittler für einige der zentralen Thesen früher lebensphilosophischer Denker, wie z. B. Bergson, sondern ist auch für seine rege Rezeption des Werks Goethes bekannt. Wie Dieter Birnbacher in seiner Schopenhauer-Einführung betont, hat Schopenhauer im Laufe seines Wirkens kaum einen anderen Autor derart ausgiebig zitiert wie Goethe; daraus resultiert für Birnbacher: »Wie Platon und Kant seine philosophischen Vorbilder sind, ist Goethe […] sein künstlerisches […].«16 Die Einschätzung Birnbachers ist in dieser knappen Form sowohl richtig als auch defizitär. Sie hat defizitäre Züge, wenn mit ihr insistiert werden soll, dass Goethe ausschließlich ein künstlerisches Vorbild für Schopenhauer gewesen sei. Sie trifft jedoch den Kern der Sache, wenn mit ihr auch ein Verständnis darüber einhergeht, wie in der Philosophie Schopenhauers künstlerische Form – bei Schopenhauer bekommt die Art des philosophischen Schreibens bzw. der philosophische Stil eine neue und in der Philosophie der Moderne bis dahin kaum gekannte Relevanz – und philosophischer Inhalt sich die Hand reichen. Diese für den philosophischen Entwurf Schopenhauers nicht zuletzt auch in systematischer Hinsicht so charakteristische Einheit bedarf einer ausführlicheren Erläuterung. Wie auch schon in Goethes (proto-)lebensphilosophischer Weltauffassung dreht sich das philosophische Denken Schopenhauers im Kern um folgende zentrale Frage: Wie können Idealismus und Realismus, Subjekt und Objekt, Erscheinungswelt und Ideenwelt zusammenfinden? Schopenhauer beantwortet diese Frage strukturell ähnlich wie Goethe: Obgleich auch Schopenhauer wie vor ihm Goethe ein großer Bewunderer der kantischen Philosophie ist und Kant ihm sozusagen das Grundgerüst für den Bau seines philosophischen Gebäudes liefert, wählt Schopenhauer für dieses – um in der Metapher zu bleiben – einen anderen Baugrund. Etwas verknappt, aber weniger kryptisch und metaphorisch ausgedrückt: »Im Gegensatz zu Kant erklärt Schopenhauer die Operationsweise des Verstandes […] naturalistisch, nicht transzendental.«17 Diese etwas verkürzende Darstellung ist für die Zwecke einer philosophischen Einführung sicherlich legitim und als Feuerstein für die vorliegende Unter­ suchung geeignet, lässt aber eine tiefergehende Erläuterung und Birnbacher: Schopenhauer, S. 23. Ebd., S. 19.

16 Dieter 17

Das Dynamische der Erkenntnis  |  205

genauere Einordnung der Begriffe naturalistisch und transzendental in Bezug auf die Philosophie Schopenhauers nötig werden.18 Ich möchte bei der Erläuterung des Zusammenhanges dieser Begriffe zum einen Bezug auf Goethes philosophisches Weltbild nehmen, mit dem sich Schopenhauers Denken zentrale Momente teilt und zum anderen schon hier diejenigen Bewegungen betonen, die auf eine proto-lebensphilosophische Konzeption hinweisen. Veranlasst durch die Mutter Johanna Schopenhauer, in deren Salon Goethe häufiger Gast war, kam es im Winter 1813/1814 zu regelmäßigen Treffen zwischen dem zu diesem Zeitpunkt schon reich an Lebenserfahrung und Ehrungen Gelehrten und Staatsmann Goethe und dem jungen, intellektuell hungrigen und streitbaren Philosophen. Arthur Schopenhauer hat gerade seine philosophische Dissertation an der Universität Jena abgeschlossen, als er von Goethe eingeladen wird, sich seiner Ausarbeitung einer Farbenlehre kritisch anzunehmen. Von einem Gefühl der intellektuellen Adelung angetrieben, kommt Schopenhauer dieser Bitte nach und widmet sich Goethes Theo­rie der Farben; jedoch mit mehr Verve und Ansporn, als Goethe vermutlich lieb gewesen sein konnte. Bekanntermaßen exaltierte Schopenhauer seine Kritik an Goethes Entwurf derartig, dass er sich dazu veranlasst fühlte, die Farbenlehre des Altmeisters im Grunde zu verwerfen und gänzlich überarbeiten zu müssen, was bei Goethe wiederum zu einem gewissen Argwohn und einer – selbstredend diplomatisch und nicht ohne eine versöhn­liche Note eingeleitete – Distanzierung Goethes von Schopenhauer führte. Der dramaturgische Verlauf dieser biographischen Epoche – so denkwürdig und charakteroffenbarend sie auch ist – sei hier aufs Nötigste verkürzt.19 Im Folgenden der Erörterung soll uns nämlich weniger das interessieren, was möglicherweise ein 18 So

viel sei vorneweg gesagt: Der Begriff ›Naturalismus‹ kommt bei Schopenhauer an keiner Stelle rein affirmativ oder in naivem Gebrauch zur Verwendung, sondern tritt stets in einem Kontext der kritischen Prüfung auf, wie es beispielsweise das 17. Kapitel des zweiten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung zeigt; hier wendet sich Schopenhauer dezidiert gegen ein Verständnis von Naturalismus als eine Art absolutes physikalisches Glaubenssystem (vgl. W II (ZA), S. 205). 19 Für eine ausführlichere Einführung in die Debatte um die Farbenlehre und für weitere Einzelheiten zum Verlauf der Beziehung zwischen Goethe und Schopenhauer siehe Arthur Schopenhauer: Der Briefwechsel mit Goethe. 206  |  Alexander Roth 

trennendes Moment in der vielschichtigen Beziehung zwischen Goethe und Schopenhauer darstellen könnte, sondern vielmehr sich dem genähert werden, was man als den gemeinsamen Geist oder den Urantrieb verstehen könnte, aus dem diese beiden extraordinären Denker ihre Gedankenwelten erschaffen haben. So führt die Suche nach einem gemeinsamen Moment, das Schopenhauer und Goethe als Geistesforscher in nuce verbindet, an vorderster Stelle zu dem Impuls, Naturwissenschaft und Metaphysik zusammendenken zu müssen. Es war schließlich Schopenhauer, der schrieb, dass sich niemand an die Metaphysik wagen sollte, der zuvor nicht eine »gründliche, klare und zusammenhängende Kenntnis aller Zweige der Naturwissenschaften«20 erworben hätte – ein Postulat, für das Schopenhauer sicherlich das Lob Goethes eingefahren hätte, denn dieser grundsätzliche Zug, Metaphysik und Naturerkenntnis als Einheit zu denken und damit die Metaphysik sozusagen auf den Boden der Tatsachen zu holen, hat Schopenhauer mit Goethe gemeinsam. Diese Umgestaltung der Metaphysik, die Schopenhauers philosophischer Entwurf vor allem dadurch bewältigt, dass er  – etwas gerafft dargestellt – zwar ganz im Sinne der traditionellen Metaphysik und der Transzendentalphilosophie Kants nach einem Jenseits des Erfahrbaren, nach einem Jenseits der Natur sucht, das doch zugleich die Bedingung ihrer Möglichkeit ist. Jedoch führt Schopenhauer diese Transzendenzsuche zu der Einsicht, dass das Jenseits des Erfahrbaren im Inhalt der Erfahrung gegeben ist.21 Eine paradoxale Erkenntnis, die als ein radikales, sich in die traditionelle Metaphysik einschneidendes Moment verstanden werden kann. Sie zu verinnerlichen, hat gravierende Folgen, was den Geltungs­ anspruch von Philosophie und Metaphysik angeht: Indem Schopenhauer die Inhalte der Erfahrung als leibliche Selbsterfahrungsakte des Subjektes denkt, entwickelt er ein gänzlich anderes Konzept von philosophischer Wahrheit als beispielsweise Hegel. Eine Philo­ sophie, die diesen radikalen Perspektivenwechsel verstanden und verarbeitet hat – und hier ist Goethe wieder sehr nah –, lässt sich nach Schopenhauer nicht mehr von den Letztursachen her be20 W

II (ZA), S. 209. 21 Ein eminent wichtiger Gedanke, um Schopenhauers Philosophie in ihren Grundzügen richtig zu erfassen, für dessen Ausformulierung ich Dieter Birnbacher dankbar bin. Das Dynamische der Erkenntnis  |  207

treiben, kann nicht mehr nach Letztbegründungen und absoluten Wahrheitsansprüchen trachten, wie sie aus der Figur des absoluten Weltgeistes Hegels entspringen. Eine induktive Metaphysik, also eine Metaphysik aus der Erfahrung heraus, wie sie uns Schopenhauer und Goethe nahelegen, berücksichtigt, dass die Endlichkeit des Daseins und das Wissen von der Unhintergehbarkeit des Todes sich auch auf den Charakter von metaphysischer Theo­riebildung und allgemeiner: von philosophischer Systematik auswirkt: Metaphysik wird, wie Birnbacher ganz richtig erfasst hat, »im Zeitverlauf instabiler«,22 was bedeutet, dass sich »ihr Wahrheitsgehalt […] niemals endgültig, sondern immer nur vorläufig bestimmen«23 lässt. Diese Einsicht ist keinesfalls marginal oder trivial; aus ihr spricht eine junge Stimme, die in der traditionellen, schulphilosophisch geprägten Metaphysik in dieser Form bis dahin noch nicht ge- respektive erhört wurde. Schopenhauer entwickelt ein Philosophieverständnis, das ganz im Goethe’schen Sinn forschend ist, induktiv operiert, das Erkenntnis nicht ohne Empirie denkt, Hypothesen bildet, für Falsifikationen offen ist, ganz so, als sei Philosophie so etwas wie eine empathisch gelebte moderne Naturwissenschaft oder, anders formuliert: eine philosophische Lebenswissenschaft, wenn man bereit ist, den aus dem angelsächsischen Sprachraum stammenden Begriff ›Life Science‹ im Sinne von Schopenhauers metaphysischer Proto-Lebensphilosophie umzudeuten. Mit dieser philosophischen Konzeption öffnet Schopenhauer die Türen und gewährt dem Relativen Einzug in die Philosophie,24 was eine Umformung der bis dahin auf das Absolute hin ausgerichteten Erkenntnistheo­rie mit sich bringt: Erkenntnis kann nicht in einem Absoluten zur Ruhe kommen, kommt nie ganz zu sich selbst, sondern ist – und hier lässt sich der erkenntnistheo­retische respektive erkenntniskritische Goethe Gadamers erkennen  – dynamisch. Metaphysische Erkenntnis muss in diesem dynamischen Sinn unvollständig, fragmentarisch bleiben.25 Darin liegt jedoch nicht etwa eine Schwäche, ein defizitäres Moment der Philosophie Schopenhauers; hier kommt ihre ganze Erneuerungskraft zur Blüte. In gewissem Sinne denkt Schopenhauer 22 Dieter 23 Ebd. 24 Vgl. 25 Vgl.

Birnbacher: Schopenhauer, S. 14.

ebd., S. 15. ebd.

208  |  Alexander Roth 

auf diese Weise Metaphysik neu, indem er sie als ein offenes System fasst, das ständig in Bewegung ist, das sich in der Zeit mit der Zeit verändert, so wie auch die Erscheinungswelt ständigen Wandlungen ausgesetzt ist. Hier zeigt sich eine grundsätzliche Ausrichtung der Philosophie Schopenhauers, die ihn in Opposition zu Hegels idealistischer Systemphilosophie geraten und ihn als einen intellektuellen Ziehsohn des proto-lebensphilosophischen Schriftstellers Goethe erscheinen lässt: Während Hegels Philosophie, die methodisch auf eine absolute, allumfassende Dialektik aufbaut, qua einer omnipotenten spekulativen Synthese, die jede Form von Negativität und Widersprüchlichkeit in sich aufhebt und jedes Nicht-Identische identisch macht, ein grundsätzliches Moment des Schließens innewohnt, zielt die Grundbewegung der Philosophie Schopenhauers auf ein Öffnen ab. Dieser elementare Zug in der Philosophie Schopenhauers, der aus der methodologischen Spezifik seines Entwurfes entwächst, findet in der proto-philosophischen Dichtung Goethes ein literarisches Komplementär. Wie Renate Wieland in ihrer Studie Schein Kritik Utopie darstellt, hat diese Philosophie des sich Öffnens, die paradigmatisch im Faust entfaltet wird, Goethe sozusagen indirekt in direkten Widerspruch zu Hegel gebracht: Konstruiert Hegel das Antinomische zur spekulativen Identität, und vollendet er damit den Bann der antagonistischen Interdependenzen, so will Goethe Sprengung, Exodus aus dem Bann dieser Totale. Nicht Synthesis ist sein Ziel, sondern das sich Öffnende. Der Prolog im Himmel nennt diese Utopie: die Idee befreiten Werdens: »Das Werdende, das ewig wirkt und lebt, / Umfass’ euch mit der Liebe holden Schranken, / Und was in schwankender Erscheinung schwebt, / Befestiget mit dauernden Gedanken« […]. Das Absolute selber hat Goethe als frei Werdendes gedacht, wie im Bilde des Auferstehenden in »schaffender Werdelust«; die höchste, zuletzt errungene Identität noch hat die Freiheit sich zu wandeln […]. Der Identität in ihrem Werden, des Dauernden im Fließen inne zu werden ist Goethes Utopie des Erkennens. Die Grundfigur dieses Werdend-Identischen ist die Spirale; nicht der sich schließende, sondern der wieder und wieder sich öffnende Kreis. »Nie geschlossen, oft geründet«, ist nach ­einer Maxime Goethes das Prinzip fruchtbaren Schaffens.26 26 Renate

Wieland: Schein, Kritik, Utopie, S. 31 f. Das Dynamische der Erkenntnis  |  209

Nach näherer Betrachtung dieser gelungenen Darstellung Wielands ist es nahezu verblüffend, wie klar die philosophischen Gemeinsamkeiten zwischen Goethe und Schopenhauer jetzt in Erscheinung treten. Wieland erfasst hier jenes dynamisch-metaphysischerkenntniskritische Moment im Denken Goethes, das zuvor auch schon Gadamer zu einem Lob der philosophischen Relevanz des Dichters veranlasste. Wenn Goethe hier explizit von der Unabgeschlossenheit der Erkenntnis, lebendiger Schöpfung und von einem ewig Werdenden spricht (bzw. sprechen lässt) und damit eine Art spiralförmigen Erkenntniskreislauf umspannt, dann liegen mir die Koordinaten vor, die für meine Untersuchung entscheidend sind. Was mir nun jedoch noch fehlt, ist die Verknüpfung mit der Begriffswelt Schopenhauers. Wenn ich also der Hauptlinie der Untersuchung, die dem vorliegenden Beitrag ihren Titel gibt, folge und frage, wie sich das Philosophikum eines Dynamischen der Erkenntnis bei Schopenhauer im Detail manifestiert, so komme ich nicht umhin, mich mit dessen Willenskonzeption zu beschäftigen, ist diese doch funktionslogischer Dreh- und Angelpunkt der Philosophie Schopenhauers. Was also ist der Wille bei Schopenhauer? Kurz und etwas vereinfacht formuliert: Der Wille bei Schopenhauer ist das, was die Materie durchdringt, was sie belebt, was aber selbst nicht ausschließlich Materie ist. Was nun etwas erstaunen mag, ist die Tatsache, dass sich in eben jener Charakterisierung der Willenskonzeption Schopenhauers ein gewisser Klang vernehmen lässt, der auf strukturell ähnliche Weise auch in einer Darstellung der Geistesphilosophie des von Schopenhauer so verhassten Hegel zu hören wäre.27 Die entscheidende Wendung, das wirklich innovative, herausfordernde Momentum kommt nun durch einen strategischen Zug Schopenhauers zustande, der die argumentative Basis seiner Umgestaltung der metaphysischen Tradition bildet: Gleichwohl ich den Willen nicht erkennen kann, »der außer der Zeit und der Veränderung 27 Diese

Gemeinsamkeit hat ihren Ursprung in der Tatsache, dass sowohl Hegel als auch Schopenhauer bis zu einem gewissen Punkt Kantianer sind. Schopenhauer identifiziert den Willen sogar wörtlich mit Kants Ding an sich: »Daß der Wille als solcher frei sei, folgt schon daraus, daß er nach unserer Ansicht das Ding an sich, der Gehalt aller Erscheinung ist.« (W I (ZA), S. 361.) 210  |  Alexander Roth 

liegt«,28 so kann ich ihn doch erfahren, »denn ich selbst bin dieser Wille«.29 Selbsterkenntnis ist in diesem Sinne nicht wie bei Hegel ab­strakt und begrifflich vermittelt, sondern ist als das Ergebnis einer Art autopsychoanalytischen Erforschens zu verstehen.30 Während allerdings die Psychoanalyse auf einen bestimmten, konkreten pathologischen Befund abzielt, ist die Intention Schopenhauers eine andere, weitreichendere: Schopenhauer nimmt das Leiden als Phänomen, also sozusagen Leiden an sich in den Fokus. Angeregt von der Lektüre der vedischen Philosophien des alten Indiens und im Besonderen der Lehren des Buddhismus entwickelt Schopenhauer die für seine Philosophie grundlegende Erkenntnis, dass mit der Erfahrung einer Zirkularität der Zeit und somit auch einer Zirkularität des Lebens eine einschneidende Erfahrung von Leiden einhergeht. Mehr noch: Das Leiden respektive die Möglichkeit seiner Erkenntnis ist die wahrscheinlich wichtigste Funktionsstelle in Schopenhauers Philosophie: Indem ich lerne, mein Leiden zu verstehen, kann ich auch lernen, meine Handlungs- und Motivationsgründe zu verstehen. Dieses sozusagen autohermeneutische Training ist als ein elementarer Teil meines Selbsterforschungsprozesses zu betrachten, denn ich verstehe schließlich, wie der Wille in mir wirkt. Ziel dieser Übung kann es nicht sein, zu versuchen, den Willen selbst zu verändern – es sei daran erinnert, für Schopenhauer ist der Wille frei, ewig und unverfügbar, ganz so wie Kants Ding an sich oder Platons Ideen – ich kann aber sehr wohl die Richtung meines Strebens, also sozusagen die Erkenntnis über meine Motive ändern, berichtigen. Die Erkenntnis berichtigen – so etwas philosophisch erfassbar zu machen, setzt voraus, dass man Erkenntnis nicht final und absolut, sondern hypothetisch und temporär denkt. Erkenntnis ist im Entstehen begriffen, ist Wandlungen, einer gewissen freien Dynamik, und das heißt nicht zuletzt auch: Ziel­losig­keit und Unabgeschlossenheit ausgesetzt. Erkenntnis in dieser Schopenhauer’schen Fassung ist nichts Allgemeines: Erkenntnis ist etwas, das mich betrifft, das unmittelbar mit meinem Leben verknüpft ist, Erkenntnis ist – 28

Ebd., S. 372.

29 Ebd.

30 Nicht

zufällig wurde Schopenhauers Willensmetaphysik rege von Psy­ cho­analytikern wie Freud rezipiert und verarbeitet. Siehe hierzu Günter Gödde: Traditionslinien des »Unbewußten«. Das Dynamische der Erkenntnis  |  211

im philosophischen Sinne – etwas Persönliches.31 Diese Einsicht mag trivial, ja sogar banal erscheinen, besitzt aber tatsächlich eine immense Sprengkraft: Aus ihr ziehen nachfolgende Philosophen wie Nietzsche und nach ihm Generationen von Autoren, die im Geiste der Lebensphilosophie arbeiten, das Selbstbewusstsein, für ein anderes, lebendigeres Philosophieverständnis zu werben; ein Philosophieverständnis mit dem Potential, die traditionell-schulmäßige Auffassung davon, was Philosophie ist und wie sie betrieben werden sollte, in ihren Grundfesten zu erschüttern.

3. Die Geburt der Lebensphilosophie aus dem Geiste der Antike Das, was ich zu Beginn und im weiteren Verlauf des Beitrages immer wieder en passant als ›Lebensphilosophie‹ oder ›lebensphilosophisch‹ gekennzeichnet habe, ohne dem eine eigentliche Definition voranzustellen,32 hat nun, so meine Hoffnung, klarere Konturen bekommen. Ich habe im Zuge der Analyse von Goethes und Schopenhauers Philosophie- und Weltverständnis Züge eines lebensphilosophischen Denkens expliziert, das sich in Aspekten der Lebendigkeit, des Offenen und, damit einhergehend: des Werdens manifestiert. Ein lebensphilosophisches Weltbild, wie es aus Schopenhauers und Goethes philosophischem und wissenschaftstheo­retischem Denken 31 Ein

entscheidender Punkt, denn gerade diese Geste, als einzelner Mensch, als Person Philosophie zu betreiben, ist für den lebensphilosophischen Charakter der Philosophie Schopenhauers entscheidend. Eine ausgezeichnete Analyse der Bedeutung eines solchen persönlichen Standpunktes in der Philosophie entfaltet der jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig, wenn er im Stile der harschen Hegel-Kritik Schopenhauers den idealistischen »Philosophen von Parmenides bis Hegel« eine »berufsmäßige Unpersönlichkeit« attestiert, die nur der »persönliche, erlebte […] Standpunkt eines Philosophen als Einzelmensch, der es nicht wahrhaben will, daß er nur Teil eines Ganzen ist« durchbrechen kann (Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 56 ff.). 32 Dies beruht auf einer bewussten Entscheidung in der Konzeption des Aufsatzes, da dieser sich einigen der zentralen lebensphilosophischen Ideen verpflichtet fühlt. In Anbetracht dessen wäre der Versuch, eine erschöpfende und letztgültige Definition des Phänomens Lebensphilosophie anzustreben, widersinnig und unangemessen. 212  |  Alexander Roth 

extrahiert werden kann, wendet sich nicht gegen die Naturwissenschaften oder gegen rationales Denken an sich, weiß aber um die Gefahr einer Hypostasierung der Rationalität. Von diesem Punkt, der insbesondere für den philosophischen Entwurf Schopenhauers zentral ist, leitet sich ein Postulat ab, das nicht nur, wie bereits anhand der Schopenhauer’schen Umgestaltung der Metaphysik zu zeigen versucht wurde, in erster Linie inhaltlicher Natur ist und ein gegenstandsbezogenes Umdenken der Philosophie einfordert; mit der Einsicht in die dringende Notwendigkeit eines Neudenkens von Rationalität und theo­retischem Arbeiten geht nicht zuletzt auch ein formaler, meta-philosophischer Aspekt einher. In sprachkritischer Hinsicht zeigt sich diese formalkritische Dimension bereits bei Schopenhauer, dessen Kritik am prosaischen Habitus der von ihm so verhassten ›Brotphilosophen‹ sich auf seinen Lieblingsopponenten Hegel kapriziert: Je höher man nun in der Ab­straktion aufsteigt, desto mehr läßt man fallen, also desto weniger denkt man noch. Die höchsten, d. i. die allgemeinsten Begriffe sind die ausgeleertesten und ärmsten, zuletzt nur noch leichte Hülsen […]. Was können, beiläufig gesagt, philosophische Systeme leisten, die bloß aus dergleichen Begriffen herausgesponnen sind und zu ihrem Stoff nur solche leichte Hülsen von Gedanken haben? Sie müssen unendlich leer, arm und daher eben auch suffokirend langweilig ausfallen.33

Diese in ihrer angriffslustigen Vehemenz zum Teil sicherlich ungerechten Zeilen lassen nicht nur das seltene Temperament Schopenhauers deutlich werden, sie offenbaren auch dessen philosophisches Selbstverständnis. Schopenhauers Art zu philosophieren ist von einem erfahrungsbasierten Moment geprägt. Wie bei kaum einem anderen Philosophen dieser Zeit spielt der Stil bei Schopenhauer eine herausragende und in systematischer Hinsicht konstitutive Rolle. Birnbacher umfasst die Spezifität dieses philosophischen Stils mit Begriffen wie ›Expression‹ und ›Beschreibung‹ und konstatiert, dass deren »Wahrheit eher die Wahrheit der Kunst als die Wahrheit der Wissenschaft ist«34 – ein rationalitätskritisches Philosophieverständnis, das dann bei Nietzsche zur vollen Entfal33

G (ZA), S. 114 f. Birnbacher: Schopenhauer, S. 16.

34 Dieter

Das Dynamische der Erkenntnis  |  213

tung kommt. Nietzsche verinnerlicht den emphatisch-expressiven Formwillen der Philosophie Schopenhauers und entwickelt daraus einen eigenen philosophischen Stil, der mit Werken wie Also sprach Zarathustra die Grenzen zwischen Philosophie und Literatur verschwimmen lässt. Aber auch in vielen inhaltlichen Punkten verarbeitet Nietzsche den auf eine frühe, wegweisende Form von Lebensphilosophie hinweisenden Grundimpuls der Philosophie Schopenhauers in seiner eigenen philosophischen Konzeption; so spielen typisch Schopenhauer’sche Kategorien wie Leiblichkeit und Leiberfahrung, Persönlichkeit, Subjektivität, Innerlichkeit und Intuition auch bei Nietzsche eine zentrale Rolle. Sei es sein direkt auf Schopenhauers Metaphysik des Willens aufbauender Gedanke eines ubiquitär wirkenden ›Willens zur Macht‹, den er in der Fröhlichen Wissenschaft und im Zarathustra entwickelt, oder seine Theo­rie von der Wirkmacht des Dionysischen, die vor allem in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik in Erscheinung tritt – hier wie dort arbeitet Nietzsche an einer neuen Form von philosophischer Erkenntnis, die sich im Kontext der Begrifflichkeit der vorliegenden Untersuchung erklären lässt; so findet die systematische Leitidee einer dynamischen Erkenntnistheo­rie beispielsweise in Nietzsches Vorstellungsbild von den philosophischen »Wahrheiten, nach denen sich tanzen läßt«,35 das er am Rande des Zarathustra entwickelt, eine besonders schöne und treffende Illustrierung. Hier wie auch in seinem sprachtheo­retischen respektive -kritischen Essay »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne« von 1873 tritt Nietzsche als eben der kritische Erneuerer eines philosophischen Wahrheitsbegriffs auf, als dessen Vorläufer Gadamer Goethe ausgemacht hat: Wenn sich Goethe von den Gewagtheiten der philosophischen Spekulation bewahrt, so folgt er damit nicht nur einem Instinkt für das seiner eigenen Art Angemessene – er sieht darin das menschlich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 144. Eben diese Idee eines dynamisierten Denkens als Tanz bei Schopenhauer erfasst Daniel Schubbe im Anschluss an Rudolf zur Lippe sehr präzise: »Das Musikalische über ein Denken als Tanz einzuholen, heißt Bewegung und Gegenbewegung so aufeinandertreffen zu lassen, daß der Fokus nicht mehr auf der einen oder der anderen liegt, sondern auf dem Raum, der durch sie eröffnet wird.« (Daniel Schubbe: Philosophie des Zwischen, S. 179.) 35 Friedrich

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Richtige und dem Menschen Gebotene schlechthin. Darin aber liegt, daß er einen eigenen Anspruch auf Wahrheit dem Ganzen der philosophischen Tradition und ihrem Begriff der Wahrheit entgegenstellt. In einer seltsam gelassenen Vorläuferschaft weist Goethe hier wiederum in die Richtung, in der Nietzsche die Kritik des Platonismus gesteigert hat, und gerät in die gleiche Nähe zu den Anfängen der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, die Nietzsche empfand. Auch er sah, was Nietzsche sah, daß die plastische Natur der alten Denker, ihre geschlossene Übereinstimmung von Leben und Lehre, im modernen Zeitalter unbekannt ist, und er begründet darauf seine eigene bewußte Stellung zur Philosophie. In einem von Falk berichteten Gespräch sagte er: ›Die Philosophen können uns ihrerseits nichts als Lebensformen darbieten. […] sonst gehen entweder wir an der Philosophie oder die Philosophie geht an uns zugrunde.36

In dieser aufschlussreichen Passage aus Gadamers Aufsatz finden sich gleich mehrere Anknüpfungspunkte, die für die vorliegende Untersuchung interessant sind und auf klassische Themenfelder und Autoren der Lebensphilosophie hinweisen: So stellt Gadamer richtig dar, dass sowohl Nietzsches als auch Goethes Kritik an einem rationalistisch geprägten philosophischen Wahrheitsbegriff ihre geistigen Vorläufer in der antiken griechischen Philosophie hat. Vor allem das Postulat einer Übereinstimmung von Leben und Lehren, das sich von den Kynikern, über die Stoiker bis hin zu Sokrates verfolgen lässt, zeigt den gemeinsamen lebensphilosophischen Geist, der Goethe und Schopenhauer als Charaktere vereint; gerade Schopenhauer wendet sich immer wieder dezidiert gegen eine Vorstellung von Philosophie als berufliche Tätigkeit zum Zwecke des Broterwerbs. Eine solche Philosophie der Universitätsprofessoren, die er auch gerne als »Kathederphilosophie«37 bezeichnete, ist für ihn das Paradigma einer modernen Entwicklung, nicht mehr für, sondern von der Philosophie leben zu wollen.38 Eine der großen Forderungen der Lebensphilosophie ist es, diese Entwicklung, die Schopenhauer erkannt und erläutert hat, umzuwenden. Der oben zitierte Appell Goethes an eine kommende Generation von Philosophen, sich besser darauf zu konzentrieren, nicht vermeintlich un36 Hans-Georg

Gadamer: Goethe und die Philosophie, S. 69. z. B. W II (ZA), S. 191. 38 Vgl. ebd., S. 190. 37 Vgl.

Das Dynamische der Erkenntnis  |  215

umstößliche Wahrheiten, sondern Lebensformen anzubieten, weist in eben jene Richtung. Dieser Forderung haben sich Philosophen, die an der weiteren Genese und Etablierung der Lebensphilosophie als eigene systematische philosophische Disziplin mitgewirkt haben, auf unterschiedliche Weise angenommen.39 In Frankreich beispielsweise war es Henri Bergson, der mit seiner Konzeption des élan vital eine Metaphysik des Lebens ent­wickelt, die starke Parallelen zur Willensmetaphysik Schopenhauers aufweist.40 In der Philosophie Bergsons sind Momente einer philosophischen Psychologie des Erlebens mit erkenntnistheo­retischen Aspekten verbunden; dabei spielt ähnlich wie bei Schopenhauer die Intuition eine entscheidende Rolle: Sie dient mir als eine Art introspektive Selbsterfahrungstechnik, mit Hilfe derer ich lernen kann, wie die Natur in mir wirkt. Im Zuge dessen kann ich auch die schöpferische Kraft – Schöpfung ist ein zentraler Begriff, der bei Bergson sowohl theologische als auch kunstphilosophische Züge hat – in mir erleben. 39 An

dieser Stelle hätte sich eine ausführlichere Einführung und Erläuterung der Philosophie Wilhelm Diltheys angeboten, da dieser auf vielfältige, für meine Erörterung relevante Weise mit dem Begriff der Lebensform operierte und klassisch lebensphilosophische Kategorien wie Fühlen, Wollen und Erleben in das Zentrum seiner Philosophie stellte. Seine Bedeutung für die Entwicklung der Lebensphilosophie – so wie auch die anderer wichtiger Autoren auf diesem Gebiet wie etwa Friedrich Schlegel, Ludwig Klages, Georg Simmel, José Ortega y Gasset oder Max Scheler – kann aufgrund der begrenzten Kapazitäten dieses Beitrages nicht adäquat gewürdigt werden; es soll hier aber auf einige Erläuterungen Diltheys verwiesen werden, die seinen Ruf als ausgewiesener lebensphilosophischer Denker bestätigen. So ist für Dilthey das Leben »die Grundtatsache, die den Ausgangspunkt der Philosophie bilden muß« (Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaft, S. 359). Diltheys philosophischer Entwurf weist in seiner emphatischen Aufwertung der Bedeutung des Lebendigen und in seiner dezidierten Oppositionsstellung gegen eine Vorstellung von rationalistischer Philosophie als bloße Vernunfterkenntnis deutliche Parallelen zu Schopenhauers Hegelkritik auf; so schreibt Dilthey in der Einleitung in die Geisteswissenschaften, S. XVIII: »In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denkfähigkeit.« Hier ließe sich wiederum auch an Goethes Vorstellung von Erkenntnis als ›Vermehrung der Tätigkeiten‹ anknüpfen, in der ein strukturell ähnliches Grundmoment einer dynamisierten Erkenntnistheo­rie Konturen bekommt. 40 Vgl. Arnaud François: Art. »Henri Bergson«. 216  |  Alexander Roth 

Auf diese Weise kann es mir schließlich gelingen, das schöpferische Wesen, das dem Leben im Allgemeinen innewohnt, in Erfahrung zu bringen.41 Dieser Prozess ist bei Bergson in einem modernen Sinne als ein hermeneutischer zu verstehen und hat ähnlich wie die Willensmetaphysik Schopenhauers einen rationalitätskritischen Zug: Verstehen, das heißt für Bergson, unmittelbar und vor aller Reflexion eine Erkenntnis des Selbst und damit der Natur bzw. des natürlichen Lebens zu erlangen. Intuition ist in dieser Ausprägung als ein »von Begriffen unabhängiges Denken zu verstehen«.42 Aus dieser Konzeption einer intuitiven Hermeneutik resultiert ein Metaphysikverständnis, das einen anti-institu­tionellen, akademiekritischen Zug aufweist: Metaphysik, auf diese Weise verstanden, kann sinnvollerweise nicht mehr als reine schulphilosophische, auf Lehrmeinungen ausgerichtete, universitäre Disziplin betrieben werden;43 metaphysische Erkenntnis in der hermeneutischen Auslegung Bergsons hat einen erlebnishaften, dynamischen Charakter und einen überraschend didaktischen, in einem intellektuellen, nietzscheanischen Sinne erzieherischen Zug, der in seiner sanft anweisenden, die Grenzen zwischen Leben und Lehre auflösenden Art abermals an die Antike und im Besonderen an Sokrates erinnert. Dass dieses Konzept zutiefst lebensphilosophisch konnotiert ist, wird anhand der Worte deutlich, die Bergson in Schöpferische Evolu­tion zur Erläuterung seiner intuitiven Methode wählt: Ins Innere des Lebens selbst jedoch würde uns die Intuition führen, will sagen der interesselose, seiner selbst bewußt gewordene Instinkt, der fähig wäre, über seinen Gegenstand zu reflektieren und ihn endlos zu erweitern.44 41 Vgl.

Wolfgang Röd: Die Lebensphilosophie, S. 132. Ebd., S. 140. 43 Dabei ist zu betonen, dass bei Bergson und Schopenhauer philosophischer Inhalt und philosophische Methode miteinander korrespondieren und sich überlagern; so brachte Bergson ausgehend von der klassisch lebensphilosophischen Erkenntnis einer philosophischen Ungenügsamkeit des rein begrifflichen Denkens einen stilistischen Umschwung, eine formale Vitalisierung in die Philosophie, die eine dezidiert literarische Kraft entfaltet, was ihn wiederum in die Nähe von Nietzsche rücken lässt. 44 Henri Bergson: Schöpferische Evolu­tion, S. 204 (Hervorhebung im Original). 42

Das Dynamische der Erkenntnis  |  217

Es gäbe kaum ein dankbareres Zitat, um diesen Beitrag mit einer synoptischen Geste enden zu lassen. Es ist nahezu evident, an welchen Ort mich diese Sentenz Bergsons zurückführt; wenn Bergson von einem ›Inneren des Lebens‹ spricht, zu dem ich mithilfe der Intuition gelangen könne, dann liegt es doch nahe, dass man dorthin zurückversetzt wird, wo das seinen Anfang nahm, was hier im Laufe der Untersuchung als die Genese einer intuitionsmetaphysischen, lebensphilosophischen, dynamischen Erkenntnistheo­rie vorgestellt wurde: Die Rede ist von der Studierzimmerszene des Faust. Schließlich ist jetzt eine Ahnung davon zu bekommen, welches philosophische Universum Goethe zu Grunde gelegen haben muss, als er seinen Faust so feurig entschlossen nach dem suchen ließ, ›was die Welt im Innersten zusammen hält‹.

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III. Naturphilosophie und Evolu­tionstheo­rie

Manja Kisner

In der Anschauung liegt die Wahrheit Eine Analyse von Schopenhauers Intellektualität der Anschauung in ihrem Bezug zu Goethes Naturlehre »Kein Lebendges ist ein Eins, Immer ist’s ein Vieles.« (Goethe: Zur Morphologie, Urworte Orphisch)

Das Weltverständnis von Schopenhauer und Goethe1 ist grund­ legend mit der anschaulichen Sichtweise verknüpft, während die ab­strakte Erkenntnis in ihrem Denken nur eine untergeordnete Rolle spielt. Der folgende Beitrag wird das Konzept der Anschauung bei Schopenhauer und Goethe untersuchen, um an diesem Beispiel auch das Verhältnis, das Schopenhauer und Goethe zueinander haben, darzulegen. Der Anschauungsbegriff ist zum einen insbesondere für Schopenhauers Erkenntnistheo­rie und seine Deutung der Welt als Vorstellung zentral, zum anderen hat er aber auch für Goethe als Naturforscher große Relevanz. Goethe führt die Anschaulichkeit als Voraussetzung aller Erkenntnis ein und ebnet auf diese Weise den Weg zu seiner Naturlehre. Die Theo­rie der Anschauung ist bei beiden Denkern eng mit einem naturwissenschaftlichen und empirischen Begreifen der Welt verknüpft. Sie kann somit dazu dienen, Schopenhauers und Goethes Denken in Beziehung zueinander zu setzen und zu vergleichen. Darüber hinaus lässt sich die nähere Betrachtung der Anschauung in eine weitere Debatte einordnen, die die Epoche der Klassischen Deutschen Philosophie bestimmte und für vielfältige Diskussionen und Kontroversen zwischen den Akteuren dieser Periode sorgte. Dieser Gesichtspunkt ist vor allem für das Verständnis von wird nach der Hamburger Ausgabe (Goethes Werke in 14 Bänden) zitiert; die naturwissenschaftlichen Schriften sind in Band XIII und XIV zu finden. Für die vollständige historisch-kritische und kommentierte Ausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften siehe die LeopoldinaAusgabe: Die Schriften zur Naturwissenschaft, mit 11 Text- und 18 Kommentarbänden. 1 Goethe

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Schopenhauers Theo­rie unentbehrlich. Am Anfang dieses Entwicklungsprozesses steht einerseits Kants Theo­rie der sinnlichen Anschauung, so wie er sie in der »Transzendentalen Ästhetik« der Kritik der reinen Vernunft (1781/1787) entwickelt hat, andererseits aber auch Kants Leugnung einer nicht sinnlichen Art der Anschauung, die Kant intellektuelle Anschauung nennt. Kants Deutung der Anschauung löst bei seinen Nachfolgern verschiedene Entwicklungsrichtungen aus. Die eine schlägt Schopenhauer ein, eine andere die Deutschen Idealisten, insbesondere Fichte und Schelling.2 Schopenhauer entwickelt seine Konzeption der Intellektualität der Anschauung, indem er zwar von Kants »Transzendentaler Ästhetik« und dem dort aufgeworfenen Begriff einer sinnlichen Anschauung ausgeht, sich aber zugleich schon entschieden von Kants Deutung der Anschauung entfernt. Im Gegensatz zu Schopenhauer stellen die Deutschen Idealisten den von Kant zurückgewiesenen Begriff der intellektuellen Anschauung in den Mittelpunkt ihrer philosophischen Systeme. Die intellektuelle Anschauung stellt bei ihnen das unmittelbare Bewusstsein eines ursprünglichen Prinzips dar – entweder des absoluten Ich oder des Absoluten –, aus dem alles andere hervorgeht. Während Schopenhauer mit der Intellektualität der Anschauung eine empirische Dimension der Anschauung akzentuiert und somit Goethe recht nahekommt, beschreiben die Deutschen Idealisten mit dem Begriff der intellektuellen Anschauung ihre Zugangsweise zu dem metaphysisch-transzendentalen Ausgangspunkt ihrer philosophischen Systeme. Im Folgenden wird erstens Schopenhauers Beziehung zu Goethe skizziert und seine methodische Vorgehensweise untersucht. Danach wird Schopenhauers Entwicklung des Begriffs der Anschauung im Ausgang von Kant und den Deutschen Idealisten vorgestellt. Abschließend wird Goethes Deutung der Anschaulichkeit thematisiert und daraus eine vergleichende Perspektive entwickelt, um 2 Fichte

und Schelling haben, im Gegensatz zu Hegel, für Schopenhauer in der Zeit seiner philosophischen Ausbildung eine gewichtige Rolle gespielt, und Schopenhauer hat viele ihrer Werke gründlich studiert, auch wenn er sich in seinen eigenen Veröffentlichungen fast nur kritisch zu Fichte und Schelling äußert. Insofern war Schopenhauers Beziehung zu Fichte und Schelling auch eine philosophische und inhaltliche Auseinandersetzung, zu Hegel hingegen findet sich eine solche konstruktive Beziehung kaum. 224  |  Manja Kisner 

Elemente der Übereinstimmung wie auch der Differenz zwischen Schopenhauer und Goethe zu erörtern und auf die Frage nach der Einflussnahme Goethes auf Schopenhauer einzugehen. Die Analyse wird somit vom Standpunkt der Schopenhauer’schen Philosophie ausgehen und aus dieser Perspektive heraus Goethe einbeziehen. Schopenhauer führt den Begriff der Anschauung schon in seiner Dissertationsschrift aus dem Jahr 1813, also noch vor seinem persönlichen Treffen mit Goethe und unter dem Einfluss von Kant, ein. In der späteren Schrift Über das Sehn und die Farben, die im Jahr 1815 abgefasst wurde und 1816 erschien, erweitert und ergänzt Schopenhauer seine Konzeption der Anschauung und spricht ausdrücklich über die Idee einer Intellektualität der Anschauung. Die Schrift Über das Sehn und die Farben entstand als ein Resultat der persönlichen Begegnung mit Goethe und wurde nach ausführlichen Debatten mit diesem über die Farbenlehre, die vom Ende des Jahres 1813 bis in das Jahr 1814 hinein geführt wurden, verfasst. Somit darf diese Schrift, die auf eine deutliche Einbeziehung der Empirie in Schopenhauers Philosophie hinweist, als ein unmittelbares Ergebnis lebendiger Gespräche zwischen dem jungen Schopenhauer und dem von ihm hochgeschätzten Goethe gelten.

1. Schopenhauer schreibt über Goethe In der Schrift Über das Sehn und die Farben widmet sich Schopenhauer am ausführlichsten der Darstellung und der Einschätzung von Goethes methodischer Vorgehensweise und den theo­retischen Differenzen zwischen Goethe und ihm. Eine erste vielsagende Charakterisierung Goethes findet sich allerdings schon in einer früheren Notiz, die auf das Jahr 1810 datiert ist, als Schopenhauer noch in Göttingen studiert. Dort wird Goethe als Gegengewicht zu Kant dargestellt: Wäre nicht mit Kant zu gleicher Zeit Goethe der Welt gesandt, gleichsam um ihm das Gegengewicht im Zeitgeist zu halten, so hätte jener auf manchem strebenden Gemüt wie ein Alp gelegen und es unter großer Qual niedergedrückt, jetzt aber wirken beide aus entgegengesetzten Richtungen unendlich wohlthätig und werden den deutschen In der Anschauung liegt die Wahrheit  |  225

Geist vielleicht zu einer Höhe heben, die selbst das Alterthum übersteigt.3

Dieses Zitat, in dem Schopenhauer die Bedeutung Kants und Goethes würdigt und zugleich beide aufeinander bezieht, verweist bereits auf die Mittelposition, die Schopenhauers Philosophie später einnehmen wird. Einerseits wird er durchaus Kants Philosophie folgen und sich selbst als ein Nachfolger Kants verstehen, andererseits wird aber in seinem System auch die künstlerische Seite nicht vernachlässigt, sondern gerade ausdrücklich gewürdigt. Schopenhauers Philosophie entwickelt sich nicht nur als eine Kritik der Vernunft, sondern auch als eine künstlerisch-kontemplative Beobachtung der Welt. Schon diese frühe Notiz deutet somit das ihm eigene Denken an. Schopenhauer kritisiert die Einseitigkeit von Kants Begriff der Vernunft und sieht in ihm ein Zeichen dafür, wie wenig Beachtung der Königsberger Philosoph der Fähigkeit der Kontemplation geschenkt hat: Die Kritik der reinen Vernunft könnte der Selbstmord des Verstandes (nämlich in der Philosophie) genannt werden. […] Kants regulativer Gebrauch der Vernunft ist vielleicht die ärgste Mißgeburt des menschlichen Verstandes. Es ist vielleicht der beste Ausdruck für Kants Mängel, wenn man sagt: er hat die Kontemplation nicht gekannt.4

Obwohl Schopenhauer an anderen Stellen Kant zusammen mit Platon als wichtigsten Philosophen überhaupt ansieht – »Plato der göttliche und der erstaunliche Kant«,5 schreibt er in seiner Dissertation aus dem Jahr 1813 – und deswegen seine Kritik keinesfalls als eine Ablehnung der Philosophie Kants im Ganzen zu interpretieren ist, hebt er bereits 1810 einen wichtigen Mangel der Philosophie Kants hervor. Die Dimension, die in Kants Philosophie fehlt, lässt sich gerade bei Goethe finden. Aus dieser Sicht ist für Schopenhauer Goethe derjenige, der sich der Vernachlässigung der Kontemplation bei Kant entgegenstellt. Insofern Goethes Wahrnehmung durch das anschauliche Betrachten der Welt geprägt ist, könnte die spätere Hervorhebung des Anschauungsbegriffs bei Schopenhauer als eine 3

HN I, S. 13. Vgl. ebd., S. 12 f. 5 Diss, S. 3. 4

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Anlehnung an Goethes kontemplative Weltsicht verstanden werden. Sie verweist auf einen wichtigen Punkt der Übereinstimmung zwischen beiden und beweist, wie bedeutend für Schopenhauer schon von Anfang an Goethes Gedankengut war. Davon ausgehend erscheint es plausibel, Schopenhauers eigene Entwicklungsrichtung zu verfolgen. Sein Denken ist von den philosophischen Anregungen beider Seiten geprägt, von Kant wie von Goethe. Gleichzeitig kann er aber mit keinem der beiden völlig übereinstimmen. Das Ganze der Erfahrung mittels der Anschauungsfähigkeit zu erfassen, bleibt für Schopenhauer auch in seinen späteren Jahren von besonderem Interesse. Zugleich ist Schopenhauer mit Goethes Methode nicht vorbehaltlos einverstanden – nur Kontemplation ohne den festen Boden einer philosophischen Theo­rie genügt Schopenhauer nicht, was sich besonders in der Schrift Über das Sehn und die Farben zeigt. Hier bewertet Schopenhauer Goethes empirisch-anschauliche Methode als unzureichend und erklärt deren Beschränkungen an dem konkreten Beispiel von Goethes Farbenlehre, obwohl Schopenhauers Kritik auch auf Goethes Methode im Allgemeinen bezogen werden kann. Er spricht Goethes Farbenlehre den Status einer vollständigen Theo­rie ab und gesteht ihr lediglich zu, erfolgreich Daten über die Farben gesammelt zu haben: »Vielmehr ist es [Goethes Werk; M. K.] wirklich eine systematische Darstellung der Tatsachen: es bleibt jedoch bei diesen stehn.«6 Die richtige Theo­rie, die dem zugrunde liegen muss, will Schopenhauer selbst mit seiner Schrift liefern. Dass Goethes primäres Interesse auf dem Gebiet der Naturwissenschaften tatsächlich der Sammlung von Fakten gilt, die er aus der Erfahrung gewinnt, bestätigt sich in seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten. Mit einem solchen Verfahren kann Schopenhauer sich nicht zufrieden geben und stellt die Frage nach einer Theo­rie, die verschiedene Anschauungen und Erfahrungen miteinander verbindet: Wohl ist Theo­rie, wenn nicht durchgängig auf Fakta gestützt und gegründet, ein eitles leeres Hirngespinst, und selbst jede einzelne, abgerissene, aber wahre Erfahrung hat viel mehr Wert. Andererseits aber bilden alle einzeln stehende(n) Fakta aus einem bestimmten Umkreise des Gebiets der Erfahrung, wenn sie auch vollständig beisam6 F

(Lö), S. 199. In der Anschauung liegt die Wahrheit  |  227

men sind, doch nicht eher eine Wissenschaft, als bis die Erkenntnis ihres innersten Wesens sie unter einen gemeinsamen Begriff vereinigt hat, der alles umfaßt und enthält, was nur in jenen sich vorfinden kann, dem ferner wieder andere Begriffe untergeordnet sind, durch deren Vermittelung man zur Erkenntnis und Bestimmung jeder einzelnen Tatsache sogleich gelangen kann.7

Schopenhauer zufolge ist eine Theo­rie unverzichtbar, um die Fakten bewerten und einordnen zu können; entsprechend gilt ihm ein philosophischer Standpunkt als unvermeidlich. Ausgehend von seinen theo­retisch-philosophischen Grundlagen bewertet er auch den Stellenwert der Anschauungen. Er ist davon überzeugt, dass man durch Vorstellungen allein die Welt nicht an sich erkennen kann. Schon in seiner Dissertation wird seine Erkenntnis deutlich, dass Subjekt und Objekt immer in Korrelation zueinander stehen: Der Mensch erkennt nie die Dinge an sich, sondern sie sind ihm immer schon durch das Subjekt vermittelt. Die Erscheinungswelt versteht Schopenhauer als ein »Objekt in Beziehung auf das Subjekt«8 oder als Anschauung des Anschauenden. Folglich ist die Grundwahrheit seiner Welt der Vorstellung, wie sie dann in seinem Hauptwerk zum Tragen kommt, dass die Welt meine Vorstellung ist.9 Damit setzt Schopenhauer Kants transzendentalen Idealismus und dessen Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung konsequent fort. Die Welt der Vorstellung stellt bei Schopenhauer einen entschiedenen Idealismus dar. Zugleich bleibt er dabei nicht stehen und entwickelt eine andere Seite der Welt, die sich in seiner Willensmetaphysik widerspiegelt. Die Unerkennbarkeit des Dinges an sich, die bei Kant noch eine feste Grundlage bildet, wird hier überwunden und durch Schopenhauers Willenslehre ersetzt. Trotzdem besteht 7

Ebd., S. 198. I (Lö), S. 31. 9 Vgl. ebd.; ebenso G (Lö), S. 46 f.: »Der Realismus übersieht aber, daß das sogenannte Sein dieser realen Dinge doch durchaus nichts anderes ist als ein Vorgestelltwerden oder, wenn man darauf besteht, nur die unmittelbare Gegenwart im Bewußtsein des Subjekts ein Vorgestelltwerden ϰατ’ ἐντελέχειαν (der Wirklichkeit nach) zu nennen, gar nur ein Vorgestelltwerdenkönnen ϰατὰ δύναμιν (der Möglichkeit nach): er übersieht, daß das Objekt außerhalb seiner Beziehung auf das Subjekt nicht mehr Objekt bleibt und daß, wenn man ihm diese nimmt oder davon abstrahiert, sofort auch alle objektive Existenz aufgehoben ist.« (Hervorhebung im Original.) 8 W

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kein Zweifel, dass Schopenhauer mit seiner Theo­rie der Vorstellung in die Tradition Kants und der Klassischen Deutschen Philosophie gehört und diese Tradition auf eigene, kreative Weise fortsetzt. Dieser Aspekt von Schopenhauers Denkart ist zentral auch für seine Bewertung von Goethes Methode und für den Status, den er Goethes Denken zuschreibt. Goethes Weltbild ist, anders als das Schopenhauers, im Grunde genommen ein realistisches und daher, wie Frauenstädt berichtet, für Schopenhauer nicht akzeptabel: »Aber dieser Goethe«, sagte mir einst Schopenhauer, als er von diesem Unterricht in der Farbenlehre sprach, »war so ganz Realist, daß es ihm durchaus nicht zu Sinne wollte, daß die Objekte als solche nur da seien, insofern sie von dem erkennenden Subjekt vorgestellt werden. Was, sagte er mir einst, mit seinen Jupitersaugen mich an­blickend, das Lichte sollte nur da seyn, insofern Sie es sehen? Nein, Sie wären nicht da, wenn das Licht Sie nicht sähe«.10

Die Denkweise Goethes entwickelt sich nicht in erster Linie aus elementar-philosophischen Fragen; er gibt sein Desinteresse an der Philosophie sogar durchaus zu und schreibt, dass er für Philosophie »kein Organ« habe. Schopenhauer, der Philosoph, und Goethe, der Künstler und strebende Naturforscher, stoßen hier eindeutig gegeneinander. Goethes Methode entwickelt sich ausdrücklich aus einem anderen Blickwinkel, wenn er sich eine sorgfältige empirische Beobachtung zur Grundlage seines Denkens macht: Für Philosophie im eigentlichen Sinne hatte ich kein Organ, nur die fortdauernde Gegenwirkung, womit ich der eindringenden Welt zu widerstehen und sie mir anzueignen genötigt war, mußte mich auf eine Methode führen, durch die ich die Meinungen der Philosophen, eben auch als wären es Gegenstände, zu fassen und mich daran auszubilden suchte.11

Trotzdem herrscht zwischen Goethe und Schopenhauer eine gewisse Übereinstimmung, wenn sie beide den Wert des Anschauungs­ vermögens als gravierend einschätzen. Auch wenn Schopenhauer bei den Anschauungen nicht stehen bleiben kann und mit seiner Willensmetaphysik eine tiefere Ebene aufzeigt, verringert sich da10 Otto

Ernst Lindner/Julius Frauenstädt: Arthur Schopenhauer, S. 221 f. Einwirkung der neueren Philosophie, HA 13, S. 25 f.

11 Goethe:

In der Anschauung liegt die Wahrheit  |  229

mit keineswegs der besondere Status, den Schopenhauer der Fähigkeit zur Anschauung zuschreibt: Im Bereich der Vorstellung und Erscheinung ermöglichen gerade die Anschauungen die Erkenntnis der Welt, obwohl die Vorstellung nicht allein Schopenhauers System begründet. Namentlich in der hohen Bedeutung der Anschaulichkeit kommen sich Schopenhauer und Goethe besonders nahe.

2. Schopenhauers Theo­rie der Anschauung und sein Bezug zur Klassischen Deutschen Philosophie Der Begriff der Anschauung spielt schon in Schopenhauers Dissertation eine gewichtige Rolle und besitzt im Wesentlichen bereits alle Charakteristika seiner späteren Explikationen der Anschauung. Schopenhauer sandte seine Dissertation auch an Goethe, der damals mit seiner Mutter in Weimar in Kontakt stand. Dadurch wurde Goethe mit Schopenhauers Erstlingswerk schon vor der persön­ lichen Bekanntschaft vertraut. Angeblich soll gerade der Begriff der Anschauung Goethes Interesse für Schopenhauers Dissertation angeregt und seine Zustimmung gefunden haben.12 Zugleich ist davon auszugehen, dass Goethes Denken bei der Entstehung von Schopenhauers Dissertation keine besondere Rolle spielte. Zwar schätzte Schopenhauer schon im Jahr 1813 den Weimarer Dichter, doch die Dissertation zeigt eine eindeutige Anknüpfung an die philosophische Tradition und, was die Anschauung betrifft, vor allem auch an Kant und dessen »Transzendentale Ästhetik«. Kant zufolge kommen unsere Anschauungen zustande, indem uns die Gegenstände affizieren. Die Anschauungen gehören insofern zur Sinnlichkeit und sind ein Produkt der Rezeptivität und nicht der Spontaneität unseres Vorstellungsvermögens. Um Gegenstände zu denken, sind hingegen Begriffe erforderlich, und dazu bedarf es der Leistung des Verstandes: Die Fähigkeit, (Rezeptivität) Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, 12 Vgl.

Rüdiger Safranski: Schopenhauer, S. 266.

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und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe.13

Des Weiteren unterscheidet Kant zwischen empirischer und reiner Anschauung. Um eine empirische Anschauung zu haben, müssen die Gegenstände unser Gemüt affizieren und wir nehmen diese Affektionen als Empfindungen wahr. Es gibt keine empirische Anschauung ohne die Empfindung als deren Materie.14 Doch zugleich kennt Kant reine Anschauungen, die für seine »Transzendentale Ästhetik« grundlegend sind. Die reinen Anschauungen haben nur den formalen Teil, der a priori in unserem Gemüt liegt, sind aber ohne Inhalt, der durch Empfindung beigebracht wird. Diese Apriori-Formen im Gemüt sind Raum und Zeit. Für einen Vergleich mit Schopenhauer ist es wichtig zu betonen, dass bei Kant die Anschauungen zur Sinnlichkeit gehören, während die Begriffe vom Verstand stammen. Schopenhauers Verständnis der Anschauung weist einige wesentliche Abweichungen von der kantischen Position auf. Insbesondere wird bei Schopenhauer die Anschauung von der Sinnlichkeit abgekoppelt. Zugleich lässt sich Schopenhauers Auffassung am besten im Vergleich mit seinen Bestimmungen des Verstandes und der Vernunft erläutern, die sich ebenso von Kants Gebrauch unterscheiden. Bei Kant entspringen die Begriffe aus dem Verstand; entsprechend übernimmt dieser die Aufgabe, das Mannigfaltige der Sinnlichkeit zu verbinden und daraus die Begriffe zu bilden. Kant zählt somit die Anschauung zur Sinnlichkeit, die die Rezeptivität darstellt, während der Verstand mit der Spontaneität assoziiert ist. Hingegen darf Schopenhauer zufolge der Verstand überhaupt nicht mit den Begriffen assoziiert werden, vielmehr sind gerade die Anschauungen und der Verstand zusammenzudenken. Allein die Vernunft ist bei ihm für die Bildung der Begriffe zuständig, d. h. für die Vorstellungen der Vorstellungen, die aber keine Primärstellung Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 19/B 33. ebd., A 20/B 34: »In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung korrespondiert, die Materie derselben, dasjenige aber, welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann, nenne ich die Form der Erscheinung.« 13 Immanuel 14 Vgl.

In der Anschauung liegt die Wahrheit  |  231

in seinem System haben. Die Hauptrolle steht in seiner Dissertation dem Verstand zu, weil man gerade durch den Verstand zu den vollständigen Vorstellungen kommt, die das Ganze einer Erfahrung ausmachen. Die wesentliche Umdeutung in Schopenhauers Philosophie erfolgt durch die Verknüpfung des Verstandes mit den Anschauungen: Dadurch stehen die Anschauungen nicht mehr auf der Seite der Sinnlichkeit, wie dies bei Kant der Fall ist. Vielmehr übernimmt der Verstand nun eine anschauliche Funktion: Ohne Anwendung des Verstandes überhaupt bliebe es bei der bloßen Empfindung und käme nicht zur Anschauung, welche eben, als Anschauung von Objekten und nicht bloß von wahrnehmbarer Zeit und Raum, die Verbindung dieser erfüllten Zeit und Raum durch die Kate­ gorien ist.15

Im Unterschied zu Kant ist bei Schopenhauer gerade die Unterscheidung zwischen der Empfindung und der Anschauung wichtig. Dies erklärt, wieso Schopenhauer die Anschauung eng zusammen mit dem Verstand denkt und die Empfindung allein der Sinnlichkeit zuschreibt. Erst die Kategorien des Verstandes haben die Aufgabe, aus bloßen sinnlichen Daten, d. h. Empfindungen, eine Anschauung zu erzeugen.16 Deswegen darf zwar die Empfindung, keinesfalls aber die Anschauung ganz ohne die Einmischung des Verstandes konzipiert werden. Deutlicher als in der Dissertation von 1813 ist dies in der zweiten Auflage Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (1847) ersichtlich: Denn was für ein ärmliches Ding ist doch diese bloße Sinnesempfindung! Selbst in den edelsten Sinnesorganen ist sie nichts mehr, als ein lokales, specifisches, innerhalb seiner Art einiger Abwechselung fähiges, jedoch an sich selbst stets subjektives Gefühl, welches als solches gar nicht Objektives, also nichts einer Anschauung Aehnliches enthalten kann.17

Auf diese Weise wird das Gebiet der Anschauungen, das bei Kant in die »Transzendentale Ästhetik« gehört, bei Schopenhauer das Hauptgebiet seiner Auseinandersetzung mit der menschlichen Er15

Diss, S. 36. Ebd., S. 37. 17 G (Lö), S. 67. 16

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kenntnisfähigkeit darstellen und die Erfahrung konstituieren. Die Empfindungen deuten hingegen schon etwas außerhalb der Vorstellungssphäre Befindliches an und bilden so einen Übergang zu seiner Willensmetaphysik.18 In der Schrift Über das Sehn und die Farben führt Schopenhauer zudem den Begriff einer Intellektualität der Anschauung ein. Damit formuliert er noch einmal ganz deutlich, was er in seiner Dissertation über die Anschauung bereits angedeutet hat; Anschauung kann nur als intellektual konzipiert werden und ist dadurch ein Werk des Verstandes: Alle Anschauung ist eine intellektuale. Denn ohne den Verstand käme es nimmermehr zur Anschauung, zur Wahrnehmung, Apprehension von Objekten, sondern es bliebe bei der bloßen Empfindung […].19

Schopenhauer legt hier noch detaillierter dar, wie Anschauungen entstehen: Der Verstand, der »jeden Eindruck, den der Leib erhält, auf seine Ursache bezieht«,20 konstituiert auf diese Weise die Anschauung. Diese Eindrücke, die die Grundlage für die Anschauungen bilden, sind die Empfindungen des Leibes, die aber selbst noch keine Anschauungen sind. Anschauungen entstehen dadurch, dass das Gesetz der Kausalität einbezogen wird. Die Ursache-WirkungBeziehung, die der Verstand erkennt, ist für Schopenhauer eine unmittelbare und notwendige Tatsache, die ohne jeglichen Bezug zu Begriffen zustande kommt. Verstand beinhaltet das Gesetz der Kausalität a priori: […] die eigentliche, lebendige, unvermittelte, notwendige Erkenntnis des Gesetzes der Kausalität geht aller Reflexion wie aller Erfahrung vorher und liegt im Verstande.21

18 Vgl.

VN I, S. 177: »Sie [die Empfindung; M. K.] ist etwas, das, eben weil es das erste und unmittelbare ist, sich weiter nicht beschreiben läßt, von dem sich jedoch sagen läßt, daß es eine sehr nahe Beziehung zum Willen hat.« Vgl. auch G (Lö), S. 67: »Sie [die Empfindung; M. K.] kann angenehm oder unangenehm seyn, – welches eine Beziehung auf unsern Willen besagt, – aber etwas Objektives liegt in keiner Empfindung.« 19 F (Lö), S. 204. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 205. In der Anschauung liegt die Wahrheit  |  233

Die Apriorität des Kausalitätsgesetzes erkennt Schopenhauer bereits bei Goethe, wenngleich er zugeben muss, dass solche Überlegungen für diesen von keinem besonderen Interesse waren.22 Schopenhauers Konzeption der Intellektualität der Anschauung weicht jedoch nicht nur von Kants Konzeption ab, sondern unterscheidet sich auch von Fichtes und Schellings intellektueller Anschauung. Anders als Schopenhauer bezieht sich Fichte mit seinem Begriff der intellektuellen Anschauung auf etwas, das keine sinnliche Anschauung ist. Damit entwickelt er Kants Begriff der intellektuellen Anschauung, der bei Kant eine nicht sinnliche Anschauung eines Dinges an sich bedeutet und von diesem verworfen wird, auf eigene Weise fort.23 Die intellektuelle Anschauung bei Fichte meint keine nicht-sinnliche Anschauung eines nicht sinnlichen Gegenstandes, sondern eine unmittelbare Anschauung des Ich in seiner Tätigkeit. Fichte versteht darunter das unmittelbare Bewusstsein des Ich als Handelndes, d. h., es geht um »das unmittelbare Bewußtseyn, dass ich handle, und was ich handle«.24 Damit übernimmt die intellektuelle Anschauung eine zentrale Rolle in Fichtes Philosophie und ist mit seinem Ich-Prinzip verknüpft, aus dem Fichtes Philosophie hervorgeht. Eine ähnliche Rolle spielt die intellektuelle Anschauung auch bei Schelling, nur mit dem Unterschied, dass sie sich bei ihm auf das Begreifen des Absoluten bezieht.25 Das Abso22 Vgl.

ebd., S. 211: »Eben weil die Apriorität des Kausalitätsgesetzes so sehr evident ist, sagt sogar Goethe, der mit Untersuchungen dieser Art sich sonst nicht beschäftigt, bloß seinem Gefühle folgend: ›der eingeborenste Begriff, der notwendigste, von Ursache und Wirkung‹ (›Über Naturwissenschaft im allgemeinen‹ in den ›Nachgelassenen Werken‹ Bd. 10, S. 123).« 23 Über die intellektuelle Anschauung schreibt Kant in der Kritik der reinen Vernunft im Kapitel ›Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena‹ (vgl. z. B. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 307). 24 Vgl. Johann G. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I/4, S. 217. 25 Vgl. z. B. Friedrich W. J. Schelling: System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, SW I/6, S. 153: »Die Erkenntnißart des Absoluten also, wenn sie eine absolute ist, ist auch eine contemplative. – Jede unmittelbare Erkenntniß ist überhaupt = Anschauung, und insofern ist auch alle Contemplation Anschauung. Da aber die Vernunft hier das Erkennende ist, so ist diese Anschauung eine Vernunft, oder, wie auch sonst genannt, eine intellektuelle Anschauung.« 234  |  Manja Kisner 

lute fungiert bei Schelling, ähnlich wie bei Fichte das absolute Ich, als Ausgangsprinzip seines Denkens. Diese Auffassung, dass sich das Absolute durch die intellektuelle Anschauung begreifen lässt, zieht sich, wenngleich in vielfältigen Formulierungen, durch die verschiedenen Phasen seiner Philosophie. Eine solche Art der intellektuellen Anschauung wie bei Fichte und Schelling gibt es bei Schopenhauer gerade nicht. Das folgt bereits aus seiner erkenntnistheo­retischen Grundlage: Verstand ist bei ihm ein intuitives und empirisches Vermögen, die Vernunft dagegen übernimmt nur eine sekundäre Rolle und ist nur ein Vermögen der Ab­straktion, aber keineswegs ein ursprüngliches Prinzip oder ein Ausgangpunkt der ganzen Philosophie. In diesem Sinne ist überhaupt nicht verwunderlich, dass sich Schopenhauer gegen die Identitätsphilosophie der Deutschen Idealisten ausspricht, die eine Vernunft-Anschauung als ein Absolutes setzen. In dem für ihn charakteristischen spöttischen Ton wendet er sich gegen jene Philosophen, die eine Philosophie des Absoluten betreiben – noch heftiger als gegen Fichte und Schelling gegen Hegel. Ihre Vorgehensweise beschreibt er als ein Mystifizieren: Hat der alte Königsberger Krittler die Vernunft kritisiert und ihr die Flügel beschnitten – gut! so erfinden wir eine neue Vernunft, von der bis dahin noch kein Mensch etwas gehört hatte, eine Vernunft, welche nicht denkt, sondern unmittelbar anschaut, Ideen (ein vornehmes Wort, zum Mystifizieren geschaffen) anschaut, leibhaftig; oder auch sie vernimmt, unmittelbar vernimmt, was du und die anderen erst beweisen wollten; oder – bei denen nämlich, welche nur wenig zugestehn, aber auch mit wenig vorliebnehmen – es ahndet.26

Ohne näher darauf einzugehen, inwiefern diese Kritik Schopenhauers an den Deutschen Idealisten berechtigt ist, lässt sich klar erkennen, dass seine Theo­rie der Anschauung eine ganz andere Entwicklungsrichtung nimmt als bei diesen. Die Intellektualität der Anschauung weist bei Schopenhauer auf eine empirische Anschauung hin, die gleichzeitig immer schon intellektual ist und gerade deswegen der intellektuellen Anschauung entgegensteht. Die Intellektualität der Anschauung bindet die Verstandeserkenntnis an die Empirie, während die intellektuelle Anschauung der Idealisten ge26 G

(Lö), S. 54. In der Anschauung liegt die Wahrheit  |  235

rade auf die übersinnliche Anschauung anspielt. Aus diesem Grund ist für Schopenhauer der Verstand keine spezifische Fähigkeit der Menschen, vielmehr schreibt er ihn auch den Tieren zu. Obwohl er sich wie Fichte und Schelling als ein Vervollkommner und Weiterentwickler Kants gesehen hat, entwickeln sich die jeweiligen Philosophien in ganz eigene Richtungen – besonders wenn es um die Theo­rie der Anschauung geht.27 Um die bisherigen Feststellungen noch einmal zusammenzufassen, kann man auf Schopenhauers Unterscheidung zwischen den intuitiven und den ab­strakten Vorstellungen in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) verweisen. Die intuitiven Vorstellungen beschreiben »die ganze sichtbare Welt oder die gesamte Erfahrung«28 und stellen somit die Anschauungen dar, die als Produkt des Verstandes auftreten. Die anschauliche Sichtweise auf die Welt symbolisiert eine ruhige kontemplative Tätigkeit, bei der alles klar und gewiss scheint.29 Die unmittelbare Beobachtung der Gegenwart endet aber mit der Einmischung der Vernunft, mit der nun der Übergang zu den ab­strakten Vorstellungen erfolgt, die ein Gebiet der Irrtümer und Zweifel darstellen. Ab­strakte Vorstellungen beschreiben das Gebiet der Begriffe und der Reflexion und sind für Schopenhauer im Vergleich mit den intuitiven Vorstellungen sekundär. Die hier angedeutete intuitive und anschauliche Sichtweise erfährt eine bedeutende Fortführung im dritten Buch seines Hauptwerkes, in dem Schopenhauer die platonischen Ideen und die daraus entwickelte Theo­rie der Kunst behandelt. Bis hierher wurde eine ursprüngliche Art der Anschauung dargelegt, die durch den Satz vom Grund und das Gesetz der Kausalität vermittelt ist. Diese stellt eine Erkenntnis der einzelnen Dinge in ihrer Vielfalt dar. Im dritten Buch führt Schopenhauer nun eine weitere, eine höhere Art der An27 Eine

gewisse Übereinstimmung zwischen den Deutschen Idealisten und Schopenhauer oder zumindest eine erkennbare Beeinflussung findet sich bei anderen philosophischen Themen, z. B. bei der Entwicklung des Willens­ begriffs. So könnte Schopenhauers Zugang zum Willen durch das unmittelbare Bewusstsein durchaus an das Verfahren von Fichte und Schelling bei der Einführung der intellektuellen Anschauung erinnern. 28 W I (Lö), S. 35. 29 Vgl. ebd., S. 72 f. 236  |  Manja Kisner 

schauung ein, die nicht mehr dem Satz vom Grund untergeordnet ist und keine Erkenntnis der Individuen bietet, sondern eine echte kontemplative Wahrnehmungsweise der Welt darstellt: Welche Erkenntnisart nun aber betrachtet jenes außer und unabhängig von aller Relation bestehende, allein eigentlich Wesentliche der Welt, den wahren Gestalt ihrer Erscheinungen, das keinem Wechsel unterworfene und daher für alle Zeit mit gleicher Wahrheit Erkannte, mit einem Wort, die Ideen, welche die unmittelbare und adäquate Objektität des Dinges an sich, des Willens, sind? – Es ist die Kunst, das Werk des Genius. Sie wiederholt die durch die reine Kontemplation aufgefaßten ewigen Ideen […].30

Schopenhauer beschreibt hier die Erkenntnis der Ideen, die besonders in künstlerischer Kontemplation der Welt, in der man die Dinge außerhalb ihrer Relationen mit anderen Dingen betrachtet, wiedergegeben werden. Dennoch muss aber diese höhere Anschauungsfähigkeit sich aus den oben dargestellten erkenntnistheo­retischen Grundlagen ergeben: Ohne die primäre Stellung der Intellektualität der Anschauung und des Verstandes gegenüber der Vernunft wäre die Hervorhebung der Kontemplation bei Schopenhauer nicht denkbar. Kontemplation ist keine Erweiterung der Vernunft, sondern eine höhere Anschauungsweise, die nicht mehr die Individuen in ihren Einzelheiten betrachtet, sondern das Allgemeine und Wesentliche in den Erscheinungen sucht. Mit dieser Erweiterung des ursprünglichen Anschauungsvermögens zu einer höheren Anschauungsweise kommt Schopenhauer Goethe besonders nahe. Während er in seiner Dissertation den Begriff der Anschauung eher aus der Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition als von Goethe her gewinnt, ist bei der Konzeption der höheren Anschauung eine deutliche Beeinflussung durch Goethe zu vermuten. Auch wenn diese Wirkung nicht unbedingt durch Goethes theo­retisches Nachdenken ausgelöst wurde, darf man die Rolle, die Goethe als Künstler und als Person für Schopenhauer spielte, nicht gering schätzen. In diesem Sinne kann der Dichter durchaus als einer der bedeutendsten Wegweiser für Schopenhauer und seine Theo­rie der Kunst und der Kontemplation gesehen werden. 30 Vgl.

ebd., S. 265. In der Anschauung liegt die Wahrheit  |  237

3. Die Hervorhebung der Anschaulichkeit in Goethes Naturlehre Der Begriff der Anschauung spielt in Goethes naturwissenschaftlichen Betrachtungen eine Schlüsselrolle. Auch wenn Goethe ihn bei der Darlegung seiner Methode der Weltbeschreibung überhaupt nicht inklusiv benutzt – eigentlich gebraucht er das Wort nur ab und zu –, kann sein Verfahren als ein anschauliches Betrachten der Welt charakterisiert werden. Zugleich lässt sich durch die Analyse der Anschaulichkeit bei Goethe, wie sie im Weiteren erfolgen wird, eine vergleichende Perspektive entwickeln, um die Übereinstimmungen wie auch die Unterschiede zwischen Schopenhauer und Goethe zu untersuchen. Die erste Beobachtung bei der näheren Betrachtung von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften ist die Tatsache, dass eigentlich nur wenige theo­retisch-philosophische Überlegungen zu seiner Naturphilosophie zu finden sind. Anders als bei Schopenhauer bedeutet der Einstieg in Goethes Naturlehre einen Zugang in seine auf empirischen Beobachtungen basierenden Schriften – wie z. B. Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790) oder Zur Farbenlehre (1810) –, in der es hauptsächlich um Beiträge zu einem sehr breiten wissenschaftlichen Feld geht, von der Botanik und Zoologie bis zur Geologie und zur Theo­rie des Lichts und der Farbe. Als der primäre Wegweiser zu seiner Naturlehre gelten Goethe solche empirischen Beobachtungen und nicht philosophische und theo­retische Überlegungen. Dennoch kann man in seiner empirischen Methode eine systematische und einheitliche Vorgehensweise feststellen, die sich als eine eigenständige Naturphilosophie interpretieren lässt. Seine empirischen Schriften zeigen in concreto das, was er in seinen kurzen Beiträgen zu den Naturwissenschaften im Allgemeinen nur sehr spärlich diskutiert. Dennoch sind es gerade diese theo­ retischen Anhaltspunkte, die für einen Vergleich mit Schopenhauer von Bedeutung sind. Erstens ist für Goethes Methode der Naturbetrachtung die Beziehung zwischen den Teilen und dem Ganzen zentral und dabei ein lebendiges Anschauen von besonderer Bedeutung. Goethe will die Dinge nicht in ihrer Isoliertheit betrachten, sondern ihre Vielfältigkeit und ihre Veränderungen miterfas238  |  Manja Kisner 

sen. Zweitens ist sein Ausdruck der Morphologie hervorzuheben, mit dem er sein Wirkungsgebiet beschreibt. Auch Schopenhauer benutzt den Begriff, allerdings nur um mit ihm die Grenzen der Wissenschaften aufzuzeigen. Anhand dieser beiden Momente sollte sich letztendlich erörtern lassen, welche Bedeutung die Anschauung bei Goethe für Schopenhauer hat. Im Aufsatz »Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt« hebt Goethe sein Streben hervor, die Naturdinge in der Welt auch beim naturwissenschaftlichen Betrachten als lebendig zu behandeln. Deswegen gilt für ihn ein wissenschaftlicher Versuch, der nur einen isolierten Teil unserer Erkenntnis beschreiben kann, nicht als unmittelbarer und endgültiger Wahrheitsgarant. Es geht ihm vielmehr darum, die Relation zwischen den Teilen und dem Ganzen zu bewahren31 und nicht das Ganze nur auf seine Teile zu reduzieren: Ich wage nämlich zu behaupten: daß Ein Versuch, ja mehrere Versuche in Verbindung nichts beweisen, ja daß nichts gefährlicher sei als irgendeinen Satz unmittelbar durch Versuche beweisen zu wollen, und daß die größten Irrtümer eben dadurch entstanden sind, daß man die Gefahr und die Unzulänglichkeit dieser Methode nicht eingesehen.32

Goethe befürwortet nur eine mittelbare und keine unmittelbare Anwendung des Versuchs, weil in der Natur alles miteinander in Verbindung steht und man somit nicht einen beliebigen Teil der Natur isoliert aussondern und glauben darf, dadurch erhalte man ein vollkommenes Bild.33 Jeden Organismus und jedes lebendige Wesen 31 Vgl.

Goethe: Studie nach Spinoza, HA  13, S. 8: »In jedem lebendigen Wesen sind das, was wir Teile nennen, dergestalt unzertrennlich vom Ganzen, daß sie nur in und mit demselben begriffen werden können, und es können weder die Teile zum Maß des Ganzes noch das Ganze zum Maß der Teile angewendet werden, und so nimmt, wie wir oben gesagt haben, ein eingeschränktes lebendiges Wesen teil an der Unendlichkeit oder vielmehr es hat etwas Unendliches in sich, wenn wir nicht lieber sagen wollen, daß wir den Begriff der Existenz und der Vollkommenheit des eingeschränktesten lebendigen Wesens nicht ganz fassen können, und es also ebenso wie das ungeheure Ganze, in dem alle Existenzen begriffen sind, für unendlich erklären müssen.« 32 Goethe: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, HA 13, S. 15. 33 Vgl. R. H. Stephenson: Goethe’s Conception of Knowledge and Science, S. 10 f: »What Goethe is seeking to do in his experimentation is to recapture, In der Anschauung liegt die Wahrheit  |  239

versucht Goethe in seiner wechselseitigen Beziehung und in seiner Verwicklung mit anderem zu beschreiben. Da alles in der Natur, besonders aber die gemeinern Kräfte und Elemente in einer ewigen Wirkung und Gegenwirkung sind, so kann man von einem jeden Phänomene sagen, daß es mit unzähligen andern in Verbindung stehe, wie wir von einem freischwebenden leuchtenden Punkte sagen, daß er seine Strahlen auf allen Seiten aussendet.34

Dieses Vorgehen, die Dinge stets in Relation mit anderen Dingen zu sehen, ähnelt Schopenhauers Beschreibung des intuitiven Anschauungsvermögens. Die Anschauung ist bei Schopenhauer mit dem Begreifen der kausalen Bezüge verknüpft und ermöglicht es, die Gegenstände in ihrer wechselseitigen Verbindung zu erkennen. Zugleich besteht für Goethe die Aufgabe der Naturwissenschaften nicht darin, eine ab­strakte Theo­rie zu entwerfen, vielmehr sollen sie versuchen, behutsam die Natur in ihrer Vielfältigkeit wiederzugeben und anschaulicher zu erfassen: »Die Natur hat kein System, sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum, zu einer nicht erkennbaren Grenze.«35 Deswegen richtet sich Goethes primäres Interesse darauf, viele Daten zu sammeln und diese Daten zu beschreiben, aber keineswegs eine vereinfachende Theo­rie zu schaffen. Wichtig ist für ihn dabei die Tatsache, dass die Fakten nicht um der Theo­rie willen vernachlässigt werden. Damit unterscheidet sich Goethe klar von Schopenhauer, wie an dem Beispiel der Schrift Über das Sehn und die Farben gezeigt wurde: Schopenhauer ist Goethes Sammlung von Daten nicht genug. Auch Schopenhauer lässt in seine Theo­rie recht viel naturwissenschaftliches und faktisches Wissen einfließen, letztes Ziel bleibt jedoch die Konstitu­tion eines einheitlichen philosophischen Systems. Aber auch Goethe bleibt nicht ausnahmslos bei den aus der Erfahrung gewonnenen Einzeldaten stehen, sondern stellt z. B. in »Erin heightened detail, the glimpse of living form gained in earlier, fleeting aesthetic perception: an experiment is the setting-up of conditions which make the aesthetic structure of an object again manifest. It is not a test of theory; more a proof of perception.« 34 Goethe: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, HA  13, S. 17 f. 35 Goethe: Probleme, HA 13, S. 35. 240  |  Manja Kisner 

fahrung und Wissenschaft« auch seine Suche nach einem unveränderlichen Kern der Phänomene dar. Entsprechend beinhaltet seine Methode eine stufenweise Entwicklung der Phänomene, von denen, die wir unmittelbar beobachten, bis zu den reinen Phänomenen. Er ordnet die Phänomene in drei Stufen ein: empirische, wissenschaftliche und reine. Die empirischen sind jedem Menschen zugänglich, die wissenschaftlichen werden durch Versuche erworben und die reinen sind das Resultat »aller Erfahrungen und Versuche«.36 Das reine Phänomen ist für Goethe nicht etwas Isoliertes, »sondern es zeigt sich in einer stetigen Folge der Erscheinungen«.37 Dieses Konzept des reinen Phänomens oder auch Urphänomens, wie Goethe es meist nennt, lässt sich mit Schopenhauers Begriff der platonischen Ideen vergleichen. Bei beiden Denkern spiegelt sich darin ein Produkt der höheren Anschauungsart wider, die als eine Erweiterung und Ergänzung der unmittelbaren Anschauungsfähigkeit zu verstehen ist. Dabei sind aber Schopenhauers platonische Ideen, aus denen eine stufenweise Erklärung der Welt abgeleitet wird, vollkommen statisch konzipiert. Eine Entstehungsgeschichte der Gattungen z. B. fehlt hier gänzlich. Goethes reine Phänomene dienen hingegen nicht einer statischen Beschreibung der Welt, sondern sollen als Symbole auch das Bewegende der Natur anschaulich darlegen. Goethe etabliert anhand seiner Studien zu Pflanzen und Tieren wie auch zur unorganischen Natur sogar die neue Disziplin der Morphologie und führt als Erster diesen Begriff ein.38 Morphologie beschreibt die Naturdinge auf der Grundlage unserer Anschauung der Welt, die sich uns als ein stets bewegender Prozess zeigt.39 Um diesen Prozess zu beschreiben, bedient sich Goethe des Begriffs der Metamorphose und stellt z. B. seine botanischen Forschungen unter den Titel der Metamorphose der Pflanzen. Die Morphologie kann folglich keine statische Beschreibung bieten, sondern erörtert 36 Goethe:

Erfahrung und Wissenschaft, HA 13, S. 25. Ebd., S. 25. 38 Vgl. Olaf Breidbach: Goethes Naturverständnis, S. 13. 39 Vgl. ebd., S. 20: »Morphologie bezeichnet für Goethe eine Wissenschaft der Naturanschauung, die diese Natur als Ganzes in ihren Teilen, und in ihren Teilen als Ganzes wahrnimmt.« 37

In der Anschauung liegt die Wahrheit  |  241

vielmehr das wechselhafte Gefüge der Welt.40 Goethe beschreibt in seinen naturwissenschaftlichen Schriften den Wandel und das stete Umwandeln im Reich der Natur, und anhand dieses konkreten wissenschaftlichen Verfahrens zeigt sich auch empirisch, was für ihn die Anschauung symbolisiert. Morphologie nimmt die lebendigen Wesen, Organismen und Naturdinge in ihrer Komplexität und Beweglichkeit an und hebt so deren spezifischen Charakter hervor: Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschaun der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele mit dem sie uns vorgeht.41

Auch Schopenhauer benutzt Goethes Begriff der Morphologie. Unter dieser versteht er die Beschreibung von Gestalten und er schreibt ihr den Status einer Wissenschaft zu, z. B. als Botanik oder Zoologie.42 Somit steht die Morphologie neben der Aetiologie, die Veränderungen erklären will und eine Erkenntnis von Ursachen und Wirkungen ermöglicht. Bei der Beschreibung der Aufgaben der Morphologie stimmt jedoch Schopenhauer nicht mit Goethe überein, weil er die Aufgabe der Morphologie vor allem in der Beschreibung der bleibenden Formen sieht, während Goethes Begriff der Morphologie auch das Prozesshafte der Natur einschließt. Schopenhauers durch die höhere Anschauungsart und platonische Ideen vermitteltes Weltbild ist damit weitaus statischer. Einerseits gibt er durchaus zu, dass sich Individuen in stetem Wandel und steter Veränderung befinden, doch zugleich existieren höhere Strukturen, die Abbildungen der Welt der Ideen sind und die es Schopenhauer zufolge insbesondere durch ästhetische Kontemplation zu begreifen gilt. Goethes Kontemplation ist demgegenüber am Wandel und am Prozesshaften orientiert. Trotz aller Differenzen, die zwischen Goethes und Schopenhauers Deutung der Anschauung bestehen, muss zuletzt noch auf eine sehr wichtige Parallele zwischen den beiden aufmerksam gemacht werden: Schopenhauer betont immer wieder, dass die Wissenschaf40 Vgl. ebd., S. 34: »Morphologie ist nach Goethe die Lehre von der sich nur

im Prozess definierenden Gestalt der Natur.« 41 Goethe: Zur Morphologie. Die Absicht eingeleitet, HA 13, S. 56. 42 Vgl. W I (Lö), S. 152. 242  |  Manja Kisner 

ten nach dem Wie des Lebens fragten, Philosophie aber das Was des Lebens zu ergründen habe.43 Deswegen ist für Schopenhauer die Philosophie »ein Mittleres von Kunst und Wissenschaft, oder vielmehr etwas das beide vereinigt«.44 Philosophie basiert für ihn nicht auf dem primären Anschauungsvermögen – dieses kann nur als eine notwendige Basis aller Erkenntnis dienen –, sondern bedient sich der höheren Anschauungsart. Insofern begreift Schopenhauer ebenso wie Goethe die erscheinende Welt durch das Was des Lebens und durch das anschauliche Betrachten, jedoch mit dem Unterschied, dass Goethe diese Methode auch in die Wissenschaften selbst einführen wollte. Es hat sich daher auch in dem wissenschaftlichen Menschen zu allen Zeiten ein Trieb hervorgetan, die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äußern sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Innern aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen. Wie nah dieses wissenschaftliche Verlangen mit dem Kunst- und Nach­ ahmungstriebe zusammenhänge, braucht wohl nicht umständlich aus­ geführt zu werden.45

Schopenhauer dagegen will nicht die Naturwissenschaften als ähnlich zur Kunst konzipieren, trotzdem versucht er aber die Philosophie in der Nähe zur Kunst zu bringen. Dies versteht er als seine Aufgabe schon im Jahr 1814: »Eben dies nun wird der Fall seyn mit meiner Philosophie; denn sie wird eben Philosophie als Kunst seyn«.46 In diese Richtung führt nicht das wissenschaftliche Begreifen der Welt, 43 Vgl. ebd., S. 379: »Die echte philosophische Betrachtungsweise der Welt,

d. h. diejenige, welche uns ihr inneres Wesen erkennen lehrt und so über die Erscheinung hinaus führt, ist gerade die, welche nicht nach dem Woher und Wohin und Warum, sondern immer und überall nur nach dem Was der Welt frägt, d. h. welche die Dinge nicht nach irgend einer Relation, nicht als werdend und vergehend, kurz, nicht nach einer der vier Gestalten des Satzes vom Grunde betrachtet; sondern umgekehrt, gerade das, was nach Aussonderung dieser ganzen jenem Satz nachgehenden Betrachtungsart noch übrigbleibt, das in allen Relationen erscheinende, selbst aber ihnen nicht unterworfene, immer sich gleiche Wesen der Welt, die Ideen derselben, zum Gegenstand hat. Von solcher Erkenntnis geht, wie die Kunst, so auch die Philosophie aus […].« 44 HN I, S. 482. 45 Vgl. Goethe: Zur Morphologie. Die Absicht eingeleitet, HA 13, S. 55. 46 HN I, S. 186. In der Anschauung liegt die Wahrheit  |  243

vielmehr muss sich die Philosophie selbst, ebenso wie die Kunst, der kontemplativen Anschaulichkeit bedienen, um die Welt beschreiben zu können. Kontemplation erwächst bei Schopenhauer deswegen ebenso wie bei Goethe aus seiner Deutung der Anschauung. Die Anschauung als unsere elementare Zugangsweise zur Welt und Natur, die wir zuerst mit allen anderen Verstandeswesen teilen, eröffnet uns durch die Erweiterung zur Kontemplation zugleich noch den Weg zu höheren Formen der Anschauung, die bei der Betrachtung der Ideen und Urphänomene zum Ausdruck kommen.

4. Schlussbemerkungen Schopenhauer und Goethe stimmen mit Blick auf die Anschauung in vielen Hinsichten überein. Beide sehen das Anschauungsvermögen als wesentlich für die Erkenntnis der Welt an. Der bedeutsame Unterschied zeigt sich allerdings darin, dass Goethe sich auf den Bereich der Anschauungen beschränkt, Schopenhauer hingegen nicht. Goethe bleibt bei den Gegenständen, die er beobachtet, und wenn er zu den reinen Phänomenen voranschreitet, versteht er sie noch immer als eine Art höhere Anschauung, in der sich der Gegenstand in eine Idee oder einen Urtypus verwandelt. Insofern kann Goethes Anschaulichkeit durchaus als »gegenständliche[s] Denken«47 charakterisiert werden, und es wird nachvollziehbar, weshalb er ganz dem kontemplativen Anschauen zugewandt bleibt. Bei Schopenhauer dagegen entfaltet die Welt als Vorstellung nur eine Seite der Welt, die andere Seite beschreibt seine Willensmetaphysik, die nicht nur die formalen Aspekte hervorhebt, sondern geht zum Inhalt der Vorstellungen über und verweist dadurch auf das innere Wesen der Welt, das sich durch die Kontemplation und die Ideen noch nicht vollständig äußern konnte. Schopenhauers zweiteiliges System ist deswegen anders aufgebaut. Zum einen spricht er den Anschauungen eine große Bedeutung zu, zum anderen führt er als Grundlage eine andere Dimension ein, die sein metaphysisches Streben aufzeigt. Dessen ungeachtet 47 Goethe:

HA 13, S. 39.

Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort,

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stellt Schopenhauers Einführung der Anschauung einen wichtigen Beitrag zum Weltverständnis dar, zeigt sich doch hier eine philosophische Entwicklung, die sich gegen die ab­strakte oder sogar spekulative und dogmatische Naturdeutung wendet und ihr eine anschauende Erkenntnis entgegenstellt. Im zweiten und ergänzenden Band der Welt als Wille und Vorstellung, im Kapitel 7 über ›Anschauende und ab­strakte Erkenntnis‹, konstituiert die Anschauungserkenntnis einen wichtigen Grundstein seiner Philosophie, der hier sprachlich noch deutlicher zum Ausdruck kommt. »Wirklich liegt alle Wahrheit und alle Weisheit zuletzt in der Anschauung«,48 erklärt Schopenhauer und fordert, dass die Begriffe ihre Grundlage in den Anschauungen haben, um zu verhindern, dass die Begriffe »bloße Worte im Kopfe«49 bleiben. Hier ist deutlich seine Kritik am Deutschen Idealismus zu spüren; Schopenhauers Weltbeschreibung basiert auf keinem Begriffsspiel wie z. B. auf dem des Absoluten. Die Anschauung als Grundlage der Welterkenntnis räumt der empirischen Methode der Beobachtung der Welt Priorität ein. Es liegt nahe, dass Schopenhauer unter anderem auch an Goethe denkt, wenn er davon spricht, dass Weisheit und Genie »nicht im ab­strakten, diskursiven, sondern im anschauenden Vermögen«50 wurzeln: »Die eigentliche Weisheit ist etwas Intuitives, nicht etwas Ab­straktes.«51 Gerade dieser Aspekt der intuitiven und anschauenden Erkenntnis kann, auch wenn sich einige Differenzen zeigen, als gemeinsames Verdienst von Goethe und Schopenhauer gelten. Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, Schopenhauers Begriff der Anschauung allein auf den Einfluss Goethes zurückzuführen. Dagegen spricht schon die Tatsache, dass Schopenhauer bereits in der Dissertation, also noch vor seinem Treffen mit Goethe, seinen eigenständigen Begriff der Anschauung entwickelt hat, um sich dadurch primär von Kant zu distanzieren. Es scheint eher so, dass gerade die ähnliche Vorgehensweise und die übereinstimmende Tendenz der beiden Denker eine produktive Bekanntschaft und Beziehung zwischen ihnen ermöglichte. 48 W

II (Lö), S. 99. 49 Ebd., S. 96. 50 Ebd., S. 100. 51 Ebd. In der Anschauung liegt die Wahrheit  |  245

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Jens Lemanski

Die ›Evolu­tionstheo­rien‹ Goethes und ­Schopenhauers Eine kritische Aufarbeitung des wissenschafts­ geschichtlichen Forschungsstandes Charles Darwin hatte in der ›geschichtlichen Vorrede‹ zur deutschen Ausgabe der Entstehung der Arten im Jahr 1860 einen Vergleich zwischen seiner Theo­rie und etwa einem Dutzend Naturforschern zwischen 1809 und 1856 wie Jean-Baptiste de Lamarck, Etienne Geoffroy Saint-Hilaire, William Herbert u. v. a. gezogen.1 Dass diese Liste nicht vollständig war, implizierte Darwins eigene Bemerkung, er sehe »von den Schriftstellern der klassischen Periode, so wie von Demaillet und Buffon«2 ab. Mit diesen Bemerkungen eröffnete die Vorrede zur Evolu­tion der Arten in Deutschland den philosophischen Trend, durch Vergleiche Vorgänger Darwins in den eigenen akademischen Reihen zu suchen. Schnell wurden neben vielen anderen Kandidaten aus der von Darwin ausgesparten ›klassischen Periode‹ besonders Herder, Kant, Hegel, Schopenhauer und Goethe als Evolu­tionstheoretiker herausgestellt. Einen Höhepunkt erreichte dieser Trend mit einer Untersuchung des Utrechter Anthropologen Jacob H. F. Kohlbrugge, der gut zweihundert Vorläufer Darwins ausfindig gemacht haben wollte.3 Während heutzutage viele der genannten Philosophen nicht mehr ernsthaft mit Darwin in Verbindung gebracht oder nur noch allgemein und zum Teil willkürlich in der Wissenschaftsgeschichte 1 Laut

einer Fußnote zu Beginn dieser Vorrede sei Darwin zu diesen histo­­ rischen Vergleichen durch die Rezension des Darwin-Übersetzers H. G. Bronn: Ch. Darwin: on the Origin of Species, angeregt worden. In dieser Rezension heißt es (ebd., S. 112, 115): »Arten können variieren. Diess ist allgemein anerkannt! […] Die Theo­rie [sc. Darwins] ist nicht neu; schon von Lamarck […], von Geoffroy St. Hilaire und Anderen aufgestellt, erscheint sie hier nur mit allem Aufwande von Scharfsinn […] durchgeführt«. 2 Charles Darwin: Ueber die Entstehung der Arten, S. 1. 3 Vgl. Jacob Kohlbrugge: War Darwin ein originelles Genie?   |  247

der Evolu­tionstheo­rie aufgeführt werden,4 findet man in wissenschaftlichen sowie allgemeinverständlichen Fachbüchern immer noch Vergleiche zwischen Schopenhauer sowie Goethe und diversen Evolu­tionstheo­rien, insbesondere der darwinistischen. Entgegen den bisherigen Vergleichen möchte ich in dem vorliegenden Aufsatz keine weitere inhaltliche These vertreten, die Schopenhauer oder Goethe eine Verwandtschaft mit einer spezifischen Evolu­ tionstheo­rie zu- oder abspricht. Vielmehr möchte ich die bislang zu diesem Thema erschienene Forschungsliteratur selbst vergleichen und die metatheo­retische These vertreten, dass die Resultate jedes Vergleichs zwischen Schopenhauer oder Goethe und einer konkreten Evolu­tionstheo­rie immer von drei Dimensionen abhängen: 1. dem Wissenschaftsstandpunkt des Vergleichenden (pragmatische Dimension), 2. der Bedeutung und Definition der zentralen Begriffe (semantische Dimension) und 3. der Auswahl der analysierten Primärliteratur (syntaktische Dimension). Zudem behaupte ich, dass keine bislang veröffentlichte Studie überzeugende Argumente dafür vorbringen konnte, dass Schopenhauer oder Goethe ›Evolu­ tionstheo­rien‹ vertreten haben, da in den bisher veröffentlichten Untersuchungen immer mindestens eine der drei Dimensionen als problematisch kategorisiert werden muss. Den Hauptteil der Studie bilden die Kapitel 2 bis 4: Ich werde zunächst rein technisch die Auswahl der von mir herangezogenen Forschungsliteratur begründen (Kap. 2) und darauf aufbauend einen detaillierteren Überblick über den Forschungsstand geben (Kap. 3), um schließlich eine Kritik des Forschungsstandes zu formulieren (Kap. 4). Abschließend sollen allgemeine Interpretationsprobleme der Forschungsliteratur benannt und Lösungsvorschläge für diese Probleme diskutiert werden (Kap. 5).

4 An höheren Schulen im deutschen Sprachraum orientiert sich die Allge-

meinbildung zur Wissenschaftsgeschichte der Evolu­t ion gegenwärtig bes. an Volker Storch/Ulrich Welsch/Michael Wink: Evolu­tionsbiologie, Kap. 1. 248  |  Jens Lemanski 

2. Auswahl und Zusammenstellung der Forschungsliteratur In diesem Kapitel soll die Auswahl der später in Kapitel 3 und 4 detaillierter untersuchten Forschungsliteratur gerechtfertigt werden. Wie auch die Kapitel 3 und 4, so ist auch das hier veranschlagte Kapitel in eine Sektion zu Goethe (2.1) und eine zu Schopenhauer (2.2) unterteilt. Da die beiden Unterkapitel jeweils Einzeluntersuchungen darstellen und keinem kontinuierlichen Argumentationsgang folgen, kann der Rezipient der vorliegenden Studie natürlich auch rein personenorientiert nacheinander die Kap. 2.1, 3.1, 4.1 zu Goethe sowie dann Kap. 2.2, 3.2 und 4.2 zu Schopenhauer ohne Erkenntniseinschränkung lesen.

2.1  Die Forschungsliteratur zu Goethe

Dass überhaupt die auszuwertende Forschungsliteratur quantitativ eingeschränkt werden musste, erklärt sich bes. in der Goetheforschung durch einen ›information overload‹, der bereits von Manfred Wenzel beschrieben wurde: Das Schrifttum zu den naturwissenschaftlichen, ja sogar zu den morphologischen Schriften Goethes ist bis heute nahezu unübersehbar geworden. So verzeichnet Schmid (1940) in seiner umfassenden Bibliographie ›Goethe und die Naturwissenschaften‹ […], deren Berichtszeitraum bis 1932 reicht, 4554 [!] Titel.5

Da Wenzel selbst 1982 die letzte Monographie zum Goethe-DarwinVergleich vorgelegt hat, die einen mehr als dreihundertseitigen Bericht über die bis dato erschienenen Hauptthesen in der Literatur gibt, habe ich zunächst für die Auswahl der hier zu besprechenden Goethestudien das Jahr 1982 als terminus a quo festgesetzt. Da zudem eine aktuelle Spezialbibliographie zu Forschungsarbeiten im Bereich der naturwissenschaftlich-philosophischen Goetheforschung vorhanden ist,6 habe ich diese nach Artikeln ab dem Jahr 1982 auf Einträge durchgesehen, die im Titel einen eindeutigen Wenzel: Goethe und Darwin (1982), S. 159. Lutz Danneberg/Wilhelm Schernus: Goethe und die Naturwissen-

5 Manfred 6 Vgl.

schaften.

Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  249

Bezug zu Evolu­tionstheoretikern und -theo­rien aufwiesen (Stichworte: ›Lamarck‹, ›Darwin‹ etc. oder ›Evolu­tion‹, ›Epigenese‹ etc.). Durch die weitere quantitative Beschränkung auf Schriften mit einem Umfang von mindestens fünf Seiten blieben aus der Bibliographie insgesamt fünfzehn Studien übrig, die in der folgenden Liste durchnummeriert, chronologisch geordnet und mit Autorname und Kurztitel angegeben wurden (genauere Literaturangaben finden sich im Literaturverzeichnis): (1) Wenzel, M. 1982: Goethe und Darwin. (2) Wenzel, M. 1983a: Goethes Morphologie. (3) Wenzel, M. 1983b: Goethe und Darwin. (4) Lieb, E. 1986: Goethes Bedeutung für das Verständnis der heutigen Evolu­tionsbiologie. (5) Wenzel, M. 1987: Goethes Naturforschung und die Evolu­tions­ theo­rie Darwins. (6) Martin, G. 1988: Goethes evolu­tionärer Sinn. (7) Kranich, E.-M. 1989: Von der Gewißheit zur Wissenschaft der Evolu­tion. (8) Schad, W. 1998: Zeitgestalten der Natur. Goethe und die Evolu­ tionsbiologie. (9) Grün, K.-J. 2000: Goethe und Darwin – war Goethe ein Evolu­ tionstheoretiker?. (10) Hagemann, W. 2000: Der Organismus als Subjekt in der Evolu­ tion. (11) Pross, W. 2000: Die Idee der Evolu­tion im 18. Jahrhundert. (12) Pouget, J.-M. 2001: La science goethéenne des vivants. (13) Bersier, G. 2003: Visualizing Carl Friedrich Kielmeyer’s Organic Forces. (14) Schad, W. 2008: Goethe als Evolu­tionist. (15) Wenzel, M. 2011: Goethe und Darwin.

Diese fünfzehn Schriften umfassende Liste konnte bereits nach einer oberflächlichen Durchsicht der jeweiligen Studien aus verschiedenen Gründen um weitere fünf Schriften – nämlich (3), (6), (7), (10) und (11) – gekürzt werden: Denn (3) ist identisch mit den 250  |  Jens Lemanski 

Seiten 498–509 von (1);7 (6) und (7) erfüllen entweder die wissenschaftlichen Mindeststandards nicht oder können wohlwollend als ›eigenständige Lesarten‹ verstanden werden; (10) und (11) stellen keinen eindeutigen Beitrag zu dem hier behandelten Thema dar. Unter den hier angegebenen und begründeten Prämissen kann der später in Kap. 3 abgehandelte Stand der Forschung zur ›Evolu­ tionstheo­rie‹ Goethes somit auf neun Studien reduziert werden.

2.2  Die Forschungsliteratur zu Schopenhauer

Im Vergleich zur Goetheforschung bietet die Schopenhauerforschung hingegen ein anderes Bild. Weder liegt eine aktuelle Spezialbibliographie zur Naturphilosophie Schopenhauers noch ein annähernd vollständiger Forschungsüberblick zu seiner ›Evolu­tions­ theo­rie‹ vor8 – obwohl 1989 eine eigenständige Monographie zu dem Thema erschienen ist (s. u.). Glücklicherweise gibt es aber auch keine Informationsüberflutung bzw. eine quantitativ annähernde Auseinandersetzung zur Naturphilosophie Schopenhauers, wie es in der Goetheforschung der Fall ist. Meine Recherche zu dem hier behandelten Thema beschränkte sich aus den genannten Gründen nicht auf einen bestimmten Zeitraum. Einschlägige Datenbanken (Thesaurus Schopenhauer, Philosopher’s Index, Jstor, PhilPapers etc.) wurden auf Werktitel und Zusammenfassungen mit Lemmata zur Evolu­tion (Evolu­tion, Epi­ genese, Selektion etc.) und zu Evolu­tionisten (Lamarck, Darwin etc.) durchsucht, und den in diesen Studien vorhandenen Querverweisen auf weitere Studien wurde wiederum nachgegangen. Das Ergebnis dieser Recherche umfasst sechzehn Schriften (mit einem Umfang von jeweils mehr als fünf Seiten zum Thema), die im Folgenden nach der bereits in Kap. 2.1 angegebenen Methode aufgelistet sind: 7 Da

auch Wenzels Arbeiten (2) und (5) stellenweise identisch oder auch inhaltlich sehr nahe an der viel ausführlicheren Schrift (1) sind, wird im Folgenden größtenteils nur (1) besprochen. 8 Für einen kurzen Forschungsüberblick mit Bibliographie bis zu den 1980er Jahren vergleiche Rudolf Malter: Schopenhauer und die Biologie. Für die Forschung bis zu den 1910er Jahren siehe auch Ferruccio Zambonini: Schopenhauer und die moderne Naturwissenschaft, S. 61 ff. Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  251

(1) Asher, D. 1871: Schopenhauer and Darwinism. (2) du Mont, E. 1876: Der Fortschritt im Lichte der Lehren Schopenhauers und Darwins. (3) Noiré, L. 1875: Der monistische Gedanke (bes. S. 238–272). (4) Herrig, H. 1892: Schopenhauer und Darwin. (5) Prochnow, O. 1910: Die Theo­rien der aktiven Anpassung. (6) Weng, G. 1911: Schopenhauer – Darwin. (7) Lovejoy, A. O. 1911: Schopenhauer as an Evolu­tionist. (8) Lubosch, W. 1915: Über den Würzburger Anatomen Ignaz Döllinger. (9) Zambonini, F. 1935: Schopenhauer und die moderne Naturwissenschaft (bes. S. 61–69). (10) Autrum, H. 1969: Der Wille in der Natur und die Biologie heute. (11) Vandenrath, J. 1973: Evolu­tion und Erkenntnis. (12) Vandenrath, J. 1976: Schopenhauer und die heutige Evolu­tions­ lehre. (13) Steppi, Chr. R.: Der Mensch im Denken Arthur Schopenhauers (bes. S. 343–378). (14) Schröder, Chr. 1989: Evolu­tionstheo­rie und Willensmetaphysik. (15) Rhode, W. 1991: Schopenhauer heute (bes. S. 61–69). (16) Schiano, S. 2012: De Schopenhauer à Darwin. (17) Adam, K. D. 2011: Die Abstammung des Menschen. (18) Wuketits, F. M. 2016: Schopenhauer – ein skurriler Vorreiter der Evo­lu­tionstheo­rie.

Auch diese Liste konnte wiederum um mehrere Studien – nämlich (2), (4), (5), (11) und (16) – gekürzt werden: (5) und (16) sind keine wissenschaftlichen Publikationen; (4) und (11) behandeln das angekündigte Thema nur marginal; auf (2) trifft beides zu. Insofern kann ein annähernd vollständiger Stand der Forschung zur Frage des Verhältnisses Schopenhauers zu den Evolu­tionstheo­rien durch die Aufarbeitung von dreizehn Schriften in Kap. 3 erarbeitet werden.

252  |  Jens Lemanski 

3. Stand der Forschung In diesem Kapitel sollen mehrere Fragen behandelt werden, die sich jeweils auf die in Kapitel 2 herausgearbeiteten Studien beziehen: (1)  An welchen Primärtexten Goethes und Schopenhauers wird in der Forschung diskutiert, ob sie einen positiven oder negativen Bezug zu einer Evolu­tionstheo­rie besitzen? (2) Was sind die Hauptthesen, die in der Forschung bislang aufgestellt wurden? (3) Welche Themen werden von welcher Studie überhaupt diskutiert? Ein ursprünglich angedachtes Kapitel zu der Frage, ob in der Forschung bislang auch direkte Vergleiche zwischen Schopenhauers und Goethes Evolu­tionstheo­rien gezogen wurden, hat sich nach der Durchsicht der Forschungsliteratur erübrigt, da ein derartiger Vergleich in der untersuchten Literatur nicht zu finden ist. Allein in der Schopenhauerforschung werden gelegentlich in Nebenbemerkungen Vergleiche zu Goethe gezogen, die allerdings erkennen lassen, dass den Interpreten der jeweilige Stand der Goetheforschung zu ihrer Zeit nicht bekannt war.9 Die hier in Kap. 3 dargestellten Sachverhalte dürften zudem zeigen, dass sich beide Forschungsbereiche bislang nur bei wenigen inhaltlichen Diskussionspunkten treffen.

3.1  Der Stand in der Goetheforschung 3.1.1  Primärtexte Goethes

Aufgrund der weitreichenden Inanspruchnahme von Goethetexten – gleich ob Prosa oder Lyrik – zur Evolu­tionsfrage kann man annehmen, dass in der Forschung fast jeder Text schon einmal zur Klärung des hier diskutierten Sachverhalts herangezogen wurde. Die wichtigsten Prosaschriften zur Frage der ›Evolu­tion bei Goethe‹ 9 Symptomatisch

dafür sind die Studien von Vandenrath (»Schopenhauer und die heutige Evolu­t ionslehre«) und Lubosch (»Über den Würzburger Anatomen Ignaz Döllinger«): Vandenrath bemerkt, Schopenhauer und Goethe vertreten keine Evolu­tionstheo­rien; Lubosch bemerkt, Schopenhauer und Goethe vertreten Evolu­tionstheo­r ien. Interessant ist, dass Vandenrath und Lubosch für ihre sich gegenseitig ausschließenden Thesen dasselbe Argument benutzen: Schopenhauer und Goethe seien Präformisten. Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  253

sind in der 1. Abteilung, Band 24 der sog. ›Frankfurter Ausgabe‹ (Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche) versammelt. Da man zudem in Wenzels Monographie eine Zusammenfassung der einschlägigen morphologischen und wissenschaftstheo­re­ti­ schen Schriften zur ›Evolu­tionstheo­rie Goethes‹ und in Zimmermanns herausragender Chrestomathie eine Zusammenstellung der wichtigsten Zitate aus diesen Werken findet,10 soll hier nur ein sehr allgemeiner Überblick zum Zweck einer Einstiegshilfe in die relevanten Originalwerke gegeben werden. In chronologischer Hinsicht wird bei der teils positiv, teils negativ beantworteten Forschungsfrage zur ›Evolu­tionstheo­rie Goethes‹ zunächst Goethes naturgeschichtlicher Beitrag zu Johann Caspar Lavaters Physiognomischen Fragmenten (1775 ff.) herangezogen, in denen noch die Sonderstellung des Menschen im Vergleich zum Tier herausgehoben wird. Diese Sonderstellung definiert Goethe ab 1781 neu – bspw. in »Dem Menschen wie den Tieren ist ein Zwischenknochen obern Kinnlade zuzuschreiben« –, da seine Entdeckung des Zwischenkieferknochens die anatomische Verwandtschaft des Menschen mit den Wirbeltieren aufzeigt. In der experimentellen Beobachtungsstudie über »Infusions-Tiere« (1786) werden Übergangsformen zwischen Pflanze und Tier beschrieben, die als Beleg einer Deszendenztheo­rie bei Goethe interpretiert werden können. Mit den Schriften zur ersten Italienreise formiert sich dann zunehmend das ab­strakte Prinzipienpaar ›Typus/Metamorphose‹, wovon der einheitliche Typus zunächst als ›Urpflanze‹ oder ›Urtier‹ konkretisiert wird, deren jeweils mannigfaltige vegetative oder animalische Variationen mit dem Begriff ›Metamorphose‹ beschrieben werden. Obwohl das Präfix ›ur-‹ erst ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts temporal konnotiert wurde,11 gibt es die mit Ernst Haeckel einsetzende und bis heute strittige Interpretationsrichtung, die die Begriffe ›Urtier‹ und ›Urpflanze‹ klar stammesgeschichtlich auslegt. Textgrundlage für diesen Interpretationsstreit sind bes. die »Botanik als Wissenschaft« (Alternativtitel: »Einleitung, Vorarbeiten zur Morphologie«) aus dem Sommer 1788 und die MetamorManfred Wenzel: Goethe und Darwin (1982), S. 35–159, ferner: S. 342, 402 f., 406, 463, 478. – Walter Zimmermann: Evolu­tion. 11 Vgl. Karl Euling: Art. »ur-«. 10 Vgl.

254  |  Jens Lemanski 

phose der Pflanzen von 1790. Zwischen 1790 und 1795 präzisiert Goethe besonders seinen Typusbegriff in verschiedenen Aufsätzen, die mehrheitlich erst zwischen 1817 und 1824 in den Heften zur Morphologie herausgegeben wurden. Aus den Morphologischen Heften sind für die hier behandelte Forschungsfrage zunächst die Schriften »Die Faultiere und die Dickhäutigen« und »Die Skelette der Nagetiere« von besonderem Interesse. Diese werden unter Bezugnahme auf nur einzelne Urteile oder Begriffe stark unterschiedlich ausgelegt: Einige Forscher lesen aus ihnen nicht nur deszendenztheo­retische Aspekte heraus, sondern interpretieren die Begriffe ›Metamorphose‹ und ›Typus‹ diachron – also so, als beschriebe Goethe eine zeitlich-entwickelnde Phylogenese (Metamorphose) von einer einst existierenden Urpflanze oder einem Urtier (Typus). Andere Interpreten verneinen die deszendenztheo­retischen Anspielungen (u. a. mit Bezugnahme auf den Aufsatz »Problem und Erwiderung«) und lesen die TypusMetamorphose-Theo­rie synchron, d. h. so, als beschriebe Goethe präsentistisch nur ontogenetische Gestaltvariationen (Metamorphose) von einem konstanten Urbild (Typus). Gerade die mit dem Metamorphosekonzept zusammenhängenden Begriffe ›Bildung‹, ›Umbildung‹ oder auch ›Gestaltveränderung‹, die besonders in den einleitenden Abhandlungen der Morphologischen Hefte einschlägig von Goethe verwendet werden, suggerieren für einige Interpreten Vorwegnahmen eines phylogenetischen Evolu­tionismus. Weitere deszendenztheo­retische Aspekte werden von einigen Forschern noch stärker anhand des Aufsatzes »Fossiler Stier« herausgestellt, in dem Goethe erklärt, dass der naturgeschichtliche Vergleich von Skeletten ausgestorbene Arten indiziere, da Skelettfunde des Urstieres Differenzen zu gegenwärtig lebenden Ochsen aufzeigen würden. Darüber hinaus findet eine intensivere Diskussion sowohl über den Aufsatz »Verstäubung, Verdunstung, Vertropfung« statt, in dem selektionsverwandte Prozesse angedeutet werden, als auch über den »Versuch einer allgemeinen Vergleichungslehre«, in dem Anpassungs- und Auslesemechanismen in Relation zu Darwin gesetzt werden. Abgesehen von den Morphologischen Heften streiten Interpreten anhand der Spätschriften Goethes über dessen Positionierung im Pariser Akademiestreit und um die Bedeutung eines Gesprächs Goethes mit Eckermann am 20. Februar 1831. In diesem Gespräch Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  255

behauptete Goethe, die Höhlen im menschlichen Schädel seien Rudi­mente des tierischen.

3.1.2  Hauptthesen der Goetheforschung

Die hier untersuchten Studien ab 1982 zeigen ein ähnlich polarisiertes Bild hinsichtlich der vermeintlichen Evolu­tionstheo­rie Goethes, wie man es auch aus Wenzels Forschungsüberblick entnehmen kann, der den Zeitraum bis zum Anfang der 1980er Jahre untersucht hat. Die These, Goethe sei Evolu­tionstheoretiker, vertreten (4) Lieb 1986, (8), (14) Schad 1998, 2008 und (13) Bersier 2003. Die entgegengesetzte These, Goethe sei kein Evolu­tionstheoretiker, vertreten hingegen (1), (2), (5), (15) Wenzel 1982, 1983, 1987, ferner 2011, (9) Grün 2000 und (12) Pouget 2001. Ich möchte im Folgenden die Grundzüge dieser Studien und deren wesentliche Begründungen für ihre Thesen vorstellen. Ad (1), (2), (5): Während der Großteil der Forschung zur Evolu­ tionstheo­rie Goethes bis zu den 1980er Jahren zwischen den beiden Extremen pendelte, Goethe entweder statisch im Sinne Linnés oder evolu­tionistisch im Sinne Darwins zu klassifizieren,12 kündigt der Germanist und Biologe Manfred Wenzel in seinen Studien aus den 1980er Jahren13 eine vermittelnde Position an, die weder zum einen noch zum anderen Extrem tendieren sollte. Wenzel vertritt die These, Goethe stehe »weder im räumlich-statischen Lager Linnés, [sic] noch im evolu­tionistischen Lamarcks oder Darwins, sondern ›irgendwo‹ dazwischen«.14 Im Sinne der Epochenzuschreibung plädiert Wenzel daher für eine Verortung Goethes in die Übergangsphase der ›Historizität‹15 (Phase der Verzeitlichung), die zwischen 12 Vgl. Manfred Wenzel: Goethe und Darwin (1982), S. 29, 33, Anm. 4, S. 121. 13 Die

beiden kürzeren Schriften Wenzels, (2) und (5), stellen Kurzfassungen von einzelnen Teilen seiner Dissertation, (1), dar und werden daher nur im Zusammenhang mit (1) besprochen. 14 Manfred Wenzel: Goethe und Darwin (1982), S. 75, ebenso: S. 121, 156, 179. – Ders.: Goethes Naturforschung und die Evolu­tionstheo­r ie Darwins, S. 331. 15 Manfred Wenzel: Goethe und Darwin (1982), S. 29 ff., 44, 66, 77, 122, 129, 156, 193, 236 f., 312 f., 508. 256  |  Jens Lemanski 

der statischen Theo­rie der Artenkonstanz und der dynamischen des Evolu­tionismus in die Zeit zwischen Linné und Darwin fällt. Wenzel begründet diese Zwischenposition damit, dass Goethes Theo­ rien weder nicht-statisch wie Linnés noch nicht-phylogenetisch wie Darwins seien.16 Methodisch ist es Wenzels Anliegen, Goethe als »Kind seiner Zeit« zu sehen und ihn »nicht von den Strömungen seiner Zeit [zu] isolieren«.17 Ad (4): Der Studienleiter der Evangelischen Akademie Iserlohn, Eckhard Lieb, erklärt zu Beginn seiner Studie »Goethes Bedeutung für das Verständnis der heutigen Evolu­tionsbiologie«, es sei beeindruckend, »wie groß der Beitrag Goethes zum Verständnis der modernen Biologie, genauer gesagt, zum Verständnis der heutigen Evolu­tionsbiologie sein kann«.18 Textliche Belege für eine phylogenetische Deszendenz finde man bei Goethe zwar nicht, dafür stimme seine Methodik mit der modernen Kritik am Panglossianismus nach Stephen Jay Gould, Richard Lewontin und ferner Adolf Seilacher überein. Ähnlichkeiten sieht Lieb in dem anti­reduk­ tionistischen Gesamtblick auf den Organismus, in der Vorstellung von einem natürlichen Haushaltsausgleich des allometrischen Wachstums (Kompensationsgesetz) und in der antiteleologischen Sicht- und Ausdrucksweise.19 Diese Übereinstimmungen zwischen Goethe und der modernen Biologie können rezeptionsgeschichtlich erklärt werden:20 Obwohl Darwin stärker von Autoren wie Charles Lyell oder Thomas Robert Malthus beeinflusst war, berief er sich selbst auf Goethe als einen Vorläufer (bes. hinsichtlich des Kompensationsgesetzes). Da Goethes osteologische Thesen dann aber z. T. durch den sehr einflussreichen Thomas Henry Huxley widerlegt wurden, wurde auch der Rest von Goethes Entwicklungsdenken von der Synthetischen Evolu­tionstheo­rie nicht zur Kenntnis genommen. Erst das jetzige Paradigma, so Lieb, eröffne wieder – wie dargestellt – neue Anknüpfungsmöglichkeiten. Eine konkrete, wenn auch indirekte Rezeptionsgeschichte könne man ziehen, wenn 16 Vgl.

ebd., S. 32, 84 f., 113 f., 157, 508, ferner: S. 356, 400, 405, 415, 434. S. 36, vgl. ferner: S. 2 f. 18 Eckhard Lieb: Goethes Bedeutung für das Verständnis der heutigen Evolu­t ionsbiologie, S.  181. 19 Vgl. ebd., S. 187–195. 20 Vgl. ebd., S. 196 f. 17 Ebd.,

Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  257

man Goethes Einfluss auf Adolf Remane bedenke, der wiederum von Gould und Lewontin rezipiert worden sei.21 Ad (8): Der Anthroposoph und Lehrstuhlinhaber für Evolu­tions­ biologie und Morphologie an der Universität Witten/Herdecke, Wolfgang Schad, hat sich 1998 in seinem Aufsatz »Zeitgestalten der Natur« vorgenommen, »Goethes Verhältnis zur Evolu­tionsbiologie besser zu beleuchten«, da alle Wissenschaftshistoriker vor ihm Goethe nur zur idealistischen Morphologie gezählt hätten – entweder aus reiner Selbstbestätigung oder aus dem Versuch einer Überwindung.22 Goethe weise allerdings in Hinblick auf die Selektions- oder auch die Abstammungslehre Ähnlichkeiten mit Darwin auf. Die Tatsache, dass »Goethe der Realgenese mißtraute«, muss nicht als Beleg einer rein idealistischen Morphologie verstanden werden, da auch die heutige Evolu­tionstheo­rie »durch keine rezente Beobachtung, auch nicht durch experimentelle Beispiele belegt ist: Die Makroevolu­tion war nicht nur für Goethe empirisch offen, sondern ist auch für jeden heutigen Biologen zwar deskriptiv belegbar, aber nicht kausalempirisch vorführbar«.23 Schad bezieht die Spannung in Goethes naturphilosophischen Schriften nicht auf externe Referenzpunkte wie Linnés Statizismus oder Darwins Dynamismus, sondern intern auf den »Konflikt zwischen Typus und Metamorphose«.24 Beide Denkmuster stünden bei Goethe in »wechselhaftem, sowohl ihn quälendem wie fruchtbar beglückendem Widerstreit«.25 Zudem finde man in »Goethes Weltverständnis auch alle drei Paradigmen von Evolu­tion vor«: das präformistische Paradigma des Auswickelns, ein Paradigma des »Suchen[s] nach dem innovativen Verständnis von Entwicklung in den Fragen nach ontogenetischer Metamorphose und phylogenetischer Deszendenz«26 und ein zeitphilosophisches Paradigma der Heterochronie, da Zeit »als Erbteil aus der Vergangenheit, als immer gegenwärtiger Besitz und als Acker für die Zukunft«27 zur Verfügung stehe. 21 Vgl.

ebd., S. 198. Schad: Zeitgestalten der Natur, S. 345. 23 Ebd., S. 365. 24 Ebd., S. 370. 25 Ebd., S. 380. 26 Ebd., S. 382. 27 Ebd., S. 381. 22 Wolfgang

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Ad (9): Der Frankfurter Philosophieprofessor Klaus-Jürgen Grün will die im Untertitel seines Aufsatzes aus dem Jahr 2000 angekündigte Frage »War Goethe ein Evolu­tionstheoretiker?« diskutieren: »Die Frage, ob Goethe Evolu­tionstheoretiker war, muß man mit einem Ja und mit einem Nein beantworten.«28 Evolu­tionstheoretiker sei Goethe gewesen, so Grün, da »die Welt ihre Formen aus sich selbst hervorbringen könne«. Er sei aber kein Evolu­tionstheoretiker im Sinne des Präformismus, der Epigenese oder des Darwinismus gewesen, da »der eigentliche Bezug auf eine hervorbringende Kraft, auf einen Bildungtrieb [sic]«,29 fehle. Goethe und Darwin weichen zudem in ihrer Einschätzung, was eine natürliche Erklärung »für die Entstehung der Kontinente, des Lebens und der Species«30 sei, stark voneinander ab. Ad (12) Die Monographie La science goethéenne des vivants des Goetheforschers Jean-Michel Pouget weist viele Ähnlichkeiten mit der Studie von Wenzel auf. Ähnlich wie Wenzel wird Goethe in ein eigenständiges Paradigma der Lebenswissenschaft verortet, das 1749 mit Buffon beginnt und 1859 mit Darwin endet;31 und ebenso wie Wenzel versucht Pouget, Goethe als eine Zwischenfigur in dieser naturwissenschaftlichen Übergangszeit darzustellen. Diese Zwischenstellung zeige sich besonders an dem lebenswissenschaftlichen Paradigmenwechsel der 1850er Jahre, da Goethe und Darwin eine Dialektik von Kontinuität und Bruch sowohl verbinde als auch trenne: A un premier niveau, la morphologie darwinienne doit s’inscrire dans la continuité de la morphologie idéaliste en reprenant un certain nombre d’éléments dégagés par cette dernière. Mais à un second niveau, il conviendra de localiser les points de rupture liés à une vision sous-jacente des vivants radicalement différente.32

Die Kontinuität sieht Pouget bspw. allgemein in der Fortsetzung einer von Goethe geprägten Morphologie bei Darwin, speziell in der

28 Klaus-Jürgen 29 Ebd.

Grün: Goethe und Darwin, S. 124 f.

30

Ebd., S. 117. Jean-Michel Pouget: La science goethéenne des vivants, S. 13. 32 Ebd., S. 322, vgl. ferner: S. 413. 31 Vgl.

Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  259

Homologienlehre und der vergleichenden Methode.33 Rein wissenschaftspsychologisch verbinde Goethe und Darwin auch die intuitive und eklektische Theo­riebildung.34 Letztere zeige sich bei Goethe in der praktischen Fortsetzung der Paläontologie Buffons und von Schlotheims, die sich noch bis ins darwinistische Paradigma fortsetze.35 Die Tatsache, dass Darwin – u. a. beeinflusst von den Methoden der Lyell’schen Geologie – alle Transzendenzen der ideellen Morphologie Goethes zur Erklärung des Ursprungs des Seins und der Organisation eliminiert und durch immanente Prinzipien ersetzt habe, mache den Hauptunterschied zwischen beiden Paradigmen aus.36 Einen Bruch sieht Pouget auch in der Deszendenztheo­rie, denn die osteologische Verwandtschaft der Arten, die Goethe herausgearbeitet hat, sage nichts über die zeitlich bedingte Abstammung aus.37 Dadurch, dass Darwin auf einen Kampf der Arten und Goethe auf eine Art Leibniz’sche Harmonie der Natur beharre, zeige sich eine der deutlichsten Bruchlinien zwischen den beiden Paradigmen.38 Goethe stehe somit zwischen Statizismus und Evolu­tionismus (»intermédiaire aussi distincte du fixisme que de l’évolu­tionnisme«), da er eine Vermittlung von »la présente opposition entre fixisme et transformisme et le conflit qui opposait l’épigenèse et le préformationnisme«39 suche. Sowohl in Abgrenzung des prä-buffonschen als auch des post-darwinistischen Paradigmas sei dies ein »compromis entre la constance et la variation des espèces«.40 33 Vgl.

ebd., S. 321 ff., 328 (»La conception de la théorie des organes métamorphosés exposée par Darwin dans L’origine des espèces présente donc une grande affinité avec l’aperçu goethéen de 1790«), 360. 34 Vgl. ebd., S. 326, 355, 417. 35 Vgl. ebd., S. 331, 371 ff. 36 Ebd., S. 331: »Goethe et les morphologues idéalistes n’avaient pu écarter tout à fait la transcendence pour expliquer l’origine des êtres et leur fond commun d’organisation, soustrayant ainsi ces questions à l’investigation scientifique. Darwin évacue défmitivement toute transcendance en proposant une explication fondée exclusivement sur le recours à des principes immanents«. (Vgl. ferner: S. 415.) 37 Ebd., S. 341. 38 Ebd., S. 354, 356, 396. 39 Ebd., S. 348, ebenso S. 71 ff. 40 Ebd., S. 351. 260  |  Jens Lemanski 

Ad (12): 2003 hat die Germanistikprofessorin an der Universität Indiana, Gabrielle Bersier, in ihrem Aufsatz »Visualizing Carl Friedrich Kielmeyer’s Organic Forces. Goethe’s Morphology on the Threshold of Evolu­tion« Goethe mit dem Zoologen Carl Friedrich Kielmeyer verglichen: »The following essay seeks to reassert the place and importance of Kielmeyer’s 1793 speech on the balance of organic forces as a turning point in Goethe’s scientific development, one that inspired him to link his typological observations to broader physiological considerations.«41 Empirische Belege für Kielmeyers Gesetze der physiologischen Organisation (Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion), so Bersier, seien der Ausgangspunkt für Goethes vergleichende Morphologie gewesen. Bersier verzeichnet eine intensive Auseinandersetzung Goethes mit den Theo­rien Kielmeyers und resümiert, dass Goethe zum einen mit dem ›Etat des Bildungstriebs‹ an Kielmeyers Kompensationsgesetz anknüpfe42 und dass Goethe zum anderen »did come as close to endorsing Kielmeyer’s intuition of a gradual mutation of species as his morphological approach would allow«.43 Ad (13): Wolfgang Schad hat 2008 in seinem Aufsatz »Goethe als Evolu­tionist« eine stärker zugespitzte Fassung seiner Untersuchung von 1998 vorgelegt: »Über fast 200 Jahre« habe ein Goetheforscher »vom andern nur die halbe Wahrheit abgeschrieben […], ohne sich von der Quelle selbst zu überzeugen«.44 Die ganze Wahrheit besage nämlich, dass Morphologie bei Goethe ›Physiologie‹, ›Ontogenie‹ und ›Phylogenie‹ bedeute. Ähnlich wie 1998 argumentiert Schad, es sei »müßig, Goethe als idealistischen Typologen oder als realistischen Evolu­tionisten jeweils in Anspruch zu nehmen, da er beides methodisch durchexperimentierte […]. Da hilft nur noch die Akzeptanz des Paradoxon«.45 Doch Goethe sei nicht nur eine Vermittlungsgestalt, sondern vertrete auch eine »Evolu­tion im heutigen Sinne«.46 Diese könne man besonders aus Faust II entnehmen. 41 Gabrielle Bersier: Visualizing Carl Friedrich Kielmeyer’s Organic Forces,

S. 18.

42

Ebd., S. 26. Ebd., S. 28. 44 Wolfgang Schad: Goethe als Evolu­t ionist, S. 105. 45 Ebd., S. 109, vgl. ferner: S. 121. 46 Ebd., S. 113. 43

Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  261

Bspw. zeige die Homunculus-Scene schon eine »vorausnehmende Prophetie der heutigen Reproduktionsmedizin«.47 Im zweiten Teil dieser Tragödie »kommt uns Goethe als Evolu­tionist am direktesten entgegen«.48 Ad (14): 2011 hat Manfred Wenzel einen Aufsatz, erneut mit dem Titel »Goethe und Darwin«, publiziert. In diesem Aufsatz diskutiert Wenzel Themen, die zwar eng an seine bisherigen Studien anknüpfen, aber zum Teil dennoch einen neuen Aspekt eröffnen. Im Hinblick auf die systematische Begründung einer Vorläuferschaft Goethes zu Darwin relativiert Wenzel seinen ursprünglichen Interpretationsstandpunkt ein Stück weit: So meint er bspw., dass die »Zwischenkieferentdeckung für Goethe weniger auf eine Annäherung von Mensch und Tier« abzielte »als vielmehr auf eine umfassende Harmonie in der Natur«.49 Die Urpflanze sei nur eine »zunächst real, später bildhaft oder ideell aufgefasste Zentralform«50 gewesen und betreffe die Individualentwicklung, die als stammesgeschichtliche Urform »von Ernst Haeckel und seinen Adepten krass missdeutet«51 wurde. Ähnlich wie Schad52 glaubt Wenzel, dass es auch in der Goetheforschung eine Fehldeutung in Bezug auf den Pariser Akademiestreit gebe, da es sich bei diesem »um eine Aus­ einandersetzung über zwei verschiedene Typenlehren und nicht um einen Streit zwischen Typen- und Abstammungslehre« handle.53 Abschließend hält Wenzel an seiner bereits 1982 publizierten These einer Einordnung Goethes in eine Übergangsepoche der Verzeit­ lichung bzw. Historizität fest:54 ›Verdächtige‹ Formulierungen – wie man sie im Werk universaler Denker wie Goethe oder auch Herder reihenweise findet – sollten nicht vorschnell zu Vorläuferthesen gebraucht werden, sondern gerade den Blick für eine differenzierte Analyse schärfen!55 47

Ebd., S. 125. Ebd., S. 127. 49 Manfred Wenzel: Goethe und Darwin (2011), S. 213. 50 Ebd., S. 213. 51 Ebd., S. 214, vgl. ferner: S. 219. 52 Vgl. Wolfgang Schad: Zeitgestalten der Natur, S. 166. 53 Manfred Wenzel: Goethe und Darwin (2011), S. 216. 54 Vgl. ebd., S. 217 f. 55 Ebd., S. 219. 48

262  |  Jens Lemanski 

3.1.3 Detaillierte Themen der Goetheforschung

Die in diesem Kapitel aufgestellte Tabelle (s. folgende Doppelseite) gibt einen detaillierteren Überblick über die strittigen Themen (Vor­spalte) in der Forschungsliteratur (Kopfzeile). Die Zeichen  und    im Tabellenfeld geben an, ob Goethes Rolle in der Geschichte der Evolu­tionstheo­rie von der entsprechenden Forschungsliteratur und bezüglich des jeweiligen Themas positiv oder negativ bewertet wird. Die Ziffern dahinter geben die Seitenzahlen der Forschungsliteratur an. Sind die Zeichen von einem Kreis umgeben –  bzw.  –, so ist damit eine abgeschwächte oder nicht ganz eindeutige Bewertung gemeint. Die Tabelle zeigt zum einen die Vielseitigkeit der Themen und zum anderen die unterschiedliche Fokussierung und Bewertung der Themen in der Forschungsliteratur. Aus Platzgründen verzichte ich hier auf eine genaue Besprechung der Themen. Die meisten zu Schlagwörtern zusammengefassten Themen sind in der Wissenschaftsgeschichte der Biologie bekannt und können einfach recherchiert bzw. an den entsprechend angegebenen Textstellen der Forschungsliteratur nachgelesen werden.

3.2  Der Stand in der Schopenhauerforschung 3.2.1  Primärtexte Schopenhauers

Während bei Goethe von der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung bislang wohl nahezu jeder Text zu Interpretationszwecken herangezogen wurde, ist die Textauswahl bei Schopenhauer überschaubarer. Ohne einen Vergleich zu den ersten beiden Auflagen der Jahre 1818 und 1844 wurden in der Forschung bes. die §§ 25–29 der dritten Auflage seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung I von 1859 rezipiert, in denen Schopenhauer vor allem die Stufen der Objektivation des Willens (nach klassischer naturphilosophischer Terminologie: die scala naturae) und die Teleologie behandelt. Hier sehen viele Autoren auch eine Vorwegnahme darwinistischer Theo­rieelemente, die mit Stichwörtern wie ›struggle for existence‹, ›survival of the fittest‹ und auch ›Adaptionismus‹ Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  263

umschrieben werden können. Aus der zweiten Auflage (1854) der erstmals 1836 erschienen Schrift Ueber den Willen in der Natur ist besonders das Kapitel »Vergleichende Anatomie« analysiert worden, das als eine Ergänzung zur Teleologie von § 28 des Hauptwerks gelesen werden kann. An mehreren botanischen und zoologischen Beispielen Schopenhauers sehen Interpreten besonders Hinweise zur Deszendenz- und Anpassungslehre sowie eine Kritik zeitgenössischer Naturforscher wie Cuvier, Lamarck, Geoffroy Saint-Hilaire Detaillierte Themen der Goetheforschung (Kap. 3.1.3)

Themen

Forschungslit.

Wenzel 1982

Stufenfolge

 57

Deszendenzlehre

  44, 85, 157

Epigenese

 52, 82

Präformismus

 52, 82

Artenkonstanz

  122

Lieb 1986

  183

  346   346, 364   360   346, 359   346

biogenetisches Grundgesetz Kompensationsgesetz (Naturhaushalt)

Schad 1998

  66, 93, 99, 117   189

Dollosches Gesetz (Irreversibilität)

 358

Willistonsche Regel Dynamismus

 139

Selektion Anpassung

 132, 139  263

Saltationismus

 54

Mutationismus

 54

Teleologie

  85, 99 f, 105,

Holismus Bildungstrieb Gedankenblitze 264  |  Jens Lemanski 

109, 197, 236

 363

  191   187

u. a. Ebenfalls als ergänzende Untersuchungen zum Hauptwerk ist 1844 erstmals Die Welt als Wille und Vorstellung II erschienen, in denen man besonders in den Kapiteln 24, 26–28, 44 Parallelen zu Evolu­tionstheoretikern gefunden hat und die vor allem die Themen ›Materie‹, ›Teleologie‹, ›Instinkt‹, ›Wille zum Leben‹ sowie ›Geschlechtsliebe‹ behandeln. Besonders der letzte Aspekt bietet Anknüpfungspunkte des Vergleichs zu Darwins ›sexual selection‹ und zum modernen Mutationismus. Im zweiten Band der 1851 er-

Grün 2000

Pouget 2001

Bersier 2003

Schad 2008

Wenzel 2011

 143,  340

  341

 44  21  21

  109   107

 345

  339

  23   25

  126  214

  396  120  353

  113  27

  365   184, 357

  24

 122

 213

 21

  124   326, 355

Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  265

schienen Parerga und Paralipomena II wurde das Kap. 6 verstärkt in der Forschung untersucht, in das Schopenhauer allgemeine Ergänzungen zu seinem naturphilosophischen System eingearbeitet hat. Von der Forschung ist besonders die darin zu findende Anthropogenese von § 91 diskutiert worden, in der Schopenhauer den Begriff ›generatio in utero heterogeneo‹ (Zeugung in einem heterogenen Uterus) einführt und in der er erklärt, die ersten Menschen seien in Asien vom Pongo und in Afrika vom Schimpansen geboren worden. Andererseits ist in der Forschung mehrfach die Möglichkeit einer Evolu­tionstheo­rie bei Schopenhauer anhand einer Textstelle aus § 174 (Kap. XV) in Frage gestellt worden, da es dort heißt, dass die Menschheit nur 6000 Jahre alt sei. Zu beachten ist, dass entweder Schopenhauer eigenständig die meisten seiner Texte in den späteren Auflagen verändert und ergänzt hat oder aber spätere Editoren und Herausgeber erhebliche Änderungen an den Werken vorgenommen haben. Die hier diskutierten Forschungsarbeiten beziehen sich fast ausschließlich auf die letzten oder sogar von fremder Hand veränderten Auflagen der Werke.56

3.2.2  Hauptthesen der Schopenhauerforschung

Wie in der Goetheforschung lässt sich auch die evolu­tionstheo­­ re­tische Schopenhauerforschung in zwei Grundthesen aufteilen: Die These, Schopenhauer sei Evolu­ tionstheoretiker, vertreten (1)  Asher 1871, (3) Noiré 1875, (5) Prochnow 1910, (7) Lovejoy 1911, (8) Lubosch 1915, (9) Zambonini 1935, (10) Autrum 1969, (13) Steppi 1987, (14) Schröder 1989, (17) Adam 2011 und (18) Wuketits 2016. Die These, Schopenhauer sei kein Evolu­tionstheoretiker, vertreten hingegen (12) Vandenrath 1976 und implizit auch (15) Rhode 1991. Im Folgenden sollen die Hauptargumente dieser Studien dargestellt ­werden.

56 Einen

allgemeinen Überblick zu den einzelnen Schriften findet man in Daniel Schubbe / Matthias Koßler (Hg.): Schopenhauer-Handbuch, allerdings ohne konkreten Bezug zur Evolu­t ionstheo­rie. 266  |  Jens Lemanski 

Ad (1): Die Forschungsfrage, ob Schopenhauer eine Verwandtschaft mit Evolu­tionstheoretikern aufweist, beginnt 1871 mit dem Aufsatz »Schopenhauer and Darwinism« des Schopenhauer-Freundes David Asher. Der Artikel ist in drei Teile eingeteilt: Nach einer längeren Einleitung mit bio- und bibliographischen Informationen zu Schopenhauer (S. 312–320) nimmt Asher sich vor, dem Leser »the substance of that remarkable chapter«, nämlich Kap. 44 aus der Welt als Wille und Vorstellung II, vorzustellen (S. 320–329). In diesem Kapitel sieht Asher eine durch die individuelle Geschlechtsliebe hervorgerufene Selektion, die aber zuletzt »nothing but the sense of the race«57 sei. Darwin hat sich 1874 – vermittelt durch Asher – explizit auf Schopenhauer und dessen Idee bei seiner Analyse der ›sexual selection‹ berufen.58 Obwohl Asher 1871 wohl noch irrtümlich glauben musste,59 dass beide Denker sich selbst nicht gegenseitig rezipiert hätten, sieht er aus systematischen Gründen dennoch vor allem in Schopenhauer einen »philosopher who has so wonderfully anticipated his [sc. Darwin’s] theory, and has taught deductively what Darwin has proved inductively«.60 Der in dem dritten Teil der Studie (S. 329–332) vorgestellte systematische Grund für diese Vorwegnahme besteht darin, dass derjenige Prozess, den Darwin als ›unconscious selection‹ bezeichne, identisch sei mit Schopenhauers ›unbewußten Rücksichten‹ in der Geschlechtsliebe.61

57 David

Asher: Schopenhauer and Darwinism, S. 325 f. Charles Darwin: The Descent of Man, S. 586. 59 Darwin hatte Schopenhauer, wie bereits oben erwähnt, erst über ­A sher kennengelernt. Der einzige Hinweis, dass Schopenhauer Darwins Theo­rie kannte, geht auf Schopenhauers Brief an Adam von Doß vom 1. 3. 1860 zurück (vgl. Arthur Schopenhauer: Philosophie in Briefen, S. 191 ff.). Obwohl Asher noch im Sommer des Jahres 1860 mit Schopenhauer korrespondierte, ist Darwins Theo­rie zu dieser Zeit noch kein Thema für Asher. Der besagte Brief an von Doß wurde erst 1873 publiziert (vgl. Julius Frauenstädt: Einleitung, S. XX). 60 David Asher: Schopenhauer and Darwinism, S. 330, vgl. ferner: S. 331. – Hans Herrig: Schopenhauer und Darwin, S. 63 f., sieht in seinem ursprünglich 1872 gedruckten Aufsatz ebenfalls eine thematische Ähnlichkeit zwischen Darwins Theo­rie der geschlechtlichen Zuchtwahl und Schopenhauers Kapitel über die Geschlechtsliebe, bemerkt aber auch, dass dieses »im Grunde nichts Neues enthält und nur ausführt, was Novalis […] ausdrückte«. 61 Vgl. David Asher: Schopenhauer and Darwinism, S. 330. 58 Vgl.

Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  267

Ad (3): Der Mainzer Philosoph Ludwig Noiré hatte sich 1875 in seinem Buch Der monistische Gedanke vorgenommen, differenziert »den Schopenhauer’schen Gedanken in seinem Verhältnisse zur Entwicklungslehre zu prüfen«.62 Ähnlichkeiten sieht Noiré 1. in der Entwicklung der scala naturae, 2. im Kampf ums Dasein (bellum omnium contra omnes), in der Schopenhauer’schen ›Selbstentzweiung des Willens‹ und der darwinistischen ›Divergenz der Formen‹ sowie 3. in der Teleologie.63 Die »große Ueberlegenheit des Schopenhauer’schen Gedankens«64 zeige sich beispielsweise darin, dass seine Entwicklungslehre dasjenige begrifflich erkläre, was andere Evolu­tionstheoretiker ansonsten nur als mechanische oder bewusstlose Prozesse darstellen würden.65 Allerdings gebe es auch »innere Widersprüche in der Lehre des großen Denkers«,66 die sich in den Ausführungen zur Artenkonstanz, zu den Naturgesetzen, zur Charakter- und zur Deszendenzlehre zeigen und in Schopenhauers Befangenheit zum kantischen Idealismus oder zum Pessimismus gründen.67 Somit zeige Schopenhauers Entwicklungslehre zugleich sowohl »unangreifbare […] Größe und Wahrheit« als auch »Einseitigkeit«.68 Ad (5): Ebenso wie Noiré sieht auch der Berliner Lehrer und Naturforscher Oskar Prochnow 1910 in seiner Schrift Die Theo­rien der aktiven Anpassung Schopenhauers Anknüpfung an Kants Idealismus oder auch Platons Ideenlehre als eine Art Selbstmissverständnis,69 da Schopenhauers System ein zum »Zwecke der Erklärung der Welt komponiertes Aggregat von Hypothesen«70 sei, in dem man unter anderem auch eine Verwandtschaft zur Entwicklungslehre finde. Prochnow vertritt die Hauptthese, dass Lamarcks »inneres Noiré: Der monistische Gedanke, S. 238. ebd., S. 238–253. 64 Ebd., S. 245. 65 Vgl. ebd., S. 246. 66 Ebd., S. 253. 67 Vgl. ebd., S. 253–272. 68 Ebd., S. 272. 69 In Noirés, Prochnows, Lovejoys und auch in Schröders Untersuchungen kann man ohne große Interpretationskünste eine Vorwegnahme der durch Volker Spierling bekannt gewordenen These eines Schopenhauer’schen Selbstmissverständnisses sehen. 70 Oskar Prochnow: Die Theo­r ien der aktiven Anpassung, S. 16. 62 Ludwig 63 Vgl.

268  |  Jens Lemanski 

Gefühl« oder »Begierde«71 identisch sei mit Schopenhauers Willen, da beides »von innen heraus« entstünde und eine aktive Anpassung bewirke. Auf ganz anderem Weg als Lamarck kam Schopenhauer »zu demselben Ergebnis: der Organismus ist von innen heraus geworden«.72 Schopenhauers zeitliche Deszendenzlehre orientiere sich an der aufsteigenden Ordnung der scala naturae, da »in der Zeit jeder höher organisierte Zustand der Materie erst einem rohe­ ren gefolgt« sei.73 Aufgrund des von Schopenhauer vorweggenommenen Kampfs der Arten, des Haeckelschen sowie Dolloschen Gesetzes u. v. a. erfuhr der Lamarckismus durch Schopenhauer, so Prochnow, »eine gewaltige, leider bis heute bei den Biologen noch wenig bekannte Ausgestaltung«.74 Ad (7): Der berühmte Begründer der Disziplin ›Ideengeschichte‹, Arthur O. Lovejoy, hatte 1911 in seinem Aufsatz »Schopenhauer as an Evolu­tionist« die These einer veränderten Lehre im Werk Schopenhauers eingeführt,75 die später auch ansatzweise von Lubosch, Autrum und Schröder gestützt wurde und aktuell von Wuketits adaptiert wird. Eine Änderung in der Lehre zeige sich darin, dass der frühe Schopenhauer eine Artenkonstanz aus der platonischen Ideenlehre ableite,76 der späte Schopenhauer aber ab ca. 1850 evolu­ tionistische Aspekte der Phylogenese und des Mutationismus vertreten habe:77 »In Der Wille in der Natur in 1854 we find Schopenhauer passing a partly unfavorable criticism upon Lamarck, which at first sight undeniably reads as if he at that date still retained the non-evolu­tionistic position of his earlier treatise.«78 Lovejoy argu71

Ebd., S. 6 f. S. 4, vgl. ferner: S. 8. 73 Ebd., S. 23. 74 Ebd., S. 70, vgl. ferner: S. 46. 75 Aufgrund des unkritischen Glaubens der Interpreten an die von Schopenhauer versicherte Einheitlichkeit seines Systems ist die Frage nach einer ›veränderten Lehre‹ im Lebenswerk eines Philosophen, wie sie allein in der Forschung zu Schopenhauers Zeitgenossen Fichte und Schelling intensiv diskutiert wird und in der Schopenhauerforschung bislang aber fast nur im Zusammenhang mit der Naturphilosophie erhoben wurde, philologisch überaus berechtigt. Die gesamte Schopenhauerforschung steckt hier philosophisch und philologisch noch in den dogmatischen Kinderschuhen. 76 Vgl. Arthur O. Lovejoy: Schopenhauer as an Evolu­t ionist, S. 199 f. 77 Vgl. ebd., S. 210, 213, 219. 78 Ebd., S. 201. 72 Ebd.,

Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  269

mentiert, dass Schopenhauers Deszendenzlehre und Willensmetaphysik nach der »evolu­tionistic transformation of his system«79 weder mit dem cartesianischen Mechanismus, dem lamarckistischen Adaptionismus, dem theologisch geprägten Präformismus noch mit Darwins »mechanical pressure of external forces« konform gehe: »Thus, though Schopenhauer incidentally shows certain affinities with Darwinism, he is much more truly to be regarded as the protagonist in nineteenth century philosophy […].«80 Ad (8): Der einflussreiche Würzburger Anatom Wilhelm L ­ ubosch schrieb – wie der Titel seines Aufsatzes von 1915 ankündigt – über einen seiner Vorgänger, nämlich »Über den Würzburger Anato­ men Ignaz Döllinger«, und erklärte, dass »man Schopenhauer trotz scheinbarer Anklänge seiner Lehren, an die darwinistische Naturerklärung dennoch von Darwin durchaus zu sondern hat«.81 Aufgrund der Ablehnung der Epigenetik und des Lamarckismus stehe Schopenhauer »im Einklang mit der Naturwissenschaft seiner Zeit«.82 Bereits Lovejoy hatte auf die bedeutsame Textstelle aus Kap. VI der Paralipomena hingewiesen, in der Schopenhauer von einer ›generatio in utero heterogeneo‹ spricht.83 Auch Lubosch erklärt, dass diese Stelle »höchst bedeutsam« sei, da in ihr erklärt werde, »wie aus einer Schlange eine Eidechse, aus einem Habicht ein Adler, aus einem Affen ein Mensch«84 werden konnte. Es erscheint wie eine Kombination von Lovejoys und Ashers Thesen, wenn Lubosch daraufhin behauptet, dass Schopenhauer »das ›Anders-Werden‹ nicht in die Außenwelt, wie Darwin, aber auch nicht in das Streben des erwach79

Ebd., S. 219. Ebd., S. 221. 81 Wilhelm Lubosch: Über den Würzburger Anatomen Ignaz Döllinger, S. 106. 82 Ebd., S. 108, vgl. ferner: S. 122, 126. 83 Vgl. Arthur O. Lovejoy: Schopenhauer as an Evolu­tionist, S. 208. Die Textstelle ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrfach aufgegriffen und diskutiert worden, wobei fast alle Interpretationen offensichtlich von Paul Schulz: Arthur Schopenhauer in seinen Beziehungen zu den Naturwissenschaften, S. 280–285, abhängen. Allein Hans Herrig: Schopenhauer und Darwin, S. 52, spielt kurz und abwertend auf diese Textstelle an und bezeichnet sie als »kindliche Theo­rie« und »mythologische Vorstellung«. 84 Wilhelm Lubosch: Über den Würzburger Anatomen Ignaz Döllinger, S. 123, mit Anm. 22. 80

270  |  Jens Lemanski 

senen Tieres, wie Lamarck, sondern in die zeugende Kraft der Eltern verlegt«.85 Ad (9): Der 1935 posthum übersetzte und veröffentlichte Aufsatz »Schopenhauer und die moderne Naturwissenschaft« des berühmten italienischen Chemikers und Mineralogen Ferruccio Zambonini geht auf eine akademische Rede zurück, die er am 24. November 1910 an der Universität Sassari hielt. Zambonini erklärt, Schopenhauer habe viele der Darwin’schen Ideen »vorausgesehen«,86 bspw. die Idee der »fortschreitenden Entwicklung der Lebensformen«,87 die lamarckistische Abhängigkeit der Entwicklung von den tierischen Verhaltensweisen, die »Ähnlichkeit des Baus der Wirbeltiere« mit Bezug auf einen Grundtypus im Sinne von Étienne Geoffroy Saint-Hilaire sowie Darwins und Empedokles’ »Idee vom Kampfe ums Dasein«.88 Obwohl durch diese Ideen die deszendenztheo­ retischen Interpretationen Schopenhauers gerechtfertigt seien, zeige sein Gesamtwerk aber auch Aspekte der Artenkonstanz, der Irreduzibilität höherer Willensausprägungen auf niedere und der Kritik an einer zeitlich verorteten Urtiervorstellung.89 Schopenhauer konnte sich die Entstehung der Arten letztlich nur saltationistisch und mutationistisch mittels einer »generatio aequivoca in utero heterogeneo« vorstellen.90 Da damit auch die »innigen verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Affen und dem Menschen« erfasst worden seien, gebühre Schopenhauer »ein bleibendes Gedächtnis in der Geschichte der biologischen Theo­rien«.91 Ad (10): Ähnlich wie Lubosch vertrat auch der Zoologe Hansjochen Autrum 1969 in dem Aufsatz »Der Wille in der Natur und die Biologie heute« die Auffassung, dass »Schopenhauer die großen biologischen Werke seiner Zeit« kannte, um »sie an seiner Metaphysik zu spiegeln«.92 Autrums Darstellung beginnt mit Schopenhauers Kritik an Lamarcks phylogenetisch verstandenem Urtier, 85

Ebd., S. 124. Zambonini: Schopenhauer und die moderne Naturwissen­ schaft, S. 62. 87 Ebd., S. 63. 88 Ebd., S. 64. 89 Ebd., S. 65 f. 90 Ebd., S. 66 f. 91 Ebd., S. 67 f. 92 Hansjochen Autrum: Der Wille in der Natur und die Biologie heute, S. 89. 86 Ferruccio

Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  271

das konsequenterweise »ohne alle Gestalt und Organe«93 hätte sein müssen. Dies könne aus Schopenhauers Sicht nicht real bzw. lebensfähig sein, da ein derartiges mangelhaftes Urwesen inzwischen umgekommen und ausgestorben sein müsste. Diese Kritik und die Erkenntnis der osteologischen Verwandtschaft zwischen Hühner- und Menschenschädel bringe Schopenhauer zu einer Deszendenztheo­rie,94 in der – laut Autrum – »vor Darwin […] die Abstammung durch Umwandlung der Arten anerkannt«95 wurde. Obwohl es auch innere Widersprüche in Schopenhauers Evolu­ tionslehre gebe,96 konzentriert sich Autrum im Rest des Aufsatzes auf eine Erklärung, welche Entwicklungen heute erforscht würden (bspw. abiogene Evolu­tion von Biomolekülen, genetische Mutationen, demographische Entwicklungen), die Schopenhauer in seinem Wissenschaftsbild noch habe ablehnen müssen und die somit keine Widersprüche zu seiner Theo­rie seien. Ad (12): Der Philosoph Johannes Vandenrath berief sich 1976 in seinem Aufsatz »Schopenhauer und die heutige Evolu­tionslehre« zunächst auf Arthur Hübschers Aussage, »ebensowenig wie Schelling kann Schopenhauer ›als Vorläufer der Deszendenztheo­rie in Anspruch genommen werden‹«,97 da beide eine Art platonische Ideenlehre annehmen würden, die sich nur auf Analogien beziehe: »Die Deszendenzlehre kam erst durch das 1859, ein Jahr vor dem Tode Schopenhauers erschienene Buch Darwins […] zum Durchbruch […].«98 Durch Goethe angeregt, habe Schopenhauer zwar Lamarcks Urtier-Theo­rie zu Ende gedacht.99 Aber gegen eine Des­ zendenz- und Evolu­tionstheo­rie bei Schopenhauer spreche vor allem, dass »er mit seinen Zeitgenossen immer noch glaubte, die Menschheitsgeschichte sei kaum mehr als sechstausend Jahre alt«.100 Schopenhauer: Ueber den Willen in der Natur, S. 51.   94 Vgl. Hansjochen Autrum: Der Wille in der Natur und die Biologie heute, S. 90, 92.   95 Ebd., S. 91.   96 Vgl. ebd.   97 Johannes Vandenrath: Schopenhauer und die heutige Evolu­t ionslehre, S. 40.   98 Ebd., S. 40, anders aber: S. 49.   99 Vgl. ebd., S. 42. 100 Ebd., S. 44, vgl. ferner: S. 46. – Ähnlich hatte Paul Schultz: Arthur Scho­ penhauer in seinen Beziehungen zu den Naturwissenschaften, S. 283, argu  93 Arthur

272  |  Jens Lemanski 

Da Schopenhauer demnach den »durch unvorstellbar lange Zeiträume sich vollziehenden Vorgang der Entwicklung einer Art durch Mutation, Vererbung und Auslese nicht kannte«,101 habe er sich vorgestellt, der Mensch sei in Asien vom Orang-Utan und in Afrika vom Schimpansen geboren worden, wie es in Kap. 6 der Paralipomena heißt. Vandenrath urteilt sogleich: »Die Stelle zeigt besonders deutlich, wie weit Schopenhauer davon entfernt war, sich den wirklichen Vorgang der Entwicklung der Arten vorzustellen«, denn nach »den jetzigen Vorstellungen hat sich der Mensch in Afrika, aus einer gemeinsamen Ahnenreihe mit dem Schimpansen und dem Gorilla, nicht aber mit dem in Asien beheimateten Orang-utan [sic!] entwickelt«.102 Ad (13): Der Philosoph Christian Steppi hat in den Kapiteln »Die Stufung des Welt-Modells« und »Naturphilosophie und Anthropogonie« seiner Dissertationsschrift Der Mensch im Denken Arthur Schopenhauers mehrere Bezüge Schopenhauers zur Evolu­tionstheo­ rie diskutiert. Steppi beschreibt zunächst Schopenhauers platonisch anmutendes Vier-Stufen-System mit dem 1. Mineralischen, 2. Vege­ tabilischen, 3. Animalischen und 4. Humanen. In dem biotischen Teil (2.-4.) bilden sich die Kräfte ›Reproduktion‹, ›Sensibilität‹ und ›Irritabilität‹ zunehmend differenziert aus.103 Da Schopenhauer beschreibe, wie die Organe des Animalischen perfekt auf konkrete Zwecke ausgerichtet seien und wie die Übergänge im biotischen Teil sich abhängig voneinander entwickelt hätten, antizipiere er »ganz deutlich« und »in hervorragender Weise« die (neo)darwinistische Anpassungs- und Selektionslehre, das biogenetische Grundgesetz Haeckels, die »Deszendenz des Menschen vom Affen« wie Darwin und »bereitet hier den späteren Mutationsbegriff Darwins vor«.104 Nur hinsichtlich der antihistorischen Betrachtung der Stufenfolge und Teleologie unterscheide sich Schopenhauer von Darwin.105 mentiert, Schopenhauer fehle »das Organ für historische Betrachtung«, weshalb er von Lyell und Darwin zu sondern sei. 101 Ebd., S. 49. 102 Ebd., S. 49 f. 103 Vgl. Christian Steppi: Der Mensch im Denken Arthur Schopenhauers, S. 348. 104 Ebd., S. 353 f., 371, 373, anders: S. 376. 105 Vgl. ebd., S. 361, ferner: S. 363. Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  273

Besonders die französischen Deszendenzlehren (Lamarck, Geoffroy) lehne Schopenhauer aber explizit ab und sympathisiere »weitestgehend« mit der Katastrophentheo­rie Cuviers,106 besonders da die vier Stufen nacheinander bei jeweils einer erdgeschichtlichen Katastrophe entstanden seien, so dass zuletzt vor 6000 Jahren die Menschheit sich entwickelt habe.107 Im Unterschied zu allen anderen Forschern behauptet Steppi zuletzt: Der »Cuvier-›Schüler‹ Schopenhauer hat sich gegen die neuesten Entwicklungen in den Naturwissenschaften seiner Zeit zunehmend mehr abgeschottet«, und zudem sei Schopenhauer auch Präformist gewesen.108 Ad (14): Christoph Schröder hat 1989 in seiner Dissertationsschrift Evolu­tionstheo­rie und Willensmetaphysik die These vertreten, dass Schopenhauers Philosophie in frühen Jahren aufgrund eines platonischen Selbstmissverständnisses nur latente evolu­tionistische Züge aufgewiesen habe,109 aber in den späteren Werken trete »dieses evolu­tionistische Moment der Willensmetaphysik verstärkt hervor«.110 Die platonische Ideenlehre der Frühwerke führe in Zusammenhang mit den evolu­tionistischen Aspekten in Aporien, Widersprüche und Paradoxien, die erst im Spätwerk dadurch gelöst würden, dass der Platonismus in den Hintergrund trete. Einen zentralen evolu­tionistischen Aspekt sieht Schröder in Schopenhauers Versuch einer Beantwortung der »grundlegende[n] Fragestellung der neuzeitlichen und rein naturwissenschaftlichen [sic] begründeten Evolu­tionstheo­rie […], nämlich die, wie Zweck­mäßigkeit ohne Zweckursache entstehen kann«.111 Schröder geht auf mehrere Details ein und resümiert: Schopenhauer »greift zahlreiche evolu­tionstheo­retische Ansätze, die damals in den verschiedenen Zweigen der Naturwissenschaft entwickelt wurden, auf«.112 An bestimmten Detailfragen bestätige sich »die Richtigkeit der von mir [sc. Chr. Schröder] vertretenen Ansicht, daß Schopenhauers Lehre vom ›Anpassen der Ideen‹ keineswegs auf einer platonisierenden 106 Ebd.,

S. 366, ferner: S. 375. Vgl. ebd., S. 367 ff. 108 Ebd., S. 377. 109 Vgl. Christoph Schröder: Evolu­tionstheo­r ie und Willensmetaphysik, S. 4. 110 Ebd., S. 6. 111 Ebd., S. 50. 112 Ebd., S. 64. 107

274  |  Jens Lemanski 

Weltanschauung, sondern auf einem evolu­tionistischen Naturverständnis beruht«.113 Ad (15): Das Ziel von Wolfgang Rhodes 1991 gedruckter Dissertation Schopenhauer heute war die Beantwortung der »Frage, auf welche Art und Weise die naturwissenschaftlichen Komponenten ihre metaphysischen Funktionen bei Schopenhauer erfüllen«.114 In einem Kapitel zur Abstammungslehre kontrastiert Rhode Schopen­hauer mit Blumenbach, Lamarck und Cuvier. Schopenhauers vitalistischokkulte Definition des Lebenskraftbegriffs »stimmt mit der von Blumenbach gegebenen [sc. der Definition des Bildungstriebs] im wesentlichen überein«.115 Wie Vandenrath und Steppi glaubt Rhode, dass Schopenhauer die Theo­rie Lamarcks ablehne, da ein »Alter des homo sapiens von 6000 Jahren« nicht ausreiche, um dessen schrittweise Evolu­tion zu erklären.116 Wie Steppi behauptet auch Rhode, dass Schopenhauer die Abstammung des Menschen mit Cuviers Kataklysmentheo­rie erkläre: »Die Erdgeschichte verlief in einem ständigen Wechsel von Naturkatastrophen und Entwicklung des Lebens bis zu immer höheren Objektivationsstufen des Willens.«117 Ad (17): Der Paläontologe Karl Dietrich Adam hat 2011 in seinem Buch Die Abstammung des Menschen die These vertreten, dass die »veröffentlichten gehaltvollen und aussagekräftigen phylogene­ tischen Überlegungen von Arthur Schopenhauer weder in den Natur- noch in den Geisteswissenschaften die ihnen gebührende Beachtung [fanden] – ein Mißstand, dem zu begegnen sich die vorliegende Schrift [sc. Die Abstammung des Menschen] zur Aufgabe gemacht hat«.118 Bislang, so Adam, hätten nur vier Forscher überhaupt zur Kenntnis genommen, dass es eventuell eine Evolu­ tionstheo­rie bei Schopenhauer geben könnte: Schultz, Zambonini, Schröder und Spierling.119 Die Vokabeln, mit denen Adam diese Interpretationen und Interpreten bewertet, reichen von ›fragwür113

Ebd., S. 105. Wolfgang Rhode: Schopenhauer heute, S. 2. 115 Ebd., S. 63, vgl. ferner: S. 68. 116 Ebd., S. 65. 117 Ebd., S. 67. 118 Karl Dietrich Adam: Die Abstammung des Menschen, S. 8. 119 Ebd., S. 50 ff. Zamboninis Interpretation hängt größtenteils von Schultz ab. Spierling schreibt de facto nur auf etwa einer Druckseite etwas zu Schopenhauer und Darwin. 114

Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  275

dig‹ über ›lapidar‹ bis zu ›Philosophaster‹. Interessanterweise sieht Adam Schopenhauer als Vorläufer Darwins angesichts derjenigen deszendenztheo­retischen Textstelle,120 aufgrund derer Vandenrath eine Verwandtschaft Schopenhauers zur Evolu­tionstheo­rie abgesprochen hatte. Und während Vandenrath eine Evolu­tionslehre bei Schopenhauer glaubt ausschließen zu können, weil die Erdgeschichte und die Menschheitsgeschichte zu jung für bedeutsame Entwicklungen seien, sieht Adam in Schopenhauers Erdgeschichte einen »Myriaden und aber Myriaden währenden Ablauf«.121 Ad (18): Der österreichische Biologe und Wissenschaftstheoretiker Franz M. Wuketits erklärt in seinem 2016 veröffentlichten Aufsatz »Schopenhauer – ein skurriler Vorreiter der Evolu­tionstheo­ rie«, bei seiner Darstellung stark von Lovejoy beeinflusst zu sein: Da sich erst mit Lamarck im »18. Jahrhundert« die wissenschaftsgeschichtliche Transformation vom Statizismus zum Dynamismus vollzogen habe, sei es gar nicht verwunderlich, dass Schopenhauer nur in den frühen Jahren eine Konstanz der Arten sowie eine Urzeugung vertreten habe.122 Ebenso wie Lovejoy sieht auch Wuketits Schopenhauers Übergang von der Artenkonstanz zum Artenwandel in den 1830er Jahren, die sich im Kontrast zwischen der ersten Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung und der 1854 veröffentlichten Schrift Über den Willen in der Natur zeige. Aufgrund späterer evolu­tionistischer Ideen wie etwa dem Artenwandel, dem Mutationismus, der Urzeugung im fremden Schoß, der Parallelentwicklungshypothese in Bezug auf neue Pflanzen- und Tierarten, dem Wettbewerb ums Dasein etc. könne Schopenhauer »ein Vertreter des Evolu­tionsdenkens und ein Vorreiter der Evolu­tionstheo­ rie im engeren Sinn« genannt werden.123 Da Wuketits aber auch »Inkonsequenzen« und »obskure Vorstellungen« bei Schopenhauer sieht (bspw. Willensmetaphysik, Animalischer Magnetismus), sei Schopenhauer ein skurriler Vorreiter der Evolu­tionstheo­rie; daher sei Schopenhauer auch als »›Evolu­tionist‹ […] weithin unbemerkt geblieben«.124 Karl Dietrich Adam: Die Abstammung des Menschen, S. 14 f., 26 f. S. 46, vgl. ferner: S. 31 ff. 122 Franz M. Wuketits: Schopenhauer, S. 111. 123 Ebd., S. 117, ferner: S. 112. 124 Ebd., S. 117. 120 Vgl.

121 Ebd.,

276  |  Jens Lemanski 

3.2.3  Detaillierte Themen der Schopenhauerforschung

Ebenso wie in Kapitel 3.1.3 habe ich auch hier wieder eine Tabelle erstellt (s. folgende Doppelseite), die es dem Rezipienten erlauben soll, gezielt Themen in der Forschungsliteratur nachschlagen zu können und sich einen Überblick über allgemeine Forschungsurteile bezüglich einzelner Themen zu verschaffen. Aufgrund mehrdeutiger Urteile in der Forschungsliteratur musste diese Tabelle um eine dritte Kategorie ( für ›unbestimmt‹, ›uneindeutig‹ o. ä.) erweitert werden. Wie in Kap. 2.1.3 zeigt auch diese Tabelle, wie unterschiedlich die Meinungen und Urteile in der Forschung zu bestimmten Themen ausfallen. Besonders auffällig ist zudem, dass auch widersprüchliche Aussagen zu bestimmten Themen innerhalb einer Studie auftreten (vgl. bspw. die Spalte ›Steppi 1987‹). Dies liegt z. T. daran, dass einige Forscher selektiv Textabschnitte einzelner Schriften Schopenhauers ausgewählt und nacheinander rein deskriptiv dargestellt haben. Unbemerkt wurden somit unterschiedliche Aussagen Schopenhauers ebenso unterschiedlich deskribiert. Problematisch ist dabei nicht die durch die Deskription zustande gekommene Widersprüchlichkeit der Aussagen, sondern die Subsumtion dieser unterschied­ lichen Aussagen unter eine einzige Lehre bzw. unter ein einziges System Schopenhauers, das bei fast jeder Studie – Ausnahmen wurden unter dem Stichwort ›veränderte Lehre‹ oben genannt – unreflektiert und stillschweigend prämittiert wurden.

4. Kritik des Forschungsstandes Während das Kap. 3 den Forschungsstand an Einzelstudien dargelegt hat, sollen nun in Kap. 4 diese Studien einer Kritik unterzogen werden. Ich habe mich bewusst dazu entschieden, die Darstellung von der Kritik zu trennen, um dem Rezipienten eine unabhängige Prüfung zu ermöglichen. Diese Vorgehensweise ist gerade durch die hier folgende Kritik der Forschungsliteratur motiviert worden, da bei den bisherigen Studien mehrfach problematisiert werden kann (siehe auch unten, Kap. 5), dass die jeweilige Darstellung stark durch die Kritik und den Standpunkt des Interpreten beeinflusst worden ist. Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  277

kosmische Evolu­tion

 46

 65

  68

 361,  368

Stufenfolge

  114   26

  67

  55, 101

 343

  33

 66

  74, 107, 155   366,   373

Epigenese

 68

  90

  377

Präformismus

 68



  367, 377

 66



Themen

Deszendenzlehre

Artenkonstanz

  113

biogenetisches Grundgesetz

  28

Steppi 1987

Rhode 1991

Schröder 1989

Adams 2011

Forschungsliteratur

Wuketits 2016

Detaillierte Themen der Schopenhauerforschung (Kap. 3.2.3)

  93

  371

 67

  53

  355, 376

 67

  110, 137

  354,  374

Dollosches Gesetz (Irreversibilität) Metamorphose Dynamismus (struggle for life)

  117

Selektion Anpassung

  48

  353, 361, 377

Saltationismus

  32

Mutationismus

  114   26

Teleologie

 115

 66

Okkultismus

  117

 63

  116

Vitalismus

  113

  66

  133

  348

Anthropogenese

  118   30

  68

  114

 368,   373

 68

  116

  363,  372

  108, 113

  354,  376   361

Evolu­tionäre Erkenntnistheo­rie

  143

Kulturevolu­tion

  164

278  |  Jens Lemanski 

  68

Asher 1871

  91

Noirè 1875

 40

Prochnow 1910

 63

Lovejoy 1911

Zambonini 1935

 90

Lubosch 1915

Autrum 1969

Vandenrath 1976

 48

  44   123

  203

 25

 239, 249

  23

 270

  107   107

 40

  65

 40

  199

  253

  199

  257

  209

 90

 25

 242, 270

 26  91

  64   49

 90

 216

  64

 25

  110, 242   330

 25

  64  43

  67

 123

  210

  49

  67

  124

  210  219

 266  20

  251

  208   26

 54  43

  68

  123

 266

Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  279

4.1  Kritik der Goetheforschung

Obwohl Wenzel mehrfach ankündigt, sowohl gegen die statizis­ tische Zuordnung Goethes zu Linné als auch gegen die evolu­tio­ nistische Auslegung Goethes im Sinne Darwins zu argumentieren und stattdessen eine vermittelnde Position zwischen beiden zu suchen, bemerkt man bald, dass Wenzel fast ausschließlich gegen die Darwinzuordnung argumentiert: Goethes Naturphilosophie sei nicht phylogenetisch, sondern ontogenetisch zu verstehen;125 ›Urpflanze‹ und ›Urtier‹ seien ideelle Konstruktionen126 und als synchrone Zentralformen, nicht als diachrone Stammformen zu verstehen.127 Der Grund dafür, dass Wenzel so stark gegen eine Verbindung zwischen Goethe und Darwin argumentiert, wird nur nebensächlich in der ›Einleitung‹ angedeutet und erst im ›Ausblick‹ (Kap. 4) offensichtlich: Wenzels Interpretationsstandpunkt basiert auf der sog. ›Frankfurter Evolu­tionstheo­rie‹.128 Da sich Wenzel im ›Vorwort‹ als Schüler von Wolfgang F. Gutmann, dem Hauptvertreter dieser Hydrauliktheo­rie der Evolu­tion, zu erkennen gibt und Gutmann und die Frankfurter Evolu­tionstheoretiker entschiedene Darwin-Gegner sind, liegt der Verdacht nahe, dass es die Motivation von Wenzels Studie war, Goethes Vorläuferschaft zu Darwin zu verneinen, um Goethe dadurch für die Frankfurter Evolu­tionstheo­ rie attraktiver erscheinen zu lassen. Auch wenn es viele wertvolle Darstellungen in Wenzels Studie(n) gibt, setzt spätestens bei der Erkenntnis dieses Interpretationsstandpunktes der Verdacht einer durchgängigen und methodischen Voreingenommenheit des Interpreten gegenüber seinem Interpretandum ein – in Goethes eigenen Worten aus dem Tasso: »So fühlt man Absicht und man ist verstimmt.« Besser – wenn auch natürlich aufgrund des Umfangs weniger informativ – ist hingegen Wenzels Aufsatz aus dem Jahr 2011, Vgl. Manfred Wenzel: Goethe und Darwin (1982), bes. S. 32, 61, Anm. 8, S. 73 ff., 79, Anm. 20, S. 81, Anm. 31 u. 32, S. 84 f., 94, 113 f., 128 f. u. v. a. – Ders.: Goethes Naturforschung und die Evolu­t ionstheo­rie Darwins, S. 332. 126 Vgl. Manfred Wenzel: Goethe und Darwin (1982), bes. S. 85, 122. 127 Vgl. ebd., S. 122, 190, 196, 235. 128 Vgl. ebd., S. III, 4, 509 ff. Auch Aussagen von Wenzel bzgl. der Unzulänglichkeit Darwins (z. B. S. 28, Anm. 4) weisen auf diesen Interpretationsstandpunkt hin. 125

280  |  Jens Lemanski 

in dem man keine Spuren einer Frankfurter Evolu­tionstheo­rie mehr findet. Problematisch erscheinen allerdings einige Detailfragen: So antwortet Wenzel auf die Frage »Was wusste Darwin nun von Goethe?« mit »Reichlich wenig«.129 Dies steht allerdings im Konflikt mit den Belegen bei Lieb. Liebs Studie erscheint größtenteils unproblematisch, da ihr Verfasser zwar stellenweise rezeptionsgeschichtlich argumentiert, aber eigentlich kein wissenschaftsgeschichtliches Interesse verfolgt. Lieb macht vielmehr seinen rein systematischen, an der modernen Entwicklungsbiologie interessierten Interpretationsstandpunkt deutlich und versucht, Goethe nicht historisch zu interpretieren, sondern Ähnlichkeiten mit der aktuellen Forschung aufzuzeigen. Da Liebs implizit normative These, nämlich heute wieder produktiv an Goethes Theo­rien anzuknüpfen, auch beinahe dreißig Jahre nach der Veröffentlichung seiner Studie nicht verwirklicht wurde, scheint die moderne entwicklungstheo­retische Forschung allerdings auch ohne Goethe als Schirmherr und Ideengeber auskommen zu können. Obwohl die Studie von Jean-Michel Pouget viele inhaltliche Ähn­lichkeiten mit Wenzels Studie aufweist, bleibt ein verallgemeinerndes Urteil wie ›Goethe konnte kein Evolu­tionist sein‹ (»Goethe ne pouvait être evolu­tioniste«130) als explizites Resultat aus. Während Wenzels Stärken in der detaillierten Quellenkritik liegen und Pougets in der unvoreingenommenen Herangehensweise, ist das Resultat der Studie von Pouget doch ebenso offensichtlich proble­ matisch wie implizit negativ: Pouget hatte sich vorgenommen, eine ausreichend wissenschaftsgeschichtliche, erkenntnistheo­ retische und literaturwissenschaftliche Aufarbeitung der ›Evolu­tionstheo­ rie‹ Goethes131 mit Hilfe der Kuhn’schen »théorie des paradigmes« zu verknüpfen.132 Das implizit negative Ergebnis, dass Goethe eine Übergangsfigur des »paradigme de recherche des lois d’organisation« sei und kein Vorläufer des evolu­tionistischen Paradigmas seit Darwin, ist keinesfalls überraschend, sondern der Zielsetzung selbst geschuldet.133 Einfach gesagt: Wenn Pouget sich vornimmt, ein zeitlich Wenzel: Goethe und Darwin (1982), S. 211. Pouget: La science goethéenne des vivants, S. 369. 131 Vgl. ebd., S. 6 f. 132 Vgl. ebd., S. 8 ff. 133 Vgl. ebd., S. 13. 129 Manfred

130 Jean-Michel

Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  281

festgesetztes Paradigma als methodische Prämisse zu beschreiben, ist es nicht verwunderlich, wenn dem Interpreten Goethe, der ja ein Teilnehmer eben dieses Zeitraums war, als ein Vertreter dieses Paradigmas und nicht des späteren evolu­tionistischen erscheint. Die problematische Interpretationsmethode führt somit unweigerlich zu einem negativen Resultat hinsichtlich des eigentlich angestrebten Vergleichs. Wenzel hatte 1982 bes. auf die bisher begangenen philologischen Fehler aufmerksam gemacht, nämlich: aus dem Kontext gerissene Zitate von Goethe und bspw. Darwin gegenüberzustellen,134 die sich im Laufe der Zeit verändernden Ansichten Goethes nicht zu berücksichtigen135 und dem Hineinlesen späterer Erkenntnisse der Evolu­tionstheo­rie in Goethes Schriften.136 Obwohl Schad 1998 Wenzels Aufsatz zitiert und somit kannte, begeht er dennoch mehrere dieser Fehler. Bezeichnend ist vor allem, dass Schad seitenlang aus dem Kontext gerissene Sätze von Goethe unerklärt nacheinander zitiert. Diese Zitate sollen die Frage beantworten, »ob Goethe die phylogenetische Evolu­tion auch durch real einst lebende Vorfahren bis heute hin anerkannte«.137 Weder findet man bei Schad aber eine Erklärung oder gar Analyse der Zitate noch ein eindeutiges Fazit, was diese Zitate genau besagen. Es scheint, als sollten die zusammengerafften Goethesätze die Frage nach dessen Evolu­tionstheo­rie selbst beantworten, und auch die Interpretation des Faust in Schads Aufsatz aus dem Jahr 2008 bleibt kryptisch. Noch gravierender ist, dass Schad an einigen Gedichtzeilen genetische Theo­rien ableitet138 und zudem widersprüchlich interpretiert: So soll Goethe einerseits »immer auf der Seite der Epigenetiker gegen die Präformisten«139 gestanden, aber andererseits den präformistischen Evolu­tionsbegriff unterstützt haben.140 Somit reichen sich bei Schad logische, philologische und wissenschaftsgeschichtliche Fehler die Hand. Manfred Wenzel: Goethe und Darwin (1982), S. 4, 132. ebd., S. 129. 136 Vgl. ebd., S. 122. – Manfred Wenzel: Goethes Naturforschung und die Evolu­t ionstheo­rie Darwins, S.  322. 137 Wolfgang Schad: Zeitgestalten der Natur, S. 360. 138 Vgl. ebd., S. 381. 139 Ebd., S. 360. 140 Vgl. ebd., S. 382. 134 Vgl.

135 Vgl.

282  |  Jens Lemanski 

Klaus-Jürgen Grün hat im Untertitel seines Aufsatzes aus dem Jahr 2000 die klare Frage »War Goethe ein Evolu­tionstheoretiker?« gestellt. Die Antwort auf diese Frage fällt allerdings mehr als unbefriedigend aus; nicht weil Grün »mit einem Ja und einem Nein«141 antwortet, sondern weil die Kriterien und Begründungen für beide Antwortteile nicht definiert werden. Warum ist jemand, der die Meinung vertritt, dass die »Welt ihre Formen aus sich selbst hervorbringen könne«, ein Evolu­tionstheoretiker? Warum ist das Fehlen eines Bildungstriebes ein Beleg dafür, dass Goethe kein Evolu­ tionstheoretiker im Sinne Darwins sei? Worin unterscheiden sich Goethe und Darwin hinsichtlich ihrer ›natürlichen Erklärung‹? All diese Fragen bleiben in Grüns Aufsatz unbeantwortet. Über Goethe selbst schreibt Grün nur wenig: Er skizziert in Kap. 1 Darwins Biographie, in Kap. 2 erklärt er anhand eines Zitats die Selektionstheo­ rie und redet dann über Haeckels Vergleich zwischen Darwin und Goethe. In Kap. 3 bespricht Grün – auf fünf Seiten! – Goethes Pan­­theismus, den Gestaltungsprozess, den Blumenbach’schen Bildungstrieb, die Begriffe ›Typus und Metamorphose‹, ›Systole und Diastole‹, Weltseeletheo­rien vom Neuplatonismus bis zu Schelling, zitiert dann Goethes gesamtes Weltseelegedicht und kommt erst im letzten Absatz auf die eigentliche Frage seines Aufsatzes zu sprechen. Dass in diesen letzten sieben Sätzen die im Untertitel angekündigte Frage nur ungenügend abgehandelt werden kann, dürfte jeder nachvollziehen können – und alle anderen sollten diese ›Studie‹ selbst lesen. Von den hier untersuchten Studien der Goetheforschung zum Thema ›Evolu­tion‹ ist der Aufsatz von Bersier der vorbildlichste. Bersier beschränkt sich auf einzelne Zitate Goethes und berücksichtigt dabei ebenso den textimmanenten Kontext wie den historischen Hintergrund dieser Zitate. Dennoch erscheint das Resultat der Studie, das sich auf eine Übernahme des Kompensationsgesetzes und der graduellen Mutationstheo­rie beschränkt, problematisch. Vorbildlich ist, dass Bersier nachweist, dass Goethe Kielmeyer extensiv studiert hat. Um aber auszuschließen, dass Goethe das Kompensationsgesetz nicht vielleicht doch von einem anderen Autor übernommen hat (bspw. Arist. GenAn II 6), reichen die Belege 141 Klaus-Jürgen

Grün: Goethe und Darwin, S. 124.

Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  283

nicht aus. Auch für die noch interessantere These einer graduellen Mutationslehre bei Goethe gibt Bersier zu wenig Textbelege an.

4.2  Kritik der Schopenhauerforschung

Die Forschungsbeiträge zu Schopenhauer zeigen ein sehr heterogenes Bild: Die Forschung bis ca. 1970 ist zum einen von Naturwissenschaftlern geprägt, die ein begründetes Interesse an der Geschichte ihres Fachgebietes (Lubosch, Prochnow) oder an der systematischen Kontrastierung zwischen älteren und neueren Forschungsergebnissen hatten (Autrum); zum anderen findet man aber auch Geisteswissenschaftler, die ein Interesse an bestimmten weltanschaulichen Positionen (Noiré) oder an Schopenhauer selbst aufzeigen (Lovejoy). Seit 1970 zeichnet sich die Forschung durch mehrere Extreme aus. Als negatives Extrem lässt sich die Studie des Paläontologen Adams nennen, der bewusst Forschungsstände unterschlägt und unberechtigt reißerische Thesen inszeniert.142 Das positive Extrem bildet die Arbeit von Schröder, der eine inhaltlich erkenntnisreich zusammengestellte Abhandlung zur Evolu­tionslehre bei Schopenhauer veröffentlicht hat. Die Arbeiten vor den 1970er und bes. vor den 1930er Jahren intensiv zu kritisieren, ist in mehrfacher Hinsicht prekär, da aus heutiger Sicht viele Arbeiten selbst noch in eine Übergangszeit fallen, in der der originäre Darwinismus noch als verbindlich galt und der Weg zur modernen Evolu­tionsbiologie noch nicht vollständig geebnet war. Gegenwärtig kann man wohl größtenteils unbefangen noch die Aufsätze von Prochnow, Lubosch und Zambonini lesen, da sie einen Vergleich Schopenhauers mit Zeitgenossen wie Lamarck, Darwin oder ferner auch Goethe ziehen. Diese Vergleiche dürften heute wohl nur begrifflich, nicht aber inhaltlich vollständig anders ausfallen. Besonders Lovejoys Abhandlung zeigt nicht nur eine nüchterne Aufarbeitung der Schopenhauer’schen Evolu­tionslehre, 142 Da

sowohl Schultz als auch Zambonini einen ähnlichen Forschungsüberblick geben und da Adam die Arbeiten von Schultz und Zambonini bespricht, muss er gewusst haben, dass es weit mehr Arbeiten gab als die von ihm angeführten und dass diese Arbeiten auch seine angeblich eigene These vorweggenommen haben. 284  |  Jens Lemanski 

sondern auch eine philologisch angemessene Untersuchung der Schopenhauer’schen Thesen, die ansonsten bei den älteren Darstellungen aus heutiger Sicht fast ausschließlich problematisch erscheint. Obwohl diese Abhandlungen bis zu den 1970er Jahren für die nachfolgende Schopenhauerforschung und Wissenschaftsgeschichte der Evolu­tionstheo­rie wegweisend hätten sein müssen, blieben viele ihrer Methoden und Ergebnisse dennoch größtenteils unbeachtet. Vandenraths dogmatische Abhängigkeit von Hübschers vorschneller Gleichsetzung von Darwinismus und Deszendenztheo­rie ist nur ein Beispiel für eine unkritische wissenschaftsgeschichtliche Arbeitsweise (s. o., Kap. 3.2.2). Schröders Dissertation ist kaum oder nur ungenügend rezipiert worden (wie bspw. bei Adam). Rhodes kurze Ausführungen zur Abstammungslehre bleiben unbefriedigend, da eine deutliche Positionierung Schopenhauers im Kontext der Wissenschaftsgeschichte fehlt. Die Vergleiche, die Rhode zieht, werden textlich nicht ausreichend belegt oder Zitate nicht vollständig analysiert. Zudem zieht Rhode nur selektiv Texte heran und übergeht ganze Themenblöcke zur Abstammungslehre, die bei seinen Vorgängern diskutiert wurden. Auch das Problem einer kurzen anthropogenetischen Periode – also das Problem, das mit den Studien von Vandenrath, Steppi und Rhode aufkam und das besagt, dass es nach Schopenhauers Weltbild kaum ausreichend Zeit für evolu­tionäre Prozesse gebe – ist nicht hinreichend aufgearbeitet worden. Positiv hervorzuheben ist zunächst die Dissertation von Schröder, die bislang als Standardschrift zur Evolu­tionstheo­rie bei Schopenhauer bezeichnet werden kann, obwohl auch sie in mehrfacher Hinsicht kritisiert werden muss.143 Schröder weist mit Lovejoy auf eine veränderte Lehre Schopenhauers hin: Schopenhauer habe im Spätwerk das platonische Selbstmissverständnis aufgegeben und eine deutlichere Evolu­tionstheo­rie herausgearbeitet. Problematisch ist, dass Schröder philologisch unsauber nur die letzten Ausgaben der Schopenhauer’schen Werke heranzieht und somit nicht ausreichend kenntlich machen kann, wo genau sich die veränderte Lehre zeigt. Wenn es zudem wahr ist, was viele naturphilosophische In143 Eine

ausführlichere Beurteilung findet sich in Jens Lemanski: Rezension »Christoph Schröder: Evolu­tionstheo­rie und Willensmetaphysik. Der Entwicklungsgedanke in der Philosophie Schopenhauers«. Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  285

terpreten behaupten, nämlich dass Schopenhauer nach eklektischer Manier versucht habe, viele unterschiedliche zeitgenössische und klassische Theo­rien gleichberechtigt in einem weltbeschreibenden System zusammenzufassen, dann ist unverständlich, dass Interpreten wie Schröder oder auch Spierling einzelne Theo­rieelemente (Transzendentalphilosophie, Platonismus) als Selbstmissverständnis abqualifizieren. Denn schließlich war es doch Schopenhauers Anspruch, nach aktuellem Stand der Forschung unterschiedliche Weltbeschreibungen in einem System zu vereinheitlichen.144 Schröders Studie scheint somit von einer philosophischen Interpretationsprämisse befangen zu sein, die der philologisch sauberen Arbeit zur Last gefallen ist. Ebenso wie Schröders Schrift ist auch die Studie von Steppi bislang kaum in der Forschung rezipiert worden. Dies ist insofern zu bedauern, als Steppi eine Fülle an Material heranzieht und nahezu alle Themen der neuzeitlichen und modernen Anthropologie bei Schopenhauer nachweist. Allerdings leidet auch diese Studie unter dem philologischen Problem, dass Steppi Zitate Schopenhauers kreuz und quer aus allen Schriften zusammenrafft, ohne zu berücksichtigen, dass Schopenhauer im Laufe seiner schriftstellerischen Karriere unterschiedliche Meinungen vertreten haben könnte. Problematisch sind auch die vielen Vergleiche Schopenhauers mit anderen Philosophen, Anthropologen und Naturwissenschaftlern, die als Nebenbemerkungen und ohne konkrete Textnachweise in die Darstellung eingeflochten worden sind. Darüber hinaus finden sich in Steppis Studie mehrfach Widersprüche und mehrdeutige Zuordnungen: So antizipiere Schopenhauer einerseits Darwin, sei aber andererseits Präformist oder auch Schüler Cuviers. Zu bemerken ist zudem, dass Steppi zwar Schopenhauer vielfach als Vorgänger Darwins und anderer Biologen lobt, selbst aber darauf hinweist, dass viele Meinungen zur Evolu­tionstheo­rie bereits lange vor Schopenhauer vertreten worden sind: Die generatio aequivoca sei eine Erklärung »in altväterlicher Weise«, die Selektionslehre beruhe auf »der alten Sentenz ›Fressen oder Gefressen-werden‹« und die Entstehung des Menschen aus anderen Lebewesen hätten schon die 144 Vgl.

dazu die ausführliche Darstellung bei Jens Lemanski: The Denial of the Will-to-Live in Schopenhauer’s World. 286  |  Jens Lemanski 

Vorsokratiker nachweislich behauptet.145 Wenn viele der von Steppi benannten Aspekte nicht genuin Schopenhauer’schen Ursprungs sind, bleibt es fraglich, inwiefern die auch von Steppi an einzelnen Aspekten erhobene Vorläuferschaft Schopenhauers zu Darwin eine wissenschaftsgeschichtlich sinnvolle Behauptung ist. Karl Dietrich Adams These, dass Schopenhauers evolu­tionäre Studien »anderthalb Jahrhunderte […] ein Desideratum der Wissenschaftsgeschichte« geblieben sind, ist Unsinn.146 Bereits Adam von Doß hatte in einem Brief an Schopenhauer vom 19. Februar 1860 mit genau den gleichen Argumenten und Textbelegen die These vertreten, von der Adam nun meint, sie als erster spektakulär in Szene gesetzt zu haben.147 Schopenhauer selbst hatte aber bereits auf Doß’ These ablehnend reagiert. Noch im 19. Jahrhundert wurde Adams vermeintlich neue These zudem noch bspw. von Julius Frauenstädt oder Hans Herrig diskutiert148 – ganz zu schweigen davon, dass Adams These vielfach auch im 20. Jahrhundert vorweggenommen wurde, wie Kap. 3.2 gezeigt haben dürfte. Adam belegt in seinem Buch hingegen nur seine geringe Bekanntschaft mit den philologisch-philosophischen Maßstäben und den inhaltlichen Ergebnissen der Schopenhauerforschung und Wissenschaftsgeschichte. Ein Desiderat der Forschung ist hingegen, genau herauszuarbeiten, warum Schopenhauer selbst schon ablehnend auf die Ähnlichkeitsbehauptung seiner generatio-in-uterus-heterogeneo-Lehre und Darwins Deszendenztheo­rie reagiert hat. Eine rezeptionsgeschichtlich bislang unbegründete, aber ernstzunehmende These stammt von Ernst Mayr (und ferner Zambonini) und besagt, dass Schopenhauer die These selbst von einigen Vorläufern übernommen habe, die direkt oder indirekt auch Darwin hätten beeinflussen können.149 Ein positives Gegenbeispiel zu dem Buch von Adam ist die leider nur sehr kurze Abhandlung von Franz M. Wuketits, die es Steppi: Der Mensch im Denken Arthur Schopenhauers, S. 348 f., 355, 365. 146 Eine ausführlichere Beurteilung findet sich in Stephan Atzert: Rezension »Karl Dietrich Adam: Die Abstammung des Menschen«. 147 Vgl. Arthur Schopenhauer: Philosophie in Briefen, S. 188 f. 148 Vgl. Julius Frauenstädt: Einleitung, S. XVIII; Hans Herrig: Schopenhauer und Darwin, S. 52. 149 Vgl. Ferruccio Zambonini: Schopenhauer und die moderne Naturwissenschaft, S. 68; Ernst Mayr: Evolu­tion und die Vielfalt des Lebens, S. 139. 145 Christian

Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  287

zum einen schafft, den von Lovejoy vorgegebenen philologischen Ansprüchen bei der Werkinterpretation zu genügen, zum anderen aber aufgrund des Umfangs nur wenige Vorgängerstudien und -­ergebnisse miteinbeziehen und viele Aspekte Schopenhauers nicht systematisch konsequent analysieren kann. Obwohl Wuketits eine sympathisch-harmonisierende Interpretation vorlegt, bleiben letztlich doch zentrale Fragen bezüglich der wissenschaftsgeschichtlich ›skurrilen Vorläuferschaft Schopenhauers zur Evolu­tionstheo­rie‹ offen: Beispielsweise ist es die anfängliche These des Verfassers, dass Schopenhauer kein Evolu­tionstheoretiker im engeren Sinne sei, da Evolu­tionstheo­rie nicht nur die Frage nach der Evolu­tion bejahen, sondern auch die Rekonstruktion der Abläufe der Evolu­tion und des Artenwandels kausal erklären und deren Mechanismen angeben müsse.150 Gerade Ansätze für derartige Kausalerklärungen kann man aber, wie Wuketits im Folgenden skizziert und wie bspw. Schröder und Steppi genauer zeigen, beim späten Schopenhauer zumindest an einigen Beispielen finden. Auch die Skurrilität und die Inkonsequenzen, die Wuketits bei Schopenhauer sieht, erscheinen meiner Meinung nach in Anbetracht der Geschichte der Evolu­tionstheo­rie nicht überaus erwähnenswert zu sein. Schließlich findet man auch historisch zwischen Lamarck und der Frankfurter Evolu­tionstheo­rie Ideen, die als skurril aufgefasst worden sind, zum Teil aber auch in der modernen Entwicklungsbiologie wieder zur Geltung gekommen sind. Ob zudem auch Charles Darwin bspw. mit seiner Pangenesistheo­rie der Evolu­tionstheo­rie »endgültig ein unerschütterliches Fundament«151 gegeben hat, mag zwar im Vergleich mit Lamarck gerechtfertigt, aber im Vergleich mit Mendel und der heutigen Genetik ungerechtfertigt erscheinen.

5. Interpretationsprobleme und Lösungsvorschläge Obwohl man neben den Monographien von Wenzel (zu Goethe) und Schröder (zu Schopenhauer) in beiden Forschungsbereichen auch auf kleinere, aber ebenso wertvolle wissenschaftsgeschicht­ 150 Vgl. 151

Franz M. Wuketits: Schopenhauer, S. 112. Ebd., S. 118.

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liche Studien zugreifen kann (bspw. Bersier oder Lovejoy), sind die Ergebnisse der jeweils über 150jährigen Forschungsbemühungen ernüchternd. Die Frage, welche Rollen Goethe und Schopenhauer in der Wissenschaftsgeschichte der Evolu­tionstheo­rie gespielt haben, scheint noch immer nicht beantwortet zu sein. Allgemein glaube ich allerdings nun aus dem bisher dargestellten und kritisierten Forschungsstand drei allgemeine Problem­dimen­ sionen benennen zu können, die die Beantwortung der Frage erschweren: 1. ein pragmatisches, auf den Interpreten bezogenes Problem, 2. ein semantisches, auf die Sprache bezogenes Problem, 3. ein syntaktisches, auf die zu vergleichenden Werke bezogenes Problem. Ich möchte alle drei Problembereiche nur kurz skizzieren, da ich glaube, dass die Kapitel 3 und 4 ausreichend Material im Detail aufgezeigt haben, um die hier vollzogenen Verallgemeinerungen schnell und selbstständig mit Beispielen aus der Forschungsliteratur konkretisieren zu können. 1. Bereits Wenzel und Schad hatten verstärkt darauf hingewiesen, dass die Einschätzung, ob Goethe oder Schopenhauer Evolu­ tionstheoretiker seien, vom Fragesteller abhänge.152 Der vermeintlich einheitliche Forschungsbereich setzt sich aus Wissenschaftshistorikern und Interpreten zusammen, die entweder selbst unterschiedliche Standpunkte vertreten oder Goethe und Schopenhauer damit in Beziehung setzen. Als Beispiel sei für die Goetheforschung nur angeführt, dass Lieb sich an Evo-Devo, Wenzel an der Frankfurter Evolu­tionstheo­rie, Schad an der Anthroposophie, Pouget an Foucault und Grün sich am Materialismus orientiert. Obwohl diese Diversität der Vergleiche durchaus gewinnbringend ist, bleibt sie in der bislang unkoordinierten Form ohne Gewinn. 2. Auch bezüglich der Sprache wurde bereits in vielen Studien darauf hingewiesen, dass es in der Forschung immer wieder zu begriffsgeschichtlichen Verwirrungen und paradigmatisch falschen Zuordnungen komme. Ein Beispiel ist das immer wieder verwendete Wort ›Evolu­tion‹ selbst, das im Paradigma des Präformismus bedeutet, dass die »Keime gleich bey der ersten Manfred Wenzel: Goethe und Darwin (1982); Wolfgang Schad: Zeitgestalten der Natur, S. 365, ferner: S. 362. 152 Vgl.

Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  289

Schöpfung erschaffen worden, so dass sich nun eine Generation nach der andern blos entwickeln braucht«,153 während es erst im Paradigma des (Neo-)Darwinismus bspw. die Konnotation einer »Transformation der Organismen in Gestalt und Lebensweise, wodurch die Nachfahren andersartig als die Vorfahren werden«,154 erhält. 3. Das syntaktische Problem ist zum einen (a) intratextuell und zum anderen (b) intertextuell aufzufassen: (a) Bereits Lovejoy hatte für Schopenhauer auf die philologische Maxime hingewiesen, dass Allgemeinaussagen zur Evolu­tionsfrage eines Autors nur auf klar definierte Textabschnitte beschränkt werden sollten, da sich Meinungen zur Evolu­tionsfrage durch kontinuierliches Studieren und Forschen notwendig verändern müssen. (b) Des Weiteren erscheint ein Vergleich der Werke untereinander problematisch, da nur selten Kriterien dafür etabliert werden, welches Ab­straktionsniveau für den Vergleich angemessen erscheint: Ist es beispielsweise erlaubt, Schopenhauers generatio in utero heterogeneo soweit von seiner konkreten Bedeutung zu abstrahieren, dass letztendlich ein Vergleich mit dem modernen Mutationsbegriff der Genetik plausibel erscheint? Besonders die zuletzt angeführte Frage dürfte verdeutlicht haben, dass alle drei Problembereiche voneinander abhängen: Denn bspw. bestimmt gerade (1.) der Interpretationsstandpunkt, (2.) die Semantik und (3.) die Auswahl der zu vergleichenden Texte und Begriffe die Abhängigkeit der Problembereiche voneinander. Ich glaube selbstverständlich nicht, mit den bis hierhin dargestellten Details soweit auf die Forschungsprobleme aufmerksam gemacht zu haben, dass diese in Zukunft notwendig ausgeräumt werden würden. Aber ich hoffe zumindest aufgezeigt zu haben, dass jede weitere unreflektierte und unabhängig vom Forschungsstand erbrachte These zur Evolu­tionsfrage bei Goethe oder Schopenhauer keinen Anspruch auf eine wissenschaftsgeschichtlich plausible Leistung erheben kann. Insofern kann man den vorliegenden Aufsatz als ein Plädoyer verstehen, mit dem blinden Forschen aufzuhören und, anstatt weiterhin getrübte Studien in die Informationsflut zu 153 Vgl. 154 Vgl.

Joh[ann] Fr[iedrich] Blumenbach: Über den Bildungstrieb, S. 14. Walter Zimmermann: Evolu­tion, S. 4.

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kippen, die bisherigen Quellen zu filtern sowie Kriterien und Ziele zu verankern, die dann zur Erkenntniserweiterung und nicht zur Text- und Thesenvermehrung in der zukünftigen Forschung zur Wissenschaftsgeschichte der Evolu­tion führen. Als eine Art Lösungsvorschlag erlaube ich mir daher abschließend, aus den oben genannten Problembereichen einen Fragenkatalog zu deduzieren, von dem ich glaube, dass diese Fragen jede zukünftige Studie zur Evolu­tionsfrage bei Goethe oder Schopenhauer explizit und begründet beantworten sollte, um der hier in Kap. 4 und 5 dargestellten Kritik zu entgehen: 1. Pragmatisch: Standpunktbestimmung – Wird vom Interpreten eine bestimmte (systematische) Forschungsrichtung präferiert? – Wird vom Interpreten ein bestimmtes (historisches) Werk zum Vergleich herangezogen? 2. Semantisch: Kontextanalysen155 – Welche Bedeutung hat ein Begriff in einem Urteil oder durch eine Definition (Urteil)? – Welche Bedeutung hat ein Urteil (Idee) in einer Theo­rie (Werk)? – Welche Bedeutung hat eine Theo­rie (Werk) in einem Paradigma (Werkekanon)? 3. Syntaktisch, (a) intratextuell: Werkphasentheo­rie; (b) intertex­ tuell: Hermeneutik des Vergleichs156 – Stimmen nachträgliche Modifikationen und Reflexionen des Autors mit dem ursprünglichen Werk überein? (a) – Können unterschiedliche Werke zu einer Phase vereinheitlicht werden? (a) – Warum werden Begriffe, Texte, Theo­rien etc. miteinander verglichen? (b) – Ist die Ab­straktionsebene des Vergleichs angemessen? (b)

155 Vgl.

z. B. Lorenz B. Puntel: Grundlagen einer Theo­r ie der Wahrheit,

S. 142 ff. 156 Vgl. z. B. Hartmut von Sass: Vergleiche(n). Ein hermeneutischer Rundund Sinkflug. Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  291

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Die ›Evolu­tionstheo­r ien‹ Goethes und S ­ chopenhauers   |  295

IV. Ästhetik, Literatur und Musik

Barbara Neymeyr

Das »Labyrinth des Lebens« im Spiegel der Literatur Zur exemplarischen Funktion der Faust-Tragödie und anderer Werke Goethes in Schopenhauers Ästhetik und Willensmetaphysik 1. Prolegomena: Horizontbildende Vorüberlegungen zu ­einem Forschungsdesiderat Da seine Willensmetaphysik nicht nur von Kants Transzendentalphilosophie nachhaltig beeinflusst ist, sondern auch von der platonischen Ideenlehre,1 sieht Schopenhauer mit willenloser Kontemplation eine spezifische Erkenntnisweise verbunden. Aufgrund seiner Affinität zum platonischen Idealismus setzt er eine fundamentale Wesensverwandtschaft zwischen philosophischer Einsicht und ästhetischer Einstellung voraus. Dadurch werden interdisziplinäre Perspektiven nahegelegt, die Schopenhauer in seinem Œuvre durch zahlreiche Hinweise auf literarische Texte oder durch wörtliche Zitate aus ihnen realisiert. Das Spektrum der Werke, auf die er sich bezieht, reicht von der Antike bis zu seiner eigenen Gegenwart und umfasst eine Mehrzahl europäischer Sprachen. Dabei dienen ihm literarische Beispiele als probates Mittel, um ab­strakte Thesen exemplarisch zu veranschaulichen und ihnen dadurch Evidenz zu verschaffen. Gerade bei Schopenhauer ist eine derartige Explikation philosophischer Konzepte durch poetische Beispiele auch ästhetikimmanent plausibel. Denn im Zusammenhang mit seinem Begriff der Idee betont er mehrfach den Stellenwert der Anschauung, etwa wenn er konstatiert, die Ideen seien »wesentlich ein Anschauliches und daher in seinen nähern Bestimmungen Unerschöpfliches«.2 Dezidiert 1 Zu

den systematischen Problemen, die sich aus der Synthese dieser unterschiedlichen Traditionen bei Schopenhauer ergeben, vgl. Barbara Neymeyr: Ästhetische Autonomie als Abnormität, S. 215–263. 2 W II (Lö), S. 525. Schopenhauer führt seinen eigenen Ideenbegriff auf die   |  299

erklärt er: »nur anschaulich wird die Idee erkannt«,3 und zwar von Philosophen und Künstlern gleichermaßen, denen ein privilegierter Zugang zu essentiellen Dimensionen, zum »wahre[n] Wesen der Dinge, des Lebens, des Daseins«4 gemeinsam ist. Dieses Tertium comparationis eröffnet die Möglichkeit zu Grenzüberschreitungen und legt auch Vergleiche zwischen Goethes Poesie und Schopenhauers Philosophie nahe. Allerdings wird »die Frage: ›Was ist das Leben?‹« im Bereich der Philosophie laut Schopenhauer auf andere Weise beantwortet als in den Künsten, die »sämtlich nur die naive und kindliche Sprache der Anschauung« reden, »nicht die ab­strakte und ernste der Reflexion«.5 Bloß auf den ersten Blick kann diese differentia specifica im Hinblick auf die Künste pejorativ erscheinen. Dagegen spricht nämlich das große Gewicht, das Schopenhauer auf die Anschauung legt, etwa wenn er konstatiert: Die Anschauung nun aber ist es, welcher zunächst das eigentliche und wahre Wesen der Dinge, wenn auch noch bedingterweise, sich aufschließt und offenbart. Alle Begriffe, alles Gedachte sind ja nur Ab­straktionen, mithin Teilvorstellungen aus jener und bloß durch Wegdenken entstanden. Alle tiefe Erkenntnis, sogar die eigentliche Weisheit wurzelt in der anschaulichen Auffassung der Dinge […]. Eine anschauliche Auffassung ist allemal der Zeugungsprozeß gewesen, in welchem jedes echte Kunstwerk, jeder unsterbliche Gedanke den Lebensfunken erhielt. Alles Urdenken geschieht in Bildern.6

In diesem Sinne sieht Schopenhauer die besondere Leistung von Philosophen und Künstlern in anschaulichen Erkenntniskonzentraten. So betont er, dass jedes »gelungene Kunstwerk« im Bereich der Literatur, Malerei, Skulptur und Musik »das innerste Wesen alles Lebens und Daseins«7 ausspricht:

platonische Ideenlehre zurück und grenzt ihn zugleich von Kants Konzept der ›Idee‹ ab (vgl. W I (Lö), S. 195, 655 f.). 3 W I (Lö), S. 340. 4 W II (Lö), S. 521. 5 Ebd., S. 522. 6 Ebd., S. 488. 7 Ebd., S. 522. 300  |  Barbara Neymeyr 

Die Werke der Dichter, Bildner und darstellenden Künstler überhaupt enthalten anerkanntermaßen einen Schatz tiefer Weisheit: eben weil aus ihnen die Weisheit der Natur der Dinge selbst redet, deren Aussagen sie bloß durch Verdeutlichung und reinere Wiederholung verdolmetschen.8

In diesem Zusammenhang charakterisiert Schopenhauer die spezifische Differenz folgendermaßen: Zwar ist in den Werken der Künste »alle Weisheit enthalten, jedoch nur virtualiter oder implicite: hingegen dieselbe actualiter und explicite zu liefern ist die Philosophie bemüht«.9 Wenn Schopenhauer hinsichtlich der Künste »die naive und kindliche Sprache der Anschauung«10 hervorhebt, dann schwingen in den beiden Epitheta noch die positiven Konnotationen von Kindlichkeit und Naivität mit, die sich in der Epoche von der Empfindsamkeit bis zur Romantik auch unter dem Einfluss von Rousseaus Natur-Utopien mit dem Ideal einer authentischen Ursprünglichkeit verbanden. Solche Vorstellungen hatten in der Literatur damals Konjunktur. – Zugleich erhalten die beiden Epitheta in Schopenhauers Ästhetik Bedeutung, weil sie auch zum GenieTopos gehören. Wiederholt betont Schopenhauer die Naivität und Kindlichkeit des Genies. Und gerade durch Goethe sieht er diese Eigenschaften auf paradigmatische Weise repräsentiert. Für Schopenhauer »bleibt die Naivetät das Ehrenkleid des Genies«,11 und zwar keineswegs nur im Bereich der Literatur: »Das Gesetz der Einfachheit und Naivetät, da diese sich auch mit dem Erhabensten verträgt, gilt für alle schönen Künste.«12 In der »Naivetät und erhabenen Einfalt« sieht Schopenhauer ein wichtiges Charakteristikum »des echten Genies«.13 In den Parerga und Paralipomena II erklärt er dezidiert, »der Eindruck«, den die Wahrheit mache, sei »um so tiefer, als ihr Ausdruck einfacher war […] – Ebendaher steht die Ebd., S. 522 f. In Goethes Drama Torquato Tasso charakterisiert Leonore den Dichter Tasso so: »Sein Ohr vernimmt den Einklang der Natur« (HA 5, V. 160).   9 W II (Lö), S. 523. 10 Ebd., S. 522. 11 P II (Lö), S. 617. 12 Ebd. 13 W II (Lö), S. 510.   8

Das »Labyrinth des Lebens« im Spiegel der Literatur  |  301

naive Poesie Goethes so unvergleichlich höher als die rhetorische Schillers«.14 Ob Schopenhauer mit dieser schlichten Akzentsetzung allerdings dem literarischen Gestus der Autoren Goethe und Schiller, dem breiten Spektrum ihrer poetischen Gestaltungsweisen und ihrer je spezifischen Leistung gerecht zu werden vermag, darf bezweifelt werden. Unter Rekurs auf »Riemers ›Mitteilungen über Goethe‹« weist Schopenhauer auf Aussagen von Zeitgenossen wie Herder hin, die der Ansicht waren, Goethe »sei ewig ein großes Kind«15 geblie­ben. Diese Einschätzung sucht Schopenhauer argumentativ zu fundieren, indem er die Spezifika der ästhetischen Kontemplation mit seinem Geniekonzept vermittelt: »Jedes Genie ist schon darum ein großes Kind, weil es in die Welt hineinschaut als in ein Fremdes, ein Schauspiel, daher mit objektivem Interesse«; und gerade dadurch unterscheidet sich das Genie mit seiner intuitiven Sensibilität fundamental vom nüchtern-banalen Pragmatismus »der Gewöhnlichen«.16 Schopenhauer postuliert in seiner Ästhetik eine objektive Ideenerkenntnis, die sich der autonomen Aktivität des vom Willensdienst vorübergehend befreiten, mithin interesselosen Intellekts verdankt. In diesem Sinne behauptet er: »Unter den Dichtern unserer Zeit ist Goethe der objektiveste«:17 »Gerade die erstaunliche Objektivität seines Geistes« ist es, »welche seinen Dichtungen überall den Stempel des Genies aufdrückt«.18 Friedrich Nietzsche, dessen Frühwerk maßgeblich von Schopenhauer geprägt ist, korreliert Goethe und Schopenhauer in der dritten seiner Unzeitgemässen Betrachtungen, nämlich in seiner Schrift Schopenhauer als Erzieher, und zwar im Hinblick auf die für beide charakteristische Genialität: 14 P

II (Lö), S. 616. II (Lö), S. 510. 16 Ebd. 17 P II (Lö), S. 524. 18 Ebd., S. 214. Eine Begründung gibt Schopenhauer in der Welt als Wille und Vorstellung II: »Große Dichter verwandeln sich ganz in jede der darzustellenden Personen und sprechen aus jeder derselben wie Bauchredner; jetzt aus dem Helden und gleich darauf aus dem jungen unschuldigen Mädchen mit gleicher Wahrheit und Natürlichkeit: so Shakespeare und Goethe. Dichter zweiten Ranges verwandeln die darzustellende Hauptperson in sich« (W II (Lö), S. 555 f.). 15 W

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Schopenhauer […] hatte das unbeschreibliche Glück, nicht nur in sich den Genius aus der Nähe zu sehen, sondern auch ausser sich, in Goethe: durch diese doppelte Spiegelung war er über alle gelehrtenhaften Ziele und Kulturen von Grunde aus belehrt und weise geworden.19

Trotz vieler aufschlussreicher Bezugnahmen auf Goethe in Schopenhauers Ästhetik und Willensmetaphysik sind gründliche Untersuchungen zu diesem Themenfeld erstaunlicherweise bis heute ein Desiderat der Forschung geblieben.

2. Stellenwert und thematisches Spektrum von ­Schopenhauers Goethe-Referenzen Durch zahlreiche Zitate und Erwähnungen erweist Schopenhauer dem 39 Jahre älteren, von ihm sehr bewunderten Goethe seine Reverenz, dem er bereits mit knapp 20 Jahren in Weimar zum ersten Mal begegnet war und mit dem er 1813 als Mittzwanziger kurz nach der Promotion über seine Dissertation Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde diskutiert hatte.20 – Allerdings vermerkt schon der dreißigjährige Autor der Welt als Wille und Vorstellung mit stupendem Selbstbewusstsein, Goethe habe ihm »im März 1819« eine Notiz senden lassen, welche Seiten »ihm besonders gefallen« hätten: »also hatte er mein Buch gelesen«.21 Und mehr noch: Mit einem Zitat aus »Eckermanns ›Gesprächen mit Goethe‹« sucht Schopenhauer im Hinblick auf ein Sonnengleichnis konkret die eigene Priorität nachzuweisen: »Goethe hat das Gleichnis von mir; nicht etwan ich von ihm.«22 Mehrfach formuliert Schopenhauer seine positiven Urteile über Goethe mit enthusiastischer Emphase. So spricht er von »mehreren Liedern Goethes«, die er selbst zu den »Meisterstücken der lyrischen Nietzsche: Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 410. den biographischen Details von persönlichen Begegnungen und schriftlichen Äußerungen im komplizierten Diskurs von Goethe und Schopenhauer zur Farbenlehre vgl. den aufschlussreichen Aufsatz von Elsbeth Wolffheim: Des Lehrers Bürden. 21 W I (Lö), S. 388. 22 Ebd., S. 387 f. 19 Friedrich 20 Zu

Das »Labyrinth des Lebens« im Spiegel der Literatur  |  303

Poesie«23 zählt. Das typische Changieren »der lyrischen Stimmung« zwischen »Wollen« und »reine[m] Anschauen« lässt sich laut Schopenhauer durch »jedes der unsterblichen Lieder Goethes« exemplifizieren, etwa durch »›Schäfers Klagelied‹, ›Willkommen und Abschied‹, ›An den Mond‹, ›Auf dem See‹, ›Herbstgefühl‹«.24 Und Goethes Tragödie Faust zählt Schopenhauer neben Shakespeares Hamlet und Mozarts Don Giovanni sogar mit einem doppelten Superlativ zu den »vollkommensten Meisterstücke[n] der allergrößten Meister«.25 So überrascht es nicht, dass er auch aus keinem anderen Werk Goethes so häufig zitiert wie aus dessen Faust I. In diesem Zusammenhang liegt es nahe, zunächst konkreter nach Schopenhauers Motiven für die jeweiligen Bezugnahmen auf den Weimarer Dichterfürsten zu fragen. Über bloße Reminiszenzen als Ausdruck von Bewunderung hinaus will Schopenhauer unter Rekurs auf Goethe offenbar zugleich Philosophie und Poesie in eine fruchtbare Korrelation bringen, die seiner Überzeugung von analogen Erkenntnisweisen in beiden Bereichen entspricht. Und indem er seine theo­retischen Reflexionen mit poetischen Beispielen belegt, versucht er zwischen generalisierender Ab­straktion und konkretem Einzelwerk zu vermitteln und dadurch Evidenz für seine Thesen zu schaffen. – Im Fokus des vorliegenden Aufsatzes stehen vor allem das Dritte und Vierte Buch der Welt als Wille und Vorstellung, weil Schopenhauer seine Reflexionen zur Ästhetik, Willenstheo­rie und Ethik hier besonders oft mit Exempla aus dem Œuvre Goethes illustriert. Allerdings finden sich Bezugnahmen auf Goethes literarische Werke auch in den Parerga und Paralipomena, die daher ebenfalls berücksichtigt werden. Auffallend breit erscheint das Spektrum der Texte Goethes, die Schopenhauer erwähnt oder aus denen er zitiert: Dies gilt für Goethes Naturlyrik und sein paradigmatisches Sturm-und-Drang-Gedicht »Prometheus« sowie für Elegien, Balladen und West-östlichen Divan. Außerdem nimmt Schopenhauer auf Goethes Dramen Götz von Berlichingen, Clavigo und Egmont sowie auf Torquato Tasso und Iphigenie auf Tauris Bezug, vor allem aber auf die Tragödie Faust I. Darüber hinaus rekurriert er auf Goethes Roman Die Wahlver23 W

II (Lö), S. 554. I (Lö), S. 349 f. 25 W II (Lö), S. 526. 24 W

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wandtschaften und auf seine Autobiographie Dichtung und Wahrheit. – Das Wilhelm-Meister-Opus Goethes, das für die Weiterentwicklung des Bildungsromans bahnbrechende Bedeutung hatte, ist laut Schopenhauer »ein intellektueller Roman«, der »Belehrung, Einsicht, Erkenntnis« vermittelt und »ebendadurch höherer Art ist als alle übrigen, sogar die von Walter Scott«.26 Und Goethes Sturmund-Drang-Roman Die Leiden des jungen Werthers zählt Schopenhauer zu den »gelungensten Schilderungen« der leidenschaftlichen »Geschlechtsliebe«,27 weil dieses Werk die Liebessehnsucht und den Liebesschmerz, mithin »den Stoff zu aller erotischen Poesie erhabener Gattung« repräsentiert.28 Vor dem Horizont seiner Willensmetaphysik sieht Schopenhauer durch die singuläre Intensität »unendlicher Wünsche« und »unendlicher Schmerzen« die Sphäre des Individuums in den Bereich »der Gattung« transzendiert.29 Auch für das Ausgreifen der »erotischen Poesie« in »transzendente, alles Irdische überfliegende Metaphern« erscheint ihm Goethes Werther charakteristisch.30

3. Goethes Drama Torquato Tasso im Spiegel von ­Schopenhauers Geniekonzeption Schopenhauers Interesse an Goethes klassischem Drama Torquato Tasso ist primär dadurch bedingt, dass es ihm auf geradezu ideale Weise geeignet erscheint, um seine Genieästhetik zu illustrieren. So exemplifiziert er Charakteristika des Genies, insbesondere die mit »abnorm« erhöhter Zerebraltätigkeit einhergehende Problematik, unter Rekurs auf Goethes Tasso-Figur: Die mit der »gewaltsame[n] Konzentration, die zu den Privilegien des Genies« zählt, verbundene »übergroße Sensibilität« hat mitunter unverhältnismäßige 26 P

I (Lö), S. 492. II (Lö), S. 679. 28 Ebd., S. 705. Das von Schopenhauer betonte Wahnhafte der Leidenschaft (vgl. ebd., S. 713) könnte man übrigens auch durch die Szene in Goethes Faust I exemplifiziert sehen, in der Mephisto Faust prognostiziert, er sehe unter dem Einfluss des Hexentranks »Bald Helenen in jedem Weibe« (HA 3, V. 2604). 29 W II (Lö), S. 705. 30 Ebd., S. 705 f. 27 W

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oder sogar ins Überdimensionale gesteigerte Emotionen zur Folge und lässt »sehr leicht jene Überspanntheit der Stimmung, jene Heftigkeit der Affekte« und jenen »schnelle[n] Wechsel der Laune unter vorherrschender Melancholie« entstehen, »die Goethe uns im ›Tasso‹ vor Augen gebracht hat«.31 Begleitet sieht Schopenhauer diese Disposition des Genies, die »auf der absoluten Stärke des Intellekts beruht« und mit einer »ihr entsprechende[n], übermäßige[n] Heftigkeit des Gemüts erkauft werden muß«, von praktischer Inkompetenz: Infolgedessen »ist zum praktischen Leben das Genie ungeschickt und unbrauchbar, daher auch meistens unglücklich. In diesem Sinn ist Goethes ›Tasso‹ gedichtet«.32 Bereits in der Welt als Wille und Vorstellung I sieht Schopenhauer mit der Hypersensibilität des Genies eine besondere Affinität zum Wahnsinn verbunden: Nachdem er unter Berufung auf Horaz, Wieland, Aristoteles, Platon, Cicero und Pope behauptet hat, dass »Genialität und Wahnsinn eine Seite haben, wo sie aneinander grenzen, ja ineinander übergehn«,33 beschreibt er Goethes Tasso-Figur als typisch für die durch eine Tendenz »zum Unüberlegten, zum Affekt, zur Leidenschaft«34 verursachte gefährliche Disposition des Genies: »Besonders lehrreich in dieser Hinsicht ist Goethes ›Torquato Tasso‹, in welchem er uns nicht nur das Leiden, das wesentliche Märtyrertum des Genius als solchen, sondern auch dessen stetigen Übergang zum Wahnsinn vor die Augen stellt.«35 Im Hinblick auf Goethes Dichterfigur Torquato Tasso betont Schopenhauer die Problematik eines genialen Individuums, das unter der Kluft zwischen der ästhetischen Sphäre und der Realität leidet. – Tatsächlich eignet sich die Tasso-Figur hier als idealtypisches Beispiel: Kunstfremden Wertungskriterien und Verhaltens­ritu­alen der ihn umgebenden Gesellschaft ausgeliefert, tendiert Goethes 31

Ebd., S. 502. S. 366. Auch auf Goethes Tasso-Figur lässt sich Schopenhauers These beziehen, dass die besondere Begabung des Genies »keineswegs geeignet ist, ihm einen glücklichen Lebenslauf zu bereiten, vielmehr das Gegenteil. […] Dazu kommt noch ein Mißverhältnis nach außen, indem das Genie in seinem Treiben und Leisten selbst meistens mit seiner Zeit im Widerspruch und Kampfe steht« (ebd., S. 503 f.). 33 W I (Lö), S. 272. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 273. 32 Ebd.,

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Pro­tagonist zu einem zerstörerischen Verfolgungswahn, der als Symptom von Konfliktsituationen und Kommunikationsschwierigkeiten erscheint. Kunstvoll gestaltet Goethe die Divergenzen zwischen Tassos genialischem Subjektivismus, seinem weltfremden, auf eine Harmonie von Kunst und Leben zielenden Idealismus und der konventionellen, auf strikte Wahrung der Etikette bedachten Hofsphäre, die von politischen Strategien und doppelzüngiger Interaktion bestimmt ist. – Hier sind übrigens auch Affinitäten zu Schopenhauers Kritik an der zivilisierten Gesellschaft generell zu erkennen, der er facettenreiche »Maskerade« und nur »wenig wahre Redlichkeit« attestiert.36 Die Vorstellung einer Synthese von Genie und Wahnsinn, die auf die platonische Mania-Lehre zurückgeht und seit der Renaissance zum poetologischen Topos vom furor poeticus führte, hatte schon in der Literatur der Romantik Konjunktur, bekam schließlich in der wirkungsmächtigen Degenerationspsychiatrie des 19. Jahrhunderts durch Theoretiker wie Morel, Moreau und Lombroso seit den 1830er Jahren zentrale Bedeutung und erhielt nach Schopenhauers Tod in der Zeit von 1870 bis 1914 eine geradezu epidemische Präsenz.37 – Die Vorstellung von ›Genie und Wahnsinn‹ ergänzt Schopenhauer um den in der Kulturgeschichte bereits seit Jahrhunderten etablierten Topos von der Melancholie38 des Genies. Dabei beruft er sich erneut auf antike Denker: »Schon Aristoteles hat nach Cicero (›Tusculanarum disputationum‹ lib. I, 33 [80]) bemerkt, ›omnes ingeniosos melancholicos esse‹ [daß alle genialen Menschen melancholisch seien]; welches sich ohne Zweifel auf die Stelle in des 36 P

II (Lö), S. 249. dazu Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Bd. 2, S. 252–256. 38 Über die Rezeption seiner eigenen Philosophie schreibt Schopenhauer: »Man hat geschrieen über das Melancholische und Trostlose meiner Philosophie« (W II (Lö), S. 744). Anschließend attackiert er unter Berufung auf Hume und Voltaire den Leibniz’schen Optimismus (vgl. ebd., S. 744–750). – Anders versteht Nietzsche die Korrelation zwischen Melancholie und Genialität in seiner Schrift Schopenhauer als Erzieher: Er sieht den Menschen aufgrund seiner »Begrenztheit« von »Sehnsucht und Melancholie erfüllt«; daher trage er »ein tiefes Verlangen nach dem Genius in sich. Hier ist die Wurzel aller wahren Cultur« (Friedrich Nietzsche: Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 357 f.). 37 Vgl.

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Aristoteles ›Problemata‹ 30, 1 [953a 10] bezieht.«39 Anschließend zitiert Schopenhauer aus Goethes Sammlung »Sprichwörtlich«: »Zart Gedicht, wie Regenbogen, / Wird nur auf dunklen Grund gezogen: / Darum behagt dem Dichtergenie / Das Element der Melancholie.«40 In Goethes Versen tritt insofern eine positive Komponente der Melancholie hervor, als die melancholische Disposition des Genies hier eine wesentliche Basis für poetische Kreativität darstellt. Schopenhauer erklärt die Melancholie des Genies im vorliegenden Kontext auch damit, »daß der Wille zum Leben, von je hellerem Intellekt er sich beleuchtet findet, desto deutlicher das Elend seines Zustandes wahrnimmt«.41 Insofern deutet er eine pessimistische Welt­anschauung und ein entsprechendes Selbstverständnis des melancholischen Genies, das zu einer desillusionierten Diagnose der eigenen Lebenssituation gelangt, als Ausdruck eines Fundamentalrealismus. Beide Perspektiven scheinen zu konvergieren, wenn Schopenhauer ein berühmtes Diktum zitiert,42 das Goethe seiner Dichterfigur Tasso in den Mund gelegt hat. In der Schlussszene V/5 reflektiert der Protagonist seine von Leiden erfüllte Lebenssituation im Gespräch mit seinem Antipoden Antonio und betont dabei das poetische Potential, das ihn immerhin zum Ausdruck seiner Verfassung befähigt: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide«.43 – Als Melancholiker gestaltet Goethe außer Tasso übrigens auch Werther44 und Faust.45 Während Werthers fiktionales Leben im Suizid endet, mündet Fausts nihilistische Stimmung in der ersten »Nacht«-Szene nur vorü­bergehend in einen Impuls zur Selbstvernichtung.

39 W

II (Lö), S. 493 f. Ebd., S. 494. 41 Ebd. 42 Vgl. ebd., S. 712. 43 Goethe: Torquato Tasso, HA 5, V. 3432/3433. 44 Vgl. Barbara Neymeyr: Intertextuelle Transformationen, S. 57–169, vor allem S. 108–129. 45 Vgl. dazu Jochen Schmidt: Goethes Faust. Schmidt begründet eingehend, inwiefern Goethe die Melancholie des Gelehrten Faust als conditio sine qua non für den Teufelspakt gestaltet (vgl. ebd., S. 95–108). 40

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4. Goethes Gedichte als Exemplifikation von Schopenhauers Lyriktheo­rie? Einige Werke Goethes werden von Schopenhauer nur knapp erwähnt; aus anderen hingegen zitiert er exemplarische Partien. Besonders aufschlussreich sind Schopenhauers Bezugnahmen auf Goethe dort, wo er Zitate und knappe Werkcharakterisierungen auch strategisch einsetzt, um seine eigenen Thesen mithilfe paradigmatischer Exempla zu fundieren. Dies gilt vor allem für zwei literarische Gattungen, die Schopenhauer in seiner Ästhetik auf je spezifische Weise durch Spannungsverhältnisse aufgrund heterogener oder ambivalenter Konstellationen bestimmt sieht:46 für das Trauerspiel und für die lyrische Poesie. Laut Schopenhauer besteht »die ganze Leistung« der Lyrik darin, »die Stimmung des Augenblickes zu ergreifen« und auszudrücken,47 so dass hier »das subjektive Element«48 dominiert. Weil der Dichter »in der lyrischen Poesie, im eigentlichen Liede […] nur seinen eigenen Zustand lebhaft anschaut und beschreibt«, koinzidiert hier »der Dargestellte« mit dem »Darstellende[n]«.49 Allerdings unterschätzt Schopenhauer hier beträchtlich die ästhetische Komplexität der Lyrik, die er bezeichnenderweise für »die leichteste«50 poetische Gattung hält, weil er das lyrische Ich als Instanz des Gedichts vorschnell mit dem Autor identifiziert. Daher verkennt Schopenhauer sowohl den Stellenwert ästhetischer Fiktion als auch lyrische Strategien zur Inszenierung von Emotionalität, die Goethe nach heutigem Stand der Forschung schon in seiner Sturm-und-Drang-Phase gezielt einsetzte. Mit seiner These von der Subjektivität der Lyrik orientiert sich Schopenhauer offenbar einseitig am Typus der sogenannten ›Erlebnislyrik‹, deren (von Dilthey beeinflusstes und inzwischen obsolet gewordenes) Konzept vor einigen Jahrzehnten in der traditionellen Literaturwissenschaft vor allem auf Gedichte des jungen Goethe bezogen wurde. dazu Barbara Neymeyr: Ästhetische Autonomie als Abnormität, S. 351–363, 387–408. 47 W I (Lö), S. 348. 48 W II (Lö), S. 554. 49 W I (Lö), S. 347. 50 Ebd., S. 348. 46 Vgl.

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Schopenhauer charakterisiert den »lyrischen Zustand« so: Es ist das Subjekt des Willens, d. h. das eigene Wollen, was das Bewußt­ sein des Singenden füllt, oft als ein entbundenes, befriedigtes Wollen (Freude), wohl noch öfter aber als ein gehemmtes (Trauer), immer als Affekt, Leidenschaft, bewegter Gemütszustand. Neben diesem jedoch und zugleich damit wird durch den Anblick der umgebenden Natur der Singende sich seiner bewußt als Subjekts des reinen willenlosen Erkennens, dessen unerschütterliche, selige Ruhe nunmehr in Kontrast tritt mit dem Drange des immer beschränkten, immer noch dürftigen Wollens: die Empfindung dieses Kontrastes, dieses Wechselspieles ist eigentlich, was sich im Ganzen des Liedes ausspricht und was überhaupt den lyrischen Zustand ausmacht.51

Da Schopenhauer diese ambivalente Konstellation gerade in Goethes Naturlyrik idealtypisch realisiert sieht, empfiehlt er seinen Lesern einige exemplarische Gedichte Goethes zur Lektüre: »›Schäfers Klagelied‹, ›Willkommen und Abschied‹, ›An den Mond‹, ›Auf dem See‹, ›Herbstgefühl‹«.52 Von der Lyrik, in der »das subjektive Element vorherrscht«,53 grenzt Schopenhauer »Roman, Epos und Drama« als die »mehr objektiven Dichtungsarten«54 ab. Problematische Konsequenzen für seine Theo­rie der Lyrik ergeben sich aus seiner These, dass »alle echten Werke der Künste, der Poesie und selbst der Philosophie«55 »eine ganz objektive Anschauung« als ihr »punctum saliens« voraussetzen.56 Wenn der Wille laut Schopenhauer das »Prinzip der Subjektivität« und der »Antagonist der Erkenntnis« sein soll,57 51 Ebd.,

S. 349. Unklar bleibt dabei, ob Schopenhauer die bewusstseinsimmanente Polarität eher als Nacheinander konträrer Zustände oder als ambivalentes Zugleich betrachtet. Belege finden sich für beide Optionen (vgl. ebd., S. 349 f.). 52 Ebd., S. 350. 53 W II (Lö), S. 554. 54 W I (Lö), S. 351. 55 W II (Lö), S. 484 f. 56 Ebd., S. 479. Schopenhauer bezeichnet »die eigentlich ästhetische Auffassung, die im höhern Grade nur dem Genie eigentümlich ist«, als »Zustand des reinen, d. h. völlig willenlosen und ebendadurch vollkommen objektiven Erkennens« (ebd., S. 378), das er als Voraussetzung für ästhetische Produktivität betrachtet. 57 Ebd., S. 475. 310  |  Barbara Neymeyr 

so dass die »Genialität« mit der »vollkommenste[n] Objektivität« koinzidiert,58 dann lässt sich die lyrische Poesie in dieses Konzept nicht bruchlos integrieren.59 Ein weiteres Problem liegt in Schopenhauers Verengung des Lyrikbegriffs auf eine erlebnishafte Naturlyrik, durch die etliche andere Typen von Lyrik ausgeschlossen werden, etwa Lehrgedichte des Barock, Balladen oder eher reflexive Formen wie die sogenannte ›Gedankenlyrik‹ Schillers. – Auch viele Gedichte Goethes eignen sich nicht als Exempel für Schopenhauers Lyriktheo­rie, deren Erklärungswert sich auch insofern als eher begrenzt erweist. So sprengt etwa das mythologische Rollengedicht »Prometheus«, das übrigens auch poetologische Implikationen hat,60 die LyrikDefinition Schopenhauers. Bezeichnenderweise zitiert er die letzte Strophe aus Goethes »Prometheus«-Hymne erst außerhalb seiner Lyriktheo­rie, nämlich im Vierten Buch der Welt als Wille und Vorstellung I,61 in dem er die selbstbewusste Autonomie-Erklärung des mythologischen Rebellen und kreativen Menschenschöpfers als Signum der »Bejahung des Willens zum Leben«62 interpretiert. Und der sentenzhafte Gestus von Goethes Gedicht »Urworte. Orphisch«, aus dem Schopenhauer ebenfalls außerhalb seiner Literaturästhetik zitiert,63 entfaltet unter Rückgriff auf mythologische Vorstellungen der Antike ein reflexives Spannungsfeld dialektisch vermittelter Lebensfaktoren und passt noch weniger zu Schopenhauers Charakterisierung der lyrischen Poesie. Nicht einmal die fünf von Schopenhauer exemplarisch genannten Gedichte64 fügen sich alle seinem Ambivalenz-Schema, obwohl er selbst sogar prononciert behauptet, man könne sich seine »ab­ strakte Zergliederung« durch »jedes der unsterblichen Lieder Goe58 W

I (Lö), S. 266. hebt in der Geburt der Tragödie (vgl. KSA 1, S. 46 f.) die Problematik der Lyrik bei Schopenhauer hervor und zitiert in diesem Zusammenhang ausführlich aus der Welt als Wille und Vorstellung I (vgl. W I (Lö), S. 349 f.). 60 Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Die Proklamation schöpferischer Auto­ nomie. 61 Vgl. W I (Lö), S. 392. 62 Ebd., S. 393. 63 Vgl. P I (Lö), S. 382 f. 64 Vgl. W I (Lö), S. 350. 59 Nietzsche

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thes« verdeutlichen.65 Zwar ist Goethes Sturm-und-Drang-Gedicht »Willkommen und Abschied« von kontrastiven Strukturen und ambivalenten Emotionen geprägt, nicht aber vom ästhetischen Verführungspotential einer Natur, deren Wahrnehmung das affektbestimmte lyrische Ich in eine »unerschütterliche, selige Ruhe«66 geraten lässt. Denn »Willkommen und Abschied« inszeniert teilweise spiegelbildliche Korrespondenzen zwischen dem lyrischen Ich und der Natur, die Goethe auch als Reflex der subjektiven Erlebnisperspektive gestaltet hat. Demgemäß erscheint die Landschaftswahrnehmung selbst durch das emotionale Pathos des lyrischen Ich projektiv überformt, so dass sie die von Schopenhauer postulierte willenlose Ataraxie schwerlich evozieren kann. Zudem wird durch die Begriffe ›Feuer‹ und ›Glut‹ in »Willkommen und Abschied« ein poetologischer Horizont angedeutet, der über Schopenhauers Lyrik-Definition hinausweist.67 In Goethes Gedichten »An den Mond« und »Auf dem See« dominiert eine suggestive Harmonie von Innen- und Außenwelt, die sich allerdings nur im Gedicht »An den Mond« dem von Schopenhauer propagierten Changieren zwischen voluntativen Komponenten des Ich und besänftigender Natur nähert: So löst der »Nebelglanz« des Mondes still die »Seele« des lyrischen Ich, das sonst sein »Herz im Brand« erlebt.68 – Dass sogar die exemplarisch genannten Gedichte Goethes allenfalls partiell die von Schopenhauer formulierten Kriterien lyrischer Poesie erfüllen, gibt erneut Anlass, seine Definition der lyrischen Poesie kritisch zu hinterfragen, zumal sie auch wichtige andere Formen der Lyrik außer Acht lässt. Während Schopenhauer in der Lyrik eine authentische Gefühlsintensität des Autors ausgedrückt sieht, setzt die heutige Lite­ raturwissenschaft die prinzipielle Differenz zwischen Autor und lyrischem Ich voraus und betont den Stellenwert kunstvoller Inszenierung in Goethes Gedichten. Schopenhauer allerdings reflektierte zu seiner Zeit noch nicht, dass sich insbesondere die emotionale Emphase und das genialische Pathos von Goethes Sturm-und65

Ebd., S. 350. Ebd., S. 349. 67 Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Die Proklamation schöpferischer Auto­ nomie, S. 32. 68 Goethe: An den Mond, HA 1, S. 128, V. 2, 4, 10. 66

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Drang-Hymnen, aber auch der Schein spontanen Gefühlsausdrucks in seiner sogenannten Erlebnislyrik69 einer bewussten artistischen Stilisierung verdanken. So verwirklicht sein Gedicht »Seefahrt« ebenso wie die Sturm-und-Drang-Hymnen Prinzipien einer ›Logik des Affekts‹, die der Programmatik Herders entspricht und zugleich sprachliche Innovationen Klopstocks adaptiert.70 Vielleicht sah Schopenhauer selbst Kompatibilitätsprobleme der Lyriktheo­rie im Horizont seiner Ästhetik. Die Wertungsprämissen seiner Lyriktheo­rie jedenfalls erscheinen uneinheitlich: Einerseits behauptet Schopenhauer, »ein schönes Lied« des Lyrikers verdanke sich »nur einer lebhaften Anschauung seines eigenen Zustandes im aufgeregten Moment«, weil er bloß »die Stimmung des Augenblickes« im Lied einfange, so dass auch der »nicht sehr eminente Mensch […] ein schönes Lied zustande bringen« könne.71 Andererseits jedoch wertet Schopenhauer die Lyrik erheblich auf, indem er behauptet, dass »in der lyrischen Poesie echter Dichter sich das Innere der ganzen Menschheit«72 abbilde. Diese These begründet er anthropologisch: Für ihn ist »der Dichter der allgemeine Mensch: alles, was irgendeines Menschen Herz bewegt hat und was die menschliche Natur in irgendeiner Lage aus sich hervortreibt, […] ist sein Thema und sein Stoff; wie daneben auch die ganze übrige Natur«.73 In diesem Sinne schließt Schopenhauers Auffassung, dass die Künste »den treuen Spiegel des Lebens, der Menschheit, der Welt«74 bieten, auch die Lyrik ein, obwohl er sie für die subjektivste poetische Gattung hält.

69 Insofern

vollzieht Gerhard Kaiser eine naheliegende Umkodierung des Begriffs ›Erlebnisgedicht‹: »Es imitiert nicht Erlebnisse, es kreiert Erlebnisse im Produzenten und im Rezipienten« (Gerhard Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis Heine. Erster Teil, S. 69). 70 Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Navigation mit ›virtus‹ und ›fortuna‹, S. 34 f. 71 W I (Lö), S. 348. 72 Ebd. 73 Ebd. 74 Ebd., S. 352. Das »Labyrinth des Lebens« im Spiegel der Literatur  |  313

5. Affinitäten zwischen Goethes Faust I und Schopenhauers Willensphilosophie Eine singuläre Stellung innerhalb der poetischen Gattungen schreibt Schopenhauer dem Trauerspiel zu, das in seinem Konzept sogar eine Brückenfunktion erhält, weil es als Medium zur Vermittlung zwischen Ästhetik und Ethik fungiert. Denn indem das Trauerspiel den Zuschauern die Negativität des Lebens plastisch vorführt, vermittelt es ihnen eine implizite Aufforderung zur Verneinung des Willens zum Leben. Das Prädikat der »höchsten poetischen Leistung« verdient es nach Schopenhauers Auffassung, weil es den »Widerstreit des Willens mit sich selbst, […] am vollständigsten entfaltet«, und zwar am »Leiden der Menschheit«:75 Denn hier werden uns »der namenlose Schmerz, der Jammer der Menschheit, der Triumph der Bosheit, die höhnende Herrschaft des Zufalls und der rettungslose Fall der Gerechten und Unschuldigen«76 gezeigt. Zur Inszenierung des »großen Unglücks«, das zur Katastrophe führt, sieht Schopenhauer drei Möglichkeiten: erstens die »außerordentliche […] Bosheit eines Charakters«, zweitens »blindes Schicksal, d. i. Zufall oder Irrtum«,77 und drittens die bloße Konstellation der Figuren, bedingt durch die »sich kreuzenden Willensbestrebungen der Individuen«.78 Ausdrücklich präferiert Schopenhauer die dritte Möglichkeit zur Motivation der Katastrophe. Denn sie präsentiert dem Zuschauer »das größte Unglück« nicht als ein singuläres Ereignis, das die Folge eines abnormen Charakters, eines ungeheuren Irrtums oder eines außergewöhnlichen Zufalls ist, sondern – wie Schopenhauer meint  – »als etwas aus dem Tun und den Charakteren der Menschen leicht und von selbst, fast als wesentlich Hervorgehendes«.79 75

Ebd., S. 353.

76 Ebd. 77

Ebd., S. 355. Ebd., S. 353. 79 Ebd., S. 355 f. Analog argumentiert bereits Friedrich Schiller in seiner 1792, also 27 Jahre vor Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung I (1819) veröffentlichten Schrift Über die tragische Kunst: Hier gibt Schiller dem Tragödiendichter den Vorzug, dessen dramaturgisches Kalkül darauf zielt, »das Unglück nicht durch einen bösen Willen, der Unglück beabsichtet [sic!], noch viel weniger durch einen Mangel des Verstandes, sondern durch den Zwang 78

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Auf diese Weise vermittelt die Tragödie dem Rezipienten den Eindruck, die Ursachen der dramatischen Katastrophe seien prinzipiell als stets gegenwärtige Gefahr zu begreifen, die jedes Individuum ohne Vorwarnung jederzeit vernichten könne. Mit dieser Argumentation verfolgt Schopenhauer zwei Strate­ gien: Erstens radikalisiert er das Bedrohungspotential, um die Tra­gödientheo­rie plausibel mit seiner pessimistischen Willensmetaphysik zu vermitteln, nach der »jede Lebensgeschichte eine Leidensgeschichte«80 ist. Und zweitens argumentiert er wirkungsästhetisch, wenn er für eine Dramenkonzeption plädiert, die Leser oder Zuschauer in maximaler Intensität mit der Negativität des Lebens konfrontiert. Dass Schopenhauer das Trauerspiel mit der conditio humana korreliert und insofern mit existentieller Bedeutung auflädt, zeigt seine These: »Das Leben jedes einzelnen ist, wenn man es im Ganzen und Allgemeinen übersieht […], eigentlich immer ein Trauerspiel«.81 Die dritte dramatische Strategie zur Inszenierung von Katastrophen, nämlich durch die bloße Konstellation der Figuren, die Überkreuzung ihrer Handlungsintentionen und die Kollision ihrer Interessen, exemplifiziert Schopenhauer durch zwei Werke Goethes: zum einen durch sein Drama Clavigo, zum anderen durch seine Faust-Tragödie.82 Nur auf Faust I geht er in diesem Zusammenhang auch ein, allerdings nur knapp, indem er erklärt, dass er in der besagten Hinsicht »die Begebenheit mit dem Gretchen und ihrem Bruder« als tragische »Haupthandlung«83 betrachtet. Dass Schopender Umstände herbei[zu]führen« (Friedrich Schiller: Theoretische Schriften, S. 259). Und seine Schrift Über das Pathetische (1793) eröffnet Schiller mit der These: »Darstellung des Leidens – als bloßen Leidens – ist niemals Zweck der Kunst, aber als Mittel zu ihrem Zweck ist sie derselben äußerst wichtig« (ebd., S. 423). Den Zweck »der tragischen Kunst« sieht Schiller in der Gestaltung »des moralischen Widerstandes gegen das Leiden« (ebd., S. 426), und zwar durch autonome Selbstbehauptung des Menschen. – Zu den Analogien und Differenzen der Tragödien-Konzepte von Schiller und Schopenhauer vgl. Barbara Neymeyr: Ethische Aspekte einer Ästhetik des Tragisch-Erhabenen. – Zu den konträren Ansichten Schopenhauers und Nietzsches über das Tragische vgl. Barbara Neymeyr: Das Tragische – Quietiv oder Stimulans des Lebens? 80 W I (Lö), S. 444. 81 Ebd., S. 442. 82 Vgl. ebd., S. 356. 83 Ebd. Das »Labyrinth des Lebens« im Spiegel der Literatur  |  315

hauer dabei die Brückenfunktion des Trauerspiels als »Quietiv des Willens«84 im Blick hat, die letztlich auf ein Ethos der Entsagung zielt, zeigt seine Argumentation: Als Beispiel für die Aufgabe »des ganzen Willens zum Leben«, und zwar »nach langem Kampf und Leiden«, führt Schopenhauer neben Shakespeares Hamlet-Figur exemplarisch auch »das Gretchen im ›Faust‹« an.85 Die Entwicklung von Goethes Gretchen-Figur beschreibt er als »ein vollkommenes Musterbild des zweiten Weges« zur »Verneinung des Willens«, weil sie diese Haltung nicht durch »die bloße Erkenntnis des Leidens einer ganzen Welt« erlangt, sondern durch »großes Unglück und die Verzweiflung an aller Rettung«, und zwar »durch den selbstempfundenen« überstarken »Schmerz«.86 Inwiefern sich Goethes Faust-Tragödie, die Schopenhauer zu den »vollkommensten Meisterstücke[n] der allergrößten Meister«87 zählt, weit über die von ihm selbst benannten Affinitäten hinaus zur Illustration seiner pessimistischen Willensmetaphysik eignet, soll im Folgenden gezeigt werden. – Denn dass die meisten von Schopenhauers Goethe-Zitaten aus der Faust-Tragödie88 stammen, lässt sich auch damit erklären, dass die Mentalität des Protagonisten so markante Analogien zu zentralen Aspekten von Schopenhauers Philosophie aufweist. Daher gehe ich im Folgenden nicht nur auf die expliziten Faust-Referenzen Schopenhauers ein, sondern untersuche darüber hinaus auch die impliziten Korrespondenzen zwischen Goethes Tragödie und Schopenhauers Willensmetaphysik. Obwohl Schopenhauer im Kontext seiner Parerga und Paralipomena II in einem Kapitel zur Farbenlehre konstatiert, Goethe sei »ein Poet und kein Philosoph, d. h. von dem Streben nach den letzten Gründen und dem innersten Zusammenhange der Dinge 84

Ebd., S. 354.

85 Ebd. 86 Ebd. 87 W

II (Lö), S. 526.

88 Zu Goethes Lebzeiten erschienen die beiden folgenden Faust-Ausgaben:

Faust – Ein Fragment von Goethe (1790) und Faust – Eine Tragödie (1808). – Wolfgang von Löhneysen betont, dass Schopenhauer den »zweiten Teil des Faust […] erst in den dreißiger Jahren« kennenlernte und sich nicht auf ihn bezieht (Wolfgang von Löhneysen: Im Blickfeld: Goethe und Schopenhauer, S. 160). 316  |  Barbara Neymeyr 

nicht beseelt«,89 fällt eine Vielzahl von Analogien zwischen Goethes Drama und Schopenhauers Philosophie auf. Bezeichnenderweise zitiert Schopenhauer sogar im unmittelbaren Kontext dieser Aussage aus Goethes Faust. Dabei verfolgt er allerdings gerade nicht die Absicht, Affinität vorzuführen, sondern betont stattdessen die Differenz zwischen poetischem und philosophischem Weltverständnis. Anlässlich der Kontroverse zur Farbenlehre attestiert Schopenhauer Goethe eine ausschließliche Konzentration auf die Faktizität und ein Bemühen um objektive Wiedergabe, aber ohne jeden Anspruch auf substantielle Ursachenforschung: »ein richtiges ›So ist’s‹ war ihm überall das letzte Ziel; ohne daß ihn nach einem ›So muß es sein‹ verlangt hätte. Konnte er doch sogar spotten: Der Philosoph, der tritt herein / Und beweist euch, es müßt’ so sein«.90 Wenn Schopenhauer dieses Faust-Zitat91 hier allerdings im Gestus der Selbstverständlichkeit mit Goethes persönlichen Überzeugungen identifiziert, so ist dazu aus heutiger literaturwissenschaftlicher Sicht kritisch anzumerken, dass zwischen dem Credo des Autors und der Figurenrede in seinem Werk prinzipiell zu differenzieren ist.92 – Goethe schreibt diese Aussage nämlich der Mephisto-Figur zu: Das Zitat findet sich in der Szene, in der Mephisto durch Maskerade die Identität Fausts adaptiert, um dann gemäß seiner eigenen subversiven Mentalität einem naiven, orientierungsbedürftigen Studiosus in spe eine sarkastische Studienberatung zu geben: Dabei übergießt Mephisto im Zuge einer umfassenden Wissenschaftssatire alle Fakultäten mit Spott.93 Übrigens steht in dieser Szene auch keineswegs die gesamte thematische Spannweite philosophischer Forschung zur Disposition. Vielmehr bezieht sich Mephisto lediglich auf das »Collegium Logicum«,94 das er dem angehenden Studenten als sterile, mit »spanische[n] Stiefeln«, also mit 89 P

II (Lö), S. 215. Ebd., S. 215. 91 Goethe: Faust, HA 3, V. 1928/29. 92 Eine strukturanaloge Problematik ergibt sich in Schopenhauers Lyriktheo­rie: Hier identifiziert er irrtümlich das lyrische Ich mit dem Autor, wenn er behauptet, dass »in der lyrischen Poesie, im eigentlichen Liede, […] der Dichtende nur seinen eigenen Zustand lebhaft anschaut und beschreibt« (W I (Lö), 347). 93 Vgl. dazu detaillierter Jochen Schmidt: Goethes Faust, S. 141–144. 94 Goethe: Faust, HA 3, V. 1911. 90

Das »Labyrinth des Lebens« im Spiegel der Literatur  |  317

einem Folterinstrument vergleichbare geistige Dressur vorstellt und gleichwohl mit süffisantem Nachdruck als notwendiges Propädeutikum empfiehlt.95 Wenn Schopenhauer in den Parerga und Paralipomena II dem Autor Goethe selbst eine prinzipielle Skepsis gegenüber philosophischer Methodik der Beweisführung zuschreibt und diese mit Mephistos Äußerung96 glaubt belegen zu können, dann unterschätzt er dabei offenbar den Ironie-Gehalt der ganzen Szene, so dass sein Zitat aus Goethes Faust I hier eher Aufschluss über seine eigene Lektürehaltung gibt als über das Drama selbst. Allerdings erscheint Schopenhauers Lesart keineswegs als repräsentativ für seine Per­ spektive auf Goethes Tragödie insgesamt, vielmehr stellt sie im Pano­rama seiner Faust-Zitate eine (auch in methodischer Hinsicht) aufschlussreiche Ausnahme dar. Wie ausgeprägt die Korrespondenzen zwischen Goethes FaustDrama und Schopenhauers Philosophie tatsächlich sind, soll im Folgenden evident gemacht werden. Auffällig ist schon prima vista die große Streubreite seiner Zitate aus Goethes Faust I, die von der »Zueignung« bis zum Finale der Tragödie reichen. Schopenhauer platziert sie in der Welt als Wille und Vorstellung und in den Parerga und Paralipomena zudem in sehr unterschiedlichen thematischen Kontexten. – Als Prämisse zu berücksichtigen ist dabei freilich Schopenhauers berechtigter Hinweis auf das ästhetische Potential der Literatur, das eine grundlegende Differenz zur Philosophie impliziert: »Ganz befriedigt durch den Eindruck eines Kunstwerks sind wir nur dann, wenn er etwas hinterläßt, das wir bei allem Nachdenken darüber nicht bis zur Deutlichkeit eines Begriffs herabziehn können«.97 Deshalb hält Schopenhauer es konsequenterweise für ein ebenso »unwürdiges wie albernes Unternehmen, wenn man […] eine Dichtung Shakespeares oder Goethes zurückführen will auf eine ab­strakte Wahrheit, deren Mitteilung ihr Zweck gewesen wäre«.98 – Im Sinne eines solchen problematischen Reduktionismus, der die Aussagekraft der Literatur vorschnell auf eine begriffliche Essenz fixiert, ist die Suche nach Korrespondenzen zwi95 Vgl.

ebd., V. 1910–1939. 96 Ebd., V. 1928/29. 97 W II (Lö), S. 525. 98 Ebd., S. 525 f. 318  |  Barbara Neymeyr 

schen Goethe und Schopenhauer im vorliegenden Aufsatz natürlich keinesfalls zu verstehen. Wie bereits Goethe verwendet später auch Schopenhauer die Metapher des Labyrinths, um die conditio vivendi zu charakterisieren; zugleich betont er den Stellenwert der Illusion und greift dabei auf den Fortuna-Topos zurück. In der »Zueignung«, mit der Goethe sein Faust-Drama beginnen lässt, heißt es: »Der Schmerz wird neu, es wiederholt die Klage / Des Lebens labyrinthisch irren Lauf, / Und nennt die Guten, die, um schöne Stunden / Vom Glück getäuscht, vor mir hinweggeschwunden«.99 – Im Zusammenhang mit der aus der indischen Philosophie entlehnten Metapher vom ›Schleier der Maja‹ betont auch Schopenhauer wiederholt die Tendenz des Menschen zu illusionären Glücksphantasien, etwa wenn er den »Lebenstraum des wollenden Menschen« in der »nie befriedigten und nie ersterbenden Hoffnung« sieht.100 Zugleich bringt Schopenhauer den antiken Topos von der instabilen, wankelmütigen Fortuna mit ins Spiel, der außer in der »Zueignung« von Goethes Faust I vor allem in seinem Gedicht »Seefahrt« relevant ist. Fortuna dominiert in der griechischen Version als Tyche übrigens die zweite Strophe von Goethes Gedicht »Urworte. Orphisch«, dessen erste, dem Daimon gewidmete Strophe Schopenhauer in den Aphorismen zur Lebensweisheit komplett zitiert.101 Analog zur »Zueignung« in Goethes Faust I, die »Des Lebens labyrinthisch irren Lauf«102 thematisiert, spricht Schopenhauer explizit vom »Labyrinth des Lebens«.103 Und im Zusammenhang mit dem fragmentarischen Charakter des menschlichen Bewusstseins betont er das »Labyrinth unsers Lebenswandels«.104 In den Aphorismen zur Lebensweisheit zitiert Schopenhauer die Formulierung Faust, HA 3, V. 13–16. I (Lö), S. 558. 101 Schopenhauer zitiert die Daimon-Strophe aus Goethes Gedicht »Urworte. Orphisch« zustimmend als Konzentrat eines »unerbittlich« geltenden Lebensgesetzes: »So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen« (P I (Lö), S. 382 f.). In diesem Kontext goutiert er die von Goethe in Dichtung und Wahrheit formulierte Ansicht, »daß in allen Dingen jeder zuletzt auf sich selbst zurückgewiesen wird« (ebd., S. 397). 102 Goethe: Faust, HA 3, V. 14. 103 P II (Lö), S. 293. 104 W II (Lö), S. 179.   99 Goethe:

100 W

Das »Labyrinth des Lebens« im Spiegel der Literatur  |  319

aus der »Zueignung« von Faust I sogar wörtlich, allerdings ohne Angabe der Quelle, indem er den menschlichen »Lebensweg« als »›labyrinthisch irren Lauf‹« bezeichnet.105 Und signifikanterweise bringt er im näheren Kontext dieser Stelle dann auch die unkalkulierbare Tyche und die Schifffahrtsmetaphorik mit ins Spiel, die bereits in Goethes Gedicht »Seefahrt« von zentraler Bedeutung ist.106 In den Aphorismen zur Lebensweisheit vergleicht Schopenhauer den »Lebensweg« des Menschen mit »dem Lauf eines Schiffes«, bei dem das »Schicksal, die τύχη, die ›secunda aut adversa fortuna‹« die »Rolle des Windes« übernimmt.107 Ein Aspekt dieser Seefahrtsmetaphorik, die seit der Antike mit existentieller Bedeutung aufgeladen und in der Kulturgeschichte facettenreich ausgestaltet wurde, findet sich bereits in der ersten Szene der Faust-Tragödie. Hier sinniert der Protagonist, als er im »geheimnisvolle[n] Buch, / Von Nostradamus’ eigner Hand«108 das Signum des Erdgeistes erblickt: »Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen, / Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen, / Mit Stürmen mich herumzuschlagen / Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen«.109 In Goethes klassischem Drama Torquato Tasso wird die Grenzerfahrung des Schiffbruchs ebenfalls zum Thema; das Werk endet in der Szene V/5 mit der markanten Vision des Protagonisten: »Zerbrochen ist das Steuer und es kracht / Das Schiff an allen Seiten. […] / So klammert sich der Schiffer endlich noch / Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte«.110 Auch Schopenhauer gebraucht das Bild des Schiffbruchs im Rahmen einer Allegorie des Lebens als Seefahrt: 105 P

I (Lö), S. 558. stoische Grundierung von Goethes »Seefahrt« analysiert erstmals Barbara Neymeyr: Navigation mit ›virtus‹ und ›fortuna‹. 107 P I (Lö), S. 557. Sowohl bei Goethe als auch bei Schopenhauer wirkt die stoische Vorstellung von der ambivalenten Fortuna weiter: In diesem Sinne plädiert schon Seneca in seinen Epistulae morales dafür, sich durch die Unbeständigkeit des Schicksals, seine Ungerechtigkeit und Willkür (Epist. 9, 12; 18, 6; 78, 29) nicht irritieren zu lassen, sondern Glück und Unglück zu verachten (»contemnere utramque fortunam« (Epist. 71, 37)). 108 Goethe: Faust, HA 3, V. 419/420. 109 Ebd., V. 464–467. 110 Goethe: Torquato Tasso, HA 5, V. 3448–3453. 106 Die

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Das Leben selbst ist ein Meer voller Klippen und Strudel, die der Mensch mit der größten […] Sorgfalt vermeidet, obwohl er weiß, daß […] er ebendadurch mit jedem Schritt dem größten, dem totalen […] Schiffbruch näher kommt, ja gerade auf ihn zusteuert – dem Tode […].111

Die stets illusionären Glückshoffnungen kontrastiert Schopenhauer mit dem factum brutum des Schiffbruchs, wenn er erklärt: Jeder »strebt sein Leben lang nach einem vermeintlichen Glücke« und läuft schließlich »schiffbrüchig und entmastet in den Hafen ein«.112 Schopenhauers Vorstellung von der Täuschung durch den ›Schleier der Maja‹, die durch die indische Philosophie inspiriert ist, weist Affinitäten zu mehreren Evokationen von Traum, Wahn und Illusion in Goethes Faust I auf. Am Ende der Szene »Studierzimmer I« appelliert Mephisto, um sich Faust entziehen zu können, an die Geis­ter: »Umgaukelt ihn mit süßen Traumgestalten, / Versenkt ihn in ein Meer des Wahns«.113 Und in der Szene »Studierzimmer II« goutiert er den defätistischen Irrationalismus Fausts als Chance, sich seiner zu bemächtigen: »Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, / Des Menschen allerhöchste Kraft, / Laß nur in Blend- und Zauberwerken / Dich von dem Lügengeist bestärken, / So hab’ ich dich schon unbedingt«.114 – Bezeichnenderweise gebraucht der Protagonist selbst bereits in einer früheren Szene ähnliche Begriffe, wenn er in seiner nihilistischen Fluchrede ausruft: »So fluch’ ich allem, was die Seele / Mit Lock- und Gaukelwerk umspannt, / Und sie in diese Trauerhöhle / Mit Blend- und Schmeichelkräften bannt!«115 Analog dazu ist bei Schopenhauer vom »Wahn und Blendwerk der Maja«116 die Rede. Die erkenntnistheo­retische Dimension der Vorstellung Schopenhauers vom täuschenden ›Schleier der Maja‹ entspricht dem Ausruf Fausts: »Verflucht das Blenden der Erscheinung, / Die sich an unsre Sinne drängt!«117 – Schopenhauer erklärt in der Welt als Wille und Vorstellung I: 111

W I (Lö), S. 429. II (Lö), S. 336. 113 Goethe: Faust, HA 3, V. 1510/11. 114 Ebd., V. 1851–55. 115 Ebd., V. 1587–1590. 116 W I (Lö), S. 508. 117 Goethe: Faust, HA 3, V. 1593/94. 112 P

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den Blick des rohen Individuums trübt, wie die Inder sagen, der Schleier der Maja: ihm zeigt sich statt des Dinges an sich nur die Erscheinung in Zeit und Raum, dem principio individuationis, und in den übrigen Gestaltungen des Satzes vom Grunde: und in dieser Form seiner beschränkten Erkenntnis sieht er nicht das Wesen der Dinge, welches eines ist, sondern dessen Erscheinungen, als gesondert, getrennt, unzählbar, sehr verschieden, ja entgegengesetzt.118

Solange das Individuum in dieser Einstellung verharrt, »befangen im principio individuationis, getäuscht durch den Schleier der Maja«,119 ist es auch dem Egoismus verfallen, weil es »seine Person von jeder andern als absolut verschieden«120 ansieht. Sogar die Metapher des Schleiers findet sich (wenn auch anders akzentuiert) bereits in Goethes Faust I: »Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben«.121 Schopenhauer gebraucht den Begriff des Schleiers sogar despektierlich, wenn er in den Parerga und Paralipomena II im Sinne moralischer Abwertung von dem »über alles ausgebreiteten Schleier der Verstellung, Falschheit, Heuchelei, Grimasse, Lüge und Trug« spricht und die vielfältigen Formen der »Maskerade« in der zivilisierten Gesellschaft betont.122 Wenn Schopenhauer wenig später sogar vom »Teufel in Menschengestalt«123 spricht, dann scheint er eine Szene aus Goethes Faust I ins Metaphorische zu transponieren, in der sich Mephisto mit »Rock und Mütze« ausstaffiert, also mit den Insignien von Fausts Gelehrtenstatus, um einen angehenden Studenten satirisch zu beraten. Dabei erklärt er: »Die Maske muß mir köstlich stehn«.124 Besonders markante Analogien verbinden die Selbstdarstellung von Goethes Faust-Figur mit zentralen Aspekten von Schopenhauers Willensmetaphysik, und zwar vor allem dort, wo die Korrelation von Streben und Leiden im Mittelpunkt steht. In Goethes Faust I erklärt der Protagonist in der Szene »Wald und Höhle«: »So tauml’ ich von Begierde zu Genuß, / Und im Genuß verschmacht’ ich nach 118

W I (Lö), S. 481. Ebd., S. 482. 120 Ebd., S. 498. 121 Goethe: Faust, HA 3, V. 673. 122 P II (Lö), S. 249. 123 Ebd., S. 251. 124 Goethe: Faust, HA 3, V. 1846/1847. 119

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Begierde«.125 Die gleiche aporetische Struktur der voluntativen Dynamik hebt später auch Schopenhauer in der Welt als Wille und Vorstellung I hervor, wenn er »jedes Menschenleben« zwischen »Wollen und Erreichen« oszillieren sieht: Der Wunsch ist seiner Natur nach Schmerz: die Erreichung gebiert schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg: unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfnis wieder ein: wo nicht, so folgt Öde, Leere, Langeweile, gegen welche der Kampf ebenso quälend ist wie gegen die Not.126

Die problematische conditio humana, »daß dieser Existenz selbst das Leiden wesentlich und wahre Befriedigung unmöglich sei«, erläutert er folgendermaßen: unermüdlich streben wir von Wunsch zu Wunsch, und wenngleich jede erlangte Befriedigung, soviel sie auch verhieß, uns doch nicht befriedigt, sondern meistens bald als beschämender Irrtum dasteht, sehn wir doch nicht ein, daß wir mit dem Faß der Danaiden schöpfen; sondern eilen zu immer neuen Wünschen.127

Sowohl Goethe als auch Schopenhauer greifen zur Veranschaulichung dieser fundamentalen Leidenssituation128 auf den TantalusMythos zurück. Unmittelbar vor dem Eintreten des ratlos-naiven Studiosus in spe erläutert Mephisto in der Szene »Studierzimmer« 125 Ebd.,

V. 3249/3250. I (Lö), S. 430. Schopenhauer betrachtet die Existenz jedes Individuums als unaufhörlichen Existenzkampf, der durch das ziel- und rastlose, aus »Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz« resultierende »Wollen und Streben« bedingt ist (ebd., S. 427–429). Zum leidensträchtigen Spannungsfeld zwischen Bedürfnis und Langeweile vgl. auch ebd., S. 240 f., 438–442. – Die von Schopenhauer reflektierte conditio humana spiegelt sich seines Erachtens auch »in der Kunst, besonders in der Poesie. Jede epische oder dramatische Dichtung nämlich kann immer nur ein Ringen, Streben und Kämpfen um Glück, nie aber das bleibende und vollendete Glück selbst darstellen« (ebd., S. 439). 127 Ebd., S. 437. 128 Sowohl in Goethes Faust I (vgl. HA 3, V. 644–651) als auch in Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung I wird – über das Leiden an realer Not hinaus – auch die bloß imaginäre Sorge zum Thema, die sich auf eine niemals eintretende Problematik fixiert (vgl. W I (Lö), S. 435, 442, 508). Faust beschreibt sie prägnant: »Und was du nie verlierst, das mußt du stets beweinen« (HA 3, V. 651). 126 W

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seine Absichten mit Faust, »dessen übereiltes Streben / Der Erde Freuden überspringt«:129 »Er soll mir zappeln, starren, kleben, / Und seiner Unersättlichkeit / Soll Speis’ und Trank vor gier’gen Lippen schweben; / Er wird Erquickung sich umsonst erflehn«.130 Schopenhauer beschreibt das voluntativ bedingte Leiden in der Welt als Wille und Vorstellung I analog, wenn er »Wollen und Streben« mit »einem unlöschbaren Durst« vergleicht.131 Den hier angedeuteten Bezug zum Tantalus-Mythos macht er in der folgenden Passage explizit: solange wir Subjekt des Wollens sind, wird uns nimmermehr dauerndes Glück noch Ruhe […]: die Sorge für den stets fordernden Willen, gleichviel in welcher Gestalt, erfüllt und bewegt fortdauernd das Bewußtsein; ohne Ruhe aber ist durchaus kein wahres Wohlsein möglich. So liegt das Subjekt des Wollens beständig auf dem drehenden Rade des Ixion, schöpft immer im Siebe der Danaiden, ist der ewig schmachtende Tantalus.132

Die qualvolle Dynamik dieser »Zuchthausarbeit des Wollens« kann laut Schopenhauer nur dann ausnahmsweise zum Stillstand kommen, wenn sich »die Erkenntnis dem Sklavendienste des Willens entreißt«133 und vorübergehend in den Zustand ästhetischer Kontemplation eintritt. Während Schopenhauer das Rad »des Ixion« unter Rückgriff auf die antike Mythologie als Folterwerkzeug konkret benennt, verwendet Goethes Mephisto-Figur einen ab­strakten Begriff, wenn er Faust dem »Marterort«134 seines bisherigen Lebens entführen will. Die Qual des unbefriedigten Strebens allerdings verFaust, HA 3, V. 1858/1859. V. 1862–1865. 131 W I (Lö), S. 427. 132 Ebd., S. 280. Während die Danaiden in der Unterwelt permanent Wasser in ein durchlöchertes Fass schöpfen müssen, wird Ixion gefoltert, indem er im Tartaros auf ein niemals ruhendes feuriges Rad geflochten wird. Und Tantalus ist in der Unterwelt zu ewigem Hunger und Durst verurteilt: Wenn er sich zum Trinken bückt, weicht das Wasser unter ihm zurück, und wenn er nach Früchten an den Bäumen über ihm greifen will, entschwinden auch sie. Bis heute sind die Tantalusqualen sprichwörtlich im kulturellen Gedächtnis präsent geblieben (vgl. die Artikel in Herbert Hunger: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie). 133 W I (Lö), S. 280. 134 Goethe: Faust, HA 3, V. 1835. 129 Goethe: 130 Ebd.,

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bindet als Tertium comparationis die fiktionale Konstellation von Goethes Tragödie Faust I mit der zentralen Thematik von Schopenhauers Willensphilosophie: Indem er in der Welt als Wille und Vorstellung I durch die Danaiden, Ixion und Tantalus berühmte Leidensschicksale aus der antiken Mythologie exemplarisch aufruft, erzielt er eine suggestive Evidenz: Das Leiden an der permanent vergeblichen Anstrengung (Danaiden) kombiniert Schopenhauer mit folternder Glut in ewiger Kreisbewegung (Ixion) und der Qual dauerhaft unstillbaren Begehrens (Tantalus). So steigert er die Intensität, mit der er seinen Lesern das voluntativ bedingte Leiden als conditio humana vor Augen führt.135 – Goethes Faust-Figur will sich der unentrinnbaren voluntativen Dynamik besinnungslos überlassen: »Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit, / Ins Rollen der Begebenheit! / Da mag denn Schmerz und Genuß, / Gelingen und Verdruß / Mit einander wechseln, wie es kann; / Nur rastlos betätigt sich der Mann«.136 Schopenhauer reflektiert auf ähnliche Weise die Problematik »des rastlosen Dranges und Treibens« sowie »des steten Überganges von Wunsch zu Furcht und von Freude zu Leid« in der voluntativ verfassten Existenz.137 Durch die Bedeutung gleichnishaften Sprechens und metaphorischer Diktion, die auch die antike Mythologie einschließt, ergibt sich in Schopenhauers Philosophie zugleich eine interessante Affinität zu poetischen Gestaltungsweisen. – In Werken Goethes spielt 135 Laut

Schopenhauer entspringt alles Wollen, mithin »alles Streben […] aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande, ist also Leiden, solange es nicht befriedigt ist; keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens. Das Streben sehn wir überall vielfach gehemmt, überall kämpfend; so lange also immer als Leiden: kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maß und Ziel des Leidens« (W I (Lö), S. 425). 136 Goethe: Faust, HA 3, V. 1754–1759. Dabei zielt Fausts Intention letztlich allerdings auf ein Erleben von höchster, ja maßloser Intensität, das er mit dem Stilmittel des Oxymorons so beschreibt: »Dem Taumel weih’ ich mich, dem schmerzlichsten Genuß, / Verliebtem Haß, erquickendem Verdruß. / Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist, / Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen, / Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, / Will ich in meinem innern Selbst genießen« (ebd., V. 1766–1771). Dieser Gestus Fausts unterscheidet sich fundamental von Schopenhauers Darstellung des leidenden Menschen. 137 W I (Lö), S. 557 f. Das »Labyrinth des Lebens« im Spiegel der Literatur  |  325

das Gleichnis eine große Rolle. So erklärt der Chorus mysticus in der Schlusspassage des Faust II: »Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis«.138 Schopenhauer selbst bekennt sich ausdrücklich zum Erkenntniswert plastischer Gleichnisse und setzt sie im Rahmen seiner philosophischen Reflexionen wiederholt strategisch ein, um »ab­strakte Gedanke[n]«139 zu veranschaulichen. Ein spezifisches Vermittlungspotential »von trefflicher Wirkung« sieht Schopenhauer in »Metapher, Gleichnis, Parabel und Allegorie« am Werke.140 Exemplarisch nennt er neben dem Höhlengleichnis in Platons Politeia auch die Adaptation des Persephone-Mythos in Goethes »Triumph der Empfindsamkeit«.141 Wenn Schopenhauer »die Fabel von der Persephone« ausdrücklich »als eine tiefsinnige Allegorie von philosophischer Tendenz« würdigt,142 dann erhellt daraus ein zwischen Poesie und Philosophie vermittelnder Synthese-Anspruch. Nach seiner Überzeugung »zeugt das Aufstellen überraschender und dabei treffender Gleichnisse von einem tiefen Verstande«.143 Denn Gleichnisse können als ein wichtiges Erkenntnisstimulans fungieren, »sofern sie ein unbekanntes Verhältnis auf ein bekanntes zurückführen«.144 In den Parerga und Paralipomena II konstatiert Schopenhauer sogar, dass »alle Begriffsbildung im Grunde auf Gleichnissen« beruht, »sofern sie aus dem Auffassen des Ähnlichen und Fallenlassen des Unähnlichen in den Dingen erwächst«.145 Durch dieses Prinzip der Analogiebildung werden die KorresponFaust, HA 3, V. 12104/12105. I (Lö), S. 337. 140 Ebd. 141 Vgl. ebd., S. 337 f. 142 Ebd., S. 337. 143 P II (Lö), S. 647. Schopenhauer beruft sich hier auf Aristoteles, der die metaphorische Diktion als Signum eines genialen Intellekts und als Ausweis philosophischen Scharfsinns betrachtet, ihr höchste poetische Dignität zuschreibt und zugleich ihren Erkenntniswert betont (vgl. Poetik, Kap. 22; Rhetorik III, 11). 144 Ebd., S. 646. 145 Ebd. Ähnliche Thesen formuliert später Nietzsche in seiner Schrift ­Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in der er das Tentative und Arbiträre des sprachlichen Weltzugangs reflektiert: Statt »etwas von den Dingen selbst zu wissen«, besitzen die Menschen laut Nietzsche »nichts als Metaphern der Dinge« (Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, KSA 1, S. 879). Ähnlich wie Schopenhauer führt auch 138 Goethe: 139 W

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denzen zwischen philosophischer und poetischer Denkweise noch intensiviert. Der philosophischen Grundierung des Mythos in der antiken Literatur scheint eine komplementäre Poetisierung der Philosophie zu entsprechen, sofern das Potential von Metaphorik, Gleichnis oder Allegorie zum Erkenntnisstimulans und zum Medium der Versinnlichung zugleich avanciert. In den Parerga und Paralipomena II konstatiert Schopenhauer: »Nicht nur ist […] alle Evidenz anschaulich, sondern auch alles wahre und echte Verständnis der Dinge ist es«.146 In diesem Sinne deutet er »die unzähligen tropischen Ausdrücke in allen Sprachen« als »Bestrebungen […], alles Ab­strakte auf ein Anschauliches zurückzuführen«.147 Wenn Schopenhauer für jedes genuine Verstehen prinzipiell voraussetzt, »daß man es anschaulich erfasse, ein deutliches Bild davon empfange, womöglich aus der Realität selbst, außerdem aber mittelst der Phantasie«,148 dann vollzieht er im Hinblick auf den Stellenwert von Anschauung und Phantasie erneut einen auch für die Ästhetik relevanten Brückenschlag zwischen Philosophie und Poesie.149 er Begriffsbildung auf die Konstitu­t ion von Analogien zurück: »Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen.« (Ebd., S. 880.) 146 P II (Lö), S. 60. 147 Ebd. 148 Ebd., S. 61. 149 Interessanterweise reflektiert Schopenhauer die Relation zwischen Begriff und Anschauung auch in seiner Theo­r ie der Poesie und konstruiert dabei seinerseits ein Gleichnis: Indem er eine Analogie zwischen chemischen Experimenten und poetischer Sprachverwendung herstellt, versucht er den poetischen Umgang mit dem Sprachmaterial der »ab­strakten Begriffe« zu veranschaulichen: »Wie der Chemiker aus völlig klaren und durchsichtigen Flüssigkeiten, indem er sie vereinigt, feste Niederschläge erhält; so versteht der Dichter aus der ab­strakten, durchsichtigen Allgemeinheit der Begriffe, durch die Art, wie er sie verbindet, das Konkrete, Individuelle, die anschauliche Vorstellung gleichsam zu fällen. Denn nur anschaulich wird die Idee erkannt: Erkenntnis der Idee ist aber der Zweck aller Kunst« (W I (Lö), S. 340). – Das von ästhetischen Reflexionen eingerahmte anschauliche Gleichnis ergänzt Schopenhauer um lyrische Exempla: Zum einen nennt er Epitheta ornantia bei Homer als charakteristisch für diese Sprachverwendung. Zum anderen zitiert er ein suggestives Beispiel lyrischer Diktion, nämlich zwei Verse aus dem Lied Mignons in Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (III, 1): »Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, / Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht« (W I (Lö), S. 341). Das »Labyrinth des Lebens« im Spiegel der Literatur  |  327

Inwiefern Schopenhauer aus dem Primat der Anschauung Konsequenzen für sein eigenes Konzept der Philosophie ableitet, zeigt sein Postulat: »mehr noch als jeder andere soll der Philosoph aus jener Urquelle, der anschauenden Erkenntnis, schöpfen und daher stets die Dinge selbst, die Natur, die Welt, das Leben ins Auge fassen, sie und nicht die Bücher«.150 – Mit diesen Prämissen korrespondieren Aussagen im Eröffnungsmonolog von Goethes Faust, der sich schon zu Beginn des Dramas »Beschränkt von diesem Bücherhauf«151 fühlt, »Von allem Wissensqualm entladen«152 werden will und sich nach »der lebendigen Natur«153 sehnt. Prononciert erklärt er: »Und wenn Natur dich unterweist, / Dann geht die Seelenkraft dir auf«.154 Von der Lebensferne im »Kerker«155 seiner Gelehrtenexistenz frustriert, die ihm auch »in tausend Büchern«156 keine Ganzheitserfahrung ermöglicht, erhofft Faust dann von »der Magie«,157 dass sich »Die Kräfte der Natur rings um mich her enthüllen«158 und einen intuitiven Zugang zur Totalität der Wirklichkeit eröffnen. Wie Goethes Faust verbindet auch Schopenhauer mit dem Anspruch auf einen genuinen Naturbezug das Bild der Quelle. Schon in der metaphorischen Charakterisierung der »anschauenden Erkenntnis« als »Urquelle«159 setzt Schopenhauer seinen Anspruch auf sinnliche Plastizität selbst konkret um. – Bereits in Goethes Faust I spielt die Metapher des Lebensquells eine zentrale Rolle, und zwar als Sehnsuchtsziel des Gelehrten Faust, der seines Bildungsballasts und der Distanz zu konkreter sinnlicher Welterfahrung überdrüssig geworden ist. In dieser Hinsicht ist schon der große Monolog Fausts in der ersten Szene des Dramas aufschlussreich, in der »Natur« zum Schlüsselbegriff avanciert.160 Nachdem im »Prolog im Himmel« bereits der Herr die Quell-Metapher gebraucht hat (»Zieh diesen Geist 150 P

II (Lö), S. 61. Faust, HA 3, V. 402. 152 Ebd., V. 396. 153 Ebd., V. 414. 154 Ebd., V. 423/424. 155 Ebd., V. 398. 156 Ebd., V. 661. 157 Ebd., V. 377. 158 Ebd., V. 438. 159 P II (Lö), S. 61. 160 Vgl. Goethe: Faust, HA 3, V. 414, 423, 438, 441, 455. 151 Goethe:

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von seinem Urquell ab«),161 gewinnt sie eine geradezu existentielle Intensität in Fausts verzweifelter Sehnsucht unmittelbar vor seiner Erdgeist-Vision: »Wo fass’ ich dich, unendliche Natur? / Euch Brüste, wo? Ihr Quellen allen Lebens, / […] Ihr quellt, ihr tränkt, und schmacht’ ich so vergebens?«162 – Die Metaphorik der Quelle, die Goethe hier mit der Allegorie der Natur als stillender Mutter verbindet, exemplifiziert die Thesen Schopenhauers zur Funktion des Gleichnisses, das als Erkenntnisstimulans wirken und zugleich sinnlich vermittelte Evidenz schaffen kann. Ähnliches gilt für die Befreiungsvision, die Faust im Zusammenhang mit seiner Suizid-Absicht formuliert: »Des Geistes Flutstrom ebbet nach und nach. / Ins hohe Meer werd’ ich hinausgewiesen, / Die Spiegelflut erglänzt zu meinen Füßen, / Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag«.163 Affinitäten zu dieser Bildlichkeit weist Schopenhauers Utopie einer »gänzliche[n] Meeresstille des Gemüts«164 auf, die antike Ataraxie-Vorstellungen mit dem indischen NirwanaIdeal verschmilzt. Übrigens gibt es von Goethe ein Gedicht mit dem Titel »Meeresstille«, in dem die »Glatte Fläche« des Meeres assoziativ mit der Vorstellung der »Todesstille« verbunden wird.165 Primär ist das in Goethes Faust I im Kompositum »Spiegelflut« enthaltene Spiegelmotiv allerdings mit dem Bereich der Erkenntnis verbunden: »Ganz nah« fühlt sich Faust im Zusammenhang mit seiner Erdgeist-Vision »dem Spiegel ew’ger Wahrheit«.166 Und Schopenhauer verbindet mit dem Spiegelmotiv das Telos einer Erkenntnis des Wesens von Leben und Welt, die durch Desillusionierung, durch das Zerreißen des Schleiers der Maja und die Überwindung des principium individuationis möglich wird. In diesem Sinne spricht er vom »Spiegel des Lebens, der Menschheit, der Welt«.167 Seiner Auffassung zufolge begleitet die durch ästhetische Kontemplation in ihrem Wesen erkannte Welt als »Spiegel des Willens« diesen nicht nur »zu seiner Selbsterkenntnis«, sondern auch »zur 161 Ebd.,

V. 324. V. 455–459. 163 Ebd., V. 698–701. 164 W I (Lö), S. 558. 165 Goethe: Meeresstille, HA 1, S. 242, V. 4, 6. 166 Goethe: Faust, HA 3, V. 615. 167 W I (Lö), S. 352. 162 Ebd.,

Das »Labyrinth des Lebens« im Spiegel der Literatur  |  329

Möglichkeit seiner Erlösung«.168 Am Ende dieses Prozesses steht die bereits erwähnte Utopie einer »gänzliche[n] Meeresstille des Gemüts«.169 Außer der Leidenserfahrung ist dann laut Schopenhauer auch der fundamentale Egoismus überwunden, den er durch das principium individuationis bedingt sieht. In seiner pessimistischen Willensmetaphysik entwirft er vom Menschen ein völlig illusionsloses Bild, etwa wenn er in den Parerga und Paralipomena II konstatiert: Da nistet in jedem zunächst ein kolossaler Egoismus, der die Schranke des Rechts mit größter Leichtigkeit überspringt, wie dies das tägliche Leben im Kleinen und die Geschichte auf jeder Seite im Großen lehrt. Liegt denn nicht schon in der anerkannten Notwendigkeit des so ängstlich bewachten europäischen Gleichgewichts das Bekenntnis, daß der Mensch ein Raubtier ist, welches, sobald es einen Schwächeren neben sich erspäht hat, unfehlbar über ihn herfällt […]?170

Schopenhauers vernichtendes Urteil über den homo sapiens lautet: »Der Mensch ist im Grunde ein wildes entsetzliches Tier«.171 Ironisch spricht er vom »Wesen des Menschen, dieses Gottes κατ᾽ ἐξοχήν der Pantheisten«.172 Er selbst betont »den teuflischen Charakter« des Menschen, »der weit ärger ist als der bloß tierische«.173 Bereits in Goethes Faust I formuliert Mephisto ein ebenso nega­ tives Verdikt über den Menschen. Ausgehend vom Topos des animal rationale, erläutert er seine desillusionierte Perspektive auf den »kleine[n] Gott der Welt«174 im »Prolog im Himmel« gegenüber dem Herrn so: »Ein wenig besser würd’ er leben, / Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; / Er nennt’s Vernunft

168

Ebd., S. 371. Ebd., S. 558. 170 P II (Lö), S. 252 f. Analog zu Schopenhauer konstatiert Nietzsche in seiner Schrift Schopenhauer als Erzieher: »da laufen die verfeinerten Raubthiere und wir mitten unter ihnen« (Friedrich Nietzsche: Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 378). – Und Goethes Faust sagt im Zusammenhang mit Mephistos Pakt-Offerte über ihn: »der Teufel ist ein Egoist« (HA 3, V. 1651). 171 P II (Lö), S. 251. 172 Ebd., S. 252. 173 Ebd., S. 254. 174 Goethe: Faust, HA 3, V. 281. 169

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und braucht’s allein, / Nur tierischer als jedes Tier zu sein«.175 Später prognostiziert Mephisto in der Szene »Auerbachs Keller in Leipzig« mit Blick auf die dort zechenden Saufkumpane: »Gib nur erst acht, die Bestialität / Wird sich gar herrlich offenbaren«.176 Die alsbald tatsächlich ausbrechende Aggressivität der betrunkenen Männer bestätigt Mephistos Prognose schon wenig später. – Der Divergenz von bestialischer Natur und zivilisatorischer Fassade, die auch in Goethes Faust I hervortritt, entspricht Schopenhauers Explikation zu seinem Bild vom Menschen als »wildes entsetzliches Tier«, das »an Grausamkeit und Unerbittlichkeit keinem Tiger und keiner Hyäne nachsteht«: »Wir kennen es bloß im Zustande der Bändigung und Zähmung, welcher Zivilisation heißt; daher erschrecken uns die gelegentlichen Ausbrüche seiner Natur«, etwa dort, wo »Anarchie eintritt«.177 Zu den negativistischen Tendenzen Mephistos und den nihilistischen Anwandlungen Fausts in Goethes Drama weist Schopenhauers pessimistische Willensmetaphysik deutliche Affinitäten auf. Schon im »Prolog im Himmel« erklärt Mephisto dem Herrn, er finde es »auf der Erde […] herzlich schlecht«.178 Mit diesem Verdikt widerspricht er der Eloge der drei Erzengel, die im Angesichts Gottes erklären: »Und alle deine hohen Werke / Sind herrlich wie am ersten Tag«.179 – Eine analoge Opposition ist in der Welt als Wille und Vorstellung II festzustellen: Hier distanziert sich Schopenhauer nachdrücklich von Leibniz als dem »Begründer des systematischen Optimismus«,180 indem er genau die Gegenposition zu ihm einnimmt: mit der These, dass die Welt »die schlechteste unter den möglichen sei«; denn wäre sie »noch ein wenig schlechter, so könnte sie schon nicht mehr bestehn«.181 – Und Goethes Mephisto-Figur 175 Ebd.,

V. 283–286. Schopenhauer relativiert den Status des Menschen als »denkendes Wesen«, als animal rationale, wenn er betont, »daß der intellektuelle Gesichtskreis des Normalmenschen zwar über den des Tieres […] hin­ausgeht, aber doch nicht so unberechenbar weit, wie man wohl anzunehmen pflegt« (P II (Lö), S. 587). 176 Goethe: Faust, HA 3, V. 2297/2298. 177 P II (Lö), S. 251. 178 Goethe: Faust, HA 3, V. 295 f. 179 Ebd., V. 269 f. 180 W II (Lö), S. 745. 181 Ebd, S. 747. Das »Labyrinth des Lebens« im Spiegel der Literatur  |  331

stellt sich dem Gelehrten Faust bereits bei der ersten Begegnung mit dem symptomatischen Bekenntnis vor: »Ich bin der Geist, der stets verneint! / Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, / Ist wert, daß es zugrunde geht; / Drum besser wär’s, daß nichts entstünde«.182 Mit dieser Mentalität Mephistos korrespondiert Fausts eigene Tendenz zur Lebensverneinung, die schon in seinem Suizid-Impuls zu Beginn183 und später in seiner radikalen nihilistischen Fluchrede184 Ausdruck findet. Im Hinblick auf die essentielle Leidensdimension des Wollens bei Schopenhauer ist der Monolog Fausts symptomatisch, der dieser Fluchrede vorangeht: »In jedem Kleide werd’ ich wohl die Pein / Des engen Erdelebens fühlen. […] Was kann die Welt mir wohl gewähren? / Entbehren sollst du! sollst entbehren!«185 Und nachdem Faust die lebenslang ausbleibende Wunscherfüllung als Ursache seiner Verzweiflung benannt hat,186 formuliert er die Quintessenz: »Und so ist mir das Dasein eine Last, / Der Tod erwünscht, das Leben mir verhaßt«.187 – Analog äußert sich Schopenhauer in der Welt als Wille und Vorstellung I, indem er konstatiert, dass das Menschenleben »schon der ganzen Anlage nach keiner wahren Glückseligkeit fähig, sondern wesentlich ein vielgestaltetes Leiden und ein durchweg unseliger Zustand ist«,188 dem »gänzliches Nichtsein […] entschieden vorzuziehn wäre«.189 Im Anschluss an die nihilistische Fluchrede, mit der Goethes Faust die »schöne Welt« verbal »zerstört« hat,190 will ein unsicht­ barer Geisterchor »Die Trümmer ins Nichts hinüber«191 tragen. Und als sich Faust anschickt, Suizid zu begehen, nimmt er bewusst die »Gefahr« in Kauf, »ins Nichts dahinzufließen«.192 – Dieselbe Meta­ phorik wie Goethe verwendet später auch Schopenhauer, wenn er Faust, HA 3, V. 1338–1341. ebd., V. 690–736. 184 Vgl. ebd., V. 1587–1606. 185 Ebd., V. 1544–1549. 186 Vgl. ebd., V. 1552–1557. 187 Ebd., V. 1570/1571. 188 W I (Lö), S. 443. 189 Ebd., S. 445. 190 Goethe: Faust, HA 3, V. 1608/1609. 191 Ebd., V. 1614. 192 Ebd., V. 719. 182 Goethe: 183 Vgl.

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in der Welt als Wille und Vorstellung I die Konsequenzen der Verneinung des Willens zum Leben reflektiert: »Vor uns bleibt allerdings nur das Nichts. Aber das, was sich gegen dieses Zerfließen ins Nichts sträubt, unsere Natur, ist ja eben nur der Wille zum Leben«.193 Ist er überwunden und damit auch der Rhythmus »des rastlosen Dranges und Treibens« und »der nie befriedigten und nie ersterbenden Hoffnung, daraus der Lebenstraum des wollenden Menschen besteht«,194 dann gilt: »Kein Wille: keine Vorstellung, keine Welt.«195 – Und das in Goethes Faust I mehrfach exponierte »Nichts«196 avanciert dann auch zum markanten Schlusswort von Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung I: was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrigbleibt, ist für alle die, welche noch des Willens voll sind, allerdings nichts. Aber auch umgekehrt ist denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – nichts.197

193 W

I (Lö), S. 557. Ebd., S. 557 f. 195 Ebd., S. 557. 196 Goethe: Faust, HA 3, V. 719, 1341, 1614, 3245. 197 W I (Lö), S. 558. 194

Das »Labyrinth des Lebens« im Spiegel der Literatur  |  333

Bibliographie Hunger, Herbert: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Reinbek bei Hamburg 1974. Kaiser, Gerhard: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis Heine. Erster Teil. Frankfurt a. M. 1988. Löhneysen, Wolfgang von: Im Blickfeld: Goethe und Schopenhauer. Abhandlungen zu Literatur und Kunst. St. Augustin 2001. Neymeyr, Barbara: Ästhetische Autonomie als Abnormität. Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik. Berlin/New York 1996. – : Navigation mit ›virtus‹ und ›fortuna‹. Goethes Gedicht Seefahrt und seine stoische Grundkonzeption. In: Goethe-Jahrbuch 115 (1998), S. 29– 44. (Auch in: Barbara Neymeyr / Jochen Schmidt / Bernhard Zimmermann (Hg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. Berlin/New York 2008, Bd. 2, S. 875–895.) – : Die Proklamation schöpferischer Autonomie. Poetologische Aspekte in Goethes Prometheus-Hymne vor dem Horizont der mythologischen Tradition. In: Olaf Hildebrand (Hg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen. Köln/Weimar/Wien 2003, S. 28–49. – : Ethische Aspekte einer Ästhetik des Tragisch-Erhabenen. Zur Dra­men­ theo­rie Schillers und Schopenhauers. In: Lore Hühn (Hg.): Die Ethik Arthur Schopenhauers im Ausgang vom Deutschen Idealismus (Fichte/ Schelling). Würzburg 2006, S. 265–280. – : Das Tragische – Quietiv oder Stimulans des Lebens? Nietzsche contra Schopenhauer. In: Lore Hühn / Philipp Schwab (Hg.): Die Philosophie des Tragischen: Schopenhauer – Schelling – Nietzsche. Berlin/Boston 2011, S. 369–391. – : Intertextuelle Transformationen. Goethes ›Werther‹, Büchners ›Lenz‹ und Hauptmanns ›Apostel‹ als produktives Spannungsfeld. Heidelberg 2012. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/ New York 1980. [= KSA] Schiller, Friedrich: Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a. M. 1992. (= Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Otto Dann et al. Frankfurt a. M. 1988–2004, Bd. 8) Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, 2 Bde. Heidelberg 32004. 334  |  Barbara Neymeyr 

– : Goethes Faust. Erster und Zweiter Teil. Grundlagen – Werk – Wirkung. München 1999. Seneca, Lucius Annaeus: Ad Lucilium epistulae morales. 2 Bde. Lateinisch und deutsch. Hg., übersetzt und eingeleitet von Manfred Rosenbach. Darmstadt 1980–1989. (= Philosophische Schriften, Bd. 3–4) [= Epist.] Wolffheim, Elsbeth: Des Lehrers Bürden. Zur Kontroverse zwischen Goethe und Schopenhauer. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Johann Wolfgang von Goethe. Edition text+kritik. München 1982, S. 267–287.

Das »Labyrinth des Lebens« im Spiegel der Literatur  |  335

Helmut Schanze

»Sie steht ganz abgesondert von allen andern« Musik und die ›Schönen Künste‹ bei Goethe und ­Schopenhauer 1819, in der ersten Auflage von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung findet sich ein Diktum, das in der Musiktheo­rie über Wagner, Nietzsche, Schönberg, Adorno und in der ›Neuen Musik‹ bis ins 20. Jahrhundert hinein eine unabsehbare Rezeption erfahren hat. Nach der systematischen Betrachtung der Künste, »anfangend von der schönen Baukunst«, »beschließend mit dem Trauerspiel« – bei Hegel die höchste Kunst, bei Schopenhauer »auf der höchsten Stufe der Objektität des Willens« – finden wir, daß dennoch eine schöne Kunst von unsrer Betrachtung ausgeschlossen geblieben ist und bleiben mußte, da im systematischen Zusammenhang unsrer Darstellung gar keine Stelle für sie passend war: es ist die Musik. Sie steht ganz abgesondert von allen andern.1

Während alle anderen Künste dem Grundsatz der »Nachbildung, Wiederholung irgend einer Idee der Dinge in der Welt« unterlägen, so wirke die Musik »so mächtig auf das Innerste des Menschen, wird dort so ganz und so tief von ihm verstanden als eine ganz allgemeine Sprache, deren Deutlichkeit sogar die der anschaulichen Welt selbst übertrifft«.2 Diese transrhetorische Evidenz der Musik ist, nach Schopenhauer, gegründet in einer »ernstere[n]« und »tiefere[n], sich auf das innerste Wesen der Welt und unsers Selbst beziehende Bedeutung«, die sich nicht auf »Zahlenverhältnisse« reduzieren lasse.3 Die hyperbolische Rede über die Wirkung der Musik gipfelt im Satz, dass die Musik das reine Abbild des Willens selber sei: »Die Musik ist nämlich eine so unmittelbare Objektität und Abbild des ganzen Willens, 1

W 1, S. 367 f. Ebd., S. 368. 3 Ebd. 2

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als die Welt selbst es ist«, sie sei »Abbild des Willens selbst«, »von der erscheinenden Welt ganz unabhängig«.4 Der »Mythos Musik«5 als einer der zentralen Diskurse der Romantik wird von Schopenhauer mit der These der systematisch abgesonderten Stellung der Musik auf einen Höhepunkt geführt. Als »Abbild des Willens selbst« tritt die musikalische Kunst in den Rang eines metaphysischen Prinzips, des ›Dings an sich‹, das – mit Kant – nur in seinen Erscheinungen erkannt werden kann. Schelling hatte das ›Absolute‹ als ›intellektuelle Anschauung‹ zum Prinzip seiner Kunstphilosophie erklärt, die »Formen der Musik« als »Formen der Dinge an sich«.6 In seiner Phänomenologie des Geistes von 1807 jedoch verwarf Hegel das »Absolute« als Prinzip in die »Nacht«, in der »alle Kühe schwarz« seien.7 Im Aufstieg zum »absoluten Wissen« steht das »Trauerspiel« als höchste Form auf der Stufe der Kunstwerke. Die inkommensurable Stellung der Musik im System der Künste bei Schopenhauer wiederum durchbricht das Hegel’sche Konzept einer hierarchischen Ordnung der Künste.8 Die folgenden Überlegungen können nicht der Rezeptionsgeschichte des Schopenhauer’schen Diktums nachgehen. Dazu sind Musikhistoriker und Musiktheoretiker gefragt. Sie könnten den Gehalt und die Haltbarkeit seiner Ausführungen zum Thema Musik in Frage stellen. Einwände sind bereits im 19. Jahrhundert von der allgemeinen Ästhetik formuliert worden.9 Auch kann die Frage nach einer »Metaphysik der Musik« und nach den Ursprüngen des Theorems »Musik als Sprache«, wie sie die romantische Musiktheo­ rie gestellt hat, nicht erneut einlässlich verfolgt werden.10 Die Frage ist vielmehr, ob und inwieweit im Satz von der ›abgesonderten‹ Stellung der Musik nicht allein der romantische Diskurs der »Absoluten Musik« sowie Schellings und Hegels ›System‹ leitend ist, sondern   4 Ebd.,

S. 371 (Hervorhebung im Original).   5 Vgl. Christine Lubkoll: Mythos Musik.   6 Friedrich W. J. Schelling: Philosophie der Kunst, SW I/5, S. 501.   7 Georg W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 19.   8 Vgl. Helmut Schanze: Die Anschauung vom hohen Rang des Dramas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine tatsächliche ›Schwäche‹, bes. S. 87.   9 Johannes Volkelt: Arthur Schopenhauer, S. 318: »gewaltige Übersteigerungen« in der Musiktheo­rie. 10 Vgl. Christoph Asmuth: Musik als Metaphysik. »Sie steht ganz abgesondert von allen andern«   |  337

eine für die Epistomologie des Hauptwerks zentrale Theo­rie- und Lebenserfahrung: der Bezug auf Goethes Naturlehre der Musik, die dieser im Text seiner 1810 erschienenen Farbenlehre postuliert. Die Vorgehensweise im Folgenden ist historisch, in einem bestimmbaren Sinne sogar biographisch. Sie bezieht sich – einschränkend – auf das Verhältnis des jungen Schopenhauer zu Goethe im Jahrzehnt von 1808 bis 1818, vom Eintritt in den Weimarer Kreis bis zum Abschluss des Hauptwerks. Es geht um eine spezifische historische Konstellation, in der die Rede von der ›abgesonderten‹ Stellung der Musik im System der Künste bei Schopenhauer erscheint. Dieses Jahrzehnt ist, historisch wie literaturhistorisch, ein Jahrzehnt des Umbruchs, politisch wie allgemein kulturhistorisch, aber auch literarisch und musikalisch. 1808 steht Napoleon, der ›Kaiser der Franzosen‹ auf dem Höhepunkt seiner Macht, die er auf dem ›Erfurter Fürstentag‹ demonstriert. Der ›Weltkrieg‹ endet 1815 mit dem Sieg der Alliierten, der ›Heiligen Allianz‹ über das napoleonische Frankreich, das sich gleichwohl als europäische Macht beweist. Für die Generation der Romantiker um 1800 ist Goethe die ›göttliche Exzellenz‹, das Vorbild, dessen Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre gleichwohl zu übertreffen wäre. 1808 erscheint der erste Teil des Faust – das Musterwerk der Tragödie in der zeitgenössischen Diskussion. Im Frühjahr 1808 kehrt Friedrich Schlegel aus Paris zurück, besucht Goethe in Weimar und wendet sich über Dresden nach Wien. Dieser geht unübersehbar auf Distanz zum Programmatiker der Romantik. Von Karlsbad aus, wo Goethe den Sommer 1808 verbringt, schleudert er sein oft so verstandenes Anathema gegen den Konvertiten: Schlegel brauche seine Erkenntnisse über »Sprache und Weisheit der Indier« eigentlich nur als »Vehikel«, »um gewisse Gesinnungen nach und nach ins Publicum zu bringen und sich mit einem gewissen ehrenvollen Schein als Apostel einer veralteten Lehre darzustellen«.11 Mit Kleists Penthesilea kann sich Goethe »nicht befreunden«.12 Die ›Talente‹ Kleist und Adam Müller scheitern 1809 mit ihrem neuen Journal Phöbus. Noch 1820 sieht Goethe »Classiker« und »Romantiker« in der Kunstszene »sich heftig bekämpfend«.13 In der Literaturszene aber kommt es, nach 11 Goethe

an Reinhard, 22. 6. 1808, WA IV/20, S. 96. an Kleist, 1. 2. 1808, WA IV/20, S. 15. 13 Goethe: Classiker und Romantiker in Italien, WA I/41.1, S. 133–143. 12 Goethe

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den einschneidenden Differenzen, durchaus – wieder – zu Annäherungen. 1826 erscheint die hochmusikalische Helena als KlassischRomantische Phantasmagorie, so der Untertitel. 1808 ist aber auch ein Epochenjahr der Musikgeschichte. In Wien findet die Uraufführung der 5ten Sinfonie Beethovens statt. 1810 rezensiert E. T. A. Hoffmann sie in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung und macht sie zum Paradigma der musikalischen Romantik, und, mit Carl Dahlhaus, der ›absoluten Musik‹: Tief im Gemüthe trägt Beethoven die Romantik der Musik, die er mit hoher Genialität und Besonnenheit in seinen Werken ausspricht. Lebhafter hat Rec. dies nie gefühlt, als bey der vorliegenden Symphonie, die in einem bis zum Ende fortsteigenden Climax jene Romantik Beethovens mehr, als irgend ein anderes seiner Werke entfaltet, und den Zuhörer unwiderstehlich fortreisst in das wundervolle Geisterreich des Unendlichen.14

In diesem politisch-literarisch-musikalischen Kontext, 1807, kommt der verspätete Gymnasiast Arthur Schopenhauer ins ›klassische‹ Weimar. Er wohnt, wenn auch nur zeitweilig, bei seiner Mutter. Diese aber ist die weltoffene Salonière, die Hauptperson in einem Zirkel, dessen unbestrittener Mittelpunkt Goethe ist. Dessen Beschreibung der »Societät« der Johanna Schopenhauer in Weimar im Brief an den ›Urfreund‹ Knebel vom 25. November 1808 lässt nur sie, die Mutter, erscheinen: Bey Frau Hofrath Schopenhauer sind der Donnerstag und der Sonntag jeder auf seiner Art interessant: der erste wegen vieler Societät, wo man eine sehr mannigfaltige Unterhaltung findet; der zweyte, wo man wegen kleinerer Societät genöthigt ist, auf eine concentrirte und concentrirende Unterhaltung zu denken; und was du dir kaum vorstellen könntest, in kurzem wird unser geselliges Wesen eine Art von Kunstform kriegen, an der du dich gelegentlich selbst ergetzen sollst.15

Goethe notiert 1807–1808, trotz des langen Aufenthaltes in Karlsbad, über 30 Besuche, abends oder mittags bei Madame Schopenhauer. Ob er den Sohn bereits 1807/08 persönlich kennen lernt, 14 Carl

Dahlhaus: E. T. A. Hoffmanns Beethoven-Kritik und die Ästhetik des Erhabenen. 15 Goethe an Knebel, 25. 11. 1808, WA IV/20, S. 223 f. »Sie steht ganz abgesondert von allen andern«   |  339

ist damit nicht belegbar. Er wird nicht erwähnt, geschweige denn seine Liebesdinge und sein furchtbares Gedicht.16 Gerichtet ist es, wie man zu wissen glaubt, an keine geringere als die Favoritin des Herzogs, an ›Demoiselle Jagemann‹, die Sängerin, Schauspielerin und Weimarer Operndiva, seit 1809 Henriette Karoline Friedericke Jagemann von Heygendorff.17 Sie wird 1809 vom Herzog zur Operndirektorin ernannt. Goethes Reaktion ist in der Forschung viel, aber keineswegs abschließend diskutiert worden. Namentlich tritt der junge Schopenhauer erst Ende 1813 mit seiner Dissertation Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde in den Interessenkreis Goethes ein. 1816 erscheint Ueber das Sehn und die Farben, der Versuch einer Fortschreibung der Farbenlehre Goethes. Schopenhauer nimmt Goethes ›subjek­ tiven‹ Ansatz auf und radikalisiert ihn im Sinne seiner philosophischen Konzeption. Aber der eingreifendste und weitreichendste Versuch einer fortschreibenden Abgrenzung Schopenhauers gegenüber Goethe, dem Allwill – so der Titel des auf den jungen Goethe gemünzten Romans des Philosophen Friedrich H. Jacobi –, ist das philosophische Hauptwerk, Die Welt als Wille und Vorstellung, dem die eingangs zitierten Passagen über die ›abgesonderte‹ Stellung der Musik entnommen sind. Das Besondere dieser Konstellation ist die von Schopenhauer behauptete Nähe. Er wählt ein Goethe’sches Motto für sein Werk, das aus einem Festgedicht für den Staatsminister von Voigt, Freund, Kollegen und Vorgesetzten aus dem Jahr 1816 stammt, um das Primat seines eigenen Standpunktes zu formulieren: Herrn Staats-Minister von Voigt zur Feier des 27. Septembers 1816 Von Berges Luft, dem Äther gleich zu achten, Umweht, auf Gipfelfels hochwaldiger Schlünde, Im engsten Stollen, wie in tiefsten Schachten Ein Licht zu suchen, das den Geist entzünde, War ein gemeinsam köstliches Betrachten, Ob nicht Natur zuletzt sich doch ergründe? 16 »Der

Chor zieht durch die Gassen, / Wir stehn vor deinem Haus; / Mein Leid würd’ mir zu Freuden, / Sähst du zum Fenster aus.« 17 Vgl. Bertold Heizmann: Der Theaterdirektor Goethe und seine Schauspielerinnen. 340  |  Helmut Schanze 

Und manches Jahr des stillsten Erdelebens Ward so zum Zeugen edelsten Bestrebens.18

Goethes Naturbetrachtung ist Theo­rie im Sinn des Wortes, gehaltene Anschauung. Das Ergründen ist ebenfalls wörtlich zu nehmen, es geht ganz konkret um Grund und Boden, um Fels, Wald, Bergwerksstollen, Schächte und Grubenlicht, um sinnliche Erfahrung, die den »Geist entzünde[t]«, um den metaphorischen Prozess. Es geht um die Elemente, um Wasser, Feuer, Luft und Erde der Zauberflöte Schikaneders und Mozarts, der »Classischen Walpurgnisnacht« des noch auszuführenden »Zweiten Theils« des Faust. Trotz aller modernen Technologie, des Kunstzeugs des Bergbaus, die hier angesprochen ist: Goethe denkt Natur in den Termini der Antike. Schopenhauer dagegen denkt Natur von seinem eigenen Ansatz her, den er in seiner Dissertation Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde entwickelt hat. Die Naturmetaphern  – ›Wurzel‹ und ›Grund‹ – sind Begriffe geworden, mit Nietzsche: ›erblasste‹ Metaphern.19 Schopenhauers Philosophie tritt selbst­ bewusst als Theo­rie der Erkenntnis auf, die zugleich Lebensentwurf ist, um den Titel von Friedrich Schlegels später Wiener Vorlesung (1827) aufzunehmen, als »Philosophie des Lebens«. Die Passagen über die ›abgesonderte‹ Stellung der Musik stehen am Ende des dritten Buchs des Hauptwerks. Das letzte der vier Bücher ist dem ›Willen zum Leben‹, als dem ›Ding an sich‹, gewidmet. These der folgenden Überlegungen ist, dass Schopenhauer an zentraler Stelle seiner Philosophie dem unbestrittenen Meister der Sprache und Dichtkunst in dessen ureigenstem Feld entgegentritt und ihn förmlich zu überbieten trachtet. Was in Ueber das Sehn und die Farben noch wie ein jugendlicher Übermut erscheinen mag, den Goethe ironisch quittiert, kommt im Hauptwerk einer theo­ retischen Abrechnung gleich. Wenn er über die Dichtkunst mit der Musik eine ›allgemeine Sprache‹ stellt, trifft er das punctum saliens der Theo­riebildung Goethes nicht nur im Bereich der Künste, sondern auch in dessen pragmatischer Erkenntnistheo­rie. 18 Goethe:

Herrn Staats-Minister von Voigt zur Feier des 27. Septembers 1816, WA I/4, S. 15 (Hervorhebung H. S.). 19 Vgl. Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermora­ lischen Sinne, KSA 1, S. 883 f. »Sie steht ganz abgesondert von allen andern«   |  341

Wie aber steht es um Goethes Verhältnis zur Musik in einem musikhistorischen Epochenjahr 1808, dem Jahr der ›Fünften‹ Beethovens?20 Auf eine ausführliche Erörterung des Musikdenkens seit der Antike, beiden, Goethe wie Schopenhauer, präsent, muss hier verzichtet werden. Im Sinne der Begrifflichkeit Goethes und Theodor W. Adornos soll vielmehr der Schwerpunkt auf den ›Erfahrungsgehalt‹ der Theo­rie und deren Aktualität für den Dichter und den Philosophen gelegt werden. Kern des Verhältnisses von Goethe nicht nur zur Musik ist die Lehre von den zwei Ästhetiken, der des ›Reizenden‹ und der des ›Erhabenen‹, wie sie Kant und die Aufklärung gelehrt haben. Die romantische Theo­rie um 1800 hatte eine Synthese des ›Reizenden‹ und des ›Erhabenen‹ zum ›Schönen‹ in seiner vollen Geltung versucht: »Schön ist, was zugleich reizend und erhaben ist«, so Friedrich Schlegel im Athenäums-Fragment 108.21 Novalis ›übersetzt‹ das Fragment körperlich-medizinisch: »Was zugleich excitirt und deprimirt«.22 Goethe dagegen erfährt durchgehend den Bruch zwischen dem musikalisch Erhabenen und dem musikalisch Schönen. Beispielhaft ist sein Verhältnis zu Beethovens Instrumentalmusik. Musik soll melodisch, harmonisch, rhythmisch sein. ›Absolute Musik‹ jedoch stellt Melodie, Harmonik und Rhythmik immer wieder in Frage. ›Große‹ Musik erfährt er – lebenslang – als körperliche Erschütterung, als Bruch mit dem Gewöhnlichen. Sie ist für Goethe die Kunst, deren Wirkung unabsehbar ist. In den Jahren von 1806–1810 formuliert er, im Anschluss an seine Farbenlehre, Elemente einer Tonlehre. Ihre Bearbeitung bildet ein Projekt bis zu seinem Tode; ihr Schema, eine Tafel oder Tabelle zum Zweck eines belehrenden Vortrags, ist bis heute im ›Sterbezimmer‹ des Weimarer Goethehauses zu sehen. 1806 postuliert er in seiner Wunderhorn-Besprechung drei Kompositionsstile. Sie sind abzuleiten vom Dreischritt des Stilhöhen­ konzepts der klassischen Rhetorik, vom einfachen, dem mittleren und dem hohen, erhabenen Stil. Er geht von den »bekannten, hergebrachten« über die charakteristisch, sich anschmiegenden des 20 Vgl.

Helmut Schanze: »Man möchte sich fürchten, das Haus fiele ein«; auch ders.: Goethe-Musik. 21 Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente, Nr. 108, KFSA I/2, S. 181. 22 Novalis: Das philosophische Werk, S. 632. 342  |  Helmut Schanze 

»Liebhabers« bis zu den »neuen, bedeutenden« Melodien des musi­ kalischen Genies, im Sinne einer Gottesgabe.23 1808 ist das Jahr, in dem, erstmals, nicht nur von einem »Zweiten Theil« des Faust die Rede ist, sondern auch von den abschließenden Formulierungen der Farbenlehre. Die Widmung des ersten, des »Didaktischen Teils« an die Herzogin ist auf den 30. Januar 1808 datiert. Im 748. Abschnitt des »Didaktischen Teils« finden sich Sätze zu einer zukünftigen Tonlehre als eines zweiten Teils des wissenschaftlichen ›Hauptgeschäfts‹: Vergleichen lassen sich Farbe und Ton unter einander auf keine Weise; aber beyde lassen sich auf eine höhere Formel beziehen, aus einer höhern Formel beyde, jedoch jedes für sich, ableiten. Wie zwey ­Flüsse, die auf einem Berge entspringen, aber unter ganz verschiedenen Bedingungen in zwey ganz entgegengesetzte Weltgegenden laufen, so daß auf dem beyderseitigen ganzen Wege keine einzelne Stelle der andern verglichen werden kann; so sind auch Farbe und Ton. Beyde sind allgemeine elementare Wirkungen nach dem allgemeinen Gesetz des Trennens und Zusammenstrebens, des Auf- und Abschwankens, des Hin- und Wiederwägens wirkend, doch nach ganz verschiedenen Seiten, auf verschiedene Weise, auf verschiedene Zwischenelemente, für verschiedene Sinne.24

In der Folge findet sich ein Satz zur Stellung der Musik im Zusammenhang mit einer ›allgemeinen Physik‹, als deren integraler Bestand auch die Tonlehre anzusehen sei: Möchte Jemand die Art und Weise, wie wir die Farbenlehre an die allgemeine Naturlehre angeknüpft, recht fassen, und dasjenige, was uns entgangen und abgegangen durch Glück und Genialität ersetzen; so würde die Tonlehre, nach unserer Ueberzeugung, an die allgemeine Physik vollkommen anzuschließen seyn, da sie jetzt innerhalb derselben gleichsam nur historisch abgesondert steht.25

Farben sind ›Taten und Leiden‹ des Lichts. Ziel der Farbenlehre ist es, diese im Wortsinn ›ästhetische‹ Ansicht der Wirkung und Gegenwirkung an die ›allgemeine Physik‹ anzuschließen. Was für die Helmut Schanze: Goethe-Musik, S. 4 ff. Farbenlehre. Didaktischer Teil, WA III/1, S. 301. 25 Ebd., S. 301 f. 23 Vgl.

24 Goethe:

»Sie steht ganz abgesondert von allen andern«   |  343

Farbenlehre gelungen sei, müsse auch für eine zukünftige Tonlehre erreicht werden. Noch aber stehe diese, so Goethe, »historisch abgesondert«. In einem »Gleichniß als Nachschrift« verwirft Goethe in seinem großen Brief an Zelter aus dem Jahr 1808 ein rein theo­retisches, philosophisches Begriffsdenken, das zu einer Trennung von Natur und Kunst verleite. Im Schluss dieser Überlegungen finden sich, als Beispiel genannt, zwei musikalische Instrumente und deren Kon­ struktion, das Klavier und die Orgel – und der im Briefwechsel mit Zelter immer wieder, fast sehnsüchtig ausgesprochene Wunsch, in einer Stadt eines reichen Musiklebens »meine Wohnung« aufzuschlagen »und zum wahren Lebensgenuß« zu gelangen.26 Beigelegt findet sich eine kurze Darstellung der Tonlehre. Durch Anschluss an die ›allgemeine Physik‹ sei die Trennung von Kunst und Natur auch für die Tonlehre aufzuheben. Kernstück der von Goethe nicht veröffentlichten Tonlehre ist die Lehre von der Natürlichkeit der beiden Tongeschlechter, Dur und Moll, und deren Gegensatz, die er auch gegen den Fachmann Zelter vehement vertritt. In ihr konkretisiert sich die von Goethe postulierte »höhere Formel« der Taten und Leiden musikalisch. So verwirft er, im Sinne seiner Naturlehre, die »Künstlichkeit« der Molltonleiter: »Dass die diatonische Tonleiter allein natürlich sey, dagegen geht eigentlich meine Opposition«.27 Gibt es eine Beziehung zwischen Goethes ›Tonlehre‹ und jener ›Metaphysik der Musik‹, die Schopenhauer im Druck 1819, dezidiert im zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung, unter dem Titel »Zur Metaphysik der Musik«, 1844, vorgelegt hat? Lässt sich, so die Frage, die Schopenhauer’sche These von der abgesonderten Stellung der Musik im System der Künste an Goethes Tonlehre und deren Postulat einer ›nur historischen‹ Absonderung der Musik aus der ›allgemeinen Physik‹ anschließen? Dass Goethe der Musik einen höheren Status als der Dichtkunst zuweisen kann, darauf hat Dieter Borchmeyer hingewiesen. Er hat hier einen Anknüpfungspunkt für Schopenhauer gesehen.28 Ist die Differenz Schopenhauers zu Goethe, zwischen ›Historie‹ und ›Metaphysik‹, in Sachen Musik 26 Goethe

an Zelter, 22. 6. 1808, WA IV/20, S. 87 ff. Ebd., S. 88. 28 Vgl. Dieter Borchmeyer: »Eine Art Symbolik fürs Ohr«, S. 443. 27

344  |  Helmut Schanze 

überbrückbar? Der Versuch einer Antwort auf diese – in der Tat komplexe – Frage fordert erneut den scheinbaren Umweg über die Farbenlehre. Goethes interessierte Lektüre der Dissertation des Dr. »Schoppenhauer« im November und Dezember 1813 führt seit Januar 1814 zu einer Reihe von Gesprächen und gemeinsamen Experimenten, über deren Gegenstand und Inhalt wenig bekannt ist: »Herrn Docktor Schoppenhauer wünsche um eilf Uhr, lieber jedoch um halb eilf bey mir zu sehen, um den ersten klaren Sonnenschein zu benutzen.«29 Der notwendige »Sonnenschein« weist auf Experimente im Rahmen der Farbenlehre hin. Die gemeinsame Arbeit jedoch steht unter einer für beide Seiten unbefriedigenden Konstellation, in der der »Schüler« zum »Lehrer« wird. Was Goethe, später, bei Felix Mendelssohn-Bartholdy, akzeptiert und ihn selbst produktiv werden lässt, löst im Verhältnis zu Schopenhauer eine nur mühsam verborgene Abwehr aus. In einem Epigramm mit dem Titel »Lähmung«, datiert auf den 14. Januar 1814, das »wahrscheinlich auf Schopenhauer gemünzt« ist,30 kommt Goethe bei »Dein Gutgedachtes, in fremden Adern« zum Schluss: »Trüge gern noch länger des Lehrers Bürden, / Wenn Schüler nur nicht gleich Lehrer würden.«31 Im Vorwort zu Ueber das Sehn und die Farben behauptet Schopenhauer, sein Werk sei bereits 1814 druckfertig gewesen. Goethe aber habe das Manuskript mit auf die Reise an Rhein und Main genommen (der Brief Goethes an ihn vom 7. September 1815 weist aus, dass Schopenhauer selbst seine Abhandlung nach Wiesbaden geschickt hat);32 deshalb habe es erst 1816 im Druck erscheinen können. Implizit wirft er Goethe eine verzögernde Zensur vor. In der Abhandlung gibt sich Schopenhauer zwar als Vertreter der Goethe’schen Positionen, versucht sich aber zugleich in einer theo­ retischen Überbietung des Goethe’schen ›Hauptgeschäfts‹. Diese Überbietung besteht darin, dass er die Physiologie des Auges ins Zentrum der Farbentstehung rückt. 29 Goethe

an Schopenhauer, 8. 1. 1814, BmG, S. 9. des Herausgebers Gustav von Loeper 1888, WA I/2, S. 278,

30 Kommentar

355.

31 Goethe: 32 Vgl.

Lähmung, WA I/2, S. 278, zum Datum S. 355. Goethe an Schopenhauer, 7. 9. 1815, WA IV/26, S. 75. »Sie steht ganz abgesondert von allen andern«   |  345

Goethes briefliche Reaktion auf die neue Farbenlehre des ›Schülers‹ ist, bei aller freundschaftlichen Konzilianz, für Schopenhauer nicht gerade schmeichelhaft. Er verweist ihn auf den zuständigen Fachmann, den Arzt und Physiker Dr. Thomas Johann Seebeck (1770–1831), den Entdecker der unterschiedlichen Schwärzung der Silbersalze bei Lichteinwirkung und des thermoelektrischen Effekts. Seebeck ist aber auch der Entdecker der sogenannten ›entoptischen Farben‹ und deren Beziehung zu den chladnischen Klangfiguren. Er stellt damit den von Goethe postulierten Zusammenhang von Farbenlehre und Tonlehre auf dem Stand der Wissenschaft dar. Bei Goethes Hinweis geht es also um die grundsätzliche Frage der Fortschritte einer ›allgemeinen Physik‹. Es geht also nicht nur um die Farbenlehre, sondern auch um die Tonlehre, mit der er sich, gleichzeitig – und prioritär – beschäftigt. Im Briefwechsel mit dem Frankfurter Privatgelehrten Christian Heinrich Schlosser diskutiert Goethe 1815 erneut seinen von Zelter verworfenen Ansatz. Er schickt ihm am 6. Februar 1815 die Tabelle zur Tonlehre zu, erhält postwendend Antwort und kommentiert diese wiederum am 26. Februar. Schopenhauer jedoch besteht im entstehenden Hauptwerk systematisch auf einer ›Metaphysik der Musik‹. Das ›Abbild des Willens‹ entzieht sich der Zuordnung zu einer ›allgemeinen Physik‹. Wenn Schopenhauer die ihm aus dem Studium der Farbenlehre bekannte Formulierung Goethes über die abgesonderte Stellung der Musik – die dieser mit seiner Tonlehre auszugleichen suchte – wörtlich, aber ohne jede Einschränkung, an systematisch zentraler Stelle, aufnimmt, so dürfte dies keinesfalls ein Zufall sein. Farbenlehre wie Tonlehre sind, aus Sicht Goethes, Gegenstände jener »concentrirte[n] und concentrirende[n] Unterhaltung«,33 aus der sich Schopenhauer, in seiner Metaphysik der Musik systematisch konsequent, ausschließt. Hieraus ergibt sich eine Schlussthese der Überlegungen zur Frage: Musik und die ›schönen Künste‹ bei Goethe und Schopenhauer. In seinem Hauptwerk, auch in der späteren Ausführung, nimmt Schopenhauer Momente der doppelten Ästhetik auf, radikalisiert aber die in ihr beschlossene Ästhetik des Erhabenen derart, dass die Musik zu einem Abbild des Willens selber werden kann. Er radikalisiert damit 33 Goethe

an Knebel, 25. 11. 1808, WA IV/20, S. 223 f.

346  |  Helmut Schanze 

nicht nur Goethes Ansatz einer Musik, die aller Dichtung vorausgehe, und den der Bestimmtheit der musikalischen Sprache, sondern auch die von der Musik ausgehende unabsehbare Wirkung. Mit Goethe teilt Schopenhauer den Erfahrungsgehalt, die Wirkung, die von ›erhabener Musik‹ ausgeht. Er schließt aber alle Möglichkeiten aus, mit dem ›Abbild des Willens‹ in ›gewöhnlicher‹ Weise umzugehen. Musik wird allein aus ihrem Pathos erfahren; verworfen wird ihre Nützlichkeit und ihr gesellschaftlicher Gehalt, ihr Ethos. Diese spielen auch in den folgenden Ausführungen, bis zum Ende des dritten Buches, keine Rolle mehr. Vom ›Abbild des Willens‹ gibt es systematisch kein Zurück mehr in die Welt der unterhaltenden Vorstellungen für ›Liebhaber‹. Literaturhistorisch wäre noch zu prüfen, ob sich die Philosophie der ›abgesonderten Stellung‹ der Musik auf den romantischen Einsamkeitstopos, auf die Erfahrung der Fremdheit in dieser Welt, des Müller/Schubert’schen »Fremd bin ich eingezogen«34 beziehen ließe. Dazu wäre eine durchgehende Analyse der philosophischen Rhetorik Schopenhauers nötig, die hier aber nicht geleistet werden kann. Wie Goethe selbst noch im hohen Alter die von ihm erfahrene, von Schopenhauer systematisch postulierte ›Abgesondertheit‹ der Musik erfuhr, dafür kann das dritte Gedicht der »Trilogie der Leidenschaft« stehen, die mit dem Gedicht »An Werther« beginnt. Das erste Gedicht der Trilogie nimmt die Erfahrung des Verlustes auf, die Goethe mit Zelter verbindet, der 1812 seinen Sohn durch Selbstmord verlor. Das dritte und letzte Gedicht überbietet das zweite, die Marienbader »Elegie« mit ihrer, die Biographie überhöhende Musenerscheinung, als Poesie der Poesie. Das Gedicht mit dem para­ digmatischen Titel »Aussöhnung« enthält die Zeilen: Da schwebt hervor Musik mit Engelschwingen, Verflicht zu Millionen Tön’ um Töne, Des Menschen Wesen durch und durch zu dringen, Zu überfüllen ihn mit ew’ger Schöne: Das Auge netzt sich, fühlt im höhern Sehnen Den Götter-Werth der Töne wie der Thränen.35 Müller: Wanderlieder. Die Winterreise. Gute Nacht. Vertont von Franz Schubert, D 911, d-moll. 35 Goethe: Aussöhnung, WA I/3, S. 27. 34 Wilhelm

»Sie steht ganz abgesondert von allen andern«   |  347

Bibliographie Asmuth, Christoph: Musik als Metaphysik. Platonische Idee, Kunst und Musik bei Arthur Schopenhauer. In: Christoph Asmuth / Gunter Scholtz / Franz-Bernhard Stammkötter (Hg.): Philosophischer Gedanke und musikalischer Klang. Zum Wechselverhältnis von Musik und Philosophie. Frankfurt a. M. 1999, S. 111–125. Borchmeyer, Dieter: »Eine Art Symbolik fürs Ohr«. Goethes Musikästhetik. In: Walter Hinderer (Hg.): Goethe und das Zeitalter der Romantik. Würzburg 2002, S. 413–446. Dahlhaus, Carl: E. T. A. Hoffmanns Beethoven-Kritik und die Ästhetik des Erhabenen. In: ders.: 19. Jahrhundert 2. Theo­rie, Ästhetik, Geschichte. Hg. von Hermann Danuser. Laaber 2003, S. 479–491. (= Gesammelte Schriften in 10 Bänden, Bd. 5) Hegel, Georg W. F.: Phänomenologie des Geistes. Hg. von Johannes Hoffmeister. Hamburg 61952. Heizmann, Bertold Heizmann: Der Theaterdirektor Goethe und seine Schauspielerinnen. Warendorf 2014. Lubkoll, Christine: Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800. Freiburg i. Br. 1995. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/ New York 1980. [= KSA] Novalis: Das philosophische Werk. Hg. von Paul Kluckhohn / Richard Samuel. Stuttgart 21965. (= Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2) Schanze, Helmut: Die Anschauung vom hohen Rang des Dramas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine tatsächliche ›Schwäche‹. In: Helmut Koopmann / J. Adolf Schmoll gen. Eisenwerth (Hg.): Beiträge zur Theo­rie der Künste im 19. Jahrhundert, Bd. 1. Frankfurt a. M. 1971. – : Goethe-Musik. München 2009. – : »Man möchte sich fürchten, das Haus fiele ein«. Goethe und die absolute Musik. In: Goethe-Jahrbuch 128 (2011), S. 85–98. Schelling, Friedrich W. J.: Sämmtliche Werke. Hg. von Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart 1856–1861. [= SW] Schlegel, Friedrich: Kritische Ausgabe seiner Werke. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Fortgeführt von Ulrich Breuer. Paderborn 1958 ff. [= KFSA] Volkelt, Johannes: Arthur Schopenhauer. Seine Persönlichkeit, seine Lehre, sein Glaube. Stuttgart 1900. 348  |  Helmut Schanze 

V. Farbenlehre

Niklas Sommer

Der physiologische Idealismus Die Apologie der Farbenlehre »Sei auch noch so viel bezeichnet, Was man fürchtet, was begehrt, Nur weil es dem Dank sich eignet, Ist das Leben schätzenswert.«1 (Goethe: Dem Großherzog Carl August zu Neujahr 1828)

1. Ein facettenreicher Konflikt Eine Annäherung an die Gründe und Ursachen, welche den Diskurs der »Thaten und Leiden«2 der Farbenlehrer, um mich dieses viel zitierten Ausdrucks zu bedienen, zu einer solch konfliktreichen Auseinandersetzung geführt haben, scheint in gewisser Hinsicht schwierig zu sein. Schwierig, weil man nicht umhin zu kommen scheint, sich mit den charakterlichen Dispositionen und dem persönlichen Erwartungshorizont seiner beiden Hauptfiguren, nämlich Goethe und Schopenhauer, auseinander zu setzen. Man wird sich wohl oder übel die Frage stellen müssen, ob es in diesem Konflikt möglich ist, die persönlichen von den wissenschaftlichen Motiven zu trennen. Aus psychologischer Sicht liegt es nahe, den Grund für das Zerwürfnis in den divergierenden Naturen beider Denker zu suchen, nicht aber zwingend in einer theo­retischen Uneinigkeit. In dieser Hinsicht liegt also einerseits besonderes Augenmerk auf der Bedeutung, welche die Farbenlehre in Goethes Leben eingenommen hat, 1 Im

Sinne dieser Strophe möchte ich die Gelegenheit nutzen, Theda Rehbock meinen innigsten Dank auszusprechen. Sie erst hat mich auf die Relevanz und die Tiefe der vorliegenden Problematik aufmerksam gemacht und mir durch das großzügige Geschenk ihrer Dissertation den Weg, mich in Goethes naturwissenschaftliche Schriften einzuarbeiten, umso leichter und angenehmer gestaltet. 2 Ludger Lütkehaus: Wer/Wen das Licht sieht …, S. 79.   |  351

andererseits aber auf den Erwartungen und Hoffnungen, die sich für den jungen Schopenhauer durch die Bekanntschaft mit dem verehrten Goethe ergaben.3 Man wird die Frage beantworten müssen, aus welchen Bestandteilen sich dieser ›Familienroman‹ zusammensetzte; ob Goethes Farbenlehre den Ausdruck einer paranoiden Psychose darstellte, deren Anfangspunkt sich in dem Blick durch das Büttner’sche Prisma4 findet; ob weiterhin Schopenhauers übersteigerte Goetheverehrung das Resultat seines eigenen Vaterkomplexes war, er tatsächlich in Goethe einen Ersatzvater suchte; ob vielleicht das Aufbegehren in der Farbenlehre die pubertäre Auflehnung gegen diese Vaterfigur bezeichnete.5 Sich dem Themenkomplex ausschließlich auf diese Art und Weise anzunähern, beschränkt den (wissenschaftlichen) Farbenstreit jedoch reduktionistisch auf zwei sich fremde Seelen, deren Disput sich nach dieser Ansicht sozusagen in einem luftleeren Raum ereignet. Im Folgenden soll sich daher auf eine zweite Herangehensweise konzentriert werden, welche die (theo­retischen) Differenzen zu ihrem Gegenstand hat und herauszuarbeiten versucht, welche Elemente der Farbentheo­rie Schopenhauers Goethes entschiedene Ablehnung erfahren haben und darüber hinaus erfahren mussten. Denn obgleich allein ein feinfühliges Charakterstudium der Naturen dieser beiden Denker es möglich macht, Aufschluss darüber zu gewinnen, warum der Konflikt gerade diese und nicht vielmehr jene Wendung nahm, so entzündete sich der Streit doch nicht vorwiegend aus der Opposition zweier sich fremder Geister, sondern an zwei tiefgreifend unterschiedlichen Weltanschauungen und daraus resultierenden Wissenschaftsentwürfen. Natürlich bleibt dabei eingestanden, dass sich die beiden Bereiche des philosophischen Weltbildes und der Persönlichkeit nicht immer sauber voneinander trennen lassen, da im zwischenmenschlichen Miteinander eine Wechselwirkung beider nicht ausgeschlossen werden kann, wovon der Briefwechsel zwischen Goethe und Schopenhauer ein beeindruckendes Zeugnis ablegt. Es wird deshalb gegen Ende nicht ganz 3 Vgl.

z. B. ebd., S. 80–82. 4 Vgl. hierzu die »Konfession des Verfassers« in Goethe: Farbenlehre, Bd. 3, S. 969 ff. 5 Ebd. 352  |  Niklas Sommer



unangebracht sein, einen kurzen Blick auf die Umstände des Zerwürfnisses zu werfen. Es wird nichtsdestoweniger unternommen zu zeigen, dass Goethe und Schopenhauer letztlich durch die Kluft ihrer erkenntnistheo­ retischen Ansichten getrennt sind. Es ist genauer die physiologische Umdeutung des transzendentalen Idealismus bei Schopenhauer,6 welche den entscheidenden Punkt festlegt und eine Annäherung an Goethes realistische Position nicht zulässt, so dass etwa die Vereinigung in einem Wechselverhältnis verhindert wird, wie sie beispielsweise Schiller in seinem Essay Über naive und sentimentalische Dichtung skizziert.7 Schopenhauer selbst hat diese Kluft zwischen ihm und seinem Übervater deutlich gesehen, wie die folgende Gesprächsszene nahe­ legt: »Aber dieser Goethe«, sagte mir einst Schopenhauer, als er von diesem Unterricht in der Farbenlehre sprach, »war so ganz Realist, daß es ihm durchaus nicht zu Sinne wollte, daß die Objekte als solche nur da seien, insofern sie von dem erkennenden Subjekt vorgestellt werden. Was, sagte er mir einst, mit seinen Jupitersaugen mich anblickend, das Licht sollte nur da seyn, insofern Sie es sehen? Nein, Sie wären nicht da, wenn das Licht Sie nicht sähe.«8

Gleichwohl aber hat er sie in ihrer Konsequenz für Goethes Selbstverständnis nicht angemessen würdigen können. Es bleibt daher womöglich nicht verwunderlich, dass er gleichwohl der Ansicht war, der Farbtheo­rie Goethes nur in wenigen Nebensätzen zu widersprechen. Um aber das vorgezeichnete Ziel zu erreichen, muss von der Erklärung dieses Sachverhalts abgesehen werden. Ferner muss die Untersuchung darauf konzentriert werden, worin Schopenhauer Goethe widersprochen hat und in welcher Hinsicht diehierzu Theda Rehbock: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹, S. 270–274. 7 Es muss an dieser Stelle allerdings daran erinnert werden, dass Schiller sich mit den Bezeichnungen ›Idealismus‹ und ›Realismus‹ nicht auf erkenntnistheo­retische Positionen bezieht. Der Vergleich liegt gleichwohl nahe, da die Problemlage bei Schiller analogisch behandelt wird (vgl. Friedrich Schiller: Theoretische Schriften, S. 798, 806 ff.). 8 Gespr, S. 31. 6 Vgl.

Der physiologische Idealismus  |  353

ser Widerspruch eine konsequente Folge seiner erkenntnistheo­ retischen Überzeugungen darstellt. Demzufolge werden nicht die beiden Farbtheo­rien im Vordergrund dieser Arbeit stehen. Vielmehr soll versucht werden zu verdeutlichen, inwiefern sie als Ausdruck einer bestimmten Geisteshaltung und Erkenntnistheo­rie gesehen werden können. Es wird außerdem nicht Ziel der vorliegenden Arbeit sein, eine Entscheidung über die Gültigkeit einer der beiden Theo­rien zu fällen. Allein die erkenntnistheo­retische Differenz, welche das Unverständnis ausmacht, mit dem die beiden Geister einander begegnen, soll daher den Gegenstand der Betrachtung bestimmen. Zu diesem Behelf erscheint es sinnvoll, einige Worte zu Goethes Anspruch und Herangehensweise an die Naturwissenschaft und seiner damit im Zusammenhang stehenden Vorstellung von Natur überhaupt zu verlieren. Natürlich kann dies hier nur skizzenhaft geschehen. In einem zweiten Schritt werden diejenigen Elemente aus Schopenhauers Dissertationsschrift beleuchtet, die Goethe für interessant und anschlussfähig befunden haben könnte. An dieser Stelle werden insbesondere die Rolle der Intellektualität der empirischen Anschauung sowie Schopenhauers Äußerungen über Mathematik von Bedeutung sein. Diese können als Vorbereitung für die anschließende Explikation der Epistemologie Schopenhauers dienen, so dass im Kontrast zu Goethes Erkenntnissen Schopenhauers Theo­rie der Farben in Anleihen entwickelt werden kann. Es wird im Fortgang dieser Arbeit schließlich deutlich werden, dass sich jenes ursprüngliche und emphatische Urteil Julius Frauenstädts9 als Fehlurteil herausstellen muss.

2. Eine neue Theo­rie der Farben Wendet man sich Goethes naturwissenschaftlichem Selbstverständnis anhand der Beschäftigung mit der Farbenlehre zu, ist es geboten, zu erwähnen, aus welchem Interesse heraus Goethe sich diesem Gebiet annähert. Während sich eine Faszination für Farbphäno9 »Die

Farbenlehre eines Dichters, vertheidigt durch einen Philosophen, und zwar gegen die Autorität eines der größten Physiker.« (Julius Frauenstädt: Goethes Farbenlehre, S. 674.) 354  |  Niklas Sommer



mene bei Goethe bis in die Kindheit zurückverfolgen lässt, scheint das entscheidende Ereignis, das seine intensive Beschäftigung mit der Farbenlehre auslöste, während der Italienreise stattgefunden zu haben.10 Als Künstler, in diesem Fall als Maler, sah er sich der Frage gegenüber, welche Gesetzmäßigkeit sich für die Kolorierung eines Kunstwerks auffinden ließe. In der zeitgenössischen Kunsttheo­rie konnte er keine befriedigende Antwort auf diese Frage finden, da in ihr eine Geringschätzung der Farben vorherrschte, die sich auf der Überzeugung gründete, Farben seien lediglich subjektiv-akziden­ tielle Erscheinungsweisen. Demgegenüber betonte man die Bedeutung der Zeichnung, welche in ihrer Formhaftigkeit objektive Züge trage, die also der Vernunft zugänglich seien.11 Deshalb wandte sich Goethe der zeitgenössischen, von Newton dominierten Physik zu. So konstatierte er, »daß man den Farben, als physischen Phänomenen, erst von der Seite der Natur beikommen müsse, wenn man in Absicht auf Kunst über sie gewinnen wolle«.12 Hatte er zu Beginn die ihm vertraute Newton’sche Physik und ihre Ansicht, dass sämtliche Farben im Licht enthalten seien, noch anerkannt und keinen Grund gesehen, an ihr zu zweifeln, blieben Widerspruch und darauf folgende Ablehnung nicht lange aus. Goethe musste erkennen, dass er auch hier keine Antwort auf seiner Suche nach dem Wesen der Farben finden konnte. Dies lag, wie Goethe feststellte,13 darin begründet, dass er eine ganz andere Fragestellung verfolgte als seinerzeit Newton. Dieser war darum bemüht gewesen, die Farben als störende Phänomene, sogenannte chromatische Aberrationen, welche bei Fernrohren auftreten konnten, zu beseiTheda Rehbock: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹, S. 105– 113, bes. 111–113. Außerdem Goethe: Zur Farbenlehre. Historischer Teil, FA I/23.1, S. 968 ff. 11 Vgl. zu dieser Diskussion und ihren philosophischen Implikationen Theda Rehbock: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹, S. 105–108. 12 Zit. nach ebd., S. 108. 13 »Denn wenn jemand Ursach hat, sich um die Wirkungen und Verhältnisse der Farben zu bekümmern: so ist es der Maler, der sie überall suchen, überall finden, sie versetzen, verändern und abstufen muß; dahingegen der Optiker seit längerer Zeit beschäftigt ist, sie zu verbannen, seine Gläser davon zu reinigen, und nun seinen höchsten Endzweck erreicht hat, da das Meisterwerk der bis auf den einen hohen Grad farblosen Sehröhre in unsern Zeiten endlich gelungen ist.« (Goethe: Beiträge zur Optik, FA I/23.2, S. 21.) 10 Vgl.

Der physiologische Idealismus  |  355

tigen. Aufgrund dessen galt seine Aufmerksamkeit hauptsächlich den Entstehungsbedingungen der Farben, ihren physikalischen Ursachen.14 Hatte Goethe also zu Beginn noch gehofft, durch Newtons Physik Aufklärung zu erhalten, musste er bald feststellen, dort keine Theo­rie der Farben im eigentlichen Sinn finden zu können, da Newton die Farben weder als solche noch ihre Strukturen als sinnliche Erscheinungen untersucht hatte. Warum Goethe sich nach dieser Feststellung nicht einfach wieder von der Physik abgewandt und nach einer anderen Quelle, aus der er hätte Aufklärung schöpfen können, gesucht hat, erklärt seine zugrunde liegende Naturansicht. Denn Goethe betrat in der zeitgenössischen Physik einen Schauplatz, auf dem eine Weltanschauung verhandelt wurde, die nicht allein seinen Widerspruch, sondern auch vehementen Widerstand herausfordern musste. Er verteidigte nicht lediglich einen physikalischen Standpunkt, vielmehr seine innerste Überzeugung. Es soll hier vermieden werden, in jene Manier der polemischen Kreuzzugsmetaphern zu verfallen, welche die Literatur um die Farbenlehre mitunter geprägt hat.15 Dessen ungeachtet ist es an dieser Stelle von großer Bedeutung, auf die besondere Relevanz hinzuweisen, die der Streit um die Farbenlehre für Goethes Wesen eingenommen hat. So lässt sich womöglich Goethes Einschätzung seiner poetischen Verdienste gegenüber Eckermann erklären, die in der Vergangenheit wiederholt für Verwunderung gesorgt hat.16 Goethes entschiedene Ablehnung der Hypothese Newtons, das weiße Licht sei aus den Spektralfarben zusammengesetzt, kann als Resultat einer tiefgreifenden Anschauungs- und Methodenkritik 14 Vgl.

Theda Rehbock: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹, S. 111.

15 Goethe selbst mag diese Rezeptionslinie durch seinen verbissen geführ-

ten Disput begünstigt haben (vgl. auch Ludger Lütkehaus: Wer/Wen das Licht sieht …, S. 82 ff.). 16 »›Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, […] bilde ich mir gar nichts ein. Es haben treffliche Dichter mit mir gelebt, es lebten noch Trefflichere vor mir, und es werden ihrer nach mir seyn. Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der Einzige bin, der das Rechte weiß, darauf thue ich mir etwas zu gute, und ich habe daher ein Bewußtseyn der Superiorität über Viele.‹« (Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, 19. 2. 1829, FA II/12, S. 320, vgl. außerdem ebd., S. 467.) 356  |  Niklas Sommer



gelesen werden.17 Wie wiederholt in seinen Schriften zu Newton und der Farbenlehre deutlich wird, hält Goethe seinem Antipoden vor, die Natur nicht in unmittelbarer Anschauung untersucht, sondern künstliche Apparate zwischen sich und die Erscheinungen geschoben zu haben.18 Diese experimentelle Verfahrensweise macht es Goethe zufolge unmöglich, dass sich die Geheimnisse der Phänomene allmählich vor dem ruhigen Blick des unvoreingenommenen Betrachters entfalteten. Die Natur war an das Gängelband technischer Apparaturen und künstlicher Aufbauten gelegt worden, welche ihr die ihr eigenen inneren Wesenszusammenhänge nach der Maßgabe vorgefasster Hypothesen entreißen sollten, wo es doch nur der Vereinigung von Licht und Auge, beide in einem harmonischen Verhältnis zusammengebunden, bedurft hätte, um nicht allein den Farben ihr Wesen zu entlocken, sondern ebenso dem ausgesöhnten Verhältnis von Subjekt und Objekt gewahr zu werden.19 Vor diesem Hintergrund muss Goethes Konzeption eines Urphänomens verstanden werden.20 Er entwirft dieses Modell als eine Anschauung, welche sich über eine Reihe von Phänomenen entfaltet und in der sich die Totalität einer Erfahrung oder, wenn man so will, einer bestimmten Phänomengruppe, etwa der Farben, ausdrückt. Die Konzeption eines Urphänomens mag in diesem Zusammenhang als Goethes Gegenstück zu einer die Naturereignisse abstrahierenden Theo­rie verstanden werden. Das Urphänomen selbst ist nämlich in keiner empirischen Manier theoretisierbar, sondern eröffnet sich in kontinuierlichen Erscheinungen der anschauenden Urteilskraft.21 Es ist als solches ein Grundlagenphänomen, in dem 17 Nach

Goethes Überzeugung war das weiße Licht, weit davon entfernt, die einzelnen Farben zu beinhalten, ein ganz und gar homogener Gegenstand, der wohl durchaus als Metapher der All-Einheit von Natur in Goethes Denken betrachtet werden kann. 18 Vgl. Theda Rehbock: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹, S. 138– 140. 19 Vgl. etwa Goethes Aufsatz »Der Versuch als Vermittlung von Subjekt und Objekt« (FA I/25, S. 26–37); außerdem Christoph Gögelein: Zu Goethes Begriff von Wissenschaft, S. 58–65. 20 Vgl. zu diesem schwierigen Begriff Theda Rehbock: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹, S. 230–255; außerdem Christoph Gögelein: Zu Goethes Begriff von Wissenschaft, S. 23 ff. 21 Vgl. Theda Rehbock: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹, S. 230 ff. Der physiologische Idealismus  |  357

sich die Strukturbedingungen einer sinnlichen Erscheinung ausdrücken. In Bezug auf die Farbenlehre stellen Licht und Finsternis, welche über ein trübes Mittel miteinander verbunden werden, dieses grundlegende Phänomen dar. Es ist sozusagen der strukturelle Anfangspunkt, aus dem die restlichen Phänomene sich ableiten und erklären lassen. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, dass Goethe dieses Urphänomen nicht als eine einzige Erfahrung, nicht als einen einzigen Gegenstand, der anzuschauen wäre, versteht, sondern als eine Entfaltung verschiedener Strukturmomente über eine Reihe verschiedener Erfahrungen.22 Gleichwohl bleibt es ein in diesem Sinne sinnliches Phänomen, das durch das Vermögen der Einbildungskraft aufgenommen werden muss und dort erst seine volle Geltung erreichen kann. Man könnte sagen, es bewege sich zwischen Wahrnehmung und Verstand, insofern es keinen zu isolierenden Gegenstand, keine separate Erscheinung, darstellt und ebenso wenig einen ab­strakten Begriff, unter den verschiedene Gegenstände subsumiert werden könnten.23 Trotz seiner langjährigen Bemühungen blieb Goethe die Anerkennung in der Fachwelt versagt. Verlachte man seine Ergebnisse nicht, so wurden sie mit Schweigen übergangen. Sei es, dass Goethes dichterisches Schaffen seine naturwissenschaftlichen Studien überschattete;24 sei es, dass die zeitgenössische Physik das Potenzial seiner (womöglich in ihrem Ausdruck fehlgeleiteten) Wissenschaftskritik nicht zu erkennen vermochte.25 Goethe sah sich damit, ebenso wie man seinen literarischen Produktionen nach der Rückkehr aus Italien mit wenig Verständnis entgegengetreten war, einmal mehr in eine Isolation gedrängt. Er schien nicht seinen eige22 Vgl.

auch ebd., S. 233. 23 Vgl. zu diesem Punkt bes. ebd., S. 235. 24 Vgl. in diesem Zusammenhang einige Zeilen aus den »Konfessionen des Verfassers«: »Die Menge mag wohl jemandem irgendein Talent zugestehen, worin er sich tätig bewiesen und wobei das Glück sich ihm nicht abhold gezeigt; will er aber in ein anderes Fach übergehen und seine Künste vervielfältigen, so scheint es, als wenn er die Rechte verletze, die er einmal der öffent­lichen Meinung über sich eingeräumt, und es werden daher seine Bemühungen in einer neuen Region selten freundlich und gefällig aufgenommen.« (Goethe: Zur Farbenlehre. Historischer Teil, FA I/23.1, S. 968 f.) 25 Zur Rezeption, die Goethes Farbenlehre erfahren hat, vgl. Felix Höpfner: Wissenschaft wider die Zeit, S. 152–173, 194–216. 358  |  Niklas Sommer



nen Zenit, wohl aber den Horizont des deutschen Publikums überschritten zu haben. Die Reaktion der Zeitgenossen auf Goethes Farbstudien und seine fortwährende innere Überzeugung, Newton widerlegt zu haben, unterstreichen, warum es ihm ein Bedürfnis gewesen sein musste, Gleichgesinnte in seiner Auseinandersetzung mit den Newtonianern aufzufinden. Einer dieser (vermeintlich) Gleichgesinnten, die Goethe anfangs Hoffnung auf eine produktive Zusammenarbeit machten, war der junge Schopenhauer.

3. »Des Herrn Docktor Schoppenhauer Wohlgeboren«26 Was aber war für Goethe so bemerkenswert an dem »merkwürdigen und interessanten«27 jungen »Docktor Schoppenhauer« mit dem »gewissen scharfsinnigen Eigensinn«,28 dass er sich von ihm Beistand in Sachen Farbenlehre erhoffen konnte? Denn es mag an dieser Stelle bloß daran erinnert sein, dass er sich einige Jahre vor der Veröffentlichung seiner Farbenlehre ausschließlich nur mit ausgewählten Personen, darunter Schiller,29 über diesen seinen Lieblings- und Leidensgegenstand ausgetauscht hatte. Zwei kontingente Gründe mögen in Goethes Bekanntschaft mit Schopenhauers Mutter Johanna sowie in Schopenhauers bisheriger mangelnder Kenntnis der verschiedenen Farbtheo­rien gesehen werden. Denn Letzteres legte Goethe als eine willkommene Unberührtheit aus, die ihm die Gelegenheit bot, Schopenhauer in seine Theo­rie und Sichtweise einführen zu können, ohne gegen die Vorurteile der Newton’schen Physik ankämpfen zu müssen. Schopenhauer jedenfalls, der eine große Verehrung für den Dichter Goethe hegte, ihn gar an Bedeutung neben Kant stellte, übersandte diesem seine 1813 verfasste Dissertationsschrift Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Diese kann als Anlass des gemeinsamen Austausches gelten. Insbesondere das Kapitel über 26 Goethe 27 Goethe 28 Ebd.

an Schopenhauer, 8. 1. 1814, BmG, S. 9. an Knebel, 24. 11. 1813, FA II/7, S. 277.

29 Zu

diesem Austausch vgl. z. B. »Aus dem Briefwechsel mit Friedrich Schil­ler«, FA I/23.2, S. 527–551. Der physiologische Idealismus  |  359

den »Grund des Seyns« wird Goethe gefallen haben,30 so dass dieses im Folgenden als die Grundlage behandelt wird, durch welche die vorerst fruchtbare Bekanntschaft der beiden Persönlichkeiten zustande kam. Goethes Interesse mag besonders durch die Passagen über Anschauung sowie Mathematik geweckt worden sein. Denn in Übereinstimmung mit der kantischen Theo­rie der Mathematik hielt auch Schopenhauer dafür, dass Mathematik eine synthetische Wissenschaft sei, welche ohne die Anschauung nicht auszukommen vermöge. Gemäß seiner Einteilung des Satzes vom Grunde versteht Schopenhauer die beiden reinen Anschauungsformen Raum und Zeit als die Seinsgründe der Geometrie und Arithmetik. Schopenhauers Argument, warum Raum und Zeit jeweils der Seinsgrund dieser beiden Disziplinen der Mathematik sein sollen, lässt sich folgendermaßen erklären: Jede geometrische Figur wird im Raum, in einer räumlichen Vorstellung konstruiert. Ohne die Möglichkeit dieser räumlichen Vorstellung wäre eine geometrische Figur nicht konstruierbar. Oder zumindest sind die Axiome, welche der Geometrie zugrunde liegen, lediglich durch die Anschauung, in diesem Fall dem Raum, möglich.31 Die Argumentation in Bezug auf die Arithmetik gestaltet sich ähnlich, insofern als Schopenhauer unter Arithmetik die Wissenschaft des Zählens versteht, das Zählen allerdings bloß die einzelnen Schritte einer Sukzession beschreibt. Ein solches Fortschreiten wäre allerdings nur innerhalb der Zeit möglich, welche den Rahmen dafür bietet, dass ein Augenblick auf den anderen folgt.32 Gleichermaßen erkennt Schopenhauer die Mathematik als eine Formalwissenschaft, welche sich nicht mit den realen Dingen auseinandersetzt, sondern lediglich eine Art der Beschreibung von Phänomenen darstellt.33 30 Vgl.

Ludger Lütkehaus: Wer/Wen das Licht sieht …, S. 81; außerdem ­Felix Höpfner: Wissenschaft wider die Zeit, S. 139 ff. 31 Vgl. G (Lü), S. 139–148. Schopenhauer unterstreicht in diesem Zusammenhang die besondere Bedeutung von Seins- sowie Erkenntnisgrund, indem er konstatiert, dass ausgehend von geometrischen Axiomen zwar geometrische Sätze nach den Regeln der Logik gefolgert werden könnten, die eigent­ liche Einsicht in die Disziplin aber allein durch die Axiome in der Anschauung und damit den Seinsgrund geliefert werden könnten (vgl. ebd., S. 140, 144 f.). 32 Vgl. ebd., S. 142. 33 Vgl. ebd., S. 144 ff.; außerdem Felix Höpfner: Wissenschaft wider die Zeit, S. 139 ff. 360  |  Niklas Sommer



Goethe konnte darin Anleihen seines eigenen Verständnisses einer pragmatischen Mathematik wiederfinden, deren Formalisierung lediglich so gut ist wie das Verständnis der Phänomene, welches ihr zugrunde liegt. Nicht weniger anschlussfähig war Schopenhauers Betonung der Anschauung als (formaler) Bestandteil des Erkenntnisprozesses. Die erkenntnistheo­retische Aufwertung der Sinnlichkeit, welche schon bei Kant eingesetzt hatte und nun bei Schopenhauer fortgesetzt wurde, kam Goethes Kritik an der unkritisch betriebenen naturwissenschaftlichen Ab­straktion scheinbar entgegen. Trat die Anschauung bei Goethe jedoch als methodisches Instrument zur unmittelbaren Naturbetrachtung auf, erscheint sie bei Schopenhauer in einem erkenntnistheo­retisch gänzlich verschiedenen Kontext. Der Ausdruck einer Intellektualität der empirischen Anschauung, welche Goethe im Hinblick auf seinen rationellen Empirismus aller Wahrscheinlichkeit nach allein des Namens wegen Gefallen hätte, ist keineswegs die von Goethe vermittelte Harmonie zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Vielmehr ist sie bei Schopenhauer überhaupt nur durch den Verstand möglich, in dem dieser das ihm dargebotene sinnliche, aber noch verworrene Material nach seinen Strukturen von Raum und Zeit sowie der Kausalität ordnet.34 Raum und Zeit bleiben formale Strukturen sinnlicher Anschauung, auf welche der Verstand als Ordnungskategorie rekurriert. Der Weg zu Goethes Intention eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen dem tatsächlichen Anschauen und Denken ist damit womöglich nicht verbaut, sicherlich aber auch nicht in einer Weise vorgezeichnet, wie Goethe es verstanden hätte. Darüber hinaus bleibt alles, was in der Erfahrung als Gegenstand, als Objekt einem Individuum gegenüber tritt, notwendigerweise auf das erkennende Subjekt zurück­bezogen. Betrachtet man diesen Gedanken bei Schopenhauer ein wenig näher, fällt ferner auf, dass er mit einer Rückbesinnung auf den eigenen Leib einhergeht, welchen das erkennende Subjekt natürlich selbst ebenso nur als empirisches Objekt vorstellt wie alle restlichen Erscheinungen. Denn die Kausalität, welche die auf diesen Leib einströmenden Reize ordnet, ordnet sie nicht so sehr untereinander, 34 Vgl.

G (Lü), S. 63 f., 83, 92 ff. Der physiologische Idealismus  |  361

sondern strukturiert sie im Bezug auf das sie empfangende Organ, durch das eine Vorstellung hervorgebracht wird.35 Gleichwohl bleibt dies ein kausales Verhältnis unter Objekten, da auch der Leib respektive dessen Sinnesorgane in der Perspektive des erkennenden Subjekts als empirisches Objekt auftritt. Folgerichtig formuliert Schopenhauer, womöglich noch unter dem Eindruck seiner Farben­ lehre, im philosophischen Hauptwerk, dass es »immer nur ein Auge [ist], das eine Sonne sieht«.36 Bereits hier tritt die Differenz deutlich und pointiert zu Tage, die Goethe und Schopenhauer voneinander trennt. Denn heißt es bei Schopenhauer »ein Auge, das eine Sonne sieht«, schreibt Goethe unter Rekurs auf Plotin Wär nicht das Auge sonnenhaft, Die Sonne könnt’ es nie erblicken; Läg’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?37

Wenn uns die Welt also einerseits nur durch die apriorischen Erkenntnisstrukturen Raum, Zeit und Kausalität und andererseits durch die Vermittlung unserer empirischen Erkenntnissinne erscheinen kann, erhellt daraus, dass eine Untersuchung über die Farben nach der gleichen Struktur begriffen werden muss. Die Farbe als ein äußerer Reiz wird auf das entsprechende Sinnesorgan, nämlich das Auge, des erkennenden Subjekts bezogen werden müssen. So ist es zu verstehen, wenn Schopenhauer in seiner Dissertationsschrift den Gedanken, der seiner ganzen Philosophie zugrunde liegt, »Die Welt ist meine Vorstellung«,38 in die folgenden Worte kleidet: Demnach hat der Verstand die objektive Welt aber erst zu schaffen; nicht aber kann sie, schon vorher fertig, durch die Sinne und die Oeffnungen ihrer Organe bloß in den Kopf hineinspazieren. Die Sinne nämlich liefern nichts weiter, als den rohen Stoff, welchen allererst der 35 Vgl.

ebd., S. 70 ff. – Dieser Paragraph, der den eigentlichen Disput mit Goethe treffend beschreibt, findet sich erst in der zweiten Auflage der Dissertationsschrift, welche nach dem Zerwürfnis mit Goethe entstanden ist. Vgl. Arthur Schopenhauer: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, S. 106. 36 W I (Lü), S. 31. 37 HA 1, S. 367. 38 W I (Lü), S. 31. 362  |  Niklas Sommer



Verstand, mittels der angegebenen einfachen Formen Raum, Zeit und Kausalität, in die objektive Auffassung einer gesetzmäßig geregelten Körperwelt umarbeitet.39

4. Die Welt als Vorstellung Konnte Goethe also von Schopenhauer die erhoffte Gefolgschaft in seinem Bemühen um die Anerkennung seiner Farbenlehre erhalten? Von jenem Schopenhauer, der nichts weniger anstrebte, als die Grenzen der Menschheit40 zu verschieben, an denen Goethe geglaubt hatte, resignieren zu müssen? Auf den ersten Blick scheint dieser Gedanke nicht allzu abwegig. Denn, zugestanden, auch Schopenhauers Theo­rie beinhaltet den Begriff der Polarität, wie er auch für Goethe entscheidend gewesen war, sowie des Urphänomens, wenn darunter ein grundlegendes Phänomen verstanden wird, von dem aus alle restlichen Phänomene abgeleitet werden können. Vergegenwärtigt man sich jedoch die genauen Konsequenzen, welche Schopenhauer aus den erkenntnistheo­retischen Grundlagen seiner Dissertationsschrift erwachsen, für die Entwicklung einer Farbenlehre, wie es im Folgenden geschehen soll, kann es nicht über­raschen, dass er sich in Opposition zu Goethe begeben musste. Gleichermaßen sonderbar mutet es jedoch an, dass Schopenhauer sich dieser unausweichlichen Differenzen nicht ebenso bewusst geworden ist wie der sich bald distanzierende Goethe und sich nichtsdestoweniger zeit seines Lebens als ein verbissener Verfechter der Farbenlehre Goethes verstanden hat.41 Zuvor soll ein Punkt berührt werden, der in seiner Konsequenz für den theo­retischen Unterbau ebenso bedeutsam ist wie für das persönliche Verhältnis.42 Die historische Bedeutung, die Schopen(Lü), S. 65 ff. Auch in seiner Schrift Ueber das Sehn und die Farben taucht dieser Gedanke wieder auf (vgl. F (Lü), S. 647 ff.). 40 Vgl. F (Lü), S. 643. 41 Vgl. ebd., S. 644 ff. 42 Generell kann festgehalten werden, dass Schopenhauers Farbtheo­ rie Goethe in zwei grundlegenden Punkten widerspricht. Von diesen beiden Punkten, nämlich der Behandlung des Urphänomens sowie der Mischung der weißen Farbe, wird an dieser Stelle allein dem ersten Rechnung getragen. 39 G

Der physiologische Idealismus  |  363

hauer in Goethes Farbenlehre sah, war der Fokus, den Goethe auf die physiologischen Farben gelegt hatte, jene Farbphänomene also, die sich lediglich in Abhängigkeit zum menschlichen Sehvermögen explizieren ließen.43 Da er der Überzeugung war, dass in der Physiologie, wie oben bereits angemerkt, der Schlüssel zur Farbenlehre lag, musste er diese Entdeckung Goethes als einen bedeutenden Fortschritt gegenüber der von Newton geprägten Tradition verstehen. Aller Bewunderung zum Trotz aber blieb der Vorbehalt gegenüber Goethe, dass dieser eigentlich keine tatsächliche Theo­rie der Farben geliefert, sondern vielmehr einen breitgefächerten Katalog verschiedenster Farbphänomene zusammengestellt habe, wenngleich Schopenhauer sich diesbezüglich durchaus bemühte, diplomatisch aufzutreten.44 Diesem musste nun, so Schopenhauers Ansicht, in einem letzten Schritt noch eine Theo­rie unterlegt werden, aus der heraus diese Datensammlung abschließend erklärt werden könne. Dies stellt einen der Gründe dar, warum Schopenhauer sich neben seinen Bemühungen, die Theo­rie Goethes gegen die Öffentlichkeit zu verteidigen, als einen Apologeten der Farbenlehre verstand.45 Gleichermaßen aber musste Goethe sich von diesem so dargestellten Abhängigkeitsverhältnis vor den Kopf gestoßen fühlen. Nach Schopenhauers Darstellung hatten die zwanzig Jahre, welche Goethe auf die Erforschung farblicher Phänomene verwandt hatte – in denen er ferner zu dem Glauben gelangt war, ein großes Missverständnis innerhalb der Forschung und des physikalischen Weltbildes aufgeklärt zu haben –, zu nicht mehr als einer Ansammlung empirischer Daten geführt. Um noch einen Schritt weiter zu gehen, soll es nun sogar Schopenhauer in wenigen Monaten gelungen sein, was Goethe in Jahren nicht hat zustande bringen können. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Schopenhauer, nachdem er sich zum Schüler und Verteidiger der Farbtheo­rie Goethes erklärt hatte, die Ansicht vertrat, Goethe habe sich, wenn er auch im Ganzen gegenüber Newton Recht behalte, doch im entscheidenden Punkt geirrt. Tatsächlich sei das weiße Licht nämlich 43 Hatte Goethe diese jedoch als Auftakt zu seinen weiteren Untersuchun-

gen gesehen, um die sogenannten Farbschatten zu erklären, wird Schopenhauer alle Farben als gänzlich physiologische Phänomene verstehen. 44 Vgl. F (Lü), S. 643. 45 Vgl. ebd. 364  |  Niklas Sommer



aus den übrigen Farben zusammengesetzt. Trotz aller Irrtümer, denen Newton erlegen sei, habe er in diesem Punkt doch die Wahrheit gefunden.46 Auf Goethe muss diese Bemerkung zynisch gewirkt haben. Schopenhauer ist also, zumindest soweit es Goethe betreffen musste, nicht bloß in einigen marginalen Punkten von ihm abgewichen. Nicht weniger ironisch ist außerdem der Umstand, dass Schopenhauer, wenn man es genau betrachtet, die gleiche Kritik gegenüber Goethe anbringt wie Goethe gegen Newton: dass trotz gewisser Bewunderung und Anerkennung des Forschers keine eigentliche Theo­rie der Farben geliefert worden sei. Hatte Goethe Newton vorgeworfen, die Farben nicht nach ihrem Wesen als Farben untersucht zu haben, so erkennt Schopenhauer zwar Goethes Perspektivwechsel an, der von der rein physikalischen Betrachtungsweise Newtons den Blickwinkel zum Subjekt hin verschiebt. Gleichwohl kritisiert er, seinen erkenntnistheo­retischen Prämissen gemäß, dass Goethe auf der eigenständigen objektiven Realität der Farben beharre.47 Dies führt nun auf das eingangs angegebene Zitat Schopenhauers zurück, in dem er genau diesen Problemzusammenhang pointiert ausdrückt. Während demzufolge Goethe sich um das objektive Wesen der Farben bemühte, nicht allein ihre physikalischen Ursachen wie Newton, konnte Schopenhauer ihnen diese objektive, vom Subjekt unabhängige Realität nicht zusprechen. Für ihn blieben sie vom Subjekt abhängige Vorstellungen, welche lediglich in ihrer empirischen Realität als Objekte bezeichnet werden können.48 Aufgrund seiner physiologischen Akzentuierung des transzendentalen Idealismus konnte er sie deshalb auch lediglich als Erscheinungen im Auge betrachten, die von den spezifischen Bestandteilen desselben, genauer der Retina, abhingen. Demzufolge versteht Schopenhauer die Farben auch allein als verschiedene Modifikationen der qualitativ geteilten Tätigkeit der Retina.49 Diese Polarität ersetzt in seinem Theo­riezusammenhang das Urphänomen, welches seinen Namen sodann eigentlich nicht mehr 46 Vgl.

ebd., S. 644, 686 f. 47 Vgl. W I (Lü), S. 31 ff.; F (Lü), S. 661 f. 48 Vgl. zu diesem Punkt W II (Lü), S. 27–29. 49 Vgl. F (Lü), S. 666–676. Der physiologische Idealismus  |  365

verdient. Denn Schopenhauer versteht es als das grundlegende Element der Existenz der Farben, aus dessen Untersuchung sich die endgültige Theo­rie der Farben gewinnen lässt. Die Theo­rie der Farben ist mit diesem Schritt endgültig vor die Überzeugung des Verstandes gebracht und darüber hinaus mathematisch formulierbar.50 Goethes Insistieren, dass sich das eigentliche Merkmal des Urphänomens in den Phänomenen ausdrücke und nicht in Form einer Ab­straktion vor den Verstand zu treten imstande sei, kann und will Schopenhauer nicht gerecht werden.51 Nicht genug also, dass Schopenhauer das für Goethe so wichtige Urphänomen aus den Dingen, wenn man so will, in den Erkenntnisapparat des Subjekts verlagert, die von Goethe angestrebte Untersuchung des Wesens der Farben als tatsächlich in der Außenwelt existierenden Entitäten subjektiviert, vielmehr verschiebt er es aus dem Bannkreis einer empirisch nicht näher beschreibbaren natürlichen Begebenheit hin in den Bereich einer einfachen physiologischen Untersuchung. Das von Goethe akribisch verfolgte Rätsel der Farben wird von Schopenhauers physiologischem Idealismus, wie seine Position an dieser Stelle bezeichnet werden soll, gänzlich aufgeschlüsselt und Goethe in die Grenzen seines eigenen Individuums zurückgewiesen.

5. Ein unüberbrückbarer Konflikt Es wird aus dem zuvor Gesagten deutlich, dass der Schüler dem Lehrer in nicht wenigen marginalen Punkten widersprach, sondern sich selbst zum Lehrer aufschwang und seine eigene Theo­rie der Farben entwickelte. Die Überzeugung, dass es doch möglich sei, das weiße Licht wieder aus den Spektralfarben zusammenzusetzen  – welches hier nicht näher untersucht worden ist –, lässt Schopenhauer sogar wieder in gefährliche Nähe zu Newton rücken, da Goethe insbesondere die Teilung des Lichts bestritten hatte. Denn dies 50 Vgl.

ebd., S. 675. dieser Hinsicht nun das Göthische Werk zu ergänzen, dasjenige oberste Prinzip, auf welchem alle dort gegebenen Data beruhen, in abstracto aufzustellen, und so die Theo­r ie der Farbe, im engsten Sinne des Worts, zu liefern […].« (Ebd., S. 644.) 51 »In

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war zu allem Überfluss gerade der Stein des Anstoßes gewesen und der zentrale Standpunkt, den Goethe widerlegt zu haben meinte. Hätte Goethe sich womöglich mit Schopenhauers idealistischer Grundposition noch abfinden können, hätte er die Unterscheidung zwischen Subjekt und Materie, transzendentaler Idealität und empirischer Realität, welche sich doch in einem so gearteten Wechselverhältnis befinden, dass keine ohne die andere zu existieren fähig ist, noch als eine der philosophischen Untersuchung geschuldete methodische Differenz betrachten können, wie er sie wohl auch sonst hin und wieder akzeptierte,52 so konnte er dem von Schopenhauer vorgetragenen physiologischen Idealismus, der die Konzeption seiner ganzen Farbenlehre bestimmte, unter keinen Umständen zustimmen. Dieser reduzierte die Farben, denen Goethe eine eigenständige Existenz zusprach, auf bloße wechselnde Modifikationen des Auges. Wenngleich Schopenhauer diese wechselnden Modifikationen ebenfalls über Goethes Natursprache, die Polarität, erklärte, deutete er damit das Urphänomen in einer Weise um, welche die von Goethe angestrebte Totalität der Farberscheinung einer mathematischen Beschreibung der Tätigkeit der Retina zugänglich machte. Nicht nur wurde die Natur dergestalt erneut aufgrund einer, wenn man so will, vorgefassten Hypothese, nämlich dem Gedanken Die Welt ist meine Vorstellung mathematisiert, Schopenhauer hob außerdem die für Goethe so bedeutsame Einheit von Mensch und Natur, Subjekt und Objekt auf, die er im Erblicken der Farben verwirklicht fand;53 so – mit Goethe zu reden – entstellte er bzw. – mit Schopenhauer selbst zu reden – errettete er die Bemühungen um das Farbenrätsel. Diese letzte Bemerkung soll dazu dienen, an dieser Stelle noch einmal darauf hinzuweisen, dass es in dieser Arbeit nicht darum zu tun ist, einer der beiden Konzeptionen den Vorrang einzuräumen oder etwa zu entscheiden, ob die von Schopenhauer unternommene Umdeutung der kantischen Transzendentalphilosophie angemessen sei. Vielmehr sollte aufgezeigt werden, welche grundlegende Differenz eine Zusammenarbeit zwischen Goethe und Schopenhauer unmöglich machte. Damit ist nicht bloß ein Schritt 52 Vgl.

53 Vgl.

Theda Rehbock: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹, S. 356 ff. Felix Höpfner: Wissenschaft wider die Zeit, S. 146. Der physiologische Idealismus  |  367

in die Richtung eines Verstehens der jeweiligen zugrunde liegenden Positionen getan; sondern darüber hinaus wirft die zuletzt unglückliche Konstellation Licht auf die Schwierigkeiten der Vermittlung einander widersprechender Positionen, wie es an dieser Stelle der rationale Empirismus des Naturforschers Goethe und der physiologische Idealismus Schopenhauers waren. Damit ist freilich noch nichts darüber ausgesagt, ob es tatsächlich nicht möglich ist, zwischen Realismus und Idealismus zu vermitteln, sondern lediglich im Hinblick auf die hier vorgetragenen Spielarten führt es zu unausweichlichen Widersprüchen. Dass eine etwaige Vermittlung tatsächlich nicht vollkommen unmöglich ist, legen allerdings andere Arbeitsgemeinschaften nahe, die Goethe eingegangen ist; es sei nur an seine Freundschaft mit Schiller oder seine Auseinandersetzung mit Kant und Schelling erinnert, welche in der Vergangenheit immer wieder unter dem Kennzeichen des Idealismus subsumiert worden sind.54 Warum der Versuch einer solchen Vereinigung aber nicht wenigstens unternommen worden ist, wie er allem Anschein nach zwischen Schiller und Goethe möglich und produktiv gewesen ist, kann jedoch nicht im Rückgriff auf die philosophische Seite der Auseinandersetzung beantwortet werden. Wenn man deshalb an dieser Stelle zuguterletzt einen Blick auf das persönliche Verhältnis der an der Auseinandersetzung Beteiligten wirft, dann ist man versucht zu sagen, dass es sich um eine Geschichte von Missverständnissen handelte. Missverständnisse, welche die zugrunde liegenden Differenzen verschleierten und somit einen vielleicht potenziell produktiven Austausch verhindert haben. So begann diese Zusammenkunft zweier Denker mit einem Missverständnis Goethes bezüglich Schopenhauers Position und endete mit dem anhaltenden Missverständnis Schopenhauers bezüglich Goethes Farbentheo­rie. Es ist daher nicht unangebracht, Schopenhauer zu Wort kommen zu lassen und die bisherigen Erörterungen mit der Einschätzung des Philosophen selbst abzuschließen, welche des Pudels Kern und den Anstoß in der (wissenschaft54 In

der Vergangenheit ist aber gerade im Hinblick auf die sogenannten ›Deutschen Idealisten‹ Fichte, Schelling und Hegel in Zweifel gezogen worden, ob man ihren Positionen tatsächlich mit einer so einseitigen Bezeichnung wie der des Idealismus gerecht zu werden imstande ist (vgl. Valentin Pluder: Die Vermittlung von Idealismus und Realismus, S. 27–47, bes. 39–47). 368  |  Niklas Sommer



lichen) Auseinandersetzung, der enttäuschten Erwartungen und gekränkten Gefühle enthält, um an dieser Stelle der persönlichen Implikationen des Farbenstreits noch einmal zu gedenken und den Kernaspekt des Disputs pointiert zusammenzufassen. Schopenhauer hat sich im Ringen um Goethes Unterstützung und Anerkennung dazu hinreißen lassen, die vielleicht von ihm tief gefühlte Wahrheit und innerste Überzeugung auszusprechen, nämlich, dass Goethes Farbstudien ihm in ganz besonderer Weise verpflichtet seien, da er den theo­retischen Unterbau für Goethes systematische Forschung geliefert habe. Hier allerdings lässt Schopenhauer nicht nach, sondern spitzt die verbale Attacke gegen Goethe mit der selbstbewussten Überzeugung zu, überhaupt die erste Theo­rie der Farbe geliefert zu haben. Nothwendig liegt der Irrthum in meinem Werk, oder in Ihrem. […] Meine Theo­rie ist die Entfaltung eines einzigen untheilbaren Gedankens, der ganz falsch oder ganz wahr sein muß: sie gleicht daher einem Gewölbe, aus welchem man keinen Stein nehmen kann, ohne daß das ganze einstürzte. Ihr Werk dagegen ist die systematische Zusammenstellung vieler […] und mannigfaltiger Thatsachen: dabei konnte sehr leicht ein kleiner Irrthum mit unterlaufen […].55

Und er fährt fort: Ich weiß mit vollkommner Gewißheit, daß ich die erste wahre Theo­ rie der Farbe geliefert habe, die erste, so weit die Geschichte der Wissenschaften reicht: ich weiß auch daß diese Theo­rie einst allgemein gelten und den Kindern in den Schulen geläufig seyn wird […].56

55 Schopenhauer 56

Ebd., S. 20.

an Goethe, 11. 11. 1815, BmG, S. 17 f.

Der physiologische Idealismus  |  369

Bibliographie Frauenstädt, Julius: Goethes Farbenlehre, vertheidigt durch Arthur Schopenhauer. In: Blätter für literarische Unterhaltung. Leipzig 1855, S. 674– 679. Goethe, Johann Wolfgang: Farbenlehre, Bd. 3. Mit Einleitungen und Kommentaren von Rudolf Steiner. Hg. von Gerhard Ott und Heinreich O. Proskauer. Stuttgart 1984. Gögelein, Christoph: Zu Goethes Begriff von Wissenschaft auf dem Wege der Methodik seiner Farbstudien. München 1972. Höpfner, Felix: Wissenschaft wider die Zeit. Goethes Farbenlehre aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht. Heidelberg 1990. Lütkehaus, Ludger: Wer/Wen das Licht sieht … Die Taten und Leiden der Farbenlehrer. In: Arthur Schopenhauer: Der Briefwechsel mit Goethe und andere Dokumente zur Farbenlehre. Hg. von Ludger Lütkehaus. Zürich 1992, S. 79–104. Pluder, Valentin: Die Vermittlung von Idealismus und Realismus in der Klassischen Deutschen Philosophie. Eine Studie zu Jacobi, Kant, Fichte, Schelling und Hegel. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013. Rehbock, Theda: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹. Philosophische Kritik des naturwissenschaftlichen Weltbildes am Beispiel der Farbenlehre. Konstanz 1995. Schiller, Friedrich: Theoretische Schriften. Text und Kommentar. Hg. von Peter Janz. Frankfurt a. M. 2008. Schopenhauer, Arthur: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Hg. von Michael Landmann / Elfriede Tielsch. Hamburg 1957.

370  |  Niklas Sommer



Theda Rehbock

Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre verstanden? Um es gleich offen zu sagen: Schopenhauer hat Goethes Farbenlehre nicht verstanden. Warum das so ist, ist aus meiner Sicht bis heute nicht nur von historischem, sondern auch von philosophischem Interesse sowie praktisch bedeutsam im Hinblick auf die natur­wissenschaftlich-technische Prägung der modernen Welt. Schopenhauer bleibt, so meine These, bei allem engagierten Eintreten für Goethe dem Newton’schen Denken zu sehr verhaftet, um den eigentlichen Punkt von Goethes Kritik an Newton erfassen zu können. Ein Hindernis für ein adäquates Verständnis besteht auch darin, dass er, wie Goethe selbst und viele seiner Nachfolger und Kritiker, meint, Goethes Theo­rie könne mit Newtons Optik als einer physikalischen Theo­rie der Farben konkurrieren. Ich argumentiere demgegenüber dafür, dass aus heutiger Sicht das eigentliche Anliegen und die Stärke Goethes vielmehr darin besteht, dass er auf der Grundlage einer (phänomeno)logischen Analyse der Farben bzw. der Farbbegriffe im Sinne Husserls oder des späten Wittgenstein Newtons Anspruch, die Natur, das Wesen oder die Wirklichkeit der Farben erklären zu können, mit Mitteln philosophischer Kritik zu Recht in Frage stellt. Jüngst hat der Philosoph Olaf Müller in seinem Buch Mehr Licht. Goethe mit Newton im Streit um die Farben (2015) einen Versuch unternommen, die Hauptstärke der Kritik Goethes gegenüber Newton auf der wissenschaftsphilosophischen und erkenntnistheo­retischen Ebene zu finden. Goethe habe die Newton’sche Theo­rie nicht widerlegt, er habe sie aber in ihrem Anspruch auf unwiderlegliche Beweiskraft erschüttert. Wenn Goethe sage, dass Lichtstrahlen keine beobachtbaren Gegenstände, sondern geometrische Konstrukte seien, dass wir »bei jedem aufmerksamen Blick in die Natur schon theoretisieren«1 und dass »sich durch Erfahrungen und Beobach1 Goethe:

Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil, Vorwort, HA 13, S. 317.   |  371

tungen eigentlich nichts beweisen«2 lasse, so mache er damit auf die Theo­riebeladenheit der Erfahrung und auf die Unterbestimmtheit der Theo­rien durch Beobachtungsdaten im Sinne Quines aufmerksam. Goethe denke damit erheblich zeitgemäßer als Newton. Er attackiere die »unkritische Haltung Newtons zu seinen eigenen wissenschaftlichen Ergebnissen«;3 mit Hilfe seiner Newtonkritik könnten wir »an einem exemplarischen Fall das überschäumende Selbstbewusstsein der modernen Naturwissenschaften eindämmen und in ein angemessenes Selbstverständnis verwandeln«.4 Hinsichtlich dieser Würdigung Goethes stimme ich Olaf Müller in vollem Umfang zu. Mehr noch: Diesbezüglich ist Goethe nicht nur Newton, sondern auch Schopenhauer überlegen. Doch auch Müller begeht aus meiner Sicht den Fehler, dass er in Goethes Farbenlehre nach einer sozusagen darin verborgenen Theo­rie sucht, die eine Alternative zur Newton’schen Optik darstellen könnte, von Goethe selbst aber nicht entwickelt wurde.5 Die im Urphänomen der Farben formulierte und auf der Polarität von Licht und Finsternis gründende Kernidee der Farbenlehre, wie Goethe sie tatsächlich vorgelegt hat, stößt dagegen bei Müller auf wenig Verständnis. Ebenso wenig kann er mit Untersuchungen zur ›Philosophie der Farben‹ Zur Farbenlehre. Polemischer Teil, LA I/5, § 30 (zit. nach Olaf Müller: Goethes philosophisches Unbehagen, S. 69). 3 Olaf Müller: Goethes philosophisches Unbehagen, S. 67. 4 Ebd., S. 65. 5 Olaf Müller stützt sich auf Goethes ›Umkehrung‹ von Newtons Grund­ experiment, in dem das Licht durch ein Loch in der Wand in eine dunkle Kammer dringt und dort, durch ein Prisma gebrochen, an der Wand das bekannte Spektrum erzeugt mit den Farben Blau und Rot an den äußeren Rändern und Grün in der Mitte. In Goethes Umkehrexperiment wird in heller Umgebung ein Schatten durch das Prisma geschickt, wodurch ebenfalls ein Spektrum erzeugt wird, nun aber mit Gelb und Türkis an den äußeren Rändern und dem Purpur in der Mitte. Goethe wollte damit Newtons Schlussfolgerung, das Licht enthalte verschieden brechbare farbige Strahlen, ad absurdum führen, denn in seinem Experiment könne man ebenso gut sagen, dass die Finsternis verschieden brechbare farbige Strahlen enthalte (vgl. Olaf Müller: Mehr Licht, S. 144). Genau diese These, die Goethe ebenso wenig vertreten wollte, was Müller selbst einräumt, versucht er gleichwohl, als ›Goethes Theorem‹ zum Kern einer möglichen Goethe’schen Gegentheo­rie zu Newtons Optik zu entwickeln, in der nicht Lichtstrahlen, sondern ›Finsternisstrahlen‹ eine für die Entstehung der Farben kausale Rolle spielen würden (vgl. ebd., Teil II). 2 Goethe:

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anfangen, wie sie in der philosophischen Phänomenologie Edmund Husserls, in der von ihr beeinflussten Psychologie der Farben (z. B. David Katz, Ewald Hering oder Hermann Ebbinghaus) oder in den Bemerkungen über die Farben beim späten Wittgenstein, aber auch schon in der mittleren Periode Wittgensteins nach dem Tractatus zu finden sind – alles Ansätze, die mit Goethes Farbenlehre viele Berührungspunkte aufweisen.6 Damit aber fehlt aus meiner Sicht bei Müller das notwendige Fundament für eine tragfähige, überzeugende und genügend radikale Kritik der Wissenschaften. ›Radikal‹ ist hier nicht im Sinne einer Ablehnung der Wissenschaften oder der Wissenschaftsfeindlichkeit gemeint, sondern im wörtlichen Sinne von lat. radix (Wurzel, Ursprung): als eine bis an die Wurzeln und zu den Ursprüngen der Wissenschaften gehende Kritik, die in der lebenspraktisch vertrauten, sinnlichen Erfahrung zu finden sind. Mein – vor mehr als 20 Jahren unternommener – Versuch einer philosophischen Deutung von Goethes Newtonkritik und seiner Farbenlehre stützt sich dagegen auf die genannten Autoren und wurde insbesondere durch Bemerkungen Wittgensteins zu Goethes Farbenlehre in seinen Bemerkungen über die Farben inspiriert. Was Goethe suchte, war nach Wittgenstein gar keine Theo­rie im Sinne der (mathematischen) Naturwissenschaften, die sich »als ungenügend erwiesen«7 hätte. Es fehlen ihr aus Wittgensteins Sicht dafür wesentliche Eigenschaften: »Es läßt sich mit ihr nichts vorhersagen. […] Es gibt auch kein experimentum crucis, das für, oder gegen diese Lehre entscheiden könnte.«8 Stattdessen sei es Goethe um »die Natur der Farbe« gegangen. Mit »Natur« meint Wittgenstein das Wesen einer Sache, das identisch ist mit dem Begriff einer Sache: »Wer mit Goethe überein6 Besonders

reichhaltiges Material zu den Bezügen zwischen Wittgensteins Untersuchungen der Farben zu verschiedenen Zeiten seines philosophischen Schaffens und der Phänomenologie und Psychologie seiner Zeit findet sich in Josef G. F. Rothhaupts Werk Farbthemen in Wittgensteins Gesamtnachlaß, das 1996, kurz nach meinem Buch Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹ (1995), erschien. Goethes Qualitäten als Philosoph und die Nähe zwischen Wittgenstein und Goethe hat Joachim Schulte bereits 1990 überzeugend für seine morphologischen Schriften deutlich gemacht (vgl. Joachim Schulte: Chor und Gesetz). 7 Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Farben I, § 70, S. 27. 8 Ebd. Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre verstanden?   |  373

stimmt, findet, Goethe habe die Natur der Farbe richtig erkannt. Und Natur ist hier nicht, was aus Experimenten hervorgeht, sondern sie liegt im Begriff der Farbe.«9 Wittgenstein macht hier eine grundlegende Unterscheidung zwischen empirischer Forschung der Einzelwissenschaften, zum Beispiel in Form der sich auf Experimente stützenden Untersuchungen der Physik, und der Untersuchung begrifflicher Fragen durch Sprach- bzw. Begriffsanalyse, die er in den Bemerkungen über die Farben interessanterweise gleichsetzt mit phänomenologischer Analyse: »Die phänomenologische Analyse (wie sie z. B. Goethe wollte) ist eine Begriffsanalyse und kann der Physik weder beistimmen noch widersprechen.«10 »Phänomenologische Analyse« ist im Sinne der von Edmund Husserl begründeten Phänomenologie zu verstehen. In diesem Brückenschlag zwischen Sprachanalyse und Phänomenologie ist nach meinem Verständnis auch eine Vermittlung zwischen Sprache bzw. Begriff und empirischer Realität enthalten. Dass philosophische Untersuchungen sich nicht der Methoden empirischer Wissenschaften bedienen und in diesem Sinne nicht-empirisch sind, heißt nicht, dass sie überhaupt nicht empirisch wären und nicht auf eigene Weise einen Bezug zur Realität herstellen würden, etwa in Form exemplarischer, bewusster und systematischer Vergegenwärtigung vertrauter Lebenssituationen und Erfahrungen.11 Sowohl die Wittgenstein’sche philosophische Methode der Sprach- oder Begriffsanalyse als auch die Husserl’sche phänomenologische Methode der Philosophie ist nach meinem Verständnis Grundlage einer Kritik der Wissenschaften, insbesondere der mathematischen Naturwissenschaften, wie Husserl sie in seiner Krisis der europäischen Wissenschaften vorgelegt hat. Im Fall der Farben wendet sich diese Kritik gegen den verfehlten Anspruch der Wissenschaften, mit ihren Theo­rien erklären zu können, was die von ihnen untersuchten Phänomene in Wirklichkeit und ihrem Wesen nach sind. Die Wissenschaften versuchen damit zu erklären, was   9

Ebd., § 71, S. 27. Wittgenstein: Bemerkungen über die Farben II, § 16, S. 38. 11 Zu meinem Verständnis der Verbindung von Sprachanalyse und Phänomenologie vgl. Theda Rehbock: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹, Kap. VIII. 10 Ludwig

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sich nicht erklären lässt, weil es als notwendige Voraussetzung und Grundlage jeder möglichen Erklärung – im Sinne der Kausal­ erklärung – bereits gegeben sein muss. Vorausgreifend gesagt: Wir müssen mit dem Wesen und der Wirklichkeit der Farben schon vertraut sein, um nach ihren physikalischen oder physiologischen Entstehungsbedingungen fragen zu können. Diese lebenspraktisch vertraute Wirklichkeit lässt sich hinsichtlich ihrer Sinnkonstitu­tion nicht erklären, sondern nur aufklären, dieses primäre Vertrautsein lässt sich durch keine wissenschaftliche Kausalerklärung wider­ legen. Wird die »Lebenswelt als […] Sinnesfundament der Naturwis­ senschaft« »vergessen«12 und die Notwendigkeit einer philosophischen Aufklärung über dieses Sinnesfundament verkannt, so besteht in den Naturwissenschaften die problematische Tendenz, Kausalbedingungen der Phänomene – wie etwa im Fall der Farben die verschiedene Brechbarkeit der Lichtstrahlen bzw. die unterschiedliche Frequenz elektromagnetischer Schwingungen oder neuronale Funktionen der Sinnesorgane und des Gehirns – für die eigentliche Realität und das Wesen der Phänomene zu halten. Diesen fundamentalen philosophischen Fehler begeht hinsichtlich der Farben aus Goethes Sicht, so meine These, Schopenhauer ebenso wie Newton. Ich skizziere zunächst 1. die bekannte Geschichte der Begegnung zwischen Goethe und Schopenhauer und erläutere dann 2. das in Goethes Unzufriedenheit mit der Kunsttheo­rie seiner Zeit liegende Hauptmotiv für seine Beschäftigung mit den Farben. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum 3. Goethe mit Newtons Optik aus den gleichen Gründen unzufrieden sein musste wie mit der Kunsttheo­rie und warum 4. auch Schopenhauers physiologischer Ansatz ihn enttäuschen musste. Abschließend zeige ich 5. die besondere Bedeutung des Auges für Goethes Auffassung der Farben im Kontrast zu Schopenhauer auf und erwähne 6. Irrtümer Goethes hinsichtlich der Farbmischung, die aus Newtons und Schopenhauers Sicht zu korrigieren sind.

12 Edmund

Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 48. Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre verstanden?   |  375

1. »Ein vergebnes Bemühen […], uns wechselseitig ­verständigen zu wollen« (Goethe) Als Schopenhauer 1807/08 – zu Beginn seines philosophischen Lebens und noch keine 20 Jahre alt – Goethe in Weimar erstmals begegnet, hat Goethe im Alter von fast 60 Jahren den Höhepunkt seiner Laufbahn bereits erreicht. Faust I erscheint 1808, die Arbeit an der Farbenlehre, der Goethe eine höhere Bedeutung beimaß als seinen literarischen Werken, wird nach mehr als 20 Jahren abgeschlossen und steht ebenfalls kurz vor der Publikation (1810). In der Hoffnung, einen Mitstreiter für seinen Kampf gegen die Newton’sche Theo­rie der Farben und für seine Farbenlehre zu finden, lädt Goethe Schopenhauer bis zum Frühjahr 1814 mehrfach zu gemeinsamen Experimenten und philosophischen Gesprächen ein. Mit seiner kleinen Schrift Über das Sehn und die Farben (1815) unternimmt Schopenhauer daraufhin den anspruchsvollen Versuch, Goethes Farbenlehre zu verteidigen und, wie er meint, sogar zu vollenden, indem er ihr eine theo­retische Grundlage verschafft. Goethe aber reagiert darauf zurückhaltend und reserviert. Er lässt durchblicken, dass aus seiner Sicht unüberwindliche sachliche Differenzen bestehen, vermeidet es aber, sich auf eine inhaltliche Auseinandersetzung einzulassen, die er für vergeblich zu halten scheint: »Und so sah ich denn auch nur allzu deutlich, daß es ein vergebnes Bemühen wäre, uns wechselseitig verständigen zu wollen.«13 Dass Goethe nicht hartnäckiger versucht, sich mit Schopenhauer zu verständigen und ihn von seinem eigentlichen Anliegen zu überzeugen, lässt sich vielleicht auf den großen Altersabstand und eine gewisse Altersresignation Goethes zurückführen. Der Grund könnte aber auch sein, dass er selbst sich nicht völlig im Klaren war über den eigentlichen Punkt und Status seiner Kritik an Newton. Dieser Punkt ist aus heutiger Perspektive mit größerer Distanz und vor dem Hintergrund neuerer philosophischer Entwicklungen speziell der Wittgenstein’schen Sprachanalyse und der Husserl’schen Phänomenologie leichter und klarer zu erkennen als zu Goethes Zeit. Es wird deutlich zu machen sein, dass Goethes Kritik an Newton, in nur wenig modifizierter Weise, ebenso gegen Schopenhauers 13 Goethe

an Schopenhauer, 28. 1. 1816, BmG, S. 31.

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Ansatz vorzubringen ist. Zunächst möchte ich jedoch noch deutlicher werden lassen, worin aus meiner Sicht das Hauptanliegen besteht, das Goethe gegenüber Newton mit seiner Farbenlehre verfolgte. Das ist besonders gut möglich, indem zunächst klar wird, wie er durch seine Beschäftigung mit der Kunsttheo­rie seiner Zeit das Thema der Farben entdeckt hat.

2. Goethes Ausgangspunkt: die Geringschätzung der Farbe in der klassizistischen Kunsttheo­rie und in der ­cartesianischen Metaphysik der Naturwissenschaften In der klassizistischen Kunsttheo­rie seiner Zeit findet Goethe zwar eine ausgefeilte Theo­rie der Zeichnung und der Perspektive, eine vergleichbare Theo­rie der Farbgebung, des Kolorits, aber sucht er vergebens. Bei der Zeichnung hat man in den Schulen, wenn auch keine vollkommene Theo­rie, doch wenigstens gewisse Grundsätze, gewisse Regeln und Maße, die sich überliefern lassen; bei dem Kolorit hingegen weder Theo­rie noch Grundsätze, noch irgendetwas, das sich überliefern läßt. Der Schüler wird auf Natur, auf Beispiele, auf seinen eigenen Geschmack verwiesen.14

Goethe stört offenbar die Tendenz zur Subjektivierung und Abwertung der Farbe gegenüber der in der Zeichnung darstellbaren räumlichen Gestalt der Dinge: dass man ihr nicht einen zumindest gleichrangigen Stellenwert zuerkennt und eine objektive Realität, deren Gestaltung ebenso nach allgemeinen Kriterien und Regeln erfolgen würde. Im Hintergrund steht die klassizistische Kunsttheo­ rie.15 Dem Kolorit wird hier aus folgenden Gründen kein oder nur ein geringer ästhetischer Wert zuerkannt: Während die Zeichnung als Sache der Vernunft gilt, wird die Farbgebung als Angelegenheit der Sinne, der Gefühle und des subjektiven Geschmacks angesehen. Während die in der Zeichnung darstellbaren Eigenschaften der Form oder Gestalt als objektive und wesentliche, den Dingen 14 Goethe:

Diderots Versuch über die Malerei, S. 719.

15 Vgl. zum Folgenden mit genaueren Nachweisen Theda Rehbock: Goethe

und die ›Rettung der Phänomene‹, Kap. VI.1.

Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre verstanden?   |  377

selbst, unabhängig von der Wahrnehmung, zukommende Qualitäten gelten, werden die Farben als bloß subjektive, akzidentelle sinnliche Erscheinungsweise der Dinge für das Auge bzw. als Zustände des Subjekts angesehen. Farben haben, im Unterschied zur soliden Gestalt der Dinge, den Charakter der Täuschung, der Flüchtigkeit und Veränderlichkeit. Die Farbgebung kann daher nicht dem Ideal klassizistischer Nachahmung der Wirklichkeit genügen. Sie hat keinen ästhetischen Wert, insofern sie nicht zur Vollkommenheit und Schönheit der Dinge beizutragen vermag, und sie hat keinen moralischen Wert auf Grund ihrer mangelnden Verlässlichkeit und ihres sinnlich-verführerischen Charakters.16 Zusammenfassend lässt sich die klassizistische Kunsttheo­rie durch eine »Geringschätzung der Farbe« kennzeichnen, die »ihren Grund nicht in der Immanenz des Ästhetischen, sondern im transästhetischen Bezug auf ein Dingvollkommenheit und Dingschönheit ineins setzendes und nur durch die Zeichnung realisierbares Wirklichkeitsideal hat«.17 Die klassizistische Kunsttheo­rie war in ihrem Wirklichkeitsideal durch die cartesianische Metaphysik der Naturwissenschaften geprägt. In Orientierung an der mathematischen Physik und in Opposition gegen die aristotelisch-scholastische Ontologie entwirft Descartes ein Konzept der Wirklichkeit als res extensa, die sich allein mittels geometrischer und kinematischer Prädikate der Ausdehnung und der Bewegung beschreiben lässt.18 Sinnesqualitäten wie 16

Charles Blanc geht sogar so weit, die Rangordnung zwischen Zeichnung und Farbe mit der traditionellen Rangordnung zwischen Mann und Frau gleichzusetzen: »Le dessin est le sexe masculin de l’art; la couleur en est le sexe feminin […] elle occupe le second rang […] il faut que le dessin conserve sa préponderance sur la couleur. S’il en est autrement, la peinture court a sa ruine; elle sera perdue par la couleur comme l’humanité fut perdue par la Eve.« (Zit. nach Max Imdahl: Farbe, S. 31.) 17 Walter Kambartel: Art. »Farbe«, Sp. 908. 18 Vgl. hierzu im einzelnen Dominik Perler: Sind die Gegenstände farbig?, und ders.: Descartes über Farben. Perler korrigiert zwar einige allzu simple Aussagen und Vorurteile über die Unterscheidung zwischen den in den Gegenständen zu lokalisierenden »geometrischen und kinematischen Eigenschaften«, den später von Locke sogenannten primären Qualitäten, und den als dispositionale Eigenschaften in den Gegenständen bzw. als durch diese im Geist erzeugten Empfindungen zu verstehenden Sinneseigenschaften wie Farbe, Geschmack oder Geruch, den von Locke so genannten sekundären 378  |  Theda Rehbock 

Farbe, Geschmack oder Geruch werden zwar durch physikalische Qualitäten und Vorgänge der äußeren Welt verursacht, diese haben die Disposition, Farben im Geist des Betrachters hervorzurufen. Die Farben selbst aber existieren eben nur hier, im Geist des Betrachters. Sie sind angeblich nicht objektive Eigenschaften der Dinge, sondern Empfindungen des Subjekts, die mit den sie verursachenden Qualitäten der Dinge keinerlei Ähnlichkeit aufweisen. An die Stelle der tatsächlich gesehenen bzw. durch das Sehen zugänglichen Welt tritt ein durch das Denken erzeugtes mathematisches Modell der Welt. In seinem Aufsatz »Das Auge und der Geist« beschreibt Maurice Merleau-Ponty Descartes’ Dioptrique als »das Brevier eines Denkens, das sich dem Spuk des Sichtbaren entziehen will und entschlossen daran geht, es nach dem Modell zu rekonstruieren, das es sich davon macht«.19 Merleau-Ponty macht auch deutlich, wie die klassizistische Kunsttheo­rie durch dieses Modell beeinflusst wurde und sich dafür auf Descartes berufen kann: Für ihn [Descartes; Th.R.] ist es selbstverständlich, daß die Farbe Schmuck und Kolorit ist, daß alles Vermögen der Malerei auf dem der Zeichnung beruht […]. Für Descartes ist evident, daß man nur existierende Dinge malen kann, daß deren Existenz darin besteht, ausgedehnt zu sein, und daß die Zeichnung die Malerei möglich macht, indem sie die Darstellung der Ausdehnung ermöglicht.20 Qualitäten. Diese Korrekturen haben aber keinen Einfluss auf die von Goethe, Husserl, Merleau-Ponty oder Wittgenstein, wie auch früher schon von Bischof Berkeley, Leibniz oder Hegel geäußerte Kritik an der Subjektivierung der Farben, die mit dieser Unterscheidung verbunden ist. In ihrer objektiven Auffassung als Dispositionen werden Farben auch in Perlers Deutung von Descartes nicht als Farben, sondern als geometrische und kinematische Eigenschaften verstanden, durch die die Farbempfindungen im Geist kausal hervorgerufen werden. 19 Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist, S. 23. 20 Ebd., S. 25. Dieser Einfluss Descartes’ auf die klassizistische Kunsttheo­ rie wird zum Beispiel auch deutlich, wenn etwa einer ihrer Vertreter, Henri Testelin, vor der französischen Academie royale de Peinture et de Sculpture den Vorzug der zeichnerischen Linie vor der Farbe folgendermaßen charakterisiert: »Le trait n’est autre chose qu’une ligne physique, ou une démonstration mécanique, qui a toujours quelque dimension en sa largeur, quelque déliée qu’elle puisse être.« (Zit. nach Max Imdahl: Farbe, S. 37.) Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre verstanden?   |  379

Dieses Wirklichkeitsmodell hatte für die mathematischen Naturwissenschaften in methodischer Hinsicht unverzichtbare Orientierungsfunktion. Unabhängig von allen sonstigen Differenzen gegenüber Galilei und Descartes gilt dies auch für Newton, dem durch dieses Modell auch die Mathematisierung der Farben möglich wurde, ohne welche der weitere Fortschritt im Bereich der physikalischen Optik und der Technik der Farben in Photographie, Film oder Kunst, wie wir sie heute kennen, nicht möglich gewesen wäre. Diesen großen Erfolg konnte Goethe zu seiner Zeit noch nicht ermessen. Er erkannte jedoch, mehr als Schopenhauer, sehr scharfsichtig die damit verbundene, auch praktische Gefahr, diesem Modell und damit den Naturwissenschaften eine allzu große Autorität über unser Denken einzuräumen. Die Newton’sche Physik musste daher zumindest ebenso sehr auf Goethes Widerspruch stoßen wie die klassizistische Kunsttheo­rie.

3. Rettung durch die Newton’sche Physik? – Goethes philosophische Kritik der Naturwissenschaften Goethe wendet sich also auf Grund seiner Unzufriedenheit mit der Kunsttheo­rie seiner Zeit der Physik zu, um hier eine Farbtheo­rie zu finden, die für die Kunst von Nutzen sein könnte, stößt aber dort auf dieselbe Geringschätzung der Farbe. Es ist vor allem die auf Experimente mit dem Prisma gegründete Kernaussage der Newton’schen Optik, die Goethes entschiedenen Widerspruch erregt. Die Farben seien, so Newton, verschieden brechbare Lichtstrahlen, in die das weiße Licht durch Brechung, etwa mittels eines Prismas, zerlegt und aus denen es durch Zusammenführung der Lichtstrahlen wieder zusammengesetzt werden könne. Gegen diese Vorstellung, dass die Farben im weißen Licht enthalten seien, wendet Goethe ein, dass Farben heller als schwarz und dunkler als weiß seien, dass aber das Weiße nicht aus Dunklem zusammengesetzt sein könne. Es sei absurd zu behaupten, »das Schattige sei ein Teil des Lichtes. […] die Farben, welche doch ein Schattiges und Durchschattetes sind, seien das Licht selber«.21 »Diejenigen, die das einzige grundklare 21

Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, 4. 1. 1824, FA II/12, S. 531.

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Licht aus farbigen Lichtern zusammensetzen, sind die eigentlichen Obskuranten.«22 Nun könnte man einwenden, Goethe habe vielleicht nicht genau genug gelesen, wenn er Newton vorwirft, er spreche von im Licht enthaltenen Farben. Newton stellt nämlich an einer Stelle der Opticks klar, dass die Lichtstrahlen selbst, genau genommen, nicht farbig seien, dass sie vielmehr die Farben durch Einwirkung auf das Auge und Gehirn im Bewusstsein des Betrachters nur erzeugen. Er nenne sie daher »Red-making«, »Yellow-making«, »Greenmaking«23 und so fort. Wenn er dennoch die Lichtstrahlen als farbig bezeichne, dann spreche er »not philosophically and properly, but grossly, and accordingly to such Conceptions as vulgar People in seeing all these Experiments would be apt to frame. For the Rays to speak properly are not coloured«.24 Wie für Descartes sind also auch für Newton die Farben selbst keine objektiven Qualitäten der Dinge, sondern durch diese im Subjekt hervorgebrachte Empfindungen oder Vorstellungen. In den Dingen existieren sie ihm zufolge nur als Dispositionen für die Hervorbringung der subjektiven Erscheinung der Farben. Dadurch unterscheiden sie sich von den physikalischen Eigenschaften, wie etwa der Brechbarkeit bzw. der materiellen Beschaffenheit der Lichtstrahlen (als Korpuskel oder Welle), die angeblich den Dingen selbst zukommen. Goethe findet hier also die gleiche Subjektivierung der Farben wie bei Descartes oder in der klassizistischen Kunsttheo­ rie. Er beschäftigt sich zwar nicht direkt und explizit mit der Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten. Die folgende Bemerkung lässt sich gleichwohl als implizite Stellungnahme und Kritik gegenüber dieser hinter der Newton’schen Optik stehenden Verbannung der Farben aus der äußeren Wirklichkeit verstehen: »Der Newtonische Irrtum steht so nett im Konversationslexikon, daß man die Oktavseite nur auswendig lernen darf, um die Farbe fürs ganze Leben los zu sein.«25 Bis heute findet man in Sachbüchern oder Nachschlagewerken, aber auch in wissenschaftlichen und philosophischen AbhandlunMaximen und Reflexionen, Nr. 691, HA 12, S. 463. Newton: Opticks, S. 124. 24 Ebd. (Hervorhebung Th. R.). 25 Goethe: Maximen und Reflexionen, Nr. 689, HA 12, S. 463. 22 Goethe: 23 Isaac

Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre verstanden?   |  381

gen die fast gleich lautende Auskunft, die Außenwelt sei farblos, sie bestehe »aus farbloser Materie und farbloser Energie«, Farben existierten »nur als Sinnesempfindung des Betrachters«,26 sie würden im Gehirn erzeugt, »they do not as such exist outside the brain«:27 oder, in einem Aufsatz über die Physiologie der Farbwahrnehmung, bezogen auf Newton: Es ist nicht das Licht, das farbig ist, wie bereits Newton wusste: »The rays are not coloured.« Das Licht wird zunächst im Auge in Nervenimpulse umgewandelt. Erst durch die Verarbeitung dieser Impulse im Gehirn kommt es zu der Empfindung »Farbe«.28

Warum wird man mit solchen Auskünften die Farben – und auch das Licht – »fürs ganze Leben los«, wie Goethe meint? Wer sich mit Lichtstrahlen im Newton’schen oder auch im heutigen Sinne und damit mit den physikalischen Kausalbedingungen der Farbentstehung beschäftigt, der beschäftigt sich aus Goethes Sicht nicht mit dem Licht als Licht und mit den Farben als Farben. Man könnte versuchen, was auch vielfach geschah, Goethe darüber zu belehren, dass seine Farbenlehre sich auf die Farbe als subjektive Empfindung, Anschauung oder Vorstellung im Bewusstsein des Subjekts beziehe und damit eher der Psychologie oder eben der Dichtung zuzuordnen sei. Goethe war jedoch bekanntermaßen ein so überzeugter Realist, dass er gegen diesen Vorschlag wohl mindestens so heftig protestiert hätte wie gegen Schopenhauers Versuch, ihn von seiner idealistischen Auffassung der »Welt als Vorstellung« zu überzeugen: »Aber dieser Goethe«, sagte mir einst Schopenhauer, als er von diesem Unterricht in der Farbenlehre sprach, »war so ganz Realist, daß es ihm durchaus nicht zu Sinne wollte, daß die Objekte als solche nur da seien, insofern sie von dem erkennenden Subjekt vorgestellt werden. Was, sagte er mir einst, mit seinen Jupitersaugen mich anblickend, das Licht sollte nur da seyn, insofern Sie es sehen? Nein, Sie wären nicht da, wenn das Licht Sie nicht sähe.«29 Küppers: Das Grundgesetz der Farbenlehre, S. 22. 27 Eric R. Kandel et al.: Essentials of Neural Science and Behaviour, S. 370. 28 Thorsten Hansen / Karl R. Gegenfurtner: Farbwahrnehmung, S. 277. 29 Gespr, S. 31. 26 Harald

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Es wurde immer wieder behauptet, solche Äußerungen seien Ausdruck eines naiven Realismus, dem Erkenntniskritik im kantischen Sinne fremd sei. Liest man aber Goethes Schriften gründlicher, so ist festzustellen: Tatsächlich ist das genaue Gegenteil der Fall. Erkenntniskritik ist Goethe nicht nur nicht fremd, er hat nicht nur Kants Schriften, auch die Kritik der reinen Vernunft, gründlich gelesen,30 er hat vielmehr die kantische Kritik in Bezug auf Newton in einer Weise radikalisiert, wie es später durch die Wittgenstein’sche Sprachkritik oder durch die Phänomenologie Husserls geschah. Dieses ausgeprägte erkenntniskritische Bewusstsein zeigt sich besonders in Goethes zahlreichen Äußerungen zur Rolle der Mathematik in der Physik und speziell zu Newtons Rede von den Lichtstrahlen. Was man in Newtons Grundexperiment tatsächlich sehe, seien keine Strahlen, sondern Bilder des Lichts und der Sonne. Die Lichtstrahlen, von denen Newton spreche, seien keine beobachtbaren Gegebenheiten, sondern geometrische Konstrukte, Ab­straktionen, ja Fiktionen, die zu Zwecken der Darstellung eine praktische Funktion hätten, aber nicht mit dem Gegenstand der Darstellung identifiziert (nicht verdinglicht) werden dürften. Sie seien erfunden worden, »um das Phänomen in seiner größten Einfalt allenfalls darzustellen«. »Niemals findet man Strahlen, man erklärt nur die Erscheinungen durch Strahlen.«31 Der Fehler Newtons bzw. der Newtonianer bestehe darin, sich dieser idealisierenden Ab­straktion nicht bewusst zu sein und diese »Fiktion« der Lichtstrahlen »wieder zum Phänomen zu machen und mit einem solchen fingierten Phänomen weiter fort zu operieren«.32 Nachdem die Wirkungen des Lichtes, zur Bequemlichkeit der Demonstration, auf ideale Linien zurückgeführt, unter Linien vorgestellt und solche angenommenen Linien Strahlen genannt worden; so ist in der Lehre vom Licht und den Farben dadurch eine große Verwirrung entstanden, daß man diese ab­strakten Geistesprodukte als wirklich existierende physische Wesen ansah.33 30 Vgl. Karl Vorländer: Kant – Schiller – Goethe; außerdem Theda Rehbock:

Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹, Kap. X.5. 31 Goethe: Zur Farbenlehre. Polemischer Teil, § 217 (zit. nach Olaf Müller: Goethes philosophisches Unbehagen, S. 77). 32 Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil, § 310, HA 13, S. 399. 33 Goethe: Beiträge zur Optik, LA I/3, S. 298. Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre verstanden?   |  383

Daß Newton und seine Schule dasjenige mit Augen zu sehen glauben, was sie in die Phänomene hinein theoretisiert haben, das ist es eben, worüber man sich beschwert.34

Es ist nun keineswegs so, dass Goethe gegen das Abstrahieren, Idea­ lisieren und Theoretisieren an sich etwas einzuwenden hätte. Auch die Anwendung der Mathematik in der Physik ist aus seiner Sicht in Ordnung und von großem Wert.35 Zu Problemen kommt es nur, wenn man sich der Bedingungen und Grenzen dieser Form von Erkenntnis nicht bewusst ist, dann entsteht schlechte Metaphysik. Ähnlich wie Kant und Hegel dem Empirismus allgemein, so macht Goethe dem Empiristen Newton eine unbewusste Metaphysik zum Vorwurf, die durch eine verfehlte ontologische Deutung (Verdinglichung) ab­strakter geometrischer Konstrukte zustande kommt. Im Fall Newtons besteht diese Metaphysik sozusagen im Glauben an die Realität kausal wirksamer Lichtstrahlen in der Außenwelt und die dadurch erzeugten Farbempfindungen im Subjekt. Gegen dieses metaphysische Bild der Wirklichkeit verteidigt Goethe die der sinnlichen Erfahrung unmittelbar zugängliche Wirklichkeit der Farben als Qualitäten der Dinge. Sein Realismus ist somit kein naiver Realismus, sondern ein kritischer Realismus, gerichtet gegen einen naiven Realismus mathematischer Physik bzw. mathematischer Physiker wie Newton. Seine Erregung gegen die Newton’sche Optik bzw. den Newtonianismus ist daher nicht rein psychologisch oder theologisch zu erklären, wie Kurt Eissler36 oder Albrecht Schöne37 es versucht haben, sondern philosophisch gut begründet. Newton hatte in seinen Principia mathematica den hohen Anspruch erhoben, keine »Hypothesen« – das heißt für ihn: keine unbewiesenen Annahmen oder Voraussetzungen – zu erfinden oder Zur Farbenlehre. Polemischer Teil, § 217 (zit. nach Olaf Müller: Goethes philosophisches Unbehagen, S. 77). 35 »Man kann von dem Physiker, welcher die Naturlehre in ihrem ganzen Umfang behandeln will, verlangen, dass er Mathematiker sei.« (Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil, § 722, HA 13, S. 483). Genaueres und weitere einschlägige Zitate in Theda Rehbock: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹, Kap. VII. 36 Vgl. Kurt R. Eissler: Goethe. 37 Vgl. Albrecht Schöne: Goethes Farbentheologie. 34 Goethe:

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zu erdichten (»Hypotheses non fingo«). Zu Beginn seiner Opticks heißt es dementsprechend: »My Design in this Book is not to explain the Properties of Light by Hypotheses, but to propose and prove them by Reason and Experiments.«38 Es scheint gegen diesen unerfüllbaren Anspruch Newtons gerichtet zu sein, wenn Goethe sagt: »Hypothesen sind Gerüste, die man vor dem Gebäude aufführt, und die man abträgt, wenn das Gebäude fertig ist. Sie sind dem Arbeiter unentbehrlich; nur muß er das Gerüste nicht für das Gebäude ansehn.«39 Goethe kritisierte also Newtons Optik nicht (in erster Linie) auf der empirischen, sondern (vor allem) auf der methodischen Ebene. In vergleichbarer Weise kritisiert später Edmund Husserl in seiner Krisis der europäischen Wissenschaften die ontologische Deutung der Mathematisierung der Natur durch die Naturwissenschaften seit Galilei. Sie impliziere die problematische »Unterschiebung einer idealisierten Natur für die vorwissenschaftlich-anschauliche Natur«. Die mathematische Darstellungsform hülle die Natur in ein »Kleid der Symbole«, dieses »Ideenkleid macht es, daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist«.40 Im Sinne radikalisierter kantischer Erkenntniskritik ging es Husserl darum, die subjektive Bedingtheit physikalischer Erkenntnis aufzuzeigen, ohne dadurch ihren Objektivitätsanspruch zu schmälern. Radikaler als Kant verfolgte er damit – im Sinne der Devise »Zu den Sachen selbst« – das Ziel, durch das Wegräumen von auf mathematischer Idealisierung beruhenden theo­retischen Konstrukten, wie sie die Naturwissenschaften für ihre Erkenntnis brauchen, den Blick zu befreien für die nicht rein subjektive, sondern im eigentlichen Sinne objektive lebensweltliche Realität der Phänomene der Formen wie der Farben, der Gestalten wie der Füllen. Newton: Opticks, S. 1. 39 Goethe: Maximen und Reflexionen, Nr. 554, HA 12, S. 441. Ohne dies hier näher ausführen zu können, kann man sagen, dass Goethe in dieser Hinsicht Descartes näher steht, gegen den Newtons »Hypotheses non fingo« gerichtet war, der selber aber sich dieser Notwendigkeit selbstkritisch durchaus bewusst war. »Hypothesen« wurden hier eher im Sinne anschaulicher Modelle und unbewiesener oder unbeweisbarer Voraussetzungen verstanden, aus denen die Phänomene sich ableiten oder erklären lassen. 40 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 52. 38 Isaac

Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre verstanden?   |  385

Die Unterscheidung zwischen beiden Arten von Qualitäten ist aus Husserls Sicht keine ›ontologische‹, sondern eine rein ›methodische‹. Farben sind, ebenso wie Geschmack oder Geruch, im Unterschied zur räumlichen Größe oder Gestalt der Dinge, nicht direkt messbar und quantifizierbar, sondern nur indirekt, etwa über die Messung des Brechungswinkels in Newtons Experiment oder über die Messung elektromagnetischer Schwingungen.41 Die Mathematisierung der Farben durch Newton, die schließlich zu den Erfolgen technischer Farbgebung führte, war daher eine besondere Leistung. Der prognostische und technische Wert der Newton’schen Theo­ rie war, wie gesagt, für Goethe noch nicht absehbar, weshalb er sie fälschlicherweise ganz ablehnte. Sein eigentliches Anliegen aber war nicht eine alternative physikalische Theo­rie, sondern eine zugleich phänomenologische und begriffliche Analyse der Farben im Sinne Husserls und Wittgensteins, der es um die irreduzible objektive Realität und das Wesen bzw. den Begriff der Farben als Farben geht. Im Vorwort zur Farbenlehre stellt Goethe klar: [E]igentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfaßte wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges.42

Um das Wesen der Farben zu erfassen, bleibt Goethe dementsprechend nah an den Phänomenen selbst, von denen es in einer bekannten Bemerkung heißt, man solle nur nichts »hinter« ihnen suchen: »[S]ie selbst sind die Lehre.«43 Auf der Grundlage einer bewussten, umfassenden und systematisch geordneten Beobachtung der Farbphänomene formuliert Goethe das von ihm so genannte Urphänomen der Farben, das sozusagen die nur in der Anschauung, an den Phänomenen selbst aufweisbare Grundstruktur ent41

Diese direkte bzw. nur indirekte Mathematisierbarkeit ist eigentlich das entscheidende Kriterium für die Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten, wenn man diese Unterscheidung nicht ontologisch, sondern rein methodisch versteht (vgl. dazu im einzelnen, mit Bezug auf Edmund Husserl und Holm Tetens, Theda Rehbock: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹, S. 38 f.). 42 Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil, Vorwort, HA 13, S. 315. 43 Goethe: Maximen und Reflexionen, Nr. 488, HA 12, S. 432. 386  |  Theda Rehbock 

hält, die für Farben als Farben konstitutiv ist. Es sind nach Goethe drei Faktoren, die gegeben sein müssen, damit dem Auge die Farben erscheinen können: »auf der einen Seite das Licht, das Helle, auf der andern die Finsternis, das Dunkle« und dazwischen »die Trübe«, Goethe meint damit trübe Mittel wie Luft, Glas, Prisma, Rauch, Atmosphäre usw.44 Weder im totalen Licht noch in der totalen Dunkelheit sind Farben oder überhaupt irgendetwas wahrzunehmen, es bedarf der Vermittlung zwischen Licht und Finsternis. Die Farben sind dementsprechend insgesamt dunkler als weiß und heller als schwarz, und auch die Farbtöne lassen sich hinsichtlich ihrer Helligkeit oder Dunkelheit unterscheiden: Gelb ist die hellste, dem Weiß nächste Farbe, Blau die dunkelste, dem Schwarz nächste Farbe. Es sind also diese für die Erscheinung der Farben konstitutiven oder wesentlichen Grundstrukturen, die das Urphänomen bzw. das Wesen der Farben als Farben ausmachen. Von den Urphänomenen sagt Goethe, dass »nichts in der Erscheinung über ihnen liegt«, aber alle Erscheinungen aus ihnen ableitbar seien, so auch das Grundexperiment Newtons. Sein Fehler sei gewesen, dass er »ein abgeleitetes Phänomen an die obere Stelle, das Urphänomen an die niedere Stelle setzte«, und dann habe er auch noch das einfache Licht als etwas Zusammengesetzes und das Zusammengesetzte, die Farben, als etwas Einfaches erklärt, wodurch »die wunderlichsten Verwicklungen und Verwirrungen in die Naturlehre gekommen«45 seien. Man sieht hier noch einmal, dass Goethe hauptsächlich Newtons Anspruch attackierte, das Wesen und die wahre Realität des Lichtes und der Farben erkannt zu haben. Dass er damit Recht hat, schließt nicht aus, dass die Newton’sche Optik im Hinblick auf die physikalische Bedingtheit der Entstehung der Farben und ihre technische Herstellbarkeit gleichwohl einen hohen Erkenntniswert haben konnte, der Goethe verschlossen geblieben ist. Vor diesem Hintergrund wird nun verständlich, warum Goethe Schopenhauers Versuch, seine Farbenlehre zu verteidigen und zu vollenden, nicht gutheißen konnte.

44 Goethe: 45 Ebd.

Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil, § 175, HA 13, S. 368.

Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre verstanden?   |  387

4. Rettung durch die Sinnesphysiologie? Schopenhauers gescheiterter Versuch Schopenhauer lehnt die Newton’sche Theo­rie der Farben ebenso ab wie Goethe, doch die Gründe für diese Ablehnung sind bei Schopenhauer anderer Art. Er ist überzeugt, Goethe habe zwar »[d]ie Phänomene […] zuerst und höchst vollkommen dargestellt«,46 er, Schopenhauer, aber habe mit seiner Schrift Über das Sehn und die Farben »die erste wahre Theo­rie der Farbe geliefert«,47 die es ermögliche, die Phänomene zu »beweisen«.48 Diese Theo­rie sei gewissermaßen die noch fehlende Spitze, welche die von Goethe erbaute Pyramide vollende,49 »indem sie vor allen Dingen zu erklären sucht, was die Farbe ihrem Wesen nach sei«.50 Dieses Wesen der Farbe liege weder in einer ursprünglichen Teilung des Lichtstrahls, wie für Newton, noch in der Polarität von Licht und Finsternis, wie Goethe meinte, sondern allein im Auge. Auch das Goethe’sche Urphänomen sei, entgegen Goethes Behauptung, nicht eine ursprüngliche und nicht weiter erklärbare Gegebenheit, sondern nur äußerer Anlass für das »eigentliche Urphänomen« der »qualitativ geteilten Tätigkeit der Retina«: Eigentliches Urphänomen ist allein die organische Fähigkeit der Retina, ihre Nerventätigkeit in zwei qualitativ entgegengesetzte, bald gleiche, bald ungleiche Hälften auseinandergehn und sukzessiv hervortreten zu lassen.51 Die Farben selbst, ihre Verhältnisse zueinander und die Gesetz­ mäßigkeit ihrer Erscheinung, dies alles liegt im Auge selbst und ist nur eine besondere Modifikation der Tätigkeit der Retina.52

Nach den bisherigen Bemerkungen zu Goethe liegt es nahe, dass Goethe dieser Vorschlag zur Verteidigung bzw. Vollendung seiner Farbenlehre nicht hat gefallen können. Wenn Goethe Recht hat und 46 Schopenhauer 47

Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. 49 Ebd. 50 F (Lö), S. 200. 51 Ebd., S. 275. 52 Ebd., S. 270.

an Goethe, 11. 11. 1815, BmG, S. 21.

48

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das, was eine Sache ihrem Wesen nach ist oder ausmacht, nur in ihren Wirkungen oder Erscheinungen gefunden werden kann, so macht Schopenhauer auf andere Weise doch den gleichen Fehler wie Newton. Er sucht das Wesen der Farben hinter den Phänomenen in ihren den Sinnen verborgenen Kausalursachen. Nicht nur Newton, sondern auch Schopenhauer ist mit Goethe entgegenzuhalten: »[H]ier wird nicht nach Ursachen gefragt, sondern nach Bedingungen, unter welchen die Phänomene erscheinen.«53 Mit Goethes Ab­straktions- und Verdinglichungskritik geht eine Kritik des Kausalitätsprinzips einher. Was eine Sache ist, lässt sich nicht (allein) über ihre Kausalursachen erklären. Licht und Finsternis als Bedingungen der Farberscheinungen verursachen diese nicht, wie etwa ein Feuer die Entstehung von Rauch verursacht. Wenn Olaf Müller schreibt, Goethe habe im Grunde »eine Bipolare Theo­rie der gleichberechtigten kausalen Rolle von Licht und Finsternis«54 gesucht, diese aber nicht gefunden, so unterliegt er dem gleichen Irrtum wie Schopenhauer, nämlich zu meinen, es ginge Goethe überhaupt um Kausalität. Zum einen warf Goethe einen kritischen Blick auf das, was in der Physik oder anderen Einzelwissenschaften eine Kausalerklärung sinnvollerweise sein kann und erkannte die erkenntnisleitende Funktion von auf dem Analogieprinzip beruhenden anschaulichen Modellvorstellungen oder »Vorstellungsarten« für etwas, was gar kein Gegenstand der sinnlichen Erfahrung sein kann. Zum anderen ging es ihm selbst mit der Suche nach dem Wesen nicht um Ursachen in einem landläufigen Sinne, wie etwa im Fall von Feuer und Rauch oder der Tötung eines Menschen durch eine »losgefeuerte[n] Büchse«,55 und erst recht nicht um den Sinnen verborgene Ursachen oder Gesetzmäßigkeiten im Sinne der mathematischen Physik56 oder der Sinnesphysiologie. 53 Goethe:

Erfahrung, HA 13, S. 25. 54 Olaf Müller: Mehr Licht, S. 144. 55 Goethe: Maximen und Reflexionen, Nr. 597, HA 12, S. 447. 56 Goethes nicht ablehnender, sondern erkenntniskritischer, skeptischer Blick auf die Kausalgesetze der Physik – im Sinne der Theo­r iebeladenheit und der Auffassung von Kausalgesetzen als funktionalen Abhängigkeitsbeziehungen usw. in der modernen Wissenschaftstheo­r ie – äußert sich zum Beispiel in der Bemerkung: »Daß der Stein fällt, ist Faktum, daß es durch Attraktion geschehe, ist Theo­rie, von der man sich innigst überzeugen kann, die man aber nie erfahren, nie sehen, nie wissen kann.« (Goethe: Beiträge zur Optik, LA I/3, Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre verstanden?   |  389

Zwar interessierte sich auch Goethe für die physiologischen Funktionen des Auges, die das Sehen der Farben ermöglichen, und für die neusten physiologischen Forschungen seiner Zeit; auf seine Farbenlehre hatten sie jedoch allenfalls indirekten Einfluss. Was aus Sicht dieser Wissenschaftsdisziplin und auch aus der Sicht Schopenhauers wie ein bloßes Sammeln interessanter subjektiver Erfahrungen und Beobachtungen erscheint, ist aus Goethes Sicht die eigentliche Arbeit, die sich auf das Wesen der Farben bezieht, das eben nur im Bereich der Farbphänomene selbst, nicht aber »hinter« diesen Phänomenen als deren vermeintliche Kausalursache zu suchen ist. Denn was in unserem Auge physiologisch vor sich geht, während wir die Farben sehen, das sehen wir den Farben selbst in keiner Weise an. Im Blick auf die farbige Welt bleibt uns genau das am meisten verborgen. Umgekehrt kann der Physiologe, der die für das Farbensehen zuständigen Funktionen des Auges oder des Gehirns untersucht, diesen Funktionen in keiner Weise ihren Bezug auf die gesehenen Farben ansehen, darin nichts finden, was einen Hinweis auf die mit dem Auge gesehenen Farben enthält. Dafür ist er auf die Auskünfte desjenigen angewiesen, dessen Auge oder Gehirn untersucht wird. Und was Farben als Farben sind, das weiß auch der Physiologe allein auf Grund seiner eigenen Vertrautheit mit den Phänomenen und der auf dieser Grundlage gemeinsam mit anderen geteilten Sprache und ihren Farbbegriffen. In der neueren neurophilosophischen Literatur zum Thema Farben bzw. zum Thema phänomenales Bewusstsein gibt es als Gedankenexperiment die Fiktion der Neurophysiologin Mary, die alles über die physiologischen Funktionen des Auges und des Gehirns weiß, aber keine Farben zu sehen vermag.57 Schopenhauer würde von ihr wohl sagen, sie kenne das im Auge und im Gehirn situierte S. 158.) »Vorstellungsarten« wie die »Attraktion« sind erkenntnisleitende anschauliche Modellvorstellungen, vergleichbar den »regulativen Ideen« Kants, die man aber nicht mit Begriffen von Gegenständen verwechseln darf. Goethes Äußerungen zum Kausalitätsprinzip sind insgesamt sehr erhellend und im Grunde einer genaueren Untersuchung aus philosophischer Sicht wert (vgl. Theda Rehbock: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹, Kap. VII.4–6). 57 Zur Diskussion dieses Gedankenexperimentes im Kontext der aktuellen Philosophie des Geistes vgl. Frank Jackson: What Mary didn’t know; Martine Nida-Rümelin: Was Mary nicht wissen konnte; zur Problematik der Diskus390  |  Theda Rehbock 

Wesen der Farben, vermöge diese nur nicht selbst zu sehen. Goethe würde dagegen sagen, sie kenne zwar die für das Sehen der Farben unabdingbaren physiologischen Bedingungen, was aber die Farben ihrem Sein und Wesen nach sind, das bleibe ihr aus Goethes Sicht verborgen, »denn mit dem Blinden läßt sich nicht von der Farbe reden«.58 Genau genommen liegt Schopenhauers Ansatz weitaus mehr auf der Newton’schen Linie, als er vorgibt.59 Mit Newton teilt er denselben durch Descartes entworfenen Denkrahmen. Wilhelm Ostwald stellt klar, dass Schopenhauers Theo­rie, als folgerichtige Ergänzung der Newton’schen Theo­rie, völlig mit ihr harmoniert: »Newton war sich nachweisbar ganz klar darüber, daß die Farbe eine Empfindung und das Licht ihre Ursache ist.«60 Zu seiner Zeit sei es nur zunächst notwendig gewesen, die physikalischen Aspekte der Farbentstehung zu klären, während sich die Physiologie des 19. Jahrhunderts verstärkt dem Verarbeitungsprozess im Auge und im Gehirn zuwandte. Bei Schopenhauer findet sich dementsprechend eine Bemerkung, die von Newton wörtlich zitiert zu sein scheint: ›Der Körper ist rot‹ bedeutet, daß er im Auge die rote Farbe bewirkt. […] Farbe […] ist und bleibt Affektion des Auges; bloß als deren Ursache wird der Gegenstand angeschaut: die Farbe selbst aber ist allein die Wirkung, ist der im Auge hervorgebrachte Zustand. […] Helle, Finsternis und Farbe [sind], im engsten Sinne genommen, Zustände, Modifikationen des Auges […], welche unmittelbar bloß empfunden werden.61

Schopenhauer teilt also mit Newton dasselbe Modell einer kausalen Wahrnehmungstheo­rie, die kausale Auffassung der Wahrnehsion aus Sicht der philosophischen Phänomenologie und des späten Wittgenstein vgl. Theda Rehbock: Wo sind die Farben geblieben?. 58 Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil, Einleitung, HA 13, S. 324. 59 Hermann von Helmholtz hat in seinem Handbuch der physiologischen Optik (1856) eine Schopenhauer nahe stehende Theo­rie der Farben entworfen, ohne dass er Schopenhauer nennt, weshalb der Vorwurf des Plagiats bis heute nicht entkräftet werden konnte. Auch für Helmholz steht diese physiologische Theo­rie der Farben in keiner Weise im Gegensatz zur Newton’schen Optik. 60 Wilhelm Ostwald: Goethe, Schopenhauer und die Farbenlehre, S. 116. 61 F (Lö), S. 218 f. Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre verstanden?   |  391

mung als »causation of sensations«,62 wie sie seit Descartes bis heute den Denkrahmen für die Physik und Psychologie bzw. Physiologie bildet. Die Sinnesqualitäten insgesamt werden durch Einwirkung äußerer physikalischer Prozesse auf die Sinne, vermittelt durch neuronale Prozesse, schließlich im Gehirn kausal erzeugt, erst dort werden die äußeren Reize angeblich zu dem Bild verarbeitet, das wir von der Welt haben. Schopenhauer vergleicht das Material der Empfindungen, wie sie durch die »mannigfaltige Affektion« der Retina des Auges erzeugt werden, mit »den vielerlei Farben auf einer Malerpalette […] – welche gleichsam der rohe Stoff ist«,63 aus welchem der Verstand seine Anschauung schafft: die Welt als Vorstellung. Schopenhauers Philosophie ist einerseits stark von den Naturwissenschaften, insbesondere von der Sinnes- und Neurophysiologie seiner Zeit geprägt, die im 19. Jahrhundert einen besonderen Aufschwung erlebte,64 andererseits von der kantischen Philosophie. Schopenhauer übernimmt von Kant den erkenntniskritischen Grundgedanken der subjektiven Konstitu­tion der Erfahrung durch Anschauungsformen und Verstandeskategorien. Diese Formen der Erfahrung reduziert er jedoch auf Raum, Zeit und Kausalität und identifiziert sie mit Funktionen des Gehirns.65 Damit steht er nicht allein. Auch bei Hermann von Helmholtz ist eine solche Physiologisierung oder Naturalisierung der kantischen Transzendentalphilosophie zu finden, die im Prinzip von der Art ist, wie Kant sie mit Blick auf John Locke abgelehnt hatte.66 Die Welt ist aus dieser Sicht nicht eine vom Subjekt unabhängige Realität, wie es, trotz subjektiver Bedingtheit der Erscheinungen, für Kant noch der Fall war, sondern eine durch den Willen und den Verstand bzw. das Gehirn R. Bennett / Peter M. S. Hacker: Philosophical Foundations of Neuroscience, S. 128. 63 F (Lö), S. 206. 64 In Schopenhauers Auffassung der Welt »als Gehirnphänomen« sind bereits Grundzüge einer »Neurophilosophie« zu erkennen, wie sie heutzutage, beispielsweise durch Gerhard Roth, vertreten und kontrovers diskutiert wird (vgl. Dirk Göhmann: Art. »Neurophilosophie«). 65 »[…] Zeit, Raum und Kausalität, auf welchen alle jene realen und objektiven Vorgänge beruhen, [sind] selbst nichts weiter als Funktionen des Gehirnes […].« (W II (Lö), S. 18.) 66 Vgl. Hermann von Helmholtz: Die Tatsachen in der Wahrnehmung. 62 Maxwell

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hervorgebrachte Vorstellung, eben ein »Gehirnphänomen«, sie ist nicht bloß »Erscheinung« im kantischen Sinne, sondern ein durch Verstand und Wille hervorgebrachter trügerischer »Schein«, ähnlich dem Schleier der Maja im Hinduismus. In dieser grundsätzlichen Hinsicht stand Goethe mit seinem kritischen Realismus, wie ich ihn verstehe und bereits skizziert habe, gegenüber Schopenhauer auf der Seite Kants. Es gibt keine Welt ohne das Subjekt, ohne die vielfältigen Formen der subjektiven Zugangsweisen zu den Dingen, aber die Welt wird für Kant und Goethe nicht durch das Subjekt hervorgebracht oder erzeugt, sie ist uns in der Anschauung gegeben. Ebenso würde Goethe eine Physiologisierung der Formen der Erfahrung ablehnen, dadurch ginge auch, wie bereits gezeigt, die kritische Distanz gegenüber der Physiologie verloren, wodurch es in solchen neurophilosophischen Ansätzen zu den bekannten, unlösbaren Problemen eines ›Gehirnparadox‹ kommt: Wie kann das Gehirn, als ein Objekt der Erfahrung, zugleich das dieses Objekt, also sich selbst, hervorbringende Subjekt sein? Goethe teilte, wie gesagt, mit Kant das grundsätzliche Anliegen der Vernunft- und Erkenntniskritik. Eine Anschauung der Dinge ist gar nicht möglich, ohne dass die Anschauung bereits geformt und strukturiert ist; die das Anschauen in den Wissenschaften leitenden »Vorstellungsarten« bedürfen gründlicher kritischer Reflexion. Doch aus Goethes Sicht ist selbst Kant in dieser Hinsicht nicht gründlich genug gewesen. Auf Grund dessen gibt es, speziell im Hinblick auf die Farben bzw. auf die »sekundären Qualitäten« (John Locke), eine Gemeinsamkeit zwischen Kant und Schopenhauer, die sie mit Newton verbindet und der gegenüber Goethe sich mit Recht kritisch ablehnend verhält. Denn auch für Kant sind Farben nicht Beschaffenheiten der Körper […], sondern auch nur Modifika­ tionen des Sinnes des Gesichts, welches vom Lichte auf gewisse Weise affiziert wird. Dagegen gehört der Raum, als Bedingung äußerer Objekte, notwendigerweise zur Erscheinung oder Anschauung derselben. Geschmack und Farben sind gar nicht notwendige Bedingungen, unter welchen die Gegenstände allein für uns Objekte der Sinne werden können.67 67 Immanuel

Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 28 f. Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre verstanden?   |  393

Diese auch bei Kant ontologisch verstandene Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten auf der Ebene der empirischen Realität der Dinge ist darauf zurückzuführen, dass Gegenstände der Erfahrung in der Kritik der reinen Vernunft nicht Gegenstände unserer Alltagserfahrung sind, sondern Objekte der physikalischen Empirie im Sinne Newtons. Das zeigt sich unter anderem daran, dass die reinen Formen der Anschauung für Kant rein mathematisch bestimmbare raum-zeitliche Strukturen sind. Schopenhauer teilt zwar mit Goethe eine größere Hinwendung zur sinnlichen Anschauung, betont auch die Abhängigkeit der Begriffe von der Anschauung.68 Speziell im Fall der Farben aber muss Goethe diese empiristische Grundüberzeugung, wie schon im Falle Newtons, kritisch beim Wort nehmen. Was in Kants und Schopenhauers Instrumentarium apriorischer Bestimmungen des Objekts aus Goethes – wie auch aus Hegels, Husserls oder Wittgensteins – Sicht fehlt, sind ›materiale‹ apriorische Strukturen (nicht nur der direkt mathematisierbaren ›Formen‹, sondern auch) der Inhalte der Anschauung, (nicht nur der »Gestalten«, sondern auch) der »Füllen«, um Husserls Ausdrücke für (primäre und) sekundäre Qualitäten zu verwenden.69 Apriorische Strukturen der Farbphänomene bzw. der Farbbegriffe sind die notwendige Voraussetzung dafür, Farben nicht lediglich als atomare Empfindungsdaten aufzufassen, sondern als ihrerseits auf spezifische Weise konstituierte objektive Qualitäten der äußeren Welt.70 68 Vgl.

Volker Spierling: Kleines Schopenhauer-Lexikon, S. 19 f.

69 Vgl. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, § 9. c),

S. 32–36: »Das Problem der Mathematisierbarkeit der ›Füllen‹«. 70 Die Farben spielen dementsprechend für Wittgenstein eine Schlüsselrolle im Übergang vom Tractatus zur Spätphilosophie, wobei es im Kern auch um einen Übergang von einer rein formalen »Logik der Satzform« zu einer phänomenspezifischen »Logik des Inhalts« geht, aus der in den Bemerkungen über die Farben eine »phänomenologische Grammatik« der Farbbegriffe wurde. Was Wittgenstein für die Farben gezeigt hat, galt seiner Auffassung nach sogar für Empfindungen wie den Schmerz, der üblicherweise als Modell für die subjektivistische Auffassung der sekundären Qualitäten gilt: Die Farbempfindungen gleichen angeblich der physikalischen Ursache ebenso wenig wie die Schmerzempfindung dem Schwertschlag, der sie verursacht. Schmerzen sind Wittgenstein zufolge zwar einerseits, im Unterschied sowohl zu Formen als auch zu Farben, rein subjektgebunden, andererseits aber weisen sie ebenfalls eine spezifische (phänomeno)logisch-begriffliche Struktur auf, wozu 394  |  Theda Rehbock 

Ausschließlich räumlich bestimmbare Objekte der Außenwelt ohne Farben sind im Grunde rein gedankliche (geometrische) Konstrukte, nicht aber wirkliche Objekte der Sinne. Das gleiche gilt für die Farben als sozusagen gestaltlose, atomare Empfindungsdaten in der Innenwelt des Bewusstseins oder des Gehirns. Dieser dualistischen Spaltung der Qualitäten und damit der Welt in Innen und Außen ist mit Goethe, Wittgenstein und der Phänomenologie entgegenzuhalten, dass es Form ohne Farbe, Gestalten ohne Füllen ebenso wenig geben kann wie Farbe ohne Form, wie Füllen ohne Gestalten. Für primäre und sekundäre Qualitäten gilt gleicher­maßen, wie schon Bischof Berkeley gegenüber Locke einwandte, dass ihre Realität einerseits durch die subjektive Verfassung des Auges, des Gehirns und des menschlichen Geistes bedingt ist, dass sie aber andererseits beide gleichermaßen – durch phänomenspezifische Strukturen konstituierte – objektive und voneinander abhängige Qualitäten der Dinge sind. Die Unterscheidung ist, wie gesagt, nur methodisch gerechtfertigt, im Hinblick auf die Mathematisierbarkeit der Qualitäten, nicht aber ontologisch, im Sinne einer Trennung zwischen Innen und Außen. Dem ist mit Goethe entgegenzuhalten: Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: Denn was innen, das ist außen.71

Wie sehr in diesem Punkt Kant und Schopenhauer, im Kontrast zu Goethe, auf einer Linie liegen, bestätigt auch ein Blick in ihre jeweilige Philosophie der Ästhetik. Kant zufolge gehören Farben nicht zur Schönheit, sondern bloß »zum Reiz« und damit zum bloß »Angenehmen«, sie machen angeblich »den Gegenstand […] zwar für die Empfindung belebt, aber nicht anschauungswürdig und schön«.72 Ebenso betont Schopenhauer, dass »die Farbe […] als eine allenfalls entbehrliche Zugabe die angeschauten Körper gerade diese Subjektgebundenheit und damit die Asymmetrie der Zugangsweise zu Schmerzen über das eigene Empfinden und über das Schmerzverhalten aus Sicht des Anderen gehört. Auf dieser Grundlage konnte Wittgenstein mittels seines so genannten Privatsprachenarguments zeigen, dass auch Schmerzen, und erst recht Farben, eine allen Menschen zugängliche objektive Realität besitzen (vgl. Theda Rehbock: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹, Kap. VIII.1, bes. S. 202–208). 71 Goethe: Epirrhema, HA 1, S. 358. 72 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 14 (B 42/A 41 f.). Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre verstanden?   |  395

bekleidet«73 und dass die »Harmonie der Farben« in der Malerei, hinsichtlich ihres Beitrages zur Erkenntnis der »(Platonischen) Ideen«, nur eine »untergeordnete Art der Schönheit« darstelle.74 Bei Kant und Schopenhauer ist also – nicht zuletzt unter dem Einfluss der Newton’schen Physik – die gleiche Geringschätzung der Farbe zu finden, die Goethe in der Kunsttheo­rie seiner Zeit vorfand. Um die nun skizzierte Differenz zwischen Schopenhauer und Goethe in der Farbenlehre noch etwas genauer zu verdeutlichen und zu konkretisieren, möchte ich im Folgenden noch kurz auf die besondere Rolle des Auges in Goethes Farbenlehre im Kontrast zu Schopenhauer eingehen.

5. Das Auge und die Farben bei Goethe Auch Goethe widmet dem Auge bzw. der Abhängigkeit und Bedingtheit der Farben vom bzw. durch das Auge besondere Aufmerksamkeit. Sein besonderes Interesse gilt aber, anders als bei Schopenhauer, nicht der physiologischen Beschaffenheit etwa der Retina, nicht also dem Auge als einem körperlichen Objekt, das sich auf seine Eigenschaften und Funktionen hin untersuchen lässt. Es geht ihm vielmehr um das Auge als sehendes, leibliches Organ oder Medium des Sehens, das als solches alles Sichtbare zu sehen vermag, nur sich selbst dabei verborgen bleibt. Um diesen Unterschied zu verstehen, ist es hilfreich, die phänomenologische Unterscheidung zwischen dem Leib als Körper, das heißt als einem materiellen Objekt und Gegenstand physiologischer oder medizinischer Untersuchung, und dem Leib als Leib, das heißt, mit Husserl gesprochen, als dem in Funktion befindlichen Leib oder, mit Merleau-Ponty gesprochen, als Medium des Zur-Welt-Seins (être au monde) heranzuziehen. Indem das Auge auf die sichtbare farbige Welt gerichtet ist, bleibt es sich selbst verborgen. »Das Auge siehst du wirklich nicht.«75 Es sei nicht Teil des Gesichtsfeldes, so auch Wittgenstein in seinem Tractatus.76 73 F

(Lö), S. 217. II (Lö), S. 541. 75 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, 5.633. 76 Wittgenstein erläutert damit die Aussage 5.632, dass »das Subjekt« nicht 74 W

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In diesem leiblichen Sinne hat das Auge für Goethe tatsächlich eine für die Erscheinung der Farben konstitutive Funktion. Denn er beschäftigt sich mit den Farben als Farben – nicht, sofern sie sich im Auge befinden, sondern – sofern sie die »gesetzmäßige Natur in Bezug auf den Sinn des Auges«77 ausmachen, das heißt die Natur oder die Welt als eine vom Auge gesehene Welt, und das ist notwendigerweise immer eine farbige Welt. Was wir sehen, sind weder im Licht angeblich enthaltene Lichtstrahlen noch die physiologischen Funktionen der Retina oder des Gehirns, sondern die Farben in der ganzen Vielfalt ihrer für das Auge sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen, deren komplexe begriffliche und phänomenale Struktur Goethe in seiner Farbenlehre untersucht. Die Einteilung der Farben in der Farbenlehre als »physiologische«, »physische« und »chemische Farben« orientiert sich an der unterschiedlichen Beziehung der Farben zum Auge. Die physiologischen Farben, wie etwa Nachbilder, sind in besonderem Maße von der Befindlichkeit des Auges abhängig und daher in besonderem Maße subjektiv: Das jeweilige Nachbild sehe jeweils nur ich selbst. Gleichwohl handelt es sich um ein objektives Phänomen, weshalb Goethe die herkömmlichen Bezeichnungen dieser Farben als »Scheinfarben« oder »Augentäuschungen« ablehnt, ja, die physiologischen Farben sogar als »das Fundament der ganze Lehre« bezeichnet, da eben das Auge notwendigerweise immer im Spiel ist, auch bei den weniger subjektgebundenen Farbphänomenen.78 Täuschend sind die physiologischen Farben nur, wenn man sie fälschlicherweise als den äußeren Gegenständen anhaftend ansieht, also etwa meint, die Wand, auf der man das grüne Nachbild sieht, sei tatsächlich grün. »Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt«,79 sagt Goethe dazu. Ebenso wie eine Fata Morgana oder ein Traum reale zur Welt gehöre, sondern »eine Grenze der Welt« sei. In ähnlicher Weise ist oder bestimmt das Auge im leiblichen Sinne die Grenze des Gesichtsfeldes. Wenn es doch vielleicht zum Beispiel einen Teil der Augenbrauen zu Gesicht bekommt, wie in dem von Ernst Mach gezeichneten Gesichtsfeld (vgl. Ernst Mach: Analyse der Empfindungen, S. 15), so ist das ein Teil des Auges als körperlichem Objekt, nicht Teil des Auges als in Funktion befindlichem, leib­ lichem Medium. 77 Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil, Einleitung, HA 13, S. 324. 78 Ebd., §§ 1–3, HA 13, S. 329 f. 79 Goethe: Maximen und Reflexionen, Nr. 295, HA 12, S. 406. Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre verstanden?   |  397

Phänomene sind, wenn man nur nicht meint, dort, wo man eine Fata Morgana sieht, sei tatsächlich eine Oase oder das im Traum Erlebte sei wirklich geschehen. Wittgenstein zufolge sind in diesem Sinne auch Schmerzen zwar subjektgebunden, im Unterschied sowohl zu räumlichen Qualitäten als auch zu Farben, weshalb sie für den die Schmerzen Erleidenden anders zugänglich sind als für den Andern, der dieselben Schmerzen durch das Ausdrucksverhalten wahrnimmt. Doch eben darin besteht die besondere Art der Realität der Schmerzen, die deshalb nicht weniger objektiv und anhand von spezifischen Kriterien intersubjektiv nachprüfbar ist.80 Die physischen Farben, das sind z. B. die prismatischen Farben oder der Regenbogen, und die chemischen, den Gegenständen anhaftenden Farben haben zwar eine vom einzelnen Subjekt unabhängigere objektive Realität. Ein bestimmtes Nachbild ist immer mir zugänglich, ein Regenbogen oder ein Prisma dagegen ist anderen in der Wahrnehmung ebenso zugänglich wie mir. Ich kann sagen: Guck’ mal, der Regenbogen! Oder: Schau dir mal die blaue Farbe dieses Autos an! Aber ich kann nicht sagen: Guck’ mal das Nachbild! Ich kann dem anderen nur sagen, was er tun muss, um selbst bei sich ein Nachbild zu erzeugen. Dennoch sind auch die physischen und chemischen Farben vom Auge abhängig bzw. durch das Auge bedingt, und auch sie unterliegen möglicher Täuschung. Das gleiche gilt für räumliche Qualitäten; wir können uns zum Beispiel leicht über die tatsächliche Größe eines Gegenstandes täuschen. Ausgehend vom Auge als Grundbedingung für das mögliche Erscheinen der Farben kommt Goethe zu der Erkenntnis, dass die Farben nicht nur als gegenüber den räumlichen Form- oder Gestaltqualitäten gleichrangig anzusehen sind, ihnen ist diesen gegenüber sogar der Vorrang einzuräumen. Denn ohne Farben bzw. ohne zumindest minimale Hell-Dunkel-Kontraste wären keinerlei räumliche Konturen, geschweige denn körperliche Dinge wahrnehmbar. Das Auge sieht keine Gestalten, es sieht nur, was sich durch Hell und Dunkel oder durch Farben unterscheidet.81 Wir sagten, die ganze Natur offenbare sich durch die Farbe dem Sinne des Auges. Nunmehr behaupten wir, wenn es auch einigermaßen 80 Vgl.

hierzu Anm. 70. Beiträge zur Optik, LA I/3, S. 436.

81 Goethe:

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sonderbar klingen mag, daß das Auge keine Form sehe, indem Hell, Dunkel und Farbe zusammen allein dasjenige ausmachen, was den Gegenstand vom Gegenstand, die Teile des Gegenstandes von einander fürs Auge unterscheidet. Und so erbauen wir aus diesen dreien die sichtbare Welt.82

Diese Aussagen enthalten im Kern Goethes Kritik an dem von Des­ cartes, Newton, Kant, Schopenhauer und der klassizistischen Kunst­ theo­rie geteilten Vorurteil, die objektive Realität der Dinge würde (allein) durch die räumlichen Gestaltqualitäten gewährleistet. Genau das Gegenteil ist der Fall. Goethe nimmt damit, in seiner Opposition gegen die klassizistische Kunsttheo­rie, auch Grundüberzeugungen des französischen Impressionismus etwa bei Cézanne vorweg.83 Wenn es Goethe um das Auge als sehendes leibliches Organ in Bezug zur sichtbaren Welt der Farben geht, so ist mit dem Auge immer auch der ganze Mensch in seiner Existenz und seiner Beziehung zur Welt gemeint. Dementsprechend untersucht Goethe die Grundbedingungen der Farben, wie sie im Urphänomen enthalten sind, immer mit Bezug auf Grunderfahrungen, die wir zum Beispiel machen, wenn wir aus einem dunklen Raum in helles Licht kommen oder umgekehrt aus der Helligkeit ins Dunkle, wobei wir jedes Mal zunächst geblendet sind und nichts sehen können. Mit diesen Grunderfahrungen beginnt die »Erste Abteilung« des ersten, didaktischen Teils der Farbenlehre. Die Erfahrung, durch das totale Licht geblendet und damit im Grunde blind zu sein, ist eine Urerfahrung, die schon im platonischen Höhlengleichnis oder in der Mystik zu finden ist. Faust macht diese Erfahrung zu Beginn des zweiten Teils des Dramas, wenn er aufwacht, zunächst vom »Flammenübermaß« der Sonne geblendet wird, dann sich von ihr abwendet, im Wasserstrahl den Regenbogen erblickt und darauf hin zu der Einsicht gelangt: »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.«84 Mit Bezug auf das platonische Höhlengleichnis lässt sich darin auch eine Kritik aller Versuche erkennen, direkt das Wesen der Dinge, etwa von Licht und Farbe, erkennen zu wollen, etwa auch durch Erkenntnis von im Licht oder im Auge verborgenen Ei82 Goethe:

Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil, Einleitung, HA 13, S. 323.

84 Goethe:

Faust, HA 3, S. 149, V. 4726.

83 Vgl. Theda Rehbock: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹, Kap. VI.4.

Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre verstanden?   |  399

genschaften oder Ursachen, wie Newton und Schopenhauer es versuchen. Dass es sich dabei nicht nur um eine rein theo­retische, sondern um eine praktische und existenzielle Einsicht handelt, bringt Adalbert Stifter in seiner Erzählung Bergkristall eindrucksvoll zum Ausdruck. Zwei Kinder verlieren zu Weihnachten hoch in den Bergen in dichtem Schneetreiben den Weg. Durch das totale Weiß sind sie geblendet: Es war […] nichts um sie als das Weiß, und ringsum war kein unterbrechendes Dunkel zu schauen. Es schien eine große Lichtfülle zu sein, und doch konnte man nicht drei Schritte vor sich sehen; alles war, wenn man so sagen darf, in eine einzige weiße Finsternis gehüllt, und weil kein Schatten war, so war kein Urteil über die Größe der Dinge, und die Kinder konnten nicht wissen, ob sie aufwärts oder abwärts gehen würden, bis eine Steilheit ihren Fuß faßte und ihn aufwärts zu gehen zwang.85

Als sie wieder erste Hell-Dunkel-Kontraste wahrnehmen, heißt es, dass sie »wieder zu Gegenständen« kamen, und mit diesen HellDunkel-Kontrasten kehren auch die Farben (im engeren Sinne) wieder zurück.

6. Worin Newton und Schopenhauer doch recht hatten Um nun Newton und Schopenhauer gegen Goethe doch auch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, möchte ich abschließend auf zwei aufschlussreiche Irrtümer Goethes hinweisen. Auf Grund der einfachen, reinen, ungetrübten Natur des Lichtes war er der felsenfesten Überzeugung, dass sich durch die Mischung farbiger Lichter kein reines Weiß, sondern allenfalls Grau erzeugen ließe, das der schattigen Natur der Farben entsprechen würde.86 Aus heutiger Sicht hat Goethe Recht bezüglich der heute so genannten subtraktiven Mischung von Farbstoffen (Pigmenten). Durch die heute so genannte additive Mischung von Spektralfarben aber gelingt es sehr wohl, reines Weiß zu erzeugen, worauf Schopenhauer Goethe in einem 85 Adalbert 86 Goethe:

Stifter: Bergkristall, S. 200 f. Zur Farbenlehre. Polemischer Teil, § 571 f., LA I/5, S. 166.

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Brief hinweist, ohne ihn überzeugen zu können.87 Dieser Irrtum beruht nicht nur darauf, dass Goethe noch nicht über die Unterscheidung zwischen subtraktiver und additiver Farbmischung verfügte. Wie Wittgenstein deutlich macht, wäre es zudem notwendig, zwischen dem Begriff der Mischfarbe im physikalischen, chemischen oder physiologischen Sinne und dem Begriff der Zwischenfarbe im phänomenologischen Sinne zu unterscheiden. Goethe hatte phänomeno­logisch oder begrifflich Recht, sofern Weiß keine Zwischenfarbe ist. Eins war für Goethe unumstößlich klar: Aus Dunkelheiten kann sich kein Helles zusammensetzen – wie aus mehr und mehr Schatten kein Licht entsteht. – Und dies ließe sich auch so ausdrücken: Wenn man Lila ein weißlich-rötlich-Blau nennt, oder Braun ein schwärzlich-rötlich-Gelb, – so kann man nun Weiß kein gelblich-rötlich-grünlichBlau, oder dergleichen, nennen. Weiß ist nicht eine Zwischenfarbe anderer Farben. Und das können Versuche mit dem Spektrum weder bekräftigen noch widerlegen.88

Empirisch gesehen aber hatte Goethe Unrecht. Weiß ist zwar keine Zwischenfarbe, aber durchaus eine Mischfarbe, insofern sie durch Mischung verschiedenfarbiger Lichter technisch-kausal herstellbar ist. Doch die Einsicht Goethes, dass Weiß phänomenologisch keine Zwischenfarbe ist, dass also im Weiß die Farben für das Auge nicht zu erkennen sind, ist notwendige Voraussetzung dafür, dass die empirische Entdeckung der physikalischen Mischbarkeit etwas Überraschendes hat, als eine empirische Entdeckung gelten kann. Ähnlich steht es mit der Farbe ›Grün‹, die in Goethes System eine der drei ›Mischfarben‹ ist, die durch Mischung von Gelb und Blau zustande kommt, so wie Orange durch Rot und Gelb oder Vio­ lett durch Rot und Blau zustande kommt. In dieser Hinsicht übersieht Goethe, dass Grün zwar empirisch gesehen eine Mischfarbe ist, sofern sie durch subtraktive Mischung technisch-kausal herstellbar ist, dass sie aber phänomenologisch gesehen, also für das Auge, eine Grundfarbe und keine Zwischenfarbe ist. Dass sich Grün aus gelben und blauen Farbpigmenten auf der Palette mischen lässt, hat vor 87 Vgl.

Schopenhauer an Goethe, 16. 9. 1815, BmG, S. 12. Dazu Goethe ablehnend: Goethe an Schopenhauer, 16. 11. 1815, ebd., S. 27. 88 Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Farben I, § 72, S. 28. Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre verstanden?   |  401

diesem Hintergrund etwas Überraschendes, was für die Mischbarkeit von Orange aus Rot und Gelb nicht gilt. Das ist im Fall des Grünen, anders als für Orange als Mischfarbe von Rot und Gelb zum Beispiel, nicht zu erwarten, weil für das Auge im reinen Grün das Gelbe und das Blaue als Bestandteile nicht erkennbar sind, während im Orange das Gelb und Rot sichtbar bleiben. Das wird nur leicht vergessen, weil wir es so gewohnt sind, dass durch die Mischung gelber und blauer Farbpigmente Grün entsteht. Goethe stellt zwar am Rande fest, dass speziell im Fall des Grünen »die Mischung wieder etwas Spezifisches fürs Auge« erhalte und »als eine Einheit« erscheine, »bei der wir an die Zusammensetzung nicht denken«.89 Aber er sieht nicht, dass Grün in erster Linie eine Grundfarbe und keine Zwischenfarbe ist und erst in zweiter Linie, auf Grund der empirischen Entdeckung der Mischbarkeit von Farbpigmenten, zu einer Mischfarbe wird. Außer der hier angesprochenen subtraktiven Mischung von Farbpigmenten gibt es zudem die additive Mischung nicht nur des Weißen, sondern fast aller Farbtöne von farbigen Lichtern aus drei Grundfarben, am besten aus Orange, Grün und Violett, die noch weniger vorhersehbar ist. Was Grund- und was Mischfarbe ist, ist hier variabel. Diese Mischbarkeit beruht darauf, dass es im Auge drei verschiedene Rezeptortypen gibt, was durch Young und Helmholtz herausgefunden wurde, deren Position der Schopenhauer’schen Theo­rie nahesteht. Demgegenüber wurde von Herrmann Ebbinghaus und Ewald Hering eine Vierfarbentheo­rie vertreten, die Hering phänomenologisch begründet: Niemand wird behaupten wollen, dass ein Grün in deutlicher Weise zugleich gelblich und bläulich sein könne, wie ein Violett zugleich bläulich und rötlich erscheint, und niemand wird versuchen, ein Grün als Blaugelb oder Gelbblau in demselben Sinne zu bezeichnen, wie man ein Violett unbedenklich als Rotblau oder Blaurot bezeichnet.90 Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil, § 697, HA 13, S. 478. Hering: Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn, S. 46. Wittgenstein diskutiert diese Frage des Grünen als Mischfarbe im empirischen und zugleich Grundfarbe im phänomenologischen Sinne besonders ausführlich (vgl. Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Farben I, §§ 6–12; II §§ 26–27, 39–41, 111, 113, 158). 89 Goethe: 90 Ewald

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Gelb und Blau sowie Rot und Grün sind Hering zufolge »Gegenfarben«, sofern sie phänomenologisch für das Auge nicht mischbar sind. Gelbliches Blau oder bläuliches Gelb kann es ebenso wenig geben wie rötliches Grün oder grünliches Rot. Diese phänomenologische Erkenntnis ist ganz unabhängig davon wahr, ob, wie es später tatsächlich der Fall war, den Gegenfarben entsprechende physiologische Prozesse im Auge zu finden sind. Angesichts des auch von Goethe geteilten Vorurteils, dass Weiß nicht aus farbigen Lichtern herstellbar ist und dass Grün keine Grundfarbe ist, gilt auch für Goethe selbst der von ihm formulierte phänomenologische Grundsatz: Was ist das Schwerste von allem? Was dir das Leichteste dünket: Mit den Augen zu sehen, was vor den Augen dir liegt.91

91 Goethe:

Xenien, Nr. 155, HA 1, S. 230. Hat Schopenhauer Goethes Farbenlehre verstanden?   |  403

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VI. Ethik und Moral

Heinz Gerd Ingenkamp

Goethe und Schopenhauer zu Moral und Ethik 1.   Vorbemerkungen zur Methode a) Mit ›Moral‹ bezeichnet man das als sittlich wertvoll empfundene Verhalten einer Gemeinschaft oder einer Einzelperson und die dieses Verhalten regelnden Vorstellungen. ›Ethik‹ ist die Wissenschaft, die sich mit Vorstellungen dieser Art befasst oder sie diskutiert. In der Regel ändern sich mit den Epochen die Inhalte der Ethik (man denke z. B. an den Bereich der Sexualität). Solche Änderungen können dazu führen, dass ganze Felder der Ethik zugewiesen oder abgesprochen werden. Die Griechen z. B., welche Großgeartetheit (Megalopsychie), Wohlberatenheit, Scharfsinn und dergleichen in ihren Ethiken behandelten (wir werden darauf zurückkommen), nahmen also Verhaltensästhetik und -pragmatik sowie bloße Fähigkeiten, die zweifelsfrei Aspekte von ›Tüchtigkeit‹ sind, aber keinen Bezug zum heute als solches verstandenen sittlichen Verhalten haben, ohne Bedenken in ihren ›Tugendkanon‹ auf, den sie dann in dem Fach behandelten, das eben sie, die Namengeber, ›Ethik‹ nannten. Auch in verschiedenen Kulturen einer und derselben Epoche sind die Inhalte dessen, was man als sittlich hochstehend oder allgemein als auszeichnende sittliche Leistung empfindet, unterschiedlich. Entsprechend sind die Quellen, aus denen die Inhalte gewonnen werden, verschiedener Art. Im Folgenden vergleichen wir Quellen und Inhalte der themengemäß zu besprechenden Verhaltensweisen. b) Wir vergleichen im Folgenden aber auch eine besonders strikte Ethik mit wesentlich anders gearteten Vorstellungen über gelungenes Verhalten. Derjenige, dessen Ethik wir insgesamt ins Auge fassen, ist Philosoph, und zwar einer, der, auch wenn man ihn im Rahmen seines Fachs beurteilt, seine Gedanken besonders eng führt – er will so zu den wirklich letzten Ursachen, den Prinzipien, vorstoßen. Derjenige, dessen Vorstellungen über gelungenes Verhalten uns im Zusammenhang mit der Ethik jenes Philosophen inte­ressieren, ist ein Dichter, der zum einen eben Engführung von Gedanken nicht   |  409

schätzt, wie er es selbst gelegentlich sagt, wie es aber auch seine Zeitgenossen wussten, auch dann, wenn sie ihn (noch) nicht persönlich kannten,1 und der, unser Thema betreffend, nicht nur unterschiedliche Eigenarten mit großer Sorgfalt beobachtet, sondern diese Eigenarten gegebenenfalls auch als vortrefflich oder, um einen Terminus der Ethik zu verwenden, als ›gut‹ (empfinden und) präsentieren kann.2 Was ›gut‹ ist, ist bei Schopenhauer also wesentlich eines, bei Goethe ist es wesentlich vielgestaltig.3 Goethes vielgestaltige Welt des Großen, Beachtenswerten, Belehrenden ist ferner nie ein abgeschlossener Kosmos, sondern der Dichter ist, bis zuletzt, stets bereit dazuzulernen, wie man ihm auch stets mit mineralogisch oder botanisch Interessantem eine Freude machen konnte.4 ›Ethik‹ sowie ›Moral‹ sind somit Begriffe, die, wenn man nach heutigem und hiesigem Verständnis urteilt, Vielgestaltigkeit dieser Art verkürzen. Die Grenze zur Ästhetik ist hier weit offen, wenn es sie überhaupt gibt. Goethe blickt eher auf ›Größe‹ als auf ›Gutsein‹ im Sinne Schopenhauers. c) Wenn wir nun die Urteile über ›gutes‹ Verhalten des ›eng‹ sehenden Schopenhauer und die Urteile über ›bedeutende Menschen‹ des auffallend ›weiten‹ Goethe vergleichen wollen, so müssen wir unser Vorgehen danach einrichten. Dies tun wir wie folgt: Schopenhauer, der Engere, ist das secundum comparatum, dasjenige, mit dem verglichen wird, der Ausgangspunkt also unserer Fragean Körner, 12. 8. 1787, in: Friedrich Schiller: Briefwechsel, S. 129: »Eine stolze philosophische Verachtung aller Speculation und Untersuchung, mit einem biß zur Affectation getriebenen Attachement an die Natur und einer Resignation in seine fünf Sinne, kurz eine gewiße kindliche Einfalt der Vernunft bezeichnet ihn und seine ganze hiesige Sekte [d. h. »den Tiefurter Kreis um die Herzoginmutter Anna Amalia«, ebd., S. 363; H. G. I.]. Da sucht man lieber Kräuter oder treibt Mineralogie als daß man sich in leeren Demonstrationen verfienge. Die Idee kann ganz gesund und gut seyn, aber man kann auch viel übertreiben«. 2 Christoph Martin Wieland: An Psyche (über Goethe): »Der, unzerdrückt von ihrer Last, / So mächtig alle Natur umfaßt, / So tief in jedes Wesen sich gräbt, / Und doch so innig im ganzen lebt!« (GG 1, S. 183; GG 4, S. 38.) 3 Umfassend und treffend ausgedrückt durch seinen ihn kennzeichnenden Vers »Eines schickt sich nicht für alle!« (Goethe: Beherzigung, WA I/1, S. 65, V. 9). 4 Zum Beispiel Riemer, 16. 7. 1831: »Abends bei Goethe, wo Professor Seelus seine Blätter und Pflanzenskelette vorlegte, auch skelettierte Kirschen und Pflaumen.« (GG 3.2, S. 787.) 1 Schiller

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stellung, Goethe das primum comparandum, das man heranzieht, sofern es Züge aufweist, die mit dem comparatum in erster Linie als zustimmend, unter Umständen aber auch prononçiert abweichend oder charakteristisch andersartig in Beziehung zu setzen sind. Wir werden also Schopenhauers Ethik kennen lernen, Goethes Welt der menschlichen Größe dagegen nur zu einem kleinen Teil, besser: zu einem der Peripherie seines Interesses zuzuordnenden Teil, eben weil wir ihn nur anhand von Kriterien und nur zu Themen hinzuziehen, die ein recht verschieden gearteter Geist uns zur Verwendung an die Hand gibt.5

2. Die Quellen der Anschauungen Goethes und Schopen­ hauers über den Rang menschlicher Verhaltensformen 2.1  Trennendes

Goethes Blick auf das Verhalten von Menschen geht einmal in die Weite: Er beobachtet viele Menschen; sodann ins Einzelne: Er beobachtet und wertet das Verhalten des Einzelnen geduldig6 und – gelegentlich bis zur Selbstverleugnung – gerecht. In großem Maßstab begegnen wir dem viele Menschen beobachtenden, die Natur möglichst vieler Menschen lernend prüfenden Goethe, wenn wir sein auffallendes, vor allem im Alter hervor­tretendes Verhältnis zu dem griechischen Autor Plutarch (ca. 50– 120 n. Chr.) betrachten. Goethe hat sich mit Plutarchs Gesamtwerk 5

Die folgende Ausführung kann, wohl unvermeidbar, den Eindruck erwecken, dass wir aus Goethe einen Philosophen machen wollen bzw. bedauern, aus Schopenhauer keinen weltgewandten Lernenden machen zu können. Es werden aber Thesen verglichen und zwar so, dass gefragt wird, ob und wie die Thesen des fachlich-eng Fragenden in der sich ständig erweiternden, wohl auch fluktuierenden ›Welt‹ des anderen Platz finden. Es wird sich auch immer wieder der Eindruck aufdrängen, dass der ›weite‹ Goethe dem ›engen‹ Schopenhauer vorzuziehen sei. Dazu tragen die Wertungen bei, die die Kategorien ›Enge‹ und ›Weite‹ an sich nahelegen. 6 Vertraute konnten das so sehen: »Goethe hat in etwas den Vorzug vor allen seiner Zeit: er tadelt nie. Er entwickelt die Unarten, aber er schilt sie nicht. Er bemerkt die Fehler als Unzulängliches, aber er prätendiert nicht, daß einer sie hätte wissen und ablegen sollen« (Riemer, 6. 6. 1829, GG 3.2, S. 423). Goethe und Schopenhauer zu Moral und Ethik  |  411

befasst, also auch mit den sogenannten Moralia (die nur zum Teil mit ethischen Fragen zu tun haben);7 es waren aber die über 50 Biographien von Griechen, Römern und einem Perser, die ihn faszinierten. Da sich sein Interesse an der geduldigen Beobachtung von Menschen verschiedenster Art hier wie wohl nirgends sonst geradezu nachzählen lässt, ist es vielleicht nützlich, eine Sammlung der von Goethe selbst in seinen Tagebüchern festgehaltenen Daten von Plutarchlektüren hier folgen zu lassen.8 Was Goethe in Plutarchs Biographien gesucht haben wird, ist wohl, auf eine seinen Blick charakterisierende Weise,9 in einem seiner naturwissenschaftlichen Texte beschrieben: Das reine Phänomen […] kann niemals isolirt sein, sondern es zeigt sich in einer stetigen Folge der Erscheinungen. Um es darzustellen, bestimmt der menschliche Geist das empirisch Wankende, schließt das Zufällige aus, sondert das Unreine, entwickelt das Verworrene, ja entdeckt das Unbekannte. – Hier wäre, wenn der Mensch sich zu bescheiden wüßte, vielleicht das letzte Ziel unserer Kräfte. Denn hier wird nicht nach Ursachen gefragt, sondern nach Bedingungen, un7 »So

lasen wir Plutarchs sämtliche moralische Schriften in der Kaltwasserschen Übersetzung, die ein Badegast mitgebracht und dort […] zurückgelassen«. (Riemer, Juni 1811, GG 2, S. 664.) 8 1782 (28. 8. (Goethes Geburtstag)), 1798 (5. 8., 6. 8., 7. 8., 8. 8., 9. 8.), 1800 (21. 2 .), 1811 (25. 5., 26. 5., 27. 5., 29. 5., 4. 6., 15. 7. 16. 7.), 1820 (15. 11., 18. 11., 19. 11, 22. 11., 23. 11., 27. 11., 30. 11., 1. 12., 4. 12., 5. 12., 7. 12., 9. 12., 10. 12., 11. 12., 12. 12., 14. 12., 15. 12., 19. 12., 20. 12., 21. 12.), 1821 (2. 10., 7. 10., 8. 10., 11. 10., 13. 10., 16. 10., 17. 10. (vgl. Tag- und Jahres-Hefte 1821, WA I/36, S. 191)), 1823 (5. 2 .), 1826 (15. 11., 16. 11., 18. 11., 19. 11., 20. 11., 21. 11., 22. 11., 23. 11., 24. 11.), 1830 (12. 6., 13. 6., 14. 6.), 1831 (28. 9., 29. 9., 3. 10., 3. 11., 4. 10., 5. 10. (vgl. auch den Brief an C. F. Zelter von diesem Tage), 6. 10., 15. 10., 24. 10., 26. 10., 27. 10., 29. 10., 30. 10., 31. 10., 2. 11., 3. 11., 14. 11., 17. 11., 20. 11., 23. 11., 26. 11., 28. 11., 1. 12., 3. 12., 7. 12., 17. 12.), 1832 (28. 1., 8. 2 ., 11. 2 ., 13. 2 ., 14. 2 ., 15. 2 ., 16. 2 ., 19. 2 ., 22. 2 ., 25. 2 ., 26. 2 ., 27. 2 ., 29. 2 ., 14. 3.); Goethe stirbt am 22. 3. Plutarch, »Leben des Sulla«, ist die letzte Lektüre, die er, am 14. 3., verzeichnet hat. 9 Die zugrunde liegende Theo­ r ie ist folgende: »Alle unsere Erkenntnis ist symbolisch. Eins ist das Symbol vom andern: die magnetischen Erscheinungen Symbol der elektrischen, zugleich dasselbe und zugleich ein Symbol des andern. Ebenso die Farben durch ihre Polarität symbolisch für die Pole der Elektrizität und des Magnets. Und so ist die Wissenschaft ein künstliches Leben, aus Tatsache, Symbol, Gleichnis wunderbar zusammengeflossen.« (Riemer, 21. 10. 1805, GG 2, S. 45.) Wir werden bald auf Parallelen stoßen, die Ethisches in die Betrachtung einbeziehen. 412  |  Heinz Gerd Ingenkamp 

ter welchen die Phänomene erscheinen;10 es wird ihre konsequente Folge, ihr ewiges Wiederkehren unter tausenderlei Umständen, ihre Einerleiheit und Veränderlichkeit angeschaut und angenommen, ihre Bestimmtheit anerkannt und durch den menschlichen Geist wieder bestimmt.11

Man sollte, nebenbei, im Auge behalten, dass es sich bei Plutarchs Helden um Personen der sozialen Oberschicht handelt; man sollte auch nicht vergessen, dass Goethe Personen, die er »Lumpen«, »Schelme« u. ä. nennen konnte, auch »Alltagsköpfe«,12 einer näheren Betrachtung für kaum würdig gehalten hätte, dass er aber Menschen »einfacher« Herkunft, wie es früher hieß, sehr wohl geachtet hat13 und auch liebevoll beschreiben konnte (man denke an Wagner im Faust).14 Das Plutarchstudium zeigt also sein Interesse am Überblick. Wie Goethe sich in Einzelpersonen hineinversetzen wollte und konnte, wie er sie studierte, um auf diese Weise zum »Urphänomen« vorzustoßen, lehrt z. B. sein Aufsatz »Newtons Persönlichkeit« aus dem historischen Teil der Farbenlehre.15 Übrigens ist Goethe sich darüber im Klaren, in diesem Text als Ethiker zu sprechen: Wissenschaftliche Rätsel können nämlich »mitunter […] nur durch eine ethische Auflösung begreiflich werden«.16 Er setzt bei von ihm so gesehenen Widersprüchen in Newtons Theo­rien an, will dabei Newton gegenüber so gerecht wie möglich sein und sogar frühere Polemiken seinerseits wiedergutmachen. Wir folgen Goethes Argumentation und werden sehen, wie er sich bemüht – ein ihm weniger gewogener Leser könnte auch sagen: wie er sich dreht und wendet –, um Newton nicht nur verstehen, sondern auch (hoch)achten zu können. 10 Hier

wird sehr deutlich, wie sich der Blickwinkel Goethes von demjenigen Schopenhauers unterscheidet. 11 Goethe: Erfahrung und Wissenschaft, WA II/11, S. 40. 12 »[…] wenn man mich mit den Forderungen des Alltagsverstandes peinigte und mir sehr entschieden vortrug, was ich hätte thun und lassen sollen, dann zerriß der Geduldsfaden, und das Gespräch zerbrach […].« (Goethe: Dichtung und Wahrheit, WA I/28, S. 284.)  13 Vgl. etwa GG 5, S. 118. 14 Vgl. auch P II, S. 448. 15 Vgl. Goethe: Zur Farbenlehre. Historischer Teil, WA II/4, S. 95–106. 16 Ebd., S. 95, vgl. auch S. 104. Goethe und Schopenhauer zu Moral und Ethik  |  413

Zunächst betrachtet er den in seiner politisch aufgeregten Umwelt ›ruhig‹ seinem Forschertrieb folgenden Gelehrten. Die besondere Art der (mathematischen) Forschernatur des ›außerordent­ lichen Mannes‹ liegt zwar außerhalb seines Gesichtskreises, wie er offen gesteht, aber Newton ist auch Empiriker, und hier, angesichts eines mathematisch vorgehenden Empirikers, kann Goethe mit­ reden. Das Problem eines derartigen Forschens besteht nun darin, dass die Mathematik einen eventuellen empirischen Irrtum ins Ungeheure verschlimmern kann. So gehe Newton (angeleitet durch das von der Mathematik gewährte Sicherheitsgefühl) also zu selbst­ bewusst vor: Folgt mir, und ihr werdet das sehen, was ich sehe – wenn einige (!) Experimente meine Theo­rie belegen, ist sie sicher. Hier zeige sich ein bestimmter ›Charakter‹ – und Goethe findet zu dem ihm eigenen Thema. Er legt seinen Charakterbegriff gemäß seinem Gedicht »Urworte. Orphisch« dar. Charakter ist Natur. Auch der Feigling, z. B., hat danach einen Charakter – um diesen zu bewahren, gibt er seine Ehre auf. Nun ist Newton zweifellos ein großer Mensch. Goethe blickt entsprechend zum einen auf den Rang von Charakteren. Charaktere können ›groß‹ und ›stark‹, wie im Falle Newton (oder eins bzw. keins von beiden) sein. Ein starker Charakter ist, wer sein Ziel unter allen Umständen, auch zu persönlichem Schaden, (weiter)verfolgt. Ein großer Charakter ist ein starker Charakter mit herausragenden Fähigkeiten und mit Originalität. Es gibt, zum anderen, zahlreiche Typen von Charakteren; Goethe bringt Beispiele, indem er seine Kategorien, für ihn nicht unüblich, der Naturwissenschaft entlehnt (fest, dicht, elastisch usw.). In Newton treffen wir auf einen Charaktertyp, der ›starr‹ zu nennen ist. Der zeigt sich etwa am Verhältnis des Charakters zu Wahrheit und Irrtum. Newton irrt und verharrt in seinem Irrtum, schützt ihn gegen Angriffe und wirkt an der Ausbreitung des Irrtums. Verliert er deswegen unsere Hochachtung? Das naive Urteil lautet wohl: Ja!, Goethe aber urteilt: Sicher nicht!, selbst wenn Newton sogar trotz innerer Warnungen – hier kommt Moral ins Spiel – in seinem Irrtum verharrt. Goethe ist sich auch bewusst, hier ein schwieriges ethisches Problem zu berühren: Denn Newtons ›Moralität‹ ist ja nicht zu bezweifeln. Aber Goethe vermag das Problem zu lösen, denn er hat »in die Abgründe der menschlichen Natur 414  |  Heinz Gerd Ingenkamp 

zu blicken« gewagt.17 Hier die Lösung: Wenn wir irren, werden wir auf die Dauer unaufrichtig gegen andere und uns selbst. Man irrt z. B., indem man jemanden mehr hochachtet, als er es verdient. Nun muss man Anwalt sein, Mängel als Vorzüge ausgeben und andere zu überzeugen versuchen. Aber das Gewissen meldet sich und ebenso die Vernunft. Und nun ergibt sich, dass ein Mensch umso ›lügenhafter‹ wird, je moralischer und intelligenter er ist. Ein wenig intelligenter Mensch in derselben Lage kann rührend wirken; ein starker Charakter wird dem Betrachter unheimlich werden (er bleibt aber ein starker Charakter, gleichgültig, wie man ihn tituliert, z. B. ›verstockt‹, ›eigensinnig‹ usw.). Es kann auch anderes eintreten. Vielleicht durchschaut sich ein solcher Mensch ja doch. Dann wird er sich hin und wieder ›schelten‹ können, aber es ist unmöglich, dass er in seinem sich selbst betreffenden Tadel verharrt. Also könnte er versuchen, seine ›Mängel‹ auf andere zu schieben oder seine ganze Situation nachsichtig-ironisch zu betrachten, und sich so vielleicht sogar sympathisch finden. Und in diesem weiten Feld, das sich hier auftut, muss man auch Newton suchen müssen. Goethe führt Belege dafür an, dass Newton dunkel spürte, Unrecht zu haben. Da aber ethische Probleme immer mehrere Lösungen zulassen (!), ist es zusätzlich (neben den oben vorgestellten Möglichkeiten) noch denkbar, dass Newton an seiner Theo­rie deswegen so viel Gefallen gefunden hat, weil sie ihm immer neue Schwierigkeiten bot (die er meistern konnte). Damit ist Newton gerechtfertigt. Die ganze vorhergehende ethische Untersuchung ist also als Ehrenerklärung zu verstehen. Ein vergleichbarer Fall: Sein Egmont hatte nicht so gewirkt, wie man es gern gesehen hätte – er ist ja auch, was nicht eigentlich schlecht ist, wenig ›dramatisch‹. Nun aber ausgerechnet Schiller als Bearbeiter an dieses Stück heranzulassen, war eine nicht gerade strategische Idee Goethes, für den Schillers Räuber immer ein Exem­pel dafür geblieben sind, wie man es nicht machen soll. Schiller tat, wie zu erwarten, sein Bestes, das Stück zu entgoetheanisieren (sit venia verbo), und Goethe hat bei späteren Aufführungen dafür gesorgt, dass die Änderungen allmählich zurückgenommen wurden. Im Jahre 1825 bemerkt er dazu: 17

Ebd., S. 101. Goethe und Schopenhauer zu Moral und Ethik  |  415

Schillers Talent war recht fürs Theater geschaffen. Mit jedem Stück schritt er vor und ward er vollendeter; doch war es wunderlich, daß ihm noch von den ›Räubern‹ her ein gewisser Sinn für das Grausame anklebte, der selbst in seiner schönsten Zeit ihn nie ganz verlassen wollte. So erinnere ich mich noch recht wohl, daß er im ›Egmont‹ in der Gefängnisszene, wo diesem das Urteil vorgelesen wird, den Alba in einer Maske und in einen Mantel gehüllt im Hintergrunde erscheinen ließ, um sich an dem Effekt zu weiden, den das Todesurteil auf Egmont haben würde. Hiedurch sollte sich der Alba als unersättlich in Rache und Schadenfreude darstellen. Ich protestierte jedoch, und die Figur blieb weg. Er war ein wunderlicher großer Mensch.18

Hier zeigt sich in wenigen Sätzen, wie Goethe Menschen in seinen Dramen nicht dargestellt haben will – und dass er gleichwohl jemanden, der es tat (oder: der etwas ihm derartig Fremdes einem seiner Dramen antun wollte) ganz selbstverständlich für ›groß‹ erklären konnte, für welches Urteil die Wunderlichkeit dieser Größe kein Hindernis war. Will also Goethe Welt, Vielfalt, und will er möglichst viel gelten lassen, wenn er ans Urteilen geht, so ist Schopenhauer andererseits, wenn ich diese Sparte in die philosophische Fakultät einführen darf, ein Egologe, also ein Ich-Kundler – sein Blickfeld ist bewusst so eingeengt, wie dasjenige Goethes weit sein will. Seit der Antike19 und vor allem seit dem Mittelalter20 gibt es die Idee, dass der Mensch ein ›Mikrokosmos‹ ist, dass man also in sich die Welt erfasst. Schopenhauers Metaphysik, zu der ja seine Ethik gehört, ist dem Blick in Schopenhauers eigenes Innere verdankt21 – einem Blick, der, wie Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, 18. 1. 1825. Etwas später (1827/28) konnte er sich K. von Holtei gegenüber sogar respektvoll über Schillers Bearbeitung äußern: »Was wißt ihr, Kinder! das hat unser großer Freund besser verstanden, als wir!« (GG 3.2, S. 298.) 19 Heraklit 22 B 101. Oben ist die Interpretation der kurzen Aussage (»Ich durchforschte mich selbst«) in der Philosophiegeschichte des Diogenes Laertios (3. Jh. n. Chr.), Buch 9, § 5, vorausgesetzt. 20 Vgl. Ruth Finckh: Minor Mundus Homo. 21 Die entsprechende theo­ retische, nicht gerade schopenhauerferne, Grundlage formuliert Goethe so: »Alle Philosophie über die Natur bleibt doch nur Anthropomorphismus, das heißt der Mensch, eins mit sich selbst, teilt allem, was er nicht ist, diese Einheit mit, zieht es in die seinige herein, macht es mit sich selbst eins. Um die Natur zu erkennen, müßte er sie selbst sein.« 18 Johann

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es nicht anders möglich ist, durch die Kultur, in die man ihn hineinerzogen hat, geformt ist (was ihm vielleicht aufgefallen ist, denn er freut sich später auffällig, im Orient Ideen zu finden, die seine christliche Umgebung in ihm angeregt hat, was ihm die Überzeugung verschaffen konnte, den nervus rerum ohne den Souffleur ›Christentum‹ bzw. an ihm vorbei getroffen zu haben). Wer in sich selbst die Welt erkennt, muss, wenn er weiß, dass er nicht alles dort Gefundene diskursiv mitteilen kann, darauf setzen, dass andere Mikrokosmen nach Anregung durch ihn in demjenigen Kosmos, der sie selbst sind, dasselbe oder Ähnliches finden werden. Wer dies nicht kann, ist von der Wahrheit ausgeschlossen. In den andersgearteten »Aphorismen zur Lebensweisheit« gibt Schopenhauer Regeln, deren Einhaltung ein zufriedenes Leben geradezu garantieren  – wenn man denkt, fühlt, wenn man ist wie Schopenhauer. Er hat in sich hineingeblickt und mit Scharfblick und Ehrlichkeit mitgeteilt, was ihm persönlich ein angenehmes Leben bescheren könnte.

2.2  Verbindendes

Ein so gut wie übersehener, aber höchst wichtiger, die potentielle (vom Philosophen auch nicht ansatzweise ausgefüllte) Breite der Schopenhauer’schen Moral andeutender Satz zeigt allerdings, dass Schopenhauer Goethes ›Quellen‹, von sich aus, kennt – und akzeptiert. »Die Ethik«, sagt er, »ist in Wahrheit die leichteste aller Wissenschaften; wie es auch nicht anders zu erwarten steht, da Jeder die Obliegenheit hat, sie selbst zu konstruiren, selbst aus dem obersten Grundsatz, der in seinem Herzen wurzelt, die Regel für jeden vorkommenden Fall abzuleiten«.22 (Der »oberste Grundsatz« steht, Bald fährt er fort: »Wir mögen an der Natur beobachten, messen, rechnen, wägen etc., wie wir wollen, es ist doch nur unser Maß und Gewicht, wie der Mensch das Maß der Dinge ist […]. Dies zur Verständigung und Vereinigung (!) mit denen, welche noch (!) von Dingen an sich sprechen […]. Wir sollten nicht von Dingen an sich reden, sondern vom Einen an sich […]. Es ist alles nur Eins; aber von diesem Einen an sich zu reden, wer vermag es?« (Riemer, Anfang August 1807, GG 2, S. 246 f.) 22 E, S. 230. Der Satz steht nicht allein, vgl. P I, S. 500: »Wir handeln […] nicht sowohl nach deutlicher Erkenntniß des Rechten, als nach einem innern Impuls, man möchte sagen Instinkt, der aus dem tiefsten Grunde unsers WeGoethe und Schopenhauer zu Moral und Ethik  |  417

wenn der gerade zitierte Satz niedergeschrieben wird, schon fest; er lautet »Neminem laede, immo omnes, quantum potes, iuva«;23 sein Inhalt beschäftigt uns hier noch nicht.) Hier ist also eine geduldige Beobachtung vieler verschiedener großer oder guter Menschen und eine akribische Diagnose eines einzelnen Menschen, wie wir sie von Goethe kennen, möglich und sinnvoll, und diese wird allerdings, in Schopenhauers Augen, zu dem (den Philosophen und den Dichter wieder trennenden) Ergebnis führen, das er auf direktem Wege, durch Introspektion, gefunden hat, dass nämlich alles hochwertige Verhalten auf jenem Leitsatz beruht. Wenn also das Menschenbild der Schopenhauer’schen Metaphysik und der dazugehörenden Ethik einseitig scheint, so liegt dies an dessen methodischem Ansatz, der alles, was thematisch über den Leitsatz, das ›Prinzip‹, hinausführt, gewissermaßen in die – nicht ausgeführten – Anmerkungen verweist. Mit diesem Verfahren soll aber das Menschenbild des Lesers nicht im Einzelnen präjudiziert sein: Auch was das Handeln nach Schopenhauers ›Prinzip‹ betrifft, gilt ja die Regel ›Eines schickt sich nicht für alle‹ – jeder ›Gute‹, z. B., meidet Verletzungen anderer auf seine Art, jeder hilft anderen, so gut er kann – eben auf seine Art. Anders gesagt: Was in Schopenhauers Werk ›Ethik‹ heißt, betrifft ja einmal das genannte Prinzip moralischen Handelns im Allgemeinen und sodann, davon war noch nicht die Rede, ein die Moral transzendierendes (auf ›Gnade‹ beruhendes) Ereignis. Es ist jedem unbenommen, nun eine bunte, auf dem genannten Prinzip beruhende, Schopenhauersche, Ethik in der Art der verständnisvollen Beobachtung von einzelnen Personen und Fällen zu verfassen, wie wir sie bei Goethe (z. B. zu Newton und Schiller) finden. Schopenhauer selbst hat das nicht für seine Aufgabe gehalten.24

sen kommt«, und wenn wir dann unser Tun nach erlernten Regeln tadeln, »werden wir leicht ungerecht gegen uns selbst«, weil wir das ›Eines schickt sich nicht für alle‹ nicht bedenken. Der Goethevers findet sich auch in P II, S. 360. 23 »Kränke (oder: verletze) niemanden, vielmehr hilf allen, so sehr du kannst.« 24 Ansätze zur Individualisierung des Vorgangs der Willensverneinung finden sich z. B. in W II, S. 452 u. ö. (Religionen); vgl. auch W I, S. 298 f. u. ö. (Tragödie), der Mitleidsäußerungen E, S. 213, 233 f. 418  |  Heinz Gerd Ingenkamp 

3. Die Inhalte der Schopenhauer’schen Ethik und ­vergleichbare Äußerungen Goethes 3.1  Trennendes

Goethe war die Engführung von (tiefsinnigen) Gedanken, wie sie bei Philosophen bestimmter Epochen (Neuplatoniker, Romantiker) beliebt ist, wahrscheinlich nicht nur unsympathisch, sondern sogar zuwider.25 Sein Ausruf »Ist denn die Welt nicht schon voller Rätsel genug, daß man die einfachsten Erscheinungen auch noch zu Rätseln machen soll?«26 lässt sich, nicht nur in Sachen Farbenlehre, unmittelbar auf Schopenhauer beziehen – man denke an die Mystifikation einer Regung (des Willens), die für jedermann so alltäglich ist wie die Sinneswahrnehmung. Goethe wollte beobachten und das Beobachtete nach Möglichkeit gelten lassen, wie sich ja aus seinem Newton-Aufsatz ergibt. Da will jemand seine Ideen mathematisch aufbessern, sucht sich die Experimente, die ihm und seiner Mathematik passen, aus – und präsentiert seine These als unangreifbar.27 Und dies anstatt zu sehen. In eben diesem Sinne könnte Goethe auch gegen Schopenhauer Front machen. Niemand überblickt das Feld der ganzen Moral, das sich ja durch eine einzige unvorhergesehene Handlungsweise erweitern kann. Der Ethiker sollte Empiriker, im alltäglichen Sinne des Wortes, sein: Er muss sich aufs Zusehen einstellen; es reicht nicht, dies bei Wege einmal zu konzedieren. 25 Vielleicht

passt die folgende ungehaltene Äußerung Riemer gegenüber: »Wie der Polyp das Ködertier frißt und, weil er durchsichtig ist, man dieses sieht, so sind die neuern idealistischen Menschen auch so durchsichtig, daß man den Dreck in den Magen hinuntergehen und wieder abgehen [urspr.: hinten wieder herauskommen; H. G. I.] sieht, wie bei einer Ente.« (Riemer, 31. 8. 1806, GG 2, S. 130; GG 4, S. 197.) Goethe erwähnt in diesem Zusammenhang (die Durchsichtigkeit betreffend) die romantische Dichterin Caroline von Günderode, die sich kurz vorher das Leben genommen hatte. »Idealistisch« kann, hier passend, bedeuten: »ich frage nach den Gegenständen gar nicht, sondern fordere, daß sich alles nach meinen Vorstellungen bequemen soll« (Goethe an Schiller, Konzept, nicht abgeschickt, wahrscheinlich 27. oder 28. 4. 1798, WA IV/18, S. 79) – eben diese Einstellung könnte man, und gewiss Goethe, auch Schopenhauer unterstellen. 26 Goethe: Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik, WA I/42.2, S. 116. 27 Vgl. Goethe: Zur Farbenlehre. Historischer Theil II, WA II/4, S. 97 f. Goethe und Schopenhauer zu Moral und Ethik  |  419

Aber dass Schopenhauer Wertvolles mitgeteilt hat, dass Schopenhauer wie Newton ein starker, großer Charakter ist, würde Goethe zweifellos als erster anerkennen – und er würde ebenso sicher nicht von Schopenhauers Irrtum, höchstens von seiner Einseitigkeit sprechen. So heißt es generell über alle Menschen: »Der Mensch, indem er spricht, muß für den Augenblick einseitig werden, es gibt keine Mittheilung, keine Lehre ohne Sonderung«,28 und über Schopenhauer insbesondere könnte gesagt sein, daß in einzelnen menschlichen Naturen gewöhnlich ein Übergewicht irgend eines Vermögens, einer Fähigkeit sich hervorthut und daß daraus Einseitigkeiten der Vorstellungsart nothwendig entspringen, indem der Mensch die Welt nur durch sich kennt und also, naiv anmaßlich, die Welt durch ihn und um seinetwillen aufgebaut glaubt.29

Weniger entgegenkommend muss Schopenhauer auf Goethe reagieren. In seinen Augen reicht es nicht, bei Wege auf den Kern moralisch hochwertiger Handlungen und Seinsweisen zu sprechen zu kommen (dazu gleich Genaueres). Man muss vielmehr jede solcher Handlungen und Seinsweisen aus dem (einzigen) Fundament der Ethik30 ableiten. Was trennt, ist also auch dann, wenn wir uns den Inhalten der beiden Vorstellungen über ›gutes‹ Verhalten zuwenden, die allgemeine Einstellung, wie wir sie in Schopenhauers Werk einerseits und in Goethes Werken andererseits moralischen Phänomenen gegenüber finden.

Dichtung und Wahrheit, WA I/28, S. 109. Zur Naturwissenschaft. Ernst Stiedenroth Psychologie zur Erklärung der Seelenerscheinungen, WA II/11, S. 74 f. Hier zeigt sich zum einen Verständnis für das, was Schopenhauer sein will und schaffen wird, und, zum anderen, Kritik daran. 30 Das heißt: Aus der Durchschauung des principium individuationis, die sich im Mitleid äußert (s. u., S. 422 f.). 28 Goethe:

29 Goethe:

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3.2  Verbindendes

Schopenhauers Ethik ist der Schlussteil seiner Metaphysik. Die dortigen moralischen Wertungen beziehen sich auf die Wertung des zuvor als ›Ding an sich‹ erkannten ›Willens‹, allerdings nur auf den dem Willen abträglichen Teil dieser Wertung. Schopenhauer leugnet ja nicht, dass das Leben, in dem der Wille zur Erscheinung kommt, seine angenehmen Seiten haben kann – andernfalls wäre ja auch die Abfassung der »Aphorismen« nicht nur vom metaphysischen Standpunkt ein »Irrthum«,31 sondern diese könnten keinen Leser überzeugen. Die Ethik aber beruht auf dem Urteil, dass man, wenn man das Leben bejaht, eben dadurch das Leiden, die Bosheit, das Unrecht bejaht. Wenn der Philosoph eine solche Bejahung als »Erbsünde« bezeichnen kann,32 macht er die Nähe von Willens­ bejahung und (sogar) Schuld deutlich. Um nun, vor dem Vergleich mit Goethes – gelegentlichen – hierhin passenden Äußerungen,33 Schopenhauers metaphysische Ethik überblicksweise in Erinnerung zu rufen, fasse ich im Folgenden deren von mir als Kernaussagen betrachtete Thesen zusammen. Die Aufgabe der Ethik besteht für Schopenhauer nicht darin, einen Tugendkanon aufzustellen, wie dies etwa die großen Ethiker der Antike getan haben: sondern in einem ersten Schritt einen solchen, im Übrigen recht einseitigen, Kanon – wenn man überhaupt von ›Kanon‹ sprechen kann, und er nicht eher nur eine einzige Tugend kennt und benennt – der Erfahrung zu entnehmen, die Menschen also zu fragen, welchen Handlungen sie moralischen Wert zuerkennen. Solche moralisch werthaften Handlungen sind nach seiner Meinung (nur) »die Handlungen freiwilliger Gerechtigkeit, reiner Menschenliebe und wirklichen Edelmuths«, die (was er als gesichert voraussetzt) also, eben weil sie moralisch werthaft sind, von spezifisch anderer Natur seien als andere Handlungen. Nun erst 31

P I, S. 333 f. I, S. 338, 479; W II, S. 698. 33 Die Äußerungen passen hierhin – Goethe hält sich durchweg weit von der Metaphysik entfernt; es handelt sich also um Passagen, die (auch) den Hauptwerten der Schopenhauer’schen Ethik eine Stellung im kaum zu überblickenden Kanon der Werte zubilligen und dabei Jenseitiges – oberflächlich – in den Blick nehmen können. 32 W

Goethe und Schopenhauer zu Moral und Ethik  |  421

beginnt die wissenschaftliche Arbeit, die darin besteht, die »Trieb­ feder« dieser Tugend(en) »nachzuweisen«.34 Die gesuchte Triebfeder liegt in der Neigung, zum Prinzip seines Handelns das Wohl und Wehe eines anderen (Menschen oder Wesens) zu machen: Jedes andere Handeln sei egoistisch und insofern ohne moralischen Wert. Es ist deutlich, dass Schopenhauer sein Urteil über moralisch werthaftes Handeln nicht der Empirie, sondern einer zu seiner Zeit noch mächtigen Vorlage entnommen hat: Dem Neuen Testament (und seinen Nachfolgern in ethicis) – denn etwa Griechen und Römern wäre dergleichen nicht eingefallen,35 hätten aber in einer wahrhaft empirischen Untersuchung befragt werden müssen. Schopenhauer hätte, auf seine Metaphysik gestützt, das Recht, den Begriff ›Empirie‹, wie er soeben von mir vorausgesetzt war, zurückzuweisen und sich darauf zu berufen, dass das In-sichselbst-Hineinsehen, also Introspektion, einerseits ›empirisch‹ genannt werden muss und gleichzeitig (auf Grund seiner Metaphysik) zu sicheren Ergebnissen führt, was den Kritiker aber nicht davon abhalten wird, Schopenhauers Triebfeder moralischen Handelns auf ein wirkungsvolles Buch zurückzuführen – denn Introspektion ist kulturabhängig. Für Schopenhauer besteht die genannte Neigung also in meiner Erkenntnis bzw. meiner Vorstellung vom anderen, genauer von dessen Bedürfnissen. Ich versetze mich in ihn hinein und fühle mit ihm. In seiner (wieder christlich geprägten) Terminologie ist es das Mitleid (man beachte auch die Verengung auf das Leid des anderen), das mir diese Leistung ermöglicht.36 Postulativ ausgedrückt verlangt das Mitleid: »Neminem laede; imo [sic] omnes, quantum potes, iuva«;37 dies ist das Prinzip (der Leitsatz) der Ethik. Man beachte wieder die ausschließliche Berücksichtigung der Notsituation des anderen. Das Mitleid ist zwar ein alltägliches Phänomen, beruht aber nach Schopenhauer auf einem metaphysischen Vorgang, nämlich dem, modern ausgedrückt, Hinterfragen von Individualität: Bin ich wirklich ein Individuum, wie die Sprache mir nahelegt, oder bin ich eigentlich dasselbe wie der andere? Schopenhauers Metaphysik be34

E, S. 195. 35 Siehe oben, S. 409, und unten, S. 425. 36 Vgl. E, S. 207 f. 37 Ebd., S. 137. 422  |  Heinz Gerd Ingenkamp 

jaht die zweite Frage; Mitleid beruht also auf einem metaphysischen Erkenntnisakt, dem Durchschauen des (irreleitenden) principium individuationis. Dieser Akt ist das Fundament (die metaphysische Grundlage) der Ethik.38 Der Rang des Mitleids offenbart sich in besonderer Weise, wenn das Durchschauen des principium individuationis über die Erkenntnis des Leidens der Mitmenschen hinaus zur Erkenntnis der Leidhaftigkeit des Seins als solchen und den es Durchschauenden zur Verneinung seiner selbst – und da er nach Schopenhauers Metaphysik ›Wille‹, ja, der Wille überhaupt, nicht etwa ein individueller Wille ist, zur Willensverneinung und damit zur Weltverneinung – führt. Die Willensverneinung hat man als den Gipfelpunkt moralischer Leistung, somit das erhabenste Sujet der Ethik, anzusehen.39 Soweit unser Referat der ethischen Grundsätze Schopenhauers. Aus dem Mitleid, der »Basis der Moralität«,40 entspringen nun die beiden Kardinaltugenden Gerechtigkeit und Menschenliebe (cari­tas),41 aus ihnen dann alle anderen Tugenden.42 Das ist eine starke Behauptung, deren provokative Kraft, wie mir scheint, in der Schopenhauerforschung noch nicht ausreichend beachtet ist. Schopenhauer geht offenbar davon aus, dass man sie versteht; eine indirekte Begründung folgt erst in den Paralipomena, wo er sich klassische Tugenden wie Tapferkeit und Klugheit vornimmt und ihnen den Tugendcharakter abspricht. Man sieht leicht, dass dies, wie man salopp zu sagen pflegt, Definitionssache, oder, wie es wissenschaftlich heißt, eine petitio principii ist: Das Ja oder Nein zur Aussage hängt vom vorgefassten Tugendbegriff ab. So nimmt er der Tapferkeit den Tugendcharakter und nennt sie eine Charaktereigenschaft; die Weisheit oder Klugheit ist eine Sache des Intellekts.43 Ähnlich verfährt er mit anderen Werten, die als Tugenden verstan38 Vgl.

W I, S. 477. Vgl. ebd., S. 477 f. 40 Systematisch dargestellt in E, S. 205 ff. 41 W II, S. 691, nach ebd., S. 696, ist die Gerechtigkeit »die erste und wichtigste Kardinaltugend«; zu ihr Genaueres in E, S. 212 ff.; zur Menschenliebe in ebd., S. 226 ff. 42 E, S. 271. 43 Vgl. P II, S. 217. Tapferkeit ist danach »eigentlich […] eine Temperamentseigenschaft«, Klugheit (oder Weisheit, wie Schopenhauer hier sagt) »gehört zunächst dem Intellekt an« (ebd.). 39

Goethe und Schopenhauer zu Moral und Ethik  |  423

den werden können. Was wir in diesem Fall aber genau wissen, ist dies: Die Beschränkung auf die beiden von Schopenhauer genannten Muttertugenden erklärt sich, ähnlich wie die Auffassung des Mitleids als Basis der Ethik, aus einem Intertext, denn diesen gibt Schopenhauer selbst an: Gerechtigkeit ist der ganze ethische Inhalt des Alten Testaments, und Menschenliebe der des Neuen: diese ist die kainé entolé (Joh. 13.24) = das neue Gebot (griechisch femininum), in welcher, nach Paulus (Röm. 13.8–10), alle Christlichen Tugenden enthalten sind.44

Die Offenheit des Philosophen, mit der er die Bibel als Zeugin für seine These benennt, freut den Kritiker, der in dieser Aussage das Bekenntnis zur Bibel als übergeordneter Ethikerin sehen wird. In der Ästhetik war es noch Platon, dem er folgte: der aber nun in ethicis, an der genannten Paralipomena-Stelle, ein Abfuhr erfährt. Der Leitsatz des Sittlichen ist für Schopenhauer, wie gesagt, in dem Satz ausgedrückt: »Neminem laede; imo omnes quantum potes, iuva.« Zu diesem Grundsatz, sagt Schopenhauer gleich bei seiner Vorstellung,45 dass sich über seinen »Inhalt alle Ethiker eigentlich einig sind« – was angesichts seiner Schlichtheit kaum überraschen dürfte; man muss allerdings unter »alle Ethiker« dann ausschließlich diejenigen verstehen, die diesen Satz überhaupt zur Kenntnis nehmen –,46 und dass sich, diesen »zu begründen, alle Sittenlehrer sich abmühen«, was sicher falsch ist, wie der Verfasser der ParalipomenaStelle wissen muss. Er weiß jedenfalls, dass auch sein Prinzip (wie sein Tugendkatalog) inhaltlich nicht originell ist und stellt diesen Umstand wieder implizit als Empfehlung heraus. Schopenhauers Sicherheit, das Prinzip der Ethik benannt zu haben, dürfte, neben dem selbstverständlichen Stichwortgeber, dem Neuen Testament, zusätzlich auf einer keineswegs alten Quelle beruhen. Kant beginnt seine Grundlegung der Metaphysik der Sitten mit der Überreichung der Palme an den guten Willen: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken 44

E, S. 230. Ebd., S. 137. 46 Ich fürchte allerdings, dass Schopenhauer meint, alle Ethiker müssten ihm zustimmen. In diesem Fall gilt auch für diesen Satz, was für den sofort folgenden gesagt werden wird. 45

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möglich, was ohne Einschränkung für gut könne gehalten werden, als allein ein guter Wille« (in diesem Fall hat ›gut‹ eine vom Ideal der ›Mitmenschlichkeit‹ nicht zu trennende Bedeutung). Dieser gute Wille ist bald darauf »zwar nicht das einzige und ganze, aber er muß doch das höchste Gut, und zu allem übrigen, selbst allem Verlangen nach Glückseligkeit, die Bedingung sein«.47 Keinem Griechen oder Römer wäre das eingefallen, obwohl niemand etwas z. B. gegen die humanitas hatte, deren Name sich bis heute in der im wesentlich gleichen Bedeutung durchgehalten hat. Derjenige, dem die Aristotelische Ethik die Palme reicht, der Megalópsychos (wie oben gesagt: der Großgeartete), hält sich großer Ehren für würdig und ist es auch. »Damit ist die Megalopsychie definiert«,48 fährt Aristoteles dann unmittelbar fort. Der ›gute Wille‹ ist in dieser unaufgeregten Ethik vielleicht ein Accessoire, das sein Verfechter etwa in einer Nebentugend wie der ›Milde‹ oder, auf höherem Niveau, in der hier weiter unten kurz besprochenen ›Billigkeit‹ finden könnte, aber zweifellos kein Dreh- und Angelpunkt, also die Bedingung für das, was man ›gut‹ nennt. An eben der vom Christentum beeinflussten Änderung dieses Begriffs ›gut‹, erkennt man den Unterschied des Inhalts von antiker (die uns hier als Beispiel für alle abweichenden Ethiken dient) und christlich-abendländischer Ethik.49 Was Goethe anbelangt, können wir wieder von seinem ethischen Traktat über Newton ausgehen und werden dort auf den guten Willen treffen. Goethe trennt dort nämlich das Reich des ›Sittlichen‹ von dem der Natur: Letzterem weist er, wie gesehen, den Charakter zu, ersterem, Kant und dem 18. Jahrhundert folgend, »den guten Willen«, der also wohl auch nach Goethe das Wesen des Sittlichen Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 18/22; vgl. E, S. 118. 48 EN 1123b1–4. 49 Der Ehre ist der Megalópsychos würdig, müssen wir schließen, weil er ›gut‹ ist (und gut ist er, weil er zu Recht geehrt wird); im Griechischen bedeutet ›gut‹, auf Menschen angewandt, (gesellschaftlich) ansehnlich und nützlich. Was heute ›Tugend‹ heißt, ist für den Griechen eine Leistung, von der her ein Mensch ›gut‹ (im angegebenen Sinne) ist und von dem her er sein Werk ›gut‹ ›abliefern‹ wird: vgl. EN 1106a22–24. Im Deutschen würde also eher, wie schon gesagt, ›Tauglichkeit‹ entsprechen, wobei man noch (wegen des Aspekts der Ansehnlichkeit) an den verbalen Ausdruck ›er/sie taugt etwas‹ denken sollte. Damit ist also auch ›gut‹ definiert. 47

Goethe und Schopenhauer zu Moral und Ethik  |  425

ist. »Der Wille gehört der Freiheit«, geht es weiter, »er bezieht sich auf den innern Menschen, auf den Zweck«50 (der Charakter gehöre dagegen der äußeren Welt und der Tat). Was ›guter Wille‹ hier bedeutet, demonstriert Goethe mit eben dem Traktat, in dem sich der zitierte Satz befindet: Seine Moral ist die Moral der Offenheit für den anderen, des Verständnisses, somit der Gemeinschaftlichkeit. Und seine Ethik garantiert den Menschen Selbstbestimmung: Das Sittliche gehört in die Welt der Freiheit. Offenbar steht er hier unter dem Einfluss kantischen Denkens. Newton darf so sein wie er ist; er ist frei – anderes zu behaupten wäre böser Wille. Schopenhauer trifft den Kern, wenn er einmal sagt, alle Goethefiguren hätten auf ihre Weise Recht.51 Die dieser Gestaltung der Figuren zugrunde liegende Ethik kann Goethe so formulieren, wie er es im Newton-Aufsatz tut. Und Schopenhauer kann hier gemäß seiner Meinung, dass alle Sittenlehrer sich mit dem von ihm gültig formulierten Prinzip der Moral abmühten, in Goethe einen Vorläufer erkennen. Dem anderen seine Freiheit zu lassen, ihm offen und guten Willens gegenüberzutreten, folgt, wenn man es so deuten will, zumindest dem ersten der beiden Imperative des Prinzips, neminem laede. Goethe kommt nebenher auf den guten Willen. Er gebraucht das Prinzip moralischen Handelns also im Vorbeigehen. Aber wenn er es so erwähnt, scheint es als solches für ihn selbstverständlich zu sein. Insoweit reiht er sich in die Sittenlehrer ein, die sich mit Schopenhauer im Grunde einig sind – es fehlt, von diesem aus gesehen, nur die Begründung und die letzte Exaktheit. Hier rücken der auf den ersten Blick stark vom Christentum beeinflusst erscheinende Schopenhauer und der sich aufklärerisch ausdrückende Goethe zusammen. Mitleid ist eine zu Herzen gehende, ›ergreifende‹ Empfindung, Gemeinschaftlichkeit ist eine rationale, vielleicht ›kühle‹, Einstellung – hier sieht der Moderne möglicherweise eine fast feindliche Opposition. Nein: beide ethischen Hochwerte sind Kinder des zweiten Hauptgebots des Christentums und – als Hochwerte – z. B. den antiken Ethiken fremd. Zur Farbenlehre. Historischer Theil II, WA II/4, S. 100. I, S. 482; P II, S. 248. An beiden Stellen ist von Shakespeare dasselbe

50 Goethe: 51 P

gesagt.

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Es folgen nun zwei Passagen, die eine persönliche Affinität Goethes einmal zu Schopenhauers Willensverneinung, dann zu seinem Mitleid erkennen lassen, indem Goethes Plädoyer, das die Freiheit verteidigt, um für das Verständnis weltverleugnender Askese zu werben, und seine in einer biographischen Notiz wie selbstverständlich erfolgende Verbindung von Mitleid und Heiligkeit in die Nähe der beiden möglichen Folgen der Durchschauung des prin­ cipium individuationis geraten – was der der christlichen Kultur fremd oder gar verständnislos Gegenüberstehende auf die eine Quelle zurückführen müsste, die bei Schopenhauer deutlicher, bei Goethe versteckter zur Geltung kommt. Der Unterschied wäre dann einer des Stils oder gar nur des Tons. Hier zunächst, aus dem 16. Buch von Dichtung und Wahrheit,52 mit dessen Niederschrift Goethe wohl im Jahre 1813 begann, das er aber erst 1825 abschloss,53 das Resumée des Plädoyers zugunsten einer gerechten Würdigung der Askese. Goethe erzählt, wie er bei wiederholter Spinozalektüre »Friedensluft« verspürt habe, wie er aber auch die Welt noch nie so deutlich gesehen habe wie bei dieser Lektüre, indem er nämlich dabei »in sich selbst schaute«.54 Die Nähe zum Ausgangspunkt der Schopenhauer’schen Metaphysik – wonach das An-sich der Welt, der (also unser) Wille, das uns schlechthin Bekannte ist55 – ist unübersehbar. Unmittelbar nach dem gerade von mir zusammengefassten, aber ohnehin kurzen Bericht, ohne vorbereitende Erläuterung also, stellt Goethe fest, dass nahezu alles, womit wir als denkende Wesen zu tun haben, »uns zuruft, daß wir entsagen sollen«.56 Damit hat er, gewissermaßen im Sprung, gleich den Gipfel der metaphysischen Ethik Schopenhauers erklommen. Es ist also offenkundig, dass Goethe in dem bisher referierten Teil seiner Ausführung den Rahmen der Schopenhauer’schen Philosophie in nuce vorwegnimmt – aller­dings ohne zu philosophieren, d. h. ohne auch nur den Ansatz einer Begründung oder einer Entwicklung des Gedankens vom einen Schritt zum anderen zu liefern. Was er hier Dichtung und Wahrheit, WA I/29, S. 9–14. ebd., S. 195. 54 Ebd., S. 9. 55 Vgl. G, S. 144; W I, S. 133 u. ö. 56 Goethe: Dichtung und Wahrheit, WA I/29, S. 9. 52 Goethe: 53 Vgl.

Goethe und Schopenhauer zu Moral und Ethik  |  427

leistet, darf man, von Schopenhauer her gesehen, ›Divination‹ nennen – er errät den Gedanken eines Späteren, oder, dem Begriff der Divination mehr entsprechend: Dieser Gedanke ist ihm eingegeben. Zunächst ist es allerdings nur eine alltägliche Form der Ent­ sagung, die dem Autor vorschwebt, und der von Schopenhauer her Lesende könnte enttäuscht sein, wenn er u. a. hört, dass sogar ausgerechnet Leichtsinn die Entsagung erträglich machen kann, denn der Entsagende wird ja durch je Neues gewissermaßen entschädigt. Aber man wird bald zu Schopenhauer zurückgeführt. ›Alles ist eitel‹ sagt nämlich zwar auch der von seinem Leichtsinn Getröstete – aber dies sagt auch der ernsthaft Nachdenkende, der, wenn er nun entsprechend lebt, verhaltensauffällig und entsprechend, mit unterschiedlicher Begründung, abgelehnt und ausgeschlossen wird. Zu den Menschen dieser Art gehört Spinoza, den voll und ganz zu verstehen Goethe nicht beanspruchen möchte; er möchte aber mitteilen, inwiefern Spinoza auf ihn und seine Lebensgestaltung hat wirken können. Dies konnte gelingen, indem Goethe sich, seinen eigenen Studien folgend, klar machte, dass Menschen dieser Art eben auch ›Natur‹ sind. Er streift kurz die Zoologie und kommt dann zur ihn besonders interessierenden Botanik, die ihn mit Exempeln für außerordentliches Verhalten (ich lasse die Anführungszeichen hier mit Absicht weg, weil Goethe die Distanz zwischen Pflanze und Mensch gerade verkleinern will) ausstattet. Ein wahrhaft (vorwegnehmend dürfte man also sagen: Schopenhauerisch) Entsagender wirkt auf die meisten Menschen, die eine solche Verhaltensweise für unnatürlich halten – man handelt und lebt dann ja gegen seinen Vorteil –, Entsetzen erregend. Implizit und dem Vorherigen zu entnehmen ist Goethes Urteil: Es handelt sich im Gegenteil um besonders hochstehende Menschen. Goethe berührt also Schopenhauers Entsagungsidee, erfasst sie vielleicht sogar ›divinatorisch‹. Die beschriebene, Spinoza zugesprochene, Askese ist jedenfalls dem Kenner zwar bekannt und wohl auch, in Goethes Sinne, ›natürlich‹, dem Nichtkenner dagegen ein ›ganz anderes‹ – es fehlt die rechte Definition, die Schopenhauer dann vorschlagen will: Wirkung der Willensverneinung.57 57 Die

Würdigung von Mitleid und dergleichen im 18. und 19. Jahrhundert mag man als damals konventionelles Thema abtun können, die Nähe zu Schopenhauers Willensverneinung sicher nicht. 428  |  Heinz Gerd Ingenkamp 

Ich schließe einen zweiten, kurzen, Text an, der Goethes Respekt auch vor dem (auffallenden) Mitleid ausgerechnet eines Heiligen erkennen lässt. Schopenhauer erwähnt einmal – man meint fast, ein Lächeln zu bemerken –, dass Goethe das Leben des heiligen Philipp Neri gleich zweimal erzählt hat.58 In der ersten, skizzenhaften, dieser Erzählungen lesen wir: Zu so vielen geheimnißvollen seltsamen Innerlichkeiten gesellte er den klarsten Menschenverstand, die reinste Würdigung oder vielmehr Abwürdigung der irdischen Dinge, den thätigsten Beistand, in leiblicher und geistlicher Noth, seinem Mitmenschen gewidmet.59

Hier treten also tugendhaftes Verhalten überhaupt und die »Abwürdigung der irdischen Dinge«, in der man wohl erkennen darf, was Schopenhauer ›Willensverneinung‹ oder den Weg dorthin nennen wird, in einer Person zusammen auf. Da es sich um einen Heiligen handelt, ist, jedenfalls was die zitierte Stelle anbetrifft, die Schopenhauernähe nicht zu übersehen.60 Die Ursache ist, mit fremden – z. B. antiken – Augen gesehen, Geistesverwandtschaft, sodann aber auch moralisches Urteilen: Wie dem zuvor skizzierten Text aus Dichtung und Wahrheit zu entnehmen ist, zeigt Goethe sich wieder einmal bereit, ungewöhnliches Verhalten, dem Größe zuzuerkennen ist, objektiv – und offensichtlich von ganzem Herzen – zu bewundern. Nun zu den weiteren Themen der Schopenhauer’schen Ethik. Schopenhauer führt, den weltlich denkenden Leser wohl überraschend, Gerechtigkeit auf Mitleid zurück. Wie sich ›Gerechtigkeit‹ 58 Vgl.

W I, S. 455. Italiänische Reise II. Neapel, WA I/31, S. 245. Die zweite Erzählung ist sehr ausführlich: Goethe: Italiänische Reise III. Philipp Neri, der humoristische Heilige, WA I/32, S. 186–207. Die in der oben zitierten Skizze erwähnten Züge des Heiligen sind hier ausführlicher vor Augen geführt. 60 Wenn Schopenhauers Prinzip hier als von einem Heiligen ›gelebt‹ erscheint, so ist dies keine eben diesen Heiligen besonders charakterisierende Ausnahme. Dies ›Prinzip‹ wird wie selbstverständlich auch im alle Menschen betreffenden Gedicht mit dem bezeichnenden Titel »Das Göttliche« einer ›höheren‹ Welt zugeordnet: »Edel sei der Mensch, / Hülfreich und gut! / Denn das allein / Unterscheidet ihn / Von allen Wesen, / Die wir kennen. / […] Und wir verehren / Die Unsterblichen, / Als wären sie Menschen, / Thäten im Großen, / Was der Beste im Kleinen / Thut oder möchte« (Goethe: Das Göttliche, WA I/2, S. 83, 85). 59 Goethe:

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und ›Güte des Herzens‹, die Schopenhauer wohl als dem Mitleid verwandt empfinden würde, zueinander verhalten, kann man bei Goethe nachlesen: »Die Güte des Herzens nimmt einen weiteren Raum ein als der Gerechtigkeit geräumiges Feld.«61 Das ist nahe bei Schopenhauer; was trennt, ist zum einen das Fehlen jeder metaphysischen ›Tiefe‹: Goethes Satz bleibt innerweltlich; zum anderen ist die Güte des Herzens bei Goethe lediglich weiter als die auch schon weite Gerechtigkeit, nicht ihre Quelle. Der Gerechtigkeit widmet Aristoteles ein ganzes Buch seiner Niko­machischen Ethik. Im Rahmen eines Vergleichs zwischen Goethe und Schopenhauer interessiert das dort über die ›Billigkeit‹ (epieíkeia) Gesagte, weil diese ein genaues Pendant zu Goethes »Güte des Herzens« sein dürfte,62 und der Vergleich mit dem anders orientierten Aristoteles wiederum die Nähe zwischen Goethe und Schopenhauer deutlich machen wird. Wie später Goethe stellt Aristoteles die Billigkeit höher als die Gerechtigkeit, sofern er die Gerechtigkeit an das stets unvollständige ›Recht‹, also an die Gesetze bindet, und in der Billigkeit die diese Gerechtigkeit korrigierende bzw. ergänzende, bei privaten Auseinandersetzungen zu großzügiger Nachgiebigkeit tendierende, aber ›gerecht‹ bleibende, Leistung sieht.63 Mit ›Güte‹ hat diese Leistung wenig zu tun, mit vernünftigem, mit einem auf dem Boden der herrschenden Sitten erfolgenden und diese schöpferisch und dabei nicht kleinlich deutenden Abwägen umso mehr. Es ist vor allem das Attribut »des Herzens«, das Goethe von Aristoteles ab- und zu Schopenhauer hinrückt. Denn Schopenhauer hat leichtes Spiel, in dieser »Güte des Herzens«, wenn sie echt ist, das Durchschauen des principium individuationis oder einen Schritt dorthin zu sehen.64 Aristoteles seinerseits müsste eine gefühlvolle (wie bei Goethe) oder metaphysische Deutung (wie bei Schopenhauer) seiner Sätze im Rahmen seiner objektiven, beobachtenden Ethik ablehnen. Scho61 Goethe:

Maximen und Reflexionen. Vorarbeiten und Bruchstücke, WA I/42.2, S. 521. 62 In Übersetzungen findet man hier tatsächlich ab und zu, von unserer Kultur beeinflusst, auch »Güte« (so »Güte in der Gerechtigkeit«, EN, S. 118 f.), was aber einen falschen Ton in den Text bringt. 63 EN 1137b11 f./24 ff., sowie, die Nachgiebigkeit betreffend, 1137b34– 1138a3. 64 Vgl. W II, S. 262: »die Güte des Herzens ist eine transcendente Eigenschaft […]. Was ist dagegen Witz und Genie?«. 430  |  Heinz Gerd Ingenkamp 

penhauer könnte Goethes Diktum als auf dem Weg zu seiner Ethik befindlich betrachten; ob Goethe sich einer solchen Interpretation, wenn man sie ihm denn vortrüge, energisch widersetzen würde, bleibt offen; angesichts seiner Verständnisbereitschaft in ethischen Fragen bleibt es aber zweifelhaft. Vielleicht käme es auf seiner Seite angesichts derartiger (Schopenhauerscher) Prinzipienfreudigkeit zu einer mit Kopfschütteln verbundenen Annäherung, die, an sich, auf dem Hintergrund des Vergleichs beider moderner Positionen mit ganz anders geartetem Denken, nahezu zwingend wirkt.65 Ferner: Das merkwürdige Wort ›Menschenliebe‹ erklärt Schopenhauer selbst mit dem (kirchen-)lateinischen »caritas«,66 das im klassisch-heidnischen Latein soviel bedeutet wie Liebe im Sinne von Anhänglichkeit; im Deutschen spricht man von ›teuer sein‹: Eben das genau drückt, erstaunlicherweise in beiden Bedeutungen, caritas aus (das also sogar auch ›Teuerung‹ heißen kann). Im christlichen Sprachgebrauch wird es zum Wort für die beiden christlichen Haupttugenden, die (›reine‹) Liebe zu Gott67 und den Menschen. Gott wird von Schopenhauer ausgeklammert; die allzu deutlich die Quelle angebende »Nächstenliebe« wird in das aufklärerischer klingende »Menschenliebe« umbenannt. Diese Menschenliebe wird nun von Schopenhauer auf die vom Mitleid ausgehende Liebe verengt: »[E]s muß zuvor hier ein paradoxer Satz ausgesprochen und erläutert werden, […] weil er […] zur Vollständigkeit meines darzulegenden Gedankens gehört. Es ist dieser: ›Alle Liebe (agape, cari­tas) ist Mitleid.‹«68 Woraus, so Schopenhauer, folgt, dass die ›Maxime‹ 65 Ich

denke, auch fromme Christen würden sich, wenn ihnen von Menschen Gerechtigkeit widerfährt, nicht gern zu Bewusstsein bringen lassen, dass diese letztlich auf Mitleid beruht, sondern eine solche Gerechtigkeit als herabsetzend empfinden. Das Prinzip der Gerechtigkeit ist das kulturabhängige, aber in jedem Fall rational zu interpretierende ›Jedem das Seine‹ (vorausgesetzt ist, dass die entsprechenden Regeln jedem bekannt sein können), dem die Aristotelische (und keine andere) Billigkeit aufhilft, wenn das Gesetz eine Lücke lässt bzw. wenn man selbst als Betroffener nicht auf ›dem Buchstaben‹ beharrt. 66 S. Anm. 41. 67 Die Gottesliebe befiehlt das erste Gebot des Dekalogs; vgl. auch Matth. 22.36–38: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen […]. Dies ist das erste und größte Gebot.« 68 W I, S. 443. Das griechische ›agápē‹ bedeutet ›Liebe‹ (ohne erotische Konnotation); in der Bibel wird es von der Liebe Gottes zu den Menschen und Goethe und Schopenhauer zu Moral und Ethik  |  431

(auch) der Menschenliebe der bereits als Prinzip der Ethik bekannte Satz »omnes, quantum potes, iuva«69 ist. Man mag von hier aus fragen, warum Schopenhauer die beiden Kardinaltugenden, Menschenliebe und Gerechtigkeit, überhaupt aufführt, da ja das Fundament der Ethik eines ist und ohnehin alle Tugenden aus diesem einen Fundament abgeleitet werden müssen. Der einzige einsehbare und logisch vertretbare Grund70 ist die Absicht, seine Ethik mit seiner Bibeldeutung zu verknüpfen71 und auf diese Weise zu zeigen, dass er eben damit ›die Ethik schlechthin‹ auf den Begriff gebracht hat. Was Goethe angeht, so zeigt sich, wenn irgendwo, in diesem Punkte seine von Schulethiken unabhängige Weitsicht, die aber auch sonderbare schulethische Positionen mühelos in sich aufnehmen könnte: das Gespräch lenkte sich […] auf die Frage, wie das Sittliche in die Welt gekommen. Durch Gott selber, erwiderte Goethe, wie alles andere Gute. Es ist kein Produkt menschlicher Reflexion, sondern es ist angeschaffene und angeborene schöne Natur.72 […] ganz vorzüglich begabte[…] Gemüter[…] […] haben durch große Taten oder Lehren ihr göttliches Innere offenbart, welches sodann durch die Schönheit seiner Erscheinung die Liebe der Menschen ergriff und zur Ver­ehrung und Nacheiferung gewaltig fortzog.73

Goethe hätte wohl, eine deutliche Distanz einhaltend, Schopenhauer zustimmen können (denn ein Leben, dessen gesamte Tugendhaftigkeit von Gerechtigkeit und Menschenliebe geprägt ist, hätte seiner Meinung sicher die Liebe der Menschen ergriffen; aber dass in diesem Leben das ganze Feld der Fundamente und der Einzelleistungen eines ethisch hochwertigen Wandels zur Geltung gevon der Liebe der Menschen zu Gott gebraucht; bei Paulus ist es »Wohltätigkeit« (1. Kor. 13.1 u. ö.) und ist somit eng verwandt mit der ›Menschenliebe‹. 69 Vgl. dazu überhaupt E, S. 226–230. 70 »Dieses Mitleid ganz allein ist die Basis (aller freien Gerechtigkeit und) aller ächten Menschenliebe«, heißt es ja in E, S. 208, woraus sich die erregende Erkenntnis ergibt, dass Mitleid die Basis des Mitleids ist. 71 S. dazu Anm. 44. 72 Nicht untypisch für Goethe wird der vorhergehende fromme Ausdruck also sofort als Metapher gedeutet. 73 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, 1. 4. 1827. 432  |  Heinz Gerd Ingenkamp 

kommen sei, hätte er vehement bestritten),74 und Schopenhauers Kernthesen hätten, in entsystematisierter Form, zum Teil im Universum seines Denkens Platz finden können, das wir so allerdings, wie eingangs gesagt, an einer eher peripheren Stelle berührt haben.

4. Anhang: Goethes Entsagungsethik Hier sei kurz angeschlossen, was, in unserem Zusammenhang, über Goethes spätere ›Entsagungsethik‹ zu sagen ist. Gleich in seinem ersten Brief an Natalie spricht Wilhelm Meister von seiner Hoffnung auf das Glück, »wieder zu deinen Füßen zu liegen und auf deinen Händen mich über all das Entbehren auszuweinen«.75 Das ist alles andere als ein Bericht über gelungene Willensverneinung. Die Entsagung ist präteritorisch, es steht, wie zu Anfang der zitierten Passage aus Dichtung und Wahrheit, ein durchaus innerweltliches Glück, wenigstens eine innerweltliche Zufriedenheit, bevor.76 Dort aber war später die Rede von einer anderen Entsagung, die darauf beruht, dass man sich »von dem Ewigen, Notwendigen, Gesetzlichen« überzeugt hat;77 angesichts dieser Formulierung darf, auf das Folgende bezogen, vielleicht (auch) Schopenhauer vorschweben. Der Himmelsstürmer Faust78 baut am Ende Dämme. Und seine 74 Alles,

was man hier anführen könnte, fasst der Schluss des eben genannten Gesprächs mit Eckermann zusammen: »das Studium der Schriften des Altertums« sei »für die Bildung eines Charakters« nicht »ohne Wirkung. […] Ein Lump bleibt freilich ein Lump, und eine kleinliche Natur wird durch einen selbst täglichen Verkehr mit der Großheit antiker Gesinnung um keinen Zoll größer werden. Allein ein edler Mensch, in dessen Seele Gott die Fähigkeit künftiger Charaktergröße und Geisteshoheit gelegt, wird durch die Bekanntschaft und den vertraulichen Umgang mit den erhabenen Naturen griechischer und römischer Vorzeit sich auf das herrlichste entwickeln und mit jedem Tage zusehends zu ähnlicher Größe heranwachsen.« Man denke an Goethes Plutarchlektüre und seinen Umgang mit der Antike. 75 Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, WA I/24, S. 11. 76 Siehe oben. Man denke an den das Entsagen leicht machenden ›Leichtsinn‹. 77 Goethe: Dichtung und Wahrheit, WA I/29, S. 10. 78 Dazu Goethe in den »Paralipomena«: »Fausts Charakter […] stellt einen Mann dar, welcher, in den allgemeinen Erdeschranken sich ungeduldig Goethe und Schopenhauer zu Moral und Ethik  |  433

letzten Worte, bevor er »zurücksinkt«, nennen sein ihm bewusstes Motiv: »Es kann die Spur von meinen Erdetagen / Nicht in ­Äonen untergehn. – / Im Vorgefühl von solchem hohen Glück / Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.«79 Ruhm und sein darauf beruhendes Glück sind die ihm vor Augen stehenden Ziele. Sein Ruhmesglück ergibt sich aber, weil er die Menschheit beglückt: »Eröffn’ ich Räume vielen Millionen«, indem er, als Kind Goethes, rational bleibt und den Millionen in Aussicht stellt, »Nicht sicher zwar, doch thätig-frei zu wohnen«.80 Und er sagt noch mehr über sein Ziel, indem er scheinbar nur von den anderen spricht, denen er ein nach dem folgenden Spruch zu gestaltendes Leben ermöglicht: »Nur der verdient sich Freiheit und das Leben, / Der täglich sie erobern muß.«81 Auf diese Weise hat er, an seine jetzige Tätigkeit gelangt, nach seiner Meinung auch sich sein Leben für Äonen verdient. Wilhelm Meister wird – ausgerechnet – Wundarzt, also ein recht schlichter Mediziner, eher ein Handwerker, der Gesundheit durch einfache Maßnahmen (wieder)herstellt. Aber auch bei ihm ist der Weg zum Wundarzt ein Weg zu sich selbst und auch eine Art Weg nach oben: Vom Träumer zum nützlichen, helfenden, rettenden Mitglied der menschlichen Gemeinschaft.82 Beide sind mit sich zufrieden. Sie haben ihr Ziel erreicht.83 Wir begegnen also zwar Personen, die in dem Sinne Gutes tun, dass sie Leiden verhüten, lindern oder weitgehend ausschließen. Mitleid, Gerechtigkeit, Menschenliebe spielen aber keine, oder nur eine untergeordnete, Rolle, sondern beide lenkt, wie ihr langer Weg ausführlich zeigt, das antike Gebot: »Werde, wie beschaffen du und unbehaglich fühlend, den Besitz des höchsten Wissens, den Genuß der schönsten Güter für unzulänglich achtet seine Sehnsucht auch nur im mindesten zu befriedigen, einen Geist welcher deshalb nach allen Seiten hin sich wendend immer unglücklicher zurückkehrt.« (WA I/15, S. 198.) 79 Goethe: Faust, V. 11583 ff. 80 Ebd., V. 11564. 81 Ebd., V. 11575 f. 82 Wie Wilhelm dazu kam, schreibt er, wieder »an Natalien«, im 11. Kapitel des 2. Buches (vgl. Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, WA I/25.1, S. 56–60). 83 Was Wilhelm erwartet, drückt er so aus: »werd’ ich als ein nützliches, als ein nöthiges Glied der Gesellschaft erscheinen« (ebd., S. 60). 434  |  Heinz Gerd Ingenkamp 

bist, nachdem du gelernt hast (wie beschaffen du bist)«.84 Es ist der Mensch als Kunstwerk, der vor Augen kommt. Was genau Goethe seine Lernenden ›werden‹ lässt, ist seine Sache; hier geht es nur um den Weg, den er sie gehen lässt (es ist eben der Weg der Selbstgestaltung durch das – mühsame – Lernen, wer man ist: welches Lernen als entsagendes Lernen gedeutet wird). Der Mitmensch ist für die Ethik des Faust-Schlusses und des Wilhelm Meister Mittel der Selbstformung; andere Mittel wären denkbar. Dass aber überhaupt ›der andere‹ und ausgerechnet dessen Rettung in diese Position hinein avanciert ist, kann, aber muss man nicht dem Einfluss des Christentums zuschreiben. Von den mit der Religion zusammenhängenden Intertexten kann Goethe sich nämlich auch trennen: »Ein jeder leidet, der nicht für sich selbst handelt. Man handelt für andere, um mit ihnen zu genießen.«85 So kann Faust mit den Geretteten, Wilhelm mit den erfolgreich Behandelten auch genießen wollen, nachdem beide ›Entsagenden‹ für sich selbst entsagt haben.86 Dergleichen erwartet man von Goethe: Wie Schopenhauer den einen Gedanken sucht, will Goethe das Enge weit machen, so weit, dass er den, der es gern – allerdings auf hohem Niveau – eng haben will, gelassen bittet, mit vielen anderen bei ihm Platz zu nehmen.87 84 Pindar: Pythische Ode 2, Vers 72 (›genoi’ hoios essi mathṓn‹, zu deutsch:

›werde der du bist, nachdem du gelernt hast [wer du bist]‹). Die gängige Wiedergabe ›Werde der du bist‹ spart den Lernprozess (mathṓn) aus und könnte bedeuten, dass man nur abzuwarten hat. Daniel Schubbe weist mich in diesem Zusammenhang dankenswerterweise auf Schopenhauers verwandte – nicht mit Pindars Postulat identische – Vorstellung vom erworbenen Charakter hin. Der erworbene Charakter (vgl. dazu z. B. W I, S. 359 ff.) ist nach Schopenhauer, anders als bei Pindar und Goethe, Beobachtungsgegenstand, der uns in den Stand setzt, keine Fehler zu machen, mit uns selbst zufrieden zu sein – nicht aber, uns zu gestalten. Das Postulat lautet dann: ›Lerne, wer du bist (und profitiere von deinem Wissen)‹, nicht ›Werde nach einem Lernprozeß, der du bist‹ (»Denn da der ganze Mensch nur die Erscheinung seines Willens ist; so kann nichts verkehrter seyn, als, von der Reflexion ausgehend, etwas Anderes seyn zu wollen, als man ist.« (W I, S. 361.)). 85 Goethe: Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik, WA I/42.2, S. 154. 86 Man könnte die Quintessenz also auch bündig so ausdrücken: Ent­ sagung dieser Art hat ihren Platz in den »Aphorismen«, nicht in der Ethik – ein Schluss, der nicht allein vom letztgenannten Zitat abhängt. 87 Eine bei Goethe auch sonst gelegentlich begegnende allgemeine, das pessimistische Menschenbild betreffende, Schopenhauernähe im in Anm. 85 Goethe und Schopenhauer zu Moral und Ethik  |  435

Bibliographie Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers. und kommentiert von Franz Dirlmeier. Darmstadt 1979. (= Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 6) [= EN] Finckh, Ruth: Minor Mundus Homo. Studien zur Mikrokosmoslehre in der mittelalterlichen Literatur. Göttingen 1999. Herwig, Wolfgang (Hg.): Goethes Gespräche, 5 in 6 Bden. München 1998. [= GG] Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: ders.: Schriften zur Metaphysik und Logik 2. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1968. (= Werke, Bd. 6) Schiller, Friedrich: Briefwechsel. Schillers Briefe. 17. 4. 1785 – 31. 12. 1787. Hg. von Karl J. Skrodzki in Verbindung mit Walter Müller-Seidel. Weimar 1989. (= Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 24)

genannten Band, S. 127: »Die empirisch-sittliche Welt besteht größtentheils nur aus bösem Willen und Neid«. Das muss allerdings nach demselben Goethe in Deutschland anders sein, denn »Der Deutsche, gut- und großmüthig von Natur (!), will niemand gemißhandelt wissen« – trotzdem: Beim Lustspiel »gerieth man auf einem natürlichen Wege zu einem bisher für unnatürlich gehaltenen Benehmen; dieses war: die höheren Stände herabzusetzen und sie mehr oder weniger anzutasten«, also, offenbar vergnüglich, dem Neid Raum zu geben (Goethe: Dichtung und Wahrheit, WA I/28, S. 195). Schroffe Urteile wie das soeben zitierte, sind bei Goethe nicht als reflektierte End-Urteile anzusehen, sondern als dem Blick eines Künstlers auf Aspekte geschuldet, die die Welt, objektiv betrachtet, auch bietet. Möglicherweise hat Schopenhauer bei der Konzipierung der Ideenschau, die dem wahren Künstler gelingt, in besonderer Weise Goethe und sein Werk vor Augen gehabt. Dafür könnte der treffende Satz »Unter den Dichtern unserer Zeit ist Goethe der objektiveste« (P II, S. 473) sprechen.

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Søren R. Fauth, Børge Kristiansen

Zum Verhältnis von Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie* Man hat mehrfach versucht, den vollständigen Gedichtzyklus »Urworte. Orphisch« im Sinne des Metamorphose-Gedankens und des dialektischen Polaritäts-Denkens Goethes zu verstehen. »Der Zy­ klus« – so Theo Buck – fügt sich organisch in die langjährigen Bemühungen Goethes um die Erkenntnis der Lebensgesetzlichkeit in Gestalt von ›Urpflanze‹ und ›Urphänomen‹ ein. So erklärt sich auch die auf den ersten Blick überraschende Erstveröffentlichung der Urworte. Orphisch in der vom Verfasser selbst herausgegebenen Zeitschrift Zur Morphologie (1820).1

Dass Theo Buck von dieser Auffassung her auch der Meinung ist, dem »zyklischen Gesamtbau« der »Urworte« liege »die dialektische Konzeption«2 der morphologischen Steigerung zugrunde, ist zwar folgerichtig, aber – wie wir erkennen werden – keine unbedingt überzeugende Interpretation der Struktur dieser Stanzen.

1. »So mußt du sein«. Die Prädestinationslehre der ersten Stanze Das erste Gedicht dieses Zyklus trägt den Titel »ΔAIMΩN, DÄMON«: dieser Arbeit wurden erstmalig von Børge Kristiansen im Goethe Yearbook 2008 unter dem Titel »Zum Verhältnis von Selbstsein und Miteinandersein in Goethes Urworte. Orphisch« veröffentlicht. Der ursprüngliche Beitrag wurde für den vorliegenden Band durch eine ausführliche Darstellung der Schopenhauer’schen Charakterlehre und Grundgedanken aus den Aphorismen zur Lebensweisheit ergänzt, an manchen Stellen neu formuliert und gekürzt. 1 Theo Buck: Urworte. Orphisch, S. 355. 2 Ebd., S. 361. * Teile

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Wie an dem Tag der Dich der Welt verliehen Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, Bist alsobald und fort und fort gediehen Nach dem Gesetz wonach Du angetreten. So mußt Du sein, Dir kannst Du nicht entfliehen, So sagten schon Sybillen, so Propheten, Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form die lebend sich entwickelt.3

Goethe war kein Anhänger der Astrologie, und die Einbeziehung der Planetenkonstellation ist auch nicht astrologisch zu verstehen.4 Sie dient vielmehr einer Profilierung der Grundvorstellung des Gedichtes, dass das Einzelindividuum mit einem inneren ›Gesetz‹ geboren wird, das für dessen Entwicklung von schicksalsträchtiger Bedeutung ist, indem es das Individuum dazu verdammt (»So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen«), sich unabdingbar nach der ihm bereits bei seinem Eintritt in die Welt determinierten Bahn zu entfalten. Die Freiheit des Individuums ist dieser Auffassung zufolge, wie in »Zum Schäkespears Tag«, lediglich eine »prätendierte Freiheit«,5 also eine bloß behauptete Freiheit, weil sie ausschließlich in dem Vollzug der inneren Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit besteht. Buck behauptet zwar, feststellen zu können, dass »Determinismus […] keinen Platz in Goethes Weltbild« hatte;6 aber dem widerspricht – um nur ein Beispiel anzuführen – ziemlich eindeutig die zweite Strophe der späten Hymne »Harzreise im Winter«, 1777 entstanden und 1789 in Goethes Schriften veröffentlicht. Diese Strophe lautet: Denn ein Gott hat Jedem seine Bahn Vorgezeichnet, 3 Goethe: Zu eigenen Werken und Projekten. Urworte Orphisch, MA 13.1,

S. 500. 4 Hier kann weder auf die Quellenverhältnisse noch auf die Beziehungen Goethes zur orphischen Tradition eingegangen werden. Stattdessen verweisen wir auf den Aufsatz »Urworte« von Walter Dietze. Dieser Aufsatz bietet auch eine gründliche Auseinandersetzung mit den entsprechenden Forschungsbeiträgen. 5 Goethe: Zum Schäkespears Tag, MA 1.2, S. 413. 6 Theo Buck: Urworte. Orphisch, S. 359. 438  |  Søren R. Fauth, Børge Kristiansen 

Die der Glückliche Rasch zum freudigen Ziele rennt: Wem aber Unglück Das Herz zusammenzog Er sträubt vergebens Sich gegen die Schranken Des ehrenen Fadens Den die doch bittre Schere Nur einmal löst.7

Hier ist Jochen Schmidt unbedingt zuzustimmen, wenn er diese Strophe als eine Antizipation der Daimon-Lehre der »Urworte. Orphisch« versteht, insofern »ein Gott« (nicht ›Gott‹) schon auf den Daimon der »Urworte« vorausweist, und in beiden, der frühen Hymne und dem erst weitaus später verfassten Gedichtzyklus (1817), die Prädestination des Menschen sieht, der man nicht entrinnen kann.8 Der Individualismus und Subjektivismus des jungen Goethe sind noch beim späten Goethe keineswegs überwunden, auch wenn sie Wandlungen unterworfen sind – eine Auffassung, die unter anderem durch die Bewunderung und Bejahung Napoleons bestätigt wird, aber auch in »Urworte. Orphisch« zum Ausdruck kommt. In seinen Erläuterungen der Stanzen, die 1820 erschienen sind, notiert Goethe zu dem »Daimon«-Gedicht: Der Dämon bedeutet hier die notwendige, bei der Geburt unmittelbar ausgesprochene, begrenzte Individualität der Person, das Charakteristische wodurch sich der Einzelne von jedem andern, bei noch so großer Ähnlichkeit unterscheidet. […] Hiervon sollte nun auch das künftige Schicksal des Menschen ausgehen, und man möchte, […] gar wohl gestehen daß angeborne Kraft und Eigenheit mehr als alles Übrige des Menschen Schicksal bestimme.9 7 Goethe:

Harzreise im Winter, MA 2.1, S. 37. Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens, S. 287 f. Schon Karl Viëtor spricht in seiner kurzen, aber präzisen Interpretation der »Urworte. Orphisch« in seinem Buch Goethes Anschauung vom Menschen, S. 46 f., von der Determination des Menschen bei Goethe. 9 Goethe: Zu eigenen Werken und Projekten. Urworte Orphisch, MA 13.1, S. 500 f. 8 Jochen

Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie  |  439

Der Begriff des ›Daimons‹ ist zu verstehen als das Selbst und der Charakter des Menschen. Dieser ›Daimon‹ ist die jedem Individuum von Geburt an innewohnende Substanz, in der sowohl das Ziel als auch die ›energeia‹, d. h. die nötige Kraft zur Realisierung dieser Vorherbestimmtheit enthalten sind. Im Vordergrund der »Daimon«-Stanze steht somit der Gedanke, dass wir durch unsere angeborene ›Entelechie‹ (Aristoteles, Leibniz) im Laufe unserer Entwicklung mit Notwendigkeit auf uns selbst hin geführt werden. Dieses Selbst erweist sich der Definition Goethes zufolge als der Inbegriff der charakteristischen Wesenszüge, die jedes Einzelindividuum von allen anderen unterscheiden. Im ersten Teil des Faust wird die schicksalsbestimmte Unabänderlichkeit des Charakters, d. h. die in der oben zitierten Erläuterung als »angeborne Kraft und Eigenheit« des Ichs apostrophierte Existenzdeutung durch eine Aussage des Mephistopheles akzentuiert. Auf die Frage Fausts »Was bin ich denn, wenn es nicht möglich ist / Der Menschheit Krone zu erringen, / Nach der sich alle Sinne dringen?« erwidert Mephistopheles illusionslos: Du bist am Ende – was du bist. Setz’ dir Perücken auf von Millionen Locken, Setz’ deinen Fuß auf ellenhohe Socken, Du bleibst doch immer was du bist.10

Aus Goethes Sicht ist es gerade nicht das »Miteinandersein« (Hei­ degger),11 welches das Selbst des Individuums konstituiert, sondern die »Eigenheit« und die unverwechselbare individuelle Einmaligkeit in ihrem Abstand von dem ›Miteinandersein‹ der ›Anderen‹. Das Trennende und nicht das Verbindende verleiht dem Selbst seine Konturen. Kraft seiner singulären »Eigenheit« muss das EinFaust, S. 79, V. 1806–1809. Dieser Begriff des ›Miteinanderseins‹ ist zwar der Seins-Philosophie Heideggers entlehnt – siehe hierzu vor allem den § 27 in Sein und Zeit, S. 126 ff. –, aber unsere Untersuchung darf deshalb nicht als eine von der Heidegger’schen Philosophie inspirierte Analyse missverstanden werden, auch wenn es hinsichtlich der Individualitätsauffassung Übereinstimmungen zwischen Goethe und Heidegger gibt. So ist der Existenzmodus des ›Miteinanderseins‹ sowohl bei dem Philosophen wie auch bei dem Dichter ein ›uneigentlicher‹ Seins­ modus, der für beide von dem eigentlichen Selbst-Sein hinwegführt, indem er dessen »Seinsmöglichkeiten« (ebd., S. 127) einebnet oder gar vernichtet. 10 Goethe: 11

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zelindividuum sich seinem angeborenen ›intelligiblen Charakter‹ (Kant, Schopenhauer) gemäß entwickeln, wenn die Identität erhalten bleiben soll: »man möchte, […] gar wohl gestehen dass angeborne Kraft und Eigenheit mehr als alles Übrige des Menschen Schicksal bestimme«.12 Goethe hat sich nicht nur mit dem ›dämonischen‹ Charakter in dieser Stanze der »Urworte. Orphisch« beschäftigt, sondern sich in seinen naturwissenschaftlichen Schriften, in Briefen und in den aufgezeichneten Gesprächen, die er mit Karl von Hagen, Zelter und nicht zuletzt mit Eckermann führte, ausgiebig mit dem Problem des Dämonischen und der Dämonie auseinandergesetzt. Zieht man diese Äußerungen und Bestimmungen in die Überlegungen mit ein, was in diesem Zusammenhang allerdings nur sporadisch möglich ist, lässt sich seine ›dämonische‹ Charakterlehre ergänzen und präzisieren. In einem Gespräch vom 2. März 1831 mit Eckermann heißt es: Erscheint nicht auch, sagte ich, das Dämonische in den Begebenheiten? »Ganz besonders, sagte Goethe, und zwar in allen, die wir durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen vermögen. Überhaupt manifestiert es sich auf die verschiedenste Weise in der ganzen Natur, in der unsichtbaren wie in der sichtbaren. Manche Geschöpfe sind ganz dämonischer Art, in manchen sind Teile von ihm wirksam.«13

Beachtet man, dass Goethe im weiteren Verlauf des Gesprächs Eckermanns Frage, ob nicht auch Mephistopheles dämonische Züge habe, mit dem Argument verneint, dieser sei »ein viel zu negatives Wesen; das Dämonische aber äußert sich in einer durchaus positiven Tatkraft«,14 dann gewinnt die Vorstellung des ›Dämonischen‹ bei Goethe feste Konturen, und es lassen sich folgende Grundzüge konstatieren: Es ist eine innere Wirkmacht, die sich jenseits des rational Fassbaren äußert, eine letztendlich metaphysische, durchaus positive und etwas unbedingt wollende Macht, welche die dämonischen Charaktere zu immer größerer Selbstentfaltung treibt. 12 Wie

Anm. 9. 13 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, 2. 3. 1831, MA 19, S. 425. 14 Ebd. Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie  |  441

2. Goethes Schopenhauerlektüre Es lassen sich frappierende Übereinstimmungen zwischen Goethes oben erörterten Grundansichten und Schopenhauers Lehre von der Unveränderlichkeit des pränatal bereits festgelegten Charakters herleiten. Die Charakterologie Schopenhauers, mit der wir uns im Folgenden ausführlicher beschäftigen werden, tritt in ersten Ansätzen in den §§ 28, 45 und 55 des ersten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung auf und wird später in der 1839 vorgelegten Preisschrift Über die Freiheit des Willens im dritten Kapitel (»Der Wille vor dem Bewußtseyn anderer Dinge«) eingehender behandelt. Ohne einen direkten Einfluss der Goethe’schen Daimonlehre auf Schopenhauers Denken und vice versa behaupten zu wollen, soll hier erwähnt werden, dass Schopenhauer mit Goethes »Urworte. Orphisch« vertraut war. Dies geht aus dem dritten Kapitel der Preisschrift Über die Freiheit des Willens hervor, indem dort die erste der fünf Stanzen zur Unterstützung der Kardinalthese von der grundsätzlichen Unfreiheit des menschlichen Willens, der Unabänderlichkeit und Notwendigkeit allen Geschehens, in toto zitiert wird.15 Einer brieflich geäußerten Aussage Adele Schopenhauers gemäß las Goethe Anfang 1819 mit Eifer im ersten Band der Welt als Wille und Vorstellung. Der in Weimar verfasste Brief ist undatiert, lässt sich aber nach Lütkehaus durch Heranziehen der Tagebücher Adeles mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den 5. Februar 1819 festlegen. Die Schwester, die offenkundig ihrem sich in Italien aufhaltenden Bruder eine Freude bereiten wollte, hat – so die naheliegende Vermutung – die Begeisterung Goethes über das neuerworbene Buch leicht übertrieben. Im Brief heißt es: Goethe empfing es [d. h. das Werk; die Verf.] mit großer Freude, zerschnitt gleich das ganze dicke Buch in zwei Theile und fing augenblicklich an, darin zu lesen. Nach einer Stunde sandte er mir beiliegenden Zettel und ließ sagen: Er danke Dir sehr und glaube daß das ganze Buch gut sei. Weil er immer das Glück habe, in Büchern die bedeutendsten Stellen aufzuschlagen, so habe er denn die bezeichneten Seiten gelesen und große Freude daran gehabt. Darum sende er die Nummern, daß Du nachsehen könnest was er meine. Bald gedenkt er 15 E

(ZA), S. 96.

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Dir selber weitläufiger seine Herzensmeinung zu schreiben; bis dahin solle ich Dir dies melden. Wenige Tage darauf sagte mir Ottilie, der Vater sitze über dem Buche und lese es mit einem Eifer, wie sie noch nie an ihm gesehen. Er äußerte gegen sie: auf ein ganzes Jahr habe er nun eine Freude; denn nun lese er es von Anfang zu Ende und denke wohl soviel Zeit dazu zu bedürfen. Dann sprach er mit mir und meinte, es sei ihm eine große Freude, daß Du noch so an ihm hingest, da ihr euch doch eigentlich über die Farbenlehre veruneinigt hättet, indem Dein Weg von dem seinen abgienge.16

Was Goethe besonders an dem Buch gefällt, ist die »Klarheit der Darstellung und der Schreibart«.17 Das vom Dichter versprochene »weitläufige[…]« Schreiben, in welchem er dem jungen Philosophen die Früchte seiner Lektüre mitteilen wollte, wurde nie verfasst. Fraglich ist ferner, ob die Initialeuphorie Goethes lange genug währte, um das durch den Brief Adeles annoncierte Vorhaben realisieren zu können, d. h. eine gründliche Lektüre des gesamten Buches statt nur der durch glückliche Fügung aufgeschlagenen ›Schlüsselstellen‹. Mit verhaltener Skepsis liest man auch die abschließende Bemerkung der Schwester über Goethes Leseerlebnis des ersten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung: »Wenigstens«, beteuert sie, »bist Du der einzige Autor, den Goethe auf diese Weise mit diesem Ernste liest; das, dünkt mich, muß Dich freuen«.18 Die im Brief der Schwester genannten »Nummern« beziehen sich nach den Angaben Arthur Hübschers auf Passagen jeweils aus den §§ 45 und 55 der Welt als Wille und Vorstellung.19 Goethe überliest mit anderen Worten bei seiner ersten Lektüre den die Charakterlehre am ausführlichsten behandelnden § 28, schlägt dafür prompt bedeutungsvolle Stellen der §§ 45 und 55 auf.

16 Adele 17 Ebd. 18

Schopenhauer an Arthur Schopenhauer, [5. 2. 1819], FB, S. 273.

Ebd., S. 274.

19 Bei Hübscher heißt es: »Auf diesem Zettel hatte Goethe die Seitenzahlen

p. 320, 321 und 440,41 [sic!] notiert«. (Arthur Hübscher: Das fünfte Urwort S. 101 (Anm. 7).) In der von Hübscher besorgten Gesamtausgabe (Sämtliche Werke, 3. Auflage, Wiesbaden 1972) handelt es sich um W I, S. 261–263, und 359–360. Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie  |  443

3. »Der Mensch ändert sich nie«. Zur Charakterologie ­Schopenhauers Jeder Willensakt des Menschen ist für Schopenhauer »das nothwendige Produkt seines Charakters« und des je gegebenen »Motivs« und erfolgt daher »unausbleiblich«.20 In der von der Königlich Norwegischen Societät der Wissenschaften gekrönten Preisschrift Über die Freiheit des Willens stellt Schopenhauer vier Thesen über den menschlichen Charakter auf, die in der Folge erörtert werden: a) »Der Charakter des Menschen ist« »individuell«, das heißt, er ist »in Jedem ein anderer«.21 Um die Tat eines Menschen vorhersagen zu können, bedarf es mehr als nur der Kenntnis des Motivs. Man muss jeweils »den Charakter genau kennen«,22 denn dasselbe Motiv wirkt auf unterschiedliche Charaktere grundverschieden.23 b) »Der Charakter des Menschen ist empirisch«,24 das heißt, man lernt ihn sukzessiv erst durch Erfahrung kennen. Schopenhauers Definition des empirischen Charakters leitet zur Bestimmung des erworbenen Charakters über: Erst die genaue Kenntniß [des] empirischen Charakters giebt dem Menschen Das, was man erworbenen Charakter nennt: derjenige besitzt ihn, der seine eigenen Eigenschaften, gute wie schlechte, genau kennt und dadurch sicher weiß, was er sich zutrauen und zumuthen darf, was aber nicht. Er spielt seine eigene Rolle, die er zuvor, vermöge seines empirischen Charakters, nur naturalisirte (der Natur nach durchspielte), jetzt kunstmäßig und methodisch, mit Festigkeit und Anstand, ohne jemals, wie man sagt, aus dem Charakter zu fallen.25

c) »Der Charakter des Menschen ist konstant: er bleibt der selbe, das ganze Leben hindurch.«26 Zur Veranschaulichung dieser Vorstellung führt Schopenhauer an, die »Hülle«, wie z. B. die Kennt20 E

(ZA), S. 95. Ebd., S. 87. 22 Ebd. 23 Vorliegende Darstellung der Schopenhauer’schen Charakterlehre greift zum Teil wörtlich auf Søren R. Fauth: Der metaphysische Realist, S. 150–157, zurück. 24 E (ZA), S. 87. 25 Ebd., S. 88 f. 26 Ebd. 21

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nisse und Ansichten des Menschen, wandle sich zwar im Laufe des Lebens nach den unterschiedlichen Lebensumständen, der Kern jedoch bleibe, »wie ein Krebs in seiner Schaale«, »immer der selbe«, und um seine Pointe zuzuspitzen, heißt es, die Unwandelbarkeit individueller Charaktereigenschaften emphatisch hervorhebend: »Der Mensch ändert sich nie.«27 Die »Modifikabilität der Erkenntniß und dadurch des Thuns«,28 die Schopenhauer als faktische Korrektionsmöglichkeit nicht in Zweifel zieht, bedeutet zwar, dass die Handlungsweise eines Menschen sich »merklich« ändern kann, es wäre aber falsch, »daraus auf eine Veränderung seines Charakters zu schließen«.29 »Von Außen kann auf den Willen allein durch Motive gewirkt werden« – die »Modifikabilität der Erkenntniß« meint lediglich die im Laufe des Lebens sich wandelnde Beurteilung der Motive und die daraus hervorgehende Reorganisierung des Handlungsmodus, das Streben selbst, der individuelle Wille bleibt dabei konstant. Das einzige, was die Motive vermögen, ist, dass jemand »die Richtung seines Strebens änder[t]«, mit anderen Worten, dass er »[d]as, was er unveränderlich sucht, auf einem andern Wege suche, als bisher«.30 Der empirische Charakter des Menschen ist die auf eine bestimmte Lebensdauer begrenzte und notwendige Entfaltung einer außerzeitlichen, ursprünglichen, unentrinnbaren Setzung des Willens; dem empirischen Charakter, den man im Laufe des Lebens immer bewusster erwirbt, liegt ein immanent metaphysischer Akt des Willens zugrunde. In Anlehnung an Kant, wenn auch dessen Begriff im Rahmen seines eigenen Denkens umdeutend, nennt Schopenhauer diesen individuellen und »ursprünglichen« Willen des Menschen den ›intelligiblen Charakter‹.31 Weil der empirische Charakter die zeitliche und räumliche Erscheinung des intelligiblen Charakters offenbart, muss jener notgedrungen »in einem Lebenslauf das Abbild des intelligibeln liefern, und kann nicht anders ausfallen, als das Wesen dieses es erfordert«.32 Die aufklärungsphilosophische 27 Ebd. 28 W

I (ZA), S. 370.

29 Ebd.

30 Ebd. 31

32

Ebd., S. 208. Ebd., S. 211.

Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie  |  445

Unterstellung eines vernunftgeleiteten ›homo sapiens‹, der nach dem Motto ›Ich kann tun, was ich will‹ wähnt, mittels der Erkenntnis über das eigene Handeln und damit über die eigene Existenz frei zu verfügen, wird von Schopenhauer als lebensferne Wunschphantasie in die Schranken gewiesen. Durch den präexistenziellen »Objektivationsakt des Willens«,33 durch diese dem Leben vorauseilende Setzung ist der Gehalt des gesamten Lebens und seine jeweiligen Wandlungen ein für alle Mal festgelegt. Die mannigfaltigen und hoch komplexen, einander auf den ersten Blick oftmals widerstreitigen Äußerungen des Willens durch den empirischen Charakter eines Menschen sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass jene mit vollkommener Notwendigkeit aus einem ursprünglichen, »außerzeitlichen« und »untheilbaren Willensakt«34 hervorgehen. Die Freiheit, die dem Willen als Ding an sich, d. h. vor seiner Erscheinung zukommt, überträgt sich nicht auf seine Objektivation. Einmal als Erscheinung in die Vorstellungswelt getreten ist der an sich freie Wille dem Satz vom Grund unterworfen, daher alle Handlungen der Person mit absoluter Notwendigkeit vollzogen werden. In dem von Goethe mit besonderem Interesse gelesenen § 55 des ersten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung heißt es über die Person: Diese ist nie frei, obwohl sie die Erscheinung eines freien Willens ist: denn eben von dessen freiem Wollen ist sie die bereits determinirte Erscheinung, und indem diese in die Form alles Objekts, den Satz vom Grunde, eingeht, entwickelt sie zwar die Einheit jenes Willens in eine Vielheit von Handlungen, die aber, wegen der außerzeitlichen Einheit jenes Wollens an sich, mit der Gesetzmäßigkeit einer Naturkraft sich darstellt.35

Auf den untersten Stufen der Natur offenbart der ›außerzeitliche‹ Wille sich mit größtmöglicher Deutlichkeit, hingegen auf der höchsten Stufe seiner Objektivation, d. h. im Menschen, erscheint der ursprüngliche Willensakt durch die vernunft- und verstandesbedingte Reflexionsfähigkeit des Menschen getrübt. Allein der mit Vernunft begabte Mensch vermag – im Gegensatz zu den Tieren – durch »Verstellung«, »sein wahres Wesen« zu verhüllen, derart dass 33 Ebd. 34 35

Ebd., S. 208. Ebd., S. 363.

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dieses Wesen »fast nur zufällig und stellenweise zum Vorschein kommt«.36 Trotz aller Verstellung, Kaschierungsstrategien und die durch Zeit und Raum bedingte Komplexität der Willensäußerungen des einzelnen Individuums enthüllt der tiefenpsychologische Blick des Philosophen den überall und zu jedem Zeitpunkt identischen Kern der Persönlichkeit. Der Mensch kommt, wie es in der Preisschrift Über die Freiheit des Willens heißt, nicht als moralische Null, als »tabula rasa«,37 auf die Welt. Daraufhin kann Schopenhauer seine vierte These formulieren: d) »Der individuelle [d. h. die Idee, der intelligible; die Verf.] Charakter ist angeboren: er ist kein Werk der Kunst, oder der dem Zufall unterworfenen Umstände; sondern das Werk der Natur selbst.«38 Aus diesem Grund offenbart der Charakter sich schon im Kinde, nicht erst nach langjähriger Einwirkung der äußeren soziokulturellen Gegebenheiten. Zwei Menschen, die im selben Milieu erzogen werden, sind immer durch ihren je eigenen angeborenen Charakter unterschieden, denn jede ›Existentia‹ (Dasein) setzt eine ›Essentia‹ (Beschaffenheit, Wesen) voraus: d. h. jedes Seiende muß eben auch Etwas seyn, ein bestimmtes Wesen haben. Es kann nicht daseyn und dabei doch nichts seyn […]. Denn jedes Seiende muß eine ihm wesentliche, eigenthümliche Natur haben, vermöge welcher es ist was es ist […]. Dies […] gilt [aber] vom Menschen und seinem Willen eben so sehr, wie von allen übrigen Wesen in der Natur. Auch er hat zur Existentia eine Essentia, d. h. grundwesentliche Eigenschaften, die eben seinen Charakter ausmachen und nur der Veranlassung von außen bedürfen, um hervorzutreten. Folglich zu erwarten, daß ein Mensch, bei gleichem Anlaß, ein Mal so, ein ander Mal aber ganz anders handeln werde, wäre wie wenn man erwarten wollte, daß der selbe Baum, der diesen Sommer Kirschen trug, im nächsten Birnen tragen werde.39

Der Versuch, die Charaktereigenschaften eines Menschen durch »Reden und Moralisiren« zu ändern »und so seinen Charakter selbst, seine eigentliche Moralität, umschaffen zu wollen, ist ganz 36

Ebd., S. 209. 37 E (ZA), S. 94. 38 Ebd., S. 92. 39 Ebd., S. 96 f. Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie  |  447

gleich dem Vorhaben, Blei durch äußere Einwirkung in Gold zu verwandeln, oder eine Eiche durch sorgfältige Pflege dahin zu bringen, daß sie Aprikosen trüge«.40 Oder, wie es mit den Faust in die Schranken der Realität zurückweisenden Worten des Mephistopheles heißt: »Du bist am Ende – was du bist. / Setz’ dir Perücken auf von Millionen Locken, / Setz’ deinen Fuß auf ellenhohe Socken, / Du bleibst doch immer was du bist.«41 Die Formel der scholastischen Philosophie ›operari sequitur esse‹ (das Handeln folgt aus dem ›Sein‹, aus der ›Essentia‹) trifft, was die Grundaussage der ersten Stanze und der oben erörterten Charakterologie anbelangt, ins Schwarze. Das Postulat der Willensfreiheit beruht auf dem Fehlschluss, eine ›Existentia‹ ohne ›Essentia‹ anzunehmen. Die Annahme, dass unser Wollen, wie wir es empirisch erfahren, grundsätzlich frei sei, das ›liberum arbitrium indifferentiae‹, fertigt Schopenhauer deshalb in seinen Parerga und Paralipomena polemisch als eine »ganz monstrose Fiktion«42 ab. Stellen wir also fest, dass Goethe und Schopenhauer in der Grundannahme eines präexistentiell gegebenen, die Lebensbahn des Individuums determinierenden Charakters wesentlich übereinstimmende Positionen vertreten. Die folgende Analyse von »Urworte. Orphisch« wird aber zeigen, dass die mit Schopenhauers Charakterologie übereinstimmende Annahme eines konstanten Kerns der Persönlichkeit durch die Begegnung des Ichs mit den Tücken zufälliger Lebensumstände, den Gegebenheiten der sozialen Normativität und der Liebe bei Goethe ins Wanken gerät. Oder richtiger: Die freie Entfaltung des unveränderlichen Charakters und seiner vorherbestimmten Lebensbahn wird durch die Begegnung mit der Welt und den darin existierenden Anderen gehemmt und ebnet damit bei Goethe den Weg einer Identitätsproblematik, die im Denken Schopenhauers keineswegs mit vergleichbarer Intensität reflektiert wird. In Kürze: Für Schopenhauer bleibt die willensmetaphysisch gesetzte Identität eine Tatsache, für Goethe wird dieselbe Tatsache zum Problem. Auch die Freiheitsauffassungen Schopenhauers und Goethes differieren. Freiheit hieße bei Goethe – so zumindest das Ergebnis der hier vorgelegten Interpretation – die un40

Ebd., S. 91. Anm. 10. 42 P I (ZA), S. 140. 41 Wie

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gehemmte Entfaltung der angeborenen Eigentümlichkeit des Ichs. Für Schopenhauer hingegen existiert Freiheit – nebst der präexistentiellen Freiheit des Willens an sich – als entweder vorrübergehende, durch die Kontemplation erlangte Aufhebung oder als permanente, durch die Verneinung des Willens zum Leben erreichte Überwindung eben dieses Ichs und seiner Vorstellungswelt.

4. »Nicht einsam bleibst Du, bildest Dich gesellig« – die gesellschaftsbedingte Ablenkung des Ichs Die »Daimon«-Stanze erweckt den Eindruck, als wäre ein Misslingen der dämonischen Selbstwerdung des Individuums unvorstellbar. Hieß es doch in den beiden letzten Zeilen der »Daimon«Strophe über die organische Entfaltung des Individuums zu den Bedingungen seiner spezifischen ›Eigenheit‹: »Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt / Geprägte Form, die lebend sich ent­ wickelt«. Einen entsprechenden Optimismus finden wir auch in den Kommentaren Goethes zu dieser Stanze. Das Selbst kann als das »noch so entschieden Einzelne« zwar »gar wohl zerstört, aber, so lange sein Kern zusammenhält, nicht zersplittert, noch zerstückelt werden, sogar durch Generationen hindurch«.43 Auch in dem Kommentar zur Stanze »Τυχη. Das Zufällige« heißt es optimistisch, der Dämon im Streit mit vielfältigen Widerständen äußerlicher Art hält sich »freilich […] durch alles durch, und dieses ist denn die eigentliche Natur, der alte Adam und wie man es nennen mag, der, so oft auch ausgetrieben, immer wieder unbezwinglicher zurückkehrt«.44 Man muss allerdings beachten, dass die »Daimon«-Strophe sich nur auf das Einzelindividuum und dessen Entwicklung beschränkt, ohne dass das ›Miteinandersein‹ in der Welt in den Blick genommen wird. Das Individuum bleibt aber nicht für sich allein, sondern im Laufe seiner Entwicklung kommt es zur Begegnung mit der Welt der ›Anderen‹. Goethe schreibt in seinem Kommentar:

43 Goethe:

Zu eigenen Werken und Projekten. Urworte Orphisch, MA

13.1, S. 501. 44 Ebd., S. 502.

Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie  |  449

Dieses feste, zähe, dieses nur aus sich selbst zu entwicklende Wesen kommt freilich in mancherlei Beziehungen, wodurch sein erster und ursprünglicher Charakter in seinen Wirkungen gehemmt, in seinen Neigungen gehindert wird, und was hier nun eintritt, nennt unsere Philosophie ΤYXH, DAS ZUFÄLLIGE Die strenge Grenze doch umgeht gefällig Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt; Nicht einsam bleibst Du, bildest Dich gesellig, Und handelst wohl so wie ein andrer handelt. Im Leben ists bald hin- bald wiederfällig, Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt. Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet, Die Lampe harrt der Flamme die entzündet.45

Die »strenge Grenze«, von der hier die Rede ist, meint eine die Individualität konstituierende Abgrenzung der ›Eigenheit‹ der Person von ›den Anderen‹. In den beiden ersten Zeilen, die wegen ihrer Ab­ straktheit schwer auszudeuten sind, begegnet dem Individuum nun in dem ›Zufälligen‹ eine von der Außenwelt kommende Macht, die als ein »Wandelndes, das mit und um uns wandelt«, ihren Einfluss auf das in monadischer Abgeschlossenheit existierende Individuum ausübt. Diese Einwirkung des ›Zufälligen‹ ist schwer zu bestimmen, scheint aber durch das Adverb »gefällig« als ein positiver Einfluss aufgefasst werden zu müssen, was auch durch die dritte Zeile vermutlich bestätigt wird, indem die ›Einsamkeit‹ von einer Bildung zur ›Geselligkeit‹ abgelöst wird. Vor dem Hintergrund dieses Gedankens lässt sich ein »Wandelndes« im Sinne einer Erziehung und eines Lernprozesses des Individuums konkretisieren, die ihm das Wissen vermitteln sollen, wie man sich in der geselligen Welt zu verhalten hat. Das wird durch den Kommentar Goethes bestätigt. Er schreibt: Bei der Erziehung, […] behauptet Tyche ihre wandelbaren Rechte. Säugamme und Wärterin, Vater oder Vormund, Lehrer oder Aufseher, so wie alle die ersten Umgebungen, an Gespielen, ländlicher oder städtischer Localität, alles bedingt die Eigentümlichkeit, durch frühere Entwickelung, durch Zurückdrängen oder Beschleunigen […].46 45

46

Ebd., S. 501. Ebd., S. 502.

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Dieses Bedingen der »Eigentümlichkeit« durch die Tyche konkretisiert Goethe folgendermaßen: Allein Tyche läßt nicht nach und wirkt besonders auf die Jugend immerfort, die sich, mit ihren Neigungen, Spielen, Geselligkeiten und flüchtigem Wesen bald da bald dorthin wirft und nirgends Halt noch Befriedigung findet. Da entsteht denn mit dem wachsenden Tage eine ernstere Unruhe, eine gründlichere Sehnsucht; die Ankunft eines neuen Göttlichen wird erwartet.47

Die beiden Kommentare und die Feststellung Goethes: »der Dämon freilich hält sich durch alles durch«48 sind für das Verständnis der Tyche-Strophe außerordentlich hilfreich. Die Aussage, dass der Dämon sich durchhält, belegt, dass die Erziehung zur Geselligkeit und die erste Integration in die Sphäre des ›Miteinanderseins‹ nicht schon in der Kindheit und der frühen Jugend zur Zerstörung der ›Eigenheit‹ führen. Aber auch wenn der Dämon sich in dieser Entwicklungsphase durchhält und dem Menschen auf seinem durch das innere »Gesetz« vorgezeichneten Weg weiterhilft, enthüllt die »Tyche«-Strophe schon eine ernste Bedrohung des mit sich selbst identischen Individuums durch die Welt. Die Welt selbst stellt ein Negativum dar, das nichts Erstrebenswertes an sich hat: »Im Leben ists bald hin- bald widerfällig, / Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt.« Das Leben ist ein immerfort haltloses Auf und Ab (»bald hin – bald widerfällig«), und wie die abfälligen Worte »Tand« und »durchtändeln« vermitteln, bloß ein geringes Gut, ein substanzund wesenloses Etwas. Dieser Weltsicht zufolge gibt es im weltlichen Bereich weder »Befriedigung« noch festen Halt. Sich ihm hinzugeben, heißt, sich in seiner Geworfenheit dem ewig Wandelbaren und der unsteten Göttin Fortuna auszuliefern. Wenden wir uns vor diesem Hintergrund kurz einer einschlägigen Passage aus dem § 55 des ersten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung zu. Hier notiert Schopenhauer Folgendes über die unentschlossene Existenzweise eines Menschen, dessen Charakter durch die end­losen Möglichkeitsreflexionen der Vernunft getrübt wird – die Affinität zu den oben erörterten Vorstellungen Goethes ist offensichtlich: 47 Ebd. 48 Ebd.

Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie  |  451

Denn diese [d. h. die Besonnenheit und Denkkraft, also: Die Vernunft; die Verf.] halten ihm [d. h. dem Menschen; die Verf.] immer vor, was dem Menschen überhaupt, als Gattungscharakter, zukommt und im Wollen, wie im Leisten, demselben möglich ist. Hiedurch wird ihm die Einsicht in Dasjenige, was allein von dem Allen er, vermöge seiner Individualität, will und vermag, erschwert.49

Ein solcher Mensch gerät leicht in Gefahr, die Orientierung zu verlieren und eine Existenz reiner, nie realisierter Möglichkeiten zu führen. Er verkennt die Tatsache, dass wie unser physischer Weg auf der Erde immer nur eine Linie, keine Fläche ist; so müssen wir im Leben, wenn wir Eines ergreifen und besitzen wollen, unzähliges Anderes, rechts und links, entsagend, liegen lassen. Können wir uns dazu nicht entschließen, sondern greifen, wie Kinder auf dem Jahrmarkt, nach Allem was uns im Vorübergehn reizt; dann ist dies das verkehrte Bestreben, die Linie unsers Wegs in eine Fläche zu verwandeln: wir laufen sodann im Zickzack, irrlichterliren hin und her und gelangen zu nichts.50

Der unentschlossene Jüngling oder ein charakterloser Mensch weiß weder, »was er will«, noch, »was er kann«: und obwohl er im Ganzen sich treu bleiben und seine Bahn durchlaufen muß, von seinem Dämon gezogen [bei Goethe hieß es: »der Dämon freilich hält sich durch alles durch«; die Verf.]; so wird er doch keine schnurgerechte, sondern eine zitternde, ungleiche Linie beschreiben, schwanken, abweichen, umkehren, sich Reue und Schmerz bereiten: dies Alles, weil er, im Großen und Kleinen, so Vieles als dem Menschen möglich und erreichbar vor sich sieht, und noch nicht weiß, was davon allein ihm gemäß und ihm ausführbar, ja, auch nur ihm genießbar ist.51

Unmittelbar scheint die Integration in die soziale Geselligkeit für das Subjekt sogar einen Gewinn zu bedeuten, indem die Einsamkeit überwunden und gegen das ›Miteinandersein‹ getauscht wird. Dieser Eindruck beruht aber auf einer Täuschung, wie die folgende Zeile aufdeckt: »Und handelst wohl so wie ein andrer handelt«. 49 W

I (ZA), S. 380. Ebd., S. 381. 51 Ebd. 50

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Wenn die gesellige Bildung in der »Tyche«-Strophe dazu führt, dass das Individuum »wohl so wie ein andrer handelt«, ist der Sinn identisch. Mit den erworbenen Fertigkeiten, sich der Normativität der Welt im Kleinen zu fügen, gehen die besondere Eigenart und das ›Eigentümliche‹ unseres Ichs verloren. Der Preis, um den das gesellige ›Miteinandersein‹ erkauft wird, erweist sich als der Verlust der ›Eigenheit‹ im fremden ›Anderssein‹, eine Auffassung, die ebenfalls von Goethe durch seinen Kommentar bestätigt wird: Die Begegnung des Individuums mit Tyche hat zur Folge, dass »sein erster und ursprünglicher Charakter in seinen Wirkungen gehemmt, in seinen Neigungen gehindert wird«. Dieser Gefahr des Selbstverlustes wird der jugendliche Mensch zwar ausgesetzt, erliegt ihr aber nicht, weil der »Dämon sich [noch] durch alles durchhält«. Während in der ersten Stanze die Geburt des Individuums und dessen innere metaphysische Gesetzlichkeit dargestellt wurden, lässt sich die »Tyche«-Strophe als die Darstellung der Kindheit und der Einflüsse, denen das Kind während seines Heranreifens zum jungen Mann ausgesetzt ist, identifizieren. Da die folgende Stanze die Liebe behandelt, kann »der Jahre Kreis« nur bedeuten, dass das Kind zum Jüngling herangewachsen ist. Dass es sich zugleich um einen Stufenwechsel handelt, zeigt die Symbolik der beiden letzten Zeilen: »Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet, / Die Lampe harrt der Flamme die entzündet.« Die Bedeutung des Bildes einer »Lampe«, die »der Flamme« harrt, erschließt sich durch die Einbeziehung des Gedichts »Selige Sehnsucht« aus Westöstlicher Divan, in dem die Flammensymbolik mit dem »Stirb und Werde« verbunden wird52 und hier wie dort eine organisch sich entfaltende Spiralbewegung meint, durch welche immer Höheres erreicht wird. Das organologische Denken Goethes ist also bis hin zur Eros-Strophe intakt, selbst wenn die Gefahren des ›In-der-Welt-Seins‹ gleichzeitig kenntlich gemacht werden. Am Übergang von der zweiten zur dritten Strophe ›stirbt‹ also das Kind, um in der dritten Strophe auf der höheren Stufe des lie52 Als

Belegstelle seien hier nur die beiden letzten Strophen angeführt: »Keine Ferne macht dich schwierig, / Kommst geflogen und gebannt, / Und zuletzt, des Lichts begierig, / Bist du Schmetterling verbrannt. – Und so lang du das nicht hast, / Dieses: Stirb und werde! / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde.« (Goethe: Selige Sehnsucht, MA 11. 1. 2, S. 21.) Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie  |  453

benden Jünglings wieder zu erstehen. Dieser Stufenwechsel deutet an, dass die Polaritätsstruktur in dem Gedichtzyklus vorhanden ist. Die Frage ist jedoch, ob aus der bedrohlichen Begegnung des Ichs mit ›den Anderen‹ der Geselligkeit nun auf der höheren Stufe des Jünglings eine wahre Synthese zwischen Ich und Du, Eigenheit und Gemeinsamkeit herbeigeführt wird. Ansonsten bleibt die Polaritätsstruktur lediglich etwas Äußerliches, ohne für den Gesamtaufbau des Gedichtzyklus wirklich strukturbestimmend zu sein.

5. »Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen« – von den Herausforderungen der Liebe Auch in der dritten Strophe handelt es sich in der Form der Liebe um das Verhältnis von Identität und Alterität: EPΩΣ, LIEBE Die bleibt nicht aus! – Er stürzt vom Himmel nieder, Wohin er sich aus alter Öde schwang, Er schwebt heran auf luftigem Gefieder Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang, Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder, Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang. Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen, Doch widmet sich das Edelste dem Einen.53

Als »ein »Wohl im Weh« und eine Unruhe (»süß und bang«) stiftende Macht zeichnet sie die Liebe durch eine gewisse Ambivalenz aus, auch wenn der Topos von der bittersüßen Liebe diese Formulierungen mitgefärbt haben könnte. Die Verbindung mit einem »Frühlingstag« trägt dagegen zur positiven Valorisierung der Liebe bei. Allerdings gilt es bei der Liebesauffassung dieser Strophe zu differenzieren. Sie enthält recht besehen zwei Liebesauffassungen, nämlich eine positive, die in der letzten Zeile zum Ausdruck kommt (»Doch widmet sich das Edelste dem Einen«), und eine negative, von der sich Goethe distanziert. Sie wird in der vorletzten Zeile dieser Strophe formuliert: »Gar manches Herz verschwebt im Allge53 Goethe:

13.1, S. 502.

Zu eigenen Werken und Projekten. Urworte Orphisch, MA

454  |  Søren R. Fauth, Børge Kristiansen 

meinen«. Diese Zeile ist rätselhaft und infolgedessen auch schwierig zu verstehen. Man kann durch eine immanente Betrachtung zwar von der letzten Zeile her sehen, dass das ›Verschweben‹ des Herzens im »Allgemeinen« entschieden negativer bewertet wird als dort, wo das Herz sich »dem Einen« widmet. Der Sinn dieser letzten Strophe besteht in der Treue und zielt damit auf Verlobung und Ehe als die edelste Form der Liebe. Vor diesem Hintergrund scheint nun in dem ›Verschweben im Allgemeinen‹ irgendeine Art von Untreue auf. In Goethes ausführlichem Kommentar zur »Eros«-Strophe heißt es über diese Stelle: Auch hier treibt Tyche wieder ihr Spiel, sie lockt den Verirrten zu neuen Labyrinthen, hier ist keine Grenze des Irrens: denn der Weg ist ein Irrtum. Nun kommen wir in Gefahr uns in der Betrachtung zu verlieren, daß das was auf das Besonderste angelegt schien ins Allgemeine schwebt und zerfließt.54

Wenn Tyche nun den schon »Verirrten zu neuen Labyrinthen« lockt und es von diesem Verhalten weiter heißt: »hier ist keine Grenze des Irrens: denn der Weg ist ein Irrtum«, kann vor dem Hintergrund der Apostrophierung der Treue dem Ehepartner gegenüber in der »Eros«-Strophe und im Kommentar mit diesen Zeilen kaum anderes gemeint sein als die bindungsunfähige ›ästhetische Existenz‹ im Sinne Kierkegaards oder gar die Gefahr eines Abirrens der Liebe in Libertinage und freie Liebe. Diese Auslegung wird auch durch die folgenden Worte des Kommentars bestätigt, indem Goethe hier über die beiden letzten Zeilen schreibt: »Daher will das rasche Eintreten der zwei letzten Zeilen uns einen entscheidenden Wink geben, wie man allein diesem Irrsal entkommen und davor lebenslängliche Sicherheit gewinnen möge.«55 Diese »Sicherheit« gibt es für Goethe in der Ehe: Denn nun zeigt sich erst wessen der Dämon fähig sei; er, der selbstständige, selbstsüchtige, der mit unbedingtem Wollen in die Welt griff und nur mit Verdruß empfand wenn Tyche, da oder dort, in den Weg trat, er fühlt nun daß er nicht allein durch Natur bestimmt und gestempelt sei; jetzt wird er in seinem Innern gewahr daß er sich selbst 54

Ebd., S. 503.

55 Ebd.

Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie  |  455

bestimmen könne, daß er den durchs Geschick ihm zugeführten Gegenstand nicht nur gewaltsam ergreifen, sondern auch sich aneignen und, was noch mehr ist, ein zweites Wesen, eben wie sich selbst, mit ewiger unzerstörlicher Neigung umfassen könne.56

Vergleicht man diesen Teil des Kommentars mit der »Daimon«Strophe, fällt eine wesentliche Ergänzung der Daimon-Auffassung der ersten Strophe auf. Dort wird der Dämon als eine innere Naturkraft (Entelechie), als ein inneres »Gesetz« dargestellt, dem das Individuum gehorchen muss, wenn es dem Selbstverlust entgehen will. Der Mensch ist aus der Perspektive dieser ersten Strophe völlig determiniert. In dem Kommentar Goethes ist das Individuum ebenfalls »durch Natur bestimmt«, aber nicht »allein« und ausschließlich, so dass nun Raum für die notwendige Freiheit einer ›Selbstbestimmung‹ bleibt. Um dem ›Verschweben im Allgemeinen‹ zu entgehen und nicht wie ein Schmetterling von Blüte zu Blüte oder wie ein Don Juan von Weib zu Weib herumflattern zu müssen, sind die freie Wahl und Entscheidung für ein bestimmtes Du erlässlich. Durch eine solche Entscheidung ist dem Kommentar zufolge dem Individuum die Möglichkeit eröffnet, sich auch die ›Andersheit‹ eines ›fremden Wesens‹ anzueignen und »eben wie sich selbst, mit ewiger unzerstörlicher Neigung« zu umfassen. Demnach ist in der Ich-Du-Beziehung der Ehe die Kluft zwischen dem mit sich selbst identischen Individuum und dem ›Anderssein‹ des Du zugunsten eines scheinbar harmonischen Zusammenklanges zwischen dem ›Miteinandersein‹ (der Familie) und der ›Eigenheit‹ des Einzelnen überbrückt worden. Es kommt »noch eine Dritte [Person] hinzu«,57 womit die Geburt eines Kindes gemeint ist, aber weil sich alles in »wechselseitiger liebevoller Nötigung«58 vollzieht, die gegenseitige Liebe also den unerbittlichen Zwangscharakter der ›Nötigung‹ (›Ananke‹) in einer Harmonie von Müssen und Wollen aufhebt, scheint die Familiengründung nun eine gültige Synthese zwischen dem Selbstsein des Ichs und dem Anderssein des Du gebildet zu haben. Das könnte ebenfalls der Sinn des letzten Kommentarteils zu dieser Strophe sein: 56 Ebd.

57 Ebd. 58 Ebd.

456  |  Søren R. Fauth, Børge Kristiansen 

Familie reiht sich an Familie, Stamm an Stamm, eine Völkerschaft hat sich zusammengefunden und wird gewahr daß auch dem Ganzen fromme was der Einzelne beschloß, sie macht den Beschluß unwiederruflich durchs Gesetz; alles was liebevolle Neigung freiwillig gewährte wird nun Pflicht, welche tausend Pflichten entwickelt, und damit alles ja für Zeit und Ewigkeit abgeschlossen sei, läßt weder Staat, noch Kirche, noch Herkommen es an Zeremonien fehlen. Alle Teile sehen sich durch die bündigsten Kontrakte, durch die möglichsten Öffentlichkeiten vor, daß ja das Ganze in keinem kleinsten Teil durch Wankelmut und Willkür gefährdet werde.59

In dieser Passage handelt es sich nicht nur um die Gemeinschaft einer Familie, sondern um die organische Entstehung der Kultur einer »Völkerschaft« aus der Keimzelle der Familie: »Familie reiht sich an Familie, Stamm an Stamm, eine Völkerschaft hat sich zusammengefunden«. Bevor wir auf die Frage eingehen, inwiefern Goethes Organologie tatsächlich so reibungslos und widerspruchsfrei ist, wie es hier den Anschein erweckt, muss dieser letzte Teil des Abschnitts erst näher analysiert werden, wobei wir uns auf folgende Fragen konzentrieren: Welche Funktionen haben das »Gesetz«, die »bündigsten Kontrakte«, die »möglichsten Öffentlichkeiten« und wie steht es um den ›Einzelnen‹ innerhalb des ›Ganzen‹ und Allgemeinen? Während es in den bisher behandelten Strophen (»Δαιμων«, »Τυχη«, »Ερως«) primär um den Einzelnen und die Bedeutung des gesellschaftlichen ›Miteinanderseins‹ für das Einzelindividuum ging, hat sich im letzten Kommentarteil eine Verschiebung der Fragestellung zugunsten des Allgemeinen (der »Völkerschaft«) ereignet. Die Frage stellt sich nicht mehr, welche Konsequenzen das Allgemeine (Geselligkeit, die Ich-Du-Beziehung des Liebeverhältnisses, die Familie und die »Völkerschaft«) für den Einzelnen impliziert, sondern welche Bedeutung der Einzelne für das Allgemeine hat, wobei der aktive Part auch nicht mehr den Einzelnen, sondern die »Völkerschaft« betrifft. Sie ist »gewahr« geworden, »daß auch dem Ganzen fromme was der Einzelne beschloß«. Hier handelt es sich, was das Verhältnis zwischen dem Ganzen und dem Einzelnen anbelangt, nicht darum, dass jede Entscheidung des Einzelnen dem Ganzen von Nutzen wäre, womit einem Subjektivismus die Tür geöffnet 59

Ebd., S. 504.

Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie  |  457

wäre, der jede Allgemeinheit ins Chaos verwandeln würde. Die Vergangenheitsform »beschloß« meint den Ehe-Entschluss des Einzelnen, aus dem die »Völkerschaft« hervorgegangen ist und von dem sie deshalb abhängig ist. In diesem Sinn gilt der Satz, »daß auch dem Ganzen fromme was der Einzelne beschloß«, und deshalb ergreift die Allgemeinheit die Initiative und macht die Ehe »unwiderruflich durchs Gesetz«. Damit ist der Einzelne zum Objekt und passiv Erleidenden innerhalb des Allgemeinen geworden, was sich durch die weiteren Maßnahmen des Allgemeinen in Gestalt des Staates, der »Kirche« und des »Herkommens« (der Tradition) fortsetzt und verstärkt. Alle diese »Teile« sind bestrebt, »daß ja das Ganze in keinem kleinsten Teil durch Wankelmut und Willkür gefährdet« wird, und verwenden zu diesem Zweck »die bündigsten Kontrakte, [und] die möglichsten Öffentlichkeiten« als Zwangs- und Sicherungsmaßnahmen. Die Allgemeinheit verfügt damit über den Einzelnen, so dass er ihrem Willen Folge leisten muss, auch wenn er dadurch aus der ihm durch das angeborene innere ›Gesetz‹ bestimmten Bahn geworfen und so in den Selbstverlust gezwungen wird. Es entsteht der Eindruck – so die vorläufige Zusammenfassung –, als ob Goethe mit seiner Auslegung der »Eros«-Strophe für die Allgemeinheit der »Völkerschaft« auf Kosten der Rechte des Einzelnen einseitig Partei ergriffen hätte. Aber die Legitimität einer solchen Reduktion des Einzelnen auf das Wirken für die Allgemeinheit, wie es in den Wanderjahren zum Programm wird, ist in »Urworte. Orphisch« lediglich eine perspektivische Wahrheit, die durch die ebenfalls vorhandene andere Perspektive des Einzelnen relativiert und in Frage gestellt wird. Bereits in der letzten Kommentierung widerstrebt eine kritische Stimme einer Legitimität der Degradierung des Einzelnen zur Funktion der Allgemeinheit und macht ihre Konsequenzen kenntlich. Betont wird so, dass das ›Gesetz‹, welches die Ehe unwiderruflich etabliert und für die Allgemeinheit förderlich ist, für den Einzelnen zur Folge hat, dass »alles was liebevolle Neigung freiwillig gewährte […] nun Pflicht [wird], welche tausend Pflichten entwickelt«. Mit dieser Wandlung der gegenseitigen Neigung in endlose Pflichten ist die wahre Liebe endgültig vernichtet. Die Zerstörung der ›edelsten‹ Liebesform durch das staatliche und gesellschaftliche ›Miteinandersein‹ enthüllt nochmals die Diskrepanz zwischen Ich und Welt, aber die 458  |  Søren R. Fauth, Børge Kristiansen 

Radikalität des Goethe’schen Individualismus und Subjektivismus in »Urworte. Orphisch« enthüllt sich erst in ihrem vollen Umfang im Kommentar zur Gründung der Familie. Goethe notiert: Der aus so viel Gliedern bestehende Körper krankt, gemäß dem irdi­ schen Geschick, an irgend einem Teile, und, anstatt daß er sich im Ganzen freuen sollte, leidet er am Einzelnen und dem ohngeachtet wird ein solches Verhältnis so wünschenswert als notwendig gefunden.60

Durch die Metapher des »aus so viel Gliedern bestehende[n] Körper[s]« ist es nahe liegend, diesen Familienkörper vor dem Hintergrund des Organismus- und Metamorphosegedankens Goethes zu sehen. Vor diesem Hintergrund erkennt man, wie die kosmische Harmonie, die das Endziel der dialektischen Steigerung der polaren Entgegensetzungen im Denken Goethes darstellt, nun von der Krankheit des Familienkörpers (des Familienorganismus) abgelöst worden ist und damit den defizitären Zustand des Organismusgedankens enthüllt. Was aber ist der Grund, weshalb der Familien­ orga­nismus nicht gesund bleibt, sondern »an irgend einem Teile« und »am Einzelnen« leidet? Goethe selbst beruhigt sich damit, das ›irdische Geschick‹ als Urheber dieser Erkrankung anzugeben, was besagt, dass diese Erkrankung des Familienkörpers keinen Einzelfall darstellt, sondern dass es sich im irdischen Leben notwendig immer so ereignen muss (»Geschick«). Und fragt man, warum dem so ist, scheint die Antwort in der Betonung der Vielheit der Familienmitglieder in der Formulierung der »aus so vielen Gliedern bestehende Körper« enthalten zu sein. Der Hintergrund, vor dem sich die implizite Begründung konturiert, ist die Bestimmung des Menschen in der »Daimon«-Strophe als eines Wesens, dessen Charakter und Identität durch die einmalige besondere ›Eigenheit‹ konstituiert werden. Sie bestehen mit Goethes Worten in dem »Charakteristische[n] wodurch sich der Einzelne von jedem andern, bei noch so großer Ähnlichkeit unterscheidet«.61 Wenn sich aber die ›Eigenheit‹ des Individuums durch die Differenz zu den ›Anderen‹ konstituiert, ergibt sich daraus zwangsläufig, dass das ›Miteinandersein‹ einer Familie zum identitätsbedrohlichen Problem des Einzelnen führen 60 61

Ebd., S. 503 f. Ebd., S. 500.

Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie  |  459

muss. Denn es liegt im Begriff des sozialen ›Miteinanderseins‹, dass die von dem inneren ›Gesetz‹ vorgeschriebene Bahn des Einzelnen durch eine gemeinsame Normativität geregelt und reguliert werden muss, wenn es nicht zu einem die ›Ganzheit‹ in Chaos verwandelnden Zerwürfnis mit den ebenfalls vorgezeichneten Bahnen der Anderen des familiären und sozialen ›Miteinanderseins‹ kommen soll. Das Leiden des Einzelnen an der Familiengemeinschaft enthüllt damit letzten Endes den unüberbrückbaren Abgrund zwischen dem mit seiner ›Eigenheit‹ und sich selbst identischen Individuum und jeder Form des sozialen ›Miteinanderseins‹.62 Ich und Welt sind in »Urworte. Orphisch« noch wie in der Sturm-und-Drang-Epoche des jungen Goethe inkommensurable Größen. Wenn Goethe seine Kommentierung mit der Äußerung abschließt: »und dem ohngeachtet wird ein solches Verhältnis so wünschenswert als notwendig gefunden«, wird der Leser mit einem weiteren Rätsel konfrontiert. Die Wendung ins Positive, die durch die Konstruktion »dem ohngeachtet« erfolgt, setzt die nachgewiesene Negativität voraus und bestätigt damit unsere Auslegung, dass die Integration des Einzelnen in die Ganzheit ›krank‹ macht. Angesichts der Tatsache, dass die Einbindung des Individuums ins Soziale einerseits ›krank‹ macht, andererseits aber dennoch »wünschenswert« bleibt, stehen verschiedene Auslegungsmöglichkeiten offen. Soll man das Paradoxon dieser Aussage etwa so verstehen, dass Goethe hier die Partei der Allgemeinheit, der »Völkerschaft«63 62 Ein

ähnlicher Gedanke wird in den »Zahmen Xenien« formuliert: »Wenn Kindesblick begierig schaut / Er findet des Vaters Haus gebaut, / Und wenn das Ohr sich erst vertraut / Ihm tönt der Muttersprache Laut / Gewahrt es dies und jenes nah / Man fabelt ihm was fern geschah, / Umsittigt ihn wächst er heran / Er findet eben alles getan / Man rühmt ihm dies, man preist ihm das / Er wäre gar gerne auch etwas / Wie er soll wirken, schaffen, lieben / Das steht ja alles schon geschrieben, / Und, was noch schlimmer ist gedruckt / Da steht der junge Mensch verduckt, / Und endlich wird ihm offenbar: / Er sei nur was ein andrer war.« (Goethe: Zahme Xenien VI, MA 13.1, S. 227 f.) In der Familie muss der junge Mensch ebenfalls der das familiäre ›Miteinandersein‹ konstituierenden Normativität gehorchen mit dem betrüblichen Ergebnis des Selbstverlustes. »Er sei nur«, wenn er sich in den Familienzusammenhang und dessen Tradition einordnet, »was ein andrer war«. Auch hier löst sich das ›Selbst-Sein‹ im ›Anderssein‹ auf und geht verloren. 63 Goethe: Zu eigenen Werken und Projekten. Urworte Orphisch, MA 13.1, S. 504. 460  |  Søren R. Fauth, Børge Kristiansen 

ergriffen hat und die Zerstückelung der Identität des Einzelnen als ein notwendiges Übel hinnimmt, weil das Allgemeine für ihn nun das Entscheidende ist? Eine solche Option findet sich bei Goethe in seiner Entsagungslehre und in seiner Reduktion des Individuums auf eine bloße Funktion des Allgemeinen in den Wanderjahren, welche die »Zeit der Einseitigkeiten«64 verkünden. Diese Aus­legung ist möglich, aber nicht allzu wahrscheinlich. Ihr widerspricht, wie wir sehen werden, die Aussage der Ananke-Strophe, in der die Unterdrückung des Individuums durch die Zwänge der Vergesellschaftung mit tiefer Trauer festgestellt wird. Offen bleibt ebenfalls, inwiefern Goethe sich mit dieser Äußerung identifiziert. Eine Dis­ tanzierung markiert auf jeden Fall die Passivform »wird […] so wünschenswert als notwendig gefunden«. Die wahrscheinlichste Auslegung beruht darauf, dass die Allgemeinheit und die »Völkerschaft« es als »wünschenswert und notwendig« erachten. Ob das Goethes Zustimmung fände, lässt sich in letzter Instanz kaum entscheiden, weil diese allgemeine Meinung nun durch die folgende »Ananke«-Strophe konterkariert wird.

6. »Das Liebste wird vom Herzen weggescholten« – die Konsequenzen der Sozialität für das Ich Diese Stanze bekräftigt die zweite Auslegung des ›Miteinanderseins‹ durch Goethe: ΑNAΓKH, NÖTIGUNG Da ist’s denn wieder wie die Sterne wollten: Bedingung und Gesetz und aller Wille Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten, Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille; Das Liebste wird vom Herzen weggescholten, Dem harten Muß bequemt sich Will und Grille. So sind wir scheinfrei denn, nach manchen Jahren, Nur enger dran als wir am Anfang waren.65 64 Goethe:

65 Goethe:

13.1, S. 504.

Wilhelm Meisters Wanderjahre, MA 17, S. 47. Zu eigenen Werken und Projekten. Urworte Orphisch, MA

Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie  |  461

Im Umfeld der Sozialität herrscht strenge Notwendigkeit, der sich das Einzelindividuum beugen muss. Die Normativität der Gesellschaft und ihre Verhaltensregeln zwingen gemeinsam die freie und authentische Selbstentfaltung des Individuums zu einem unerbitt­ lichen ›Du musst‹ (»dem harten Muß«). Die Sozialisation, die schon für das Kind mit der Erziehung zur Geselligkeit einsetzte, sich durch die Ich-Du-Beziehung der Ehe und des Familienlebens verstärkte und mit der Vergesellschaftung seinen Höhepunkt erreicht, hat somit negative Konsequenzen für das Individuum. Sie drängt es aus der ihm bei der Geburt vorgezeichneten Bahn, entfremdet ihm das eigene Gesetz, indem sie ihm das fremde Gesetz des gesellschaftlichen ›Miteinanders‹ aufzwingt, und treibt es letzten Endes in den Selbstverlust mit dem Ergebnis, dass »das Liebste […] vom Herzen weggescholten [wird]«, so dass wir »nach manchen Jahren  / Nur enger dran«, also nur ›schlimmer dran‹ sind, »als wir am Anfang waren«. Diese Anfechtung der Identität und Eigenheit durch den Sozialisationsprozess wird außerdem durch dessen kreisförmige Struktur unterstrichen. Es heißt in der Ananke-Strophe: »Da ist’s denn wieder, wie die Sterne wollten«. Wir sind an den Anfang des Zyklus zurückgekehrt, wie die Wiederholung des Sternenbildes zeigt. Wieder sind wir beim ›Müssen‹ angelangt, aber während der Sinn dieses Müssens in der »Daimon«-Strophe in der angeborenen Gesetzlichkeit und der entelechischen Vorherbestimmung des Einzelindividuums bestand, also auf Selbstverwirklichung ausgerichtet war, meint das ›harte Muss‹ der »Ananke«-Strophe die Zwänge der gesellschaftlichen Normativität, welche die Selbstwerdung unterbinden und damit definitiv scheitern lassen. Diese pessimistische Auslegung des ›In-der-Welt-Seins‹ durch Goethe in »Urworte. Orphisch« wird durch seine Aussagen am Anfang des vierten Teils seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit bestätigt. Im Zusammenhang mit seiner Stellungnahme zu Spinoza schreibt er: [S]o manches was uns innerlich eigenst angehört sollen wir nicht nach außen hervorbilden, was wir von außen zu Ergänzung unsres Wesens bedürfen, wird uns entzogen, dagegen aber so vieles aufgedrungen das uns so fremd als lästig ist. Man beraubt uns des mühsam Erworbenen, des freundlich Gestatteten, und ehe wir hierüber recht ins Klare sind

462  |  Søren R. Fauth, Børge Kristiansen 

finden wir uns genötigt unsere Persönlichkeit erst stückweis und dann völlig aufzugeben.66

Das ist vermutlich diejenige Stelle im Gesamtwerk Goethes, an der die Unversöhnlichkeit, ja der unüberbrückbare Abgrund zwischen dem Selbstsein und der ›Eigenheit‹ des Individuums einerseits und der Normativität und den Ansprüchen der gesellschaftlichen Welt andererseits am unmittelbarsten zum Ausdruck kommt. Denn diesen Aussagen zufolge führt jeder Versuch des Individuums, sich mit der gesellschaftlichen und sozialen Sphäre einzulassen, mit Notwendigkeit in den Selbstverlust, indem wir uns genötigt finden, nichts weniger als »unsere Persönlichkeit erst stückweise und dann völlig aufzugeben«.67 Der Weg in die Welt und das ›In-der-Welt-Sein‹ – so die Konklusion – vernichten das Selbstsein des Individuums. Das Resultat ergibt also, dass man in der Forschung zwar mit Recht die mit der Metamorphose-Vorstellung und dem Organismus-Gedanken Goethes verbundene Dialektik in »Urworte. Orphisch« gesehen, aber ihre Umkehrung in einen negativen Verlauf nicht in den Blick genommen hat. Wilhelm Vosskamp hat die Bildungskonzeption Goethes generell mit den Worten zu erfassen versucht: Ausgehend von der Doppelheit von ›Bildungskraft‹ und ›Bildungstrieb‹ […] geht es Goethe insbesondere um ›Gestaltung und Umgestaltung‹ und um jene stufenweise, sukzessive, ›fortschreitende‹ Entwicklung und Steigerung, die am Modell des organischen Lebens abgelesen wird.68

Diese Auffassung, die dem traditionellen Goethe-Bild entspricht und für die es auch vielfältige Belege im Werk Goethes gibt, wird Dichtung und Wahrheit, MA 16, S. 713. 67 Die Tragik des Selbstverlustes profiliert sich außerdem noch deutlicher durch die hohe Wertschätzung der Persönlichkeit und des mit sich selbst identischen Selbst des Individuums. In den »Zahmen Xenien« lautet das wie folgt: »Man mäkelt an der Persönlichkeit, / Vernünftig, ohne Scheu; / Was habt ihr denn aber was euch erfreut / Als eure liebe Persönlichkeit? / Sie sei auch wie sie sei.« (Goethe: Zahme Xenien III, MA 13.1, S. 103.) Und in einer anderen Strophe hebt Goethe hervor: »Lerne doch jeder nach seiner Weise, / Wandle doch jeder in seiner Art.« (Goethe: Zahme Xenien V, MA 13.1, S. 217.) 68 Wilhelm Vosskamp: »Mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden«, S. 232. 66 Goethe:

Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie  |  463

durch den in »Urworte. Orphisch« dargestellten Lebenslauf des Menschen entschieden in Frage gestellt. Der Lebenslauf des Menschen von der Geburt über die ersten Bildungsjahre, die Liebe, Familie und die Integration in die Zwänge des gesellschaftlichen Lebens69 hat in der Optik dieser Stanzen nicht den Charakter einer aufsteigenden, sondern einer fallenden Spiralbewegung und einer zunehmenden Selbstentfremdung des Individuums. Hieß es in der »Daimon«-Strophe noch zuversichtlich: »Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt / Geprägte Form, die lebend sich entwickelt«, und beteuerte Goethe ebenfalls in seinen Erläuterungen zur »Tyche«Strophe, »die eigentliche Natur« und »der alte Adam« fänden durch alle Widerstände hindurch immer zurück, so dass die authentische Eigenheit des Individuums sich in letzter Instanz durchsetzen würde, wird gerade dieser Optimismus durch den Entwicklungsgang des Individuums widerlegt. Die Wechselwirkung von Ich und Welt führt in diesem Gedichtzyklus zu keiner Harmonie von Ich und Welt, sondern durch die überlegene Macht der Konventionen und Normen des ›In-der-Welt-Seins‹ zur Zersplitterung und Auflösung der Individualität und Einmaligkeit: »das Liebste wird vom Herzen weggescholten«. Wie erwähnt reflektiert Schopenhauers Charakterologie allenfalls am Rande das durch die Begegnung von Ich und Welt entstandene Problem der Identität. Schopenhauer verficht stattdessen die These einer immer stabiler und stärker werdenden Persönlichkeit, welche darin begründet ist, dass der dem intelligiblen Charakter gemäße, empirische Charakter mit der Zeit dank zunehmender Erkenntnis bewusster angenommen werden kann. Durch die altersbedingt potenzierte Einsicht in die Besonderheiten des je eigenen Charakters (Willens) verfügt der Mensch über die Möglichkeit, seinen Charakter emphatisch zu bejahen und anzunehmen. Es handelt sich hierbei um den oben erwähnten ›erworbenen Charakter‹, mit dem 69 Ähnlich

interpretiert auch Karl Otto Conrady: »Diesen fünf Mächten [Daimon, Tyche, Eros, Ananke, Elpis; die Verf.] sind zugleich auch, ohne daß es besonders ausgesprochen würde, fünf Lebensepochen des Menschen zugeordnet. Der Dämon regiert vor allem bei der Geburt, die Tyche in der Jugend, Eros bringt die Lebenswende, Ananke herrscht über die Jahre der Arbeit und des mittleren Alters, die Hoffnung bleibt dem Greis und hilft den Lebensabend überstehen.« (Karl Otto Conrady: Goethe, S. 912.) 464  |  Søren R. Fauth, Børge Kristiansen 

sich Goethe im § 55 des ersten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung intensiv auseinandersetzte. Nach den Angaben Arthur Hübschers schlug Goethe bei seiner ersten Lektüre exakt die Stelle auf, in der Schopenhauer auf den ›erworbenen Charakter‹ eingeht. Die Kenntnis über seinen Charakter erfährt der Mensch erst »durch den Weltgebrauch«, d. h. durch die sukzessive Erfahrung seiner Taten: Wir müssen erst aus Erfahrung lernen, was wir wollen und was wir können: bis dahin wissen wir es nicht, sind charakterlos und müssen oft durch harte Stöße von außen auf unsern eigenen Weg zurückgeworfen werden. – Haben wir es aber endlich gelernt, dann haben wir erlangt, was man in der Welt Charakter nennt, den erworbenen Charakter. Dieses ist demnach nichts Anderes, als möglichst vollkommene Kenntniß der eigenen Individualität: es ist das ab­strakte, folglich deutliche Wissen von den unabänderlichen Eigenschaften seines eigenen empirischen Charakters und von dem Maaß und der Richtung seiner geistigen und körperlichen Kräfte, also von den gesammten Stärken und Schwächen der eigenen Individualität.70

Eine durch Erfahrung gewonnene ab­strakte Erkenntnis der Präferenzen und Neigungen des individuellen Willens beseitigt das unentschlossene Umherirren und Schwanken aus der Jugendzeit und wechselt es gegen die stabile, fest konturierte Persönlichkeit der reifen Person. Konträr zur Auffassung der »Ananke«-Stanze geht die Einschränkung des ›harten Muss‹ nicht mit einem Verlust einher. Ganz im Gegenteil, ist doch die bewusste Annahme des begrenzten Selbst bei Schopenhauer die Bedingung eines ausgewogenen und dedizierten Seins. Denn »ein Mensch muß […] wissen, was er will, und wissen, was er kann: erst so wird er Charakter zeigen, und erst dann kann er etwas Rechtes vollbringen«.71 Die »widerwärtge Pforte« und »ehrne[n] Mauer« (so die Umschreibung der begrenzten Individualität in der fünften und letzten Stanze Goethes) des von außen und innen gehemmten Charakters führen nach Schopenhauer, wenn einst erkannt und bewusst angenommen, zur Freisetzung des faktischen Potentials der je eigenen Persönlichkeit. Die divergierenden Auffassungen Goethes und Schopenhauers in diesem Punkt sind u. a. darin begründet, dass Schopenhauers 70 W 71

I (ZA), S. 382. Ebd., S. 381.

Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie  |  465

Sensibilität für die Gefahren der sozialen Normativität zugunsten seines Vertrauens in die unabdingbare empirische Entfaltung des intelligiblen Charakters zurücktritt. Die Charakterologie Schopenhauers lässt, wenn überhaupt, wenig Raum für die in Dichtung und Wahrheit zum Ausdruck gebrachte Vorstellung einer völligen Aufhebung der Persönlichkeit. Die signifikante Aussage Goethes sei in Erinnerung gerufen: Man beraubt uns des mühsam Erworbenen, des freundlich Gestatteten, und ehe wir hierüber recht ins Klare sind finden wir uns genötigt unsere Persönlichkeit erst stückweis und dann völlig aufzugeben.72

7. »Ein Flügelschlag! Und hinter uns Aeonen« – zwischen Hoffnung und Nichts Es folgt allerdings die Hoffnungs-Strophe, die aus zwei Teilen besteht: ΕΛΠΙΣ, HOFFNUNG Doch solcher Grenze, solcher ehrnen Mauer Höchst widerwärtge Pforte wird entriegelt, Sie stehe nur mit alter Felsendauer! Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt. Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt, Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt nach allen Zonen; Ein Flügelschlag! und hinter uns Äonen.73

Diese letzte Stanze des Zyklus ist die am schwierigsten zu enträtselnde. Die erste Frage, mit welcher der Interpret konfrontiert wird, ist die Frage nach dem inneren Zusammenhang dieser Strophe, die sich in zwei Phasen gliedert. Denn worin besteht die Funktion der in den letzten fünf Zeilen dargestellten Hoffnung im Hinblick auf den dreizeiligen ersten Teil? Schlüssig ist wohl, was den ersten Teil betrifft, dass es sich hier um die Überwindung des in der »Ananke«Strophe den Selbstverlust bewirkenden Zwangs des gesellschaft­ lichen und sozialen Miteinanderseins handelt, auch wenn die Aus72 Wie

Anm. 66. Zu eigenen Werken und Projekten. Urworte Orphisch, MA 13.1, S. 505. 73 Goethe:

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sagen spärlich und offen sind, so dass es nur schwer möglich ist, den Sinn dieser Zeilen näher zu konkretisieren. Wenn die »[h]öchst widerwärtge Pforte entriegelt« wird, kann das als die Befreiung und Freisetzung des Individuums aus den selbstentfremdenden sozialen und gesellschaftlichen Zwängen verstanden werden. Ein Zustand der Freiheit ist damit anvisiert worden, und weil die vorangegangene Stanze ganz im Zeichen des ›harten Müssens‹ stand, haben wir in der Entgegensetzung von Freiheit und Zwang wieder eine Polaritätsstruktur. Da es ferner von der »[h]öchst widerwärtge[n] Pforte«, also von dem harten Müssen des sozialen und gesellschaftlichen Miteinanderseins, heißt, »sie stehe nur mit alter Felsendauer«, kommen hier eine zeitliche Bewegung und Entwicklung zum Tragen. Damit scheint es legitim zu sein, die Entgegensetzung der polaren Größen des Zwanges (»Ananke«-Strophe) und der Freiheit (»Elpis«-Strophe, erste Phase) als die Gegenpole einer dialektischen Steigerung aufzufassen, die zuletzt in den erhofften Zusammenklang von Ich und Welt einmünden wird. Damit wäre dann auch das in »Schäkespears Tag« formulierte Grundproblem endgültig gelöst worden. Gegen diese Interpretation erhebt sich aber eine Reihe schwerwiegender Einwände, zu denen der Imperativ »stehe«, die Bedeutung und Funktion der Hoffnung und die generelle Offenheit der Aussagen gehören. Der Imperativ konterkariert hier die Eindeutigkeit einer dialektisch fundierten Steigerung. Diese garantiert durch den dialektischen Prozess von sich ablösenden und aufheben­den Entgegensetzungen selbst die Überwindung der alten Zeit (»alte Felsendauer«) und das Erscheinen einer neuen Zeit, in der der Widerspruch zwischen Ich und Welt in einem harmonischen Zusammenklang aufgehoben ist, und macht damit den Imperativ (»sie stehe«) des lyrischen Ichs überflüssig. Der Imperativ – »Sie stehe nur mit alter Felsendauer!« – ersetzt seinerseits den dialektischen Steigerungsprozess durch einen nunmehr bloß subjektiven Befehl des lyrischen Subjekts. Dieser Befehlscharakter der Aussage des lyrischen Ichs wird ferner durch das Ausrufezeichen unterstrichen. Wenn aber die Garantie einer entfremdungsenthobenen neuen Zeit sich so aus der Objektivität der dialektischen Steigerung in die reine Subjektivität des lyrischen Ichs verlagert, dann heißt das, dass die Freisetzung des Subjekts aus dem ›harten Muss‹ des Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie  |  467

Miteinanderseins und der Einklang von Ich und Welt zu einer bloßen Behauptung des lyrischen Ichs deformieren. Aus diesem Widerspruch der beiden verschiedenen, ja einander ausschließenden Befreiungsutopien lässt sich keine sichere Garantie ableiten, dass eine neue Zeit kommen wird, in welcher der Abgrund zwischen Ich und Welt durch einen harmonischen Zusammenklang überwunden sein wird. Alles verharrt, was die Befreiungsutopie betrifft, letzten Endes in der Schwebe. Fraglich bleibt deshalb, ob die Hoffnung sich überhaupt auf den irdischen Bereich bezieht. Sie kann auf jeden Fall nicht – wie Theo Buck meint – als »eine durchaus irdische Erlösungshoffnung« gelesen werden.74 Wie ist Hoffnung aber dann zu verstehen? Erschwert wird eine plausible Antwort durch die lediglich andeutenden und offenen Aussagen der letzten vier Zeilen der »Hoffnungs«-Strophe, die also keineswegs, wie Theo Buck behauptet, »feste Erwartungen [auslöst], unsere Fähigkeiten ausweiten zu können, bestehende Grenzen zu überschreiten, Mögliches zu verwirklichen«.75 Durch diese offene Aussageform, die sich jeder eindeutigen Festlegung widersetzt, realisiert sich die gleiche Unendlichkeit der reinen Möglichkeit wie in dem Phänomen HoffAnton, der »Urworte. Orphisch« in Interpretationen. Gedichte von Johann Wolfgang Goethe (S. 169–185) ausgelegt hat, ist dem Irrtum erlegen, der dem hermeneutischen Auslegungsverfahren inhärent ist, nämlich den Sinn des zu interpretierenden Textes mit dessen Kontext gleichzusetzen. Das ist methodisch immer fragwürdig, da das Problem umgangen wird, wie die kontextuellen Elemente in der Gesamtstruktur des Textes umfunktionalisiert werden und dadurch einen Sinn bekommen können, der von demjenigen des Kontextes erheblich differiert. Auch wenn die Einbeziehung des relevanten Kontextes in das Interpretationsverfahren für ein angemessenes Verstehen des Textes notwendig ist, bleibt eine eigentliche Textanalyse ebenso notwendig und unerlässlich. Wenn Anton (ebd., S. 171) aus Goethes Aufsatz über Winckelmann zitiert und hier eine ausgesprochene Lebensfreude und Lebensbejahung findet, ist das mitnichten, wie er meint, schon ein Beweis dafür, dass die »Urworte« »von tiefer Seinsbejahung erfüllt« (ebd.) sind. Anton versucht zwar diese These durch zahlreiche entsprechende Aussagen aus dem – allerdings viel zu weit gefassten – Traditionshorizont der »Urworte« und von Goethe selbst zu erhärten, was keineswegs überzeugend ist; erst eine genaue Analyse der Texte selbst hätte diese Behauptung entweder bestätigen oder falsifizieren können. 75 Bernd Witte et. al. (Hg.): Goethe-Handbuch, Bd. 1, S. 362. 74 Herbert

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nung selbst. So wird die Hoffnung als ein »Wesen« dargestellt, das in allen charakteristischen Zügen nicht nur dem ›harten Muss‹ der sozialen und gesellschaftlichen Verpflichtungen, sondern darüber hinaus durch ihre leichten, unbeschwerten und freien (»ungezügelt«) Bewegungen der Schwere des Irdischen entgegengesetzt ist. Sie ist ein »Wesen«, das in jeder Hinsicht ungebunden, offen und nicht fixierbar ist. Von dieser Hoffnung ergriffen, verwandelt sich zudem unsere existenzielle Situation: »Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer / Erhebt sie uns, mit ihr durch sie beflügelt«. Diese Symbolsprache ist so zu verstehen, dass auch wir im Akt des Hoffens von den Zwängen des ›Müssens‹ und der Schwere der uns bedrängenden trüben irdischen Existenz befreit und in die Offenheit der Möglichkeiten versetzt werden, eine Auslegung, die durch die weitere Charakterisierung der Hoffnung als eines »Wesens«, das an nichts Bestimmtes gebunden ist, sondern »durch alle Zonen« schwärmt, bestätigt wird. Diese Offenheit verknüpft zwar Form und Inhalt zu einer befriedigenden ästhetischen Einheit, im Horizont des Lesers wird die Offenheit aber dadurch nur abgründiger, so dass der Sinn der Aussagen sich jeder Konkretisierung und Festlegung entzieht. Erich Trunz hat die »Elpis«-Strophe mit dem Tode in Verbindung gebracht,76 und diese Auffassung lässt sich unschwer mit der grundlegenden Struktur des Gedicht-Zyklus verknüpfen, in dem ja – wie bereits erwähnt – das Menschenleben in den Stadien der Geburt, der Kindheit und des Heranwachsens zum Jüngling, der Liebe, der Heirat und des Erwachsenseins dargestellt wird. Wenn der gesamte Gedicht-Zyklus dann, wie Erich Trunz erwägt, mit dem Tode abgeschlossen wird, mündet das Ganze in Harmonie. Hinzu kommt, dass diese Auffassung anscheinend durch die letzte Zeile dieser Stanze bestätigt wird: »Ein Flügelschlag! Und hinter uns Äonen.« Dass durch einen »Flügelschlag«, also kraft eines ultrakurzen Hoffnungsmoments, »Äonen« oder Ewigkeiten hinter uns liegen, lässt sich – diese Auslegung ist immerhin nicht unwahrscheinlich – als ein Zugleich von der Überwindung des Irdischen schlechthin und von der Realisierung einer ganz anderen jenseitigen Existenz in der Todesstunde verstehen. Im Horizont dieses Gedichtzyklus bleibt die 76 Vgl.

HA 1, S. 722.

Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie  |  469

Kluft von Ich und Welt, von dem inneren ›Muss‹ der durch seinen Daimon oder Entelechie prädestinierten Persönlichkeit und dem ›harten Muss‹ der sozialen und gesellschaftlichen Zwänge, nach wie vor im irdischen Bereich bestehen, aber durch das Phänomen Hoffnung öffnet sich eine neue Perspektive zur Aufhebung der Selbstentfremdung in einem jenseitigen Bereich. Damit wird als Subtext der »Hoffnungs«-Stanze Goethes geheimnisvoller Unsterblichkeitsglaube nun als weiterer Auslegungshorizont sichtbar. Diese unklare Erlösungsutopie Goethes lässt sich kaum mit Schopenhauers Lehre einer die Leidensexistenz überwindenden Verneinung des Willens zum Leben verbinden. Die gänzliche Annihilation des Charakters und die damit einhergehende permanente (oder durch die Kunst als reines Subjekt der Erkenntnis vorübergehende) Aufhebung des principium individuationis, die mit der Willensverneinung den Zustand eines immerwährenden Nicht-Sein zeitigt, scheint von der Erlösungsvision der letzten Stanze weit entfernt. Das uns befreiende Wesen (d. h. die als »ihr« und »sie« gekennzeichnete Hoffnung) ›erhebt‹ uns zwar aus den eisernen Fesseln des begrenzten und begrenzenden Ichs, führt uns aber nicht in den welt- und ichnegierenden Zustand des leeren Nihil, des buddhistischen »Nirwana«, mit dem der erste Band der Welt als Wille und Vorstellung ausklingt. Das durch die Hoffnung entfesselte lyrische ›Wir‹ überwindet zwar mit einem »Flügelschlag« die Zeitlichkeit, nichts aber begründet die Annahme, der erhoffte Zustand käme dem Schopenhauer’schen Nichts der Willensverneinung gleich. In der Forschungsliteratur gehen die Meinungen weit auseinander, wie der Unsterblichkeitsglaube – wenn es sich überhaupt um einen solchen handelt – zu bewerten ist. Er ist Klaudia Hilgers zufolge als integraler Bestandteil der Weltanschauung Goethes völlig ernst zu nehmen.77 Ihre Auslegung verfängt sich aber in einem gewissen Widerspruch, indem sie durch ihre umsichtige Textanalyse ebenfalls relativierende Faktoren bemerkt und ans Licht gefördert hat. Sie stellt fest, dass Goethe den gesamten Gedankenkomplex »meist sehr zurückhaltend und dann oft auch nur mündlich gegenüber Freunden und Vertrauten geäußert« hat.78 Hilgers führt 77 Klaudia 78 Ebd.

Hilgers: Entelechie, Monade und Metamorphose, S. 204.

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ebenfalls an, dass »zuweilen ein feiner ironischer Unterton seine Ausführungen zu diesem Thema begleitet«,79 und betont, dass Goethe uns eine »ausführliche ›theo­retische‹ Auseinandersetzung mit der Unsterblichkeitsproblematik«80 schuldig geblieben ist.81 Die Restitu­tion der durch die Zwänge des sozialen ›Miteinanderseins‹ und der Welt zerstückelten Persönlichkeit in einem ›jenseitigen Leben‹ bleibt Karl Otto Conrady zufolge ein Postulat:82 79 Ebd. 80

Ebd., S. 218. versucht allerdings durch einen Hinweis auf die Sprachskepsis Goethes diese Relativierung des Unsterblichkeitsglaubens zu entschärfen: »Eine Verständigung über diese Dinge sei, so Goethe, überhaupt nur dann möglich, wenn der Gesprächspartner ›die nämliche Anschauung‹ habe wie man selbst. Dabei ist Goethe sich bewusst, dass die Vermittlung dieser sehr persönlichen Anschauung zuweilen auch sehr schwierig sein kann, da dem Medium Sprache durchaus Grenzen gesetzt sind.« (Ebd., S. 204 f.) 82 Mit anderen Argumenten, aber im Ergebnis ähnlich argumentiert Arthur Hübscher: Das fünfte Urwort, S. 133–140: »Der innere Bruch im Gefüge der ›Urworte. Orphisch‹ tritt zutage: Die fünfte Stanze ist ein Anhängsel, leichthin angefügt.« (Ebd., S. 139.) Hervorzuheben sei erneut Karl Viëtors Goethes Anschauung vom Menschen, in dem sich eine Kurzinterpretation der »Urworte« findet, die ebenfalls bei den Widersprüchen dieser Stanzen stehen bleibt: »Die angeborene Kraft und Eigenheit wird im Kommentar zu den ›Urworten‹ auch ›der alte Adam‹ genannt, der nur unbezwinglicher zurückkehrt, so oft man glaubt, ihn ausgetrieben zu haben. In der folgenden Stanze ist die Rede von den Mächten, die von der ersten Stunde an das Individuum bedrängen, den Heranwachsenden in wechselnder Gestalt verführen, vom seinem Wege ablenken, mit Gunst und Ungunst sich bemerkbar machend, bald als zufällige Fügung und bald als Anspruch der Gesellschaft auftretend. Und wenn dann innerer Drang und gefällige Gelegenheit Eros herbeiführen: mit dem neuen Glück stellt sofort auch neue Bindung sich ein. Mag es so aussehen, als wenn nach freiem Entschluß die persönliche Willkür zum Opfer gebracht wird, aus dem willig Gegebenen wird im Nu eine ›Pflicht, welche tausend Pflichten entwickelt‹ […]. Es wiederholt sich, was bei der Geburt die Sterne verkündeten: den zur Lebensreife Herangewachsenen determiniert von außen neue Bedingung, von innen ein nur strengeres Gesetz. […] Die Unabhängigkeit enthüllt sich nun erst recht als Schein. Denn zu wollen, wozu man genötigt wird, sei es auch durch das eigene Gewissen, kann das Freiheit heißen? Einem im Netz zappelnden Fisch gleicht ein derart gebundenes Wesen am ehesten.« (Ebd., S. 46 f.) Auch Klaudia Hilgers hat in ihrer abschließenden Bemerkung zu dem Gedichtzyklus den Widerspruch zwischen der Individualitätsauffassung Goethes und »Urworte. Orphisch« gesehen. Sie schreibt: »Daß das ideale Gleichgewicht von Monade und Welt sowohl durch innere als auch äußere 81 Hilgers

Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie  |  471

Die letzte Zeile ›Ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen!‹ öffnete die Perspektive des Lebens zur Unsterblichkeit hin. Auf dem Glauben an sie beharrte der alte Goethe inständig; er postulierte ihn, auch wenn er keine wirklichen Beweise dafür vorbringen konnte und auf die christlichen Verheißungen verzichtete. Er wollte nicht hinnehmen, daß in der ewig lebenden und wirkenden Natur der Mensch in die Grenzen seiner irdischen Existenz gesperrt bleibe. […] Geradezu trotzig und um von der Tatsache der physischen Vergänglichkeit nicht erdrückt zu werden, postulierte er geistige Fortdauer.83

Inwiefern die Unsterblichkeit und die ewige Fortdauer der individuellen Existenz für Goethe eine nicht weiter hinterfragbare Glaubensrealität waren, lässt sich kaum eindeutig entscheiden, ist aber auch in diesem Zusammenhang von geringer Bedeutung. Denn auch als absolute Glaubenswahrheit Goethes entginge der Unsterblichkeitsgedanke nicht dem Charakter eines subjektiven Postulats, das nur für einen kleinen Kreis Gleichgesinnter verbindlich wäre.84 Dagegen zeigt das Aufscheinen einer Utopie in der letzten Strophe der »Urworte. Orphisch« in aller Deutlichkeit, dass die Aporie zwischen authentischem ›Selbst-Sein‹ und ›In-der-Welt-Sein‹ im irdischen Bereich bestehen bleibt.

Einflüsse gestört werden kann, zeigt Goethe in seinem Gedichtzyklus ›Urworte. Orphisch‹.« (Klaudia Hilgers: Entelechie, Monade und Metamorphose, S. 201.) Hilgers verfängt sich dabei allerdings in eine unauflösliche Aporie, indem sie gleichzeitig daran festhält, dass »Entelechische Wirkkraft« auch in diesen Gedichten mit »entelechische[r] Vervollkommnung« identisch seien (ebd., S. 200). 83 Karl Otto Conrady: Goethe, S. 916. 84 Man kann mit Sicherheit zwar feststellen, dass es den Unsterblichkeitsgedanken im 18. Jahrhundert unter anderem bei Lessing, Mendelssohn, Herder und J. J. Spalding gab, dass Goethe also in einer weit verbreiteten Tradition steht und dass der Gedanke sich schon in der Rede »Zum Schäkespears Tag« findet und in Briefen und Gesprächen immer wieder erneut auftaucht; dass die Ironie aber, mit der er die Fortdauer der menschlichen Existenz in einem nichtchristlichen ›Jenseits‹ darstellt, alles in einem unentschiedenen Schwebezustand belässt. Vgl. hierzu Karl Eibl: Das monumentale Ich, S. 56–63, sowie die übersichtliche Darstellung bei Klaudia Hilgers: Entelechie, Monade und Metamorphose, S. 178–196. 472  |  Søren R. Fauth, Børge Kristiansen 

Bibliographie Anton, Herbert: Urworte. Orphisch. In: Bernd Witte (Hg.): Interpretationen. Gedichte von Johann Wolfgang Goethe. Stuttgart 1998, S. 169–185. Buck, Theo: Urworte. Orphisch. In: Bernd Witte et. al. (Hg.): Goethe-Handbuch. Stuttgart 1996, Bd. 1, S. 354–364. Conrady, Karl Otto: Goethe. Leben und Werk. Düsseldorf/Zürich 21999. Dietze, Walter: Urworte, nicht sonderlich orphisch. In: Goethe-Jahrbuch 94 (1977), S. 11–37. Eibl, Karl: Das monumentale Ich. Wege zu Goethes Faust. Frankfurt a. M./ Leipzig 2000. Fauth, Søren R.: Der metaphysische Realist. Zur Schopenhauer-Rezeption in Wilhelm Raabes Spätwerk. Göttingen 2007. Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt a. M. 2005. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 182001. Hübscher, Arthur: Das fünfte Urwort. In: Volker Dürr / Géza v. Molnár (Hg.): Versuche zu Goethe. Festschrift für Erich Heller zum 65. Geburtstag. Heidelberg 1976, S. 133–140. Hilgers, Klaudia: Entelechie, Monade und Metamorphose. Formen der Vervollkommnung im Werk Goethes. München 2002. Kristiansen, Børge: Zum Verhältnis von Selbstsein und Miteinandersein in Goethes Urworte. Orphisch. In: Goethe Yearbook 15 (2008), S. 131–159. Lütkehaus, Ludger (Hg.): Die Schopenhauers. Der Familien-Briefwechsel von Adele, Arthur, Heinrich Floris und Johanna Schopenhauer. München 1998. [= FB] Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Lite­ ratur, Philosophie und Politik 1750–1945. Bd. I: Von der Aufklärung bis zum Idealismus. Darmstadt 1985. Viëtor, Karl: Goethes Anschauung vom Menschen. Bern/München 1960. Vosskamp, Wilhelm: »Mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden […]«. Zur Tradition und Aktualität von Goethes Bildungskonzept. In: Klaus Manger (Hg.): Goethe und die Weltkultur. Heidelberg 2003, S. 227–238. Witte, Bernd et. al. (Hg.): Goethe-Handbuch, 6 Bde. Stuttgart 1996.

Goethes »Urworte. Orphisch« und Schopenhauers Charakterologie  |  473

Zitierweise der Werke Schopenhauers und Goethes 1. Die Werke Arthur Schopenhauers werden nach folgenden Ausgaben zitiert: a)  Sämtliche Werke, 7 Bde. Hg. von Arthur Hübscher. Mannheim 41988. Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, zweite Auflage 1847 (Bd. I: Schriften zur Erkenntnislehre) F Ueber das Sehn und die Farben (Bd. I: Schriften zur Erkenntnislehre) W I Die Welt als Wille und Vorstellung I (Bd. II) W II Die Welt als Wille und Vorstellung II (Bd. III) N Ueber den Willen in der Natur (Bd. IV [I]) E Die beiden Grundprobleme der Ethik: »Ueber die Freiheit des menschlichen Willens«, »Ueber das Fundament der Moral« (Bd. IV [II]) P I Parerga und Paralipomena I (Bd. V) P II Parerga und Paralipomena II (Bd. VI) Diss Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, Dissertation 1813 (Bd. VII) G

Werden diese Werke nach anderen Ausgaben zitiert, so ist nach der Sigle folgende Kennzeichnung angegeben: Lö Lü ZA

De

Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Stuttgart/Frankfurt a. M. 1960–1965. Werke in fünf Bänden. Hg. von Ludger Lütkehaus. Zürich 1988. Werke in zehn Bänden (Zürcher Ausgabe). Text nach der dritten Auflage der Ausgabe von Arthur Hübscher. Hg. von Angelika Hübscher. Zürich 1977. Sämtliche Werke. Hg. von Paul Deussen. München 1911–1942.

  |  475

b) Der Handschriftliche Nachlaß, 5 in 6 Bden. Hg. von Arthur Hübscher. Frankfurt a. M. 1966–1975. Taschenbuchausgabe (band- u. seitengleich) München 1985. HN I HN II HN III HN IV (1) HN IV (2) HN V

Die frühen Manuskripte 1804–1818 (Bd. I) Kritische Auseinandersetzungen 1809–1818 (Bd. II) Berliner Manuskripte 1818–1830 (Bd. III) Die Manuskripte der Jahre 1830–1852 (Bd. IV.1) Letzte Manuskripte/Graciáns Handorakel (Bd. IV.2) Arthur Schopenhauers Randschriften zu Büchern (Bd. V)

c) Philosophische Vorlesungen, 4 Bde. Hg. von Volker Spierling. München 1984–1986. VN I

VN II VN III VN IV

Theo­rie des gesammten Vorstellens, Denkens und Erkennens. Vorlesung über die gesammte Philosophie, 1. Theil (Bd. I) Metaphysik der Natur. Vorlesung über die gesammte Philosophie, 2. Theil (Bd. II) Metaphysik des Schönen. Vorlesung über die gesammte Philosophie, 3. Theil (Bd. III) Metaphysik der Sitten. Vorlesung über die gesammte Philosophie, 4. Theil (Bd. IV)

Werden Schopenhauers Vorlesungen nach der Ausgabe von Paul Deussen (Bd. IX und X) zitiert, so steht nach der Sigle die Kennzeichnung (De). d)  Weitere Schriften Arthur Schopenhauers: W 1 Die Welt als Wille und Vorstellung. Faksimiledruck der ersten Auflage 1818 (1819). Hg. von Rudolf Malter. Frankfurt a. M. 1987. GBr Gesammelte Briefe. Hg. von Arthur Hübscher. Bonn 21987. Gespr Gespräche. Hg. von Arthur Hübscher. Stuttgart 21971. BmG  Der Briefwechsel mit Goethe und andere Dokumente zur Farbenlehre. Hg. von Ludger Lütkehaus. Zürich 1992. Werden die Werke Schopenhauers nach anderen Ausgaben zitiert, so sind diese in den Bibliographien der einzelnen Beiträge aufgeführt. 476  |  Zitierweise 

2. Die Werke Johann Wolfgang von Goethes werden nach folgenden Ausgaben zitiert: FA

HA LA

MA

WA

Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 in 45 Bden. Hg. von Hendrik Birus et al. Frankfurt a. M. 1985 ff. (Frankfurter Ausgabe) Goethes Werke, 14 Bde. Hg. von Erich Trunz. München 1982 ff. (Hamburger Ausgabe) Die Schriften zur Naturwissenschaft, 29 Bde. Vollständige mit Erläuterungen versehene Ausgabe im Auftrage der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Begründet von Lothar Wolf / Wilhelm Troll. Hg. von Dorothea Kuhn / Wolf von Engelhardt / Irmgard Müller. Weimar 1947 ff. (Leopoldina-Ausgabe) Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, 21 in 33 Bden. Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert / Norbert Miller / Gerhard Sauder/Edith Zehm. München 1985 ff. (Münchner Ausgabe) Goethes Werke, 143 Bde. Hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1919. Nachdruck München 1987. Bd. 144–146: Nachträge und Register zur IV. Abt.: Briefe, 3 Bde. Hg. von Paul Raabe. München 1990. (Weimarer Ausgabe)

Werden die Werke Goethes nach anderen Ausgaben zitiert, so sind diese in den Bibliographien der einzelnen Beiträge aufgeführt.



Zitierweise  |  477

Auswahlbibliographie Eine weitgehend zuverlässige Bibliographie zum Thema ›Schopenhauer und Goethe‹ bis 1959 bietet auch heute noch Hans Stäglich: Johann Wolfgang von Goethe und Arthur Schopenhauer. Eine chronologisch geordnete Bibliographie einschlägiger Literatur. Bonn 31960. Anton, Herbert: Schopenhauer und die Dichtung der Goethezeit. In: Schopenhauer-Jahrbuch 65 (1984), S. 130–135. Asher, David: Arthur Schopenhauer als Interpret des Göthe’schen Faust. Ein Erläuterungsversuch des ersten Theils dieser Tragödie. Leipzig 1859. Barbera, Sandro: Guarigioni, rinascite e metamorfosi. Studi su Goethe, Schopenhauer e Nietzsche. Hg. von Stefano Busellato. Firenze 2010. (= Giornale critico della filosofia italiana. Quaderni, Bd. 18) Barthel, Ernst: Das Verhältnis der Schopenhauerschen zur Goetheschen Farbenlehre. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 33 (1920), S. 60–66. Bevilacqua, Giuseppe: Schopenhauer lettore del »Faust«. In: Giuseppe Bevilacqua: Introduzione al secondo Faust e altri interventi goethiani. Bari 2003, S. 97–110. Blumenberg, Hans: »Ein Geschlecht das mir gleich sey«. In: ders.: Goethe zum Beispiel. Berlin 2014 [1999], S. 112–138. Brown, William Robert: Schopenhauer and Faust II. In: Postscript. Publication of the Philological Association of the Carolinas 14 (1997), S. 15–27. Budich, J.: Der Baccalaureus im zweiten Teil des Faust. In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 2 (1913), S. 9–18. Campioni, Giuliano / Pica Ciamarra, Leonardo / Segala, Marco (Hg.): Goethe, Schopenhauer, Nietzsche: saggi in memoria di Sandro Barbera. Pisa 2011. (= Nietzscheana, Bd. 15) Cartwright, David E.: Historical Dictionary of Schopenhauer’s Philosophy. Lanham/Toronto/Oxford 2005, S. 65–69. – : Schopenhauer. A Biography. Cambridge/New York 2010, Kap. 6. Crone, Robert A.: Schopenhauer on vision and the colors. In: Documenta Ophthalmologica 93:1–2 (1997), S. 61–71. – : A History of Color. The Evolu­tion of Theo­ries of Lights and Color. Dordrecht 1999, Kap. 7. Cysarz, Herbert: Goethe und Schopenhauer. In: Jahrbuch der SchopenhauerGesellschaft 29 (1942), S. 3–27. (Wieder abgedruckt in: ders.: Welträtsel im Wort. Studien zur europäischen Dichtung und Philosophie. New York/ London 1970 [1948], S. 168–183.) d’Alfonso, Matteo V.: Schopenhauer e Goethe: il battesimo di un inattuale. 478  |   

In: Giuliano Campioni / Leonardo Pica Ciamarra / Marco Segala (Hg.): Goethe, Schopenhauer, Nietzsche: saggi in memoria di Sandro Barbera. Pisa 2011, S. 143–156. Dirrigl, Michael: Goethe und Schopenhauer. Mit zwei Exkursen: Giacomo Leopardi – August Graf von Platen-Hallermünde. Ein Vademecum für Wahlverwandte. Regensburg 2000. Döll, Heinrich: Goethe und Schopenhauer. Ein Beitrag zur Entwicklungs­ geschichte der Schopenhauerschen Philosophie. Berlin 1904. Ehrlich, Josef: Goethes Stammbucheintrag. In: Schopenhauer-Jahrbuch 44 (1963), S. 214–216. Eimer, Gerhard: Thorvaldsen, Schopenhauer und der »Zeitunglesende Goethe«. In: Patricia Stahl (Hg.): »Franckfurt bleibt das Nest«. Johann Wolfgang Goethe und seine Vaterstadt. Frankfurt a. M. 1999, S. 250–254. Élie, Maurice: Sur la Lumière et les Couleurs. In: Schopenhauer-Jahrbuch 53 (1972), S. 114–123. – : »Objectif-Subjectif«. Doctrine et théorie des couleurs de Goethe et de Schopenhauer. In: Jean-Marie Valentin (Hg.): Johann Wolfgang Goethe: l’un, l’autre et le tout. Paris 2000, S. 441–458. Emch, Arnold: Goethe and Schopenhauer on mathematics. In: The Open Court 28 (1914), S. 521–528. Fauconnet, André: Goethes Einfluß auf Anatole France im Lichte der Philosophie Schopenhauers. In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 14 (1927), S. 42–51. Fauth, Søren R.: Transzendenter Fatalismus: Wilhelm Raabes Erzählung »Zum wilden Mann« im Horizont Schopenhauers und Goethes. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 4 (2004), S. 609–645. Fertig, Ludwig: Arthurs Trauerarbeit. Der Rückblick eines schwierigen Schülers. In: ders.: Sieben Tage mit Goethe. Oder wie begegnet man einem Genie. Frankfurt a. M./Wien/Zürich 2006, S. 90–103. Franellich, Carlo: Caratteri e vicende. Goethe e Schopenhauer. Foligno 1926. Friedlaender, Salomo: Warum verwarf der Farbenlehrer Goethe die Farbenlehre des Goetheaners Schopenhauer?. In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 19 (1932), S. 287–290. (Wieder abgedruckt in: ders.: Philo­sophische Abhandlungen und Kritiken II. Hg. von Hartmut Geerken / Detlef Thiel. Norderstedt 2006, S. 852–856. [= Gesammelte Schriften, Bd. 3]) Fröschle, Hartmut: Goethes Verhältnis zur Romantik. Würzburg 2002, bes. S. 102–105. Goebel, Eckart: Jenseits des Unbehagens. »Sublimierung« von Goethe bis Lacan. Bielefeld 2009, Kap. 2. Auswahlbibliographie  |  479

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Kremer-Marietti, Angèle: Schopenhauer, Goethe et la théorie des couleurs. In: Revue Internationale de Philosophie 63:3 (2009), S. 279–294. Larangé, Daniel S.: Le génie créateur dans l’idéalisme allemand de l’»Auf­ klärung« au »Sturm und Drang« (Kant, Goethe, Hegel, Schopenhauer). In: Nathalie Kremer (Hg.): Le génie créateur à l’aube de la modernité (1750–1850). Lille 2011, S. 73–98. (= Revue des Sciences Humaines, Bd. 303) Lauxtermann, Paul F. H.: Hegel and Schopenhauer as Partisans of Goethe’s Theory of Color. In: Journal of the History of Ideas 51:4 (1990), S. 599–624. – : Schopenhauer’s Broken World-view. Colours and Ethics between Kant and Goethe. Dordrecht/Boston 2000. Lerch, Eugen: Goethe und Schopenhauer. In: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 438, 28. August 1918, S. 2. Löhneysen, Wolfgang von: Arthur Schopenhauers Kommentar zu Goethes »Faust«. In: Schopenhauer-Jahrbuch 80 (1999), S. 13–62. – : Im Blickfeld: Goethe und Schopenhauer. Abhandlungen zu Literatur und Kunst. St. Augustin 2001. Lütkehaus, Ludger: Wer/Wen das Licht sieht … Die Taten und Leiden der Farbenlehrer. In: Arthur Schopenhauer: Der Briefwechsel mit Goethe und andere Dokumente zur Farbenlehre. Hg. von Ludger Lütkehaus. Zürich 1992, S. 79–104. Ostwald, Wilhelm: Goethe, Schopenhauer und die Farbenlehre. Leipzig 2 1931 [1917]. Pfalz, Franz: Goethe und Schopenhauer. In: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst 47 [4. Vierteljahr] (1888), S. 114–129, 172–181. Pfeiffer, Konrad: Zum höchsten Dasein. Goethes Faust im Lichte der Schopenhauerschen Philosophie. Berlin 31949. Rauschenberger, Walther: Goethes Eintrag in Schopenhauers Album. In: Goethe. Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft 7 (1942), S. 205–209. Rehbock, Theda: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹. Philosophische Kritik des naturwissenschaftlichen Weltbilds am Beispiel der Farbenlehre. Konstanz 1995, S. 270–274. – : Art. »Johann Wolfgang von Goethe«. In: Daniel Schubbe / Matthias Koßler (Hg.): Schopenhauer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2014, S. 226–230. Riedinger, Franz: Über die Auslegung einer vermeintlich sich auf Schopenhauer beziehenden Stelle in Eckermanns Gesprächen mit Goethe. In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 2 (1913), S. 182–188. Rintelen, Fritz-Joachim von: Goethes Welt- und Menschenverständnis mit Hinblick auf Schopenhauer. In: Schopenhauer-Jahrbuch 47 (1966), S. 14–28. Ronchi, Vasco: Schopenhauer con Goethe e contro Goethe in tema di coAuswahlbibliographie  |  481

lore. In: Physis. Rivista Internazionale di Storia della Scienza 1 (1959), S. 279–293. (Engl. Übersetzung: Schopenhauer with Goethe and against Goethe on the subject of colour. Übers. von Paul Mosberg. In: Atti della Fondazione Giorgio Ronchi 19 (1964), S. 491–503.) Safranski, Rüdiger: Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie. Eine Biographie. München 1987, Kap. 13. – : Du bist mein lieber Sohn…? Schopenhauer und Goethe – November 1813. In: Neue Rundschau 110:1 (1999), S. 77–83. – : Goethe. Kunstwerk des Lebens. Biographie. München 2013, Kap. 27. Saitschick, Robert: Genie und Charakter: Shakespeare, Lessing, Goethe, Schiller, Schopenhauer, Wagner. Darmstadt 1926. Sauerländer, Ernst: Goethe’s Faust und die Schopenhauer’sche Philosophie. Eine kritisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt a. M. 1865. Scheu, Wolfdietrich: Der Baccalaureus im zweiten Teile des Goethe’schen »Faust«. Leipzig [Diss.] 1931. Schneider, Walther: Schopenhauer. Eine Biographie. Hanau 1987, S. 155– 164. Schnelling, Thomas: »Fänd’ ich nur immer das gleiche Blut«. Newton – Goethe – Schopenhauer; ein notwendig mißlungener Dialog. In: Herwart Kemper (Hg.): Schule – Bildung – Wissenschaft. Dia-Logik in der Vielfalt. Rudolstadt 1999, S. 95–120. Schopenhauer, Arthur: Der Briefwechsel mit Goethe und andere Dokumente zur Farbenlehre. Hg. von Ludger Lütkehaus. Zürich 1992. Schumann, Detlev W.: Goethe und die Familie Schopenhauer. In: HansJoachim Mähl / Eberhard Mannack (Hg.): Studien zur Goethezeit. Erich Trunz zum 75. Geburtstag. Heidelberg 1981, S. 257–280. Schütz, Harald: Schopenhauer citirt Göthen. In: Gerhard Nöthlich et al. (Hg.): Goethe-Gesellschaft. Ortsvereinigung Hamburg der Goethe-Gesellschaft in Weimar, gegründet 1924. Festgabe zum 70-jährigen Bestehen: Mai 1924–1994. Hamburg 1994, S. 36–51. Segala, Marco: Natura, filosofia e scienza: Goethe, Schopenhauer, Schelling. In: Jürgen Barkhoff / Gian Franco Frigo (Hg.): Arte, scienza e natura in Goethe. Torino 2005, S. 401–416. (= Biblioteca di Filosofia. Atti e quaderni, Bd. 4) – : Goethe, Schopenhauer e l’ottica sperimentale. In: Rivista di Filosofia 96:2 (2005), S. 217–232. Siegler, Hans Georg: Schopenhauer und Goethe. Annäherung und Trennung. In: Westpreußen-Jahrbuch 30 (1980), S. 133–138. Sieveking, Heinrich: Goethe und Schopenhauer. In: Goethe-Jahrbuch 16 (1895), S. 209–213. Soetemann, Christel: Goethes Beziehungen zu Danziger Persönlichkeiten. 482  |  Auswahlbibliographie 

In: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Kulturgeschichte und Landeskunde 19:3–4 (1986), S. 160–184. Stäglich, Hans: Johann Wolfgang von Goethe und Arthur Schopenhauer. Eine chronologisch geordnete Bibliographie einschlägiger Literatur. Bonn 31960. Stollberg, Jochen: Arthur Schopenhauers lebenslanger Versuch, Goethes Farbenlehre zu vollenden. In: Giuliano Campioni / Leonardo Pica Ciamarra / Marco Segala (Hg.): Goethe, Schopenhauer, Nietzsche: saggi in memoria di Sandro Barbera. Pisa 2011, S. 649–666. Tzvetanov, Tzvetan: Die Mann-Frau-Problematik in Goethes »Faust« aus der Betrachtungsperspektive der Philosophie Arthur Schopenhauers. In: Pavel Petkov (Hg.): Mythos – Geschlechterbeziehungen – Literatur. Sofia 2000, S. 225–254. Volkmann, Ernst: Variante oder Druckfehler? Zu Goethes Eintragung in Schopenhauers Stammbuch. In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 18 (1931), S. 353–354. Wagner, Karl: Goethes Farbenlehre und Schopenhauers Farbentheo­rie. In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 22 (1935), S. 92–176. Wessely, Karl: Goethes und Schopenhauers Stellung in der Geschichte der Lehre von den Gesichtsempfindungen. Rektoratsrede anlässlich der 340. Stiftungsfeier der Universität Würzburg. Berlin 1922. Wittkowski, Wolfgang: Goethe, Schopenhauer und Fausts Schlußvision. In: Goethe Yearbook. Publication of the Goethe Society of North America 5 (1990), S. 233–268. – : Goethe and Schopenhauer. A phenomenology of the final vision in »Faust II«. In: Analecta Husserliana. The Yearbook of Phenomenological Research 37 (1991), S. 383–408. – : Über deutsche Dichtungen. Bd. 2: Goethe. Homo homini lupus, homo homini deus. Frankfurt a. M. et al. 2004, Kap. »Schopenhauer und Fausts Ende«. Wolffheim, Elsbeth: Des Lehrers Bürden. Zur Kontroverse zwischen Goethe und Schopenhauer. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Johann Wolfgang von Goethe. Edition text+kritik. München 1982, S. 267–287. Zimmer, Robert: Arthur Schopenhauer. Ein philosophischer Weltbürger. München 2010, bes. S. 97–102. Zint, Hans: Zum Briefwechsel zwischen Schopenhauer und Goethe. In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 8 (1919), S. 184–200. – : Schopenhauers Goethe-Bild. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 19 (1932), S. 3–31. – : Schopenhauer und Goethe. In: ders.: Schopenhauer als Erlebnis. München 1954, S. 126–181.

Auswahlbibliographie  |  483

Zu den Autorinnen und Autoren Dümig, Sascha, M. A.: Dozent am Fachbereich Gesundheit und Soziales der Hochschule Fresenius Frankfurt a. M., Promotionsstudent an der Goethe-Universität Frankfurt a. M.; Arbeitsschwerpunkte: Psycholinguistik, insbesondere die Erforschung des frühen Spracherwerbs unter einer kognitionswissenschaftlichen Perspektive; ausgewählte Publi­kationen: (zus. mit Andreas Frank): »The syllable and schwa in first language acquisition: Normal and impaired development«. In: Frankfurter Linguistische Forschungen, Sondernummer 11 (2008), S. 65–90; »Die Silbe und der Erwerb der Morphosyntax«. In: Sprache-Stimme-Gehör 33:2 (2009), S. 100–101; (zus. mit Helen Leuninger): Phonologie der Laut- und Gebärdensprache: Linguistische Grundlagen, Erwerb, sprachtherapeutische Perspektiven. Idstein 2013. Fauth, Søren R., Prof. Dr.: seit 2010 Inhaber einer Sonderprofessur für Neuere deutsche Literatur und Kultur an der Universität Aarhus; Arbeitsschwerpunkte: Beziehungen zwischen Literatur und Philosophie, der deutsch-skandinavische Kulturaustausch des 19. und 20. Jahrhunderts, zahlreiche Übersetzungen und Publi­kationen u. a. über Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Franz Kafka, Wilhelm Raabe, Thomas Mann, Botho Strauß, Hugo v. Hofmannsthal und W. G. Sebald; ausgewählte Publi­ kationen: Der metaphysische Realist. Zur Schopenhauer-Rezeption in Wilhelm Raabes Spätwerk. Göttingen 2007; Schopenhauers filosofi. København 2010; (Hg. zus. mit Kasper Green Krejberg und Jan Süselbeck): Repräsentationen des Krieges. Emotionalisierungsstrategien in der Literatur und in den audiovisuellen Medien vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Göttingen 2012. Ingenkamp, Heinz Gerd, Prof. (i. R.) Dr.: Professor für Klassische Philologie an der Universität Bonn; Arbeitsschwerpunkte: Gräzistik: 1. philosophische Literatur, 2. Nachwirkung der Antike; ausgewählte Publi­kationen: Plutarchs Schriften über die Heilung der Seele. Göttingen 1971 (= Hypomnemata, Bd. 34); (Hg.): Schillers Werke, Bd. 15.1: Übersetzungen aus dem Griechischen und Lateinischen. Nationalausgabe. Weimar 1993; (Übersetzung und Kommentar zus. mit Karl-Hans Brungs): Giacomo Leopardi: Vermischte Gedichte (Poesie Varie). Würzburg 2013. Kisner, Manja, Dr.: Lehrbeauftragte an der LMU München; Arbeitsschwerpunkte: Klassische Deutsche Philosophie (insbesondere Kant, Fichte Schelling), Schopenhauer, Hannah Arendt; Publi­kationen: »Arendt’s and 484  |   

Adorno’s philosophy of difference as a case against normative theo­ries«. In: Astrolabio. Revista internacional de flosofia 15 (2013), S. 149–158; Der Wille und das Ding an sich. Schopenhauers Willensmetaphysik in ihrem Bezug zu Kants kritischer Philosophie und dem nachkantischen Idealismus. Würzburg (erscheint 2016); »Schopenhauer und die kantische Ding-an-sich-Problematik. Schopenhauers Antwort auf die frühe Kant-Rezeption bei Jacobi, Schulze und den deutschen Idealisten«. In: Violetta L. Waibel / Margit Ruffing (Hg.): Akten des 12.  Internationalen Kant-Kongresses ›Natur und Freiheit‹ in Wien vom 21.–25. September 2015. Berlin (voraussichtlich 2018). Kristiansen, Børge, Prof. (em.) Dr.: Professor emeritus für Neuere deutsche Literatur an der Universität Kopenhagen; Arbeitsschwerpunkte: Thomas Mann, literarische Anthropologie, Wechselbeziehungen zwischen Lite­ ratur, Philosophie und Theologie, zahlreiche Aufsätze zur deutschen und dänischen Literatur, Buchpublikationen zu Thomas Mann, Henrik Pontoppidan und Julian Green; ausgewählte Publi­kationen: ›At blive sig selv‹ og ›At være sig selv‹. En undersøgelse af identitetsfilosofien i Henrik Pontoppidan roman Lykke-Per i lyset af Luthers teologi, Schopenhauers og Nietzsches filosofi. København 2007; Thomas Mann – Der ironische Metaphysiker. Nihilismus – Ironie – Anthropologie in Thomas Manns Erzählungen und im Zauberberg. Würzburg 2013; Der ohnmächtige Mensch. Erbsünde und Egoismus in Julien Greens Tagebüchern und Romanen. Würzburg (erscheint 2016). Lange, Steffen W., M. A.: Doktorand am Fachgebiet Philosophie der TU Kaiserslautern; Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftstheo­rie und -geschichte, Erkenntnistheo­rie, Naturphilosophie; Publi­kationen: »Die Differenz zwischen Biologie und Existenz. Leid bei Schopenhauer und Jaspers«. In: Giovanni Maio / Claudia Bozzaro / Tobias Eichinger (Hg.): Leid und Schmerz. Konzeptionelle Annäherungen und medizinethische Implikationen. Freiburg/München 2015, S. 112–129; »Schelling und Oken: ›Organismus‹ als Metapher und Begriff«. In: Wolfgang Neuser / Steffen Lange (Hg.): Natur zwischen Logik und Geschichte. Beiträge zu Hegels Naturphilosophie. Würzburg 2016, S. 219–231. Lemanski, Jens, Dr.: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrgebiet für theo­retische Philosophie der FernUniversität in Hagen; Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftstheo­rie und -geschichte, Logik, Metaphysik; ausgewählte Publi­kationen: Summa und System. Historie und Systematik vollendeter bottom-up und top-down-Theo­rien. Münster 2013; (zus. mit Daniel Zu den Autorinnen und Autoren  |  485

Schubbe): Art. »Konzeptionelle Probleme und Interpretationsansätze der Welt als Wille und Vorstellung«. In: Daniel Schubbe / Matthias Koßler (Hg.): Schopenhauer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2014, S. 36–44; »Galilei, Torricelli, Stahl – Zur Wissenschaftsgeschichte der Physik in der B-Vorrede zu Kants Kritik der reinen Vernunft«. In: Kant-Studien 107:3 (2016), S. 1–34. Neymeyr, Barbara, Prof. Dr.: Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt; Arbeitsschwerpunkte: Literatur- und Kulturgeschichte vom 18. bis 20. Jahrhundert, Literatur der Klassischen Moderne, Philosophie, Ästhetik und Literaturtheo­rie; ausgewählte Publi­kationen: Ästhetische Autonomie als Abnormität. Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik. Berlin/ New York 1996; Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman »Der Mann ohne Eigenschaften«. Heidelberg 2005; Intertextuelle Transformationen. Goethes »Werther«, Büchners »Lenz« und Hauptmanns »Apostel« als produktives Spannungsfeld. Heidelberg 2012. Regehly, Thomas, Dr., Dipl.-Soz.: Archivar der Schopenhauer-Gesellschaft, Leiter des DENKRAUMS in Frankfurt a. M., Vorsitzender des Internationalen Jacob Böhme-Instituts e. V. (Görlitz); Arbeitsschwerpunkte: Aristoteles, Schopenhauer, Heidegger und Walter Benjamin sowie Fragen der philosophischen und literarischen Hermeneutik; ausgewählte Publi­ kationen: Hermeneutische Reflexionen über den Gegenstand des Verstehens. Hildesheim et al. 1992; (Hg. zus. mit Lorenz Jäger): »Was nie geschrieben wurde, lesen«. Frankfurter Benjamin-Vorträge. Bielefeld 1992; (Hg. zus. mit Günther Bonheim): Mystik und Totalitarismus. Berlin 2013. Rehbock, Theda, Prof. Dr.: außerplanmäßige Professorin für Philosophie an der TU Dresden; Arbeitsschwerpunkte: Philosophische (anthropo­ logische, phänomenologische, sprachanalytische) Grundfragen und Grundbegriffe der Ethik/Moralphilosophie (Person, Autonomie, Würde); ausgewählte Publi­kationen: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹. Philosophische Kritik des naturwissenschaftlichen Weltbilds am Beispiel der Farbenlehre. Konstanz 1995;  Personsein in Grenzsituationen. Zur Kritik der Ethik medizinischen  Handelns. Paderborn 2005; »Wie kann ich wissen, was du willst? Zur Bedeutung des Zusammenhangs zwischen Sprache und Leiblichkeit für die Ethik«. In: Lars Leeten (Hg.): Moralische Verständigung. Formen einer ethischen Praxis. Freiburg/München 2013, S. 171–208.

486  |  Zu den Autorinnen und Autoren 

Roth, Alexander, M. A.: Dozent für Deutsch als Fremdsprache und freier Autor; Arbeitsschwerpunkte: Philosophie, Philologie und Kulturtheo­ rie; ausgewählte Publi­kationen: »Die Funktionslogik der Kulturindustrie«. In: Kultur+Kritik. Zeitschrift für das Politische in der Kultur 3 (2009), S. 3–8; »Vilém Flusser und Südtirol: Kulturphilosophie zwischen Berg und Tal«. In: Zibaldone. Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart 49 (2010), S. 91–101; »Neues vom Ende der Kunst? Zur Aktualität des Verhältnisses von Philosophie und Kunst anhand von Paul Ryans ›Threeing‹ auf der ­D OCUMENTA (13)«. In: Critica. Zeitschrift für Philosophie und Kunsttheo­ rie I (2013), S. 63–69. Schanze, Helmut, Prof. (em.) Dr.: Professor emeritus für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Universität Siegen; Arbeitsschwerpunkte: Romantik, Goethe, Drama/Theater, Rhetorik, Literaturgeschichte vom 18. bis 20. Jahrhundert, Medientheo­rie und -geschichte; ausgewählte Publi­ kationen: Romantik und Aufklärung. Untersuchungen zu Friedrich Schlegel und Novalis. Frankfurt 1965/1973; (Hg.): Romantik-Handbuch. Stuttgart 1994/2003; Goethe-Musik. München 2009. Scheer, Brigitte, Prof. Dr.: pensionierte Professorin für Philosophie am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt a. M.; Arbeitsschwerpunkte: Philosophische Ästhetik, Philosophie der Kunst, Philosophie des deutschen Idealismus, Sprachphilosophie, Kant, Schopenhauer; ausgewählte Publi­kationen: »Selbstgestaltung, Perfektion und Würde des Menschen im Denken der Renaissance«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 53:1 (2008), S. 61–71; »Die Philosophie des Tragischen bei Schopenhauer«. In: Lore Hühn / Philipp Schwab (Hg.): Die Philosophie des Tragischen. Schopenhauer, Schelling, Nietzsche. Berlin/Boston 2011, S. 357–368; Art. »Ästhetik«. In: Daniel Schubbe / Matthias Koßler (Hg.): Schopenhauer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2014, S. 61–73. Schubbe, Daniel, Dr.: Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität in Hagen, Vorstandsmitglied der Schopenhauer-Gesellschaft; Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftstheo­rie der Kulturwissenschaften, Philosophische Hermeneutik, Schopenhauer-Studien; ausgewählte Publi­kationen: »Formen der (Er-)Kennt­nis. Ein morphologischer Blick auf Schopenhauer«. In: Günter Gödde / Michael B. Buchholz (Hg.): Der Besen, mit dem die Hexe fliegt. Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten. Bd. 1: Psychologie als WissenZu den Autorinnen und Autoren  |  487

schaft der Komplementarität. Gießen 2012, S. 359–387; (Hg. zus. mit Jens Lemanski und Rico Hauswald): Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Wandel und Variationen einer Frage. Hamburg 2013; (Hg. zus. mit Matthias Koßler): Schopenhauer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2014. Selbmann, Rolf, Prof. Dr.: Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der LMU München; Arbeitsschwerpunkte: Literatur- und Kulturgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart; ausgewählte Publi­ kationen: Eine Kulturgeschichte des Fensters von der Antike bis zur Moderne. Berlin 2010; Nomen est Omen. Literaturgeschichte im Zeichen des Namens. Würzburg 2013; Die Wirklichkeit der Literatur. Literarische Texte und ihre Realität. Würzburg 2015. Sommer, Niklas: studiert Philosophie an der Philipps-Universität Marburg; Arbeitsschwerpunkte: Schillers Kant-Rezeption, Klassische Deutsche Philosophie; Publi­kationen: »Schiller’s Interpretation of the Critique of the Power of Judgement. A Proposal«. In: Proceedings of the European Society for Aesthetics 7 (2015), S. 464–475. Zimmer, Robert, Dr., M. A.: freier Sachbuchautor, Mithg. von Aufklärung & Kritik und Redakteur von der blaue reiter. Journal für Philosophie; Arbeitsschwerpunkte: Kritischer Rationalismus, Schopenhauer, Moralistik, Philosophie der Lebenskunst, philosophiedidaktische Einführungen; ausgewählte Publi­kationen: Das Philosophenportal. Ein Schlüssel zu klassischen Werken. München 2004; Basis-Bibliothek Philosophie. 100 klassische Werke. Stuttgart 2009; Arthur Schopenhauer. Ein philosophischer Weltbürger. München 2010.