Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts 9783787325252, 9783787328345

Das 19. Jahrhundert ist zu Recht das lange Jahrhundert genannt worden. Wie es mit einem Epochenumbruch, dem der Revoluti

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Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts
 9783787325252, 9783787328345

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Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 11



Archiv für Begriffsgeschichte Begründet von Erich Rothacker herausgegeben von Christian Bermes, Ulrich Dierse und Michael Erler Redaktion: Annika Hand

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG



Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts herausgegeben von Annika Hand, Christian Bermes und Ulrich Dierse

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG



Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-2525-2

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2015. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Werkdruck­papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gewww.meiner.de/afb bleichte Zellstoff. Printed in Germany.



INHALT

Ulrich Dierse Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Christoph Asmuth Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Gerald Hartung Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Friedhelm Brüggen Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Gunilla Budde Bürger, Bürgertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Annette Sell und Myriam Gerhard Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Ernst Müller Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Micha Brumlik Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Falko Schmieder Entwicklung, Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Andrzej Przylebski Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Ulrich Dierse Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Alois Hahn und Matthias Hoffmann Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Christian Krijnen Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Renate Wahsner Mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

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Inhalt

Christian Geulen Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Holger Glinka Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Jürgen Goldstein Politische Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Olaf Briese Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Ralf Becker Unbewusstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Peter Brandt Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Gunter Scholtz Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Matthias Koßler Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Helmut Pulte Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523

Ulrich Dierse

Einleitung

Ob man das 19. Jahrhundert mit der Französischen Revolution oder mit dem Sturz Napoleons beginnen lässt: Dieses Jahrhundert ist zu Recht das lange Jahrhundert genannt worden. Wie es mit einem Epochenumbruch, dem der Revolution, beginnt, so endet es: mit dem Ersten Weltkrieg und dem Eintritt der beiden späteren Weltmächte, den USA und Sowjetrussland, in die Weltgeschichte.1 Dazwischen bestimmen andere Revolutionen und Restaurationen, Kriege und Friedenszeiten das politische Geschehen. Die Geschichte wird zwischen 1815 und 1917 von Zukunftserwartungen und -verheißungen bewegt wie kaum ein Zeitalter vorher. An den »Fortschritt«, ob er nun als politischer oder sozialer, naturwissenschaftlicher oder technischer verstanden wird, knüpft sich immer die Hoffnung auf eine bald zu erreichende Verbesserung der Gegenwart. Auch deshalb kann und will man die eigene Zeit nicht mehr als bruchlose Fortsetzung der Vergangenheit begreifen. Das 19. Jahrhundert ist wie keine Epoche bisher die Epoche der Geschichte, sowohl der Geschichtsphilosophie als auch des geschichtlichen Bewusstseins und der verschiedenen Geschichtswissenschaften, bis hin zum Historismus in Architektur und Künsten, in Mode und Geschmack. Gerade am Historismus zeigt sich, wie ambivalent die Hinwendung zur Geschichte sein kann. Wenn man, wie die Romantik oder Richard Wagner, neue Mythologien erträumt oder alte Ritterspiele aufführt, geschieht dies vor dem Hintergrund von Eisenbahn und Gussstahl. Die alten Dynastien und die sie tragenden Adels- und Militärgesellschaften können noch, in welcher Modifikation auch immer, bis zum Weltkrieg fortbestehen, melden aber zugleich imperiale Ansprüche auf überseeische Kolonien an. Je länger das Jahrhundert dauert, umso brüchiger werden die fortgelebten Traditionen. Nicht selten überlagern sich gegensätzliche Stile, etwa historistischer Prunk und moderne Schlichtheit. Als z. B. der neubarocke Berliner Dom vollendet wird, entstehen schon die ersten Wohnbauten der Neuen Sachlichkeit.2 Kurz darauf erklärt Adolf Loos das Ornament zum Verbrechen. Wien, aber jede andere europäische Großstadt ebenso, scheint für solche ›Parallelaktionen‹ besonders geeignet gewesen zu sein. Am Ende des Jahrhunderts mischen sich apokalyptische Untergangsvisionen mit pessimistischen Haltungen jeglicher Färbung, die nicht selten in den Entschluss umschlagen können, das Alte und Überholte radikal hinter sich zu lassen und in eine neue Zeit aufzubrechen. Neben der Einsicht des alten Dubslav 1  Vgl.

Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (München 2009) 85 ff. 2  Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600–1947 (München 2007) 644. Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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von Stechlin in Fontanes gleichnamigem Roman (1898), dass die überkommene Welt untergehen müsse, steht Nietzsches Aufruf an die Jugend in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, die Übermacht der Geschichte abzuschütteln und das Leben zu entfesseln. Am Sterbelager des Jahrhunderts – so ein Titel von Ludwig Büchner – wartet jene Jugend, die nicht mehr den ausgetretenen Pfaden der Vergangenheit folgen, sondern die Last der Geschichte abschütteln will. Die Geistes- und Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts kennt weder eine dominierende Strömung noch eine kontinuierliche Entwicklung. Karl Löwith spricht vom »revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts«, der vor allem von Marx und Kierkegaard markiert werde. Beider Opposition zu Hegel und zum Idealismus wird begleitet vom gleichzeitigen Aufschwung des Positivismus, dann vom Neukantianismus, Materialismus, Darwinismus, Pragmatismus und vielerlei weiteren Ismen, für die das Zeitalter kennzeichnend ist und für die es den neutralen Oberbegriff »Weltanschauung« bereithält. Charakteristisch für die Lage der Philosophie dürfte sein, dass diese ihre zentrale Stellung als universale Wissenschaft verliert, dass sich Mathematik und Naturwissenschaften von ihr emanzipieren und neue Wissenschaften wie die Soziologie und Ökonomie entstehen; ferner, dass Philologie und Geschichtswissenschaft jetzt als Wissenschaften anerkannt werden. Im Fächerkanon der Disziplinen findet sich die Philosophie zunächst noch in leitender Stellung. Im Laufe des 19. Jahrhunderts gerät sie jedoch mehr und mehr an den Rand der Wissenschaft, und eine kurze Zeit lang droht sie sogar ganz von der Psychologie überlagert zu werden, solange nämlich, bis Psychologie und Psychologismus selbst in die Krise geraten. Die ›exakten‹, sich auf die bloße Empirie stützenden Wissenschaften können im 19. Jahrhundert ungeahnte Erfolge feiern, sie werden vielfach zum Leitbild für Wissenschaftlichkeit schlechthin. Aber spätestens mit Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) treten neben sie die Wissenschaften vom Menschen, von der Gesellschaft und vom Staat, die ihrem eigenen Paradigma folgen. Oft jedoch erwartet man von der Orientierung an den positiven Wissenschaften nicht nur, wie in der Aufklärung, die Überwindung von Vorurteilen und Aberglauben, sondern auch die der Religion und jeglicher religiösen Einstellung überhaupt. Nicht nur für die Psychoanalyse hat diese von Freud so genannte Illusion keine Zukunft mehr. Aber schon von Auguste Comte wird die Wissenschaft selbst zur Religion erhoben, und viele andere propagieren die strenge Wissenschaft als die einzige Weltanschauung, die für die Zeit angemessen sei. Der Monismus ist nur ein Beispiel dafür; vergleichbare Wendungen finden sich im Sozialismus. Das 19. Jahrhundert wird vielleicht mehr als vorangegangene Epochen von Begriffen geprägt, die die öffentlichen Debatten prägen, von solchen der Wissenschaften wie denen der Politik. Ein Kennzeichen für die Bewegung dieser Begriffe dürfte es sein, dass viele Termini über den engeren fachlichen Rahmen hinaus populär werden, ein Prozess, der sich bis heute fortsetzt. Wer spricht nicht um 1900 in vielfältiger Bedeutung von ›Energie‹, ›Entwicklung‹, ›Mechanisierung‹,

Einleitung

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›Unbewusstem‹ etc. Solche Begriffe werden, sobald sie aus ihrem ursprünglichen Kontext heraustreten, schnell universal, damit aber auch unscharf. Da sich Richtungen und Schulen entgegentreten, verwischen und überlagern, kann es keine Begriffe geben, die dem Jahrhundert insgesamt eingeprägt sind. Die hier vorgestellten Begriffsgeschichten sollen deshalb nicht die Einheitlichkeit der Zeit, sondern deren Vielfalt und Widersprüchlichkeit wiedergeben, zusammengenommen aber ein Stück »Gerechtigkeit für das 19. Jahrhundert« erarbeiten, die Dolf Sternberger zu Recht einforderte.3

3 

Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert (Hamburg 1938, 21946).





Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts



Christoph Asmuth

Begriff Begriffsoptimismus und Begriffsskepsis in der klassischen deutschen Philosophie1 »Es ist nicht so leicht, das aufzufinden, was andere von der Natur des Begriffs gesagt haben.« Hegel: Wissenschaft der Logik. 2. Bd.: Die Lehre vom Begriff (GW Bd. 12, 16).

I. Einleitung Die Frage nach dem Begriff des Begriffs kündigt den Beginn der Moderne an. Nicht, dass diese Frage nie gestellt worden wäre. In der Frage, die den Begriff selbst fraglich werden lässt, macht sich allerdings jene Verunsicherung bemerkbar, welche die Fundamente der neuzeitlichen Rationalität am Ende des 18. und am Beginn des 19. Jahrhunderts zu unterwandern beginnt. Freilich gibt es immer wieder in der Geschichte der Philosophie skeptische Einwände gegen die Rationalität wissenschaftlicher und lebensweltlicher Auffassungen. Der Vernunftoptimismus der Aufklärung hatte jedoch zuvor ein großzügiges methodisches Grundgerüst geschmiedet, das beanspruchte, eine ganze Welt aus Wissenschaft, Religion und Ethik in ein homogenes Konzept zu fassen. Und dieses Grundgerüst erwies sich – zumindest teilweise – als außerordentlich erfolgreich. Die Moderne dagegen beginnt mit dem alarmierenden Eingeständnis, dass es stattdessen faktisch Wissenschaften, Religionen und Ethiken gibt, deren Einheit oder auch nur Konvergenz nicht ohne Weiteres anzugeben und noch weniger für sich einzufordern ist. Die Rationalität steht plötzlich selbst in Gänze zur Debatte. Natürlich spielt der Begriff, seine Funktion und Reichweite, in dieser Diskussion eine wichtige Rolle, konkret bei der Frage, inwieweit eine Einheit innerhalb der Wissenschaften, aber auch innerhalb der Lebenswelt und innerhalb der Konsequenz normativer Verpflichtungen überhaupt noch begründet werden kann. Insbesondere Kants kritische Philosophie, die einerseits ausschließlich kritisch, andererseits systematisch aufgefasst wurde, führte zu einer Debatte über die Bedeutung der Begriffe. Eine ganze Phalanx von Autoren unternahm es, die Vernunftkritik Kants durch eine Metakritik der Sprache auszuhebeln. Andererseits gab es zahlreiche Versuche, mit Kant über Kant hinauszugehen. Den Protagonisten dieser Richtungen gingen die systematischen Äußerungen Kants 1  Für

die kritische Durchsicht und zahlreiche Hinweise danke ich Eva Schneider (Berlin) und Simon Gabriel Neuffer (Berlin). Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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nicht weit genug. Sie sahen, dass die Probleme nicht ausreichend geklärt waren, um den Skeptizismus ein für alle Mal niederzuhalten. Verschiedene Problemfelder öffneten sich für die Diskussion. An erster Stelle ist hier der Weltbezug der Begriffe zu nennen. Gerade Kants Begriff vom ›Ding an sich‹ führte zu enormen Verwerfungen. Wie sollten sich Begriffe auf die Welt beziehen, wenn alles, was wir erreichen können, nur Erscheinung ist? Dann legte Kant seinem gesamten kritischen Vorhaben die Auffassung zugrunde, dass Begriffe letztlich nur über ihre Subsumtionsfunktion zu bestimmen seien. Die Frage musste gestellt werden: Was wird in letzter Instanz unter den Begriff subsumiert? Muss das nicht etwas absolut Wirkliches sein? Schließlich erregte das Votum Kants für die ›reinen Begriffe‹, also die Kategorien, großes Aufsehen. Der Empirismus hatte in der deutschen Philosophie bereits erheblichen Raum gewonnen. Die Philosophie Kants steht am Anfang der vorliegenden Abhandlung über den Begriff des Begriffs im 19. Jahrhundert. Der Grund dafür liegt in Kants philosophischem Projekt, das einerseits eine lange philosophische Tradition beerbt, anderseits aber einer ganz neuen philosophischen Entwicklung als Grundlage dient. Hier soll diese Neuentwicklung nur bis zu einem gewissen Punkt verfolgt werden, so weit nämlich, wie die klassische deutsche Philosophie diesen Impuls weitergetragen hat. Der allgemeine systematische Grundgedanke lässt sich holzschnittartig so ausdrücken: Die Bedeutung der Begriffe ist das logisch Erste gegenüber der Welt und den Dingen. In methodologischer Hinsicht ist das Denken früher als das Sein. Es ist in dieser Untersuchungsperspektive also nicht die Kardinalfrage, wie die Welt in unseren Kopf kommt (psychologische Erkenntnistheorie): Das ist letztlich eine Frage, die in den empirischen Wissenschaften entschieden werden muss. Vielmehr geht es dieser philosophischen Entwicklung darum, welche Strukturen und Inhalte grundlegend sind für die Erkenntnis der Welt. Die Frage nach der Entstehung von Bedeutung im Ganzen ist deshalb sinnlos, weil Bedeutung immer schon vorausgesetzt wird. Umgekehrt ist nun die Frage zu beantworten, welche Bedeutung das Sein, die Welt, die Dinge für das Denken haben. Die verschiedenen Ausprägungen dieser Grundüberzeugung fallen sehr unterschiedlich aus, ebenso wie die Auffassungen davon, welche Leistungsfähigkeit dem Begriff zugesprochen werden kann. Hier finden sich Begriffsskeptizismus wie Begriffsoptimismus. Insgesamt muss man feststellen, dass es häufig keine spezielle oder isolierte Lehre vom Begriff als eigenen Teil der Philosophie gibt. Der ›natürliche‹ Ort des Begriffs ist die Logik.2 Dort wird aber nur in formaler Hinsicht über den Begriff 2  Dies spiegelt sich auch in der Literatur. Einerseits gibt es allgemeine Darstellungen der Geschichte der Logik: Carl von Prantl: Geschichte der Logik im Abendlande, 4 Bde. (Leipzig 1855–1870) (freilich ohne Betrachtung des 19. Jahrhunderts); Theodor Ziehen: Lehrbuch der Logik (Bonn 1920). Andererseits finden sich Arbeiten zum Begriff des Begriffs: Emanuel Horn: Der Begriff des Begriffs. Die Geschichte des Begriffs und seine metaphysische Bedeutung (München 1932); Arno Ros: Begründung und Begriff, 3 Bde. (Hamburg 1990).

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gehandelt. Der Sprachgebrauch ist der neue Ort, an dem über die Bedeutung der Begriffe gesprochen wird. In der Auffassung vom empirischen Begriff wird dem Sprachgebrauch schon früh Rechnung getragen. Im Sinne der oben umrissenen Grundlage der klassischen deutschen Philosophie muss man einen dritten Ort hinzuzählen: die transzendentale Logik.3 Sie bildet ein Scharnier zwischen der formalen Logik und den empirischen Begriffen. Es kann deshalb nicht verwundern, dass ihr am Beginn des 19. Jahrhunderts so viel Aufmerksamkeit zuteil wurde.

II.  Voraussetzungen: Die Auffassung Kants von der Funktion des Begriffs Immanuel Kants kritische Philosophie markiert den Grundstein einer vielfältigen Diskussion um Aufgabe, Reichweite und Funktion des Begriffs im 19. Jahrhundert.4 Nimmt man die Philosophie Kants in dieser Hinsicht in den Blick, so ist es von erheblicher Bedeutung, zunächst das Urteil als die eigentliche Mitte seiner gesamten philosophischen Anstrengungen herauszustellen.5 Seine Lehre vom Urteil6 bestimmt den Rhythmus und die innere Gliederung der drei Kritiken. Sie ist auch die Mitte seiner Logik.7 Das Urteil steht zwischen Begriff und Schluss. Insofern ist der Begriff bei Kant hingeordnet auf seine Funktion im Urteil. Was der Begriff seiner Konstruktion nach ist, erfüllt sich in seiner Verwendung im Urteil. »Alle Erkenntnisse, das heißt: alle mit Bewußtsein auf ein Object bezogene Vorstellungen sind entweder Anschauungen oder Begriffe. Die Anschauung ist 3  Riccardo

Pozzo: Kant Within the Tradition of Modern Logic: The Role of the ›Introduction: Idea of Transcendental Logic‹. In: The Review of Metaphysics 52 (1998) 295–310. 4 Vgl. Claudio Cesa: Le origini dell’idealismo tra Kant e Hegel (Torino 1981); Frederick C. Beiser: German Idealism. The Struggle against Subjectivism, 1781–1801 (Cambridge/Mass., London 2002); Terry Pinkard: German Philosophy 1760–1869. The Legacy of Idealism (Cambridge 2002); Walter Jaeschke, Andreas Arndt: Die klassische deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik (München 2012). 5  Vgl. Christoph Asmuth: Von der Urteilstheorie zur Bewusstseinstheorie. Die Entgrenzung der Transzendentalphilosophie. In: Kant und Fichte – Fichte und Kant. Fichte-Studien Bd. 33 (Amsterdam 2009) 221–249. 6 Vgl. Reinhard Brandt: Die Urteilstafel. Kritik der reinen Vernunft A 67–76; B 92–101 (Hamburg 1991); Béatrice Longuenesse: Kant and the Capacity to Judge (Princeton, NJ 1998); Martin, Wayne: Theories of Judgment (Cambridge 2006); Robert Hanna: Kant’s Theory of Judgment. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2014 Edition), Edward N. Zalta (Ed.): forthcoming URL = . 7  R. Pozzo: Kant und das Problem einer Einleitung in die Logik Ein Beitrag zur Rekonstruktion der historischen Hintergründe von Kants Logik-Kolleg (Frankfurt a. M., Bern u. a. 1989); Bernd Prien: Kants Logik der Begriffe. Die Begriffslehre der formalen und transzendentalen Logik Kants. (Kant-Studien. Ergänzungshefte; 150) (Berlin, New York 2006); Alexandra Newton: Kant on the Logical Origin of Concepts. In: European Journal of Philosophy (2012), http://dx.doi.org/10.1111/j.1468-0378.2012.00545.x

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eine einzelne Vorstellung (repraesentatio singularis), der Begriff eine allgemeine (repraesentatio per notas communes) oder reflectirte Vorstellung (repraesentatio discursiva).«8 Wie hinlänglich bekannt, betont Kant in seinem kritischen Werk und insbesondere in der Kritik der reinen Vernunft die Entgegensetzung von Anschauung und Begriff. Er subsumiert aber beide, wie das Zitat zeigt, unter den Begriff der Vorstellung als ihrem gemeinsamen Oberbegriff. Kants Leitfrage der theoretischen Philosophie lautet bekanntlich: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? In gewisser Hinsicht liegt es daher auf der Hand, Kants Erkenntniskritik als ›Urteilstheorie‹ zu bezeichnen.9 Eine solche Beschreibung kann sich darüber hinaus auf die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe ebenso stützen wie auf die erklärte Absicht einer Kritik der reinen Vernunft: Beide Momente zielen auf die diskursiven Vermögen, auf den Verstand einerseits, die Vernunft andererseits. Der Verstand ist bei Kant ein Vermögen der Begriffe. Der Verstand schaut nicht an, er ist nicht intuitiv, sondern diskursiv. »Es gibt aber, außer der Anschauung, keine andere Art, zu erkennen, als durch Begriffe«, sagt Kant. »Also ist die Erkenntniß eines jeden, wenigstens des menschlichen, Verstandes eine Erkenntniß durch Begriffe, nicht intuitiv, sondern discursiv.«10 Dabei beruhen die Anschauungen auf Affektionen, der Verstand auf Funktionen. In der Anschauung wird das Mannigfaltige gegeben, im Verstand wird es gedacht, d. h., die Mannigfaltigkeit des Rezipierten wird durch eine spontane Handlung des Verstandes zur Einheit gebracht. Nun wird Kant nicht müde zu betonen, dass gerade der Verstand kein Vermögen ist, das selbstständig und aus sich heraus zu Erkenntnissen fähig sei. Der Verstand bezieht sich immer auf die Sinnlichkeit.11 Dies gerade macht das kritische Geschäft aus: Der Verstand resp. die Vernunft kann nicht zu Erkenntnissen gelangen, die sich nicht – mittelbar oder unmittelbar – auf die Sinnlichkeit, d. h. auf etwas Gegebenes beziehen. Das bedeutet aber keineswegs, dass nicht auch der Verstand Ursprung eigener, ihm eigentümlicher Erkenntnisinhalte sein könnte. Es bedeutet nur, dass dem Verstand zur Erfüllung seiner eigentümlichen Inhalte etwas gegeben sein muss, nämlich sinnliche Daten. Diese Zwei-QuellenTheorie Kants12 darf nicht erkenntnistheoretisch missverstanden werden. Kant stellt keine kompositionale Erkenntnistheorie vor, nach der zwei Bestandteile getrennt beschrieben und dann in einem weiteren synthetischen Akt aufeinander  8  Immanuel

Kant: Logik (Jäsche) AA Bd. 9, 91. – Im Folgenden zitiert nach: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe (Berlin 1900 ff.) [=AA].  9  Vgl. Robert Hanna: Rationality and Logic (Cambridge/Mass. 2006). 10  I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 92 f. [= KrV] – Vgl. zur Kritik der reinen Vernunft: Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, hg. von Georg Mohr und Marcus Willaschek (Klassiker Auslegen, 17/18) (Berlin 1998). 11  Vgl. Stefanie Grüne: Blinde Anschauung. Die Rolle von Begriffen in Kants Theorie sinnlicher Synthesis (Frankfurt a. M. 2009). 12  Vgl. Rudolf Eisler: Einführung in die Erkenntnistheorie. Darstellung und Kritik der erkenntnistheoretischen Richtungen (Leipzig 1907).

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bezogen werden müssten, so dass erst durch ein sukzessives Zusammensetzen Erkenntnisse entstünden und ihre Entstehung de jure erklärt werden könnte. In der Tat stünde eine solche Interpretation vor erheblichen Schwierigkeiten, die sich nicht nur auf Konflikte mit einzelnen Textpassagen reduzieren ließen.13 Kant scheint in der Kritik der reinen Vernunft einen ganz anderen Theorietypus zu entwickeln. Die veränderte Fragestellung nach den Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis enthebt ihn der Notwendigkeit, etwa erklären zu müssen, wie die Sinneseindrücke im Erkenntnissubjekt entstehen (Psychologie).14 Es reicht ihm, darauf hinzuweisen, dass die Sinnlichkeit zu den Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis zählt und dass sie auf bestimmte Weise strukturiert ist. Ähnliches gilt für die Zwei-Quellen-Theorie. Die beiden Elemente der Erkenntnis werden als Möglichkeitsbedingungen thematisiert und als solche isoliert – ein Terminus, den Kant selbst verwendet: »In der transcendentalen Ästhetik also werden wir zuerst die Sinnlichkeit isoliren, dadurch daß wir alles absondern, was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt, […].«15 Vorausgesetzt ist nämlich stets, dass Erkenntnis als Synthesis von Verstand und Sinnlichkeit wirklich ist. Erst in der wirklichen Erkenntnis lassen sich ihre Möglichkeitsbedingungen als Momente isolieren. Möglichkeitsbedingungen sind aber gerade nicht wirklich, d. h., sie bedürfen keines zugrunde liegenden wirklichen Substrats. Statt einer kompositionalen Erkenntnistheorie entwickelt Kant eine methodisch-minimalistische Wissenschaftstheorie.16 Daher ist die Sinnlichkeit nicht als wirkliches Moment von Verstand und Begriff abgetrennt, sondern nur im Hinblick auf die Möglichkeit der Erkenntnis in ihren ihr eigentümlichen Kompetenzen von Verstand und Begriff unterschieden.

13 Vgl.

Christian Helmut Wenzel: Spielen nach Kant die Kategorien schon bei der Wahrnehmung eine Rolle? In: Kant-Studien 96 (2005) 407–426; Nathan Bauer: A Peculiar Intuition: Kant’s Conceptualist Account of Perception. In: Inquiry 55 (2012) 215–237. 14  Vgl. Patricia Kitcher: Kant’s Transcendental Psychology (New York 1990). 15  KrV, B 36. 16 Ansatz, Aufgabe und Umfang des transzendentalphilosophischen Programms bei Kant sind umstritten. Die Interpretationen divergieren teils erheblich. Vgl. Henry Allison: Kant’s Transcendental Idealism (New Haven 2004); Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Bd. 2 (Berlin 1922); Hermann Cohen: Kants Begriff der Erfahrung (Berlin 1871); Elena Ficara: Die Ontologie in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ (Würzburg 2006); Paul Guyer: Kant and the Claims of Knowledge (Cambridge 1987); R. Hanna: Kant and the Foundations of Analytic Philosophy (Oxford 2004); Dietmar Heidemann: Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus (Berlin, New York 1998); Wolfgang Röd: Transzendentalphilosophie als ›Philosophie der Philosophie‹. Zum metatheoretischen Aspekt des kantischen Transzendentalismus. In: Wege der Vernunft, hg. von Alfred Bohnen und Alan Musgrave (Tübingen 1991) 31–112; Tobias Rosefeldt: Das logische Ich. Kant über den Gehalt des Begriffes von sich selbst (Berlin, Wien 2000); Peter F. Strawson: The Bounds of Sense. An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason (London 1975); Max Wundt: Kant als Metaphysiker. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie (Stuttgart 1924); Günter Zöller: From Innate to ›A Priori‹. Kants Radical Transformation of a Cartesian-Leibnizian Legacy. In: Monist 72 (1989) 222–235.

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Zentrale Bedeutung erhält dabei der Begriff der Vorstellung. Der Verstand ordnet nämlich verschiedene Vorstellungen einer anderen unter, so dass Kant erklären kann, der Verstand sei ein Vermögen, Vorstellungen unter Vorstellungen zu subsumieren. Die Vorstellungen des Verstandes, die Begriffe, beziehen sich nicht unmittelbar auf den Gegenstand, sondern auf eine andere Vorstellung. Dies ist eine Folge der transzendentalphilosophischen Reduktion der Dinge an sich auf Erscheinungen, also eine Folge der idealistischen Auffassung von Raum und Zeit. Kant verwendet einen weiten Vorstellungsbegriff, der der Leibniz-Wolff’schen Tradition entstammt und auf alle Bewusstseinsinhalte und -akte zutrifft und dementsprechend Anschauungen, aber auch Begriffe, ja sogar reine Begriffe und Ideen umfasst, die ihrer Definition entsprechend keinen Ursprung in der Sinnlichkeit haben. Dies entspricht ganz der bekannten Stufenleiter der Vorstellungen, die Kant in der Einleitung zur Dialektik entwickelt.17 Diese Passage belegt sehr gut, dass Kant niemals einen Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand (Begriff) intendierte, sondern gerade von deren faktischer funktionalen Verschränkung ausgeht, die sich im Urteil ausdrückt. Damit ist der Rahmen abgesteckt, in den Kants Lehre vom Begriff einzuordnen ist. Keineswegs ist damit aber bereits eine Antwort auf eine zentrale Frage aller Theorien des Begriffs gefunden, nämlich die nach dem Bezug des Begriffs zur Wirklichkeit.18 Eine Stelle aus der Untersuchung des Paralogismus in den Prolegomena kann einen entscheidenden Wink geben. Dort entwickelt Kant seine Idee eines absoluten Subjekts, allerdings in kritischer Hinsicht: Denn letztlich läuft dieser Argumentationsgang in kritischer Perspektive darauf hinaus, die Substantialität des Ich und damit seine Erkennbarkeit als ein Ding an sich, seine Beharrlichkeit, Einfachheit, Unveränderlichkeit und Unsterblichkeit als Seele wissenschaftlich zu bestreiten. Kant schreibt: »Die reine Vernunft fordert, daß wir zu jedem Prädicate eines Dinges sein ihm zugehöriges Subject, zu diesem aber, welches nothwendiger Weise wiederum nur Prädicat ist, fernerhin sein Subject und so forthin ins Unendliche (oder soweit wir reichen) suchen sollen.«19 Interessant – im vorliegenden Zusammenhang – ist die Aussage, dass 17  Der

Text lautet genau: »Hier ist eine Stufenleiter derselben [Vorstellungsarten; Ch. A.]. Die Gattung ist Vorstellung überhaupt (repraesentatio). Unter ihr steht die Vorstellung mit Bewußtsein (perceptio). Eine Perception, die sich lediglich auf das Subject als die Modification seines Zustandes bezieht, ist Empfindung (sensatio), eine objective Perception ist Erkenntniß (cognitio). Diese ist entweder Anschauung oder Begriff (intuitus vel conceptus). Jene bezieht sich unmittelbar auf den Gegenstand und ist einzeln, dieser mittelbar, vermittelst eines Merkmals, was mehreren Dingen gemein sein kann. Der Begriff ist entweder ein empirischer oder reiner Begriff, und der reine Begriff, so fern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat (nicht im reinen Bilde der Sinnlichkeit), heißt Notio. Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, ist die Idee, oder der Vernunftbegriff. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 376 f. = AA Bd. 3, 249 f. 18  Vgl. P. F. Strawson, a. a.O. [Anm. 16]. 19  Prolegomena, A 135, = AA Bd. 4, 333.

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ein Subjekt »nothwendiger Weise nur Prädicat ist«, alle Subjekte daher als Prädikat gebraucht werden können. Alle bis auf ein einziges Subjekt, so die Entwicklung des Gedankengangs bei Kant, nämlich das absolute Subjekt, das Ich, welches niemals als Prädikat gebraucht werden kann. Das Verhältnis von Subjekt und Prädikat ist im Urteil also austauschbar. Begriffe können deshalb sowohl als Subjekt oder als Prädikat gebraucht werden. Oder, um es noch schärfer zu fassen, Begriffe sind Prädikate. Zu fragen ist hier, was die Begriffe, nach Kant, dazu befähigt, sowohl als Prädikat als auch als Subjekt dienen zu können. Eine Antwort darauf findet man in der Jäsche-Logik.20 Dort entwickelt Kant in der Einleitung eine Lehre von den Merkmalen. Merkmale sind grundlegend für Begriffe. Sie bilden die Begriffe, oder umgekehrt, Begriffe lassen sich in Merkmale auflösen. Merkmale sind in dieser Funktion verwandt mit den Schemata. Sie haben eine Mittelfunktion inne. Sie verbinden die diskursive Sphäre der Begriffe mit dem intuitiven Bereich der Sinnlichkeit. Insofern kann man sagen, dass die Merkmale im Bereich der Begriffe den Prädikaten im Bereich der Urteile entsprechen. In der Jäsche-Logik definiert Kant das Merkmal als eine Vorstellung, die das Gemeinsame mehrerer Dinge zum Ausgangspunkt der Erkenntnis macht. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass die Merkmale bei Kant den Grund alles diskursiven Verstandesgebrauchs ausmachen. Das Merkmal ist nach Kant eine Partialvorstellung. Durch ein Merkmal wird ein Teil des Dings erkannt. Bemerkenswert ist hier, dass nach Kant das Gemeinsame nur durch Teilung, also durch Einschränkung möglich ist. Aus einer Vorstellung wird ein Teil isoliert und durch Vergleich mit anderen Teilvorstellungen zu einem selbstständigen Merkmal. Das Merkmal ist daher die allgemeine Grundlage aller konzeptuellen Tätigkeit: »Alle unsre Begriffe sind demnach Merkmale und alles Denken ist nichts anders als ein Vorstellen durch Merkmale.«21 Damit besteht die Grundlage des Denkens in den Tätigkeiten des Unterscheidens und Beziehens. Merkmale müssen aus komplexen Vorstellungen isoliert werden, was eine Unterscheidung von anderen Merkmalen sowie von der komplexen Vorstellung selbst voraussetzt. Dann müssen diese Merkmale auf andere komplexe Vorstellungen bezogen werden. Es geht also bei dem Vergleich der Vorstellung darum, »durch Merkmale ein Ding mit andern nach den Regeln der Identität oder Diversität« in Beziehung zu setzen.22 Kant klassifiziert die Merkmale. Sie bilden die funktionale Basis der Begriffe, und die Begriffe selbst verfügen nach Kant über bestimmte Eigenschaften, die in der Transzendentalphilosophie wichtige Unterscheidungen ermöglichen. So ist das Verhältnis analytisch/synthetisch, das in der Kritik der reinen Vernunft eine 20  Vgl. Rainer Stuhlmann-Laeiz: Kants Logik. Eine Interpretation auf der Grundlage von Vorlesungen, veröffentlichten Werken und Nachlaß (Berlin, New York 1976) bes. 73–103. 21  Logik (Jäsche), AA Bd. 9, 58. 22 Ebd.

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ebenso wichtige wie umstrittene Rolle spielt,23 in Kants Lehre von den Merkmalen grundgelegt. Als analytische Merkmale bezeichnet Kant Teilbegriffe eines »wirklichen Begriffs«. Wird ein Begriff gedacht, so sind die darin enthaltenen Teilbegriffe analytische Merkmale dieses Begriffs. Synthetische Merkmale sind dagegen Teilbegriffe eines »bloß möglichen ganzen Begriffs«. Merkmale sind, wie gesagt, Teilbegriffe und Teilvorstellungen. Deshalb sind sie auf den ganzen Begriff bezogen. Der »ganze« Begriff ist in Kants Logik jedoch eine bloß methodische Größe, daher nicht inhaltlich bestimmt, sondern durch die Funktion, die der Begriff in Bezug auf die Merkmale einnimmt: Teil und Ganzes sind korrelativ aufeinander bezogen. Bei einem »wirklichen« ganzen Begriff sind die Merkmale, d. h. die Teilbegriffe, mit dem Begriff gegeben, folglich in ihm enthalten. Bei einem »bloß möglichen ganzen Begriff« müssen die Merkmale erst zusammengesetzt und einzeln zum Begriff hinzugefügt werden. Die Merkmale eines solchen Begriffs sind synthetisch auf den Begriff bezogen. Diese Begriffe heißen bei Kant »Erfahrungsbegriffe«. 24 Auf dieser Charakterisierung der Merkmale beruht nach Kant die Möglichkeit, Begriffe nicht nur analytisch zu klären – ein Verfahren, das Kant der Leibniz-Wolffschen Schule zuschreibt –, sondern synthetisch zu bilden. Während bei der analytischen Methode das Verhältnis des Begriffs zu seinen Merkmalen feststeht, so dass nur die Merkmale hervorgehoben und zu einem besonderen Bewusstsein gebracht werden müssen, hebt das synthetische Verfahren auch auf die Bildung neuer Begriffe ab. Die Begriffsbildung – Kant denkt hier vornehmlich an die Mathematik und die Naturphilosophie im Sinne einer Metaphysik der Natur –, beginnt mit dem Merkmal, also dem Teilbegriff. Vom Teil aus schreitet die Begriffsbildung zum Ganzen fort. Kants Lehre vom Begriff geht nicht nur von den gegebenen fertigen, empirischen Begriffen aus, die dann durch eine verdeutlichende Explikation an Klarheit gewinnen können. Besonderen Stellenwert hat für ihn vielmehr das synthetische Verfahren, das Begriffe erst hervorbringt. Hier beginnt die Arbeit der innovativen Forschung, hier beginnt die Theoriebildung! Es handelt sich um eine Begriffserweiterung, die durch Synthesis von Merkmalen auf Erkenntnisfortschritt ausgerichtet ist. 23 Vgl.

Konrad Marc-Wogau: Kants Lehre vom analytischen Urteil. In: Theoria 17 (1951) 140–157; Morton White: The Analytic and the Synthetic: An Untenable Dualism. In: Semantics and the Philosophy of Language (Urbana 1952) 272–286; Willard Van Orman Quine: Two Dogmas of Empiricism. In: ders.: From a Logical Point of View (Cambridge/Mass. 1953) 20–46; Dieter Henrich: Kants Denken 1762/1763. Über den Ursprung der Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile. In: Studien zu Kants philosophischer Entwicklung, hg. von Heinz Heimsoeth, Dieter Henrich und Giorgio Tonelli (Hildesheim 1967) 9–38; Henry Allison: The Originality of Kant’s Distinction between Analytic and Synthetic Judgements. In: The Philosophy of I., ed. by Richard Kennington (Washington D.C. 1985) 15–38; Willem R. de Jong: Kant’s Analytic Judgement and the Traditional Theory of Concepts. In: Journal of the History of Philosophy 33 (1995) 613–641; Verena Mayer: Implicit Thoughts: Quine, Frege and Kant on Analytic Propositions. In: Grazer Philosophische Studien 66 (2003) 61–90. 24  Ebd. 59.

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Ein weiteres wichtiges Verhältnis der Merkmale betrifft die Möglichkeit der Koordination und Subordination. Nicht erst mit dem fertigen Begriff gibt es die Logik der Subsumtion. Bereits die Merkmale weisen diese Klassifikation auf. Die Koordination beruht nach Kant auf der Unmittelbarkeit der Vorstellung einer Sache und macht ein einfaches Nebeneinander von Merkmalen aus.25 Ein koordiniertes Merkmal ist also ein solches, das unmittelbar in der Vorstellung einer Sache enthalten ist. Systematisch bedeutender ist die Subordination. Hier tritt nämlich die diskursive Vermittlungsleistung des Begriffs hervor. Koordinierte Merkmale sind unmittelbar, subordinierte dagegen vermittelt, und zwar vermittelt durch ein anderes Merkmal. Das bedeutet, dass Merkmale nicht ausschließlich in der konkreten Vorstellung vorkommen und dort ein aggregatives Ganzes ausmachen können wie in der Koordination. Merkmale weisen auch Beziehungen untereinander auf, die sich als Reihen, als Grund und Folge, darstellen lassen: Die einfachen Merkmale können dann – wie erste Gründe – nicht weiter zergliedert werden, wobei aber – in entgegengesetzter Richtung – die Möglichkeit zu immer weiterer Subordination unendlich ist. Damit schreibt Kant eine Idee der Eigenschaft von Begriffen fort, die aus der Antike stammt und Platonisch-Aristotelischer Provenienz ist. In diesem Sinne sind Merkmale und Begriffe bei Kant grundlegend als Subsumtionsfunktionen aufzufassen. Das Genus bilden dabei die einfachen Begriffe, unter die schließlich durch Subsumtion immer weiter bis ins Unendliche fort Spezies untergeordnet werden können. Koordination und Subsumtion – in der Jäsche-Logik bereits auf der Ebene der Merkmale angesiedelt – haben für das kritische Projekt Kants eine enorme Bedeutung. Die Aggregation der Merkmale zu einer Totalität des Begriffs findet seine Anwendung in Kants Konstruktion des transzendentalen Ideals in der Dialektik der Kritik der reinen Vernunft. Bereits die kleinste begriffliche Einheit des Begriffs, das Merkmal, weist bei Kant eine Struktur auf, die die Begriffe tauglich macht, in Verhältnissen der Über- und Unterordnung angeordnet zu werden. Dabei spielte die Einheitsfunktion der Begriffe eine große Rolle. Denn Subsumtion geht mit Synthesis einher, Synthesis aber mit Einheit. Das lässt sich in allen drei Kritiken gut beobachten. In der Kritik der reinen Vernunft geht die synthetische Darstellung von der Mannigfaltigkeit der sinnlichen Vorstellung aus,26 um schließlich in einem höchsten synthetischen Akt, der Einheit der Idee, freilich als regulatives Prinzip ohne konstitutive Funktion, den Abschluss zu finden. Bezüglich der Beziehung der Begriffe auf die Wirklichkeit (Referenz) ist es entscheidend, die Polarität von Anschauung und Begriff bei Kant zu betonen. Polarität bedeutet hier die Entgegensetzung innerhalb eines gemeinsamen Bereichs, den Kant Erkenntnis oder bewusste Vorstellung nennt. Es handelt sich hier um eine Polarität, nicht etwa um einen Dualismus der Vermögen. Anschauung und Begriffe stehen, obwohl klar unterschieden, wie gezeigt, unter dem glei25  Vgl. KrV, B 26  Vgl. die

440 f. = AA Bd. 3, 285 f. Selbstauskunft Kants in: Prolegomena, A 20 f. = AA Bd. 4, 263.

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chen Oberbegriff, nämlich dem der Vorstellung. So kann Kant die Entgegensetzung anhand verschiedener Charakteristika aufzeigen: Anschauungen sind einzeln, Begriffe allgemein,27 Anschauungen sind rezeptiv, Begriffe spontan, Anschauungen werden gegeben (grammatikalisch passiv), Begriffe denkt man (grammatikalisch aktiv),28 die Anschauungen ergeben Mannigfaltigkeit, die Begriffe denken Einheiten.29 Das Verhältnis von Anschauung und Begriff ist ausschließlich und gegengerichtet, zumindest für uns; denn endliche Vernunftwesen sind gerade dadurch endlich, weil sich bei ihnen Anschauung und Begriff strukturell ausschließen. Diese Entgegensetzung darf aber nicht dazu verführen, Kant einen Vermögensdualismus zu unterstellen. Kant macht beispielsweise bereits am Beginn der Kritik der reinen Vernunft klar, dass Anschauung und Begriff dem gemeinsamen Begriff der Vorstellung subsumiert sind. Es ist vorausgesetzt, dass Anschauung und Begriff Vorstellungen sind; es ist vorausgesetzt, dass nur die Verbindung von Begriff und Anschauung, d. h. der synthetisierende Bezug von Begriff auf Anschauungen Erkenntnis ist. Die kritische Transzendentalphilosophie fragt nur, wie diese Verbindung möglich ist und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Erkenntnis zustande kommt. Dazu gehört namentlich die Grenzziehung zu denjenigen vermeinten Erkenntnissen, die jenseits dieser Bedingungen liegen und transzendent heißen. Die Allgemeinheit, die dem Begriff eignet und um derentwillen der Begriff der Anschauung entgegengesetzt ist, entsteht durch das Merkmal. Denn ein Merkmal ist verschiedenen Vorstellungen gemeinsam, ist als Teilvorstellung in verschiedenen Vorstellungen enthalten. Dies ist der Grund, aus dem für Kant folgt, dass Begriffe auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sein können, wie in der Subordination. Hier gilt es aber zu beachten, dass Begriffe nicht bloß formal aufzufassen sind. Alle Begriffe haben nämlich nach Kant Form und Materie. Folgt man der Jäsche-Logik, ist die Materie der Begriffe nichts anderes als der Gegenstand. Zu beachten ist freilich, dass der Gegenstand nicht das Ding oder das Objekt meint. Gemeint ist der Begriffsinhalt, welcher immer das auch sein mag. Kants Bemerkungen über diesen Begriffsinhalt sind sehr vage; man darf vermuten, aus einer argumentativen Strategie heraus. Denn während die Form des Begriffs klar mit dessen Funktion als Allgemeinheit bezeichnet wird, deutet die Offenheit der Formulierung, Begriffsmaterie sei der Gegenstand, darauf hin, dass hier eine weitere Klassifizierung zu erwarten ist. Tatsächlich gründet sich die Unterscheidung Kants zwischen empirischem und reinem Begriff sowie dem Vernunftbegriff auf Überlegungen zum Begriffsinhalt. Allerdings wird nicht der Begriffsinhalt selbst klassifiziert, sondern dessen Quelle. Referenzpunkt ist dabei die Erfahrung: Entstammt der Begriffsinhalt der Erfahrung, heißt der Begriff 27  Vgl. Logik

(Jäsche), AA Bd. 9, 91. Robert Pippin: What is ›Conceptual Activity‹? In: Mind, Reason, and Being-in-the-World. The McDowell-Dreyfus Debate, ed. by J. Schear (London 2013) 91–109. 29  Vgl. KrV B 74 ff. = AA Bd. 3, 74 f. 28 

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empirisch, stammt er nicht – etwa durch Abstraktionen – aus der Erfahrung, heißt er rein. Ist es unmöglich, dass der Gegenstand eines Begriffs überhaupt in der Erfahrung angetroffen werden kann, heißt er Vernunftbegriff oder Idee. Erfahrungsbegriffe beziehen ihre Realität (Sachheit) aus der Erfahrung, denn ihr Inhalt stammt aus der Erfahrung und beruht auf wirklichen Gegenständen. Vernunftbegriffe dagegen machen keine wirklichen Gegenstände vorstellig, sondern besitzen beispielsweise die Funktion eines regulativen Prinzips. Die Gegenstände der Vernunftbegriffe können nicht in der Erfahrung angetroffen werden, weil das Unbedingte nicht in der durch Raum und Zeit bedingten Erfahrung gegeben ist. Die verschiedenen Ebenen der Begriffe berechtigen indes nicht dazu, die Realität, hier verstanden als Existenz in Wirklichkeit, für den Begriffsinhalt oder -gegenstand zu reklamieren. Begriffe können sich freilich bei Kant auf alles beziehen, was gedacht werden kann. Das schließt jedoch nicht ein, dass das, was gedacht wird, wirklich oder auch nur möglich ist. Schließlich beziehen sich Begriffe als Merkmale ihrer Funktion nach letztlich immer auf Anschauung. Begriffe ohne Anschauung sind bekanntlich leer. Ein seit dem Erscheinen von Kants Kritik der reinen Vernunft immer wieder vorgebrachtes Problem ist in diesem Zusammenhang das Ding an sich.30 Fraglich ist dabei regelmäßig, ob das Ding an sich existiert, auch dann, wenn es – wie Kant selbst oft betont – nicht erkannt werden kann. Damit hängt die ebenfalls heftig diskutierte Frage zusammen, ob Kants kritische Philosophie als realistische oder idealistische Position zu werten ist, und wenn idealistisch, inwiefern dieser Idealismus realistische Züge trägt oder überhaupt konsistent gedacht werden kann.31 Durch die Untersuchungen über den Begriff des Begriffs bei Kant lassen sich diese Fragen auch bedeutungstheoretisch wenden. Ist das Ding an sich die Grundlage der Bedeutung, des Inhalts, von Begriffen? Welchen Status hat der Begriff ›Ding an sich‹ selbst als Begriff? Kants Position ist hier eindeutig. Begriffe bestehen nicht nur in der logischen Form (Allgemeinheit). Es muss auch möglich sein, dass ihnen ein Gegenstand gegeben wird, auf den sich der Begriff bezieht. Für Kant ist dieser Gegenstandsbezug die Bedeutung des Begriffs. Ohne einen solchen Gegenstandsbezug ist der Begriff leer, d. h. bedeutungslos. Er hat »keinen Sinn, und ist völlig leer an Inhalt,

30  Vgl.

Erich Adickes: Kant und das Ding an sich (Berlin 1924); Gerold Prauss: Kant und das Problem der Dinge an sich (Bonn 31989); Thomas Pogge: Erscheinungen und Dinge an sich. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 45 (1991) 489–510; Birgit Sandkaulen: Das ›leidige Ding an sich‹. Kant – Jacobi – Fichte. In: System der Vernunft. Kant und der Deutsche Idealismus, Bd. 2: Kant und der Frühidealismus, hg. von Jürgen Stolzenberg (Hamburg 2007) 175–201. 31  Vgl. D. Heidemann, a. a.O. [Anm. 16]; Ch. Asmuth: Realismus und Idealismus oder: Werden philosophische Probleme entschieden? In: Prolegomena (Zagreb) 7 (2007) H. 2, 203–221; Valentin Pluder: Die Vermittlung von Idealismus und Realismus in der Klassischen Deutschen Philosophie. Eine Studie zu Jacobi, Kant, Fichte, Schelling und Hegel (Stuttgart-Bad Cannstatt 2013).

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ob er gleich noch immer die logische Function enthalten mag […]«.32 Die objektive Bedeutung der Begriffe hängt an ihrem Bezug auf das in der Anschauung gegebene Material. Und umgekehrt: Abstrakte Begriffe sind darauf angewiesen, dass ihnen ein »correspondierendes Object in der Anschauung« gegeben wird, weil sie sonst »ohne Sinn, d. i. ohne Bedeutung bleiben« müssen.33 Diese Bedeutungslosigkeit betrifft zuerst die Kategorien, d. h. die reinen Verstandesbegriffe. Sie sind abgelöst von der Sinnlichkeit und für sich allein rein formal, bloße Gedankenformen. Es handelt sich bei ihnen um logische Funktionen. Ohne den Inhalt, d. h. ohne das in der Anschauung gegebene Mannigfaltige, sind die reinen Verstandesbegriffe leer und bedeutungslos. Allerdings sind die Kategorien auf mögliche Erfahrung hin angelegt. Denn es handelt sich bei ihnen ja gerade um die synthetische Funktion, das gegebene Mannigfaltige der Anschauung in einem Bewusstsein zu einer Einheit zu formen. Diese Bedeutungslosigkeit betrifft aber auch – und zwar in ganz anderer Weise – den Begriff des Dings an sich. Die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft geht intensiv und detailliert auf das Ding an sich als Begriff ein. Darin spiegelt sich die Reaktion Kants auf verschiedene Einwände und Missverständnisse, die bereits kurz nach dem Erscheinen der Erstauflage laut wurden. Kant argumentiert – so wie es sich für die ganze Kritik der reinen Vernunft feststellen lässt – von einem methodologischen Standpunkt aus. Das Problem lautet also nicht, wie Friedrich Heinrich Jacobi formulierte, »daß der Kantische Philosoph den Geist seines Systems ganz verläßt, wenn er von den Gegenständen sagt, daß sie Eindrücke auf die Sinne machen, dadurch Empfindungen erregen, und auf diese Weise Vorstellungen zuwege bringen: denn nach dem Kantischen Lehrbegriff kann der empirische Gegenstand, der immer nur Erscheinung ist, nicht ausser uns vorhanden, und noch etwas anderes als eine Vorstellung seyn«.34 Sondern: Kant bleibt auf die Ausgangsfrage seiner kritischen Transzendentalphilosophie konzentriert: »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« Um Urteile zu bilden, sind Begriffe notwendig, die wiederum aus Teilvorstellungen, d. h. Merkmalen bestehen. Diese Merkmale führen letztlich auf Anschauung zurück, die aufgrund der Idealität von Raum und Zeit ausschließlich Erscheinungen vorstellt. So sehr der Begriff der Erscheinung nun – analytisch betrachtet – auf ein Etwas führt, das erscheint und selbst keine Erscheinung ist, so sehr betont Kant explizit und um Missverständnissen vorzubeugen, dass diese Überlegungen nicht zur Annahme eines Dings an sich führen können. Und das sowohl ontologisch betrachtet als auch im Hinblick auf Interpretationen, die das Ding an sich und die Erscheinung als Aspekte ein und desselben Dings deuten.

32 

KrV, B 298 = AA Bd. 3, 204. Ebd. B 299 = AA Bd. 3, 205. 34  F. H. Jacobi: David Hume über den Glauben. Beylage [1787]. Werke. Gesamtausgabe hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke Bd. 2/1 (Hamburg, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004) 108. 33 

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Kants Argumentation, vor allem in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1787, ist methodologisch und beschränkt sich ganz darauf, was Begriffe sind und wie sie in Urteilen funktionieren. Begriffe haben und Begriffe verwenden heißt bei Kant denken. Denken ist ein Akt des Verstandes, den Kant bekanntlich als das Vermögen der Begriffe einführt. Der Verstand bildet entweder Begriffe, indem er Merkmale aus der Anschauung isoliert und verallgemeinert oder indem er aus sich heraus nach Anleitung durch die Logik reine Begriffe hervorbringt, die jedoch nur zur Verwendung in Verbindung mit dem anschaulichen Material dienen und für diese Synthese der Schemata bedürfen. Begriffe zu bilden, ist nach Kant jedoch auch unabhängig vom inhaltlichen Bezug auf Erfahrung möglich. Denken kann man eben alles Mögliche, ja man kann nach Kant sogar Unmögliches denken, eben indem man die logische Funktion der Begriffe völlig losgelöst von möglichen Anschauungen verwendet. Die Einteilung der Begriffe in mögliche und unmögliche (seien es realmögliche oder absolutmögliche) setzt den Begriff eines Gegenstands überhaupt voraus.35 Dies ist der Begriff von einem Begriffsgegenstand, eines Begriffsinhalts, einer Begriffsmaterie überhaupt, »eines Begriffs, dem gar keine anzugebende Anschauung correspondiert, = Nichts, d. i. ein Begriff ohne Gegenstand, wie die Noumena, die nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden können […]«.36 Ein solcher Begriff ist der von Kant methodologisch verwendete Begriff des Dings an sich. Dinge an sich bezeichnen nämlich Dinge, »die der Verstand sich ohne diese Beziehung auf unsere Anschauungsart, mithin nicht bloß als Erscheinungen, sondern als Dinge an sich selbst denken muß, von denen er aber in dieser Absonderung zugleich begreift, daß er von seinen Kategorien in dieser Art sie zu erwägen, keinen Gebrauch machen könne […]. Wo […] die Zeiteinheit nicht angetroffen werden kann, mithin beim Noumenon, da hört der ganze Gebrauch, ja selbst der ganze Gebrauch der Kategorien völlig auf; denn selbst die Möglichkeit der Dinge, die den Kategorien entsprechen sollen, läßt sich gar nicht einsehen […].«37 Nach Kant, und das gilt ohne Zweifel bereits für den Kant der Erstausgabe der Kritik der reinen Vernunft von 1781, ist das Ding an sich Nichts, und zwar Nichts im Sinne eines leeren Begriffs ohne Gegenstand. Es handelt sich beim Ding an sich folglich nicht um ein Ding, das wir nicht erkennen können (ontologisch), noch um einen anderen Aspekt einer Erscheinung, ein Aspekt, der uns verborgen bliebe. Sondern es handelt sich um einen leeren Begriff, einen Begriff von Nichts. Freilich stellt sich hier die Frage, wozu man einen derartigen Begriff in einer Erkenntnistheorie benötigen sollte. Die Antwort ist leicht: Sie liegt darin begründet, dass das Projekt Kants einer Kritik der reinen Vernunft gar keine Erkenntnistheorie sui generis darstellen soll, sondern eine auf methodologische Probleme fokussierte Wissenschaftstheorie ist. Deshalb ist der Begriff des Dings 35  Vgl. KrV, B

345 f. = AA Bd. 3, 231 f. Ebd. B 347 = AA Bd. 3, 232. 37  Ebd. B 307 f. = AA Bd. 3, 210. 36 

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an sich ein »Grenzbegriff«,38 der einzig eine kritische Funktion hat, nämlich »die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche« ist.39 Diese Auskunft ist konsequent. Unterdessen bietet sie keine Erklärung dafür, wie sich Begriffe auf Dinge an sich beziehen. Wenn man diese Frage an Kant stellt, so erhält man keine befriedigende Antwort – und dies aus Gründen, die Kant selbst klar dargelegt hat. Das Bewusstsein, so Kant, sei »die allgemeine Bedingung alles Erkenntnisses überhaupt«.40 Alle Erkenntnisse beziehen sich immer auf Vorstellungen als Objekt. »Erkenntniß setzt immer Vorstellung voraus.«41 Kant torpediert damit die Auffassung von feststehenden Dingen, die durch bestimmte Formen der Repräsentation begrifflich charakterisiert und erkannt werden. Tatsächlich formieren bei Kant erst die begrifflichen Prozesse ein Objekt, das insofern – methodologisch – später ist. Der Gegenstandsbezug wird durch Merkmale und Begriffe hergestellt, ein Bezug, in dem der Gegenstand als Gegenstand erst erzeugt wird. Freilich erschütterte dieser Angriff auf die realistische Ontologie nicht nur die Metaphysik, sondern auch die Auffassung von der Funktionsweise der Begriffe. Die Stabilität der Objektbeziehung – ausgedrückt im Begriff –, diese Stabilität, für die bisher die Objekte, die als Dinge an sich aufgefasst wurden, die Gewähr bildeten, wurde fraglich. Worauf beziehen sich Begriffe? Immer nur vermittelst der Merkmale auf Vorstellungen. Es gibt für die Bedeutungen keinen Anker in der vorstellungsunabhängigen Wirklichkeit. Das musste all denen bedrohlich scheinen, die an der Vorstellung festhalten wollten, dass die Stabilität der Objektbeziehung durch eine ›Welt außer uns‹ begründet sein müsse. Reaktionen von dieser Warte aus stellten sich zeitig ein, betrachtet man beispielsweise den ersten Schub der Kant-Rezeption. Die Rezension der Kritik der reinen Vernunft in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen, die anonym erschien und von Christian Garve stammte, wurde von Johann Georg Feder korrigiert und im kritischen Ton um einiges verschärft. Dieser redigierte einen stark psychologischen Aspekt in die Rezension hinein. Für Feder resp. für Garve läuft die Kritik der reinen Vernunft auf einen psychologischen Idealismus hinaus, dessen Behauptung, Begriffe bezögen sich stets und ausschließlich auf Anschauung, gegen den Einwand nicht gefeit sei, bloße Einbildungen von zutreffenden und wahren Urteilen nicht mehr unterscheiden zu können. Kants Gegner glaubten, dass die Begriffe ihrer Bedeutungen verlustig gehen würden. Kant dagegen ermöglicht – wie sich zeigen wird – durch seine Auffassung vom Begriff eine Dynamisierung des Wissens.

38 

Ebd. B 310 = AA Bd. 3, 211. Ebd. B 311 = AA Bd. 3, 211. 40  Logik (Jäsche), A 40 = AA Bd. 9, 33. 41  Ebd. A 41 = AA Bd. 9, 34. 39 

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III.  Begriffskritik bei Reinhold Für die Folgezeit, d. h. für das ganze 19. Jahrhundert, insofern es in der Nachfolge Kants steht, blieb die durch Kants kritische Philosophie aufgeworfene Frage nach der Referenz dominant. In der Diskussion um die kritische Philosophie Kants entsteht eine vielseitige Aufmerksamkeit für die Sprache. Es geht – vor allem im Nachgang zu Kants Kritik der reinen Vernunft – um eine Metakritik der Sprache (Hamann, Herder, Jacobi),42 um eine Untersuchung des Einflusses, den der Sprachgebrauch, die Wandelbarkeit und Vieldeutigkeit der Sprache letztlich auf die Philosophie haben. Darin spricht sich eine tiefe Verunsicherung und Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit des Sprechens, insbesondere der philosophischen Begrifflichkeit aus. Ein gutes Beispiel für diesen Charakterzug der Philosophie nach Kant bildet ein kleiner Text von Karl Leonhard Reinhold, der selten in diesem Zusammenhang gelesen wird.43 Reinhold setzt es sich zur Aufgabe, die »Vermengung der Bedeutungen der sinnverwandten Wörter (Synonymen) und gleichnamiger Begriffe (Homonymen)« zu untersuchen und zu beseitigen.44 Reinholds Schrift äußert den Verdacht, dass in der Sprache jener Grund zu finden sei für die wechselnden Konjunkturen der Philosophie, dass die »Sprache […] immer nur hinter den Coulissen ihr geheimes Spiel treibt, und die Vernunft unter wechselnden Verkleidungen auf die Bühne hervortrit, ohne daß es der immer nur sich selber bald Critisirenden, bald Deducirenden, bald Construirenden, bald Demonstrirenden, bald Recritisirenden, – endlich gelingen könnte: die eigentliche Anstifterin des alten Mißverständnisses und aller Verwicklungen 42  An erster Stelle zu nennen sind die Texte Johann Georg Hamanns, insbesondere die Metakritik über den Purismus der Vernunft (1784). Vgl. dazu grundlegend: Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache. Hammanns Metakritik Kants (Stuttgart-Bad Cannstatt 2002); ferner: Elisabeth Leiss: ›Die Vernunft ist ein Wetterhahn‹. Johann Georg Hamanns Sprachtheorie und die Dialektik der Aufklärung. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 19 (1991) 259–273. – Ferner: Johann Gottfried Herder: Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, erster Theil. Vernunft und Sprache, Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, zweiter Theil (Leipzig 1799). Vgl. dazu: Herders ›Metakritik‹. Analysen und Interpretationen, hg. von Marion Heinz (Stuttgart-Bad Cannstatt 2013). – Jacobi reflektiert auf seine Korrespondenz mit Hamann, freilich ohne Nennung seiner Quelle: Allwills Briefsammlung. Zugabe an Erhard O. (Königsberg 1792). Werke, a. a.O. [Anm. 34] Bd. 6 (Hamburg 2006) 241: »Und es fehlte nur noch an einer Kritik der Sprache, die eine Metakritik der Vernunft seyn würde, um uns alle über Metaphysik eines Sinnes werden zu lassen.« 43 Grundlegend zu Reinhold: Martin Bondeli: Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold. Eine systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zur Philosophie Reinholds in der Zeit von 1789 bis 1803 (Frankfurt a. M. 1995); Philosophie ohne Beinamen. System, Freiheit und Geschichte im Denken C.L. Reinholds, hg. von Martin Bondeli und Alessandro Lazzari (Basel 2003); Karl Leonhard Reinhold and the Englightenment, ed. by George di Giovanni (Dordrecht 2010); Am Rande des Idealismus: Studien zur Philosophie Karl Leonhard Reinhold, hg. von Wolfgang Kersting und Dirk Westerkamp (Paderborn 2008); Alfred Klemmt: Karl Leonhard Reinholds Elementarphilosophie (Hamburg 1958). 44  C. L. Reinhold: Grundlegung einer Synonymik für den allgemeinen Gebrauch in den philosophischen Wissenschaften (Kiel 1812) XIV.

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derselben aus ihrem Hinterhalte auf den Schauplatz hervorzuziehen.«45 Dieser Verdacht nährt das Projekt einer Dekonstruktion der transzendentalphilosophischen Verwirrungen durch Sprachkritik. Diese Verwirrung betrifft nach Reinhold auch die Logik, und vor allem jene Kategorien, die den so genannten idealistischen Philosophen so wichtig waren: Einheit, Unterschied, Vereinigung, Sein, Wesen, Gewissheit.46 Reinholds Metakritik der philosophischen Begrifflichkeit zielt in der Tat auf einen wunden Punkt, der in der Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie, zumindest in der ersten Dekade des 19. Jahrhunderts, zunächst nicht diskutiert wird. Kants neue, von Reinhold selbst geförderte und um wichtige Innovationen bereicherte Begriffssprache verdankte sich einem Begriffsoptimismus: Die Begriffe, vor allem die methodischen Begriffe der Philosophie selbst, die Begriffe der Spekulation, sind von sich her bedeutend. Reinholds Auffassung vom »fehlerhaften Sprachgebrauch« setzt voraus, dass es durchaus einen richtigen Sprachgebrauch gibt. Außerdem schreibt er die Unterscheidung von Wort und Begriff fort, nach der ein Begriff durch unterschiedliche Wörter ausgedrückt werden kann. So unterscheidet Reinhold zwischen den »bedeutungslosen Lauten und Schriftzeichen« und den Begriffen, zwischen verschiedenen »Wörtern« und den »Worten«.47 Insbesondere der Kritik der reinen Vernunft wirft Reinhold jetzt vor, vom Wort ›Einheit‹ einen homonymen Gebrauch gemacht zu haben. Zwar unterscheide Kant zwischen der Kategorie, dem Verstandesbegriff ›Einheit‹ als Quantität und dem Begriff der Einheit als Reflexionsbegriff (»Einerleyheit«). Aber Kant entgehe, dass die Kritik selbst das Wort ›Einheit‹ für zahlreiche Begriffe benutze, nämlich nicht nur für quantitative Einheit, sondern auch für qualitative und absolute Einheit. Ferner führt Reinhold analytische und synthetische, transzendentale und empirische Verstandes- und Vernunfteinheit an, die, so Reinhold, von Kant weder unter die Kategorie ›Einheit‹ noch unter den Reflexionsbegriff ›Einheit‹ subsumiert werden könne. Mit einem Wort: Reinhold kritisiert an Kant nicht nur einen schwankenden Gebrauch der Wörter und Begriffe, sondern plädiert für eine Kritik des philosophischen Sprachgebrauchs im Sinne einer Kritik der speziellen philosophischen Begriffe. Über das Vorgehen einer solchen Metakritik gibt Reinhold indes nur einige orientierende Winke. Die Worterklärungen eines zu entwerfenden Begriffsregisters dürfen nicht auf dem »vulgären Sprachgebrauch« aufbauen. Ebenso wenig dürfen sie sich an die »dialektischen Blendwerke der formalen Denklehre« anschließen.48 Ausgeschlossen sei ferner, dass ein neues Begriffsregister die partikulären philosophischen Richtungen beerbe, handele es sich nun um skeptische oder dogmatische, kritische oder absolute Metaphysik. Statt45 

Ebd. VI. Ebd. XIX–XXI. 47  Ebd. 26. 48 Ebd. 46 

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dessen empfiehlt Reinhold das Vertrauen auf das Wahrheitsgefühl »des in jeder gebildeten Sprachgemeinschaft lebendigen Geistes«.49 Das mag für uns Heutige vage klingen, enthält aber eine sprachoptimistische Grundansicht von der Leistungsfähigkeit der Begriffe und spielt an auf die Paulinische Entgegensetzung, hier der lebendige Geist, dort der tote Buchstabe: »der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig« (2 Kor 3,6 b. 12–18).

IV.  Salomon Maimon Eine frühe, über Kant hinausführende Weiterentwicklung der Begriffstheorie findet sich bei S. Maimon.50 Sicher ist es nicht gerechtfertigt, Maimon, den wohl originellsten Denker der ersten Generation nach Kant, auf ein bloßes Zwischenglied zu reduzieren, das Kant mit dem Denken Fichtes verbindet. Maimon ist ein eigenständiger Kopf – und ein skeptischer dazu.51 Nicht ohne Grund richtet er sein Augenmerk erneut auf die Zentralkategorie der Kausalität. Maimon entwickelt eine große Sensibilität für das Verhältnis von Logik und Philosophie. Zwar versteht sich Maimon selbst als Kantianer, was ihn aber nicht daran hindert, das Verhältnis von Philosophie und Logik, wie Kant es entwirft, zu korrigieren. Anders als die Gegner Kants sind es vor allem dessen produktive Nachfolger, die eine Ausweitung der Transzendentalphilosophie anstreben. Die Klammer, die Kants kritische Philosophie zusammenhielt, war ein grundlegender Begriff der Vorstellung mit seinen weitgefächerten Binnendifferenzierungen. An dessen Stelle trat nun, etwa bei K. L. Reinhold, der Begriff des Bewusstseins als Grundbegriff. Die Besonderheit der Position Maimons besteht darin, dass er der nachkantischen Diskussion um das Ding an sich eine andere Wendung gibt. Im Gegensatz zu der vielstimmig geführten Debatte, bei der namentlich Aenesidemus-Schulze, Reinhold und Jacob Sigismund Beck hervortraten, leitet Maimon die Diskussion in ein methodisches Fahrwasser. Er begreift die Transzendentalphilosophie als ein methodenkritisches Projekt. Er interessiert sich nicht für die – bis heute intensiv geführte – Diskussion, die scheinbar nur eine Alternative kennt: Entweder bejaht man die reale Existenz der Dinge an sich oder man hält sie ›nur‹ für ein Gedankending.

49 

Ebd. 36.

50  Grundlegend:

Samuel Atlas: From Critical to Speculative Idealism. The Philosophy of Solomon Maimon (The Hague 1964); Frederick C. Beiser: The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte (Cambridge 1987) 285–323; Shmuel Hugo Bergman: The Philosophy of Solomon Maimon (Jerusalem 1967); Achim Engstler: Untersuchungen zum Idealismus Salomon Maimons (Stuttgart-Bad Cannstatt 1990); Martial Guéroult: La philosophie transcendentale de Salomon Maimon (Paris 1930); Abraham P. Socher: The Radical Enlightenment of Solomon Maimon. Judaism, Heresy, and Philosophy (Stanford 2006). 51  Vgl. Lidia Gasperoni: Maimon und der Skeptizismus. In: Fichte-Studien 39 (2012), 111– 128.

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Maimon widerspricht mit seiner Auffassung – mit guten Gründen und mit gutem Verständnis der Position Kants – beiden Konzeptionen. Er kritisiert die Orientierung beider an einer Abbildtheorie, die nur einen empirischen Realismus oder einen metaphysischen Idealismus übrig lasse. Anders als die Debatte um das Ding an sich akzentuiert Maimon das Problem der Objektivität, unter der er nicht die reale Existenz von Objekten, sondern eine Funktion der Erkenntnis versteht. Das Ding an sich wird – so betrachtet – in einen funktionalen Zusammenhang integriert, bei dem es nicht um das wirkliche Zustande-Kommen von Erkenntnissen geht, sondern um ein Bedingungsgefüge mit methodologischem Zuschnitt; – Überlegungen Maimons, die viel näher bei Kant liegen und nur wenig von der verdinglichenden Ding-an-sich-Debatte infiziert sind.52 Maimon vergleicht die Philosophie mit der Gottheit: »Die Philosophie überhaupt ist […] die alles in der menschlichen Erkenntniß regierende Gottheit.« Das Verhältnis von Gott und Welt vergleicht Maimon mit demjenigen der Philosophie zu den Wissenschaften. Ohne die Gottheit keine Welt, ohne die Welt keine Erkenntnis der Gottheit: »Ohne Philosophie ist keine Wissenschaft überhaupt möglich, weil sie die Form einer Wissenschaft überhaupt a priori bestimmt. Ohne irgend eine andere Wissenschaft vorauszusetzen, hat die Philosophie für uns gar keine Bedeutung.«53 Dies trifft in besonderer Weise auf das Verhältnis von Philosophie und Logik zu. Maimon diagnostiziert eine wechselseitige Abhängigkeit, allerdings unter dem Primat der Philosophie. Er entwickelt eine Theorie, nach der der transzendentalen Logik die Aufgabe zukommt, jene Begriffe allererst zu bestimmen, die der allgemeinen Logik ihre Bedeutung verleihen. Diese transzendentalen Begriffe bilden insofern die philosophischen Voraussetzungen, unter denen eine allgemeine Logik möglich wird. Wie das zu denken ist, zeigt Maimon an einem Beispiel: »Die logische Bejahung und Verneinung setzen die transzendentalen Begriffe von Realität und Negation voraus.«54 Dementsprechend konzentriert sich Maimons Begriffslehre auf die Unterscheidung von transzendentalen und empirischen Begriffen. Ein Begriff kann einerseits ein Produkt des Denkens sein. Denken ist für Maimon – wie bei Kant – ein synthetisches Geschehen. Denken ist Tätigkeit des Subjekts, die die identische Einheit des Bewusstseins des Mannigfaltigen voraussetzt. Durch das Denken wird eine objektive Einheit des Mannigfaltigen hervorgebracht.55 Objektive Einheit ist das Produkt des Denkens in der Synthesis des Mannigfaltigen. Insofern ist der Begriff empirischer Begriff, denn er bezieht sich auf das gegebene Mannigfaltige. Empirische Begriffe beziehen sich auf bestimmte Objekte. Sie sind Produkte des Denkens dieser Objekte. Der empirische Begriff bestimmt das Objekt, das eben durch diese Synthesis gedacht wird. 52 Vgl. Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. 3. Bd.: Die nachkantischen Systeme (New Haven, Connecticut 21923) 80–125. 53  S. Maimon: Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens (Berlin 1794) XIX. 54  Ebd. XXI; vgl. dazu E. Cassirer, a. a.O. [Anm. 52] Bd. 3,115–118. 55  S. Maimon: Logik, a. a.O. [Anm. 53] 12.

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Ein Begriff kann andererseits produktiv sein, dann ist er transzendentaler Begriff. Diese Begriffe – Maimon nennt sie kaum noch die »reinen Begriffe« – gelten ihm als innere Bedingung des Denkens. Sie gehen ihren Objekten und dem Denken der Objekte voraus, entweder einem Objekt überhaupt oder einem bestimmten Objekt. Begriffe sind die formellen Bedingungen des Denkens, nicht dessen Produkt. Ihnen entspricht der Stoff überhaupt, der eben darum kein bestimmter Stoff ist. Empirische Begriffe sind dementsprechend nachträglich, denn sie sind Produkte. Aber nicht Produkte des Dings an sich noch der Anschauung noch des Objekts, sondern einzig Produkt des Denkens. Wie Kant bestimmt Maimon das Verhältnis des Begriffs zur Vorstellung. Das Merkmal ist bereits eine Vorstellung, die sich auf ein besonderes Objekt beziehen lässt. Ein Begriff ist eine allgemeine Vorstellung, die sich auf mehrere Objekte beziehen kann. Der Unterschied zwischen Merkmal und Begriff ist eine Frage der Hinsicht. Betrachte ich das Merkmal isoliert, so ist es eine bloße Vorstellung, kein Begriff. Ein Objekt wird auf diese Weise nicht gedacht, sondern nur vorgestellt und ist insofern einzeln und nicht allgemein. Betrachte ich allerdings das Merkmal so, dass es nicht nur einem Objekt, vielmehr mehreren zukommen kann, dann ist das Merkmal Begriff, d. h. es eignet ihm die für einen Begriff notwendige Allgemeinheit. Für Maimon ist es – anders als für Kant – von großer Wichtigkeit zu klären, wie sich Begriff und Objekt unterscheiden. Wenn das Objekt erst dadurch Objekt wird, das es gedacht wird, sind Objekte nie ohne Begriffe oder, anders ausgedrückt, Begriffe sind konstitutiv für das Objekt-sein-Können. Trotzdem müssen sich aber Begriffe und Objekte unterscheiden lassen, und der Unterschied darf nicht von außen begründet sein, etwa durch eine Affektion ausgehend vom Ding an sich. Maimons Lösung besteht darin, das Objekt ganz von der Erkenntnisfunktion her zu bestimmen. So wird ein Objekt gedacht, wenn von der Bestimmbarkeit seines Begriffs abstrahiert wird. Insofern ist ein Objekt durch seine fehlende Bestimmbarkeit vom Begriff verschieden. Der Begriffscharakter des Begriffs besteht in seiner Bestimmbarkeit. Bestimmbarkeit ist der Kern des Begriffs. Sie macht seine Allgemeinheit aus und ermöglicht, dass ein Begriff sich auf mehr als ein Objekt beziehen kann: »Das in mehreren Objekten, auf mehr als einerlei Art bestimmbar, gedachte, ist ein allgemeiner Begriff dieser mehreren Objekte.«56 Unschwer lässt sich erkennen, dass Maimon das System der Erkenntnisweisen, insbesondere aber die Unterscheidungen der verschiedenen Erkenntnisfunktionen, nicht in einer Spezifikation des Stoffs oder des besonderen Dings begründet, sondern in der Logik und Methode des Erkennens selbst. Der entscheidende Unterschied des Begriffs vom Objekt, von Vorstellung und Anschau56  Ebd.

41. – Vgl. Oded Schechter: The Logic of Speculative Philosophy and Skepticism in Maimon’s Philosophy: Satz der Bestimmbarkeit and the Role of Synthesis. In: Salomon Maimon. Rational Dogmatist, Empirical Skeptic, hg. von Gideon Freudenthal (Dordrecht 2003) 18–53.

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ung, liegt in seiner Funktion begründet, das Objekt als bestimmbar zu denken. In dieser Hinsicht sind das Prinzip der Bestimmbarkeit und der Begriff des Begriffs Mitte und Methode der Überlegungen Maimons zur theoretischen Philosophie. Nach Maimon ist es der Grundgedanke der Transzendentalphilosophie, dass es nicht die Dinge an sich außer uns sind, die unsere Vorstellungen bewirken. Die Dinge an sich sind nicht der Grund unserer Erkenntnis. Maimon zufolge liegt hier ein falscher Gebrauch des Begriffs Grund vor. »Grund bezieht sich niemals aufs Dasein, sondern auf die Erkenntniß, und ist blos die Einheit, wodurch das Mannigfaltige in unserer Erkenntniß, nach Gesetzen des Erkenntnisvermögens verbunden wird. Das Allgemeine ist der Grund, von dem besonderen in unserem Erkenntniß.«57 Genau diesen Sachverhalt drückt Maimon im Satz der Bestimmbarkeit aus. Dieser Satz bezeichnet in aller Allgemeinheit das Verhältnis der Einheit des Bewusstseins mit allen in ihm zu verbindenden mannigfaltigen Einzelnen. Insofern ist der Satz der Bestimmbarkeit selbst »der Grund von der Erkenntniß aller reellen Dinge«.58 Die Bestimmbarkeit geht auf mögliche begriffliche Verhältnisse und nicht auf eine wirkliche Existenz außer uns. Die begrifflichen Verhältnisse sind der Grund, und insofern ist der Begriff der eigentliche Weltschöpfer.

V.  Fichte: Der Begriff als Weltschöpfer Die Überlegungen Fichtes zum Begriff des Begriffs schließen unmittelbar an Maimon an. Bereits in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre macht Fichte klar, dass er die von Maimon explizierte Wende der Transzendentalphilosophie mitvollzieht.59 Er überträgt, wie Maimon, den Satz des Grundes nun allerdings auf das grundlegende Verhältnis von Ich und Nicht-Ich. Kant legte in der Nova Dilucidatio zwei mögliche Fälle eines bestimmenden Grundes auseinander: (1) den vorgängig bestimmenden Grund, der das »Warum«, d. h. den Grund des Seins und Entstehens einer Sache anführt, und (2) den nachträglich bestimmenden Grund, der das »Dass« oder den Grund des Erkennens vorstellt.60 Maimon sah sich durch die Kritik Jacobis und Aenesidemus-Schulzes dazu veranlasst, beide Formen des Grundes (ratio) in Bezug auf die Frage nach der Realität des Erkennens zusammenzuführen. Das bedeutete vor allem, die Existenz der Dinge an sich außer uns als möglichen Grund des Erkennens, als Ursache unserer Vorstellungen, auszuschließen. Die Vorgängigkeit und Nach57 

S. Maimon: Logik, a. a.O. [Anm. 53] 372.

58 Ebd. 59 Grundlegend zu Fichte: Daniel Breazeale: Thinking Through the Wissenschaftslehre (Oxford 2013); Marco Ivaldo: Fichte (Milano 2014); Peter L. Oesterreich, Hartmut Traub: Der ganze Fichte. Die populäre, wissenschaftliche und metaphilosophische Erschließung der Welt (Stuttgart 2006); Günter Zöller: Fichte lesen (Stuttgart-Bad Cannstatt 2013). 60  I. Kant: Principiorum primorum cognitionis metaphysicae Nova Dilucidatio. AA Bd. 1, 392.

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träglichkeit des Grundes in Rücksicht auf das Erkennen werden verkehrt, genau dann nämlich, wenn der Satz des Grundes auf die Erkenntnis selbst angewendet wird. Wenn das Erkennen selbst nach dem Grund der Realität des Erkennens fragt, so kann die Antwort nur innerhalb des Erkennens liegen; der Grund muss eine Funktion des Erkennens selbst sein. In diesem Kontext entsteht Fichtes erste Wissenschaftslehre.61 Die im so genannten Dritten Grundsatz ausgedrückte Synthesis zweier – unbedingter – Handlungen setzt Fichte in seiner Lehre vom Beziehungs- und Unterscheidungsgrund fort – eine deutliche Anknüpfung an Maimon. Sieht man auf die der Entwicklung des § 3 (Teilbarkeit) zugrunde liegende thematische Dreigliederung von Schluss, Urteil und Begriff, dann kann man Fichtes systematische Ankündigung nachvollziehen, dass aus der Wissenschaftslehre – und erst unter ihrer Voraussetzung – Logik möglich wird.62 Deshalb integriert Fichtes Grundlage sowohl eine – freilich kurz gefasste – Lehre vom Begriff als auch eine Grundlegung der Logik und – bei Weitem offensichtlicher – eine Deduktion der Kategorien.63 Was die Begriffslehre betrifft, so beschränkt sich Fichte auf die Funktion der Begriffe zur Subsumtion. Diese Funktion ist begründet in der Lehre vom Beziehungsund Unterscheidungsgrund, der wiederum in der synthetischen Handlung der Teilbarkeit begründet ist. Das Ich setzt sich selbst (§ 1), das Ich setzt sich ein Nicht-Ich entgegen (§ 2). Beide Handlungen geschehen im Ich und durch das Ich. Beide Handlungen widersprechen sich und ihrem Gesetzt-Sein durch das Ich. Zugleich sind beide Handlungen im Ich als notwendig aufgewiesen worden. Erst der Grundsatz der Teilbarkeit (§ 3) schafft die Möglichkeit wechselseitiger Einschränkung durch Bestimmung. Es handelt sich also nicht nur um einen Grundsatz der Teilbarkeit – der Sache nach ist es ein Grundsatz der Bestimmbarkeit. Fichte verankert den Begriff folglich im transzendental philosophisch-genetischen Prozess der Deduktion der Vorstellung. Freilich ist Fichte in der frühen Wissenschaftslehre noch stark fokussiert auf die begriffshierarchische Funktion der Subsumtion. Anders verhält es sich mit den Kategorien, den reinen Begriffen. Hier geht es Fichte darum, die Kategorien aus einem Prinzip abzuleiten. Die Kategoriendeduktion Kants, die die einzelnen Kategorien an die logischen Funktionen – systematisiert in der Urteilstafel – zurückbinden wollte, erschien ihm, Fichte, mehr als ungenügend. Denn dies hätte zur Folge, dass die prima philosophia – die nicht mehr Metaphysik, sondern Wissenschaftslehre zu heißen habe – ein61  Vgl. Wolfgang

Class, Alois K. Soller: Kommentar zu Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (Amsterdam 2004). 62 Vgl. zum Folgenden: Rebecca Paimann: Die Logik und das Absolute. Fichtes Wissenschaftslehre zwischen Wort, Begriff und Unbegreiflichkeit (Würzburg 2006); Logik, Sprache, Wissenschaftslehre. Jena (1794) – Erlangen (1805) – Berlin (1812). In: Fichte in Erlangen 1805, hg. von Michael Gerten (Fichte-Studien) (Amsterdam 2009) 325–341. 63  Vgl. Wilhelm Metz: Kategoriendeduktion und produktive Einbildungskraft in der theoretischen Philosophie Kants und Fichtes (Stuttgart-Bad Cannstatt 1991).

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seitig von der Logik abhängig sei. Die Logik sei aber inhaltlich leer, ein Formalismus, aus dem die Wissenschaftslehre gar nicht entwickelt werden könne; denn schließlich gehe es in der Wissenschaftslehre um allen Gehalt und alle Form schlechthin und überhaupt. Die transzendentale Genese der Kategorien in der Wissenschaftslehre ist keine Deduktion im gewöhnlichen Sinne. Durch eine reflexive Abstraktion muss zunächst ein unmittelbar und daher durch sich selbst evidentes Prinzip aufgesucht werden. Dieses Prinzip ist nicht das schlechthin andere zu allen sonstigen Bewusstseinsinhalten, sondern ist vielmehr deren eigentliche Mitte. Fichtes Ich ist kein transzendentes, metaphysisch gesetztes Prinzip, sondern immanent, daher in jedem Bewusstseinsinhalt implizit enthalten. Das Ich, das weniger absolut ist im Sinne des Absoluten (Gottes etc.) als vielmehr transzendental im Sinne der transzendentalen Apperzeption Kants, – das Ich ist eine setzende Handlung, die zunächst nur sich selbst setzt, als Begriff den höchsten Punkt aller Begriffe ausdrückt, nämlich den Begriff der Realität. Alle anderen Begriffe sind dementsprechend abgeleitet. Dies trifft für die erste Wissenschaftslehre vor allem in Bezug auf die Kategorien zu. In den späteren Wissenschaftslehren, insbesondere in der von Fichtes Sohn, Immanuel Hermann, so bezeichneten Transzendentalen Logik, scheint Fichte davon auszugehen, dass alle Begriffe in solchen Ableitungsstrukturen stehen und dass sie, wie die reinen Begriffe, durch Analyse des Bewusstseins, durch Abstraktionen und Reflexion, abgeleitet werden könnten.64 Bei dieser Gelegenheit muss aber auf den Umstand hingewiesen werden, dass sich Fichtes Philosophie nicht nur wandelt, sondern gerade in Bezug auf die Leistungsfähigkeit der Begriffe schwankt.65 Eine der wichtigsten Beobachtungen, die an den späteren Texten Fichtes gemacht werden kann, ist jedenfalls ein Zug ins Performative. In der Konsequenz dieses Projekts, das sich in einem sich selbst setzenden Ich grundlegt, fordert Fichte, dass die Sprache der Philosophie als Handlung begriffen, dass die Sprache über die ›Tathandlung‹ in den Vollzug der ›Tathandlung‹ aufgelöst werden soll. Dem Sprechen steht nicht ein externer Inhalt gegenüber, und die Sprache ist nicht der Ausdruck, das Zei64 Zur

transzendentalen Logik vgl.: Alessandro Bertinetto: L’essenza dell’empiria. Saggio sulla prima ›Logica trascendentale‹ di J. G. Fichte (Napoli 2001); ders.: Die transzendentale Argumentation in der transzendentalen Logik Fichtes. In: Fichte-Studien 31 (2007) 255–265. 65  Die Debatte um die Frage, inwiefern sich Fichtes Lehre im Laufe seines Werkes veränderte, ist nach wie vor offen und wird seit Jahrzehnten mit unverminderter Intensität geführt. Es kann hier aber nicht der Ort sein, diese Debatte zu kommentieren. Darum sei nur verwiesen auf: Peter Baumanns: J. G. Fichte. Kritische Gesamtdarstellung seiner Philosophie (München 1990); Ch. Asmuth: Transzendentalphilosophie oder absolute Metaphysik? Grundsätzliche Fragen an Fichtes Spätphilosophie. In: Grund- und Methodenfragen in Fichtes Spätwerk, hg. von Günter Zöller und Hans Georg von Manz (Fichte-Studien 31) (Amsterdam, New York 2007) 45–58; H. Traub: Transzendentales Ich und absolutes Sein. Überlegungen zu Fichtes ›veränderter Lehre‹. In: Fichte-Studien 16 (1999) 39–56; Wolfgang Janke: Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus. Schelling, Hegel und Fichtes ungeschriebene Lehre (Fichte-StudienSupplementa 22) (Amsterdam, New York 2009) 173–229.

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chen, für diesen Inhalt. Die Formel, die Fichte für dieses Ziel der Philosophie prägt, lautet: Einheit von Tun und Sagen.66 Damit ist eine Existenzialisierung der Philosophie, aber auch eine Abwendung von einer auf Urteile bauenden philosophischen Methode verbunden. Die Wurzeln dieser Neuentwicklung findet man indes bereits in den frühen Texten – wenn man durch die späteren Texte dafür sensibilisiert ist. Die Grundsätze der ersten Wissenschaftslehre befinden sich nämlich in einer unaufgelösten und nicht eigens ausgedrückten Spannung zu jenen Handlungen des Bewusstseins, die sie ausdrücken sollen. Handlungsvollzug und Ausdruck, Tun und Sagen bilden schon in der ersten Wissenschaftslehre ein spannungsvolles Gefüge. Die spätere und späte Wissenschaftslehre stellen sich und ihren Vollzug ganz unter die Prämisse, dass sich diese Dialektik erst in der Unmittelbarkeit des Handelns auflösen lässt. Das hat natürlich Folgen für das Verhältnis der Philosophie zum Begriff. So wundert es nicht, dass Fichte zugleich Begriffsoptimist und -pessimist ist. Was zunächst eine psychologische Beobachtung zu sein scheint: Fichtes Aversion gegen das schematische Lernen von Begriffen und Sätzen als Didaktik der Philosophie entpuppt sich als eine grundlegende Veränderung im Verhältnis zum Begriff. Das lässt sich schön an einer Passage aus einer nachgelassenen Schrift zeigen: Der Patriotismus und sein Gegenteil. Fichte spricht dort von der Sprache im Allgemeinen; was er sagt, ist aber speziell auf den Begriff zu übertragen, wie sich später zeigen wird: »Die Sprache liegt selbst in der Region der Schatten, und die durchgeführte fällt zusammen mit dem Seyn, als deßselben ersten und unmittelbarer Schatten. […] Es ist durchaus nothwendig, daß am Princip der realen Wißenschaft die Sprache zu Ende gehe, und daß über dieses Princip eine Verständigung in Worten nicht möglich sey.«67 Das Zu-Ende-Gehen der Sprache reflektiert auf die Unbegreiflichkeit des Grundes. Allerdings ist dieser Grund nicht das unvordenkliche Andere einer mystischen Theologie. Fichte geht es vielmehr um die absolute Immanenz des Prinzips der Transzendentalphilosophie, das sich aus systematischen Gründen nicht in Begriffen aufschlüsseln lässt. Der Grund ist reine Aktivität, ›Genese‹, für die kein adäquater sprachlicher Ausdruck gefunden werden kann. Der Sprache, insbesondere dem Begriff, eignet nämlich eine Tendenz zur »Objektivität«. Es ist diese »Grundwendung« des Begriffs, die einerseits Objektivität ermöglicht, der Begriff ist die transzendentale Möglichkeitsbedingung der Objektivität (Maimon); es ist dieselbe »Grundwendung«, die es andererseits unmöglich macht, den konstitutiven Grund allen Begreifens selbst wiederum zu begreifen.68 66 Vgl.

Ch. Asmuth: Tun, Hören, Sagen. Performanz und Diskursivität bei J. G. Fichte. In: Literarische Darstellungsformen der Philosophie im Umfeld von Romantik und Deutschem Idealismus, hg. von Brady Bowman (Paderborn 2007) 77–93. 67  J. G. Fichte: Der Patriotismus und sein Gegentheil, GA II/9, 429. – Fichte wird im Folgenden zitiert nach: Gesamtausgabe der Bayerischen Akadademie der Wissenschaften, hg. von Reinhard Lauth u. a. (Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012) [= GA]. 68  J. G. Fichte: Wissenschaftslehre 21804. GA Bd. II/8, 228 f.

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Allerdings muss man auch hier zu dem Urteil kommen, dass – genau betrachtet – auch dieses Element der späteren Philosophie Fichtes bereits früh verankert ist. Denn gerade in den Passagen über Beziehungs- und Unterscheidungsgrund folgert Fichte, dass jedes begründete Urteil einen Beziehungs- und Unterscheidungsgrund besitzt; eine Ausnahme bildet allein dasjenige, »dem nichts gleich, und nichts entgegengesetzt werden kann. Der Gegenstand solcher Urtheile ist das absolute Ich, und alle Urtheile, deren Subjekt dasselbe ist, gelten schlechthin«.69 Der Unterschied zwischen der frühen und späten Konzeption Fichtes besteht in der Bewertung. Vertraute Fichte in jener noch ganz auf die Macht des Begriffs und auf die Fähigkeit der Urteile, so weicht in dieser der Optimismus einer Auffassung, welche die Ohnmacht des Begriffs akzentuiert; – zumindest was dessen Fähigkeit betrifft, das reale genetische Prinzip der Transzendentalphilosophie zu begreifen. Das Begreifen des Unbegreiflichen als Unbegreiflichen wird deshalb zur Losung des späteren Fichte.70 Das wirkt sich auf die Methode der Wissenschaftslehre aus. Im Unterschied zur früheren Fassung in Jena verändert Fichte die Darstellung der Wissenschaftslehre grundlegend. Das betrifft nicht nur die Anordnung der Inhalte, sondern auch das Rückgrat der Argumentation. Die frühe Wissenschaftslehre macht reichen Gebrauch von Sätzen, Grundsätzen, später Urteilen, es werden Begriffe deduziert; alles dies gespeist aus der ursprünglichen Dialektik von Ich und Nicht-Ich. Die spätere Wissenschaftslehre hebt den Vollzug des Wissens in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Dialektik von Tun und Sagen, von Vollzug und Diskursivität regiert nun die Spannung von Ich und Nicht-Ich, von Denken und Sein. Das bedeutet zugleich, dass die Gewissheit des Wissens seiner Wahrheit vorgeordnet wird. Der Begriff wird entlastet, denn ihm steht das Handeln gegenüber, das ihm – betrachtet man Fichtes spätere Wissenschaftslehre im Ganzen – sogar prinzipiell vorgeordnet ist. Das ist derselbe Primat des Praktischen, der auch schon die erste Wissenschaftslehre dominiert, aber nun nicht als »Feststellung« eines Primats, sondern als dessen tätige Verwirklichung. Der spätere Fichte erkennt, dass der Begriff zu starr ist für eine Philosophie der absoluten Genese. Die Begriffe müssen verflüssigt werden, um in die Wissenschaftslehre zu passen, die seit 1800 kein gedrucktes Buch mehr ist, sondern ein »lebendiger Gedanke«. Der mündliche Vortrag, speziell das Konversatorium nach der Vorlesung, ist jetzt der eigentliche Ort, um diese Wissenschaftslehre zu praktizieren. Althergebrachte Begriffe, so Fichtes Vorhaben, müssen ersetzt werden. Der Philosoph muss Dichter werden. Die Schüler der Wissenschaftslehre sollen nicht Auswendiggelerntes wiedergeben. So fordert Fichte: »nicht gerade an die Worte, u. Ausdrüke des Lehrers gehalten, sondern selbst, falls man 69 

J. G. Fichte: Die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95). GA I/2, 273. Ch. Asmuth: Das Begreifen des Unbegreiflichen. Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte. 1800–1806 (Stuttgart-Bad Cannstatt 1999). 70 Vgl.

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sie wüsste, neue [Worte verwenden].«71 Eine neue philosophische Sprache soll die neue lebendige Philosophie, die nach Fichte nun Wissenschaftslehre heißt, angemessen ausdrücken: Der Philosoph wird Dichter und Erfinder neuer, aufregender, animierender Wörter und Bilder. Mit dieser Aufforderung verlässt Fichte allerdings die Bahnen der vorgezeichneten Begriffslehren. Die Flexibilisierung und Dynamisierung der philosophischen Sprache richtet sich gerade gegen die starre Begrifflichkeit. Das ist eine Variation jenes Themas, das die ganze Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants prägt: Die maßgebliche Unterscheidung von totem Buchstaben und lebendigem Geist (2. Korinther 3, 6), die Fichte nicht nur als hermeneutisches Prinzip begreift, sondern als ein philosophisches Votum für die Dynamisierung des Denkens.72 Der Begriff behält bei Fichte seine Bedeutung; – aber sie besteht nicht in der Ergründung eines transzendenten Grundes, sondern in der Erklärung der Welthaltigkeit der Welt. Fichtes Lösung der Grundfrage jeder Transzendentalphilosophie, wie es möglich sei, vom Subjekt her die Objektivität der Wirklichkeit zu konstruieren, baut auf die Funktion des Begriffs. Das gilt bereits für die erste Wissenschaftslehre, in der Fichte betont, dass es eben die Funktion des Begriffs sei, die dynamisch-fließende Tätigkeit des Ich, die Tathandlung, zu fixieren und zu einer Tatsache zu konkretisieren. Der Begriff stellt die Wirklichkeit fest, bringt sie dadurch allererst zu Stande, hält fest, was in einem kontinuierlichen Fluss ist. Das ist auch die Auffassung des späteren Fichte. Der Begriff, schreibt er 1806, sei der »eigentliche Weltschöpfer, vermittelst der, aus seinem innern Charakter erfolgenden, Verwandlung des göttlichen Lebens in ein stehendes Seyn, und nur für den Begriff, und im Begriffe ist eine Welt, als die nothwendige Erscheinung des Lebens im Begriffe«.73 Fichte denkt dabei an den Verstand als das Vermögen der Begriffe. Er ist das Auge, für das eine Welt ist. Die Wirklichkeit der Welt wird, um im Bild zu bleiben, im Hinblicken. Freilich gilt: Das Auge sieht sich nicht selbst. Vielmehr steht das Auge dem Auge selbst im Weg. Vor allem, wenn es darum geht, sich selbst zu erkennen. So bleibt es beim späteren Fichte bei einer Ambivalenz: Der Begriff ist einerseits die schöpferische Kraft der Weltschöpfung. Der Begriff konstituiert, wie bei Kant und Maimon, die Objektivität der Welt. Aber nach Fichte bringt er dabei die ursprünglich dynamische Kraft des Ich zum Stillstand. Die Sprache der Philosophie muss daher eine andere sein als die des Verstandes. Fichte redet einer Dynamisierung der Begriffe das Wort. Der Philosoph muss Dichter werden, um die Sprache zu erneuern. Das verträgt sich nur noch schlecht mit den traditionellen Begriffen der Philosophie. In der Konsequenz bedeutet das, dass die Wissenschaftslehre in ihrem Kern auf Begriffe verzichten muss. Damit ist die alte Urteilstheorie, die Kant und Reinhold noch explizit gewollt hatten, völlig in 71 

J. G. Fichte: Wissenschaftslehre 11804. GA II/7, 78. Geist und Buchstab in der Philosophie (1799/1800). GA I/6, 333–361. 73  Ders.: Anweisung zum seeligen Leben. GA I/9, 97. 72  Vgl. ders.: Ueber

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eine dynamische Wissenstheorie übergegangen, in deren Prinzip Tun und Sagen identisch sein sollen.

VI.  Hegels Auffassung vom Begriff In gewisser Hinsicht entwickelt sich Fichtes Wissenschaftslehre mit den Mitteln der Philosophie Kants über Kant hinaus. Die Idee einer völlig selbstreflexiven Aufklärung des Wissens über sich selbst führt die Grenzen der Begriffstheorie vor Augen und nötigt Fichte dazu, den Begriff zu Gunsten der Performanz zu überschreiten, ohne dabei das Gebiet des Begrifflichen substantiell zu schmälern. Die Philosophie Hegels ist in vielen Punkten mit Fichtes Idee einer Wissenschaftslehre verwandt. Hegel geht es wie Fichte letztlich um die völlige Selbsttransparenz des Wissens. Anders aber als Fichte sieht Hegel einzig den Begriff selbst als das Medium, als die Mitte, dieses Projekts. So kann es nicht verwundern, dass für Hegel der Begriff im Zentrum seiner Philosophie steht. Begreift man Hegels Auffassung vom Begriff in seiner philosophiegeschichtlichen Entwicklung, dann sieht man klar, dass er den Impuls Fichtes aufnimmt, der auf eine Dynamisierung der Philosophie und des Wissens gerichtet ist. Aber anders als bei Fichte führt Hegels Philosophie nicht über den Begriff hinaus. Der Begriff wird nicht an der Grenze des Absoluten zurückgewiesen, sondern selbst dynamisiert, um die Funktion des Absoluten zu erfüllen. Von dieser Warte aus gesehen positioniert Hegel den Begriff nicht als das einseitige Gegenüber der Unmittelbarkeit. Mit dem Begriff steht nicht das Diskursive in unmittelbarer Opposition zur Anschauung. Die Wissenschaft der Logik stellt dem Unmittelbaren, dem Sein, zunächst die Reflexion gegenüber; ein Verhältnis, das nicht nur eine Folge anzeigt, durch die das Sein sich zur Reflexion fortbestimmt, sondern auch eine Grundlage des Seins. Die abstrakte Unmittelbarkeit, die das Sein als Erstes kennzeichnet, erhält in der Reflexion eine Grundlage. Der Begriff ist für Hegel das Dritte zum Sein, dem Unmittelbaren, sowie dem Wesen, der Reflexion. Wie die Reflexion über das Sein hinausgeht, so geht der Begriff über die Reflexion hinaus – und ist deren Grundlage, deren Wahrheit und Einheit.74 Um diese Überlegungen an Fichte anzuschließen, lohnt es sich, das Augenmerk auf die Vermittlung zu legen. Bei Fichte zeigte sich, dass es aus der transzendentalphilosophischen Grundanlage seiner Philosophie heraus

74  G.

W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Begriff. GW Bd. 12, 11. – Hegel wird im Folgenden zitiert nach: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke, herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften (Hamburg 1968 ff.) [=GW]. – Zur Begriffslogik vgl. Miriam Wildenauer: Epistemologie des freien Denkens. Die logische Idee in Hegels Philosophie des endlichen Geistes (Hamburg 2009); Christian Iber: Hegels Konzeption des Begriffs. In: Hegel. Wissenschaft der Logik (Klassiker auslegen), hg. von Anton Koch und Friederike Schick (Berlin 2002) 181–201.

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keinen Standpunkt absoluter Unmittelbarkeit geben kann. Der einzige Punkt, der für eine derartige systembildende Unmittelbarkeit infrage käme, wäre das grundsätzliche Ich. Dieses ist aber gerade nichts anderes als absolute Selbstvermittlung als Grundlage aller Vermittlungsprozesse. Ähnlich denkt Hegel. In Bezug auf die Momente, die den Begriff konstituieren, Sein und Wesen, Unmittelbarkeit und Reflexion, verhält sich der Begriff negativ. Das Wesen negiert das Sein, »er-innert« es nur noch. Der Begriff negiert das Wesen. Insofern ist der Begriff das »wiederhergestellte Sein«, aber nicht wiederum erstes unmittelbares Sein, sondern das Sein »als die unendliche Vermittlung«.75 Dieser Gedanke enthält zweierlei: Einerseits zeigt Hegel die Genese des Begriffs auf. Aus dem Sein, der anfänglichen Unmittelbarkeit, entwickelt sich, so Hegel, die Reflexion, die dem Sein gegenübersteht und als deren Vermittlung der Begriff eintritt. Wenn man nach Hegel verstehen will, was der Begriff ist, muss man diesen Weg nachvollziehen, der die logische Entstehungsgeschichte des Begriffs enthält. Andererseits ist dieser Weg ein Weg in den Grund. Aus dieser Perspektive ist der Begriff die Grundlage der gesamten Bewegung vom Sein über die Reflexion bis zum Begriff, das ursprüngliche unmittelbare Sein ist daher schon immer vermittelt. Dieser zweite Aspekt der Entwicklung ist entscheidend für das Verständnis des Begriffs bei Hegel. Denn Hegel bringt damit zum Ausdruck, dass nicht das Sein die Funktion einer unhintergehbaren Voraussetzung einnimmt, sondern der Begriff. Das Vermittlungsgeschehen durch den Begriff ist primär und speichert in sich den dynamischen Prozess seines Zu-sich-Kommens. Der Begriff erklärt sich insofern selbst über sich selbst auf. Die Substanz begreift sich im Begriff als frei. Die Ursprünglichkeit ist »zur sich selbst durchsichtigen Klarheit geworden; die ursprüngliche Sache ist diß, indem sie nur die Ursache ihrer selbst ist, und diß ist die zum Begriff befreyte Substanz«.76 In dieser Argumentation macht Hegel die Entwicklung der Philosophie von Spinoza bis Fichte transparent. Fichte hatte bereits in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre festgehalten, dass sich das Prinzip der Philosophie bei Spinoza, die Substanz, in der Wissenschaftslehre wiederfinde, »aber nicht als etwas, das ist, sondern als etwas, das durch uns hervorgebracht werden soll, aber nicht kann. – – Ich bemerke noch«, schreibt Fichte weiter, »daß man, wenn man das Ich bin überschreitet, nothwendig auf den Spinozismus kommen muß! […] und daß es nur zwei völlig consequente Systeme giebt; das Kritische, welches diese Grenze anerkennt, und das Spinozische, welches sie überspringt.«77 Der Begriff ist – Hegel zufolge – als Resultat seiner Entwicklung nicht nur »zum Begriffe befreyte Substanz«, sondern »nichts anderes als Ich oder das reine Selbstbewußtseyn. Ich habe wohl Begriffe, das heißt bestimmte Begriffe; aber Ich ist 75 

G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Begriff. GW Bd. 12, 29. Ebd., 16. 77  J. G. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre. GA I/2, 264. 76 

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der reine Begriff selbst, der als Begriff zum Daseyn gekommen ist«.78 Die Substanz wird Ich, transzendentale Apperzeption, Verstand. An vielen Stellen kann man bei Hegel lesen, dass er den Verstand abwertet, und zwar gegenüber der Vernunft.79 Die Rede ist dann vom ›gemeinen Menschenverstand‹, von ›abstrakten oder leeren Verstandesbegriffen‹. Der Verstand ist eine Erkenntnisfunktion, die trennt und unterscheidet, und die Getrennten und Unterschiedenen in ihrer Bestimmtheit festhält. Gewöhnlich setzt Hegel dem Verstand die Vernunft gegenüber, die die Trennung überwindet und Versöhnung stiftet. Diese Auffassung ist häufig verbunden mit einer Kritik an Kant und dessen Versuch, die Schranken der Vernunft durch Einsicht in die Funktionsbedingungen des Verstandes zu erlangen. Aber diese Redeweise über den Wert des Verstandes wird von Hegel vielfach korrigiert. So etwa in der Phänomenologie des Geistes, in der es heißt: »Die Thätigkeit des Scheidens ist die Krafft und Arbeit des Verstandes, der verwundersamsten und größten, oder vielmehr der absoluten Macht. Der Kreis, der in sich geschlossen ruht, und als Substanz seine Momente hält, ist das unmittelbare und darum nicht verwundersame Verhältniß. Aber daß das von seinem Umfange getrennte Accidentelle als solches, das gebundne und nur in seinem Zusammenhange mit anderm Wirkliche ein eigenes Daseyn und abgesonderte Freyheit gewinnt, ist die ungeheure Macht des Negativen; es ist die Energie des Denkens, des reinen Ichs.«80 Hegels Einsicht besteht darin, den Verstand, den trennenden und abstrahierenden Begriff nur insofern zu kritisieren, als er sich selbst als das Ganze setzt. Das zeigt sich in den vielfältigen kritischen Stellungnahmen gegen das schematische Rechnen, die quantifizierenden Naturwissenschaften, die bloße Abstraktion, die formalen Verstandesbegriffe. Andererseits, und das muss man in diesem Zusammenhang nachdrücklich betonen, kritisiert Hegel ebenso scharf jene philosophischen Ideen, die einer differenzlosen Einheit das Wort reden, einer Einheit, die alle Unterschiede in sich getilgt hat. Gerade in der Phänomenologie des Geistes entdeckt Hegel die Dynamik des Negativen, die durch den Verstand initiiert wird, der gerade nicht Einheit, sondern bestimmte Unterscheidungen hervorbringt.81 Die Vernunft, welche die Einheit und Versöhnung in den Unter78 

Vgl. G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Begriff. GW Bd. 12, 16 f.; ders.: Encyclopädie (1827) § 80. GW Bd. 19, 91. 79  Vgl. G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik: Die objektive Logik. (1812/13), GW 11, 17–19. – Vgl. Ch. Asmuth: Der Empirismus und die kritische Philosophie Kants. Zur zweiten ›Stellung des Gedankens zur Objektivität‹ im enzyklopädischen Vorbegriff der spekulativen Logik. In: Der ›Vorbegriff‹ aus Hegels ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse‹ (1830), hg. von Alfred Denker [u. a.] (Freiburg, München 2010) 144–165; Raphael Wild: Gott erkennen: ›Methode‹ und ›Begriff‹ in G. W. F. Hegels Wissenschaft der Logik (London 2005); Wolfgang Krohn: Die formale Logik in Hegels Wissenschaft der Logik. Untersuchungen zur Schlusslehre (München 1972); Der Begriff als die Wahrheit. Zum Anspruch der ›Subjektiven Logik‹, hg. von Friedrich Koch, Alexander Oberauer, Konrad Utz (Paderborn u. a. 2003). 80  G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. GW Bd. 9, 27. 81  Ch. Asmuth: Die Dynamik der Vernunft und der Reichtum der Gehalte. Hegels Position

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schiedenen hervorbringt, tritt nicht äußerlich, durch ein drittes Vermögen an die Unterschiedenen heran. Die Vernunft ist selbst Begriff. Hegel ist der Auffassung, »daß der Begriff als solcher noch nicht vollständig ist, sondern in die Idee sich erheben muß, welche erst die Einheit des Begriffs und der Realität ist, wie sich […] durch die Natur des Begriffes selbst ergeben muß«.82 Der Begriff, da er einmal zu sich gekommen ist, verliert sich nicht wieder. Mehr noch: Der Begriff ist das Erste; er bildete die Kreise heraus, innerhalb derer sich die Prozesse der Bedeutungsbildung abspielen. Unterscheidungen werden getroffen, nicht angetroffen. Deshalb bezeichnet Hegel den Begriff als ›absolute Macht‹. Der Begriff ist die Kraft, den Unterschied zu machen. Das Sein muss übergehen in sein Anderes, das Nichts, das Wesen muss scheinen in sein Anderes, nur der Begriff entwickelt sich in sich selbst. Der Begriff hat kein Anderes, sondern nur ein »Fortgehen« in sich, das sich vom Begriff als solchem, über die Objektivität in sich zur Idee fortentwickelt. Hegel bemerkt, »daß der Begriff in seinem Prozeß bei sich selbst bleibt«.83 Die Idee, die Wahrheit der Vernunft, ist Begriff: »Die verschiedenen Weisen, die Idee aufzufassen, als Einheit des Ideellen und Reellen, des Endlichen und Unendlichen, der Identität und der Differenz und so fort, sind mehr oder weniger formell, indem sie irgendeine Stufe des bestimmten Begriffs bezeichnen. Nur der Begriff selbst ist frei, und das wahrhaft Allgemeine; in der Idee ist daher seine Bestimmtheit ebenso nur er selbst; eine Objectivität, in welche er als das Allgemeine sich fortsetzt, und in der er nur seine eigene, die totale Bestimmtheit hat.«84 In der Idee vollendet sich der Begriff;85 – nicht durch eine weitere Bestimmung durch ein Anderes, durch etwas der Idee Äußerliches, sondern durch sich selbst. Insofern ist die Bestimmtheit der Idee Selbstbestimmung, höchste Autonomie, Freiheit. »[…] die Idee ist also nur in dieser Selbstbestimmung, sich zu vernehmen; sie ist in dem reinen Gedanken, worin der Unterschied noch kein Anderssein, sondern sich vollkommen durchsichtig ist und bleibt.«86 Hegels Auffassung vom Begriff mündet also in dessen Totalisierung in der Idee. Er schließt damit die Kluft zwischen Verstand und Vernunft, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft eingezogen hatte. Das entspricht Hegels Auffassung, dass es in der Philosophie darum gehen müsse, die Endlichkeit des Verstandes aufzubrechen und die Inhalte der Vernunft, die bei Kant unter das Verdikt des ›an sich‹ gefallen sind, für die Philosophie zurückzugewinnen. Dass dabei die Grenzziehung der Vernunft nicht einfach nur revidiert wird, dass Hegel nicht einfach zur Metaphysik zurückkehren will, zeigt sich in der Dynamisierung seiin der Vorrede zur ›Phänomenologie des Geistes‹. In: Hegel-Jahrbuch 2001: Phänomenologie des Geistes. 1.Teil, hg. von Andreas Arndt, Karol Bal, Karol und Henning Ottmann (Berlin 2002) 34–40. 82  G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Begriff. GW Bd. 12, 20. 83  G. W. F. Hegel: Enzyklopädie (1830) § 161 Zusatz. Werke, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 8 (Frankfurt a. M. 1970) 309. 84  G. W. F. Hegel: Encyclopädie (1827) § 214. GW Bd. 19, 168. 85  Vgl. Ludovicus de Vos: Hegels Wissenschaft der Logik. Die absolute Idee (Bonn 1983). 86  G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Begriff. GW Bd. 12, 285.

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nes Begriffs des Begriffs. Der endliche Verstand ist als Moment der unendlichen Vernunft ›aufgehoben‹, d. h., seine Gültigkeit ist eingeschränkt, aber er ist dennoch aufbewahrt. Seine ›absolute Macht‹ bleibt erhalten, die Negativität verliert ihren Stachel nicht. Die Autonomie des Begriffs zeigt die Prävalenz der Vermittlung. Erst im Begriff kehrt die Philosophie Hegels in ihre eigentliche Grundlage ein. Es ist nicht das unmittelbare Sein, das sich in Stufen zum Begriff entwickelt, sondern der Begriff, der in einer Retrospektive seine eigene Genese ergründet, sich dabei aber niemals selbst verlässt.

VII. Schluss Die Philosophie Kants war für das Nachdenken über Begriffe und das Nachdenken in Begriffen für das gesamte 19. Jahrhundert und weit darüber hinaus grundlegend.87 Das zeigt sich in den Begriffstheorien von Herbart, Trendelenburg, Bolzano und selbst noch bei Frege.88 Begriffsoptimismus und -pessimismus überschneiden sich dabei ebenso wie Formalisierung und Universalisierung, Begriffsbeschränkung und -erweiterung. Zweifellos setzt der Siegeszug der formalen Logik jede Form materialer Logik unter großen Druck.89 Durch die Entwicklung eigenständiger Sprachwissenschaften schälen sich ganz neue Arbeitsbereiche heraus, die von klassischen Ansätzen nicht im Mindesten ausgefüllt und abgedeckt werden können. Die materialen und formalen Bedingungen des Sprechens und des Gebrauchs von Begriffen entfernen sich immer mehr voneinander.90 Immer weniger Einigkeit herrscht darüber, welche Funktion Begriffe überhaupt erfüllen können und sollen. Damit ist eine überaus erfolgreiche Krise der Rationalität verbunden, erfolgreich, weil sie einen Schub in der Entwicklung logischer Kalküle hervorbrachte, Krise, weil die Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit der Begriffe immer größer wurde.

87  Eine

gute Quelle ist hier: Carl Prantl: Die Bedeutung der Logik für den jetzigen Standpunkt der Philosophie (München 1849). 88  Vgl. Michael Wolff: Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Mit einem Essay über Freges Begriffsschrift (Frankfurt a. M. 1995); Ansgar Beckermann: Zum Verhältnis von Kantischer und Fregischer Logik. Kritische Einwände gegen Michael Wolff. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 52 (1998) 424–434; J. MacFarlane: Kant, Frege, and the Logic in Logicism. In: Philosophical Review 111 (2002) 25–65. 89  Grundlegend und immer noch bedenkenswert hierzu die Auffassung E. Cassirers in: Zur Theorie des Begriffs. In: Kant-Studien 33 (1928) 129–136. 90  Vgl. einerseits Autoren wie Moritz Wilhelm Drobisch: Neue Darstellung der Logik. Nach ihren einfachsten Verhältnissen, mit Rücksicht auf Mathematik und Naturwissenschaft (Leipzig 21854) und andererseits etwa Autoren wie Heinrich Moritz Chalybäus: Entwuf eines Systems der Wissenschaftslehre (Kiel 1846) (aus hegelianischer Sicht), bes. 153–175, oder Friedrich Adolf Trendelenburg: Logische Untersuchungen, 2 Bde. (Berlin 1840) (aus aristotelischer Sicht).

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Diese Entwicklung ist bereits in den ersten Jahren nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft spürbar. Diese Schrift selbst ist sicher nicht der Auslöser der Krise, aber dennoch deren unleugbarer und theoretisch beeindruckender Reflex. Die Entwicklung besteht in einer Diversifizierung und Radikalisierung. Das Verhältnis zum Begriff bleibt nicht auf bloß technische Veränderungen beschränkt. Der Umfang jenes Gebiets, über das man diskutieren muss, wenn man vom Begriff spricht erweitert sich rasant. Für Kant war der Begriff und mit ihm das Urteil noch die strukturelle Mitte der Philosophie. Ausgehend von ihm ließ sich die Logik entwickeln, und die Logik wiederum strukturierte die Philosophie. Ganz unverdeckt erkennt man diesen Zusammenhang in der Kritik der reinen Vernunft. Die Inhalte fügen sich dort noch nahtlos dem Rhythmus, den die Urteilstafel vorgibt. Die Verstandes- und Vernunftbegriffe folgen dieser Struktur und fügen sich in ein Ganzes der Erkenntnis. Das Vertrauen in die strukturbildende Kraft der Begriffe, Urteile und Schlüsse scheint bei Kant noch ungebrochen. Bereits die erste Generation der Kantkritiker lässt sich nicht mehr durch Kants Vertrauen auf die Kraft des Diskursiven beruhigen. Es spiegelt sich in den skeptischen Einlassungen bei Hamann, Herder und Jacobi die nicht völlig unbegründete Kritik an der beginnenden Moderne, das Vertrauen auf die Diskursivität und Rationalität könnte ins Leere führen. Freilich mangelt es ihnen an einem Konzept, was an deren Stelle treten könnte. Am besten zeigt sich die Radikalisierung dieses Neuansatzes in dessen Fortentwicklung bei Fichte und Hegel. Beide greifen die Kritik an der Alleinherrschaft des Begriffs auf – freilich auf je eigene Art und Weise. Bei Fichte ist es das Unbegreifliche des Vollzugs, das die Herrschaft des Begriffs durchbricht. Aber es geht ihm in seiner Rede von der Vernichtung des Begriffs nicht um dessen Ende, sondern seine Grundlegung in praktischer Absicht. Der Begriff musste einen Platz finden in einem philosophischen Prozess, der von der Praxis ausgeht und auf die Praxis gerichtet ist. In diesem Prozess spielt die Logik nur noch eine untergeordnete Rolle. Sie ist nicht mehr, wie bei Kant, Ausgangspunkt der Kategoriendeduktion. Die Verstandesbegriffe sind nun nur noch innerhalb einer praktischen Grundlegung zu deduzieren. Die theoretische Philosophie ist nur innerhalb einer praktischen, nur noch zum Zweck einer praktischen Philosophie zu haben. Im Grunde sind Begriffe nichts anderes als Handlungen – Handlungen, die letztlich in einem Produkt gerinnen. Begriffe erzeugen die Welt, charakterisieren sie, machen die Welt vorstellbar. Das Ziel sollte schon bei Fichte sein, die Welt nicht nur zu beschreiben, sondern sie zu verändern. Die Begriffe müssen deshalb konsequenterweise dynamisiert und ›verflüssigt‹ werden, wenn sie dazu dienen sollen, wiederum in Handlung überzugehen. Der Übergang vom Begriff in die Handlung kann gelingen, weil der Begriff immer schon Handlung ist. Ein Pragmatismus ganz eigener Art. Hegels Auffassung vom Begriff bleibt dagegen der Sphäre des Diskursiven verbunden. Das Pathos des revolutionären Fichte lehnt er ab. Seine Auffassung

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von der Aufgabe der Philosophie ist es, dass sie ihre Zeit in Begriffe fassen solle. Sein Grundgedanke einer Totalität des Begriffs ist nicht mit einer Anmaßung der Vernunft zu verwechseln, sich des Ganzen zu bemächtigen. Seine Auffassung beruht auf der Einsicht, dass das Denken letztlich unhintergehbarer Ausgangsund Endpunkt der Welt- und Selbstaufklärung sein müsse. Der Begriff drückt daher nicht nur die formale und abstrakte Voraussetzung einer Philosophie der Subjektivität aus, sondern versucht sie im Begriff auch inhaltlich einzuholen. Der Stellenwert, den darin Differenz und Negativität beanspruchen, verbietet es, Hegel als Identitätstheoretiker zu etikettieren. Die ›Arbeit des Begriffs‹ charakterisiert Hegel als Denker der Moderne.

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Der Begriff ›Bewusstsein‹ unterliegt einem ständigen Bedeutungswandel. Während er an seinen Ursprüngen abhängig war von einem ontologischen Kontext und das Bewusstsein vom Sein her bestimmt wurde, geht es heute – in der Perspektive von Kognitionswissenschaft, Neurologie und Psychologie – um die Frage, welche Bedingungen und funktionalen Kriterien erfüllt sein müssen, um vom ›bewussten Sein‹ sprechen zu können. Im 19. Jahrhundert werden die entscheidenden Weichenstellungen für diesen Bedeutungswandel vorgenommen. Die Begriffsgeschichte enthält einige Anhaltspunkte, von denen hier ein Stenograph gegeben werden soll. Im Neuplatonismus ist von ›Syneidesis‹ die Rede und dies bleibt ein feststehender Begriff bis in die neuplatonischen Strömungen des 17. Jahrhunderts. John Locke löst einen technischen Begriff der ›conscientia‹ aus dem Kontext der Gewissensanalyse, in der Erkenntnis und ihr zum Handeln verpflichtender Charakter zusammengedacht wurden. Gottfried Wilhelm Leibniz spricht von der ›Apperzeption‹ als einem einheitlichen Bewusstseinszusammenhang, aber erst Christian Wolff bringt in Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen ueberhaupt (1720) das Bewusstsein auf den Begriff der Einheit.1 Pointiert nennt Fritz Mauthner in seinem Wörterbuch der Philosophie das Bewusstsein, als er das 18. und 19. Jahrhundert resümiert, einen »Sammelbegriff« (wie das »Leben«) und beschreibt einen Prozess der allmählichen Substantivierung – als einer Transformation des Vorgangs »sich einer Sache bewusst sein« zum Zustand »Bewusstsein« – den er als einen folgenreichen Fehler notiert. Denn seiner Ansicht nach verlieren wir die Tätigkeit aus den Augen und behaupten einen Zustand, der jedoch nichts anderes sein kann als eine formale Prozesseinheit. Die Wortgeschichte zollt diesem Sachverhalt noch im frühen 18. Jahrhundert Anerkennung, insofern hier ›conscientia‹ in einen statischen Begriff der Moral, das ›Gewissen‹, und einen dynamischen der Erkenntnis, das meint die Redewendung »sich bewissen«, aufgespalten wurde.2 1 

Vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen ueberhaupt [1751]. In: Gesammelte Werke. 1. Abt. Bd. II (Hildesheim / Zürich / New York) § 194, 108: »Ich habe schon oben erinnert, was das erste ist, so wir von un-serer Seele wahrnehmen, wenn wir auf sie acht haben, nehmlich daß wir uns vieler Dinge als ausser uns bewust sind.« Und § 195, 108: »Solchergestalt setzen wir das Bewust seyn als ein Merckmahl, daraus wir erkennen, daß wir gedencken.«. Vgl. dazu den Artikel »Bewußtsein«. In: Rudolf Eisler, Handwörterbuch der Philosophie (Berlin 1913) 100–105. 2 Vgl. Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie – Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache [1910–1911]. Bd. I. ND (Zürich 1980) 103–109, hier: 106. Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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Ein entscheidender Schnitt in der Begriffsgeschichte wird demnach in der Frühen Neuzeit markiert, seitdem sich eine funktionale und eine materiale Bestimmung des Bewusstseins ausdifferenziert haben. Die funktionale Seite am Bewusstsein meint die Struktur menschlichen Wirklichkeitsbezugs, die in der Subjektivitätsverfassung des Menschen gründet; die materiale Seite bezeichnet die Gesamtheit der Bewusstseinsinhalte, die in einem »Bewusstseinsstrom« (William James)3 eingebettet ist. Entscheidend ist in beiderlei Hinsicht, insbesondere nach der Kantischen Kritik der Erkenntnisfunktionen, dass in der »Einheit des Bewusstseins« der Grund aller Gegenstandskonstitution liegt. Das Bewusstsein wird so ausgewiesen als eine synthetische Leistung, die das menschliche Subjekt mit der Welt außer ihm in ein angemessenes, d. h. objektives Verhältnis bringt. Das 19. Jahrhundert ist die Epoche der geschichtlichen Rückblicke. So ist es nicht verwunderlich, dass es auch in der Debatte über den Bewusstseinsbegriff Unternehmungen zur historischen Rechtfertigung der eigenen Position gibt. Einen instruktiven Abriss der Geschichte des Bewusstseinsbegriffs gibt z. B. der große Psychologe Wilhelm Wundt.4 Wundt erkennt bei Leibniz eine erste psychologische Definition des Bewusstseins, die zwar auf einer metaphysischen Seelenlehre aufruht, aber eine Bestimmung des klaren Bewusstseins – im Gegensatz zum Bereich dunkler Vorstellungen – enthält. Die Psychologie nach Leibniz hat seiner Ansicht nach den Fehler begangen, psychische Vorgänge und Zustände zu analysieren und diese Teilbestimmungen für das Ganze zu nehmen. Allein Herbart habe mit seiner Definition des Bewusstseins als »Gesammtheit alles gleichzeitigen wirklichen Vorstellens«5 an dem Gedanken festgehalten, »dass das Bewusstsein mit der Gesamtheit der inneren Erlebnisse identisch und demnach lediglich ein zusammenfassender Begriff für diese Erlebnisse selbst ist«.6 Bei Wundt erkennen wir, dass der Terminus ›Bewusstsein‹ die Leerstelle ausfüllen soll, die infolge der Destruktion des Seelenkonzepts in der Psychologie entstanden ist – jedenfalls wird er als ein funktionales Äquivalent angesehen. Allerdings hat sich die Psychologie im 19. Jahrhundert, so Wundt, von so viel Standhaftigkeit und Klarheit abgewandt, und hat entweder einem metaphysischen Dualismus von Unbewusstem und Bewusstem (Schopenhauer, von Hartmann, Fechner, Dessoir) gehuldigt oder ist auf die Vorstellung von angeborenen Ideen (Darwinismus) oder Wesenheiten (Beneke) zurückgefallen. Vorstellungen aber sind, so Wundt abschließend, »psychische Spuren« im Sinne von »Funktionen« oder bestenfalls »Dispositionen«, aber auf keinen Fall Substanzen oder eigenständige Entitäten. 3  Vgl. William

James: The Principles of Psychology. Volume I (New York 1890) chapter IX: The stream of thought, 224–290. 4 Vgl. Wilhelm Wundt: Grundzüge der physiologischen Psychologie. Bd. III. Fünfte, völlig umgearbeitete Auflage (Leipzig 1903) 325–331. 5 Vgl. Johann Friedrich Herbart: Lehrbuch zur Psychologie. Zweyte verbesserte Auflage (Königsberg 1834) 13. 6  W. Wundt: Grundzüge der physiologischen Psychologie. Bd. III, a. a.O. [Anm. 4] 326.

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Diese knappe Schilderung Wundts mag eingangs genügen, um anzudeuten, dass das ausgehende 19. Jahrhundert an der Grenze von Physiologie und Psychologie vor einem großen Rätsel steht: Was ist das Bewusstsein diesseits aller metaphysischen Absicherungen in einer Seelenlehre?7 Der von den Naturwissenschaften ausgehende Optimismus, auch das Rätsel des Bewusstseins lösen zu können, hat über einige Jahrzehnte die Phantasie der Gelehrten befeuert – am Ende des Jahrhunderts ist er verflogen. Im Jahr 1900 setzt das Zeitalter der Psychoanalyse mit Freuds Traumdeutung (1900) ein. Alle Hoffnungen der, in ihrer Eigenständigkeit von Theologie und Philosophie, jungen Disziplin der Psychologie verlieren sich in einer pessimistischen Grundhaltung, die ihre Wurzeln in der Philosophie Schopenhauers hat. Rückblickend bringt Freud den Angriff auf die Bewusstseinstheorien der vorausliegenden Epoche auf den Punkt: »Die erste dieser unliebsamen Behauptungen der Psychoanalyse besagt, daß die seelischen Vorgänge an und für sich unbewußt sind und die bewußten bloß einzelne Akte und Anteile der ganzen Seelenlebens.«8

I. Vom »Bewusstsein überhaupt« – der Aufstieg der Erkenntnistheorie Werfen wir einen Blick auf den Anfang dieser Geschichte, um ihre Entwicklung in Etappen verfolgen zu können. Die einzelnen Abschnitte des Beitrags, mit jeweils unterschiedlichen Akzentsetzungen, sollen den Eindruck gar nicht erst erzeugen oder, falls dies doch geschieht, sogleich zerstreuen, dass hier eine lineare Begriffsgeschichte erzählt wird. Es gibt keinen präzis zu bestimmenden Ausgangspunkt der Debatte über das Bewusstsein im 19. Jahrhundert. Grundlegend ist jedoch für alle später folgenden Begriffsfassungen Kants Unterscheidung eines empirischen und transzendentalen Bewusstseins. Die erkenntnistheoretische Bestimmung des Bewusstseins legt nahe, dass nur der Teil der Außenwelt, der in den Formen des Bewusstseins erfassbar ist, zum Bereich der Erfahrung gehört. Alle Erkenntnis setzt sich aus Anschauung und Begriff, Rezeptivität und Spontaneität zusammen. Kant unterscheidet Gegenstände der Erfahrung von Gegenständen der Außenwelt, die vom Bewusstsein unabhängig sind, d. h. empirische Realität haben: das ist das berühmte »Ding an sich«. Nun interessiert Kant sich nicht für einen Bereich jenseits unserer Erfahrung, sondern allein für Erfahrungsgegenstände, die unter den Formen der Anschauung (Raum und Zeit) und mithilfe der Formen des Verstandes (Kausalität) erkannt werden können. In diesem Bereich konstituiert sich ein empirisches Bewusstsein, das davon abhängig ist, dass Perzeptionen von Gegenständen stattfinden. Ein solchermaßen empirisches Bewusstsein ist sich zwar seiner Tätigkeit bewusst, aber es »ist an 7  Vgl. die instruktiven Abhandlungen in Über die Seele, hg. von K. Crone, R. Schnepf und J. Stolzenberg (Frankfurt a. M. 2010). 8  Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1916–1917]. In: Studienausgabe. Bd. I (Frankfurt a. M. 1982) 47.

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sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjekts«.9 Es fehlt ihm die Funktion, sich zur Einheit seiner Perzeptionen zu schließen. Die bloße Tatsache, dass ich jede Vorstellung »mit Bewußtsein begleite«, ist nach Kant noch nicht der Ausweis einer »Identität des Bewußtseins«.10 Dazu muss eine synthetische, ursprüngliche Einheit der Apperzeption hinzutreten, die von Kant eine »transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins« genannt wird.11 Der Verstand ist das menschliche Erkenntnisvermögen, das die Vorstellungen erst in einem Bewusstsein verbindet. Ohne eine solche synthetische Leistung könnte nicht gedacht oder erkannt werden, weil die, auf bloß gegebene Daten der Anschauung basierenden Vorstellungen in ihrer empirischen Vielheit verhaftet bleiben und die entscheidende Apperzeptionsleistung nicht vollbringen. »Folglich ist die Einheit des Bewußtseins dasjenige, was allein die Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objektive Gültigkeit, folglich, daß sie Erkenntnisse werden, ausmacht, und worauf folglich selbst die Möglichkeit des Verstandes beruht.«12 Auf die Einheit des Bewusstseins kommt es bei Kant an; in ihr ist die Möglichkeit des Verstandes, d. h. die Urteilsfunktion angelegt. Diese Einheit hängt nicht von individuellen Leistungen ab, sondern ist eine allgemeine und notwendige Basisstruktur von menschlicher Erkenntnis. Kant spricht daher von einem »Bewusstsein überhaupt«, das nicht empirisch, sondern transzendental ist. In anderen Worten: Ohne die Voraussetzung eines transzendentalen Bewusstseins überhaupt gibt es keine Erkenntnisobjekte, die nur als Gegenstände eines Bewusstseins gedacht werden können. Erkenntnistheoretisch problematisch ist diese Voraussetzung, weil sie selbst nicht Gegenstand der Erkenntnis wird, sondern sich nur im Vollzug der Erkenntnis, d. h. in der Urteilsfunktion zeigt. Friedrich Nietzsche hat diese Einsicht zu Beginn seiner Streitschrift Zur Genealogie der Moral (1887) in radikaler Weise gefasst: »Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst und selbst […] für uns heisst der Satz in alle Ewigkeit ›Jeder ist sich selbst der Fernste‹, – für uns sind wir keine ›Erkennenden‹ […].«13 In seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht hat Kant einen weiterführenden Hinweis gegeben. Der Gedanke ist prägnanter, nimmt die Überlegung aus der ersten Kritik auf und definiert Erkenntnis durch die Verbindung von Erfahrung und Überlegung. »Weil Erfahrung empirische Erkenntnis ist, zum Erkenntnis aber (da es auf Urteilen beruht) Überlegung (reflexio), mithin Bewußtsein, d. i. Tätigkeit in Zusammenstellung des Mannigfaltigen der Vorstel-

 9 Immanuel

Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: Werkausgabe. Bd. III (Frankfurt a. M. 1974) B 133. 10 Ebd. 11  Ebd., B 132. 12  Ebd., B 137. 13  Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral – Eine Streitschrift. In: Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe. Bd. V, hg. von G. Colli und M. Montinari (München 1988) 247 f.

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lung nach einer Regel der Einheit desselben, d. i. Begriff und (vom Anschauen unterschiedenes) Denken überhaupt erfordert wird: so wird das Bewußtsein in das diskursive […] und das intuitive Bewußtsein eingeteilt werden.«14 Mit Kant stehen wir demnach vor einer Dopplung des Bewusstseins, das zum einen prozessual als Tätigkeit der Vereinheitlichung des Mannigfaltigen, und zum anderen als Bedingung dieser Prozessualität verstanden wird. Im letzteren Fall sprechen wir vom »Bewusstsein überhaupt«, dessen intuitive Wirksamkeit sich jedoch unserer Erkenntnis entzieht. Kant hat auf diese Weise ein Problem angezeigt, für das er keine Lösung anbieten konnte. Die Bedingung der Möglichkeit für die Kohärenz unserer Erkenntnis liegt in unserem Bewusstsein, bleibt dort jedoch zutiefst rätselhaft. Aber schon die Problembeschreibung ist eine genuine Leistung. Sie besagt, dass unser Bewusstsein eine synthetische Leistung vollbringt, in die sowohl Anteile der Rezeptivität (Anschauung) als auch Spontaneität (Verstand) einfließen, ohne dass wir die Wirkursache benennen können.15 Es liegt daher auf der Hand, dass in der Nachfolge Kants das Problem die unterschiedlichsten Beschreibungen und Lösungsversuche gefunden hat. Herausragend ist hier Alois Riehl, dessen philosophischer Kritizismus in den Bahnen Kants voranschreitet. Riehl spricht davon, dass ein »reine[s] oder formale[s] Bewußtsein, welches durch das alle unsere Vorstellungen regierende Wort: Ich ausgedrückt wird, […] gleichsam allen Inhalt der Erfahrung« umschließt.16 Und er betont in erkenntnistheoretischer Absicht den universalistischen Zug eines formalen Bewusstseins, das »überall als identisch vorauszusetzen« ist. Es ist die formale »Einheit unseres Bewußtseins«, die uns den »Typus und die Voraussetzung für jede empirische Einheit, es sei der Welt oder eines einzelnen Dinges« liefert.17 Jedoch bleibt Riehl nicht bei Kant stehen, sondern geht über ihn hinaus, wenn er die Geltungsfrage unserer Verstandesurteile an eine Genesis des menschlichen Erkenntnisapparats knüpft. Unter Berücksichtigung der Darwinschen Entwicklungslehre und der Willensmetaphysik Schopenhauers misst er dem Bewusstsein »eine biologische Bedeutung« zu. Das Bewusstsein erscheint Riehl als ein »psychophysischer Prozeß«, der zwischen den äußeren Reiz und die menschliche Antwort auf ebendiesen Reiz »eingeschaltet« ist.18 Entwicklungsgeschichtlich betrachtet determiniert die frühere Stufe der Entwicklung die späteren. So erscheint auch das Bewusstsein, wie Riehl betont, da es durch die Bedürfnisse 14 Immanuel

Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Werkausgabe. Bd. XII (Frankfurt a. M. 1977) § 7, BA 27. 15  Vgl. dazu neuerdings auch John McDowell: 4. Vorlesung (Vernunft und Natur). In: ders.: Geist und Welt (Frankfurt a. M. 2011) 91–111. 16  Alois Riehl: Der Philosophische Kritizismus – Geschichte und System. Bd. III: Zur Wissenschaftstheorie und Metaphysik [1887] (Leipzig 21926) 42 f. 17  Ebd., 43. 18  Ebd., 191. Und er fährt fort: »Die biologische Betrachtung stellt sich dasselbe [= das Bewusstsein] als das Mittel dar, solche Anpassungsbewegungen hervorzurufen, die nicht durch bereits fertige oder angeborene Mechanismen ausgelöst werden.«

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der Lebewesen hervorgetrieben wurde, seiner natürlichen Bestimmung nach »den gemeinen organischen Funktionen dienstbar«.19 Mit diesen Überlegungen kommt in der Nachfolge Kants, durchaus unter Berufung auf dessen prinzipielle Weichenstellung in der Erkenntnistheorie, eine naturalistische Wendung in die Theorie des Bewusstseins. Bei Riehl resultiert die Perspektivenerweiterung aus der Einsicht, dass weder der Kantische Dualismus von Bewusstsein und materieller Dingwelt noch ein platter Monismus, der alles Bewusstsein auf seine materiellen Grundlagen zurückführen will (davon wird weiter unten noch ausführlich die Rede sein) eine echte Alternative darstellen. Der Bewusstseinstheoretiker Riehl plädiert daher für einen kritischen Monismus, der die Genese des menschlichen Bewusstseins in Abhängigkeit vom Evolutionsgeschehen, aber nicht durch dessen vermeintliche Mechanik determiniert betrachtet: »Das Bewußtsein ist keine Folge mechanischer Wirkungen […].«20 Die prononcierteste Gegenposition zu einem schleichenden Naturalismus in der Nachkantischen Erkenntnistheorie, der sich in weiteren Facetten auch bei Paulsen und Dilthey21 ausbildet, findet sich in Hermann Cohens Philosophie. Cohen nimmt in seiner Logik eine entscheidende Weichenstellung vor, die den Marburger Neukantianismus insgesamt auszeichnet, denn er liest die Kantische Rede von der Einheit des Bewusstseins als »Einheit des wissenschaftlichen Bewußtseins«.22 Auf diese Weise nimmt er eine Verschiebung auf der Ebene des Gegenstandes vor und erklärt den Erkenntnisgegenstand zu einem bereits methodisch geformten Gegenstand. Der Cohenschen Logik ist es um die Einheit des Denkens zu tun. Der Bereich des prinzipiell nicht Erkennbaren (auf der Ebene des Gegenstandes) und der vorbegrifflichen Erkenntnis (im Bereich der empirischen Anschauung) ist damit ausgeblendet. Cohen spricht von »Idealisierung« und meint damit, dass die Philosophie es mit Ordnungseinheiten der Wirklichkeit – er spricht von Wissenschaft, Kunst und Religion – als ihren Gegenstandsbereichen zu tun hat. So gibt es nach Cohens Auffassung eine logische, eine ästhetische und eine religiöse Einheit des Bewusstseins, die in der »Einheit des Kulturbewußtseins« als ihrer höheren Einheit zusammenfallen.23 Um diesen Zusammenhang aufzuhellen, muss Cohen die Kantische Trennung von Erkenntnistheorie und Psychologie zurücknehmen und der Psychologie die Aufgabe überantworten, den logischen Aufbau der Einheit des Bewusstseins, vom einzelnen Individuum bis zur Kultur, herauszuarbeiten. »Die Psychologie allein hat zu ihrem ausschließenden Inhalt das Subjekt, und in ihm die Einheit der 19 

Ebd., 193. Ebd., 196. 21  Vgl. Gerald Hartung: Darwin und die Philosophen. Eine Studie zur Darwin-Rezeption im 19. Jahrhundert. In: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie, 2003, Heft 2 (Hamburg) 171–191. 22 Hermann Cohen: Logik der reinen Erkenntnis. (= Werke, Bd. VI) (Hildesheim / New York 41977) 16. 23  Ebd., 17. 20 

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menschlichen Kultur. Für diese Einheit des Kulturbewußtseins reservieren wir den Ausdruck der Einheit des Bewußtseins.«24 Cohen stellt die Psychologie, wie auch die Logik und Ästhetik, in den Dienst einer »Idealisierung« des Kulturmenschen. Die Bestimmung der Einheit des Bewusstseins integriert die Verschiedenheit seiner Richtungen in einer lebendigen Einheit; »diese Einheit erst bringt die Einheit des Menschen, und somit den Begriff des Menschen zur Erzeugung«.25 Wir können hier in der Debatte über das Bewusstsein von einem Übergang der Logik zur Anthropologie sprechen, wenn wir nicht aus den Augen lassen, dass Cohen – wie nach ihm auch Ernst Cassirer – das Projekt einer konsequenten Idealisierung des menschlichen Kulturbewusstseins verfolgt.

II. Das Bewusstsein als Produkt – Vom sozialen und biologischen Wert des Bewusstseins Die Kantische Unterscheidung von empirischem Bewusstsein und »Bewusstsein überhaupt« stellt nicht nur eine Grenze gegenüber dem Zugriff der psychologischen Forschung auf das menschliche Erkenntnisvermögen dar, sondern auch einen Widerstand gegen seine Verankerung in Geschichte und Gesellschaft. Die formale Seite des Bewusstseins, die seine Einheit verbürgt, steht außerhalb der zeitlichen Veränderung. Seine apriorische Struktur ermöglicht Erkenntnis, entzieht sich aber dem Erkenntnisprozess. Gegen die Kantische Statik einer Bewusstseinstheorie hat Hegel opponiert. In seiner Phänomenologie des Geistes (1807) beschreibt Hegel den Prozess der Selbstbewusstwerdung des (menschlichen) Geistes von der Sinnlichkeit über die Wahrnehmung bis zum Bewusstsein. Bewusstsein meint das Festhalten eines veränderlichen Moments im Wahrnehmungsprozess, während der Gegenstand das allgemeine und stabile Moment markiert. Bewusstsein entsteht erst mit der Erfahrung der Täuschung in der Wahrnehmung, denn das Bewusstsein, in seiner Koppelung an die sinnliche Wahrnehmung, erweist sich als ein bloßes »Meinen«, nicht ein »Wissen« vom Gegenstand der Erfahrung. Dieses Moment der Relativität oder fehlenden Bestimmtheit ist dem Bewusstsein eigen; es ist daher nicht ein bloßes Wahrnehmen, sondern ein »sich im Wahrnehmen verhalten«.26

24  Ebd.,

609. Und weiter: »Darauf aber kommt es für die Einheit des Kulturbewusstseins an, daß die verschiedenen Arten der Gesetze und Inhalte nicht in ihrer Verschiedenheit ausgelöscht und in eine neue Art von Gesetz und Inhalt verwandelt sind, sondern daß ihre Verschiedenheit gegen einander frei und kraftvoll sich behaupte; und daß dennoch diese Verschiedenheit in einer neuen, der eigentlichen Einheit zur Vereinigung gelange.« 25  Ebd., 610. 26  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. A. II. [1807]. In: Werke. Bd. III (Frankfurt a. M. 1970) 101.

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Bei Hegel wird das Bewusstsein zu einem Prozessmoment. Es markiert die erste Stufe der Erhebung einer – ursprünglich sinnlichen – Gewissheit zur Wahrheit. Daher ist das Bewusstsein auch zuerst sinnlich; erst der stufenförmige Prozess der »Verinnerlichung« der äußeren Gegenstandsbestimmtheit führt dazu, dass das Bewusstsein sich von seiner Abhängigkeit von der Sinnlichkeit löst, als Wahrnehmung sich bereits im Gegensatz von »wahr« und »irrtümlich« zu sich verhält, als Verstand zwischen »Ding an sich« und »Erscheinung« unterscheidet, sich als Bewusstsein des Unterschiedenen (Außenwelt und Ich) konstituiert und zuletzt seiner Selbständigkeit im Erkennen gewahr wird. »Am Bewußtsein dieser dialektischen, dieser lebendigen Einheit des Unterschiedenen entzündet sich das Selbstbewußtsein, das Bewußtsein von dem sich selber gegenständlichen, also in sich selbst unterschiedenen einfachen ideellen, das Wissen von der Wahrheit des Natürlichen, vom Ich.«27 Mit Hegel ist der Gedanke an ein bloß formales und statisches »Bewusstsein überhaupt« erledigt. Die formale und materiale, die apriorische und empirische Seite des Bewusstseins werden zu Momenten eines Prozessgeschehens degradiert – mit der Pointe, dass die Einheit des Bewusstseins nicht gegeben ist, sondern nur eine Tendenz aller Bewusstseinsakte auf Vereinheitlichung zurückbleibt, in deren Scheitern sich die Dynamik des Prozesses zeigt. Bei Hegel ist es der »Geist«, der sich realisiert und auf seinem Weg die Stufen der Erkenntnis beschreitet und überschreitet. Auch das Bewusstsein ist nur eine Form der Erkenntnis, die in ihrem Scheitern, sich als Einheit der Erkenntnisgegenstände zu realisieren, ihre Formgrenze zerstört. Es gibt kein angemessenes Bewusstsein von der Gesamtheit der Realisierungsformen des Geistes. Die Hegelsche Konzeption enthält eine ganze Reihe von Zumutungen. Besondere Kritik hat der Gedanke erfahren, dass die Realität der Bewusstseinsinhalte nicht in der Rückbindung an empirische Daten, sondern im Vorgriff auf ihren sich offenbarenden geistigen Gehalt zu suchen ist. Karl Marx hat diesen Standpunkt der Ideologie bezichtigt, weil er die menschliche Lebenswirklichkeit in ihren Spannungen, ihren Verwerfungen und ihrer »Zerrissenheit« verfehlt, indem er die Materialität des Lebens zu einem bloßen Erscheinungsmoment des sich offenbarenden Geistes macht. Für Marx hingegen steht fest: »Das Bewußtsein kann nie etwas anderes sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.«28 In der Marxschen Analyse der gesellschaftlichen Zustände wird deren Widerspruch zu einer materiellen Struktur, der Produktionskraft, herausgearbeitet, der sich in einer ideellen Form, dem Bewusstsein, zeigt. Es gibt also weder ein »Bewusstsein überhaupt«, noch eine eigenständige Form des Bewusstseins im Prozess seiner Entfaltung. Das Bewusstsein ist ein bloß reaktiver Spiegel der 27  G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Bd. III. In: Werke. Bd. X (Frankfurt a. M. 1986) §§ 418–423, 205–212, hier 212. 28 Karl Marx: Die Deutsche Ideologie. Vorrede. In: Die Frühschriften, hg. von Siegfried Landshut (Stuttgart 1971) 349.

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gesellschaftlichen Verhältnisse, keinesfalls eine eigenständige Quelle des Lichts der Erkenntnis. Marx formuliert lakonisch: »Das Bewußtsein ist also von vornherein ein gesellschaftliches Produkt […].«29 In der Tradition des Marxismus werden die Wörter ›Überbau‹ und ›Ideologie‹ teilweise synonym für die Einheit des Bewusstseins gesetzt, die auf diese Weise allen Glanz einer idealistischen Theoriebildung verloren hat. Die Marxsche Idealismus-Kritik zeigt sich hier als besonders brachial. Ein anderer Denker des 19. Jahrhunderts formuliert die Demaskierung des Bewusstseins als eines bloß gesellschaftlichen Epiphänomens weitaus subtiler und genauer als die Autoren im Marxschen Kontext. Friedrich Nietzsche hat in der Fröhlichen Wissenschaft (1882) eine Entstehungsgeschichte des Bewusstseins aus dem Zusammenhang der organischen Welt skizziert und dabei die Ambivalenzen dieser Entwicklung angedeutet, die sich weder in dialektische Strukturen noch simple Konstellationen (Unter- und Überbau) einfangen lassen: »Das Bewusstsein ist die letzte und späteste Entwicklung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran. Aus der Bewusstheit stammen unzählige Fehlgriffe, welche machen, dass ein Thier, ein Mensch zugrunde geht, früher als es nöthig wäre […]. Wäre nicht der erhaltende Verband der Instincte so überaus viel mächtiger, diente er nicht im Ganzen als Regulator: an ihrem verkehrten Urtheilen und Phantasieren mit offenen Augen, an ihrer Unergründlichkeit und Leichtgläubigkeit, kurz an ihrer Bewusstheit müsste die Menschheit zu Grunde gehen. […] Man denkt, hier sei der Kern des Menschen; sein Bleibendes, Ewiges, Letztes, Ursprünglichstes! Man hält die Bewusstheit für eine feste gegebene Grösse! Leugnet ihr Wachsthum, ihre Intermittenzen! Nimmt sie als ›Einheit des Organismus‹! – Diese lächerliche Ueberschätzung und Verkennung des Bewusstseins hat die grosse Nützlichkeit zur Folge, dass damit eine allzuschnelle Ausbildung desselben verhindert worden ist.«30 Auch dieser Aphorismus Nietzsches ist, wie manch anderer, ein genialer Streich. Vereint er doch eine entwicklungsgeschichtliche Perspektive – das Bewusstsein ist ein Spätprodukt von Differenzierungen in der organischen Welt – mit einer vielschichtigen Wertung dieses Zusammenhangs. So ist Bewusstheit kein Zustand, sondern ein Prozess, der noch nicht an sein Ende gekommen ist; wie alles Unfertige in der Welt produziert das Bewusstsein Fehlleistungen und -einschätzungen. Zwar ist der Instinkt ein Regulator auch in der menschlichen Welt, aber er ist nicht mehr dominant; die hier aufreißende Lücke wird durch Bewusstheit erfüllt, die zwar nicht das ursprünglichste Moment im Menschen ausmacht, aber doch sein unfertiges, prozessuales Wesen. Unabgeschlossenheit, Unfertigsein, Unfestgestelltheit, das sind in Nietzsches negativer Anthropologie Sondermerkmale der menschlichen Lebensform. Neben der Sprachfähigkeit, 29 

Ebd., 357. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. Buch 1. Aphorismus 11. In: Kritische Studienausgabe. Bd. III, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (München 1988) 382 f. 30  F.

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dem ästhetischen Geschmack und dem moralischen Gefühl ist Bewusstheit eines der herausragenden Merkmale der Lebensform Mensch. Nietzsches Blick auf den Menschen ist, wie unschwer zu erkennen ist, ambivalent: Unfertigsein ist, je nach Maßstab der vergangenen oder zukünftigen Chancen und Risiken für die Lebensform Mensch, ein Mangel oder ein Privileg.

III. Von der Seele zum Bewusstsein – über eine Psychologie ohne Seele Im Hintergrund der Debatte über das Bewusstsein, die zwischen Kant und Nietzsche geführt wird, spielt sich ein wissenschaftsgeschichtliches Drama ab.31 Es ist das Drama von der allmählichen Verdrängung des Seelen–Begriffs aus den Wissenschaften und eine sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchsetzende Bevorzugung des Bewusstseinskonzepts.32 Den Anfang nimmt die Geschichte mit Fichtes Rede von den »Tatsachen des Bewusstseins«33 und Herbarts Mathematisierung der menschlichen Psyche, wenn auch er von der »Verbindung unserer Vorstellungen« als einer bekannten »Thatsache« spricht und sie der empirischen Analyse zuführt. Seine Anmerkungen zur Einheit der Seele haben daher keine systematische und begründende Relevanz, hier wird bereits ein Konzept aufgegeben oder zumindest zur Disposition gestellt.34 Was auf dem Spiel steht, das zeigt uns ein Blick in die Schriften des jüngeren Fichte, Immanuel Hermann von Fichte.35 Fichte weist darauf hin, dass wir nur vordergründig zu verstehen meinen, was die Einheit des Bewusstseins ausmacht. »Das Bewusstsein kann nur beschrieben werden als innere Erleuchtung vorhandener Zustände, sodass sie nunmehr für das Wesen selber existiren, welches sie besitzt.«36 Daraus folgt, dass das Bewusstsein selbst nicht produktiv, sondern nur als ein Ausleuchten von Seelenzuständen erfasst werden kann. Alle Verände31 Vgl. Michael Hagner: Homo cerebralis – Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn (Frankfurt a. M. 2008). 32  Vgl. Michael Pauen: Was ist der Mensch? Die Entdeckung der Natur des Geistes (München 2007) insbes. 106–138. Ders.: Kein Rätsel des Bewusstseins – Grenzen und Bedingungen einer naturalistischen Erklärung des Geistes. In: Über die Seele, hg. von K. Crone, R. Schnepf und J. Stolzenberg (Frankfurt a. M. 2010) 390–409. 33  Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe. II. Reihe. Bd. XII. Nachgelassene Schriften 1810–1812 (München 1999). 34  Vgl. Johann Friedrich Herbart: Lehrbuch zur Psychologie, 3. Kapitel. Sechste Auflage (der dritten Auflage), hg. von G. Hartenstein (Hamburg / Leipzig 1900) 21: »Der sehr leicht begreifliche metaphysische Grund, weswegen entgegengesetzte Vorstellungen einander widerstehen, ist die Einheit der Seele, deren Selbsterhaltungen sie sind. Eben dieser Grund erklärt ohne Mühe die Verbindung unserer Vorstellungen; die übrigens als Thatsache bekannt ist.« 35  Immanuel Hermann von Fichte: Psychologie – Die Lehre vom bewussten Geist des Menschen, oder Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins, begründet auf Anthropologie und innerer Erfahrung. Teil 1. [Leipzig 1864] [ND Aalen 1970]. 36  Ebd., 81.

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rungen beruhen auf einer Selbsttätigkeit der Seele, das Bewusstsein dokumentiert sie nur. Daraus folgt zweitens, dass im Grundcharakter des Bewusstseins – dem subjektiven Licht eigener objektiver Zustände der Seele – der ursprüngliche Grund für die Einheit des Subjektiven und Objektiven, d. i. der Realität, liegt. Fichte bringt diese Überlegungen auf eine Formel: Die Seele ist die Quelle des Bewusstseins. »Abgewiesen ist damit jederlei Vorstellung, als ob der bewusste Zustand in die Seele von Aussen hineingebracht, ihr eingeprägt werden könne, etwa durch Einwirken und Sich-Abbilden der äussern Dinge. Umgekehrt vielmehr wird er von ihr hervorgebracht und die Seele allein ist die Bewusstseinsquelle.«37 Dass aber etwas bewusst wird (oder unbewusst bleibt), das hängt von uns ab. Wir bringen den bewussten Zustand, wie Fichte vermerkt, »aus eigener Kraft« hervor. Dass dies so ist, hängt an der ursprünglichen apriorischen Natur der Seele.38 Was aber ist die Seele? Nach Fichte ist sie ein »instinctbehaftetes Triebwesen«. Was sich uns davon im Bewusstsein mitteilt, ist nur ein kleiner Ausschnitt unseres Lebens. Dem bewussten Leben korrespondiert ein unbewusstes Triebleben, dessen »Dunkel« nur punktartig beleuchtet wird.39 Die Psychologie des 19. Jahrhunderts, insofern sie Erkenntnistheorie des Bewusstseins sein will, hat dieser dunklen Lehre von den verborgenen Seelenkräften den Kampf angesagt. Vom Ende des Jahrhunderts her betrachtet wird deutlich, dass dieser Kampf nur scheinbar beendet war, tatsächlich sich aber die Kritiker einer mathematisierten oder naturalisierten Theorie des Bewusstseins immer wieder zu Wort meldeten (vgl. Abschnitt IV). So ist Friedrich Albert Langes Diktum von einer »Psychologie ohne Seele«, mit dem er die Jahrzehnte währende unermüdliche Destruktionsarbeit am Konzept der Seele feiert, auch nur eingeschränkt zu bekräftigen.40 Lange treibt diesen Kampf auch gar nicht weiter, sondern sucht ein Gegengewicht zum populären Materialismus seiner Zeit, den er einer genauen Kritik unterzieht. Statt auf die Position eines Immaterialismus und damit einer immateriellen Seelensubstanz zu rekurrieren, sucht er den in der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie und in der Moralstatistik dominierenden materialistischen Ansatz dadurch zu entkräften, dass er auf die Seele verzichtet und an ihrer Stelle auf das Bewusstsein setzt. Lange kommt zu dem Ergebnis, dass in theoretischer Absicht nicht zu beweisen ist, dass das Bewusstsein frei von materialer Bedingtheit ist – aber auch der umgekehrte Weg führt zu keiner vollständigen Erklärung: Das Bewusstsein lässt sich nicht auf materielle Strukturen, z. B. gesellschaftliche Verhältnisse, reduzieren. Daher

37 

Ebd., 83. Ebd., 84. 39  Ebd., 85 f. 40  Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Bd. II, hg. von Hermann Cohen (Leipzig 51896) 381. 38 

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zieht Lange in Kantischer Manier die Konsequenz, dass zumindest in praktischer Hinsicht ein »Bewusstsein der Freiheit« eine »Wirklichkeit« für uns ist.41 In dieser Konsequenz argumentiert auch Emil Du Bois-Reymond in seinen populären Vorträgen Über die Grenzen des Naturerkennens (1872), wo er die Frage nach der Einheit des Bewusstseins berührt. Gegen die Vertreter der neueren Anatomie und Physiologie behauptet Du Bois-Reymond, dass durch das Aufzeigen eines Zusammenhangs zwischen Nervenprozessen und Erkenntnisinhalten weder »das Bewusstsein überhaupt erklärt, noch für die Erklärung des einheitlichen Bewusstseins des Individuums das Mindeste gewonnen« wäre.42 Seiner Ansicht nach wird es für immer unmöglich sein, geistige Vorgänge aus der »Mechanik der Hirnatome« abzuleiten. Aus diesem Grund reiht Du Bois-Reymond die Entstehung des Bewusstseins unter die sieben Welträtsel ein. In seiner Darstellung bezieht er sich weitgehend auf Leibniz – mit einem Unterschied: Während Leibniz von der Unbegreiflichkeit des Bewusstseins aus mechanischen Ursachen auf die Unmöglichkeit der »Erzeugung« von Bewusstseinsinhalten durch mechanische Vorgänge schließt, sieht Du Bois-Reymond es als eine wissenschaftliche Notwendigkeit an, trotz der prinzipiellen Unbegreiflichkeit dennoch »Gründe dafür [zu häufen], dass das Bewusstsein an materielle Vorgänge gebunden sei«.43 Die hier zitierten Autoren können durchaus zwischen Bedingtheit und Determination unterscheiden. Abgesehen von den Vertretern des Marxismus und des Vulgärmaterialismus versteigt sich kein ernstzunehmender Philosoph und Psychologe, gleichwohl er bereit ist, die Seele als Konzept zu verabschieden, zu der Ansicht, dass Bewusstseinsvorgänge bloße Epiphänomene organischer oder sozialer Strukturen sind. Besonders deutlich wird die Komplexität der Debatte bei dem führenden Psychologen der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, dem Gründer des Leipziger Instituts für experimentelle Psychologie (1879), Wilhelm Wundt. Wundt stellt in seinem Grundriss der Psychologie (1896) ein Aufbauschema dar, das mit den psychischen Elementen (Empfindungen, einfachen Gefühlen) ansetzt, dann psychische Gebilde (Vorstellungen, zusammengesetzte Gefühle, Affekte und Willensvorgänge) analysiert, um abschließend das Bewusstsein als »Zusammenhang der psychischen Gebilde« zu erfassen.44 Bewusstsein bezeichnet nichts, was »neben den psychischen Vorgängen vor-

41 

Ebd., 404. Emil Du Bois-Reymond: Über die Grenzen des Naturerkennens – Die sieben Welträthsel – Zwei Vorträge (Leipzig 1882) 36. 43  Ebd., 82. Vgl. Michael Pauen: Die Grenzen des Erkennens: Von Du Bois-Reymond zur aktuellen Philosophie des Geistes. In: Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 3: Der Ignorabimus-Streit, hg. von Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke (Hamburg 2007) 151–182. Auch die anderen Beiträge dieses Sammelbandes sind hilfreich für das Verständnis der Debatte über die Seele-Bewusstseins-Problematik im 19. Jahrhundert. 44  Wilhelm Wundt: Grundriss der Psychologie. Siebente, verbesserte Auflage (Leipzig 1905). 42 

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handen« ist, aber es ist auch nicht bloß deren Summe.45 Beispielsweise belegen »Bewusstseinsstörungen«, dass es auf die funktionale Struktur der psychischen Vorgänge ankommt, deren Einheit ein individueller tierischer Organismus ist. Dieser ist Träger der Symptome eines individuellen Bewusstseins. Zwar weist Wundt die Simplizitäten der zeitgenössischen Phrenologie zurück, aber er geht doch so weit, die Rinde des Großhirns bei höheren Tieren und Menschen als »das nächste Organ des Bewusstseins« zu bezeichnen.46 Für Wundts psychologischen Ansatz ist die Unterscheidung von Bewusstseinsgraden, und zwar von der Bewusstlosigkeit über das Unbewusste bis zu deutlichen, bewussten Vorstellungen, von zentraler Bedeutung. Besonderes Augenmerk gilt dem Zustand der Aufmerksamkeit, den Wundt im Rückgriff auf Kant und Herbart als einen Vorgang der Apperzeption auffasst.47 Die Analyse dieses Vorgangs soll zum einen eine vollständige Beschreibung der »Tatsachen des Bewusstseins« als auch zum anderen der Intensität des sich einer Tatsache bewusst Seienden (Bewusstsein) ermöglichen. »Die Inhalte, denen die Aufmerksamkeit zugewandt ist, bezeichnen wir, nach Analogie des äußeren optischen Blickpunktes, als den Blickpunkt des Bewußtseins oder den inneren Blickpunkt, die Gesamtheit der in einem gegebenen Moment vorhandenen Inhalte dagegen als das Blickfeld des Bewußtseins oder das innere Blickfeld.«48 Vom Blickpunkt des Bewusstseins aus lässt sich auch dessen Grenze beschreiben, die Wundt als eine »Schwelle des Bewußtseins« markiert, die unter- und überschritten werden kann; unterhalb ihrer liegt ein unbewusster Zustand. Hervorzuheben ist, dass Wundt den Versuch unternommen hat, diese Grenze durch Messung der Intensität des Bewusstseins und des Umfangs der Aufmerksamkeit zu erfassen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass die zusammengesetzten räumlichen Vorstellungen ein Maß für den Umfang der Aufmerksamkeit und zusammengesetzte zeitliche Vorstellungen ein Maß für die im Bewusstsein vereinigten Inhalte geben. Die Messungen ergeben für den Umfang der Aufmerksamkeit einen Maximalwert von sechs einfachen Eindrücken und für die Inhaltsbestimmung einen relativen Wert von ungefähr vierzig einfachen Eindrücken.49 In Experimenten lässt sich nun nachweisen, wie Wundt es darstellt, dass sich der zeitliche Rhythmus der Perzeptionen auf die Gesamtleistung der Apperzeption und damit auf den Umfang des Bewusstseins auswirkt. »Der Zusammenhang der psychischen Vorgänge, der das Wesen des Bewußtseins ausmacht, hat seine letzte Quelle in Verbindungsprozessen, die fortwährend zwischen den Elementen der einzelnen Bewußtseinsinhalte stattfinden. Wie solche Prozesse [Assoziationen/ passiv, Apperzeptionen/ aktiv] schon bei der Entstehung der 45 

Ebd., 246. Ebd., 247. 47  Vgl. auch W. Wundt: System der Philosophie. Zweiter Band. Dritte, umgearbeitete Auflage (Leipzig 1907) 140–145. 48  W. Wundt: Grundriss der Psychologie, a. a.O. [Anm. 44] 252. 49  Ebd., 255. 46 

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einzelnen psychischen Gebilde wirksam sind, so geht auch aus ihnen sowohl die simultane Einheit des in einem gegebenen Moment vorhandenen Bewußtseinszustandes, wie die Kontinuität der sukzessiven Bewußtseinszustände hervor.«50 Aufgrund der Analyse der Bewusstseinszustände lassen sich der »normale Zustand des Bewußtseins« und die Veränderungsformen, d. h. Nerven-, Gehirn- und Geisteskrankheiten, detailliert bestimmen.51 Wundt hat seiner Psychologie in den Grundzügen der physiologischen Psychologie (1874) eine ergänzende Studie an die Seite gestellt.52 In der Physiologie geht es ihm zum einen um das Prinzip der Individuation in seiner Rückbindung an einen Organismus. »Einem Einzelorganismus aber entspricht immer auch ein Einzelbewusstsein.«53 Dementsprechend ist das Nervensystem individuell und auch das Bewusstsein ist, als gebunden an einen Organismus, selbst individuell und einheitlich. Insofern dem ganzen Organismus ein Bewusstsein korreliert, ist auch kein »Organ des Bewusstseins« zu privilegieren. Von der organischen Basis des bewussten Lebens ausgehend, kann Wundt die Annahme von den Bewusstseinsgraden unterstreichen. »Sowohl die psychischen wie die physischen Bedingungen des Bewustseins weisen uns […] darauf hin, dass das Gebiet des bewussten Lebens mannigfache Grade umfassen kann. In der That finden wir schon in uns selbst je nach äußern und innern Bedingungen wechselnde Grade der Bewusstheit, und auf ähnliche bleibende Unterschiede lässt die Beobachtung anderer Wesen schließen.«54 Seinen Ansatz einer experimentellen Psychologie hat Wundt in mehreren Abhandlungen unterstrichen. So sucht er beispielsweise in Die Messung psychischer Vorgänge (1870/1871) den Widerspruch zu lösen, dass einerseits das Bewusstsein kein äußeres Maß haben soll, aber andererseits alles, was das Bewusstsein liefert, »ein maßvoll geordnetes Bild der äußeren Welt« liefert.55 Die Termini »Eindruck«, »Aufmerksamkeit« und »bewusste Auffassung« resümiert Wundt im Konzept der »Apperzeption«, das er auf Leibniz zurückführt. Unter Apperzeption versteht er die Fähigkeit des Erkenntnisapparats, gleichzeitig wahrgenommene Eindrücke zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzufügen. Schwierigkeiten bereitet es allerdings, die Einheit des Bewusstseins zu bestimmen, denn es gibt Ränder der Aufmerksamkeit, die wir nur als dunkel bewusste Vorstellungen beschreiben können. Das zeigt beispielsweise die Messung der Reaktionszeit. »So gleicht also das Bewusstsein in bezug auf die Vorstellungen, die es in einem gegebenen Augenblick umfaßt, einigermaßen dem Sehfeld des

50 

Ebd., 270 f. Ebd. 330. 52  W. Wundt: Grundzüge der physiologischen Psychologie. Bd. III, a. a.O. [Anm. 4]. 53  Ebd., 322. 54  Ebd., 324. 55 W. Wundt: Die Messung psychischer Vorgänge [1870–1871]. In: Essays (Leipzig 21906) 213–242, hier 213. 51 

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äußeren Auges.«56 Auch hier gibt es ein Zentrum und eine Peripherie, auch hier besteht eine Schwierigkeit, den Umfang des Sehfeldes zu bestimmen. Letztendlich muss es der psychischen Messung gelingen, die »Tatsachen des Bewusstsein« in ihre Elemente zu zerlegen, z. B. in den zeitlichen Verlauf der Vorstellungen, um die quantitativen und qualitativen Merkmale zu analysieren und die Gesetze der Vorstellungsverbindung sowie die Koexistenz und Aufeinanderfolge der inneren Vorgänge zu erklären. Erst dann könnten wir die Einheit des Bewusstseins bestimmen. Doch ist die wissenschaftliche Psychologie, wie Wundt erkenntniskritisch bekennt, von diesem Ziel weit entfernt. Im Sinne Du Bois-Reymonds erklärt er das letzte Ziel seiner wissenschaftlichen Arbeit, die vollständige Erklärbarkeit psychischer Vorgänge, für unerreichbar. In seinem Systemansatz geht Wundt so weit, der psychologischen Bestimmung des Bewusstseins neben der Korrelation mit der Welt des Organischen (Physiologie) auch eine Korrelation zur Welt des geistigen (Philosophie) an die Seite zu stellen. In der Durchführung des Gedankens durch das gesamte System wird deutlich, dass Wundt dem Konzept »Bewusstsein« eine bis dahin unbekannte Funktion zuspricht: Das Bewusstsein ist einerseits an den Organismus gebunden und insofern individuell, und es ist andererseits an das geistige Sein gebunden, dessen »Tatsächlichkeit« im Raum-Zeit-Geschehen es verbürgt; nach Wundt verstehen wir »überall unter Bewußtsein kein von dem geistigen Geschehen und seinen durch unsere Abstraktion getrennten Bestandteilen verschiedenes geistiges Sein, sondern immer nur die Tatsächlichkeit dieses Geschehens selber«.57

IV. Bewusstsein und Unbewusstes – die helle und die dunkle Seite der Wirklichkeit Im Jahr 1800 erscheint Friedrich Wilhelm Joseph Schellings System des transzendentalen Idealismus.58 Das transzendentale Philosophieren wird als eine Betrachtungsart aufgefasst, die alles Denken, Wissen oder Handeln vollständig zum Bewusstsein bringt und damit »objektiv« macht. Das kann aber, so Schelling, nur geschehen, indem das subjektive Moment der Erkenntnis sich objektiviert – und nicht umgekehrt, denn so wäre Erkenntnis vom Objekt abhängig; damit ist der Weg der Wissenschaft im allgemeinen vorgezeichnet. Gleichwohl gibt es ein wechselseitiges »Sich richten nach« in der Beziehung von Vorstellungen und Gegenständen. Beide Seiten sind produktiv, die eine bewusst (Subjekt), die andere bewusstlos (Natur). Die Aufgabe der Transzendentalphilosophie, und mit ihr aller Wissenschaft, ist es, den Widerspruch zwischen einer »Tätigkeit mit Bewußt56 

Ebd. 232. System der Philosophie. Zweiter Band a. a.O. [Anm. 4]. Sechster Abschnitt: Grundzüge der Philosophie des Geistes, 136–266, hier 136. 58 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus. In: Ausgewählte Schriften. Bd. I (Frankfurt a. M. 1985) 395–702. 57 Wundt:

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sein« und einer »Tätigkeit ohne Bewußtsein« als widerspruchsfrei aufzulösen. Das kann nur geschehen, indem die ganze Natur als »zweckmäßig« in ihren bewussten oder bewusstlosen Äußerungen verstanden wird.59 Von Schelling geht eine naturphilosophische Denkrichtung aus, die auch für unser Thema eine folgenreiche Weichenstellung mit sich bringt: Das Bewusstsein, von dem Kant meinte, dass es zumindest in seinen formalen Strukturen unbedingt ist, wird von Schelling in den dynamischen Prozess einer konfliktreichen Abgrenzung des bewussten und unbewussten Seins eingerückt. Schopenhauer spricht in diesem Sinne von unserem »in Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft, Subjekt und Objekt befangenen Bewusstsein«.60 Schopenhauer beschreibt auch, wie alles »Erkennen« mit dem Eindruck beginnt, den der »Leib« erhält.61 In der Beobachtung eines Kindes, das sich mit den Sinnen die Welt erschließt, kann man feststellen, wie der Weg von der Empfindung über die Anschauung zum Denken verläuft. Am Maßstab des Leibes ist der Mensch, der anschaut und versteht, noch ein Tier. Der »Charakter der Tierheit ist das Erkennen«.62 In einem Modell der Stufenordnung der Natur geht bei Schopenhauer der Einheit des Bewusstseins, die erst von der Vernunft realisiert wird, eine Einheit der Leibempfindung voraus – oder in anderen Worten: Die Einheit des Bewusstseins geht aus dem ursprünglich unbewussten Willen hervor. Vom Bewusstsein des Tieres unterschiedet sich und bleibt diesem in seiner durchgehenden Abhängigkeit von einem in der Natur waltenden »Willen des Lebens« verbunden das »neue, höher potenzierte Bewußtsein« des Menschen.63 Auch Hermann Lotze spricht von vegetativen Kräften, die in ihrer Wirksamkeit unserem Bewusstsein entzogen sind; diese begründen unser »allgemeines Lebensgefühl« 64 und schieben sich »als ein beständiger Hintergrund hinter alle unsere bewussten Vorstellungsmassen«.65 Für Lotze basiert daher die »Einheit des Bewusstseins« auf einer fundamentalen, nicht zu objektivierenden Seelentätigkeit, für die er die Metapher vom »Seelenleben« reserviert.66 Eine Popularisierung finden die Denkansätze von Schelling und Schopenhauer allerdings nicht bei Lotze, sondern bei Eduard von Hartmann, dessen Hauptwerk, die Philosophie des Unbewussten (1869) einen Begriff populär macht, der fortan nicht mehr aus den Theorien des Bewusstseins herauszustrei-

59 

Ebd., § 3, 414–417. Arthur Schopenhauer: Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. In: Kleinere Schriften. Bd. III (Zürich 1999) 165. 61  A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. 1. Buch. In: Sämtliche Werke. Bd. I (Frankfurt a. M. 1986) 71. 62 A. Schopenhauer: Ueber das Sehen und die Farben. § 1. In: Kleinere Schriften. Bd. III (Zürich 1999) 647–660, hier 657. 63  A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. 1. Buch., a. a.O. [Anm. 61] 74. 64  Hermann Lotze: Seele und Seelenleben. In: Kleine Schriften. Bd. II (Leipzig 1886) 1–204. 65  Ebd., 98 f. 66  Ebd., 13. 60 

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chen ist.67 Hartmann vergleicht den Wert des bewussten und des unbewussten Denkens. Letzteres bildet und erhält den Organismus, reguliert die Instinkte, erhält die Gattungen durch Geschlechtstrieb und Mutterliebe und leitet den Menschen beim Handeln durch Ahnungen und Gefühle. Das unbewusste Denken fördert insgesamt den bewussten Denkprozess.68 Hartmann spricht allerdings auch von einer Stufenleiter der Organismen und von einem Fortschritt als Übergang vom Niederen zum Höheren, und zwar im Sinne einer »Vergrösserung und Vertiefung der dem Bewusstsein aufgeschlossenen Sphäre«. So gesehen markiert das Bewusstsein bei Hartmann zwar eine höhere Stufe als das Unbewusste, jedoch mit der Einschränkung, dass im Hinblick auf die Lebensbewältigung alles das, was das Bewusstsein leisten kann, auch vom Unbewussten – schneller und bequemer – geleistet werden kann. Hartmann kommt zu dem Ergebnis, dass wir bequemer leben, wenn wir uns dem Unbewussten überlassen. Das kann durchaus den Nachteil haben, dass wir unter der Regentschaft des Unbewussten niemals wissen, woran wir sind oder ob wir es sind, die unser Leben führen. »Nur das Bewusste weiß man als sein Eigen.«69 Hartmann erklärt das »Unbewusste« zu einem kosmischen Universalprinzip, das sich in unterschiedenen Bewusstseins-Stufen manifestiert. Das Bewusstsein ist eine Erscheinung des Unbewussten unter vielen, es ist in seiner Struktur schwächer und in seiner Ordnungsfunktion riskanter für den Menschen. Mit dieser Ansicht bringt Hartmann ein Programm der Gegen-Moderne auf den Punkt: Einer Gesellschaft, die auf die Freilegung ihrer Strukturen, Wirkkräfte, Mechanismen drängt und das Pathos der Aufklärung in die großstädtische, industrielle und arbeitsteilige Welt hineinträgt, wirft er den Einwand entgegen, dass gesellschaftliche wie natürliche Prozesse nicht selbststeuernd zu verstehen sind. Wer das meint, der verkennt gutmeinend und naiv die tatsächlichen Wirkkräfte, deren Objektivierung (wissenschaftlich und lebensweltlich) nicht gelingen kann. Ein Echo dieser Modernekritik findet sich noch in Arnold Gehlens lesenswerter Studie Die Seele im technischen Zeitalter (1957).

V.  Bewusstsein und Erlebnis – über das lebendige Bewusstsein Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gibt es in der Psychologie, die an einer erkenntnistheoretischen Ausrichtung festhält, eine ganze Reihe konkurrierender Konzeptionen. Diese lassen sich im wesentlichen auf drei Grundannahmen reduzieren: Entweder wir verstehen unter Bewusstsein die Summe psychischer Erlebnisse oder den einheitlichen Zusammenhang psychischer Erlebnisse oder 67  Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Erster Teil: Phänomenologie des Unbewussten [1869] (Leipzig 121923). 68  Ebd., 355 f. 69  Ebd., 357.

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eine Qualität des Erlebens, sich einer Sache bewusst zu werden.70 Unklar ist hierbei, ob Bewusstsein eine Tätigkeit oder deren Inhalt ausmacht. Angesichts dieser Konstellation diskutiert Franz Brentano in seiner Psychologie vom empirischen Standpunkt (1871) den vielfachen Gebrauch des Wortes »Bewusstsein« und das »eitle Wortgezänk«, das sich hier und da erhebt.71 Brentano entscheidet sich dafür, das Wort gleichbedeutend mit dem psychischen Phänomen oder Akt zu setzen. Anschließend untersucht er die Frage, ob alle psychischen Phänomene bewusst sind oder ob es vielleicht unbewusste psychische Akte gibt. Einerseits soll es nach Locke und Mill keine unbewussten psychischen Akte geben, andererseits gibt es – von Kant über Herbart und Beneke bis zu Fechner, Wundt und Helmholtz – eine Reihe von Psychologen, die »unbewußten psychischen Phänomenen das Wort reden«.72 Brentano zerschlägt den gordischen Knoten, indem er die Streitfrage für unabhängig erklärt: »Das Ergebnis unserer Untersuchung ist, daß die Gesamtheit unseres psychischen Zustandes, wie verwickelt sie auch sein möge, immer eine reale Einheit bildet. Dieses ist die berühmte Tatsache der Einheit des Bewusstseins, welche man mit Recht als einen der wichtigsten Punkte der Psychologie zu betrachten pflegt.«73 Die Einheit des Bewusstseins ist eine reale Einheit, weil sie nach Brentanos Ansicht den einheitlichen Charakter unserer Wahrnehmungen entspricht. Auf diese Weise unterläuft Brentano die Kantische Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich, erklärt deren analytische Unterscheidung für zweitrangig und die Einheit des Bewusstseins für ursprünglich und real. »Die Einheit des Bewusstseins, so wie die mit der Evidenz aus dem, was wir innerlich wahrnehmen, zu erkennen ist, besteht darin, daß alle psychischen Phänomene, welche sich gleichzeitig in uns finden, mögen sie noch so verschieden sein, wie Sehen und Hören […], wenn sie nur zusammenbestehend innerlich wahrgenommen werden, sämtlich zu einer einheitlichen Realität gehören; daß sie als Teilphänomene ein psychisches Phänomen ausmachen, wovon die Bestandteile nicht verschiedene Dinge sind, sondern zu einer realen Einheit gehören. Dies ist, was zur Einheit des Bewusstseins notwendig ist; ein weiteres aber verlangt sie nicht.«74 Brentano votiert damit für die eingangs angeführte zweite Grundannahme, dass das Bewusstsein mehr ist als die Summe seiner Daten, die empirisch zu messen sind. Die dritte Grundannahme von der Erlebnisqualität des Bewusstseins wird zeitgleich von William James herausgearbeitet. James erkennt in seiner Psychology (1890) in der Einheit des Bewusstseins ein stetiges Fließen von Erlebnissen, einen »Strom« als eine grundlegende Tatsache des Bewusstseins. »Die 70  Vgl. Artikel »Bewußtsein«. In: Handwörterbuch der Philosophie von Dr. Rudolf Eisler (Berlin 1913) 100–105. 71  Franz Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt [1871] (Hamburg 1955) 141. 72  Ebd., 144 f. 73  Ebd., 231 f. 74  Ebd., 232.

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erste und oberste konkrete Tatsache, die jedermann bezüglich seiner inneren Erfahrung konstatieren wird, ist die, daß Bewußtsein irgendwelcher Art stattfindet. In ihm folgen seelische Zustände aufeinander.«75 Desweiteren nennt James vier Eigentümlichkeiten des Bewusstseins: Jeder Zustand tritt mit dem Anspruch auf, ein persönlicher Zustand zu sein; innerhalb jedes persönlichen Bewusstseins wechseln die Zustände fortwährend; jedes persönliche Bewusstsein ist merklich kontinuierlich; das Bewusstsein ist selektiv und vereinheitlichend. »Deshalb ist es klar und offenbar, daß unser Geisteszustand niemals genau derselbe ist. Jeder Gedanke, den wir von einer gegebenen Tatsache haben, ist streng genommen, einzig und ist unseren anderen Gedanken von dem gleichen Tatbestand nur in dem Sinne ähnlich, wie mehrere Individuen der gleichen Art einander ähnlich sind. Wenn genau dieselbe Tatsache wieder auftritt, müssen wir auf eine neue Art darüber denken, sie unter einem etwas anderen Gesichtswinkel betrachten, sie in Beziehungen bringen, die verschieden sind von denen, in welchen sie das letzte Mal stand. Und der Bewußtseinsinhalt, durch den wir sie erkennen, ist ein Bewußtseinsinhalt, der sich auf die betreffene Tatsache bezieht, sofern sie in jenen Beziehungen steht, ein Bewußtseinsinhalt, zu dem das Bewußtsein des ganzen dunkel erfaßten Zusammenhangs hinzugehört.«76 Die Tradition der erkenntnistheoretisch ausgerichteten Psychologie – von Herbart bis Wundt – ist auch bei James präsent. Doch er überführt diese in das Programm einer Individualpsychologie, in der es keine allgemeinen »Tatsachen des Bewusstseins« gibt, sondern nur solche mit individuellem Gehalt, auch keinen dauerhaften »Inhalt« des Bewusstseins.77 »Das Bewußtsein erscheint daher selbst nicht als in Stücke zerhackt. Worte wie ›Kette‹ oder ›Zug‹ geben nicht richtig den Eindruck wieder, den es unmittelbar von sich selbst gewinnt. Es besteht nicht aus verbundenen Gliedern; es fließt. Ein ›Fluß‹, ein ›Strom‹, das sind die Metaphern, durch welche es am natürlichsten versinnbildlicht wird. Wir wollen es also, wenn wir von nun an davon sprechen, den Strom des Denkens, des Bewußtseins oder des subjektiven Lebens nennen.«78 Wo in Kantischer Nachfolge zwischen empirischem Bewusstsein und »Bewusstsein überhaupt« unterschie75  William

James: Psychologie [1890]. Deutsche Übersetzung von Dr. Marie Dürr (Leipzig 149. 76 Ebd. 77  Ebd., 155: »Ein dauernd vorhandener ›Inhalt‹, der in periodischen Intervallen vor den Rampenlichtern des Bewußtseins auftaucht, ist ein ebenso sagenhaftes Wesen wie der ewig wandernde Ahasher.« Vgl. W. James: The Principles of Psychology. Vol. I (New York 1890) 236: »A permanently existing ›idea‹ or ›Vorstellung‹ which makes its appearance before the footlights of consciousness at periodical intervals, is as mythological an entity as the Jack of Spades.« 78  W. James: Psychologie, a. a.O. [Anm. 75] 157. Vgl. W. James: The Principles of Psychology, a. a.O. [Anm. 77] 239: »Consciousness, then, does not appear to itself chopped up in bits. Such words as ›chain‹ or ›train‹ do not describe it fitly as it presents itself in the first instance. It is nothing jointed; it flows. A ›river‹ or a ›stream‹ are the metaphors by which it is most naturally described. In talking o fit hereafter, let us call it the stream of thought, of consciuousness, of a subjective life.« 21920)

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den wird, führt James die Differenz von empirisch-allgemeinem Bewusstsein (»Me«) und individuellem Bewusstsein (»I«) ein. Nur letzteres ist die Einheit des persönlichen Erlebens, die unabhängig von den jeweiligen empirischen Bedingungen besteht und sich als Einheitsfunktion artikuliert.79 Ein verwandter Gedanke findet sich auch bei Wilhelm Dilthey, der eine individualisierte Psychologie gegen die, im Sinne der Naturwissenschaften, verallgemeinernde Erkenntnismethodik in der Psychologie mobilisiert.80 Dilthey geht es um die Klärung des Verhältnisses von Erkenntnistheorie und Psychologie. Er kommt zu dem Ergebnis, dass »Erkenntnistheorie […] Psychologie in Bewegung«81 ist, weil wir es in der Analyse mit einem »lebendigen Bewußtsein« zu tun haben. Das Bewusstsein erhält seine Lebendigkeit nicht von außen, sondern durch seine Integration in ein »Seelenleben« – eine Metapher, die er von Lotze übernimmt. Dilthey meint damit, dass wir uns selbst immer als Ganzheit erleben; jedes Erlebnis wird von der »Totalität des Seelenlebens«82 getragen; diesen Zusammenhang erleben wir unmittelbar.83 In diesem Zusammenhang wird Kants »Einheit des Bewusstseins« von Dilthey zum »Bewußtsein der Selbigkeit der Person«84 erweitert. Damit integriert er ein Moment der Entwicklung in das Selbstbewusstsein und erklärt nur die »Form unseres bewußten Lebens« für beständig. Zudem ist der Umfang des Bewusstseins nicht in jedem Zeitpunkt gleich, es gibt also einen unterschiedlichen »Bewußtseinsstand«. Dieser setzt sich aus den Vorstellungsbestandteilen, den Volitionen und Gefühlen zusammen. Nicht alles, was unser Leben bestimmt, tritt ins bewusste Leben ein. Es gibt durchaus einen dunklen Kern unseres Selbst, den die Psychologie zu erhellen sucht, aber dabei an Grenzen stößt, wie Dilthey im Rückgriff auf Schopenhauer ausführt. Denn auch der Mensch gehört zu den »Formen des tierischen Daseins«,85 die sich als tierische Lebenseinheit an ihre Umgebung anpassen müssen. Das »Zentrum unser seelischen Struktur« ist daher ein »Bündel von Treiben und Gefühlen«, deren Wirksamkeit wir nur erleben, nicht aber erkennen. 79  W. James: Psychologie, a. a.O. [Anm. 75] 174: »Woran ich auch denken mag, stets bin ich gleichzeitig mehr oder weniger meiner selbst, meiner persönlichen Existenz bewußt. Dabei bin ebenfalls in demselben Moment ich es, der das Bewußtsein hat. Mein ganzes Selbst ist also gleichsam verdoppelt. Einerseits zum Bewußtsein Kommendes, andererseits Bewußtsein Habendes, einerseits Objekt, andererseits Subjekt, muß es zwei unterscheidbare Aspekte in sich vereinigen, von denen wir der Kürze halber den einen als das Mich, den anderen als das Ich bezeichnen wollen.« 80  Wilhelm Dilthey: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie [1894]. In: Gesammelte Schriften. Bd. V (Stuttgart 1957) 139–240. 81  Ebd., 151. 82  Ebd., 172. 83  Ebd.: »Und wir gehen im Verstehen vom Zusammenhang des Ganzen, der uns lebendig gegeben ist, aus, um aus diesem das einzelne uns faßbar zu machen. Eben daß wir im Bewußtsein von dem Zusammenhang des Ganzen leben, macht uns möglich, einen einzelnen Satz, eine einzelne Gebärde oder eine einzelne Handlung zu verstehen.« 84  Ebd., 200. 85  Ebd., 205.

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Dilthey resümiert die Debatten über das Bewusstsein, die im 19. Jahrhundert geführt wurden, indem er sie in einer Konstellation von beschreibender und zergliedernder Psychologie zusammenfasst. In seiner Perspektive bleibt nur ein Weg, um die Einheit des Bewusstseins im Gesamtzusammenhang des Lebens zu begreifen: »Der psychische Lebensprozeß ist ursprünglich und überall von seinen elementarsten bis zu seinen höchsten Formen eine Einheit. Das Seelenleben wächst nicht aus Teilen zusammen; es bildet sich nicht aus Elementen; es ist nicht ein Kompositum, nicht ein Ergebnis zusammenwirkender Empfindungsatome der Gefühlsatome: es ist ursprünglich und immer eine übergreifende Einheit. Aus dieser Einheit haben sich seelische Funktionen differenziert, verbleiben aber dabei an ihren Zusammenhang gebunden. Diese Tatsache, deren Ausdruck auf der höchsten Stufe die Einheit des Bewußtseins und die Einheit der Person ist, unterscheidet das Seelenleben total von der körperlichen Welt.«86 Das 19. Jahrhundert endet mit der Feststellung, dass die Frage nach der Einheit des Bewusstseins nicht zu beantworten ist. Der Preis ist die Trennung zweier Wissensordnungen und die Behauptung der Unvergleichbarkeit von Naturtatsachen und Bewusstseinstatsachen. Abschließend ist auf Henri Bergsons Studie Les données immédiates de la conscience (1889) hinzuweisen, in der wir eine überzeugende Konzeption finden, die der naturwissenschaftlichen Methodik in der Psychologie eine Grenze aufweist, ohne zugleich dem Hang zum dunklen Seelengrund zu weit nachzugeben. Bergson, der Leser der Schriften Schopenhauers und Lotzes, übernimmt das Stufenmodell der organischen und psychischen Welt und unterscheidet zwischen tieferen und höheren Bewusstseinszuständen. Erstere sind quantitativ zu bestimmen. »Wenn es irgend ein Phänomen gibt, das sich dem Bewußtsein unmittelbar in der Form der Quantität oder wenigstens der Größe darzubieten scheint, so ist dies jedenfalls die Muskelanstrengung.« 87 In seiner Auseinandersetzung mit den Theorien von Wundt und James zeigt Bergson, dass die Quantität der Bewusstseinsphänomene mit einer Intensität des Erlebens gekoppelt ist, die sowohl auf äußere als auch innere Wirkungsverhältnisse rekurriert. Licht, Farben, Töne sind besondere Realitäten für das Bewusstsein, weil sie über die Quantität und Intensität bestimmbar sind. »Die Vorstellung der Intensität liegt also am Vereinigungspunkt zweier Strömungen, deren eine uns von außen her die Vorstellung extensiver Größe vermittelt, während die andre aus den Tiefen des Bewußtseins das Bild einer inneren Mannigfaltigkeit an die Oberfläche emporträgt.«88 Diese Überlegungen stehen der James’schen Psychologie nahe, unterscheiden sich von dieser jedoch durch Bergsons Behauptung, dass wir das Bewusstsein nicht allein unter dem Aspekt der Individualisierung begreifen dürfen.89 86 

Ebd., 211. Bergson: Zeit und Freiheit – Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewusstseinstatsachen (Jena 1920) 17. 88  Ebd., 57. 89  Ebd., 107. Bergson stellt hier die Frage: »Lebte nun jeder von uns ein rein individuelles 87  Henri

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Bergson streitet zugleich gegen den Individualismus von James als auch gegen den, in den Naturwissenschaften herrschenden physischen und psychischen Determinismus. Ersterem setzt er eine These der Kontinuität entgegen, d. h. in unserem dunklen Lebensdrang wie auch in unserem bewussten Erleben drückt sich aus, dass das Individuum Teil eines Gesamtgeschehens ist und an dieses immer gebunden bleibt. Den Deterministen ruft er zu, dass ihre Weltanschauung eine Beleidigung für uns Menschen ist, deren Lebensvollzug nicht bloß mechanisch zu verstehen ist und die in ihrem bewussten Leben nach Freiheit streben und damit einen Trieb, einen Willen, einen Drang zur Artikulation bringen, der alle Lebensformen über sich hinaustreibt. Wenn das so ist, dann ist es umso verwunderlicher, dass die Vertreter deterministischer Theorien »kein Bedenken [tragen], das auf der Bühne des Bewußtseins gespielte Stück für eine stets wortwörtliche und sklavische Übersetzung einiger Szenen zu halten, die die Moleküle und Atome der organisierten Materie aufführen«.90 Das ist das letzte Wort des 19. Jahrhunderts zur Debatte über das Bewusstsein, bevor einerseits Freud, andererseits Husserl die Richtungen vorgeben. Schon mit Bergson, wie vor ihm Dilthey, kippt der Erkenntnisoptimismus der Epoche, die lange Zeit an der Forderung festhielt, über eine vollständige Beschreibung der »Tatsachen des Bewusstseins« dessen Einheit begreifen zu können. Bergsons Rede von der Bühne des Bewusstseins, auf der ein Stück aufgeführt wird, verweist uns darauf, dass sowohl das Drehbuch dieses Stücks wie auch die Regieanweisungen nicht Teil der Inszenierung sind, sondern außerhalb des Bewusstseins liegen und von einem rätselhaften »Außen« auf das Bewusstsein einwirken. Nun wäre es jedoch ein grobes Missverständnis, Bergson unter die Kulturpessimisten seiner Zeit einzureihen, die ja mit den Deterministen in einem entscheidenden Punkt, der Leugnung menschlicher Freiheit, übereinkommen. Bergson stellt den Leugnern der Lebendigkeit und Freiheit eine schöpferische Perspektive auf das Leben entgegen, die für den Ausgang des 19. Jahrhunderts so überraschend ist, dass wir sie im Licht der bisher entfalteten Konstellationen betrachten müssen. Denn Bergson weist nicht die Möglichkeit einer quantitativen Vermessung der Bewusstseinszustände zurück, er weicht auch nicht hinter die Behauptung eines irrationalen Seelengrundes zurück, sondern er weist darauf hin, dass die Qualität der Bewusstseinszustände den Charakter eines »lebendigen Ich« ausmachen. Was es heißt, über ein »aufmerksame[s] Bewußtsein«91 zu verfügen, das weiß nur derjenige, der es nicht für selbstverständlich, sondern gegen andere Wirkkräfte errungen, auffasst.

Leben, gäbe es weder Gesellschaft noch Sprache, würde dann unser Bewußtsein die Reihe seiner innern Zustände in dieser ununterschiedenen Form auffassen?« Seine Antwort lautet (108), dass es uns Menschen zum Leben und zur Gemeinschaft drängt, wie auch unsere Bewusstseinszustände von innen nach außen getrieben werden. 90  Ebd., 117. 91  Ebd., 186.

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Wir sehen hier wie in einem Brennspiegel, dass das ausgehende 19. Jahrhundert mit der Hoffnung auf weitgehende Aufhellung der Strukturen des menschlichen Bewusstseins auch den Glauben an die unbedingte Möglichkeit eines bewussten Seins, d. i. Freiheit im Kantischen Sinne, verliert. Aber wir erkennen auch die Anstrengung, das Feld nicht einem erkenntnistheoretischen Determinismus und einem sozialpolitischen Fatalismus zu überlassen. An der verästelten Geschichte des Begriffs ›Bewusstsein‹ können wir die Konturen wissenspolitischer und weltanschaulicher Konfliktlinien im 19. Jahrhundert ablesen. Die Debatten dieser Zeit werden in das nächste Jahrhundert getragen. Der erkenntnistheoretische Determinismus hat viele Gesichter. Ihm tritt das Pathos der »Aufmerksamkeit« (Bergson), »Wachheit« (Husserl) oder »Entschlossenheit« (Heidegger) im 20. Jahrhundert in den Denkrichtungen der Lebensphilosophie, Phänomenologie und Existenzphilosophie entgegen. Aber das ist eine andere Geschichte.



Friedhelm Brüggen

Bildung

I. Der deutsche Bildungsbegriff erreicht in der Zeit um 1800 im Neuhumanismus Wilhelm von Humboldts, in den frühen Schriften aus dem Umkreis des deutschen Idealismus (Fichte, Hegel, Hölderlin) und literarisch insbesondere in den Bildungsromanen, exemplarisch in Goethes Wilhelm Meister, seinen Höhepunkt. Das Wort ›Bildung‹, dessen Ursprung bis in die mittelalterlich Mystik zurückverfolgt werden kann, erhält im Bildungsbegriff in Fortführung und Erweiterung des Humanismus der Renaissance, der Kultur- und Gesellschaftskritik Rousseaus, der Rezeption der Moralphilosophie Kants sowie der durch Johann Joachim Winckelmann hervorgerufenen Begeisterung für die Kultur der griechischen Antike eine neue Bedeutung. Eine erste begriffliche Fassung findet sich in Herders Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit von 1774, die die Geschichte als Bildungsgeschichte des Menschen als »Spiegel der Menschen und Menschenalter«, als »Fackel der Wahrheit« interpretiert.1 Fichte präzisiert dann in seinem 1796 erschienenen Naturrecht unter moraltheoretischen Gesichtspunkten die sich bei Herder (in der Nachfolge Rousseaus) abzeichnende Anthropologie, »dass unser Geschlecht selbst aus sich machen muss, was aus ihm werden kann und soll«,2 dahingehend, dass der Mensch »ursprünglich gar nichts« ist, sondern sich »lediglich eine Bestimmbarkeit ins Unendliche [findet]; keine Bildung desselben, sondern nur Bildsamkeit«.3 Anders als bei Herder ist für Fichte wegen der »Verdorbenheit des gegenwärtigen Zeitalters« die Vermittlung von Bildung und Geschichte eine Aufgabe, die noch gänzlich aussteht. Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie nimmt im Blick auf Herder und Fichte eine eigentümliche Zwischenstellung ein. Auch für ihn ist ähnlich wie für Fichte die »höchste und proportionirlichste Bildung […] der wahre Zweck des Menschen«, ein Zweck, den die »ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt«.4 Andererseits hätte Humboldt der Formulierung Fichtes, dass der 1 

Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) (Stuttgart 1990) 153. 2  Ebd. 243. 3 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach den Principien der Wissenschaftslehre (1796). In: Fichtes Werke, hg. von I. H. Fichte (Berlin 1971) Bd. 3 79 f. 4  Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792). In: ders.: Werke in fünf Bänden, hg. von Klaus Giel und Andreas Flitner (Darmstadt 1969) Bd. 4, 64. Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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Mensch »ursprünglich gar nichts ist«, wohl kaum zugestimmt. Für Humboldt ist, ganz ähnlich wie für Goethe, der Mensch ein Wesen, dessen Individualität immer schon besteht und sich doch in der Zeit durch »Verbindung« mit anderen Individuen erst entwickelt und bildet. In seinen frühesten bildungstheoretischen Überlegungen sucht er diese »charakterbildende Verbindung« der Menschen überall auf, auch unter den »rohesten Nationen«.5 Die Verbindung, also Kommunikation und Interaktion der Menschen, haben für Humboldt freilich erst dann »bildenden« Charakter im engeren Sinne, wenn sich die in jedem Menschen von Anfang an vorhandene Individualität zur »Eigentümlichkeit«, zur »Originalität« weiterentwickelt. Dazu ist eine solche Relation der Verbundenen erforderlich, »in welchem sich die Selbstständigkeit der Verbundenen zugleich mit der Innigkeit der Verbindung erhält«.6 Bildungsprozesse, also auch ganz alltägliche, erfordern Gleichheit und Differenz: Gleichheit als »Selbständigkeit« der Individuen, weil ohne diese Gleichheit die Interaktion einen machtförmigen Charakter annehmen würde, und Differenz als »Verschiedenheit«, damit die »Bewunderung dessen, was der andere besitzt«, den Wunsch »rege« macht, »es auch in sich überzutragen«.7 Der Staat ebenso wie die arbeitsteilige Berufsgesellschaft können und dürfen daher, anders als in der existierenden Standesgesellschaft, nicht als primäre Orientierungsgröße von Bildungsprozessen angesehen werden. Humboldt fordert eine »freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete Bildung des Menschen«, welche überall vorangehen müsse, so dass der »so gebildete Mensch […] dann in den Staat« trete »und die Verfassung des Staates sich gleichsam an ihm« prüfe.8 Humboldt hat diesen Gedanken einer auf Kommunikation und Umgang angewiesenen Bildung in den Jahren 1794/95 wohl unter dem Einfluss Fichtes, dessen Vorlesung über die Bestimmung des Gelehrten er gehört hatte, in dem Text Theorie der Bildung des Menschen weiterentwickelt.9 In Anlehnung an Fichtes Terminologie beschreibt Humboldt jetzt die Struktur und den Prozess von Bildung als freie Wechselwirkung von Mensch (Ich) und »NichtMensch«, d. i. Welt. Die »Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt« erscheint ihm wie in seiner 5 

Ebd. 66. Ebd. 65; vgl. auch 478 f. 7 Ebd. 8  Ebd. 106. 9  Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (Jena/ Leipzig 1794) und W. v. Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück. In: W. v. Hum­boldt: Werke, a. a.O. [Anm. 4] Bd. 1, 234–240. Humboldts Bildungsfragment ist im ­gesamten 19. Jahrhundert unbekannt. Erst Leitzmann hat es im Rahmen der Gesammelten Schriften Humboldts im Jahre 1903 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Überschrift stammt von ihm. Die zitierten Stellen aus Humboldts staatstheoretischer Abhandlung sind im Jahre 1792 in Schillers Neuer Thalia veröffentlicht worden. Die bildungstheoretische Diskussion der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat Humboldts Schrift nicht beeinflusst. Erst Rudolf Hayms großes Humboldtbuch Wilhelm von Humboldt. Lebensbild und Charakteristik (Berlin 1856) interpretiert diesen Text. 6 

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frühen staatstheoretischen Schrift als »letzte Aufgabe unseres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unserer Person […] einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen«.10 Dabei wird die Wechselwirkung auf doppelte Weise gedacht: Zum einen als Wechselwirkung von Ich und Welt, der zufolge die Natur des Menschen ihn drängt, »von sich aus zu den Gegenständen außer ihm überzugehen«; zum anderen und zugleich komme es aber darauf an, dass sich der Mensch in der Fremdheit der Welt, der »Entfremdung«, nicht verliere, sondern »die Masse der Gegenstände sich selbst näher« bringe und dem »Stoff die Gestalt seines Geistes« aufdrücke, damit »beide einander ähnlicher werden«. Die Wechselwirkung des Ichs mit der Welt wird daher zugleich als Wechselwirkung des Menschen mit sich selbst, als »Wechselwirkung seiner »Empfänglichkeit mit seiner Selbsttätigkeit« gedacht, so dass distanzierte und reflektierte Welterfahrung sich mit der Entwicklung des Einzelnen zur »Eigentümlichkeit« und »Originalität« verbindet.11 In der preußischen Reformära hat Humboldt diesen Bildungsbegriff auf die Institutionen Schule und Universität ausgelegt. Die in ihnen zu vermittelnde allgemeine Menschenbildung soll einen zeitlichen Vorrang vor jeder beruflichen Spezialisierung haben. Dieser Vorrang dient vor allem in der Schule dazu, den Einzelnen aus den überlieferten Standesschranken herauszulösen und ihn in die Lage zu versetzen, seine Bestimmung und seine Stellung in der Gesellschaft selbst zu suchen. Diese Idee einer allgemeinen Menschenbildung, die in der Schule an den alten Sprachen (Griechisch und Latein), an der Mathematik und an den historischen Wissenschaften orientiert ist, gilt auch für die von Humboldt eingeleitete Reform der Universität. Die Wissenschaften sollen nicht fertige Lehrgegenstände lehren, sondern als philosophisch-empirische Forschungsdisziplinen die Studierenden in das selbsttätige Suchen und Forschen einführen. Für Humboldt ist nämlich Wissenschaft »etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes«, das es »unablässig […] zu suchen« gilt.12 Die freie und offene Wechselwirkung von Mensch und Welt markiert das systematische Zentrum der Struktur und des Prozesses von Bildung, wie ihn Humboldt und andere Neuhumanisten um 1800 entworfen haben.13 Der Begriff der ›Menschheit‹ stellt für ihn eine Idee dar, der die Wirklichkeit nie vollständig korrespondieren kann. Humboldt umschreibt die Idee und den »Geist der Menschheit« als ein »unbekanntes Etwas«, welches nicht theoretisch vorentworfen oder als Vorgegebenes beschrieben werden kann, sondern sich durch die sich bildenden Individuen jeweils neu und unabschließbar gestaltet und weiter-

10 

Humboldt: Werke, a. a.O. [Anm. 4] Bd. 1, 256

11 Ebd. 12 

Humboldt: Werke, a. a.O. [Anm.4] Bd. 4, 257. notiert beispielsweise der frühe Schleiermacher 1799: »Wechselwirkung hat keinen Zweck als sich selbst.« (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Schriften aus der Berliner Zeit, hg. von Günter Meckenstock [Berlin und New York 1984] 38.) 13  So

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entwickelt.14 Das gebildete Individuum, das als Einzelner immer nur »für Eine Form, für Einen Charakter« geschaffen und daher stets begrenzt ist, wird dabei nicht vom gesamtgesellschaftlichen Leben separiert. Es ist vielmehr umgekehrt so, dass »nur gesellschaftlich die Menschheit ihren höchsten Gipfel erreichen« kann. Dabei wirke der gebildete Einzelne auf die Gesellschaft zurück, so dass der »Einfluss auf das Ganze von selbst und ohne ausdrücklich darauf gerichtete Absicht« erfolgt.15 Anders als im Neuhumanismus spielen für den Bildungsbegriff Hegels Staat und Gesellschaft, die »wirkliche Welt«, wie Hegel in seinen Gymnasialreden sagt,16 keine nachgeordnete Rolle in dem Sinne, dass sich aus der Wechselwirkung gebildeter Individuen und einer sich bildenden bürgerlichen Öffentlichkeit eine vernünftige staatliche und gesellschaftliche Lebensform »von selbst« ergibt. Die Differenz zum Neuhumanismus insbesondere Wilhelm von Humboldts wird aber erst deutlich, wenn man sich zugleich der Übereinstimmungen vergewissert, welche zwischen Hegels Bildungsbegriff und dem Neuhumanistischen bestehen. Einerseits ist Bildung für Hegel wie für die Neuhumanisten ein Prozess, in dem sich das einzelne Subjekt aus den existierenden Lebens- und Traditionszusammenhängen, in die es hineingeboren wird, löst und an sich selbst sowie an der Welt die Erfahrung einer Zerrissenheit macht, welche durch Bildung zwar bewusst gemacht, aber nicht durch Bildung (allein) überwunden werden kann. In der »wissenschaftlichen Bildung«, wie sie die Schule (das Gymnasium) vermittelt, hat Hegel eine auch in moralischer Hinsicht ›befreiende Macht‹ gesehen.17 Zum Bildungsprozess gehört es notwendig, dass der Einzelne sich von sich selbst, seinen Neigungen, seiner »unfreien Sphäre des Gefühls und des Triebs«18 trennt und damit seiner unmittelbaren Daseinsweise entfremdet wird. Diese »Entfremdung« aber, »welche Bedingung der theoretischen Bildung ist«, erfordert die Anstrengung »der Vorstellung, sich mit einem Nicht-Unmittelbaren, einem Fremdartigen […] zu beschäftigen«,19 das Hegel, hier noch in Übereinstimmung mit Humboldt, insbesondere in den antiken Sprachen, aber auch in den Wissenschaften zu erkennen glaubt. Die Unabhängigkeit, zu der solche Bildung befähigt, trägt zwar moralische Züge, sie ist aber nicht eine unbedingte Moralität im Sinne Kants. Hegel zufolge hat die Schule nicht die Aufgabe, die Menschen moralisch, sondern vielmehr jene, sie »sittlich zu machen«. Hegel teilt daher nicht die Grundüberzeugung vieler Neuhumanisten, dass durch Bildung die Welt vernünftiger werden könne. 14 

Humboldt: Werke, a. a.O. [Anm. 4] Bd. 1, 509. Ebd., 339 und 399. 16 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: 3. Gymnasialrede. Am 2. September 1811. Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, hg. von Herrmann Glockner, Bd. III (Stuttgart 41961) 264–280, hier 272. 17  Ebd. 268. 18 Ebd. 19 G. W. F. Hegel: 1. Gymnasialrede. Am 29. September 1809. Sämtliche Werke, a.  a.O. [Anm. 16] 231–245, hier 240. 15 

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Lernen und Bildung begreift Hegel vielmehr als die Fähigkeit des Menschen, in die Welt des »objektiven Geistes« (Familie, vor allem bürgerliche Gesellschaft und Staat) gleichsam eintauchen zu können. Die Vernunft aber verwirklicht sich Hegel zufolge nicht in der bürgerlichen Gesellschaft, die Hegel als ein »System der Bedürfnisse« versteht, sondern im Staat als der Wirklichkeit der sittlichen Idee. Insofern erneuert Hegel auf dem Boden der entstehenden modernen Gesellschaft und des modernen Staates die klassisch-antike Auffassung, dass das Individuum erst dadurch zur wirklichen Vernunft gelangt, indem es »Bürger eines Staates von guten Gesetzen« ist.20 Die sich hier abzeichnende Differenz zum Neuhumanismus Humboldts wird auch besonders deutlich in der Gymnasialrede aus dem Jahre 1813, in der Hegel das Verhältnis von Bildung und Beruf erläutert. Die Welt des Berufes bringe es, so Hegel, immer mit sich, dass wir uns einem »beschränkten Teile« der Welt zuwenden müssen. Wer etwas Großes wolle – Hegel verweist an dieser Stelle ungenannter Weise auf Goethe – müsse sich »beschränken können«. Gerade deshalb, weil der Mensch in einem bestimmten Berufe stets einer »beschränkten Sphäre« angehöre, müsse dem (heranwachsenden) Menschen »die Vorstellung und de[r] Begriff eines vollständigen Lebens« verschafft werden. Das »Studium der Alten« hat daher für Hegel die eminente Bedeutung, im Bewusstsein die Vorstellung eines Ganzen zu erzeugen, welchem die Wirklichkeit gerade nicht entspricht. Nur so werde der Mensch fähig, »dem öffentlichen Leben« in Staat und Gesellschaft anzugehören.21 Hegel hat in seinen Gymnasialreden der Bildung eine Bedeutung verliehen, die auf seine Philosophie insgesamt verweist. In seiner Phänomenologie des Geistes ebenso wie in seiner Geschichtsphilosophie versteht Hegel unter Bildung einen Prozess des »Herausarbeitens aus der Unmittelbarkeit des substantiellen Lebens«, welcher an die Anstrengung zurückgebunden ist, sich »zu den Gedanken der Sache überhaupt herauf zu arbeiten«.22 In diesem Bildungsprozess geht die Vertrautheit mit Bekanntem verloren und es tritt an ihre Stelle die Freiheit des Einzelnen, die eigene Bestimmung in der Welt selbst hervorzubringen. Diese Freiheit stehe, so Hegel, jedem offen und sei daher auch jedem zuzumuten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat man Goethes Wilhelm Meister als einen Bildungsroman angesehen, in welchem das neuhumanistische Bildungsdenken vollendet zum Ausdruck gekommen sei. In den 50er Jahren ist dieser Auffassung heftig widersprochen worden. Das »Winckelmann-HerderHumboldtsche Ideal der harmonischen Persönlichkeit«, des allseitig gebildeten Menschen, sei in Wahrheit das Gegenbild zu Goethes im Wilhelm Meister dichterisch vermittelter Erkenntnis, dass die Bildung des Individuums stets zu einer eingeschränkten Individualität führe und führen müsse, welche im gesell20 G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Sämtliche Werke, a.  a.O. [Anm. 16] Bd. 7, § 153, 235. 21 G. W. F. Hegel: 4. Gymnasialrede. Am 2. September 1813. Sämtliche Werke, a.  a.O. [Anm. 16] Bd. 3, 285 f. 22  G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Sämtliche Werke, a. a.O. [Anm. 16] Bd. 2, 14.

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schaftlichen Leben, vor allem im Beruf, einen begrenzten und begrenzenden Aufgabenbereich und im sittlichen Handeln die Sphäre ihrer Bewährung finde.23 Nun ist es zweifellos so, dass für Goethe der Charakter jedes Menschen begrenzt und das Individuum daher immer als ein Besonderes bestimmt ist. Dieser Versuch freilich, das Bildungsdenken Goethes in einen scharfen Gegensatz zum neuhumanistischen Bildungsbegriff zu setzen, geht von einem als neuhumanistisch bezeichneten Bildungsverständnis aus, das in dieser Stilisierung erst in der Rezeptionsgeschichte des Neuhumanismus entstanden ist. Die jüngere Goethe-Forschung, auch und gerade diejenige zum Wilhelm Meister, hat diesen angeblichen Gegensatz wieder zurechtgerückt.24 Nicht nur in den Arbeiten, die in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts geschrieben wurden, in den Lehrjahren, sondern auch in seinen nach 1800 entstandenen Arbeiten geht Goethe im Einklang mit dem Neuhumanismus von einer Wechselwirkung von Ich und Welt als dem Ort der Bildung des Menschen aus. Die Bildung und Entwicklung der menschlichen Individualität ist für Goethe ein Prozess, der weder primär durch die »äußeren Elemente«, die den Menschen determinieren, noch durch unveränderliche »Anlagen«, die sich lediglich entfalten müssen, bestimmt ist. Der »innere Kern« des Menschen, von dem gleichwohl ausgegangen werden müsse, ist für Goethe von Anfang an stets mitbedingt durch die historische Zeit, die »Zeitverhältnisse«, in denen der einzelne Mensch lebt.25 Die Bildungsgeschichte in Goethes komplexem und vielschichtigem Roman zeigt, dass die Vielzahl der Weltbegegnungen der Hauptperson nicht geradlinig verläuft, sondern von »falschen Tendenzen« begleitet und flankiert wird, die zu Fehleinschätzungen und Irrtümern führen. An einer zentralen Stelle lässt Goethe einen anonym auftretenden »Mann« zu Wilhelm sagen: »Nicht vor Irrtum zu bewahren, ist die Pflicht des Menschenerziehers, sondern den Irrenden zu leiten, ja ihn seinen Irrtum aus vollen Bechern ausschlürfen. zu lassen, dass ist die Weisheit der Lehrer. Wer seinen Irrtum nur kostet, hält lange damit aus, er freuet sich dessen als eines seltenen Glücks, aber wer ihn ganz erschöpft, der muss ihn ken-

23 

Vgl. Kurt May: ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ – ein Bildungsroman? In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 31 (1957) 1–37, hier 36. 24  Vgl. u. a. Fotis Jannidis: ›Bildung‹ als ›Bestimmung des Menschen‹. Zum teleologischen Aspekt in Goethes Bildungsbegriff. In: Pädagogische Rundschau 53 (1999) 441–455. Ob Goethes Bildungsverständnis begrifflich angemessen erfasst ist, wenn man dessen »teleologischen Aspekt« betont, muss hier undiskutiert bleiben. Vgl. auch ders.: Das Individuum und sein Jahrhundert (Tübingen 1996). 25  Die Terminologie entstammt Goethes Versuch einer allgemeinen Vergleichungslehre lebendiger Wesen überhaupt, also nicht nur des Menschen (Johann Wolfgang Goethe: Schriften zur Morphologie, hg. von Dorothea Kuhn [Frankfurt a. M. 1987] 209–214). Vgl. auch die Goethes Bildungsverständnis markant bezeichnende Stelle aus Dichtung und Wahrheit, die die »Zeitverhältnisse«, in denen der einzelne Mensch steht, herausstellt, und zwar so, dass »ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, […] was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein« dürfte. (Goethes Werke: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden [im Folgenden: HA] Bd. 9, hg. von Erich Trunz [München 121999] 9.)

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nen lernen, wenn er nicht wahnsinnig ist.«26 Wilhelm macht die Erfahrung, dass er dort nach »Bildung suchte, wo keine zu finden war«.27 In der bewussten Erfahrung seines Irrtums tritt Wilhelm, in der Sprache Humboldts, in Wechselwirkung mit sich selbst, seiner »Empfänglichkeit« und mit seiner »Selbsttätigkeit«. Wilhelm widerfährt also nicht dieses oder jenes, das unreflektiert bleibt, sondern er macht bewusst eine Erfahrung. Wilhelms »innerer Kern«, seine individuelle Identität ist keine statische Größe, sondern eine, die von den »Zeitverhältnissen« nicht unberührt bleibt. Sie ist aber auch nicht nichts, sondern entwickelt sich und steigert sich erst in der Wechselwirkung mit der Welt. In ihr entwickeln sie solche Bewusstseins- und Identitätsstrukturen, die die weitere Lern- und Bildungsgeschichte des Menschen stets wieder neu bestimmen.28 In seinen (späteren) naturwissenschaftlichen Studien hat Goethe die zentrale Voraussetzung dieses Weltverhältnisses im Blick auf alle Lebewesen und deren Bildungsprozesse untersucht. Goethe setzt sich hier vor allem mit Blumenbachs »nisus formativus«, dem »Bildungstrieb«, auseinander, durch den sich die Gestalt einer Pflanze oder eben auch die eines Menschen bilde. Der »Bildungstrieb« werde, so Goethe, bei Blumenbach als eine »heftige Tätigkeit« gedacht und damit ›anthropomorphisiert‹. Besser, nämlich »kürzer, bequemer und vielleicht gründlicher« sei es, wenn man eingestehen würde, dass jede Tätigkeit, die zu einer individuellen Gestalt führt, ein »Element« voraussetze, »worauf sie wirken konnte, und dass wir zuletzt diese Tätigkeit mit dieser Unterlage als immerfort bestehend und ewig gleichzeitig vorhandene denken müssen. Dieses Ungeheure personifiziert tritt uns als ein Gott entgegen, als Schöpfer und Erhalter, welchen anzubeten, zu verehren und zu preisen wir auf alle Weise aufgefordert sind.«29 Weder das traditionelle (teleologische) Präformationsmodell, noch die Epigenesis-Lehre (etwa in der Blumenbach’schen Variante) sind Goethe zufolge also in der Lage, zu beschreiben, was wir Goethe zufolge als »ewig gleichzeitig vorhanden denken müssen«: das affine Verhältnis Mensch und Welt. Goethes häufig missverstandenes Diktum von der »geprägten Form, die lebend sich entwickelt«,30 meint daher keine zeitliche Abfolge, sondern die Gleichursprünglichkeit von Mensch und Welt, so dass im Leben und im Handeln, in der Wechselwirkung von Ich und Welt, das Individuum sich hervorbringt und hervorgebracht wird. Bildung ist daher nie nur die individuelle Tat des Einzelnen, sondern ist stets mitbedingt durch das geschichtliche Leben, durch die »Zeitverhältnisse«, in denen es sich bewegt und bewegen muss. Das Individuum ist von daher für 26 

Ebd. Bd. 7, 494 f.

27 Ebd. 28 

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch eine Notiz Goethes in den Maximen und Reflexionen anlässlich seiner Lektüre von Stiedenroths Psychologie: Stiedenroth trage alle »Wirkung des Äußern aufs Innere […] unvergleichlich vor, und wir sehen die Welt nochmals nach und nach in uns entstehen. Aber mit der Gegenwirkung des Innern nach außen gelingt es ihm nicht ebenso.« (Goethe: HA, a. a.O. [Anm. 25] Bd. 12, 403.) 29  Ebd. Bd. 13, 33. 30  Ebd. Bd. 1, 359.

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Goethe, ganz ähnlich wie für Humboldt, stets begrenzt und bestimmt. Die Erfahrung der eigenen Begrenzung lässt, so Goethe, das »schöne Gefühl« entstehen, dass »die Menschheit zusammen erst der wahre Mensch ist, und dass der Einzelne nur froh und glücklich sein kann, wenn er den Mut hat, sich im Ganzen zu fühlen«.31

II. Eine besondere und in der bildungstheoretischen und -geschichtlichen Literatur leider zu wenig beachtete Stellung in der zum Teil noch zu Lebzeiten von Humboldt, Hegel und Goethe beginnenden Diskussion um die deutsche Klassik und den Neuhumanismus nehmen die Junghegelianer ein.32 Eine entscheidende Prämisse der junghegelianischen Position ist die Absage an jedwede Metaphysik, eine Absage, die sie nicht nur an der Hegel’schen Philosophie, sondern auch an Goethes Dichtung durchbuchstabieren. Auch die Humboldt’sche Bildungsphilosophie, die die Junghegelianer freilich nicht heranziehen, hatte ja die »ewige Vernunft« bemüht, um den wahren Zweck des Menschen aussprechen zu können. Für die Junghegelianer ist das Ende der Philosophie (als Metaphysik) und damit auch das Ende philosophischen Bildungsdenkens erreicht, weil die Politisierung der Gegenwart eine Form des Bewusstseins erforderlich macht, die nicht mehr mit den Mitteln des deutschen Idealismus artikuliert werden kann. Dass die Junghegelianer dabei trotzdem die Philosophie des deutschen Idealismus, vor allem diejenige Hegels, voraussetzen, hat insbesondere Arnold Ruge betont. Für Ruge ist die »theoretische Befreiung«, die in der Philosophie des deutschen Idealismus manifest geworden ist, abgeschlossen, so dass die »praktische Freiheit« im »Übergang […] auf die Masse« ihre wahre Vollendung findet.33 Hegels Philosophie, so die Grundposition der Junghegelianer, habe richtigerweise die Geschichte als fortschreitendes Bewusstsein der Freiheit erkannt, eine Freiheit, die nunmehr von den Massen ergriffen und in die Praxis umgesetzt werden müsse. Hegel selbst habe ebenso wie die klassische deutsche Literatur die Notwendigkeit dieses letzten Schrittes gleichsam übersehen und die Versöhnung von Theorie und Praxis, von »theoretischer Befreiung« und praktischer Tat, lediglich im »Begriff« (Hegel) oder, wie Goethe, in der »ästhetischen Bildung« vollzogen. Am Beispiel Schillers und Goethes haben Arnold Ruge und Theo31 

Ebd. Bd. 9, 387. Eine Ausnahme bilden Karl Löwith und Heinz-Joachim Heydorn. Vgl. Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts (Stuttgart 1969) bes. 320 ff. und 78 ff. sowie ders.: Einleitung. In: ders.: Die Hegelsche Linke (StuttgartBad Cannstatt 1962) 7–38; Heinz-Joachim Heydorn: Vom Hegelschen Staat zur permanenten Revolution. Eine Einleitung zur Neuausgabe der »Hallischen« und »Deutschen Jahrbücher« 1838–1843. In: ders./Gert Koneffke: Studien zur Sozialgeschichte und Philosophie der Bildung II: Aspekte des 19. Jahrhunderts in Deutschland (München1973) 133–177; ders.: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft (Frankfurt a. M. 1970) 168 ff. 33  Arnold Ruge’s sämmtliche Werke, Band 6 (Mannheim 1848) 133. 32 

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dor Echtermeyer diese »ästhetische Bildung« und ihr Scheitern erläutert. Beide, Schiller wie Goethe, werden daraufhin befragt, »wie sie sich mit ihren Werken zu unserer Wirklichkeit verhalten«.34 Dabei schneidet der sich an Kants Ethik orientierende Schiller, der »Prophet einer Welt«, die noch nicht wirklich ist, besser ab als Goethe, der, eben anders als Schiller, zwar eine »vernünftige Totalität«, ein gesellschaftliches Gesamtleben denkt, sich dabei aber »der innere[n] Gemütlichkeit« überlässt, welche im »ästhetischen Standpunkt« aber nur die relative Versöhnung »des in sich harmonisch und maßvoll durchgebildeten Individuums« mit der Welt findet. Die schöne Subjektivität, welche im Werk Goethes am Ende triumphiert, ist für die Junghegelianer in Wahrheit »egoistisch auf sich selbst zurückgezogen und beschränkt«.35 Für Ruge und Echtermeyer stehen Schiller und Goethe am Ende eines bildungsgeschichtlichen Prozesses, in dem die latente Wahrheit der »schönen Individualität« zur manifesten Praxis, zur »Existenz« (Ruge) gebracht werden muss. Schillers Forderung nach einer Welt, die erst werden soll, und Goethes Standpunkt der »Objektivität«, die den Gesamtprozess der Menschheit zugleich ausspricht und ästhetisch verdeckt, stellen für das junghegelianische Bewusstsein zwei unzureichende Positionen dar, deren latente (theoretische) Wahrheit erst dann Wirklichkeit werde, »wenn sich Deutschland zu einer freien Oeffentlichkeit seiner Staatsverhältnisse hindurch gearbeitet« hat.36 Solange dieses praktische Ziel nicht erreicht ist, bedürfen die realen Bildungsverhältnisse, auch die pädagogischen im engeren Sinne, der Kritik. Vor allem Max Stirner hat in einem 1842 erscheinenden Beitrag diese pädagogische Seite in einer für ihn typischen Weise herausgearbeitet. Er gehört zu den wenigen Autoren aus dem Kreis der Junghegelianer, die sich auch Erziehungs- und Bildungsfragen zugewandt haben. Stirner fragt, »was man aus uns macht in der Zeit unserer Bildsamkeit«.37 Das »unwahre Prinzip unserer Erziehung« sieht er u. a. in einem scheinbaren Widerstreit zwischen »Humanismus und Realismus«. Beide, anstatt das Ich zu befreien, folgen fragwürdigen Zielbestimmungen: Der Humanismus der »höheren Bildung« bleibe im Formellen (etwa der grammatischen Sprachbildung) stecken und degeneriere zur »eleganten Bildung«, zu einer Bildung des Geschmacks und des Formensinns, wohingegen der Realismus, der die »Forderung nach einer praktischen Ausbildung« stelle, der »leere[n] Eleganz des Humanismus« nur den »geschmacklosen Industriellen« entgegenzusetzen wisse.38 34 

Arnold Ruge / Theodor Echtermeyer: Der Protestantismus und die Romantik. Ein Manifest. Zweiter Artikel. In: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst (1839), no. 265, 2113. 35  Ebd. 2117 und 2116. 36  Ebd. no. 266, 1221. 37  Max Stirner: Das unwahre Prinzip unserer Erziehung oder Humanismus und Realismus (1842). In: ders.: Parerga-Kritiken-Repliken, hg. von Bernd A. Laska (Nürnberg 1986) 76. 38  Ebd. 78 ff.

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Stirners Beschwörung des »Ichs«, des »Einzelnen«, des – in seinem Sinne verstandenen – »Egoisten«, der durch Bildung »zur freien Persönlichkeit« befreit werden soll,39 ist im Kreis der Junghegelianern nicht unwidersprochen geblieben. Arnold Ruge hat in einem Beitrag, der die »unruhigen Jahre« der junghegelianischen Bewegung zusammenfasst, zu Stirners pädagogischen Auffassungen Stellung bezogen und zu diesem Zwecke die bildungstheoretische Begrifflichkeit des Neuhumanismus und des deutschen Idealismus herangezogen. Der Titel seines Beitrages lautet Der Egoismus und die Praxis: Ich und die Welt.40 Stirners »Ich«, so Ruge sei eine Illusion, eine »theoretische Täuschung«, die »das Allgemeine« abstrakt negiere.41 Dieses Allgemeine, so Ruge im ungenannten Anschluss an Humboldt (und Schleiermacher), »existiert als Mitteilung der Einzelnen an einander«.42 Ruge erinnert des Weiteren an Hegels bildungstheoretische Position, wenn er sagt, dass der Einzelne vor dem »Allgemeinwerden« und damit vor der Fremdheit und der Entfremdung nicht bewahrt werden könne und dürfe. Der Einzige im Sinne Stirners werde den Anderen und das Andere nicht los, so dass er, ob er wolle oder nicht, die entfremdete Welt sich werde aneignen müssen, um als vernünftiges Ich in ihr existieren zu können. Der wahre Egoismus bestehe deshalb nicht in der bloßen Selbstbehauptung des Ichs, sondern im »Übergang« zu einer vernünftigen Praxis, die das Abstreifen seiner natürlichen »Rohheit« voraussetze.43 Weil aber die Wirklichkeit dem von den Junghegelianern beschworenen »Übergang« nicht folgt, wird ihr Ton schärfer und verzweifelter. Im letzten Jahr der (neuen) Deutschen Jahrbücher wird unter dem Titel Eine Selbstkritik des Liberalismus die »blasierte Bildung« nicht nur einer neuerlichen Kritik unterzogen, sondern es werden zugleich Wege aufgezeigt, wie die Trennung zwischen Wissenden und Unwissenden, zwischen Gebildeten und Ungebildeten überwunden werden können. Der Übergang vom Liberalismus zum »Demokratismus«44 solle so erfolgen, dass sich erstens die Kirchen in Schulen verwandeln, um eine »allen Pöbel absorbierende Volkserziehung daraus zu organisieren«; zweitens sei diese Volkserziehung mit dem Militärwesen zu verschmelzen, so dass drittens das »dadurch gebildete und organisierte Volk sich selbst regieren« könne.45 Die das Ende der junghegelianischen Kritik zusammenfassende Einschätzung Heinz

39 

Ebd. 96. Ruge’s sämmtliche Werke. Bd. 6, a. a.O. [Anm.33] 117–132. 41  Ebd. 124. 42 Ebd. 43  Ebd. 131. Ähnlich heißt es in Feuerbachs Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843): »Die wahre Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du.« (Ludwig Feuerbach: Werke in sechs Bänden, hg. von Erich Thies. Bd. 3 [Frankfurt a. M. 1975] § 64. Den Hinweis auf Feuerbach verdanke ich Ursula Reitemeyer.) 44 Arnold Ruge: Eine Selbstkritik des Liberalismus. In: Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst. (1843), no. 1 ff., 12. 45  Ebd. 11. 40  Arnold

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Joachim Heydorns, dass »die humanistische Position […] nicht durchgehalten« werde, betrifft nicht zuletzt auch diesen von Ruge vorgeschlagenen Weg. Die in dem junghegelianischen Programm verlangte Überwindung des Gegensatzes von Gebildeten und Ungebildeten spricht zusammen mit den politischen zugleich gesellschaftliche Implikationen an, die im neuhumanistischen Bildungsbegriff enthalten sind. So hat die im Bildungsbegriff mitgedachte Überwindung geburtsständischer Schranken sehr schnell neue sprachliche Redewendungen entstehen lassen.46 Bereits in den neunziger Jahren des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist der traditionelle Begriff ›höhere Stände‹, in dem noch ein altständisches Verständnis gesellschaftlicher Differenzierung anklingt, zunehmend durch den Begriff ›gebildete Stände‹ ersetzt worden. Mit ihm ist eine spezifische Form des modernen Bürgertums, des lesenden und schreibenden Publikums, gemeint, dessen Mitglieder unterschiedliche Standeszugehörigkeiten aufweisen können. Die damit verbundene Auflösung traditioneller geburtsständischer Schranken hat mit ganz unterschiedlichen Bewertungen das 19. Jahrhundert so stark beschäftigt, dass darüber die den philosophischen Bildungsbegriff Humboldts und Hegels ebenso wie den ästhetischen Bildungsbegriff Schillers und Goethes bestimmende Deutung der Struktur und des Prozesses von Bildung, nämlich als Wechselwirkung von Ich und Welt, verschwindet und von der Thematisierung der politischen und sozialen Differenzierungsfolgen von Bildung überlagert wird. Die Gründe dafür sind weder zufällig noch willkürlich. Die preußische Bildungsreform ebenso wie die nachfolgenden bildungspolitischen Weichenstellungen haben die soziale Exklusivität von Bildung nicht nur nicht aufgehalten, sondern, selbst wenn man ihre Leistungen würdigt, tendenziell noch verstärkt. Es kommt hinzu, dass zahlreiche konservative und restaurative Zeitgenossen die Attraktivität und die Ausweitung der (schulischen) Bildung auf für immer größer werdende Bevölkerungsanteile negativ beurteilten. Der von Wilhelm Traugott Krug schon im Jahr 1810 unterbreitete Vorschlag, die Unterscheidung von Gebildeten und Ungebildeten so zu bestimmen, dass zu den Ungebildeten nur Kinder und zu den Gebildeten alle Erwachsenen zu zählen seien, hat sich daher weder ideenpolitisch noch gesellschaftlich durchsetzen können.47 Dass vor allem die Institutionalisierung von Bildung in Schulen und Universitäten des 19. Jahrhunderts (neue) gesellschaftliche Differenzierungen produziert, so dass Bildung zu einem wichtigen sozialen Statusbegriff wurde, hat Albert Schäffle 1856 in dem vielzitierten Diktum zusammengefasst, dass der »Besitz persönlicher höherer Bildung […] der Ritterschlag der Neuzeit« sei.48 46  Vgl.

zum folgenden Rudolf Vierhaus: Bildung. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Bd. 1 (Stuttgart 1974) bes. 525 f., 531 f. und 537 f. 47  Wilhelm Traugott Krug: Der Staat und die Schule oder Politik und Pädagogik in ihrem gegenseitigen Verhältnisse zur Begründung einer Staatspädagogik dargestellt (Leipzig 1810) 77. 48  Albert Schäffle: Der moderne Adelsbegriff (1856). In: ders.: Gesammelte Aufsätze (Tübingen 1885) 91.

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Dass insbesondere die Institutionalisierung von Bildung neue Privilegierungsprozesse hervorbringt, die nicht nur mit individuellen Anlagen, sondern mit sozialen Lebenslagen verbunden sind, ist im politischen Liberalismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus gesehen worden. So hat der politische Historiker und Mitautor der Paulskirchen-Verfassung von 1848, Friedrich Christoph Dahlmann, in seiner 1835 erschienenen Schrift Die Politik aus dem Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt betont, die Bildung des Menschen, auch seine Schulbildung, hänge nicht nur mit der Begabung und der individuellen Bildsamkeit des Einzelnen zusammen, sondern nicht zuletzt auch vom »Bildungsvermögen, d. h. dem Auskommen der zu Bildendenden« ab.49 Dahlmanns Hinweis ist freilich nicht sozialkritisch, sondern deskriptiv gemeint. Er war als politischer Konstitutionalist an sozialen Fragen eher desinteressiert. Den Zusammenhang von Bildung und sozialer Frage haben erst Karl Marx und Lorenz von Stein in den Mittelpunkt gestellt. Unabhängig von der sozialen Frage und mit stärkerer Fokussierung auf die Voraussetzungen eines politisch funktionsfähigen Rechtsstaats ist im politischen Liberalismus des Vormärz der Zusammenhang von Bildung und Öffentlichkeit bzw. öffentlicher Meinung herausgestellt worden. Carl von Rottecks Artikel Bildung in dem von ihm und Carl Welcker herausgegebenen Staatslexikon stellt heraus, dass in einer rechtsstaatlich verfassten Republik der »Volksbildung« ein besonders hoher Stellenwert zukommt. Die Beschränkung der Despotie sei ohne die »Bildung einer aufgeklärten öffentlichen Meinung, d. h. einer Erziehung zur politischen Mündigkeit« nicht möglich.50 Dabei wird die staatlich zu befördernde Volksbildung von solchen staatspädagogischen und nationalerzieherischen Plänen, denen zufolge »das Volk ganz eigentlich zu erziehen sei«, ausdrücklich abgegrenzt.51 In gewisser Weise kann das von Heinrich Heine im Jahr 1828 geprägte Wort vom »Ende der Kunstperiode«, welches Heine nach dem Tod Goethes erwartet, auch auf die ›Bildungsperiode‹ bezogen werden. Das ›Ende der Bildungsperiode‹ bezeichnet dann das Ende eines am Prinzip und an der Idee der Wechselwirkung von Ich und Welt ausgerichteten Bildungsverständnisses zugunsten anderer Facetten des Bildungsbegriffs, etwa der politischen und kulturellen Folgen, sei es der unterbliebenen, sei es der real durchgesetzten Ausweitung von Bildungsmöglichkeiten für immer breitere Bevölkerungsschichten. Die häufig diagnostizierte extensionale Unschärfe des Bildungsbegriffs hat im 19. Jahrhundert ihren Ursprung. Das ›Ende der Bildungsperiode‹ läuten schon die Junghegelianer ein, wenn sie, anstatt die bildende Bedeutung der Wechselwirkung theoretisch weiterzuentwickeln, die Philosophie Hegels voraussetzen, wenngleich 49  Friedrich Christoph Dahlmann: Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt (1835) (Berlin 1924) 241. 50  Carl von Rotteck: Bildung. In: Staats-Lexikon oder Enzyklopädie der Staatswissenschaften, hg. von Carl von Rotteck und Carl Theodor Welcker. Bd. 12 (Altona 1841) 572. 51  Ebd. 575.

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unter umgekehrten Vorzeichen. Aber auch die liberalen Positionen, die beim Bildungsbegriff vor allem dessen politische Implikationen im Auge haben, verstärken diesen einen Prozess, der am Ende die Substanz des Bildungsbegriffs selbst zum Verschwinden bringt. Manifest wird das ›Ende der Bildungsperiode‹ vor allem in den Äußerungen konservativer Stimmen, denen die ganze gesellschaftliche und politische Richtung nicht passt, die mit der »Entstehung des deutschen Bildungsprinzips« (Hans Weil) verbunden ist. So hat beispielsweise der Staatsrechtler Heinrich Leo 1833 die »ganze Elendigkeit und Bodenlosigkeit der Bildung des vorigen Jahrhunderts« beklagt, welche »um der lieben Humanität willen […] alles Positive und Vernünftige« zugunsten subjektiver Leidenschaft auflöst.52 Bedeutender ist freilich die Auffassung des einflussreichen Literaturhistorikers Julian Schmidt, der die gesamte klassische Periode von 1770 bis 1830 als eine »krankhafte Übergangsphase« bezeichnet, welche zwar »notwendig« gewesen sei, aber im Zeichen veränderter gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse durch eine neue »Bildungsform« abgelöst werden müsse. Eine solche »Bildungsform« sieht der Literaturwissenschaftler Schmidt insbesondere im »neuen Realismus«, in welchem paradigmatisch Goethes Wilhelm Meister durch Gustav Freytags Soll und Haben abgelöst wird.53 Es ist der rapide Verfall der alten Welt, die beginnende Kapitalisierung und Kommerzialisierung der Lebensverhältnisse, die die klassische deutsche Literatur und die klassische deutsche Philosophie im Bewusstsein vieler Zeitgenossen zwischen 1830 und 1870 veralten lässt. Dabei zeichnet sich vor allem in der Zeit zwischen der 48er Revolution und der Reichsgründung schon die Tendenz ab, die klassische deutsche Literatur, den deutschen Idealismus ebenso wie den Neuhumanismus nicht einfach über Bord zu werfen, sondern mit der propagierten nationalstaatlichen Einigung zu verbinden. Hinweise in dieser Richtung findet man in der 1861 veröffentlichten Schrift Heinrich von Treitschkes über Die Freiheit, die Humboldts frühe staatskritische Schrift (und ihrer Rezeption des John Stuart Mill) sowie den »gesamten Liberalismus der Rotteck-Welckerschen Schule« einerseits kritisiert, andererseits aber gleichwohl das »köstlichste Kleinod unseres Volkes, den deutschen Idealismus« retten und mit dem Staat, den Treitschke mit dem »einheitlich organisierte[n] Volk« identifiziert, verbinden möchte.54 Humboldts »Eigenthümlichkeit der Kraft und der Bildung« ebenso wie dessen Idee der »höchste[n] und proportionirlichste[n] Bildung aller Kräfte zu einem Ganzen« sind für Treitschke das Kennzeichen »jener starken einseitigen Naturen«, die dem »unerträglichen Durchschnittsmenschen« und jedwedem »Mittelmaß« entgegengesetzt sind.55

52 

Heinrich Leo: Studien und Skizzen zu einer Naturlehre des Staates (Halle 1833) 81. Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. 1 (München 1980) 146 f. 54  Heinrich von Treitschke: Die Freiheit ( Leipzig ²1861) 5 und 10 f. 55  Ebd. 45 f. 53  Vgl.

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III. Im Blick auf das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts wird damit eine Veränderung des semantischen Wortfeldes von Bildung angezeigt, von dem auch das philosophische Bildungsdenken dieser Zeit nicht ganz unberührt bleibt. Während zwischen dem Vormärz und der Reichsgründung der Bildungsbegriff die Verbindung und Verknüpfung von Bildung mit Aufklärung und Humanität, mit Nation und Öffentlichkeit wahrte und damit Teil einer bürgerlichen Emanzipationsbestrebung war,56 wird insbesondere im Zusammenhang mit der Reichsgründung Bildung zunehmend in nationalistischer Weise konnotiert und in den Dienst der Beschwörung von Nation und Volk gestellt. So wie Goethe als »Olympier« des Deutschen Reiches ausgerufen und zum Kronzeugen für die nationale Identität gemacht wird, so verwandelt sich Bildung im Zuge eines zunehmend affirmativen Verständnisses von Staat, Nation und Kultur in ein nationalistisches und (neu-)ständisches Deutungsmuster, für das große Teile des Bürgertums immer anfälliger werden. Friedrich Paulsen, Professor für Philosophie und Pädagogik an der Universität Berlin, hat 1885 die mentale Verfassung großer Teile des Bürgertums als »inhumanen Hochmut« beschrieben, der »sich für Patriotismus« ausgebe, in Wahrheit aber durch »Klassenvorurteile« und »Kastengeist« gekennzeichnet sei.57 Als Wegbereiter eines solchen illiberalen, antidemokratischen und nationalistischen Bildungsverständnisses, das die Prämissen des Neuhumanismus in ihr Gegenteil verkehrt, werden zu recht stets Paul de Lagarde sowie Julius Langbehn genannt. Lagarde, Professor in Göttingen, Theologe und Orientalist, fordert in seinen Deutschen Schriften dazu auf, »die Prinzipien von 1789«, die der Neuhumanismus bildungstheoretisch und bildungspolitisch ausgelegt hatte, zu Gunsten einer deutschen Nationalreligion zu widerrufen.58 Weil »Demokratie und Bildung« sich ebenso ausschlössen wie »Demokratie und Freiheit«, könne Bildung nur eine Angelegenheit weniger sein. Für Lagarde ist daher die Idee allgemeiner Bildung eine unhaltbare und unerwünschte Zielperspektive sinnvollen bildungspolitischen Handelns, so dass beispielsweise der Geschichtsunterricht aus dem Lehrplan zu entfernen sei. Gebildet sei nur derjenige, »der in seinem Vaterlande und über die für das Vaterland bedeutsamen Tatsachen der Natur

56  Vgl.

Heinrich August Winkler: Vom linken zum rechten Nationalismus. Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878/79. In: Geschichte und Gesellschaft – Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 1 (1978) 5–28. 57  Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts (Berlin und Leipzig 31921) 655. Vgl. auch ders.: Bildung. In: Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik, hg. von Wilhelm Rein (Langensalza 21903) 658–670. Vgl. zur Mentalität des wilhelminischen Bürgertums auch Norbert Elias: Zivilisation und Gewalt. In: ders.: Studien über die deutschen (Frankfurt a. M. 1989) 223 ff. und 271 ff.; Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur (Frankfurt a. M. 1994) 225 ff. 58  Paul de Lagarde: Deutsche Schriften (Göttingen 51920) 267.

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und der Geschichte, soweit sie ihm in seinem Stande und Beruf nach etwas angehn, Bescheid weiß«.59 In der Form aggressiver und in der Rezeption erheblich wirkungsvoller ist Julius Langbehns Buch Rembrandt als Erzieher, das 1890 zum ersten Mal erscheint und bis 1933 achtzig Auflagen erreicht. Rembrandt, der »deutscheste aller deutschen Maler«, wird gegen die »falsche Wissenschaft«, die falsche Bildung und gegen das »Gelehrtentum« aufgefahren, weil in ihm das »Ganze der Menschennatur« zum Ausdruck komme. Bildung, so Langbehn, sei stets die Angelegenheit einer Minorität, weil nur eine solche Minderheit »die Geschicke der Deutschen entscheiden« könne und so das »uraristokratische Gesicht« des deutschen Volkes »aus der demokratischen Maske« erwachen könne.60 Auch für Friedrich Nietzsche ist die »Masse« weder bildungsfähig noch bildungsbedürftig.61 In Übereinstimmung und mit dem kulturkritischen Stimmen seiner Zeit, aber auch in partieller Übereinstimmung mit dem klassischen Bildungsbegriff beklagt er das Berechtigungswesen in Deutschland, welches aus Bildung eine »Münze« mache, die für ein »geldverdienendes Wesen« in Umlauf gesetzt worden sei.62 Während das (humanistische) Gymnasium an die Stelle der »wahren Bildung« ein leeres Gelehrtentum setze, produziere der Historismus und Positivismus der Geisteswissenschaften an den Universitäten nur Fachidioten und »Bildungsphilister«.63 Weil Bildung von Natur aus eine exklusive Angelegenheit sei, bedürfe der Staat einer »weit geringeren Anzahl von höheren Bildungsdienstanstalten« als die sprunghafte Entwicklung des Bildungswesens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert anzeige. Was Nietzsche, der sich als Gegner der »modernen Demokratie« verstand, von der Kulturkritik Lagardes (und Langbehns) aber deutlich unterscheidet, ist das Fehlen jedweder nationalistischer Töne und Untertöne. In scharfer Abgrenzung zum nationalen Chauvinismus, der im Kontext der Reichsgründung in Deutschland entsteht, notiert Nietzsche, die Deutschen hätten ihre Bildung »mit einem blinden Eifer abgeschüttelt […], wie als ob sie eine Krankheit gewesen sei: und doch wussten sie nichts Besseres dagegen einzutauschen, als den politischen und nationalen Wahnsinn.«64 »Dieser Wahn ist höchst verderblich: Nicht etwa weil er ein Wahn ist, […] sondern weil er im Stande ist, unseren Sieg [über Frankreich, F. B.] in eine völlige Niederlage zu verwandeln: In die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ›Deutschen 59 

Ders.: Ausgewählte Schriften, hg. von Paul Fischer (München 21934) 181 und 123. Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen (Leipzig 351891). 61  Friedrich Nietzsche: Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. In: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (im Folgenden: KSA), hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1 (München 1980) 699. 62 Ebd. 666  f.; zum Berechtigungswesen vgl. auch Lagarde: Deutsche Schriften, a. a.O. [Anm. 58] 175 f. 63  Nietzsche: KSA, a. a.O. [Anm. 61] Bd. 1 165. 64  Ebd. Bd. 3, 163. 60 

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Reiches‹«.65 Die »wahre Bildung«, so Nietzsche wiederum in partieller Übereinstimmung mit dem Neuhumanismus, dient also nicht dazu, die »Lebensnot« zu stillen und den »Geldgewinn«66 zu vermehren: Dass »Erziehung, Bildung selbst Zweck ist – und nicht ›das Reich‹ –, dass es zu diesem Zweck der Erzieher bedarf – und nicht der Gymnasiallehrer und Universitäts-Gelehrten – man vergass das«.67 Die wahre Bildung zielt für Nietzsche daher nicht auf die »Bildung der Masse«, sondern auf den »Genius«, den »ausgelesenen, für große und bleibende Werke ausgerüsteten Menschen«.68 In den Kontext der Genius-Theorie Friedrich Nietzsches gehören auch seine Überlegungen Zur Genealogie der Moral, die das Liebesgebot des Christentums kritisieren, weil es die vormalige »Herrenmoral« durch eine »Sklavenmoral« ersetzt habe. Stattdessen sei eine experimentelle Moral erforderlich, die den »Instinkt der Freiheit« rehabilitiert und neue Unterscheidungen von Gut und Böse ermöglicht. Von weitreichender Bedeutung für die bildungstheoretische Diskussion des 20. Jahrhunderts sind die in seinen letzten Lebensjahren entstandenen Arbeiten Wilhelm Diltheys. Sie stehen nicht primär unter bildungstheoretischen Vorzeichen, sondern sind im Zusammenhang mit seinen früheren Versuchen einer methodologischen Begründung der im 19. Jahrhundert entstandenen historischen Geisteswissenschaften zu sehen. Zugleich thematisieren Diltheys späte, stark lebensphilosophisch akzentuierte Schriften angesichts der im 19. Jahrhundert eingeleiteten Historisierung der Vernunft auch die Möglichkeit der Philosophie.69 Dass in Diltheys (späten) Arbeiten bildungstheoretische Motive enthalten sind, lässt sich wie folgt erläutern: Die Geisteswissenschaften haben es mit dem Menschen, seinen Werken und den Objektivationen seines Handelns zu tun. Die Vergegenwärtigung dieser ›Gegenstände‹ im erkennenden Bewusstsein des geisteswissenschaftlich tätigen Menschen darf deshalb bildend genannt werden, weil dieses Erkennen es nicht wie in den Naturwissenschaften mit einem äußeren Dasein zu tun hat, sondern der Erkennende im nachschaffenden Erleben und Verstehen der Gegenstände sich des historischen Abstandes, in welchem er zu seinen Gegenständen steht, vergewissert, so dass er der Kontingenz seiner eigenen individuellen und gesellschaftlichen Bestimmtheit inne wird und darüber hinaus die Erfahrung anderer Daseinsmöglichkeiten macht. Das geisteswissenschaftlich-historische Erkennen bringt eine Form der Selbsterkenntnis und der Selbsterfahrung hervor, die am Ende zum freien Urteil befähigt. In immer neuen Anläufen hat Wilhelm Dilthey diesen bildenden Zusammenhang transparent zu machen versucht. Er knüpft dabei an Hegels Lehre vom »objektiven Geist« an, in den der Mensch »von seiner Kindheit« an eingetaucht

65 

Ebd., Bd. 1, 159f. Ebd. 667. 67  Ebd., Bd. 6, 107. 68  Ebd., Bd. 1, 698. 69  Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933 (Frankfurt a. M. 1983) 153. 66 

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sei und aus dem er seine »Nahrung« ziehe. Das darin eingebettete »elementare Verstehen« verweist Dilthey zufolge auf ein »Medium von Gemeinsamkeiten«, welches als Ausdruck von Lebensäußerungen zugleich »Gemeinsamkeit« stiftet.70 Die »höheren Formen des Verstehens«, die den Prozess des »Hineinversetzens, Nachbildens, Nacherlebens« wissenschaftlich methodisieren, setzen dieses »elementare Verstehen« voraus.71 Ihre darüber hinaus gehende bildende Bedeutung liegt für Dilthey darin, dass sich dem geisteswissenschaftlich tätigen Menschen im Verstehen »ein weites Reich von Möglichkeiten« öffnet, »die in der Determination seines wirklichen Lebens nicht vorhanden sind«, so dass er »durch das Verstehen des Geschichtlichen in Freiheit versetzt« werde.72 Am Ende ist für Dilthey die Historisierung der Vernunft der letzte Schritt, den der Mensch als erkennendes Wesen gehen kann: »Das historische Bewusstsein von der Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, jedem menschlichen und gesellschaftlichen Zustandes, von der Relativität jeder Art von Glauben ist der letzte Schritt zur Befreiung des Menschen. Mit ihm erreicht der Mensch die Souveränität, jedem Erlebnis seinen Gehalt abzugewinnen, sich ihm ganz hinzugeben, unbefangen, als wäre kein System von Philosophie oder Glauben, das den Menschen binden könnte. Das Leben wird frei vom Erkennen durch Begriffe; der Geist souverän allen Spinnweben dogmatischen Denkens gegenüber.«73 Für Dilthey geht »der Zusammenhang der geistigen Welt […] im Subjekt auf«, so dass er im Blick auf das Verstehen der »Systeme der Kultur«, ja der »Totalität des Geistes« glaubt, von einem »Wiederfinden des Ich im Du« sprechen zu können74 Die Möglichkeit eines solchen Wiederfindens hat Georg Simmel für die Moderne bestritten. Simmel knüpft, zunächst deutlicher noch als Dilthey, an das von Herder über Hegel bis Humboldt und Goethe entwickelte Prozessschema an, wenn er die Bildung – freilich ohne diesen Begriff selbst zu verwenden – als »Weg von sich selbst zu sich selbst« bezeichnet.75 Der »subjektive Geist« bedarf der von der »schaffenden Seele« selbst errichteten Gebilde des »objektiven Geistes«, also der Wissenschaft und Kunst, des Rechts und der Sitte, der Technik und der »zweckgebundenen Gegenstände«, um in spiralförmiger Weise zur Kultivierung und Höherentwicklung des eigenen Lebens zu gelangen. Die Moderne aber, so Simmel, unterbricht die oszillierende Bewegung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ich und Welt (Kultur) und erschwert die »Rückwirkung« des objektiven Geistes auf die sich entwickelnde Seele, ja sie macht sie tendenziell unmöglich, weil die Gestalten und die Gehalte des objektiven Geistes »zu selbst70 

Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd. VII: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hg. von Bernhard Groethuysen (Göttingen 61973) 209. 71  Ebd. 212 72  Ebd. 215 f. 73  Ebd. 290 f. 74  Ebd. 191. 75  Georg Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1918). In: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais (Berlin 1986) 198.

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genügsamer Abgeschlossenheit« ›kristallisiert‹ sind.76 Die »Tragödie der Kultur« besteht für Simmel daher darin, dass in der Moderne »die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen«.77 Die Signatur der Gegenwart besteht für Simmel in einer sich sprunghaft entwickelnden Ausdifferenzierung gesellschaftlicher und kultureller Systeme, die eine systemische Eigenlogik entwickeln, die mit der Eigenlogik der klassischneuhumanistischen Bildung nicht mehr kompatibel ist. Die »Synthese« zwischen Ich und Welt – und »Kultur ist […] immer Synthese«78 – hebelt den neuhumanistischen Grundsatz, demzufolge »Vernunft nur durch Vernunft« gebildet werden könne,79 aus. Umgekehrt macht gerade die »Formlosigkeit des objektiven Geistes als Ganzheit« ein gesellschaftlich-kulturelles »Entwicklungstempo« möglich, hinter welchem »das des subjektiven Geistes in einem rapid wachsenden Abstand zurückbleiben muss«.80 Simmel hat die Ausdifferenzierung kultureller Systeme am Beispiel des zeitgenössischen Wissenschaftsverständnisses erläutert. Die Spezialisierung und Professionalisierung der Philologien führe zum »Fetischdienst« der »Methode«, der Methodisierung des Verstehens. Die »philologische Technik« habe eine Vollkommenheit entwickelt, die in einen »Leergang der Methode« umschlage und den Weg der »Kultur als einer Lebensvollendung« unterlaufe.81 Simmel spricht damit eine Thematik an, die das neuhumanistische Erbe den Wissenschaften hinterlassen hatte. Humboldt hatte in seiner Universitätsschrift, nicht expressis verbis, wohl aber der Sache nach, das Medium der höheren Bildung an Wissenschaft (und Kunst) gebunden und die Bildung von »Charakter und Handeln« vom Philosophischwerden der Wissenschaft wie von der (wohlverstandenen) Verwissenschaftlichung der Philosophie erwartet. Das 20. Jahrhundert hat hierfür die Formel ›Bildung durch Wissenschaft‹ geprägt – eine Formel, die im 19. Jahrhundert gänzlich unbekannt war und jenen »Mythos Humboldt« im 20. Jahrhundert mitbegründen half, der den enormen Fortschritt der einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse im 19. Jahrhundert bildungstheoretisch absegnen sollte.82 Die reale Entwicklung der Natur- ebenso wie der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert, ihre Spezialisierung und Professionalisierung, hat aber mit den neuhumanistischen Erwartungen an den Prozess der wissenschaftlichen Entwicklung 76 

Ebd. 198 f. Ebd. 215. 78  Ebd. 204 79  Friedrich Immanuel Niethammer: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit (1808). In: ders.: Philanthropismus – Humanismus, hg. von Werner Hillebrecht (Weinheim und Basel 1968) 148. 80  G. Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur, a. a.O. [Anm. 75] 218. 81 Ebd. 82  Humboldts Universitätsschrift ist erst 1896 publiziert worden. Zum Mythos Humboldt vgl. u. a. Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, hg. von Mitchell G. Ash (Wien/Köln/Weimar 1999). 77 

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wenig zu tun. Im Blick auf die Entwicklung der Geisteswissenschaft ist daher zu Recht von einer »Philologisierung der Philosophischen Fakultät des 19. Jahrhunderts« (Frühwald) gesprochen worden, die, wie Nietzsches Historismus- und Wissenschaftskritik ebenso wie Simmels Zeit- und Kulturkritik deutlich machen, den Abstand zwischen Wissenschaft und Bildung eher vergrößert als vermindert. Diltheys Versuch, über eine Theorie der Geisteswissenschaft diese von ihrer bildenden Seite her zu beleuchten, zeigt von daher gesehen ohnmächtige Züge. Zudem spaltet dieser Versuch die Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften ab und reklamiert ausschließlich für die letzteren ein Bildungsmonopol, das in sich höchst fragwürdig ist und dessen Ansprüchen sie kaum gerecht werden können. Insofern ist Max Webers Versuch, die Wissenschaften insgesamt von Bildungsambitionen zu entlasten und die Tätigkeit in der Wissenschaft »als Beruf« anzusehen, der realen Wissenschaftsentwicklung nicht unangemessen. Gleichwohl hat es immer auch Stimmen gegeben, die an die ›andere‹ Seite der Wissenschaft zu erinnern versucht haben und damit Diltheys freilich nur auf die Geisteswissenschaften beschränkten Ansatz indirekt bestätigen, an die bildende Bedeutung der Wissenschaft nicht nur zu appellieren, sondern sie zu denken. Als Rudolf Virchow am 3. August 1893 an der einst von Humboldt und Schleiermacher begründeten Berliner Universität anlässlich der Übernahme des Rektorats den »Uebergang des philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter« feierlich ankündigt, erinnert er ganz am Ende seiner Rede daran, dass die Universität von den Studierenden »die freie Ausbildung einer in sich selbst ruhenden, ehrlichen und schönen Persönlichkeit«83 erwarte. Dass dieser Erwartung auch eine Aufgabe der Universität entspricht, die gerade nicht ›erzieherisch‹ im engeren Wortsinne, wie Virchow andeutet, verstanden werden kann, sondern eine Theorie der Wissenschaften erfordert, die weder den Übergang zum naturwissenschaftlichen Zeitalter feiert noch den Rückgang in ein philosophisches Zeitalter propagiert, sagt er nicht.

83  Rudolf

Virchow: Die Gründung der Berliner Universität und der Uebergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter (Berlin 1893) 31 f.



Gunilla Budde

Bürger, Bürgertum

Wie hätte das 19. Jahrhundert ohne das Bürgertum ausgesehen: keine Aufklärung und wenige Reformen, weniger Bürokratie und kaum Zentralisierung, deutlich weniger Vereine und keine Revolution 1848, weniger Zeitungen und selten Opernaufführungen, weniger Parteien und einen schwächer ausgeprägten Nationalismus, weniger Reisende und so gut wie keine Spaziergänger, wenige Studenten und vollere Kirchen, weniger Wohltätigkeit und keine Erziehungsratgeber, keine Klaviere und kein ›Mädchen für alles‹. Zumindest gilt dies für die deutsche Geschichte.1 Diese gesellschaftliche Schlüsselformation, quantitativ eine Minderheit, wirkte für die Zeit zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg so prägend, dass häufig vom ›bürgerlichen‹ 19. Jahrhundert gesprochen wird. 1851 schrieb der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl in seinem mehrfach aufgelegten Bestseller Die bürgerliche Gesellschaft: »Viele nehmen Bürgertum und moderne Gesellschaft für gleichbedeutend.«2

I.  Bildungsbürgertum und Wirtschaftsbürgertum Für die Vorläufer des ›modernen‹ Bürgertums, das ›Stadtbürgertum‹, galt dies noch nicht. Seit dem 11. Jahrhundert hatte es sich inmitten der grundherrlichagrarisch verfassten Gesellschaft der Städte herausbildet. Die in der Regel männlichen Inhaber des Stadtrechts, das sie von der Masse der in den Städten lebenden Unterschichten unterschied, hatten die Erlaubnis, einem selbständigen Erwerb nachzugehen, einer Familie vorzustehen, Zünften, Gilden und Vereinen beizutreten und an der städtischen Selbstverwaltung zu partizipieren. Im Gegenzug hatten sie Steuern zu entrichten und sich einer eigenen Gerichtsbarkeit zu unterstellen. Das Bürgerrecht war ein exklusives Recht, das entweder durch Geburt erworben oder bei entsprechendem Vermögen auch auf Antrag verliehen

1  Auch

wenn es immer wieder Versuche gab, innerhalb Europas, z. T. sogar darüber hinaus, nach Varianten des Bürgertums zu forschen, zeigen die Forschungsarbeiten der letzten vier Jahrzehnte, seitdem die Bürgertumsforschung zu florieren begann, dass die Prägekraft des deutschen Bürgertums und vor allem seiner starken Beamtenschaft ein besonderes deutsches Phänomen war. Zum Klassiker der europäischen Bürgertumsforschung mittlerweile avanciert: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3 Bde., hg. von Jürgen Kocka und Ute Frevert (München 1988). Aktuell: Gunilla Budde: Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert (Darmstadt 2009). 2 Wilhelm Heinrich Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft (Die Naturgeschichte des Volkes auf der Grundlage der deutschen Social-Politik) (Stuttgart, Augsburg 41856) 196. Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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werden konnte. Diese Stadtbürger des Ancien Régime waren Sattelzeitbürger,3 d. h. sie lebten – jedenfalls in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – in einer Epoche des historischen Umbruchs, in dem auch die politisch-sozialen Begriffe vielfach eine neue Bedeutung erhielten. Die Begriffe ›Bürger‹ und ›bürgerliche Gesellschaft‹ (griech. πολίτης, κοινονία πολιτική, lat. civis, societas civilis, frz. bourgeois/citoyen,4 société civile) bekamen eine zweifache Bedeutung: Der Bürger wird jetzt – den Prinzipien der Französischen Revolution entsprechend – einerseits Staatsbürger (citoyen) unter politisch Gleichen, andererseits Angehöriger eines eigenen Standes. Dies ist der Sprachgebrauch bei Kant u.v.a.; es ist auch der Grund, warum Hegel den Staat von der bürgerlichen Gesellschaft trennt. Marx dagegen erkennt im Gegensatz von citoyen und bourgeois nur den Zwiespalt des Menschen mit sich selbst.5 Die neue soziale Formation, das moderne Bürgertum, betrat schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Bühne. Je mehr die ständische Ordnung bröckelte, desto stärker setzten sich Bildungs- und Besitzbürgertum, die zwei Segmente des neuen Bürgertums, durch und verdrängten sukzessive das alte Stadtbürgertum. Zum Teil kamen sie selbst aus dem Stadtbürgertum oder waren mit ihm verwandtschaftlich verbunden. Wesentliche Weichensteller für das Aufkommen des modernen Bürgertums waren die zunehmende Bürokratisierung und der sich schnell durchsetzende Kapitalismus. Gemeinsam mit dem alten Stadtbürgertum teilten das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum die primär städtische Orientierung und den Status des ›Dritten Standes‹ oder Mittelstandes und damit auch das Selbstbewusstsein, zu wem man nicht gehörte: zum Adel, zur katholischen Geistlichkeit, zu den Bauern und den ländlichen und städtischen Unterschichten. Wer von beiden Segmenten des Bürgertums im 19. Jahrhundert jeweils tonangebend wirkte, variierte. Aufgrund der im westeuropäischen Vergleich später einsetzenden Industrialisierung, dafür aber früh Raum greifenden Bürokratisierung übernahm in Deutschland zunächst das Bildungsbürgertum die Vormachtstellung. In England dagegen blieb es gegenüber den Wirtschaftsbürgern durchgehend schwach. Angehörige des Bildungsbürgertums verfügten über einen Universitätsabschluss, waren in großer Zahl Beamte, Professoren, Gymnasial-

3 Der Begriff ,Sattelzeit’ stammt von Reinhart Koselleck: Einleitung. In: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Rainhart Koselleck, Bd. 1 (Stuttgart 1972) XV; ders.: Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft. In: Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, hg. von W. Conze (Stuttgart 1972) 10–28, hier 14 f. 4  Beide Begriffe in der Regel synonym gebraucht, ›citoyen‹ aber seltener belegt. 5  Für Belege und weitere Literatur vgl. Manfred Riedel: Art. ›Bürger, bourgeois, citoyen‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Bd. 1 (Basel, Stuttgart 1971) 962–966; ders.: Art. ›Bürger, Staatsbürger, Bürgertum. In: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a.O. [Anm. 3], Bd. 1, 672–725; ders.: Bürgerliche Gesellschaft. Eine Kategorie der klassischen Politik und des modernen Naturrechts (Stuttgart 2011).

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lehrer, Anwälte, Ärzte, Apotheker, Künstler und Publizisten. Gemeinsam war ihr zunehmend spezialisiertes Wissen, das für die Herausforderungen einer rasch voranschreitenden Moderne gefragt war. Und diese Herausforderungen waren vielfältig, Neuordnungen und Umstrukturierung ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche standen an: des Finanz- und Steuerwesens, der Heeresadministration, der staatlichen Rechtsprechung und des Bildungswesens. Als Teil der bürokratischen Machtelite, die in diesen Gestaltungsprozessen richtungsweisend war, vermochte, dies ist ein spezifisch deutsches Phänomen, vor allem die höhere Beamtenschaft politischen Einfluss zu üben, sei es in öffentlichen, landesherrlichen, städtischen, landständischen, kirchlichen oder auch grundherrlichen Diensten. Die Beamtengehälter waren vergleichsweise üppig, hinzu kamen diverse Privilegien vor Gericht, beim Militär und bei der Steuer. Unverbrüchliche Beamtentreue dem obersten Dienstherrn gegenüber wurde als Dankeszoll erwartet. Vor allem in den zwei ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts, als umwälzende Reformen auf dem Agrar-, Gewerbe-, Bildungs-, Kommunal- und Heeressektor anstanden, übernahm die Beamtenschaft die Federführung innerhalb des Bildungsbürgertums. In den folgenden Jahrzehnten kamen die ›freien‹ akademischen Berufe dazu. Ihre Vertreter und ihre schnell Fuß fassenden Interessenverbände waren interessiert daran, Richtlinien und Leistungskriterien ihrer Professionen festzuschreiben, um damit einen kontrollierenden Blick auf die Zugangswege zu haben. Entsprechend hoch war die Selbstrekrutierungsrate. ›Bildung‹ hieß vor allem in Deutschland das Zauberwort, das diesen Teil des Bürgertums einte und stärkte. Solange die wirtschaftliche Entwicklung nachhinkte, solange blieb das gebildete Bürgertum am Zuge. Selbstbewusst entwickelte man mit Wilhelm von Humboldt an der Spitze Reformideen auch für die Universitäten; der bis heute prägende Gedanke der bereichernden Einheit von Lehre und Forschung wurde in dieser Zeit geboren.6 Diese Hochschätzung der Bildung ging einher mit einer verächtlichen Ablehnung der geburtsständischen Privilegien des Adels. Der akademische Abschluss geriet in den Augen des Bürgertums zum überlegenen Titel gegenüber dem Adelsprädikat. Politisch wirkte sich dieses bildungsbürgerliche Vordringen insoweit aus, dass dank bürgerlicher Mitsprache Herrschaft stärker kontrolliert und damit weniger absolut wurde. Die Anmutung eines Verfassungs- und Rechtsstaates war bereits in dieser Phase des 19. Jahrhunderts am Horizont erkennbar, zumindest als keineswegs mehr utopische Vision bestimmte er die bürgerlichen Diskurse. Auch wenn hierbei vor allem Vertreter des Bildungsbürgertums ihre Stimme erhoben, mischten sich nach der Mitte des 19. Jahrhunderts auch wirtschaftsbürgerliche Stimmen in diesen Chor. Aufgrund des zumindest im westeuropäischen 6  Ein

Schlüsseltext hierzu ist Wilhelm von Humboldt: Ueber die innere und äußere Ordnung der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (Berlin 1810).

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Vergleich verzögerten Industrialisierungsprozesses in Deutschland standen Vertreter des Wirtschaftsbürgertums lange im Schatten. Kreise dieser häufig auch als Bourgeoisie bezeichneten Schicht, die in London, Liverpool, Paris, Lyon, Bordeaux oder Amsterdam aufgrund der dort früher in Gang gekommenen Industrialisierung bereits im ausklingenden 18. Jahrhundert fest etabliert waren, ließen sich seit den 1830er Jahren dann auch in Hamburg, Leipzig, Frankfurt, Danzig, Bremen oder Augsburg nieder, ohne dass sie dort vor der Jahrhundertmitte eine vergleichbare Macht beanspruchen konnten. Doch als das Tempo der Industrialisierung anzog, wuchs der Einfluss des Wirtschaftsbürgertums. Die Besitzer und Direktoren von großen Wirtschaftsunternehmen, von Verlagen, Manufakturen und Bergwerken, von Groß- und Fernhandelshäuser, der Transport- und Bankunternehmen und der frühen Fabriken definierten sich über ihr durch eigene Leistung erworbenes Kapitalvermögen. Ähnlich wie schon die Mehrheit des alten Stadtbürgertums verdienten sie ihren Lebensunterhalt durch Handel und Gewerbe. Doch die Dimensionen ihrer Unternehmungen reichten weit über dessen Möglichkeiten hinaus. Schließlich ging es darum, in einer zunehmend globalisierten Wirtschaftswelt zu bestehen. Entsprechend größer war der Horizont ihres Denkens und Handels. Spätestens mit dem Durchbruch des Kapitalismus, der europaweit in der zweiten Jahrhunderthälfte zu verzeichnen war, gewann das Wirtschaftsbürgertum innerhalb des Bürgertums die Oberhand. Auch Bildung wurde nun ein Gut, das Wirtschafts- und Bildungsbürgertum nicht mehr trennte sondern einte. Zumindest die Söhne der frühen Unternehmer hatten nun das Gymnasium durchlaufen, viele konnten überdies einen Universitätsabschluss vorweisen. Diese zum Teil sehr wohlhabenden Wirtschaftsbürger waren nun keine einzelkämpferischen Pioniere mehr, sondern zeigten sich als bereits international agierende networker oder gar frühe global player. Organisiert in starken Interessensverbänden nahmen sie in zunehmendem Maße Einfluss auf politische Entscheidungen und Verwaltungsmaßnahmen. Einige, frisch nobilitiert, gingen sogar bei Hofe ein und aus, gehörten zum inner circle der obersten Machtspitze.

II.  Bürgerliche Kultur Auf den ersten Blick, obschon sich selbst zum Bürgertum zählend, schienen die Gemeinsamkeiten beider bürgerlichen Segmente gering. Vor allem als Teile des Wirtschaftsbürgertums zu immer mehr Wohlstand gelangten, unterschied man sich nach Lebensstil und -zuschnitt in hohem Maße. Doch das Bewusstsein, Träger der als Leistungsgesellschaft konzipierten ›bürgerlichen Gesellschaft‹ zu sein, war beiden gemeinsam. Ihren Platz in der Welt hatten sie durch eigene Leistung, akademischer bzw. ökonomischer Natur, errungen und nicht wie der Adel allein durch Geburt. Neben dem Prinzip der individuellen Leistung griff das Bürgertum auch andere Vorstellungen dieses neuen, in den Studierstuben

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aufklärerisch gesinnter Meisterdenker erdachten Gesellschaftsmodells auf, nahmen es für sich an und trugen zu ihrer Verbreitung bei. Ständische Ungleichheit und absolutistische Staatsgewalt waren die Hauptangriffspunkte. Vordenker war der Königsberger Philosoph Immanuel Kant, der, ganz im Geiste der Urväter des Gedankens, eine Gemeinschaft freier und formal gleicher Bürger forderte, denen der »Ausgang« aus der »selbst verschuldeten Unmündigkeit« gelungen war.7 Nicht zuletzt die anti-adlige, anti-absolutistische Stoßrichtung, die hier mitschwang, stieß auf bürgerliche Resonanz, versprach sie doch den Abschied von geburtsständischen Privilegien, obrigkeitsstaatlicher Gängelung und klerikalem Deutungsmonopol. Dagegen setzte das Bürgertum die Vision einer von Vernunft, Individualität und Humanität bestimmten Gesellschaftsordnung, in der die staatliche Macht im Sinne des liberalen Rechts- und Verfassungsstaats einerseits begrenzt und andererseits über Öffentlichkeit, Wahlen und Repräsentationsorgane den Einflüssen des mündigen Bürgers unterstand. Lange bindende Traditionen wurden überdacht, gewendet, gebrochen und verworfen. Nicht mehr das ›Schicksal‹ bestimmte in den Augen des Bürgertums seine Gegenwart und Zukunft; allein persönliche Tatkraft machte den Bürger zum Herren seiner selbst. Und zum Herren seiner Gesellschaft. Erinnert sei an den eingangs zitierten Riehl, der Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft in eins gesetzt sehen wollte.8 Dieser Bürgerstolz beseelte viele Zeitgenossen. Edelmütig und anmaßend zugleich war die Vorstellung, dass der eigene Wertehimmel und Gesellschaftsentwurf über die Grenzen der eigenen sozialen Schicht ausstrahlen sollte, dass auf Dauer alle, unabhängig von Stand und Geschlecht, an den Wohltaten der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ Anteil haben sollten. Selbstverständlich war es für die bürgerlichen Architekten dieses Programms überdies, dass sie in dieser Gesellschaft die Führung übernehmen würden. Es war ein neues, weit weniger starres Weltbild als das des Ancien Régime, das diese Ideen überwölbte. Und es war ein durch und durch optimistisches Programm – mit zweifellos utopischem Anstrich. Dennoch drang der Kern des Ideals bis ins Alltagsleben des Bürgertums vor und geriet zur Klammer dieser in vielen Bereichen so ausdifferenzierten Gesellschaftsformation. Es erwuchs daraus ein Ensemble von den Lebensstil prägenden und die Wirklichkeit deutenden Werten und Vorstellungen, mit anderen Worten: eine spezifische ›bürgerliche Kultur‹, die die Welt eines Hamburger Kaufmanns, eines Berliner Bankiers, eines Marburger Arztes und eines Heidelberger Professors im Innersten zusammenhielt. Meilensteine dieser ›bürgerlichen Kultur‹ waren eine positive Grundhaltung gegenüber selbstbestimmter, eigenverantwortlicher, regelmäßiger Arbeit und – 7 Immanuel

Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, in: Berlinische Monatsschrift 1784, 481–494. Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd. 8, 35. 8  W. H. Riehl, a. a.O. [Anm. 2] 196.

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damit eng verbunden – Tugenden wie Fleiß und Sorgfalt, Pflichterfüllung im beruflichen und privaten Alltag, die Neigung zur durchdachten Lebensführung, zum beplanten Tagesrhythmus, die Betonung von Erziehung und Bildung, Hochschätzung von Kunst und Wissenschaft und nicht zuletzt eine spezifisches bürgerliches Familienideal.

A. Das Bürgerliche Familienideal Auf Neigung gegründet und durch Liebe verbunden, in Absetzung von Wirtschaft und Politik, sollte die Familie eine Gegenwelt bieten, einen durch auskömmliches Einkommen des männlichen Familienoberhauptes und Dienstboten freigesetzten Raum der Muße für Frau und Kinder, einen Ruhehafen im rastlosen Getriebe der bürgerlichen Leistungsgesellschaft, die sie selbst durch die Erziehung der kleinen Bürgerinnen und Bürger immer aufs Neue herzustellen half. Mit einer ›guten Kinderstube‹ war die nachfolgende Generation gerüstet für das erfolgreiche Mitwirken auf der bürgerlichen Bühne, versorgt mit deren Spielregeln und Requisiten, die sich in einer bunten Palette symbolischer Formen äußerten: in Tischmanieren und Begrüßungsritualen, in Anredeformen und Konversationsregeln, in Konsumpraktiken und dress codes. Die Familie war nicht nur das Herzstück des Bürgertums, sondern auch einer der Hauptschauplätze, an denen die ›bürgerliche Kultur‹ geprägt und gepflegt, gefördert und befördert wurde.9 Im Zuge des Ablösungsprozesses der Agrarwirtschaft durch den Industriekapitalismus begann zunächst im Bürgertum die räumliche und personelle Einheit von Erwerbsstätte und Familienhaushalt auseinanderzufallen. Damit entstand ein Schauplatz fern der Arbeitswelt, lediglich bevölkert von Eltern und Kindern, auf dem die Frauen des Bürgertums Regie führten. Während sich die männlichen Bürger tagtäglich aufmachten, um sich der fordernden Arbeitswelt zu stellen, war es Aufgabe der Bürgerfrauen, die Familie als Erholungs- und Erziehungsstätte bereit zu stellen. Hatten noch die Frauen und Töchter des alten Stadtbürgertums hinter dem Ladentisch gestanden, die Bücher geführt oder in der Werkstatt mit Hand angelegt, beschränkte sich das Betätigungsfeld der Bürgerfrau des 19. Jahrhunderts zunehmend auf die familiären vier Wände. In regelmäßigen Abständen mussten diese Mühen im Innern auch vor den kritischen Augen der Öffentlichkeit bestehen. Wenn die Familie regelmäßig zu Ausflügen zur Kultur und in die Natur aufbrach, galt es, mit geschmackvoll-gepflegter Kleidung, distinguiertem Umgangston und höflich auftretenden Söhnen und Töchtern bzw. perfekten Dienstmädchen, den Nachweis zu erbringen, in der ›bürgerlichen Kultur‹ bewandert zu sein.

9  Vgl.

G. Budde: Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien, 1840–1914 (Göttingen 1994).

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Ihre besonderen weiblichen Eigenschaften, so die Argumentation der Zeitgenossen, befähigte die Bürgerfrauen neben dieser Schaffung eines bürgerlichen Rahmens vor allem für die immer mehr Bedeutung erlangende Erziehung der künftigen Bürgerinnen und Bürger. Als Ende des 18. Jahrhunderts der Philosoph und Pädagoge Jean-Jacques Rousseau den Kindern eine »eigene Art zu sehen, zu denken und zu fühlen« zuerkannte, stieß er mit dieser neuartigen Forderung vor allem im Bürgertum auf offene Ohren.10 Es entdeckte mit Kinderkleidern, -stuben und -büchern die Kindheit als Eigenwelt mit besonderen Rechten und Bedürfnissen. Auch die Spielzeugindustrie florierte. Kirchenfeste wurden zu Kinderfesten. Weihnachtsmann und Osterhase hielten als Gabenbringer und Erziehungshelfer Einzug in die Bürgerhäuser. Mehr und mehr rankte sich das Familienleben um die Kinder, und die Verantwortung, ihre ersten Schritte ins Bürgerleben in die richtigen Bahnen zu lenken, nahm zu. Die Mutterrolle erfuhr eine enorme Aufwertung, doch gleichzeitig ging damit auch eine Einengung der weiblichen Aufgaben und Aussichten auf die ›weibliche Berufung‹ einher, während die männliche Berufswelt immer mehr Perspektiven bot. Je konsequenter sich diese Arbeitsteilung durchsetzte, desto weiter drifteten die männlich und weiblich definierten Sphären auseinander – ein Polarisierungsprozess, der von zeitgenössischen Publizisten als ›natürlich‹ beschworen und den jeweiligen ›Geschlechtscharakteren‹ des aktiv-vernünftigen Mannes und der passiv-gefühlsbestimmten Frau entsprechend erklärt wurde.11 Schon die kleinen Bürgerinnen bekamen dies zu spüren – durch frühen Ausschluss von den Spielen der Jungen, durch eine kürzere Schulzeit mit eingeschränktem Bildungskanon und durch lange verschlossene Ausbildungswege, die sich erst am Jahrhundertende langsam zu öffnen begannen.

B. Bürgerliche Öffentlichkeit Privatheit und Öffentlichkeit als vermeintlich strikt voneinander getrennte Sphären waren Teil des bürgerlichen Familienideals. Beide Bereiche übernahmen die Weitergabe der bürgerlichen Kultur. Doch während innerhalb der Familie die Bürgerfrauen den hervorstechenden Part übernahmen, galt die Öffentlichkeit als ein männlich dominierter Bereich. Diese sich neu konstituierende bürgerliche Öffentlichkeit, die die repräsentative Öffentlichkeit nach und nach überlagerte,12 war vonnöten, um die Idee der bürgerlichen Gesellschaft zu verbreiten. Diese bildete sich im Laufe des 10  Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Über die Erziehung, hg. von Ludwig Schmidts (Paderborn 51981) 69. 11  Karin Hausen: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte (Göttingen 2012) 19–49. 12  Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit (Frankfurt a. M. 1990).

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19. Jahrhunderts in rasantem Tempo heraus und differenzierte sich zunehmend. Da waren zunächst die vielen Vereine, von Zeitgenossen auch ›Assoziationen‹ genannt, die als Foren des Austauschs dienten. Kennzeichen dieser Vereine war die Freiwilligkeit des Beitritts, ihre selbstgewählten Satzungen und Regeln, die formale Gleichheit ihrer Mitglieder und die Bedeutung der Geselligkeit. Fern von Staat, Markt und Familie vergewisserte man sich im Kreis von Gleichgesinnten und Gleichgestimmten der gemeinsamen Wertewelt. Der Kern, um den sich die Vereine drehte, differierte: Es gab Lesegesellschaften und Logen, Musikvereine und Kunstvereine, Schiller-, Dante- und Goethegesellschaften, Natur-, Turn- und Nationalvereine. Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Vereine. Auch wenn die Mehrheit der Vereine in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vornehmlich der Kulturpflege diente, erfüllte das regelmäßige Zusammenkommen auch einen Zweck, der über die kulturelle Erbauung hinausging: Schon durch die Art ihrer Organisation wurden sie zu Schulen der Zivilgesellschaft. Grundmuster der Mitbestimmung konnten hier im Kleinen probiert, eine künftige liberale Gesellschaft antizipiert werden. Zunächst vor allem Bürgermänner – Frauen wurden erst später geduldet – machten hier erste Erfahrungen mit demokratischen Praktiken: Man diskutierte frei, gab sich Verfassungen in Form von Vereinsstatuten, wählte seine Mitglieder, besetzte Ämter und Ausschüsse, versuchte argumentativ zu überzeugen, beachtete Regularien und Rituale, führte Protokoll, erstellte Jahresberichte und erfand sich eine Tradition, die es regelmäßig zu feiern galt. Hier konnte das Ideal politischer Gleichheitsnormen einer künftigen Gesellschaft eingeübt werden, konnte »Aufklärung gelebt« werden.13 Zur gleichen Zeit wuchs europaweit auch die Zahl der Periodika, der Zeitungen und Zeitschriften. Gemeinsam darin zu lesen und darüber zu diskutieren, gehörte zur Hauptbeschäftigung der bürgerlichen Vereinsgeselligkeit. Aber auch über die Vereinslandschaft hinaus wuchs die Zahl des lesefähigen und -hungrigen bürgerlichen Publikums. Vor allem das Genre der Familienzeitschriften, die reich bebildert in bürgerlichen Haushalten von Hand zu Hand gingen, erreichte das Bürgertum unabhängig von Alter und Geschlecht. Die in Deutschland so erfolgreiche Gartenlaube hatte europaweit Pendants. Für ein ausschließlich männliches Publikum war hingegen die Parteipresse konzipiert, die immer mehr an Gewicht gewann. Zu diesem Zeitpunkt galt, zumindest in Deutschland, Neutralität der Presse nicht als Qualitätsmerkmal, sondern als Ausweis von Gesinnungslosigkeit. Diese Zeitungen waren demnach kein unabhängiges Gegengewicht zu den Parteien und Verbänden, sondern ihr ureigenes Organ.

13 

Eine Übersetzung einer Redewendung, wie sie Margret Jacob geprägt hat. Vgl. Margret C. Jacob: Living the Enlightenment. Freemasonry and Politics in Eighteenth Century Europe (New York 1991).

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III.  Bürger als Politiker Nicht zuletzt um bürgerlichen Werten staatlichen Schutz und allgemeine Gültigkeit zu verleihen, war dem Bürgertum an politischer Teilhabe gelegen. Bereits das alte Stadtbürgertum hatte begrenzte politische Partizipationsoptionen besessen. Das 19. Jahrhundert war geprägt von dem bürgerlichen Bestreben, seinen Einfluss auch auf der politischen Ebene sukzessive zu erweitern.

A. Bürger in der Kommunalpolitik Früh reüssieren konnte das Bürgertum hier vor allem in der Kommunalpolitik. »Ihnen eine thätige Einwirkung auf die Verwaltung des Gemeinwesens beizulegen und durch die Theilnahme Gemeinsinn zu erregen und zu erhalten«, war erklärte Absicht der preußischen Städteordnung aus dem Jahr 1808.14 Städteordnungen in ähnlichem Tenor waren auch außerhalb Preußens im Schwange. Auf kommunalem Terrain konnte in einem überschaubaren Experimentierfeld en miniature ausprobiert werden, was die Vision der bürgerlichen Gesellschaft im Großen verhieß. Schließlich gehörte es zu den bürgerlichen Kardinaltugenden, ›Gemeinsinn‹ zu entwickeln und sich für das Gemeinwohl stark zu machen. Dies konnte man durch aktive Mitwirkung in der städtischen Selbstverwaltung unter Beweis stellen. Ideen, am Vereinsabend ersonnen, konnten hier realisiert werden.15 Dass sich innerhalb der Bürgerschaft Formen kollektiver Identität herausbildeten, war auch der Vielzahl von symbolischen Formen und rituellen Akten zu verdanken, durch die die Aufnahme in die Bürgerschaft zu einem würdevollen Initiationsritus geriet. Zu den zeremoniell zelebrierten Praktiken der BürgerWerdung gehörte der Eintrag in ein Bürgerbuch oder einer Bürgerrolle, die Ableistung eines Bürgereides oder die feierliche Übergabe eines Bürgerbriefes. Drohte die Aberkennung des Bürgerrechts – ein Konkurs oder eine Ehescheidung waren dafür übliche Gründe – wurde dies als schmachvoller Ehrverlust empfunden. Auch das passive Wahlrecht trug entscheidend mit dazu bei, dass die kommunale Selbstverwaltung weitgehend von Angehörigen des Bürgertums getragen wurde. Es war nicht nur an das männliche Geschlecht gebunden, sondern es privilegierte durch seine Abhängigkeit vom geleisteten Steuerzins deutlich die wohlhabenden Klassen. Das preußische Dreiklassenwahlrecht brachte diese bürgerliche Bevorzugung unverhohlen zum Ausdruck. Die Wähler wurden darin 14  Ordnung für sämtliche Städte der Preußischen Monarchie […], gegeben zu Königsberg am 19. November 1808 von Friedrich Wilhelm III. In: Neue Schriften des Deutschen Städtetages, hg. von August Krebsbach, Heft 1 (Stuttgart 1957) 47. 15  Beispielhaft untersucht für Nürnberg und Braunschweig in Hans-Walter Schmuhl: Die Herren der Stadt. Bürgerliche Eliten und städtische Selbstverwaltung in Nürnberg und Braunschweig vom 18. Jahrhundert bis 1918 (Gießen 1998).

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in drei Abteilungen (Klassen) eingeteilt. Als Grundlage galt das Aufkommen der direkten Staatssteuern, also der Klassen-, Grund- und Gewerbesteuer. Die Wahlberechtigten, die die meisten Steuern zahlten, wählten in Abteilung I. Von ihnen wurden so viele in die erste Abteilung eingruppiert, bis ein Drittel des Steueraufkommens erreicht war. Es kam durchaus häufig vor, dass in der I. Abteilung nur eine Person wählte. Diese Person bestimmte dann allein über immerhin ein Drittel der Mitglieder des Stadtrates. Es verwundert von daher kaum, dass die städtischen Führungsschichten ein so reges Interesse zeigten, ein Wahlverfahren, das sie mit so viel Einfluss in der Bürgerschaft ausstattete, eifersüchtig zu verteidigen. Durchaus ohne Skrupel: Schließlich, so konnte man diese innerstädtische Hegemonie legitimieren, erprobte man damit das eigene Ideal der bürgerlichen Gesellschaft im Kleinen, kam ein solches sich selbst steuerndes Gemeinwesen, bestimmt von einem Kreis freier und gleicher, selbständiger, öffentlich debattierender und nach Maßgaben der Vernunft entscheidender Männer den Ordnungsvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft schon sehr nah. Im Vormärz nahmen die Chancen politischer Partizipation weiter zu, politische Vereine und Parteien griffen in Kommunalwahlkämpfe ein, durch die Selbstverwaltungsorgane zogen sich Fraktionen entlang der Parteigrenzen. Nicht zuletzt schickten sich jetzt ›Berufspolitiker‹ an, die vorherigen Honoratioren zu verdrängen. Doch dies war ein langsamer Prozess. Blickt man in die Stadtverwaltungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, trifft man dort noch immer auf eine ähnlich zusammengesetzte Klientel vornehmlich bürgerlicher Herkunft wie schon in den Dekaden zuvor. Und auch hier findet man mindestens zwei Bürgergesichter: Auf der einen Seite Haus- und Grundbesitzer, die ihre ökonomischen Interessen selbst angesichts wuchernder Armenviertel rigoros durchsetzten; auf der anderen Seite verantwortungsvolle Bürger, die sich sensibel zeigten für die Nöte der Mitbürgerinnen und Mitbürger und, wenn auch mit patriarchalischem Gestus, beherzt eingriffen.16 Als Berufspolitiker in die Verwaltungen einzogen, änderte sich daran wenig. Ohnehin setzten sie sich erst im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert in Marsch, dessen Tempo nur schleppend anzog. Träger der vielfältigen Modernisierungsleistungen in den Städten, die aufgrund demographischer, sozialer und ökonomischer Herausforderungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Tagesordnung standen, war und blieb das Bürgertum. Auch wenn die Beamtenschaft wuchs, hieß das nicht, dass andere Angehörige des Bürgertums sich aus der ersten Reihe vertreiben ließen. Formelle und informelle Einflusskanäle blieben, um die eigenen Interessen im Stadtgefüge zu wahren. Möglichkeiten dafür gab es zuhauf: Erstens landeten die Bewerbungsschriften der städtischen Beamten auf den Schreibtischen der bürgerlichen 16  Hans-Walter

Schmuhl: Bürgertum und Stadt. In: Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums, hg. von Peter Lundgreen (Göttingen 2000) 224–248.

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Honoratioren. Nicht nur Zeugnisse und Bildungspatente entschieden über den Erfolg der Bewerbung. Das ›soziale Kapital‹ oder, um nicht mit Bourdieu, sondern mit den Zeitgenossen zu sprechen, bürgerlicher ›Stallgeruch‹, war ebenso entscheidend. Aus den angesehenen Bürgerkreisen der Stadt selbst zu kommen oder durch Einheirat, Verwandtschaft bzw. Ausbildung mit ihr verbunden zu sein, erhöhte die Chance auf eine Anstellung beträchtlich. Abgesehen von den Oberbürgermeistern, die als bereits andernorts bewährte und vielerorts umgarnte Persönlichkeiten das Prestige einer Stadt heben konnten, rekrutierte sich das Gros der Stadtbeamtenschaft aus dem näheren Umkreis des städtischen Bürgertums. Zweitens unterstanden diese Beamten einem primär durch Ortsstatuten festgelegten System von Qualitätskriterien, Gehältern und Pensionen. Auch hier waren es die Honoratioren, die das entscheidende Wort sprachen. Drittens entschieden sie letztlich nicht nur über die einzelnen Beamten selbst, sondern auch über die Größe des Beamtenstabes. Ein Gleichgewicht zwischen den Berufsbeamten und den Honoratioren in den Magistraten zu wahren, gehörte zu den ureigensten Interessen der Stadtparlamente. Somit ersetzten im 19. Jahrhundert Berufsbeamte die bürgerlichen Honoratioren keineswegs flächendeckend. Vielmehr hatten beide Seiten ein großes Interesse daran, sich zu arrangieren. Mehr noch: Die gegenseitigen Abhängigkeiten machten beide Gruppierungen eher zu Verbündeten als zu Gegnern. Auch außerhalb der Amtstuben und Gremien verkehrte man miteinander, lud sich gegenseitig ein, traf sich im Musikverein oder im Theater, auch vor dem Traualtar oder dem Taufbecken. Überdies waren die Aktivitäten der Berufspolitiker nicht immer unbedingt effektiver. Im Gegenteil: Es konnte schon im 19. Jahrhundert zu Bürgerinitiativen gegen ein verschleppendes Berufsbeamtentum kommen; diese trieben auf Eis gelegte Projekte der kommunalen Daseinsvorsorge wie Kanalisation oder Gasbeleuchtungswerke voran oder setzten die Beamtenschaft beim Bau eines Museums oder Gymnasiums unter Zugzwang. Um die Ämter der städtischen Selbstverwaltung lagerte sich demnach ein engmaschiges Honoratioren-Netzwerk, dessen Exponenten die Kommune als lokale Machtbasis und Experimentierfeld bürgerlicher Politik nutzten und dies auch noch, als in wachsendem Maße eine Berufsbeamtenschaft in die Kommunen einzog.

B. Die ›bürgerliche‹ Revolution Mit der Revolution von 1848 trat das Bürgertum aus dem rein kommunalen Umfeld, wenn auch mit den Aktionen in ihm verbleibend, heraus. Zwar wird diese Revolution mit dem Attribut ›bürgerlich‹ etikettiert, doch weite Teile des Bürgertums hätten sich eine Umsetzung ihrer Ideen eher auf weniger gewalttätigem Wege gewünscht. Zumindest einige Aspekte einer nach Trägern und Motiven vielschichtigen Revolutionswirklichkeit trugen unverkennbar bürgerliche Züge.

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Wegbereiter der Revolution waren die teils liberalen, teils demokratischen Bürgerbewegungen im Vorfeld, die im Laufe der Revolution an Zahl und Einfluss gewannen. Bereits seit den 1820er Jahren hatte das Bürgertum mit immer mehr Nachdruck Reformen der neoabsolutistischen Beamtenregierung gefordert. Eine konstitutionelle Regierungsform erschien dem Bürgertum als einzige Möglichkeit, seine Interessen durchzusetzen. Unter dem Druck der von der französischen Julirevolution von 1830 aufgeheizten Stimmung war dem Drängen des Bürgertums nach mehr Spielräumen der Parlamente halbherzig und kurzzeitig nachgegeben worden. Doch das bürgerliche Unbehagen blieb und wuchs. Der Deutsche Bund verfehlte zu offensichtlich seine Aufgabe, als einigende Klammer der zersplitterten deutschen Staatenwelt zu wirken. Im Gegenteil entwickelte er sich in den Augen des Bürgertums immer mehr zum verhassten Instrument fürstlicher Arroganz und bürokratischer Willkür. Im Verein mit liberalen Vertretern des Wirtschaftsbürgertums machte das Bildungsbürgertum Front gegen Kleinstaaterei, bürokratische Gängelung, gegen feudale Privilegien und ständische Ungleichheit. Man setzte sich ein für Menschen- und Bürgerrechte, für freiheitliche Verfassungen, parlamentarische Institutionen und für den Nationalstaat. Die Arbeit der Parlamente in den verfassungspolitisch fortgeschrittenen süddeutschen Staaten mit Baden und Württemberg an der Spitze drohte ins Leere zu laufen. Der Ruf nach Freiheit und nationaler Einheit, beide als miteinander untrennbar verknüpft gedacht, wurde lauter. Ganz oben auf dem bürgerlichen Forderungskatalog prangten überdies Presse- und Versammlungsfreiheit, Schutz vor behördlicher Willkür, eine liberale Umgestaltung des Strafrechts und der Übergang zu konstitutionellen Regierungsformen. Erst wenn die Regierungen eine kritische Öffentlichkeit als grundsätzlichen Maßstab ihres Handelns akzeptierten, so hoffte man in bürgerlichen Kreisen, waren entscheidende Weichen auf dem Weg zur bürgerlichen Gesellschaft gestellt. Zu diesen Idealen gesellten sich ganz handfeste Interessen. Wirtschaftsbürger drängten darauf, die Ökonomie von behördlicher Bevormundung zu befreien, das Rechtssystem weiter zu reformieren, die Währungen zu vereinheitlichen und einen geschlossenen Binnenmarkt zu schaffen. Es waren die im Vorfrühling des Jahres 1848 vor allem von der breiten Masse der Bevölkerung getragenen Straßendemonstrationen, die den Reformforderungen der bürgerlich-liberalen Bewegung zu größerer Stoßkraft verhalfen. Angesichts der brodelnden Unruhe in den Unterschichten sahen die Fürsten keinen anderen Ausweg, als unverzüglich Regierungen einzusetzen, die das Vertrauen der Kammermehrheiten und der Öffentlichkeit besaßen. Binnen weniger Tage wurde auch den ›Märzforderungen‹ in weiten Teilen nachgegeben oder zumindest ihre künftige Erfüllung in Aussicht gestellt. Diese Forderungen spiegeln den Wertekanon der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ insofern wider, als sie Versammlungsfreiheit, Rede- und Pressefreiheit, politische Gleichberechtigung aller Staatsbürger, Volksbewaffnung, unabhängige Justiz, Stärkung der gewählten Kammern, Einberufung eines deutschen Nationalparlaments ganz oben auf ihre

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Forderungsliste platzierten. Im Frühjahr 1848 war das Ende der theoretischen Gesellschaftsentwürfe gekommen, aber gleichzeitig auch der Beweis erbracht, dass Denken und Schreiben die Welt nicht nur deuten, sondern auch verändern können. Doch auf den Barrikaden fand man das Bürgertum nur selten. Die Basis bildeten die keineswegs homogenen Unterschichtgruppen. Hörte man in die Sitzungen von Handwerker- und Arbeitervereinen hinein und lauschte man den Sprechchören auf der Straße, schallten einem von dort ganz ähnliche Schlagworte entgegen, wie bei den Bürgerversammlungen, die wenige Schritte weiter tagten. Doch wenn beide von Freiheit schwärmten, meinten sie sehr Unterschiedliches: Im Bürgertum zielte die Freiheitsforderung auf Verfassung, Gedanken, Sprache und Schrift, auf politische Organisation und vor allem auf die individuellen Rechte, die wirtschaftliche Selbständigkeit und Marktwirtschaft mit einschlossen. In die politischen Forderungen der Fabrikarbeiter mischten sich von Anfang soziale Ansprüche: Ihnen ging es um Lohnerhöhungen, Schutz vor ungerechtfertigten Entlassungen, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Maßnahmen gegen die Teuerung, Senkung der Lebensmittelsteuern. Dennoch gab es zwischen diesen Protagonisten der Revolution viele Brückenschläge, Verflechtungen und Überschneidungen. Mit Rückenwind der revolutionären Volksbewegung kamen die reformbegierigen Bürger an die Macht, oder zumindest an einen Teil der Macht. Umgekehrt brauchte die sich entfaltende Volksbewegung die Überführung ihrer Energie in Programme und Institutionen, um nachhaltig wirken zu können. Doch bewusst war man sich dieser gegenseitigen Abhängigkeit nicht. Vielmehr wuchs das Gefühl der Entfremdung. Zu unterschiedlich waren die Schauplätze, auf denen man seine Forderungen verfocht, zu unterschiedlich, die Mittel, zu denen man griff. Erst als Ende März das Vorparlament und dann am 18. Mai 1848 das Parlament in der Frankfurter Paulskirche seine Arbeit aufnahm, schien die Revolution wieder ganz in bürgerlicher Hand. Zeitgenössische Bilder zeigen eine geordnete Prozession dunkel gekleideter Bürgermänner mit weißem Vatermörderkragen und Zylinder in der Hand zwischen dem Spalier eines diszipliniert aufgestellten Bürgerwehrheeres. Das Pathos des Neuanfangs hatte die Oberhand gewonnen. Schon zu dieser Zeit, als noch weniger als die Hälfte der später 812 Abgeordneten ihre Arbeit aufnahmen, war die Paulskirche ein durch und durch bürgerlicher Schauplatz: Letztlich waren dort 600 Akademiker versammelt, davon 436 im Staatsdienst und 491 mit juristischer Ausbildung. Dass, auch wenn die Juristen die Übermacht hatten, bei dieser Besetzung häufig die Rede von einem »Professorenparlament« oder einer »Honoratiorenversammlung« aufkam,17 erstaunt kaum. Die Auswahl der Abgeordneten gab Tonfall, Stimmung und Rhythmus vor. Begnadete Selbstdarsteller feierten hier ihren großen Auftritt, andere lieferten eher Stoff für Karikaturen. Das Parlament der Paulskirche »war eine Hoch17 

Frank Lorenz Müller: Die Revolution von 1848/49 (Darmstadt 2002) 87.

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schule für Politik, zu fachlich klug, zu akademisch wissend, zu philosophisch beredt, um politisches Organ werden zu können: sie war, mit einem Worte, zu bedeutend, um sich einzuordnen in die diffuse deutsche Wirklichkeit.«18

C. Liberale Bürger Nachdem die Debatten durch eine Geschäftsordnung gebändigt waren, zeichneten sich bald Friktionen und Fraktionen ab. Das bürgerliche Lager spaltete sich in einen demokratischen und einen liberalen Flügel. Die Demokraten wünschten sich die republikanische Staatsform für eine künftige deutsche Nation. Eine Stärkung des Parlaments entsprach durchaus auch dem Credo der Liberalen. Doch der Wunsch nach Republik ging ihnen zu weit. In ihren Augen war dies gleichbedeutend mit Masse, Terror und letztlich – und entscheidend – das Ende aller bürgerlichen Werte. Diese beiden Positionen prägten auch die Programme, die sich langfristig zu eigenen Parteien formierten. Mit der Revolution von 1848 fiel auch der Startschuss für eine moderne Parteienlandschaft in Deutschland. Auch wenn die Forderungen der Revolution letztlich scheiterten – ein Ziel war erreicht: Die Selbstverständlichkeit der politischen Partizipation, die ›Fundamentalpolitisierung‹ der Gesellschaft war nicht mehr aufzuhalten. Politik war fortan für das Bürgertum eine Herzensangelegenheit. Die Hauptforderung der Revolution jedoch erfüllte sich erst mit der Reichsgründung am 18. Januar 1871. Auch die Verfassungsfrage wurde nun endgültig entschieden. Einerseits zwar gegen die volle Parlamentarisierung und für die Bewahrung eines erheblichen Einflusses der alten Eliten und Institutionen; andererseits, nicht zuletzt dank des liberalen Bürgertums, gegen die reaktionären Forderungen vieler Konservativer und zugunsten eines Verfassungsstaates mit durchaus liberaler Substanz und demokratischen Elementen. Und nicht zuletzt: Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht (der Männer) wurde früher als in den Nachbarländern institutionalisiert. Wiederum war dieser Wandel ›von oben‹ – seitens der Regierung und ihres Apparates – geleitet, gestaltet und teilweise auch initiiert worden. Doch diesmal, anders als zwischen 1800 und 1815, im Verein mit den Liberalen. Sie führten zwar nicht Regie, doch sie trugen entscheidend dazu bei, dass weitere Weichen für das Projekt der bürgerlichen Gesellschaft gestellt wurden. Nicht zufällig bezeichneten schon Zeitgenossen die Zeit zwischen 1871 und 1878 als eine ›liberale Ära‹, die sie als Höhepunkt bürgerlicher Gestaltungskraft empfanden. Eine bereits in den 1840er Jahren begonnene Erfolgsgeschichte der Liberalen schien in der Zielgeraden.

18  Veit Valentin: Geschichte

der deutschen Revolution 1848/49, Bd. 2 (Berlin 1931) 12 f.

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Was machte den Liberalismus für weite Teile des Bürgertums so attraktiv?19 Während die Konservativen die Nation noch nicht voll akzeptiert hatten, der politische Katholizismus noch seine Autonomie gegenüber dem Staat verteidigte und (Sozial-) Demokraten in den Augen des Bürgertums zu harte Gleichheitsforderungen stellten, war es nicht zuletzt der moderate Anspruch der liberalen Zukunftsvisionen in der annehmbaren Mischung aus Traditionswahrung und Fortschrittsemphase, die ihn lange konkurrenzlos erscheinen ließ. Es zeichnete sich jedoch eine Allianz zwischen Staat und Wirtschaftsbürgertum ab, die langfristig die liberale Politik auf eine Zerreißprobe stellen sollte. Dem Gründerboom folgte 1873 der Gründerkrach. Dass man, gemeinsam handelnd, mehr Druck und Macht ausüben konnte, war eine in den Jahren zuvor gemachte Bürgererfahrung; Teile des Wirtschaftsbürgertums setzten sie erneut um. Im Januar 1876 entstand mit dem Centralverband deutscher Industrieller ein starker wirtschaftsbürgerlicher Interessenverband. Zu seinen Kernforderungen gehörten die Abkehr vom liberalen Freihandel und die Einführung von Schutzzöllen, die die heimischen Produkte vor Auslandsimporten abschirmen sollten. Der Übergang zur Schutzzollpolitik war nur ein Schritt einer ›konservativen Wende‹. Unter einem erstarkten Wirtschaftsbürgertum, das in der aufholenden Industrialisierung innerhalb des Bürgertums nun die Führungsrolle übernahm, war es nun vor allem die als Bedrohung stilisierte Arbeiterschaft, von der man sich dezidiert absetzte und aus dem verachteten Adel einen neuen Bündnispartner machte. Liberale Bildungsbürger erfuhren diesen Richtungswechsel als gravierende Zäsur, als Angriff auf die eigene Wertewelt. Der Schock über das Ende der liberalen Ära drang in den deutschen Liberalismus so tief ein, weil man es gleichzeitig als das Ende einer bildungsbürgerlich geprägten, liberalen politischen Kultur empfand. Langfristig wirkte dieser vom Bürgertum so hochgehaltene Nationalismus, dessen Schattenseiten durchaus auch in seiner Anfangsphase zu ahnen waren, immer weniger integrativ. Die Errichtung des Nationalstaates, kaum zufällig von den Zeitgenossen zum Erinnerungsort erkoren, trieb die Nationsbildung voran und beförderte das nationale Wir-Gefühl. Gleichzeitig wurden zu Außenseitern deklarierte, sogenannte ›innere Reichsfeinde‹, mehr und mehr ausgegrenzt. Immer mehr geriet der Nationalismus, bestärkt durch soziale Spannungen im Innern, zu einer Ideologie mit intolerantem Absolutheitsanspruch. Die schrecklichen Folgen eines so jeden Liberalismus entkleideten Nationalismus, die sich dann im 20. Jahrhundert offenbarten, hatten auch weite Teile des Bürgertums mit zu verantworten.

19 Immer noch einschlägig hierzu Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland (Frankfurt a. M. 1988); ders.: Bildungsbürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert. In: ders.: Liberalismus und Sozialismus – Ausgewählte Beiträge, hg. von Friedrich Lenger (Bonn 2003) 153–176.

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IV.  Grenzen des Bürgertums Doch nicht erst am Ende des 19. Jahrhunderts bewies da Bürgertum immer mal wieder einen eng begrenzten Horizont, der seinen eigenen Maßstab an liberaler Bürgerlichkeit nicht gerecht wurde. Mit seinem ständigen Changieren zwischen utopischen Versprechungen und exklusiver Realität, zwischen Aufgeschlossenheit und Engstirnigkeit, zwischen Selbstverliebtheit und Selbstzweifel, zwischen Weitherzigkeit und Vorurteil trug das Bürgertum seit seinem Erstarken einen Januskopf. A. Bürgerinnen in der Bürgergesellschaft Die Halbherzigkeit des aufklärerischen Versprechens allgemeiner Chancengleichheit und Entfaltungsfreiheit ohne Rücksicht auf Geburt und Geschlecht bekamen nicht zuletzt die Bürgerinnen zu spüren. Wenn auch die Akzeptanz von Pluralität und die forcierte funktionale Differenzierung zu den Merkmalen des bürgerlichen Gesellschaftsentwurfs gehörten, der sich ja bewusst abkehrte von der festgezurrten Kompaktheit altständischer Gruppen des Ancien Régime, traf die durchgängig gewählte semantische Männlichkeitsform sich mit der Wirklichkeit. Allem voran das vorn skizzierte Familienideal wies nicht nur geschlechtsspezifische Rollen bereits in der Kinderstube zu, sondern dachte diese auch in einem hierarchischen Gefüge. Die vielbeschworene Mutterrolle als weibliche Berufung versperrte den Weg zu anderen bürgerlichen Berufen während des gesamten langen 19. Jahrhunderts. Doch es gehörte auch zu den Eigenarten des Bürgertums, dass es dazu neigte, sich immer wieder neu zu erfinden, sich zu suchen und sich Foren zu schaffen, um sich selbst zu bestätigen – aber auch in Zweifel zu ziehen. Damit erzeugte sich das Bürgertum seine Bürgerkritik gleich mit. Bereits seit der Revolution von 1848, dann aber vor allem in den letzten vier Dekaden des 19. Jahrhunderts kam Kritik von Angehörigen aus den eigenen Reihen, von denen man sie am wenigsten erwartet hatte, auch nicht erwarten konnte. Schließlich hatte man die Töchter zur Bescheidenheit, Genügsamkeit und Zurückhaltung erzogen. Dass sie jetzt gegen ihren oktroyierten Part aufbegehrten, gleiche Bildungs- und Berufschancen wie ihre Brüder forderten und später sogar eine eigene Stimme an der Wahlurne, irritierte das Bürgertum zutiefst. Doch die aufsässigen Bürgerinnen machten damit nicht mehr und nicht weniger, als das vollmundige Programm der bürgerlichen Gesellschaft beim Wort zu nehmen. Sie konstituierten 1865 den Allgemeinen deutschen Frauenverein und etablierten eigene Frauenzeitungen. Europaweit fanden sie dafür Vorbilder, die zum Teil, wie etwa die englischen Suffragetten, mit deutlich drastischeren Mittel für ihre Rechte eintraten. John Stuart Mills The Subjection of Women (1869) wurde in viele Sprachen übersetzt und fand eine große bürgerliche Leserschaft. Männliche Bürger, manche durchaus im Verein mit ihren

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Gattinnen, reagierten empört und engagierten sich in antifeministischen Vereinen.20 Doch in den Wortgefechten, die auf beiden Seiten entbrannten, waren die Frauen keineswegs immer die Unterlegenen. Wenn anerkannte Mediziner zu Zollstock und Waage griffen, um das geringere Gewicht des Frauenhirns zur Legitimation ihres beschränkten Radius zu nutzen, konnten kluge Frauen nur mit beißender Ironie kontern. Klug waren sie auch in ihrem verhaltenen Vorgehen: In kleinen Schritten, zunächst durch die Verbesserung der Schulausbildung durch die Einrichtung von höheren Mädchenschulen und Lehrerinnenseminare, öffneten sich erste Berufsoptionen für Frauen auch außerhalb ihrer eigenen Familien. Eine besonders heiß umkämpfte Männerdomäne blieb die Universität. Erst in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts öffneten sich die Tore der Alma Mater auch für Studentinnen, erste Bildungsbürgerinnen verließen die Universitäten, ohne dass wirklich alle auch den Beruf dann ausübten, für den sie das Bildungspatent erworben hatten. Das Wahlrecht wurde in Deutschland erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erteilt, in vielen europäischen Ländern noch deutlich später. B. Bürgertum und Religion So wie das Programm der bürgerlichen Gesellschaft allgemeine Chancengleichheit versprach, so gehörte auch dazu, sich von kirchlicher Gängelung und Deutungsmacht zu befreien. In der Tat zeichneten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts vor allem auf Seiten des männlichen Bürgertums Tendenzen zumindest der Entkirchlichung, d. h. eine abnehmende Teilnahme an Gottesdiensten und kirchlichen Ritualen ab. Doch der These einer rigorosen Säkularisierung widerspricht die bleibende Bedeutung von Religion im bürgerlichen Lebenshaushalt. An den Sonntagen predigten zwar viele Pfarrer, Priester und Rabbiner vor leeren Bänken, doch die Großveranstaltungen der Katholikentage und des Evangelischen Bundes erfreuten sich großer Beliebtheit. Gewisse Formen der Kirchlichkeit verloren also an Gewicht, andere hingegen lebten regelrecht auf. Weiterhin betrachtete das Bürgertum seine jeweilige Religion als weiterhin mächtiges Deutungssystem, das sich jedoch nun gegenüber einer wachsenden Konkurrenz anderer behaupten musste. Offizielle Glaubenslehre und private Glaubensüberzeugung waren nicht mehr unbedingt deckungsgleich. Bürgerinnen sahen überdies aus dem schrittweisen Ausscheren ihrer Männer aus dem kirchlichen Geschehen eine Chance, sich einen öffentlichen Ort außerhalb der Familie zu erobern, den sie beeinflussen und mitgestalten konnten. Das Vordringen von Frauen ins kirchliche Leben einerseits und die gleichzeitige Sakralisierung des familiären Raumes andererseits, die unabhängig von den Kon20  Ute

Planert: Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität (Göttingen 1998).

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fessionen zu beobachten war, ließ auf eine gewisse ›Feminisierung der Religionspraxis‹ schließen. Unter dem Deckmantel der Religion konnten Frauen sich jetzt auch in Vereinen organisieren und philanthropisch betätigen. Bei aller Säkularisierungsneigung blieb es im Bürgertum erstaunlich wichtig, welcher Konfession man angehörte, nicht zuletzt bei der Partner- und Patenwahl und den Verkehrskreisen. Religiöse Minderheiten hatten es hier bei einem überwiegend protestantischen Bürgertum schwer. Max Webers These von der »protestantischen Ethik«, die einen engen Zusammenhang zwischen dem modernen Kapitalismus und dem protestantischen Habitus, durch unablässiges Erwerbsstreben sich der außerweltlichen Erlösung zu versichern,21 zu erkennen glaubte, stempelte Angehörige anderer Konfessionen zu Außenseitern. Während Protestantismus und Bürgerlichkeit eine vermeintliche Wahlverwandtschaft verband, wurde es im Kaiserreich zunehmend prekär, ein katholischer Bürger zu sein. Die Entwicklung des Katholizismus seit den 1870er Jahren zum ›Ultramontanismus‹ und die Verkündigung des Dogmas der päpstlichen Unfehlbarkeit konterkarierte das bürgerliche Ideal der individuellen Selbstbestimmung. Auch wenn längst nicht das Gros des katholischen Bürgertums diesen Schwenk mitmachte, verlor der Katholizismus nie den Ruch der Unvereinbarkeit mit den aufklärerisch gestimmten Bürgerwerten. Konfessionelle Spannungen durchzogen auch das Alltagsleben. Hatte es das interkonfessionelle Tauwetter noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlaubt, Kirchen und Friedhöfe gemeinsam zu nutzen, verschwand in der zweiten Jahrhunderthälfte ein Simultaneum nach dem anderen. Konnte man schon nicht einträchtig den Kirchenraum teilen, galt dies erst recht für den privaten Verkehr. Das Judentum wurde gegen Ende des Jahrhunderts noch ungleich stärker diskriminiert. Es bekam die zunehmenden Exklusionen und Perversionen durch weite Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit besonders schmerzlich zu spüren. Die zunehmende Abneigung, die ihm entgegenschlug, war eine perfide Mischung aus konfessioneller Überheblichkeit und krudem Rassismus. Namentlich nach dem Gründerkrach gipfelte die Suche nach dem Sündenbock in immer krasseren Formen von unverhohlenem Antisemitismus, der bereits in den Schulen begann und sich in den Ausschlussmechanismus der vermeintlich so toleranten Vereine fortsetzte. Diese Form des Antisemitismus war von Beginn an eng mit dem zunehmend illiberalen Nationalismus verknüpft. Die chauvinistische Rhetorik Wilhelms II. war nicht selten mit antijüdischen Stereotypen durchsetzt, sein Hofprediger Adolf Stöcker, der gebetsmühlenartig Vorstellungen verbreitete, die Juden seien eine Gefahr für die fragile, junge Nation tat das Seine. Stöcker fand vor allem offene Ohren im gebildeten Bürgertum, ebenso wie Heinrich von Treitschke, der 21 

Max Weber: Die protestantische Ethik, 1. Eine Aufsatzsammlung, hg. von Johannes Winckelmann, (Gütersloh 71984), vor allem 35 f.

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antisemitische Hasstiraden in die Hörsäle trug, damit aber auf den Widerspruch von Theodor Mommsen stieß, der den Antisemitismus anprangerte, zugleich aber Assimilationserwartungen an das Judentum artikulierte.22

C. Bürger in der Klassengesellschaft Den Diskriminierungen waren nicht zuletzt die Unterschichten früh ausgesetzt. Schon in den Arbeiterbildungsvereinen als wachsender Teil der reichen Vereinslandschaft gaben die bürgerlichen Initiatoren den Ton an. Als die Arbeiterbewegung europaweit erstarkte, wuchsen hingegen die Bürgerängste vor den vermeintlich zügellosen Massen. Das berühmte Gemälde von Giuseppe Pellizza da Volpedo ›Il Quarto Stato‹ (Der vierte Stand) goss mit dem Motiv einer wuchtigen, auf den Betrachter zuströmenden Arbeitermasse eben diese Ängste in Öl. Die Pariser Kommune von 1871 war ein Fanal, das nirgendwo in Europa unbemerkt verhallte. Von diesen Erfahrungen aufgeschreckt, wechselte das Bürgertum die Fronten. Die dem bürgerlichen Programm eigene Forderung formaler Gleichheit aller geriet gänzlich zur Farce, als die Arbeiterklasse soziale Gleichheit forderte. Hatte vorher die klare Absetzung von den alten Eliten die bürgerliche Kultur, Wirtschaftsweise und Politik geprägt, wurde sie nun überlagert von der Abschottung gegenüber den unteren Schichten. Die Kluft zwischen den Besitzenden und Gebildeten einerseits und dem ›Volk‹ andererseits verbreiterte sich zusehends. Hatte man noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts voller Bürgerstolz jeglichen Adelsdünkel mit Verachtung gestraft, schien jetzt für viele Bürger und Bürgerinnen eine Annäherung an den Adel als Bollwerk gegenüber den erstarkenden und bedrohlichen Unterschichten opportun. Als Verrat an der bürgerlichen Wertewelt hatten diesen Richtungsschwenk schon Zeitgenossen wie Max Weber gegeißelt, als negativen ›Deutschen Sonderweg‹ dann vor allem Historiker der Nachkriegszeit. Sie machten namentlich in Deutschland ein Defizit an Bürgerlichkeit aus, das langfristig die Entwicklung einer liberalen Demokratie behinderte und den Aufstieg des Nationalsozialismus erleichterte. Die verspätete Nationalstaatsgründung ›von oben‹, zunehmend anti-pluralistische Elemente der deutschen politischen Kultur und nicht zuletzt auch die Kontinuität der Macht der ›alten Eliten‹ und die ›Feudalisierung des Großbürgertums‹ waren Grundmerkmale eines so verstandenen ›Sonderwegs‹. Auch wenn die besondere Einflusskraft von Bürokratie und Beamtenschaft, gepaart mit überhohen Erwartungen an den Staat, sicherlich in der deutschen Bürgergesellschaft besonders ausgeprägt waren, war die ›Feudalisierung‹ von Teilen des Bürgertums ein gesamteuropäisches Phänomen. Sowohl im Edwardianischen England, im Wilhelminischen Deutschland als auch im vorrevolu22  Vgl. Der

Berliner Antisemitismusstreit, hg. von Walter Boehlich (Frankfurt a. M. 1965).

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tionären Petersburg lässt sich im späten 19. Jahrhundert eine Tendenz großbürgerlicher Kreise beobachten, mit der Welt des Adels zu kokettieren. Diese Spuren einer ›Aristokratisierung‹ zeigten sich nicht nur in einem politischen Schulterschluss, sondern auch in der Nachahmung und Annahme des adligen Lebensstils, etwa im repräsentativen Baustil oder in der Kindererziehung. Die noch zu Beginn des Jahrhunderts propagierte Offenheit war nun einer elitären Verschlossenheit gewichen.

V.  Ende des Bürgertums? Man könnte diese sich am Ende des 19. Jahrhunderts verstärkenden Züge von Intoleranz und Illiberalität, die die hehren Fixsterne am bürgerlichen Wertehimmel verblassen ließen, als Vorzeichen für das Ende des Bürgertums werten. Viele Zeitgenossen haben dies getan. »Seltsam, dieses Bürgertum. Seltsam dieses starre Festhalten an Formen, die leer sind, an Dingen, die es eigentlich nicht mehr gibt. Vorbei, vorbei – fühlt ihr das nicht?«, wunderte sich 1920 Kurt Tucholsky.23 Rückblickende Historiker schlossen sich dem an. Einige sahen bereits um die Jahrhundertwende, viele nach Ende des Ersten Weltkriegs, spätestens aber nach 1945 klare Auflösungserscheinungen dieser im 19. Jahrhundert so prägenden Gesellschaftsschicht. Gibt es nach dem bürgerlichen Zeitalter noch ein Bürgertum? Vor allem die beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts waren von dem Rechtsstaat, für den sich Bürger noch hundert Jahre zuvor eingesetzt hatten, Lichtjahre entfernt. Und das Bürgertum war keineswegs nur Zuschauer, Mitläufer oder gar Opfer und Widerständler, sondern vielfach verantwortlicher Täter. Überall in der unmenschlichen Machtmaschinerie fand man Bürger eingepasst, manche sogar an den direkten Schalthebeln. Dennoch hat die zunehmend auch historiographische Spurensuche nach Bürgertum und Bürgerlichkeit auch im 20. und 21. Jahrhundert das Ende der Bürgerlichen Gesellschaft zumindest mit einem Fragezeichen versehen.24 Viele Elemente vor allem der bürgerlichen Kultur scheinen weitaus langlebiger als seine Begründer, auch wenn sich mittlerweile eher der Begriff ›Zivilgesellschaft‹ eingebürgert hat. Selbst in den ausgesprochen ›antibürgerlichen‹ Diktaturen schienen weite Teile eines Bürgertums oder doch zumindest ihre Werte und Vorstellungen überwintert zu haben. Dennoch kann im 20. und 21. Jahrhundert keine gesellschaftliche Formation für sich in Anspruch nehmen, auch nur annähernd wie das Bürgertum im 19. Jahrhundert der Gesellschaft ihren Stempel aufge23 

Kurt Tucholsky: Dämmerung. In: Die Weltbühne, 11. März 1920, 332. u. a. Bürgertum nach 1945, hg. von Manfred Hettling und Bernd Ulrich (Hamburg 2005); Andreas Schulz: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert (München 2005); Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter. Leitbilder und Praxis seit 1945, hg. von G. Budde, Eckart Conze und Cornelia Rauh (Göttingen 2007). 24  Vgl.

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drückt zu haben. Das hehre Programm der Bürgerlichen Gesellschaft, das, wie wir gesehen haben, durchaus Geburtsfehler hatte und Schönheitsfehler behielt, war ein Programm mit bürgerlichem Urheberrecht. Und es verlieh dem 19. Jahrhundert seinen Charakter – mit allen Licht- und Schattenseiten.



Annette Sell und Myriam Gerhard

Dialektik

I. Einleitung Auf die Frage, was Dialektik eigentlich sei, gibt es verschiedene Antworten, je nach dem, im Hinblick auf welche Epoche der Philosophiegeschichte die Frage gestellt wird. Als allgemeines Kriterium lässt sich sicherlich bestimmen, dass es sich um eine Disziplin oder Methode des Philosophierens sowie eine Theorie des Wissens handelt. Durch ihr gegensätzliches Verhältnis zur Analytik und ihre Aufgabe, die Entwicklung bzw. den in sich bewegten Zusammenhang von Denken, Natur, Gesellschaft und Menschen philosophisch fassen zu wollen, wird die Dialektik immer wieder zum Gegenstand der teils sehr polemischen Kritik. Dialektik polarisiert, und zwar durch ihre Eigenart, zwei Pole oder Positionen methodisch in sich zu vereinigen und somit Wissen auf dialektisch bewegte Weise zu erlangen. Etwa zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und der Zeit um 1900 erfährt die Dialektik einen Höhepunkt in ihrer über 2000 Jahre alten Geschichte und wird somit zu einem Schlüsselbegriff der Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts. Durch die verschiedenen Denker der Klassischen Deutschen Philosophie und die damit verbundene Reflexions-Dialektik und spekulative Dialektik sowie die sich anschließenden Positionen der romantischen, hermeneutischen Dialektik, Existenzdialektik und der materialistischen Dialektik zeigt sich ein weites Spektrum dieser Weise, qua Denken Wissen oder auch jenseits des Denkens ein göttliches Unendliches zu erlangen. Die Hauptvertreter, die sich in ihren Werken über die Dialektik geäußert haben oder mit bzw. in ihr gedacht haben, gilt es im Folgenden chronologisch in ihren Hauptthesen zur Dialektik darzustellen. Dass es sich hierbei nur um Momentaufnahmen aus einem reichhaltigen Gesamtwerk handeln kann, versteht sich von selbst. Dass sich Spuren von dialektischem Denken auch bei hier nicht eigens behandelten Philosophen finden, ist ebenfalls selbstverständlich, da sich die gegenseitigen Bezugnahmen aufeinander auch im dialektischen Denken widerspiegeln. Es soll hier ein Einblick in die positive und negative Kritik der Dialektik bei Denkern des 19. Jahrhunderts gewährt werden und zugleich die Kraft und Dynamik dieser Denkweise herausgestellt werden.

II.  Immanuel Kant Mit Kants Neubestimmung der Logik erfährt auch der Begriff der Dialektik eine kritische Neubewertung. Die sich in der Philosophiegeschichte manifestierenden unterschiedlichen Bedeutungen der Dialektik berücksichtigend, sucht Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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Kant in der Kritik der reinen Vernunft (1781/86) diesen einen einheitlichen Gebrauch der Dialektik gegenüber zu stellen. So sei es vornehmlich die Verwendung der Dialektik als eine sophistische Kunst, in der die Dialektik ihre Verbreitung fand. Als eine sophistische Kunst begriffen ist der Zweck der Dialektik nicht die Wahrheitsfindung. Vielmehr sieht sie von allen Inhalten ab und konzentriert sich auf die bloße Form der Urteile, um »alles, was man will, mit einigem Schein zu behaupten«.1 Diese Praxis der Dialektik kennzeichnet Kant als eine Logik des Scheins, in der die bloße Form zur Verschleierung fragwürdiger Inhalte herangezogen werde. Die allgemeine Logik werde als bloßes Werkzeug, als Organon zu einem ihr fremden Zweck missbraucht. Kant geht in seiner Kritik dieses Gebrauchs der Dialektik soweit zu sagen, »daß die allgemeine Logik, als Organon betrachtet, jederzeit eine Logik des Scheins, d. i. dialektisch sei«.2 Kant distanziert sich explizit von diesem Gebrauch der Dialektik als Organon und sucht dagegen die Dialektik »als eine Kritik des logischen Scheins« der Logik zu inkorporieren. In diesem Sinne unterscheidet Kant die logische oder formale Dialektik, die er als sophistische »Geschwätzigkeit«3 stigmatisiert, von der transzendentalen Dialektik. Während erstere allein im zu kritisierenden Missbrauch der allgemeinen, von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahierenden Logik4 als ein Organon zu finden ist, hat die Dialektik als eine Kritik des logischen Scheins ihren Ort in der transzendentalen Logik. Die transzendentale Logik differenziert Kant bekanntlich in die transzendentale Analytik und die transzendentale Dialektik. Ersterer kommt die Aufgabe zu, das Verstandesvermögen dergestalt zu zergliedern, dass alle reinen Verstandesbegriffe als formale Prinzipien des reinen Verstandes entdeckt werden. Die transzendentale Analytik sieht von aller wirklichen Beziehung auf die Gegenstände der Erkenntnis ab und ist als eine Logik der Wahrheit ein bloßer »Kanon des empirischen Gebrauchs«.5 Wird von der Restriktion der transzendentalen Logik auf einen Kanon abgewichen und von den Prinzipien der Erkenntnis ein materialer Gebrauch zur Beurteilung von Gegenständen gemacht, droht auch die transzendentale Logik zu einem sophistischen Blendwerk6 zu werden. Die transzendentale Dialektik befasst sich mit diesem transzendentalen Schein, »aber nicht als eine Kunst«, die diesen Schein dogmatisch hervorbringe,7 sondern als eine den falschen Schein entlarvende Kritik der reinen Vernunft. Es ist Kants großes Verdienst aufgezeigt zu haben, dass dem dialektischen Schein nicht durch die Missbilligung seiner Existenz beizukommen ist, sondern allein durch eine den transzendentalen Schein ernstneh1 

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft [im Folgenden: KrV], hg. von Raymund Schmidt (Hamburg 1990) B 86. 2  KrV B 86. 3 Ebd. 4  Vgl. z. B. KrV B 80. 5  KrV B 88. 6  Vgl. ebd. 7 Ebd.

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mende Kritik. Dabei ist für Kant die Ursache des Scheins von besonderer Bedeutung. Anders als der durch das sophistische »Geschwätz«8 hervorgebrachte formale Schein hat der transzendentale Schein einen natürlichen Grund. Die Natürlichkeit des Grundes sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der transzendentalen Dialektik nicht um einen empirischen Schein, den z. B. optische Täuschungen hervorrufen, geht, sondern allein um den transzendentalen Schein, dessen Ursache ausschließlich in der Vernunft selbst zu suchen ist. Der Schein, sei es der formale der allgemeinen Logik oder der transzendentale, hat seinen Grund nicht im Gegenstand und ist somit streng von der Erscheinung zu unterscheiden, vielmehr ist er im Urteil über den Gegenstand begründet, indem subjektive Gründe des Urteils für objektive Gründe des Gegenstandes genommen werden. Dass subjektive Gründe des Urteils als objektive Gründe des Gegenstandes des Urteils behauptet werden, kann auf die bloße Willkür des urteilenden Subjekts zurückgeführt werden und führt zum sophistischen Missbrauch der allgemeinen Logik. Kant spricht aber darüber hinaus von einer gewissen Notwendigkeit, subjektive Gründe als objektive Gründe anzunehmen. Diese Notwendigkeit sieht Kant in der Natur der menschlichen Vernunft begründet. Kant spricht deshalb auch von einer natürlichen und unvermeidbaren Dialektik der reinen Vernunft.9 Kant unterscheidet drei Arten von dialektischen Schlüssen, in denen es beim Vernunftschluss vom Bedingten auf das Unbedingte zu unvermeidbaren Antinomien kommt. Die erste Art dieser »vernünftelnden«10 Schlüsse, der kategorische Schluss, geht demnach auf »die absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjekts«.11 Die zweite Art, der hypothetische Schluss, geht auf »die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung« und die dritte Art, der disjunktive Schluss, thematisiert »die absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt«.12 Den drei Schlussformen entsprechen demnach die Idee der Seele, die Idee der Welt und die Idee Gottes. Der transzendentale Schein lasse sich, auch wenn er als solcher erkannt wurde, nicht aufheben. Er ist eine natürliche, nicht abzuweisende Illusion,13 die allein »am Gerichtshofe einer kritischen Vernunft«14 ihre Grenze erfahren kann. Die Aufgabe der kritischen Vernunft ist es, den Schein aufzudecken, damit er nicht betrüge. Aufgrund der Natürlichkeit und Unvermeidbarkeit des transzendentalen Scheins käme jedoch jede darüber hinaus gehende Forderung der Abschaffung des transzendentalen Scheins der Forderung der Abschaffung der

 8 

KrV B 86. KrV B 354. 10  KrV B 397. 11  KrV B 391. 12  KrV B 432. 13  KrV B 353 f. 14  KrV B 815.  9 

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menschlichen Vernunft gleich.15 Aus der Kritik des transzendentalen Scheins, die den objektiv behaupteten Grundsätzen, Prinzipien aus reiner Vernunft, ihre dialektische Natur ausweist, ergibt sich für Kant die Beschränkung des Gebrauchs der Vernunftprinzipien. Ein wesentliches Resultat seiner Kritik ist, dass die Vernunftprinzipien stets dialektisch sind und »allenfalls nur wie regulative Prinzipien des systematisch zusammenhängenden Erfahrungsgebrauchs gültig sein«16 können. »Denn das regulative Gesetz der systematischen Einheit will, daß wir die Natur so studieren sollen, als ob allenthalben ins Unendliche systematische und zweckmäßige Einheit, bei der größtmöglichen Mannigfaltigkeit, angetroffen würde.«17 Kants in der Kritik der reinen Vernunft entwickelte Dialektikkonzeption findet sich auch in der Kritik der praktischen Vernunft und in der Kritik der Urteilskraft wieder. Allen Urteilen der Vernunft als Resultat eines Vernunftschlusses18 ist eigen, dass sie a priori Allgemeinheit beanspruchen. Eine Dialektik der ästhetischen Urteilskraft könne sich demnach nicht auf den Widerstreit ästhetischer Sinnesurteile oder den Widerstreit von Geschmacksurteilen gründen. Allein die Prinzipien des ästhetischen Vermögens können antinomisch sein, insofern die subjektiven Gründe eines Geschmacksurteils für objektive Gründe gehalten werden können. Die Dialektik der reinen praktischen Vernunft sucht »zu dem praktisch Bedingtem (was auf Neigungen und Naturbedürfniß beruht) ebenfalls das Unbedingte«,19 das höchste Gut. In dem höchsten Gut »werden Tugend und Glückseligkeit als nothwendig verbunden gedacht«, woraus sich die antinomische Bestimmung der reinen praktischen Vernunft ergibt, denn entweder muss »die Begierde nach Glückseligkeit die Bewegursache zu Maximen der Tugend, oder die Maxime der Tugend muß die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein«.20 Gemeinsam ist den Antinomien, dass sie allein durch die Beschränkung der reinen Vernunft aufzuheben seien. So sieht Kant z. B. die in der Kritik der reinen Vernunft benannte dritte Antinomie zwischen der Kausalität der Natur und der Kausalität aus Freiheit durch die Restriktion des jeweiligen Geltungsbereichs der Kausalität aufgehoben. Die Vernunft muss sich demnach in der Auflösung ihrer Antinomien nicht für eine Seite entscheiden.

15  Vgl. KrV

B 354. KrV B 814. 17  KrV B 728. 18  Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Kants Werke Akademie Ausgabe. Bd. V [im Folgenden: AA V], unveränderter photomechanischer Abdruck der von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Ausgabe (Berlin 1968) 337. 19  Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. In: AA V, 108. 20  Ebd. 113. 16 

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III.  Johann Gottlieb Fichte Obwohl Fichte den Begriff ›Dialektik‹ nur selten in seinem Werk verwendet, muss er hier seinen Platz finden, da Fichte sich eines Verfahrens bedient, das als dialektisches bezeichnet werden kann. Dass es unterschiedliche, sehr konträre Positionen zur Auffassung von Fichtes Dialektik gibt, ist hier nur zu nennen.21 Für Fichte ist das absolute Subjekt bzw. das Ich der Ausgangspunkt für sämtliche Ableitungen sowohl auf die Theorie wie auf die Praxis bezogener Bestimmungen. Im Gegensatz zu Kant verschmelzen so theoretische und praktische Vernunft. Soll nun Fichtes dialektisches Verfahren deutlich gemacht werden, so ist an dieser Stelle auf die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/1795) zu blicken, da hier auf synthetische Weise das Ich deduziert wird. Ohne alle philosophischen Implikationen und systematischen Bestimmungen des vielschichtigen Zusammenhangs der drei Grundsätze nachzuvollziehen, ist an dieser Stelle die Grundstruktur zu nennen, um Fichtes an der Topik orientierte Form der Dialektik zu veranschaulichen. Fichte setzt einen obersten Grundsatz, der Ich = Ich lautet. Sämtliches Wissen lässt sich auf diesen Satz zurückführen. Er ist unmittelbar wahr und kann nicht bewiesen werden. Das absolute Ich ist hier ein thetisches Urteil. Nun ermöglicht dieser erste Satz die antithetische Gegenübergestellung eines zweiten Satzes, der sich in der Formel Nicht-Ich ≠ Ich ausdrückt. In dem dritten Grundsatz wird gezeigt, dass das Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich im Ich entgegensetzt.22 Es werden hier also Gegensätze in der Reflexion vereinigt durch den Begriff der Teilbarkeit. Wird das Gleiche im Entgegengesetzten gesucht, so ist dieses Verfahren synthetisch. Der Satz ist deswegen möglich, da das Ich antithetisch synthetisch begrenzt ist. Fichte entwickelt, wie sich Synthesis und Antithesis gegenseitig implizieren.23 Dieses synthetische Verfahren lässt sich als dialektisches bezeichnen, dessen beide Pole sich nicht äußerlich gegenüberstehen, sondern deren Ursprung in einem absoluten Ich liegt, das aus sich selbst heraus das Ich und das Nicht-Ich setzt und sich synthetisiert. Dabei ist die Einbildungskraft die Struktur, welche diese Tätigkeiten des Ichs bewirkt.24 Beim späten Fichte tritt der Begriff der Dialektik explizit in der sogenannten Transzendentalen Logik von 1812 auf. Hier geht es um den zweiten Teil dieser Logik, d. h. um die Vorlesung vom Wintersemester 1812, in der Fichte vor dem 21  Vgl.

zu dieser Diskussion z. B. Stefan Schick: Contradictio est Regula Veri. Die Grundsätze des Denkens in der formalen, transzendentalen und spekulativen Logik. Hegel-Studien Beiheft 53 (Hamburg 2010) 128 f. 22  Wie dieses Nicht-Ich hier zu verstehen ist, ist häufig diskutiert worden. Sicherlich ist es auch im Sinne der Außenwelt und Realität aufzufassen. 23  Johann Gottlieb Fichte: Werke 1783–1795, hg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob unter Mitwirkung von Manfred Zahn. Gesamtausgabe Bd. I, 2 (Stuttgart-Bad Cannstatt 1965) 273 f. 24  Ebd. 314 und 359.

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Hintergrund seiner Wissenschaftslehre die formale Logik kritisiert, die das Verhältnis von Identität und Widerspruch nicht eigens begründet, sondern lediglich voraussetzt. So spricht Fichte von dem Unterschied zwischen Logik und Philosophie und entwickelt in dieser Vorlesung den Begriff des Bildes, der in seinem Sinne gar kein Begriff, sondern ein Bild des Absoluten ist. In diesem Kontext der Deduktion des Bildes nennt Fichte die Dialektik. »Zur Apperception zweierlei[:] 1.) ein Seyn., das nur im Bilde seiner selbst. Ein Selbst. 2.). daß dieses Seyn ein Bilde dieses Verhältnisses seiner selbst. Dies gefunden durch Analyse. Wäre es uns [/] nur um das daß zu thun, nicht um das Wie, so möchte es dabei sein Bewenden haben. So aber tiefer. Dialektische Kunst der Entwiklung.«25 Etwas später in der Vorlesung rekurriert Fichte auf diese Äußerung zur Dialektik, wenn er das Verfahren so beschreibt, dass es nichts aus- oder erdenkt, »sondern das Denken macht sich uns selbst, die Evidenz ergreift uns«.26 Durch die Dialektik kann der Mensch also zur Evidenz gelangen. An dieser Stelle wird die Dialektik in den Zusammenhang mit der Einbildungskraft gestellt. »Construction ist nun die Anleitung, durch die Einbildungskraft den Begriff zu erfinden, daß die Evidenz sich einstelle.«27

IV.  Georg Wilhelm Friedrich Hegel Schon in seinen frühen Schriften lässt sich von Anfängen der Hegel’schen Dialektik sprechen.28 In den ersten, in Jena entstandenen Systementwürfen sucht Hegel eine adäquate begriffliche Erfassung des Absoluten zu leisten. Die Vermittlung zwischen endlicher Reflexion und Unendlichem bleibt aber noch unbegriffen und die Dialektik erscheint negativ als die Entgegensetzung endlicher Reflexionsbestimmungen. Die positive Bestimmung der Dialektik als das bewegende Prinzip des Begriffs entwickelt Hegel vornehmlich in der Wissenschaft der Logik. Diese »Bewegung des Begriffs selbst«29 expliziert Hegel im zweiten Band der Wissenschaft der Logik, der subjektiven Logik, als Methode. Es ist kein Zufall, dass Hegel die Dialektik, vor der Kant als eine Logik des Scheins warnt, zur wissenschaftlichen Methode der Wahl bestimmt. Als ein bloßer Kanon müsse die Logik stets im Reich der Endlichkeiten verbleiben, der Begriff bleibe ein Bedingtes und die Einheit der Vernunft sei von rein regulativem Gebrauch. Wenn es aber gelänge, die Vernunftbegriffe von der Vorstellung, sie seien bloße Ideen qua Vorstellungen, denen keine Realität korrespondieren 25  Johann

Gottlieb Fichte: Nachgelassene Schriften 1812–1813, hg. von Erich Fuchs, Reinhard Lauth et al. Gesamtausgabe Bd. II, 14 (Stutgart-Bad Cannstatt 2006) 249. 26  Ebd. 250. 27 Ebd. 28  Vgl. Manfred Baum: Die Entstehung der Hegelschen Dialektik (Bonn 1986) 48–75. 29  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff. Gesammelte Werke Bd. 12 [im Folgenden: GW 12], hg. von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke (Hamburg 1981) 238.

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könne, zu befreien und sie als etwas für die Erkenntnis Konstitutives zu erweisen, wäre auch die Logik als ein Organon bewiesen und die in der Beschränkung auf einen bloßen Kanon zur Beurteilung deutlich werdende »gewöhnliche Vorstellung von der formellen Function der Logik«30 aufgehoben.31 Der in der Antinomie einander entgegengesetzter endlicher Reflexionsbestimmungen sich vorfindende Widerspruch der Bestimmungen wird gemeinhin als ein negatives Resultat betrachtet, dass entweder der sich in seinen entgegengesetzten Bestimmungen widersprechende Gegenstand sich selbst aufhebe und deshalb nichtig sei oder aber das Erkennen selber mangelhaft sei. Dieser negativen Einschätzung der Dialektik entgegentretend, möchte Hegel aufzeigen, dass weder der Gegenstand noch das Erkennen mangelhaft sind, sondern vielmehr sich in dieser Beziehung des anfänglich Allgemeinen auf sein Anderes die Objektivität in ihrer Seele und Substanz manifestiert. Entscheidend sind für Hegel an der Erscheinung der Dialektik nicht die vermeintliche Mangelhaftigkeit des Gegenstandes oder des Erkennens, sondern die sich darin zeigenden Bestimmungen. Diese sind nicht etwas äußerlich Vorgefundenes oder willkürlich Zusammengerafftes, sondern die Denkbestimmungen, d. h. Kategorien, die für Hegel »der wahrhafte Gegenstand und Inhalt der Vernunft«32 sind. »Der Gegenstand, wie er ohne das Denken und den Begriff ist, ist eine Vorstellung oder auch ein Nahmen; die Denk- und Begriffsbestimmungen sind es, in denen er ist, was er ist.«33 Dasjenige, was gewöhnlich als Gegenstand genommen wird, »gilt nur durch sie und in ihnen«.34 Auch wenn man diese konstitutive Rolle der Kategorien annimmt, bleibt die Bestimmtheit der Denkbestimmungen in einem widersprüchlichen Urteil zumindest fragwürdig. Urteile der Art ›Das Endliche ist unendlich‹ oder ›Das Einzelne ist ein Allgemeines‹ sind Kant bekanntlich ein Ausdruck der »unvermeidlichen Widersprüche der Vernunft mit sich selbst«35 und als solche zu kritisieren. Hegel hingegen sucht dieses Charakteristikum der Vernunft durch die absolute Methode ins Positive zu wenden. Die Methode wird hier zum Prinzip, denn die »Bestimmungen des Begriffes selbst und deren Beziehungen«36 sind dasjenige, was die Methode ausmacht. Die absolute Methode ist demnach nichts anderes als ein Organon der reinen Vernunft, dessen Kritik das Thema der theoretischen Philosophie Kants ist. Hegel behauptet die Vermittlung als schon im Unmittelbaren angelegt. Die erste Bestimmung der Dialektik ist ihm die konkrete Totalität als ein Unmit30 

Ebd. 26. Zu Hegels Kritik der formalen Logik vgl. auch Pirmin Stekeler-Weithofer: Hegels Analytische Philosophie. Die Wissenschaft der Logik als kritische Theorie der Bedeutung (Paderborn u. a. 1992) 15 ff. 32  GW 12, 244. 33 Ebd. 34 Ebd. 35  KrV B 24. 36  GW 12, 239. 31 

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telbares. Die Totalität, von der die Bewegung des Begriffs ihren Anfang macht, muss unmittelbar sein. Es handelt sich hier jedoch um kein Unmittelbares der Anschauung oder der Vorstellung, sondern um ein Unmittelbares des Denkens, das sich zudem als das Andere seiner selbst zeigen soll. Wie aber »ein allgemeines Erstes an und für sich betrachtet, sich als das Andere seiner selbst zeigt«,37 ist nicht unmittelbar einsichtig. Die zweite Bestimmung der Dialektik ist das Andere des Unmittelbaren, das Negative oder Vermittelte, das zugleich ein Vermittelndes ist und das mehr sein soll als das leere Negative bzw. Nichts. Hieraus ergibt sich schließlich die dritte Bestimmung des Negativen des Negativen, der »Wendungspunkt der Bewegung des Begriffes«.38 In ihr hat sich das positive Resultat der Dialektik zu zeigen. Die Negativität als negative Beziehung auf sich ist nicht nur der »Wendungspunkt der Bewegung des Begriffs«, sondern zugleich der »innerste Quell aller Thätigkeit«, die »dialektische Seele« und »auf dieser Subjectivität allein ruht das Aufheben des Gegensatzes zwischen Begriff und Realität, und die Einheit, welche Wahrheit ist«.39 In diesem zweiten Negativen der absoluten Methode vollendet sich der Schluss. In der Vollendung des Schlusses ist »der Unterschied des Vermittelnden und Vermittelten weggefallen. Das, was vermittelt ist, ist selbst wesentliches Moment seines Vermittelnden, und jedes Moment ist als die Totalität der Vermittelten.«40 Die Methode ist als die Mitte des Schlusses das Vermittelnde der Extreme, das sich in der Vollendung des Schlusses identisch setzt mit den zu vermittelnden Extremen des Schlusses, so dass »Subjekt, Methode und Objekt […] als der eine identische Begriff gesetzt sind«.41 Diese Identität von Subjekt, Methode und Objekt im Begriff ist nicht mit der durch das formelle Denken geforderten Identität als notwendiges Gesetz des Erkennens zu verwechseln. Hält das formelle Denken an dem Grundsatz fest, »daß der Widerspruch nicht denkbar sey«,42 so hält Hegel dem entgegen, dass das Denken des Widerspruchs »das wesentliche Moment des Begriffs«43 sei. Weil das formelle Denken »sich die Identität zum Gesetze«44 mache und »den widersprechenden Inhalt, den es vor sich hat, in die Sphäre der Vorstellung, in Raum und Zeit herab fallen«45 lasse, muss ihm der Widerspruch als vernichtend erscheinen. Dagegen ist es für Hegel »das Wichtigste im vernünftigen Erkennen«, das »Positive in seinem Negativen, den Inhalt der Voraussetzung im Resultate festzuhalten«.46

37 

Ebd. 244. Ebd. 246. 39 Ebd. 40  Ebd. 125. 41  Ebd. 238. 42  Ebd. 246. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Ebd. 46  Ebd. 245. 38 

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Die bloße Anwendung der absoluten Idee auf die Sphäre der Realphilosophie widerspricht dem Hegel’schen Verständnis, demnach die dialektische Methode nicht als instrumentell zu begreifen ist. Die dialektische Methode ist nicht mehr und auch nicht weniger als »das Bewußtsein über die Form der inneren Selbstbewegung ihres Inhalts«.47 Als ein rein heuristisches Prinzip48 angewendet fällt die dialektische Methode zurück in die von Hegel kritisierte Form des »suchenden Erkennen«.49 Dessen ungeachtet hat die Dialektik Hegels vor allen als Methode Furore gemacht. Die Rezeption der Hegel’schen Dialektik ist überaus kontrovers und reicht von einer emphatischen Verteidigung der einzig wahren Methode, die mehr oder weniger umstandslos auf die Einzelwissenschaften angewandt werden könne, bis zur hämischen Kritik formallogischer Fehler und eines unangemessenen Erkenntnisanspruchs.

V.  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Schelling spricht in seinen Werken expressis verbis von der Dialektik, doch ist sein Verhältnis zu ihr nicht immer eindeutig und sogar widersprüchlich. Schellings Gesamtwerk ist von zahlreichen Brüchen und Neuansätzen geprägt, die sich ebenfalls in seiner Darstellung der Dialektik niederschlagen. Auch die Ansicht der Forscher, inwiefern überhaupt von einem dialektischen Denken des frühen Schelling gesprochen werden kann, divergiert.50 Es stellt sich also auch die Frage, welche Kriterien des philosophischen Denkens erfüllt werden müssen, um sie als dialektisch zu bezeichnen. Das philosophisch-systematische Beziehungsgeflecht der Denker der klassischen deutschen Philosophie ist sehr dicht und verzweigt. So reagiert Schelling in seinen frühen Schriften auf Kant, Fichte, Hegel, indem er an diese Denker anknüpft bzw. sich gegen sie abstößt. Über die enge Zusammenarbeit Schellings mit Hegel in den in den frühen Jahren ist vielfach geforscht worden.51 Zusammenfassend lässt sich Schellings frühes Denken dadurch charakterisieren, dass es ihm um die Erkenntnis des Absoluten geht, das mit der Vernunft zu identifizieren ist. Dieses Absolute ist als Einheit von Subjekt und Objekt zu verstehen, wobei diese Einheit durch die intellektuelle Anschauung erfasst werden kann. In seiner frühen Schrift vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen von 1795 wird das 47 

GW 21, 37.

48  Vgl. Walter

Jaeschke: Objektives Denken. Philosophiehistorische Erwägungen zur Konzeption und zur Aktualität der spekulativen Logik. In: The independent journal of philosophy. Vol III (1979) 26. 49  GW 12, 235. 50  Vgl. hierzu Andreas Arndt: Dialektik und Reflexion. Zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffs (Hamburg 1994) 116–121. 51  Einen differenzierten Überblick hierzu siehe bei Rainer Schäfer: Die Dialektik und ihre besonderen Formen in Hegels Logik. Emtwicklungsgeschichtliche und systematische Untersuchungen. Hegel-Studien Beiheft 45 (Hamburg 2001) 81–88.

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absolute Ich von Schelling konstituiert, und hier nimmt Schelling die Dialektik vornehmlich im Kontext der Kantischen Philosophie auf. Seine an Kant orientierte These ist, dass vom Ich als Objekt nichts ausgesagt werden könne, da man sonst dem dialektischen Schein verfalle.52 Durch das absolute Ich als Prinzip wird dieser Schein aber vermieden, und mit ihm ist das Prinzip der Philosophie gefunden. »Denn das Ich, als Objekt, ist, wie wir selbst erwiesen haben, nur durch dialektischen Schein möglich, das Ich in logischer Bedeutung aber hat keine Bedeutung, als bloß insofern es Princip der Einheit des Denkens ist, verschwindet also mit dem Denken selbst, und hat gar keine als bloß denkbare Realität.«53 Im Kontext der Schelling’schen Dialektik wird auch immer wieder die Naturphilosophie genannt. In den Ideen zu einer Philosophie der Natur von 1797 entwickelt Schelling einen Zusammenhang von Geist und Natur unter der Annahme einer ursprünglichen Einheit von Geist und Materie. Auch hier soll ein höheres Prinzip, d. h. eine absolute Identität allem zugrunde liegen. Das folgende Zitat gibt den Grundgedanken wieder: »Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muß sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich seye, auflösen.«54 In der Natur selbst herrschen Bewegungen, die sich in entgegengesetzten Tendenzen vollziehen und von der Duplizität zur Einheit streben. Es gibt dabei produktive und hemmende natürliche Bewegungen, die aber nicht dialektisch vermittelt werden, sondern nebeneinander bestehen und in der absoluten Identität immer schon vereint waren, so dass auch nicht von einer dialektischen Naturphilosophie bei Schelling gesprochen werden kann.55 Das erste Mal fasst Schelling den Begriff der Dialektik systematisch in seinen Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums von 1803. Hier bezeichnet er die Dialektik als eine Kunstseite der Philosophie, die im Unterricht geübt werden müsse. »Ohne dialektische Kunst ist keine wissenschaftliche Philosophie! Schon ihre Absicht, alles als eins darzustellen und in Formen, die ursprünglich dem Reflex angehören, dennoch das Urwissen auszudrücken, ist Beweis davon. Es ist dieses Verhältniß der Speculation zur Reflexion, worauf alle Dialektik beruht.«56 Dabei räumt Schelling ein, dass es auch eine Seite der 52 

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämmtliche Werke. Bd. I,1, hg. von K.F.A. Schelling (Stuttgart 1856 ff.) 204. 53  Ebd. 208. 54  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797). Historisch-Kritische Ausgabe Werke 5, hg. von Manfred Durner unter Mitwirkung von Walter Schieche (Stuttgart 1994) 107. 55  Wolfgang Röd erkennt demgegenüber eine Dialektik der Natur bei Schelling. Wolfgang Röd: Dialektische Philosophie der Neuzeit (München 21986) 105–108. Annette Sell spricht sich dafür aus, dass Schelling – gegenüber Hegel – keine dialektische Naturphilosophie konzipiert habe. Annette Sell: Der lebendige Begriff. Leben und Logik bei G. W. F. Hegel (Freiburg/München 22014) 161–167. 56  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämmtliche Werke. Bd. I, 5, hg. von K.F.A. Schelling (Stuttgart 1856 ff.) 267.

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Dialektik gibt, die nicht erlernt werden kann, da sie auf einem »produktiven Vermögen beruht«.57 Die Dialektik versucht also in der Verbindung von Reflexion und Spekulation, das Absolute als Identität darzustellen. Sie ist methodisch wie die intellektuelle Anschauung zu verstehen. In seiner späteren Philosophie nimmt Schelling die Dialektik im Sinne einer antirationalen, mystischen Denkweise auf. So schreibt er in den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809) von einem Ungrund, der aller Existenz vorausliegt und die absolute Indifferenz ist. Die Dialektik wird hier als ein trennendes und sonderndes Prinzip beschrieben, wobei die Wahrheit aus einer Trennung aber immer »siegreich hervortritt«.58 Der Ort der Wahrheit ist für Schelling die Vernunft, die zugleich Indifferenz ist, und in ihr wird »die ursprüngliche Weisheit empfangen«.59 Auch in den wenige Jahre später verfassten Weltaltern kritisiert Schelling die Dialektik, die »keineswegs wirkliche Wissenschaft ist«.60 In den Vorlesungen über die Einleitung in die Philosophie der Mythologie, d. h. in der vierzehnten Vorlesung Ueber die ursprüngliche Bedeutung der dialektischen Methode, gelesen in der Gesammtsitzung am 13. Juli 1848, ist die Dialektik dadurch charakterisiert, dass sie an ein Zitat von Platons Dialektik (Rep. IV, p. 511, B.) anknüpft und dass sie eine scharfe Kritik an Hegels Dialektik darstellt.61 Schelling geht hier von einem bestimmten Begriff der Induktion aus, die im Denken selbst liegt und durch die die Philosophie zum Prinzip gelangt. Diese Methode der Induktion identifiziert Schelling mit Platons Dialektik, in der die Voraussetzungen einerseits durch Logik bzw. formales Denken geschaffen werden. Andererseits werden Prinzipien auch als unbedingte vorausgesetzt. Diese Seite bezeichnet Schelling als positive und wirft Hegel vor, dass er sie nicht gedacht habe und somit auch nicht zum wahren Denken gelangt sei. An dieser Stelle vermag die Dialektik – im Gegensatz zu Hegels Konzeption der Dialektik – selbst Wahrheit hervorzubringen.

VI.  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher In Schleiermachers Denken ist die Dialektik sehr präsent und relevant. In seinen zwischen 1811 und 1831 sechs Mal vorgetragenen Vorlesungen über Dialektik entwickelt Schleiermacher eine eigenständige Theorie der Dialektik, die er auch als Kunst bzw. Kunstlehre bezeichnet. Die Entwicklungsgeschichte der 57 Ebd. 58 

Ders.: Sämmtliche Werke. Bd. I, 7, hg. von K.F.A. Schelling (Stuttgart 1856 ff.) 414 f.

59 Ebd. 60 

Ders.: Sämmtliche Werke. Bd. I, 8, hg. von K.F.A. Schelling (Stuttgart 1856 ff.) 202. Ders.: Sämmtliche Werke. Bd. II, 1 (Stuttgart 1856 ff.) 321–229. Vgl. hierzu Erhard Oeser: Die antike Dialektik in der Spätphilosophie Schellings. Ein Beitrag zur Kritik des Hegelschen Systems (Wien/München 1965). 61 

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Schleiermacher’schen Dialektik in den Vorlesungen zeigt verschiedene Schwerpunkte und Modifikationen der Dialektik. Hier gilt es, wesentliche Charakteristika seiner Dialektik anzuführen, die er als eine Theorie des Denkens und Wissens bestimmt. »Dialektik also ist Architektonik alles Wissens; sie ist Organon für das richtige Verfahren im zusammenhängenden Fortschreiten sie ist Criterion für jedes einzelne Denken was sich für ein Wissen giebt.«62 Die Dialektik umfasst einen »transzendentalen« und einen »formalen« oder »technischen« Teil. Bereits in der frühen Vorlesung von 1811 versucht Schleiermacher, die Ethik und Physik in ihrer Einheit zu sehen und zu begründen. Dabei kann die Dialektik als Lehre gelten, die dorthin führt. Es geht also um eine Vereinbarkeit von Ideellem und Materiellem. Die Ursache für die Vereinbarkeit ist ein transzendentaler Grund, der nicht weiter begrifflich gedacht werden kann. Das Gefühl und die Anschauung gewinnen hier also eine besondere Bedeutung. So ist auch das Verhältnis von Philosophie und Theologie bzw. von Wissen und religiösem Gefühl in dieser Form der Dialektik grundlegend. Schleiermacher orientiert sich an der Dialektik Platons und an dessen »Kunst des Gesprächs«.63 Es handelt sich dabei nicht nur um die mündliche Rede, sondern auch um Lesen, Schreiben, Denken. Im Gespräch, in dem sowohl das Denken als auch das äußere, organische Sein des einzelnen Menschen vorhanden sind, gilt es gemeinsame vernünftige Regeln zu entwickeln. Während zu Anfang des Gesprächs noch Streit und Chaos herrscht, wird im Verlaufe des Sprechens durch die Dialektik als philosophischer Kunstlehre der Streit zu einem Ende gebracht und so Verständigung erreicht. Schleiermacher wirkte mit seinem Denken auch auf Trendelenburg, der seine Vorlesungen besuchte und den er auch persönlich kannte. Philosophiegeschichtlich ist Schleiermachers Dialektik insofern relevant und bedeutend, dass sie eine wichtige Etappe der hermeneutischen Philosophie bildet.

VII.  Friedrich Schlegel In den Studien zur Dialektik bleibt das Werk Friedrich Schlegels häufig unerwähnt.64 Es soll in dieser Darstellung jedoch seinen Platz finden, da es zur systematischen Entwicklung der Dialektik wesentlich beigetragen hat. Bereits Schlegels frühe Auseinandersetzung mit den Philosophen der antiken und der Klassischen Deutschen Philosophie zeigt seine Wertschätzung der Dialektik. In seinen Aufzeichnungen von 1796 findet sich folgendes prägnante Zitat zur Dia62  Friedrich

Daniel Ernst Schleiermacher: Vorlesungen über die Dialektik. Zweite Abteilung Vorlesungen, Teilband 1, hg. von Andeas Arndt (Berlin/New York 2002) 281. 63  Ebd. 219. 64  Siehe hierzu besonders den Aufsatz von Andreas Arndt, der die Bedeutung Schlegels für die Dialektik zum ersten Mal herausgearbeitet hat und auf dessen Studie auch die hier vorliegenden Ausführungen aufbauen. Andreas Arndt: Zum Begriff der Dialektik bei Friedrich Schlegel (1796–1801). In: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992) 257–273.

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lektik: »Sehr bedeutend ist der Griech.[ische] Nahme Dialektik. Die ächte Kunst, (nicht der Schein wie bey K[ant]), sondern die Wahrheit mitzutheilen, zu reden, gemeinschaft.[lich] die Wahrheit zu suchen, zu widerlegen und zu erreichen (So bey Plato Gorg.[ias] – cfr. Aristoteles); ist ein Theil der Philosophie oder Logik und notwendiges Organ der Philosophen.«65 Hier zeigt sich zum einen Schlegels Kritik an der Kantischen Auffassung von Dialektik als Logik des Scheins, zum andern aber auch der sehr differenzierte Bezug auf Kant, der auch in anderen Manuskripten des Jahres 1796 ausgearbeitet ist. Vor dem Hintergrund seiner Kantkritik entwickelt Schlegel den Gedanken, dass ein Absolutes nicht auch erkannt werden müsse. Diese Nichterkennbarkeit des Absoluten bedeutet aber nicht, dass es nicht wahr sei oder die Wahrheit nicht mitgeteilt werden oder nicht über sie geredet werden könne. Durch Reflexion und Dialektik soll gemeinschaftlich die Wahrheit gesucht werden.66 Schlegel geht dabei von einer unmittelbaren Identität aus, welche sich dem Begreifen entzieht. Die Suche nach Wahrheit im Gespräch auch jenseits des Begrifflichen, die Orientierung an der Platonischen Dialektik und die Bezeichnung der Dialektik als Kunst oder Kunstlehre erinnern an Schleiermacher, und auch Schlegel kann als bedeutender Repräsentant der romantischen Dialektik gelten. Dass die Philosophie immer dialektisch sein müsse und ein »notwendiges Organon der Philosophen« sei, sagt Schlegel auch später in seinen Jenaer Vorlesungen zur Transzendentalphilosophie von 1800/1801. Philosophie geht es um Wahrheitsfindung. Hierzu müssen »entgegengesetzte Irrthümer sich neutralisiren«.67 In dieser Betrachtung der Philosophie sind das Empirische und Historische aber nicht ausgeschlossen, sondern konstitutiv mit enthalten. »Was die Materie des Wissens betrifft, muß sich die Philosophie auflösen in Physik und Geschichte. Die Moral pp. kann davon nicht ausgeschlossen werden.«68 In diesem Kontext spricht Schlegel von der Philosophie als Dialektik, durch die der Verstand gemeinschaftlich ausgebildet und der Irrtum widerlegt werden soll. Schlegel orientiert sich hierbei an der sokratischen Methode und fordert: »Auf das Bedürfniß der Entwickelung gründet es sich, daß die reine Philosophie dialektisch sey. Was nicht mehr dialektisch ist, ist nicht mehr reine Philosophie. Es verliert sich in anderes.«69 65  Friedrich Schlegel: Lehrjahre 1796–1806 nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796–1828. Erster Teil mit Einleitung und Kommentar, Bd. 18, hg. von Ernst Behler (Paderborn 1963) 509. 66 Vgl. A. Arndt: Zum Begriff der Dialektik bei Friedrich Schlegel (1796–1801), a. a.O. [Anm. 64] 263. »In diesem eminenten Sinne ist auch die Bestimmung der Dialektik als Mitteilung der Wahrheit zu verstehen: sie ist die Form der Beziehung des vom Absoluten Bedingten oder Endlichen auf das Absolute in dem Endlichen und durch das Endliche selbst.« 67  Friedrich Schlegel: Philosophische Vorlesungen 1800–1807. Zweite Abteilung. Erster Teil mit Einleitung und Kommentar. Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 12, hg. von Ernst Behler et al. (Paderborn 1964) 93. 68  Ebd. 97. 69  Ebd. 103.

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Im Jahre 1808 verändert sich Schlegels Leben und Denken grundlegend, indem er zum Katholizismus konvertiert. So verschiebt sich auch seine Auffassung von Dialektik, wovon verschiedene Äußerungen in Schlegels philosophischen und theologischen Manuskripten zeugen. Dort räumt er etwa eine Selbstvernichtung der Vernunft in absoluter Dialektik ein.70

VIII.  Arthur Schopenhauer Arthur Schopenhauer verfasste zwischen 1822 und 1831 eine Schrift, die unter dem Titel Eristische Dialektik oder Die Kunst Recht zu behalten erschienen ist. Schopenhauer selbst hat diese Schrift nicht veröffentlicht; sie wurde erst 1864 von Julius Frauenstädt im Nachlassband publiziert. Schopenhauer entwickelt eine Kunstlehre, die ein Streitgespräch beschreibt, das mit erlaubten, aber auch unerlaubten Mitteln versucht, Recht zu bekommen. Der von Natur aus rechthaberische Mensch bedient sich des Verfahrens der Dialektik. So stellt Schopenhauer 38 Kunstgriffe auf, die das Streitgespräch bestimmen und die auch jenseits der Wahrheit insofern erfolgreich sein sollen, als dass sie die Zustimmung des anderen erwirken. Diesen Kunstgriffen stellt er einleitende Bemerkungen voran, die Schopenhauers Bezugnahme auf die Topik des Aristoteles, aber auch seine Kritik daran zeigen. Nach Schopenhauer hat jeder Mensch seine »natürliche Dialektik« und seine »natürliche Logik«. »Die Logik beschäftigt sich mit der blossen Form der Sätze, die Dialektik mit ihrem Gehalt oder Materie: daher eben mußte die Betrachtung der Form als des Allgemeinen der des Inhalts als des Besonderen vorhergehen.«71 Somit spricht Schopenhauer das traditionelle und spannungsreiche Verhältnis von Logik und Dialektik an, wobei er die Dialektik als die Kunst zu disputieren beschreibt. Wie der Name der Eristischen Dialektik vorgibt, geht es im Sinne der in der griechischen Mythologie vorkommenden Göttin Eris um einen Streit bzw. die Zwietracht. Sofern ein Gesprächspartner eine These aufstellt, kann diese auf zwei Weisen widerlegt werden. Die eine Weise ist ad rem (zur Sache). Hierbei wird versucht, die Falschheit der Argumente des Gegners aufzuzeigen. Dann gibt es die Möglichkeit ad hominem (zum Menschen) oder ex concessis. Die Folgen der These des Gegners werden – unabhängig von der Wahrheit oder Falschheit – unglaubwürdig gemacht. Diesen Modi entsprechen zwei Wege der Widerlegung: der direkte und der indirekte. Ersterer zeigt, dass die These des Gegners nicht wahr ist, und der zweite richtet sich gegen deren Folgen. Mit diesen Bestimmungen sieht Schopenhauer das »Grundgerüst« oder das »Skelett« der Disputation gegeben und stellt in den 70  Friedrich Schlegel: Philosophische Lehrjahre II 1796–1806. Nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796–1828. Zweite Abteilung. Schriften aus dem Nachlaß, Bd 19, hg. von Ernst Behler et al. (Paderborn 1972) 263, vgl. 270 f. 71  Arthur Schopenhauer: Aus Arthur Schopenhauers handschriftlichen Nachlaß. Abhandlungen, Anmerkungen, Aphorisimen und Fragmente, hg. von Julius Frauenstädt (Leipzig 1864) 7.

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38 Kunstgriffen die verschiedenen Möglichkeiten und Vorgehensweisen der Eris-tischen Dialektik dar, die stets dazu dient, den Gegner im Streitgespräch geschickt und gewitzt zu besiegen. Schließlich rät Schopenhauer im 38. Kunstgriff – in Übereinstimmung mit Aristoteles – dazu, nicht mit jedem zu disputieren, sondern nur mit Menschen, die genug Verstand haben, um nicht durch Absurditäten beschämt zu werden und um nicht durch Machtansprüche statt durch gute Argumente besiegt zu werden. Durch diese Ansprüche ergibt sich, dass es nur sehr wenige Menschen verdienen, mit ihnen in ein Streitgespräch einzutreten. Schopenhauer erwähnt das vorliegende Manuskript 1851 in Parerga und Paralipomena. Dort distanziert er sich aber von diesem polemischen Ansatz.

IX.  Friedrich Adolf Trendelenburg Trotz scharfer Kritik an der Dialektik seiner Vorgänger ist Trendelenburg von Hegel und Schleiermacher beeinflusst und wird als Dialektikkritiker an dieser Stelle betrachtet. Es sind besonders seine Logischen Untersuchungen anzuführen, in denen er auch seine zentrale Kategorie der Bewegung entwickelt und sich zur dialektischen Methode besonders im Hinblick auf Hegel äußert. Die Bewegung ist in Trendelenburgs Logik die Grundlage, aus der die wesentlichen Kategorien hergeleitet werden. In der Bewegung werden Sein und Denken durch Sinnlichkeit und Verstand vermittelt. Um den Begriff der Bewegung weiter zu bestimmen, ist auch eine konkrete Vorstellung von ihm notwendig. Die innere und äußere Bewegung müssen sich dabei entsprechen. Trendelenburg kritisiert Hegel, dass in dessen Denken die empirische Wirklichkeit lediglich als Begriff vorkomme und dass das Absolute nur durch den Begriff erfasst werden könne. Das menschliche Denken bedarf nach Trendelenburg demgegenüber der Anschauung. Deshalb kritisiert Trendelenburg die durch Begriffe begründete Hegel’sche Dialektik, die vom reinen, voraussetzungslosen Sein ausgeht. Die sich selbst entwickelnde, voraussetzungslose Dialektik muss nach Trendelenburg aufgegeben werden. Begriffe können nicht rein gedacht werden; ihnen liegt immer schon die Anschauung zugrunde. »Die Dialektik hatte zu beweisen, dass das in sich geschlossene Denken die Wirklichkeit ergreife. Aber der Beweis fehlt. Denn allenthalben hat es sich künstlich geöffnet, um von aussen aufzunehmen, was ihm von innen mangelt. Das geschlossene Auge sieht nur Phantasien.«72 Gegen die Dialektik und mit der Dialektik als Vorbild prüft Trendelenburg seine eigenen logischen Kategorien. Die Bewegung, die Denken und Sein aufeinander bezieht, ist bei Trendelenburg letztlich durch ein Wissen gegeben, das durch ein Absolutes begründet wird. Dieses Absolute ist das Prinzip der Erkenntnis bzw.

72 Adolf

1964) 109.

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die Idee Gottes.73 Hier zeigt sich die Nähe zu Schleiermacher, und es lässt sich somit eine Parallele zur romantischen Dialektik ziehen. Auch Trendelenburgs Werk wirkte auf die hermeneutische Philosophie, insbesondere auf Wilhelm Dilthey, der bei Trendelenburg studierte. Zugleich kann Trendelenburg als Vermittler zwischen der Klassischen Deutschen Philosophie und dem Neukantianismus gelten, dessen Thesen er vorbereitete.74

X.  Ludwig Feuerbach Feuerbachs Religionskritik und sein Versuch, die Klassische Deutsche Philosophie durch eine »neue Philosophie«75 zu ersetzen, richtet sich auch gegen die Hegel’sche Dialektik. Die theologische, spekulative Philosophie soll der anthropologischen Philosophie weichen, die Hegel’sche Spekulation durch Empirie ersetzt werden. Dabei entwirft Feuerbach eine eigene Form der Dialektik, die sich auf das anthropologische Fundament seiner neuen Philosophie stützt. »Die Philosophie des Absoluten ist ein Widerspruch«,76 der Widerspruch zwischen Denken und Sein bleibt demnach ungelöst. Die Negativität der Hegel’schen Dialektik vermag nicht darüber hinwegzukommen, dass sie stets im Denken verbleibt. Es gelte dagegen eine Unmittelbarkeit zu bestimmen, die nicht durch die Bewegung des spekulativen Begriffs vermittelt sei. Ist diese neue Unmittelbarkeit negativ als durch die Abwesenheit jeglicher logischer Vermittlung gekennzeichnet, so spricht Feuerbach ihr positiv die Bedeutung zu, das Wahre zu sein. Wahrheit sei nur möglich als »die Verbindung, die Einheit von zwei sich wesensgleichen Wesen. Das höchste und letzte Prinzip der Philosophie ist daher die Einheit des Menschen mit dem Menschen.«77 Der Widerspruch endlicher Bestimmungen ist nicht durch die Bewegung des spekulativen Begriffs im Absoluten zu vermitteln, der formallogische Satz der Identität sei zu wahren. Die Vermittlung entgegengesetzter oder widersprechender Bestimmungen sei im bloßen Denken nicht möglich. Nur vermittelst der Zeit, das heißt in einem historischen Prozess, lassen sich entgegengesetzte Bestimmungen »ohne Widerspruch in einem und demselben Wesen«78 vereinigen. 73  Adolf Trendelenburg: Logische Untersuchungen. Zweiter Band (Nachdruck Hildesheim 1964) 510. 74 Hierzu Klaus Christian Köhnke: Friedrich Adolf Trendelenburgs Mittlerstellung zwischen idealistischer und neukantianischer Epoche. In: ders.: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus (Frankfurt a. M.1993) 23–57. 75  Ludwig Feuerbach: Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie. In: Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. von Werner Schuffenhauer (Berlin 1990) 260. 76  Ebd. 249. 77 Ludwig Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft. In: Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. von Werner Schuffenhauer (Berlin 1990) 340. 78  Ebd. 329.

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Feuerbachs Dialektik ist keine den Widerspruch vermittelnde Dialektik, sondern ein Dialog zweier entgegengesetzter Unmittelbarkeiten, der Dialog von Ich und Du. »Die wahre Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du.«79 Das dialogische Verhältnis von Ich und Du ist weder durch das logische Gesetz der Identität vermittelt noch als Widerspruch sich vernichtend. »Alles ist vermittelt, sagt die Hegelsche Philosophie. Aber wahr ist etwas nur, wenn es nicht mehr ein Vermitteltes, sondern Unmittelbares ist.«80 An die Stelle der Vermittlung setzt Feuerbach eine unvermittelte Unmittelbarkeit, die ihm eine sinnlich gegebene Unmittelbarkeit ist. Die »neue Philosophie«81 ist eine Philosophie des Menschen für den Menschen. Weil der Mensch wesentlich ein sinnliches Wesen ist, bedarf auch die Philosophie der Sinnlichkeit, andernfalls die Philosophie ohne Wahrheit, ohne Realität wäre.82

XI.  Søren Kierkegaard Das philosophische Werk Kierkegaards zeichnet sich dadurch aus, dass Leben und Werk stets ineinander fließen. Im Zentrum steht das endliche Subjekt, das sich gegenüber dem unendlichen Gott befindet. Kierkegaards Form der Dialektik ist als existenziale zu bezeichnen, da es Kierkegaard immer um den existierenden, einzelnen Menschen geht. An Schleiermacher und an Trendelenbug knüpft sich seine Auffassung von Dialektik an. Bezeichnend und bekannt geworden ist seine Kritik an Hegels Dialektik. Kierkegaard wirft Hegel vor, den Menschen in seiner widersprüchlichen Existenz nicht gedacht zu haben. In einer dialektischen Bewegung können die Widersprüche nicht aufgehoben und in einer Einheit vereinigt werden. Für Kierkegaard bedeutet die Dialektik keine Methode des wissenschaftlichen Philosophierens und dient somit auch nicht dem Erlangen eines Wissens oder dem Aufweis der Grenzen der Vernunft, sondern die Dialektik wird zu einem existenziellen Phänomen, durch das ein lebendiger Vollzug des Menschen erfasst werden kann. Insofern stellt Kierkegaards Dialektik eine eigenständige Form des Denkens dar, die nicht in philosophisch-systematischen Arbeiten, sondern zumeist in dichterisch-philosophischen Darstellungen zum Tragen kommt, welche Kierkegaard auch häufig unter einem Pseudonym verfasst. Als Zeugnis seines dialektischen Denkens ist hier besonders Entweder-Oder (1843) zu betrachten, in dem auch die Stadienlehre Kierkegaards entwickelt wird. Bereits der Titel Entweder-Oder zeigt eine Entgegensetzung von zwei Formen der Existenz. Dabei geht Kierkegaard nicht von einem Grundsatz aus, sondern er versucht in einer dialektischen Bewegung den Weg zu einem christlichen Glauben zu vollziehen, von dem er bereits aus79 

Ebd. 339. Ebd. 321. 81  L. Feuerbach: Vorläufige Thesen, a. a.O. [Anm. 75] 260. 82  Ders.: Grundsätze, a. a.O. [Anm. 77] 135. 80 

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gegangen war. Diese paradoxe Wendung zeigt sich im folgenden Zitat. »Man muss zwischen der nachfolgenden Dialektik des Entweder-Oder und der hier angedeuteten ewigen unterscheiden. Wenn ich also hier sage, daß ich nicht von meinem Grundsatz ausgehe, so hat dies seinen Gegensatz nicht in einem DavonAusgehen, sondern ist lediglich der negative Ausdruck für meinen Grundsatz, das, wodurch er sich selbst begreift, im Gegensatz zu einem Davon-Ausgehen oder einem Nicht-davon-Ausgehen. Ich gehe nicht von meinem Grundsatz aus; denn ginge ich von ihm aus, würde ich es bereuen, ginge ich nicht von ihm aus, würde ich es auch bereuen.«83 An dieser Stelle wird exemplarisch Kierkegaards paradoxe Argumentation deutlich. Der Mensch tritt in Entweder-Oder zunächst in ein ästhetisches Stadium ein, in dem der Mensch die Kunst genießt und nach seinem sinnlichen Empfinden handelt. Doch diese Lebensart kann leicht in Verzweiflung münden, da sich der Mensch nicht reflektiert und nicht autonom lebt, sondern stets fremdbestimmt und abhängig von Konventionen ist. Das ästhetische Stadium hebt sich also auf. Der dialektische Umschlag in das ethische Stadium ermöglicht dem Menschen Autonomie und Reflexion über sich selbst. Er ist nun bereit, selbständig Verantwortung zu übernehmen. Der Mensch handelt konkret und verantwortungsvoll. Doch auch dieses Stadium hebt sich auf, da der Mensch erkennt, dass es eine höhere Macht gibt, die Ursache seiner Freiheit ist. Erst durch den Sprung in den Glauben wird die Wahrheit und somit die höchste Stufe der dialektischen Entwicklung erreicht. Hier erkennt der Mensch seine Existenz vor Gott, der nicht durch den menschlichen Verstand erkannt werden kann. In seiner Schrift Die Krankheit zum Tode (1849) entwickelt Kierkegaard ebenfalls eine existenziale Dialektik. Der Mensch verzweifelt an den Widersprüchen von Endlichkeit und Unendlichkeit, Notwendigkeit und Freiheit sowie Zeit und Ewigkeit. Auch hier bleibt schließlich nur der Sprung in den christlichen Glauben. Damit ist Kierkegaard neben Schleiermacher, Trendelenburg und in gewisser Weise auch Schelling ein Vertreter der Dialektik, die als romantische bezeichnet werden könnte und stets an die Instanz Gottes gebunden ist, der letztlich nicht mit den Mitteln des Denkens erfasst werden kann.

XII.  Karl Marx Marx’ Verständnis der Dialektik bleibt, aller umfänglichen Marx-Forschung zum Trotz, mehrdeutig. Das liegt zum einen daran, dass Marx seine Ankündigung,84 »in 2 oder 3 Druckbogen das Rationelle an der Methode, die Hegel entdeckt, aber zugleich mystifiziert hat, dem gemeinen Menschenverstand zugänglich zu 83  Søren Kierkegaard: Entweder-Oder.Teil I und II, hg. von Hermann Diem, Walter Rest et al. (München 1988) 50. 84  Vgl. auch Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. In: Karl Marx / Friedrich Engels Werke [im Folgenden: MEW], Bd. 23 (Berlin 181993) 547.

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machen«,85 nie realisiert hat. Marx’ Programm einer Dialektik blieb stets eine Ankündigung zukünftiger Arbeit. Zum anderen geben die von Marx vorliegenden Äußerungen zur Dialektik Anlass zu unterschiedlichen Interpretationen. Allein schon Marx’ Verhältnis zur Hegel’schen Dialektik ist interpretationsbedürftig. Einerseits spricht Marx davon, dass seine Dialektik sich gänzlich von der Hegel’schen abhebe, andererseits scheint die Hegel’sche Dialektik ihm »als das letzte Wort aller Philosophie«86 zu gelten, so dass sie in kritischer, entmystifizierter Form als Methode der Wahl einzelwissenschaftlich verwendet werden könne, ohne einer weiteren eingehenden Begründung zu bedürfen.87 Die Rekonstruktion des Marx’schen Dialektikbegriffs gestaltet sich überaus schwierig, so dass sich von einer etablierten philologisch kritischen Rekonstruktion kaum sprechen lässt.88 In den Jahren 1843–1846/47 entwickelt Marx in der Kritik der Hegel’schen Philosophie ein materialistisches Dialektikverständnis, das der »Logik der Sache« ein der Sphäre der Logik gegenüber selbständiges Moment behauptet.89 Mit Feuerbach stimmt Marx in der Kritik des Hegel’schen Idealismus überein. Anders als Feuerbach stellt er dem logischen Vermittlungsprozess jedoch keine unvermittelte Unmittelbarkeit gegenüber. Marx’ Differenz ist in der Konzeption des Widerspruchs und seiner Vermittlung zu suchen. Im Manuskript Zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts (1843) kritisiert Marx die »Absurdität der Vermittelung«90 durch die Mitte des Schlusses, die zugleich Extrem sein soll. »Wirkliche Extreme können nicht miteinander vermittelt werden, eben weil sie wirkliche Extreme sind. Aber sie bedürfen auch keiner Vermittelung, denn sie sind entgegengesetzten Wesens.«91 Das Begreifen der Widersprüche bestehe nicht darin, »die Bestimmungen des logischen Begriffs überall wiederzuerkennen, sondern die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes zu fassen«.92 Es geht ihm um die Erfassung realer Widersprüche, um Unterschiede der Existenz wie z. B. »Pol und Nichtpol, menschliches und unmenschliches Geschlecht«,93 nicht aber um Unterschiede des Wesens wie Nord- und Südpol oder weibliches und männliches Geschlecht eines menschlichen Wesens. Marx geht es nicht um formale, sondern um reale Widersprüche, die er in der Kritik der politischen Ökonomie am Austauschprozess der Waren darstellt. In dieser Darstellung wird die Dialektik zur Methode der Kritik der politischen 85 

MEW 29, 260. Ebd. 561. 87  Vgl. Andreas Arndt: Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie (Berlin ²2012) 259. 88  Vgl. ebd., 216 und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: Zur Rekonstruktion der materialistischen Dialektik. In: Gesellschaft, Bd. 11 (Frankfurt a. M. 1978) 118–181. 89  MEW 18, 216. 90  MEW 1, 292. 91 Ebd. 92  MEW 1, 296. 93  Ebd. 293. 86 

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Ökonomie. Den im Wesen der Ware liegenden Widerspruch94 führt Marx in der ersten Auflage des Kapitals auf die »unmittelbare Einheit von Gebrauchswert und Tauschwert, also zweier Entgegengesetzten«95 zurück. Die Ware »ist daher ein unmittelbarer Widerspruch«.96 Die Auflösung des Widerspruchs soll weder über die bloße Negation der einen Seite des Gegensatzes noch über die Vermittlung im Absoluten erfolgen. »Man sah, daß der Austauschprozeß der Waren widersprechende und einander ausschließende Beziehungen einschließt. Die Entwicklung der Ware hebt diese Widersprüche nicht auf, schafft aber die Form, worin sie sich bewegen können. Dies ist überhaupt die Methode, wodurch sich wirkliche Widersprüche lösen. Es ist z. B. ein Widerspruch, daß ein Körper beständig in einen andern fällt und ebenso beständig von ihm wegflieht. Die Ellipse ist eine der Bewegungsformen, worin dieser Widerspruch sich ebenso verwirklicht als löst.«97 Die Lösung des Widerspruchs ist keine Aufhebung im Hegel’schen Sinn, vielmehr fällt die Lösung in den Prozess der Bewegung. Die Lösung realer Widersprüche bleibt dabei gebunden an »die realen Möglichkeiten ihrer Lösung«.98 Das kann in der Form der Krise, des Klassenkampfes, aber auch in der den Widerspruch fortführenden Bewegung erfolgen. In der aktuellen Diskussion wird Marx’ Dialektik vornehmlich im Zusammenhang mit der Rekonstruktion der Werttheorie thematisiert.99

XIII.  Friedrich Engels Engels Konzeption der Dialektik lässt sich vor allem anhand der 1859 erschienenen Rezension Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie sowie der zwischen 1873 und 1886 entstandenen Schriften Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (= Anti-Dühring) und Dialektik der Natur rekonstruieren.100 Die Bedeutung der Dialektik beschränkt Engels nicht auf eine Methode der Ideologiekritik, vielmehr gilt sie ihm als »Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs«,101 »als die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens«.102

 94  Vgl. MEW

26.2, 502. Karl Marx / Friedrich Engels: Gesamtausgabe [im Folgenden: MEGA²] (Berlin 1976 ff.) II.5, 51.  96 Ebd.  97  MEW 23, 118 f.  98  A. Arndt: Karl Marx, a. a.O. [Anm. 87] 233.  99 Vgl. Ingo Elbe: Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965 (Berlin 2008). 100  Zur Rekonstruktionsproblematik vgl. Lothar Kuhlmann: Friedrich Engels. In: Modelle der materialistischen Dialektik, hg. von Heinz Kimmerle (Den Haag 1978) 55–84. 101  MEW 20, 307. 102  Ebd. 132.  95 

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Die »formelle Logik und die Dialektik«103 ist alles, wie Engels im AntiDühring betont, was von der bisherigen Philosophie noch übrigbleibt. Die alles auf den Kopf stellende und den wirklichen Zusammenhang der Welt vollkommen umkehrende Hegel’sche Philosophie ist ihm »eine kolossale Fehlgeburt«, wenn auch »die letzte ihrer Art«.104 Die »Einsicht in die totale Verkehrtheit des bisherigen deutschen Idealismus führte notwendig in den Materialismus«.105 Was für das gesamte Hegel’sche System gilt, gilt auch für die Methode und führt Engels zur materialistischen Dialektik.106 Er betont Marx’ Verdienst, die Hegel’sche Dialektik entmystifiziert und »im Kapital diese Methode auf die Tatsachen einer empirischen Wissenschaft, der politischen Ökonomie, angewandt zu haben«.107 Die Dialektik ist für Engels aber kein »Instrument des bloßen Beweisens«, sondern in Anlehnung an die induktive Logik eine »Methode zur Auffindung neuer Resultate, zum Fortschreiten vom Bekannten zum Unbekannten«; sie enthält »den Keim einer umfassenderen Weltanschauung«, die Engels im Anti-Dühring entfaltet.108 Die Gesetze der Dialektik sind keine aus der Bewegung des Begriffs hervorgehenden Denkgesetze, sondern objektive Gesetze, die aus der »Geschichte der Natur wie der menschlichen Gesellschaft« abstrahiert werden.109 In diesem Sinne legt Engels mit der »Dialektik der Natur« kein »Handbuch der Dialektik« vor. Vielmehr geht es ihm um den Nachweis, »daß die dialektischen Gesetze wirkliche Entwicklungsgesetze der Natur, also auch für die theoretische Naturforschung gültig sind«.110 Als die hauptsächlichen Gesetze der Dialektik zählt er auf: 1. »das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt«, 2. »das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze« und 3. »das Gesetz von der Negation der Negation«.111 Auf »den innern Zusammenhang jener Gesetze unter sich«112 geht Engels nicht ein. Die Gültigkeit der dialektischen Gesetze für Natur und Geschichte wird dementsprechend nicht systematisch, sondern anhand einer Interpretation einzelwissenschaftlicher Ergebnisse nachzuweisen gesucht.113 Entscheidend ist, dass die Gesetze der Dialektik aus Natur und Geschichte abstrahiert werden und nicht umgekehrt diesen aufoktroyiert werden. Die Natur diene gleichsam als »die Probe auf die Dialektik«.114

103 

Ebd. 24. Ebd. 23. 105  Ebd. 24. 106  Vgl. ebd. 335. 107 Ebd. 108  Ebd. 125. 109  Ebd. 348. 110  MEGA², 356. 111  MEW 20, 348. 112  Ebd. 349. 113  Vgl. A. Arndt: Dialektik und Reflexion. a. a.O. [Anm. 50] 256. 114  MEW 20, 22. 104 

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XIV. Ausblick Während im Neukantianismus die Dialektik über die Rezeption der Platonischen Philosophie bei Paul Natorp und Nicolai Hartmann eine gewisse Bedeutung erlangt, beziehen sich Wladimir Iljitsch Lenin, Georg Lukács und Josef W. Stalin hauptsächlich auf die Dialektikkonzeptionen von Marx und Engels. Im 20. Jahrhundert findet die Dialektik vor allem durch die Frankfurter Schule, in Frankreich u. a. durch Maurice Merleau-Ponty und Jean-Paul Sartre und in Italien u. a. durch die Rezeption von Antonio Rosmini, durch Benedetto Croce und Antonio Gramsci weitreichende Beachtung.

Ernst Müller

Energie

›Energie‹ beschreibt in der Physik die Fähigkeit, Arbeit zu verrichten. Doch nicht der Begriff der Energie selbst löst Mitte des 19. Jahrhunderts eine epistemische Revolution aus, sondern das mit ihm entdeckte Gesetz der ›Erhaltung der Energie‹. In allgemeiner Formulierung besagt es, dass in einem geschlossenen System die Summe der zugeführten Energie gleich der Summe der abgegebenen Energie ist (1. Hauptsatz der Thermodynamik). Damit gilt zugleich das perpetuum mobile als theoretisch widerlegt: Keine Maschine kann mehr Energie erzeugen, als ihr zugeführt worden ist. Eine noch stärkere kulturelle oder weltanschauliche Bedeutung gewinnt der 2. Hauptsatz: Nicht alle Energieformen können beliebig ineinander überführt werden. In einem geschlossenen System verwandelt sich letztlich alle Energie in nicht mehr arbeitsfähige Wärme (Entropie). Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts wird ›Energie‹ zu einem physikalischen Begriff. Zugleich werden mit ihm die einzelnen Gebiete der Physik miteinander theoretisch verbunden und eine Reihe von Wissenschaften physikalischen Methoden unterworfen bzw. überhaupt erst als Wissenschaften etabliert. Mit dem Energieerhaltungssatz als oberstem Gesetz der Naturwissenschaft wird die Physik zur Leitwissenschaft. Im Energiebegriff koinzidiert ingenieurstechnisches, physiologisches, chemisches, physikalisches und ökonomisches Wissen der Zeit. Wenn der Begriff seit dem 19. Jahrhundert Anlass zu zahlreichen weltanschaulichen Reflexionen bot, dann nicht zuletzt deshalb, weil die ›Entdeckung‹ dieser Tatsache selbst auf das Engste den ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen des aufsteigenden Industriekapitalismus korrespondierte; eine konsequente Trennung von ›Sachgeschichte‹ und kultureller Semantik lässt sich daher kaum aufrechterhalten. Die Entstehung des Begriffs ist ohne die Ökonomisierung des Menschen, die Rationalisierung der Arbeit sowie die Entwicklung effizienter Maschinen und ihrer Antriebe kaum denkbar. Weil verschiedene Disziplinen und Praktiken an der Genese beteiligt sind, aber auch, weil Wort, Begriff und Terminus eine ungleichzeitige Entwicklung aufweisen, lassen sich die mit dem Energiebegriff verbundenen semantischen Umbrüche nur interdisziplinär und unter Einbeziehung eines breiteren Wortfelds (Umwandlung, Lebenskraft, Wärme, Kraft, Arbeit, Entropie, Wärmetod, Dispersion etc.) beschreiben. Die Verquickung von weltanschaulichem Bedürfnis und wissenschaftlicher Evidenz lässt ›Energie‹, vergleichbar nur solchen naturwissenschaftlichen Begriffen wie Zelle und Evolution, zu einem Schlüsselbegriff des 19. Jahrhunderts werden. ›Energie‹ ist Beispiel dafür, dass naturwissenschaftliche Begriffe an die Stelle universalistisch-philosophischer treten. Natürlich liegen auch diesen Begriffen philosophisch-theoretische Annahmen zugrunde, aber legitimiert werden Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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sie empirisch-experimentell und mathematisch. Der Energiebegriff ist nicht nur Ausdruck dieses diskursiven Wandels, sondern zugleich wesentliches Moment seiner Etablierung. Die Situierung des Begriffs in einem weiten Netz von Bedingungen kann vielleicht erklären, warum der Begriff nahezu gleichzeitig und unabhängig voneinander entdeckt wurde (v.a. von Julius Robert Mayer, James Prescott Joule und Hermann von Helmholtz). Thomas Kuhn, der im Satz der Energieerhaltung das eindrucksvollste Beispiel einer gleichzeitigen Entdeckung sieht, benennt zwischen 1842 und 1847 zwölf Forscher, die wesentliche Momente des Begriffs gefunden haben.1 Die Geschichte des Energiebegriffs ist bereits Teil des Energiediskurses um 1900: Im (nationalistisch gefärbten) Streit um die Priorität seiner Entdeckung rekonstruierten schon zeitgenössisch die Protagonisten dessen Geschichte, bedeutende Physiker (von Helmholtz über Wilhelm Ostwald bis Werner Heisenberg, Heinrich Hertz und Max Planck) vergewisserten sich der Bedeutung des Satzes über seine Genese. Seit Ernst Mach ist das Äquivalenzgesetz auch ein Paradigma, an dem Wissenschaftshistoriker ihre Methoden erproben. 2 Während (durchaus instruktive) lexikalische Begriffsgeschichten den Begriff eher ressortmäßig untersuchten,3 haben erst jüngere Arbeiten Verbindungen zwischen den naturwissenschaftlich-technischen und kulturell-gesellschaftlichen Aspekten des Begriffes, zwischen den Begriffen der Energie und der Arbeit offengelegt.4

1 

Thomas S. Kuhn: Die Erhaltung der Energie als Beispiel gleichzeitiger Entdeckung (1959). In: ders.: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, hg. von Lorenz Krüger (Frankfurt a. M. 1978) 125–168. 2  Ernst Mach: Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit (1872). Zweiter unveränderter Abdruck (Leipzig 1909); Th. S. Kuhn: Die Erhaltung der Energie als Beispiel gleichzeitiger Entdeckung, a. a.O. [Anm. 1]; Yehuda Elkana: The Discovery of the Conservation of Energy (Havard University Press 1974). 3  M. Jammer: (Art.) Energie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg von Joachim Ritter. Bd. 2: D-F (Basel 1972) Sp. 494–499. Werner Conze:, (Art.) Arbeit. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von. O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck. Bd. 1 (Stuttgart 1972) 154–215. 4  Vgl. z. B. Stephen G. Brush: The Temperature of History. Phases of Science and Culture in the Nineteenth Century (New York 1978); Crosby Smith: The Science of Energy. A Cultural History of Energy Physics in Victorian Britain (London 1998); From Energy to Information: Representation in Science and Technology, Art and Literature, ed. by Bruce Clarke and Linda Henderson (Stanford 2002); Elizabeth R. Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte der Entropie 1850–1915 (Berlin 2006); Christian Kassung: EntropieGeschichten. Robert Musils ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ im Diskurs der modernen Physik (München 2001).

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I.  Erhaltung und Umwandlung vor dem Energiebegriff Ideengeschichtlich war es vor allem die in verschiedenen Wissenschaften begründete Figur der Erhaltung, die dem Begriff der Energie vorausging: Bereits Descartes hatte die Erhaltung aller in der Welt existierenden mechanischen Kräfte postuliert. Wenn auch Leibniz davon spricht, dann fehlt bei ihm der Aspekt der Umwandlung: Da Körper nicht miteinander kommunizieren, ist das Universum ein System von Körpern, das in sich immer dieselbe Kraft enthält. Das Prinzip der Erhaltung war aber auch seit Antoine Laurent de Lavoisiers Ersetzung der Phlogistontheorie durch das Gesetz der Massenerhaltung prominent. Robert Mayer dachte Lavoisiers Gesetz und seinen Energieerhaltungssatz nur als unterschiedliche Ausdrücke ein und derselben Beziehung von Ursache und Wirkung. Wie es immer wieder Antizipationen der Energieerhaltung gab, so auch die Intuition um die Unmöglichkeit des Perpetuum mobile; die französische Akademie der Wissenschaften entschied schon 1789, keine diesbezüglichen Patente mehr anzunehmen. Auch wenn sich die Protagonisten der Entdeckung des Äquivalenzgesetzes gegen die Naturphilosophie profilierten, so hat die romantische Idee einer einheitlichen, die ganze Natur durchwirkenden Kraft eine anhaltende Faszinationsgeschichte.5 In Über die Weltseele (1798) nimmt Schelling die Welt als Einheit und Widerstreit einer stabilen und unzerstörbaren positiven und negativen Kraft an. Sein Stufenbau vom Niederen zum Höheren (Licht, Magnetismus, Elektrizität, Chemismus, Organismen) erscheint geradezu wie ein Forschungsprogramm für Prozesse der Umwandlung. Luigi Galvanis Aufsehen erregende Froschschenkel-Experimente hatten schon 1791 die ›Lebenskraft‹ mit elektrischen und magnetischen Kräften in Verbindung gebracht, Alessandro Voltas Erfindung der Batterie Zusammenhänge zwischen Elektrizität und chemischer Affinität und Wilhelm Herschels Entdeckung der Infrarot-Strahlung Beziehungen zwischen Licht und Wärme gezeigt. Johann Wilhelm Ritter entdeckte die chemische Wirkung des Lichtes, Hans Christian Oersted die magnetische Wirkung des elektrischen Stromes, Hymphry Davy die Wärme- und Lichterzeugung durch elektrischen Strom, August Seebeck die Verwandlung von Wärme in Elektrizität und schließlich Michael Faraday die Verwandelbarkeit von Magnetismus in Elektrizität (1831). Die romantischen Experimente der Umwandlung der geheimnisvollen Qualitäten zielten nicht auf industrielle Nutzung und waren zeitgenössisch ohne ökonomische Bedeutung. Es waren es vor allem zwei andere Diskurse, in denen – gleichermaßen entgegen der romantischen Naturphilosophie wie abseits der Physik – das Energieerhaltungsgesetz begründet wurde: Die Physiologie und die sich mit ›Wärmemaschinen‹ (Dampfmaschinen, Lokomotiven) beschäftigenden Ingenieur5 Vgl.

Herbert Breger: Die Natur als arbeitende Maschine. Zur Entstehung des Energiebegriffs in der Physik 1840–1850 (Frankfurt a. M. / New York 1982) 104.

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wissenschaften. Beide Felder hängen sachlich eng zusammen. In beiden geht es um Wärme und deren Umwandlung in mechanische Kraft.

II.  Gleichzeitige Entdeckung der Energieerhaltung Sowohl Mayer wie auch Helmholtz fanden das Gesetz nicht in der Physik, sondern über den Umweg der Physiologie. Der schwäbische Oberamtswundrat (und physikalische Autodidakt) Mayer hat selbst seine Beobachtungen als Schiffsarzt als Ausgangspunkt seines Nachdenkens über den Erhaltungssatz benannt. Er stellte im wärmeren Klima den geringen Unterschied in der Farbe des arteriellen und venösen Blutes bei erkrankten Matrosen fest und erklärte ihn durch einen geringeren Sauerstoffverbrauch des Organismus im Stoffumsatz. Wie Mayer war auch Helmholtz lange Jahre Physiologe und Mediziner, genauer Chirurg, bevor er 1871 eine Physikprofessur in Berlin erhielt. Wenn Helmholtz (wie auch Mayer) über Fäulnis und Gärung, den Stoffverbrauch bei Muskelaktionen und physiologische Wärmeerscheinungen arbeitete, so richteten sich ihre Überlegungen gegen die Theorie der Lebenskraft (vis vitalis). Helmholtz gehörte zu denjenigen Schülern Johannes von Müllers, die – mit Emil du Bois Raymond an der Spitze – dagegen einen physikalisch-chemischen Reduktionismus geltend machten. Auch wenn die ›Lebenskraft‹, wie du Bois-Raymond unterstellte, kaum explizit und emphatisch gebraucht wurde, so lag sie doch zeitgenössischen Auffassungen vom Organismus implizit oder als Platzhalterbegriff zugrunde. Das entscheidende ›Denkhindernis‹ auf dem Weg zum Energieerhaltungssatz war aber die Theorie eines unwägbaren materiellen Wärmestoffs, wie sie noch (als ›calorique‹ bezeichnet) von Lavoisier vertreten wurde. Es war nur ein anderer Ausdruck für Mayers Entdeckung von 1842, wenn er als deren »große Wahrheit« hervorhob: »Es gibt keine immateriellen Materien.«6 Für den Begriff der Energie waren drei Erkenntnisse Mayers wesentlich: Erstens erkannte er die Wärmemenge als weitere Kraft neben der kinetischen und potentiellen. Zweitens wies Mayer nach, dass sich Wärme – »[d]iese dritte Kraft, deren Wirkungen unser Jahrhundert mit Bewunderung erblickt« – in andere Energieformen umwandeln lässt.7 Er abstrahierte dabei von der Frage, was bestimmte Energieformen (Wärme) seien oder wie ihre ›Metamorphosen‹ ineinander vor sich gehen und konzentrierte sich auf rein quantitative Fragen. Mittels Versuchen über die Verbrennungsprozesse im menschlichen Körper gelang es Mayer, Lavoisiers ›Kalorien‹ in den quantitativen Wert des mechanischen Wärmeäquivalents aufzulösen (365 kpm = 1 kcal). Nahezu gleichzeitig, aber unabhängig von Mayer hat 1843 Joule, der sich mit der Effizienzsteigerung von Antriebsmaschi6  Robert

Mayer, Die Mechanik der Wärme. In: Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften. Bd. 37 (Reprint der Bde. 37, 180 u 99) (Frankfurt a. M. 2003) 33. 7  Ebd., 14.

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nen beschäftigte, das Wärmeäquivalent methodisch präziser berechnen können. Aus der Erzeugbarkeit der Wärme durch mechanische Bewegung folgerte Joule, dass Wärme selber mechanische Bewegung sein müsse. Drittens stellte Mayer die These auf, dass die Summe aller Energieformen in einem abgeschlossenen System konstant sei. Mayer hat sein neues Gesetz auf weitere, insbesondere physiologische Prozesse bezogen (Arbeitsleistung der Muskeln, Fieber, Atmung etc.) und die Vorstellung entwickelt, dass der lebendige Körper eine Art Maschine sei, die die chemische Energie der Nahrungsmittel in eine äquivalente Menge von mechanischer Energie und Wärme umwandle. Damit wurden Unterschiede in der Funktionsweise menschlicher und tierischer Körper verworfen. In der physikalischen Gemeinde blieb Mayer die wissenschaftliche Anerkennung wegen seiner zum Teil philosophisch-deduktiv dargelegten Entdeckung zunächst versagt. Helmholtz gilt in der Wissenschaftsgeschichte als derjenige, der 1847 als erster das »Princip von der Erhaltung der Kraft« mathematisch analysierte und seine Funktion in der Physik begründete: »Es ist also stets die Summe der vorhandenen lebendigen und Spannkräfte constant«8 – wobei der ›lebendigen Kraft‹ (nach dem auf Leibniz zurückgehenden Begriff der vis viva) die kinetische Energie und der ›Spannkraft‹ die potenzielle Energie entsprach. Daraus folge, »dass die Summe der wirkungsfähigen Kraftmengen im Naturganzen bei allen Veränderungen in der Natur ewig und unverändert dieselbe bleibt. Alle Veränderung in der Natur besteht darin, dass die Arbeitskraft ihre Form und ihren Ort wechselt, ohne dass ihre Quantität verändert wird. Das Weltall besitzt ein für alle Mal einen Schatz von Arbeitskraft, der durch keinen Wechsel der Erscheinungen verändert, vermehrt oder vermindert werden kann und der alle in ihm vorgehende Veränderung unterhält.«9

III.  Mechanische Arbeit und kapitalistische Ökonomie Für Helmholtz war der Begriff der ›mechanischen Arbeit‹ ein zentraler Baustein für seine Theorie der Energieerhaltung: »[A]lle Naturkräfte werden auf das Kraftmaß reduziert, in dem die Tätigkeit von Maschinen gemessen wird: Den Begriff der mechanischen Arbeit.«10 Helmholtz setzt die ›Quantität der Kraft‹ mit dem populäreren Begriff der ›Größe der Arbeit‹ gleich. Vor dem Hintergrund der industriellen Revolution wird in einem grundlegenden Wandel der Metapher damit die Natur nicht mehr als Uhr, sondern als arbeitende Maschine

 8  Hermann von Helmholtz: Über die Erhaltung der Kraft (1847). In: Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften. Bd. 1 (Frankfurt a. M. 2011) 5–62, hier 16.  9 Ders.: Ueber die Erhaltung der Kraft. Bd. 1 (1862/63). In: Vorträge und Reden, Bd. 1 (Braunschweig 51903) 227. 10  Ebd., 228.

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gedacht.11 Der Energiesatz wird Teil eines Weltbildes, in dem sämtliche Kräfte auf mechanische Bewegungen zurückgeführt werden. Während im Englischen die physikalische Arbeit (›work‹) von der ökonomischen (›labour‹) klar unterschieden ist, ermöglichen die gleichlautenden Termini im Deutschen und im Französischen (›travail‹, ›travail d’une force‹) Übertragungen zwischen beiden Begriffen. Den Begriff der ›travail méchanique‹ hatten zunächst französische Polytechniker (Gustave-Gaspard de Coriolis, Jean-Victor Poncelet) Ende der 1820er Jahre von der Berechnung der menschlichen und tierischen (lebendig-organischen) Tätigkeit auf Maschinen übertragen, um den Nutzwert von Dampfmaschinen zu bestimmen. Der Standard der neuen Größe bezog sich auf das vertikale Anheben von Körpern (Kilogrammmeter, Watt, Pferdestärke).12 Wie sehr hier physikalische und soziale Gesichtspunkte ineinander spielen, zeigt die Aussage: »Den unproduktiven Druck haben wir umsonst, die Kraft aber oder das sogenannte Kilogrammeter kostet immer Geld.«13 Der Arbeitsbegriff konstituierte sich an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine. ›Travail méchanique‹ war zunächst eine ökonomische Größe, wobei umgekehrt ›Arbeit‹, in der ursprünglichen Bedeutung von Mühsal, erst nach der Mitte des 18. Jahrhunderts ein ökonomischer Begriff geworden war. Bestimmungen des menschlichen Arbeitsbegriffs wurden umgekehrt auf Maschinen übertragen. Kannten bis dahin nur Menschen ›Ermüdung‹ durch Arbeit, so prägt Poncelet 1839 das Wort ›Materialermüdung‹ und verglich sie mit dem Erschlaffen menschlicher Muskeln. Indem Helmholtz den Arbeitsbegriff in die Physik aufnahm, bildete er zugleich eine Kategorie, die sich schon von ihrer sprachlichen Genese her auf soziale Verhältnisse zurückbeziehen ließ. Wie stark die Aufstellung des Energieerhaltungssatzes mit dem emporstrebenden Kapitalismus zusammenhängt, lassen die ubiquitären Vergleiche zwischen ihm und den Begriffen des Tausches, der Wertbildung und insbesondere der Arbeit erkennen. Wie die Sätze der Thermodynamik den Bedürfnissen des Industriekapitalismus entsprangen, so haben sie umgekehrt auf die Kategorien des sozialwissenschaftlichen Denkens zurückgewirkt: »Die Thermodynamik veränderte den Arbeitsbegriff ganz entscheidend, indem sie ihn entsprechend den Grundsätzen von der neuen Industrietechnologie der Dampfkraft modernisierte und zugleich in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Physik naturalisierte.«14

11  Vgl. Breger: Die

Natur als arbeitende Maschine, a. a.O. [Anm. 5] 155. Rabinbach: Ermüdung, Energie und menschlicher Motor. In: Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Philipp Sarasin und Jakob Tanner (Frankfurt a. M. 1998) 286–312. 13  Robert Mayer: Kleinere Schriften und Briefe, nebst Mittheilungen aus seinem Leben, hg. von Jacob J. Weyrauch (Stuttgart 1883) 419. Vgl. Philipp Felsch: Nach oben. Zur Topologie von Arbeit und Ermüdung im 19. Jahrhundert. In: Zeichen der Kraft. Wissensformationen 1800– 1900, hg. von Thomas Brandstetter; Christof Windgätter (Berlin 2008) 141–169. 14  Maria Osietzky: Körpermaschinen und Dampfmaschinen. Vom Wandel der Physiologie und Körpers unter dem Einfluß von Industrialisierung und Thermodynamik. In: Physiologie 12  Anson

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Schon Lavoisier war im Zuge seiner Untersuchungen zum Sauerstoffverbrauch auf einen abstrakten Begriff von Arbeit gestoßen: »Wir können z. B. bestimmen, welches Gewicht gehoben werden muß, um der Arbeit zu entsprechen, die ein Mann, der eine Rede hält, oder ein Musiker, der ein Instrument spielt, leistet. Wir können sogar den mechanischen Aufwand in der Arbeit eines Philosophen, wenn er nachdenkt, eines Literaten, wenn er schreibt, und eines Musikers, wenn er komponiert, berechnen.« »Es hat deshalb seinen guten Grund, daß die französische Sprache unter der gemeinsamen Definition von ›travail‹ die Anstrengungen des Geistes mit den denen des Körpers vereinigt, die ›travail‹ der Geistestätigkeit und die ›travail‹ des gedungenen Dieners.«15 Während Helmholtz in seiner Abhandlung Über die Erhaltung der Kraft von 1847 weitgehend innerphysikalisch argumentiert, entwickeln die gleichnamigen Vorlesungen von 1862/63 das Problem aus praktischer, insbesondere ökonomischer Perspektive. Helmholtz bezieht die mit dem Energiesatz verbundene Widerlegung des ›perpetuum mobile‹ auf den Wertbildungsprozess, der nur durch Maschinen geleistet werde, denen Energie zugeführt wird. »Arbeit ist Geld.«16 Sie wird auf ihre rein physisch-mechanische Funktion reduziert. Helmholtz verdeutlicht selbst, wie die physikalischen Kategorien auf gesellschaftlich erzeugten Abstraktionen beruhen. »Sowohl der Arm des Grobschmieds, der schwere Schläge mit dem mächtigen Hammer führt, wie der des Violinspielers, der die leisesten Abänderungen des Klanges zu unterhalten weiss, und die Hand der Stickerin, welche mit Fäden, die an der Grenze des Sichtbaren liegen, ihr feines Werk ausführt: sie alle empfangen die Kraft, welche sie bewegt, auf die gleiche Weise und durch dieselben Organe, nämlich durch die im Arm gelegenen Muskeln.«17 Antriebsorgane (auch Triebkraft), so die Analogie zwischen Mensch und Maschine, sind die Muskeln mit ihrer Ermüdungs- oder Erschöpfungs­ fähigkeit. Auch Marx Arbeits- und Wertbegriff weist Analogien zum allgemeinen Energiebegriff auf, insofern auch er eine Arbeit unterstellt, die von qualitativen oder konkreten Formen abstrahiert. »Es war ein ungeheurer Fortschritt von Adam Smith, jede Bestimmtheit der Reichtum zeugenden Tätigkeit fortzuwerfen – Arbeit schlechthin, weder Manufaktur, noch kommerzielle, noch Agrikulturarbeit, aber sowohl die eine wie die andre. […] Die Gleichgültigkeit gegen die bestimmte Arbeit entspricht einer Gesellschaftsform, worin die Individuen mit Leichtigkeit aus einer Arbeit in die andre übergehen und die bestimmte Art der Arbeit ihnen zufällig, daher gleichgültig ist. Die Arbeit ist hier nicht nur in der und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Philipp Sarasin und Jakob Tanner (Frankfurt a. M. 1998) 313–346. 15  Lavoisier, Mémoire, zit. nach Ruth Moore: Die Lebensspirale (Stuttgart 1967) 26 f. 16  H. von Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte und die darauf bezüglichen neuesten Ermittelungen der Physik (1854). In: Vorträge und Reden, a. a.O. [Anm. 9] 48–83, hier 53. 17  Ders.: Über die Erhaltung der Kraft, a. a.O. [Anm. 9] 192 f.

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Kategorie, sondern in der Wirklichkeit als Mittel zum Schaffen des Reichtums überhaupt geworden und hat aufgehört, als Bestimmung mit den Individuen in einer Besonderheit verwachsen zu sein. […] Hier also wird die Abstraktion der Kategorie ›Arbeit‹, ›Arbeit überhaupt‹, Arbeit sans phrase, der Ausgangspunkt der modernen Ökonomie, erst praktisch wahr.«18 Wenn Marx von ›menschlicher Arbeit‹ spricht, dann meint auch er gewöhnlich maschinelle Arbeit und unterscheidet davon die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft. Marx übernimmt die physikalische Quantifizierung des Arbeitsbegriffs (und zitiert einen englischen Popularisator des Energiebegriffs, William Robert Grove).19 Er gibt ihr aber zugleich einen anderen Rahmen, indem er sie der gesellschaftlichen Formbestimmtheit (nämlich der kapitalistischen Produktion des Mehrwerts) zuordnet. Nach Philip Mirowski, amerikanischer Ökonom und Wissenschaftshistoriker, der nachzuweisen versucht, dass alle bis heute wirksamen Grundbegriffe der Volkswirtschaftslehre sich der Übersetzung von Grundbegriffen der Physik und der Maschinentheorie des 19. Jahrhunderts verdankten,20 bewegt sich Marx Wertbegriff in einem Widerspruch: Einerseits vertrete er eine Erhaltungstheorie des Wertes und kann damit die historische Genese, bzw. das Wachstum des Wertes erklären; zugleich hat er eine Theorie der Produktionskosten, die mit späteren Entwicklungen in der Physik zusammenhing, und die auf jede Substanz des Wertes verzichtet. Damit könne er wiederum die Genese des Wertes nicht mehr aufzeigen. Der Energiebegriff wirkte über die im gleichen Zuge entstehende Arbeitsphysiologie auf die Messung und Optimierung der menschlichen Arbeitskraft zurück. Bereits Du Bois-Reymond machte den Energieerhaltungssatz zur Grundlage einer exakt messenden Physiologie. In den 1890er Jahren wies der Physiologe und Hygieniker Max Rubner die Gültigkeit des Erhaltungssatzes für Lebewesen nach.21 Er betrachtete nicht mehr nur Teilsysteme des Organismus, sondern die Umwandlungsprozesse des Gesamtorganismus. Rubner leitet einen Paradigmenwechsel in der Physiologie ein, die er vom Stoffwechsel auf eine energetische Basis umstellt. Die Kraftumwandlung habe nicht die chemischen Qualitäten der Ernährungsstoffe zu untersuchen, sondern ihre chemische Energie. Die Energie der Nahrungsmittel drückte Rubner als kalorischen Wert aus.

18 

Marx, Karl: Kritik der politischen Ökonomie. Einleitung. In: Marx Engels Werke [im Folgenden: MEW] Bd. 13 (Berlin 1956 bis 1990), 634 f. 19  Ders.: Das Kapital. In: MEW, Bd. 23, a. a.O. [Anm. 18] 549. 20  Philip Mirowski: More Heat than Light. Economics as Social Physics, Physics as Nature’s Economics (Cambridge University Press 1989); Vgl. ders.: Machine Dreams: Economics becomes a Cyborg Science (2002). 21  Max Rubner: Die Quelle der thierischen Wärme. In: Zeitschrift für Biologie 30 (1894), 73–142; vgl. Anson Rabinbach: Ermüdung, Energie und menschlicher Motor, a. a.O. [Anm. 12].

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IV.  ›Energeia‹ und ›Energie‹ als Terminus im 19. Jahrhundert Der neue Terminus ›Energie‹ setzt sich, angeregt von englischen Physikern erst in den 1850er Jahren durch. »Für das unzerstörbare Etwas, als dessen Maß die mechanische Arbeit gilt, ist allmählich der Name Energie in Gebrauch gekommen.«22 William Thomson (später Lord Kelvin) schlug 1851 vor, ›mechanical work‹ durch ›mechanical energy‹ zu ersetzen, William Rankine brachte den Terminus in On the general Law of the transformations of energy (1853) zur allgemeinen Verbreitung. ›Energie‹ präzisierte den Begriff der Kraft, der bis dahin im Sinne Newtons sowohl für die zeitliche Änderung des Impulses wie zur Bezeichnung von Wärme und Energie in den unterschiedlichsten Formen genutzt wurde. ›Energie‹, bereits im frühen 18. Jahrhundert dem französischen ›énergie‹ entlehnt, existierte schon zuvor als Fachterminus. Die Verwendung geht auf die Aristotelische Philosophie zurück, in der ›énergeia‹ zwei Bedeutungen hatte: a) Verwirklichung oder Betätigung eines Vermögens (vs. ›dynamis‹ als bloßes Vermögen, lat. ›potentia‹, ›vis‹); b) als vollendete Tätigkeit (z. B. Glücklichsein), die vom Prozess (›kinesis‹) unterschieden ist.23 In diesem Sinne findet sich ›Energeia‹ schon in Galileis Physik. Alltagssprachlich wird Energie zur Kennzeichnung der Stärke und Kraft, vor allem als menschliche Eigenschaft oder als Vermögen (Wille, Charakter, Gefühl etc.) verwendet. Bei Zedler heißt ›Energeia‹ »Würckung oder Nachdruck, Kraft eines Dinges, sonderlich derer Lebens=Geister und des Geblüts«.24 In sittlicher Bedeutung ist Energie Willens- oder Tatkraft, d. h. die Fähigkeit, seinen Willen auch mit der Tat kräftig zu beweisen. Diese positive Alltagsbedeutung findet sich als latente Konnotation auch in weltanschaulichen Debatten um den physikalischen Energiebegriff. Der wird allerdings in Lexika lange unter den Einträgen ›Kraft‹ oder ›Erhaltung der Energie‹ verhandelt.25 Neben der kontinuierlichen Alltagsbedeutung und vor der Festschreibung als physikalischem Terminus waren ›Energeia‹ und ›Energie‹ zeitgenössisch in der deutschen Sprache schon in anderen disziplinären Kontexten terminologisiert worden. Im 18. Jahrhundert war ›Energie‹ bei Herder und Sulzer ein ästhetischer Grundbegriff. Sulzer versteht unter Energie eine »vorzügliche Kraft, nicht nur der Rede, sondern in allen anderen Dingen, die zum Geschmacke gehören«.26 Sie komme Sachen und Wörtern zu, insofern sie durch lebhafte Schilderung Bewegung und Rührung in der Seele hervorrufen. Prominenter war Wilhelm v. 22 

E. Mach: Über das Prinzip der Erhaltung der Energie, a. a.O. [Anm. 2] 168. (Art.) dynamis, energeia und kinesis in: Wörterbuch der antiken Philosophie, hg. von Christoph Horn und Christof Rapp (München 2002). 24  Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicons Aller Wissenschafften und Künste. Bd. 8 (Halle und Leipzig 1731–1754) 620. 25  Vgl. z. B. Energie. In: Meyers Konversations-Lexikon. Bd. 5 (41885–1892) 620. 26  Johann Georg Sulzer: Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste (1765). In: ders.: Vermischte philosophische Schriften. Bd. 1 (Leipzig 1773) 122–145, hier 122. 23 

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Humboldts sprachtheoretische Verwendung von ›Energeia‹ und ›Ergon‹ (griech. ›εργον‹: ›statisches Gebilde‹) als die beiden Pole der Bestimmung der menschlichen Sprache. Entsprechend der Aristotelischen Tradition bestimmt er die Sprache als ›Energeia‹, als eine wirkende, »sich ewig erzeugend« und verändernde dynamische Kraft. Die Sprache ist Tätigkeit (›Energeia‹), kein Werk (›Ergon‹).27 ›Energia‹ zeige sich in der menschlichen Rede und darin, den artikulierten Laut zum Ausdruck eines Gedankens zu machen. 1826 hatte Johannes von Müller als »Grundgedanken« der Physiologie formuliert, dass »die Energien des Lichten, des Dunkeln, des Farbigen, nicht den äußern Dingen, den Ursachen der Erregung, sondern der Sehsinnsubstanz selbst immanent sind, daß die Sehsinnsubstanz nicht afficirt werden könne, ohne in ihren eingebornen Energien des Lichten, Dunkeln, Farbigen thätig zu seyn«.28 Das ›Gesetz der spezifischen Energie der Sinnesorgane‹, mit dem Müller eine – jeder Nervenart innewohnende und physikalisch nicht beschreibbare – Energie unterstellt, wurde später zwar nicht selten energetisch im modernen, physikalischen Sinn verstanden, ist aber noch ganz aristotelisch gedacht.

V. Entropiebegriff Ausgehend vom Energieerhaltungssatz untersuchte der Physiker Rudolf Clausius 1850 die Fähigkeit der Wärme, sich in Arbeit umzuwandeln.29 Er konnte dabei an die Abhandlung Réflexions sur la puissance motrice du feu et sur les machines propres à développer cette puissance (1824) von Sadi Carnot über Kreislaufprozesse in Wärmemaschinen anknüpfen. Carnot war davon ausgegangen, dass dort, wo ein Temperaturunterschied existiert, bewegte Kraft erzeugt werden kann, da Wärme stets bestrebt ist, von einem heißen in einen kalten Zustand überzugehen. Und er hatte bereits beobachtet, dass Wärme in Dampfmaschinen nicht vollständig in mechanische Arbeit wandelbar ist. Clausius (und Rankine) reflektierten diesen Befund im Rahmen der Energieerhaltung und formulierten ihn in der von ihnen begründeten Thermodynamik als 2. Hauptsatz: Wärme kann nicht ohne sonstige Veränderungen von einem kalten auf einen wärmeren Körper übergehen. Damit war zugleich das ›Perpetuum mobile zweiter Art‹ widerlegt. Es ist unmöglich, im Raum gleich verteilte Wärmeenergie zum Zweck des Antriebs einer Maschine in andere Energie zu verwandeln, ohne hierfür 27  Wilhelm

von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [1830–1835]. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Bd. 3: Schriften zur Sprachphilosophie (Darmstadt 1988) 418. 28  Johannes von Müller: Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinns des Menschen und der Thiere nebst einem Versuch über die Bewegungen der Augen und über den menschlichen Blick (Leipzig 1826) 44. 29  Rudolf Clausius: Über die bewegende Kraft und die Gesetze, welche sich daraus für die Wärmelehre selbst ableiten lassen (1850). In: Ostwalds Klassiker, a. a.O. [Anm. 6].

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zusätzliche Energie aufzuwenden. 1865 nannte Clausius die Zustandsgröße für die Umwandelbarkeit von Wärme und technischer Arbeit in einem an ›Energie‹ angelegten Neologismus ›Entropie‹ (aus entrepein = umwandeln und tropé = Wandlungspotenzial). Die Erkenntnis, dass Energieumwandlungen tendenziell unumkehrbar in eine Zeitrichtung verlaufen, war mit den Modellen der mechanischen Physik kaum vereinbar, die nur reversible Phänomene beobachtet. Durch Einführung der Statistik in die Thermodynamik versuchte in den 1870er Jahren der österreichische Physiker Ludwig Boltzmann, das Reversibilitätsproblem innerhalb der mechanischen Physik zu rekonstruieren. Die Unordnung oder Zerstreuung (Dispersion) der Teilchen in einem System sei nur ihr wahrscheinlichstes Verhalten. Nur wenige naturwissenschaftliche Erkenntnisse oder Theorien haben eine derartige Faszination, aber auch eine solche Menge an Kontroversen hervorgerufen wie der Energieerhaltungs- und der Entropiesatz.30 Als Beispiel für die populäre Zirkulation des Energieerhaltungssatzes im Jahr 1883 kann Wilhelm Busch stehen: »Hier strotzt die Backe voller Saft; Da hängt die Hand, gefüllt mit Kraft. Die Kraft, infolge der Erregung, Verwandelt sich in Schwingbewegung. Zur Backe eilt, wird hier zur Hitze. […] Ohrfeige heißt man diese Handlung, Der Forscher nennt es Kraftverwandlung.«31 Da es sich bei der ›Entropie‹ um eines der komplexesten Konzepte der Physik handelt und die disziplinären Übertragungen immer auch einen semantischen Überschuss erzeugten, war die diskursive Verbreitung des Begriffs gleichsam gesichert. Dennoch entfaltet der schon 1850 formulierte Satz der Entropie seine größte Wirkung auf Philosophie, Literatur und Künste erst zwischen dem Fin des siècle und den 1920er Jahren. Der Energiebegriff steht dabei gleichermaßen für das optimistische Fortschrittsverständnis des 19. Jahrhunderts wie die Entropie für einen beginnenden, sich naturalistisch, nicht gesellschaftlich begründenden Pessimismus. ›Entropie‹ wird zur Projektionsfläche, um generelle Tendenzen der kosmischen Entwicklung unter Einschluss der menschlichen Gesellschaft zu fassen, andererseits aber auch Figuren zu entwickeln, die den Menschen als lebendiges oder geistiges Wesen davon gerade ausnehmen. Die Idee der Entropie konnte nur eine Weltanschauung treffen, die ihre Legitimation aus der Unendlichkeit des Fortschritts zog. Wenn Wärme, die favorisierte Energie des

30 C. Kassung: EntropieGeschichten, a. a.O. [Anm. 4]. 31  Wilhelm

Busch: Balduin Bählamm der verhinderte Dichter. In: ders.: Werke. Historischkritische Gesamtausgabe. Bd. 4 (Hamburg 1959) 42–53, hier 52.

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19. Jahrhunderts, nicht mehr mit Leben, sondern mit dem Tod assoziiert wurde, bedeutete das eine Umkehr der symbolischen Ordnung. In Deutschland wurde die kulturelle Diskussion der Entropie durch Helmholtz’ Aufsatz Über die Wechselwirkung der Naturkräfte und darauf bezüglichen Ermittlungen der Physik (1876) beflügelt. Die Physik soll nun gleichsam die Geschichtsphilosophie ersetzen: »Physikalisch-mechanische Gesetze sind wie Teleskope unseres geistigen Auges; sie dringen in die ferne Nacht der Vergangenheit und Zukunft.«32 Komplementär zur Evolutionstheorie schienen die Naturwissenschaften in der Lage zu sein, einen der bislang spekulativsten Bereiche der Philosophie, nämlich die Geschichtsphilosophie zu ersetzen. Nahezu gleichzeitig mit der Darwin’schen Evolutionstheorie wurde ein Gesetz der Naturentwicklung gefunden, nach dem die Welt sich nicht in immer gleichen Naturgesetzen bewegt, sondern selbst einem einmaligen Prozess unterworfen ist. Ausgehend von den Energieerhaltungssätzen werden von Naturwissenschaftlern umfassende kosmologische Narrationen entworfen, in denen die Menschheitsgeschichte ihren Platz angewiesen bekommt. Während populäre Darstellungen der biologischen Evolution eine Gerichtetheit des Prozesses beschrieben, die mit dem Fortschrittsbegriff koinzidierte, legte der Begriff der Entropie (oder des Wärmetods) Verfall und Ende nahe. Für Boltzmann allerdings ist der »allgemeine Daseinskampf der Lebewesen« ein »Kampf um die Entropie, welche durch den Übergang der Energie von der heißen Sonne zur kalten Erde disponibel wird«.33 Helmholtz prognostiziert in apokalyptischer Metaphorik den »vollständigen Stillstand aller Naturprocesse«: »Auch das Leben von Pflanzen, Thieren und Menschen kann nicht weiter bestehen, wenn die Sonne ihre höhere Temperatur und damit ihr Licht verloren hat und wenn sämmtliche Bestandtheile der Erdoberfläche die chemischen Verbindungen geschlossen haben werden, welche ihre Verwandtschaftskräfte fordern. Kurz das Weltall wird von da an zur ewiger Ruhe verurtheilt sein.«34 Ähnlich beschreibt Clausius 1863 die Folgen der Energiedissipation. Das Weltall nähere sich allmählich dem Zustande, wo die Kräfte keine neuen Bewegungen mehr hervorbringen können und keine Temperaturdifferenzen mehr existierten. Der Grenzzustand des Entropiemaximums sei der Wärmetod der Welt. In Clausius Feststellung, dass Wärme eine geringer wertige Energieform sei, schwingt eine anthropozentrische Wertung mit. Widerstand gegen solche fatalistischen Interpretationen gab es auch in der Physik. Boltzmann vertrat die Ansicht, dass es im Universum neben Teilwelten, die sich dem Entropiemaximum nähern, immer auch Bereiche geben müsse, in denen wahrscheinlichere (ungeordnete) Zustände in unwahrscheinlichere (geordnete) übergehen, so dass 32  W. von

Helmholtz: Ueber die Wechselwirkung, a. a.O. [Anm. 16] 80. Ludwig E. Boltzmann: Der zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie, zit. Nach C. Kassung, EntropieGeschichten, a. a.O. [Anm. 4] 188. 34  W. von Helmholtz: Ueber die Wechselwirkung, a. a.O. [Anm. 16] 67. 33 

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die Lebenserscheinungen, die an das Vorhandensein von Arbeitsfähigkeit geknüpft sind, Folgen statistischer Schwankungen kosmischen Ausmaßes sind. Naturwissenschaftler haben immer wieder Theorien aufgestellt, die darauf hinauslaufen sollen, die Entropie zu »überlisten«. Der Bogen lässt sich von James Clerk Maxwells – schnelle und langsame – Moleküle sortierenden und damit Entropie vermindernden Dämon (1871) bis Erwin Schrödingers Theorie des Lebens als sog. Neg-Entropie (1951) spannen. Außerhalb der Physik mag die Aversion gerade idealismuskritischer und an den Naturwissenschaften orientierter philosophischer Strömungen gegenüber dem Entropiesatz dadurch genährt worden zu sein, dass die implizierte Zeitdimension des Entropiebegriffs von Theologen dankbar aufgenommen wurde. Umgekehrt gehörte es zu den Standardargumenten religionskritischer Strömungen, dass die Welt von Ewigkeit und damit ohne Anfang und Ende sei. Der Entropiesatz wird damit zu einem zentralen Bestandteil der Auseinandersetzung zwischen Materialismus und Theologie.35 So unterschiedliche Theoretiker wie Friedrich Nietzsche, Friedrich Engels oder Ernst Haeckel kamen wohl aus diesem Grund in der Befürwortung des Ersten und in der Ablehnung des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik überein. Nietzsches ›Wiederkehr des Gleichen‹ bezieht sich direkt auf den 1. Hauptsatz der Wärmelehre und scheint gegen den 2. Hauptsatz gerichtet zu sein: »Der Satz vom Bestehen der Energie fordert die ewige Wiederkehr.«36 Friedrich Engels, naturwissenschaftlich belesener Anhänger einer Theorie des Fortschritts, zweifelt an der Wahrheit des Entropie-Theorems: Für ihn ist Entropie wegen des Energieerhaltungssatzes widerspruchslos nur im Rahmen einer Theorie der Kreation von Bewegung, Materie und Welt denkbar.37

VI.  Energetik: Streitsache zwischen Natur- und Kulturwissenschaft In Helmholtz populären Vorträgen diente der Energieerhaltungssatz zur Begründung der sich gerade etablierenden methodischen Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften. Zu einem diskursiven Grundbegriff wurde Energie aber nicht zuletzt deswegen, weil die Grenzen seiner Geltung hochumstritten waren. Insbesondere wird am Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert, inwieweit der Begriff zur Erklärung von Phänomenen jenseits der Natur, nämlich der Kultur und Gesellschaft, geeignet ist.

35  Vgl. z. B. Ludwig Dressel: Der anthropologische Gottesbeweis auf Grund des Entropiesatzes. In: Stimmen aus Maria-Laach 76 (1909) 150–160. 36  Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. In: Kritische Studienausgabe in 15 Bdn, Bd. 12, hg. von G. Colli u. M.. Montinari. (München/New York 1980) 205. 37  Friedrich Engels: Dialektik der Natur. Notizen und Fragmente. In: MEW Bd. 20, a. a.O. [Anm. 18] 545.

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Ein anderer Grenzbereich war die Psychologie. In seinen Elementen der Psychophysik (1860) hatte Fechner den psychophysischen Parallelismus auch energetisch begründet. Er übertrug die potentielle Energie als ›Spannkraft‹ auf das Gebiet der geistigen Tätigkeiten und unterstellte psycho-physiologische Interaktionen mit motorischen Prozessen.38 Das Energieerhaltungsgesetz diente der Begründung des Psychophysischen Parallelismus. Als daher der psychophysische Parallelismus in den 1890er Jahren von Philosophen wie Wilhelm Wundt und Carl Stumpf angegriffen wurde, spielte der Energieerhaltungssatz eine wesent­ liche Rolle.39 Carl Stumpf, der sich für ein Verhältnis der Wechselwirkung also der Kausalität zwischen Physis und Psyche aussprach, ging von der Existenz einer eigenen psychischen Energie aus.40 Dagegen vertrat Freud zunächst das biophysikalische Paradigma seines Lehrers Ernst Brücke. Probleme der Psychologie werden um 1900 energetisch reformuliert. Die ›Kräfte‹ wechseln gleichsam aus der Biologie in die Psychologie, sie werden als Gegenspieler des bewussten Willens zu ›unbewussten Kräften‹ des Seelenlebens. Die Physiologie als Leitdisziplin einer Verbindung von Natur und Gesellschaft wird durch die Psychoanalyse abgelöst. Freud verhandelt die Triebe zunächst im energetischen Modell, die Libido entspricht bei ihm der Lebensenergie. Er nutzte vor 1906 Metaphern der Naturwissenschaft und Technik (Energieerhaltungsprinzip, hydraulische Figuren der klassischen Mechanik, Triebtheorie nach dem Dampfkesselmodell etc.), um das Gebiet der Psychoanalyse wissenschaftlich zu formulieren.41 Konzepte wie die ›Trauerarbeit‹ etc. sind nach energetischen Vorstellungen konzipiert. In Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität fasst Freud die Sublimierung sexueller Energien in kulturelle Ziele entsprechend den Umwandlungsprozessen der Energie. Analog zur Figur der Entropie hebt Freud hervor, dass die Libido aus psychoanalytischer Sicht nicht restlos sublimierbar sei. »Ins Unendliche fortsetzen lässt sich »dieser Verschiebungsprozeß aber sicherlich nicht, so wenig wie die Umsetzung der Wärme in mechanische Arbeit bei unseren Maschinen« ins Unbegrenzte

38  Vgl.

(Art.) Spannung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, a. a.O. [Anm. 3] 1295. 39  Vgl. Mai Wegener: Der psychophysische Parallelismus. In: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 17 (August 2009) 3, 277–316. 40  Stumpf Carl: Eröffnungsrede zum 3. Internationalen Kongress für Psychologie in München 1896. Acten des dritten internationalen Congresses für Psychologie in München 1896. München 3–16; Dazu auch Ludwig Busse: Die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele und das Gesetz der Erhaltung der Energie (1900). In: Philosophische Abhandlungen. Christoph Siegwart zu seinem Sechzigsten Geburtstag gewidmet (Tübingen 1900) 89–125. 41  Vgl. Günter Gödde: Der Kraftbegriff bei Freud. Physiologische und psychologische Verwendungen. In: Zeichen der Kraft (a. a.O. [Anm. 21]), 228–246; Sigmund Freud: Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908). In: Gesammelte Werke. Bd. 7 (Frankfurt a. M. 1999) 141–167; ders.: Entwurf einer Psychologie (1895). In: ebd.: Nachtragsband, 373–486.

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fortzusetzen sei.42 Nach 1906 benutzte Freud andere Bildquellen, wie z. B.­ Mythentheorien. Um Übertragung von Energien zwischen den Menschen in Situationen kollektiver Interaktion geht es um 1900 schließlich auch im Rahmen der entstehenden Massenpsychologie (von Gabriel Tarde über Theodor Geiger und Gustave le Bon bis Elias Canetti). Die Theorie der geschichtsmächtigen Masse hängt um 1900 eng mit dem Energiebegriff zusammen.43 Auffällig ist der Vergleich impulsiver Massenaktionen mit thermodynamischen Vorgängen sowie die Kategorie der ›Auslösung‹ (und katalytischen Wirkung), die Robert Mayer erstmals in Reflexion des Energieerhaltungssatzes als Prinzip der Natur erörterte.44 Eine radikale, zugleich hochumstrittene Ausweitung des Energiebegriffs wurde durch den Chemiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald und durch Georg Ferdinand Helm vorgenommen.45 Ihre als Energetik bezeichnete Lehre sieht die Energie und das Energieerhaltungsprinzip als Grundlage der gesamten Naturwissenschaft an. Auch Stoffe sind nur eine besondere Form der primären Energie. Helm, Mathematiker und Professor sowie Rektor an der Technischen Hochschule Dresden, vertrat die von Ostwald begründete ›Energetik‹ besonders offensiv und öffentlichkeitswirksam. Ostwald und Helm forderten (unter anderem gegen Boltzmann) einen weltanschaulichen Monismus, der den wissenschaftlichen Materialismus mit seiner mechanischen Vorstellung (Teilchen und Bewegung) überwinde. Alle Bereiche des menschlichen und kulturellen Lebens sollten auf ihre energetischen Grundlagen hin untersucht werden. Anknüpfend an den belgischen Chemiker und Soziologen Ernest Solvay (Questians d’énergetique sociale, 1884–1910) verstanden Ostwald und Helm die Energetik auch als wichtigen Beitrag zur Beschreibung und Gestaltung der Gesellschaft. Dem zweiten Hauptsatz stellt Ostwald die »Leitlinie der Kulturentwicklung« entgegen. Unter Einbeziehung der Pädagogik oder Kunst wird eine kulturelle Umwandlung niedriger, d. h. physischer Energien in höhere, d. h. geistige und psychische Formen postuliert. Im Bereich der Ökonomie sei Geld das ökonomische Äquivalent niedriger Entropie.46 In diesen Debatten, deren Texte sich mitunter wie frühe, technik­optimistische ökologische Manifeste lesen, wurden Kategorien wie Energieeinsparung und Energieverschwendung geprägt.

42  Sigmund Freud: Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität. In: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturkritische Schriften (Frankfurt a. M. 1997) 109–132, hier 117. 43  Vgl. Michael Gamper: Masse als Kraft. Energetische Konzepte des Sozialen. In: Gronau, Szenarien der Energie, 28; Joseph Vogl: Masse und Kraft. In: Brandstätter, Windgätter: Zeichen der Kraft (a. a.O. [Anm. 4]) 187–197. 44  Robert Julius Mayer: Über Auslösung. In: Bes. Beilage d. Staatsanzeigers für Würtenberg (1876) no. 7, 104–107. 45 Wilhelm Ostwald: Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft (= Philosophischsoziologische Bücherei, XVI) Leipzig 1909. 46  Georg Ferdinand Helm: Lehre von der Energie (Leipzig 1887).

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Wie weit außerhalb der Physik der Versuch von Ostwald, die Energetik auf Kultur und Gesellschaft auszudehnen, zur Kenntnis genommen wurde, zeigt eine ausführliche, mit wütendem Spott verfasste Rezension von Büchern Ostwalds und Solvey durch Max Weber; die Darlegung zeige, »welche Wechselbälger gezeugt werden, wenn rein naturwissenschaftlich geschulte Technologen die ›Soziologie‹ vergewaltigen«.47 Die Frage, ob Energie materiell sei oder nicht, hatte um 1900 auch eine rechtwissenschaftliche Dimension, insofern die Frage diskutiert wurde, ob sie eine ›Sache‹ sei, die man stehlen kann. Ostwald, der sich um 1900 in Russland einer breiten Rezeption erfreute, hatte mit seinem Energetikbegriff großen Einfluss sowohl auf die künstlerische Avantgarde (Pavel Florenskij, der Symbolist Andrej Belyj) wie auf Visionen der Gotterbauer, die ein marxistisch-religiöses Kollektivbewusstsein propagierten (Maksim Gor’kij). In Debatten avantgardistischer Sprachexperimenten interferierte ein popularisierter physikalischer Energiebegriff mit dem sprachwissenschaftlichen energeia-Begriff Humboldts und der russisch-orthodoxen Lehre einer Gleichsetzung von Gottes Namen und Gottes Energie. Der studierte Mathematiker, Priester und Philosoph Pavel Florenskij stellte sein ›Prinzip der Ektropie‹, als fleisch-gewordenem Wort, der Entropie entgegen und reaktivierte mit dem synérgeia-Konzept der orthodoxen Theologie zugleich eine energetisch-performative Perspektive des Wortes: »Das Wort ist synergetisch: Energie.«48 Ostwalds energetische Theorie, im Sinne von Mach und den Empiriokritizisten (Richard Avenarius) materialismuskritisch interpretiert, bekam in Russland direkte politische Relevanz, weil sie als Kompensationideologie der Niederlage der 1905er Revolution über Alexander Bogdanow (Empiriomonismus) und Antoli Lunartscharski in den Führungszirkel der russischen SDAPR eindrang. Wenn Lenin sich in Materialismus und Empiriokritizismus (1907) mit der Frage auseinandersetzte, ob der Energiebegriff den philosophischen Materialismus widerlege, ging es zugleich um die Frage ideologischer Hegemonie. Der Energiebegriff hat in gesellschaftlichen Debatten bis in die jüngste Gegenwart nichts von seiner Bedeutung als Schlüsselbegriff gesellschaftlicher Debatten verloren. Allerdings ist das Bewusstsein, dass es sich bei ›Energie‹ um eine funktionale Größe handelt, die im strengen Wortsinn weder eingespart noch verschwendet, sondern nur auf unterschiedliche Art vom Menschen genutzt werden kann, einem populären und naturalisierten Begriff gewichen. Manche Debatten schließen an Motive des Fin de siècle an (u. a. Ostwalds präökologisches Plädoyer zur Energienutzung, das apokalyptische Szenarium des Wärmetods u. a.). Das Energieerhaltungsgesetz wird bis heute wohl von keinem Physiker generell in Frage gestellt. Dennoch sind sowohl seine fachwissenschaftliche Bedeu47  Max Weber: Energetische Kulturtheorien. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1909) 400–426, hier 402. 48 Vgl. Tatjana Petzer: Übertragungsphantasien in der russischen Moderne. In: Szenarien der Energie. Zur Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen, hg. von Barbara Gronau (Bielefeld 2013) 45–66, hier 54.

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tung wie seine weltanschauliche Ausstrahlung relativiert. Theorieimmanent, weil der Energieerhaltungssatz nach dem Noether-Theorem (1918) nur der Spezialfall einer umfassenderen physikalischen Symmetrie ist: Etwas ist symmetrisch, wenn man es bestimmten Operationen aussetzen kann und es danach genau so erscheint wie vor der Operation. Ein Spezialfall solcher Symmetrie besagt, dass es bezogen auf Verschiebungen in der Zeit eine physikalische Größe gibt, deren Wert sich nicht verändert. Diese Größe wird als Energie bezeichnet. Die kulturelle Faszinationsgeschichte des Energie- und Entropiesatzes ist im 20. Jahrhundert mit der speziellen Relativitätstheorie und mit der Entdeckung des Welle-Teilchen-Dualismus (1927) auf andere Themen der Physik übergegangen. Wenn die komplementären Eigenschaften Ort und Impuls nicht im gleichen Augenblick exakt gemessen werden können, dann trifft das sowohl auf das Eigenschaftspaar Ort und Impuls wie auf das Produkt von Energie und Zeit zu. Und wenn die Masse eines Körpers traditionell das Maß seiner passiven Widerstandskraft als Trägheit war, so wurde sie in der speziellen Relativitätstheorie zur Bezugsgröße für dessen Energiegehalt. Schließlich sind Funktionen, die ursprünglich mit dem Energiebegriff verbunden waren, später auf den Informationsbegriff übergegangen. Die statistische Darstellung der Entropie durch Kategorien der Ordnung/Unordnung erlaubte dessen Rekonstruktion in der Informationstheorie und Kybernetik.49 Hatte Robert Mayer die Zukunftsträchtigkeit der Energieform Wärme für das 19. Jahrhundert herausgehoben, so stellt Norbert Wiener in der Mitte des 20. Jahrhunderts – in einem vergleichbar populären Resümee – die Information als ein Drittes neben Materie und Energie.50

49  Vgl. Bernhard Siegert: Am Ende der Kräfte. Von der thermodynamischen zur nachrichtentheoretischen Welt. In: Zeichen der Kraft (a. a.O. [Anm. 4]) 273 ff. 50  »Information is information not matter or energy.« Norbert Wiener: Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine (1948) (New York 1961) 132.



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I. »Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst«, so Ernst Bloch, »und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.«1 Mit diesen, wohl 1947 geschriebenen und 1959 zuerst publizierten Sätzen endet Ernst Blochs epochale Studie einer menschlichen Grundbefindlichkeit, der Hoffnung. Die Begriffe, die Bloch hier aufruft, stellen das Gerüst dar, innerhalb derer sich jede Theorie der Entfremdung bewegt: ›Das Seine‹, d. h. ein wie immer qualifiziertes Eigenes, ›Entäußerung‹ im Gegensatz zu einem ›Inneren‹, ›Entfremdung‹ im Unterschied zu einem Heimatlichen sowie ›Heimat‹ im Gegensatz zur ›Fremde‹. Der Begriff ›Entfremdung‹ ist ein, wenn nicht der zentrale Begriff der Sozialund politischen Philosophien des 19. und 20. Jahrhunderts.2 Er gab dem deutschen Idealismus ebenso sein Gepräge wie den junghegelianischen Philosophien einschließlich der Arbeiten von Karl Marx. Er fand in die Existenzphilosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenso Eingang, wie er prominent gewordenen Formen des Neomarxismus ihre Prägung gab – sowohl als ›westlicher Marxismus‹ wie auch als Synthese aus Marxismus und Existenzphilosophie in Frankreich oder dem früheren Jugoslawien.

II. Die Geschichte des Begriffs reicht freilich weiter zurück, nicht nur in die spätmittelalterliche Mystik etwa Meister Eckharts, sondern bis in die klassische Antike zumal der römischen Republik und ihrer Rechtsgeschichte sowie der spätantiken Religionsgeschichte, zumal der Gnosis. Die Gnosis wiederum konnte sich jedenfalls zum Teil auf die ersten Verse des Johannes-Evangeliums beziehen, in denen eine Erfahrung des Fremdseins am Fall des göttlichen Wortes, des göttlichen Lichts drastisch geschildert wird: »Es war das Licht und die Welt ist

1 

Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3 (Frankfurt a. M. 1976) 1628. Zur Geschichte vgl. Eberhard Ritz: Art. ›Entfremdung‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Bd. 2 (Basel, Stuttgart 1972) 509–525. 2 

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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durch dasselbe gemacht und die Welt erkannte es nicht. Er kam in sein Eigentum und die seinen nahmen es nicht auf.«3 Im Römischen Recht ist »alienatio« die »Entfernung eines Gegenstandes aus dem eigenen Herrschaftskreise, seine Umwandlung aus einem eigenen in einen fremden (vgl. Cod. VIII 47, 6 alienare von dem Verstossen eines Kindes). Die Veräusserungsformen sind nach den verschiedenen Rechten verschiedene, die Veräusserlichkeit ist den Vermögensrechten grundsätzlich, den Familienrechten nur ausnahmsweise gewährt […]. Die Veräusserungsverbote […] dienen teils einem bevormundenden Schutze dessen, auf dessen Vermögen sie sich beziehen, teils dem Wohle anderer, welche durch diese Veräusserung leiden könnten. Zu den ersteren gehören die Veräusserungsschranken, die sich an ein unzureichendes Lebensalter anknüpfen […], zu den letzteren das Verbot einer Veräusserung der res litigiosa […], welches zum Besten des Processsgegeners gilt, und des fundus dotalis, welches Ehefrauen schützt […].«4 Allgemein heißt »alienatio« im Lateinischen »die Entfremdung […] das Weggeben einer Sache als Eigentum an einen andern, die Ent- oder Veräußerung, […] die durch einen Scheinverkauf bewirkte Entäußerung und Übertragung der sacra gentilicia an eine andere gens […], das Recht der Veräußerung, […], das Absterben der Glieder […], die Geistesabwesenheit, Besinnungs-, Bewußtlosigkeit, […] das Sich-Entfremden des Gemüts von jmd., die Entfremdung, der Abfall von jmd., der Bruch mit jmd., die Abneigung gegen jmd. […] sowie die Änderung, […] häufige Änderung der Lage des Kopfes«.5 Der neutestamentliche Brief an die Epheser, eine Schrift des hellenistischen Judentums aus dem 1. Jahrhundert, berichtet dagegen von Heiden, »die entfemdet sind von dem Leben, das aus Gott ist« (ὄντες, ἀπηλλοτριωμένοι τῆς ζωῆς τοῦ θεοῦ).6 Sehr viel stärker hat die spätestens zu Beginn des 2. Jahrhunderts einsetzende gnostische Bewegung eine entsprechende Semantik entwickelt. Die Aufspaltung in einen guten, fernen und unbekannten Gott dort sowie einen bösen Schöpfergott hier suchten die gnostischen Systeme durch den Gedanken eines in jedem Menschen vorhandenen göttlichen Funkens zu überbrücken, der – in der Reflexion und im Selbstbewusstsein richtig verstanden und erfasst – eine (Wieder)annäherung an den guten Gott ermöglichen sollte. Die Entfremdung (ἀπαλλοτριοῦν) von dem Trug der Welt (ἀπο τῆς τοῦ κόσμου ἀπάτης) ist die Voraussetzung für die Wiedergeburt (παλιγγενεσία) des Menschen.7 3 

Johannes 1, 20–11; vgl. Rudolf Bultmann: Das Evangelium des Johannes (Göttingen 1941)

1–57. 4  Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaften, Bd. I/2 (Stuttgart 1894) 1479–1480. 5 Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch (Hannover 81913, Nachdr. Darmstadt 1998) Bd. 1, 304 f. 6  Epheser 4, 18. 7 Vgl. Hans Jonas: Gnosis und spätantiker Geist, Bd. 1: Die mythologische Gnosis (Göttingen 1934, 3 1964) 149; Christoph Markschies: Die Gnosis (München 2001); M. Brumlik: Die Gnostiker. Der Traum von der Selbsterlösung des Menschen (Frankfurt a. M. 1992).

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Die antiken Ursprünge des Begriffs der Entfremdung im römischen Recht und in der philosophisch-theologischen Begrifflichkeit der griechischen Gemeinsprache jener Zeit (κοινή) verweisen in zwei strikt zu unterscheidenden Hinsichten auf ein ›Eigenes‹, ein ›proprium‹: nämlich auf den Bereich der Herkunft und der späteren Zukunft, aber eben auch auf einen Rechtstitel, d. h. eine politisch garantierte, exklusive Nutzungsberechtigung für Gegenstände aller Art – wozu in der Antike auch Menschen als Sklaven sowie Familienangehörige gehörten. Diese beiden sehr unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffspaars ›Eigenes – Fremdes‹, die juristische und die theologische, sind aber strikt zu unterscheiden. Sie werden nicht zuletzt in der modernen Sozial- und politischen Philosophie zu radikal unterschiedlichen Konsequenzen führen: zu einer Theorie der verfassten Demokratie einerseits sowie zur Theorie einer nachpolitischen, erlösten und befreiten Menschheit andererseits.

III. In der mittelalterlichen Mystik des 13. und 14. Jahrhunderts begegnet bei Meister Eckhart bereits der deutsche Begriff der Entfremdung. Eckhart, Ordensoberhaupt der Dominikaner, sah sich wegen seiner radikalen Individuierung und Internalisierung Gottes 1327 einem häresiologischen Prozess ausgesetzt, an dessen Ende achtundzwanzig seiner Thesen in der Bulle In agro dominico verurteilt wurden.8 Über die Seele, die in sich Gott zu erkennen sucht, schreibt er: »Daz ist diu entfrömdekeit des unvermengeten wesens aller crêatûren, daz doch aller wesen wesen ist.« Das Fremdwerden gegenüber der Welt muss die entscheidende Möglichkeit für die Seele sein: »Eyâ alsô ist si entfrömdet allen gesacheten sachen.«9 Dies wird aber zur Voraussetzung eines Lebens in der Wahrheit und das heißt in Gott: »Eyâ, sol ich nû daz sprechen gotes in mir vernemen, so muoz ich alse gar entfremedet sîn von allem dem, daz mîn ist, reht als mir daz fremde ist.«10 Eckharts Begriff der Entfremdung ist ohne Bezug auf den spätantiken Neuplatonismus nicht zu verstehen. Demnach ist Gott – einschließlich seiner Schöpfung – gleichsam alles in allem: eine Erkenntnis, die aber nur von Gott gilt; der Schluss vom Einzelnen auf das Ganze, d. h. von einzelnen Geschöpfen oder Dingen auf Gott macht sie selbst nicht zu etwas Göttlichem – es sei denn, es gehe um den individuierten menschlichen Geist, die Seele. Sie erkennt Gott in sich genau dann, wenn sie sich von allem, was ihr weltliches Eigentum ist, entfernt,

 8  Vgl. Norbert Winkler: Meister Eckhart zur Einführung (Hamburg 1997) 33; Kurt Flasch: Meister Eckhart. Die Geburt der »Deutschen Mystik« aus dem Geist der arabischen Philosophie (München 2006).  9  Meister Eckhart: Traktat XI. In: Predigten, hg. von Franz Pfeiffer (Leipzig 1857, Neudr. Aalen 1962) 507 f. 10  Meister Eckhart: Predigt 80. In: ebd. 257.

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wenn sie es aufgibt, d. h. sich von ihm entfremdet. Es geht also darum, von allem Eigenen entfremdet zu sein. Anders als im Denken des 19. Jahrhunderts ist ›Entfremdung‹ also keineswegs negativ konnotiert. Diese neutrale bzw. wertfreie Bedeutung des Begriffs wird sich in der modernen politischen Theorie vor allem bei Rousseau wiederfinden. Damit lassen sich alle modernen Theorien der Entfremdung zwei Strömungen antiken und mittelalterlichen Denkens zuordnen: einem Strom, der grundsätzlich mit dem Begriff ›Entfremdung‹ als eines durch und durch negativen Zustandes das Programm einer Heimkehr ins ›Eigene‹, d. h. zu Gott, verbindet, sowie einem anderen, ins Praktische gewendeten Strom, der die Entfremdung von allem Weltlichen als Inbegriff einer ›bösen‹ Schöpfung zur Vorbedingung dieser Heimkehr macht. Ein Ende der Entfremdung, so ließe sich dann zugespitzt formulieren, setzt eine noch stärkere Entfremdung von den weltlichen Dingen und Zuständen voraus. Einsicht in die Entfremdung sowie die aus dieser Einsicht gewonnene Kraft, sich von der entfremdeten Welt zu lösen und damit in Distanz zu ihr zu gehen, ist damit die notwendige Bedingung zur endgültigen Überwindung aller Entfremdung – ein Motiv, das sich von Rousseau über Hegel zu Marx, von Heidegger über Lukács zu Sartre und Adorno erstrecken wird.

IV. Der erste, der ein solches Programm der ›alienatio‹ – nun im engeren Sinn des römischen Rechts als politisches Programm – aufstellte, war Rousseau, bei dem keineswegs zufällig auch die Semantik des Eigentumsbegriffs eine entscheidende Rolle spielt. So postuliert er nicht nur eine pädagogische, sondern eine allgemeine Anthropologie, gemäß derer die Menschen vor allem leidenschaftliche Wesen sind, Wesen, die zweimal geboren werden: das erste Mal, wenn sie (buchstäblich verstanden) zur Welt kommen, das zweite Mal, wenn es darum geht zu leben – und zwar in leidenschaftlichen, erotischen Beziehungen. Die – wenn man so will – Grundleidenschaft, die Quelle aller anderen, aber ist für Rousseau der Selbsterhaltungstrieb, den er als »Selbstliebe (amour de soi)« bezeichnet und sorgfältig von der »Eigenliebe (amour-propre)« geschieden wissen will: »Die Selbstliebe ist immer gut und entspricht der Ordnung. (L’amour de soi-même est toujours bon et toujours conforme à l’ordre.) Da jeder für seine Selbsterhaltung sorgen muß, so ist seine erste und wichtigste Sorge, unablässig darüber zu wachen. Wie könnte er das, wenn er nicht das größte Interesse daran hätte.«11 Aber wie kann es gelingen, diese moralisch gar nicht zu verurteilende Selbstliebe so zu formen, dass daraus Menschen, Bürger entstehen, die den Maßgaben des Contrat social folgend ihre Eigeninteressen in einem Akt völliger Entfremdung, in 11 

Jean-Jacques Rousseau: Émile IV. Œuvres complètes, éd. par Bernard Gagnebin et Marcel Raymond (Paris 1959–95) Bd. 4, 491; dt. hg. von Ludwig Schmidts (Paderborn 1971) 212.

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einer »aliénation totale«, preisgeben, um sich zu einer Körperschaft zusammenzuschließen, die endlich einen souveränen Allgemeinwillen, eine »volonté générale«, artikuliert? Es ist die von Rousseau im Émile anthropologisch verstandene Eigenliebe (amour-propre), die eine anthropologisch ebenso notwendige Kooperation der Menschen immer wieder erschwert: »Die Selbstliebe, die sich selbst genügt, ist zufrieden, wenn unsere wahren Bedürfnisse befriedigt sind. Die Eigenliebe aber stellt immer Vergleiche an und ist nie zufrieden. (L’amour de soi, qui ne regarde qu’à nous, est content quand nos vrais besoins sont satisfaits; mais l’amour-propre, qui se compare, n’est jamais content.) Sie kann es auch nicht sein, weil sie verlangt, daß uns andere sich ebenso vorziehen, wie wir uns ihnen vorziehen, und das ist unmöglich. Die sanften und liebenswerten Leidenschaften kommen also aus der Selbstliebe, die haß- und zornerfüllten aus der Eigenliebe. (Voilà comment les passions douces et affectueuses naissent de l’amour de soi, et comment les passions haineuses et irascibles naissent de l’amour-propre.)«12 Dann aber stellt sich gebieterisch die Frage nach den gesellschaftlichen, den sozialen Verhältnissen, die die Ausbildung des einen oder eben des anderen Triebes befördern. Früher hatte Rousseau versucht, das Eigentum als Ursache der Eigenliebe zu identifizieren,13 sich damit aber das weitere Problem eingehandelt, erklären zu müssen, aus welchen Motiven heraus Menschen natürliche Gaben, Böden, für sich reklamieren, einzäunen und andere von der Nutzung ausschließen. So stehen am Anfang Prozesse der Inbesitznahme, an ihrem Ende gesellschaftliche, politische Regeln, die den durch nackte Gewalt erworbenen Besitz legitimieren und dadurch in schützenswertes Eigentum transformieren. Gesellschaftliche Verhältnisse aber, die vor allem durch Eigentum gekennzeichnet sind, fördern jederzeit die Eigenliebe und damit Verhältnisse, die Zwietracht und Konflikte aus sich hervortreiben. Als Antwort darauf kann nur Erziehung wirken: »Die Gefahren der Gesellschaft (les dangers de la société) machen es darum um so notwendiger und dringender, der Verderbnis der Herzen vorzubeugen, die aus seinen neuen Bedürfnissen (de ses nouveaux besoins) entsteht.«14 Rousseau bringt hier also im Unterschied zu Hobbes eine Anthropologie ins Spiel, die das einzelne Mitglied der Gattung Mensch nicht nur auf seine vorgesellschaftlichen, vorstaatlichen Wünsche, Triebe, kurz: seinen fundamentalen Egoismus reduziert, sondern die von einem ebenso basalen Gefühl geprägt ist, dem Mitleid: »Es gibt übrigens noch ein anderes Prinzip, […] das dem Menschen gegeben ist, um unter bestimmte Umständen die Rohheit seiner Selbstsucht bzw. den Wunsch nach Selbsterhaltung vor Entstehung dieser Sucht zu beschwichtigen (pour adoucir en certaines circonstances la férocité de son amour-propre ou le désir de se conserver). […] Ich spreche vom Mitleid (pitié), einer Anlage, 12 

Ebd. 493, dt. ebd. 213. Rousseau, Discours sur l’origine et les fondemens l’inégalité parmi les hommes (1755). Œuvres complètes, a. a.O. [Anm. 11] Bd. 3, 164; dt. in: Schriften zur Kulturkritik, hg. von Kurt Weigand (Hamburg 21971) 191–193. 14  Ders., Émile, a.a..O. [Anm. 11] 213, dt. ebd. 493. 13 J.-J.

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die so schwachen und vielen Schmerzen ausgelieferten Wesen wie uns gemäß ist.«15 Damit postuliert Rousseau zwei Grundtriebe, die beide, anders als pessimistische Anthropologien behaupten, keineswegs per se antisozial wirken. Mehr noch, Mitleid und wechselseitige Sorge hier wie Selbstliebe und Selbsterhaltungstrieb dort stehen zueinander in einem funktionalen Verhältnis, ergänzen sich, wenn sie nicht sogar zwei Seiten einer Medaille sind. Erst durch die Arbeitsteilung, Sesshaftigkeit, Technik und Entwicklung der Bedürfnisse, durch Künste und Wissenschaften kommt es zu Abgrenzung und Ausschluss anderer, mithin zu jenen Bedingungen, die jenes (Rechts-)Verhältnis konstituieren, das als Eigentum gilt. »So machten die Mächtigsten oder die Elendesten entweder aus ihrer Kraft oder aus ihrer Not eine Art Recht auf fremdes Gut (une sorte de droit au bien d’autrui), das nach ihrer Meinung dem Eigentumsrecht entsprach. Dem Bruch der Gleichheit folgte das schrecklichste Durcheinander (l’égalité rompue fut suivie du plus affreux désordre).«16 Der durch Eigentum und Unfreiheit gekennzeichnete bürgerliche Zustand hat demnach zwei Quellen: Kognitive Fähigkeiten wie Gedächtnis, Einbildungskraft und Vernunft stellen notwendige Bedingungen für die über die Selbstliebe hinausgehende Eigenliebe dar, während die Endlichkeit der Ressourcen, vor allem des Bodens, die Menschen dazu führt, ihre geistigen Fähigkeiten wider den natürlichen Trieb Empathie und Mitleid dazu einzusetzen, andere auszuschließen oder sie ihrer Güter zu berauben. Daraus erwuchs der Wunsch, einen Vertrag zu schließen, gemäß dessen einander entgegenstehende Ansprüche und Interessen nach einem Verfahren geregelt und geschlichtet werden können, von einer Instanz, die ihre Weisungen auch effektiv durchzusetzen vermag: »Statt unsere Kräfte gegen uns selbst zu wenden, wollen wir sie zu einer höchsten Gewalt vereinigen, die uns nach weisen Gesetzen regiert, alle Mitglieder der Gesellschaft schützt und verteidigt, die gemeinsam Feinde zurückweist und uns in einem ewigen Frieden erhält. (qui protége et défende tous les membres de l’association, repousse les ennemies communs, et nous maintienne dans une concorde éternelle).«17 Damit ist freilich noch nicht gezeigt, ob und wie die auf den ersten Blick unüberwindbare Kluft zwischen dem radikalen Individualismus der Confessions und des Émile hier und der allumfassenden Gesellschaftlichkeit des Contrat social überhaupt überbrückt werden kann. Ist Rousseau inkonsequent? Ist er in all seiner Individualität und Modernität insoweit unser Zeitgenosse, dass es ihm nicht mehr gelingt und nicht mehr gelingen kann, seine unterschiedlichen, auch lebensgeschichtlich gewonnenen Intuitionen systematisch zu verbinden und ihnen eine innere Kohärenz zu geben? 15  Ders., Discours, a. a.O. [Anm. 13]. Œuvres Bd. 3, 154; dt.: Schriften zur Kulturkritik, a. a.O. [Anm. 13] 169–171. 16  Ebd. Bd. 3, 176; dt. ebd. 223. 17  Ebd. Bd. 3, 177; dt. ebd. 229.

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Während es der Antike auf Gerechtigkeit und politische Partizipation ankam, die sich gleichzeitig einem sinnvollen Kosmos und nicht der Willkür der Bürger verdankten, löst sich das demokratische Denken der Moderne von dieser Voraussetzung und erkennt, dass die Prinzipien politischen Zusammenlebens auf nichts anderem beruhen als auf dem Willen der Bürger und dass es hinter diesem Willen nichts anderes gibt, das ihn in sein Recht einsetzen könnte. Der demokratische Souverän wird durch einen Entäußerungsvertrag aller mündigen Bürger eines gegebenen Territoriums gebildet: Indem alle (künftigen) Bürger ihre unveräußerlichen natürlichen Rechte in einer rückhaltlosen Entäußerung (»aliénation totale«) dem von ihnen gemeinsam gebildeten Souverän übergeben, erhalten sie alle genau diese Freiheiten nun als Rechte von der öffentlichen Macht zurück.18 Dieser Macht, dem Souverän, können die Individuen, die über ihn in einer »délibération publique« beschließen, keine Verpflichtungen auferlegt werden, da es »gegen die Natur der politischen Körperschaft ist, daß sich der Souverän ein Gesetz auferlegt, das er nicht brechen kann. Da er sich nur in ein- und derselben Beziehung sehen kann, ist er dann in der Lage eines Einzelnen, der einen Vertrag mit sich selbst schließt: daraus sieht man, daß es für den Volkskörper (pour le corps du peuple) keinerlei verpflichtendes Grundgesetz (loi fondamentale obligatoire) gibt noch geben kann, welcher Art auch immer, nicht einmal der Gesellschaftsvertrag.«19

V. Karl Marx sah bekanntlich seit 1844 in Recht und Privateigentum Formen eines grundsätzlich entfremdeten Verhältnisses der Menschen zueinander, zu den Produkten ihrer Tätigkeit und zu dem gesellschaftlichen Zusammenhang insgesamt – wobei kein Zweifel daran bestehen kann, dass er den Begriff der Entfremdung Hegel, zumal dem Hegel der Phänomenologie des Geistes entlehnt hat. Hegel aber setzt sich – was die kommentierende Literatur zwar gelegentlich vermerkt,20 aber kaum systematisch nachvollzogen hat – intensiv mit Rousseau auseinander, ohne ihn freilich namentlich zu nennen, und zwar im Unterkapitel »Der sich entfremdete Geist. Die Bildung«. »Nichts hat einen in ihm selbst gegründeten und inwohnenden Geist, sondern ist außer sich in einem fremden, – das Gleichgewicht des Ganzen [ist] nicht die bei sich selbst bleibende Einheit und ihre in sich zurückgekehrte Beruhigung, sondern beruht auf der Entfremdung des Entgegengesetzten. Das Ganze ist daher, wie jedes einzelne Moment, eine sich entfremdete Realität; es zerfällt in ein Reich, worin das Selbstbewußt18 

Ders., Du contrat social I, 6. Œuvres complètes Bd. 3, 360. Ebd. I, 7. Œuvres complètes Bd. 3, 362; dt. Sozialphilosophische und politische Schriften (Düsseldorf, Zürich 1996) 282. 20  Vgl. Ludwig Siep: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar (Frankfurt a. M. 2000) 194; Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch (Stuttgart, Wetzlar 2003) 391. 19 

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sein wirklich sowohl es als sein Gegenstand ist, und in ein anderes, das Reich des reinen Bewußtseins, welches jenseits des ersten nicht wirkliche Gegenwart hat, sondern im Glauben ist.«21 Es ist die in Form der »Wissenschaftslehre« entfaltete Reflexionsphilosophie Fichtes, die hier zum Thema und bis in ihre letzten Konsequenzen dargelegt wird. Hegel prozessualisiert das dort angelegte Selbstverständnis so, dass er zu einem Begriff des »allgemeinen Selbst« gelangt, das sich in einem »Bildung« genannten Prozess als das, was es wirklich ist, erkennt. Hegel nennt jenen Teil des Bildungsprozesses, in dem das bloße »Glauben« zum Wissen wird, »Aufklärung« – ein Vorgang, der die »Entfremdung« vollendet.22 Indem Hegel von dieser Bewegung der Begriffe »Glaube« und »Aufklärung« auf wirkliche gesellschaftliche Verhältnisse schließt, in ihnen zugleich die Bewegung der gesellschaftlichen Wirklichkeit erkennt, kann er zugleich jenes Phänomen begreifen, das ihn und seine Generation unwiderruflich geprägt hat: »[U]nd diese Revolution bringt die absolute Freiheit hervor, womit der vorher entfremdete Geist vollkommen in sich zurückgegangen ist, dies Land der Bildung verläßt und in ein anderes Land, in das Land des moralischen Bewußtseins übergeht.«23 Ergebnis dieses Bildungsprozesses ist die – gegen den ›Liberalismus‹ gerichtete Einsicht, dass das Wesen der Individualität nicht in der zufälligen menschlichen Natur bzw. des wie auch immer geprägten Charakters eines Menschen liegt, sondern darin, dass die Individuen »ein gleiches Dasein für einander« haben,24 sie also zu wirklichen und nicht nur gemeinten Individuen nur dadurch werden, dass sie einander anerkennen. Erst dieses, dass »jedes durch seine Entfremdung dem Andern Bestehen gibt, und es ebenso von ihm erhält«,25 konstituiert jene soziale Sphären, in der Individuen wirklich sind. In diesem Prozess ist es den Individuen unmöglich, auf das Fällen normativer, bewertender Urteile in ihrer Urform ›gut‹ vs. ›schlecht‹ zu verzichten; und es sind zwei Dinge, die die einander anerkennenden Individuen in ihrem gesellschaftlichen und politischen Zusammenleben vor allem bewerten: »Die Staatsmacht« und den »Reichtum«. Es wird sich zeigen, dass in dieser Dichotomie nicht nur der Gegensatz von Liberalismus und Republikanismus, sondern auch die Rollen von ›citoyens‹ und ›bourgeois‹, die später in Marx’ Kritik der bürgerlichen Gesellschaft zentrale Bedeutung annehmen sollten, – wenn auch unausgesprochen – vorgebildet ist. Hegels Begriff der Staatsmacht aber stellt wenig anders als eine in Begriffen der Reflexionsphilosophie artikulierte Paraphrase auf Rousseaus Verständnis eines demokratischen Gemeinwesens im Sinne des Contrat social dar: »Die Staatsmacht ist, wie die einfache Substanz, so das allgemeine Werk; – die absolute Sache selbst, worin den Individuen ihr Wesen ausgesprochen und ihre Einzelnheit schlechthin 21  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, hg. von Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont (Hamburg 2006) 322. 22 Ebd. 23  Ebd. 323. 24  Ebd. 325. 25  Ebd. 326.

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nur Bewußtsein ihrer Allgemeinheit ist; – sie ist ebenso das Werk und einfache Resultat, aus welchem dies, daß es aus ihrem Tun herkömmt, verschwindet; es bleibt die absolute Grundlage und Bestehen alles ihres Tuns.«26 Bei Rousseau hieß diese Staatsmacht »Souverän« und der Souverän ist das Ergebnis jenes ursprünglichen Entäußerungsvertrags, den die vorgesellschaftlichen einzelnen Menschen geschlossen haben, um nach Vertragsschluss zu Individuen geworden zu sein, die ihre Wirklichkeit genau darin und dadurch gewinnen, dass sie einander als Gleiche im Vertragsschluss anerkennen. Freilich – soviel hat Hegel vom Wesen der bürgerlichen Gesellschaft verstanden – geht die Existenz dieser Individuen nicht darin auf, für andere zu sein, sondern eben auch für sich zu sein. Rousseau erkannte in diesem Verhältnis zwei Dimensionen: den gleichsam natürlichen »amour de soi« (Selbsterhaltungstrieb) wie auch den »amourpropre«, die Liebe zum Eigentum, die (weiter) vereinzelt und eigennützig ist. Daher ist das unmittelbar dem Leben in und durch die Staatsmacht entgegengesetzte, aber auf sie verwiesene Element der »Reichtum«. Im Unterschied zur Sphäre der Staatsmacht, in der die Individuen nur dadurch zu Individuen werden, dass sie einander als Gleiche anerkennen, wähnen sie sich in dieser Sphäre allein auf sich verwiesen, ohne doch zu erkennen, dass sie gerade deshalb auf eigentümliche Weise zusammenwirken. Dort, wo Hegel den Reichtum anspricht, ist er sichtlich von den Überlegungen Adam Smiths beeinflusst.27 Auch Hegel erkennt im vermeintlich eigennützigen Handeln der bürgerlichen Individuen ein Allgemeines – wenn auch in entfremdeter Form: »Es meint wohl in diesem Momente jeder Einzelne eigennützig zu handeln; denn es ist das Moment, worin er sich das Bewußtsein gibt, für sich zu sein, und er nimmt es deswegen nicht für etwas Geistiges; allein auch nur äußerlich angesehen, zeigt es sich, dass in seinem Genusse jeder allen zu genießen gibt, in seiner Arbeit ebenso für alle arbeitet als für sich, und alle für ihn. Sein Fürsichsein ist daher an sich allgemein und der Eigennutz etwas nur Gemeintes, was es meint, nämlich etwas zu tun, das nicht Allen zu gut käme.«28 Beides, die Staatsmacht wie den Reichtum, sieht Hegel als »geistige Mächte« an, Mächte, in denen das Selbstbewusstsein »seine Substanz, Inhalt und Zweck« erkennt. Freilich, anders als später Marx, der seinen Begriff der Entfremdung eher jener Sphäre zuordnen wird, die Hegel als ›Reichtum‹, also als vereinzelndes ökonomisches Handeln versteht, konzentriert sich Hegel im Weiteren auf das Verhältnis von »Staatsmacht« und »Entfremdung« – strikt im Geist Rousseaus. Er stellt fest, dass die von Rousseau geforderte »aliénation totale« und die mit ihr einhergehende Aufopferung des Selbstbewusstseins, also diese Form der Entfremdung, erst dann zureicht, wenn sie in einem weiteren Schritt zum Gehorsam gegenüber der so konstituierten Staatsmacht führt. Freilich ist eine 26 

Ebd. 327 f.

27  Vgl. Georg 28 

Lukács: Der junge Hegel (Frankfurt a. M. 1973) 281 f. Hegel, a. a.O. [Anm. 21] 328.

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durch gemeinsame Entfremdung der Bürger von ihrem ›ursprünglich‹ Eigenen konstituierte Staatsmacht noch nicht zu einem gemeinsamen Bewusstsein ihrer selbst gelangt: »Die Staatsmacht ist daher noch willenlos gegen den Rat, und nicht entscheidend zwischen den verschiedenen Meinungen über das allgemeine Beste. Sie ist noch nicht Regierung, und somit noch nicht in Wahrheit wirkliche Staatsmacht.«29 Wahre, wirkliche Staatsmacht im Sinne der effektiven Regierung eines Gemeinwesens, einer Regierung, in der sich ein gemeinsamer Wille (Rousseaus ›volonté générale‹) artikuliert, entsteht erst dann, wenn Wille und Aufopferung, gleichsam innere, psychische Vorgänge vieler Individuen, sich in einem weiteren Akt in eine Sphäre des Gemeinsamen entfremden, also besondere Absichten und Eigenwillen verlassen. Erst diese Form der Entfremdung führt zu dem, was den Namen eines wirklichen, gemeinsamen politischen Willens verdient. Medium dieser Entfremdung aber ist die Sprache: »Diese Entfremdung aber geschieht allein in der Sprache, welche hier in ihrer eigentümlichen Bedeutung auftritt. – In der Welt der Sittlichkeit, Gesetz und Befehl, – in der Welt der Wirklichkeit, erst Rat, hat sie das Wesen zum Inhalte, und ist dessen Form; hier aber erhält sie die Form, welche sie ist, selbst zum Inhalte, und gilt als Sprache; es ist [ähnlich wie später von den Sprechakt-Theorien formuliert] die Kraft des Sprechens als eines solchen, welche das ausführt, was auszuführen ist.«30 Die Sprache, das hat Hegel schon früh erkannt, ist darüber hinaus jenes Medium, in dem sich das, was als Individualität gelten soll, erst verwirklichen kann. Im Weiteren untersucht Hegel, was hier nicht näher beleuchtet werden soll, die für die Französische Revolution und ihre opfermütigen Heere entscheidende Frage nach dem Verhältnis von (massenhaftem) individuellen Heroismus und der regierenden volonté générale, um den Nachweis zu erbringen, dass erst beide Elemente zu einem wirklichen politischen Willen führen. Eine analoge Argumentation gilt der bürgerlichen Wohltätigkeit, im prekären Verhältnis von Wohltäter und Klient, die zu Übermut, aber auch – durch die Sprache vermittelt – zu Empörung führen kann. Die Sprache ist es aber auch, die es dem Selbstbewusstsein ermöglicht, sich gegen die Staatsmacht zu empören, was schließlich zur modernen Befindlichkeit der »Zerrissenheit« führt. Das heißt, dass für den Hegel der Phänomenologie der Weg zur Entfaltung eines individuellen und kollektiven Selbstbewusstseins unumgänglich, aber letztlich aporetisch ist. Um überhaupt zur Voraussetzung eines reflektierten politischen Selbstbewusstseins zu kommen, müssen sich die Menschen ihrer natürlichen Eigenschaften und Vorbehalte entäußern, sich von ihnen entfremden und zu citoyens, zu Staatsbürgern, werden. Um überhaupt eine Individualität, die ihren Namen verdient, entwickeln zu können, müssen sie zugleich je individuelle, vereinzelte Wünsche und Bedürfnisse entwickeln, die sie freilich wieder nur in Arbeitsteilung und in der Atomisierung selbstsüchtigen, aber auf dieselbe 29  30 

Ebd. 334. Ebd. 335.

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Selbstsucht anderer verwiesenen wirtschaftlichen Handelns verwirklichen können. Ohne Entfremdung von ursprünglicher Individualität kein politisches Gemeinwesen, ohne Entfremdung von gemeinschaftlichem Willen keine für jede Individualität unumgängliche Vereinzelung. Beide Formen der Entfremdung aber hängen von jenem Medium ab, in dem sich das vermeintlich Innerste eines jeden Menschen von sich entfremdet und dadurch Wirklichkeit gewinnt: der Sprache. Freilich bleiben beide Elemente, die Sphäre politischer Staatlichkeit hier und wirtschaftlichen Handelns dort, einander entgegengesetzt und führen somit dazu, dass das moderne bürgerliche Selbstbewusstsein zu keiner befriedigenden Einheit findet: »Die Sprache der Zerrissenheit aber ist die vollkommne Sprache und der wahre existirende Geist dieser ganzen Welt der Bildung.«31 Jahre später, in der Rechtsphilosophie, sollte Hegel den Versuch unternehmen, die »Sittlichkeit« als die Form zu begreifen, die die Zerrissenheit überwindet und aufhebt; an ihr setzte Marx’ Kritik an.32 Hegels Diagnose des Gangs der Entfremdung aber endet aporetisch; die Welt der »Bildung« (des Bewusstseins) in der bürgerlichen Gesellschaft bleibt zerrissen: »Er [der Geist der Bildung] ist diese absolute und allgemeine Verkehrung und Entfremdung der Wirklichkeit und des Gedankens; die reine Bildung. Was in dieser Welt erfahren wird, ist, daß weder die wirklichen Wesen der Macht und des Reichtums noch ihre bestimmten Begriffe, Gut und Schlecht, oder das Bewußtsein des Guten und Schlechten, das edelmütige und niederträchtige[,] Wahrheit haben; sondern alle diese Momente verkehren sich vielmehr eins im Andern, und jedes ist das Gegenteil seiner selbst.«33

VI. Es waren die sog. Junghegelianer, die nicht an den aporetischen Reflexionen der Phänomenologie, sondern an Hegels systematischem Versuch, diese Aporien in einer Rechtsphilosophie aufzuheben, ansetzten und dabei den Begriff der Entfremdung gegenüber seinem Urheber und dessen Werk in Stellung brachten. Vor allem Ludwig Feuerbach erkennt die wahre Entfremdung weder im Staat noch in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern in der Religion als einer projektiv phantasmagorischen Sphäre, in der das wirkliche Leiden der Menschen so entrückt werde, dass es auch nur durch eine ebenso fiktive Erlösung behoben werden kann. »Warum entfremdest du also dem Menschen sein Bewußtsein 31 

Ebd. 343. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844). Marx-Engels: Werke (= MEW) Bd. 1 (Berlin 1957) 379: »Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven.« 33  Hegel, a. a.O. [Anm. 21] 343. 32  Karl

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und machst es zum Selbstbewußtsein eines von ihm unterschiednen Wesens [i. e. Gott], eines Objekts?«34 An diese Überlegungen kann Bruno Bauer zuspitzend anschließen: »Im religiösen Gefühl bin ich […] mir selbst entäußert«. Ich fühle »mich in meiner empirischen Existenz mir entfremdet, mich verläugnend und mein empirisches Bewußtseyn negirend.«35 Entscheidend aber sollten vor allem die von Karl Marx 1844 verfassten Ökonomisch-philosophischen Manuskripte werden, in denen Marx mit Blick auf die frühindustrielle Gesellschaft und die sich herausbildende kapitalistische Wirtschaftsform eine neue Deutung der Begriffe ›Entäußerung‹ und ›Entfremdung‹ postulierte. In den Thesen über Feuerbach kritisiert Marx an Feuerbach dessen Gedanken einer »religiösen Selbstentfremdung«, die er durchaus für ein Faktum hält. Ebenso nimmt er Hegels Gedanken der »Selbstzerrissenheit« auf, um darauf hinzuweisen, dass die weltliche Grundlage selbst widersprüchlich sei. Daraus folgt, dass die in der weltlichen, wirklichen Grundlage liegende Zerrissenheit »sowohl in ihrem Widerspruch verstanden als [auch] praktisch revolutioniert werden« muss.36 Das aber setzt eine genaue Wahrnehmung der durch Arbeitsteilung, Industrie und vor allem Beschäftigungs- und Abhängigkeitsbeziehungen bewirkten Produktionsverhältnisse im Sinne des Kapitals voraus. Dann aber zeigt sich, dass das kapitalvermittelte Lohnarbeitsverhältnis jene reale Entfremdung darstellt, die Hegel nach Marx’ damaliger Überzeugung in verkehrter Weise vergeistigt habe. »Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine vom Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung. […] In der Bestimmung, daß der Arbeiter zum Produkt seiner Arbeit als einem fremden Gegenstand sich verhält, liegen alle Konsequenzen.«37 Der unter dem Kapitalverhältnis stehende, arbeitsteilige Produktionsprozess bringt somit eine dreifache Entfremdung hervor: die des Arbeiters von sich selbst, die des Arbeiters von seinem Produkt und die des Arbeiters von seinen Mit-arbeitern. Freilich sollte diese Form der Theorie der Entfremdung noch nicht zureichen. Indem Marx im Folgenden die systemischen, ökonomischen 34 Ludwig

Feuerbach: Das Wesen des Christentums (1841). Gesammelte Werke, hg. von Werner Schuffenhauer (Berlin 1967–2001) Bd. 5, 385; vgl. ebd. 88: Der »theistische Verstand« ist »von der Sinnlichkeit abgesondert, der Natur entfremdet«; ebd. 242: »Je mehr sich der Mensch der Natur entfremdet, […] desto größere Scheu bekommt er vor der Natur […].« 35  Bruno Bauer: Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen (Leipzig 1841, Neudr. Aalen 1969) 140. 36  Karl Marx: Thesen über Feuerbach, Nr. 4. MEW Bd. 3 (Berlin 1959) 6. 37  Ders.: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. MEW Erg.-Bd. 1 (Berlin 1968) 511 f.

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Bedingungen für diesen Entfremdungsprozess erforschte und als dessen letzte verursachende Struktur das Kapitalverhältnis, also die zwangsweise zur Ware gewordene Arbeitskraft, erkannte, konnte er im Kapital das Wesen der Ware als letzte Ursache aller vorher so genannten Entfremdung identifizieren. Im Warentausch – so Marx’ These im Kapital – verschwand von allem Anfang an die menschliche Praxis in Herstellung und Verteilung von Gegenständen hinter einem ›Endprodukt‹, das die vorangegangene Praxis der Verdrängung und dem Vergessen aussetzte. »Da vor seinem Eintritt in den Prozeß seine eigene Arbeit ihm selbst entfremdet, dem Kapitalisten angeeignet und dem Kapital einverleibt ist, vergegenständlicht sie sich während des Prozeßes beständig im fremden Produkt. […] Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht.«38 Strukturtheoretisch wird Marx den Begriff der ›Entfremdung‹ um den der ›Vergegenständlichung‹ sowie um den der ›Verdinglichung‹ ergänzen, und zwar so, dass sich jede menschliche Praxis in den Ergebnissen ihres Tuns »vergegenständlicht«, diese menschliche Praxis aber unter den Arbeits- und Verwertungsbedingungen des Kapitals – wo Arbeit zur Ware wird – »verdinglicht« wird. Dies führt endlich zu Lebensverhältnissen, die durch eine besonders leidvolle Form der Entfremdung gekennzeichnet sind: »[…] innerhalb des kapitalistischen Systems vollziehn sich alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit auf Kosten des individuellen Arbeiters; alle Mittel zur Entwicklung der Produktion schlagen um in Beherrschungs- und Exploitationsmittel des Produzenten, verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine, vernichten mit der Qual seiner Arbeit ihren Inhalt, entfremden ihm die geistigen Potenzen des Arbeitsprozesses im selben Maße, worin letzterem die Wissenschaft als selbständige Potenz einverleibt wird; sie verunstalten die Bedingungen, innerhalb deren er arbeitet, unterwerfen ihn während des Arbeitsprozesses der kleinlichst gehässigen Despotie, verwandeln seine Lebenszeit in Arbeitszeit, schleudern sein Weib und Kind unter das Juggernaut-Rad des Kapitals.«39 Bekanntlich haben Marx und Engels diese Strukturanalyse – verbunden mit einer geschichtstheoretischen Überlegung – zu einer zuerst im Kommunistischen Manifest artikulierten Revolutionstheorie geführt, die im derart entfremdeten und ausgebeuteten Proletariat die letztmögliche aller Klassen gesehen hat, einer Klasse, der gleichsam aus Naturnotwendigkeit nichts anderes übrig bleibt, als die bestehenden Verhältnisse umzustürzen, ein Unterfangen, das durch die dem Kapitalverhältnis systemisch innewohnenden Krisen, wie sie im Kapital untersucht werden, begünstigt wird. 38  Ders.:

Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1. MEW Bd. 23 (Berlin 1962)

596. 39 

Ebd. 674.

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Die Geschichte verlief bekanntlich anders: Die erwünschte und prognostizierte Revolution fand zunächst nicht dort statt, wo sie der Theorie nach hätte stattfinden müssen, in jenen Ländern, in denen das Kapitalverhältnis sich am stärksten durchgesetzt hatte, sondern im vergleichsweise zurückgebliebenen russischen Reich. Zwar gab es auch unmittelbar nach der Revolution der Bolschewiki Versuche, den Begriff der Entfremdung weiterhin für eine politisch gedachte und philosophisch begründete Theorie der Revolution in Anschlag zu bringen. Freilich dürfte es kein Zufall sein, dass dabei – vor allem im Werk des jungen Georg Lukács – nach den Bedingungen der Möglichkeit eines revolutionären Klassenbewusstseins gefragt wird und an die Stelle des Begriffs der Entfremdung zunächst der Begriff der Verdinglichung ins Zentrum tritt.40 Abgesehen davon sollte der Begriff der Entfremdung in den Theorieprogrammen und -entwürfen des orthodoxen, jetzt der Sowjetunion Lenins und Stalins verpflichteten Marxismus keine Rolle mehr spielen, sondern erst wieder nach dem Zweiten Weltkrieg, im sog. Westlichen Marxismus, eine herausragende Bedeutung erhalten.

VII. In den Jahren des Kalten Krieges, der Konflikte zwischen der parteidiktatorischen Sowjetunion und den nun weitgehend wohlfahrtsstaatlich ausgerichteten parlamentarischen Demokratien des Westens, war die politisch-philosophische Theoriebildung zunächst ganz auf diesen Konflikt ausgerichtet und fand ihren prägnantesten Ausdruck in der Theorie des Totalitarismus. 41 Marx und seine Theorie wurden in dieser Konfliktlage offiziell – gerade so, wie es auch die Sowjetunion reklamierte – dem tyrannischen Denken der Sowjetdiktatur zugerechnet; eine nicht auf den politischen Gegner, sondern kritisch auf die inneren Verhältnisse westlicher Gesellschaften zielende Theorie vermied – wie etwa Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung (Amsterdam 1947) weitgehend. Erst der Rückgriff auf den Begriff ›Entfremdung‹ ermöglichte es, Marx und sein Werk in der Zeit des Kalten Krieges auch in den westlichen Gesellschaften zu erörtern. Dafür mögen beispielhaft die von Iring Fetscher herausgegebenen Marxismusstudien (Tübingen 1954–72) stehen, aber auch Fetschers eigene Publikationen.42 Bereits 1953 hatte sich der Soziologe Heinrich Popitz der Thematik ›Entfremdung‹ gewidmet.43 1955 sollte auch der junge Jürgen Habermas gegen Marx ›Entfremdung‹ als anthropologische Möglichkeit eines technischen Weltverhältnisses deuten.44 Doch wurde diese ›westliche‹ 40 

Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein (Berlin 1923). Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (Frankfurt a. M. 1955). 42  Iring Fetscher: Von Marx zur Sowjetideologie (Frankfurt a. M. 1959, 221987). 43  Heinrich Popitz: Der entfremdete Mensch. Zeitkritik und Geschichtsphilosophie des jungen Marx (Basel 1953). 44  Jürgen Habermas: Marx in Perspektiven. In: Merkur 9 (1955) 1180–1183. 41 

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Rezeption nur dadurch möglich, dass der Marx’sche Begriff der Entfremdung in der Rezeption von Phänomenologie und Existenzphilosophie ein neues Gewicht gewann. Ausgangspunkt sollte Martin Heideggers Sein und Zeit (1927) werden, ein Werk, das zwar Marx und dem Marxismus fernstand, das aber in den Arbeiten von Herbert Marcuse, Jean-Paul Sartre und der Philosophen der PraxisGruppe in Jugoslawien eine neue Erörterung des Begriffs Entfremdung ermöglichte. Zurückgehend auf Kierkegaard und Husserl widmete sich Heidegger der Frage nach der Möglichkeit eines über sich selbst weitgehend aufgeklärten individuellen Lebens, das er als »Dasein« bezeichnet. Das »Dasein« als »dasjenige seiende«, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, das also einer Struktur unterliegt, die Heidegger als »Sorge« begreift, steht grundsätzlich vor der Herausforderung, sich dieser seiner Struktur bewusst zu werden – und das, obwohl das (moderne) gesellschaftliche Leben immer wieder Anlass gibt, sich dieser Herausforderung zu entziehen. In kulturkritischer Weise identifiziert Heidegger bestimmte Ausprägungen der modernen Massengesellschaft als Versuchungen, einer existenziell gebotenen Selbstvergewisserung zu entgehen. Heidegger bezeichnet diese Möglichkeit der modernen Gesellschaft als »Man«: »Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweisen des Man das, was wir als ›Öffentlichkeit‹ kennen. […] Das Man ist überall dabei, doch so, daß es sich auch schon immer davongeschlichen hat, wo das Dasein auf Entscheidung drängt. Weil das Man jedoch alles Urteilen und Entscheiden vorgibt, nimmt es dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab. […] Das Man entlastet so das jeweilige Dasein in seiner Alltäglichkeit. Nicht nur das; mit dieser Seinsentlastung kommt das Man dem Dasein entgegen, sofern in diesem die Tendenz zum Leichtnehmen liegt. […] Jeder ist der andere und keiner er selbst.«45 Heidegger will klar machen, dass dieses Man weder ein Subjekt noch sonst wie fassbar ist, sondern ein existenzieller Modus, ein Modus der Flucht vor dem eigenen Selbst, das grundsätzlich gar nicht zu überwinden, sondern je und je zu Bewusstsein zu bringen ist: »Das Man ist ein Existenzial und gehört als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins.«46 Es war ein Schüler Heideggers und Bultmanns, der auf der Basis von dessen Existenzialanalyse in seiner religionshistorischen Dissertation und ihrer späteren Entfaltung zeigen konnte, dass die antike Gnosis eben jene Bewegung der Verdeckung und des Wiederfindens zu ihrem wahren Thema hatte.47 Freilich sollte sich – im Abstand von mehreren Jahrzehnten – andeuten, dass es weniger Heideggers Philosophie war, die die antike Gnosis in besonderer Weise erschlie-

45 

Martin Heidegger: Sein und Zeit (Tübingen 1927) 127 f. 129. Zum Begriff ›Entfremdung‹ vgl. z. B. ebd. 177: »Das verfallende In-der-Weltsein ist als versuchend-beruhigendes zugleich entfremdend.« 47  H. Jonas, a. a.O. [Anm. 7] 91. 46  Ebd.

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ßen konnte, sondern dass Heideggers Philosophie selbst in wesentlichen Zügen gnostisch geprägt ist,48 eine noch immer bestrittene Deutung.49 Die ›linke‹ Rezeption von Heideggers Sein und Zeit nahm seine Phänomenologie durchaus auf, entzog ihr aber entweder den Status einer letzten Gegebenheit und sah sie selbst als Produkt kapitalistischer Verhältnisse an (H. Marcuse) oder trachtete danach, diese Verhältnisse durch solidarische Aktion zu überwinden und so sowohl die entfremdenden Strukturen des Man als auch die Strukturen des Kapitalverhältnisses – wenn auch niemals endgültig – zu überwinden. Während in Sartres L’Être et le Néant ›Entfremdung‹ eine alltagsbezogene Verdichtung und Plausibilisierung von Heideggers Analyse des Man darstellt,50 untersucht er später, ausgehend vom Begriff des »Mangels«, Möglichkeiten, diese Entfremdung zu überwinden.51 Beidesmal bleibt Sartre der Überzeugung treu, dass menschliches Leben einem individuellen Entwurf folgt, einem Entwurf, der sich sowohl auf die Beziehung zu anderen als auch zur materiellen Welt bezieht. Im faktischen Leben, so Sartre, herrscht freilich eine »praktische Affirmation«, »daß ich das bin, was ich gemacht habe (und das mir entgeht, indem es mich sogleich als einen anderen konstituiert.)« Radikaler, aber auch weniger differenziert als Marx setzt Sartre hier »Vergegenständlichung« und »Entfremdung« einander gleich. Daher schreibt er: »Die Notwendigkeit dieser grundlegenden Beziehung erlaubt mir zu verstehen, warum der Mensch, wie ich es gesagt habe, im Medium des An-sich-Für-sich sich entwirft. Die grundlegende Entfremdung kommt nicht, wie man nach Das Sein und das Nichts zu Unrecht annehmen könnte, von einer vorherigen Wahl: sie kommt von dem einseitigen Interioritätsverhältnis, das den Menschen als praktischen Organismus mit seiner Umgebung vereinigt.«52 Sartres im Weiteren entfaltete Theorie sozialer Kämpfe zur Überwindung der Entfremdung wurde zumal für eine erste Serie postkolonialer Literatur mit Bezug auf Frankreich und seine überseeischen Besitzungen wegweisend.53 Abgesehen davon fand der Begriff Entfremdung vor allem in der freudomarxistischen Theoriebildung der ›Frankfurter Schule‹, der ›Kritischen Theorie‹, Ausdruck und Anwendung. Nachdem in den westlichen Gesellschaften der unmittelbaren Nachkriegszeit der Klassenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaats gemildert wurde, nahm die Theorie der Entfremdung vor allem die Form einer progressiven Kulturkritik an, die eine 48 

M. Brumlik, a. a.O. [Anm. 6] 321 f. Barbara Merker: Inwiefern Heideggers Existentialanalytik nicht »gnostisch« ist. In: Gnosis oder die Frage nach Herkunft und Ziel des Menschen, hg. von Albert Franz und Thomas Rentsch (Paderborn 2000) 177–191. 50  Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts (Frankfurt a. M. 1962) 91 f. 51  Ders.: Kritik der dialektischen Vernunft, Bd. 1 (Reinbek bei Hamburg 1967) 163: »Die bearbeitete Materie als entfremdete Objektivierung der individuellen und kollektiven Praxis.« 52  Ebd. 242. 53 Albert Memmi: Der Kolonisator und der Kolonisierte (Frankfurt a. M. 1980); Frantz ­Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken (Frankfurt a. M. 1981). 49 

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besondere Unfreiheit zumal im innerlich befriedeten, nach außen hin durchaus aggressiven »Welfare and Warfare«-Staat diagnostizierte (Herbert Marcuse). Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sahen einen breit und tiefgreifend angelegten Prozess der Entfremdung vor allem in jenen gesellschaftlichen Bereichen, die sie als »Kulturindustrie« bezeichneten. Unter dem Druck der Verhältnisse und der Wucht einer nur noch auf Konsum gestellten Gesellschaft sind die Individuen die Akteure ihrer eigenen Verdinglichung: »Die intimsten Reaktionen der Menschen sind ihnen selbst gegenüber so vollkommen verdinglicht, daß die Idee des ihnen Eigentümlichen nur in äußerster Abstraktheit noch fortbesteht: personality bedeutet ihnen kaum mehr etwas anderes als blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen.« Als Mechanismus und Motor dessen aber identifizieren Horkheimer und Adorno die anthropologisch grundlegende menschliche Fähigkeit zur projektiven Angleichung und Nachahmung, der Mimesis: »Das ist der Triumph der Reklame in der Kulturindustrie, die zwangshafte Mimesis der Konsumenten an die zugleich durchschauten Kulturwaren.«54 Erich Fromm, der mindestens in seinen frühen Jahren der ›Frankfurter Schule‹ angehörte, hatte sich schon früh mit Marx’ Theorie der Entfremdung befasst und resümierte seine Einsichten noch einmal 1968.55 In seinem späten Hauptwerk Haben oder Sein wies Fromm den Wunsch nach unbegrenzter Bereicherung als Quelle gesellschaftlichen Elends aus. Jetzt war es wiederum der Marx der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte, der in falschen, also entfremdeten Bedürfnissen ein wesentliches Moment gesellschaftlicher Unfreiheit erkannte. Es sei, so Fromm mit Marx, die stetige Schaffung neuer Bedürfnisse, die den Menschen dazu führe, »ihn in eine neue Abhängigkeit zu versetzen und ihn zu einer neuen Weise des Genusses zu verleiten. Jeder sucht eine fremde Wesenskraft über den anderen zu schaffen, um darin die Befriedigung seines eigenen eigennützigen Bedürfnisses zu finden. Mit der Masse der Gegenstände wächst daher das Reich fremder Wesen […].«56 Während Heidegger, Sartre, Horkheimer/Adorno, aber auch Fromm im Wesentlichen jener oben als »gnostisch« bezeichneten Traditionslinie der Theorie der Entfremdung folgen, schließt der von Marx und Heidegger geprägte H. Marcuse dialektisch an beide Traditionen der Theorie der Entfremdung an: die gnostische, aber eben auch die mystisch-asketische Meister Eckharts. Einerseits stellt Marcuse – mit den Autoren der »Kulturindustrie« – fest, dass sich die Menschen in ihren Waren wiedererkennen: »[S]ie finden ihre Seele in ihrem Auto, ihrem Hi-Fi-Empfänger, ihrem Küchengerät.« Das aber ist Aus54  Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Die Dialektik der Aufklärung (Frankfurt a. M. 1981) 108–150, zit. 150. Gesammelte Schriften Bd. 3 (Frankfurt a. M. 1981) 191. 55 Erich Fromm: Marx’ Beitrag zur Wissenschaft vom Menschen. In: ders.: Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie (Frankfurt a. M. 1970) 145–167. 56  Ders.: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft (München 2010) 155.

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druck eines Herrschaftsverhältnisses, in dem »die unterworfene Bevölkerung« bei weiter bestehenden Klassendifferenzen »an den Bedürfnissen und Befriedigungen teil hat, die der Erhaltung des Bestehenden dient«.57 Doch kennt Marcuse darüber hinaus eine zweite Form der Entfremdung, eine – wenn man so will – Entfremdung von der Entfremdung, die es dann wiederum ermöglicht, der ersten, durch die Verfallenheit an die Warenwelt ausgelösten Entfremdung wieder gewahr zu werden und damit mindestens einer notwendigen Bedingung für eine Wiedergewinnung emphatischer Freiheit inne zu werden: die Kunst. Damit hebt sich Marcuse erklärtermaßen von Marx und seinem Begriff der Entfremdung ab, der seinem Verständnis nach »das Verhältnis des Menschen zu sich und seiner Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft bezeichnet«.58 Die durch die Kunst ins Werk gesetzte Entfremdung – zumal die der surrealistischen Kunst – sei, so diagnostiziert Marcuse, ihrer subversiven Kraft benommen und ebenfalls dem Alltagsleben assimiliert worden: »Die fremden und entfremdenden Werke der geistigen Kultur werden zu vertrauten Gütern und Dienstleistungen.«59 Fraglich bleibt jetzt, ob dieser Prozess am Ende zur Demokratisierung der Kunst führt. Doch wird mit ihm zugleich eine Versöhnung vollzogen, die das Negative der Kunst, das sie einstmals bot, negiert: »Vor dieser kulturellen Versöhnung waren Literatur und Kunst wesentlich Entfremdung, hielten den Widerspruch aus und bewahrten ihn – das unglückliche Bewußtsein der gespaltenen Welt, der vereitelten Möglichkeiten, der unerfüllten Hoffnungen, der verratenen Versprechen.«60 Kunst, so wird Marcuse nicht müde zu beteuern, ist ihrem Wesen und Ursprung nach vor allem Negation, »große Weigerung«, weshalb ihre Institutionaliserung im Bereich einer »Hochkultur« noch vor aller Demokratisierung und Popularisierung bereits eine weitere Form der Entfremdung ist. Wenn es Intention der Kunst war, zu den entfremdenden Verhältnissen in Distanz, in eine Entfremdung zweiter Ordnung zu treten, so stellt ihre Wiedereingemeindung in den genießenden, gesellschaftlichen Konformismus gleichsam eine Entfremdung dritter Ordnung dar: »Trotz aller Demokratisierung und Popularisierung besteht sie in dieser Form fort während des neuzehnten und bis ins zwanzigsten Jahrhundert hinein. Die ›hohe Kultur‹, in der diese Entfremdung gefeiert wird, hat ihre eigenen Riten und ihren eigenen Stil.«61 In seinen späteren Schriften wird Marcuse immer weniger auf die Kraft der Kunst als auf den Lebens- und Widerstandswillen der vom »Welfare- und Warfare-State« Ausgeschlossenen setzen,62 nicht zuletzt in Konsequenz jenes letzten Satzes aus Der

57 

Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch (Neuwied, Berlin 1967) 28 f. Ebd. 79. 59  Ebd. 80. 60  Ebd. 81. 61  Ebd. 83. 62  Ders.: Versuch über die Befreiung (Frankfurt a. M. 1969). 58 

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eindimensionale Mensch, eines Zitates von Walter Benjamin: »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.«63 Über diese Formen der Rezeption des Entfremdungsbegriffs im westlichen Marxismus, zu der auch die Schriften von Henri Lefebvre zu zählen sind,64 wurde ›Entfremdung‹ in der über Heidegger vermittelten Aneignung der Schriften des jungen Marx in philosophischen Schulen des ehemaligen Ostblocks,65 etwa in der Tschechoslowakei,66 in Polen67 sowie vor allem des blockfreien Jugoslawien bedeutsam.68 Einer der bedeutendsten Autoren der Praxis-Gruppe, der Belgrader Philosoph Mihajlo Markovic, der sich intensiv mit Fragen der Entfremdung im realen Sozialismus und der Möglichkeit, sie im Rahmen der Arbeiterselbstverwaltung zu vermindern, beschäftigte,69 wandelte sich später zu einem großserbischen Nationalisten und Chefideologen von Slobodan Milošević’s Sozialistischer Partei Serbiens. Nicht zuletzt die offensichtlich beliebig, auch nationalistisch missbrauchbare Theorie der Entfremdung mochte dazu beigetragen haben, dass die letzten Arbeiten zu Begriff und Phänomen eine nüchterne, sozialpsychologisch zurückgenommene Rekonstruktion bevorzugen.70 So will Rahel Jaeggi unter ›Entfremdung‹ vor allem subjektiv wahrgenommene Phänomene wie Authentizitätsverlust und empfundenen Mangel an Möglichkeiten der Selbstverwirklichung verstehen – Probleme, die letzten Endes Fragen eines guten Lebens, einer Ethik der Person, aber nicht mehr die einer ›objektiven‹ Gesellschaftstheorie sind. Wenn überhaupt, so spielt das Problem der Entfremdung gesellschaftstheoretisch gegenwärtig dort wieder eine Rolle, wo es bereits H. Marcuse verortete: in der Theorie des »Konsumerismus«, der selbst wiederum Ausdruck eines nicht mehr klassischen, unter Entfremdung leidenden Subjekts ist, sondern wesentliches Merkmal von in ihren Wünschen, Ansprüchen und Grenzen nicht mehr genau bestimmbaren Personen,71 die mit dem Anspruch auf Identität zugleich 63 

H. Marcuse, a. a.O. [Anm. 57] 268. Henri Lefebvre: Kritik des Alltagslebens (Frankfurt a. M. 1991). 65  Bruno Schmid: Der Entfremdungsbegriff in der Gegenwart und seine ethische Relevanz. In: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften Bd. 25 (1984) 225–316. 66  Karel Kosík: Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik des Menschen und der Welt (Frankfurt a. M. 1970). 67  Adam Schaff: Entfremdung als ein gesellschaftlich-philosophisches Problem. In: Wissenschaft als interdisziplinäres Problem, Bd. 2, hg. von Richard Schwarz (Berlin, New York 1975) 52–77. 68  Gajo Petrović: Gibt es noch Entfremdung in sozialistischen Systemen? In: Entfremdung, hg. von Heinz-Horst Schrey (Darmstadt 1975) 265–285, zit. 283; zuerst in: G. Petrović: Wider den autoritären Marxismus (Frankfurt a. M. 1969) 131–150. 69  Mihajlo Markovic: Die Neue Linke und die Kulturrevolution. In: Mihály Vajda u. a.: Entfremdung, Dialektik, Kulturrevolution (o. O., o. J., Raubdruck ca. 1975). 70  Rahel Jaeggi: Entfremdung. Zur Aktualität eine sozialphilosophischen Problems (Frankfurt/M. 2005). 71  Ingolfur Blühdorn: Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende (Berlin 2013). 64 

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ihren Anspruch und ihren Willen zu kollektiver Autonomie, d. h. Demokratie preisgegeben haben72 und somit einem postdemokratischen Konsolidierungsregime73 bereitwillig den Weg ebnen: »Auszug aus der selbst erstrittenen Mündigkeit/selbstverschuldeten Selbstüberforderung.«74

72  Axel Honneth: Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung. In: ders.: Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus (Frankfurt a. M. 2002) 141–158. 73  Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus (Berlin 2013). 74  Blühdorn, a. a.O. [Anm. 71] 146.

Falko Schmieder

Entwicklung, Evolution

Der Begriff der ›Entwicklung‹ gehört zu denjenigen geschichtlichen Grundbegriffen, die Problemfelder öffnen und bearbeiten, die uns immer noch zu schaffen machen. Dass die Geschichte des Entwicklungsbegriffs im 19. Jahrhundert immer auch die Auseinandersetzung mit einem aktuellen – und zwar anhaltend prekären Erbe ist, wird deutlich an der Formel der ›nachhaltigen Entwicklung‹, die seit dem Bericht der Brundtland-Kommission 1987 zu einem Schlüsselwort der politischen Debatte avancierte. Die Formel verbindet eine Diagnose – die der Nicht-Zukunftsfähigkeit der gegenwärtigen Entwicklung – mit der politischen Forderung, auf einen langfristig naturverträglichen ›Entwicklungspfad‹ einzuschwenken.1 Mit diesem Gegenwartsbefund eines Widerspruchs zwischen Ökonomie und Ökologie, der eine grundlegende Neuorganisation des gesellschaftlichen Naturverhältnisses verlangt, sind eine Ausgangslage und ein Problemfeld bezeichnet, die im ›langen 19. Jahrhundert‹ Konturen gewinnen, denn hier bilden sich erstmals Fragestellungen, Problemwahrnehmungen und Begrifflichkeiten heraus, die bis heute relevant geblieben sind. Die begriffsgeschichtliche Rekonstruktion der Arbeit an und mit dem Entwicklungsbegriff im 19. Jahrhundert lässt sich vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeitsdebatte als Beitrag zur historischen Selbstaufklärung eines Erbe- und Schuldzusammenhangs verstehen, dessen politische Bewältigung viele Kommentatoren, darunter der Begriffshistoriker Reinhart Koselleck, an existenzielle Fragen geknüpft sehen.2 Im 19. Jahrhundert erhielten der Entwicklungsbegriff und der mit diesem häufig eng verbundene, teilweise synonym gebrauchte Evolutionsbegriff grundlegend neue Bedeutungen, die tief greifende Umbrüche des Geschichts-, Natur- und Selbstverständnisses anzeigen. Die ersten, an semantischen Transformationen greifbaren Erschütterungen des traditionellen Weltbildes ergaben sich bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Auf dem Gebiet der Embryologie beginnt mit Caspar Friedrich Wolffs Kritik (1764) eine Infragestellung der Präformationstheorie durch die Theorie der Epigenesis. Ein wichtiges Element der Präformationstheorie war der von Leibniz in das Feld eingeführte und vor allem durch Albrecht von Haller und Charles Bonnet verbreitete Begriff der Evolution, der den Vorgang der »Auswickelung« eines (durch ursprüngliche Schöpfung) vorgebildeten, unsichtbar eingewickelten Keims bezeichnet. Die Reziprozität 1  Vgl. Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs (München 2010). 2 Vgl. Reinhart Koselleck: Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ›Krise‹. In: ders.: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache (Frankfurt a. M. 2006) 203–217, bes. 213–215.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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von Keim und Endgestalt wird mit den seit Leibniz verbreiteten Begriffspaaren ›évolution‹ / ›involution‹ und ›développement‹ / ›enveloppement‹ ausgedrückt.3 Wolff kritisiert die Präformationstheorie mit dem Verweis darauf, dass sich bei der Ontogenese durch Prozesse einer sukzessiven Differenzierung des Keims wirkliche Neubildungen ergäben.4 In den Auseinandersetzungen mit der Epigenesis, die aufgrund der Verbindung der Präformationstheorie mit der Schöpfungslehre immer auch politische waren, wurde der Begriff der Evolution dann beinahe zu einem Schlagwort.5 Über die weltanschaulichen Implikationen der Auffassungen über das embryonale Wachstum hinaus erwuchs die allgemeinere Bedeutung der Diskussionen aus der Frage nach dem Zusammenhang der Generationen und der Stellung des Menschen in der Natur. Die prägende Bedeutung der Biologie für die Debatten zeigt sich an den Metaphern des ›Keims‹ und der ›Anlage‹, die in den naturphilosophischen Spekulationen der Zeit notorisch begegnen und mindestens bis in die 1830er Jahre von zentraler epistemischer Bedeutung bleiben. Eine Übertragung des Entwicklungsbegriffs auf das Feld des Sozialen vollzieht Tetens in seinen Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwickelung (1777) unter der leitenden Frage, ob »die Ausbildung der Vermögen eine Evolution schon vorhandener Naturanlagen, oder eine Epigenesis sey, die neue Vermögen hervorbringt, wozu vorher nicht mehr als die Empfänglichkeit sie annehmen zu können vorhanden war«.6 Tetens hält fest, dass »die deutschen Philosophen […] fast alle Epigenisisten bey der Seele«, »die deutschen Physiologen« dagegen »Evolutionisten bey dem Körper«7 seien. Der von Tetens hervorgehobene und im Konzept der »Epigenesis durch Evolution«8 befestigte epigenetische Grundzug im Denken der Zeit wird besonders deutlich bei Herder, der Begrifflichkeiten und Denkmodelle der Biologie für geschichtsphilosophische Darstellungen nutzt und neben Justus Möser zu den ersten Autoren gehört, die den Entwicklungsbegriff auf die politische Sphäre übertragen.9 Steht bei Lessing der Entwicklungsbegriff noch ganz im Zeichen von Erziehung und Bildung, so lässt sich bei Herder eine stärkere Universalisierung und Subjektivierung erkennen, die sich aus der Verallgemeinerung epigenetischer Vor3  Vgl.

Manfred Briegel: Evolution: Geschichte eines Fremdworts im Deutschen (Freiburg 1963) 116. 4 Vgl. Caspar Friedrich Wolff: Theoria generationis (Halle 1759); ders.: Theorie von der Generation, in zwei Abhandlungen erklärt und bewiesen (Berlin 1764; Nachdruck Hildesheim 1966) bes. 60. 5  Vgl. M. Briegel: Evolution, a. a.O. [Anm. 3] 122. 6  Johann Nicolas Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung, zweyter Band (Leipzig 1777) 434. 7  Ebd., vgl. auch 549. 8  Ebd. 512. 9 Vgl. Wolfgang Wieland: Entwicklung, Evolution. In: Geschichtliche Grundbegriffe [im Folgenden: GG] 2, hg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Stuttgart 1975) 199–228, hier 203f.

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stellungen ergibt. Herder ist sich dieser Differenz bewusst gewesen, wie eine Frage aus seiner anonym veröffentlichten Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) verdeutlicht: »Sollte es nicht offenbaren Fortgang und Entwicklung aber in einem höhern Sinn geben, als man’s gewähnet hat?«10 Die Geschichte der Menschheit wird bei Herder als kontinuierliche Fortsetzung der natürlichen Entwicklung begriffen. Als ihren Endzweck sieht er die Verwirklichung der allgemeinen Anlage zur Humanität, die durch schrittweise Vervollkommnung zu erreichen sei. Der Entwicklungsbegriff übernimmt damit die Funktion, den gesetzmäßigen Zusammenhang aller natürlichen Sphären sowie insbesondere die Richtungsbestimmtheit und Unumkehrbarkeit des Geschichtsverlaufs auszudrücken.11 Zwar wird der Begriff häufig von sinnverwandten Wörtern wie ›Fortgang‹, ›Fortschreiten‹, ›Fortbildung‹, ›Bildung‹, ›Veränderung‹, ›Progression‹ oder ›Verwandlung‹ begleitet oder durch diese vertreten, es deutet sich aber schon die Herausbildung einer Sonderstellung von ›Entwicklung‹ als Begriff mit Programmfunktion an, der nicht mehr oder schwer zu ersetzen ist.12 Wolfgang Wieland hat in seiner Darstellung des Entwicklungsbegriffs die Wende zum 19. Jahrhundert als Schwelle bezeichnet, an der sich der selbstbezügliche Kollektivsingular ›Entwicklung‹ herauszubilden beginnt.13 Als signifikant für den Umschlag betrachtet er eine 1801 erschienene Arbeit von Daniel Jenisch, der, zunächst ähnlich wie Herder, »die Wörter ›Entwickelung, Bildung, Ausbildung, Cultur‹ […] gewöhnlich als Synonyme«14 gebraucht, zugleich aber auch von »Entwicklungsgeschichte« spricht und extensiven Gebrauch von dem neuen Entwicklungsbegriff macht. Sprachlich kommt die Wende in der ab 1800 zu beobachtenden Ergänzung und Verdrängung der transitiven durch die reflexive Form des ›sich‹-Entwickelns zum Ausdruck, in der Subjekt und Objekt der Entwicklung nicht mehr voneinander unterschieden sind, sondern zusammenfallen. Bei Herder dagegen kommt der Begriff noch nicht ohne zwei Stützen aus, die symptomhaft auf Probleme der Übertragbarkeit des biologischen Grundmodells verweisen. Zum einen ergänzt Herder seine Theorie der natürlichen Entwicklung im 9. und 10. Buch der Ideen durch den Gedanken der Erziehung, der bei Lessing noch im Zentrum stand;15 zum zweiten rekurriert er auf die Instanz einer »Vorsehung«, die insbesondere an den Bruchstellen der Geschichte 10  Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts. In: ders.: Sämtliche Werke [im Folgenden: SW] 5, hg. von Bernhard Suphan (Berlin 1891) 475–586, hier 512. 11  Vgl. W. Wieland: Entwicklung, Evolution, a. a.O. [Anm. 9] 207. 12  Zu einer leicht abweichenden Interpretation vgl. ebd. 13  Vgl. ebd. 14  Vgl. Daniel Jenisch: Universalhistorischer Ueberblick der Entwickelung des Menschengeschlechts, als eines sich fortbildenden Ganzen. Eine Philosophie der Culturgeschichte: in zwey Bänden 1 (Berlin 1801) 35. 15  Vgl. Klaus Weyand: Entwicklung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie [im Folgenden: HWPh] 2, hg. von Joachim Ritter (Darmstadt 1972) 550–557, hier 553.

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und ihrer Darstellung in Anschlag kommt, um den »Faden der Entwicklung«16 weiterzuleiten und den höheren Sinn der Entwicklung zu garantieren. Bei Herder sind damit Fragestellungen und Konfliktlinien exponiert, an denen sich insbesondere die Geschichtsphilosophen des Deutschen Idealismus, aber auch Vertreter der Romantik abarbeiten. Zentrale Probleme bilden die Vermittlung von Individual- und Gesellschaftsentwicklung sowie das Verhältnis von Naturgeschichte und bürgerlicher Geschichte. Kant wendet sich in seiner Kritik an Herder gegen die Subsumtion der Geschichte unter die Natur, die der Freiheit menschlicher Willenshandlungen nicht angemessen sei. Zwar geht auch Kant, mit Herder, von menschlichen »Naturanlagen« aus, die bestimmt sind, »sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln«.17 Er insistiert jedoch auf der besonderen Qualität der historischen Entwicklung im Unterschied zur natürlichen: Die Menschen müssen »durch ihre eigene Thätigkeit die Entwickelung des Guten aus dem Bösen dereinst zu Stande«18 bringen; während die Tiere vom Instinkt geleitet ihre natürliche Bestimmung automatisch erreichen, perfektioniert sich der Mensch »nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken«.19 Auf dem Feld der zeitgenössischen Philosophie und Pädagogik individueller Selbstgestaltung wird (u. a. bei Friedrich Heinrich Jacobi und Friedrich August Carus) die hier implizierte Frage nach dem Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit unter Verwendung des Ausdrucks ›Selbstentwickelung‹ diskutiert, die die innere Verursachung von Entwicklungen meint.20 Komplexer als auf dem Feld der Individualentwicklung erschien die Frage nach der Realisierung der Vernunft in der Geschichte. Auf diesem Feld greift auch Kant, ähnlich wie Herder, auf das Konzept eines verborgenen »Naturplans« zurück, der die naturgesetzlichen und freiheitlichen Bestimmungen miteinander vermittelt. »Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird.«21 Die Denkfigur, dass die Verfolgung partikularer Interessen zu Resultaten führt, die keiner gewollt oder antizipiert hat, und dass sich in diesen Resultaten eine höhere Absicht oder Vernunft realisiert, bildet den Kern der geschichtsphilosophischen Spekulationen, die das Nachdenken über Entwicklungspro-

16  Vgl. J. G. Herder: Auch

eine Philosophie, a. a.O. [Anm. 10] 487. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: ders.: Akademie Textausgabe [im Folgenden: AA] 8, 15–31, hier 18. 18  Ders.: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: AA 7, a. a.O. [Anm. 17] 117–334, hier 329. 19  Ebd. 321. 20 Vgl. Georg Toepfer: Art. Entwicklung. In: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe [im Folgenden: HWB] 1 (Stuttgart, Weimar 2011) 391–437, hier 414. 21  I. Kant: Idee, a. a.O. [Anm. 17] 20. 17  Immanuel

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zesse im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nachhaltig geprägt haben.22 Ähnlich wie Kant argumentieren Forster, der den »vermeynte[n] Contrast zwischen der physischen und sittlichen Bestimmung des Menschen«23 im Rückgang auf eine »Absicht der Natur« auflöst, die »auf Entwicklung der Kräfte, auf Handlung, Bewegung, Thätigkeit«24 geht, und Fichte, der den Einzelnen, »getrieben durch das Naturgesetz der Entwicklung unserer Gattung«, »ohne sein eigenes Wissen und besonnenes Wollen«25 den freiheitlichen Zweck der Natur befördern sieht. Für Schlegel dagegen widerspricht nichts so sehr dem Charakter und Begriff des Menschen »als die Idee einer völlig isolierten Kraft, welche durch sich und in sich allein wirken könne«. »Schon der unbestimmte Begriff, welchen der gewöhnliche Sprachgebrauch mit den Worten ›Kultur, Entwicklung, Bildung‹ verbindet, setzt zwei verschiedene Naturen voraus; eine, welche gebildet wird, und eine andre, welche durch Umstände und äußre Lage die Bildung veranlaßt und modifiziert, befördert und hemmt.«26 Für Schlegel resultiert die »Bildung oder Entwicklung der Freiheit« aus der Wechselwirkung von bildenden und aneignenden Kräften, wobei er in Bezug auf die Entwicklung der gesamten Menschheit von »natürlicher« und in Bezug auf den Einzelnen von »künstlicher« Entwicklung bzw. Bildung spricht.27 Die Spannung zwischen der Betonung der Verantwortlichkeit und moralischen Autonomie des Einzelnen und seiner Depotenzierung zum »Werkzeug« oder »Mittel« der Realisierung eines höheren Zwecks ergibt sich häufig in den Teilen zur praktischen Philosophie, die einen engeren Bezug zum zeitgenössischen politischen und sozialen Geschehen unterhalten. Das Schlüsselereignis war zweifellos die Französische Revolution, die häufig mit der Metapher des Erdbebens erfasst wurde und als gewaltsamer und unvermittelter Bruch mit den überkommenen Ordnungen erschien.28 Die Konsequenzen dieses Differenzereignisses für den Gebrauch des Entwicklungsbegriffs können in ihrer Tragweite kaum überschätzt werden. Markant zeigen sie sich am Bedeutungs- und Beziehungswandel der Terme ›Revolution‹ und ›Evolution‹. In ihren vorrevolutionären Bestimmungen sind beide an wiederkehrende natürliche Verlaufsprozesse 22 Vgl.

Heinz Dieter Kittsteiner: Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens (Frankfurt a. M. 1998). 23  Georg Forster: Cook, der Entdecker. In: ders. Werke in vier Bänden 2, hg. von Gerhard Steiner (Leipzig 1971) 107. 24  Ebd. 207. 25  Johann Gottlieb Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. In: ders.: Sämmtliche Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte (Berlin 1845/46) 7, 161. Vgl. zu Fichte ausführlich Natalie Wipplinger: Der Entwickelungs-Begriff bei Fichte (Leipzig 1900). 26  Friedrich Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie [1795–1797]. In: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe 1, eingel. und hg. von Ernst Behler (München u. a. 1987 ff.) 217–367, hier 229. 27  Vgl. ebd. 230. 28  Vgl. Edmund Burke: Betrachtungen über die Französische Revolution. In: ders.: Betrachtungen über die Französische Revolution, hg. von Ulrich-Frank Planitz (Zürich 1986) 33–421.

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gebunden: ›Revolution‹ bezog sich seit Kopernikus als Terminus der Astronomie auf den Umlauf der Gestirne, ›Evolution‹ auf die Auswicklung und das Wachstum von Keimanlagen. In den Versuchen zu einer allgemeinen Naturgeschichte der Erde wurde der Revolutionsbegriff dann, unter anderem bei Buffon, von der astronomischen auf die geologische Ebene übertragen, wo er zur Charakterisierung größerer erdgeschichtlicher Umwälzungen diente.29 Herder greift diesen Revolutionsbegriff in seinen Ideen auf und dehnt seinen Anwendungsbereich auf die Sphäre des Sozialen aus, so dass er nunmehr verschiedene Formen diskontinuierlicher Entwicklungen bezeichnete.30 Einen grundsätzlichen Unterschied zwischen natürlichen und geschichtlichen ›Revolutionen‹ sowie zwischen evolutionären und revolutionären Veränderungen sah Herder zunächst jedoch nicht. Dies änderte sich schlagartig durch die Erfahrung des gewaltsamen Bruches mit der traditionellen Ordnung durch die Französische Revolution, in deren Folge der Revolutionsbegriff zu einem dezidierten Gegenbegriff zum Evolutionsbegriff wurde. Der erste Beleg dieser begrifflichen Antithese findet sich in Herders Aufsatz Tithon und Aurora aus dem Jahre 1792. Herder schlägt darin den Ausdruck ›Evolution‹ als Ersatz für den »vorrevolutionären« Revolutionsbegriff vor.31 Auffällig ist, dass die Natur nun nicht mehr, wie in seiner organologischen Entwicklungskonzeption, als Modell und Analogienlieferantin, sondern in einem qualitativ neuen Sinne als eine Art Vorbild und Antidotum gegen die mögliche Wiederholung gewaltsamer gesellschaftlicher Disruptionen dient. »Nicht Revolutionen, sondern Evolutionen sind der stille Gang dieser großen Mutter [Natur; F.S.], dadurch sie schlummernde Kräfte erweckt, Keime entwickelt […]. Wenn wir der Natur Einen Zweck auf der Erde geben wollen, so kann solcher nichts seyn als eine Entwicklung ihrer Kräfte in allen Gestalten, Gattungen und Arten. Diese Evolutionen gehen langsam, oft unbemerkt fort, und meistens erscheinen sie periodisch.«32 Kurz darauf hat Herder die neue begriffliche Antithese weiter profiliert: »Mein Wahlspruch bleibt also fortgehende, natürliche, vernünftige Evolution der Dinge; keine Revolution. Durch jene, wenn sie ungehindert fortgeht, kommt man dieser am sichersten zuvor; durch jene wird diese unnütz und zuletzt unmöglich. Predigen Sie diesen Spruch den Mächtigen der Erde; alle Verständigen sind über ihn einig.«33 Mit akzentuierterem Bezug 29  Georges-Louis Leclerc de Buffon: Second Discours. Histoire et Théorie de la Terre. Histoire naturelle, générale et particulière (Paris 1749ff.) 65–124; ders.: Les Époques de la Nature (1778). In: ders.: Œuvres complètes (1774–1778), publ. par Lucien Picard (Paris 1894). 30  Vgl. J. G. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: SW 13, a. a.O. [Anm. 10] 21f. – Vgl. zu diesem Aspekt ausführlicher Wolfert von Rahden: Revolution und Evolution. In: Forum interdisziplinäre Begriffsgeschichte 1 (2012), http://www.zfl-berlin.org/ forum-begriffsgeschiche-detail/items/forum-interdisziplinaere-begriffsgeschichte.html [letzter Zugriff 30.3.2014]. 31  Vgl. dazu ausführlich Briegel: Evolution, a. a.O. [Anm. 3] 297 ff. 32  J. G. Herder: Tithon und Aurora. In: SW 16, a. a.O. [Anm. 10] 109–128, hier 117 f. 33  Ders.: Briefe zu Beförderung der Humanität (17. Brief). In: SW 18, a. a.O. [Anm. 10] 330– 332, hier 332.

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zur Sphäre der Politik wird diese begriffliche Antithese in der 1795 erschienenen Abhandlung Ueber das Recht des Volks zu einer Revolution von dem Kant-Anhänger Johann Benjamin Erhard entwickelt. Erhard macht sich Gedanken über einen Staat, der durch vorsorgende Maßnahmen revolutionären Entwicklungen zuvorkommt. »In einem solchen Staate geschiehet das, was in andern durch Revolutionen geschiehet, durch eine von der Weisheit bewirkte Evolution.«34 Kant übernimmt 1798 mit Verweis auf Erhard diese Antithese und entwirft das Programm eines politischen Reformismus, der die Wiederholung der Revolution ausschließen soll. Der »Fortschritt zum Besseren«35 dürfe nicht »durch Revolution, die jederzeit ungerecht ist«,36 geschehen; er soll »nicht durch den Gang der Dinge von unten hinauf, sondern den von oben herab«37 erwartet werden. Kants Leitbild ist ein Staat, der »sich von Zeit zu Zeit auch selbst reformire und, statt Revolution Evolution versuchend, zum Besseren beständig fortschreite«.38 Im manifest politischen Bereich wird damit von Herder über Kant bis zu Hegel der geschichtsphilosophische Servomechanismus der ›unsichtbaren Hand‹ in die Kompensations- und Steuerungsfunktionen der ordnend eingreifenden Hand des politischen Souveräns überführt, wobei die Chancen einer vernünftigen Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung häufig eher pessimistisch beurteilt werden. So heißt es schon bei Georg Forster, der »weisen Staatskunst« scheine »weiter nichts übrig zu bleiben, als über die Entwicklung verschiedener Kräfte so zu wachen, daß sie einander nicht zerstören können«.39 Wie tief die Spuren sind, die die Französische Revolution im Sprachhaushalt des 19. Jahrhunderts hinterlassen hat, lässt sich an der Vielfalt und längerfristigen Konstanz von Beiwörtern wie ›ruhig‹, ›friedlich‹, ›allmählich‹, ›stetig‹, ›organisch‹ oder ›sicher‹40 sehen, die in politischen Kontexten an den Begriff der ›Evolution‹ in Gegenstellung zu ›Revolution‹ geknüpft werden. Die begriffliche Antithese ›Evolution‹ vs. ›Revolution‹ liefert zugleich einen Schlüssel zum Verständnis des selbstbezüglichen Kollektivsingulars ›der‹ Entwicklung. Er verweist auf die Erfahrung der Herausbildung einer neuen, genuin geschichtlichen Zeiterfahrung sowie der Verselbstständigung der Geschichte als einer ›zweiten Natur‹, die eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt und deren Resultate die Einzelnen als etwas ihnen von außen Zustoßendes, als äußere Schicksals34  Johann Benjamin Erhard: Ueber das Recht des Volks zu einer Revolution (Jena/Leipzig 1795) 189. 35  Kant: Der Streit der Fakultäten. In: AA 7, a. a.O. [Anm. 17] 1–116, hier 86. 36  Ebd. 86 f., hier 87. 37  Ebd. 92. 38  Ebd. 93. 39  G. Forster: Cook, der Entdecker, a. a.O. [Anm. 23] 208. – Ein Locus Classicus der resignativen Geschichtsbetrachtung ist der Paragraph 245 aus Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden [im Folgenden: Werke] 7, auf Grundlage der Werke von 1832–1845 neu hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel (Frankfurt a. M. 1986ff.), 390 f. 40  Vgl. M. Briegel: Evolution, a. a.O. [Anm. 3] 293, 320.

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macht erfahren. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts stehen noch keine begrifflichen Instrumente bereit, die Spezifik der Entwicklung dieser ›zweiten‹ Natur zu erfassen. Allerdings ist sich diese Epoche in ihren Bildern und Metaphern weit voraus. Die markantesten Bilder mit einer Wucht, die bis in die Gegenwart anhält, hat sicher Goethe mit seinem Konzept des ›Veloziferischen‹41 und seinen Figuren des Faust oder des Zauberlehrlings gefunden, die wie Gespenster durch die weitere Theoriegeschichte geistern. Es werden mehrere Jahrzehnte vergehen, bis die Theorie die in ihnen sedimentierten Erfahrungen eingeholt und begrifflich-diskursiv verarbeitet hat. Eine Voraussetzung dafür ist die Überwindung des wesentlich statischen Paradigmas der oeconomia naturae sowie der teleologischen Geschichtsauffassung, wie sie mit allen epigenetischen, am Modell der Embryonalentwicklung orientierten Theorien verbunden ist. Das begriffliche Oppositionspaar ›Evolution‹ vs. ›Revolution‹ behält seine direkte Relevanz mindestens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts;42 in der politisch vermittelten Antithese ›Reform‹ vs. ›Revolution‹ bleibt es bis in die jüngere Gegenwart präsent. Zur Zeit des Vormärz wird es zum Gegenstand und Mittel in der tagespolitischen Debatte, wie am Streit zwischen Menzel und Börne deutlich wird.43 Schon sehr früh wird es von Vertretern verschiedener Parteiungen zum Einsatz gebracht, wobei sich die eindeutigen Bewertungsschemata und die strikte Dichotomisierung im Laufe der Zeit wenn auch nicht auflösen, so doch lockern. Aufschlussreich ist ein Vergleich der Ausgaben des Philosophischen Fachwörterbuchs von Wilhelm T. Krug aus den Jahren 1832 und 1838. Er zeigt, dass in diesem Zeitraum die Rede von politischen oder sozialen Evolutionen besonders gebräuchlich war, wozu in besonderer Weise Franz von Baaders Aufsatz Ueber den Evolutionismus und Revolutionismus aus dem Jahre 1834 beigetragen haben dürfte. Der Autor bemängelt, dass der Revolutionismus bisher »nur einseitig, nemlich von seiner negativen Seite […], nicht aber zugleich von seiner positiven Seite« gefaßt worden sei. Er selbst begreift die Revolution als eine »abnorme[n], monstrosische[n] Evolution oder Geburt des Lebens«, die »nur die Folge einer (verschuldeten oder nichtverschuldeten) nicht-assistirten, schlecht assistirten, oder zurückgedrängten positiven Evolution desselben Lebens ist«.44 Bei Baader fällt somit der Gegensatz von Revolution und Evolution in den Be41  Vgl. dazu Manfred Osten: »Alles Veloziferisch«. Goethes Ottilie und die beschleunigte Zeit. In: Goethe und das Zeitalter der Romantik, hg. von Walter Hinderer (Würzburg 2002) 213–229. 42  Noch bei Lenin findet sich der Vorwurf an die Revisionisten, dass sie »die ›raffinierte‹ (und revolutionäre) Dialektik durch die ›einfache‹ (und ruhige) ›Evolution‹ ersetzten«, siehe: Wladimir Iljitsch Lenin: Marxismus und Revisionismus. In: ders.: Werke, Bd. 12, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU (Berlin 1974) 17–28, hier 21. 43  Vgl. Wolfgang Menzel: Herr Börne und der deutsche Patriotismus. In: Morgenblatt für gebildete Stände (30), Literatur-Blatt 37 (Stuttgart und Tübingen 1836) 145–148, bes. 147; sowie Ludwig Börne: Menzel der Franzosenfresser. In: ders: Sämtliche Schriften 3, hg. von Inge und Peter Rippmann (Düsseldorf 1964) 871–969, hier 956. 44  Franz von Baader, Ueber den Evolutionismus und Revolutionismus, oder die positive

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griff der Evolution selbst, der in seiner weiten Bedeutung als »Manifestation des Lebens« zugleich jene negativen, zerstörerischen Momente enthält, denen eine religiös erneuerte Politik auf dem Wege von Reformen begegnen soll. Noch weit radikalere Dialektisierungen implizieren die Konzepte der ›industriellen Revolution‹ und der ›revolutionären Entwicklung‹, die sich seit den 1820er Jahren häufiger nachweisen lassen.45 Bemerkenswert an diesen Prägungen ist die mit ihnen bewerkstelligte Übertragung von Gehalten einer punktuellen, als katastrophal angesehenen politischen Ausnahmesituation in den Kontext der Reproduktion der gesellschaftlichen Ordnung. In Hegels Theorie geschichtlicher Entwicklung als ›Arbeit des Negativen‹ wird die dialektische Einheit von schaffenden und negierenden Kräften im Rahmen einer Geistphilosophie im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts am konsequentesten entfaltet. Eine spezifische Ausgestaltung des Entwicklungsbegriffs, die für den Historismus prägend wird, findet sich bei Friedrich Carl von Savigny. Auch sie kann als eine Reaktion auf die Französische Revolution angesehen werden, und zwar genauer als Versuch, sich auf die neuen geschichtlichen Umstände und das neue politische Zeitbewusstsein einzustellen und unter diesen Bedingungen konservative Positionen zu behaupten.46 In Savignys Verwendung des Entwicklungsbegriffs ist der Übergang zu einer hypostasierten, sich in der Zeit entwickelnden überpersönlichen Entität vollzogen. Das Substrat der Entwicklung ist für Savigny der Volksgeist, der als ein lebendiger Organismus begriffen wird, der ›sich‹ in der Zeit entwickelt, ohne jedoch auf irgendein Endziel zuzusteuern – dies unterscheidet Savignys Entwicklungsbegriff deutlich von demjenigen Hegels, der die Entwicklung des Weltgeistes als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit begreift. Bei Savigny wird ›Entwicklung‹ von ›Fortschritt‹ oder einem teleologischen Naturplan gelöst und meint lediglich »eine stetige, unumkehrbare, ganzheitsbezogene und eigengesetzliche Veränderung an einem überindividuellen, als beharrend gedachten Substrat«.47 Savignys organologische Entwicklungskonzeption erkennt zwar den historischen Wandel als unhintergehbaren, unausweichlichen an, schließt jedoch zugleich die Möglichkeit einer politischen Steuerung aus. Die Erfahrung der Revolution führt hier also nicht zur Aufsprengung oder Preisgabe von Analogien zwischen biologischer und historischer Entwicklung, sondern im Gegenteil zu einer verstärkten Biologisierung der Geschichte, in deren Rahmen die Rede vom Volksgeist als ›organischem‹ Wesen kaum mehr metaphorisch gemeint ist.48 und negative Evolution des Lebens überhaupt und des socialen Lebens insbesondere. In: ders.: Sämmtliche Werke 6, hg. von Franz Hoffmann (Leipzig 1854) 73–108, hier 75. 45  Lucian Hölscher gibt in seinem Beitrag zum Artikel ›Industrie‹ als frühesten Beleg für ›industrielle Revolution‹ einen aus dem Jahre 1827 an (vgl. ders.: Art. Industrie. In: GG 3, a. a.O. [Anm. 9] 294); im Artikel ›Revolution‹ dagegen wird der erste Beleg auf das Jahr 1797 datiert (vgl. Reinhart Koselleck: Art. Revolution. In: GG 5, a. a.O. [Anm. 9] 769). 46  Vgl. W. Wieland: Entwicklung, Evolution, a. a.O. [Anm. 9] 216. 47 Ebd. 48  So W. Wieland, ebd. 215.

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Die um 1800 erfolgende Etablierung der Biologie als selbständige Wissenschaft führte zu einer Ausdifferenzierung und Neuorganisation der Sichtweisen auf die Natur und ihre Entwicklung, die das statisch-harmonistische Naturbild der Präformationslehre – und damit das Leitmodell der bisherigen Entwicklungskonzeptionen – in seinen Grundfesten erschütterte. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird der Gegensatz von präformistischer Evolution und Epigenese überlagert und durchkreuzt von einem zweiten Gegensatz, der sich allgemein auf das Verhältnis von kontinuierlichen und diskontinuierlichen Entwicklungen bezieht. Die Arbeit an diesem Gegensatz hat die Theoriebildung auf verschiedenen naturwissenschaftlichen Feldern vorangetrieben. Einen der praktischen Ausgangspunkte bildete das Rätsel fossiler Hinterlassenschaften von Lebewesen, die in der zeitgenössischen Gegenwart nicht mehr auffindbar waren.49 Diese Beobachtungen waren eine Herausforderung nicht nur für die Präformationslehre, sondern auch für das epigenetische Entwicklungsdenken, denn die Natur schien sich nicht nur allmählich, sondern auch in Sprüngen, diskontinuierlich zu entwickeln. Zur Bezeichnung dieser abrupten Wandlungen wurde häufig der Revolutionsbegriff verwendet, ohne dass sich jedoch eine feste terminologische Antithese zum Evolutionsbegriff herausgebildet hätte. Im Gegenteil lässt sich an vielen prominenten Verwendungsweisen zeigen, dass die Begriffe ›Evolution‹ und ›Revolution‹ häufig promiscue verwendet wurden und auch nach der Französischen Revolution durchaus austauschbar waren. Im Sinne einer scharfen Zäsur wird der Revolutionsbegriff in Cuviers Discours sur les revolutions de la surface du globe (1815) verwendet. Cuvier erklärt darin die Diskontinuität der fossilen Flora und Fauna in den Sedimentschichtungen als Folge von Katastrophen und periodischen Neuschöpfungen. Er vertritt damit eine Auffassung, die bis in die 1850er Jahre zahlreiche Anhänger hat.50 In dem Werk Zoonomia (1794–1796) von Erasmus Darwin, dem Großvater von Charles Darwin, dient dagegen der Evolutionsbegriff zur Bezeichnung einer plötzlichen Zäsur, wenn er die These vertritt, dass »the world itself might have been gradually produced from very small beginnings […] rather than by a sudden evolution of the whole by the Almighty fiat«.51 Eine Art Synthese findet sich schließlich in den Principles of Geology (1830–1833) von Charles Lyell, der in der Darstellung seiner wegweisenden Idee zyklischer erdgeschichtlicher Umwälzungen den Ausdruck »gradual evolution«52 verwendete. Die potentielle Austauschbarkeit und der lange Zeit uneinheitliche Gebrauch der Begriffe ›Evolution‹ und ›Revolution‹ im Schnittfeld zwischen Geologie und Biologie verweist auf die komplexe Dynamik der Verzeitlichung des naturge49  Vgl. Thomas A. Goudge: Evolutionism. In: Dictionary of the History of Ideas 2, ed. by Philip Wiener (New York 1973) 174–189, hier 176. 50 Vgl. Wolfgang Lefèvre: Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie (Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1984) bes. 158–162. 51  Erasmus Darwin: Zoonomia; or the Laws of organic life 1 (Philadelphia 41818) 401. 52  Charles Lyell: Principles of Geology 2 (London 41835) 417.

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schichtlichen Denkens, das sich allerdings bis zu Darwins epochemachender Schrift noch innerhalb eines letztlich unhistorischen Bezugsrahmens bewegte. Die immensen Spannungen zwischen statischen und historischen Auffassungen, die sich als Bedeutungsschichten auch in den Verwendungen des Evolutionsbegriffs niederschlagen, dokumentiert eine erstaunliche Passage des Stammvaters der evolutionistischen Präformationslehre, der in seiner posthum erschienenen Protogaea (1749) auf Mutmaßungen Bezug nimmt, »es seien einstmals, als der Ozean alles bedeckte, die Tiere, die heute das Land bewohnen, Wassertiere gewesen, dann seien sie mit dem Fortgange dieses Elementes allmählich Amphibien geworden und hätten sich schließlich in ihrer Nachkommenschaft ihrer ursprünglichen Heimat entwöhnt«.53 Eine neue Aktualität gewann diese – von Leibniz aufgrund ihres Widerspruchs zur Schöpfungslehre ausdrücklich abgelehnte – Spekulation durch die Arbeiten des französischen Naturforschers Jean Baptiste Lamarck, der als erster eine umfassende Theorie der Transformation der Arten ausgearbeitet hat. Allerdings handelt es sich bei Lamarck noch nicht um eine Theorie der Abstammung aller Organismen von einem gemeinsamen Vorfahren. Vielmehr geht Lamarck von einer beständigen Erzeugung einfachster Organismen aus, die sich dann durch das kombinierte Wirken eines inneren Triebs zur Höherentwicklung mit dem Prinzip der Vererbung erworbener Eigenschaften zu immer komplexeren Wesen entwickeln. Lamarck löst damit das epigenetische Verständnis der Art als identisches Substrat des ontogenetischen Entwicklungsprozesses auf und ersetzt es durch die Vorstellung eines identischen Substrats des Entwicklungsprozesses der Arten.54 Lamarck scheint an keiner Stelle den Evolutionsbegriff zu verwenden. Zu seinen Schlüsselvokabeln gehören die Begriffe ›Entwicklung‹ (développment) bzw. ›Höherentwicklung‹ und ›Transformation‹. Zum ersten Mal im Sinne einer Transformation der Arten scheint ihn Julien Joseph Virey im Jahre 1816 zu verwenden;55 im Englischen taucht ›evolution‹ in dieser neuen Bedeutung wohl erstmals 1826 auf, und zwar in einer Darstellung, die sich mit Lamarcks Transformationstheorie beschäftigt.56 Eine zentrale Stellung kommt dem Entwicklungsbegriff in den naturphilosophischen Spekulationen Schellings und in Hegels Geschichtsphilosophie zu. Ihre Arbeiten dokumentieren nicht nur die enge Verzahnung von philosophischem und biologischem Wissen, sondern darüber hinaus auch, dass die Biologie auch dort noch von paradigmatischer Bedeutung bleibt, wo die Unterschiede dieser Wissensformen und korrespondierenden Phänomenbereiche herausgestellt werden. 53  Gottfried Wilhelm von Leibniz: Protogaea oder Abhandlung von der ersten Gestalt der Erde und den Spuren der Historie in den Denkmaalen der Natur, hg. und übers. von Wolf von Engelhardt (Stuttgart 1949) 25. 54  Vgl. ausführlicher W. Lefèvre: Entstehung, a. a.O. [Anm. 50] 42. 55  So G. Toepfer: Art. Evolution. In: HWB 1, a. a.O. [Anm. 20] 481–539, hier 482. 56  Vgl. ebd. 482 f.

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Schelling begreift in seinem spekulativen Entwurf die Wirklichkeit als »Selbstentfaltung« eines Absoluten, die für ihn identisch ist mit der »Entwicklung der absoluten Vernunft«. Dieser in der Offenbarung Gottes kulminierende Prozess schließt für Schelling auch die Evolution der Natur ein, die von der Entwicklung des Geistes unterschieden und auch terminologisch – wenn auch nicht durchgängig konsistent – abgesetzt wird. In diesem Zusammenhang nimmt er auf die Spekulationen über Entwicklungen in der Natur Bezug und wendet sich deutlich gegen das Transformationskonzept. Die Behauptung, »daß wirklich die verschiednen Organisationen durch allmählige Entwicklung aus einander sich gebildet haben«, ist für ihn ein »Misverständniß einer Idee, die wirklich in der Vernunft liegt«.57 Dennoch wurde sein eigener Begriff der Evolution zumindest darin als Andeutung späterer Evolutionsvorstellungen interpretiert, dass er die Evolution der Natur, im Unterschied zur Entwicklung eines individuellen Organismus, als »unendlich« begreift.58 Verstanden als »allgemeine Productivität«, könne »die Evolution nicht stillestehen bey etwas, das noch Product ist, sondern nur bey dem rein productiven«. Dem widerspricht jedoch der deutliche Bezug zur Präformationstheorie, wenn er festhält, dass »jede Organisation auf eine bestimmte Form beschränkt sei« und daher »jede Organisation ins unendliche fort bloß sich selbst reproducirt«.59 Das produktive Prinzip der Natur besteht für Schelling also wesentlich in der Reproduktion von Formen, die als solche statisch gedacht werden.60 Ähnliche Probleme begegnen bei Hegel, der bereits im Jahre 1830 eine über Lamarcks Transformationstheorie hinausweisende realgenetische Abstammung der Arten zu konzipieren scheint: »Der Gang der Evolution, die vom Unvollkommenen, Formlosen anfängt, ist, daß zuerst Feuchtes und Wassergebilde waren, aus dem Wasser Pflanzen, Polypen, Molusken [sic.], dann Fische hervorgegangen seien, dann Landtiere; aus dem Tiere sei endlich der Mensch entsprungen.«61 An anderen Stellen hat Hegel allerdings eine geschichtliche Entwicklung der Lebewesen und der Natur abgelehnt und dargestellt, dass allein die Kategorie der Natur und nicht die Natur selbst eine begrifflich-dialektische Struktur aufweist. Die Probleme ergeben sich nicht zuletzt daraus, dass Hegel die Natur dialektisch als das Andere des Geistes und zugleich als Entäußerung des Geistes begreift. An verschiedenen Stellen arbeitet Hegel in der Spur von Kants Kritik an Herder Unterschiede zwischen der natürlichen und der geschichtlichen Ent57 

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie für Vorlesungen. In: Historisch-kritische Ausgabe [im Folgenden: HkA] 1, 7, 112. 58  Vgl. die Interpretation von Toepfer: Evolution, a. a.O. [Anm. 55] 482. 59  F. W. J. Schelling: Erster Entwurf, a. a.O. [Anm. 57] 111. 60 Richard Toellner spricht im Zusammenhang seiner Diskussion von Schellings Evolutionstheorie von »eine[r] sozusagen zeitlose[n] Evolution«, vgl. Richard Toellner: Der Entwicklungsbegriff bei Karl Ernst von Baer und seine Stellung in der Geschichte des Entwicklungsgedankens. In: Sudhoffs Archiv für Wissenschaftsgeschichte 59/4 (1975) 337–355, hier 346. 61  G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse II (Die Naturphilosophie). In: Werke 8–10, a. a.O. [Anm. 39] § 249, 31–34, hier 32 f.

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wicklung heraus: »Die Entwicklung, die in der Natur ein ruhiges Hervorgehen ist, ist im Geist ein harter unendlicher Kampf gegen sich selbst.«62 Noch einen Schritt weiter geht Hegel in seinem Konzept geschichtsloser Völker, das den Begriff der historischen Entwicklung in einem emphatischen Sinne selber an spezifisch historische Voraussetzungen bindet. Von Afrika sagt Hegel, es sei »kein geschichtlicher Weltteil, er hat keine Bewegung und Entwicklung aufzuweisen«.63 In Bezug auf die spezifische Entwicklung des Geistes hat sich Hegel zwar explizit vom mechanischen Präformationsgedanken abgegrenzt,64 sein eigenes, epigenetisches Entwicklungskonzept bleibt aber ungeachtet der im Vergleich mit Schelling deutlich verstärkten Tendenz zur Vergeschichtlichung immer noch an die statischen Prämissen der Präformationslehre gebunden. Nach der Bestimmung des Begriffs, die er in der Einleitung der Geschichte der Philosophie gibt, ist Entwicklung das Fortschreiten von einem Anfangszustand zu einem späteren Zustand. Der Erstere ist die Anlage oder das An sich, das die Entwicklung in ihrem Verlauf wesentlich bestimme. »Die Bewegung des Begriffs ist […] Entwicklung, durch welche immer dasjenige gesetzt wird, was an sich schon vorhanden ist.«65 »Das Ansich regiert den Verlauf.«66 Es wird also nichts Neues gesetzt, sondern stets nur eine Formveränderung hervorgebracht; in seinem Entäußerungsprozess bleibt der Begriff stets bei sich selbst. Zu diesen Entwicklungen passt es, dass sich Hegel häufig der Analogie mit der Pflanze bedient und seine Geistphilosophie mit dem Leibnizschen Begriff als Theodizee bezeichnet hat.67 Es erscheint daher fraglich, ob Hegel das Verdienst zugesprochen werden kann, »einen Entwicklungsbegriff vorgeschlagen zu haben, der nicht mehr von dem in der biologischen Diskussion geprägten organologischen Entwicklungsbegriff abhängig war und daher als erster rein geschichtlicher Entwicklungsbegriff angesehen werden kann«.68 Überzeugender argumentiert Briegel, wenn er festhält, dass in den idealistischen Systemen der Evolution stets eine Involution gegenübersteht.69 Es ist jedenfalls alles andere als Zufall, dass Ludwig Feuerbach, dessen Kritik an Hegels System den ›revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts‹ maßgeblich initiiert hat,70 in seinen Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie aus dem Jahre 1843 die Hegel’sche Spekulation als 62  Ders.: Vorlesungen

über die Philosophie der Geschichte. In: Werke 12, a. a.O. [Anm. 39]

76. 63 

Ebd. 129. ders.: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I. Einleitung. In: Werke 16–17, a. a.O. [Anm. 39] 11–88, hier 66. 65  Ders.: Enzyklopädie I (Die Wissenschaft der Logik), a. a.O. [Anm. 61] § 161, hier 308 f. 66  Ders.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I (Einleitung). In: Werke 18–20, a. a.O. [Anm. 39] 11–170, hier 40. 67  Ders.: Philosophie der Geschichte, a. a.O. [Anm. 62] 27–29. 68  W. Wieland: Entwicklung, Evolution, a. a.O. [Anm. 9] 220. 69  Vgl. M. Briegel: Evolution, a.a.O, [Anm. 3] 164. 70  Vgl. Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts (Hamburg 91986). 64  Vgl.

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»antigeschichtliche[s] Stabilitätsprinzip« bezeichnet und ihr den Vorwurf einer mangelnden geschichtlichen Entwicklung gemacht hat: »Die spekulative Philosophie hat die von der Zeit abgesonderte Entwicklung zu einer Form, einem Attribut des Absoluten gemacht. Diese Absonderung der Entwicklung von der Zeit ist aber ein wahres Meisterstück spekulativer Willkür und der schlagende Beweis, daß die spekulativen Philosophen es ebenso gemacht haben mit ihrem Absoluten, wie die Theologen mit ihrem Gott, der alle Affekte des Menschen hat ohne Affekte, liebt ohne Liebe, zürnt ohne Zorn. Entwicklung ohne Zeit ist so viel als Entwicklung ohne Entwicklung.«71 Vertreter des Jung- und Linkshegelianismus haben sich an diesem Widerspruch abgearbeitet und Hegels dynamisches Bewegungsprinzip gegen den statischen Systemcharakter gekehrt. Die Realisierung der Vernunft, die Hegel in seinem System als ideell erreicht unterstellt, erscheint als eine praktische Aufgabe der Zukunft. In diesem Sinne ist für Moses Hess 1837 »der Mensch das einzige Wesen unseres Planeten […], welches noch in seiner Entwicklungsgeschichte begriffen ist«.72 Später erscheint ihm dann die »Menschheit […] eben im Begriffe, aus der ersten Entwicklungsart, aus ihrer Entstehungsgeschichte, in die zweite, zur Selbsttätigkeit, überzugehen«.73 Nahezu zeitgleich im Jahre 1859 erscheinen mit Darwins On the Origin of Species und Marx’ Kritik der politischen Ökonomie zwei Werke, die auf einen radikalen Bruch mit den überkommenen Entwicklungskonzeptionen abzielen und beanspruchen, das Wissen über die Mechanismen, Triebkräfte und Gesetzmäßigkeiten der Entwicklungen auf den Feldern der Natur bzw. der bürgerlichen Gesellschaft auf neue Grundlagen gestellt zu haben. Sowohl die beiden wissenschaftlichen Revolutionen als auch deren Rezeptionsgeschichte weisen auffällige strukturelle Gemeinsamkeiten auf.74 Beide Ansätze basieren auf den theoretischen und begrifflichen Transformationen der von Koselleck sog. Sattelzeit (1775–1825) mit ihrer dynamisierten Sicht auf die Entwicklungen der Natur und Gesellschaft, sie brechen aber zugleich mit ihnen und etablieren neue, genuin historische Anschauungsweisen, die den letztlich doch statischen, unhistorischen Bezugsrahmen des früheren Entwicklungsdenkens durchbrechen.75 71  Ludwig

Feuerbach: Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie [1843], in: ders., Gesammelte Werke 9, hg. von Werner Schuffenhauer (Berlin/Ost 1970 f.) 243–263, hier 252 f. 72 Moses Hess: Fortschritt und Entwicklung. In: ders.: Philosophische und sozialistische Schriften 1837–1850. Eine Auswahl, hg. von Wolfgang Mönke (Berlin/Ost 21980) 281–284, hier 282. 73  Ebd. 283. 74  Vgl. die Problemanzeige und erste Skizze der epistemischen Parallelität der Ansätze von Darwin und Marx bei Falko Schmieder: Die wissenschaftlichen Revolutionen von Charles Darwin und Karl Marx und ihre Rezeption in der Arbeiterbewegung. In: Der sich selbst entfremdete und wiedergefundene Marx, hg. von Helmut Lethen, Birte Löschenkohl, Falko Schmieder (München 2010) 39–56. 75  An dieser Stelle kann nur darauf hingewiesen, aber nicht näher ausgeführt werden, dass der analytische Begriff der ›Verzeitlichung‹ aufgrund seiner Allgemeinheit diese fundamentale Zäsur im Entwicklungsdenken nicht zu erfassen erlaubt.

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Das mit Darwins revolutionären theoretischen Einsichten verbundene epistemische Differenzbewusstsein dokumentiert sich in der auffälligen Vermeidung des Evolutionsbegriffs, der in den ersten Auflagen des Origin als Substantiv an keiner Stelle erscheint. Nach einer ersten Verwendung im Descent of Man (1871) taucht er dann ab der sechsten Auflage aus dem Jahre 1872 gelegentlich auf, und zwar im Sinne der älteren Rede von der Transmutation oder Modifikation der Arten.76 Häufig findet sich dagegen der Begriff ›development‹. Darwin hat ihn offenbar bevorzugt, um seine Distanz zu den Theorien der Präformation wie der Epigenese zu signalisieren, die aufgrund ihrer Vorstellung der gesetzmäßigen Entfaltung vorgeformter Strukturen mit seinem eigenen Konzept eines kontingenten, zukunftsoffenen Prozesses nicht vereinbar waren.77 Darwins Vermeidung des Evolutionsbegriffs korrespondieren seine Vorbehalte gegenüber der Verwendung des Fortschrittsbegriffs in der Biologie sowie unreflektierten Übertragungen naturgeschichtlicher Kategorien auf die Gesellschaft. Sehr komplex stellt sich die Marxsche Arbeit am Entwicklungsbegriff und damit verbundenen Ausdrücken dar. Zurecht hebt Wieland heraus, dass Marx in der Begriffsgeschichte von ›Entwicklung‹ eine Schlüsselstellung einnimmt.78 Allgemein fällt auf, dass bei Marx der Entwicklungsbegriff eine extreme Bedeutungsvielfalt gewinnt. Diese Entgrenzung des Begriffs hat Wieland zur These geführt, dass »mit Marx […] alle wesentlichen Typen der Gestaltungen des Entwicklungsbegriffs festgelegt [sind]«.79 Die Sonderstellung in der Begriffsgeschichte ist aus dem Anspruch der Marx’schen Theorie zu verstehen, die Grundprämissen einer ganzen Wissensform, der politischen Ökonomie und der daran gebundenen Philosophie, zu kritisieren, den Naturschein der überkommenen Kategorien zu durchbrechen und die konkreten historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen der Begrifflichkeiten zu erfassen. Die Einlösung dieses Anspruchs führt zur Entfetischisierung und Dekomposition des Entwicklungsbegriffs in eine Vielzahl von Problemfelder, die im geschichtsphilosophischen Kollektivsingular ›Entwicklung‹ mehr oder weniger gewaltsam synthetisiert worden sind. Eine Folge der Entfetischisierung ist, dass bei Marx der Entwicklungsbegriff seine zentrale Stellung verliert und wieder durch andere Begriffe vertretbar wird und substituiert werden kann. Die Kategorien, die ihn als Leitbegriff ersetzen, akzentuieren deutlich die sozialen Bestimmungen im Unterschied zu solchen der Natur. So heißt es etwa im Vorwort zur ersten Auflage des Kapital (1867), der Endzweck des Werkes sei es, »das ökonomische 76 Vgl.

Volker Gerhardt: Von der Entwicklung zur Evolution. Historische und philosophische Aspekte der Bedeutung Darwins. In: Debatte 8: Wer hat die Deutungshoheit über die Evolution? Schriftenreihe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (2010) 59–79, hier 62, http://edoc.bbaw.de/volltexte/2010/1487/pdf/Debatte_8_Evolution.pdf [letzter Zugriff 30.03.2014]. 77  Vgl. G. Toepfer: Evolution, a. a.O. [Anm. 55] 483. 78  W. Wieland: Entwicklung, Evolution, a. a.O. [Anm. 9] 222. 79  Ebd. 223 f.

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Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen«.80 Zu den Begriffen, die neben ›Bewegung‹ an die Stelle des Entwicklungsbegriffs treten, gehören u. a. ›Prozess‹, ›Veränderung‹ oder ›Umwälzung‹. Als dynamische Kategorien sind sie zugleich nicht-teleologisch gedacht. Ihre primär quantitative, versachlichte Grundbedeutung ergibt sich aus ihrer Bindung an das ökonomische Zentralmotiv der Verwertung des Werts als treibenden Motor der Geschichte der modernen Gesellschaft. Spricht Marx in diesem Kontext von Entwicklung, so zielt der Begriff auf blinde Prozessualitäten, die aufgrund ihrer Verselbstständigung gegenüber menschlichen Zwecksetzungen und Bedürfnissen unter der dezidiert polemischen Bestimmung der ›Naturwüchsigkeit‹ gefasst werden.81 Verbunden mit der Entfetischisierung ist die Zerlegung des Kollektivsingulars ›Entwicklung‹ in seine begrifflichen Elemente und deren Rückbindung an verschiedene materiale Substrate, die sämtlichen Aspekten der Wirklichkeit entstammen können. So spricht Marx unter anderem von der Entwicklung der Produktivkräfte, des Reichtums, der Industrie, der Bevölkerung, der individuellen Fähigkeiten u. a.m. Ein wichtiges Motiv, das er der Hegel’schen Geistphilosophie entnimmt und im Rahmen seiner Kritik der politischen Ökonomie neu zur Geltung bringt, ist das Verständnis der gesellschaftlichen Kategorien als antagonistische. Dies betrifft sowohl die Verfasstheit der einzelnen Substrate von ›Entwicklung‹ wie auch ihr Verhältnis zueinander. So spricht Marx von »ungleichen«, »disproportionalen«, »unegalen«, »einseitigen«, »verkrüppelten«, »bornierten« oder »widersprüchlichen« Entwicklungen. Besonders einflussreich geworden ist das Theorem vom Widerspruch der Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse.82 In verallgemeinerter Bedeutung ist von wachsenden Widersprüchen der gesellschaftlichen Entwicklung die Rede. Marx begreift die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft zwar als gerichtete Bewegung, aber zugleich als eine, deren Verlauf und Ergebnis offen ist. Damit wird es möglich, die ›entsprungenen‹ Figuren und Begriffe, die im Rahmen des traditionellen Paradigmas der oeconomia naturae entstanden sind, aber die Sprengung dieses Rahmens implizieren, wie das ›Veloziferische‹ oder das Konzept der ›revo80  Karl

Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. In: Marx-Engels Werke [im Folgenden: MEW] 23, 15 f. 81  Vgl. Alfred Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx (Hamburg 41993). – Rudi Keller übersieht in seiner Theorie des Sprachwandels offenbar den Begriff der Naturwüchsigkeit, wenn er meint, dass wir über keinen Begriff zur Charakterisierung von Phänomenen ›dritter Art‹ verfügen, die sowohl Züge von Naturphänomenen als auch Züge von Artefakten tragen; vgl. Rudi Keller: Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache (Tübingen und Basel 32003) bes. 87–90. 82  Vgl. zur Geschichte und Problematik des Theorems Helmut Reichelt: Zur Dialektik von Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse. Versuch einer Rekonstruktion. In: Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse. Entstehung, Funktion und Wandel eines Theorems der materialistischen Geschichtsauffassung, hg. von Helmut Reichelt und Reinhold Zech (Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1983) 7–59; sowie Reinhold Zech: Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse in der Kritik der politischen Ökonomie. In: ebd. 60–115.

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lutionären Entwicklung‹ theoretisch einzuholen und ihren kritischen Gehalt im Rahmen einer Theorie naturwüchsiger Gesellschaftsentwicklung zu entfalten. Wieland sieht es »als entscheidend für die Begriffsgeschichte« an, dass sich ›Entwicklung‹ und ›Revolution‹ bei Marx nicht mehr ausschließen.83 Durch die Auffassung der ökonomischen Bewegung als ›revolutionär‹ oder ›umwälzend‹ ergibt sich die Notwendigkeit einer Differenzierung von ökonomischer und politischer Revolution, die in verschiedenen Varianten begegnet. Im Aufsatz Das Elend der Philosophie aus dem Jahre 1847 heißt es beispielsweise: »Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassengegensatz gibt, werden die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören, politische Revolutionen zu sein.«84 Eine Erscheinungsform der Verschärfung der Widersprüche ist der wachsende Antagonismus der gesellschaftlichen und der natürlichen Entwicklung, den Marx unter anderem in den Bestimmungen der ›Zerstörung der Springquellen alles Reichtums‹ und der ›Verwüstung der Zukunft‹ fasst, die auf die Ökologiediskussion des 20. Jahrhunderts vorausweisen.85 Aus der Einsicht in die spezifische historische Natur der modernen Gesellschaft resultiert auch die scharfe Kritik an der Übertragung von Modellen der Natur und Biologie, wie Marx sie insbesondere im Gefolge des Erscheinens von Darwins Origin beobachtet hat.86 Durch die Entthronung des biologisch konnotierten Entwicklungsbegriffs als theoretischem Schlüsselbegriff und seine Ersetzung durch versachlichte Bestimmungen wird schließlich eine Reaktualisierung älterer ›utopischer‹ Sinnschichten möglich, die der Begriff insbesondere vor der Herausbildung zum Kollektivsingular als Komplement und Synonym von ›Bildung‹ und vor allem ›Entfaltung‹ hatte. In diesem Sinne heißt es im spekulativen Vorgriff des Manifest (1848): »An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.«87 Hatte Darwin den Evolutionsbegriff zunächst selbst vermieden, so wurde er vor allem im englischen Sprachraum recht schnell mit seiner Theorie assoziiert; im Deutschen verbreitet sich der Terminus ›Evolution‹ in einer durch Darwins Theorie beeinflussten Bedeutung erst ab Mitte der 1870er Jahre, wobei neben Biologen vor allem Soziologen (Albert Schäffle, Paul Lilienfeld) eine Vermitt83  Vgl. W. Wieland: Entwicklung, Evolution, a.a.O

[Anm. 9] 222. K. Marx: Das Elend der Philosophie. Antworten auf Proudhons »Philosophie des Elends«. In: MEW 4, a. a.O. [Anm. 80] 62–182, hier 182. 85  Vgl. ders.: Das Kapital, a. a.O. [Anm. 80] 529 f. sowie ders.: Theorien über den Mehrwert. In: MEW 26.3, a. a.O. [Anm. 80] 306. 86 Vgl. ders.: Brief an Ludwig Kugelmann vom 27.6.1870. In: MEW 32, a. a.O. [Anm. 80] 685 f., hier 685. 87 Ders./Friedrich Engels: Das Manifest der kommunistischen Partei. In: MEW 4, a. a.O. [Anm. 80] 459–493, hier 482. 84 

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lungsrolle zukam.88 Die Einschreibung des Evolutionsbegriffs in Darwins Theorie lässt sich auch als sprachlicher Ausdruck dafür sehen, dass in vielen Darstellungen und Reformulierungen der Theorie Darwins die Tragweite des mit dieser verbundenen Einschnitts keineswegs vollständig klar war. Darwins Theorie wurde häufig im Paradigma älterer Entwicklungstheorien rezipiert, deren Prämissen Darwin gerade infrage gestellt hat. Deutlich wird das vor allem an der Wiedereinführung bzw. Weiterverwendung teleologischer Denkfiguren und an der Verbindung des Evolutions- bzw. Entwicklungsbegriffs mit dem Fortschrittsbegriff. Eine wichtige Figur ist der Soziologe Herbert Spencer, auf den der dann von Darwin übernommene Begriff ›survival of the fittest‹ zurückgeht. Spencer hat, beginnend in den 1850er Jahren, eine Philosophie universalen Fortschritts ausgearbeitet, die sämtliche Natur- und Wissensbereiche unter ein allgemeines Evolutionsgesetz subsumierte. Von großer Bedeutung für Spencer war der deutsche Embryologe Karl Ernst von Baer, der in seiner sehr einflussreichen Arbeit Über Entwickelungsgeschichte der Thiere (1828) in minutiösen Untersuchungen die Entwicklung des Hühnereis verfolgt hat, wobei er eine Reihe von Umbildungsprozessen erkennen konnte. Baer unterschied vier Hauptformen (»Entwickelungsformen«) der Embryonalentwicklung, die er alle mit ›evolutio‹ und einem spezifizierenden Attribut bezeichnete.89 Seine Befunde verallgemeinernd, formulierte er ein Gesetz der ›Entwicklung‹ bzw. ›Ausbildung‹, »daß aus einem Homogenen, Gemeinsamen, allmählig das Heterogene und Specielle sich hervorbildet«.90 Das allgemeine Resultat seiner Untersuchungen hebt er kursiv abgesetzt heraus: »Die Entwickelungsgeschichte des Individuums ist die Geschichte der wachsenden Individualität in jeglicher Beziehung.«91 Diese Befunde wurden nun von Spencer seinerseits zu einer universalen Evolutionstheorie verallgemeinert. Den Schlüsselbegriff seiner Theorie definiert Spencer wie folgt: »Evolution is an Integration of matter and concomitant dissipation of motion; during which the matter passes from an indefinite, incoherent homogeneity to a definite, coherent heterogeneity; and during which the retained motion undergoes a parallel transformation.”92 Offenkundig ist diese universale Evolutionstheorie von Darwins Evolutionskonzept deutlich verschieden. Dennoch wurden die 88  Vgl. M. Briegel: Evolution, a. a.O. [Anm. 3]

193. Karl Ernst von Baer: Über Entwickelungsgeschichte der Thiere. Beobachtung und Reflexion I (Königsberg 1828) 259. In der auszugsweisen Übersetzung durch Thomas Huxley aus dem Jahre 1852 wurde ›Entwicklung‹ mit ›development‹ übersetzt, der Ausdruck ›evolutio‹ blieb aber in Klammern erhalten; vgl. Peter Bowler: The Changing Meaning of ›Evolution‹. In: Journal of the History of Ideas 36,1 (1975) 95–114, hier 100. 90  K. E. von Baer: Entwickelungsgeschichte, a. a.O. [Anm. 89] 153. 91  Ebd. 263. 92  Herbert Spencer: First Principles of a new System of Philosophy (New York 21870) 396. Spencers Evolutionskonzept widmen sich ausführlicher George S. Painter: Herbert Spencer’s Evolutionstheorie: dargestellt, beurteilt und mit einer Übersicht über die Geschichte des Entwicklungsbegriffs versehen (Jena 1896); sowie Johannes Guthmann: Entwicklung und Selbstentfaltung bei Herbert Spencer (Ochsenfurt/M. 1930). 89  Vgl.

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Differenzen von vielen Zeitgenossen nivelliert. Positionen, die häufig unter der Bezeichnung ›Darwinismus‹ gefasst wurden, wären deshalb in vielen Fällen treffender als ›Spencerismus‹ oder ›Lamarckismus‹ zu bezeichnen.93 In Deutschland ist eine der Schlüsselfiguren des ›Darwinismus‹ der Biologe Ernst Haeckel. Einer seiner Beiträge zur Entwicklungsbiologie ist das 1866 formulierte und später von ihm sog. ›biogenetische Grundgesetz‹, das die Individualentwicklung als Rekapitulation der Stammesentwicklung begreift: »Das organische Individuum […] wiederholt während des raschen und kurzen Laufes seiner individuellen Entwickelung die wichtigsten von denjenigen Formveränderungen, welche seine Voreltern während des langsamen und langen Laufes ihrer paläontologischen Entwickelung nach den Gesetzen der Vererbung und Anpassung durchlaufen haben.«94 Untrennbar von Haeckels biologischen Studien ist sein Bestreben einer Popularisierung von Darwins Theorie und deren Ausweitung zu einer Weltanschauung. Der Entwicklungsbegriff wurde als polemischer, antitheologischer Kampfbegriff in Frontstellung zu ›Schöpfung‹ verwendet und diente als universal verwendbarer »Schlüssel zur ›Frage aller Fragen‹ […], zu dem großen Welträtsel von der ›Stellung des Menschen in der Natur‹ und von seiner natürlichen Entstehung«.95 Parallel zur Entfetischisierung des Begriffs bei Marx lässt sich bei Haeckel eine (Re-)Fetischisierung desselben beobachten, wie eine berühmte Passage aus der Natürlichen Schöpfungsgeschichte (1868) zeigt: »›Entwickelung‹ heißt von jetzt an das Zauberwort, durch das wir alle uns umgebenden Räthsel lösen, oder wenigstens auf den Weg ihrer Lösung gelangen können«.96 Durch Haeckels populäre, in vielen Auflagen und Sprachen verbreitete Werke ebenso wie durch neue publizistische Organe wie die 1877 gegründete Monatszeitschrift Kosmos. Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung aufgrund der Entwicklungslehre als Zentralorgan des Darwinismus erreichte die von Haeckel propagierte monistische Weltanschauung eine sehr breite Öffentlichkeit. Insbesondere durch Kontroversen mit Anhängern kirchlicher Lehren wurde der Entwicklungsbegriff enorm politisiert. Als Schlüsselbegriff zur Charakterisierung eines Prozesses der Höherentwicklung, der die Natur- und Gesellschaftsgeschichte gleichermaßen umfasste, hatte er darüber hinaus aber auch quietistische Implikationen für die sich formierende sozialdemokratische Arbeiterbewegung. Die Verweltanschaulichung des Begriffs wird besonders deutlich 93  Vgl. Gregory Claeys: The ›survival of the fittest‹ and the Origins of Social Darwinism. In: Journal of the History of Ideas 61,2 (2000) 223–240, hier 228. 94  Ernst Haeckel: Allgemeine Entwickelungsgeschichte der Organismen. In: ders.: Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formenwissenschaft 2 (Berlin 1866) 300. 95  Ders.: Die Welträtsel. Gott – Natur. In: ders.: Gemeinverständliche Werke 3, hg. von Heinrich Schmidt-Jena (Leipzig, Berlin 1924) 10. 96  Ders.: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, über die Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft (Berlin 1868) IV.

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in einem Beitrag von Joseph Delboeuf, der 1877 im Kosmos erschien. Evolution bedeutet für ihn »in dem natürlichen Sinne des Wortes nicht einfach Umwandlung, sondern eine Umwandlung zum Besseren, die fortschreitende Entwicklung zu immer vollkommeneren Formen«. Konsequenterweise sind »Evolution und Fortschritt […] beinahe synonyme Ausdrücke«,97 weshalb für ›Entwicklung‹ auch ›Fortschrittsgesetz‹ einspringen kann. Delboeuf möchte sogar den Begriff ›Evolution‹ auf den Sinn von fortschreitender Entwicklung einschränken und für die rückschreitende ein neues Wort erfinden.98 – Die auffälligen Gemeinsamkeiten der Entwürfe von Spencer und Haeckel sind von vielen Zeitgenossen bemerkt worden und spiegeln sich auch in den identischen Bezeichnungen derselben als ›evolutionistische Philosophie‹ oder ›evolutionistischer Monismus‹99 wider. Eine ganz ähnliche Verweltanschaulichung und Ideologisierung ist dem Marx’schen Werk widerfahren. Marx hat der epistemologischen Verschleifung und Rückübersetzung seiner Theorie in das traditionelle Paradigma der Arbeitswertlehre als ›natürliche Ökonomie‹ durch eine Reihe missverständlicher oder hinter dem erreichten Problembewusstsein zurückbleibender Formulierungen selber Vorschub geleistet.100 Bei seinem Freund und Wegbegleiter Friedrich Engels ist die Nivellierung des Unterschieds zum traditionellen Paradigma dann bereits theoriekonstitutiv. Markant deutlich wird das in seinen Ausführungen zur Dialektik der Natur und in seinem Verständnis von Dialektik, die er folgendermaßen definiert: »Die Dialektik ist […] die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens.«101 Wurde, beginnend mit Kants Herder-Kritik, der historische Entwicklungsbegriff sukzessive von seiner biologischen Herkunft gelöst, die bei Marx im polemischen Konzept der ›zweiten Natur‹ kritisch gewendet wird, so liefert die Biologie bei Engels wieder das Modell für die Vorstellung von allgemeinen Entwicklungsgesetzen. Keineswegs zufällig greift Engels wieder arglos auf Hegels Keim- und Pflanzenmetaphorik zurück. Engels’ Geschichtsverständnis basiert auf der Annahme, dass »trotz aller momentanen Rückläufigkeit schließlich eine fortschreitende Entwicklung sich durchsetzt – dieser große Grundgedanke ist, namentlich seit Hegel, so sehr in das gewöhnliche Bewusst-

 97  Joseph Delboeuf, Ein auf die Umwandlungs-Theorie anwendbares mathematisches Gesetz, in: Kosmos. Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung aufgrund der Entwicklungslehre, hg. v. Otto Caspari und Gustav Jäger, 1. Jg. Bd. 2 (Leipzig 1877/78) 105–127, hier 125.  98  Vgl. dazu ausführlicher Briegel: Evolution, a. a.O. [Anm. 3] 227.  99  Vgl. Fritz Berolzheimer: Die Kulturstufen der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie (§ 51). In: ders.: System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 2 (München 1905) 473 ff., bes. 475. 100 Vgl. Michael Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition (Münster 21999). 101  Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. In: MEW 20, a. a.O. [Anm. 80] 1–303, hier 131 f.

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sein übergegangen, daß er in dieser Allgemeinheit wohl kaum noch Widerspruch findet«.102 Im Marxismus als Weltanschauung ist diese naturalistische Entwicklungskonzeption institutionalisiert.103 So gibt es für Karl Kautsky, der für die Zeit zwischen Engels’ Tod 1895 und dem Ersten Weltkrieg bei allen bedeutenden marxistischen Theoretikern als der maßgebliche Interpret des Marxismus galt,104 keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen der historischen und der naturalen Entwicklung. Gesellschaft war für ihn »bloß ein besonderes Stück der Natur mit besonderen Gesetzen, die man, wenn man will, auch Naturgesetze nennen kann, denn in ihrem Wesen unterscheiden sie sich nicht von diesen«.105 Konsequenterweise wird bei ihm die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie, die das Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft enthüllen wollte, als eine »ökonomische Entwicklungslehre« verstanden, deren Hauptanliegen die Formulierung einer Geschichtsauffassung auf naturwissenschaftlicher Grundlage sei. Das Entwicklungsdenken des Marxismus ist damit demselben Paradigma verpflichtet wie die Spielarten des evolutionären Monismus bzw. des naturwissenschaftlichen Materialismus, wie er prominent von Ludwig Büchner vertreten wurde.106 In Gegenrichtung zur Denkbewegung der Geschichtsphilosophie geht es nicht mehr um eine Arbeit an der Differenz von natürlicher und gesellschaftlicher Geschichte, sondern um eine Revision dieser Trennung. Die Emphase gilt der Einheit von beiden, der Darstellung ihres – wie eine Lieblingsformulierung Kautskys lautete – »widerspruchslosen Gesamtzusammenhang[s]«.107 In diesem Sinne bildet für Haeckel das »gesamte Reich der Wissenschaft ein einziges, einheitliches Gebiet; die so genannten Geisteswissenschaften sind nur besondere Teile der allumfassenden Naturwissenschaft«;108 Engels spricht von »den allgemeinen Gesetzen der Bewegung, sowohl der äußern Welt wie des menschlichen Denkens – zwei Reihen von Gesetzen, die der Sache nach identisch [sind]«.109 102  Ders.: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In: MEW 21, a. a.O. [Anm. 80] 259–307, hier 293. 103  Vgl. Sven-Eric Liedman, Thomas Marxhausen, Wolfgang Fritz Haug: Art. Entwicklung. In: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus 3, hg. von Wolfgang Fritz Haug (Berlin/ Hamburg 1997) 553–567, hier 562f. 104  Vgl. John H. Kautsky: Einleitung. In: Karl Kautsky: Die materialistische Geschichtsauffassung. Gekürzte Ausgabe, hg., eingel. und komm. von John H. Kautsky (Berlin/Bonn 1988) 23–80, hier 28. 105  Karl Kautsky: Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft (Berlin, Stuttgart 31921) 11. 106  Vgl. Ludwig Büchner: Kraft und Stoff, mit einer Einl. und Anm. hg. von Wilhelm Bölsche (Leipzig o.J.) 62–65. – Erstveröffentlichung unter: Louis Büchner: Kraft und Stoff. Empirischnaturphilosophische Studien. In allgemein-verständlicher Darstellung (Frankfurt a. M. 1855). 107  Vgl. K. Kautsky: Einleitung, a. a.O. [Anm. 104] 35. 108  Otto Siebert: Geschichte der neueren deutschen Philosophie seit Hegel. Ein Handbuch zur Einführung in das philosophische Studium der neueren Zeit (Göttingen 21905) 318. – Zur Stelle bei Haeckel: Welträtsel, a. a.O. [Anm. 95] 14 f. 109  F. Engels: Ludwig Feuerbach, a. a.O. [Anm. 102] 293.

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Signifikant ist in diesem Zusammenhang auch, dass spätere Vertreter des Marxismus wie Kautsky oder Edward Aveling den Zugang zu Marx über Darwin gefunden haben. Aveling hatte sich der »Aufgabe der Popularisierung der Darwinschen Theorie« verschrieben. Dem ersten Teil seiner Schrift Die Darwin’sche Theorie (1887) gibt er den Titel ›Die Entwicklungstheorie‹ und beginnt damit, Darwins Theorie als Teil der »umfassenderen« »Evolutions- (Entwicklungs-) Theorie« einzuordnen. ›Entwicklung‹ bzw. ›Evolution‹ ist für ihn »der Name für die Idee der Einheit und des ununterbrochenen Zusammenhangs der Erscheinungen«. Seine Losung ist, dass »der wahre Evolutionär […] keine Kluft zwischen dem Menschen und anderen Thieren«110 erkennt. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird ›Entwicklung‹ zu einem kulturellen Kampfbegriff, der sich quer durch die politischen Lager durchsetzt. Durch sein Eindringen in die verschiedensten Lebens- und Sprachbereiche verlor der Ausdruck immer mehr an begrifflicher Schärfe. In der Encyklopädie des gesammten Unterrichts- und Erziehungswesens aus dem Jahre 1860 findet sich unter dem Stichwort ›Entwicklung‹ die Feststellung: »Man trägt diesen Begriff fast auf alles über, was der Mensch nur irgend kennt und hat.«111 1878 konstatiert Rudolf Eucken, das Wort sei schon so abgenutzt, dass es »in der Wissenschaft, abgesehen von genau bestimmten Gebieten, fast unverwendbar geworden ist«.112 Eine Folge ist das seit den 1870er Jahren hervortretende Bedürfnis einer Rekapitulation der Bedeutungsgeschichte von ›Evolution‹ und ›Entwicklung‹. Die ersten Beiträge sind dabei nicht zufällig der Herausarbeitung der neuen Bedeutung des Evolutionsbegriffs nach Darwins bahnbrechender Arbeit aus dem Jahre 1859 gewidmet. Darwin selbst hat auf Vorschlag des ersten deutschen Übersetzers Heinrich Georg Bronn seinem Buch seit der dritten Auflage eine historische Einleitung vorangestellt, die auch Reflexionen zum Begriffsgebrauch enthält. Danach waren es seine beiden bekanntesten Popularisatoren, in England Thomas Huxley und in Deutschland Ernst Haeckel, die eine Begriffs- und Wissenschaftsgeschichte von Evolution lieferten.113 In pointierter Form stellt Haeckel die Umkehrung der Bedeutung des Evolutionsbegriffs heraus: »[W]ir können daher von einer ›Entwickelung‹ als Evolution nur noch in einem Sinne sprechen, welcher seinem ursprünglichen geradezu entgegengesetzt ist.«114 Die erste, über die Biologie hinausweisende Untersuchung des Begriffs ›Entwicklung‹ liefert Rudolf Eucken, der seit 1874 als Professor für Philosophie in Jena, der Wirkungsstätte von Ernst Haeckel, tätig war. Euckens Ausgangspunkt ist die Gegenwartserfahrung einer fundamentalen Krise der tradierten Grund110 

Edward Aveling: Die Darwin’sche Theorie (Stuttgart 1887) 7. Zit. n. W. Wieland: Entwicklung, Evolution, a. a.O. [Anm. 9] 225. 112  Rudolf Eucken: Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart (Leipzig 1878) 134. 113  Vgl. Thomas Henry Huxley: Evolution in Biology [1878] In: Darwiniana (London 1893) 187–226; E. Haeckel: Die Welträtsel, a. a.O. [Anm. 95]. 114  E. Haeckel: Allgemeine Entwicklungsgeschichte, a. a.O. [Anm. 94] 15. 111 

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begriffe, die er nicht zuletzt durch den dominierenden Einfluss der Naturwissenschaften verursacht sieht. »Sich für Fortschritt und Entwicklung zu begeistern, ohne zu fragen, was sich denn in dem Process vollziehe«,115 sieht er als Indiz für die allgemeine Verflachung der Begriffe und die Sinnentleerung seiner Zeit. Die Begriffsgeschichte ist in ihrem Ursprung bei Eucken ein dezidiert interventionistisches und der Geschichte gerade entgegengesetztes Projekt. Es geht um die Wiederherstellung der abgebrochenen Tradition, wie auch an der Behandlung des Entwicklungsbegriffs deutlich wird. Auch Eucken sieht die grundlegende Differenz der biologischen Bedeutungen im Sinne der Präformationstheorie und der Darwin’schen Theorie, er schließt dann aber weitergehend an, dass der Terminus ›Entwicklung‹ (und mit ihm ›Evolution‹) eher zu dem alten Entwicklungsbegriff des 18. Jahrhunderts als zu den neuen des 19. Jahrhunderts passe. »Denn bei Entwicklung wird im Grunde an ein von Anfang an mit bestimmten Eigenschaften und Kräften Ausgestattetes gedacht, so dass das Spätere sich wie aus einem organischen Keime herausentfaltet.«116 Für Eucken führt der Entwicklungsbegriff notwendig teleologische Implikationen mit sich, weshalb er auf dem Feld des Sozialen nicht oder nur sehr eingeschränkt verwendet werden sollte: »Wo Geschichte, da ist mehr als Entwicklung, und wo bloße Entwicklung, da ist keine Geschichte.«117 Eucken diskutiert damit wieder die Frage nach der Differenz zwischen der natürlichen und historischen Entwicklung, auf die schon Kants Kritik an Herder zielte. Diese Frage steht dann auch bei Dilthey und Rickert im Zentrum der Begründung der Geisteswissenschaften im Unterschied zu den Naturwissenschaften, die wesentlich in der Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie unternommen worden ist.118 Anders als Eucken möchte Rickert dabei den Entwicklungsbegriff nur im Rahmen der Geschichtswissenschaft als konstitutiv gelten lassen, weil es nur auf diesem Gebiet Verläufe gibt, die teleologisch beschrieben werden können.119 Charakteristisch für das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts ist die Gleichzeitigkeit von naturwissenschaftlich basierten evolutionistischen Ansätzen einerseits und einer zunehmenden Kritik am Entwicklungsdenken und den positivistischen Übertragungen der naturwissenschaftlichen Methodik auf die Felder der Geschichte und Kultur andererseits. Die erste Richtung repräsentieren die vielen Versuche einer Neubegründung kulturwissenschaftlicher Disziplinen auf der Basis der Evolutionstheorie. Max Nordau entwirft 1885 eine Skizze zu einer evolutionistischen Ästhetik;120 eine breite Diskussion bezieht sich auf Ansätze 115 

Rudolf Eucken: Geschichte der philosophischen Terminologie (Leipzig 1879) 164. R. Eucken: Geschichte und Kritik, a. a.O. [Anm. 112] 134. 117  R. Eucken: Geistige Strömungen der Gegenwart [5. umgearb. Auflage der Grundbegriffe der Gegenwart] (Leipzig 1916) 206. 118  Vgl. G. Mühle: Entwicklung. In: HWPh 2, a. a.O. [Anm. 15] 557–560. 119  Vgl. ebd. 120  Vgl. Max Nordau: Evolutionistische Aesthetik. In: ders.: Paradoxe (Leipzig 21885) 290– 310. 116 

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einer evolutionistischen Ethik;121 Wilhelm Wundt unternimmt den Versuch einer »psychologischen Entwicklungsgeschichte«;122 des Weiteren werden eine evolutionistische Erkenntnistheorie und Rechtslehre ins Auge gefasst. Im Jahre 1885 prägt Wilhelm Roux für die neue biologische Disziplin der kausalen Morphologie der Organismen den Begriff ›Entwicklungsmechanik‹, in deren Rahmen neue Konzepte wie das der ›regulatorischen Entwicklung‹ entstehen.123 Die Ausbreitung evolutionistischen Denkens stößt im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts jedoch auch zunehmend auf Kritik. Die Einstellung der Zeitschrift Kosmos im Jahre 1886 kann als Symptom der Krise betrachtet werden, wie sie im selben Jahr von Rudolf Eucken im Hinblick auf die Grundbegriffe seiner Epoche diagnostiziert wird. Nach der Intervention von Marx vollzieht sich jetzt eine zweite Dekonstruktion und Entfetischisierung des Entwicklungsbegriffs, in der Motive aus der Marxschen Kritik kulturkritisch gewendet wiederkehren. Eine wichtige Gestalt ist Friedrich Nietzsche, der sich vor allem gegen die Verbindung von ›Entwicklung‹ und ›Fortschritt‹ wendet, die er als »Vergottung des Werdens«124 kritisiert. Schon rein äußerlich fällt auf, dass Nietzsche Bewegungsbegriffe wie ›Entwicklung‹ oder ›Fortschritt‹ häufig in Anführungszeichen präsentiert, um seine Distanz zu diesen Schlüsselbegriffen seiner Epoche auszudrücken. Nietzsche decouvriert die teleologischen Einkleidungen und humanistischen Überfrachtungen des Entwicklungsbegriffs als geschichtsmetaphysische Illusionen und behält den Gedanken einer Verselbstständigung der Geschichte zurück, die sich keinem Naturplan oder menschlichen Zwecksetzungen unterstellen lässt, sondern vielmehr »einer ungeheuren ExperimentierWerkstätte« gleicht, »wo einiges gelingt, zerstreut durch alle Zeiten, und Unsägliches mißrät, wo alle Ordnung, Logik, Verbindung und Verbindlichkeit fehlt«. 125 Nietzsche bestreitet die Sinn- und Zweckhaftigkeit der Entwicklung. »Entwicklung will nicht Glück, sondern Entwicklung und weiter nichts«.126 Dieses Motiv findet sich auch bei Eucken, demzufolge sich der Zweifel »überhaupt gegen die Vorherrschaft der Bewegung und gegen die Verwandlung der ganzen Wirklichkeit in einen bloßen Prozeß«127 kehrt. Ähnlich wie Nietzsche findet Eucken vor allem »wunderlich […], dass jene Preisgebung alles selbstständigen Innenlebens 121 

Vgl. Thomas Huxley: Evolution and ethics and other Essays (London 1894); in Deutschland einflußreich wurde u. a. Alexander Tille: Von Darwin bis Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik (Leipzig 1895), vgl. bes. 1–40 (Entwicklungslehre und Entwicklungsethik). 122 Vgl. Wilhelm Wundt: Elemente der Völkerpsychologie. Grundlinien einer psychologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit (Leipzig 1912). 123  Vgl. Terminologie der Entwicklungsmechanik der Tiere und Pflanzen, hg. von Wilhelm Roux (Leipzig 1912). 124  Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I (§ 238). In: ders.: Kritische Studienausgabe [im Folgenden: KSA] 2, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Berlin und New York 21988) 9–366, hier 200. 125  Ders.: Nachgelassene Fragmente 1887–1889. In: KSA 13, a. a.O. [Anm. 124] 408 f. 126  Ders.: Morgenröte (§ 108). In: KSA 3, a. a.O. [Anm. 124] 96. 127  R. Eucken: Geistige Strömungen, a. a.O. [Anm. 117] 206.

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und jede Bindung an die bloße Natur sich als eine Erhöhung und Befreiung gibt. Denn, genauer betrachtet, zerstört jene Wendung allen Sinn und Wert unseres Lebens.«128 An die Stelle des ausrangierten Fortschrittsbegriffs treten bei Nietzsche als neue Trabanten von ›Entwicklung‹ Konzepte wie ›décadence‹ oder ›Nihilismus‹. »Fortschritt. – Daß wir uns nicht täuschen! Die Zeit läuft vorwärts – wir möchten glauben, daß auch alles, was in ihr ist, vorwärts läuft, – daß die Entwicklung eine Vorwärts-Entwicklung ist … Das ist der Augenschein, von dem die Besonnensten verführt werden. Aber das neunzehnte Jahrhundert ist kein Fortschritt gegen das sechzehnte: und der deutsche Geist von 1888 ist ein Rückschritt gegen den deutschen Geist von 1788.«129 An anderer Stelle sieht Nietzsche im Gesetz der Entwicklung »das Gesetz der Selektion«, wobei der »Durst nach Macht bezeichnend für den aufsteigenden Gang der Entwicklung« sei. Entwicklung erscheint in dieser Perspektive als »Aufeinanderfolge von mehr oder minder tief gehenden, mehr oder minder unabhängigen […] Überwältigungsprozessen«.130 – Schließlich stellt Nietzsche in der Nachfolge von Stirner131 der Entwicklung des Ganzen die Konstitution des Einzelnen oder des sog. ›höheren Typus‹ entgegen, der aus keinem Gesetz, keiner Entwicklung abgeleitet oder vorausberechnet werden kann. Es handele sich um »Glücksfälle«, die »immer möglich« waren und »vielleicht immer möglich sein«132 werden und in denen sich ein Sinn verwirkliche, den ›die Entwicklung‹ bzw. ›der Fortschritt‹ schuldig bleiben müssen. Eine ähnlich fundamentale Kritik mit allerdings anderen Schwerpunktsetzungen findet sich am Ausgang des 19. Jahrhunderts bei Georg Simmel. In der Auseinandersetzung mit Marx interessiert sich Simmel für die spezifische Natur der modernen, über das Geld vermittelten Gesellschaft, womit die Dichotomie von Geistes- und Naturwissenschaft unterlaufen und durch eine Art Naturwissenschaft des Sozialen ersetzt wird. Ihr Zentrum bildet die mit wachsender Beschleunigung »auseinanderzweigende Entwicklung« 133 der objektiv-sozialen und der subjektiven Kultur, die Simmel als ein tragisches Verhängnis begreift.134 Eucken, Nietzsche und Simmel bahnen damit einem ›katastrophischen‹ Verständnis von ›Entwicklung‹ den Weg, das im 20. Jahrhundert in verschiedenen Gestaltungen begegnet. Auch wenn die Hochzeit des Entwicklungsbegriffs ins 19. Jahrhundert fällt, so bleibt er auch im 20. Jahrhundert als ein Grundbegriff präsent. Indiz dafür 128 

Ebd. 201. F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1887–1889, a. a.O. [Anm. 125] 408. 130  Ders.: Zur Genealogie der Moral. In: KSA 5, a. a.O. [Anm. 124] 314 f. 131  Vgl. Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, neue Ausgabe, mit einer biographischen und erläuternden Einführung von Dr. Anselm Ruest (Berlin 1924) 230. 132  F. Nietzsche: Der Antichrist (§ 4) In: ders., KSA 6, a. a.O. [Anm. 124] 171. 133  Georg Simmel: Philosophie des Geldes. In: ders.: Georg Simmel Gesamtausgabe [im Folgenden: GSG] 6, hg. von Otthein Rammstedt (Frankfurt a. M. 1999) 31. 134  Vgl. ders.: Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: GSG 14, a. a.O. [Anm. 133] 385– 416. 129 

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sind eine Fülle neuer Kompositabildungen: 1920 prägt Aravilla M. Taylor den Begriff ›ecological development‹135 (ökologische Entwicklung); Konzepte wie ›Entwicklungsländer‹, ›Entwicklungshilfe‹, ›Entwicklungspolitik‹, ›Entwicklungszusammenarbeit‹ oder ›Entwicklungsprogramm‹ verweisen auf Ungleichzeitigkeiten und Machtasymmetrien, die dem Erbe des Kolonialismus entstammen. Der Begriff der ›nachhaltigen Entwicklung‹ reagiert auf die Erfahrung eines grundlegenden Widerspruchs zwischen ökonomischen und naturalen Prozessen, der u. a. im ›Klimawandel‹ seinen Ausdruck findet. Als Schwundstufe des geschichtsphilosophisch überhöhten Entwicklungsbegriffs des 19. Jahrhunderts erscheint im 20. Jahrhundert der Wachstumsbegriff, der längst als destruktiv erkannte ökonomische Prozesse als natürliche Reifungsprozesse präsentiert und dadurch legitimiert.

135  Aravilla

M. Taylor: Ecological Succession of Mosses. In: The Botanical Gazette LXIX, 6 (1920) 449–491, hier 481.

Andrzej Przylebski

Geist

Wollte man die europäische Philosophie des 19. Jahrhunderts mit einem einzigen treffenden Begriff charakterisieren, so wäre es meines Erachtens der Begriff ›Geist‹. Dieses Jahrhundert ist wie kein anderes eben auf diesen Begriff bezogen bzw. steht ihm ablehnend gegenüber. Dies betrifft zwar nicht alle Philosophiekonzepte in dieser Zeit und nicht das ganze Jahrhundert im gleichen Ausmaß. Den Kern dieser Epoche, und zwar nicht nur bezüglich des Philosophierens, trifft er dennoch ganz gut. Im Folgenden möchte ich versuchen, kurz die Bedingungen für die Karriere dieses Begriffs und die Veränderungen seiner Bedeutung zu schildern, wohl wissend, dass dies nur ein kleiner Beitrag zu einer umfangreicheren Forschung sein kann. Entscheidend für die Rolle dieses Begriffs im philosophischen Denken Europas waren die Umwandlungen innerhalb der deutschen Philosophie, die dann durch die große Bedeutung, die sie im 19. Jahrhundert erlangte, auf ganz Europa übertragen wurden. Deshalb wird hier dargestellt, wie der Begriff Geist entstand, zu seiner hervorragenden Bedeutung gelangte und wie er wieder in den Hintergrund trat. Dies betrifft vor allem die deutsche Philosophie; darüber hinaus wird es Hinweise auf andere Kulturen und spätere Zeiten geben.

I.  Der Begriff des Geistes in der Philosophie vor Hegel Das Wort ›Geist‹ erscheint in deutscher Sprache im 8. Jahrhundert. Zu seinen Quellen zählt man altgermanische Wörter wie gheizda und usgaisjan, die eine Angst und Beängstigt-Werden artikulierten. Verbunden waren diese Wörter mit dem lähmenden Zorn einer Person, die gegenüber dem von Angst Befallenen die Rolle des Bestrafenden einnahm. Diese Person konnte der Gott, der Stammesherr, aber auch der Vater sein.1 Das Spezifische dieses Gefühlskomplexes, das die Betroffenen gleichsam atmosphärisch in sich aufnahm, war die Voraussetzung dafür, dass dieser Begriff als Äquivalent des lateinischen spiritus und des Griechischen pneuma gebraucht werden konnte. Und obwohl durchaus bereits ein philosophisches Bedeutungspotenzial im Hintergrund vorhanden war, ist dieser Gebrauch des Begriffs noch zum vorphilosophischen zu zählen. Darauf, dass in ihm Ansätze zu einer philosophischen Anwendung lagen, weist deutlich die Verwandtschaft des lateinischen spiritus mit dem französischen esprit. Eben 1 Vgl.

Johannes Hoffmeister: Wörterbuch der philosophischen Begriffe (Hamburg 21955)

248. Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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der Gründer der neuzeitlichen Philosophie, René Descartes, war es, der mit seiner Zwei-Substanzen-Lehre die Grundlagen für den Aufschwung der Philosophie des Geistes gelegt hatte. Diese Philosophie entwickelte sich bekanntlich in einem Diskurs der Zugangsweisen und Traditionen, in dem die Anhänger des Realismus und des Empirismus einerseits und die Vertreter des Idealismus und des Rationalismus andererseits die Hauptrollen spielten. In diesem Disput kam auch Leibniz keine unwichtige Bedeutung zu, denn in seiner Monadologie bezeichnet »esprit« (dt. »Geist«) die Seele als die Quelle menschlicher Lebendigkeit und Tätigkeit: »Die Erkenntnis der notwendigen und ewigen Wahrheiten jedoch unterscheidet uns von den bloßen Tieren und setzt uns in den Besitz der Vernunft und der Wissenschaften, indem sie uns zur Selbst- und Gotteserkenntnis erheben. Dies nun ist es, was man in uns vernünftige Seele oder Geist (Ame Raisonnable, ou Esprit) nennt.«2 Von Pierre Coste wurde der Terminus esprit als Äquivalent für den von John Locke eingeführten Begriff ›mind‹ popularisiert.3 In der Transzendentalphilosophie Kants weist zunächst wenig auf die Karriere hin, die der Begriff ›Geist‹ machen sollte. Der Terminus selbst erscheint zwar bei Kant relativ früh, schon in den sog. vorkritischen Schriften, wird aber dort weder mit Philosophie noch mit Theologie verbunden. Er wird verortet in Kants Kritik einer zeitgenössischen Psychologie, die den Namen ›Pneumatologie‹ trägt. Kant spricht in der Schrift Träume eines Geistersehers (1766) nicht von ›Geist‹, sondern von ›Geistern‹ und kritisiert vehement die ›angelologischen‹ Abhandlungen Emmanuel Swedenborgs. Wenn laut Swedenborg, so Kant, der Geist ein Wesen ist, das Vernunft hat, dann braucht man keine besondere Gabe, um ihn zu sehen. Jeder, der menschliche Wesen trifft, sieht ja vernunftbegabte Wesen vor sich. Dennoch meint der schwedische Träumer (und mit ihm auch die Schulmetaphysik) etwas anderes, wenn er geistige Seelen erdichtet, die als selbständige, unteilbare spirituelle Substanzen existieren.4 Kant ist überzeugt, dass man die Existenz solcher Wesen nicht beweisen kann, sinnlogisch ist es also schwer, über ihre ontischen Eigenschaften zu reden. Deshalb beschließt er, darüber zu schweigen, und er bleibt diesem Entschluss bis zu seinem Tode treu.5

2 

Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, § 29. Die philosophischen Schriften, hg. von C. J. Gerhardt, Bd. 6 (Leipzig 1932) 611, dt.-frz. hg. von Herbert Herring (Hamburg 21982) 38 f. 3 John Locke: Essai philosophique sur l’entendement humain, traduit par Pierre Coste (Amsterdam 1700). 4  Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers. Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, Bd. 2, 321. 5  Ebd. 352: »Nunmehr lege ich die ganze Materie von Geistern, ein weitläufig Stück der Metaphysik, als abgemacht und vollendet bei Seite. Sie geht mich künftig nichts mehr an.« Spätere Hinweise aber z. B. in: Kritik der Urteilskraft (§ 91): »daß es reine, ohne Körper denkende Geister im materiellen Univers gebe […], heißt dichten«. Ebd. Bd. 5, 467. Vgl. Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik (ebd. Bd. 20, 309): Unter Geist »versteht man ein Wesen, was auch ohne Körper sich seiner und seiner Vorstellungen bewußt seyn kann«); Opus postumum (Ebd. Bd. 21, 85; Bd. 22, 55, 57.

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An die Stelle der spekulativen Metaphysik tritt bei Kant bekanntlich die Vernunftkritik, die er als eine transzendentale Philosophie konzipiert. In der ersten und der zweiten der drei Kritiken spielt der Begriff des Geistes keine wesentliche Rolle. Er erscheint aber in der dritten, in der Kritik der Urteilskraft, in der Kant nicht die transzendentalen Bedingungen des objektiven – d. h. intersubjektiv geltenden – Wissens sucht, sondern die Eigenschaften der menschlichen Vernünftigkeit enthüllen will, die im teleologischen Denken vorhanden sind. Es geht um die Denkweisen, die für Biologie und für Kunst konstitutiv zu sein scheinen. In der reinen Transzendentalphilosophie meidet Kant jedoch den Begriff des Geistes. Die möglichen Aufgaben dieser Kategorie bringt er mit Begriffen wie Vernünftigkeit, Intelligenz, Verstand, Bewusstsein, transzendentale Einheit der Apperzeption u. a. zum Ausdruck. Die ›Legislatur der Vernunft‹ umgreift nach Kant den Bereich sowohl der Natur als auch der Moral. Es gibt aber Bereiche menschlicher Tätigkeit, in denen die Dynamik des Lebens, seine uneingeschränkte Fülle, die Möglichkeiten des apriorischen Konditionierens überschreitet. Kant will diese Wirklichkeit des menschlichen Lebens anerkennen und spricht in der Kritik der Urteilskraft (1790) davon, dass das Genie eine »Belebung der Erkenntnißkräfte« erreichen könne, indem es »zu einem gegebenen Begriff Ideen auffinde« und dadurch eine »subjective Gemüthsstimmung, als Begleitung eines Begriffs« herrufe.6 Dies ist nicht verwunderlich, denn der Zusammenhang von Geist und Leben ist seit den Anfängen dieses Begriffs gegeben. Der hebräische Begriff ruach, der germanische hauch oder der lateinische spiritus – Bonaventura leitet spiritus von ›spirare‹, ›atmen‹, ›einhauchen‹, ab, indem er sagt: »spiritus dicitur, quia spiratur« – alle diese Termini beziehen sich auf das Geben bzw. Unterstützen des Lebens durch eine heilige, eben ›geistige‹ Kraft. So sagt man auch von einem, der gerade gestorben ist, er habe den ›Geist aufgegeben‹, der Geist habe ihn, wie ein Hauch, verlassen (poln. ›wyzional ducha‹). Friedrich Schiller kann in einem ähnlichen Zusammenhang schreiben: »Das Gebiet des Geistes erstreckt sich so weit, als die Natur lebendig ist, und endigt nicht eher, als wo das organische Leben sich in die formlose Masse verliert und die animalischen Kräfte aufhören.«7 Sein Freund Goethe ergänzt dies mit der Feststellung: »Und des Lebens Leben [ist] Geist.«8 In seinen Vorlesungen über Anthropologie bezeichnet Kant den Geist als »das belebende Princip im Menschen« und verbindet diesen Begriff mit dem der französischen Philosophie entliehenen Begriff des Genies: »Wie wäre es also: 6 

Ders.: Kritik der Urteilskraft § 49. Akad.-Ausg., a. a.O. [Anm. 4] Bd. 5, 317. Vgl. ders.: Anthropologie § 71 B. Akad.-Ausg., Bd. 7, 246: »Man nennt das belebende Princip des Gemüths Geist.« 7  Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde. Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert (München 1958–62) Bd. 5, 444. 8  Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan. Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 2 (München 1978) 75.

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wenn wir das französische Wort génie mit dem deutschen eigenthümlicher Geist ausdrückten.«9 Die Genieästhetik bildet die zweite Stufe seiner Kunstphilosophie, die nach der Betrachtung der Intersubjektivität des Geschmacks und des Geltungstypus des ästhetischen Urteils formuliert wird. In seiner Auslegung des Geniebegriffs enthüllt Kant die Kulissen der produktiven Einbildungskraft, die Kunsterschaffen und Kunstgenuss zu etwas macht, was den Menschen vergeistigt, ihn zur Kreativität, zum Schaffen des Neuen, bewegt. Dies macht den Geist zum lebendigen und belebenden Prinzip des menschlichen Gemüts. Der Geist eines Individuums entscheidet über seine kreativen Kräfte. Sie erreichen ihren Höhepunkt im Gehirn eines Genies, eines genialen Menschen, der sich durch die schon bestehenden Muster und Regeln, sowohl in der Natur wie in der Kultur, nicht begrenzen lässt und neue Formen erschafft, wie eine Naturkraft. Seine Tätigkeit führt zu dem, was Hans-Georg Gadamer als »Zuwachs am Sein« bezeichnet hat.10 So bindet Kant den Begriff des Geistes an das Ästhetische. Geist als Prinzip des kreativen Intellekts bedeutet das Vermögen bzw. die Fähigkeit des sinnlichen Erfassens und Ausdrückens der Ideen: »Geist in ästhetischer Bedeutung heißt das belebende Princip im Gemüthe. Dasjenige aber, wodurch dieses Princip die Seele belebt, der Stoff, den es dazu anwendet, ist das, was die Gemüthskräfte zweckmäßig in Schwung versetzt, d. i. in ein solches Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt. Nun behaupte ich, dieses Princip sei nichts anders, als das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen«, d. h. einer Form der »Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann«.11 Damit überschreitet Kant zugleich die Auffassung des Geistes als lebendige Vernünftigkeit, in Richtung auf eine ›produktiv anschauende Vernunft‹, d. h. eine Vernunft, die Ideen veranschaulichen kann. Dadurch wird die weitere Entwicklung vorprogrammiert, die in die Vorstellung der sog. »intellektuellen Anschauung« mündet. In seiner theoretischen Philosophie, d. h. in der Kritik der reinen Vernunft, lehnt Kant die Möglichkeit eines nichtanschaulichen Kontakts zur Wirklichkeit ab; dieser Kontakt habe im Fall des Menschen ausschließlich sinnlichen Charakter. Kant lässt, rein hypothetisch, die Möglichkeit einer anschauenden Vernunft, d. h. einer Anschaulichkeit, die nicht in den Sinnen, sondern im Intellekt geschieht, zu, er behält sie aber einer übermenschlichen, göttlichen Vernunft vor.12 Aus diesem Grund wurde der Begriff des Geistes in Kants Philosophie nie dominant.  9 

I. Kant: Anthropologie § 57. Akademie-Ausgabe, Bd. 7, 225. Bezeichnung fällt bei Gadamer ebenfalls im Bereich der Kunst. Hans-Georg Gadamer: Die Aktualität des Schönen (1977). Gesammelte Werke Bd. 8 (Tübingen 1993) 126: »Das Kunstwerk bedeutet einen Zuwachs an Sein. Das unterscheidet es von all den produktiven Leistungen der Menschheit in Handwerk und Technik […].« 11  I. Kant: Kritik der Urteilskraft, § 49. Akad.-Ausg., Bd. 5, 313 f. 12  I. Kant: Kritik der reinen Vernunft B 307. Vgl. Kritik der Urteilskraft, § 77. Akad.-Ausg., Bd. 5, 406 f. 10  Diese

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Seine Nachfolger haben diese Selbstbeschränkung aufgehoben und die Möglichkeit der intellektuellen Anschauung auch für Menschen zugelassen. In der Geschichte der deutschen – was hier auch heißt: der europäischen – Philosophie markiert dies den Übergang von einem Philosophieren, das sich auf wissenschaftliche Erkenntnis richtete, sei es in der Physik (Kant), sei es der Mathematik (Descartes), zum Standpunkt des Künstlers, der das Neue erschafft. Es führte zu einer Art Ästhetisierung der Philosophie. Es verwundert daher kaum, dass das Signal zu dieser Wende von einem Künstler, nämlich von Goethe, gegeben wurde. Sie wird dann vom jungen Schelling vorangetrieben. Der Zeitraum dieser Wende kann relativ präzise festgesetzt werden. Es sind die Jahre 1794–1800. Dazu reicht es aus, die prominenten Werke zu nennen, die nach dem Vorbild von Montesquieus De l’Esprit des loix (1748) vom Begriff ›Geist‹ schon im Titel Gebrauch machen: Wilhelm von Humboldts Über den Geist der Menschheit (1797), Salomon Maimons Kritische Untersuchungen über den menschlichen Geist oder Erkenntniß- und Willensvermögen (1797), Friedrich Hölderlins Über die Verfahrensweise des poetischen Geistes (ca. 1800), Hegels Der Geist des Christenthums und sein Schicksal (1798–1800) oder Johann Gottfried Herders Vom Geist des Christenthums (1798) und Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782/83). Dennoch liegen die Ansätze zu der Verwandlung, die den Begriff des Geistes ins Zentrum der Philosophie gestellt hat, noch tiefer verborgen. Die intellektuelle Vorherrschaft hat zu jener Zeit ein Schüler Kants, nämlich Johann Gottlieb Fichte übernommen. Bereits im Titel seiner Abhandlung zur Ästhetik Über Geist und Buchstab in der Philosophie bezieht er sich auf den hier verhandelten Begriff. Die Basis bildet die hermeneutisch-theologische Diskussion über den Unterschied zwischen dem wörtlichen und dem geistigen Sinn der Bibel. Der Begriff des Geistes wird hier relativ breit und noch in einer gewissen Übereinstimmung mit Kant für das verwendet, was auch »produktive Einbildungskraft« genannt wird. Der Geist ist ein »freies Schöpfungs-Vermögen«. Durch ihn »wird die an sich in die Gränzen der Natur eingeschlossene Sphäre des Geschmacks erweitert […]. Der Geist lässt die Gränzen der Wirklichkeit hinter sich zurück, und in seiner eigenthümlichen Sphäre giebt es keine Gränzen.«13 Geist ist eine Fähigkeit, Ideale zu bilden. Der Mensch ist für Fichte insofern ein Mensch, als er Geist in sich hat. Geist ist eine ›Tätigkeit‹, die sich materialisieren muss, um wirken zu können: im Wort, im Werk, in der Tat. Fichte kommt hier in Berührung mit einem Problem, das 100 Jahre später von Wilhelm Dilthey herausgestellt wird: Das geistige Leben eines jeden Menschen ist seinen Mitmenschen nur durch materialisierte Lebensartikulationen zugänglich und verstehbar. Nebenbei bemerkt: Die Besonderheit dieses vielschichtigen Verstehens, das sich nicht auf wissenschaftliche bzw. quasi-wissenschaftliche Erklärungen mit Hilfe 13  Vgl.

Johann Gottlieb Fichte: Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie (1798). Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I/6 (Stuttgart-Bad Cannstatt 1981) 352.

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von Gesetzen zurückführen lässt, bringt die Hermeneutik als eine allgemeine Theorie des Verstehens der Produkte des Geistes auf die philosophische Bühne. Eine Exemplifizierung des Unterschieds zwischen dem Buchstaben und dem Geist gelingt Fichte am Beispiel des Werkes von Kant selbst: Dessen Formulierungen seien, so Fichte, oftmals mit dem Geist seiner idealistischen Transzendentalphilosophie unvereinbar. Aus diesem Grund unternimmt Fichte das Vorhaben einer Bereinigung der Kantischen Philosophie von internen Inkonsequenzen, die u. a. mit der Annahme des unerkennbaren Dings an sich und mit der Ablehnung der menschenmöglichen intellektuellen Anschauung verbunden sind. Bekanntlich hat Kant gegen diese ›Korrekturen‹ seiner Philosophie in der 1799 veröffentlichten »Erklärung« zu Fichtes Wissenschaftslehre protestiert,14 erfolglos, denn ›der Geist der Zeit‹ hatte sich bereits von ihm abgewandt. Herder schreibt über den »Geist des Volks«,15 Schiller unterscheidet in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen eine sinnliche und eine geistige Welt, und tut dies mit Hilfe der Unterscheidung eines »Stofftriebs« und eines »Formtriebs« in jedem Menschen, deren Vereinigung durch die Einheit des Geistes bewirkt werde.16 So verstärkt sich stufenweise die Präsenz des Begriffs des Geistes. Noch ist es aber nicht der Geist, der auf jedes menschliches Individuum transzendierendes Absolutes bezogen wird. Den Übergang von der absoluten Einheit des Geistes im Menschen zum außerweltlichen oder innerweltlichen absoluten Geist geschieht erst in der frühen Philosophie Schellings. Im Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus (1796) behauptet der Autor (höchstwahrscheinlich Schelling, evtl. auch Hegel), dass man, ohne den ästhetischen Sinn zu besitzen, außerstande ist, irgendetwas kreativ zu betrachten. »Der Philosoph muß eben so viel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter; die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsre BuchstabenPhilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie.«17 Schelling fügt in den Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kriticismus (1795) hinzu, dass die intellektuelle Anschauung die letzte Erkenntnisstufe darstellt, die von endlichen Wesen erreicht werden kann. Erst in ihr werde, so Schelling, »das eigentliche Leben des Geistes« erkannt.18

14  I. Kant: Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre (7. August 1799). Akademie-Ausgabe, Bd. 12, 370 f. 15 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, IV. Werke, hg. von Martin Bollacher (Frankfurt a. M. 1986) Bd. 6, 792: In »Liedern und Sagen […] lernen wir den Geist des Volks kennen«. 16  F. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. 13. Brief. Sämtl. Werke, a. a.O. [Anm. 7] 611. 17  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke Bd. 2 (Hamburg 2014) 616. Vgl. Mythologie der Vernunft. Hegels ›Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus‹, hg. von Christoph Jamme und Helmut Schneider (Frankfurt a. M. 1984). 18  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus (1795). Historisch-kritische Ausgabe (Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff.) Bd. I/3, 86.

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Eine zusätzliche Bestimmung lautet, dass die »intellectuale Anschauung« dort eintritt, »wo wir für uns aufhören Object zu sein, wo, in sich selbst zurückgezogen, das anschauende Selbst mit dem angeschauten identisch ist«.19 Sie ist der absolute, unhintergehbare Grundsatz der echten Philosophie. Es darf hier ergänzend hinzugefügt werden, dass der Autor der Philosophie der Offenbarung hier in anderer Begrifflichkeit ausdrückt, was Fichte in seiner Wissenschaftslehre zu erreichen hoffte. Er tut dies aber explizit durch die Verwendung des Geistbegriffs. Auf die an sich selbst gestellte Frage, worauf denn das Wesen des Geistes beruhe, antwortet er, bewusst Fichteanisch: auf der »Tendenz zur SelbstAnschauung«. »Wenn man uns fragt, worinn das Wesen des Geistes bestehe, so antworten wir: in der Tendenz, sich selbst anzuschauen.« Dadurch »begränzt der Geist sich selbst. Diese Tendenz aber ist unendlich, reproducirt ins Unendliche fort sich selbst. […] Der Geist hat also ein nothwendiges Bestreben, sich in seinen widersprechenden Thätigkeiten anzuschauen. Dies kann er nicht; ohne sie in Einem gemeinschaftlichen Producte darzustellen, d. h. ohne sie permanent zu machen.«20 Der Geist ist ein wahrhaft autonomes Sein, er ist alles nur durch sich selbst, ist die absolute Tathandlung, ursprüngliches Wollen, absolute Grundlage von Sinn und Selbsterkenntnis: »Er ist also absoluter Selbstgrund seines Seyn und Wissens.«21 Indem er die Fichtesche Wissenschaftslehre um eine Philosophie der Natur ergänzt, macht Schelling den Geistbegriff zur fundamentalen Kategorie seiner Philosophie. Die Erkenntnis der apriorischen Struktur der menschlichen Vernünftigkeit – das Ziel der Fichteschen Theorie des Wissens – zeigt das Funktionieren der menschlichen Erkenntnisvermögen, die den Sinn der Wirklichkeit konstituieren, enthüllt »vom Inneren her« als Tätigkeit des menschlichen Geistes. Die Analyse des durch diese Vermögen konstituierten Seienden der Natur enthüllt die Arbeit des Geistes sozusagen »von außen her«. Deshalb war Schelling überzeugt, dass eine echte Transzendentalphilosophie um eine Naturphilosophie ergänzt werden müsse, die aus der Perspektive des Geistes als dem ›Prinzip des Lebens‹ konzipiert werde. Dieses Prinzip nimmt im Falle des Einzelmenschen die Gestalt der Seele, im Falle der übrigen Wirklichkeit die Gestalt der Weltseele an. In der Naturphilosophie erkennt der Geist sich selbst in seinen Erzeugnissen, und nähert sich dem Erfassen des Wesens seiner Tathandlung auf dem Weg der Erkenntnis der konkreten Objektivierungen seiner selbst an. Wenn wir dies nun auf die Ebene der Menschheit emporheben, wird die Berücksichtigung der Geschichte unabdingbar. Denn auch – oder sogar vor allem – die Geschichte ist »Produkt« der Menschen. Fichte selbst hat dies 1794 in eine Formel 19 

Ebd. 88. Allgemeine Uebersicht der neuesten philosophischen Litteratur [Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre] (1797/98). Hist.-krit. Ausg., a. a.O. [Anm. 18] I/4, 107. 21 Ders.: Ideen zur Philosophie der Natur (1797). Hist.-krit. Ausgabe., a. a.O. [Anm. 18] Bd. I/5, 93. 20  Ders.:

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gebracht, nach der die Wissenschaftslehre eine »pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes« sein soll.22 Dennoch unterscheidet sich das absolute Ich Schellings stark vom absoluten Ich Fichtes. Als erster wies darauf Hegel in seinem Aufsatz über die Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie hin.23 Bald wurde es auch Schelling selbst klar. In einem seiner späteren Texte schrieb er dazu, dass der Idealismus im Fichteschen, subjektiven Sinne behaupten müsste, dass das Ich alles ist. Im Unterschied hierzu behauptet der Idealismus »in objectiven Sinne« – d. h. der Schellingscher Prägung –: »Alles seye = Ich«.24 Dieses absolute Ich ist bei ihm nicht mehr ein Ich des Menschen, sondern ein Ich Gottes. Damit kehrt Schelling zu der von Kant vermeintlich überwundenen Metaphysik zurück. So wird es zum höchsten Ziel und der wichtigsten Aufgabe des Menschen, sich einem Absoluten anzugleichen.25 Um Schelling ein wenig in Schutz zu nehmen, soll gesagt werden, dass dieses ›Alles ist Ich‹ zugleich einen Versuch der Überwindung der damals herrschenden mechanistischen Auffassung der Natur beinhaltet, die mit dem Aufblühen der Physik und ihrer Anwendung, der Technik, einherging. Grundlage dieser Überwindung war die Idee, die Natur als einen ganzheitlichen, ›autothelischen‹ und dynamischen Organismus zu denken. Die Evolution der Natur enthüllt laut Schelling die geistigen Grundsätze, die sie leiten. Dies bedeutet, dass der Geist nicht erst mit dem Menschen, als einem Resultat dieser Evolution, erscheint, sondern in der Ganzheit der Natur von Anfang an enthalten ist. Dies gilt auch für die unbelebte Natur, die die ersten Elemente des Geistigen aufweist. Gemeint sind die Anziehungs- und die Abstoßungskraft, die bereits in der unorganischen Materie vorhanden sind und ihre Organisierung verantworten. Dies berechtigt laut Schelling zu einer Rede von einer Weltseele und von einer zielgerichteten Entwicklung der Natur, von nicht organischen Körpern bis zum Menschen, der damit eine Art Krönung der Naturevolution bilde. Er ist diejenige Gestalt des Ganzen, in der dieses Ganze ein Selbstbewusstsein, d. h. das Bewusstsein seiner Selbst, erreicht. Die Zielgerichtetheit des Prozesses der Naturentwicklung bedeutet für Schelling die Selbstorganisation, gemäß der jedes Lebewesen, als eine aus sich selbst und für sich selbst daseiende Ganzheit, gleichzeitig Ursache und Folge seiner selbst wird. Es kann überleben dank der gegenseitigen Einwirkungen der zweckmäßig, d. h. vernünftig, auf sich bezogenen Teile seiner selbst, der Teile, die außer der Ganzheit, die es mitkonstituieren, nichts sind. »Diese Struktur des einzel22 J.

G. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [1794/95]. Gesamtausgabe, a. a.O. [Anm. 13] Bd. I/2, 365. 23  G. W. F. Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (1801). Gesammelte Werke, Bd. 4 (Hamburg 1968) bes. 62 f. 24  F. W. J. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie (1801). Hist.-krit. Ausgabe, a. a.O. [Anm. 18] Bd. I/10, 111. 25  Vgl. Franz Joseph Wetz: Schelling zur Einführung (Hamburg 1996) 29.

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nen Organismus überträgt Schelling im weiteren auf die gesamte Welt, die einen All-Organismus darstelle, dessen alles durchdringende Kraft das Leben sei. Alle Naturerscheinungen, die organischen Phänomene ebenso wie die anorganischen, seien Teile dieses Gesamtorganismus. Leben ist somit nicht nur an eine bestimmte Art von Naturobjekten gebunden, Leben ist das Wesen des Kosmos im Ganzen.«26 Indem Schelling über den »Geist der Natur« spricht, verbindet er den Naturalismus mit dem Pantheismus: »Der stete und feste Gang der Natur zur Organisation verräth deutlich genug einen regen Trieb, der, mit der rohen Materie gleichsam ringend, jetzt siegt, jetzt unterliegt, jetzt in freiern, jetzt in beschränktern Formen sie durchbricht. Es ist der allgemeine Geist der Natur, der allmählich die rohe Materie sich selbst anbildet.«27 Ähnlich wie die frühere Philosophie unterscheidet Schelling die natura naturans, d. h. eine geistige Schöpfungskraft, und ihre sinnlich zugänglichen Objektivationen, die Objekte der Natur, die als natura naturata aufgefasst werden. Der Geist entsteht bzw. erwacht schon in der einfachen Natur und findet seine reifste Gestaltung im Menschen, der im Akt der philosophischen Reflexion sich dem Absoluten nähert, damit seine höchste geistige Möglichkeit erreichend. »Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und in der Natur außer uns, muß sich das Problem, wie eine Natur außer uns überhaupt möglich seye, auflösen.«28 Diese Auffassung des Geistes, die Schelling herausarbeitete, blieb selbstverständlich nicht ohne Wirkung auf seine Position im Bereich der Anthropologie und der Ethik. Während Kant den Menschen als »Bürger zweier Welten« betrachtet, der zwischen Leiblichkeit (Sinnlichkeit) und Vernünftigkeit, zwischen Natur und Kultur hin- und hergerissen wird, ist Schelling Anhänger der These von der Einheit der Schöpfung, ähnlich wie Arthur Schopenhauer, der nach seiner Analyse des Erkenntnisvermögens der Tiere zum Schluss gekommen war, dass sie zwar nichts der Kantschen Vernunft Ähnliches besäßen, man ihnen aber einen Verstand kaum absprechen könne. Durch ihn erkennen sie die sie umgebende Wirklichkeit und agieren in ihr im Sinne des Überlebens.29 Mit der These, dass der Mensch ein Ziel der Evolution ist, bereitete Schelling das Feld für die Lösungen, die Hegel vorgeschlagen hat. Indem Hegel das von Schelling so stark betonte Motiv bzw. den Primat der Freiheit aufnahm, bildete er eine Philosophie des absoluten Geistes, die ihre Krönung in den edelsten Erzeugnissen der

26 

Ebd. 49. F. W. J. Schelling: Allgemeine Uebersicht der neuesten philosophischen Litteratur. Hist.krit. Ausg., a. a.O. [Anm. 18] I/4, 114. 28  Ders.: Ideen zu einer Philosophie der Natur. Hist.-krit. Ausgabe, a. a.O. [Anm. 18] Bd. I/5, 107. 29  Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Sämtliche Werke (Frankfurt a. M. 1986) Bd. 1, § 6 ff. 27 

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geschichtlichen Menschheit vorfindet: in der Kunst, in der Religion und in der Philosophie.

II.  Hegels Begriff des Geistes Hegel knüpfte an eine Idee an, die die Philosophie des Geistes mit der Philosophie der Geschichte verbindet. Dass der Begriff des ›Geistes‹ schon in den Jahren 1795–1797, also vor dem großen Auftritt Hegels, zum Fundamentalprinzip wurde, wurde durch eine Verbindung von Ästhetik und Theologie veranlasst. Hegel eignete sich den Terminus in einer veränderten Form an, indem er ihn von der Anschauung eben zum Begriff erhob, damit er den von ihm vorgesehenen, sowohl geschichtsphilosophischen wie systematisch-spekulativen Aufgaben gerecht werden könne.30 Die beiden Aufgaben bildeten für Hegel eine Einheit, selbst wenn er ihnen separate Werke gewidmet hat. Sein panlogisches System, das die Enthüllungen und Impulse der Romantik und die Aufklärungsphilosophie gleichermaßen bearbeitet und ›aufgehoben‹ hat – in dem für Hegel spezifischen Sinne der Aufhebung, die darauf beruht, dass das Wertvollste, soz. der logische Kern, aufbewahrt wird –, spielte der Begriff ›Geist‹ eine fundamentale Rolle. Eine rudimentäre Kenntnis der Philosophie Hegels voraussetzend richten wir im Folgenden unsere Aufmerksamkeit auf die Problematik, die direkt mit seiner Geistauffassung zusammenhängt. Hegels Zurückweisung der intellektuellen Anschauung zugunsten der begrifflichen Erkenntnis führte zur Ablehnung der ästhetischen Erscheinungen in einer paradigmatischen Rolle für die Phänomene des Geistes. Nicht eine Anschauung der apriorischen Wahrheiten, wie Schelling es wollte, sondern das Erreichen ihres wahren Begreifens, d. h. eines adäquaten Begriffs, wird zum Ziel der Philosophie erhoben. Mit anderen Worten: Hegel lehnt, indem er sich von Schelling distanziert, die Funktionen eines philosophischen Organons der Kunst ab. Um die Entstehung des Geistigen zu enthüllen, beruft sich Hegel weder auf ein Ich noch auf ein Bewusstsein, sondern auf die Koexistenz und den gegenseitigen Bezug der rationalen Menschen, die in den Kommunikations- und Zusammenarbeitsakten ihre Freiheit und das Bewusstsein dieser Freiheit entdecken. Der für die Transzendentalphilosophie typische Vorrang der Subjektivität wird durch eine Dialektik des Subjektiven und Intersubjektiven ersetzt, d. h. durch die Dialektik von Ich und Wir. In dieser Dialektik verwirklicht sich der Geist in seinem geschichtlichen Erscheinen. Der Ausgangspunkt bildet also nicht ein Ich, das im Akte seiner Freiheit ein Nicht-Ich setzt (Fichte), sondern ein Prozess, in dem ein Sich-Aussetzen auf eine Begegnung mit Anderen, ein Sich-Aufopfern,

30 Vgl.

Odo Marquard: Art. ›Geist‹ VII, 3. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3 (Basel 1974) 188.

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ein Streben nach Anerkennung durch die Anderen stattfindet. Erst in diesem und durch diesen Prozess geschieht wahre Selbsterkenntnis. Ein so aufgefasster Geist erreicht bei Hegel den Status einer absoluten Substanz, in einer von Aristoteles abweichenden Bedeutung dieses Terminus. Denn er meint damit eine dynamische, historisch erreichte und veränderliche Grundlage, die sowohl die Individuen wie auch Gemeinschaften trägt. Auf diese Art und Weise öffnet sich Hegel einen Bereich des Geistigen, der so weit gefasst ist, dass man im Falle seiner Philosophie von einer Hegemonie dieses Begriffs sprechen darf, die sogar eine gewisse Inflation mit sich bringt. Wenn wir in seine Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften nur einen kurzen Blick werfen, dann sehen wir sofort, dass schon im Inhaltsverzeichnis vom theoretischen, vom praktischen, und vom freien Geist die Rede ist. In anderen Partien des Buches spricht Hegel über den endlichen und unendlichen sowie über entfremdeten, konkreten, wahren und abstrakten Geist. Die wichtigste Rolle spielen dabei zweifellos die drei Begriffe des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes.31 In der Literatur, die in seine höchst komplizierte Philosophie einführen soll, wird der subjektive Geist mit dem Psychologisch-Individuellen, und der objektive mit dem Kulturell-Institutionellen gleichgesetzt, was nicht völlig dem Sachverhalt entspricht. Denn zum Bereich des subjektiven Geistes werden bei ihm nicht nur die Psychologie und Phänomenologie, sondern auch die Anthropologie gerechnet, und diese fasst bzw. erforscht die menschliche Seele in Bezug auf die allgemeinen und konkreten, lokalen Naturgegebenheiten: natürliche Lebensumgebung, Lebensweisen einen gegebenen Gemeinschaft, die Charakterzüge eines Volkes bzw. einer Nation, usw. Dies bedeutet, dass Hegel hier ebenfalls die Forschung verortet, die wir heute der Ethnologie und Ethnopsychologie zuschreiben. Auch der Begriff des objektiven Geistes lässt sich auf die sozialen Institutionen kaum reduzieren. Seinen Bereich bilden das Rechtssystem, die individuelle Moralität und gesellschaftliche Sittlichkeit, die wiederum in drei Hauptformen – Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat – hervortritt.32 Und in der Moralität haben wir es nicht so sehr mit sozialen Institutionen, vielmehr mit dem freien, ethisch entscheidenden Individuum zu tun. Auch den Hegel’schen Begriff des absoluten Geistes muss man mit Vorsicht betrachten. Denn er umfasst nicht – wie manchmal behauptet wird – jede Kunst, jede Religion und jede Philosophie, sondern historisch aufeinander folgende Stadien der Vervollkommnung des Geistes in Gestalt der klassischen Kunst, der christlichen Religion und der nach dem und infolge des Christentums entstandenen Philosophie.33 Der Gedanke Hegels, der hinter dieser Aufteilung des 31  Vgl. G. W. F. Hegel: Enzyklopädie (1830) § 385. Gesammelte Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 20 (Hamburg 1992) 383. 32  Vgl. ders.: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 158 ff., 182 ff., 257 ff. Gesammelte Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 14 (Hamburg 2009) 144 ff., 160 ff., 201 ff. 33  Friedrich Fulda: Art.. ›Geist‹ VIII, 2, a. a.O. [Anm. 30] Bd. 3, 194.

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Geistes steht, ist die Idee der Selbstverwirklichung, d. h. der wachsenden Einheit des An-sich-Seienden und des Für-sich-Seienden. Die Selbstverwirklichung des Geistes im Selbstwissen bedeutet eine Art In-Übereinstimmung-Bringen vom Wesen (als Anwesen) und Begriff (im Sinne des Begreifens), das heißt: als Übereinstimmung des Seins mit dem Seinsverstehen. Vereinfachend darf man sagen, dass auf dem Niveau des subjektiven Geistes der Mensch Selbstbewusstsein erwirbt, und in eins darin – ein Bewusstsein seiner Freiheit (resp. der Undeterminiertheit). Damit hängt die Erkenntnis seines Schicksals zusammen, die den Übergang vom Reich der – heterogenen – Kausalität zum Reich der autonomen Zielsetzungen bildet. Freiheit wird zur inneren Bestimmung und zum Ziel des subjektiven Geistes. Auf dem Weg zu ihrer Verwirklichung steht das Äußere, das Vorgegebene: eigene Bedürfnisse, die Natursachen, die Kräftebündel. Die Verwirklichung der Freiheit erzwingt einen Übergang auf die Stufe des objektiven Geistes, auf dem das Bewusstsein entsteht, dass die Welt nicht meine, sondern ›unsere‹ Kreation ist. Es sind also in ihr Notwendigkeiten enthalten, die eine sich verwirklichende Freiheit erkennen und berücksichtigen muss. Diese Anpassung – im berühmten Diktum über ›Freiheit als bewusst gewordene Notwendigkeit‹ ausgedrückt – bedeutet beispielsweise auf dem Niveau des öffentlichen Lebens, dass der Mensch den selbstbewussten Zustand der Freiheit erreicht, der zu seiner – zweiten, eigentlichen – Natur wird. Auch die Moralität, die zwar die innere Handlungsmotivation der Individuen betrifft, muss die gemeinschaftlichen Bedingungen des Lebens berücksichtigen. Ansonsten wird sie zur puren Träumerei. Zu diesen Bedingungen gehört die ganze rechtsstaatliche Sphäre, der Bereich des Legalen, den Hegel, im Unterscheid zu Kant, höher bewertet als die Dimension der inneren Moralität. »Die Sittlichkeit ist die Vollendung des objectiven Geistes, die Wahrheit des subjectiven und objectiven Geistes selbst.«34 Der Begriff des absoluten Geistes markiert bei Hegel den Bereich des wachsenden Selbstwissens der Menschheit. Der Unterschied in Bezug auf die Stufe der »Selbstpräsenz des Geistes« ist hier mit den Ausdrucksmöglichkeiten verbunden, die in seinen Subbereichen vorhanden sind. In Anbetracht der Kunst weist Hegel die Behauptung der romantischen Ästhetik zurück, nach der ein Kunstwerk nur ein »schöner Schein« sei, dessen Aufgabe es ist, die Erlebnisse des Künstlers zu artikulieren und zu enthüllen. Hegel spricht sich für die Anerkennung des kognitiven Werts der Kunst aus, die – ohne aufzuhören, eine kreative Selbstverwirklichung des Künstlers zu sein – zugleich eine Gestalt des absoluten Geistes (d. h. des Selbstwissens der Menschheit) ist. Der Wert eines Kunstwerks beruht also nicht so sehr auf rein formalen Aspekten, sondern auf seinem Erkenntnisinhalt, genauer gesagt: auf der Wahrheit, die 34 

G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) § 513. Gesammelte Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 20 (Hamburg 1992) 494.

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in ihm in diskursiver oder außerdiskursiver Form zum Ausdruck kommt. Eben auf dies weist die Formulierung Hegels hin, dass das »Schöne […] als sinnliches Scheinen der Idee« sei.35 Hegel unterscheidet zwar zwischen drei grundsätzlichen Kunstgestalten: der symbolischen, der klassischen und der romantischen Kunst, zeichnet aber »die klassische Kunst als die vollkommenste Form des künstlerischen Schaffens, die zugleich die größte Bedeutung für die Kultur der eigene Epoche besitzt, aus. Er vermindert gleichzeitig die kulturelle und künstlerische Bedeutung der Kunst der Romantik. […]. Die klassische Kunst dient nach Hegel der Entwicklung des Freiheitsbewusstseins, denn sie enthüllt die Unabdingbarkeit der Zusammenbindung und der politischen Integration der allgemeinen Normen mit dem individuellen Willen. Das Wissen darum ist eben in der klassischen Kunst enthalten, die am besten den Kanon der Schönheit verkörpert.«36 Aber auch diese vollkommenste der Künste, die klassische Kunst, hat innere Einschränkungen, die mit der Konkretheit der Gestaltung, mit der Unbegrifflichkeit der Ausdrucksform, verbunden sind. Das Bewusstsein der Freiheit kann in ihr nur in der Vermittlung durch das Sinnliche und, als solche, begrenzte, auftreten. »Hegel spricht der Kunst die Rolle eines Alliierten des Freiheitsbewusstseins in einer Epoche ab, in der sich ein souveräner Staat entwickelt, der die allgemeinen Grundsätze vertritt und den Normen eine objektive Auslegung garantiert. […]. Die im Staat proklamierten Normen haben einen allgemeinen Charakter, sie bilden ein rechtliches System, und ihre Erkenntnis ist möglich dank den Begriffen, die als theoretische Modelle fungieren. […]. Die Kunst kann dieses Niveau der allgemeinen Erkenntnis nie erreichen. […]. In dieser Funktion wird sie also durch Philosophie ersetzt.«37 Zwischen Kunst und Philosophie platziert Hegel die Religion. Er ist dabei von einer tiefen Verbundenheit zwischen Kunst und Religion überzeugt38 und auch davon, dass »die schöne Kunst (wie deren eigentümliche Religion) ihre Zukunft in der wahrhaften Religion« hat.39 Und eine solche ist ausschließlich die offenbarte Religion. Das Wissen vom Geist trennt sich in ihr von der sinnlichen Vermittlung ab, von der für Kunst – und für frühere Religionen – charakteristischen Bildhaftigkeit. Sie erreicht dennoch die für den Begriff typische Tiefe nicht. Daher erreicht der Geist seine höchste Erkenntnis erst in der Philosophie. Über Philosophie, als der Wissenschaft, in der der Geist seine tiefste Präsenz zeigt, heißt es: »Diese Wissenschaft ist insofern die Einheit der Kunst und Religion, als die der Form nach äußerliche Anschauungsweise der erstern, deren subjectives Produciren und Zersplittern des substantiellen Inhalts in viele selbst35  Vgl.

ders.: Vorlesungen über die Ästhetik. Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, hg. von Hermann Glockner, Bd. 12 (Stuttgart-Bad Cannstatt 41964) 160. 36  Zbigbiew Kuderowicz: Hegel i jego uczniowe (Warszawa 1984) 184. 37  Ebd. 187–188. 38  G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 562, a. a.O. [Anm. 31] 547. 39  Ebd. 549 (§ 563).

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ständige Gestalten, in der Totalität der zweiten, deren in der Vorstellung sich entfaltendes Auseinandergehen und Vermitteln des Entfalteten, nicht nur zu einem Ganzen zusammengehalten, sondern auch in die einfache geistige Anschauung vereint und dann zum selbstbewußten Denken erhoben ist. Diß Wesen ist damit der denkend erkannte Begriff der Kunst und Religion, in welchem das in dem Inhalte Verschiedene als nothwendig, und diß Nothwendige als frei erkannt ist.«40 Bei Kant spielt der Begriff ›Vernunft‹ die entscheidende Rolle. Der Begriff des Geistes wird von ihm im Bereich der Kunst (und weiter: der Kultur) gebraucht, um die Genialität des Künstlers zu bezeichnen, der dank seiner natürlichen Gabe durch seine Werke neue Erscheinungsformen ins Leben ruft, neue Regeln in die Welt setzt. Der Geist ist hier eine belebende, im Kopf des Künstlers ›situierte‹ Kraft. Im Gebiet der Kultur- und Wertphilosophie Kants ist ›Geist‹ eine Fähigkeit zum intuitiven Finden der Ideen der Gegenstände bzw. der Situationen, und zum Gewahrwerden in ihnen liegender Möglichkeiten/Formungspotentiale. Der Geist basiert hier auf der Einbildungskraft, die es dem Menschen ermöglicht, Kultur als seine zweite Natur aus dem Stoff der ersten Natur zu erschaffen. Im Bereich der praktischen Philosophie Kants fungiert ›Geist‹ als eine Kraft, die der Seele von der Vernunft her quasi zugeliefert wird, wodurch der Mensch nicht nur ein biologisch vorbestimmtes, sondern auch kulturell bedingtes (d. h. nach den moralischen Gesetzen die aus seiner Freiheit resultieren) Leben führen kann bzw. muss. Er ist also ein Prinzip der genuin menschlichen Lebensweise. Die Weiterentwicklung der Transzendentalphilosophie durch Fichte ging in die Richtung, die die für Kant wichtige Unterscheidung zwischen der theoretischen und der praktischen Philosophie (d. h. die Kulturphilosophie) nivelliert bzw. als eine künstliche darstellt. Die Welt wird von Fichte zwar als Produkt des Subjekts erfasst, aber nicht der Erkenntnis, sondern der Tathandlung der Subjekte. In der Abhandlung über den Geist und den Buchstaben in der Philosophie erklärt er sein Verständnis des Geistes, der – ähnlich wie bei Kant – mit menschlichen Kreativität zusammenhängt: die Einbildungskraft der Menschen bestätigt sie als freie, über die pure Natur hinausragende Wesen. Im Bereich des künstlerischen Schaffens erzeugt sie der Natur unbekannte Formen, die ins Sein treten sollen. Diese freie Schöpfungskraft nennt er Geist, der bei ihm eine Suche nach dem Ideal ist. Schellings Ergänzung der so verstandenen Transzendentalphilosophie um eine Naturphilosophie geschieht durch die Unterscheidung und Zusammenführung der niedrigeren Formen der Geistentwicklung, mit der wir in sinnlich zugänglichen Naturerscheinungen zu tun haben, und der höheren Formen, die die Produkte der menschlichen Freiheit (= Einbildungskraft) sind. Die Verbindung der beiden geschieht in der Kunst, die für ihn die höchste Verwirklichung des Geistes ist. 40 

Ebd. 554 f. (§ 572).

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Erst für Hegel wird ›Geist‹ zum Zentralbegriff, um den sich alles dreht. Er spielt die Rolle, die für Kant die Vernunft spielte, wird aber noch differenzierter aufgefasst. Man darf, vereinfachend, zwei Hauptbedeutungen dieses Begriffs bei Hegel feststellen. Der Geist ist, erstens, der umfassende Subjektausdruck, d. h. eine Substanz, die alle Einzelsubjekte vereinigt und trägt. So fungiert dieser Begriff in der Phänomenologie des Geistes, wo er die Funktion eines allumfassenden Subjekts hat, das aber das Bewusstsein seiner selbst erst in konkreten, historischen Menschen-Subjekten erreichen kann. »Es ist der Geist, der die Gewißheit hat in der Verdopplung seines Selbstbewußtseyns und in der Selbstständigkeit beyder seine Einheit zu haben. Diese Gewißheit hat sich ihm nun zur Wahrheit zu erheben; was ihm gilt, daß es an sich und in seiner innern Gewißheit sey, soll in sein Bewußtseyn treten, und für es werden.«41 Mit der zweiten Bedeutung des Geistbegriffs haben wir es in der Enzyklopädie zu tun, wo er vor allem die kulturelle und soziale Welt umfasst. Diese Welt beinhaltet auch die Natur, indem sie sie nicht als pure, uns unzugängliche, sondern als mit der Vernunft erkannte Natur erfasst wird. Er hat sie »zu seiner Voraussetzung, deren Wahrheit, und darum deren absolutes Erstes er ist. In dieser Wahrheit ist die Natur verschwunden, und der Geist hat sich als die zu ihrem Fürsichseyn gelangte Idee ergeben, deren Object eben sowohl Subject der Begriff ist.« In der Natur ist der Geist zugunsten der »äußerlichen Objectivität […] aufgehoben«. Deshalb gelangt man zur »Identität« des Subjektiven und Objektiven nur über das »Zurückkommen aus der Natur«.42 In der Identität mit sich hat der Geist »formell die Freiheit«; er gewinnt aber die »Wahrheit seiner Freiheit« erst, indem er sich als endlicher (subjektiver bzw. objektiver) und absoluter Geist manifestiert.43 Zusammenfassend könnte man sagen, dass, obwohl der Begriff des Geistes schon bei Kant erscheint, und zwar in einer mit dem Begriff ›Genie‹ verbundenen Ästhetik, er erst bei Hegel seine philosophische Funktion erhält, die ihn zu einem der Schlüsselbegriffe der europäischen Philosophie des 19. Jahrhunderts gemacht hat. Die Beiträge zu diesem durchaus als ambivalent einzuschätzenden Triumph dieses Begriffs, die wir Fichte und Schelling zu verdanken haben, waren nur Stationen auf dem Weg zu Hegel. In der parallel zur deutschen klassischen Philosophie verlaufenden Linie, d. h. in der sog. Lebens- bzw. Willensphilosophie, derer Ansätze Nietzsche und Scho41 

Ders.: Phänomenologie des Geistes, Kap. V. B. Gesammelte Werke, a. a.O. [Anm. 33] 193. Ders.: Enzyklopädie § 381, a. a.O. [Anm. 31] 381 f. 43  Ebd. §§ 382–384, a. a.O. [Anm. 31] 382. Vgl. ders: Vorlesungen über die Philosophie des Rechts (Nachschrift Homeyer WS 1818/19). Gesammelte Werke, Bd. 26/1 (Hamburg 2013) 233: »Der Geist nemlich ist nicht von Natur was er ist, sondern er ist nur wozu er sich macht, er ist sich nur als sein eignes Werk. Die Natur ist sein Anfangspunkt, sein wahrhaftes Seyn aber ist, über diese natürliche Unmittelbarkeit hinauszugehen, sich aus sich selbst zu erzeugen. Diese Entwicklung, welche die Form der Natürlichkeit aufzuheben strebt, sehn wir an der Ausbildung des Einzelnen sowohl, durch den Geist des Menschen, als an den Völkern überhaupt durch den allgemeinen Weltgeist hervorgebracht.« 42 

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penhauer geschaffen haben, spielte ›Geist‹ eine verhältnismäßig geringe Rolle. Gelegentlich erscheint der Begriff in ihren Schriften, eher in einer literarischen denn in einer philosophisch-begrifflichen Funktion. Dies gilt auch für die Erneuerung Kants im Neukantianismus, die in den drei letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts, in Gestalt zahlreicher Schulen, ihren Anfang genommen hat.

III.  Das Schicksal des Begriffs Geist in der nachhegel’schen Philosophie Der direkte Einfluss der Hegel’schen Philosophie des Geistes nach dem Tod seines Verfassers war geringer als man erwarten könnte. Seine Schüler und Anhänger haben sich zwar mit der Weiterentwicklung seines Konzeptes des subjektiven Geistes beschäftigt, ihre Bemühungen wurden aber bald durch die Errungenschaften der entstehenden empirischen Psychologie in Schatten gestellt. In der weiterhin lebendig diskutierten Rechtsphilosophie Hegels versuchte man wiederum von seiner Lehre über den objektiven und absoluten Geist abzusehen, um sie nicht unnötig zu ›metaphysizieren‹. Was das Konzept des absoluten Geistes anbelangt, so wurde vor allem die Reihenfolge der drei Grundschichten diskutiert, nicht ohne Bezug auf die Spätphilosophie Schellings, insbesondere seiner Philosophie des Mythos und der Offenbarung. Schelling betrachtete Kunst und Religion als die über die Philosophie hinausgehenden höheren Erscheinungsweisen des absoluten Geistes. In diese Richtung gingen auch die Argumentationen von Christian Hermann Weisse und Immanuel Hermann Fichte, die damals hochgeschätzten Denker jüngerer Generation. Viel stärker als die direkte war wahrscheinlich die indirekte Wirkung der Hegel’schen Geistphilosophie; zum Beispiel die, die in der gegenüber Hegel kritischen Historischen Schule, derer Hauptfigur der Historiker Leopold Ranke war, manifest wurde. Dieser Einfluss erreichte – unter anderem durch die Vermittlung Johann Gustav Droysens, eines anderen Vertreters dieser Schule – Wilhelm Dilthey, einen der wichtigsten geisteswissenschaftlichen Denker und Forscher an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. In seinen Arbeiten wird vor allem der Begriff des objektiven Geistes, der um 1900 auch bei Georg Simmel, aber ebenso in der Völkerpsychologie von Moritz Lazarus und Heymann Steintahl begegnet,44 rehabilitiert. Dabei war sich Dilthey völlig dessen bewusst, dass der Begriff des objektiven Geistes, den er in seiner Theorie der Geisteswissenschaften verwendet, sich von dem Hegel’schen ein wenig unterscheidet, denn er verbindet zwei Elemente, die Hegel sorgfältig trennte. Der objektive Geist fasst bei Dilthey alle Objektivationen des menschlichen Lebens, sowohl des indivi44 Vgl. Helmut Johach: Dilthey, Simmel und die Probleme der Geschichtsphilosophie. In: Anthropologie und Geschichte. Studien zu Wilhelm Dilthey aus Anlass seines 100. Todestages, hg. von Giuseppe D’Anna, Helmut Johach und Eric S. Nelson (Würzburg 2013) 225–242, bes. 231 f.

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duellen als auch des gemeinschaftlichen, also sowohl rechtliche Institutionen wie die Staatsformen, als auch Religionen, philosophische Systeme, Kunstwerke, usw. Die Aneignung dieser Erzeugnisse durch ein menschliches Individuum, die Dilthey als ›Verstehen‹ auffasst, wird von ihm im Rahmen einer »zergliederndbeschreibenden Psychologie« betrieben, die bei der Hegel’schen Psychologie oder Phänomenologie keine Anleihen macht. Zu den Aufgaben der Geisteswissenschaften gehört für Dilthey die Analyse der beiden Erscheinungsformen des Geistes: der subjektiven, d. h. individuellen, und der objektiven, d. h. der sozialen bzw. gemeinschaftlichen Form.45 Im objektiven Geist »ist die Vergangenheit dauernde beständige Gegenwart für uns. Sein Gebiet reicht von dem Stil des Lebens, den Formen des Verkehrs zum Zusammenhang der Zwecke, den die Gesellschaft sich gebildet hat, zu Sitte, Recht, Staat, Religion, Kunst, Wissenschaften und Philosophie.« Auch das »Verstehen anderer Personen« hat diesen objektiven Geist zur Voraussetzung. »Denn alles, worin sich der Geist objektiviert hat, enthält ein dem ich und dem Du Gemeinsames in sich.«46 Dilthey entwickelt seine Theorie der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis zur Gestalt einer Hermeneutik, auf die viele Philosophen seiner Zeit – zu nennen wären hier Richard Kroner, Heinrich Rickert, Jonas Cohn, Martin Heidegger – Bezug nahmen, zuweilen auch kritisch. Fast alle diese Autoren wurden ursprünglich mit der Erneuerung des Kantianismus im Neukantianismus in Verbindung gebracht. Zu dieser Gruppe zählte anfänglich auch Nicolai Hartmann, der später, an Aristoteles anknüpfend, eine ontologische, auf der Kategorie der Seinsschicht aufgebaute Theorie entwickelte. Der Begriff des Geistes spielt in dieser Theorie erneut eine zentrale Rolle. Hartmanns Werk gehört dennoch, ähnlich wie die späteren Abhandlungen Diltheys, dem 20. Jahrhundert.

IV.  Der Begriff des Geistes an der Schwelle zum 20. Jahrhundert Die von Hartmann vollzogene ontologische Wende der Philosophie brachte einen Bruch mit der im Neukantianismus vorherrschenden Erkenntnistheorie mit sich. Sie gab das Signal, auf das viele gewartet hatten. Hartmanns Ontologie ist eigentlich eine Art Lebensphilosophie, die die unbelebte Materie zu integrieren versucht. Diese bildet die Grundschicht der Wirklichkeit, auf der andere Lebensformen aufgebaut sind: Pflanzen, Tiere und Menschen. Mit dem Niveau des Geistes haben wir laut Hartmann erst beim Menschen zu tun. Seine Geistigkeit nimmt dabei verschiedene Gestaltungen an: die des persönlichen Geistes eines menschlichen Individuums (mit seiner Welt der Normen, Ideale, Werte), die des objektivierten Geist (mit den von Menschen erzeugten Objekten) und die des 45 W.

Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. 7: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (Stuttgart, Göttingen 7 1979) 150 f. 46  Ebd. 208.

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dazwischen liegenden, objektiven Geistes, der, obwohl er unbewussten und überindividuellen Charakter hat, die Realität und Macht besitzt, die eine gegebene Kultur in ihrem geschichtlichen Raum wie eine verdeckte Substanz trägt.47 Eine andere Anwendung des Begriffs des Geistes finden wir, wie schon angedeutet, bei Dilthey. Er bemüht sich, einer hegelianisch-idealistischen Interpretation dieser Kategorie entgegenzuwirken. Den objektiven Geist sollten wir, so Dilthey, nicht in ideellen Konstruktionen suchen, sondern in der Geschichte der Menschheit. Deshalb ist es auch berechtigt (und Diltheys Einfluss zu verdanken), dass die Wissenschaften vom Menschen, von der Gesellschaft und der Geschichte nach wie vor Geisteswissenschaften genannt werden, und nicht ›Kulturwissenschaften‹, wie Heinrich Rickert, Ernst Cassirer u. a. meinten. Denn nach Dilthey ist der Geist der Schöpfer der Kultur und nicht umgekehrt die Kultur der Schöpfer des Geistes. Auch der Philosoph, der die Anthropologie zur Schlüsseldisziplin der Philosophie erklärte, nämlich Max Scheler, nutzte den Begriff ›Geist‹ in seiner Theorie, die eben auf dem Hauptgegensatz (bzw. der Urspannung) zwischen dem Lebensdrang und dem Geist basiert. Das geistige Moment scheint bei ihm den Bereich der Natur zu verlassen und weist auf eine die Natur transzendierende, metaphysische Dimension des Lebens, die mit dem Erscheinen des menschlichen Geschlechts entstanden ist.48 Für beide, Hartmann und Scheler, ist der Geist etwas ontisch Sekundäres, obwohl er das biologische Leben in völlig unerkannte Bereiche erhebt. Dass der Begriff des Geistes, trotz der starken Assoziationen mit der spekulativen Logik Hegels, weiterhin in der Philosophie präsent ist, zeigt sich auch noch in der Gegenwart: »Was uns – a priori – verbindet, ist nicht eine wie auch immer natürlich bestimmbare, vielleicht als Tiefenstruktur aufzudeckende Übereinstimmung in Meinungen, Ansichten und Urteilen, in Erwartungen, Wünschen und Zielen, sondern die Fähigkeit, solche zu formulieren, zu reflektieren, zu modifizieren; […].« Darin kann man »das allgemeine Merkmal des Geistigen […] sehen, eben das, was alle Menschen als Menschen auszeichnet und verbindet. […] Nur noch Eine gemeinsame Welt wäre keine Welt mehr. Sie wäre der Tod des Geistes als alle Differenzen resorbierende und in diesem Sinne totalisierende Umwelt einer sich renaturalisierenden Tierart Mensch.«49 So zeigt sich, dass der Begriff des Geistes heute keineswegs obsolet ist und dass seine Bedeutung nur teilweise mit dem englischen ›mind‹ in Einklang zu bringen ist.

47 

Nicolai Hartmann: Das Problem des geistigen Seins (Berlin 1933, 31962). Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928). Gesammelte Werke Bd. 9: Späte Schriften (Bern 1976) 31 ff. 49  Tilman Borsche: Wie und wozu erfinden wir unserer Welt? In: Kreativität. XX. Jahrhundert. Deutscher Kongreß für Philosophie, hg. von Günter Abel (Hamburg 2006) 234–252, 241 f. 48  Max

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I.  Einleitung Schon früh wurde vermerkt, dass das 19. Jahrhundert vor allem ein Jahrhundert der Geschichte genannt werden könnte. Jacob Burckhardt meinte, es sei für die geschichtliche Forschung schon deshalb geeignet, weil der Zugang zu historischen Quellen jetzt viel leichter sei als früher.1 Friedrich Nietzsche bemerkte dazu, dass ein spezifisches historisches Bewusstsein hinzukommen müsse, um das Interesse an der Vergangenheit zu wecken. Die Entstehung dieses »historischen Sinns« verlagerte Nietzsche zu Recht ins 19. Jahrhundert, und er kritisierte zugleich, dass dieser Sinn keinen »Enthusiasmus« mehr kenne: Er hat für alles Verständnis, bringt aber keine Bewunderung historischer Größe mehr auf.2 Das Aufkommen des Sinns für die Geschichte hat einen einschneidenden Bedeutungswandel des Begriffs Geschichte zur Voraussetzung, der im späten 18. Jahrhundert beginnt und sich im 19. Jahrhundert entfaltet. Es lassen sich folgende Aspekte unterscheiden: 1. Zunächst erhält der Terminus ›Geschichte‹ selbst eine neue Bedeutung. Seit der Antike bedeutet griech. ἱστοορία und lat. ›historia‹ die Kenntnis und die Erzählung des Einzelnen und Besonderen, das, weil es nur als Einzelnes bekannt ist, keinen Anspruch auf wissenschaftliche Darstellung erheben kann. Dabei kann es sich um vergangene oder gegenwärtige Fakten handeln. Seit dem späten 18. Jahrhundert aber bezeichnet ›historia‹ mehr und mehr die Schilderung nur des Vergangenen, eines Vergangenen, das jetzt nicht mehr als eine Anhäufung von Einzelheiten, sondern als irgendwie gearteter Zusammenhang begriffen wird. Vereinzelt versteht man noch bis ins 19. Jahrhundert unter ›Geschichte‹ den Bericht von empirisch feststellbaren Einzeldaten, seien sie nun vergangen oder gegenwärtig. Danach aber meinte ›Geschichte‹ die Erforschung bedeutungsvoller Geschehnisse aus der Vergangenheit, und zwar in der Regel nicht solcher der Natur, sondern der Menschheit.�3 Wenn schon in der zweiten 1  Jacob

Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Gesammelte Werke Bd. 4 (Darmstadt 1955) 10 f. 2  Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Nr. 224. Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari Bd. VI/2 (Berlin/New York 1967–2011) 163 f. Ders.: Unzeitgemäße Betrachtungen I: David Strauß der Bekenner und der Schriftsteller. Gesamtausgabe, ebd. Bd. III/1, 165. 3  Vgl. Friedrich Kambartel: Erfahrung und Struktur (Frankfurt a. M. 1968) 63–75; Joachim Knape: ›Historie‹ in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext (Baden-Baden 1984); Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung (München 1991) 68 ff. Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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Hälfte des 18. Jahrhunderts ein verstärktes Interesse an der Geschichtsschreibung zu beobachten ist,4 so hat dies noch nicht immer den Bedeutungswandel des Wortes ›Geschichte‹ zur Folge. Aufschlussreich dafür ist der Terminus ›Naturgeschichte‹: So wie er z. B. bei Plinius d. Ä. (Historia Naturalis), Buffon (Histoire naturelle, générale et particulière)5 oder J. G. Büsch,6 tradiert er die ursprüngliche Bedeutung von ›Geschichte‹ als bloßer Bericht von empirisch vorliegenden Sachverhalten ohne Erforschung ihrer Gründe und Ursachen. Eine Philosophie qua Wissenschaft hingegen, wie sie z. B. Carl von Linné verfasst (Philosophia botanica), entwickelt die Prinzipien und »fundamenta« der Botanik.7 Der junge Schelling jedoch will der Naturgeschichte den Namen Geschichte nur noch im uneigentlichen Sinn zugestehen und zwar deshalb, weil in der Natur eine strenge Notwendigkeit herrsche, während die Handelnden der menschlichen Geschichte, der einzigen, die diesen Namen verdiene, freie Wesen seien.8 Und A. W. Schlegel fügt hinzu: Das Wort ›Geschichte‹ ist bei Phänomenen der Natur nicht geeignet; diese sollten besser »Thatsachen« genannt werden.9 Die Naturgeschichte ist keine Geschichte mehr; im neueren Sinn schließt ›Geschichte‹ alle natürlichen Phänomene aus und umfasst nur die (im heutigen Sinn) ›historischen‹ Prozesse.10 2. Diese Verzeitlichung betrifft nicht nur die politische Geschichte, sondern auch die der Philosophie, Religion, Kunst und aller Wissenschaften, die es mit von Menschen gestalteten Verläufen zu tun haben. So entstehen im 19. Jahrhundert eine Religions-, Philosophie-, Sprach- und Kunstgeschichte, deren Grundlage die ›Geschichtlichkeit‹ ihrer Gegenstände ist. Die schon im späten 18. Jahrhundert entstandene ›Geschichtsphilosophie‹ will den historischen Verlauf unter Gesichtspunkten der Vernunft begreifen. (Neben ›Geschichtsphilosophie‹  4 Vgl.

Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, hg. von Hans Erich Bödeker, Georg G. Iggers und Peter H. Reill (Göttingen 1986); Hans-Walter Blanke: Historiographiegeschichte als Historik (Stuttgart-Bad Cannstatt 1991); U. Muhlack, ebd.  5  (Paris 1749–1804); deutsch: Allgemeine und besondere Naturgeschichte (Hamburg, Leipzig 1750–1782).  6  Johann Georg Büsch: Encyclopädie der historischen, philosophischen und mathematischen Wissenschaften (Hamburg 1775) 12: Von der Historie überhaupt und besonders von der Naturgeschichte.  7  Carl von Linné: Philosophia botanica in qua explicantur fundamenta botanica (Stockholm 1751).  8  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus (1800). Historisch-kritische Ausgabe, hg. von der Bayer. Akademie der Wissenschaften Bd. 9/1 (Stuttgart 2005) 286 f.; vgl. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte (München, Wien 1976) 38 f.  9 August Wilhelm Schlegel: Kritische Ausgabe der Vorlesungen, Bd. 3: Vorlesungen über Encyklopädie, hg. von Frank Jolles und Edith Höltenschmidt (1803) (Paderborn etc. 2006) 12. 10 Vgl. Reinhard Koselleck: Einleitung in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhard Koselleck Bd. 1 (Stuttgart 1979) XVI–XVIII; ders.: Art. ›Geschichte‹. In: ebd. Bd. 2, 593–595, 647–691; ders.: Vergangene Zukunft (Frankfurt a. M. 1979) 122, 188, 321, 336, 339; ders.: Begriffsgeschichten (Frankfurt a. M. 2006) 77–85.

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entstehen die Neubildungen ›Welt-‹ bzw. ›Universalgeschichte‹, ›Geschichtlichkeit‹, ›Geschichtslosigkeit‹, ›Vergeschichtlichung‹, ›Historismus‹ u. a.)11 3. Mit dem Begriff ›Geschichte‹ ist jetzt vor allem die Gesamtheit der Geschichte gemeint, in die die Vielzahl der einzelnen Geschichten (der Völker, Kulturen, Staaten) integriert sind. ›Geschichte‹ ist, in den Worten Reinhard Kosellecks, ein Kollektivsingular geworden.12 Von der einen Geschichte wurde früher nur in theologisch bestimmten Universalgeschichten gehandelt; diese reichten von der Erschaffung der Welt bis zum endzeitlichen Weltgericht. In der Neuzeit schilderte so Jacques-Bénigne Bossuet in Anlehnung an Augustins De civitate Dei die Geschichte als ausgeführten Plan der göttlichen Vorsehung.13 Jetzt aber entwirft man innerweltliche Universalgeschichten, die nicht mehr durch ein Gericht am Ende der Zeiten abgeschlossen werden. Bezeichnenderweise wird das Weltgericht jetzt nicht mehr unbedingt am Ende aller Geschichte erwartet, sondern, nach dem bekannten Ausspruch von Schiller und Hegel, als Geschehen in der Welt: Die Weltgeschichte selbst ist das Weltgericht.14 4. Es wird aber nicht unterschiedslos jede historische Erzählung als Geschichte anerkannt. Oft lehnt man die reine Ansammlung von Fakten und Daten, »das blosse Auffassen des Mannigfaltigen«, als ungeschichtlich ab. In der Geschichte müsse, so meint Fichte, dies auf eine Einheit zurückgeführt werden.15 Auch wenn man, so ergänzt ein namhaftes Lexikon, in der Geschichtsschreibung nicht spekulativ-philosophisch verfahre, müsse der Forscher doch einen »Zusammenhang« »in das scheinbar oft verworrene Durcheinander der Thatsachen« bringen, um in ihnen einen »gewissen Culturprocess« zu erkennen.16 (Die damit zusammenhängenden methodischen Probleme werden eigens in einer Disziplin, die man ›Historik‹ nennt, behandelt.) Dabei wird Geschichte als Geschehen (›res gestae‹) von Historie (Bericht über das Geschehen, ›historia rerum gestarum‹) oft noch unterschieden, aber ebenso oft werden sie als zusammengehörige Teile der einen Geschichte erkannt.

11 

Sie werden hier an der jeweils entsprechenden Stelle mitbehandelt. R. Koselleck, Einleitung, a. a.O. [Anm. 10]. 13  Jacques-Bénigne Bossuet: Discours sur l’histoire universelle (Paris 1681). 14  Friedrich Schiller: Resignation.Werke und Briefe. Frankfurter Ausgabe Bd. 1 (Frankfurt/ M. 1988–2004) 420; Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 340. Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, hg. von Hermann Glockner Bd. 7 (Stuttgart-Bad Cannstatt 1957–64) 446. 15  Johann Gottlieb Fichte: Die Wissenschaftslehre. Gesamtausgabe, hg. von der Bayer. Akademie der Wissenschaften Bd. II/7 (Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012) 303 f. 16  Karl von Rotteck, Karl Welcker: Das Staats-Lexikon Bd. 6 (Leipzig 31862) 428–434: Karl Biedermann: Geschichte, hier 430 f. 12 

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II.  Revolution und Restauration Das späte 18. und das frühe 19. Jahrhundert sind grundlegend von der Erfahrung der Französischen Revolution und dem mit ihr vollzogenen Epochenumbruch bestimmt. Zwar ist das neue Verständnis der Geschichte davon allein nicht geprägt, die Revolution hat es aber wesentlich mitbestimmt. Philosophen, Historiker und Publizisten mit unterschiedlichem Geschichtsverständnis haben auf die Revolution reagiert. Die Revolution selbst bricht mit den geschichtlich gewordenen und tradierten Gesellschaftsformen, die als das vergangene Unvernünftige disqualifiziert werden und dem geschichtlichen Fortschritt in rationaler Herrschaft, wissenschaftlich-technischen Errungenschaften geopfert werden müssen. Die vergangene Geschichte wird von der besseren zukünftigen radikal überholt. »Die Betrachtung dessen, was der Mensch war, und dessen, was er heute ist, wird uns dann zu den Mitteln führen, die weiteren Fortschritte, die seine Natur ihn noch erhoffen läßt, zu sichern und zu beschleunigen.«17 Frühe Kritiker der Revolution wie Edmund Burke verweisen hingegen darauf, dass nicht das Neue, sondern der gleichförmige Gang des überlieferten Alten der beste Garant von Rechten und Freiheiten sei.18 Wenn die französische Geschichte bezeugt, so Burke, dass sich Gräueltaten von den Religionskriegen des 16. Jahrhunderts bis in die Französische Revolution fortsetzen, so ist nur zu hoffen, dass »die besser verstandene und besser benutzte Geschichte im neunzehnten Jahrhundert einer besseren Nachkommenschaft gerechten Abscheu gegen beide barbarische Zeitalter einflößen.«19 Französische Konservative wie Joseph de Maistre argumentieren ähnlich; auch für sie ist die Geschichte, d. h. die »politische Erfahrung« die Lehrmeisterin der Politik, etwa für die Frage nach der besten Regierungsform.20 Die Erfahrung des revolutionären Umbruchs und des geschichtlichen Einschnitts hat weit reichende Folgen für das allgemeine Bewusstsein im 19. Jahrhundert. Dabei lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Haltungen zur Geschichte beobachten. Entweder man ist durch die erste Revolution davon überzeugt, dass sich die Geschichte der Menschheit in Revolutionen vollzieht, und schließt daraus, dass auch künftig eine Revolution Staat und Gesellschaft umgestalten und Fortschritt und Perfektionierung bringen werde. Diese Haltung nehmen nicht wenige Philosophen und Publizisten des 19. Jahrhunderts ein. 17 Marie

Jean Antoine-Nicolas Caritat de Condorcet: Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain / Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes (1795), frz.-dt. hg. von Wilhelm Alff (Frankfurt a. M. 1963) 29. 18  Edmund Burke: Betrachtungen über die Französische Revolution (1790), hg. von Ulrich Frank-Planitz (Zürich 1987) 82, 86. 19  Ebd. 273. 20  Joseph de Maistre: Betrachtungen über Frankreich, hg. von Peter Richard Rhoden (Berlin 1924) 125 (Vorwort zu: Über den schöpferischen Urgrund der Staatsverfassungen).

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Oder man sieht in der Geschichte die heile Vergangenheit und sucht in ihr das Leitbild für die Gegenwart. Die Restaurierung historischer Denkmäler etwa kann die Wunden, die Revolutionen und Kriege geschlagen haben, wenigstens lindern. Burgen und Kirchen (in Frankreich prominent durch Viollet le Duc) werden wiederhergestellt, Kunstschätze, Urkunden, Codices u. v. a. in Museen und Archiven gesammelt und bewahrt. Bald werden Kathedralen wie der Kölner Dom, die über Jahrhunderte unvollendet waren, im alten Stil zu Ende gebaut, andere nach früherem Muster neu errichtet. Dazu orientiert man sich nicht mehr wie früher an den klassischen Vorbildern aus der Antike, sondern an denen des Mittelalters oder der frühen Neuzeit.21 Schon im späten 18. Jahrhundert werden die ersten neugotischen Gebäude in England errichtet und von da aus gelangen sie auf den Kontinent. Im 19. Jahrhundert verbreiten sich die historistischen Baustile der Neuromanik, Neugotik und Neurenaissance rasch über Europa. Mit Umzügen und Spielen in historischen Kostümen feiert man die alten Zeiten der Ritter und Minnesänger.22 Vermehrt behandeln Romane und Erzählungen – in Fortsetzung der romantischen, in Dichtung und bildender Kunst sich äußernden Sehnsucht nach einer unversehrten Vergangenheit – historische Sujets: in England z. B. die Werke von Walter Scott und Edward Bulwer-Lytton, in Frankreich die von Alfred de Vigny23 und Victor Hugo, in Deutschland die Gustav Freytags, Felix Dahns, Viktor von Scheffels u. a.24 Vereine und Gesellschaften widmen sich der Erforschung besonders der lokalen Geschichte(n).25 1850 gründet Heinrich von Sybel die Historische Zeitschrift. Diese weit verbreitete »Geschichtskultur«26 setzt aber voraus, so bemerken einige Beobachter, dass die Geschichte nicht mehr unmittelbar gelebt wird; man steht nicht unreflektiert in ihr wie in der Tradition, sondern muss die Vergangenheit eigens vor dem Vergessen bewahren: Der Bauer »ist kein Geschichts- und

21  Vgl. Rezeptionskulturen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur, hg. von Mathias Herweg und Stefan Keppler-Tasaki (Berlin/Boston 2012). 22  Vgl. z. B. die Ritterspiele anlässlich der Hundertjahrfeier der Firma Fried. Krupp (1912), bei der auch Angehörige der Familie Krupp in mittelalterlichen Kostümen auftraten; vgl. Vergessene Zeiten. Mittelalter im Ruhrgebiet, hg. von Ferdinand Seibt [u. a.] (Ausstellung Essen 1990/91) Bd. 1 (Essen 1990) 250–256. 23  Alfred de Vigny: Cinq-Mars ou Une conjuration sous Louis XIII, préface (1826). Œuvres complètes, éd. par Alphonse Bouvet [u. a.] Bd. 2 (Paris 1986–1993) 5: »L’art s’est empreint d’histoire plus fortement que jamais.« Vgl. 1076: Der aus historischen Materialien konstruierte Roman wird zur »Geschichte selbst (l’histoire même).« 24  Vgl. z. B. Jan-Arne Sohns: An der Kette der Ahnen. Geschichtsreflexion im deutschsprachigen historischen Roman 1870–1880 (Berlin/New York 2004). 25  Vgl. Gabriele B. Clemens: Sanctus amor patriae. Eine vergleichende Studie zu deutschen und italienischen Geschichtsvereinen im 19. Jahrhundert (Tübingen 2004). 26  Vgl. Wolfgang Hardtwig: Deutsche Geschichtskultur im 19. und 20. Jahrhundert (München 2013) 239–287.

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Alterthumsfreund, seine Sitte nur ist seine Geschichte, und er selber und was an ihm hängt, das einzige Alterthum, welches er achtet.«27 Auffällig an diesen Befunden ist, welcher geschichtlichen Epoche man sich verstärkt zuwendet: nicht der jüngsten, kaum vergangenen (etwa dem 18. Jahrhundert als der Epoche der absoluten Fürstenherrschaft), sondern der länger oder sehr lange zurückliegenden, von der man durch verschiedene Epochenbrüche getrennt ist und die u. U. schon im mythischen Dunkel versinkt und so zur verklärenden Legitimation der Gegenwart geeignet erscheint. So beruft man sich z. B. auf die Zeit der alten germanischen Freiheiten als Abgrenzung zu negativen Entwicklungen der neueren Zivilisation.28 Ausmalungen von repräsentativen Gebäuden wie des Aachener Rathauses (Alfred Rethel) oder des Schlosses Hohenschwangau (Moritz von Schwind) vermitteln die frühen Geschichten und Mythen. Geschichtliches Erinnern und Beschwörung der Ursprünge präsentieren eine Kontinuität und verhüllen so die enormen Traditionsverluste der jüngsten Vergangenheit. François-René de Chateaubriand rühmt sich, mit seinem Génie du Christianisme den Geschmack für die Bauwerke des Mittelalters geweckt und so das »neue Jahrhundert zur Bewunderung der alten Kirchen« geführt zu haben.29 So ruft gerade der Blick in die Zukunft nicht selten die Rückschau auf die Vergangenheit hervor. Wenn auch die populäre Pflege der Geschichte nicht unbedingt wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, so ist sie doch ein Indiz für die weite Verbreitung des historischen Bewusstseins. Es ist die Antwort des 19. Jahrhunderts auf die Veränderungen der revolutionären Umbrüche in Politik, Wissenschaft und Technik. Dazu gehört das im geschichtlichen Erinnern und Wiederbeleben bewahrende, nicht selten auch feiernde Verhalten gegenüber den Zerstörungen, die dieselbe Geschichte und hierin besonders die Französische Revolution und die nachfolgenden Kriege angerichtet hatten. Die Ruinen der gerade abgerissenen Klöster etwa werden bewahrt und ihre Altäre, dem sakralen Raum entrissen, als kunstgeschichtliche Objekte in Museen gesammelt. Stadtmauern, im Zeitalter effektiverer Waffen funktionslos geworden, werden zuerst beseitigt, ihre Reste aber für die historische Anschauung erhalten.

27  Wilhelm Heinrich Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft (Stuttgart 1861) 64. Als dezidiert Konservativer sieht Riehl die Alternative »Entweder der Socialismus oder die historische Gesellschaft«. Er erhofft von der Aristokratie die Bewahrung der »Errungenschaften der historischen Civilisation […] gegen die Barbarei der Zerstörung alles Individuellen, alles Geschicht­ lichen in der Gesellschaft.« Ebd. 227. 28  Vgl. Heinz Gollwitzer: Zum politischen Germanismus des 19. Jahrhunderts. In: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19. September 1971, Bd. 1 (Göttingen 1971) 282– 356; bes. 355: Germanismus erweist sich als »elastische Rahmenideologie […], die Platz für die verschiedensten, oft konträren politischen Haltungen und Überzeugungen gewährte«. 29  François-René de Chateaubriand: Mémoires d’outre-tombe (1849/50). Œuvres complètes Bd. 14 (Paris 1859–1904, Neudr. Nendeln 1975) 286; dt. Erinnerungen (München 1968) 257.

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III.  Geschichtsphilosophie und Theologie Für viele Philosophen der Zeit um 1800 ist die Französische Revolution der Dreh- und Angelpunkt der jüngsten Geschichte. Schon Kant sieht in der »Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen«, ein »Geschichtszeichen«, das hoffen lasse, dass man sich auf dem Weg zu einer universalen Rechtsgemeinschaft befinde.30 Johann Gottlieb Fichte setzt sich schon früh für ein angemessenes Verständnis der Französischen Revolution ein. Dabei gehört die Frage ihrer Rechtmäßigkeit gar nicht »vor den Richterstuhl der Geschichte«, sondern vor den der Philosophie und des Sittengesetzes.31 Entsprechend trennt Fichte die Geschichtsphilosophie von der empirischen Geschichte. Wenn, wie er konstatiert, seine Zeit noch keine gut begründete Auffassung von Geschichte hat,32 so liegt dies an einer unzulässigen Vermischung der beiden Sphären. Alle Geschichtsschreibung soll sich hüten, in nicht zu beweisende Mythen vom Ursprung der Welt oder des Menschengeschlechts oder in Hypothesen von der sukzessiven Ausbildung der menschlichen Vernunft auszuschweifen, »wo von einem Orang-Outan zuletzt ein Leibnitz oder Kant abstammen« könne. Alles Nicht-Empirische liegt außerhalb der »Grenzen der Historie«, es sind »Muthmaassungen« und »Erdichtungen«. Wohl aber gehört zur Erfahrung und also zur Geschichte »die allmähliche Kultivierung des Menschengeschlechts«, die nach einem »Welt-Plan« von fünf Epochen verläuft; und diesen kann die Philosophie a priori und »ohne alle historische Belehrung« bestimmen.33 Demnach herrscht in der ersten Epoche die Vernunft bloß durch den Instinkt (»Stand der Unschuld des Menschengeschlechts«); in der zweiten Epoche nur aufgrund von Autorität (»Stand der anhebenden Sünde«). Die dritte Epoche ist die der Befreiung vom Vernunftinstinkt und von der Vernunft (»Stand der vollendeten Sündhaftigkeit«); die vierte die der Vernunft in Form der Wissenschaft (»Stand der anhebenden Rechtfertigung«); die fünfte die der vollendeten Vernunft (»Stand der anhebenden Rechtfertigung und Heiligung«).34 In dieses Schema fügen sich die empirischen Fakten, soweit sie dem Endzweck der Geschichte dienen, der Überwindung der Wildheit durch die Kultur bis zur Einführung des Christentums als des »schöpferischen Princips eines neuen Staates«.35

30  Immanuel

Kant: Der Streit der Facultäten (1798). Gesammelte Werke. Akademie-Ausgabe Bd. 7, 84 f. 31  Johann Gottlieb Fichte: Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution (1793/94). Gesamtausgabe Bd. I/1, a. a.O. [Anm. 15] 203, 218 f. 32 Ders.: Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806). Gesamtausgabe Bd. I/8, a. a.O. [Anm. 15] 295. 33  Ebd. 299, 302, 304. 34  Ebd. 199. 35  Ebd. 322 f., 340.

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Friedrich Schiller nimmt an der Französischen Revolution von Beginn an starken Anteil, kritisiert aber vehement die Schreckensherrschaft, in der er einen Rückfall in die Barbarei, das Ausbrechen roher Triebe erkennt.36 Für Schillers Geschichtsverständnis ist die Frage maßgeblich, wie ihr Weg als Weg von gesetzloser Freiheit zu Kultur und Sittlichkeit so beschrieben werden kann, dass er den Fakten nicht widerspricht. Dazu ist es notwendig, die welthistorischen Ereignisse mit »philosophischem Geist« zu durchdringen, damit der »Fortschritt der [Menschen]Gattung« erkennbar wird.37 Von einer bloß historischen Wahrheit unterscheidet Schiller die »philosophische« oder »Kunstwahrheit«, in der der Historiker mehr Freiheit hat, in der er wie der Dichter ein »Herr und Meister« der Darstellung sein darf, weil er die »innre Wahrheit« der Geschichte aufzuspüren vermag. Auf diese Weise lernt man nicht einen einzelnen Menschen, sondern »den Menschen«, also die Entwicklung der Menschheit kennen.38 In einer solchen Geschichte verknüpft der »philosophische Verstand« die einzelnen Elemente nach Ursache und Wirkung, fügt – hier übernimmt Schiller Begriffe aus Kants Geschichtsphilosophie – aus dem »Aggregat« ein »System« und bringt so »einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt, und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte«. So bildet sich aus den Bruchstücken der Geschichte ein regelhaftes und »zusammenhängendes Ganzes«,39 von dem schon jetzt die Umrisslinien angegeben werden können: »vom ungeselligen Höhlenbewohner zum geistreichen Denker, zum gebildeten Weltmann«.40 Es bleibt eine Aufgabe für Gegenwart und Zukunft, »Freiheit und Kultur« miteinander zu verbinden; denn sie bedingen sich zwar gegenseitig, lagen in der Geschichte aber oft im Konflikt. In Zukunft können sie nur dadurch miteinander verbunden werden, dass die Vernunft die Einsicht in den Nutzen eines gesetzmäßigen Zustands gewinnt, den der »freie Mensch nur sich selber gegeben« hat. 41 »Politische und bürgerliche Freiheit bleibt immer und ewig das Heiligste aller Güter […] und das große Zentrum aller Kultur – aber man wird diesen herrlichen Bau nur auf dem festen Grund eines veredelten Charakters aufführen.«42 Dazu bietet sich

36  Friedrich

Schiller: Brief an den Herzog von Augustenburg vom 13. 7. 1793. Frankfurter Ausg. Bd. 8, a. a.O. [Anm. 14] 501 f.; Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 5. Brief (1795). Frankfurter Ausg. Bd. 8, 567–569. 37  Ders.: Brief an Christian Gottfried Körner vom 13. 10. 1789. Nationalausgabe Bd. 25, 304; vgl. Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon (1790). Frankfurter Ausg. Bd. 6 (Frankfurt a. M. 2000) 489: »[…] muss einem Philosophischen Forscher der Menschengeschichte immer sehr merkwürdig bleiben.« 38 Ders.: Brief an Caroline von Beulwitz vom 10./11. 12. 1788. Frankfurter Ausg. Bd. 11 (2002) 349 f. 39  Ders.: Was ist und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789). Frankfurter Ausg. Bd. 6, a. a.O. [Anm. 36] 427 f. 40  Ebd. 421. 41  Ders.: Universalhistorische Übersicht […] (1790). Frankfurter Ausg. Bd. 6, 526. 42  Brief an den Herzog von Augustenburg, a. a.O. [Anm. 36] 504.

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die schöne Kunst an, die Auflösung der »wissenschaftlichen und sittlichen Kultur […] in die Schönheit«.43 Auffällig ist das Fehlen detaillierter Äußerungen zum Begriff Geschichte bei Goethe. Bekannt ist, dass er jede teleologische Geschichtsphilosophie ablehnte, da er in den Ereignissen der Weltgeschichte und -politik nur ein planloses Chaos sah, aus dem man nichts lernen könne.44 So stehen divergente Aussagen Goethes nebeneinander: »Das Beste was wir von der Geschichte haben ist der Enthusiasmus den sie erregt.«45 »Geschichte schreiben ist eine Art sich das Vergangene vom Halse zu schaffen.«46 »Mir […] ist abermals aufgefallen, daß man aus dem moralischen Standpunkt keine Weltgeschichte schreiben kann.«47 Schelling will, in Fortführung von Fichtes Transzendentalphilosophie, die an sich unbeschränkte Tätigkeit des Geistes im Endlichen darstellen und beide so miteinander vermitteln, dass die Geschichte nichts anderes ist »als die Geschichte der verschiedenen Zustände, durch welche hindurch er [der Geist] allmählich zur Anschauung seiner selbst, zum reinen Selbstbewußtseyn, gelangt«. Die äußere Welt wird somit die »Geschichte unseres Geistes«.48 Das Ziel des Geschichtsprozesses ist die Realisierung eines Ideals, das nie vom Einzelnen, wohl aber in der Geschichte als ganzer erreicht werden kann.49 Und dieses Ideal ist die Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit, Subjektivem und Objek43 

Brief an Christian Gottfried Körner vom 9. 2. 1789. Frankfurter Ausg. Bd. 11, 388. Friedrich von Müller: Tagebuch (11. 10. 1824). In: Goethe: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausg. Bd. II/10 (Frankfurt a. M. 1993) 207: »[…] Raumers Geschichte der Hohenstaufen, an welcher er gerade das Nüchterne, das Freihalten von allen philosophischen Ansichten lobte. […] Die Weltgeschichte sei eigentlich nur ein Gewebe von Unsinn für den höhern Denker, wenig aus ihr zu lernen.« Ders. ebd. 229 (17. 12. 1824): »Und doch kann eigentlich niemand aus der Geschichte etwas lernen, denn sie enthält ja nur eine Masse von Torheiten und Schlechtigkeiten.« Ders. ebd. 596 (6. 3. 1828): »Ich bin nicht so alt geworden um mich um die Weltgeschichte zu kümmern, die das Absurdeste ist, was es gibt«. Vgl. Hans-Dietrich Dahnke: ›Geschichte‹. In: Goethe-Handbuch Bd. 4/1 (Stuttgart, Weimar 1998) 354–365. 45  Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre II. Betrachtungen im Sinne der Wanderer. Sämtliche Werke, a. a.O. [Anm. 44] Bd. I/10 (Frankfurt a. M. 1989) 566; vgl. ebd. 571: »Die Abwesenheit wirkt auf uns durch Überlieferung. Die gewöhnliche ist historisch zu nennen; eine höhere, der Einbildungskraft verwandte, ist mythisch.« 46  Ders.: Über Kunst und Altertum. Sämtliche Werke, ebd. Bd. I/21 (Frankfurt a. M. 1998) 32. Vgl. Hugh Barr Nisbet: Goethes und Herders Geschichtsdenken. In: Goethe-Jahrbuch Bd. 115 (1993) 115–133. 47  Johann Wolfgang Goethe: Brief an Carl Friedrich Reinhard vom 22. 7. 1810. Sämtliche Werke, ebd. Bd. II/6 (Frankfurt a. M. 1993) 582. Vgl. Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus (München 1959) 518: »In Summa: Nicht ein Unvermögen seiner Urteilskraft, sondern ein Unvermögen seines innersten Wesens hat ihn letzten Endes außer Stand gesetzt, den Teil der Weltgeschichte, der von Kriegsgeschrei, Völkerdrängen und Thronensturz widerhallt, ebenso morphologisch zu begreifen […] wie die Natur und alles übrige Menschenleben.« 48  F. W. J. Schelling: Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre (1796/97). Sämmtliche Werke, hg. von Karl Friedrich August Schelling (Stuttgart, Augsburg 1856–61) Abt. 1, Bd. 1, 382 f. 49  Ders.: System des transzendentalen Idealismus (1800). Sämmtliche Werke Bd. 3, a. a.O. [Anm. 48] 588. 44  Vgl.

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tivem im Recht und dessen Realität in der bürgerlichen Gesellschaft. Diese soll darüber hinaus »das allmähliche Entstehen der weltbürgerlichen Verfassung«, das »wahre Objekt der Historie«, garantieren.50 Damit wird für Schelling die Geschichte letztlich die »fortgehende […] Offenbarung des Absoluten«, ja der »Beweis von dem Daseyn Gottes, ein Beweis, der aber nur durch die ganze Geschichte vollendet seyn kann«.51 Da die Offenbarung des Absoluten in der Geschichte nie vollendet wird, muss es ein Produkt geben, in dem sich schon jetzt seine Realität zeigt. Dieses Produkt ist die Kunst.52 Auch in den folgenden Schriften beansprucht die Geschichte für Schelling noch einen hohen Rang: Sie ist gegenüber der Natur »die höhere Potenz«, aber nur, wenn sie als religiöse und nicht als empirische Geschichte begriffen wird. »Wenn die ganze Geschichte als Werk der Vorsehung« begriffen wird, kann sie die »Synthesis des Gegebenen und Wirklichen mit dem Idealen« darstellen; dann wird die Kunst als das angeschaute Ideal mit der Geschichte »auf die gleiche Stufe« gesetzt.53 Eine Geschichte, die sich endliche Ziele wie die Garantie der Freiheit in einer Rechtsverfassung und einem Staat setzt, um darin die verlorene Einheit wiederzugewinnen,54 muss, so Schelling jetzt, scheitern, da »die wahre Einheit nur auf dem religiösen Wege« bzw. durch eine religiöse Verklärung des Staates erreichbar ist.55 So nur wird die Geschichte »ein Epos, im Geiste Gottes gedichtet; seine zwei Hauptpartien sind: die, welche den Ausgang der Menschheit von ihrem Centro bis zur höchsten Entfernung von ihm darstellt, die andere, welche die Rückkehr«. Die »Endabsicht der Geschichte« ist das Zurückgehen alles Endlichen in seinen Ursprung, »die Versöhnung des Abfalls« von Gott.56 Eine Philosophie der Geschichte hat nicht mehr die Verwirklichung der Rechtsverfassung zum Inhalt – diese erscheint Schelling dürftig und »bodenlos« –, sondern sie nimmt ihren Ausgang von der Mythologie und verfolgt von da aus den »theogonischen Proceß« der Menschheit in ihrem Abfall von Gott bis zur Wiederversöhnung.57 Bei Hegel sind alle Erscheinungen des Geistes vom geschichtlichen Werden geprägt und von Geschichtlichkeit durchdrungen: Recht, Religion, Kunst und nicht zuletzt die Philosophie selbst. Die doppelte Bedeutung von ›Geschichte‹ als Geschehenes (›res gestae‹) und Reflexion darüber (›historia‹) begreift er 50 

Ebd. 591 f. Ebd. 603. Die Geschichte verläuft in drei Perioden, die unter dem Zeichen des Schicksals, des Naturgesetzes und der Vorsehung stehen (ebd. 603 f.). 52  Ebd. 614 f., 628. 53  Ders.: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803). Sammtliche Werke Bd. 5, a. a.O. [Anm. 48] 306 f., 309 f. 54  Ders.: Stuttgarter Privatvorlesungen (1810). Sämmtliche Werke Bd. 7, a. a.O. [Anm. 48] 461 f. 55  Ebd. 464 f. 56  Ders.: Philosophie und Religion (1804). Sämmtliche Werke Bd. 6, a. a.O. [Anm. 48] 57, 63. 57  Ders.: Philosophie der Mythologie I. Einleitung. Sämmtliche Werke Bd. 11, a. a.O. [Anm. 48] 230, 243. 51 

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als ihre objektive und subjektive Seite.58 Er weiß auch, dass in ›Geschichte‹ die Bedeutung des Ferngerückten, das nicht mehr Ernst genommen wird, liegt. 59 Die eigentliche Auszeichnung des Historischen ist aber, dass wir in ihm, weil wir nie »nur aus dem Boden der Gegenwart gewachsen« sind, »eine Erbschaft« antreten, d. h. das Vergangene empfangen und es verändernd weitergeben. In der Geschichte begegnen wir somit nicht »fremden Dingen«, sondern dem »Werden unserer Wissenschaft«.60 Besonders für die Philosophie gilt, dass die früheren Lehren der Philosophen ihr nicht äußerlich bleiben, sondern genuin zu ihr dazugehören, so dass gerade die Geschichte der einzelnen Philosophien »zur Wissenschaft der Philosophie, der Hauptsache nach, wird«.61 Hegel unterscheidet drei Formen der Geschichtsschreibung, die »ursprüngliche«, in der der Autor der Zeit, über die er berichtet, noch selbst angehört, Zeugnis von ihr ablegt und mithin die Ereignisse in eine »geistige Vorstellung« überträgt; die »reflectirte«, in der schon größere Perioden überblickt werden und moralische Lehren aus der Geschichte gezogen (pragmatische Geschichte), aber auch kritische Untersuchungen angestellt werden; und schließlich die eigentliche denkende Durchdringung der Geschichte, die »philosophische Weltgeschichte«.62 Vor dem Vorwurf, sie gehe mit den Gegebenheiten zu spekulativ um, sieht Hegel sie dadurch gefeit, dass er dazu auffordert, in ihr den Gegebenheiten »getreu«, ohne »a priorische Erdichtungen« zu verfahren. Andererseits legt aber jeder Historiker seine Kategorien an die Geschichte an und sieht durch sie das Vorhandene. Aber die einzige Voraussetzung, die der philosophische Historiker mitbringt, ist der »einfache Gedanke«, dass es in der Weltgeschichte »vernünftig zugegangen sei«.63 Diese Vernunft ist »immanent in dem geschichtlichen Daseyn, und vollbringt sich in demselben, und durch dasselbe«.64 In der Geschichte kommt der Geist zur Erkenntnis seiner selbst als eines freien Geistes. Deshalb ist die Weltgeschichte »der Fortschritt im Bewußtseyn der Freiheit, – ein Fortschritt, den wir in seiner Nothwendigkeit zu erkennen haben«.65 Zwar beschreibt Hegel den Verlauf der Geschichte auch als Gottes Weltregierung, die »Vollführung seines Plans«, aber darunter versteht er nicht zuletzt die Verwirklichung der 58 

G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Einl.). Sämtliche Werke Bd. 17, a. a.O. [Anm. 14] 145. 59  Ders.: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I. Sämtliche Werke Bd. 15, a. a.O. [Anm. 14] 157. 60  Ders.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, a. a.O. [Anm. 58] 28, 30. 61  Ebd. 33. Vgl. ders.: Die Phänomenologie des Geistes. Sämtliche Werke Bd. 2, a. a.O. [Anm. 14] 620: Die als notwendig erkannte geschichtliche Entfaltung des Geistes und dessen erinnernde Aufbewahrung macht die »begriffene Geschichte« aus. 62  Ders.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Sämtliche Werke Bd. 11, a. a.O. [Anm. 14] 25 f., 31–33. 63  Ebd. 36 f., 34. 64  Ebd. 54. 65  Ebd. 46; vgl. ebd. 568: »[…] denn die Weltgeschichte ist nichts als die Entwickelung des Begriffes der Freiheit.«

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politischen Freiheit in der Französischen Revolution. Weit entfernt davon, nur »ein verrücktes, thörichtes Geschehen« zu sein,66 ist der »Entwickelungsgang« der Geschichte die Versöhnung des Geistes mit dem Geschehenen und folglich »die wahrhafte Theodicee, die Rechtfertigung Gottes«.67 Auch nach Schelling und Hegel sind noch Geschichtsphilosophien konzipiert worden, von Schelling-Schülern wie Constantin Frantz,68 Hegelianern wie Agostino Vera,69 von christlichen Denkern wie Franz Anton Staudenmaier, Johann Heinrich Pabst und Jean-Jacques Altmeyer,70 und von spekulativen Theisten wie Immanuel Hermann Fichte und Christian Hermann Weiße. I. H. Fichte sieht die geschichtliche Verwirklichung des Göttlichen in der über den Tod des Menschen anhaltenden sittlichen Vervollkommnung.71 Für Weiße erfolgt aber eben diese göttliche Realisierung in einer Geschichte, die die »empirische Erscheinung des absoluten Wissens« bildet,72 insofern die Geschichte der Wissenschaft die »Summe« aller Wissenschaft ausmacht.73 Bei allem Vorbehalt gegenüber Hegels Geschichtsphilosophie führen diese Autoren doch dessen Gedanken fort, dass die Wahrheit (die Idee, das Absolute) sich in der Geschichte sukzessive herausbilden oder offenbaren wird, dass, wie z. B. die Philosophiegeschichte zeige, die Geschichte der Prozess des Zu-sich-selbst-Kommens des Geistes, dessen »Selbstverwirklichung« ist.74 Anders als die Natur ist die Geschichte der Prozess der Freiheit, und deshalb kann auch das absolut freie Wesen, Gott, sich nur geschichtlich manifestieren; und so wird die Geschichte, wie sie sich der »historistischen Weltanschauung« darbietet, eine Explikation des »Seins Gottes«.75 Gegen diese Formen der Geschichtsphilosophie werden schon früh Einwände erhoben, vor allem von der Theologie, ebenso aber von der Geschichtsschreibung. Nach Friedrich Schleiermacher müssen in der Geschichte »alle Constructionen a priori« scheitern, weil sie die empirische Wirklichkeit nicht genug berücksich66 

Ebd. 67 f. Ebd. 569. 68  Constantin Frantz: Grundzüge des wahren und wirklichen absoluten Idealismus (Berlin 1843) 213–217. 69  Agostino Vera: Introduzione alla filosofia della storia (Firenze 1867). 70 Franz Anton Staudenmaier: Geist der göttlichen Offenbarung, oder Wissenschaft der Geschichtsprincipien des Christenthums (Gießen 1837); Johann Heinrich Pabst: Der Mensch und seine Geschichte (Wien 1830); ders.: Zur Philosophie der Geschichte. In: Zeitschrift für Philosophie und katholische Theologie Bd. 6 (1837) 98–163; Jean-Jacques Altmeyer: Cours de philosophie de l’histoire (Bruxelles 1840). 71 Immanuel Hermann Fichte: Die Seelenfortdauer und die Weltstellung des Menschen (Leipzig 1867) z. B. XXXIV f., 394 f., 406–435. 72  Christian Hermann Weiße: Ueber das Verhältniß des Publicums zur Philosophie in dem Zeitpuncte von Hegel’s Abscheiden (Leipzig 1832) 72. 73  Ders.: Grundzüge der Metaphysik (Hamburg 1835) 60. 74  Christlieb Julius Braniß: Uebersicht des Entwicklungsganges der Philosophie in der alten und mittleren Zeit (Breslau 1842) 8, 12. 75  Ders.: Die wissenschaftliche Aufgabe der Gegenwart (Breslau 1848) 135 f.; vgl. Gunter Scholtz: »Historismus« als spekulative Geschichtsphilosophie: Chr. J. Braniß (Frankfurt a. M. 1973). 67 

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tigen. Aber das Empirische allein ist als das Zufällige ebenfalls ungenügend, da es kein Maß zu seiner Beurteilung liefert. Deshalb plädiert Schleiermacher für ein »Gleichgewicht des geschichtlichen und speculativen« Verfahrens,76 und er kann dies umso mehr, als er schon der Wirklichkeit, wie sie sich historisch herausgebildet hat, eine ethische Verbindlichkeit zuschreibt. Søren Kierkegaard verschärft den Gegensatz von christlichem Glauben und historischem Bewusstsein. Er hat die Geschichtsphilosophie und besonders die Hegels im Verdacht, dass in ihr jede Gegebenheit zwar ihr Recht erhalte, darüber aber die Frage nach der Wahrheit verloren gehe, dass es somit höchstens eine Annäherung an die Wahrheit gebe.77 Die Geschichte ist mit dem Sündenfall in die Welt gekommen und hat die ganze Menschheit befallen; die Sündhaftigkeit hat im Verlauf der Weltgeschichte sogar noch zugenommen.78 Um so mehr stellt sich für den Glaubenden die Frage, wie er angesichts der Fülle des historischen Wissens noch glauben kann. Denn jetzt »liebt [man] nicht, glaubt nicht, handelt nicht, aber man weiß, was Liebe, was Glaube ist und es handelt sich nur um die Frage nach ihrem Platz im System«.79 Der historische Sinn bedroht den Sinn für die Wahrheit selbst, für die Existenz. Kierkegaard sieht die Lösung darin, radikal Christ zu werden, d. h. das »Paradox« anzunehmen, dass das Ewige zugleich das Historische ist: Denn Gott ist Mensch geworden.80 Die weltliche Geschichte aber kann kein Zeugnis von Christus ablegen und kein Wissen von ihm vermitteln, »weil es überhaupt kein ›Wissen‹ von ihm gibt«.81 Der Konflikt zwischen Historischen und Dogmatischen, zwischen geschichtlichem Wandel und übergeschichtlicher Geltung wird in der Theologie vor allem dadurch brisant, weil hier unter ›Geschichte‹ nicht die profane, sondern die Heils- und Offenbarungsgeschichte verstanden wird, somit eine Spannung zwischen irdischem Wechsel und göttlicher Zeitlosigkeit auftritt. So kann die Theologie des 19. Jahrhunderts den von der christlichen Geschichtsphilosophie vorgegebenen Bahnen nicht immer folgen.82

76 

Friedrich D. E. Schleiermacher: Der christliche Glaube (1821/22) § 2, 2. Sämtliche Werke Abt. I, Bd. 3–4 (Berlin 1884) 4; Hermeneutik. Sämtliche Werke I/7 (Berlin 1838) 260. 77 S. Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift I (1846). Gesammelte Werke, hg. von Emmanuel Hirsch u. a. Bd. 16/1 (Düsseldorf, Köln 1957) 26, 29. 78  Ders.: Der Begriff Angst (1844) I, § 2. Gesammelte Werke Bd. 11/12, a. a.O. [Anm. 77] (Düsseldorf 1958) 30 f. 79 Ders.: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift II. Gesammelte Werke, a.  a.O. [Anm. 77] 16/2 (Düsseldorf, Köln 1958) 48. 80  Ebd. 290 f. 81  Ders.: Einübung im Christentum (1850). Gesammelte Werke Bd. 26, a. a.O. [Anm. 77] (Düsseldorf, Köln 1962) 20. 82  Im späten 19. Jahrhundert führt das dazu, ›Geschichte‹ und ›Historie‹ voneinander zu trennen; das im NT überlieferte historische Faktum zu unterscheiden von der wirksamen, d. h. geglaubten und weitergegebenen Wahrheit des Heils. Siehe hierzu Martin Kähler: Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus (1892), hg. von Ernst Wolf (München 1961) z. B. 44.

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Anders als die Theologie sieht die Geschichtswissenschaft durch die Philosophie die historische Vielfalt und Mannigfaltigkeit bedroht. So verfälscht nach Wilhelm von Humboldt die Philosophie die tatsächliche Geschichte, weil sie ihr ein Ziel vorschreibt, anstatt das freie »Wirken der Kräfte« zu berücksichtigen. »Die teleologische Geschichte erreicht auch darum niemals die lebendige Wahrheit der Weltschicksale«, weil sie den Zweck aller Geschichte nicht im Lebendigen, sondern in einem »idealen Ganzen sucht«.83 Der Historiker kann die »wirkenden und schaffenden Kräfte« der Geschichte nicht aus den Quellen ablesen, sondern muss sie durch sein eigenes geistiges Zutun begreifen, ohne wie der Dichter seiner Phantasie freien Lauf zu lassen.84 Denn die Geschichte besteht nicht aus einzelnen Fakten, dem bloßen »Gerippe der Begebenheit«. Ebenso wenig taugt sie als Beispielsammlung für die Gegenwart; vielmehr dient sie der Erweckung des »Sinns für die Wirklichkeit«; darin ist sie dem »handlenden Leben« verwandt.85 Aber auch Humboldt ist davon überzeugt, dass die Geschichte nicht »ohne eine Weltregierung verständlich« ist. Aber deren Ideen werden erst nach und nach in den historischen Erscheinungen sichtbar, so die Idee der Kunst in Ägypten, die der individuellen Bildung und partikularen Nationalität in Griechenland.86 »Das Ziel der Geschichte kann nur die Verwirklichung der durch die Menschheit darzustellenden Idee seyn, […] in allen Gestalten, in welchen sich die endliche Form mit der Idee zu verbinden vermag.« Nicht aber darf man »der Wirklichkeit eigenmächtig geschaffene Ideen anbilden«, um »etwas von dem lebendigen Reichthum des Einzelnen aufzuopfern«.87 Statt den Endursachen soll der Historiker den »bewegenden […] Ursachen der Weltbegebenheiten nachspüren«. Humboldts Vorbehalt gegenüber der teleologischen Geschichtsphilosophie rührt vor allem daher, dass er in der Geschichte den fortdauernden »Streit« zwischen Freiheit und Notwendigkeit erkennt.88 Da er in der Geschichte keine bestimmenden Zwecke am Werk sieht, wählt er für sie das Bild vom Strom, der der menschlichen Einflussnahme entzogen ist. »Die Schicksale des Menschengeschlechts rollen fort, wie die Ströme vom Berge dem Meere zufliessen.«89

83 

W. von Humboldt: Über die Aufgabe des Geschichtschreibers (1821). Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, hg. von Albert Leitzmann Bd. 4 (Berlin 1903–1936) 46. 84  Ebd. 47. 85  Ebd. 36, 38–40. 86  Ebd. 50, 52. 87  Ebd. 56. 88  Ders.: Betrachtungen über die bewegenden Ursachen in der Weltgeschichte (1818). Gesammelte Schriften Bd. 3, a. a.O. [Anm. 83] 361, 366. 89  Ders.: Betrachtungen über die Weltgeschichte, Gesammelte Schriften Bd. 3, a. a.O. [Anm. 83] 357.

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IV.  Romantik und Historische Schule In der Aufklärung stand die vergangene Zeit im Verdacht, eine Zeit der Dunkelheit, der Vorurteile und des Aberglaubens zu sein. Zudem musste die Geschichte als Disziplin um ihren Status als Wissenschaft bangen, weil sie sich von jeher nur mit dem Einzelnen und Zufälligen beschäftigte. Die Einsicht jedoch, dass Wahrheiten geschichtlichen Veränderungen unterliegen, entstehen und sich wandeln können, bringt die volle Anerkennung der Geschichte und führt vor allem in der Romantik dazu, dass die Geschichte vielfach zu einer allgemeinen und umfassenden Wissenschaft aufrückt. Friedrich Schlegel verkündet: »Alle vollendete Wissenschaft ist Geschichte […]; – insofern die Geschichte alles Werden umfaßt.«90 Allerdings darf sich die Geschichte nicht in der »Herzählung von Namen, Jahreszahlen und äußern Tatsachen« erschöpfen.91 Sie bedarf der formenden Hand des Geschichtsschreibers, der die gestaltlose Masse organisiert und belebt.92 Der Historiker ist deshalb immer mehr als bloßer Chronist; er ist, nach einem berühmten Diktum von Friedrich Schlegel, »ein rückwärts gekehrter Prophet«,93 und er kann, »wenn die Geschichte der Menschheit einmal ihren Newton finden wird«, sogar den künftigen Verlauf der Geschichte vorhersagen.94 Auf diese Weise wird die frühere Entgegensetzung von Philosophie und Geschichte aufgehoben; sie werden jetzt als zusammengehörige Teile aufeinander bezogen.95 Für Adam Müller soll eine erweiterte Geschichte sogar auch die aller Naturwissenschaften und der Mathematik enthalten, bis hin zu einer umfassenden »Geschichte des Selbstbewußtseins«.96 So will auch Novalis »mit philosophischem Geiste« die Geschichte zu einer universalen »Erd- und Menschengeschichte« ausweiten,97 die unter Gottes Len-

90  Friedrich

Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern (1804/05). Kritische Ausgabe, hg. von Ernst Behler [u. a.] Bd. 13 (München etc. 1958 ff.) 23. Vgl. ders.: Vorlesungen über Universalgeschichte (1805/06). Kritische Ausgabe Bd. 14, 3: »Da überhaupt alle Wissenschaft genetisch ist, so folgt, daß die Geschichte die universellste, allgemeinste und höchste aller Wissenschaften sein müsse.« 91  Ders.: Über die neuere Geschichte, 1. Vorlesung (1810/11). Kritische Ausgabe Bd. 7, a. a.O. [Anm. 90] 127. 92  Novalis (Friedrich von Hardenberg): Blüthenstaub-Fragment 93. Schriften, hg. von Richard Samuel und Hans-Joachim Mähl, Gerhard Schulz Bd. 2 (Stuttgart 31960–1988) 455. 93  F. Schlegel: Athenäums-Fragment Nr. 80. Kritische Ausgabe Bd. 2, a. a.O. [Anm. 90] 176; vgl. G. Scholtz: Der rückwärtsgewandte Prophet und der vorwärtsgewandte Poet. In: ders.: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis (Frankfurt a. M. 1991) 309–331. 94  F. Schlegel: [Rez. zu] Condorcet: Esquisse […]. Kritische Ausgabe Bd. 7, a. a.O. [Anm. 90] 6. 95  Friedrich Ast: Entwurf einer Universalgeschichte (Landshut 21810) bes. 13. 96  Adam Müller: Die Lehre vom Gegensatze (1804). Kritische, ästhetische und philosophische Schriften, hg. von Walter Schroeder und Werner Siebert Bd. 2 (Neuwied, Berlin 1967) 206. Dahinter steht Müllers Theorie, dass alle Erscheinungen von Gegensätzen durchherrscht sind. 97 Novalis: Skizzen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit [1788–1790]. Schriften Bd. 2, a. a.O. [Anm. 92] 24.

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kung98 eine »zukünftige Geschichte« verheißt.99 Ihr Endziel ist der ewige Friede und das »neue Jerusalem«.100 Seine volle Bedeutung erhält der romantische Begriff der Geschichte deshalb erst dadurch, dass sie, nicht zuletzt in Abgrenzung gegen die säkulare Geschichte der Aufklärung, als Geschichte der Offenbarung Gottes verstanden wird.101 Der »Hauptpunkt« aller Geschichte ist, so der späte Friedrich Schlegel, »ob man von Gott ausgeht und Gott als das Erste, die Natur als das Zweite betrachtet«.102 Da die Menschen aber mit der ersten Weltepoche die Verbindung zum Göttlichen aufgelöst haben, besteht die Philosophie der Geschichte darin, die einzelnen Stufen der »Wiederherstellung des ganzen Menschengeschlechts zu dem verlornen göttlichen Ebenbilde« aufzuzeigen. Das gewöhnlich so genannte Historische dient dabei nur »zum erhellenden Beispiele«.103 Andere Autoren dieser Zeit bestätigen dieses Bild: Franz von Baader ist davon überzeugt, dass eine Theorie der Geschichte ohne »Offenbarungsgeschichte« gar nicht möglich ist.104 Schlegels Diktum vom Historiker als rückwärtsgewandtem Propheten fortschreibend, macht er auf die Bedeutung der jeweiligen Gegenwart des Historikers aufmerksam: »Der Seher sieht nur dann in die Vergangenheit oder Zukunft, weil ihm ein Blick geworden in die wahre Gegenwart.«105 Franz Joseph Molitor sieht die Geschichte der Menschheit (und auch der Natur) als Darstellung des Absoluten »in subjektiver« (so im Altertum) oder »in objektiver Form« (wie in der Moderne). Anfangs- und Endpunkt dieser »Evoluzion« ist die Identität beider »Pole«: die Darstellung des Göttlichen »in begeisterten Visionen« bzw. in der »Anschauung der Kunst«.106 Später hat Molitor die Geschichte als Heilsökonomie verstanden: Sie ist die Versöhnung Gottes mit den Menschen nach dem Sündenfall: »Die Gottheit selber ist der erste unmittelbare Erzieher des Menschen gewesen, und alle Kultur ist das Resultat jener primitiven, dem ersten Menschen geschehenen Offenbarung, welche in der Folge der Zeit durch neue Offenbarungen mehr und mehr aufgeschlossen und  98 

Ders.: Fragmente Nr. 76/77 (1799–1800). Schriften Bd. 3, a. a.O. [Anm. 92] 566. Ders.: Die Christenheit oder Europa (1799). Schriften Bd. 3, a. a.O. [Anm. 92] 519. 100  Ebd. 524. 101  Ebd. 516; F. Schlegel: Geschichte der alten und neuen Literatur, 14. Vorles. (1812). Kritische Ausgabe Bd. 6, a. a.O. [Anm. 90] 340; Henrik Steffens: Die gegenwärtige Zeit und wie sie geworden (Berlin 1817) Bd. 1, 312: Denn die Geschichte »ist göttliche That, und nur als solche zu begreifen.« 102  F. Schlegel: Philosophie der Geschichte (1828). Kritische Ausgabe Bd. 9, a. a.O. [Anm. 90] 32; diese Stelle wörtlich (!) auch bei Ernst von Lasaulx: Neuer Versuch einer alten auf die Wahrheit der Thatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte (München 1856) 5 f. 103  F. Schlegel: Kritische Ausgabe Bd. 9, a. a.O. [Anm. 90] 4 f.; vgl. Bd. 9, 3, 34. 104  F. von Baader: Elementarbegriffe über die Zeit (1831). Sämtliche Werke, hg. von Franz Hoffmann u. a. Bd. 14 (Leipzig 1850–1860, Neudr. Aalen 1963) 53. 105  Ders.: Vorlesungen über speculative Dogmatik , XVIII. Vorles. (1828–1838). Sämtliche Werke Bd. 2, a. a.O. [Anm. 104] 166. 106 Franz Joseph Molitor: Ideen zu einer künftigen Dynamik der Geschichte (Frankfurt a. M. 1805) 171, 177.  99 

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[…] fortgeleitet wurde.« Ohne sie würde die Menschheit »in tiefste Finsterniß und Verwirrung gesunken, und zuletzt die Beute der Hölle geworden seyn«.107 Joseph Görres entwirft eine umfängliche Darstellung der »Religion in der Geschichte«, in der alle Fortschritte in der Geschichte mit dem Bild des Wachstums in der Natur, ihre einzelnen Ereignisse, angefangen mit dem in den Mythen verkündeten »Naturorakel« »als nothwendige Naturproducte« interpretiert werden.108 Später hat Görres allerdings die Naturgeschichte mit ihrer unbedingten Notwendigkeit von der des Menschen, in der Notwendigkeit und Freiheit gemischt sind, unterschieden. Diese beiden geschichtlichen Reiche werden vom »Reich Gottes« umfasst; denn von der Gottheit geht alle Geschichte aus, und in die Gottheit kehrt sie – nach Sündenfall und Erlösung – zurück, so dass alle »zeitliche Geschichte« letztlich eine »religiöse« oder »christlich« zu nennende Geschichte ist.109 Obwohl Görres weiß, dass Bau- und Kunstdenkmäler von der Geschichte ein »lautes Zeugniß« ablegen – er betrieb maßgeblich die Vollendung des Kölner Doms –, will er nicht, wie die »historische Bewegung«, in der Vergangenheit den »bessern, würdigern Zustand in Teutschland« sehen und den »Abfall von der Geschichte« wiedergutmachen.110 »Man kann die Zukunft nicht postuliren, wie man die Vergangenheit nicht wiedererwecken mag.« Deshalb gilt es, in einer von Umwälzungen geprägten Zeit sich in den »Strom der Geschichte« und für die Zukunft zu wirken, d. h. vor allem für die Einigung Deutschlands einzutreten.111 Gegen alle Tendenzen zur Universalgeschichte empfiehlt Jean Paul, den Blick auf das Schicksal des Einzelnen zu richten. Da dort »keine Ausgleichung zwischen Glück und Werth« stattfinde, käme es darauf an, den »GeschichtsGott« mehr »in einem stillen frommen Herzen« zu suchen als im »rauschenden Weltgebäude«.112 Die Historische Schule steht den Spekulationen der Philosophie grundsätzlich skeptisch gegenüber. Schon 1806 erteilt Johannes von Müller dem »saft- und kraftlosen Formelnwesen« der Philosophen, ihren »gigantischen Luftschlössern der Speculation und Phantasie«, eine Absage. Aufgabe des Historikers ist es allein, »die Sachen so zu sehen wie sie sind«.113 Vehement lehnt Georg Gott107 

Ders.: Philosophie der Geschichte oder über die Tradition Bd. 1 (Frankfurt a. M., Münster 1827–1853) 105 f. 108 J. Görres: Wachstum der Historie [Religion in der Geschichte] (1807). Gesammelte Schriften, hg. von Wilhelm Schellberg u. a., Bd. 3 (Köln 1926) 404, 440, vgl. 413. 109  Ders.: Ueber die Grundlage, Gliederung und Zeitenfolge der Weltgeschichte (1830). Gesammelte Schriften Bd. 15, a. a.O. [Anm. 108] (Köln 1958) 259, 273, 292 f. 110 Ders.: Teutschland und die Revolution (1819). Gesammelte Schriften Bd. 13, a.  a.O. [Anm. 108] (Köln 1929) 103, 79 f. 111  Ebd. 135, 138, 141. 112  Jean Paul: Dämmerungen für Deutschland. I: Ueber den Gott in der Geschichte und im Leben (1809). Sämtliche Werke Bd. I/14 (Weimar 1939) 56 f. 113  Johannes von Müller: Sämtliche Werke, hg. von Johann Georg Müller Bd. 27 (Stuttgart, Tübingen 1831–1835) 237 f.; Bd. 26, 255 f.; gegen Müller und seine Ablehnung philosophischer

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fried Gervinus alle Geschichtsphilosophie ab. Sie will das Ziel der Geschichte in einem »idealen Höhepunkt« erkennen und hat deshalb das »Alphabet und Einmaleins« des Historikers, sich »unbefangen […] mit rein historischem Sinn« auf den Gegenstand einzulassen, nicht gelernt.114 Nicht zuletzt für Leopold von Ranke besteht ein grundsätzlicher Gegensatz zwischen Philosophie und Geschichtsschreibung. Das einzelne Faktum muss immer die Grundlage bilden und nur von ihm aus ist »zu einer allgemeinen Ansicht der Begebenheiten« fortzuschreiten sei. Der Weg der Abstraktion ist der Weg der Philosophie.115 Vor diesem Hintergrund sind Rankes einprägsame Formulierungen zu verstehen: Die Geschichte soll »blos zeigen, wie es eigentlich gewesen ist«;116 oder: Sie soll ausgehen von einer »unparteiischen Auffassung« und zu einer »objectiven Darstellung« kommen; aufgrund des kritischen Quellenstudiums soll sie eine »Vergegenwärtigung der vollen Wahrheit« leisten.117 Das hindert Ranke nicht, in der Geschichte eine »göttliche Ordnung« zu »ahnen« (nicht zu beweisen), wodurch sie an die »höchsten Fragen des menschlichen Geschlechtes« rühre.118 Der Historiker hat es zwar mit profanen Dingen zu tun, aber er übt das Amt aus, die »heilige Hieroglyphe«, die von Gottes Gegenwart in der Geschichte zeugt, zu »enthüllen«: »Auch so dienen wir Gott, auch so sind wir Priester, auch so Lehrer.«119 Auch Johann Gustav Droysen kennt noch eine solche geschichtsreligiöse Grundierung der Geschichtswissenschaft.120 Aber er liefert vor allem eine reflektierte Begründung seiner Disziplin. In der Nachfolge Humboldts, diesem Prinzipien in der Geschichtsschreibung wendet sich F. W. J. Schelling in: Schellingiana rariora, hg. von Luigi Pareyson (Torino 1977) 271–273; vgl. Clemens Menze: Der Humanismus in Johannes von Müllers Bonstetten-Briefen am Beispiel des Zusammenhanges von Geschichte und Bildung. In: Johannes von Müller – Geschichtsschreiber der Goethe-Zeit, hg. von Christoph Jamme und Otto Pöggeler (Schaffhausen 1986) 13–46. 114  G. G. Gervinus: Grundzüge der Historik (1837). Schriften zur Literatur (Berlin 1962) 83 f., 88; vgl. 99 f.: »[…] die Geschichtsschreibung hat sich daher immer in der Mitte zwischen Poesie und Philosophie entfaltet.« 115  L. von Ranke: Über die Epochen der neueren Geschichte (1859). In: ders.: Das politische Gespräch und andere Schriftchen zur Wissenschaftslehre, hg. von Erich Rothacker (Halle/Saale 1925) 57; vgl. ders.: Politisches Gespräch. Sämmtliche Werke Bd. 49/50 (Leipzig 1887) 325. 116  Ders.: Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514. Vorrede. Sämmtliche Werke Bd. 33, a. a.O. [Anm. 115] (Leipzig 1874) VII. 117  Ders.: Analecten der englischen Geschichte. Sämmtliche Werke Bd. 21, a. a.O. [Anm. 115] (Leipzig 1874) 114. Vgl. Brief an Otto von Ranke vom 25.5.1873. Das Briefwerk, hg. von Walther Peter Fuchs (Hamburg 1949) 518: Der Historiker soll »den Sinn jeder Epoche an und für sich selbst verstehen […]. Er muß nur eben den Gegenstand selbst und nichts weiter mit aller Überparteilichkeit im Auge haben.« 118  Ders.: Brief an O. von Ranke vom 25.5.1873. Das Briefwerk, ebd. 519. 119  Ders.: Brief an Heinrich Ranke Ende März 1820. Das Briefwerk, ebd. 18. Vgl. Über die Epochen, a. a.O. [Anm. 115] 61 f.: »Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst.« So muss »jede Epoche als etwas für sich Gültiges angesehen werden.« 120  Vgl. W. Hardtwig: Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit – Objektivität. In: Historische Zeitschrift Bd. 252 (1991) 1–32.

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»Bacon für die Geschichtswissenschaft«,121 bestimmt er die Geschichte als das »rastlose«, aber in offensichtlicher Kontinuität ablaufende Nacheinander der menschlich-sittlichen Welt, die sich in »stets fortschreitender Steigerung« befindet. Die Ereignisse der Geschichte sind zwar vergangen, sie sind aber als Erinnerungen oder archäologische Überreste zugleich das »Unvergangene«. Geschichtswissenschaft ist »das Ergebnis empirischen Wahrnehmens, Erfahrens und Forschens«.122 Gesetze gibt es in der Geschichte nicht, wohl aber können Gesetze für die wissenschaftliche Forschung aufgestellt werden, um »historische Objektivität« zu gewährleisten.123 Gegen die positivistische Geschichtsforschung eines Henry Thomas Buckle124 wendet Droysen ein, dass historische Vorgänge nicht wie naturwissenschaftliche erklärt werden können, sondern verstanden werden müssen: »[…] und was da ist, verstehen wir, indem wir es als ein Gewordenes fassen.«125 Gerade angesichts der Wechselfälle der Geschichte ist Droysen davon überzeugt, dass es »eine weise und gütige Weltordnung« gebe,126 dass »eine Gotteshand uns trägt« und leitet und dass die Wissenschaft der Geschichte »diesen Glauben rechtfertigen« kann.127 Aber immer bleibt die Geschichte das Wissen »von sich«, d. h. vom menschlichen Tun und Handeln, das »Bewußtwerden und Bewußtsein der Menschheit über sich selbst«, nicht das von metaphysischen Wahrheiten: »Sie ist nicht ›das Licht und die Wahrheit‹ […].«128 Die Geschichte wird nicht zur Theologie, wohl aber erhebt sie sich, indem sie »die großen sittlichen Gestaltungen […] in der Kontinuität ihres Gewordenseins« erforscht, über die bloß empirische Einzelheit, die »kleingeschichtlich« zu nennen wäre.129 Victor Cousin bemüht sich vor allem um ein richtiges Verständnis der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie erhebt sich auf dem Fundament der »civilisation« (Kunst, Recht, Religion usw.) und bildet eine zusammenhängende »mouvement de la pensée«, ohne dass dies ein systematischer Fortschritt des menschlichen Geistes wie bei Hegel wäre. Allerdings ist ein »optimisme historique« insofern berechtigt, als sich in der Geschichte »la manifestation des vues

121 

J. G. Droysen: Historik, hg. von Rudolf Hübner (Darmstadt 1974) 324. Ebd. 326 f. (Grundriß der Historik §§ 3–5) 412. 123  Ebd. 428 (Antrittsrede von 1867), im Wortlaut ähnlich 424. 124  S. u. zu Anm. 197. 125  J. G. Droysen: Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft [Buckle-Rezension]. In: Historische Zeitschrift Bd. 9 (1863) 1–22, hier zit. nach: Historik, a. a.O. [Anm. 121] 397; vgl. 400; ebd. 328: »Das Wesen der historischen Methode ist forschend zu verstehen.« Ders.: Geschichte der preußischen Politik, Bd. 1 (Leipzig 1855) III: Das Wesen der Geschichte ist »forschend verstehen zu lernen.« 126  Ebd. 373; vgl. 383: »Denn allein eine wahrhaft historische Ansicht der Gegenwart […] wird imstande sein, die traurige Zerrüttung unserer staatlichen und sozialen Verhältnisse auszuheilen.« 127  Ders.: Vorlesungen über die Freiheitskriege, 1. Theil (Kiel 1846) 5. 128  Ders.: Grundriß der Historik §§ 83, 85, a. a.O. [Anm. 121] 357 f. 129  Ders.: Historik, hg. von Peter Leyh (Stuttgart 1977) 370. 122 

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de Dieu sur l’humanité« zeigt.130 Die philosophische (apriorische) und die empirische (aposteriorische) Methode sollen miteinander verbunden werden, um Orientierung im »labyrinthe de l’histoire« zu bieten.131 Nach Ranke und Droysen hat die deutsche Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts keine bedeutenden Theoretiker mehr hervorgebracht. In der Kontroverse um die Kulturgeschichte, Karl Lamprechts »kollektivistische Geschichtsschreibung«, treffen die traditionelle, an Persönlichkeiten und Nationen orientierte und die soziologische, die typischen Ausgestaltungen erforschende Geschichtsschreibung aufeinander. Lamprecht glaubt, historische Gesetzmäßigkeiten eruieren zu können, die denselben Gewissheitsgrad haben wie z. B. die der Biologie und Paläontologie.132 Im späten 19. Jahrhundert erwartet man vom Historiker mehr und mehr, damit seine Disziplin als Wissenschaft anerkannt werden könne, den Nachweis von historischen Gesetzen, wenn auch nicht von so strengen wie in den Naturwissenschaften.133 Gerade gegen diesen Anspruch wendet sich dann die Theorie der Geisteswissenschaften.

V.  Geschichte der Zukunft und Philosophie der Tat Die Schüler Hegels haben in unterschiedlicher Weise seine Geschichtsphilosophie weitergeführt, bis hin zu deren partieller oder prinzipieller Infragestellung. Die Rechtshegelianer stimmen mit Hegel darin überein, dass die Geschichte im Prinzip an ihrem Ziel angekommen ist. So würdigen sie die Geschichtsphilosophien von Lessing über Herder bis zu Hegel und sehen durch den Preußischen Staat jenes Recht verwirklicht, das »das Göttliche mit dem Menschlichen« zu versöhnen berufen sei.134 Die Französische Revolution brachte »das Befreien und Vergeistigen des Staats« und eröffnete damit die letzte Periode (»Gestaltung«) der Weltgeschichte.135 Auch für die Rechtshegelianer gibt es eine zukünftige Geschichte, aber von ihr werden keine grundsätzlichen Neuerungen erwar130  Victor

Cousin: Cours de l’histoire de la philosophie moderne, deuxième série: Introduction à l’histoire de la philosophie, nouv. éd. Bd. 1 (Paris 1847) 151, 172. 131  Ebd. 76. 132  K. Lamprecht: Zwei Streitschriften, den Herren H. Oncken, H. Delbrück, M. Lenz zugeeignet (Berlin 1897); vgl. Friedrich Seifert: Der Streit um Karl Lamprechts Geschichtsphilosophie (Augsburg 1925). 133  Heinrich von Treitschke: Die Gesellschaftswissenschaft (1858) (Halle/Saale 1927) 80; Heinrich von Sybel: Ueber die Gesetze des historischen Wissens. Vorträge und Aufsätze (Berlin 1875) 3–20, bes. 19; vgl. jedoch Treitschke: Die Aufgabe des Geschichtsschreibers (1895). Aufsätze, Reden und Briefe Bd. 4 (Meersburg 1929) 790: Geschichte ist das Walten der »unerforschlichen Macht des Schicksals«. Vgl. Alexander Demandt: Natur- und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift Bd. 237 (1983) 37–66, bes. 48, 53. 134  Karl Rosenkranz: Das Verdienst der Deutschen um die Philosophie der Geschichte (Königsberg 1835) 22. 135  Eduard Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte, hg. von Manfred Riedel (Stuttgart 1981) 107.

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tet, sondern nur die Realisierung des im Prinzip schon Errungenen und seine fortschreitende Verbreitung in Europa.136 »Der Plan und Grundriss der Weltgeschichte steht also wohl im Grossen und Ganzen unerschütterlich fest.«137 Für Ferdinand Lassalle folgt schon aus Hegels Logik, dass die Geschichte »begriffene Geschichte« und nicht ein »Produkt des Zufalls« ist: Sie vollzieht sich gemäß der Selbstbewegung des Begriffs und ist dessen »objektive Selbstverwirklichung«. Wenn z. B. eine Nation nach der Weltherrschaft strebt, so erhebt sie ihre Partikularität zur Allgemeinheit und untergräbt sich eben dadurch selbst – wie man an Roms Untergang und Napoleons Fall erkennt. »Man kann daher jeder Weltherrschaft ihren Verfall mit philosophischer Notwendigkeit vorhersagen.«138 Die Linkshegelianer dagegen wollen die Geschichte auf eine Zukunft hin öffnen, die von Grund auf neu ist. Und sie fühlen sich berufen, an deren Erfüllung aktiv mitzuarbeiten. Die Geschichte der Zukunft soll mit der Philosophie der Tat erobert werden. Die Geschichtsschreibung darf sich nicht in der Beschreibung des Geschehenen erschöpfen, sondern muss »in das wahre Leben der menschlichen Entwickelungen hineingreifen«, in das »innere Leben« und die »Arbeit« der Geschichte, und das bedeutet, so Lorenz von Stein, das gegenwärtige soziale Leben als die Bewegung des Gegensatzes von Staat und Gesellschaft zu begreifen.139 Um so die Geschichte neu zu konzipieren, muss die Philosophie reformiert und die sich nur auf die Vergangenheit richtende Geschichtssicht abgelöst werden. Die Geschichte eignet sich nicht dazu – so Ludwig Feuerbach – die Gegenwart zu erkennen; denn sie ist eine Geschichte der »Todten« und nicht der »Lebendigen«. Deshalb steht der »Geschichtmacher« dem »Geschichtschreiber« gegenüber.140 Der Mensch, der sich als denkendes und tätiges Subjekt der Geschichte begreift, wird zum »Wesen der Geschichte«, genau so wie er zum »Wesen der Natur« und zum »Wesen der Religion« wird.141 Die Geschichte ist nicht die Geschichte des Geistes, der Idee o. ä., sondern die des Menschen. Sie hat nach Bruno Bauer keinen andern Sinn als den »des Werdens und der Entwicklung des Selbstbewußtseyns«.142 Max Stirner geht noch einen Schritt weiter. Für ihn kann 136 Carl

Ludwig Michelet: Geschichtsphilosophische Uebersicht. In: Der Gedanke Bd. 1 (1861) 237–240; Bd. 2 (1862) 98–80; Bd. 5 (1864) 200–204; 269–272; Bd. 6 (1865) 82–84; 149– 151; 213– 216; 266–269. 137  Ders.: Das System der Philosophie als exacter Wissenschaft, Bd. 4 und 5 (Th. 4) enthaltend die Philosophie der Geschichte Bd. 4 (Leipzig 1879–1881) V. 138  F. Lassalle: Die Hegelsche und die Rosenkranzische Logik und die Grundlage der Hegel­ schen Geschichtsphilosophie im Hegelschen System (1859/61). Gesammelte Reden und Schriften, hg. von Eduard Bernstein Bd. 6 (Berlin 1919/20) 42, 46. 139  L. von Stein: Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, hg. von Gottfried Salomon, Bd. 1 (München 1921) 33, 146. 140  Ludwig Feuerbach: Fragmente zur Charakteristik seines philosophischen Entwicklungsgangs [1822]. Sämtliche Werke, hg. von Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl Bd. 2 (Stuttgart-Bad Cannstatt 21959–1964) 386. 141  Ders.: Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie (1842). Werke ebd. Bd. 2, 241. 142  B. Bauer: Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen (Leipzig 1841, Neudr. Aalen 1969) 70.

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die Weltgeschichte nur die des jeweiligen Einzelnen sein: »Dem Egoisten hat nur seine Geschichte Wert, weil er nur sich entwickeln will, nicht die MenschheitsIdee, nicht den Plan Gottes« usw.143 Arnold Ruge beschwört die Macht der Philosophie; ihre Aufgabe soll die Gestaltung der Zukunft sein. Das Geschäft der Philosophie ist nicht, wie bei Hegel, abgeschlossen, sondern muss »durch die ganze Geschichte hindurch« in die Zukunft fortgesetzt werden,144 um so »zum Princip der geschichtlichen Bewegung des Geistes«, »zur treibenden Kraft, zum prius gegen alles äußere Geschehen« zu werden. »Der Philosoph, der diesen Punkt zu treffen weiß, ist es, welcher am Webstuhl der Zeit sitzt.«145 Unter der Voraussetzung, dass Philosophie, Geist und Denken eine geschichtliche Entwicklung haben, dass sie erst in der Geschichte in die »wirkliche Erscheinung der Freiheit« treten,146 kann der Philosoph die neue Zeit herbeiführen. »Ungeduldige wollen die Geschichte machen, Geduldige wollen sie unschädlich machen. Ohne Zweifel wird sie gemacht.« Der kritische Philosoph ist dazu berufen, »die Schaale der ganzen Vergangenheit«, unter der sich schon ein das Neue entwickelt hat, »zu durchbrechen und abzuwerfen«.147 Einige Autoren unter den Junghegelianern konzipieren den Geschichtsverlauf ausdrücklich religiös-eschatologisch. So fordert August von Cieszkowski, die Erkenntnis der Gesetze des Fortschritts und seine »Manifestationen in der Geschichte« zur Extrapolation der Zukunft zu benutzen.148 Die Zukunft wird so die selbstbewusste Tat der Menschen sein; diese sind so »bewusste Werkmeister«, nicht mehr »blinde Werkzeuge« der Geschichte, indem sie bei der Realisierung des göttlichen Willens in der Geschichte mitwirken.149 Auf Cieszkowski beruft sich wiederholt Moses Hess: Auch er will mit der Kenntnis der zurückliegenden Stadien die kommende Entwicklung prognostizieren: »Die Zukunft als Folge dessen, was geschehen ist.«150 Für Hess wird am 143  M. Stirner: Der Einzige und sein Eigentum (1845), hg. von Ahlrich Meyer (Stuttgart 1972) 411. 144 A. Ruge: Die Allgemeine Litteraturzeitung über Strauß, oder der alte und der neue Rationalismus. In: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst, Bd. 4 (1841) 271. 145  Ders.: Vorwort. Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst Bd. 1 (1841) 2 f. Die Metapher vom »Webstuhl der Zeit« auch in ders.: Die Zeit und die Zeitschrift [1842]. Werke und Briefe, hg. von Hans-Martin Saß Bd. 2 (Aalen 1985 ff.) 69. 146  Ders.: Der Genius und die Geschichte [1839]. Werke und Briefe Bd. 2, a. a.O. [Anm. 145] 218; vgl. Zur Charakteristik von Sealsfield [1841]. Werke und Briefe Bd. 3, 309. 147  Ders.: Die Zeit und die Zeitschrift, a. a.O. [Anm. 145]. Werke und Briefe Bd. 2, a. a.O. [Anm. 145] 68 f. 148  A. von Cieszkowski: Prolegomena zur Historiosophie (1838) (Hamburg 1981) 12. 149 Ebd. 19 f. Vgl. 137: Die »Weltgeschichte ist der Entwicklungsprocess des Geistes der Menschheit in der Empfindung, im Bewusstseyn, und in der Bethätigung des Schönen, Wahren und Guten, ein Entwicklungsprocess, den wir in seiner Nothwendigkeit, Zufälligkeit und Freiheit zu erkennen haben«. 150  M. Hess: Die heilige Geschichte der Menschheit (1837). Philosophische und sozialistische Schriften 1837–1850, hg. von Auguste Cornu und Wolfgang Mönke (Berlin 1961) 47.

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Ende des »nothwendigen Ganges der Geschichte« ein »neues Jerusalem« erscheinen, in dem alle Gegensätze, die bisher in der Gesellschaft geherrscht haben, beseitigt sind und ein auf der »Erkenntniß Gottes« gegründeter Staat steht.151 Aktiven Anteil an der Realisierung der neuen Gesellschaft hat die Philosophie der Geschichte darin, dass sie »Philosophie der That« wird und eine »durchaus providentielle, sittliche, heilige« Kraft entfaltet.152 Damit wird die »neue Geschichte« eine »Geschichte der vermittelten, selbstbewußten Geistesthat«.153 Später erhebt Hess das Judentum zum Träger des geschichtlichen Prozesses. In ihm wird sich das »Gesetz Gottes in der Geschichte« offenbaren,154 obwohl die Gesetze dieser »heiligen Geschichte« im Einzelnen, die »des […] kosmischen, organischen und sozialen Lebens […] noch wenig erkannt« sind.155 Die Autoren des Jungen Deutschland treffen sich in vielem mit den Junghegelianern. Hegels Verdienst um die Geschichtsphilosophie wird anerkannt, die Geschichte aber nicht als abgeschlossen betrachtet. Die Schriftsteller verstehen sich selbst als Verkünder einer neuen Zeit und Bannerträger der Zukunft. Emphatisch gebraucht werden Schlagworte wie »Zeit«,156 »Zukunft«157 und »Bewegung«.158 Der »Geist der Zeit« ist nicht mehr, wie man Goethe unterstellt, der einer zuschauenden »Behaglichkeit«, sondern er »schreibt im Buch des Lebens mit dem ehernen Griffel der Geschichte«.159 Diese Geschichte verläuft aber nicht nach einem vorher konstruierten System, sondern weist so viele Besonderheiten auf, dass die Philosophie sie nicht alle berücksichtigen kann. »In der Weltgeschichte ist nichts als Individualität, Volk, Mensch, Verhältniß und Schicksal sind durch die Individualität in Bewegung […].«160 Die Jung151 

Ebd. 66, 72. Die europäische Triarchie (1841). Philosophische und sozialistische Schriften, a. a.O. [Anm. 150] 85. 153  Ebd. 129, vgl. 216–219. 154  Ders.: Rom und Jerusalem (1862) (Wien/Jerusalem 1935) 99, 51. 155  Ebd. 85 f. 156  Vgl. Ludwig Börne: Sämtliche Schriften, hg. von Inge und Peter Rippmann (Düsseldorf, Darmstadt 1964–1968) Bd. 3, 761: »Die Zeit ist eine Seidenraupe; wollt ihr Seide spinnen, dürft ihr nicht warten, bis sich der Schmetterling entfaltet.«; vgl. Wulf Wülfing: Schlagworte des Jungen Deutschland (Berlin 1982) 127. 157  Vgl. Karl Gutzkow: Briefe eines Narren an eine Närrin (Hamburg 1832, Neudr. Frankfurt/M. 1973) 37: »Ich schreibe jetzt an einer Geschichte der Zukunft.« Ludolf Wienbarg: Ästhetische Feldzüge (1834), hg. von Walter Dietze (Berlin, Weimar 1964) 50: »Deutschland war bisher nur die Universität von Europa, das Volk ein antiquarisches […]. Tausend Hände rührten sich, um der Vergangenheit Geschichte zu schreiben, wenige Hände, um der Zukunft eine Geschichte zu hinterlassen.« 158  Vgl. Theodor Mundt: Ueber Bewegungsparteien in der Literatur. In: Literarischer Zodiakus. Journal für Zeit und Leben, Wissenschaft und Kunst Bd. 1 (Leipzig Jan.-Juni 1835, Neudr. Frankfurt a. M. 1971) 1–20, hier 17: »Die Wahrheit ist wesentlich productiv, und die Productivität ist das größte Prinzip der Bewegung.« 159  L. Wienbarg, a. a.O. [Anm. 157] 188. 160  Th. Mundt: Rez. von: K. Rosenkranz: Das Verdienst, a. a.O. [Anm. 134]. In: Literarischer Zodiakus, a. a.O. [Anm. 158] 411. 152 Ders.:

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deutschen wenden sich aber gegen die Tendenz einiger Zeitgenossen, die vergangene Geschichte zugunsten eines radikalen Neuanfangs zu verleugnen: »Das ist eine Barbarei.«161 Vor allem aber verstehen sie sich als aktive Mitarbeiter an der Geschichte, zumal in einer Zeit, die »vom Sturme bewegt« werde: »Wir sind keine Geschichtsschreiber, sondern Geschichtstreiber.«162 Wie bei den Junghegelianern enthält die Geschichtskonzeption religiös-heilsgeschichtliche bzw., bei Ludolf Wienbarg, ästhetische Elemente: Der Glaube, dass das Göttliche in der Geschichte zur Entfaltung komme,163 erfährt seine Bestätigung besonders in der Kunst,164 vor allem aber durch das Christentum: »Alles hat eine und dieselbe Geschichte, und was eine Geschichte hat, gehört Gott an.«165 Gottes »Emanation« bzw. »Weltwerdung« in der Geschichte bedeutet die Verbindung der einst getrennten Sphären des Göttlichen und Irdischen, das Zusammenfließen »in den Strom einer Geschichte«.166 So wird die Religion des Jungen Deutschland von der Überzeugung getragen, dass die Geschichte zwar das Resultat unserer freien Handlungen ist,167 diese aber ein »Moment« oder »eine Stufe der Gottheit« bilden, so dass wir an jedem Tag an der Realisierung des Göttlichen arbeiten; wir leben, »um […] diesen Gott, der in uns wohnt, zu erzeugen«.168 Die Geschichtsphilosophie hat in diesem Prozess die Funktion »der erleuchtenden Fackel«.169 Heinrich Heine folgt den Junghegelianern zwar darin, dass er die Geschichte auf die Zukunft hin öffnen will, will aber die Gegenwart darüber nicht vernachlässigt wissen. Er weiß, dass eine Geschichtsphilosophie sich erst mit der neueren Philosophie ausbilden konnte und in der Antike noch unbekannt war. In jüngster Zeit waren es vor allem »Ideen«, die als bewegende Kräfte der Geschichte

161 Heinrich

Laube. In: Mitternachtszeitung für gebildete Stände, Nr. 19 (Braunschweig, Leipzig 1836, Neudr. Frankfurt a. M. 1971) 75. Eine solche Destruktion aller bisherigen Geschichte betrieb z. B. L. Börne: Briefe aus Paris, CIX (1833). Sämtliche Schriften Bd. 3, a. a.O. [Anm. 156] 816: »Dumme Geschichte ist ein Pleonasmus. Die Geschichte der Menschheit ist nichts als eine Geschichte der Dummheit.« 162  L. Börne: Briefe aus Paris, XXXI (1831). Sämtliche Schriften Bd. 3, a. a.O. [Anm. 156] 156. 163  L. Wienbarg, a. a.O. [Anm. 157] 115. 164  Ders.: Quadriga (Altona 1840) 321. 165  Ders.: Madonna (Leipzig 1835, Neudr. Frankfurt a. M. 1973) 142. Vgl. ders.: Rez. Über L. Wienbarg: Zur neuesten Literatur. In: Literarischer Zodiacus Bd. 2, a. a.O. [Anm. 158] (Juli– Dezember 1835) 286: »Über Deutschland wird einmal die Sonne der Freiheit blitzen«, hervorgebracht durch den »Gott der Geschichte selber nach ewigen Gesetzen«. 166  Ders.: Madonna, a. a.O. [Anm. 165] 399. 167  K. Gutzkow: Zur Philosophie der Geschichte (Hamburg 1836, Neudr. Frankfurt a. M. 1973) 145. 168  Ebd. 300, 302. 169  Ebd. 61; vgl. Wally, die Zweiflerin, III. Buch: Geständnisse über Religion und Christentum (1835). Werke Bd. 2, hg. von Peter Müller (Leipzig, Wien o.J.) 304: Wir wollen jetzt die »weißen Blätter der Geschichte« beschreiben, denn »wir leben in der Zeit des Heiligen Geistes«, überzeugt, dass der »Weltgeist rastlos wirkt und in uns schafft und die Wahrheit zuletzt nur der Gottesdienst im Tempel der Freiheit ist«.

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Berücksichtigung fanden.170 Heine unterscheidet zwei Typen von Geschichtsauffassung. Die eine sieht in der Geschichte nur das immergleiche Geschehen ohne Fortschritt; zu ihr zählen die Autoren der Historischen Schule. Die andere sieht die Geschichte auf dem Weg zu einem goldenen Zeitalter oder Paradies, zu einer glücklichen idealen Staatsform. Die erste kritisiert Heine als »fatalistisch«; die zweite kritisiert er, obwohl sie ihm eher entspricht, weil sie die Gegenwart zugunsten einer späteren Epoche vernachlässigt: »Der elegische Indifferentismus der Historiker und Poeten soll unsere Energie nicht lähmen […]; und die Schwärmerei der Zukunftbeglücker soll uns nicht verleiten, die Interessen der Gegenwart und das zunächst zu verfechtende Menschenrecht, das Recht zu leben, aufs Spiel zu setzen.«171 Da der Historiker wesentlich ein rückwärtsgewandter Prophet ist und bleibt,172 übernimmt der Dichter dessen Aufgabe der Voraussicht; er soll »ein Geschichtschreiber sein, dessen Auge hinausblicke in die Zukunft«.173 Dem Projekt, die Kunst in den Dienst der »großen sozialen Bewegung« zu stellen, schließt sich auch Richard Wagner an. Seine Zukunftsvision ist der »starke und schöne Mensch«, der im künstlerischen Menschentum eine höhere Menschenwürde verkörpern soll. Der geschichtliche Verlauf, der zu diesem Ziel der »sozialen Entwickelung« führt, lässt sich aber nicht »vorzeichnen«, da in der Geschichte nichts »gemacht« wird, sondern man ihrer »inneren Nothwendigkeit« und ihrem »Strom« folgen muss.174 Gegner des Jungen Deutschland wie Wolfgang Menzel entwerfen ein radikal anderes Bild vom Gang der Geschichte. Zwar verzichtet auch Menzel nicht auf Begriffe wie ›Freiheit‹, ›Emanzipation‹ und ›Gleichheit‹ als Faktoren, die im Lauf der Geschichte realisiert worden sind, aber eine glückliche Zukunft ist für ihn von der Geschichte nicht zu erhoffen; denn auf Erden werden immer Widersprüche bleiben, vor allem der Kampf der Völker und Rassen untereinander, so dass der Geschichte ein »tragischer Zug« eignet.175 Der jungdeutsche Glaube an die Durchsetzungsfähigkeit des Geistes und der Ideen stößt bei Karl Marx und Friedrich Engels auf heftigen Widerspruch. Die wirkliche Geschichte ist für sie nicht die des Gedankens und der Vorstellung, sondern die der ökonomischen Verhältnisse. Die »Geschichte der Industrie« bildet das »aufgeschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte« und ist 170  H. Heine: Aufzeichnungen. Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb Bd. 6/1 (München 1968–1976) 624. 171 Ders.: Verschiedene Geschichtsauffassung [1833]. Sämtliche Schriften Bd.  3, a. a.O. [Anm. 170] 22 f. 172  Heine kennt F. Schlegels Diktum: Shakespeares Mädchen und Frauen (1838/39). Sämtliche Schriften Bd. 4, 230 (über Shakespeare); Die romantische Schule (1835/36). Sämtl. Schriften Bd. 3, 395 (über Schiller). 173  Ders.: Vorrede zur 3. Aufl. der Neuen Gedichte (1851). Sämtliche Schriften Bd. 1, 341. 174  Richard Wagner: Die Kunst und die Revolution (1849). Gesammelte Schriften und Dichtungen Bd. 3 (3Leipzig o.J.) 32 f. 175  Wolfgang Menzel: Geist der Geschichte (Stuttgart 1835) 34 f., 39 f.; vgl. 193–195.

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die einzig »reelle«,176 weil »profane Geschichte«.177 So sind die wiederholten Bemerkungen, »die Geschichte ist unser Eins und Alles«178 oder »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte«179 unter der Voraussetzung zu verstehen, dass die Geschichte auf eine »materialistische Basis« gestellt ist, die des Handels und der Industrie, aus denen die ästhetischen, religiösen, philosophischen etc. »Anschauungsweisen« abgeleitet werden.180 Die neue Form der Geschichte, die soziale Geschichte, zu der England schon vorgedrungen ist, während Frankreich und Deutschland erst allmählich dahin gelangen, ist die der menschlichen Natur allein gemäße Form der Geschichte, d. h. die, in der er allein zu seinem Menschsein kommt, da die für den Menschen grundlegende Geschichte die seiner Bedürfnisse und Produktionsformen ist.181 Da alle bisherige Gesellschaft die »Geschichte von Klassenkämpfen« ist und die »politische und intellektuelle Geschichte« erst darauf aufbauen,182 die bürgerliche Verkehrsform aber die letzte vor der sozialistischen ist, wird diese ganze Geschichte zur bloßen »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft«.183 Menschliche Geschichte als Geschichte der Bedürfnisse und materiellen Interessen einerseits und Naturgeschichte andererseits sind nahezu identisch (»Beide Seiten sind indessen nicht zu trennen.«184); die gesellschaftlichen Kräfte wirken »wie die Natur-Kräfte«.185 Dies bestätigt die »moderne Naturwissenschaft«, bes. die Entdeckungen Darwins; denn hier wurde erwiesen, dass auch die Natur »eine wirkliche Geschichte durchmacht«.186 »Was aber von der Natur gilt […], das gilt auch von der Geschichte der Gesellschaft […] und von der Gesamtheit aller der Wissenschaften, die sich mit menschlichen (und göttlichen) Dingen beschäftigen.« Von der Naturgeschichte unterscheidet sich die Geschichte der Gesellschaft jedoch dadurch, dass in letzterer mit Bewusstsein begabte Menschen das geschichtliche Handeln bestimmen. Da diese sich mit ihren einzelnen Zielen und Zwecken jedoch vielfältig durchkreuzen, entsteht ein gesellschaftlicher Zustand, der »dem in der bewusstlosen Natur herrschenden analog ist«.187 Die neue, die 176 Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844). Marx-Engels-Werke [= MEW] Erg.-Bd. 1, 542 f.; vgl. 579. 177  Ders.: Brief an Pawel Wassiljewitsch Annenkow vom 28.12.1846. MEW Bd. 27, 454. 178  Friedrich Engels: Die Lage Englands (1843). MEW Bd. 5, 545. 179  K. Marx / F. Engels: Die deutsche Ideologie. MEW Bd. 3, 18. 180  Ebd. 28. 181  F. Engels: Die Lage Englands. MEW Bd. 5, 555. 182  K. Marx / F. Engels: Das kommunistische Manifest (1848). MEW Bd. 4, 462; Vorrede zur engl. Ausg. (1888). MEW Bd. 21, 357; vgl. MEW Bd. 20, 25; Bd. 21, 300. 183  K. Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort (1859). MEW Bd. 13, 9. 184  K. Marx, F. Engels: Die deutsche Ideologie. MEW Bd. 3, 18. 185  F. Engels: Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft (31894). MEW Bd. 20, 260. 186  F. Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1882). MEW Bd. 19, 205. 187 Ders.: L. Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1888). MEW Bd. 21, 296 f.

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materialistische Auffassung der Geschichte, »die in der Entwicklungsgeschichte der Arbeit den Schlüssel erkannte zum Verständnis der gesamten Geschichte der Gesellschaft«, hat aber das »Rätsel« gelöst, welches die »Entwicklung der Produktivkräfte und der Austauschverhältnisse« als die »treibenden Ursachen der Geschichte« ausgemacht; sie hat erkannt, dass alle politischen Kämpfe Klassenkämpfe sind, »in der modernen Geschichte wenigstens«.188

VI.  Geschichte und Evolution Wenige Jahre nach Schellings und Hegels spekulativen Geschichtsphilosophien unternimmt es der Positivismus, alle Wissenschaften auf eine strikt empirische Basis zu stellen und den idealen Endzustand von Gesellschaft und Wissenschaft in ein Stadium zu verlegen, das von aller Spekulation losgelöst ist. Auguste Comte misst alle Geschichte nur daran, welche Stufen der menschliche Geist im Laufe seiner Entwicklung, von der religiösen über die metaphysische bis hin zur positiven Epoche, zurückgelegt hat. Dabei spielt der Begriff der Geschichte nur insofern eine Rolle, als er die in diesem Prozess erfolgten Fortschritte markiert. Comte spricht vom »loi fondamentale de développement de l’esprit humain«, seltener von »histoire de l’esprit humain«.189 Die Wissenschaften durchlaufen eine historische Abfolge (»succession historique«), die ihrer dogmatischen Abhängigkeit (»dépendance dogmatique«) untereinander entspricht,190 eine Entwicklung bis zur Vervollkommnung im positiven Stadium. Dieses kann »alle großen Geschichtsepochen als ebenso viele bestimmte Phasen einer gleichen grundlegenden Entwicklung darstellen (représenter convenablement toutes les grandes époques historiques comme autant de phases déterminées d’une même évolution fondamentale), wobei jede aus der vorangehenden hervorgeht und die folgende auf Grund unwandelbarer Gesetze vorbereitet«.191 Schon für Comtes Lehrer Claude-Henri de Saint-Simon gilt, dass die Geschichte einzig in der Beobachtung der Fortschritte der menschlichen Zivilisation (»une série d’observations sur la marche de la civilisation«) besteht, die vom Mittelalter mit der Vorherrschaft der geistlich-feudalen Mächte bis zur Entfaltung der modernen industriellen Gesellschaft reichen.192 Für Saint-Simons Schüler ist die Geschichte sogar eine exakte Wissenschaft (»une science qui prend le caractère de rigueur des sciences exactes«), die die Ordnung in der »langen Folge 188 

Ebd. 307, 299 f. Comte: Cours de Philosophie positive, Bd. 1 (Paris 1830, 51892). Œuvres Bd. 1 (Paris 1968) 4 f., 83. 190  Ebd. 63 f.; ders.: Discours sur l’esprit positif / Rede über den Geist des Positivismus, hg. von Iring Fetscher (Hamburg 31979) 202 / 203. 191  Discours sur l’esprit positif / Rede […] ebd. 126/127. 192  C.-H. de Saint-Simon: L’Organisateur (1819/20). Œuvres de Saint-Simon et d’Enfantin Bd. 20 (Paris 1865–78, Neudr. Aalen 1964) 72; vgl. ders.: Mémoire sur la science de l’homme. Œuvres Bd. 11, 37: »Il faut analyser la marche de l’esprit humain.« 189  Auguste

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von Verkettungen« in der Entwicklung des Menschengeschlechts begreift.193 So hält Émile Littré die Geschichte für eine ebenso exakte Wissenschaft wie die Astronomie, Physik oder Chemie, weil sie auf der Methode der Beobachtung und des Experiments beruht und die in einer bestimmten Ordnung ablaufenden Zustände der »états sociaux« erforscht.194 Und wenn, wie Littré und Ph.-J.-B. Buchez meinen, die Geschichte in erster Linie eine Wissenschaft der Ausbildung der sozialen Phänomene ist, die Geschichtswissenschaft mithin eine Soziologie ist, so kann die »Science de l’Histoire« das Gesetz dieser Entwicklung erkennen und die Zukunft vorhersehen.195 In Weiterführung von Comte hält es John St. Mill für möglich und wünschenswert, dass empirische Gesetze über den Verlauf der Geschichte aufgestellt werden. Das kann aber nur gelingen, wenn die Beobachtungen der Geschichte mit den für die menschliche Natur geltenden Gesetzen kombiniert werden. Das beste Beispiel für ein historisches Gesetz ist das des Fortschritts der intellektuellen Fähigkeiten und des Wissens, aus denen soziale und materielle Fortschritte folgen. Von einer solchermaßen gesicherten »Philosophy of History« sind dann auch Vorteile beim Aufbau des »sociological System« zu erwarten.196 Auf rein empirische Daten, regelmäßig auftretendes und statistisch nachzuweisendes Verhalten der Menschen, stützt Henry Thomas Buckle seine Geschichtsschreibung. Diese sind die beste Grundlage für eine Erforschung der Geschichte analog zu den Naturwissenschaften.197 Die Versuche, soziale Entwicklungen nach dem Muster der Abläufe natürlicher Prozesse zu deuten, nehmen zu, als Darwin für Entwicklungen der Pflanzen und Tiere auch den Begriff ›Geschichte‹ gebraucht.198 Ernest Renan kann schon bald von der Geschichte der Erde, der Sterne und des gesamten Kosmos sprechen, sogar von einer »histoire de la plus vieille période du monde, l’histoire de la fondation de la molécule«: »En somme, ce qu’on appelle l’histoire est l’histoire de la dernière heure.«199 Und die von Ernst Haeckel an die Stelle der alten teleologischen Geschichtsauffassung gesetzte »monistische Weltanschau193 

Doctrine de Saint-Simon, 1er année (1829), éd. par C. Bouglé et Elie Halévy (Paris 1924) 173; dt.: Die Lehre Saint-Simons, hg. von Gottfried Salomon-Delatour (Neuwied 1962) 63. 194 É. Littré: La Science au point de vue philosophique (Paris 41876) 413, 417; vgl. 434: »L’histoire est un phénomène naturel et, à ce titre, soumis à des conditions déterminées que nous ne pouvons modifier sans limite à notre profit.« 195  Philippe-Joseph-Benjamin Buchez: Introduction à la Science de l’Histoire ou Science du développement de l’humanité Bd. 1 (Paris 1833) 49. 196  John Stuart Mill: A System of Logic Ratiocinative and Inductive VI, Bd. 2, 10, § 8 (1843, London 101879) 530; System der deductiven und inductiven Logik Bd. 2 (Braunschweig 1868) 557. 197  H. Th. Buckle: Geschichte der Civilisation in England [1857] Bd. 1 (Leipzig/Heidelberg 1874) 30. 198  Charles Darwin: On the Origin of Species by Means of Natural Selection (London 1859); dt.: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (Stuttgart 1963) 674. 199  Ernest Renan: Les sciences de la nature et les sciences historiques [1863]. Œuvres complètes, éd. par Henriette Psichari, Bd. 1 (Paris 1947) 633–650, hier 641, 644.

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ung« gebraucht den Begriff Geschichte auch für rein biologische Phänomene und spricht demnach von einer »Keimesgeschichte« und »Stammesgeschichte« der Lebewesen.200 An die Stelle des Begriffs Geschichte kann folgerichtig auch der der »Evolution« treten, z. B. bei Herbert Spencer, der damit eine jede sich über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erstreckende Bewegung in der Natur- oder Menschenwelt bezeichnet.201

VII.  Geschichte, Geschichtlichkeit, Leben Die Vorbehalte gegenüber geschichtsphilosophischen Spekulationen, die bis zu deren völliger Ablehnung gehen, nehmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu. Schon früh kritisiert Arthur Schopenhauer an den historischen Konstruktionen, dass sie in ihrem »platten Optimismus« nur auf eine »intellektuelle Vervollkommnung« hinausliefen, statt das Gleichbleibende und Unwandelbare der Geschichte aufzuzeigen.202 Die Geschichte bietet stets dasselbe Bild und kann als »eine Fortsetzung der Zoologie« angesehen werden, da sie, wenn auch unvollkommen, etwas vom Charakter eines Volkes oder einer Epoche vermittelt, das die Tiere, weil sie in ihrer Spezies aufgehen, nicht brauchen. Darüber hinaus bewahrt die Geschichte die wichtigsten Ereignisse der Vergangenheit vor dem Vergessen und rettet sie so »aus dem allgemeinen Schiffbruch der Welt«.203 Anders argumentiert Hermann Lotze. Er kennt zwar einen geschichtlichen Fortschritt, weist aber den Gedanken eines in der Geschichte sich entwickelnden Weltgeistes zurück.204 Auch wenn man im Gang der Geschichte Zwecke und Gesetze entdecken mag, wäre es »die widersinnigste Form des Mysticismus«, wollte man einen Endzweck aller Dinge des Weltlaufs annehmen.205 Es ist zwar verständlich, hinter allem Abmühen der Menschen einen Sinn entdecken zu wollen, doch »die uns bekannten Bruchstücke« der Geschichte erlauben uns keine »Entzifferung des Ganzen« und nur bescheidene Erwartungen auf die Zukunft.206 Die Natur des Menschen bleibt unverändert; Vollkommenheit ist 200 

E. Haeckel: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie (1899) (Leipzig 1926) 164. 201  Herbert Spencer: First Principles of Philosophy (London 1862, 61900) 246–254 (chap. 12); dt. Die ersten Prinzipien der Philosophie (Pähl 2007) 228–235. 202  A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Bd., III, § 38 (1819–44, 31859). Sämtliche Werke Bd. 3, hg. von Julius Frauenstädt und Arthur Hübscher (Leipzig 1938) 506. 203 Ders.: Parerga und Paralipomena II, 19, § 233 (1851). Sämtliche Werke Bd. 6, a. a.O. [Anm. 202] (Leipzig 1939) 474 f. – Den Gedanken, dass die Geschichte eine Fortsetzung der Zoologie sei, hat Schopenhauers Schüler Julius Frauenstädt unter den Prämissen der Evolutionstheorie weitergeführt: Blicke in die intellectuelle, physische und moralische Welt nebst Beiträgen zur Lebensphilosophie (Leipzig 1869) 309 ff. 204  (Rudolf) Hermann Lotze: Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit Bd. 3 (Leipzig 1856–1864) 35, 24. 205  Ebd. 43. 206  Ebd. 53.

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schon deshalb unerreichbar, weil jedem Glück eine vorherige Unvollkommenheit vorangeht. »Und diese Aussicht finden wir nicht verzweifelt«; denn wir verlangen gar nicht danach, »jene goldene Zukunft, von der wir träumen, einst auf Erden anbrechen zu sehen«.207 Wilhelm Diltheys Hauptwerk Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) versteht sich im Untertitel als »Kritik der historischen Vernunft«, will also Kants Kritiken mit einer Untersuchung über die Besonderheit des historischen Verstehens fortführen. Das Spezifische des Geschichtlichen sieht Dilthey darin, dass es, anders als Mill, Buckle u. a. wollten, nicht eine Verlängerung der Welt der natürlichen Gegenstände ist, sondern eine eigene Seinsweise besitzt, insofern sie zwar auch Phänomene der objektiv erfassbaren Wirklichkeit enthält, die sich aber anders zeigen als die physischen Gegenstände. Alle geistigen Erscheinungen zeichnen sich durch eine »geschichtliche Entwicklung« aus; sie werden von den »geschichtlich-gesellschaftlichen Wissenschaften«, den »Geisteswissenschaften«, erforscht. Und das Bewusstsein von dieser Geschichtlichkeit ist selbst geschichtlich: Es entstand erst in jüngster Zeit, mit Herder, der Historischen Schule, Hegel und Tocqueville. Dilthey selbst verortet sich in diesem noch nicht abgeschlossenen Prozess der Begriffsbildung des Historischen. »Die geschichtliche Welt als […] einheitlicher Gegenstand« der Geisteswissenschaften und »das geschichtliche Bewußtsein als ein einheitliches Verhältnis zu ihr« sind erst mit dem Ende des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts »aufgegangen«.208 Dilthey grenzt sich von zwei Richtungen ab: einmal, wie erwähnt, vom Positivismus, der die Geschichte als Kausalnexus versteht, und zum andern von der Geschichtsphilosophie, die das Gesetz des vergangenen und zukünftigen Geschichtsverlaufs festlegen zu können glaubt.209 Der Geschichtswissenschaft und allen Geisteswissenschaften geht es aber vielmehr darum, das Geschichtliche, d. h. dasjenige, was der Mensch hervorbringt und dem er »wirkend sein Gepräge aufgedrückt hat«, nicht zu konstruieren, sondern zu verstehen.210 Dieses Verstehen soll zu keiner »ideellen Konstruktion« nach Art der Geschichtsphilosophie führen, sondern zu einer Analyse der gegenwärtigen Zeit, und es soll, darauf aufbauend, uns ein »allgemeingültiges Wissen der geschichtlichen Welt« liefern.211 Während in Hegels dialektischer Methode, so Dilthey, die »Mannigfaltigkeit des geschichtlichen Lebens« erstarrt ist, bietet sie sich in lebendiger Weise als »Wirkungszusammenhang« dar, der »wertgebend, zwecksetzend, kurz: schaffend« einer Epoche ihr Gepräge und ihre Struktur gibt.212 Die Geschichte 207 

Ebd. 182. Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften Bd. 7 (Stuttgart, Göttingen 71979) 105 f. 209  Ders.: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften Bd. 1 (Stuttgart, Göttingen 71973) 86–104. 210  Ders.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt, a. a.O. Anm. [208] 148. 211  Ebd. 149, 152. 212  Ebd. 155, 157. 208  W.

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gebiert fortwährend Normen, Güter, Werte usw.; der Historiker kann aber nichts über deren Rangfolge, gesetzmäßigen Verlauf oder über einen unbedingten Wert aussagen.213 Ebenso kann die Geschichte nicht, wie die Naturwissenschaften, von strengen Kausalitäten des in ihr herrschenden Wirkens ausgehen, denn von Notwendigkeiten weiß sie nichts, nur »von den Verhältnissen des Wirkens und Leidens, der Aktion und Reaktion«.214 Das heißt aber für Dilthey nicht, dass es keine objektive Geschichte und keine Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte gebe.215 Nur einen Endzweck, auf den alles Geschehen hinausliefe, gibt sie nicht zu erkennen. Entsprechend hat Dilthey vom »Sinn der Geschichte« nur vorsichtig gesprochen. Sinn kann nur in der »Struktur des geschichtlichen Lebens«, »im Bedeutungsverhältnis aller Kräfte gesucht werden, die in dem Zusammenhang der Zeiten verbunden waren«; nicht jedoch indem man einzelne Elemente aus dem gesamten Wirkungszusammenhang eines Zeitalters herauslöst.216 Der Sinn der Geschichte kann nicht von einem Standpunkt außerhalb der Geschichte angegeben werden; er bezeichnet nur den »inneren Zusammenhang« der Elemente der Geschichte, ähnlich wie die Wörter in einem Satz zusammenhängen und die Bedeutung des Satzes ausmachen.217 Wohl aber hat Dilthey den Sinn der Beschäftigung mit der Geschichte hervorgehoben. Für den einzelnen Menschen wird die Geschichte insofern wichtig, als sie uns die Veränderlichkeit und »Bedingtheit« unseres Daseins vor Augen führt. Dadurch werden wir »frei«, aber in gewisser Weise auch »unsicher«. 218 Andererseits erleben wir die Geschichte immer schon in Zusammenhängen von Werten und Zwecksetzungen, und diese dienen uns als »Hilfsmittel« zur Orientierung auf »diesem weiten Meer«. Überhaupt wird die Geschichte nicht erst in Begriffen erkannt, sondern sie liegt uns in Begriffen und Ausformungen schon vor.219 Und der Mensch ist nicht nur Erforscher und Betrachter der vergangenen Geschichte; er steht vielmehr mitten im geschichtlichen Leben: »Die geschichtliche Welt ist immer da, und das Individuum betrachtet sie nicht nur von außen, sondern es ist in sie verwebt.«220 Schließlich eröffnet die Geschichte auch eine Perspektive auf die Zukunft. Gerade die Vergänglichkeit, das »historische Bewußtsein von der Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung«, macht den Menschen frei, da er sich so jedem einzelnen Moment widmen und ihn wertvoll finden kann. Gleichzeitig weiß er von der »Kontinuität der schaffenden Kraft als […] kernhafter historischer Tatsache«.221 213 

Ebd. 173. Ebd. 197. 215  Z. B. ebd. 151, 155, 132. 216  Ebd. 187; vgl. 261: »Geschichtlich ist das Leben, sofern es in seinem Fortrücken in der Zeit und dem so entstehenden Wirkungszusammenhang aufgefasst wird.« 217  Ebd. 235. 218  Ebd. 252. 219  Ebd. 258. 220  Ebd. 277. 221  Ebd. 290 f. 214 

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Für die Gemeinschaft bildet die Geschichte das »Gedächtnis«, das »produktiv wirkt für das Gemeinschaftsleben der Menschheit«.222 Leben und Geschichte gehen auf diese Weise bei Dilthey ineinander über; das Leben bleibt aber die Grundtatsache; die Geschichte ist »ein Teil des Lebens überhaupt«.223 Beide bringen, und zwar nicht erst durch den Historiker, »Sinn und Bedeutung« hervor. Sie entstehen schon im Menschen und in seiner Geschichte, oder vielmehr, wie eine wiederholte Bemerkung Diltheys lautet, »im geschichtlichen Menschen. Denn der Mensch ist ein geschichtliches [Wesen].«224 Darin ist impliziert, dass derjenige, der die Geschichte erforscht, mit dem, der die Geschichte lebt, erlebt und macht, sich identifizieren kann, dass der Mensch nicht aus der Geschichte heraustreten kann.225 Eine Anthropologie kann demnach nicht ein unhistorisches, immer gleich bleibendes Wesen des Menschen zugrunde legen, denn dies wäre eine Abstraktion von der geschichtlichen Wandelbarkeit. »Der Mensch erkennt sich nur in der Geschichte, nie durch Inspektion.« Auch die Philosophie und jede Erkenntnis durch den Verstand allein verhindern, dass der Mensch »ins Freie der wirklichen geschichtlichen Welt« gelangt.226 Paul Graf Yorck von Wartenburg teilt mit seinem Freund Dilthey das eminente »Interesse« an der Geschichte, formuliert aber manche Zusammenhänge pointierter als dieser.227 Vor allem fragt er eindringlicher nach der spezifischen Geschichtlichkeit der Geschichte. Historische Gestalten werden, wenn sie als historische verstanden werden, »flüßig gemacht«, d. h. sie werden nicht nur – wie in der Historischen Schule (Ranke) – als Träger historischer Potenzen, sondern als lebendige Subjekte betrachtet.228 Wahre Geschichtlichkeit verliert sich nicht im Antiquarischen; sie bezieht ihre eigene Existenz in die »Vergeschichtlichung« ein; beide sind wie »Athmen und Luftdruck«.229 Ein genuines Verständnis von Geschichtlichkeit, wie es erst die Neuzeit herausgebildet hat, bedeutet, dass die Geschichte nicht als mehr oder weniger »gelungene Annäherung an die […] Wahrheit« gesehen wird; sonst wäre sie bis zur Offenbarung der vollen Wahrheit nur bloße »Vorgeschichte« und danach (statische) »Natur«. Dagegen besteht das neuzeitliche Verständnis von Geschichte gerade darin, dass »ihre Historizität als 222 

Ebd. 264. Ebd. 261; vgl. 256. 224  Ebd. 291. 225  Ebd. 278; vgl. 191, 277. 226 Ebd. 279 f.; vgl. Frithjof Rodi: Pragmatische und universal-historische Geschichtsbetrachtung. Anmerkung zu Diltheys Skizzen einer Historik. In: Dilthey und Yorck, hg. von Jerzy Krakowski und G. Scholtz (Wrocław 1996) 119–134. G. Scholtz: Diltheys Geschichtstheorie. In: Diltheys Werk und die Wissenschaften, hg. von ders. (Göttingen 2013) 131–148. 227  Paul Yorck von Wartenburg: Brief an Dilthey vom 4.6.1895. Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck v. Wartenburg 1877–1897 (Halle a.d. Saale 1923) 185. Zu Differenzen zwischen Dilthey und Yorck vgl. die Bemerkungen ebd. 68, 125, 193. 228  Ders.: Brief an Dilthey vom 6.7.1886. Briefwechsel 59 f. 229  Ders.: Brief an Dilthey vom 4.12.1887. Briefwechsel 69. Das Wort ›Vergeschichtlichung‹ auch ebd. 101. 223 

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Ferment der Lebendigkeit« begriffen wird.230 Deshalb gibt es letztlich keinen Gegensatz von Historischem und Systematischen. Aus dem Leben geht die »geschichtliche Lebendigkeit« hervor: »Nur was der Kraft nach gegenwärtig, in der Gegenwart aufzeigbar ist, gehört zum Bereich der Geschichte.«231 Lebendige Geschichte heißt, dass historische Prägungen von Epoche zu Epoche durch »Kraftübertragung« weitergegeben werden. Ohne diese gäbe es keine Geschichte. Der Rationalismus kennt kein Leben und keine Geschichtlichkeit.232 Während das »Ontische« durch Aneignung von Zusammenhängen erkannt wird, bedarf »das Menschliche oder Historische« solcher Übertragung nicht, da es unmittelbar erfahren wird.233 Anders als Dilthey lässt Yorck den Begriff ›Philosophie der Geschichte‹ durchaus gelten: Sie kommt ohne historische Konstruktionen aus, weiß aber, dass es der Mensch ist, der den Stoff ergreift und ihn erkennt. Dieses Erkennen, dessen »Fatalität« allerdings darin besteht, dass es niemals »voll und ganz« die Lebendigkeit »zum Ausdruck bringen« kann,234 bedeutet zugleich eine »Entäußerung«, eine »Vergeschichtlichung des Menschen«.235 Auch hierin besteht für Yorck Philosophie, eine historische Philosophie, denn es gibt »kein wirkliches Philosophiren, welches nicht historisch wäre«.236 Für Jacob Burckhardt ist die Historie, nach den Erschütterungen der Französischen Revolution, vor allem als »Gegengewicht« nötig, damit die Gegenwart »nicht alle Besinnung verlieren soll«. »Nur aus der Betrachtung der Vergangenheit gewinnen wir einen Maßstab der Geschwindigkeit und Kraft der Bewegung, in welcher wir selber leben.«237 Das bedeutet aber nicht, dass der Historiker die Zukunft voraussehen könne. In ausdrücklicher Abkehr von Hegel verwirft Burckhardt alle Geschichtsphilosophie, weil sie das Vergangene nur als »Vorstufe« zur erfüllten Gegenwart behandelt und nicht, wie der wahre Historiker, in ihr »das sich Wiederholende, Konstante, Typische als ein in uns Anklingendes und Verständliches« erkennt.238 Würde man der Geschichte ein bestimmtes Ziel vorgeben, würde man das Wirken der »geschichtlichen Mächte« verkennen, die sich im Werden und Vergehen äußern und denen der Zeitgenosse »passiv […] beschauend gegenübertreten« kann.239 Denn der Geist wandelt sich zwar geschichtlich, ist aber als ganzer nicht vergänglich; der Historiker wird das »Erbe« 230 Ders.:

Bewußtseinsstellung und Geschichte, hg. von Iring Fetscher (2Hamburg 1991)

33 f., 36. 231  Ders.: Brief an Dilthey von Nov./Dez. 1893. Briefwechsel, a. a.O. [Anm. 227] 167. 232  Ders.: Brief vom 15.12.1892. Briefwechsel, ebd. 155. 233  Ders.: Brief vom 15.1.1896. Briefwechsel 203; zu »ontisch – historisch« vgl. bes. 191. 234  Ders.: Bewußtseinsstellung, a. a.O. [Anm. 230] 84. 235  Ders.: Brief an Dilthey vom 22.8.1896. Briefwechsel, 223. 236 Ders.: Brief an Dilthey vom 11.2.1884. Ebd. 251. Vgl. Gudrun Kühne-Bertram: Paul Yorck von Wartenburgs Philosophie der »Lebendigkeit« und der »Geschichtlichkeit«. In: Archivio di Storia della Cultura 24 (2011) 93–107. 237  J. Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, a. a.O. [Anm. 1] 11. 238  Ebd. 3. 239  Ebd. 5.

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der Geschichte anerkennen, um der »Barbarei« der »Geschichtslosigkeit« zu entgehen.240 Einen sittlichen Fortschritt anzunehmen, hält Burckhardt für lächerlich und dünkelhaft gegenüber den Leistungen vergangener Epochen. Das Streben nach Bildung ist nur ein Streben nach »Wohlleben« und finanzieller Besserstellung.241 Und die Kategorien »Glück und Unglück« sind aus der Weltgeschichte zu verbannen.242 Eine ebenso deutliche Abwendung von aller Geschichtsphilosophie vollzieht Friedrich Nietzsche. Er verbindet sie mit einer vehementen Kritik am Geschichtsverständnis seiner Zeit überhaupt. Der moderne Mensch glaubt sich »hoch und stolz auf der Pyramide des Weltprozesses« und rechtfertigt erst rückblickend den Gang der Geschichte als vermeintlich notwendigen.243 Eine ebenso heftige Kritik richtet sich gegen Gesetze in der Geschichte: »Soweit es Gesetze in der Geschichte giebt, sind die Gesetze nichts werth und ist die Geschichte nichts werth.«244 Betrug an der Masse, an der Arbeiterschicht – durch »Einrühren« der Historie in sie werden deren rohe Instinkte gedämpft und zu einem »verfeinertem Egoismus« herabgestimmt245 – bedeutet vor allem Betrug an der Jugend, der man »nicht mehr erlaubt, unhistorisch zu empfinden und zu handeln«,246 sondern nur den »möglichst früh nutzbaren wissenschaftlichen Menschen« hervorzubringen.247 »Das Uebermaass von Historie hat die plastische Kraft des Lebens angegriffen, es versteht nicht mehr, sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen.«248 Das historische Bewusstsein als ein »Sinn und Instinkt für alles« muss zur »Abstumpfung« gegenüber dem wirklich Wertvollen führen.249 Da der »historische Sinn« immer Gerechtigkeit üben will, »entmutigt« er den »schaffenden Instinct«, die Kraft der Religion, die unbedingte Liebe usw.250 Er ist ein Sinn der Nachkommen und Epigonen, ist insofern »immer noch eine verkappte Theologie«, als er zur Passivität erzieht.251 Die Griechen hatten in 240 

Ebd. 6. Ebd. 48, 50. 242  Ebd. 181–196. 243  F. Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874). Kritische Gesamtausgabe Bd. III/1, a. a.O. [Anm. 2] 309. 244  Ebd. 316. 245  Ebd. 318. 246  Ebd. 319. 247  Ebd. 322. 248  Ebd. 325. 249  Ders.: Unzeitgemäße Betrachtungen I, a. a.O. [Anm. 2]. Der historische Sinn ist jedoch empfehlenswert, um vor der Überschätzung der Gegenwart zu schützen: »Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen«. Menschliches, Allzumenschliches I, 2 (1886). Gesamtausgabe Bd. IV/2, 20. 250  Ders.: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. a. a.O. [Anm. 243] 291 f. 251 Ebd. 301; vgl. ders.: Richard Wagner in Bayreuth. Gesamtausgabe Bd. IV/1, 17: »[…] immer noch eine verkappte christliche Theodicee« und »Opiat gegen alles Umwälzende und Erneuernde.« 241 

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ihrer Blütezeit nur »einen unhistorischen Sinn«, während die Modernen an der Historie als Wissenschaft kranken.252 Allerdings – Nietzsche greift hier ausgiebig auf eine medizinische Metaphorik zurück – ist die »historische Krankheit« heilbar, und zwar durch das »Unhistorische und das Ueberhistorische«. Ersteres ist das Vergessen, letzteres sind Kunst und Religion, weil sie nicht vom Werden ausgehen, sondern vom »Seienden, Ewigen«. In der Gefährdung und Hemmung des Lebens durch das historische Bedenken, Zweifeln, Erkennen bedeuten »das Unhistorische und das Ueberhistorische […] die natürlichen Gegenmittel gegen die Überwucherung des Lebens durch das Historische, gegen die historische Krankheit«. Gesundung ist nur möglich, wenn die »Herrschaft des Lebens« über die der Geschichte ersetzt wird, »in jenem dreifachen Sinne, nämlich monumental, oder antiquarisch oder kritisch«. Nur so kann man »von neuem Historie treiben«,253 vorausgesetzt, der Arzt vermag das »Heilmittel« richtig einzusetzen.254 Nietzsche fragt nicht, was die Geschichte sei, sondern wie man mit ihr umgehen soll. Die Beschäftigung mit ihr steht von vornherein in der Spannung zum Leben und zur Tat: »Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es giebt einen Grad, Historie zu treiben, und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet.«255 Während das Tier »unhistorisch« und gerade deshalb glücklich ist,256 kann der Mensch das Erinnern nicht vermeiden; deshalb gilt es, das richtige Verhältnis zwischen Leben und Geschichte zu finden: »Das Unhistorische und das Historische ist gleichermaassen für die Gesundheit eines Einzelnen, eines Volkes und einer Cultur nötig.«257 Die Fähigkeit zu vergessen ist aber die wichtigere; denn nur so hindert das Historische nicht an der Tat. Ein »Uebermaass von Historie« würde den Menschen von sich selbst entfremden; erst die »Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen«, macht ihn zum Menschen.258 Der Dienst, den die Historie dem Leben gegenüber leisten kann, kann nur eine Kraft zum leidenschaftlichen Handeln sein und muss deshalb von dieser »geführt« werden. »Die historische Bildung ist vielmehr nur im Gefolge einer mächtigen neuen Lebensströmung, einer werdenden Cultur zum Beispiel, etwas Heilsames.« Sie soll selbst »herrschen und führen«. Die Historie kann insofern nur »im Dienste des Lebens […] einer unhistorischen Macht« stehen.259

252 

Ders.: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, a. a.O. [Anm. 243] 269, 267. Ebd. 326–328. 254  Ders.: Menschliches, Allzumenschliches II, 2, a. a.O. [Anm. 249] Gesamtausgabe Bd. IV/3, 272. 255  Ders.: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, a. a.O. [Anm. 243] 241. 256  Ebd. 245. 257  Ebd. 248. 258  Ebd. 249. 259  Ebd. 253. 253 

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Dilthey und Burckhardt lehnten zwar die Geschichtsphilosophie ab, entwickelten aber ein umso größeres Interesse an den geschichtlichen Kräften. Nietzsches radikales Plädoyer für die Verabschiedung aller Geschichte zugunsten der Unterordnung der Historie unter das Leben vermochte nicht, das Interesse an der Geschichte nachhaltig zu unterminieren. Die Geschichtswissenschaft war bereits zu einer anerkannten und weit verbreiteten Wissenschaft geworden. Auch der Begriff Geschichtsphilosophie bleibt durchaus in Gebrauch. Auf die völlige Erklärung der vergangenen und die Vorzeichnung der zukünftigen Geschichte soll dabei aber, so wird oft gefordert, verzichtet werden. 260 Die sich als theologische Heilsgeschichte verstehende Geschichtsphilosophie braucht darauf allerdings keine Rücksicht zu nehmen.261 Überall da, wo die einzelnen Bestandteile einer Geschichte zu einem zusammenhängenden Ganzen, zu der Geschichte, gefasst und als bedeutend hervorgehoben werden, tritt die (Geschichts-)Philosophie auf den Plan, vor allem dann, wenn der Gang der Geschichte in die Zukunft extrapoliert werden soll.262 »In diesem Sinne kann man sagen, daß die Geschichte im Großen und das, was in der Geschichte sich bewegt, der Mensch, eine Zukunft habe. Die Geschichte ist die Exposition einer Idee, welche die Geschichtsphilosophie begreifen will.«263 Wo die Geschichtswissenschaft um ihren wissenschaftlichen Status fürchten muss, tritt die Philosophie auf, um deren methodologisch-wissenschaftstheoretische Fragen zu lösen, insbesondere, wenn es gilt, gegenüber den Naturwissenschaften und der Psychologie den eigenständigen Charakter der Geschichte zu behaupten. Das übernimmt die formale Geschichtsphilosophie; z. B. die von Antonio Labriola, der gegen Buckle und den Darwinismus vor allzu weitgehenden Abstraktionen warnt;264 aber auch die von Benedetto Croce, der den erzählenden Charakter der Geschichtsschreibung herausarbeitet.265 Besonders die Geschichtsphilosophie des Neukantianismus arbeitet an diesen Fragen weiter. So bestimmt Wilhelm Windelband für die Naturwissenschaften, dass sie allgemeine Gesetze aufstelle, also »nomothetisch« verfahre und Abstraktionen vornehme, während die Geschichte sich mit »besonderen geschichtlichen Tatsachen« be260 

Conrad Hermann: Philosophie der Geschichte (Leipzig 1870) 663. Rocholl: Die Philosophie der Geschichte, Bd. 2 (Göttingen 1893) 588 ff.; 597: »Die Bewegung der Geschichte dieser Welt des Menschen […] schliesst voll befriedigt wie ein großer Tonbau in mächtigem Akkord zur Ehre dessen ab, der ihr Schöpfer und Führer war.« 262  Gebhard Mehring: Die philosophisch-kritischen Grundsätze der Selbst-Vollendung oder die Geschichts-Philosophie (Stuttgart 1877) 6. 263  Ebd. 210. 264  A. Labriola: I problemi della filosofia della storia [1887], dt.: Die Probleme einer Philosophie der Geschichte (Leipzig 1888) 26. Später entwickelt Labriola einen materialistischen Geschichtsbegriff, der im Sozialismus starken Einfluss gewinnt: Essais sur la conception matérialiste de l’histoire (Paris 1896, 21928). 265  B. Croce: La storia ridotta sotto il concetto generale dell’arte [1893], dt.: Die Geschichte auf den Begriff der Kunst gebracht, hg. von Ferdinand Fellmann (Hamburg 1984) 36, 38 f. Croce wendet sich gegen Ernst Bernheim: Lehrbuch der historischen Methode (Leipzig 21894) bes. 88: »streng wissenschaftlicher Betrieb der Geschichte«. 261 Rudolf

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fasse, also »idiographisch« vorgehe.266 Bei Heinrich Rickert lauten die entsprechenden Begriffe »generalisierende« und »individualisierende« Methode.267 Der Neukantianismus geht jedoch auch zu inhaltlichen Bestimmungen weiter. So ist es Windelbands Anliegen, den Prozess der Geschichte als allmählich wachsende Überzeugung von der Einheit des Menschengeschlechts zu fassen, und – gegen das sich ausbreitende Rassedenken seiner Zeit – die über die biologische Natur hinausgehende Zusammengehörigkeit der Menschen als Aufgabe der gegenwärtigen und künftigen Geschichte zu fassen.268 Nach Rickert weisen die Aufgaben der Geschichtsphilosophie auf die in der Geschichte sich herausbildenden und geltenden Werte in ihrer sukzessiven Verwirklichung; sie gilt es zu untersuchen, »um so zu begreifen, wo wir heute in dem Entwicklungsgange stehen, und wo wir unsere Aufgabe für die Zukunft zu suchen haben«.269 Gegenüber dem Neukantianismus, der die methodologischen Fragen von denen der Wertsetzung trennt, verweist Georg Simmel darauf, dass beide Sphären miteinander verknüpft sind und schon das Interesse am Geschichtlichen immer über die Frage nach der Theorie der Geschichte hinausgeht. Die Aufgabe einer Erkenntniskritik des Historischen führt zu dem Ergebnis, dass die »geistige Wirklichkeit« und mit ihr die Geschichte ein Produkt des erkennenden Subjekts ist, »aus dem formenden Ich hervorgegangen«.270 Damit verwoben ist wie bei jeder Wissenschaft, auch der der Natur, die Frage nach den »übertheoretischen Interessen«; bei der Geschichte ist es die nach deren Sinn und Wert, »ohne die es zu einer Historik als Erkenntnis des Geschehenen nie kommen würde«. Dies mündet in eine, wie Simmel sie nennt, »Metaphysik der Geschichte«, die aufzeigen kann, dass sich in der Geschichte Projektionen von dem auftun, was im »Innerlichsten«, »in den subjektivsten Schichten der Seele« ruht und in der Geschichte zur Darstellung in der Außenwelt strebt.271

266 W. Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft [1894]. Präludien Bd. 2 (Tübingen 1924) 136–160, hier 144 f. 267  H. Rickert: Geschichtsphilosophie. In: Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts (Heidelberg 1904) 321–422, hier 334 f. 268  W. Windelband: Geschichtsphilosophie. Eine Kriegsvorlesung (Berlin 1916) 57. 269  H. Rickert, Geschichtsphilosophie, a. a.O. [Anm. 267] 419. Gegen Rickert, Windelband u. a. insistiert Theodor Lindner: Geschichtsphilosophie (Stuttgart/Berlin 1901, 31912) 218 f. auf der Einheit von Geschichte und Natur. 270 Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (21905/07). Gesamtausgabe Bd. 8 (Frankfurt a. M. 1997) 230. 271  Ebd. 392 f.

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VIII.  Metaphern für Geschichte Die Metaphern, die im 19. Jahrhundert das Abstraktum Geschichte versinnbildlichen,272 differieren stark voneinander und sind in dieser Differenz aufschlussreich für das wechselnde Verständnis der Geschichte. So ist es signifikant, wenn Schlegel einen »Newton« der Geschichte erhofft,273 während Droysen bescheidener die Geschichte auf Erfahrung gründet und deshalb nur einen neuen »Bacon« erwartet.274 Eher passiv verhält sich der Historiker, wenn er, wie Humboldt, nicht in den »Strom« der Geschichte eingreifen zu sollen glaubt,275 oder wenn er, wie Ranke, die Geschichte als Zeichen, als zu deutende »heilige Hieroglyphen« begreifen will.276 Anders argumentiert Schelling. Er wählt die alte Metapher vom Theater und deutet sie in seinem Sinne um. Die Menschen sind nicht nur Schauspieler, die eine Rolle erlernt haben, sondern sie schreiben am ›Skript‹ mit. Die Geschichte ist eine Bühne, auf der Dichter und Aufführende nicht getrennt agieren: Wir sind »Mitdichter des Ganzen und Selbsterfinder der besonderen Rolle, die wir spielen«.277 Mehrmals wird die alte Metapher vom Buch der Natur umgewandelt zur Metapher vom Buch der Geschichte. Von diesem neuen Buch und nicht mehr von dem von Gott geschriebenen und letztlich nur mit seiner Hilfe zu lesenden Buch erhofft man sich jetzt Aufschluss über die Geheimnisse des Lebens. Heinrich Heine, der sich offen zur »Weltansicht« des »Pantheismus« bekennt, schreibt: Gott »lebt in dieser beständigen Manifestation, Gott ist in der Bewegung, in der Handlung, in der Zeit, sein heiliger Odem weht durch die Blätter der Geschichte, letztere ist das eigentliche Buch Gottes«.278 Das aktive Mitgestalten an der Geschichte erfordert dagegen andere Metaphern. Wienbarg will »im Buch des Lebens mit dem ehernen Griffel der Geschichte« schreiben,279 Ruge am »Webstuhl der Zeit« tätig sein280 und Börne als »Seidenraupe« aktiv »Seide spinnen« für die kommende Welt.281 Wenn Tocqueville dagegen die Geschichte mit einer »Gemäldegalerie« vergleicht, in der es »wenige Originale und viele Kopien gibt« 272 

Grundlegend dazu: Alexander Demandt: Metaphern für Geschichte (München 1978). F. Schlegel, [Rez. zu] Condorcet, a. a.O. [Anm. 94]. 274  J. G. Droysen, Historik, a. a.O. [Anm. 121]. 275  W. von Humboldt, Betrachtungen über die Weltgeschichte, a. a.O. [Anm. 89]. Vgl. A. Demandt, Metaphern für Geschichte, a. a.O. [Anm. 272] 172–176. Ferner: Th. Lindner, Geschichtsphilosophie, a. a.O. [Anm. 269] 2; vgl. 220: »So steht die Geschichte vor uns wie ein Schauspiel, von dem wir nur den ersten Akt sehen, dessen weitere Fabel uns unbekannt ist.« 276  L. von Ranke, Brief an Heinrich Ranke Ende März 1820, a. a.O. [Anm. 119]. 277  F. Schelling: System des transzendentalen Idealismus. Sämmtliche Werke Bd. 3, a. a.O. Anm. [48] 602. 278  H. Heine: Die romantische Schule. Sämtliche Schriften Bd. 3, a. a.O. [Anm. 170] 394 f. Vgl. Bd. 3, 21: »Das Buch der Geschichte findet mannigfaltige Auslegungen.« 279  L. Wienbarg, Ästhetische Feldzüge, a. a.O. [Anm. 157]. 280  A. Ruge, Die Allgemeine Litteraturzeitung über Strauß, a. a.O. [Anm. 145]. 281  L. Börne, Sämtliche Schriften, a. a.O. [Anm. 156] (Brief aus Paris, 104). Vgl. A. von Cieszkowski, Prolegomena zur Historiographie, a. a.O. [Anm. 148]. 273 

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(»une galerie de tableaux où il y a peu d’originaux et beaucoup de copies«), so erwartet er von der Geschichte nichts wesentlich Neues mehr, an dem mitzugestalten sich lohnte.282 Dagegen greift Marx wieder zur Metapher vom Buch der Geschichte: Die »Geschichte der Industrie« ist das »aufgeschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte«, d. h. die endlich gelungene Enträtselung des geheimnisvollen Wirrwarrs der Geschichte.283 Auch Engels spricht vom aufgelösten »Rätsel« der Geschichte und bekräftigt so den Anspruch auf alleinige Deutungshoheit der Geschichte.284 Diese Verfügungsmacht lässt sich nicht aufrechterhalten. Der Sozialismus des späten 19. Jahrhunderts, etwa Karl Kautskys, sieht sich vor andere Fragen gestellt. Er will die Hoffnung auf die alle Widersprüche aufhebende Revolution zwar nicht aufgeben, aber ihr Kommen in Ruhe abwarten; und dafür eignet sich immer noch ein religiös-philosophisches Vokabular: »[…] über kurz oder lang […] schlägt die Stunde des Gerichtes, die Stunde der Erlösung!«285 Wie man sie auch begreift, die Geschichte lässt sich, im 19. Jahrhundert und danach, schwerlich umgehen, und sie ist nicht nur Last oder gar, wie Nietzsche meinte, »Opiat« und »Krankheit«.286 Würde man die Geschichte auf diese Weise disqualifizieren, bliebe ja nur die Entscheidung gegen sie, d. h. für die Gesundheit. Aber wahrscheinlich braucht die Geschichte gar nicht, wie Nietzsche ebenfalls meinte, in den Dienst des Lebens gestellt zu werden, weil das Leben die Geschichte schon einschließt, da es selbst geschichtlich ist. Dies gilt auch für den Begriff der Geschichte, der sich immer neuen Ausdeutungen stellen muss und darin sein Leben dokumentiert.

282 Alexis

de Tocqueville: Der alte Staat und die Revolution II, 6 (1856), dt. hg. von J. P. Mayer (Bremen 1959) 87 Œuvres complètes Bd. 2/1 (Paris 1952) 133. An anderer Stelle schreibt Tocqueville: »Wenn die Menschheit immer die gleiche bleibt«, lehrt »die Vergangenheit nicht viel über die Gegenwart, da »die alten Bilder, die man in neue Rahmen zwängen will, immer schlecht wirken« (»font toujours un mauvais effet«). Ders.: Erinnerungen I, 4 (Stuttgart 1954) 77 f. Œuvres complètes Bd. 12 (Paris 1964) 59. 283  Siehe Anm. 176. 284  F. Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1888). MEW Bd. 21, 299. 285  Karl Kautsky: Verschwörung oder Revolution? In: Der Sozialdemokrat (20.2.1881); vgl. Lucian Hölscher: Weltgeschichte oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich (Stuttgart 1989) 259. 286  F. Nietzsche, a. a.O. [Anm. 250].



Alois Hahn und Matthias Hoffmann

Klasse

Bereits im Frankreich des 18. Jahrhunderts wurde der Begriff ›Klasse‹ neben den älteren Begriffen ›ordre‹ und ›état‹ (beide für ›Stand‹) zur Bezeichnung einer sozialen Gliederung gebräuchlich. Vor allem die von den Physiokraten vorgenommene Einteilung der Bevölkerung in »classe productive«, »classe des propriétaires« und »classe stérile« wurde für die Folgezeit wirksam. Während Adam Smith anstatt von »classes« zumeist noch von »orders« spricht, diese aber rein ökonomisch begreift, tritt in der Französischen Revolution ›classe‹ oft an die Stelle des überholten Begriffs ›Stand‹, allerdings in einem noch wenig eindeutigen Sinn. In Deutschland stehen beide Begriffe, was typisch für die Zeit des Übergangs sein dürfte, wenig voneinander abgegrenzt nebeneinander. Einflussreich unterscheidet Henri de Saint-Simon die »classe des industriels« (Unternehmer, Bauern, Kaufleute, Handwerker, Bankiers, Arbeiter) von der »classe bourgeoise« (Juristen, Staatsbeamte etc.) und der »classe noble« (Rentiers, Klerus, Militär). Er prognostiziert, dass mit der Übernahme der Herrschaft durch die »classe des industriels« die Antagonismen der Klassen verschwinden würden.1 Neben weiteren Einteilungen der sozialen Klassen bei Auguste Blanqui, William Thompson und Simon de Sismondi wurde für Marx, Engels und den Sozialismus besonders die von Lorenz von Stein bedeutsam: Dieser erkennt als »neue Classe« die der Maschinenarbeiter2 und konzipiert eine Ordnung von drei Klassen, die der Kapitalisten, der kleinen Unternehmer und der Arbeiter. Diese stehen nicht statisch nebeneinander, sondern wechseln sich im Kampf um die Herrschaft ab: Die Kapitalbesitzer sehen sich mit der nach Freiheit strebenden unterworfenen Klasse konfrontiert. Der Kampf kommt nur durch das über den Klassen stehende und die »reine Staatsidee« vertretende »Königtum der gesellschaftlichen Reform« zum Ausgleich.3 Bei Marx und Engels ist Voraussetzung für die Entstehung von Klassen überhaupt die Erreichung eines bestimmten Standes der Produktivkräfte, der die Erzeugung eines Mehrprodukts ermöglicht. Damit ist gemeint, dass die Gesell1  Henri

de Saint-Simon: Catéchisme des industriels (1823/24). Œuvres de Saint-Simon et d’Enfantin, Bd. 37 (Paris 1865–78, Neudr. Aalen 1963–64) 8 f. 2  Lorenz von Stein: Der Begriff der Arbeit und die Prinzipien des Arbeitslohnes in ihrem Verhältnis zum Socialismus und Communismus. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 3 (1846) 281 f., 263. 3 Ders.: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (1850), hg. von Gottfried Salomon, Bd. 1 (München 1921) 451 f., 455 f.; Bd. 3, 140 f., 40 f.; vgl. Friedhart Hegner: Art. ›Klasse, soziale‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4 (Basel 1976) 848–853; Werner Conze, Rudolph Walter: Art. ›Stand, Klasse‹. In: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 6 (Stuttgart 1990) 155–284, bes. 220–269. Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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schaft mehr erzeugt als für die Daseinssicherung und Reproduktion der Produzenten nötig ist. Nicht nur Marx, sondern auch zahlreiche andere bürgerliche Theoretiker vor und nach ihm sind deshalb davon ausgegangen, dass Gesellschaften mit einem sehr niedrigen Stand der Technik gar nicht in der Lage sind, ein Mehrprodukt zu erzeugen. Einfacher formuliert: Alle überhaupt Arbeitenden erzeugen nicht mehr Lebensmittel als nötig, um sich selbst und ihre Angehörigen schlicht am Leben zu erhalten. Erst wenn es also eine wie auch immer geringe Überschussproduktion gibt, kann die Frage entstehen, ob es Schichten gibt, die, obwohl sie sich nicht an der Erzeugung des Gesamtprodukts beteiligen, dennoch durchsetzen können, dass sie über einen Teil des Mehrprodukts verfügen. Marx und mit ihm nahezu alle seine Zeitgenossen und Vorläufer, gehen davon aus, dass die Mehrzahl der vor-hochkulturellen Gesellschaften – Marx spricht von der primitiven Urgesellschaft – sich nicht in dieser Lage befunden haben. Die gesellschaftliche Evolution beginnt also klassenlos. Es sind die frühen Hochkulturen (China, Indien, die mesopotamischen Hochkulturen, das alte Ägypten oder das antike Rom), in denen auf Grund ganz verschiedener Umstände Klassen entstehen können, in denen es einer Oberschicht gelingt, sich das erzeugte Mehrprodukt teilweise anzueignen. Damit ist auch von allem Anfang an zumindest der Möglichkeit nach der Kampf um die Verteilung gegeben. Interne Differenzierungen der Klasse der Aneigner des Mehrprodukts, aber auch seiner Erzeuger, lassen sich dann historisch analysieren: Zum Beispiel können, um die Liste aus dem Kommunistischen Manifest aufzugreifen, die Differenzen durch die Positionen Sklave oder Freier, Patrizier oder Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell charakterisiert sein. Was all diese verschiedenen Formen von dichotom vorgestellten Klassenverhältnissen auszeichnet, ist aber, dass es sich um »Unterdrücker und Unterdrückte« handelt, die im steten Gegensatz zueinander stehen und einen fortdauernden, offenen oder versteckten Kampf gegeneinander führen, der entweder mit der »revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft […] oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen« endet. Die Existenz von Klassen ist deshalb für Marx mit Klassenkämpfen unvermeidlich verbunden. Alle Geschichte basiert auf ihnen.4

I.  Klasse an sich / für sich Für die Marx’sche Klassenanalyse ist es zentral, dass er die bisher hier vorgelegte ›Analyse der objektiven Klassenverhältnisse‹ ergänzt durch eine den Klassenlagen korrespondierende Beschreibung des zu ihnen passenden Bewusstseins. Das Klassenbewusstsein bildet nämlich nicht einfach die ihm entsprechenden Interessenlagen ab, sondern ist auf verschiedene Weise durch selbst objektiv 4 

Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei (1848). Marx-EngelsWerke [= MEW] Bd. 4, 462.

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beschreibbare Umstände verzerrt. Die Angehörigen einer Klasse haben oder können insofern ein falsches Bewusstsein ihrer Lage haben. Marx wendet hier das Instrumentarium der Hegel’schen Philosophie auf die Klassentheorie an. Er kommt daher zur Unterscheidung der Klasse an sich und der Klasse für sich. Der Prozess, den Marx vermutet, führt insbesondere durch Klassenkämpfe und unter der Anleitung von Intellektuellen, Parteien, Gewerkschaften, Berufsrevolutionären usw. dazu, dass sich das zunächst falsche Bewusstsein langsam auflöst. Dann kommt es zu einer wirklichen Übereinstimmung von ›an sich‹ und ›für sich‹. Besonders aufschlussreich ist in diesem Kontext die Rolle, die Marx den Parzellenbauern zuschreibt. Sie bilden eine Art Zwischenklasse, die sich weder dem Proletariat noch der Bourgeoisie zurechnet. Marx sieht in ihr die Trägerschicht für die diktatorische Macht des dritten Kaiserreichs in Frankreich. Spätere Marxisten haben die einschlägigen Analysen Marxens dann auch herangezogen, um das Entstehen faschistischer Bewegungen und Herrschaftsformen klassentheoretisch zu erklären. In diesem Zusammenhang modifiziert sich auch die Marx’sche Theorie vom politischen System. In ihrer einfachsten Fassung stellt der Staat nur das politische Machtinstrument der herrschenden Klasse dar. Bei näherer Analyse wird aus ihm jedoch ein ideeller Gesamtkapitalist, d. h. er neutralisiert bis zu einem gewissen Maße die Interessengegensätze innerhalb der Kapitalistenklasse und vertritt die ihr gemeinsamen Interessen gegen die anderen.

II.  Zusammenhang zwischen Klasse und Entfremdung5 Die Entfremdungstheorie, wie sie sich vor allem in Marx’ Frühwerk findet, spielt wirkungsgeschichtlich für das 19. Jahrhundert eine eher geringe Rolle, weil z. B. die Pariser Manuskripte von 1844 erst im 20. Jahrhundert publiziert worden sind. Die dort vorgelegte Theorie unterscheidet verschiedene Wurzeln der menschlichen Entfremdung. Im Zentrum steht die Stellung des Menschen zur Arbeit. Für Hegel kommt in der Arbeit das Bewusstsein zur Anschauung eines Produkts als eines »selbständigen Seyns« außerhalb seiner selbst zum Austrag.6 Obwohl sie das »Moment der Befreyung« von den Zwängen der Natur in sich hat, kommt es mit fortschreitender Arbeitsteilung im Prozess des »Producirens« zur »Abhängigkeit«, so dass der Arbeiter auch durch die »Maschine« ersetzt werden kann.7 Für Marx ist die Arbeit als solche keineswegs schon Entfremdung. Sie ist gewissermaßen 5  Vgl. zur Entfremdung der Arbeit und ihrer Aufhebung genauer auch: Hans Braun, Alois Hahn: Wissenschaft von der Gesellschaft (Freiburg/ München 1973), 63 ff. 6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, Bd. 9 (Hamburg 1980) 115. 7 Ders.: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 194, 198. Ges. Schriften. AkademieAusgabe, Bd. 14,1 (Hamburg 2009) 167, 169.

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das, was den Menschen zum Menschen macht. Entfremdend wird sie nur unter bestimmten Ausbeutungsverhältnissen. Dabei leugnet auch Marx nicht, dass die historisch gegebenen Formen des Zwangs zur Arbeit das Niveau der Produktivität der Arbeit steigern. Im Einzelnen sind es konkret immer Klassenverhältnisse, die die Form der Entfremdung historisch bestimmen. Für seine Zeit nimmt Marx nun an, dass mit der Aufhebung der Klassenverhältnisse auch die Entfremdung, die eben nicht durch die Arbeit, sondern durch die Produktionsverhältnisse gegeben ist, aufgehoben werden kann. Marx sieht die Arbeit nur dann als wesensgerechte Lebenstätigkeit an, wenn sie bestimmten Bedingungen genügt. Die erste Voraussetzung dafür, dass Arbeit als normale Äußerung der dem Menschen wesentlichen Lebenstätigkeit erscheint, sieht Marx – zumindest der junge Marx – darin, dass dem Menschen das produktive Leben selbst nicht nur als ein Mittel zur Befriedigung eines Bedürfnisses, des Bedürfnisses der Erhaltung der physischen Existenz, erscheine. Als Verwirklichung des menschlichen Gattungslebens erscheint Arbeit nur dann, wenn sie schöpferischer Ausdruck des Menschen ist. Schöpferisch kann sie aber nur dann sein, wenn sie bewusste Lebenstätigkeit ist. »Die bewußte Lebenstätigkeit unterscheidet den Menschen unmittelbar von der tierischen Lebenstätigkeit. Eben nur dadurch ist er ein Gattungswesen. Oder er ist nur ein bewußtes Wesen, d. h., sein eignes Leben ist ihm Gegenstand, eben weil er ein Gattungswesen ist. Nur darum ist seine Tätigkeit freie Tätigkeit. Die entfremdete Arbeit kehrt das Verhältnis darin um, daß der Mensch eben, weil er ein bewußtes Wesen ist, seine Lebenstätigkeit, sein Wesen nur zu einem Mittel für seine Existenz macht.«8 Man könnte also sagen, dass eine rein instrumentelle Tätigkeit als solche niemals als Ausdruck menschlicher Lebenstätigkeit gesehen werden kann. Wird der Mensch in seiner Arbeit auf diesen Aspekt reduziert, so erscheint Arbeit als entfremdet. Die zweite Voraussetzung, die nach Marx erforderlich ist, damit Arbeit als natürlicher Lebensausdruck und nicht als Entfremdung begriffen werden kann, besteht darin, dass der Mensch diese Arbeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und Bewusstseins machen kann. Es ist also in einem gewissen Maße erforderlich, dass die Arbeit des Menschen, um nicht entfremdet zu sein, eine freiwillige und bewusste Tätigkeit des Menschen ist. Als dritte Voraussetzung für unentfremdete Arbeit gilt, dass die produzierende Tätigkeit allseitig ist, also nicht die extreme Spezialisierung den Menschen auf eine Tätigkeitsweise festlegt, die nur einen bestimmten Ausschnitt seiner Fähigkeiten erfordern. Viertens muss der Mensch in seiner Arbeit zugleich seine gesellschaftliche Natur realisieren können, d. h. der Einzelne ist in seiner Tätigkeit dann entfremdet, wenn das Niveau der produzierenden Tätigkeit der Gattung, d. h. der Gesell8  K.

Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. MEW, Erg.-Bd. 1 (Berlin 1968) 516. Frühe Schriften, hg. von Hans-Joachim Lieber und Peter Furth. Werke Bd. 1 [= Werke] (Darmstadt 1962) 567.

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schaft, weder produzierend, noch genießend, noch verstehend dieses Niveau je erreichen kann. Es überrascht daher nicht, dass Marx, wenn er die menschliche Arbeit als Unterscheidungskriterium zwischen Mensch und Tier anführt, immer auf solche Aspekte menschlicher Tätigkeit verweist, die im strengen Sinne nur der nichtentfremdeten Arbeit zukommen. Während das Tier nur gemäß seinen direkten Bedürfnissen produziert, z. B. ein Nest baut, produziert der Mensch unabhängig davon, d. h. »universell« und »frei«. Das Tier produziert »nur sich selbst, während der Mensch die ganze Natur reproduziert; sein Produkt gehört unmittelbar zu seinem physischen Leib, während der Mensch frei seinem Produkt gegenüber tritt. […] Diese Produktion ist sein werktätiges Gattungsleben. Durch sie erscheint die Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit. Der Gegenstand der Arbeit ist daher die Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen: indem er sich nicht nur wie im Bewußtsein intellektuell, sondern werktätig, wirklich verdoppelt und sich selbst daher in einer von ihm geschaffenen Welt anschaut. Indem daher die entfremdete Arbeit dem Menschen den Gegenstand seiner Produktion entreißt, entreißt sie ihm sein Gattungsleben, seine wirkliche Gattungsgegenständlichkeit und verwandelt seinen Vorzug vor dem Tier in den Nachteil, daß sein unorganischer Leib, die Natur, ihm entzogen wird.«9 Hieraus lassen sich nunmehr einige Aspekte entfremdeter Arbeit ableiten. Zunächst ist ein zentraler Aspekt der Entfremdung, dass das vom Arbeiter erzeugte Produkt diesem, nachdem er es erzeugt hat, nicht mehr gehört, sondern in den Besitz eines anderen, des Besitzers der Produktionsmittel, übergeht. Man könnte diese Form der Entfremdung als die Entfremdung des Produkts bezeichnen. »Der Arbeiter wird umso ärmer, je mehr Reichtum er produziert, je mehr seine Produktion an Macht und Umfang zunimmt. Der Arbeiter wird eine um so wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der Verwertung der Sachwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. […] Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. […] Die Verwirklichung der Arbeit […] erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung.«10 Für den Marx dieser Zeit ist diese Entfremdung die zentrale Ursache aller weiteren entfremdenden Konsequenzen. Ein weiterer Aspekt der Entfremdung ist für Marx in der Tätigkeit selbst zu sehen, die der Arbeiter im Kapitalismus zu verrichten hat. Man könnte sie als Entfremdung im Akt der Produktion selbst bezeichnen. Worin besteht nun diese Art der Entfremdung der Arbeit? Marx antwortet: »Worin besteht nun die Entäußerung der Arbeit? Erstens, daß die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d. h. nicht zu seinem Wesen gehört, daß er sich daher in seiner Arbeit nicht  9  10 

Ebd. MEW Erg.-Bd. 1, 517; Werke Bd. 1, 567 f. Ebd. MEW Erg.-Bd. 1, 511 f.; Werke Bd. 1, 561.

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bejaht, sondern verneint, [sich] nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Hause. […] Es kommt daher zum Resultat, daß der Mensch (der Arbeiter) nur mehr in seinen tierischen Funktionen, Essen, Trinken und Zeugen, höchstens noch Wohnung, Schmuck etc., sich als freitätig fühlt und in seinen menschlichen Funktionen nur mehr als ein Tier. Das Tierische wird das Menschliche und das Menschliche wird das Tierische.«11 Diese Entfremdung in der produzierenden Tätigkeit selbst ergibt sich also aus dem Zwangscharakter der Tätigkeit. Der Zwangscharakter entsteht aber nicht ausschließlich durch die Eigentumsverhältnisse. Ein wesentlicher Faktor, der die Arbeit zu etwas Unerträglichem, Langweiligem macht, ist mit der Arbeit selber schon gegeben. In der Deutschen Ideologie verweisen Marx und Engels deshalb explizit auch auf die Arbeitsteilung als autonome Quelle von Entfremdung: »Die Teilung der Arbeit wird erst wirklich Teilung von dem Augenblicke an, wo eine Teilung der materiellen und geistigen Arbeit eintritt. Von diesem Augenblicke an kann sich das Bewußtsein wirklich einbilden, etwas Andres als das Bewußtsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen. […] Übrigens ist es ganz einerlei, was das Bewußtsein alleene (sic!) anfängt, wir erhalten aus diesem ganzen Dreck nur das eine Resultat, daß diese drei Momente, die Produktionskraft, der gesellschaftliche Zustand und das Bewußtsein, in Widerspruch untereinander geraten können und müssen […].«12 Es ist jedoch festzuhalten, dass die Teilung der Arbeit und das Eigentum nach Marx und Engels die Entfremdung nicht wirklich als zwei verschiedene Größen bewirken. Sie sind vielmehr identische Ausdrücke – in dem einen wird in Beziehung auf die Tätigkeit dasselbe ausgesagt, was in dem anderen in Bezug auf das Produkt der Tätigkeit ausgesagt wird.13 Jedenfalls steht für Marx und Engels fest, dass die Aufhebung der Entfremdung vollends erst möglich ist mit der Aufhebung der Arbeitsteilung. »Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Tätigkeit, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen kri-

11 

Ebd. MEW Erg.-Bd. 1, 514 f.; Werke Bd. 1, 564 f. K. Marx, F. Engels: Die deutsche Ideologie. MEW Bd. 3, 31 f. 13  Ebd. 32. 12 

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tisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.«14 Der dritte Aspekt der Entfremdung besteht nach Marx darin, dass die Menschen unter kapitalistischen Produktionsbedingungen, also dann, wenn Eigentum und Nichteigentum getrennt sind und die Arbeitsteilung durchgeführt ist, auch sich selbst entfremdet werden: »Aber die Entfremdung zeigt sich nicht nur im Resultat, sondern im Akt der Produktion, innerhalb der produzierenden Tätigkeit selbst. Wie würde der Arbeiter dem Produkt seiner Tätigkeit fremd gegenüber treten können, wenn er im Akt der Produktion selbst sich nicht selbst entfremdete? Das Produkt ist ja nur das Resümee der Tätigkeit, der Produktion.«15 Schließlich entfremdet die beschriebene kapitalistische Produktionsweise den einzelnen auch seiner Gattung, insofern die Tätigkeit, die die kapitalistische Produktionsweise zulässt, der oben angeführten Voraussetzung unentfremdeter Arbeit der bewussten Gattungstätigkeit widerspricht. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass Marx die Entfremdung, wie sie von der kapitalistischen Produktionsweise erzeugt wird, nicht auf den Proletarier beschränkt: »Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die Zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz. […] Innerhalb des Gegensatzes ist der Privateigentümer also die konservative, der Proletarier die destruktive Partei. Von Jenem geht die Aktion des Erhaltens des Gegensatzes, von Diesem die Aktion seiner Vernichtung aus.«16

III.  Aufhebung der Entfremdung Die Aufhebung der Entfremdung ist zwar an die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln gebunden, aber die bloß äußerliche Aufhebung privaten Besitzes allein führt noch nicht die Aufhebung der Entfremdung herbei. Für Marx spielt es eine große Rolle, dass es einen Unterschied zwischen bloßer Aufhebung des Privateigentums im Sinne nivellierender Gleichmacherei und der Aufhebung des Privateigentums, die allein der individuellen Entfaltung der Einzelpersönlichkeit dient, gibt. Die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln ist nicht deshalb erforderlich, weil bei Existenz des Privateigentums individuelle Unterschiede der Entfaltung möglich werden, sondern umgekehrt, weil sie unter der Existenz des Privateigentums nur einer kleinen Minorität 14 

Ebd. 33. K. Marx: Ökonomisch-philos. Manuskripte, a. a.O. [Anm. 8] MEW Erg.-Bd. 1, 514; Werke Bd. 1, 564. 16  K. Marx: Die heilige Familie. MEW Bd. 2, 37. 15 

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möglich sind. Die Überwindung des Privateigentums durch den rohen Kommunismus, wie Marx die ursprüngliche Negation des Privateigentums nennt, stellt daher in Bezug auf die Entfremdung eher einen Rückfall hinter bürgerliche Entfaltungsformen der Humanität dar: »Die erste positive Aufhebung des Privateigentums, der rohe Kommunismus, ist also nur eine Erscheinungsform von der Niedertracht des Privateigentums, das sich als das positive Gemeinwesen setzen will.«17 Die hier zitierte Formulierung weist darauf hin, dass Marx zwischen einer Aufhebung des Privateigentums, die dessen entfremdende Wirkung beseitigt, und einer solchen, die selbst nach der Abschaffung des Privateigentums dessen entfremdende Merkmale noch beibehält, ja noch intensiviert, insofern sie sie verallgemeinert, unterscheidet. Insofern spricht Marx vom rohen Kommunismus als einer Erscheinungsform von der Niedertracht des Privateigentums. Dieser rohe Kommunismus ähnelt insofern den entfremdeten Verhältnissen des Privateigentums, als die zuvor durch die Macht des privaten Kapitaleigners wirksam werdende Entfremdung nunmehr auf die Macht des allgemeinen Kapitals, auf die Gemeinschaft als dem allgemeinen Kapitalisten übergeht. Dennoch stellt der rohe Kommunismus als eine Form der Reintegration oder Rückkehr des Menschen in sich einen ersten Schritt auf dem Wege der Aufhebung der menschlichen Selbstentfremdung dar. Er erscheint als eine notwendige Stufe zum wirklichen Kommunismus bzw. Sozialismus, der mit der Aufhebung des Privateigentums auch dessen entfremdende Wirkung beseitigt. Der rohe Kommunismus ist nach der Formulierung Marxens lediglich der Begriff des Sozialismus, aber noch nicht sein Wesen. Die Aufhebung der Entfremdung setzt zugleich auch die Aufhebung des Widerstreits zwischen Mensch und Natur voraus. Sie ist erst möglich mit dem durchgeführten Humanismus der Natur. Damit ist gemeint, dass die Natur durch und durch von menschlicher Tätigkeit affiziert und durch menschliche Produktion auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse eingerichtet ist. Im Humanismus der Natur zeigt sich die Natur ganz und gar in menschliche Kultur gewandelt; zu einer Kultur überdies, die dem Menschen die Entfaltung seiner natürlichen Wesenskräfte ermöglicht. Andererseits realisiert sich erst in dieser Situation auch die Natur des Menschen vollkommen. Deshalb spricht Marx von dieser Situation als der Phase des »durchgeführten Naturalismus oder Humanismus der Natur«, der allein fähig sei, »den Akt der Weltgeschichte zu begreifen«.18 Genauso entscheidend wie die Versöhnung von Mensch und Natur erscheint jedoch die Versöhnung des Menschen mit dem Menschen. Der Mensch soll nicht mehr Mittel für seine Mitmenschen sein; vielmehr werden die Einzelnen wechselseitig für einander gemeinschaftlich tätig sein. Auch in dieser Situation würde der Mensch arbeiten, er würde jedoch in seiner produzierenden Tätigkeit seine 17 K.

Marx: Ökonomisch-philos. Manuskripte, a. a.O. [Anm. 8] MEW Erg.-Bd.  1, 535 f.; Werke Bd. 1, 593. 18  Ebd. MEW Erg.-Bd. 1, 538; Werke Bd. 1, 595.

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Individualität und Eigentümlichkeit vergegenständlichen, so dass ihm seine Arbeit als Lebensäußerung zugleich Genuss ist. In der Anschauung des produzierten Gegenstandes erfährt der Produzent seine Persönlichkeit als gegenständliche, sinnlich anschaubare und daher über alle Zweifel erhabene Macht; und er empfindet individuelle Freude über diese Tätigkeit und ihren Gegenstand. Diese Freude würde intersubjektiv bestätigt, und zwar dadurch, dass der Produzent, indem andere sein Produkt genießen und gebrauchen, erfährt, dass seine Tätigkeit geeignet war, ein menschliches Bedürfnis zu befriedigen. Insofern würde der Einzelne sich als Mittler zwischen seinen Mitmenschen und der Gattung finden und von diesen als eine Ergänzung ihres eigenen Wesens und als notwendiger Teil ihrer selbst gewusst und empfunden werden. Es ist indessen wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die Entfremdung, die sich durch ausbeuterische Verhältnisse ergab, von Marx als notwendige historische Zwischenstufe angesehen wird, da nur sie zu einer immer massiveren Steigerung der Produktion führte und somit der Möglichkeit nach die Aufhebung des Mangels erzeugen konnte. Verglichen mit diesen Konstruktionen der Frühschriften erscheint die Prognose des Kapitals von bescheidenerem Anspruch.19 Hier reduziert sich die Aufhebung der Entfremdung lediglich auf die Beseitigung irrationaler Herrschaftszwänge über den Einzelnen mittels ökonomischer Macht, wird identisch mit der rationalen Planung der gesellschaftlichen Produktion, welche die rationellste Befriedigung der Bedürfnisse gestattet. Die entfremdete Arbeit wird nicht beseitigt, sondern auf die zur Befriedigung der notwendigen gesellschaftlichen Bedürfnisse erforderliche Arbeitszeit begrenzt. Von der in den Frühschriften beschworenen Aufhebung der Arbeitsteilung ist nicht mehr die Rede, ebenso wenig wie von der Aufhebung der einzig durch sie begründeten Form der Entfremdung. Die verheißene Zeit der Freiheit ist die Freiheit der Freizeit geworden.

IV. Klassenkämpfe20 Klassenkämpfe allerdings sind nur dann historisch progressive Bewegungen, wenn sie einen Konflikt zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften zum Ausdruck bringen. Der Antagonismus der Klassen spiegelt dann den Widerspruch zwischen den Eigentumsformen und den Möglichkeiten schöpferischer Umgestaltung der Natur wider. Nur dann kann er die bestehende Ordnung sprengen. Diese antagonistische Implikation des Klassenbegriffs findet sich nicht bei allen Theorien der sozialen Ungleichheit. Sie kann selbstverständlich auch als harmonische Form von Arbeitsteilung zwischen Gruppen interpretiert 19  Vgl. K. Marx: Das

Kapital, Bd. 3. MEW Bd. 25, 832, 838. zum Folgenden näher auch: Alois Hahn: Basis und Überbau und das Problem der begrenzten Eigenständigkeit der Ideen. In: Ders.: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte (Frankfurt a. M. 2000), 263–294. 20  Vgl.

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werden. Ungleichheit wird dann nicht als explosives Konfliktpotential interpretiert, sondern als Basis friedlicher Kollaboration, die zum Nutzen des Ganzen erforderlich ist. Für Marx sind solche Theorien allerdings pure Ideologie. Diese freilich ist als Stabilitätsfaktor bestehender Klassengesellschaften notwendig. Dabei geht Marx davon aus, dass mit der Existenz von Klassen zumindest seit den frühen Hochkulturen ein Teil des Mehrprodukts auch dafür verwendet wird, ideologische Konstruktionen zu produzieren, die die Interessen der Oberschichten als Interessen des Gesamtsystems darstellen. Wie auch der späte Engels aber klar sieht, findet sich bei Hochkulturen eher eine ungerichtete Eigendynamik: »Zweitens aber macht sich die Geschichte so, daß das Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen hervorgeht, wovon jeder wieder durch eine Menge besonderer Lebensbedingungen zu dem gemacht wird, was er ist; es sind also unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante – das geschichtliche Ergebnis – hervorgeht, die selbst wieder als das Produkt einer, als Ganzes, bewußtlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann. Denn was jeder einzelne will, wird von jedem andern verhindert, und was herauskommt, ist etwas das keiner gewollt hat.«21 Der Kampf des Proletariats um die politische Macht sei ja auch sinnlos, so Engels weiter, wenn die politische Macht selbst nicht eine – wenn auch begrenzte – eigenständige Kraft entfalten könnte.22 Engels weiß sehr wohl, dass diese Eingeständnisse zumindest teilweise eine wirkliche Korrektur der ursprünglichen Formulierung des Basis-ÜberbauKonzeptes sind: »Daß von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, als ihr zukommt, haben Marx und ich teilweise selbst verschulden müssen. Wir hatten, den Gegnern gegenüber, das von diesen geleugnete Hauptprinzip zu betonen, und da war nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit, die übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen. Aber sowie es zur Darstellung eines historischen Abschnitts, also zur historischen Anwendung kam, änderte sich die Sache, und da war kein Irrtum möglich.«23 Dass andererseits mit der für Hochkulturen charakteristischen Trennung von geistiger und materieller Tätigkeit eine gewisse Eigenständigkeit des Überbaus verknüpft ist, hatte Marx schon früh gesehen. Er bleibt aber bei der Auffassung, dass diese Verselbständigung der Ideendynamik bloße Einbildung, bloßer Schein ist: Erst mit der Teilung der Arbeit »ist das Bewußtsein imstande, sich von der Welt zu emanzipieren und zur Bildung der ›reinen‹ Theorie, Theologie, Philosophie, Moral etc. überzugehen. Aber selbst wenn diese Theorie, Theologie, Philosophie, Moral etc. in Widerspruch mit den bestehenden Verhältnissen treten, so kann dies nur dadurch geschehen, daß die bestehenden gesellschaft21 

F. Engels: Brief an Joseph Bloch v. 21./22. 9. 1890. MEW Bd. 37, 464. Ders.: Brief an Conrad Schmidt v. 27. 10. 1890. MEW Bd. 37, 493. 23  Ders.: Brief an J. Bloch, a. a.O. [Anm. 21]. MEW Bd. 37, 465. 22 

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lichen Verhältnisse mit der bestehenden Produktionskraft in Widerspruch getreten sind.«24 Ja, Marx sieht darüber hinaus, dass die Existenz von an Rationalität orientierten Intellektuellen die Legitimation von Herrschaft, nämlich die Herrschaft ökonomischer Klassen, unter bestimmte Zwänge der Systematisierung stellt. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert gilt, »daß immer abstraktere Gedanken herrschen, d. h. Gedanken, die immer mehr die Form der Allgemeinheit annehmen. Jede neue Klasse nämlich, die sich an die Stelle einer vor ihr herrschenden setzt, ist genötigt, schon um ihren Zweck durchzuführen, ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen, d. h. ideell ausgedrückt: ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit zu geben, sie als die einzig vernünftigen, allgemein gültigen darzustellen.«25 Aber nicht erst seit dem 18. Jahrhundert und nicht allein bedingt durch die Konkurrenz von Klassen ist dieser Prozess des Zwanges im Gange, Rechtfertigungsideologien in der Form der Vernünftigkeit zu formulieren. Er ist unausweichlich, wenn eine rationale Weltdeutung auftritt, und das ist seit Beginn der großen Hochkulturen im Vorderen Orient und in Asien der Fall. Aber trotz dieser Einsichten – von Marx gleichzeitig mit seiner Basis-ÜberbauTheorie formuliert – hält Marx an der Determinationsthese des Überbaus durch die Basis fest. Erst Engels findet 1890 eine erheblich vorsichtigere Formulierung für das Verhältnis von Basis und Überbau. Er schreibt: »Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. […] Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten […] als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt.«26 An die Stelle der einseitigen Ableitung des Überbaus aus der Basis ist das Konzept der Wechselwirkung getreten. Engels wirft dem Soziologen Paul Barth vor, er kämpfe »einfach gegen Windmühlen«, wenn er meine, Marx und Engels »leug24 

K. Marx, F. Engels: Die deutsche Ideologie, a. a.O. [Anm. 12] MEW Bd. 3, 31 f. Ebd. 47. 26  F. Engels: Brief an J. Bloch, a. a.O. [Anm. 21] MEW Bd. 37, 463. 25 

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neten alle und jede Rückwirkung der politischen usw. Reflexe der ökonomischen Bewegung auf diese Bewegung selbst«.27 Engels verweist dabei auf Marx’ 18. Brumaire, in dem ja deutlich die besondere Rolle der politischen Kämpfe und Ereignisse, »natürlich innerhalb ihrer allgemeinen Abhängigkeit von ökonomischen Bedingungen« behandelt worden sei. Diese Formulierungen sind gewiss erheblich behutsamer als die ursprüngliche Fassung der Basis-Überbau-Theorie. Aber die zugestandene bedingte Eigenmacht der politischen und der geistigen Sphäre wird doch eingeschränkt durch den Hinweis, dass die Ökonomie (bzw. die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens) jedenfalls »in letzter Instanz« die entscheidenden Momente in der Geschichte seien.28 Der Antagonismus der Klassenverhältnisse als Basis wiederholt sich dann im Überbau. Allerdings ist der Überbau, also eigentlich der gesamte Bereich von Religion, Philosophie, Wissenschaft und Kultur nicht nur Ideologie zur Festigung der Machtposition der herrschenden Klassen. Sie enthält auch immer ein überschüssiges Element, das dann statt zur Stabilisierung des Bestehenden zu dessen Revolutionierung beitragen kann. Für das 19. Jahrhundert nimmt Marx sogar an, dass zumindest Teile des wissenschaftlichen »Überbaus« Momente der Basis selbst werden, sie fungieren unmittelbar als technisch-wissenschaftliches Wissen, als Momente der Produktivkraft. Der Klassenbegriff ist für Marx kein Analyseinstrument, das spezifisch für das 19. Jahrhundert ist. Zur Charakterisierung seines eigenen Jahrhunderts nimmt er zwar eine sehr detaillierte Klassenanalyse vor. Diese befindet sich allerdings nicht primär im Kommunistischen Manifest, sondern in Die Klassenkämpfe in Frankreich und in Der 18. Brumaire. Man könnte die von Marx vorgenommene Differenzierung wie folgt systematisieren: Innerhalb der Kapitalistenklasse unterscheidet er einerseits nach Art des Kapitals, vor allem also nach Grundeigentum einerseits und Industriekapital andererseits. Außerdem unterscheidet er in beiden Klassen zwischen dem großen und dem kleinen Kapital. Auf diese Weise erhält er eine Mittelschicht, in der die Kapitaleigner lediglich Kapital in dem Ausmaße besitzen, das sie selber zwingt, gleichzeitig Arbeiter und Kapitalisten zu sein. Auf dem Lande führt das zur Herausbildung der großen Schicht der Parzellenbauern, in den Städten zur Herausbildung einer Klasse von Kleinhändlern und selbstständigen Handwerkern. Zusätzlich siedelt er unter der Schicht des Proletariats noch eine Schicht von Exkludierten und Marginalisierten, das sogenannte Lumpenproletariat. In zahlreichen späteren Arbeiten wird Marx auch auf eine neue, im Kontext der Industrialisierung entstehende Klasse aufmerksam, nämlich die der Angestellten. Die Folge ist, dass wir nun statt der ursprünglichen zwei Klassen einen ganzen Fächer von Klassenformationen vorfinden.

27 

Ders.: Brief an C. Schmidt, a. a.O. [Anm. 22] MEW Bd. 37, 493.

28 Ebd.

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261

V.  Klassen und Klassenfraktionen in Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte und in Die Klassenkämpfe in Frankreich In diesen Arbeiten versucht Marx, die Klassen in Frankreich während der Mitte des 19. Jahrhunderts zu charakterisieren. Er unterscheidet fünf Klassen: Die Bourgeoisie, das Kleinbürgertum, die Parzellenbauern, das Industrieproletariat und das Lumpenproletariat. Die Bourgeoisie zerfällt in zwei Fraktionen. Die erste Fraktion ist das Grundeigentum, die zweite Fraktion ist das Kapital. Innerhalb der Kapitalfraktion lassen sich wiederum zwei Formationen unterscheiden, nämlich einmal die Finanzaristokratie und zum anderen die eigentliche industrielle Bourgeoisie. Während des Bürgerkönigtums herrschte nicht die Bourgeoisie, sondern nur eine Fraktion derselben, »die sogenannte Finanzaristokratie. Sie saß auf dem Throne, sie diktierte in den Kammern Gesetze, sie vergab die Staatsstellen vom Ministerium bis zum Tabaksbüro«.29 Die zweite Form der Bourgeoisie, die »eigentlich industrielle Bourgeoisie«, bildete in dieser Zeit nur »einen Teil der offiziellen Opposition, d. h., sie war in den Kammern nur als Minorität vertreten. Ihre Opposition trat um so entschiedener hervor, je reiner sich die Alleinherrschaft der Finanzaristokratie entwickelte und je mehr sie selbst nach den in Blut erstickten Emeuten 1823, 1834 und 1839 ihre Herrschaft über die Arbeiterklasse gesichert wähnte.«30 An einer späteren Stelle beschreibt Marx das Verhältnis dieser drei Formationen der Bourgeoisie in etwas anderer Form. Es heißt nun: »Die Bourgeoisklasse zerfiel in zwei große Fraktionen, die abwechselnd, das große Grundeigentum unter der restaurierten Monarchie, die Finanzaristokratie und die industrielle Bourgeoisie unter der Julimonarchie, das Monopol der Herrschaft behauptet hatten.«31 Entsprechend schreibt Marx im 18. Brumaire: »Unter den Bourbonen hatte das große Grundeigentum regiert mit seinen Pfaffen und Lakaien, unter den Orléans die hohe Finanz, die große Industrie, der große Handel, d. h. das Kapital mit seinem Gefolge von Advokaten und Schönrednern.«32 Die formale Demokratie ist nach Marx vor allem eine Forderung des Kleinbürgertums. Marx schreibt: »Aber der Demokrat, weil er das Kleinbürgertum vertritt, also eine Übergangsklasse, worin die Interessen zweier Klassen sich zugleich abstumpfen, dünkt sich über den Klassengegensatz überhaupt erhaben. Die Demokraten geben zu, daß eine privilegierte Klasse ihnen gegenübersteht, aber sie mit der ganzen übrigen Umgebung der Nation bilden das Volk. Was sie vertreten ist das Volksrecht; was sie interessiert ist das Volksinteresse. Sie brauchen daher bei 29 

K. Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich. MEW Bd. 7, 12. Werke Bd. 3, 122.

30 Ebd. 31  32 

301.

Ebd. MEW Bd. 7, 58; Werke Bd. 3, 182. K. Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. MEW Bd. 8, 138 f. Werke Bd. 3,

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einem bevorstehenden Kampfe die Interessen und Stellungen der verschiedenen Klassen nicht zu prüfen. […] Jedenfalls geht der Demokrat ebenso makellos aus der schmählichsten Niederlage heraus, wie er unschuldig in sie hineingegangen ist, mit der neugewonnenen Überzeugung, daß er siegen muß, nicht daß er selbst und seine Partei den alten Standpunkt aufzugeben, sondern umgekehrt, daß die Verhältnisse ihm entgegenzureifen haben.«33 Für Marx ergibt sich die Sozialdemokratie als eine besondere Form der Koalition von Kleinbürgertum und Proletariat. So beschreibt er die Koalition dieser beiden Klassen zu Beginn des Jahres 1849: »Den sozialen Forderungen des Proletariats ward die revolutionäre Pointe abgebrochen und eine demokratische Wendung gegeben, den demokratischen Ansprüchen des Kleinbürgertums die bloß politische Form abgestreift und ihre sozialistische Pointe herausgekehrt. So entstand die Sozial-Demokratie.«34 Die Sozialdemokratie »faßt sich dahin zusammen, daß demokratisch-republikanische Institutionen als Mittel verlangt werden, nicht um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, beide aufzuheben, sondern um ihren Gegensatz abzuschwächen und in Harmonie zu verwandeln«, während der Inhalt derselbe bleibt. »Dieser Inhalt ist die Umänderung der Gesellschaft auf demokratischem Wege, aber eine Umänderung innerhalb der Grenzen des Kleinbürgertums. Man muß sich nur nicht die bornierte Vorstellung machen, als wenn das Kleinbürgertum prinzipiell ein egoistisches Klasseninteresse durchsetzen wolle. Es glaubt vielmehr, daß die besondern Bedingungen seiner Befreiung die allgemeinen Bedingungen sind, innerhalb deren allein die moderne Gesellschaft gerettet und der Klassenkampf vermieden werden kann.«35 Die dritte Klasse, die Marx für die hier untersuchte Epoche beschreibt, ist die Klasse der Parzellenbauern. »Die Parzellenbauern bilden eine ungeheure Masse, deren Glieder in gleicher Situation leben, aber ohne in mannigfache Beziehung zueinander zu treten. Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander, statt sie in wechselseitigen Verkehr zu bringen. […] Jede einzelne Bauernfamilie genügt beinahe sich selbst, produziert unmittelbar selbst den größten Teil ihres Konsums und gewinnt so ihr Lebensmaterial mehr im Austausche mit der Natur als im Verkehr mit der Gesellschaft. Die Parzelle, der Bauer und die Familie; daneben eine andere Parzelle, ein anderer Bauer und eine andere Familie. Ein Schock davon macht ein Dorf, und ein Schock von Dörfern macht ein Department. So wird die große Masse der französischen Nation gebildet durch einfache Addition gleichnamiger Größen, wie etwa ein Sack von Kartoffeln einen Kartoffelsack bildet.«36 Die französischen Parzellenbauern werden von Marx als ein Beispiel für eine soziale Gruppe angesehen, die zwar auf Grund ihrer objektiven Lebensbedingungen als Klasse an sich beschreibbar ist, die jedoch auf Grund der zwischen 33 

Ebd. MEW Bd. 8, 144 f. Werke Bd. 3, 308 f. Ebd. MEW Bd. 8, 141. Werke Bd. 3, 304. 35  Ebd. MEW Bd. 8, 141 f. Werke Bd. 3, 304 f. 36  Ebd. MEW Bd. 8, 198. Werke Bd. 3, 376. 34 

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den einzelnen Mitgliedern der Gruppe bestehenden sozialen Beziehungen noch nicht zum Bewusstsein ihrer objektiven Lage gelangt ist, die also noch nicht als Klasse für sich an zu sprechen ist: »Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von denen der anderen Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstellen, bilden sie eine Klasse. Insofern nur ein lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbauern besteht, […] bilden sie keine Klasse. Sie sind daher unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden. Ihr Vertreter muß zugleich als ihr Herr, als eine Autorität über ihnen erscheinen, als eine unumschränkte Regierungsgewalt, die sie vor den anderen Klassen beschützt und ihnen von oben Regen und Sonnenschein schickt.«37 Die vierte und fünfte soziale Großformation bilden das Proletariat und das Lumpenproletariat. Die Unterscheidung dieser beiden Gruppen ist für Marx von besonderer Bedeutung. Das »Lumpenproletariat« bildet »in allen großen Städten eine vom Industrieproletariat genau unterschiedene Masse«, einen »Rekrutierplatz für Diebe und Verbrecher aller Art, von den Abfällen der Gesellschaft lebend, Leute ohne bestimmten Arbeitszweig, Herumtreiber […] verschieden nach dem Bildungsgrade der Nation, der sie angehören, nie den Lazzaronicharakter verleugnend«.38 Der Staat, die politische Macht, ist für Marx in der Regel lediglich ein Instrument zum Schutz der Interessen der herrschenden Klasse. Unter besonderen Umständen kann sich die Staatsmacht jedoch gegenüber der herrschenden Klasse verselbständigen. So heißt es: »Aber unter der absoluten Monarchie, während der ersten Revolution, unter Napoleon, war die Bürokratie nur das Mittel, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie vorzubereiten. Unter der Restauration, unter Louis-Philippe, unter der parlamentarischen Republik war sie das Instrument der herrschenden Klasse, so sehr sie auch nach Eigenmacht strebte. Erst unter dem zweiten Bonaparte scheint sich der Staat völlig verselbständigt zu haben. Die Staatsmaschine hat sich der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber so befestigt, daß an ihrer Spitze der Chef der Gesellschaft vom 10. Dezember genügt, ein aus der Fremde herbeigelaufener Glücksritter, auf den Schild gehoben von einer trunkenen Soldateska, die er durch Schnaps und Würste erkauft hat, nach der er stets von neuem mit der Wurst werfen muß. […] Und dennoch schwebt die Staatsgewalt nicht in der Luft. Bonaparte vertritt eine Klasse, und zwar die zahlreichste Klasse der französischen Gesellschaft, die Parzellenbauern.«39 Aber auch da, wo der Staat eindeutig zum Schutz der herrschenden bürgerlichen Interessen dient, fehlt es nicht an einer gewissen Widersprüchlichkeit im 37 

Ebd. MEW Bd. 8, 198 f. Werke Bd. 3, 376 f. K. Marx: Klassenkämpfe in Frankreich, a. a.O. [Anm. 29] MEW Bd. 7, 26. Werke Bd. 3, 140. 39  K. Marx: Der achtzehnte Brumaire, a. a.O. [Anm. 32] MEW Bd. 8, 197 f. Werke Bd. 3, 375. 38 

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Verhältnis zwischen Bourgeoisie und Exekutivgewalt: »Man begreift sogleich, daß in einem Lande wie Frankreich, wo die Exekutivgewalt über ein Beamtenheer von mehr als einer halben Million von Individuen verfügt, also eine ungeheure Masse von Interessen und Existenzen beständig in der unbedingtesten Abhängigkeit erhält […], daß in einem solchen Lande die Nationalversammlung mit der Verfügung über die Ministerstellen jeden wirklichen Einfluß verloren gab, wenn sie nicht gleichzeitig die Staatsverwaltung vereinfachte, das Beamtenheer möglichste verringerte, endlich die bürgerliche Gesellschaft und die öffentliche Meinung ihrer eignen von der Regierungsgewalt unabhängigen Organe erschaffen ließ. Aber das materielle Interesse der französischen Bourgeoisie ist gerade auf das Innigste mit der Erhaltung jener breiten und vielverzweigten Staatsmaschine verwebt. […] So war die französische Bourgeoisie durch ihre Klassenstellung gezwungen, einerseits die Lebensbedingungen einer jeden, also auch ihrer eigenen parlamentarischen Gewalt zu vernichten, andrerseits die ihr feindliche Exekutivgewalt unwiderstehlich zu machen.«40 Das Verhältnis der Interessen der Bourgeoisie zur parlamentarischen Herrschaft ist nach Marx also keineswegs eindeutig zu bestimmen. Die Pointe bei Marx besteht eigentlich darin, dass er für das 19. Jahrhundert eine Zeit gekommen sieht, in der es zum ersten Mal möglich ist, die Klassenverhältnisse zu überwinden. Die Zukunft ist also dadurch bestimmt, dass Klassenverhältnisse sie nicht mehr bestimmen müssen. Im Kommunistischen Manifest begründen die Autoren das damit, dass die auch dort noch vorhandene Vielzahl von Klassen sich nivelliere, so dass es am Ende nicht nur Unterdrücker und Unterdrückte gibt, sondern dass die Unterdrückten und die Unterdrücker sich in jeweils nur noch einer Klasse befinden. Dass aber führe dann zu einer historisch einzigartigen Zuspitzung des Klassenantagonismus, der zu dessen Selbstaufhebung führe.41 Wenn man also Marx als den zentralen Autor ansieht, der den Klassenantagonismus als Hauptinstrument zur Gesellschaftsbeschreibung ansieht, so muss man sagen, dass gerade er der einzige oder erste war, der gerade umgekehrt für die angestrebte Gesellschaft die Verzichtbarkeit dieses Begriffs postuliert hat. Freilich sind, bis es dazu kommt, eine Menge Schritte zu gehen. Die gesamte Geschichte des Marx’schen Œuvres und die theoretischen Auseinandersetzungen seiner Nachfolger befassen sich gerade mit den Stufen, die noch zurückgelegt werden müssen, um zu einer klassenlosen Gesellschaft neuer Art zu kommen. Die Weltgeschichte hat mit ihr angefangen und soll mit ihr aufhören. Aber die angestrebte finale klassenlose Gesellschaft soll eine Gesellschaft des Überflusses und nicht des Mangels sein. Wer sie also durchzusetzen versucht, ohne diese Bedingungen als Voraussetzung zu riskieren, der nimmt in Kauf, dass auch nach der Revolution »nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch 40  41 

Ebd. MEW Bd. 8, 150. Werke Bd. 3, 316. Marx / Engels: Manifest der kommunistischen Partei, a. a.O. [Anm. 4] MEW Bd. 4, 472 f.

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der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich [wieder] herstellen müßte«.42 Die Gegner von Marx und Engels, aber auch die ›Revisionisten‹ innerhalb der Gemeinde, waren freilich sehr bald auf dem Plan und versuchten zu zeigen, dass die kapitalistische Gesellschaft keinesfalls zu einer Nivellierung der Klassenunterschiede führe. Sie setze im Gegenteil eine Proliferation von immer neuen Klassen und immer neuen Fraktionen innerhalb der Klassen frei. Eine polarisierende Binarität des Antagonismus ist nicht wahrscheinlich.

VI.  Max Weber Für Marx ist zumindest die objektive Klassenlage durch die Verfügung über Produktionsmittel charakterisiert, wobei man bedenken sollte, dass es in der Tat um Verfügung geht. Eigentum ist eine Form der Verfügung. Auch Enteignungen von Privateigentum stellen deshalb nicht unbedingt Gleichheit von Verfügungen her, weil die Verfügungen dann an andere privilegierte Gruppen übergehen können. Bei Weber verlagert sich das Interesse von der Verfügung über die Produktionsmittel auf typische Differenzen von Zugangschancen in Bezug auf Güterversorgung, äußerer Lebensstellung und innerem Lebensschicksal. Insofern ergeben sich auch unterschiedliche Typen von Klassen. Die prominentesten Differenzen werden als Besitzklasse und Erwerbsklasse bezeichnet.43 Damit wird schon deutlich, dass im späten 19. Jahrhundert die »Chancen der Marktverwertung« nicht nur von Gütern sondern auch von Leistungen klassenbildend wirken. Der Begriff der »sozialen Klasse« schließlich wird bei Weber vor allen Dingen gegenüber dem Begriff der Stände artikuliert. Stände nämlich sind dadurch charakterisiert, dass man den Herkunftsstand nur schwer verlassen kann. Soziale Klassen im Sinne von Weber sind aber gerade durch den Wechsel zwischen verschiedenen Klassen definiert. Der Begriff der sozialen Klasse wird also über Mobilitätschancen definiert. Da wo bei Marx das Klassenbewusstsein steht, findet sich bei Weber die Bedeutung »ständische Differenzierung«. Es geht ihm darum, dass nicht lediglich objektive, also Klassenlagen, für die soziale Wirklichkeit von Bedeutung sind, vielmehr legt er Wert auf die Art der Lebensführung, auf den Zugang zu bestimmten Erziehungsformen und bestimmte Abgrenzungschancen gegenüber anderen sozialen Gruppen. Dabei erwähnt er insbesondere das Konnubium (Heiratschancen) und Kommensalität (private Verkehrskreise) und die Perhorreszierung bzw. Appropriation (Verachtung bzw. Zugangsmonopolisierung) bestimmter Typen von Berufstätigkeiten. Die Weber’sche hier nicht im Einzelnen nachzukonstruierende komplexe Klassifikation betont, jedenfalls wenn man sie 42 

Marx / Engels: Die deutsche Ideologie, a. a.O. [Anm. 12] MEW Bd. 3, 34 f. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, hg. von Johannes Winckelmann (Tübingen 51985) 177 ff. 43  Vgl.

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mit dem Marx’schen Theorieansatz vergleicht, viel stärker den Beruf und den Lebensstil als die Verfügung über Produktionsmittel. Webers Betonung des Lebensstils bezieht sich dabei sicher auch auf Einnahmequellen, aber eben auch auf standesgemäße Formen der Verausgabung von Einkommen. Soziale Typen wie z. B. der Parvenü sind deshalb mit Begriffen von Webers Soziologie sehr viel leichter zu fassen als mit Begriffen der Marx’schen Analyse, wenn auch der Marx’sche Begriff des Klassenbewusstseins durchaus im Sinne des Weber’schen Lebensstils interpretiert werden kann. In der gegenwärtigen Soziologie gibt es vor allem bei Bourdieu mit seinem Konzept des kulturellen Kapitals Versuche, den Weber’schen Begriff des Lebensstils mit Marx’ Klassenbegriff zu kombinieren.44 Vor allem für das späte 19. Jahrhundert sind gerade die Erfahrungen drastischer sozialer Mobilität, also Aufstiegs- und Abstiegsprozesse zwischen den Klassen, von größter Bedeutung für die Prägung des Bewusstseins nicht nur des Alltags, sondern auch der gesellschaftsbezogenen belletristischen Literatur. Das kann man in Deutschland sehr eindrucksvoll in den Romanen Fontanes sehen. In Frankreich, wo diese Prozesse in sehr viel massiverer Form abgelaufen sind, ließe sich die Soziologie der Klasse und die der Mobilität zwischen ihnen nahezu an allen großen Romanen des 19. Jahrhunderts deutlich machen, z. B. an denen von Stendhal, Balzac, Zola, Flaubert und Proust.

44  Vgl.

Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (Frankfurt a. M. 1982).

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Kritik

I. Einleitung Die Geschichte des Kritikbegriffs ist alt. Etymologisch leitet sich ›Kritik‹ vom griechischen κρίνειν (unterscheiden, trennen, auswählen, urteilen), κρίτικη (τέχνη) (Kunst des Prüfens) ab. Schon in der Antike herrscht die Bedeutung »beurteilen«, »prüfen«, »entscheiden« vor, sowohl in theoretischer wie in praktischer Hinsicht.1� Namentlich in der frühen Neuzeit kommt es dann zu einer Wiederaufnahme antiker Verwendungsweisen in Philologie, Logik und Ästhetik. Ab dem 17. Jahrhundert wird ›Kritik‹ im wissenschaftlichen Sprachgebrauch auch über diese Disziplinen hinaus verwendet: es entwickelt sich ein allgemeiner Gebrauch des Kritikbegriffs. Diese Generalisierungstendenz von ›Kritik‹ kulminiert zum einen in der Philosophie Kants. Zum anderen aber zeichnet sich Kants Philosophie ebenso durch einen eigentümlichen spezifischen Begriff von Kritik als Letztfundierungsstufe des philosophischen Systems aus. Nicht nur die Kantische Philosophie allgemein, sondern auch deren enger wie weiter Kritikbegriff haben die Entwicklung der Philosophie im 19. Jahrhundert entscheidend geprägt. Daher nehmen die folgenden begriffsgeschichtlichen Betrachtungen Kant als Ausgangs- und Referenzpunkt. Sie thematisieren den Kritikbegriff zudem weder in einer wortgeschichtlichen noch in einer geistesbzw. literaturgeschichtlichen Perspektive. Vielmehr wird der bei Kant fixierte Gehalt zum Leitfaden einer philosophiegeschichtlichen Untersuchung gemacht, die sich an exemplarischen Positionen entfaltet und in ihnen dem Schicksal des zum Ausgangspunkt genommenen Kantischen Kritikbegriffs nachspürt. Dieses Nachspüren ist auf den engen und weiten Kritikbegriff, und damit auf zwei allgemeine Konstellationen, beschränkt. (Spezialprobleme wie etwa das der philosophischen Philosophiehistoriographie – zweifelsohne auch eine ›Kritik der Bücher und Systeme‹ (Kant) –, das im 19. Jahrhundert eine große Rolle spielte, bleiben daher außen vor.)

1 Vgl.

eingehend Claus von Bormann, Giorgio Tonelli, Helmut Holzhey: Art. ›Kritik‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Basel 1971–2007) Bd. 4, 1249–1282, und Kurt Röttgers: Kritik. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Stuttgart 1972–1997) 651–675. Stärker als diese Untersuchungen rücke ich den philosophischen Gehalt des Kritikbegriffs in den Vordergrund Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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II.  Kants Weichenstellungen Kants weiter Kritikbegriff lässt sich über Kants transzendentale Umwälzung der philosophischen Begründungsproblematik gewinnen. Seine wirkungsgeschichtlich gesprochen kopernikanische, sachlich gesprochen transzendentale Wende macht klar, dass nur auf transzendentalem Weg Selbstvergewisserung der Erkenntnis erreicht werden kann. Im Zuge von Kants »Umänderung der Denkart« stellt sich,2 um den griffigen und gängigen (wenn auch nicht-kantischen) Terminus zu verwenden, die ›Subjektivität‹ als Prinzip möglichen Gegenstandsbezugs und damit als Grund von Objektivität heraus, wobei ›Subjektivität‹ hier Titel ist für das weder naturalistisch noch kulturalistisch zu verstehende Erkenntnisvermögen des Subjekts. Die transzendentale Erkenntnis der Erkenntnis führt sodann der Sache nach auf einen Inbegriff von Geltungsgründen, der nicht wie in der tradierten Metaphysik und im Empirismus durch den Rückgang auf ein Seiendes außerhalb der Erkenntnisrelation begriffen wird, sondern durch einen Rückgang auf die Erkenntnisrelation selbst. Die objektive Gültigkeit konkreter Sinnleistungen des erkennenden Subjekts findet ihren Grund im Inbegriff von Geltungsprinzipien oder, wie Kant sagt, »Bedingungen der Möglichkeit«. Die objektive Gültigkeit dieser Geltungsprinzipien wird dadurch legitimiert, dass sie sich geltungsfunktional als Bedingungen der Erkenntnis und damit als letztbegründend ausweisen lassen. Die Pointe des transzendentalen Gedankens ist also, dass die Subjektivität in gewisser Weise die objektive, weil Gegenständlichkeit begründende Bedingung für die Möglichkeit von Erkenntnis ist: Gegenständlichkeit steht von Anfang an unter den Bedingungen der Subjektivität. Mit Kants weitem Vernunftbegriff gesprochen: die Vernunft schöpft ihre Normativität aus sich selbst. Dass und wie sie dies tut, hat Kant in seinen Grundlegungsschriften herausgearbeitet. Für sie alle ist ›Kritik‹ ein Titelbegriff: Kritik der reinen Vernunft (1781/86), Kritik der praktischen Vernunft (1788), Kritik der Urteilskraft (1790). In ihnen geht es immer um die philosophische »Selbsterkenntniß« der Vernunft.3 Es wundert daher auch nicht, dass Kant von seinem philosophischen Ansatz als von einem »Kriticism«4 bzw. von einem »kritischen Weg« spricht, der anders als das dogmatische und skeptizistische Philosophieren »allein noch offen« sei.5 Dieser weite Kritikbegriff drückt im Kern das Programm von Kants Philosophie aus. Er ist ein programmatischer Begriff sowohl in thematischer wie in methodischer Hinsicht. Er bringt daher auch das Anliegen der Aufklärung formaliter auf den Punkt: Für Kant kommt die Aufklärung der Aufforderung gleich, 2  Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (= KrV), B XVI. Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe (= AA). 3  KrV, A XI. 4  AA, Bd. 20, 264. 5  KrV, B 884.

Kritik

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selbst zu denken: »Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«6 ist ihm der »Wahlspruch der Aufklärung«,7 und sein Zeitalter ist »das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß«.8 Auch »Religion« und »Gesetzgebung« müssen eine »freie und öffentliche Prüfung« durch Vernunft aushalten können.9 Der Kritikbegriff wird also inhaltlich maximalisiert: er umfasst (eigene, fremde) Gedanken und Texte ebenso wie Kunstwerke und Institutionen, sind alle doch Produkte menschlicher Vernunft. ›Kritik‹ wird infolgedessen zu einer allgemeinen Bestimmung des Menschen. Wie H. Fielding zwar ironisch, darum jedoch nicht weniger prägnant in seinem Modern Glossary (1752) schreibt: »Critic. Like Homo, a name common to all the human race.«10 Kants Kritizismus trägt dem Rechnung. Kritik bedarf jedoch des Maßstabes der Kritik. Ein wahrhaftes Zeitalter der Kritik muss also auch die logischen Bedingungen ihrer selbst einschließen, d. h., die Kritik hat in einer der Vernunft gemäßen und folglich begründeten Weise einen zureichend bestimmten Maßstab kritischer Überprüfung bereitzustellen. Entsprechend ist Kants philosophische Kritik der Vernunft keine der »Bücher und Systeme«, sondern eine des »Vernunftvermögens« selbst.11 Sie kann den Maßstab ihrer Kritik nicht mehr ›dogmatisch‹ voraussetzen und damit irgendeinem Gegebenen, d. i. irgendeiner externen Autorität entnehmen (Heteronomie), sondern sie hat »alle Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Einsetzung« zu gewinnen (Autonomie).12 Die Vernunft nimmt sich damit dem »beschwerlichsten aller ihrer Geschäfte« an: dem der »Selbsterkenntniß«.13 Mit dieser Aufgabe der Selbsterkenntnis gerät zugleich der enge Kritikbegriff in den Blick. Der enge Kritikbegriff gehört Kants Programm transzendentaler Philosophie nicht nur als Titelbegriff, sondern auch als methodischer Begriff zu. In dieser Hinsicht macht die Kritik eine spezifische Dimension der Grundlegungsaufgabe der Philosophie aus: sie fungiert als schlechthinnige Grundlehre, die jeglicher doktrinären Ausarbeitung des Systems der reinen Vernunft vorangeht. Entsprechend fasst Kant die Kritik als einen »Tractat von der Methode«14 auf und redet von ihr als von einer »Propädeutik zum System der reinen Vernunft«.15 Diese fundamentale Fundierungsstufe dient ihm als »Vorriß« zu einem auf ihr auf-

 6  AA, Bd. 8, 35..  7 Ebd.  8 

KrV, A XI Anm.

 9 Ebd. 10  Henry

Fielding: The Covent Garden Journal, nr. 4, 14.01.1752. In: The Criticism of John Fielding, ed. by Ion Williams (London 1970) 92. 11  KrV, A XII, B 27. 12  Ebd. B 779. 13  Ebd. A XI. 14  Ebd. B XXII, vgl. B 108: »Methodenlehre«. 15  Ebd. B 25, vgl. B 869.

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bauenden »System der Metaphysik«,16 die »Doctrin« (Sachlehre) ist.17 Für Kant bestimmt die Kritik den »ganzen Umriß« und »inneren Gliederbau« der Metaphysik.18 Kants Metaphysik ist daher eine Sachlehre mit einem transzendentalen Vorzeichen. Indem die Kritik die Ausgliederung und ansatzmäßige Bestimmung jeweiliger Grundrichtungen vernünftiger Betätigung thematisiert, und zwar: am Leitfaden des Problems damit einhergehender Geltungsansprüche, d. i. des Problems der ›objektiven Gültigkeit‹, ›ermöglicht‹ sie doktrinäre Erkenntnisse. Ihr Geschäft als Kritik ist nicht die Ausgestaltung ›synthetischer Urteile a priori‹, sondern deren ›Möglichkeit‹. Sie geht daher in ihrer Behandlung der (in aller konkreten Sinnbestimmung vorausgesetzten) a priorischen Synthese »nur so weit«, als es zur vollständigen »Beurtheilung« der synthetischen Erkenntnis a priori notwendig ist.19 Kants (reine) Philosophie ist eine Prinzipienlehre aus reiner Vernunft, die aufs Ganze gesehen besteht aus drei kritischen, nur grundlegenden Teilen – Kritik der reinen Vernunft, Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft – und den zwei doktrinären, kritisch grundgelegten: Metaphysik der Sitten (1997) und Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786).20

III.  Kritik der Kritik Kants Philosophie und ihre Redeweise von ›Kritik‹ erwiesen sich schon Ende des 18. Jahrhunderts dermaßen dominant, dass nicht nur die Verwendung des Wortes ›Kritik‹ in philosophischen Kontexten blühte, sondern zugleich die Verwendung ohne einen Bezug zu Kant nicht mehr auskommen konnte; auch dann, wenn gegen Kant den vor ihm gebräuchlichen Bedeutungen von ›Kritik‹ die größere Rolle zugesprochen wurde. Paradigmatisch sei für diese Form der Überbietung des Kantischen Kritikbegriffs auf Hamann und Herder hingewiesen, die sich in Auseinandersetzung mit der Kantischen Kritik für eine »Metakritik« stark machen.21 Der nachkantische deutsche Idealismus indes schlägt eine andere Richtung der Überbietung Kantischer Kritik ein, die sowohl einen positiven Anschluss an das Programm der Philosophie als Kritizismus – also an den 16 

Ebd. B XXII f. Ebd. B 25. 18  Ebd. B XXII f. 19  Ebd. B 28, vgl. B 25 f., 107 ff., B XXII f. 20 Vgl. zu Kants Verhältnisbestimmung von Kritik und Metaphysik etwa Werner Flach: Transzendentalphilosophie und Kritik. In: Tradition und Kritik, hg. von Wilhelm Arnold und Hermann Zeltner (Stuttgart-Bad Cannstatt 1967) 69–83, und Manfred Baum: Systemform und Selbsterkenntnis der Vernunft bei Kant. In: Architektonik und System in der Philosophie Kants, hg. von Hans Friedrich Fulda und Jürgen Stolzenberg (Hamburg 2001) 25–40. 21  Johann Georg Hamann: Metakritik über den Purismum der Vernunft (1783/84). Sämtliche Werke, hg. von Josef Nadler, Bd. 3 (Wien 1951) 281–289. Johann Gottfried von Herder: Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft (1799). Sämtliche Werke, hg. von Bernard Suphan, Bd. 21 (Berlin 1881, Nachdr. 1967) 1 ff. 17 

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weiten Kritikbegriff – enthält als auch eine tief einschneidende Transformation der spezifischen Grundlegungsfunktion von ›Kritik‹ – also des engen Kritikbegriffs – nach sich zieht: Zum einen lässt sich ein deutlicher Anschluss an Kants Programm der Philosophie als Kritizismus feststellen. Gleich ob Reinhold, Fichte, Schelling oder Hegel: für sie alle hat Kant eine Revolution in der philosophischen Denkungsart in Gang gesetzt, die es weniger aufzuhalten als vielmehr zu vollbringen gilt, und zwar indem die Voraussetzungen oder ›Fundamente‹ der Kantischen Philosophie selbst kritisch in den Blick genommen werden. Für die Vollbringer ist die Philosophie in eine methodische und systemische Form zu bringen, die anders als bei Kant selbst dem Anspruch des Kantischen Kritizismus gemäß ist. In Auseinandersetzung mit Kant profiliert sich Reinhold durch eine neue Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens (1789); Fichte versucht durch eine neue Wissenschaftslehre (1794 ff.) Kant zu überbieten; Schelling hat auf Fichte schon mit seinem philosophischen Erstling Über den Begriff der Wissenschaftslehre (1794) reagiert und in der bald darauffolgenden Schrift Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795), wie Reinhold und Fichte vor ihm, der bei Kant fehlenden Einheit und Einheitlichkeit Abhilfe zu schaffen versucht. Ebenso tritt Hegel etwas später in seiner Differenzschrift (1801) für den Standpunkt des spekulativen Idealismus ein und damit für die Idee als in sich differenzierten Einheitsgrund von allem sowie einer Darstellungsweise, die der Idee adäquat ist, nämlich spekulativ vorgeht. Gemeinsam geben Schelling und Hegel ab 1802 ein Kritisches Journal der Philosophie heraus, dessen jedenfalls angekündigter Zweck es war, »endlich reine Bahn« für die »wahre Philosophie« zu machen.22 Sie alle sind Kants Kritik als kritischer Philosophie und damit als Kritizismus verpflichtet – freilich unter der Maßgabe der schon früh von Reinhold geprägten programmatischen Kantkritik. Hiernach fehlen Kants Philosophie die »Prämissen«;23 sie fordere daher eine tiefere Grundlegung, so dass über Kant hinausgegangen werden müsse. »Kant hat überhaupt die richtige Philosophie«, schreibt Fichte, »aber nur in ihren Resultaten, nicht nach ihren Gründen«.24 Darin aber liegt, wie Schelling es formuliert: »Die Philosophie ist noch nicht am

22 

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Theorie-Werkausgabe, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 2 (Frankfurt a. M. 1971) [= TWA], 170. 23  Karl Leonhard Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens (Prag, Jena 1789) 67: Die »eigentlichen Prämissen« können erst »nach« der Wissenschaft selbst gefunden werden; deshalb will Reinhold den »Resultaten« der Kritik der reinen Vernunft unabhängig von Kant ihre »volle Bestätigung« verschaffen (ebd. 68). 24  Johann Gottlieb Fichte: Brief vom Dezember 1793 an Heinrich Stephani. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff.) [= GA], Bd. III/2, 28. Vgl. auch den Brief an Niethammer vom Oktober-November 1793: Kant hat die Wahrheit »blos angedeutet, aber weder dargestellt, noch bewiesen« (ebd. 20).

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Ende. Kant hat die Resultate gegeben: die Prämissen fehlen noch. Und wer kann Resultate verstehen ohne Prämissen?«25 Mit dieser Einschätzung geht eine innovative Kantaneignung einher, die freilich der Differenz von ›Geist und Buchstaben‹ der Kantischen Philosophie sehr verpflichtet ist. Kants enger Kritikbegriff als Grundlegungsdisziplin von Naturund Sittenmetaphysik und als methodologischer Traktat der Philosophie wird dabei zwar nicht preisgegeben, erfährt jedoch eine tief- und weitreichende Transformation: Obwohl Fichte Kants Unterscheidung von Kritik und Metaphysik für seine Wissenschaftslehre fruchtbar zu machen versucht,26 und Wissenschaftslehre als Metaphysik von einer diese fundierende Kritik der Wissenschaftslehre unterscheidet (so dass seine Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre als zur »Kritik der Wissenschaftslehre« zugehörig zu verstehen ist),27 wird damit Kants Architektonik der Vernunft samt ihrer Gliederung von drei kritischen und zwei metaphysischen Teilen nicht mehr aufgenommen. Vielmehr bemüht sich Fichte darum, die praktische Vernunft als Grundlage von theoretischer und praktischer Vernunft zu etablieren und so den als mangelhaft empfundenen Kantischen Dualismus durch einen Vernunftbegriff zu überwinden, der einen absoluten Einheitsgrund konzipiert. Diesem Vorhaben entsprechend zögert er nicht, sein System als »höhern vollendeten«,28 »ächten durchgeführten Kriticismus«29 aufzufassen, während der Kantische sodann als »halber Kriticismus« erscheint.30 Gerade wenn man auf den Systembegriff der Philosophie blickt, wird der transformierte Sinn von Kritik qua reiner Fundierungsdimension sichtbar. Die nachkantischen idealistischen Diskussionen drehten sich nicht umsonst um die Systemform und die damit einhergehende Methode der Philosophie.31 Reinhold,32 Fichte33 oder Hegel34 etwa sind mit Kant der festen Überzeugung, dass die Systemförmigkeit der Philosophie Kriterium ihrer Wissenschaftlichkeit 25  Friedrich

Wilhelm Joseph Schelling: Brief an Hegel vom 6. Januar 1795. In: Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, hg. von Manfred Frank und Gerhard Kurz (Frankfurt/M. 1975) 119. 26 J. G. Fichte: Über den Begriff der Wissenschaftslehre. Vorrede zur 2. Ausg. (1798). GA Bd. I/2, 159 ff. 27  Ebd. Bd. I/2, 160. 28  Ders.: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797). GA Bd. I/4, 202. 29  Ders.: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre. Vorbericht (1794). GA Bd. I/2, 254. 30  Ders.: Versuch, a. a.O. [Anm. 28]. GA Bd. I/4, 203. 31 Vgl. zum folgenden Christian Krijnen: Philosophie als System. Prinzipientheoretische Untersuchungen zum Systemgedanken bei Hegel, im Neukantianismus und in der Gegenwartsphilosophie (Würzburg 2008). 32  Vgl. paradigmatisch Karl Leonhard Reinhold: Über das Fundament des philosophischen Wissens. In: Über das Fundament des philosophischen Wissens (1791); ders.: Über die Möglichkeit der Philosophie als strenge Wissenschaft (1790), hg. von Wolfgang Schrader (Hamburg 1978). 33 Vgl. J. G. Fichte: Über den Begriff der Wissenschaftslehre überhaupt, §  1 (1794/98). GA Bd. I/2, 112 ff. 34 Vgl. G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) § 14, hg. von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler (Hamburg 81991) 67.

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ist. Sie sind aber ebenfalls der festen Überzeugung, dass Kant die Begründung der Philosophie als System nur unzureichend geleistet hat. Ihnen zufolge bleiben Form und Inhalt des Systems einander abstrakt entgegengesetzt. Reinhold macht den programmatischen Anfang, indem er Descartes’ Vorschlag aufgreift und geltend macht, die Philosophie müsse in einem einzigen Grundsatz fundiert sein. Er bestreitet vehement die Systematizität und damit die Wissenschaftlichkeit von Kants Kritik.35 Kants Kritik expliziere ihren eigenen Systemcharakter nicht selbst systematisch, bleibe also mit einem Begründungsdefizit befrachtet.36 Indes will Reinhold das Eine, das »Fundament« thematisieren, das Kants Kritik bloß implizit zugrunde liege.37 Er fordert eine Vereinigung von Form und Inhalt des Systems im ›Fundament‹, und zwar in der Weise des »Durchsichselbstbestimmtseyns« des ersten »Grundsatzes«.38 Auf diesem ersten Grundsatz soll das ganze System der Philosophie aufgebaut werden. Es ist ein Grundsatz, dem sich alle anderen Sätze im System unterordnen, indem er diesen abgeleiteten Sätzen Bestimmtheit und allgemeine Geltung verschafft. Fichte greift Reinholds Gedankenführung auf. Wie Reinhold sieht er eine zu tilgende Diskrepanz zwischen der Ausführung und dem Vorsatz Kants, dem Resultat und den Voraussetzungen; Kants Philosophie sei begründungsbedürftig.39 Entsprechend fordert Fichte wie Reinhold eine Selbstexplikation des Systems.40 Er verabschiedet jedoch den traditionellen Sinn des Gedankens von Begründung der Philosophie ›aus einem Prinzip‹ (von Prämissen zu Folgen). Dem System muss Fichte zufolge nämlich eine zirkuläre Begründungsform eignen, gemäß der der Anfang oder Ausgangspunkt der Entwicklung sich als Endpunkt der Entwicklung erweist.41 Durch eine derartige Begründungsform wird die Äußerlichkeit von Gegenstand und Methode entsprechend dem von Kants dritter Kritik vorgezeichneten Weg formaliter überwunden. Kants Modell der architektonischen Einheit der Vernunft und Reinholds Forderung nach Selbstexplikation des ersten Grundsatzes verbindet Fichte also durch eine kreisförmige Begründungsstruktur. An die Stelle des linearen Begründungsmodells ›aus einem 35 

K. L. Reinhold: Über das Fundament, a.a.O [Anm. 32] 115 ff., 133. Die Kritik sei weder umfassend genug noch zureichend begründet, um als Grundlage des gesamten Systems der Philosophie fungieren zu können (ebd. 129; vgl. noch 67, 132). 37  Vgl. ebd. 14, 5 f., 71 ff., 116 f., 132. 38  Ebd. 111. 39  Vgl. etwa J. G. Fichte: Recension des Aenesidemus … (1792). GA Bd. I/2, 51, 61, 67; ders.: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797). GA Bd. I/4, 230 f.; ders.: Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre … (1806). GA Bd. II/10, 21 f.; ders.: Brief an F. I. Niethammer vom 6. 12. 1793. GA Bd. III/2, 20 f.; ders.: Brief an H. Stephani Mitte Dez. 1793. GA III/2, 28. 40  Es sei die Regel wie die Rechnung (J. G. Fichte: Über den Begriff der Wissenschaftslehre. GA I/2, 145). – Mit Schlegel gesprochen, für die Kritik der Philosophie »Philosophie der Philosophie« und damit »absolute Philosophie« ist (Philosophische Fragmente [1797]. Kritische Ausgabe, hg. von Ernst Behler et al. [München et al. 1958 ff.] Bd. 19, 107, 112), ist Fichtes »kritische Methode« zugleich »Philosophie und Philosophie der Philosophie« (Athenäums-Fragment Nr. 281. Kritische Ausgabe, ebd. Bd. 2, 213). 41  Vgl. Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre, a. a. O. [Anm. 39] § 4. GA I/2, 129. 36 

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Prinzip‹ bzw. Fundament tritt eine zirkuläre Konzeption, in der der Grundsatz, von dem ausgegangen wird, zugleich das Resultat ist.42 Dabei ist das System nicht nur subjektiv als Form eines Ganzen wissenschaftlicher Sätze unter einem Prinzip, sondern die menschliche Vernunft ist auch objektiv ein System. Das System der Vernunft ist also nicht ein bloßes Ordnungsprinzip jenseits der Objektivität: es ist Einheitsgrund möglicher Objektivität. Die Idee der Begründung der Philosophie gestaltet sich im Entwicklungsgang des nachkantischen Idealismus entsprechend zu einem radikalen Selbstkonstitutionsprozess der Vernunft. Philosophische Begründung wird zu einem Prozess konkreter philosophischer Selbstkonstitution, aus der alle Prinzipien als Momente des Ganzen hervorgehen. Fichtes Durchführung der zyklischen Begründung fällt allerdings hinter den Anspruch und die Möglichkeiten des Programms zurück. Hegel hat dies gesehen.43 Er hat zugleich den Systemgedanken als Prozess konkreter philosophischer Selbstkonstitution paradigmatisch vorgeführt. Hier gestaltet sich die Selbstkonstitution der Vernunft so, dass durch den absoluten Selbstbezug jegliche Äußerlichkeit von Sache und Methode formaliter und materialiter getilgt wird: das System der Philosophie ist nichts weniger als die Explikation der Systematizität der Vernunft selbst, und zwar: als des (objektiven) Grundes von allem, was irgendwie als Logisches, Natur oder Geist, ist. Hegels System der Philosophie ist so angelegt, dass die Vernunft Subjekt wie Objekt des Ganzen ist. Daher wird das System der Philosophie zur Selbsterkenntnis der »absoluten Idee« als des »absoluten Geistes«. Ein derartiges System ist weder bloß ein Weltsystem noch ein System bloßer Erkenntnisse (im Unterschied vom Erkannten), sondern das diese beiden Systeme fundierende System »objektiver Gedanken«. Nur als eine solche totale Reflexion ist Philosophie als strenge Wissenschaft möglich. So lautet jedenfalls die elaborierteste Form von Systemphilosophie, die wir bis heute kennen. Darin liegt für den engen Kritikbegriff als Letztfundierungsstufe, dass er im Systemgedanken aufgehoben ist, namentlich in der methodischen Struktur spekulativer Begriffsentwicklung. Hegels Begründungsprogramm ist das einer immanenten Selbstreproduktion des (begreifenden) Denkens; einer Selbstpro42  Vgl. zu Fichtes zirkulärem Begründungskonzept etwa: Wolfgang H. Schrader: Philosophie als System – Reinhold und Fichte. In: Erneuerung der Transzendentalphilosophie im Anschluß an Kant und Fichte, hg. von Klaus Hammacher und Albert Mues (Stuttgart-Bad Cannstatt 1979) 331–344; ders.: Systemphilosophie als Aufklärung. Zum Philosophiebegriff K. L. Reinholds. In: Studia Leibnitiana 15 (1983) 72–81; Tom Rockmore: Remarks on Fichte’s Relevance. Hegel and Circular Epistemology. In: Transzendentalphilosophie als System. Die Auseinandersetzung zwischen 1794 und 1806, hg. von A. Mues (Hamburg 1989) 105–116; ders.: Fichtean Circularity, Antifoundationalism and Groundless System. In: Idealistic Studies 25 (1995) 107–124. 43  Vgl. etwa Hegels Ausführungen zur Frage »Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?«, speziell zu Fichte: Hegel: Wissenschaft der Logik: Erster Teil, hg. von Georg Lasson (Leipzig 1951) [= I] 60 ff. Vgl. aber auch die Differenzschrift (1801) sowie Glauben und Wissen (1802) (beide in TWA, a. a.O. [Anm. 22] Bd. 2).

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duktion, in der jeder Fortgang im Weiterbestimmen des unbestimmten Anfangs einen Rückgang zu diesem Anfang bildet.44 Diesem Konzept der radikalen Selbstgestaltung des Be­griffs gemäß, fängt die Seinslogik beim Sein als dem Unbestimmten an, führt es zu seiner ersten Bestimmtheit und sodann in einer immanenten Begriffsprogression zum Abschlussbegriff der Logik: der absoluten Idee. Diese erweist sich als der einzige Inhalt und Gegenstand der Philosophie.45 Hegel konzipiert sie nicht – wie die frühere Metaphysik – als ein Seiendes, sondern als die Methode, d. h. als die eigen­tüm­liche Prozessualität, die den reinen Gedanken­bestim­mungen der Logik eigen ist, in eins mit dem System dieser Gedankenbestim­mungen. Sie enthält also alle Bestimmtheit in sich.46 Diese alle Bestimmtheit in sich enthaltende Idee kann sie aber nur sein, wenn sie dazu methodisch disponiert ist. Dies besagt für Hegel: im philosophischen Begreifen kommt es darauf an, dass es die »Natur des Inhalts« selbst ist, die sich »bewegt«, der Inhalt also selbst seine Bestimmung »setzt und erzeugt«.47 Eine solchermaßen als immanente Begriffsprogression vom Anfang des Denkens als des unbestimmten Unmittelbaren bis hin zur Vollendung seiner Selbstbewegung im Verständnis ebendieser seiner Bewegung entwickelte Logik ist weder eine vorkantische Metaphysik noch eine unkritische Lehre des begreifenden Denkens. Die thematischen Begriffe ergeben sich methodisch geregelt aus der Sache selbst. Am Anfang einer spekulativen Begriffssequenz werden sie exponiert und sodann realisiert; damit werden sie, mit Kant gesprochen, in ihrem Umfang, Inhalt und ihren Grenzen bestimmt. Wenn die absolute Idee alle Bestimmtheit in sich enthält, erschöpft sie sich freilich nicht als logische Idee; aufs Ganze der Philosophie gesehen, ist sie vielmehr thematisch in drei Bestimmungshinsichten: als reines Denken, als Natur und als Geist.48 Auch Natur und Geist als die beiden Sphären des Realen werden in der Weise einer immanenten, durchaus die Erfahrung anerkennenden Entwicklung der Idee in die Philosophie einbezogen. Die Logik bildet dabei – wie Kants Kritik – als »innerer Bildner« und »Vorbilder«49 der Realphilosophie die »Grundlage« jeglicher naturalen und geistigen Bestimmtheit.50 Ihrer fun­ dierenden Funktion zufolge hat Hegel sie nicht nur als »erste«, sondern auch als »letzte« Wissenschaft des philosophischen Systems qualifiziert.51 Jegliche Bestimmtheit – sei sie nun eine empirische oder eine (Empirisches fun­dierende) realphilosophische – wird also nicht nur letztlich in die Logik als schlecht­hinnige Grundlage zurückgenommen; sondern am Ende der Systementwicklung wird 44 

I, 55 ff.; ders.: Zweiter Teil, hg. von Georg Lasson (Leipzig 1951) [= II] 498 ff. Ebd. II, 484. 46 Ebd. 47  Ebd. I, 6. 48 Vgl. hierzu und zum folgenden: Ch. Krijnen: Philosophie als System, a. a.O. [Anm. 31] 4.2.1.2. 49  Hegel, II, 231. 50  Ebd. II, 224, vgl. auch TWA, 8, § 24 Z 1. 51  Ebd. II, 437. 45 

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die Logik sogar sich wissendes Logisches, das sich zugleich als Einheit von Natur und Geist, und damit als Prinzipiations­grund von Rea­lem weiß: die Philosophie selbst wird als schlechthinnige Grund­legungs- oder Totalitätswissenschaft begriffen.52

IV.  Niedergang und Revitalisierung der Kritik Zweifelsohne lässt sich Hegels Tod philosophiehistorisch als symbolisches Datum verstehen, an dem die bis dahin führende idealistische Philosophie ihre beherrschende Stellung im geistigen Leben Deutschlands verliert.53 Während die deutsche Philosophie geradezu in eine nachidealistische Identitätskrise stürzt, beginnt in Deutsch­land erst nach Hegels Ableben das Zeitalter der empirischen Wissen­schaft, der historischen Bildung, des Realismus und des »Illusionsverlusts«.54 Im Zuge dieser Entwicklung ändert sich das Verhältnis der Einzelwissenschaften zur Philosophie grundlegend. Anstatt dass der Philosophie, wie es bis dahin maßgeblich war, im Ganzen der Wissenschaften eine eigenständige, notwendige und gar orientierende Funktion zugebilligt wird, sollen sich die Einzelwissenschaften nun nach Ansicht vieler Zeitgenossen endgültig von der Philosophie emanzipieren. Damit wird auch die von den Griechen bis zu Hegel tradierte Gleichsetzung der Begriffe ›Philosophie‹ und ›Wissenschaft‹ verabschiedet. Der Philosophie wird die Fähigkeit abgesprochen, die Einzelwissenschaften zu begründen, scheinen philosophische Begründungen ihrer Prinzipien und Methoden den Einzelwissenschaften doch entbehrlich.55 Wie sich herausstellt, ist die Philosophie, um aus ihrer Identitätskrise heraus zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Leistung zu finden, nicht darauf festgelegt, dadurch mit der Naturwissenschaft in Konkurrenz zu treten, dass sie sich ganz der historisch-hermeneutischen Forschung verschreibt und folglich als Geisteswissenschaft missversteht. Ebenso wenig ist sie gezwungen, im Zuge des Materialismus56 die Einzelwissenschaften selbst als zeitgemäße Form der Philosophie zu propagieren und damit dem Szientismus das Wort zu reden. Sie ist 52 Vgl.

zur Logik als letzter Wissenschaft Ch. Krijnen: Philosophie als System, a. a.O. [Anm. 31] 4.2.3, bes. 228 ff. 53 Vgl. dazu etwa die philosophischen Historiographien von Ernst von Aster: Die Philosophie der Gegenwart (Leiden 1935) 4 f.; Gerhard Lehmann: Die deutsche Philosophie der Gegenwart (Stuttgart 1943) 33; Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933 (Frankfurt a. M. 1983) 15 ff. . 54 Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes (Frankfurt a. M. 51994) 101. 55 Vgl. Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Teil 4 (Darmstadt 21994) 11 ff. Alwin Diemer (Hg.): Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im neunzehnten Jahrhundert (Meisenheim am Glan 1968). 56 Vgl. zum ›Materialismus‹ und zum ›Materialismus-Streit‹ Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart [1865], hg. von Hermann Cohen (Leipzig 101921); Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert (Hamburg 2007).

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auch nicht gehalten, Philosophie zwar als Kritik zu nehmen, sie jedoch dergestalt wiederzubeleben, dass sie sich wie im Linkshegelianismus als bloße Kritik am ›unwahren‹ Status des Bestehenden erschöpft.57 Ludwig Feuerbachs Denken versteht sich als Kritik an Kant58 wie auch an der absoluten Idee im Sinne Schellings und Hegels.59 Hegel habe zwar »ein negatives, kritisches Element in sich«; ihn bestimme aber »die Idee des Absoluten«, die ihn daran hindere, eine »genetisch-kritische Philosophie« zu entwickeln; diese würde jeden Gegenstand daraufhin prüfen, ob er überhaupt ein »wirklicher Gegenstand oder nur eine Vorstellung, […] ein psychologisches Phänomen ist«.60 Bruno Bauer wirft Feuerbach jedoch vor, in seiner Kritik der Religion zwar die Religion in ein »Verhältnis des menschlichen Wesens zu dem Menschen« umgewandelt zu haben, dadurch aber das, was er habe kritisieren wollen, das über dem Menschen stehende Wesen, nur noch erhärtet zu haben.61 Die Kritik darf aber hier nicht stehen bleiben; sie müsse vielmehr alle sich bildenden Verfestigungen auflösen und mache dabei auch »sich selbst […] zu ihrem Gegenstande«.62 Die Kritik »will Nichts […] als die Dinge kennen lernen«, da das Ich »gegen die Dinge frei sein will und nur »das Bild [ihrer] Hoheit, Nichtsnutzigkeit und Impotenz darbietet«.63 Damit treffen Bauer und seine Mitstreiter auf die entschiedene Opposition von Karl Marx und Friedrich Engels, die in der Kritik eine theologische Grundlage bloßlegen wollen: »Der religiöse Welterlöser endlich ist verwirklicht in dem kritischen Welterlöser, Herrn Bauer.«64 Innerhalb der akademischen Philosophie ergab sich vielmehr eine weitere Möglichkeit der Neubegründung von Philosophie. Sie wurde sogar von Naturwissenschaftlern wie Liebig und Helm­holtz befürwortet. Diese sahen sich trotz der Erfolge des auftrumpfenden Materialismus zu einer Prüfung der Grundlagen ihrer Disziplinen gezwungen, die entgegen der materialistischen Auffassung zu einem Problembereich führte, dessen Behandlung über die naturwissenschaftliche Kompetenz hinausgeht und eine genuin philosophische Herangehensweise erfordert.65 Bei Helmholtz mündete dies in eine physiologische Kant-Interpretation. 57  Vgl.

zur Bewahrung bzw. zum Umsturz von Hegels Philosophie durch die Rechts- bzw. Linkshegelianer: Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne (Frankfurt a. M. 1985) 65–94; Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche (Hamburg 91986) 65–135. 58  Ludwig Feuerbach: Das Pathos der Kritik und die Kritik der unreinen Vernunft. Gesammelte Werke, hg. von Werner Schuffenhauer, Bd. 9 (Berlin 1979) 80 f. 59  Ders.: Zur Kritik der Hegelschen Philosophie (1839). Werke, ebd. 39 f. 60  Ebd. 52. 61  Bruno Bauer: Die Gattung und die Masse (1844). In: ders.: Feldzüge der reinen Kritik, hg. von Hans-Martin Saß (Frankfurt a. M. 1968) 216 f. 62  Ders.: Was ist jetzt Gegenstand der Kritik? (1844). In: ebd. 211. 63  Edgar Bauer: 1842. In: Allgemeine Literatur-Zeitung, Heft 8 (1844) 3–8, zit. 8. 64  Karl Marx, Friedrich Engels: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik (1845). Marx, Engels: Werke Bd. 2 (Berlin 1972) 151. 65 Vgl. etwa Hermann Ludwig Ferdinand von Helmholtz: Über das Sehen des Menschen (1855). Vorträge und Reden (Braunschweig 41896) 45–77.

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Mit dieser Problematisierung eines philosophischen Arbeitsfeldes werden wir direkt in die Anfänge der neukantianischen Programmatik und damit in die Anfänge derjenigen philosophischen Strömung geführt, die sich im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ›Kritizismus‹ zur diskursbestimmenden Philo­sophie entwickelte und es in den ersten beiden Dezen­nien des 20. Jahrhunderts, d. i. des ›langen‹ 19. Jahrhunderts, blieb. Damit sind die sich Ende der 1870er Jahren formierenden beiden Schulen von Marburg (insbes. Hermann Cohen, Paul Natorp, Ernst Cassirer) und Südwestdeutschland (insbes. Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert, Emil Lask, Bruno Bauch) gemeint. Anders als die Anfänge der neukantianischen Bewegung enthalten diese in der Forschung gemeinhin als ›eigentlicher Neukantianismus‹ bezeichneten Schulen dessen ausgereifte Lehrstücke.66 Zweifelsohne bringt Otto Liebmanns Diktum ›zurück zu Kant‹ den dezidierten Rückgriff auf Kant prägnant und programmatisch zum Ausdruck;67 Kantische Motive lassen sich jedoch nicht nur im Neukantianismus, sondern in vielen philosophi­schen Strömungen des 19. Jahrhunderts nachweisen.68 Dilthey hat sich geradezu zeitlebens um eine »Kritik der historischen Vernunft« bemüht.69 Er schließt sich zwar terminologisch an Kant an, bietet der Sache nach jedoch eine tiefgreifende Kant-Kritik und entfernt sich sowohl vom weiten wie vom engen Kritikbegriff Kants, ebenso wie dies etwa im Empiriokritizismus von Richard Avenarius’ Kritik der reinen Erfahrung der Fall ist.70 66  In

philosophiegeschichtlichen Darstellungen aus der Zeit wird ›Neukantianismus‹ entsprechend seiner dominanten Stellung durchaus weit gefasst. Traugott Konstantin Oesterreich: Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie. Teil 4: Die deutsche Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts und der Gegenwart (Berlin 121923) 46 ff., unterscheidet nicht weniger als sieben Richtungen: physiologischer Neukantianismus (H. Helmholtz), metaphysischer Neukantianismus (O. Liebmann, Johannes Volkelt), realistischer Neukantianismus (Alois Riehl), logizistisch-methodologischer Neukantianismus (H. Cohen, P. Natorp, E. Cassirer), werttheoretischer Neukantianismus (W. Windelband, H. Rickert, Hugo Münsterberg), relativistischer Neukantianismus (Georg Simmel) und psychologistischer Neukantianismus (Hans Cornelius, Leonard Nelson). Lewis White Beck: Neo-Kantianism. In: The Encyclopaedia of Philosophy, ed. by Paul Edwards (New York 1967) 468–473, fügt dieser Klassifikation sogar noch einen ontologisch-metaphysischen Neukantianismus hinzu (Max Wundt, Heinz Heimsoeth, Martin Heidegger, Gottfried Martin). 67  Vgl. Otto Liebmann: Kant und die Epigonen: Eine kritische Abhandlung (Stuttgart 1865), hg. von Bruno Bauch (Berlin 1912). 68  Überhaupt gab es in Europa in der der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfältige Versuche, durch einen Rückgriff auf Kant die Philosophie systematisch neu zu beleben. Vgl. dazu etwa die Hinweise von Helmut Holzhey: Der Neukantianismus. In: Geschichte der Philosophie Bd. 12: Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jh.s Bd. 2, hg. von H. Holzhey und Wolfgang Röd (München 2004) 33 f. 69  Es handelt sich zwar nicht um den Titel einer Schrift Diltheys, aber um ein philosophisches Programm. Vgl. Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften (Leipzig [u. a.] 1914 ff.), Bd. 1, IX; Bd. 5, 9; Bd. 7, 117, 191, 358; Bd. 8, 264. Vgl. z. B. Bd. 7, 278: »Es gilt für die historische Vernunft die Aufgabe zu lösen, welche noch nicht voll in den Gesichtskreis der Vernunftkritik Kants gefallen ist.« 70  Richard Avenarius: Kritik der reinen Erfahrung (Leipzig 1888).

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Zwar haben sich die Neukantianer, wie schon der Name besagt, um eine Revitalisierung des Idealismus durch einen Rückgang auf Kants Philosophie bemüht. Aber wie bei Avenarius, Dilthey oder schon den nachkantischen Idealisten kommt dieser Rückgang auf Kant ohne einschneidende Kritik an Kant nicht aus. Das Liebmannsche Diktum muss also durch das von Windelband ergänzt werden: »Kant verstehen, heißt über ihn hinausgehen«.71 Auch wenn Neukantianer wie Cohen, Bauch und Cassirer sich zugleich durch Kant-Auslegungen hervorgetan haben; für sie alle heißt Kant verstehen: ihn systematisch weiterbilden.72 Kant spielt daher für die Neukantianer primär eine systematische Rolle. Sie entnehmen Kants kritischer Philosophie nicht nur die Erkenntnis, dass Philosophie wesentlich Geltungstheorie ist, d. h. Theorie der Geltungsbestimmtheit theoretischer und atheoretischer (praktischer, religiöser, ästhetischer etc.) Leistungen. Für die Entwicklung einer solchen Theorie wird sodann der zentrale Gedanke der kritischen Lehre Kants maßgebend, dass jene Leistungen über ihre Geltungsbestimmtheit zu bestimmen ist, und zwar: als Bestimmung ihrer Geltungsprinzipien. Die Neukantianer rücken also das Problem der Geltung wie auch die Methode zu dessen Bewältigung ins Zentrum ihrer Bemühungen. Sie greifen Kants Einsichten auf, bewerten sie und nehmen, wenn nötig (tiefgreifende) Modifikationen an Kant vor. Folglich reaktivieren die Neukantianer nicht nur Kants Beitrag, sondern aktualisieren ihn auch in der durchaus anders gelagerten problemgeschichtlichen Konstellation ihrer Zeit. ›Kritik‹ bzw. ›Kritizismus‹ oder ›kritische Philosophie‹ stehen damit in erster Linie thematisch und methodisch für ein philosophisches Programm. Schon Alois Riehl hatte 1876 »Kritizismus« als »Methode« bezeichnet, »erkenntnistheoretische Fragestellungen unabhängig von jeder psychologischen Annahme zu lösen« und »die Grundbegriffe der Erfahrung überhaupt […] auf ihren Wahrheitsgehalt, d. i. ihre objective Giltigkeit zu prüfen«.73 Cohen, verwendet 71  Wilhelm Windelband: Vorwort. In: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte (Tübingen 51915) Bd.  1, IV. 72 Vgl. H. Cohen: »Von vornhinein war es mir um die Weiterbildung von Kant’s System zu tun«. Ders.: Logik der reinen Erkenntnis (Berlin 1902) VII. Vgl. H. Rickert: Neukantianer dürfen sich nur diejenigen nennen, die etwas Neues gebracht haben und also »dadurch, daß sie auf Kant zurückgingen, die wissenschaftliche Philosophie zugleich vorwärts« führten (Heinrich Rickert: Alois Riehl. In: Logos 13 (1924/25) 162–185, zit. 163–166.); entsprechend komme es nicht darauf an, was ›Kantisch‹, sondern was ›richtig‹ ist. Ders.: Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie (Berlin 1899) Vorbemerkung. Vgl. P. Natorp: Es wird nicht »etwa diese oder jene Aufstellung Kants starr festgehalten«, sondern es geht darum, dass »die Bearbeitung der Aufgabe, die er der Erkenntniskritik […] mit Klarheit gestellt hat, mit gesammelter Kraft aufgenommen, was er und die großen vor und nach ihm zur Lösung dieser Arbeit beigetragen haben, gewissenhaft genutzt, geklärt, vertieft und weitergeführt wird«. Ders.: Zum Gedächtnis Kants. In: Immanuel Kant zu ehren, hg. von Joachim Kopper und Rudolf Malter (Frankfurt a. M. 1974) 236–260, zit. 243. 73  Alois Riehl: Der philosophische Kriticismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft, Bd. 1 (Leipzig 1876) V.

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in diesem Sinne den Terminus »Erkenntnis-Kritik« statt »Erkenntnistheorie«, um in durchaus kritischer Erinnerung an Kants Philosophie deren nicht-psychologischen, sondern geltungslogischen Charakter herauszustreichen, so dass die Erkenntniskritik zugleich den Gehalt des »Transzendentalen« verdeutlicht und bestimmt; entsprechend modelt Cohen die Erkenntniskritik zu einer »transzendentalen« bzw. zur »transzendentalen Logik«, die die Geltungsgrundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis auf den Begriff bringt.74 Obwohl Cohen später den Terminus »Kritik« aus ähnlichen philosophiemethodischen Gründen wie vor ihm etwa Hegel verwirft – denn es müsse die »Logik selbst als Kritik« zur Geltung gebracht werden75 – bleibt insgesamt für die Neukantianer maßgebend, dass Philosophie nur als ›kritischer Idealismus‹ möglich ist. Ganz auf dieser Linie hat Paul Natorp sich in einem programmatischen Aufsatz über Kant und die Marburger Schule für die »›transzendentale Methode‹ als die Methode des Idealismus, und somit den unzerstörbaren Grundgehalt der Philosophie Kants« stak gemacht.76 Ins gleiche Horn bläst Windelband, mit dem Aufsatz Kritische oder genetische Methode? Er richtet die »kritische Philosophie« auf das Problem der »Geltung der Axiome« aus und fordert dessen Lösung durch den Rückgang auf einen Inbegriff von »Normen, welche unter der Voraussetzung gelten sollen, dass das Denken den Zweck wahr zu sein, das Wollen den Zweck gut zu sein, das Fühlen den Zweck Schönheit zu erfassen, in allgemein anzuerkennender Weise erfüllen will«.77 Heinrich Rickert hat entsprechend eine »Einführung in die Transzendentalphilosophie«,78 ein Buch über Kant als Philosoph der modernen Kultur79 oder einen Text über Die Heidelberger Tradition und Kants Kritizismus geschrieben,80 um nur das terminologisch Affine zu nennen. Es sei das »kopernikanische Grundprinzip« des »kritischen Subjektivismus« oder »Kritizismus«, dass die »Objektivität als allgemeine Gültigkeit« in der transzendentalen »Subjektivität« begründet sei.81 Diesem so verstandenen Kritizismus als

74 H. Cohen: Das Prinzip der Infinitesimal-Methode. Ein Kapitel zur Grundlegung der Erkenntniskritik (1883) (Frankfurt a. M. 1968) §§ 7–9. Vgl. auch die auf Cohen anspielenden psychologiekritischen Bemerkungen von P. Natorp: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode (Tübingen 1912) 94 f. 75  H. Cohen: Logik der reinen Erkenntnis (21914). Werke, hg. von H. Holzhey (Hildesheim, New York 1977 ff.) Bd. 6, 37. 76  Paul Natorp: Kant und die Marburger Schule. In: Kant-Studien 17 (1912) 193–221, zit. 200. 77 Wilhelm Windelband: Kritische oder genetische Methode? (1883). In: ders.: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte (Tübingen 51915) 99–135, 109 u.ö. 78  Heinrich Rickert: Der Gegenstand der Erkenntnis (Tübingen 61928) Untertitel. 79  Ders.: Kant als Philosoph der modernen Kultur. Ein geschichtsphilosophischer Versuch (Tübingen 1924). 80  Ders.: Die Heidelberger Tradition und Kants Kritizismus. In: Deutsche systematische Philosophie nach ihren Gestaltern, hg. von Hermann Schwarz (Berlin 1934) 237–301. 81  Ders.: System der Philosophie, T. 1: Allgemeine Grundlegung der Philosophie (Tübingen 1921) 156 ff.

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philosophischem Programm geht es in der Nachfolge Kants weder in direkter Gegen­standszuwendung um die Dinge, noch um das nicht weniger dinghafte empirische Ich bzw. um die Relation dieser Relata, sondern um »die Gesetzlichkeit und die logische Struktur der Erfah­rung«.82 Vor diesem Hintergrund richtet er seine Pfeile gegen metaphysi­sche, psychologische, physiologische, biologische usw. Ansätze in der Erkenntnistheo­rie, umfassender: in der philosophi­schen Kulturtheorie überhaupt. Der enge Kritikbegriff, dessen Aufgabe bei Kant die grundsätzliche Charakterisierung und ansatzmäßige Bestimmung je differenter Vernunftleistungen in ihrer Geltungsbestimmtheit ist und der die Grundlage für eine darauf gründende transzendentalisierte Metaphysik bildet, kehrt dabei in dieser Form nicht zurück. Dies hat weniger mit der anti-metaphysischen Stoßrichtung des Neukantianismus zu tun, als vielmehr mit der Tatsache, dass die Fundierungsdimension der Kritik, wie etwa bei Hegel, in die methodische Anlage philosophischer Prinzipienforschung integriert ist: Cohen will bekanntlich die Logik selbst als »Kritik« zur Geltung bringen und konzipiert sie folglich als eine »Logik des Ursprungs«.83 Der Ursprung erweist sich jedoch nicht bloß als Anfang der Erkenntnis, sondern etabliert zugleich eine durchgängige Bestimmungsstruktur. Diese führt zu einer Differenzierung unterschiedlicher Prinzipienfunktionen der Erkenntnis, näherhin zu einer Stufung, die von primär-konstitutiven Prinzipien des Ursprungs von Gegenständlichkeit über sekundär-konstitutive Prinzipien kategorialer Gegenständlichkeit (Gegenstandsbestimmung) bis hin zu regulativen Prinzipien der Bestimmung des ›jedesmaligen Etwas‹ reicht. Zudem erweist sich die Logik als philosophia prima im System der Philosophie. Formaliter nicht anders liegt es bei den Südwestdeutschen. Windelband hat sogar die Erkenntnistheorie ihrer Fundierungsfunktion wegen mal als »die Metaphysik selbst«,84 freilich als »kritische Metaphysik«,85 bezeichnet. Rickert, um ihn als systematisches Schulhaupt hervorzuheben,86 entwickelt eine Lehre der Konstitutionsleistungen des Denkens, die von der reinen Heterogeneität des Ursprungs des Denkens über die Sphäre gegenständlicher Bestimmung im Urteil bis in die methodologischen Formen konkreter Gegenstandsbestimmung hineinreicht und dabei im Spätwerk sogar das dem Gegenständlichen vorausliegende ›Zuständliche‹ ein-

82 

So bei E. Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 2 (Darmstadt 31994) 662. 83  H. Cohen: Logik, a. a.O. [Anm. 75] 37. 84  W. Windelband: Einleitung in die Philosophie (Tübingen 31923) 214. 85  Ders.: Prinzipien der Logik. In: Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften, hg. von Arnold Ruge (Tübingen 1912) 1–60, 59. 86 Vgl. für Hinweise auf Windelband, Lask und Bauch: Ch. Krijnen: Nachmetaphysischer Sinn. Eine problemgeschichtliche und systematische Studie zu den Prinzipien der Wertphilosophie Heinrich Rickerts (Würzburg 2001) 420; zu Rickert vgl. ebd. 421 ff.

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Christian Krijnen

schließt.87 Und freilich hat auch bei ihm die Philosophie »mit allen ihren Teilen aus der Logik herauszuwachsen«.88 Was das Verhältnis zum engen Kritikbegriff nochmals kompliziert, ist die Tatsache, dass die vernunftarchitektonischen Auffassungen der Neukantianer sich im Laufe der Zeit geändert haben: Für Kant ist Kritik eine Kritik der Vernunft im Sinne von ›Vermögen des Gemüts‹: des Erkenntnisvermögens, Begehrungsvermögen und des Gefühls der Lust und Unlust. Entsprechend hat er drei Kritiken verfasst. Während diese vermögensorientierte Einteilung für die erste Generation der Schulhäupter, Cohen89 und Windelband,90 noch maßgebend für die Einteilung der philosophischen Systematik und für die sich daraus ergebenden philosophischen Disziplinen war, genügt sie den Neukantianern der späteren Generation wie Rickert oder Cassirer nicht mehr: Mit seiner Philosophie der symbolischen Formen will Cassirer Kants »Kritik der Vernunft« zur »Kritik der Kultur« weiterbilden.91 Dadurch kommt es auch zu einer anderen Gliederung von Sinn- oder Geltungssphären, wie bei Rickert,92 der eine wie auch immer vermögenspsychologisch und damit noetisch orientierte Einteilung ablehnt und entschieden für eine geltungsnoematische, am Gehalt und damit an der Kultur orientierte Gliederung eintritt. Mit dem Niedergang des Neukantianismus ist das Projekt der Philosophie einer sich an Kant anschließenden kritischen Philosophie und damit ein auf radikaler Begründung ausgelegter Geltungsidealismus zu Ende. In der Folgezeit ist ein solches Vorhaben auch nicht mehr zu einer die philosophischen Debatten dominierenden Blüte gelangt. Insofern mag ›Kritik‹ durchaus als ein prägnanter Begriff gelten, der die Philosophie des 19 Jahrhunderts charakterisiert.

87  Vgl. zur Heterologie H. Rickert: System der Philosophie, a. a.O. [Anm. 81] 50 ff.; zur Unterscheidung von konstitutiven Wirklichkeitsformen und methodologischen Erkenntnisformen ders.: Der Gegenstand der Erkenntnis, a. a.O. [Anm. 78] 401 ff.; zur Zustandslehre ders.: Unmittelbarkeit und Sinndeutung. Aufsätze zur Ausgestaltung des Systems der Philosophie, hg. von August Faust (Tübingen 1939); zur Ontologie ders: Die Logik des Prädikats und das Problem der Ontologie (Heidelberg 1930). 88  H. Rickert: Über logische und ethische Geltung. In: Logos Bd. 19 (1914) 182–221, 182. 89 Vgl. Cohens Einteilung des System der Philosophie in Erkennen bzw. eine Logik der Erkenntnis (ders.: Logik der reinen Erkenntnis, a. a.O. [Anm. 75]), Wollen bzw. eine Ethik des reinen Willens (ders.: Ethik des reinen Willens (Berlin 1904])) und Fühlen bzw. eine Ästhetik des reinen Gefühls (ders.: Ästhetik des reinen Gefühls [Berlin 1912]). 90 Vgl. etwa W. Windelband: Kritische oder genetische Methode?, a. a.O. [Anm. 77] 131; ders.: Einleitung in die Philosophie, a. a.O. [Anm. 78] 256. 91 E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd.  1: Die Sprache (Darmstadt 101994) 11. 92  Vgl. etwa H. Rickert: Vom Begriff der Philosophie. In: Logos Bd. 1 (1910), 1–34, 30.; ders.: System der Philosophie, a. a.O. [Anm. 84] 319 ff.; ders.: Der Gegenstand der Erkenntnis, a. a.O. [Anm. 78] 441 f.

Renate Wahsner

Mechanismus

Allgemein, im Alltagsverstand bedeutet ›Mechanismus‹ ein System von Elementen, die in festgelegter bzw. vorhersehbarer Weise zusammenwirken. Die Bezeichnung Mechanik kommt vom griechischen Wort μηχανή und bedeutete ursprünglich ganz unspezifisch ›Werkzeug‹, ›Mittel‹, ›Kunstgriff‹, ›(Kriegs)Maschine‹. Unter μηχανική τένη verstand man eine mechanische (geschickte, erfinderische) Kunst. In den Naturwissenschaften bzw. der Technik wird ›Mechanismus‹ auch heute noch für die Bezeichnung der Funktions- und Wirkungsweise eines Systems gebraucht. In der Philosophie steht ›Mechanismus‹ für die Lehre, die alles linear kausal-mechanisch zu erklären versucht. ›Mechanismus‹ wird mithin oftmals mit ›Mechanizismus‹ bzw. mit dem vermeintlich mechanistischen Weltbild der physikalischen Theorie der ›Mechanik‹ gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung bzw. überhaupt die mechanistische Weltsicht hält sich hartnäckig, da sie dem sog. gesunden Menschenverstand, dem – wie Hegel sagt – gewöhnlichen Bewusstsein, sehr entgegenkommt. Aus der Gleichsetzung von ›Mechanik‹ und ›Mechanizismus‹ entspringt die Vorstellung, eine Überwindung des Mechanismus im philosophischen Sinne bestünde im Übergang zu einer Wissenschaft von Lebewesen, von Organismen, mithin durch den Wechsel des Erkenntnisobjekts, nicht der Weltbetrachtung, bestünde also darin, statt der Mechanik die Biologie dem Weltbild zugrunde zu legen.

I. Mechanismus im Geiste der Aufklärung Wenn der landläufige (in der Philosophie benutzte) Begriff von Mechanismus auch auf einer unberechtigten Gleichsetzung beruht, so hat diese doch einen tieferen Grund. Um diesen Grund, mithin den philosophischen Kern des Mechanismus zu begreifen, ist es erforderlich, in der Zeit etwas zurückzugehen. Die Mechanik, d. h. die im Wesentlichen von Newton begründete neuzeitliche Mechanik, war die erste voll ausgebildete naturwissenschaftliche Theorie, eine Theorie, die himmlische und irdische Bewegungen erfasste und so auf dem Gedanken der naturgesetzlichen Einheit basierte. Etwas mechanisch zu erklären hieß somit, etwas wissenschaftlich zu erklären und umgekehrt: etwas wissenschaftlich zu erklären bedeutete, es mechanisch zu erklären. Allerdings verstanden die wenigsten Leute etwas von Mechanik, sondern argumentierten auf der Basis ihrer Vorstellung von Mechanik, d. h. auf der Basis des Mechanizismus – eingebettet

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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in die Ziele der Aufklärung. Diese Begriffsverzerrung bestimmt die Sicht auf die Mechanik bis heute. Die Aufklärung war von den wissenschaftlichen Erkenntnissen ihrer Zeit inspiriert. Man meinte, die Gelehrten des vorangegangenen Jahrhunderts hätten ein ganz neues Weltgebäude entdeckt.1 Namentlich Voltaire, der Popularisator des Newtonianismus in Frankreich, glaubte, Newton habe ein neues Prinzip entdeckt und bewiesen, ein Prinzip, das alle Bewegungen in der Natur bestimme.2 Ihm zufolge unterliegt alles einem Gesetz, derart, dass sich entweder alles aus dem notwendigen Wesen der Dinge ergibt oder aus der ewigen Ordnung, die ein absoluter Gebieter gestiftet hat. »In dem einen und dem anderen Fall sind wir nur Räder in der Weltmaschine.«3 Das alles erklärende Prinzip soll sich nicht nur auf die Natur beziehen, sondern auch auf den Menschen. Somit gibt es keine Freiheit des Willens. Voltaires Devise lautet: Man kann zwar tun, was man will, aber man kann nicht wollen, was man will.4 Jedes Wesen, jede Art des Seins hängt seines Erachtens notwendigerweise von dem Weltgesetz ab. Das Universum ist Sklave. Alle unsere Verluste, alle unsere Gefühle, alle unsere Gedanken sind absolut notwendige Dinge.5 Wenn er schreibt, alles sei Feder, Hebel und Rolle, hydraulische Maschine bzw. chemisches Laboratorium, und zwar »vom Grashalm bis zur Eiche, vom Floh bis zum Menschen, vom Sandkorn bis zu unseren Wolken«,6 so ist dies der Ausdruck dafür, dass er das Weltgesetz als universellen Mechanismus verstand, dem alles Geschehen sklavisch unterworfen ist. Er sieht die Welt als Maschine, die nach einem vorgeschriebenen Gesetz funktioniert, von dem es keine Ausnahme gibt. Es gibt keinen Zufall. Die universelle Gesetzmäßigkeit wird so identisch mit der göttlichen Vorsehung. 7 Damit 1 Ausführlicher

hierzu siehe die Einleitung der Herausgeber zu: Voltaire: Elemente der Philosophie Newtons / Verteidigung des Newtonianismus / Die Metaphysik des Neuton, hg. von Renate Wahsner und Horst-Heino von Borzeszkowski (Berlin 1997) 1–77, sowie die dort zitierte Literatur. Die Voltaire-Zitate werden nach dieser Übersetzung angegeben. In eckigen Klammern folgen die Seiten aus Voltaire: Éléments de la philosophie de Newton. The Complete Works, ed. by W. H. Barber and Ulla Kölving, Bd. 15 (Oxford 1992). 2 Vgl. Voltaire: Art. ›Newton et Descartes‹. In: ders.: Dictionnaire philosophique. Œuvres complètes, éd. par Louis Molland Bd. 20 (Paris 1877–1885, Neudr. Nendeln 1967), 121; auch in: ders.: Abbé – Beichtkind – Cartesianer. Philosophisches Wörterbuch, hg. von Rudolf Noack (Leipzig 1965) 180. 3  Voltaire: Art. ›Franc arbitre‹. In: Dictionnaire philosophique, Bd. 19 ebd. 198; Art. ›Willensfreiheit‹. In: Philos. Wörterbuch, ebd. 212. 4 Vgl. ebd. Bd. 19, 196–199 bzw. 209–213; ders.: Éléments de la philosophie de Newton, a. a.O. [Anm. 1] 38–51. 5  Vgl. Voltaire: Brief an die Marquise Du Deffand vom 22. 5. 1764. Correspondance Nr. D 11883. Œuvres complètes, Bd. 111 a. a.O. [Anm. 2], 387; Briefe aus dem alten Frankreich, hg. von Werner Langer (Leipzig 1941) 248. 6 Vgl. Voltaire: Les oreilles du comte de Chesterfield. Œuvres complètes, Bd. 21 a. a.O. [Anm. 2], 579; Die Ohren des Grafen von Chesterfield. Sämtliche Romane und Erzählungen, hg. von Ilse Lehmann und Victor Klemperer Bd. 2 (Leipzig 1960), 428. 7  Vgl. z. B. Voltaire: Zadig. Œuvres complètes, Bd. 21 a. a.O. [Anm. 2], 91. Sämtliche Romane und Erzählungen, a. a.O. Bd. 1 [Anm. 6], 92.

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bedarf es eines Gottes, der das Weltgesetz erlassen und als Meister nach diesem Plan gebaut hat – eines Gottes, der »ebenso gelehrt ist wie die Royal Society in London«.8 Aber damit diese Weltmaschine funktioniert, benötigt sie auch noch einen Motor. Ohne ihn könnte die Materie nicht nur nicht geordnet, sondern auch nicht belebt sein. Denn »wie könnte die Materie die Bewegung aus sich selbst heraus haben? Ebenso wie sie nach der Ansicht der Alten Ausdehnung und Undurchdringlichkeit aus sich heraus hat.«9 Nach der alten Ansicht war das tatsächlich nicht möglich. Denn wenn man den einzelnen Atomen oder Körpern Eigenschaften zuschreibt, die sie nur in Beziehung aufeinander, genauer: im Verhalten zueinander, haben können, gerät die Bewegung zu etwas Mystischem. Daher wird auch in der philosophischen Rezeption der neuzeitlichen Mechanik der im mathematisch formulierten Gesetz fixierte Zusammenhang als den einzelnen Körpern an sich eigen, eben als inhärent, angesehen. Die Begriffe der Mechanik werden so aus ihrer mathematisch-physikalischen Struktur, in der allein sie eine bestimmte Bedeutung haben, losgelöst und so behandelt, als hätten sie diese unabhängig davon. Infolge dessen wird übersehen, dass die Aussagen der Newton’schen Mechanik unabhängig von den vorausgesetzten Axiomen und unabhängig von der experimentellen Grundlage sinn- und bedeutungslos sind. Wenn man aber fälschlicherweise die Gravitation als eine in einem jeden Körper befindliche Zentralkraft auffasst, schließt man die Fähigkeit der Körper, wechselwirken zu können, aus, hält man es für unwesentlich, dass die Körper nur gegeneinander schwer sind. Die in einer physikalischen Theorie ›Kraft‹ genannte dynamische Wechselwirkung wird als Stoß gedacht. Aufgrund der unterstellten Inhärenz der Kraft im Einzelnen gehört zu jedem gravitierenden Körper ein Mittelpunkt, zu dem dieser hinstrebt. Da geometrische Punkte aber keine physikalische Wirkung ausüben können, muss etwas Übernatürliches als bewegende Ursache eingeführt werden. »Wenn die Materie nach einem Punkte hinstrebt, wie das bewiesen ist, scheint sie jedoch nicht von sich aus zu gravitieren, so wie sie von Natur aus ausgedehnt ist. Sie hat also die Schwerkraft von Gott erhalten.«10 »Er hat allen Körpern ein Gesetz aufgegeben, nach dem sie alle gleichermaßen nach ihrem Mittelpunkt streben.«11 Die physikalische Materie erhält hiernach ihre Bewegung von außen. Zudem wird der Charakter physikalischer Gesetze, die als Gleichungssystem gegeben sind, verkannt. Man unterscheidet  8 Voltaire:

Les oreilles du comte de Chesterfield, a. a.O. [Anm. 6] 578; Die Ohren des Grafen von Chesterfield, a. a.O. [Anm. 6] 428; vgl. ders.: Art. ›Athée‹. In: Dictionnaire philosophique. Œuvres complètes, Bd. 17 a. a.O. [Anm. 2], 459 f.; Art. ›Atheist‹. In: Philosophisches Wörterbuch, a. a.O. [Anm. 2] 65 f.; ders.: Elemente der Philosophie Newtons, a. a.O. [Anm. 1] 91 f., 121 [25–28, 76].  9 Vgl. Voltaire:Art. ›Matière‹. In: Dictionnaire philosophique, Bd. 20 a. a.O. [Anm. 2], 52; Art. ›Materie‹. In: Philosophisches Wörterbuch, ebd. 177. 10  Voltaire: Elemente der Philosophie Newtons, a. a.O. [Anm. 1] 91 [26]. 11  Ebd. 121 [76].

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nicht zwischen Gesetz und Lösung; das Gesetz wird als Systembeschreibung genommen, z. B. als Maschine. Das mechanistische Verständnis der Mechanik erhebt den Anspruch, die Welt allein mittels der Mechanik zu erklären. Die Mechanik soll nicht nur die einzig mögliche Physik, sondern die einzig mögliche Naturauffassung überhaupt sein. Damit wird letztlich behauptet, dass nur das als natürliches Wesen existiert, was mit den Begriffen der Mechanik beschrieben, was mit ihren Gesetzen erklärt werden kann. In der Konsequenz werden so Theorie bzw. Begriff und Wirklichkeit identifiziert, das heißt, die Mechanik wird nicht als Theorie erkannt. Mithin denkt man nicht darüber nach, wie die Mechanik zu ihren Aussagen gelangt, und folglich nicht, welcher Art diese sind. Soll die ganze Welt mittels der Mechanik erklärt werden, dann eben auch die Produktion der Erkenntnis. Die tätige Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur und mit seiner gesellschaftlichen Umwelt, durch die überhaupt nur Erkenntnisse gewonnen werden können, fällt somit aus der Betrachtung heraus. Das Bewusstsein erscheint als bloßer Spiegel, über dessen verzerrte oder getreue Wiedergabe der Mechanizist als äußerer Beobachter urteilen zu können glaubt. Durch die französische Aufklärung erhielt die klassische Mechanik (abgesehen von ihrer fachlich-technischen Weiterentwicklung durch d’Alembert, Maupertuis, Lagrange und andere) eine weltanschauliche Dimension, eine weltanschauliche Dimension in einer betont anti-kurialen Interpretation. Damit leistete sie Entscheidendes zur geistigen Vorbereitung der Französischen Revolution, zur Begründung des Ausschließlichkeitsanspruchs der Vernunft, für die es erforderlich war, die Grundfrage der klassischen Philosophie zu beantworten, nämlich zu zeigen, wie es möglich ist, dass die ganze Natur und die Gesellschaft rational, d. h. durch die Vernunft mittels Kenntnis unausweichlicher Gesetze erfasst werden können. In seiner englischen Form wäre der Newtonianismus für das cartesianische Frankreich nicht annehmbar gewesen; er hätte nicht die bedeutende Rolle für das Weltbild des aufstrebenden Bürgertums spielen können, wie sie ihm tatsächlich zugekommen ist. Die Voltaire’sche Interpretation der Newton’schen Physik war zu dieser Zeit aber die einzige Möglichkeit, um die Mechanik zur Basis eines sich auf die Wissenschaft berufenden Weltbildes werden zu lassen. Sie initiierte aber zugleich das mechanizistische Verständnis der Mechanik,12 mithin des Begriffs ›Mechanismus‹. Indem die Newton’sche Physik zur Weltanschauung gemacht wurde, sah man von ihrer Bedingtheit und Begrenztheit ebenso ab wie von dem grundlegenden Unterschied zwischen dem physikalischen und dem philosophischen epistemologischen Standpunkt. Während ersterer notwendigerweise die Welt unter der Form des Objekts fasst, muss der philosophische diese Form gerade aufheben. 12  Natürlich

war Voltaire nicht der einzige, der zur Mechanisierung der Mechanik beitrug. Doch soll hier nicht die Geschichte der Mechanisierung dargestellt, sondern anhand von Voltaire charakterisiert werden, worin diese Umdeutung wesentlich bestand.

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Philosophie wie Physik betreiben zu wollen, führt stets zu einem mechanistischen Weltbild, zur Fassung der Welt als Mechanismus.13 Die Suche nach einem Prinzip, das die ganze Welt erklärt, hat die Vorstellung zur Konsequenz, dass die Naturerscheinungen von einem geschickten Konstrukteur in einem mechanischen Modell nachgeahmt werden können. Hieraus folgt, dass man die ganze Welt als Maschine betrachtet, als äußerst kompliziertes Uhrwerk. Eine Maschine setzt natürlich einen Konstrukteur voraus, einen Meister, der sie gebaut hat. Handelt es sich bei der Maschine um die Welt, kann der Meister nur Gott sein. Sein Werk ist eine zweckmäßige Schöpfung, in der es nichts Unwesentliches und keinen Zufall gibt. Gibt man diese Konsequenz auf, um eine naturwissenschaftliche Haltung zu ermöglichen, dann wird die Maschine als an sich vorhanden, als mechanisches System angesehen. Abstrahiert man von dem Schöpfer, dem Uhrmacher und Meister, so verwandelt sich die teleologisch bestimmte in eine fatalistisch determinierte Welt, in der strenge Notwendigkeit herrscht, der Zufall negiert oder auf Notwendigkeit zurückgeführt wird. Da diese Notwendigkeit als absolute lineare Kausalität erscheint, wird jedes Ereignis angesehen, als sei es durch eine ihm äußerliche Erscheinung verursacht. Für die Welt als Maschine wird – wie gesagt – ein erster Beweger gebraucht, die Bewegung ist der Materie nicht inhärent, sondern ein Zustand an ihr, die Körper bewegen sich nicht von selbst, sondern bedürfen dazu einer von außen wirkenden Kraft. Den Naturgegenständen ihre Wirkungsfähigkeit abzusprechen, charakterisiert die mechanistische Deutung der Mechanik. Ohne das Vermögen zu wirken, kann ein Körper aber nicht als physikalischer gelten. Er wird sachlich nicht von einem mathematischen Körper unterschieden. So sehr die Aufklärung nun aber auch die Physik in ihrer Spezifik gegenüber der Mathematik einerseits und der Philosophie andererseits verkannte, so hat sie doch die Entdeckungen Newtons sehr bekannt gemacht und so historisch Bedeutsames geleistet. Doch hätte niemand mit dieser Philosophie- und Physikauffassung die klassische Mechanik begründen können. Die Identifizierung von Mathematik und Physik, der Ausschluss der Philosophie aus dem wissenschaftlichen Naturverständnis, setzt die physikalische Theorie als gegeben voraus. Und nur wenn sie das ist, kann es geschehen, dass die Theorie – hier also die Mechanik – nicht als Theorie erkannt, dass sie letztlich oder im Prinzip mit der Wirklichkeit gleichgesetzt, die Welt als Mechanismus genommen wird. 13 Diese

Vorgehensweise ist nicht an die Mechanik gebunden; die Subsumtion des Ausgangspunktes der Philosophie (Betrachtung der Welt unter der Form des Subjekts, genauer: der Subjekt-Objekt-Einheit) unter den der Naturwissenschaft (Betrachtung der Welt unter der Form des Objekts) ist ebenso gut im Ausgang von der Quantenmechanik oder der nichtlinearen Thermodynamik oder einer anderen modernen Theorie möglich. Vgl. z. B. H.-H. von Borzeszkowski und R. Wahsner: Did the Nonlinear Irreversible Thermodynamics Revolutionize the Classical Time Conception of Physics? In: Foundations of Physics 14 (1984) 653–670; dies: Evolutionism as a Modern Form of Mechanicism. In: Science in Context 2 (1988) 287–306.

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II. Die Verfassung der Newton’schen Mechanik Die Mechanik zu mechanisieren konnte nur gelingen, nachdem Newton sie geschaffen hatte. Newton konnte einen mechanizistischen Standpunkt nicht einnehmen, da er als Begründer der Mechanik natürlich nicht von der erkenntnistheoretischen Problematik der Physik abstrahieren konnte. Damit ist nicht behauptet, Newton habe den erkenntnistheoretischen Status der Physik vollkommen durchschaut. Doch wer produziert, kann nicht seine Produkte als an sich vorhanden ansehen – selbst dann nicht, wenn er das Prinzip ihrer Produktion nicht (nicht voll und ganz) erkennt. Der Mechanizismus beruht auf der Abstraktion vom tätigen Subjekt, vom (geistig und gegenständlich) produzierenden Menschen, auf der Verabsolutierung des fertigen Resultats, also auf dem Denken des Ergebnisses ohne den Prozess, der es erzeugt hat. Produkte werden wie an sich vorhandene Dinge betrachtet, Ergebnisse menschlicher Tätigkeit wie etwas an sich Gegebenes.14 Diese Deutung war hier besonders folgenschwer, weil der Mechanik als Wissenschaft ein begrifflicher Umbruch zugrunde lag, wie es geboten war, das neuartige Verfahren der Bildung wissenschaftlicher Begriffe, überhaupt den spezifischen Charakter wissenschaftlicher Begriffe, zu erkennen. Die physikalische Theorie Mechanik ist nicht mechanistisch.15 Deshalb gibt es auch keinen Mechanismus, der dieser Theorie adäquat ist. Newton fasste die Welt nicht als Maschine, insofern nicht als Mechanismus – obzwar er sie mittels seiner Mechanik begreift. Er abstrahierte nicht von den Voraussetzungen der Mechanik; er meinte, dass man nur in Einheit mit ihnen das Weltsystem verstehen kann. Deshalb entwickelte er auch zunächst seine Prinzipien (Bewegungsaxiome, allgemeine mathematische Sätze usw.), bevor er daran ging, die »Einrichtung des Weltsystems« darzustellen und verwarf zudem seine ursprüngliche Absicht, diesen Teil seines Werkes populär zu verfassen:16 Er habe »das dritte Buch in populärer Form geschrieben, damit es von mehreren gelesen würde. Diejenigen aber, welche die vorausgesetzten Principien nicht hinreichend eingesehen haben, würden die Kraft der Folgerungen nicht fassen und die Vorurtheile nicht ablegen, an welche sie sich seit vielen Jahren gewöhnt haben. Aus diesem Grunde habe ich, damit die Sache nicht in einen Streit hineingezogen werde, 14  Vgl. Hegels Charakterisierung des Empirismus in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830) §§ 7, 37–39. Gesammelte Werke. Akademie-Ausgabe Bd. 20 (Hamburg 1968 ff.), 46 f., 75–77. 15 Diese Charakterisierung der Mechanik beruht auf: H.-H. von Borzeszkowski und R. Wahsner: Newton und Voltaire. Zur Begründung und Interpretation der klassischen Mechanik (Berlin 1980); dies.: Physikalischer Dualismus und dialektischer Widerspruch. Studien zum physikalischen Bewegungsbegriff (Darmstadt 1989), insbes. 24–39; dies.: Die Natur technisch denken? Zur Synthese von τέχνη und φύσις in der Newtonschen Mechanik oder das Verhältnis von praktischer und theoretischer Mechanik in Newtons Physik. In: Wiener Jahrbuch für Philosophie 35 (2003), hg. von Hans-Dieter Klein (Wien 2004) 135–168. 16 I. Newton: Mathematische Prinzipien der Naturlehre, hg. von Johann Philipp Wolfers (Berlin 1872, Neudr. Darmstadt 1963) 379.

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die Summe jenes Buches nach mathematischer Weise in Sätze übertragen, damit dieselben nur von denjenigen gelesen würden, welche die Prinzipien vorher entwickelt haben.«17 Es ließ sich aber nicht verhindern, dass auch einige das Buch lasen, die die Prinzipien vorher nicht entwickelt hatten. Und so wurde die Newton’sche Lehre doch in einen Streit hineingezogen – in den Streit um das Verständnis des Gravitationsgesetzes. Die Mechanizisten deuteten es (wie Voltaire) als das eine, die gesamte Welt erklärende Prinzip, nach dem sie meinten, alles konstruieren zu können. Newton stellte sich jedoch vor, dass man die Natur durch die Wirkung und das Zusammenspiel verschiedenartiger (also außer den gravitativen noch anderer) Kräfte erklären könnte, Kräfte, die durch die Einwirkung der Körper aufeinander bedingt sind. Seiner Meinung nach bestand die weitere Aufgabe der Physiker hauptsächlich darin, durch Induktion aus der Erfahrung die .  .entsprechenden → → → Kraftterme F zu finden, die dann in das zweite Newton’sche mr = F Axiom auf der rechten Seite einzusetzen sind. Dieses Bewegungsaxiom enthält im Zusammenschluss mit dem ersten und dem dritten im Wesentlichen die gesamte Dynamik der klassischen Mechanik. Obwohl sich die Gravitationsdynamik als Spezialfall der allgemeinen Newton’schen Dynamik erweist, spielte sie historisch für deren Begründung eine ausgezeichnete Rolle, indem sie als Synthese der Ergebnisse von experimentellen Untersuchungen irdischer Massen und der theoretischen Astronomie entwickelt wurde, also als Synthese vorrangig der Ergebnisse von Galilei und Kepler. Das Gravitationsgesetz beantwortete die seinerzeit stark diskutierte Frage, ob die Ursache, welche die Körper zur Erde fallen lässt, dieselbe sei wie diejenige, die die Planeten in ihren Bahnen hält. Newtons Gravitationsdynamik setzte – gemäß dem kopernikanischen Prinzip – die naturgesetzliche Einheit von Erde und Kosmos voraus und bewies sie zugleich. Natur war nunmehr Himmel und Erde, die Dinge und Erscheinungen wurden universell vergleichbar. Es war dies ein Konzept, das seit dem Beginn der Neuzeit verfolgt, nunmehr aber erstmals wissenschaftlich verwirklicht werden konnte.18 Nur über die Gravitation gelang diese Realisierung, da sie allein über irdische und kosmische Distanzen universell wirksam ist. So konnte das Gravitationsgesetz leicht als Weltgesetz aufgefasst werden, wobei ›Welt‹ häufig nicht nur wie bei Newton als Sonnensystem (eventuell auch als Fixsternsystem), sondern im philosophischen Sinne verstanden wurde. Hiergegen sprechen aber verschiedene Probleme. So ist zu bedenken, dass die Newton’schen Bewegungsgleichungen Differentialgleichungen zweiter Ord→ → → nung sind. Um aus ihnen durch Integration die Bahnkurve r = r(t) (r ist der Ort des Körpers und t die Zeit) eines Körpers als Lösung zu erhalten, müssen die 17 Ebd. 18  Vgl. R. Wahsner: Mensch

und Kosmos – die copernicanische Wende (Berlin 1978) 7–90.

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.



Anfangswerte r(t0) und r(t0) zu irgendeinem Zeitpunkt t0, das heißt der Anfangsort und die Anfangsgeschwindigkeit, vorgegeben werden. Diese folgen nicht aus der physikalischen Theorie, sondern sind durch die konkrete physikalische Situation bzw. durch die experimentelle Anordnung bestimmt und dementsprechend vorzugeben. Die das Gesetz darstellenden Bewegungsgleichungen erfassen für sich genommen also noch kein spezifisches System, keinen als Mechanismus deutbaren Bewegungszyklus. Zudem enthält die Mechanik noch weitere Probleme, die dem entgegenstehen.19 Unter ›physikalisch erklären‹ verstand man zu Newtons Zeit, Erscheinungen auf die primären Eigenschaften der einzelnen Atome wie Ausdehnung, Härte, Undurchdringlichkeit, Beweglichkeit und Trägheit zurückzuführen. Daher suchte Newton zunächst, die physikalische Ursache der Gravitation in Äthermodellen zu finden. Zugleich bewies ihm sein Gravitationsgesetz, dass die Schwere nicht die Eigenschaft eines einzelnen Atoms bzw. Körpers ist, sondern dass die Körper nur gegeneinander schwer sind. Schwere konnte also nicht den primären Eigenschaften der kleinsten Partikel zugerechnet werden. Daher wehrte sich Newton stets entschieden gegen die Unterstellung, er meine, dass die Gravitation eine der Materie wesentliche und inhärente (an sich eigene) Eigenschaft sei.20 In der 31. der in seiner Optik angefügten Fragen entschloss sich Newton, nachdem er lange Zeit verschiedenartige andere Lösungen diskutiert hatte, die Gravitation als aktives Prinzip (im Gegensatz zum passiven Prinzip Trägheit) zu bestimmen. Dieses aktive Prinzip verstand er nicht als okkulte Qualität, sondern als Naturgesetz, das die Dinge selbst formt.21 Er verstand es als ein unauflösbares Gegeneinander, als ein nur im Gegeneinander der Körper existentes Verhalten, das nicht auf die Eigenschaft eines Atoms oder Körpers als Einzelnem reduziert werden kann. Indem der Begriff des aktiven Prinzips eingeführt wurde, hieß ›physikalisch erklären‹ nicht mehr ›zurückführen auf primäre Eigenschaften der Atome‹, sondern auf physikalische, Wechselwirkungen erfassende, Naturgesetze. Damit war zugleich auch zum einen die notwendige mathematische Fassung, zum anderen die Wirkungsfähigkeit der Naturkörper gesetzt, alles in allem ein neuer Begriff von physikalischer Realität;22 und ein kategorialer Wechsel in der physikalischen Begriffsbildung.

19 Siehe z.  B. H.-H. von Borzeszkowski und R. Wahsner: Einleitung zu Voltaire, a. a.O. [Anm. 1] insbes. 37–53. 20  Vgl. I. Newton: Brief an R. Bentley vom 17. 1. 1692/3 (2. Brief). Papers and Letters on Natural Philosophy, ed. by I. Bernard Cohen (Cambridge, Mass. 1958) 298; ders.: Mathematische Prinzipien der Naturlehre, a. a.O. [Anm. 16] 381, 511 (Regeln zur Erforschung der Natur, Scholium Generale). 21  Vgl. I. Newton: Opticks, with a foreword by Albert Einstein, an introduction by Sir Edward Whittaker, a preface by I. B. Cohen (Dover 1952) 401. 22 Vgl. auch R. Wahsner: Das Aktive und das Passive. Zur erkenntnistheoretischen Begründung der Physik durch den Atomismus – dargestellt an Newton und Kant (Berlin 1981) Kap. I und II; R. Wahsner und H.-H. von Borzeszkowski: Die Wirklichkeit der Physik. Studien

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Der kategoriale Wandel hatte aber noch eine andere Änderung zur Bedingung, die Synthese von theoretischer und praktischer Mechanik, genauer: von τέχνη und φύσις.23 Eingangs seiner Prinzipien konstatiert Newton, dass die Alten die Mechanik auf zweifache Weise entwickelten: als rationale, welche durch Beweisführung mit Genauigkeit vorwärtsschreitet, und als praktische, zu der alle Handfertigkeiten gehörten. Die rationale Mechanik ist eine Wissenschaft von Bewegungen, und zwar eine exakte und beweisende Wissenschaft. Die Bewegungen, von denen sie handelt, sind die, die aus den seinerzeit konzipierten fünf Kräften hervorgehen; bzw. sie handelt von den Kräften, die für die genannten Bewegungen erforderlich sind. Diese Kräfte beziehen sich auf Handfertigkeiten. Die Kräfte der Hand, das waren die fünf einfachen Maschinen: Hebel, Schraube, Rolle, Keil, schiefe Ebene, und die Lehre von ihnen wurde als Technik angesehen. Die Mechanik wurde in der Antike als Kunst verstanden, als Kunst, durch menschliches Geschick Bewegungen gegen die Natur des Bewegten auszuführen und die dazu erforderlichen Geräte herzustellen. Sie galt daher nicht als Naturwissenschaft; die Theorie über die Natur hingegen, die Physik, wurde als Naturphilosophie aufgefasst. Das antike Bewusstsein reflektierte die Technik als etwas, wodurch wir das beherrschen, wovon wir ansonsten, von Natur aus, besiegt werden.24 Nach Aristoteles ist von dem, was ist, das eine von Natur aus, das andere aus anderen Gründen, und der wichtigste der »anderen Gründe« ist für ihn die (Kunst, Kunstfertigkeit, Handwerk, Gewerbe, Dichtkunst, Weissagekunst). τέχνη ist der Gegensatz zu φύσις (Natur, Charakter, Naturell, Wesen, natürliche Lage oder Beschaffenheit); beide bestimmen sich aus dem Gegensatz zu ihrem Anderen. Das naturhaft Seiende ist von sich selbst her, das technisch Seiende hat seinen Grund in einem Fremden, im es herstellenden Menschen. Das Natürliche ist das an sich selbst Gegebene, das Eigenständige; das Technische ist das Gewollte, Geplante und künstlich Gemachte. Die Wissenschaft von der Natur war ein Wissen von den Gründen des Seins, τέχνη ein Wissen von den Gründen des Tuns.25 Newton hingegen versteht seine Mechanik als eine Wissenschaft von der Natur, nicht als Kunstlehre oder Technik.26 Aber sie ist dies und kann das nur sein, weil ihr der ›Kunst- und Technikaspekt‹ ebenfalls inhärent ist. Denn die Newton’sche Mechanik beruht wesentlich auch auf der antiken Mechanik, der zu Idealität und Realität in einer messenden Wissenschaft (Frankfurt a. M. etc. 1992) 29–96, insbes. 29–47. 23  Ausführlich siehe H.-H. von Borzeszkowki und R. Wahsner: Die Natur technisch denken? a.a.O [Anm. 15]. 24  Vgl. Aristoteles: Mechanik 847 a 20. Zur Übersetzung des Antiphon-Verses siehe Aristoteles, Mechanische Probleme, hg. von Friedrich Theodor Poselger (Hannover 1881) 24. 25  Vgl. z. B. Klaus Bartels: Der Begriff Techne bei Aristoteles, in: Synusia, hg. von Hellmut Flashar und Konrad Gaiser (Pfullingen 1965) 276; Rudolf Löbl: TEXNH – TECHNE. Untersuchungen zur Bedeutung dieses Wortes in der Zeit von Homer bis Aristoteles 3 Bde. (Würzburg 1997–2008). 26  Vgl. I. Newton: Mathematische Prinzipien der Naturlehre, a. a.O. [Anm. 16] 2.

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praktischen, der Lehre von den Handfertigkeiten, und der rationalen, der mathematisch gefassten Statik, und zwar derart, dass die beiden Kraftarten, die Kräfte der Hand und die der Natur, einander nicht einfach ablösen oder unvermittelt nebeneinander bestehen. Vielmehr sind die Kräfte der Hand und die Kräfte der Natur in einer epistemologisch tiefsinnigen Weise einander zugeordnet, so dass sie etwas über die schwierige Beziehung zwischen Mathematik und Physik, Geometrie und Dynamik, Theorie und Erfahrung aussagen. Erkennbar wird dies an der Stellung der Geometrie in der neuzeitlichen Mechanik. Nach Newton ist sie nämlich derjenige Teil dieser Mechanik, »der die Kunst, genau zu messen, aufstellt und beweist« und seine Basis in der praktischen Mechanik hat.27 Indem Newton das Verhältnis seiner Mechanik zur antiken bestimmte, fixierte er das ihr inhärente Verhältnis von theoretischer und praktischer Komponente, von mathematischer Fassung und technischer Vergegenständlichung, begriff er sie in der Konsequenz als Synthese von τέχνη und φύσις, von Kunst und Natur. Diese Synthese wurde in der nachfolgenden Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie noch nicht angemessen rezipiert. Von ontologistisch-empiristischen Strömungen wurde der Kunstaspekt der Physik fast völlig vernachlässigt. Hiergegen wurden dann Konzepte entwickelt, die die berechtigte Polemik gegen den Verfall in das ›Naturextrem‹ dazu verführte, den ›Naturaspekt‹ zu negieren, die Verfahrensweise der Physik lediglich als die Konstruktion verschiedener möglicher rationalistischer Denkschemata zu verstehen. Dieses Herangehen hält die Kräfte der Hand für völlig irrelevant bei der Konstituierung der Physik. Die Empiristen andererseits akzeptierten durchaus die Bedeutung der Kräfte der Hand, indem sie die Rolle der empirischen Erfahrung resp. der praktischen Tätigkeit des Menschen für die Naturerkenntnis in den Vordergrund stellten, übersahen aber, dass damit die subjektive Konstruktion des Erkenntnisobjekts gesetzt ist, hielten die Erkenntnis der Natur für eine verzerrungsfreie Wiedergabe der Welt an sich. Beide Sichten verwerfend oder positiv aufheben wollend begründete Paul Lorenzen seine Idee der konstruktiv-wissenschaftstheoretischen Protophysik, die man – in der hier benutzten Terminologie – als Rekonstruktion der neuzeitlichen Physik aus den Kräften der Hand bezeichnen könnte. Indem die konstruktivistische Protophysik ein erkenntnistheoretisches Fundament für die empirischen Physik nachträglich herstellen will, strebt sie einen Begründungsmechanismus an, der der Physik nicht gerecht wird.28

27  Explizit führt er aus: »Die Geometrie hat demnach ihre Basis in der praktischen Mechanik, und sie ist derjenige Teil der allgemeinen Mechanik, welcher die Kunst, genau zu messen, aufstellt und beweist.« I. Newton: Mathematische Prinzipien der Naturlehre, a. a.O. [Anm. 16] 1. 28  Zur Begründung vgl. H.-H. von Borzeszkowski und R. Wahsner: Das physikalische Prinzip. Der epistemologische Status physikalischer Weltbetrachtung (Würzburg 2012) 220–223, sowie die dort zitierte Literatur.

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III.  Mechanismus als Wissenschaftsprinzip. Kant Kant verstand die Newton’sche Mechanik als Modell der neuzeitlichen Naturwissenschaft überhaupt und leitete aus ihr die allgemeinen Naturgesetze ab, die Wissenschaftsprinzipien, die zugrunde gelegt werden müssen, soll Naturwissenschaft begründet werden können, Erfahrung möglich sein. Sie sind als Bedingungen der Erkenntnis apriorisch. Zugleich erkannte er, dass es Phänomene gibt, die nicht mittels der Mechanik behandelt werden können, z. B. Organismen.29 Er erklärte: »Es ist nämlich ganz gewiß, daß wir die organisirten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Principien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können; und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann: es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde; sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen. Daß dann aber auch in der Natur, wenn wir bis zum Princip derselben in der Specifikation ihrer allgemeinen uns bekannten Gesetze durchdringen könnten, ein hinreichender Grund der Möglichkeit organisirten Wesen, ohne ihrer Erzeugung eine Absicht unterzulegen (also im bloßen Mechanism derselben), gar nicht verborgen liegen könne, das wäre wiederum von uns zu vermessen geurtheilt; denn woher wollen wir das wissen?«30 In seinen drei Kritiken (sowie im Opus postumum) ist Kant bestrebt, das Problem des Verhältnisses von Mechanismus und Organismus zu lösen.31 Zu diesem Zweck unterscheidet er zwischen allgemeinen und besonderen Naturgesetzen. Die allgemeinen Naturgesetze sind die, die der Verstand der Natur vorschreibt – Grundsätze, die angenommen sein müssen, um überhaupt Erfahrung machen zu können. Die besonderen Naturgesetze können nur empirisch erkundet werden. Zudem wird zwischen dem Mechanismus als konstitutivem und dem Organismus als reflexivem Prinzip unterschieden. Beide Bestimmungen sind geleitet von dem Begriff, den Kant von der Mechanik hatte. ›Mechanismus‹ heißt etwas, weil es kausal-gesetzlich bestimmt oder bestimmend ist: Daher kann man – so Kant – »auch alle Nothwendigkeit der Begebenheiten in der Zeit […] den Mechanismus der Natur nennen, ob man gleich darunter nicht versteht, daß Dinge, die ihm unterworfen sind, wirkliche materielle Maschinen sein müßten«. Es »wird nur auf die Nothwendigkeit der Verknüpfung 29  Ausführlich

dazu R. Wahsner: Der Widerstreit von Mechanismus und Organismus. Kant und Hegel im Widerstreit um das neuzeitliche Denkprinzip und den Status der Naturwissenschaft (Hürtgenwald 2006) insbes. 9–95, 296–299. 30  I. Kant: Kritik der Urteilskraft § 75. Kants Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, Bd. 5, 400. 31  Vgl. R. Wahsner: Der Widerstreit von Mechanismus und Organismus, a. a.O. [Anm. 29] insbes. 72–81.

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der Begebenheiten in einer Zeitreihe, so wie sie sich nach dem Naturgesetze entwickelt, gesehen«.32 Zwischen welchen Objekten diese Verknüpfung besteht, ist hierbei gleichgültig. Dieser Aspekt ist für Kant so wichtig, dass selbst ein moralisches Gesetz, also eine Verknüpfung zwischen willensbegabten Wesen, dem »Mechanism« keinen »Abbruch« tut, insofern es ein Gesetz ist.33 Nach Kant »ist Natur im allgemeinsten Verstande die Existenz der Dinge unter Gesetzen«.34 Deshalb gibt es moralische Gesetze. Deshalb sollte es auch – so müsste man denken – Gesetze des Organischen geben. Denn »die Allgemeinheit des Gesetzes, wornach Wirkungen geschehen«, macht das aus, »was eigentlich Natur im allgemeinsten Verstande (der Form nach), d. i. das Dasein der Dinge, heißt, […]«.35 Oder in etwas anderer Formulierung: »Alle Erscheinungen sind unter einander zu gewissen Gesetzen bestimmet, und eben die Bestimmung aller Begebenheiten in der Natur unter allgemeinen Gesetzen macht den Mechanismus der Natur aus.«36 Man könnte Kants Bestimmungen auch so deuten, dass er meinte, Natur sei das Reich linearer Ursache-Wirkung-Folgen, in dem Sinne, dass etwa eine angestoßene Kugel ihrerseits einen anderen Körper in Bewegung bringt. Es finden sich bei ihm Formulierungen, die dies nahelegen, z. B. wenn »mechanisch« als »äußerlich bewegt« oder »Mechanismus« als »Zwangsmäßiges« benutzt wird bzw. als das pure Gegenteil von Freiheit bzw. als seelenlose Nachahmung.37 Doch sieht man sich Kants Begriff der Ursache, mithin den des gesetzmäßigen Zusammenhangs, genauer an, treten diese Deutungen zurück. Maßgeblich ist seine Bestimmung, »daß niemals etwas geschieht, vor welchem nicht etwas vorhergehe, darauf es jederzeit folge«.38 Eine Ursache ist hiernach die Bedingung von dem, was geschieht.39 Natur ist somit der »Zusammenhang der Erscheinungen ihrem Dasein nach, nach nothwendigen Regeln, d. i. nach Gesetzen«.40 Erst die aprio-

32  Vgl. I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, A 173. Akad.-Ausg. Bd. 5, 97. (letzte Hervorhbg. R.W.). 33  Vgl. ebd. A 174–178. Akad.-Ausg. Bd. 5, 42–45. 34 Ebd. 35  Ders.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Akad.-Ausg. Bd. 4, 421. 36  Ders.: Vorlesungen über philosophische Religionslehre, hg. von Karl Heinrich Ludwig Pölitz, 1. Teil, 3. Abschnitt (Leipzig 1830) 129 f., vgl. 123–137. 37  Vgl. z. B. ders.: Kritik der Urteilskraft § 43. Akad.-Ausg. Bd. 5, 304; Kritik der reinen Vernunft [= KrV], B XXXII; Kritik der praktischen Vernunft, A 174. Akad.-Ausg. Bd. 5, 97; Über Pädagogik, Einl. Akad.-Ausg. Bd. 9, 447: »Der Mechanismus in der Erziehungskunst muß in Wissenschaft verwandelt werden, sonst wird sie nie ein zusammenhängendes Bestreben werden.« 38  Ders.: KrV A 112 f. (Hervorhebung – R.W.). 39  Vgl. KrV A 419 / B 447. Zu Kants Begriff der Ursache bzw. der Kausalität siehe auch ebd. B 233–B 265, B 288–B 294; Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, § 53. Akad.Ausg. Bd. 4, 343–347; ebd. § 58 (= ebd. 357–360); Kritik der praktischen Vernunft, A 169–174. Akad.-Ausg. Bd. 5, 94–97. 40  Ders.: KrV B 263 / A 216.

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rischen oder die allgemeinen Naturgesetze machen die Natur möglich, weil sie sie als Ganzes, als Zusammenhängendes zu denken gestatten. Oder: »Natur ist das innere principium causale nach bestandigen Gesetzen.«41 »Wir nennen Natur das object möglicher Erfahrung […] Grundsatze des Verstandes sind Regeln a priori, welche die Bedingungen der synthetischen Einheit moglicher Erfahrung enthalten.«42 »Natur wird dem ohngefehr, der freyheit, dem Schiksale entgegengesetzt.«43 Kants Naturbegriff hängt unmittelbar mit seinem Kausalitätsbegriff zusammen. Für Kant bedeutet der Begriff der Ursache eine besondere Art der Synthese.44 Die These, »daß niemals etwas geschieht, vor welchem nicht etwas vorhergehe, darauf es jederzeit folge«,45 kann so gelesen werden, dass alles, was geschieht, durch anderes bedingt ist und seinerseits anderes bedingt. Dabei muss die Bedingtheit nicht zwangsläufig eine zeitliche Reihe bilden – obwohl dies in Kants Vorstellung oder gar in seinem Konzept immer wieder auftritt. Jedenfalls wird klar, dass ›Mechanismus‹ nicht ein mechanizistisches Prinzip bedeutet, sondern das Verbot, Gründe außerhalb der Natur für ihre Bewegungen verantwortlich zu machen.46 Im Sinne von Kant handelt es sich also um Mechanismus, wenn kausale Gesetzlichkeit (die für sich ja noch nicht spezifisch bestimmt ist) gewährleistet ist,47 wenn es sich um das Denken eines Zusammenhangs von der Art handelt: Immer dann, wenn das und das vorliegt, dann liegt auch das und das vor. Entgegen einer häufig anzutreffenden Auffassung ergibt sich, dass das Verhältnis von Mechanismus und Organismus nicht das von Mechanik und Biologie ist, auch nicht das von unorganischer und organischer Natur. So wie die Mechanik in ihrem epistemologischen Status verfasst war, das, was sie zum wirklichen Repräsentanten der neuzeitlichen Wissenschaft machte, implizierte, ihren Gegenstand als funktionalen Zusammenhang zu fassen, als ein Etwas, bei dem (grob gesprochen) das Ganze die Teile bestimmt und zugleich die Teile das Ganze. Der Status der Gegenstandsbestimmung von Mechanik und Biologie ist gleich. Das heißt nicht, dass sich beide Wissenschaften nicht unterscheiden, man die eine auf die andere reduzieren könnte.

41 

Ders.: Reflexion zur Metaphysik N 5409. Akad.-Ausg. Bd. 18, 175. Ebd. N 5600, ebd. Bd. 18, 247. 43  Ders.: Reflexion zur Metaphysik N 5607. Akad.-Ausg. Bd. 18, 248. Siehe ebd. N 5608, Bd. 18, 249–251; ebd. N 5904, Bd. 18, 380; N 4097. Akad.-Ausg. 17, 414. 44  Vgl. ders.: KrV 129 f. (B 122–123 / A 90–91). 45  Ders.: KrV A 113. 46  Vgl. ders.: KrV B 719 / A 691 (Hervorhebung – R.W.). 47 Vgl. hierzu etwa ders.: KrV B XXXII f., A 112–114, A 125–129, B 262 f., A 215–216, B 446 f., A 418–419, B 719–732, A 691–704; Prolegomena, §§ 14–17. Akad.-Ausg. Bd. 4, 294–297, ebd. § 36. Akad.-Ausg. Bd. 4, 318–320; ebd. § 58. Akad.-Ausg. Bd. 4, 357–360; Kritik der praktischen Vernunft, BA 52, BA 81, A 74, A 84–85, A 174. Akad.-Ausg. Bd. 5, 29, 47, 43, 48 f., 97. 42 

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Es gibt – und zwar gemessen an Kants eigener Bestimmung von Naturzweck – einen gravitativen Organismus.48 »Ein organisirtes Product der Natur« ist als ein solches bestimmt, »in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist«.49 Im Falle der Gravitation sind nun die Teile die einzelnen schweren Massen. Aber sie sind das, was sie sind, eben schwere Massen, dadurch erst Teile, nur in Bezug aufeinander. Die Gravitation ist etwas, das sich erst im Gegeneinander der Körper bildet. Sie ist sozusagen die Einheit des Ganzen, zu der sich die Teile verbinden, indem sie voneinander Ursache und Wirkung sind. Das Gegeneinander der physikalischen Massen ist auch nicht bloß Maschine, also etwas, in dem die an sich fertigen Teile so zweckmäßig angeordnet sind, dass sie einander bewegen, sondern es ist wesentlich einem »organisirten Wesen« analog, das in sich auch bildende Kraft hat.50 Denn eine einzelne Masse für sich wäre nicht schwer; sie bildet sich erst zur schweren Masse, indem sie sich zu anderen Massen und diese anderen Massen sich zu ihr (gravitativ) verhalten. Diese Betrachtungsweise unterstellt, dass die getroffenen Aussagen über die Gravitation nur im Rahmen der Theorie (der klassischen Mechanik oder der Allgemeinen Relativitätstheorie) möglich sind, der ›gravitative Organismus‹ ein theoretischer Effekt ist, während Kants Maschinen oder organisierte Wesen stets als wahrnehmbare Dinge, als ein Tier, eine Pflanze, als sinnliche Konkreta vorgestellt werden (obzwar nur beschreibbar durch wissenschaftliche Erkenntnisse), und dass der Terminus ›bildende Kraft‹ einen genetischen Zusammenhang assoziiert, während es sich bei der Konstituierung der Gravitation durch das Gegeneinander der Massen um einen systematischen Zusammenhang handelt, dargestellt in einem System von Differentialgleichungen. Liest man dies so, dass ein Allgemeines bzw. ein Ganzes wissenschaftlich stets nur im Rahmen von Theorien gedacht werden kann, so muss man Kants Auffassung, dass dem Mechanismus im Unterschied zum Organismus keine Idee zugrunde läge, sondern er auf dem eigentlichen Verhalten der Materie beruhe, widersprechen. Der Mechanismus ist genauso theorien- oder ideenbeladen wie der Organismus. Dies scheint nur dann nicht so zu sein, wenn man nicht über Prinzipien, die aus der Mechanik folgen oder ihr zugrunde liegen, spricht, sondern über solche der mechanizistischen Philosophie. Letzteres tut man zweifellos, vermag man wirkliche Kausalität (verstanden als Einwirkung der Naturgegenstände aufeinander) nur als lineares Ursache-Wirkungs-Verhältnis zu denken, eine echte Wechselwirkung oder ein echtes Gegeneinander-Verhalten der Naturgegenstände hingegen nur nach einem Vernunftbegriff zu bestimmen.51 Kants Kausalitätsbegriff ist – wie man sehen konnte – ambivalent. 48  Vgl. R. Wahsner: Mechanism – Technizism – Organism. Der epistemologische Status der Physik als Gegenstand von Kants Kritik der Urteilskraft. In: Die Naturphilosophie im Deutschen Idealismus, hg. von Karen Gloy und Paul Burger (Stuttgart-Bad Cannstatt 1993) 1–23. 49  Vgl. I. Kant: Kritik der Urteilskraft § 66. Akad.-Ausg. Bd. 5, 376. 50  Zum Unterschied von Maschine und Organismus siehe ebd. § 65. Bd. 5, 374. 51  Vgl. z. B. ebd. § 65, Bd. 5, 372.

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Kant hat wesentliche Grundzüge der neuzeitlichen Naturwissenschaft in das philosophische Bewusstsein gehoben, sie auf den Begriff gebracht. Aber er hat eben auch spezifische mechanische Gesetze, also besondere Naturgesetze, als allgemeine ausgegeben (siehe z. B. das Trägheitsaxiom). Er hat in das Denkprinzip Mechanismus Sichtweisen integriert, die der neuzeitlichen Wissenschaft widersprechen, die diese nicht ermöglicht hätten, und so versucht, physikalische Begriffe unter dem kategorialen Verhältnis Ding – Eigenschaft zu fassen (was in der gängigen Philosophie bis heute kaum überwunden ist). Die mit Selbstverständlichkeit unterstellte Identität von neuzeitlicher Mechanik und Handwerkervorgehen ist erwiesenermaßen falsch, mithin auch die von neuzeitlicher Naturwissenschaft und mechanistischem Reduktionismus: Die neuzeitliche Mechanik konstituiert sich nicht nur aus der τέχνη-Komponente. Ihre Vereinigung mit der φύσις-Komponente macht gerade das für sie Typische aus (das, was sie von der antiken Mechanik maßgeblich unterscheidet, ebenso wie von dem, was in der Antike ›Physik‹ genannt wurde).52 Knapp zusammenfassend ließe sich sagen: Das neuzeitliche Denkprinzip bestimmt das Verhältnis von Erkennen und Erzeugen – ein Verhältnis, das ihm wesentlich ist – nicht so handwerklich, wie es meist suggeriert wird.53 Dies ist – nebenbei gesagt – auch der Grund, weshalb das Programm einer konstruktivistischen Protophysik nicht realisierbar ist. ›Mechanismus‹ wie ›Organismus‹ sind beide neuzeitliche Prinzipien; genau genommen sind sie das aber nur vereint. Getrennt genommen enthalten beide Rudimente der vorherigen Denkweise.

52  Vgl. H.-H. v. Borzeszkowski und R. Wahsner: Die Natur technisch denken? a. a.O. [Anm. 15] 135–168; R. Wahsner: Die Newtonsche Vernunft und ihre Hegelsche Kritik. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995) 789–800; dies.: »An seinen Werkzeugen besitzt der Mensch die Macht über die äußere Natur […]«. Hegels Rezeption des τέχνη-Begriffs in seiner Logik. In: Jahrbuch für Hegelforschung 2002/03 (Sankt Augustin 2004) 174–195. Zum Verhältnis der antiken zur neuzeitlichen Mechanik, mithin der Statik zur Dynamik, siehe auch R. Wahsner und H.-H. von Borzeszkowski: Nachwort zu: E. Mach: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Hist.-krit. dargestellt, hg. von R. Wahsner und H.-H. von Borzeszkowski (Berlin 1988) 529–647. 53  Zur klaren Bestimmung dieses Verhältnisses siehe z. B. Kurd Lasswitz: Geschichte der Atomistik (Hamburg, Berlin 1890); Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (Darmstadt 1990); ders.: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (Darmstadt 1994) Bd. 1–4, insbes. Bd. 1 und 2; R. Wahsner: Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis (Frankfurt a. M. etc. 1996) 217–221 (Anhang); H.-H. von Borzeszkowski und R. Wahsner: Infinitesimalkalkül und neuzeitlicher Bewegungsbegriff oder Prozeß als Größe. In: Jahrbuch für Hegelforschung 2002/2003 (Sankt Augustin 2004) 197–271.

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IV. Mechanismus als erste Stufe der Natur? Hegel Auf der Basis der vorangegangenen Mechanismusbegriffe und über sie hinausgehen wollend – mit dem Ziel, dabei vor allem Kants Entgegensetzung von Mechanismus und Organismus aufzuheben,54 konzipierte Hegel einen Stufengang, den naturphilosophischen Gang von der »Mechanik« über die »Physik« zur »Organik« und die die Objektivität konstituierende logische Entwicklung Mechanismus, Chemismus, Teleologie.55 Damit wollte er zwei Notwendigkeiten gerecht werden, derjenigen, die Natur als lebendig zu beweisen, und derjenigen, die Wissenschaften als Ausgangsbasis zu akzeptieren. Hinter dieser Stufung steht der Gedanke, dass »sich die Zweckbeziehung überhaupt, an und für sich als die Wahrheit des Mechanismus erwiesen« hat.56 Die Möglichkeit dieser Lösung sieht Hegel durch Kant inspiriert: »Eines der grossen Verdienste Kants um die Philosophie besteht in der Unterscheidung, die er zwischen relativer oder äusserer und innerer Zweckmäßigkeit aufgestellt hat; in letzterer hat er den Begriff des Lebens, die Idee, aufgeschlossen und damit die Philosophie, was die Kritik der Vernunft nur unvollkommen, in einer sehr schiefen Wendung und nur negativ thut, positiv über die Reflexionsbestimmungen und die relative Welt der Metaphysik erhoben.«57 Über den Stufengang, der Hegel erfolgversprechend schien, um Materie zum Leben zu entwickeln, soll zudem der Zusammenschluss von Objektivität und Subjektivität erreicht werden. Vor dem Erreichen dieses Zusammenschlusses hat nach Hegel die Objektivität, die selbsterzeugte »unorganische Natur« des Ich,58 einen widerspruchsvollen Charakter, insofern sie durch unmittelbare Gegenstände, die als solche mannigfaltig und voneinander unabhängig sind, konstituiert ist, diese Gegenstände aber (insofern die Objektivität durch die Subjektivität geprägt ist) auch Teile, Bestimmungsstücke eines Ganzen bilden. Dieser noch bestehende Widerspruch muss im Sinne des Systems gelöst werden. Die Lösung als Rückkehr zur Einheit der Idee geht durch die drei genannten Momente: den Mechanismus, den Chemismus und die Zweckmäßigkeit (Teleologie). Diese drei Momente bestimmen die Formen des Verhältnisses der Gegenstände zueinander und der Gegenstände zum Subjekt.

54 Ausführlicher R. Wahsner: Der Widerstreit von Mechanismus und Organismus, a. a.O. [Anm. 29] insbes. 195–299. 55  Vgl. G. W. F. Hegel: Enzyklopädie (1830) § 252. Ges. Werke. Akad.-Ausg., Bd. 20, 241 f.; siehe auch die Nachschriften der Vorlesungen zur Naturphilosophie. Der Terminus ›Physik‹ ist an dieser Stelle im Unterschied zu dem Sprachgebrauch in § 246 und den einleitenden Zusätzen nicht als Synonym für ›Naturwissenschaft‹ gebraucht, sondern als Bezeichnung eines ihrer Teile, zur Bezeichnung dessen, was wir auch heute, allerdings mit Einschluss der Mechanik, als ›Physik‹ bezeichnen. 56  G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil. Ges. Werke. Akad.-Ausg. Bd. 12, 157. 57 Ebd. 58  Vgl. G. W. F. Hegel: Jenaer Systementwürfe III. Ges. Werke. Akad.-Ausg., Bd. 8, 202–231.

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Auf der ersten Stufe der Objektivität, der Stufe des Mechanismus, ist die Einheit des Mannigfaltigen rein äußerlich. Hegel gibt die Bestimmung: »Diß macht den Charakter des Mechanismus aus, daß [,] welche Beziehung zwischen den Verbundenen Statt findet, diese Beziehung ihnen eine fremde ist, welche ihre Natur nichts angeht und, wenn sie auch mit dem Schein eines Eins verknüpft ist, nichts weiter als Zusammensetzung, Vermischung, Haufen u.s.f. bleibt.« »Wie der materielle Mechanismus« – fährt er fort –, »so besteht auch der geistige darin, daß die im Geiste Bezogenen sich einander und ihm selbst äusserlich bleiben«.59 Obzwar der theoretische oder auch der praktische Mechanismus des Geistes nicht ohne seine Selbsttätigkeit, einen Trieb und Bewusstsein stattfinden kann, so fehle darin doch die Freiheit der Individualität, und weil sie nicht darin erscheint, erscheine solches Tun als ein bloß äußerliches. Und er fügt hinzu, dass die elementarste Form des Widerspruches zwischen der Unabhängigkeit und der Abhängigkeit der Gegenstände der Stoß ist.60 Die nächste Stufe ist die der »konkreten Zentralität«, auf der kein Element mehr unabhängig ist. »Durch den ideellen, ihm immanenten Unterschied ist sein Daseyn eine durch den Begriff gesetzte Bestimmtheit. Seine Unselbstständigkeit ist auf diese Weise nicht mehr nur ein Streben nach dem Mittelpunkte, […] sondern es ist ein Streben nach dem bestimmt ihm entgegengesetzten Object; so wie das Centrum dadurch selbst […] in den objectivirten Gegensatz übergegangen ist. Die Centralität ist daher jetzt Beziehung dieser gegeneinander negativen und gespannten Objectivitäten. So bestimmt sich der freie Mechanismus zum Chemismus.«61 Das chemische Objekt unterscheidet sich nach Hegel von dem mechanischen dadurch, dass das mechanische eine Totalität ist, das gegen die Bestimmtheit gleichgültig ist. Bei dem chemischen hingegen gehöre die Bestimmtheit, mithin die Beziehung auf Anderes sowie die Art und Weise dieser Beziehung seiner Natur an. »Diese Bestimmtheit ist wesentlich zugleich Besonderung, d. h. in die Allgemeinheit aufgenommen; sie ist so Princip, – die allgemeine Bestimmtheit, nicht nur die des einen einzelnen Objects, sondern auch die des andern. […] Indem es auf diese Weise an sich der ganze Begriff ist, so hat es an ihm selbst die Nothwendigkeit und den Trieb, sein entgegengesetztes, einseitiges Bestehen aufzuheben und sich zu dem realen Ganzen im Dasein zu machen, welches es seinem Begriffe nach ist.«62 Hernach zeigt Hegel, dass sich der Zweck als das Dritte zum Mechanismus und Chemismus ergeben hat; er ihre Wahrheit ist. Indem er selbst noch innerhalb der Sphäre der Objektivität oder der Unmittelbarkeit des totalen Begriffs steht, ist er von der Äußerlichkeit als solcher noch affiziert und hat eine objektive Welt sich gegenüber, auf die er sich bezieht. Nach dieser Seite erscheint die mecha59  Vgl. G. W. F. Hegel: Wissenschaft 60  Vgl. ebd. 139. 61  62 

Ebd. 147. Ebd. 148.

der Logik, a. a.O. [Anm. 56] 133.

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nische Kausalität (wozu Hegel im allgemeinen auch den Chemismus rechnet) noch bei dieser Zweckbeziehung, welche die äußerliche ist, aber als ihr untergeordnet, als an und für sich aufgehoben. Was das nähere Verhältnis betrifft, so ist das mechanische Objekt als unmittelbare Totalität gegen sein Bestimmtsein und damit dagegen, ein Bestimmendes zu sein, gleichgültig. Dieses äußerliche Bestimmtsein sei nun zur Selbstbestimmung fortgebildet und damit der im Objekte nur innere Begriff gesetzt. Der Zweck ist nach Hegel zunächst eben der dem mechanischen äußerliche Begriff selbst, somit der Zweck das Selbstbestimmende, welches das äußerliche Bestimmtwerden, wodurch er bedingt ist, zur Einheit des Begriffs zurückbringt. – Hieraus soll sich die Natur der Unterordnung der beiden vorherigen Formen des objektiven Prozesses ergeben. Das Andere, das an ihnen in dem unendlichen Progress liegt, ist der ihnen zunächst als äußerlich gesetzte Begriff, welcher Zweck ist. Mithin ist nicht nur der Begriff ihre Substanz, sondern auch die Äußerlichkeit ist das ihnen wesentliche, ihre Bestimmtheit ausmachende Moment. Die mechanische oder chemische Technik bietet sich also – meint Hegel – durch ihren Charakter, äußerlich bestimmt zu sein, von selbst der Zweckbeziehung dar.63 Die drei Stufen der Objektivität begriffslogisch entwickelnd, führte Hegel das von Kant begründete Verhältnis von Mechanismus und Organismus auf eine spekulativ andere Ebene und bot einen Ansatz, um die metaphysische Entgegensetzung von Kausalität und Finalität aufzuheben. Hatte Kant den Gedanken der inneren Zweckmäßigkeit für die neuzeitliche Philosophie erschlossen und ein organisiertes Produkt der Natur als ein solches bestimmt, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist, so vertiefte Hegel den Begriff der inneren Zweckmäßigkeit, indem er das Subjekt-Objekt-Verhältnis unter der Kategorie der Arbeit fasste und das Mittel als Werkzeug dachte. Er realisierte so Kants Gedanken von der »Natur als Kunst« und der »Technik der Natur« in einer Weise, die das Kantische Als-Ob überflüssig machte. Allerdings fällt Hegels Begriff des Mechanismus weit hinter den Kants zurück. Dieser Rückfall müsste überwunden werden, um Hegels werkzeugbestimmte Subjekt-ObjektEinheit zu einem neuen Begriff der Vernunft entwickeln bzw. Hegels Rezeption des Kantischen Mechanismus-Organismus-Verhältnisses umfassend als Progress aufnehmen zu können. Für Hegels Begriff des physikalischen Gesetzes ist charakteristisch, dass er nicht zwischen Gesetz und Lösung unterscheidet. Er nimmt das Gesetz stets unmittelbar als Systembeschreibung. Demzufolge wird in seinem philosophischen Konzept die komplizierte Struktur einer naturwissenschaftlichen Theorie nicht gedacht, ebenso wenig wird der Begriff Funktion, ohne den die Fassung der physikalischen resp. naturwissenschaftlichen Gesetze nicht verstanden werden kann,

63  Vgl. ebd. 159 f.

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adäquat rezipiert.64 Alles in allem hat der Hegel’sche Verstand den »Begriff des Gesetzes selbst«65 erst näherungsweise gefunden. Hegel kommt daher zu dem Ergebnis, dass das eigentliche Reich des Gesetzes das Mechanische ist. »Nur der freye Mechanismus hat ein Gesetz.«66 Deshalb sah er (zumindest zeitweise) nur im Mechanischen Gesetze im eigentlichen Sinn,67 während am Organischen »die Vorstellung eines Gesetzes überhaupt verloren« geht.68 »Der Gedanke von [organischen] Gesetzen […] erweist sich keine Wahrheit zu haben.«69 Er begründet dies damit, dass das Wesentliche des Organischen ist, seine Momente »als durchlauffende Processe zu haben, »nicht aber an einem isolirten Dinge ein Bild des Allgemeinen zu geben«. Das Gesetz aber wolle »den Gegensatz als ruhende Seiten auffassen und ausdrücken und an ihnen die Bestimmtheit, welche ihre Beziehung aufeinander ist«.70 Hegel diskutiert – wie gesagt – das philosophische Grundproblem des Zusammenschlusses von Subjektivität und Objektivität. Im besonderen enthält seine Entwicklung vom Mechanismus über den Chemismus zur Teleologie die verdrillte Rezeption der Tatsache, dass der Mechanik, der Newton’schen Mechanik, in der Tat der Zweckgedanke inhärent ist, und zwar – um das zu wiederholen – insofern, als diese Mechanik die Synthese von τέχνη und φύσις darstellt, die Synthese von antiker Mechanik, verstanden als Kunst, als Technik, und antiker Naturphilosophie,71 also eine Synthese, die gerade unter dem hier diskutierten Thema der Entwicklung des Begriffs Mechanismus hochinteressant ist. Um die in Newtons Synthese von τέχνη und φύσις liegende Leistung ins philosophische Bewusstsein zu heben, muss man die von Kant und Hegel geführte Diskussion des Verhältnisses von Mechanismus und Organismus (Teleologie) aufnehmen und vom Standpunkt der heutigen Erkenntnis fortführen. Es war eine grandiose Leistung, dass Hegel auf eine sehr indirekte Weise das, was er als Mechanik ansah, auf diesen Punkt des τέλος und der τέχνη hingeführt hat. Durch Hegels Werkzeug-Konzept wurde Kants auf seiner erkenntnistheoretischen Wendung beruhender Gedanke von der Natur als Kunst sowie der Technik der Natur zu einem konstruktiven Ansatz für einen philosophisch neu64  Zur

Erläuterung siehe z. B. R. Wahsner: »Der Gedanke kann nicht richtiger bestimmt werden, als Newton ihn gegeben hat«. Das mathematisch Unendliche und der Newtonsche Bewegungsbegriff im Lichte des begriffslogischen Zusammenhangs von Quantität und Qualität. In: Hegels Seinslogik – Interpretation und Perspektiven, hg. von Andreas Arndt und Christian Iber (Berlin 2000) insbes. 295–300; H.-H. von Borzeszkowski und R. Wahsner: Infinitesimalkalkül und neuzeitlicher Bewegungsbegriff oder Prozeß als Größe, a.a.O [Anm. 53]. 65  Vgl. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Ges. Werke. Akademie-Ausg., Bd. 9, 92. 66  G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik, a. a.O. [Anm. 56] 146; ders.: Enzyklopädie, a. a.O. [Anm. 55] 146. 67  Vgl. die Moldenhauer-Michel-Ausgabe der Hegelschen Schriften, Bd. 9, 93. 68  G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Ges. Werke. Akad.-Ausg., Bd. 9, 156. 69  Ebd. 151. 70  Ebd. 156 f. 71 Vgl. H.-H. von Borzeszkowski und R. Wahsner: Die Natur technisch denken? a.a.O [Anm. 15].

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artigen Begriff von Naturwissenschaft. Dieser besagt: ›Die Natur technisch denken‹ heißt, die Objekte der Naturwissenschaft als Erkenntnismittel zu bestimmen. Hegels These »Wo Zweckmässigkeit wahrgenommen wird, wird ein Verstand als Urheber derselben angenommen«,72 kann nunmehr auch ohne ontologistische und theistische Konsequenzen angenommen werden, kann angenommen werden, ohne Hegels Begriff in seiner Verabsolutierung des Verhaltens gegenüber dem Gegenstand als Subjekt der Welt zu unterstellen. Im Interesse einer produktiven Aufhebung der Kantischen und Hegel’schen Begriffe Mechanismus und Organismus ist es, da sie den Übergang vom naturwissenschaftlichen zum spekulativen bzw. philosophischen Denken enthalten sollten, nach wie vor erforderlich, den epistemologischen Status der Naturwissenschaft zu erkunden, nach einer Antwort auf die Frage: ›Wie das Denken in der Physik ist‹ zu suchen – obzwar die Lösung dieser Aufgabe für sich genommen noch nicht hinreicht. Diese Lösung ergibt – um mit Kant zu sprechen – noch keine »eigentlich metaphysischen Urtheile«, sehr wohl aber »zur Metaphysik gehörige« Urteile.73 Die Bestimmung des Verhältnisses von Mechanismus und Organismus markiert eine grundlegende philosophische Problematik. Dies erkennt man schon daran, dass Hegel dieses Verhältnis als Stufen der Vermittlung von Subjekt und Objekt dachte. Zugleich zeigt die Fassung des Subjekt-Objekt-Problems unter dem Aspekt des Mechanismus-Organismus-Verhältnisses, dass ersteres nicht lösbar ist, wenn nicht zugleich die Beziehung von Philosophie und Wissenschaft bestimmt wird.

72 

G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik, a. a.O. [Anm. 56] 154. § 4. Akad.-Ausg. Bd. 4, a. a.O. [Anm. 39] 273.

73  Vgl. I. Kant: Prolegomena

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Nation Ein Schlüsselbegriff zwischen Politik und Philosophie

Das 19. Jahrhundert hat uns die Nationalstaaten hinterlassen und mit ihnen auch den Begriff der Nation, noch heute ein Grund- und Schlüsselbegriff politischer Ordnung. Und wie alle modernen politischen Begriffe ist auch die Nation ein Konzept, das nicht nur ein Objekt des tagespolitischen Streits, sondern immer auch ein Gegenstand der philosophischen Reflexion und Begründung war und ist. Rein auf diese philosophische Reflexion aber kann und will sich der vorliegende Überblickstext nicht beschränken. Vielmehr ist es sein Anliegen, die enge Verzahnung des politisch-philosophischen Denkens mit dem herauszuarbeiten, was man die normative Kraft des Faktischen nennen kann. Wir können die Philosophie der Nation im 19. Jahrhundert nicht ohne die Geschichte der Nationalismen und Nationalstaaten verstehen – und ebenso wenig umgekehrt. Da eine Gesamtdarstellung beider Kontexte aber den Rahmen eines Handbuchartikels sprengen würde, konzentriert sich die folgende Darlegung auf solche Beispiele, an denen übergreifende Strukturzusammenhänge zwischen historisch-politischer Semantik, philosophischer Auslegung und geschichtlicher Entwicklung der Nation im 19. Jahrhundert deutlich werden. Zudem wird darauf geachtet, die Relevanz dieser Zusammenhänge für unser heutiges Verständnis des ›Nationalen‹ im Blick zu behalten. Da dieses heutige Verständnis oft durch eine Reihe ›kritischer‹ Vorannahmen geprägt ist, muss der in Frage stehende Begriff zunächst einmal historisch freigelegt werden.

I.  Kleine Apologie der Nation Um die rasante intellektuelle wie politische Karriere des Begriffs der Nation im 19. Jahrhundert zu verstehen, müssen zunächst ein paar landläufige Missverständnisse geklärt werden, die den Blick zurück auf die Genese dessen, was wir heute unter Nation verstehen, immer wieder trüben. Dazu gehört etwa die Annahme, der Begriff bezeichne Herkunft. So ist für die meisten hierzulande (zumindest seit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts von 1998) der Enkel eines türkischen ›Gastarbeiters‹, der in den 1960er Jahren nach Deutschland kam, zwar eindeutig ein deutscher Staatsbürger; fragen wir aber nach seiner Nationalität, kommen die meisten ins Grübeln und tendieren dazu, etwas unsicher von ›türkischstämmigem Migrationshintergrund‹ zu reden. Der Begriff der Nation aber bezeichnet, von seinem politisch-philosophischen Ursprung her ebenso wie im weit überwiegenden Teil seiner inzwischen 250jährigen Geschichte, nicht Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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Herkunft, sondern Zugehörigkeit. Herkunft ist lediglich eines der vielen Kriterien zur Bestimmung von Zugehörigkeit. Ein zweites, damit zusammenhängendes Missverständnis besteht darin, in der Nation eine genuin un- oder vorpolitische Form von Zugehörigkeit zu sehen. Das legt der lateinische Ursprung des Wortes nahe. Nation kommt von ›nascere‹: geboren werden. Wo und von wem ich ›geboren werde‹, kann ich mir nicht aussuchen. Doch auch hier stellen die Merkmale des ›Geboren-Werdens‹ lediglich ein Bild bereit, Zugehörigkeit zu beschreiben. Faktisch ist es gerade die Errungenschaft des Begriffs der Nation, Zugehörigkeit entgegen dem Geburtsschicksal der ständischen Gesellschaftsordnung politisiert und zu einer Sache des Willens und der Wahl gemacht zu haben. Als Sieyès kurz vor der französischen Revolution den Dritten Stand zur Nation erklärte, rief er damit nicht eine neue Standesordnung oder gar eine Klassenherrschaft aus (auch wenn Robespierre etwas später eben das daraus zu machen versuchte), sondern delegitimierte die ständische Ordnung als solche. Nationale Zugehörigkeit ist genuin politische Zugehörigkeit. Die Idee der Nation kam auf, als die ständische Ordnung durch eine neue »gedachte Ordnung« (Lepsius), basierend auf der »abstrakten Solidarität vormals Fremder« (Habermas), ersetzt wurde; als man anzunehmen begann, dass staatliche Herrschaft über das Prinzip der Volkssouveränität legitimierbar ist und der »Träger dieser Legitimitätsquelle bestimmt werden musste« (Lepsius).1 Nation und moderne Demokratie haben den gleichen Ursprung. Ein drittes Missverständnis liegt darin, in der Nation einen Widerspruch oder Gegensatz zum modernen Universalismus zu sehen. Wer Menschheit sagt, so wird oft impliziert, kann nicht Nation sagen. Nationalismus gilt oft als die Urform eines bösen, anti-universalistischen und anti-menschheitlichen Partikularismus. Historisch war es genau andersherum: Die Nation entstand gerade im Horizont des universalen Menschheitsbegriffs als einzige Form partikularer Zugehörigkeit, die den Ansprüchen des modernen Universalismus gerecht wurde.2 Einer Nation anzugehören hieß, einem Stück Menschheit anzugehören. Gerade weil es hier um die »abstrakte Solidarität vormals Fremder« ging, war die Nation die erste und wichtigste Realisationsform des Menschheitsgedankens. Nicht als Angehöriger eines Standes, eines Geschlechts, einer Kultur oder Rasse gehört man zu einer Nation, sondern als Mensch. Das trifft auch dort noch zu, wo man die Semantik des ›Geboren-Werdens‹ zur Bestimmung einer Nation heranzog: Wo und von wem ich geboren werde, kann ich mir nicht aussuchen. Die Geburt 1  Mario

Rainer Lepsius: Nation und Nationalismus in Deutschland. In: Grenzfälle. Über alten und neuen Nationalismus, hg. von Michael Jeismann u. Henning Ritter (Leipzig 1993) 193–214, hier 196; Jürgen Habermas: Die postnationale Konstellation (Frankfurt a. M. 1998) 35. Das nach wie vor beste Standardwerk zum Nationalismus ist Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism (London 1983 [dt. unter dem völlig falschen Titel: Die Erfindung der Nation, Berlin 1998]). 2 Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Zur Pathogene der modernen Welt (Frankfurt a. M. 1966); Stefan-Ludwig Hoffmann: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft 1840–1918 (Göttingen 2000).

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erscheint mithin als prägende Determinante. Das heißt aber auch: Wo und von wem ich geboren wurde, ist der reine Zufall. Und: Die Geburt ist eine anthropologische, alle Menschen betreffende Konstante. Formal trifft das alles auch auf den Fall zu, in einen Stand hineingeboren zu werden – aber nicht historisch. Die ständische Gesellschaft war weder eine menschheitliche, noch zufällige, noch natürliche Ordnung, sondern eine göttliche. Sie war legitim, insoweit sie so sein sollte. Das Hineingeboren-Werden in eine Nation dagegen garantiert im Prinzip die Option, sie zu wechseln. Sie ist meine Ausgangspartikalurität, die mich als Menschen definiert, der eine Wahl hat. Zwei Beispiele können diesen heute möglicherweise ungewohnten Gedankengang illustrieren. Erstens: Die Nation, die das Prinzip gewählter Nationalität durch fast das gesamte 19. Jahrhundert hindurch verwirklicht hat, ist die amerikanische. Bis in die 1890er Jahre gab es keinerlei Einwanderungsbeschränkungen. Die USA sind eine Nation von Menschen mit Migrationshintergrund (wobei im Falle der Schwarzen diese Migration erzwungen war und sie eben deshalb bis zur Mitte des 20. Jahrhundert nicht vollgültig der Nation angehörten). Die Tatsache, dass diese Geschichte die Vereinigten Staaten keineswegs davor bewahrte, einen radikalen Nationalismus auszubilden und ihn bis heute zu pflegen, zeigt, dass die Nation (im Guten wie im Schlechten) eine allein im Horizont der Menschheitsidee funktionierende politische Universalpartikularität ist und nicht eine irgendwie vorgegebene, determinierte oder determinierende Zugehörigkeit. Zweitens: Auch umgekehrt hat sich die universalistische Idee der einen Menschheit politisch bislang einzig und allein in Form von Nationen realisieren können. So ist das Menschenrecht, dieser Urkanon modern-universaler Werte, bis heute nur dort wirklich einklagbar, wo er auch nationales Recht ist, was wiederum nationale Zugehörigkeit voraussetzt und, wie Hannah Arendt schon 1950 feststellte, ausgerechnet diejenigen außenvorlässt, für die der Universalismus der Menschenrechte eigentlich gedacht zu sein schien: die Staatenlosen, Flüchtlinge und Vertriebenen ohne partikulare Zugehörigkeit.3 Der Hinweis auf diese drei Missverständnisse mag sich wie die Apologie eines Begriffs anhören, von dem wir doch wissen, dass in seinem Namen Millionen von Menschen gewaltsam umkamen. Das soll hier auch nicht geleugnet werden. Doch es diskreditiert weder den Begriff und das politische Konzept der Nation als solches, noch ändert es etwas an der Tatsache, dass wir – aller Europäisierung und Globalisierung zum Trotz – bislang keinen Ersatz für die Nation als Grundkonzept der politischen Ordnung unserer modernen Welt gefunden haben. Gerade das Beispiel Europa zeigt vielmehr die Unhintergehbarkeit des Nationalen. Seit Jahren ist zu beobachten, wie Europa sich hochgradig unsicher zwischen zwei Möglichkeiten hin und her bewegt: Wiederkehr und Restabili3 Hannah

Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [1959] (München 1994); dies.: Moralpolitk. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, hg. von Stefan-Ludwig Hoffmann (Göttingen 2010).

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sierung nationalstaatlicher Ansprüche oder aber Aufbau eines supranationalen europäischen – Nationalstaats. Darauf wird am Ende nochmal zurückzukommen sein. Umso wichtiger scheint es, sich über die Ursprünge und Entwicklungen der Nation als Grundbegriff moderner politischer Selbstverständigung klar zu werden. Dies mit Blick auf seine, im weitesten Sinne, philosophische Reflexion zu tun, heißt keineswegs die Theorie vor der Wirklichkeit zu schützen. Vielmehr gilt auch hier, was für die Begriffsgeschichte generell gilt: Semantiken bleiben immer hinter der geschichtlichen Wirklichkeit zurück und fügen ihr zugleich etwas hinzu – eben darin sind sie unweigerlich ein Teil von ihr.4

II.  Nation und Volk Es ist einleitend betont worden, in welchem radikalen Sinne die Nation alle traditionalen und vorgegebenen Zugehörigkeitsformen verabschiedete. Zugleich aber blieb sie Platzhalter eben jener vormodern-›organischen‹ Bindungen, die sie auflöste. Immer wieder versuchten Nationalisten, der Nation jene Wärme und Geborgenheit einer vormodern determinierten und organisch determinierenden Zugehörigkeit zurückzugeben. Das ist ein erster wichtiger Strang im Diskursfeld der Nation. Ein zweiter bestand genau umgekehrt darin, die universalen, menschheitlichen Anteile des Nationsbegriffs zu betonen und zu radikalisieren, die Freiheit und Wählbarkeit nationaler Zugehörigkeit in den Mittepunkt zu stellen. Hierhin gehört etwa jene radikale Formel, die 1882 von Ernest Renan geprägt wurde, als er die Nation ein »alltägliches Plebiszit« nannte: eine immer nur im Augenblick existierende, reine Willensgemeinschaft.5 Ein dritter Strang schließlich lässt sich dort identifizieren, wo man diese beiden Seiten der nationalen Semantik miteinander zu versöhnen suchte und prä-faschistisch die Herstellung einer ›organischen‹ Einheit mit den Mitteln einer modernen Willensgemeinschaft versprach. Die Geschichtsschreibung hat solche und weitere Unterschiede in der Art und Weise, die Nation zu denken, früh gesehen, in Typologien gegossen und nicht selten wiederum bestimmten nationalen Traditionen des Nationalen zugeordnet. Die westlichen Nationen Englands, Frankreichs und der Vereinigten Staaten galten in dieser Sichtweise als Vertreter des Typus der ›Staatsnation‹, deren Zugehörigkeit an demokratische Wahl und politische Willensbildung gebunden sei, während die Relevanz vorpolitischer Aspekte wie Kultur oder Abstammung umso mehr zunehme, je weiter wir nach Osten schauen. So hätten sich etwa die Deutschen im 19. Jahrhundert zum Teil als ›Kultur-‹und zum Teil als ›Volks4 Vgl. Reinhart Koselleck: Einleitung. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 1 (Stuttgart 1972) XV. 5  Ernest Renan: Was ist eine Nation? [1882]. In: Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, hg. von Michael Jeismann u. Henning Ritter (Leipzig 1993) 290–311.

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nation‹ verstanden. ›Volksnation‹ ist in dieser Perspektive meist der Name für eine vor- oder gar antimoderne, ethnische oder gar rassische Form von Nationalismus. Bis heute tendieren wir dazu, einen radikalen, übersteigerten Nationalismus bevorzugt dort zu vermuten, wo vom Volk die Rede ist. Jener in den späten 1990er Jahren errichtete und inzwischen grün bepflanzte Erdtrog im Lichthof des deutschen Bundestags, der den Schriftzug »Der Bevölkerung« trägt, war explizit als innere, künstlerische Korrektur des »Dem deutschen Volke« gedacht, das außen am Reichstagsgebäude zu lesen ist. ›Bevölkerung‹, so die Annahme des Künstlers Hans Haake wie auch einer öffentlichen Mehrheit, sei der bessere Begriff als Volk, der an die ›Völkische Bewegung‹ und eigentlich an die Nazis erinnere. Diese Einschätzung aber ist bar jeden historischen Wissens. Nicht nur darin, dass hier die Widmung des ersten deutschen Parlaments kurzerhand mit totalitärer Diktatur verknüpft und der seit der Antike urpolitische Begriff ›Volk‹ (›demos‹) nicht mal zehn Jahre nach den Leipziger Montagsdemonstrationen kurzerhand als ›völkisch‹ delegitimiert wird. Darüber hinaus erklärt man ausgerechnet den Begriff der Bevölkerung, der sich, von der Polizey-Wissenschaft des 18. Jahrhunderts durch die Eugenik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts bis zu Thilo Sarrazin, wie ein roter Faden durch die Tradition des biopolitischen Nationalismus zieht, zum politisch korrekten und wahrhaft demokratischen Konzept.6 Zum Glück hat hier nicht zuletzt die Begriffsgeschichte inzwischen eine Reihe von Einsichten gewonnen, die solchen Annahmen und Zuordnungen widersprechen und nachzulesen sind. Dazu gehört, dass der Begriff ›Volk‹ auch in Deutschland seine demokratische Tradition und seine primär politische Bedeutung bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein bewahrt hat, bevor er durch einen politisch-ideologischen Biologismus in etwas anderes verwandelt wurde; in etwas, das allerdings der ›Bevölkerung‹, also der sich biologisch reproduzierenden Population, sehr viel näher kam als jenem an gemeinsamer Sprache, Geschichte, Kultur und imaginierter Abstammung erkennbaren Stück Menschheit, das man im 19. Jahrhundert auf Deutsch ›Nation‹ nannte. Denn was einleitend als die ursprüngliche historisch-politische Semantik des Begriffs der Nation beschrieben wurde, trug im deutschen Sprachraum durch das komplette 19. Jahrhundert hinweg bevorzugt den Namen ›Volk‹. Hier liegt in der Tat eine wichtige Differenz zwischen Deutschland und den weiter westlich gelegenen Gesellschaften vor, allerdings weniger eine national- als eine sprachhistorische: Sowohl im Englischen als auch im Französischen war ›nation‹ der politische Begriff im Sinne von Staatsvolk (Angehörige eines Staats), während ›people‹ oder ›peuple‹ das 6  Auch wenn die alte Widmung eher eine monarchische Schenkungsurkunde darstellte als ein demokratisches Bekenntnis, ist ihre implizite Entwertung durch das Kunstprojekt heute nicht nachzuvollziehen. Zur Genese der Biopolitik und zur dabei zentralen Rolle des Begriffs der Bevölkerung vgl. Christian Geulen, Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert, Hamburg 2004. Zum Kunstprojekt im Reichstag siehe: http://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/kunst/kuenstler/haacke/derbevoelkerung/.

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Volk in seiner konkreten Zusammensetzung und historisch gewachsenen Gemeinsamkeit meinten. Letzteres wurde demgegenüber im Deutschen mit dem Begriff ›Nation‹ (vor allem im Sinne von ›Kulturnation‹) gekennzeichnet, während ›Volk‹ die rein politische, die staatliche Gemeinschaft bezeichnete.7 So formulierte Johann Caspar Bluntschli im Staatswörterbuch von 1864 das Nationalitätsprinzip folgendermaßen: »Jede Nation ist berechtigt, sich zum Staate zu einigen, das heißt: Volk zu werden.«8 Und noch in Meyers Lexikon von 1906 findet sich unter dem Eintrag ›Nation‹ die harmlose Bestimmung: »Völkerschaft – ein nach Abstammung, Sitte und Sprache zusammengehöriger Teil der Menschheit.« Davon explizit geschieden wurde der Begriff ›Volk‹ als »Bezeichnung der Angehörigen eines bestimmten Staates«. Dieser Regel entsprechend könne man, so dieser Artikel von 1906, sowohl von einem deutschen Volk als auch von einer deutschen Nation sprechen. Ebenso könne man von einem österreichischen Volk sprechen, nicht aber von einer österreichischen Nation. Denn die deutsche Nation umfasse alle, die nach Sprache, Sitte und Geschichte Deutsche seien, also auch die Österreicher. Doch hätten diese sich, historisch bedingt, entschlossen, einen eigenen Staat zu bilden, also zusammen mit den Ungarn und vielen anderen Nationalitäten – ein eigenes Volk zu sein.9 Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gerade im deutschen Sprachraum in der Tat ein ideologisch begründeter semantischer Wandel einsetzte, der das bis dahin klare Verhältnis zwischen Volk und Nation ins Wanken brachte und beide Begriffe langfristig einer totalitären Rhetorik zur Verfügung stellte. Das wurde vor allem dort deutlich, wo es um Minderheiten ging. Im habsburgischen Österreich war das immer schon ein Problem, das aber bis zum Aufschwung eines neuen biopolitischen Nationalismus um 1900 erstaunlich wenige Schwierigkeiten gemacht hatte. Doch auch das deutsche Kaiserreich war alles andere als mono-national. Aber es erhob, einsetzend mit seiner Gründung, zunehmend den Anspruch, es zu sein. Als dann etwa die Polen in den ostdeutschen Provinzen begannen, gegenüber der Reichsregierung Nationalitätenrechte einzufordern, versuchte ein konservativer Reichstagsabgeordneter es so klarzustellen: »Die Polen sind preußische Staatsangehörige, und weil sie preußische Staatsangehörige sind, sind sie deutsche Reichsangehörige. Sie gehören zum deutschen Volke. Sie haben nicht das Recht, von einer besonderen polnischen Nationalität zu sprechen.«10

 7 Vgl.

hierzu Reinhart Koselleck: Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Geschichtliche Grundbegriffe [im Folgenden: GGr] Bd. 7 (Stuttgart 1997) 141–451.  8 Johann C. Bluntschli: Art. »Rasse und Individuum«. In: Deutsches Staatswörterbuch. Bd. 8 (Stuttgart 1864) 474–480.  9  Meyers großes Konversations-Lexikon: Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Bd. 6 (Leipzig 1906) 442. 10  Zitiert nach R. Koselleck: Nation. In: GGr. a. a.O. [Anm. 7] 371.

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Hier ist im Kern bereits jene Umkehr der deterministischen Logik des Nationalen vollzogen, die den Radikalisierungsschub des Nationalismus am Ausgang des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begleitete: Aus der staatlich-politischen Zugehörigkeit, die bei Bluntschli noch als abschließende Krönung des ›nation-building‹ gedacht war, wurde selber eine quasi-natürliche Determinante, die Sprache, Geschichte und Kultur kurzerhand aufhob. Implizite Voraussetzung dafür war eine Entpolitisierung des Volksbegriffs, die eines Rückgriffs auf vorpolitische Merkmale nicht mehr bedurfte: Die Nation verschwand im Volk und aus dem Volk wurde die abstrakte, formbare Bevölkerung. Allein weil sie zur deutschen Population gehörten, so die neue Logik, gehörten die Polen zum deutschen Volk und weil sie zum deutschen Volk gehörten, könnten sie keine eigene nationale Identität haben. Am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert erlebte die Semantik politischer Gemeinschaften in Deutschland also einen entscheidenden Wandel: Der Begriff des Volkes wurde seiner politischen Gehalte beraubt und der Begriff der Nation, zumindest in der Bedeutung, wie er im 19. Jahrhundert gebraucht worden war: als ein nach Sprache, Kultur und Geschichte zusammengehöriges Stück Menschheit, verschwand. Bis zu Mitte des 20. Jahrhunderts blieb das so. Die schon nach dem Ersten Weltkrieg territorial zerschnittene Nation war nur noch als ein Zukunftsprojekt denkbar, das die Nazis dann ›Volksgemeinschaft‹ nannten, aber weder mit dem politischen Volks- noch mit dem kulturellen Nationsbegriff mehr viel gemein hatte. Nach 1945 führten dann Teilung, Kalter Krieg, Europäisierung und Globalisierung – neben dem allgemeinen Bedeutungsschwund der Idee des Nationalen – auch in Deutschland zur Übernahme jener westlichen, formalpolitischen Bestimmung der Nation als Summe der Angehörigen eines Staates. Vierzig Jahre Teilung allerdings, auf beiden Seiten der Mauer als nationale Spaltung wahrgenommen, hielten Reste der Idee am Leben, dass eine Nation nicht völlig in den politischen Staatsgrenzen aufgeht. Hier wie auch in Osteuropa, wo nationale Differenzen von einer internationalistischen Doktrin begraben worden waren, kam es nach dem Ende des Kalten Krieges zu einer scheinbaren Wiederkehr des Nationalismus. Doch machte auch hier der Verweis auf die eigene Kollektividentität rasch einer xenophoben Homogenitätsprogrammatik Platz, der es weniger um die Lebendigkeit der eigenen Kultur als um deren siegreiches Überleben im Kampf mit anderen ging. So wurden aus scheinbar national-revolutionären Erhebungen (ähnlich wie kürzlich wieder im Arabischen Frühling) rasch offene oder schleichende Bürgerkriege um konkurrierende Zukunftsideologien. Heute leben wir in einer Welt, die zwar formal weiterhin in einem System von ›Nationalstaaten‹ geordnet ist, deren zentrale Konflikte aber auf sub-, supra- und transnationaler Ebene ausgetragen werden.11 Das Ideal des Nationalitätenprinzips, wie es im 19. Jahrhundert entworfen wor11 

Vgl. hierzu Hans Magnus Enzensberger: Aussichten auf den Bürgerkrieg (Frankfurt a. M. 1996).

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den war – jeder Nation einen Staat (also im alten Sprachgebrauch: jede Nation ein Volk) – wird immer unrealistischer, obgleich man ausgerechnet in komplexen Konfliktfällen, wie in Palästina, daran festhält. Überwiegend aber haben wir es heute, in den Einwanderungsländern des Westens, aber auch in den meisten postkolonialen Gesellschaften und erst recht im neuen Europa, mit multinationalen politischen Gemeinschaften zu tun.

III.  Die Nation zwischen natürlichem Ursprung und politischer Setzung Nun lehren uns gerade das 19. Jahrhundert und zumal der deutsche Fall, dass Nationen keine ewig fixen Einheiten sind, sondern aus der Homogenisierung einer Vielzahl unterschiedlicher Gemeinwesen heraus entstehen können. Sogar Sprachenvielfalt lässt sich, wie im Falle der deutschen Dialekte, in einem längeren, kultur- und nationalpolitisch gewollten Prozess vereinheitlichen; ein Kontext, dem das im 19. Jahrhundert so viel beschworene ›deutsche Nationalgefühl‹ ebenso wie etwa das Fach Germanistik erst ihre Existenz verdanken. Max Weber gilt als derjenige, der diese Seite des ›nation-building‹ als erster systematisch beschrieben hat: den Umstand, dass meist nicht die Nationen den Nationalismus, sondern erst der Nationalismus die Nationen hervorbringt. Diese Einsicht steht heute im Zentrum des so genannten konstruktivistischen Nationsbegriffs.12 Gerade jene vorpolitischen Kriterien der Abstammung und Verwandtschaft, der Sitte und des gemeinsamen Schicksals, mit denen sich Nationen legitimieren und begründen, sah Weber als künstliche Produkte eines politischen Willens an, als nachträgliche, aber politisch funktionale Erfindungen einer Tradition. Eine gründliche soziologische Analyse dieser Prozesse, so Webers Überzeugung, werde den Begriff des ›Ethnischen‹ langfristig überflüssig machen und man werde Nationen endlich als das erkennen, was sie sind: historisch produzierte politische Willensgemeinschaften, für die politische Handlungssolidarität etwa bei Gefahr von außen, also im Kriegsfall, sehr viel wichtiger sei als eine imaginierte Herkunft.13 Weber dekonstruierte also den hergebrachten deutschen Nationsbegriff – ein nach Sprache, Sitte und Schicksal zusammengehöriges Stück Menschheit – und 12  Man

hat diese Einsicht immer wieder dahingehend missverstanden, die moderne Forschung habe die Aufgabe nachzuweisen, dass nationale und anderen Kollektive Erfindungen und ›Konstrukte‹ sind. Damit erklärt man aber nur eine forschungsleitende Hinsicht kurzerhand zum Forschungsergebnis. Konstruktivismus ist eine Methode, das in Frage stehende Phänomen in einem bestimmten Modus zu analysieren, und keine Aussage über seinen Realitätsgehalt. Ausführlicher dazu Christian Geulen: Die Nation als Wille und Wirklichkeit. Historische Anmerkungen zu einer problematischen Unterscheidung. In: Politische Kollektive. Die Konstruktion nationaler, rassischer und ethnischer Gemeinschaften, hg. von Ulrike Jureit (Münster 2001) 68–80. Vgl. auch Anderson: Imagined Communities, a. a.O. [Anm. 1]. 13  Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft [1922] (Tübingen 1985) 234–244, bes. 240–242.

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wies dieses Stück Menschheit als Ergebnis eines politischen Willens aus. Damit formulierte er eben jenen politischen Nationsbegriff, der eingangs betont wurde. Doch war Weber zugleich auch ein typischer Zeitgenosse, insofern er schon nicht mehr wahrnahm, dass eben diese politische Dimension bis dahin mit dem Begriff des Volkes verbunden war. Für ihn war das Volk schon nichts anderes mehr als ein anderer Name für das Ethnische, also selber eine jener politisch erfundenen Traditionen. Im Volk sah er nur ein anders Wort für Stamm. Indem er den Nationsbegriff politisierte, biologisierte er den Volksbegriff. Eben darin setzte er ein Denken fort, das international schon früher formuliert worden war. In dem bereits erwähnten Vortrag von 1882 hatte Renan die Nation in gleicher Weise als ein tägliches Plebiszit und als rein politische Willensgemeinschaft beschrieben. Im Gegensatz zu Weber aber, der von dieser Position aus alle anderen Kriterien der nationalen Gemeinschaftsbildung (Schicksal, Stamm, Volk etc.) als politische Kunstprodukte auswies, ging es Renan genau umgekehrt um die Verteidigung der Ethnographie gegen ihre politische Instrumentalisierung. Die Nation war für ihn in genau dem Maße ein tägliches Plebiszit, als sie nur kurzfristige und oberflächliche Ausdrucksform der wahren, untergründig und langfristig wirksamen Entwicklungsmechaniken von Rasse und Kultur waren, für die Renan als international anerkannter Experte galt. Während sich also für Weber die politischen Nationen immer wieder eine Ethnizität erfinden, formt für Renan das Ethnische immer wieder neue politische Nationen. Im Biologischen über das Sprachlich-Kulturelle bis zum Politischen sah Renan Formen der Gemeinschaftsbildung mit abnehmender universalgeschichtlicher Relevanz. Zumal sei die politische Ebene so instabil und wandelbar, dass es für den politischen Nationalismus schlicht illegitim sei, sich auf die anderen Ebenen der Kultur oder gar der Rasse zu berufen.14 Renans Sorge, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse über Rassen- und Kulturentwicklungen nationalistisch ausgenutzt werden könnten, hatte eine tragische Berechtigung. Immerhin war er es, der jene Unterscheidung zwischen Ariern und Semiten in das ›kulturgeschichtliche‹ Denken des 19. Jahrhunderts eingeführt hatte, die nur wenig später im Zentrum einer ganzen rassen-nationalistischen Weltanschauung stehen sollte. Entsprechend betonte er immer wieder, dass die Nationen ein reines Oberflächenphänomen seien, aber auch, dass man in den tieferen Schichten der Sprach-, Kultur- und Rassenentwicklung keineswegs auf reine Ursprünge treffe: »Schon in jener Menschengruppe, die die arische Sprache und Disziplin schuf, gab es Kurz- und Langschädlige. Dasselbe gilt von der ursprünglichen Gruppe, welche die Sprache und Institutionen schuf, die man semitisch nennt. Mit anderen Worten, die zoologischen Ursprünge der Menschheit haben einen enormen Vorsprung vor den Anfängen der Kultur, der Zivilisation, der Sprache. Die ursprünglich arische, semitische, turanische Gruppe war keine physiologische 14 

E. Renan: Nation, a. a.O. [Anm. 5] 309.

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Einheit. Diese Gruppenbildung sind historische Tatsachen einer bestimmten Epoche, sagen wir vor fünfzehn- bis zwanzigtausend Jahren, während sich der zoologische Anfang der Menschheit im unfassbaren Dunkel verliert.«15 Geht man davon aus, dass rassengeschichtliche Annahmen für die Ausbildung und Stärkung eines nationalen Überlegenheitsgefühls nur dann funktional sind, wenn sie Bilder eines reinen und unverfälschten Ursprungs bereit stellen, dann erscheinen Renans Hinweise als ein wichtiges Stück kritischer Aufklärung. Doch eben davon konnte man 1882 schon längst nicht mehr ausgehen. Mindestens zwei international rezipierte Denker des 19. Jahrhunderts hatten schon lange die Vorstellung verabschiedet, dass die Naturgeschichte von Nationen als eine Verfallsgeschichte ursprünglicher Reinheit zu denken ist, deren Wiederherstellung dann das Ziel einer nationalen oder nationalistischen Politik sein könnte. Ein solches vormodern-zyklisches Panorama von reinem Ursprung, Verfall und Wiederherstellung passte auch wenig in das von Veränderung, Fortschritt, Entwicklung, zeitlichem Wandel und Geschichte geradezu besessene 19. Jahrhundert. Entsprechend hatten zunächst Joseph Arthur Comte de Gobineau 1853 und dann Charles Darwin 1859 konstatiert, dass ein wissenschaftlich angemessener Blick auf die Naturgeschichte von Arten, Rassen und ›Menschensorten‹ nicht nach Ursprüngen suchen dürfe, von denen der Wandel seinen Ausgang nahm, sondern nach den Mechanismen hinter diesem Wandel, nach seinem täglichen Antrieb. Für Gobineau lag dieser Antrieb in der ewigen Rassenmischung, die zum einen immer wieder neue Kultur- und Großreiche entstehen lasse, ebenso sicher aber auch für ihren letztlichen Untergang sorge.16 Auch wenn er damit noch von einem zyklischen Gesamtverlauf ausging, lag das Neue seiner These darin, einen einzigen Mechanismus identifiziert zu haben, der für diesen Zyklus von Aufstieg und Verfall verantwortlich sei. Mit der Rassenmischung hatte Gobineau ein ähnlich überzeugendes Prinzip geschichtlicher Dynamik formuliert wie kurz zuvor Karl Marx im Konzept des Klassenkampfs – mit dem Unterschied, dass bei Marx die laufende Wiederholung von Klassenkampf und Revolution zudem noch einen Fortschritt implizierte. Charles Darwin schließlich formulierte 1859 ein Prinzip, das weder einer zyklischen Verlaufsvorstellung noch einer vorausgesetzten Fortschrittsannahme mehr bedurfte, sondern den Wandel an sich auf eine operative Struktur zurückführte: auf den täglichen und blinden Automatismus einer Selektion nach Maßgabe des Verhältnisses zwischen dem jeweils gegebenen physischen Zustand einer Art und ihrer Umwelt.17 Bei aller Zeitlichkeit, die der Darwin’schen Evolutionstheorie immanent ist, bedeutete sie faktisch die endgültige und vollständige Enthistorisierung der Frage nach der Entwicklung der Arten und Rassen. Denn darwinistisch gesehen gibt es nur ein Kriterium, das 15 

Ebd. 301. Joseph Arthur Comte de Gobineau: Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen [1853–55], dt. v. Ludwig Schemann, (Stuttgart 51939). 17  Vgl. Charles Darwin: Die Entstehung der Arten [1859] (Stuttgart 1963). 16  Vgl.

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über die Fitness, Stärke oder Überlegenheit von Individuen, Gruppen oder Arten entscheidet: die simple Frage, ob sie leben oder sterben. Allein zur externen Beobachtung des Resultats bedarf es der Zeit; die natürliche Selektion selbst, der alltägliche Überlebenskampf, ist zeitlos.18 Aber auch diese Zeitlosigkeit des Darwin’schen Überlebenskampfs passte nicht so recht ins 19. Jahrhundert, weshalb es zu einer echten Rezeption Darwins in nationalistischen und rassistischen Kontexten erst um 1900 kam. Bis dahin stand weniger sein operativer Selektionsmechanismus im Zentrum der Aufmerksamkeit als sein endgültiger Nachweis, dass die Arten nicht konstant sind, sondern sich wandeln und verändern oder eben aussterben. Genau dieses Denken der Veränderung, der prinzipiellen Veränderbarkeit der Welt, ob in fortschrittstheoretischer, evolutionistischer, historistischer oder sozialistischer Variante, war ein vorherrschendes Diskursmerkmal des 19. Jahrhunderts, zu dem das Konzept der Nation mit seinen politischen Ansprüchen ebenso wie mit seinen vorpolitischen Begründungsformen in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis stand. Einerseits galt die Nation als eine Gemeinschaft von Dauer, gründend auf der Imagination langfristiger Gemeinsamkeiten der Sprache, des Schicksals oder der Abstammung. Andererseits war sie von Anfang an ›Projekt‹, Ausdruck einer neuen politisch-historischen Gestaltbarkeit der modernen, post-aufklärerischen Welt und der Machbarkeit »neuzeitlich in Bewegung geratener Geschichte« (Koselleck). Und bis sie am Ende des Jahrhunderts von Renan zu einem Oberflächenphänomen, von Weber zu einem ›Konstrukt‹ oder postdarwinistisch zum immer prekären Resultat eines dauernden Überlebenskampfs erklärt wurde, waren die meisten Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts davon überzeugt, in der Nation beides sehen und beides verwirklichen zu können: eine strukturell völlig neuartige, aber dennoch dauerhafte Gemeinschaft. Das Neuartige bestand in jenem voluntaristischen Akt, mit dem jedes ›nation-building‹ seinen Anfang nimmt; und seine Dauerhaftigkeit wurde dadurch garantiert, dass man sich der Gemeinsamkeiten bewusst wird und sie in eine politische Form gießt.19 Dabei war von Anfang an der politische Akt das Entscheidende, während das hergebrachte Gemeinsame, also Tradition und Herkunft, überhaupt erst im politischen Akt sichtbar werden kann. Das lässt sich – in der bereits erläuterten, spezifisch deutschen Sprachregelung von ›Nation‹ und ›Volk‹ – bereits bei Hegel nachlesen: »In dem Dasein eines Volkes ist der substantielle Zweck, ein Staat zu sein und als solcher sich zu erhalten; ein Volk ohne Staatsbildung (eine Nation als solche) hat eigentlich keine Geschichte.«20 In der ihm eigenen Ra18  Vgl. Wolf

Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Verzeitlichung und Enthistorisierung in den Wissenschaften vom Leben im 18. und 19. Jahrhundert (München 1976). 19  Hierzu vor allem B. Anderson: Imagined Communities, a. a.O. [Anm.1]. Für Deutschland auch Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918 (Stuttgart 1992). 20  Georg F. W. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften [1817]. Werke in 20 Bänden, hg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd. 10 (Frankfurt a. M. 1970) § 549, 350.

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dikalität sprach Hegel hier der Nation ohne Staatsbildungswillen ausgerechnet das ab, was viele seiner Zeitgenossen überhaupt erst als ein ›nationales Erbe‹ entdeckten: die gemeinsame Geschichte. Bedenkt man Hegels Bemerkung etwa mit Blick auf Fichtes »Reden an die deutsche Nation« von 1807, erhält sie eine fast schon Webersche Dimension: Erst die Reden selber, ihr Apell und politischer Aufruf, konstituierten ihren Adressaten als historisches Phänomen. Macht man sich diese Perspektive zu eigen, wird gerade bei Fichte, den die historischpolitische Nationalismusforschung üblicherweise als naiven Jünger eines substanziellen Nationsbegriffs hinstellt, diese konstruktive, performative und voluntaristische Seite gerade des romantisch-idealistischen Nationalismus deutlich: »Ich rede für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg,« schrieb er einleitend, »nicht anerkennend, sondern durchaus bei Seite setzend und wegwerfend alle die trennenden Unterscheidungen, welche unselige Ereignisse seit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben.«21 Für Fichte war die Nation jedenfalls eher eine »Tathandlung« als eine Tradition. Dem entspricht, dass am Beginn des 19. Jahrhunderts, entgegen der landläufigen Vorstellung, die Nation prinzipiell als etwas gesehen wurde, das der politischen Erweckung und Gestaltung bedurfte, um überhaupt von Relevanz zu sein.22 So findet sich bei Herder, Humboldt und anderen der Nationsbegriff immer wieder gerade auch auf solche außereuropäischen Menschengruppen angewendet, die in Hegels radikaler Formulierung ›geschichtslos‹ seien. Häufig wurden sie als ›schlafende Nationen‹ beschrieben: in sich und in ihrer klimatisch-kulturellen Umwelt ruhend, ihr Potenzial noch nicht in einem historischen Prozess entfaltend. In dieser Vorstellung setzte sich zunächst jenes eurozentrische Hierarchiedenken fort, das schon die Aufklärung als Lösung des Universalismusproblems formuliert hatte: Unter den Bedingungen des modernen Begriffs der einen und gleichen Menschheit kann die europäische Überlegenheit (die sich im Kolonialismus bereits seit 300 Jahren manifestiert hatte) nur durch Verzeitlichung erklärt und legitimiert werden. Der Fortschritt der Menschheit hat hier eine räumliche Verteilung, mit Europa an der Spitze und Afrika (dessen Bewohner sowieso schon seit Jahrhunderten als bloße Ware behandelt wurden) am Ende. Unter den Aufklärern war wohl Turgot derjenige, der dieses hierarchische Modell am leidenschaftlichsten als Versöhnung universalistischer Ansprüche und asymmetrischer Wirklichkeit vertrat. Die Wilden sind hier nichts als der 21  Johann

G. Fichte: Reden an die deutsche Nation [1807]. In: Fichtes Werke [1845]. Bd. 7 (Berlin 1971) 266. 22  Das trifft sogar auf Ernst Moritz Arndt zu, der generell sehr viel mehr als Fichte oder Herder einem mythischen Rassendenken anhing, das Nation und Volk gänzlich entpolitisierte. Doch auch hier ist diese scheinbar reine ›Naturgeschichte des Nationalen‹ geprägt von einer politischen Rhetorik des ›Noch nicht‹: Am Ende erweisen sich alle ›Naturgesetze‹ als wirkungslos ohne einen ›Idealismus der Tat‹. Vgl. die hierzu gerade die deutlich politisch motivierte Zusammenstellung ausgewählter Texte Arndts, die Paul Requadt 1934 im Kröner Verlag herausgab: Ernst M. Arndt: Volk und Staat. Seine Schriften in Auswahl, hg. von Paul Requadt (Leipzig 1934).

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Archetypus unserer eigenen (europäischen) Herkunft: So waren die Europäer auch mal, bevor sie vernünftig wurden. Solange sich bei diesen Wilden aber die Vernunft noch nicht selber regt, muss sie ihnen beigebracht werden.23 Im Begriff des Nationalen, wie Romantik und Idealismus ihn dann entwickelten, setzte sich diese prinzipielle Idee fort. Gerade der ethnographische Nationsbegriff machte alle Menschen und alle Völkerschaften gleich: Jeder Mensch gehörte einem nach Sitte, Kultur und Tradition zusammengehörigen Stück Menschheit an. Und auch jenes Zauberwort, das schon die Aufklärung herangezogen hatte, um die Kulturdifferenzen einer prinzipiell gleichen Menschheit erklären zu können – das ›Klima‹ – blieb, vor allem bei Herder, ein entscheidender, Kulturen und damit auch Nationen determinierender Faktor. Während aber die Aufklärung daraus den Menschheitsfortschritt als politische Aufgabe abgeleitet hatte, woraus im 19. Jahrhundert jene Zivilisierungsmission wurde, die den europäischen Imperialismus noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein begründete und am Leben erhielt, übertrugen Romantik und Idealismus in Deutschland die Erweckungsidee auf die eigene Nation. Die von Schiller, Fichte, Herder und vielen anderen betriebene Suche danach, was die Deutschen jenseits der historisch entstandenen Vielstaatlichkeit zusammenhielt, war weniger der Versuch, ihnen eine neue Geschichte zu erfinden, als vielmehr selber der politische Akt, durch den die Deutschen überhaupt geschichtsfähig wurden, durch den die Nation zum Volk gemacht werden sollte. Das ist einerseits wichtig zu betonen, um das verbreitete Bild dieses romantischen Nationalismus als Mythenstifter und Ursprung der ›Deutschtümelei‹ zu korrigieren. Die Romantiker waren sich ihrer willkürlichen und politisch-appellativen Setzungen viel bewusster als so mancher ›konstruktivistische‹ Kritiker von heute meint. Die Nation, ihre Herleitung aus mythischen Ursprüngen, aus Sprachtraditionen, Kultur und Abstammung, war ihnen nur Mittel zum Zweck einer politisch-historischen Erneuerung, einer jetzt erst möglichen Nationalgeschichte. Im Gegensatz zu heutigen medialen Rückblicken auf »Die Deutschen« begann deren Geschichte für die Romantiker und Idealisten überhaupt erst in ihrer Gegenwart. Das nationale Erbe, das sie durchaus als Basis und Grundlage ihres Projekts hinstellten, war für sie der dezidiert vor-historische Ausgangspunkt einer erst jetzt denkbaren deutschen Geschichte. Nationen mögen zwar eine erzählbare Vergangenheit haben, aber nur Völker machen Geschichte. Dennoch liegt genau hier aber auch der Beginn einer fatalen Entwicklung; allerdings nicht in den Ursprungsmythen und Traditionserfindungen, sondern in eben jenem Moment der willkürlichen politischen Setzung eines Neubeginns, in der Enthistorisierung der Nation zugunsten des ›Geschichte machenden‹ Volks. Denn hier begann sich die semantische Unterscheidung zwischen der vorpolitischen Nation und dem politischen Volk zu fundamentalisieren. Je mehr die Na23  Vgl. A.

Robert J. Turgot: Über die Fortschritte des menschlichen Geistes [1750] (Frankfurt a. M. 1990).

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tion nicht nur als vorpolitisch, sondern als vor-, un- oder überhistorisch gedacht wurde, desto mehr wurde sie für die Gestaltungsansprüche des politischen, Geschichte machenden ›Volks‹ zur bloßen Verfügungsmasse; zu etwas, das von sich aus weder Gestaltungs- noch Einspruchskraft besitzt, sondern einen im Grunde fast schon störenden Faktor im politisch-historischen Machbarkeitswillen darstellt. Das wurde in Deutschland zunächst 1848 sinnfällig, als die revolutionäre Staatsbildung nicht zuletzt am bitteren Streit zwischen den unterschiedlichen Gestaltungsentwürfen scheiterte, und erst recht 1871, als die endliche gewonnene ›Volkwerdung‹ fast unmittelbar einen Ruf nach der »inneren Nationsbildung« (Bismarck), einen nach inneren Feinden suchenden, purifizierenden Nationalismus und schließlich auch imperiale Weltmachtträume zur Folge hatte. Von hier aus dauerte es dann nicht mehr lange, bis selbst ein so sozial-liberaler Denker wie Otto Hintze das Verhältnis zwischen Ursprung und Ziel umkehrte und dazu aufrief, aus dem bislang nur historisch-politischen Nationalzusammenhang »ein festes kompaktes, einheitliches Volkstum« zu machen, »das nicht nur im Gemüt, sondern auch im Geblüt steckt: die deutsche Rasse der Zukunft!«24 Gerade da also, wo die massenhaft beschworene und herbeigesehnte nationale Einheit greifbar und real wurde, war das Nationale nicht mehr genug, wurden Sprache, Sitte, Kultur und Abstammung zum bloßen Objekt einer sie machtpolitisch umgestaltenden Nationalpolitik. Hier liegt ein wichtiger, das 19. Jahrhundert als Ganzes kennzeichnender Zusammenhang: Weil und insofern die Nation von Anfang an als heroische Vergangenheit, nicht aber als Geschichte gedacht wurde, die erst mit den staatsbildenden Völkern beginne, war die Verwirklichung des Nationalstaats Ausgangspunkt jenes vorne beschriebenen semantischen Rollentauschs am Ende des Jahrhunderts: Nach ihrer ›Volkwerdung‹ verliert die Nation ihre ideologische Funktion und wird, inmitten ihrer jetzt erst massenhaften politischen Beschwörung, von einem naturgeschichtlichen Ursprung zu einem politischen Ziel; während das vormalige Ziel: das Volk, nun Staatsvolk, nur noch vorpolitische Bevölkerung ist – biopolitisches Medium eines neuen nur noch vorwärts gewandten ›nation-building‹.

IV.  Europa und seine Nation(en) Trotz eigener Ausflüge ins xenophobe Denken, war es unter den Philosophen wohl Nietzsche, der das am klarsten erkannte: »Das, was heute in Europa ›Nation‹ genannt wird und eigentlich mehr eine res facta als nata ist (ja mitunter einer res ficta et picta zum Verwechseln ähnlich sieht –), ist in jedem Falle etwas Werdendes, Junges, Leicht-Verschiebbares […].« Dieses Kunstprodukt, so Nietz24 Otto

Hintze: Rasse und Nationalität und ihre Bedeutung für die Geschichte [1903]. In: Ders.: Soziologie und Geschichte. Gesammelte Aufsätze, hg. von G. Oestreich (Göttingen ²1964) 46–65, hier 65.

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sche 1886, solle man doch endgültig vergessen, es verhindere nur, größer zu denken: »Dank der krankhaften Entfremdung, welche der Nationalitäts-Wahnsinn zwischen die Völker Europa’s gelegt hat […], werden jetzt die unzweideutigsten Anzeichen übersehn […], dass Europa Eins werden will.«25 Diese Anzeichen regten sich erst wieder nach 1945. Bis dahin war Europa fest im Griff eines zunehmend rassen- und bevölkerungspolitischen Nationalismus ohne Nation – ohne partikularen Sinn für Völkerschaften und ihre Geschichte, stattdessen aber besessen von der Idee, die Natur der Völker dem politischen Willen zu unterwerfen. Und auch als man nach zwei katastrophalen Kriegen endlich auf Europa setzte, geschah dies nicht in Form einer politischen Gründung, sondern als Zukunftsprojekt einer allmählichen Auflösung der Nationen durch ökonomische Kooperation. Als würden die Europäer, mit ein bisschen Zeit und Geld, ihre Vaterländer vergessen – so wie die Westdeutschen (zumindest bis 1989) fast das ihre vergessen hätten. Heute wird überall deutlich, dass es so nicht funktioniert. Von der Ablehnung einer europäischen Verfassung bis zur Finanz- und Flüchtlingspolitik ist Europa heute eher ein multinationales Konkurrenzsystem als eine politische Einheit. Entsprechend mehren sich die Bemühungen, Europa selber als Nation zu denken, was aber unweigerlich bedeutet, Sprache, Sitte, Kultur, Religion und heroische Vergangenheit Europas nach vorne zu stellen und festzulegen. Ansätze für solche ›Reden an die europäische Nation‹ sind durchaus zu finden. Und auch sie tendieren einerseits zur Enthistorisierung (Europa war historisch immer eher Schlachtfeld als Heimat) und anderseits zur Fremdenfeindlichkeit gerade jenen Nicht-Europäern gegenüber, die in steigender Zahl auf der Flucht vor globalen Konflikten zu uns kommen. Die europäische Aufgabe heute besteht darin, eine multinationale Gemeinschaft inmitten einer globalisierten Welt zu errichten. Weder Märke noch büro­ kratische Regelungssysteme werden sie lösen. Vielmehr könnte es helfen, einen Nationsbegriff wiederzuentdecken, wie er um 1800 kurz aufschien, bevor er zwischen Ursprungs- und Zukunftserfindung zerrieben wurde: den Begriff einer Nation als nach Sprache, Kultur und Geschichte zusammengehöriges Stück Menschheit. Das hieße, jenes Hin und Her zwischen der Vorstellung naturhafter Urgründe und der Idee politisch-willkürlicher Herstellbarkeit, wie es die Entwicklung der europäischen Nationalismen bestimmte und heute den Weg Europas zu bestimmen droht, zu verabschieden. So wie sich eine deutsche und eine europäische Geschichte schreiben lassen, so lassen sich auch Europa und Europas Nationalstaaten als verschiedene, aber sich nicht notwendig widersprechende Formen der politischen Gemeinschaft denken. Selbstverständlich ist Europa noch lange kein nach Sprache, Kultur und Geschichte zusammengehöriges Stück Menschheit, vielmehr ein hochgradig experi25 

Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 5 (München 1980) 9–244, § 251, 194 und § 256, 201.

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menteller Zusammenschluss solcher Menschheitsstücke. Eben dieses Experiment aber wird scheitern, sollte Europa eine neue Super-Nation sein oder werden wollen. Bislang kennen vor allem jene Flüchtlinge dieses neue europäische Groß-Vaterland, die beim Versuch, es zu erreichen, ihr Leben riskieren, nur um dann Jahre in den prekären Randzonen der Illegalität zu verbringen. So wie Europa von oben nach unten gebaut wurde, indem man den Grundstein der Verfassung als letztes plante, so wird es heute von außen nach innen gebaut: Erst einmal die externen Grenzen sichern, bevor man sich im Innern auf eine gemeinsame Flüchtlings- und Menschenrechtspolitik verständigt. In dieser HohlraumArchitektur wird dem europäischen Haus am Ende doch noch passieren, was schon Kant ihm voraussagte: Es wird einfallen, sobald »sich ein Sperling drauf setzt[…] […], ein bloßes Hirngespinst«.26 Europa setzt sich aus Nationalstaaten zusammen. Gerade um seinem antinationalistischen Gründungsauftrag gerecht zu werden, kann es daher auf seine nationale Binnenstruktur nicht einfach verzichten zugunsten eines ›rein Europäischen‹, das man verzweifelt im Vergangenen sucht, um es in die Zukunft zu projizieren. Nur von den Nationen, aus denen es sich zusammensetzt, kann Europa lernen, was es ist und allein sein kann: ein politisches Stück Menschheit.

26  Vgl.

Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Akad.-Ausg. Bd. 8, 273–314, 312.

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I. Vorbemerkung Angesichts der heute umfassenden Möglichkeiten des elektronischen Bibliographierens besteht die vielleicht folgenreichste Herausforderung nicht zuletzt auch begriffsgeschichtlicher Forschung nicht nur darin, einschlägiges Material überhaupt sinnvoll zu sondieren, sondern auch darin, es für die Präsentation angemessen auszuwählen. So stellt bereits die Gliederung des leicht umfänglich zu Tage geförderten Schrifttums zum Thema eine interpretatorische Leistung dar. Ungeachtet der mit diesen Möglichkeiten gleichwohl verbundenen Schwierigkeiten dokumentiert das gesichtete Material zum Thema doch einigermaßen klar, dass bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts der Begriff der ›Partei‹ in erster Linie politikwissenschaftlich gründlich erforscht wird; dagegen hat seit den 90er Jahren bis in die Gegenwart das Interesse nachgelassen. Gleichwohl verdeutlicht insbesondere die Aufschlüsselung der spätestens im Vormärz aufkommenden politisch motivierten Verwendungsweisen des Begriffs ›Partei‹, dass ein exklusiver begriffsgeschichtlicher Zugriff die unterschiedlichen Spektren nur partiell erfassen kann, entstehen doch mit (für gewöhnlich religiösem) ›Bund‹ bzw. ›Bündnis‹, ›Klasse‹,2 insbesondere jedoch ›Verein‹ problem- bzw. ideengeschichtliche Vor- bzw. Nebenformen von ›Partei‹ bzw. ›Fraktion‹. So ist es zu einer Verengung des Blicks auf die politischen Parteien im Deutschland des 19. Jahrhunderts gekommen, und das ungeachtet der Tatsache, dass nicht wenige Autoren dieser Zeit gleichfalls für die freie Gründung von ›Vereinen‹ und ›Assoziationen‹, die im Vormärz faktisch die Funktion von Parteien erfüllen, votieren. Dies hat dazu geführt, dass die bisherige Forschung die politischen Parteien im 19. Jahrhundert tendenziell zu negativ eingeschätzt hat.3 In diesem Fahrwasser sind dann auch undifferenzierte, ja einseitige Bewertungen des Wer1  Zur Schreibweise: gemeinhin ›Partei‹; in Zitaten wird der originale Lautstand beibehalten. Außerdem werden hier die Termini ›Fraktion‹, ›Faktion‹ mitbehandelt. 2  Zu denken ist hier weniger an die durch Marx bzw. Engels entscheidend vertiefte Theorie des Klassenkampfes zwischen Arbeitern und Kapitalisten (siehe z. B.: Marx-Engels-Werke, Bd. 4 [Berlin 191959] 462), sondern vielmehr an die im Zuge einer durchgängigen Demokratisierung des Wahlrechts in der Weimarer Republik sich ausdifferenzierende individuelle Massenmitgliedschaft zumeist auf Klassen- (Sozialdemokratische Partei Deutschlands [SPD]) bzw. Konfessionsbasis (Deutsche Zentrumspartei [ZENTRUM]). – Angelo Panebianco: Political Parties. Organisation and Power (Cambridge 1988) 47–52; 69–78. 3  So neuerdings z. B. auch: Philipp Erbentraut: Parteien. In: Lexikon zu Restauration und Vormärz. Deutsche Geschichte 1815 bis 1848, hg. von Andreas C. Hofmann. In: historicum.net, doi: https://www.historicum.net/no_cache/persistent/artikel/8447 (Zuletzt besucht: 7.7.2014)

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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kes einzelner Autoren entstanden, z. B. der Schriften von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Dass die Intellektuellengruppe der Junghegelianer erfolgreich mit dem Begriff der ›Partei‹ experimentiert, bedarf keiner weiteren Erörterungen. Im Zuge der schrittweisen Demontage des spätfeudalen Systems findet im Europa des 19. Jahrhunderts eine Ausdifferenzierung der politisch-staatlichen und der ökonomisch-sozialen Sphären statt. Dies hat zur Konsequenz, dass nicht allein die sprachliche, sondern mehr noch die historisch-politische Semantik leitender Begriffe – wie auch desjenigen der ›Partei‹ – in den Fokus gerät. Gemäß Reinhart Kosellecks zu Recht konstatiertem zeitlichen »Vorsprung des politischen Sprachgebrauchs in England vor dem französischen und beider vor dem deutschen«4 wird die anglo- bzw. frankophone begriffsgeschichtliche Analyse für ›Partei‹ als Schlüsselbegriff des 19. Jahrhunderts in diesem Kontext schmal ausfallen. So bezieht sich die nachfolgende Sach- bzw. Sozialgeschichte in der Hauptsache auf den Vor- und Nachmärz. Denn im Vormärz etablieren sich entscheidende politische Gebrauchsvarianten des Begriffs der ›Partei‹, und zwar spätestens seit 1848 im Sinne eines revolutionären Parteienverständnisses.

II.  Universelle Kontexte Im Allgemeinen bezeichnet ›Partei‹ zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Anzahl zusammengehöriger Personen oder beliebiger Sachen: Das sind Personen, insofern sie sich zu einer nicht näher bestimmbaren Verrichtung resp. zu einem bestimmten Zweck zusammenfinden5 oder einen Vertrag miteinander schließen (»die beyden contrahirenden Parteien«6). Formaljuristisch gesehen betrifft der Begriff der ›Partei‹ denjenigen Rechtsträger im Zivilprozess, von dem und gegen den Rechtsschutz begehrt wird.7 Bei E. Landsberg heißt es, »für oder gegen den Angeklagten partheiisch verfahren.«8 Zudem gelten als jeweils eine ›Partei‹ ein4  Reinhart Koselleck: Zur Verzeitlichung der Utopie. In: Utopien – Die Möglichkeiten des Unmöglichen, hg. von Hans-Jörg Braun (Zürich 1987) 69–86, 70; jetzt unter dem Titel: Zur Begriffsgeschichte der Zeitutopie. In: R. Koselleck: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache (Frankfurt a. M. 2006) 252–273. 5  Im Kriegswesen: ein kleiner Trupp unbestimmter Anzahl angeführt von einem Parteigänger oder Partisanen; eine Division, Partition, Separation. Parteien werden auf Kundschaft geschickt; streifende Parteien (daher die Redensart: auf Partei ausgehen; ausziehen, um Beute zu machen; leichte Truppen – besonders Freibeuter oder Freipartien – auf Partei ausschicken); in diesem Sinne illegale Parteien agieren ohne Pässe, d. h. sie plündern. 6 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, vierter Theil, von Seb–Z (Wien 1811) 660. 7  Zu denken ist hier bereits an Lucius Annaeus Senecas »audiatur et altera pars« (Medea, 199). 8  Ernst Landsberg: Die Gutachten der rheinischen Immediat-Justiz-Kommission und der Kampf um die rheinische Rechts- und Gerichtsverfassung 1814–1819 (Bonn 1914, Nachdr. Düsseldorf 2000) 285.

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zelne Personen oder Personenverbindungen (so auch das Ehebündnis von Mann und Frau bzw. Familien), besonders solche, die je eine Mietwohnung innehaben (»in diesem Haus wohnen vier Parteien« [i. S. von ›Partie‹9 ]). ›Partei‹ wird zudem eine gewisse Anzahl von Tieren derselben Art genannt.10 Die in der Folgezeit zunehmend politische Dimension des Begriffs ›Partei‹ kündigt sich an, wenn eine Gesamtheit gleichgesinnter Personen und die von ihnen vertretene Richtung in religiösen, sozialen oder wissenschaftlichen Dingen im Gegensatz zu anders gesinnten oder im Kampf mit denselben ›Partei‹ genannt wird (»in mancherley Secten und Partheien zerteilet«11). Eine Vielzahl von Nachweisen ließe sich anführen für ›Partei‹ im Sinne von ›Parteimann sein‹ oder ›werden‹, d. h. einer Parteisache anhängen: »[…] ich seh nun wohl,/ Religion ist auch Partei; und wer/ Sich drob auch noch so unparteiisch glaubt,/ Hält, ohn’ es selbst zu wissen, doch nur seiner/ Die Stange.«12 Ein vergleichbarer Sprachgebrauch findet sich bei Johann Christoph Gottsched, wenn er sich zu der Debatte um religiöse Toleranz wie folgt äußert: »[…] so ist es ja abermal sonnenklar zu spüren, was die Duldung aller Religionen für einen unvergleichlichen Nutzen schaffen würde. Warum ist doch Deutschland so volkreich? warum hat es solch einen Überfluß an großen und mittelmäßigen Städten, Flecken und weitläufigen Dorfschaften; als darum, weil alle drei Parteien der christlichen Religion darinnen ihrer Freiheit genießen können?«13 In diesem Sinne formuliert auch der Rechtswissenschaftler und kurfürstlich bayerische Staatskanzler von Kreittmayr: Das Problem, »wann der sich selbst angegeben- oder vorgeschlagene  9  »Bist du mit von der Partie?« heißt: »Nimmst du auch teil?« – Eine gute Partie machen: 1. Einen vermögenden Partner heiraten; mit einem vermögenden Menschen eine Beziehung eingehen: »Meine Schwester hat eine gute Partie gemacht.« 2. Bei einem Wettkampf gut abschneiden: »Gut gefallen hat mir Fritz, der eine gute Partie gemacht hat im Mittelfeld.« 3. Einen Vorteil erlangen: »Wer dieses Buch ersteigert, hat eine wirklich gute Partie gemacht.« – Ökonomisch: eine Partie an (mehrstückigen) Waren (Pfeffer, Wolle, Bücher etc.). Etwas »zur Partita setzen«: auf die Rechnung setzen; »eine Partei abschreiben«: zahlen; Wechselpartei, Wechselpartie, Wechselpartita: Wechselgeschäft im Allgemeinen (einen Wechsel er- und verhandeln). 10  »Die Jagdpartey, die zur Jagd oder Jägerey gehörigen Personen. Am Kaiserl. Hofe zu Wien sind die Rüdenpartey, Reiherpartey, Milanpartey, Krähenpartey, Revierpartey etc. so viel besondere Haufen von Jagdbedienten.« – Johann Georg Krünitz: Oekonomische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- u. Landwirthschaft, Bd. 107 (Berlin 1807) 654. 11 Vgl. schon: Johann Leisentrit: Geistliche Lieder vnd Psalmen, der alten Apostolischer recht vnd warglaubiger Christlicher Kirchen, so vor vnd nach der predigt […] mögen gesungen werden. (Budissin [Bautzen] 1567) Bd. 1, 72. – vgl. Christoph Martin Wieland: Geschichte der Abderiten. Zweyter Theil. 7. Kapitel. Sämmtliche Werke, Bd. 20 (Leipzig 1796) 53 f. 12  Vgl. z. B.: Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise, IV/1. Werke, hg. von Herbert G. Göpfert, Bd. 2 (München 1971) 56–60. 13  Johann Christoph Gottsched: Von dem verderblichen Religionseifer, und der heilsamen Duldung aller christlichen Religionen (1725). Ausgewählte Werke, hg. von P. M. Mitchel, Bd. 9/2. Gesammelte Reden, bearb. von Rosemary Scholl (Berlin, New York 1976) 460. – In engerer Bedeutung bildet eine Gruppe von Menschen dann eine Religionspartei, wenn Grundwahrheiten der Religion anderen abgesprochen werden.

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Mediator entweder der Religion halber, oder sonst partheyisch und suspect zu seyn scheint.«14 So spricht Fr. Schiller von Kriegsparteien: »[…] Parthey wird alles, wenn das blut’ge Zeichen/ Des Bürgerkrieges ausgehangen ist.«15 Weniger bestimmt: Jemandes oder von jemand Partei sein, für oder gegen jemand Partei sein, ergreifen; einer Partei beitreten, ergeben sein, zu ihr halten, sie begünstigen, sich für sie erklären usw.: »Muß ich doch heut’ erfahren, was jedem Vater gedroht ist:/ Daß den Willen des Sohns, den heftigen, gerne die Mutter/ Allzugelind begünstigt, und jeder Nachbar Partei nimmt,/ Wenn es über den Vater nur hergeht oder den Ehmann.«16 Ebenso: ›seine Partei nehmen‹ i. S. von eine Entscheidung treffen oder einen Entschluss fassen: »das war auch die klügste Partei, die du nehmen konntest«.17 In der Bedeutung von ›Partei machen‹ (frz. ›faire parti‹), bilden, in eine, zu einer ›Partei‹ bringen; »Man will behaupten, daß mehrere Schweizer bei der letzten Unternehmung gegen die Republik Partei gemacht, und sich mit der sogenannten Verschwörung befunden haben, und man erwartet nunmehr, daß die Franzosen sich deshalb an die Einzelnen, vielleicht gar ans Ganze halten möchten.«18 »Man erklärt mein Haus jetzt für den Sammelplatz der Opposition. Man sagt, ich machte Partei […]«.19 Der Begriff der ›Partei‹ findet auch mit Blick auf private, wissenschaftliche oder literarische Streitsachen Verwendung: »indem er [in dem Streite mit dem Postmeister, H. G.] meine Partei nahm«.20 »Denn es wurde nicht wenig darüber gestritten: Ob man nicht in einem Zusatze d i e Be sc h affe n he it d e s Ne u en 14 Wiguläus

Xaver Aloys von Kreittmayr: Grundriß des Allgemeinen, Deutsch- und Bayrischen Staatsrechtes. Erster Theil: Von dem allgemeinen Staatsrechte (München 1770) 41 (§ 24). (Thematisch ist hier die Ausschlagung einer Mediation, d. h. kaiserlichen Vermittlung oder Schlichtung »im Krieg verwickelte[r] Theile«.) – In der Bedeutung, sich »noch nicht zu einer reinen geschichtlichen Auffassung einer Angelegenheit erhoben« zu haben, sondern »noch selbst Partei« zu sein (die Rede ist von Johann Kaspar Friedrich Manso), siehe: Gottsched und seine Zeit. Auszüge aus seinem Briefwechsel, hg. von Theodor W. Danzel (Leipzig 1848) 196. 15 Friedrich Schiller: Die Jungfrau von Orleans, I/5 Werke. Nationalausgabe. Bd. 9, neue Ausg., T. II (Weimar 2012) Verse 832 f.. – »Du mußt Parthey ergreifen in dem Krieg,/ Der zwischen deinem Freund und deinem Kaiser/ Sich jetzt entzündet.« – Vgl. ders.: Wallensteins Tod, II/2, (1800), ebd. Bd. 8, neue Ausg. Teil II (Weimar 2010) Verse 564–566. 16 Johann Wolfgang von Goethe: Hermann und Dorothea. Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe, hg. von Karl Richter [u. a.], Bd. 4.1: Wirkungen der Französischen Revolution. 1791– 1797, hg. von Reiner Wild (München 1988) 551–629; hier: Polyhymnia. Der Weltbürger, Verse 111–114. 17  »Wäre die Rede nur von irgend einer großen Narrheit, so wirst du mir erlauben zu sagen, daß meine Partey genommen wäre […].« – Siehe: Chr. M. Wieland: Peregrinus Proteus. 2. Theil, 6. Abschn. Sämmtliche Werke, 28. Bd. (Leipzig 1797) 5. 18  J. W. von Goethe: Aus einer Reise in die Schweiz über Frankfurt, Heidelberg, Stuttgart und Tübingen im Jahre 1797. Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe, a. a.O. [Anm. 16] Bd. 4.2 (München 1986) 714. 19 Karl Ferdinand Gutzkow: Die Ritter vom Geiste. Roman in neun Büchern, hg. von Thomas Neumann, 5. Buch, 15. Cap.: Eine Hexenküche (Frankfurt a. M. 1998) 1869. 20  J. W. von Goethe: Leben des Benvenuto Cellini, 2. Teil, 3. Buch, Kap. 2. Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe, a. a.O. [Anm. 16] Bd. 7 (München 1991) 263.

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bestimmen müsste. Endlich drang diejenige Parthey durch, welche den Zusatz für abschreckend erklärte.«21 Ähnlich auch bei Immanuel Kant: »Sowohl die Partei des C art esius, als die des Herrn v on L e i bn i z haben für ihre Meinung alle die Überzeugungen empfunden, der man in der menschlichen Erkenntniß gemeiniglich nur fähig ist.«22 Auch die Literaturgeschichtsschreibung des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts bedient sich des Begriffs der ›Partei‹ in der genannten Bedeutung: »Nämlich wenn zwei Parteien in Streit begriffen sind [die Schweizer, z. B. Johann Jakob Breitinger, mit den Gottschedianern, H. G.], so wird der einfachste Fall […] dieser sein, daß sie in einem directen Gegensatze zu einander stehen, d. h. in einem solchen, bei welchem die eine Partei das was die andere bejaht, in demselben Umfange und demselben Sinne verneint, bei welchem also beide Parteien auf einem gemeinsamen und von beiden anerkannten Boden der Grundbegriffe und der Thatsächlichkeiten stehen.«23

III.  Politische Semantik A. England Erste parteiähnliche Gemeinschaften (›parties‹ bzw. ›factions‹ als Bezeichnung größerer bzw. kleinerer Gruppen) in einem klar politisch definierten Parteiensystem gibt es um 1690 im englischen Parlament. Die Bezeichnungen ›Whig‹ und ›Tory‹ definieren immer mehr eine Vorliebe für unterschiedlichste politische Fragen. Noch Edmund Burke zählt ›parties‹ zu den staatstragenden Organen: »Party is a body of men united, for promoting by their joint endeavours the national interest, upon some particular principle in which they are all agreed.«24 Zugleich hebt in dieser Zeit die Kritik an politischen Parteien an; sie erreicht ihren Höhepunkt mit David Hume, der gleichwohl die Zweckmäßigkeit von Parteien betont.25 Auch in Deutschland werden spätestens seit den 1830er Jahren englische Parteien mit Regierungs- und Oppositionsgeschäften in Verbindung gebracht26 (dabei finden nicht selten begriffsgeschichtliche Rückversicherun21  Die

deutsche Gelehrtenrepublik, ihre Einrichtung, ihre Gesetze, Geschichte des letzten Landtags, hg. von Klopstock, verm. und verb. Ausg. Werke, Bd. 12 (Leipzig 1817) 93. 22  Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurtheilung der Beweise, deren sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedient haben. Vorrede. Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, Bd. 1 (Berlin 1910) 15. 23  Gottsched und seine Zeit, a. a.O. [Anm. 14] 204. 24  Edmund Burke: Thoughts on the Cause of the Present Discontents (1770). The Writings and Speeches, ed. by Paul Langford, vol. 2: Party, Parliament and the American Crisis 1766–1774 (Oxford 1981) 317. 25  David Hume: Of Parties in General. [1752]. Essay VIII. The Philosophical Works (Edinburgh 1826). 26  So erweitert z. B. Hegel seine ohnedies schon differenzierte Perspektive auf Struktur und Funktion von Parteien durch sein Studium der englischen Verfassung. In seiner späten Schrift

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gen statt auf die Lateinischen ›pars‹ / ›partes‹ verstanden im Sinne politischer [Gegen-]Parteien27). Mit entschiedener Wendung gegen eine so verstandene parlamentarische Integration der Parteien fordert der erzreaktionäre Friedrich Julius Stahl für die deutsche Verfassung, diese solle auf den Monarchen, d. h. mit nur eingeschränkter Rolle des Parlaments, ausgerichtet sein; und er verweist auf die feudalständischen Strukturen nach altem englischen Vorbild. So ernennen in Furcht vor einem – der späteren Entwicklung der Französischen Revolution vergleichbaren – Terror viele Monarchen seit 1848 liberale Regierungen. Wenn in dieser Zeit der Begriff der ›Partei‹ semantisch negativ (in Richtung ›Opposition‹) besetzt ist, hält sich diese Perspektive regierungstreuer Konservativer über einen relativ langen Zeitraum, sie ist gegen oppositionelle (meistens) Liberale gerichtet. Weil Konservative sich noch nicht als selbstständige politische Kraft gegen den monarchischen Staat formieren, bilden sie dementsprechend spät eine politische Partei. Letztlich freilich setzt sich die Einsicht durch, dass keine Partei autonom bestehen könne, also nur die Gegenpartei neben ihr deren Dasein und ihre Entwicklung ermögliche. Dagegen wird ›neutral‹ in seiner allgemeinsten politischen Bedeutung verstanden als ›keiner Partei angehörig‹.28

B. Frankreich Die komplexen, weil wenig linear verlaufenden Naturrechtsdebatten von der frühen Neuzeit bis zur Hochaufklärung des späten 18. Jahrhunderts bilden den theoretischen Hintergrund für die merklich drastischer erhobene Forderung, auch in Frankreich die Thron- und Altarfesseln zu lockern. So kommt es nicht von ungefähr, dass insbesondere die französische Aufklärung einen atheistischÜber die englische Reformbill (1831) anerkennt er die politischen Parteien Englands als legitime Träger der Regierungsgewalt und wertet sie als Garanten stabiler Verfassungsverhältnisse. Hegel betont die Ausübung des uneingeschränkten Haushaltsrechts sowie die innenpolitische Stabilität trotz etwaiger Ministerwechsel. – Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Über die englische Reformbill. Gesammelte Werke. Akademie-Ausgabe [= GW], Bd. 16: Schriften und Entwürfe II (Hamburg 2001) 393. 27  So ist eine Partei, wie die lateinische Wurzel des Wortes besagt, nicht das Ganze, sondern Teil des Ganzen. – Vgl. z. B.: Charakter und Geist der politischen Parteien dargestellt von Johann Caspar Bluntschli (Nördlingen 1896) 3. – Schärfer denkt Michels: »Partei heißt Trennung, Absonderung; pars, nicht totum. Partei ist also Begrenzung.« – Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Neudr. der 2. Aufl., hg. von Werner Conze (Stuttgart 1925) 20. 28 Auf Ferdinand Freiligraths Verse »Der Dichter steht auf einer höhern Warte/ Als auf den Zinnen der Partei.« (siehe dessen Gedicht auf den Tod von Diego Leon in: Morgenblatt, Nr. 286, Jg. 1841) entgegnet Georg Herwegh: »Partei! Partei! Wer sollte sie nicht nehmen,/ Die noch die Mutter aller Siege war!/ Wie mag ein Dichter solch ein Wort verfemen,/ Ein Wort, das alles Herrliche gebar?/ Nur offen wie ein Mann. Für oder wider?/ Und die Parole: Sklave oder frei?/ Selbst Götter stiegen vom Olymp hernieder/ Und kämpften auf der Zinne der Partei!« – G. Herwegh: Die Partei. In: Vorwärts. Eine Sammlung von Gedichten für das arbeitende Volk, hg. von Rudolf Lavant (Zürich 1886) 167.

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materialistischen Ausgang nimmt – man denke z. B. an Julien Offray de La Mettrie oder Paul Thiry D’Holbach –, ist doch die Relevanz, welche die rituelle Allianz von Königtum und Kirche für das Ancien Régime bedeutet, im übrigen Europa beispiellos. Im Frankreich der Kapetinger und Bourbonen garantiert diese Interdependenz von Weihe des Königtums und politischem Schutz für die Kirche den Frieden zwischen den Königen und Bistümern. Anders dagegen im Reich, wo der Investiturstreit zum Dissenz zwischen bischöflicher und kaiserlicher Gewalt führt, oder auch in England, wo der Erzbischof von Canterbury, Thomas Becket (1118–1170), enthauptet wird. Im Frankreich vor der Revolution fehlt eine solche Tradition parlamentarischer Kultur. Selbst während der Revolution ist man besser auf der Hut, sich einer Gruppe, die separate Interessen verfolgt, anzuschließen: Dies hätte das von Königstreuen wie Republikanern – freilich aus unterschiedlichen Motiven – zu bewahren beanspruchte ›Gemeinwohl‹ (volonté général) tangiert. Von dieser Summe der Einzelinteressen im Sinne der volonté de tous unterscheidet Denis Diderot die volonté particulière: »Si vous méditez donc attentivement tout ce qui précède, vous resterez convaincu 1. que l’homme qui n’écoute que sa volonté particulière, est l’ennemi du genre humain; […] 6. que, puisque des deux volontés, l’une générale, et l’autre particulière, la volonté générale n’erre jamais, il n’est pas difficile de voir à laquelle il faudrait, pour le bonheur du genre humain, que la puissance législative appartînt, et quelle vénération l’on doit aux mortels augustes dont la volonté particulière réunit et l’autorité et l’infaillibilité de la volonté générale […].«29 Allerdings taugen die Auffassungen, die heute u. a. außerhalb von Frankreich über Girondisten und Jakobiner als angebliche ›Parteien‹ in Form eines vermeintlichen ›Bildungsguts‹ firmieren, eher dazu, Missverständnisse zu verfestigen. Denn bei Lichte besehen trifft kaum etwas von der heutigen Vorstellung über eine politische Partei auf jene Girondisten, Feuillants oder Jakobiner zu, deren Titulierungen überwiegend aus deren anfänglichem Versammlungslokal eher zufällig abgeleitet worden sind.30 Gleichwohl: Auch wenn Jakobiner sowie Girondisten nie eine ›faction‹ gewesen sind, haben sie dennoch wie Parteien gewirkt. Freilich sind die politischen Richtungen, die wir heute hinter einer Partei als deren politisches ›Programm‹ mutmaßen, im Frankreich dieser Zeit unbekannt. Überdies misstraut man damals Mehrheitsbeschlüssen, durch welche – so die im Volk grassierende Furcht – die Autorität der individuierten Menschenvernunft usurpiert und das Schicksal des Staates von der Zufälligkeit beliebiger numerischer Abstimmungsresultate gelenkt werden 29  Denis

Diderot: Article ›Droit naturel‹. – In: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres, éd. par D. Diderot et Jean Lerond d’Alembert, vol. 5 (Paris 1755) 115 f. 30  Bekanntlich geht die später in Deutschland sich verfestigende Bezeichnung der Liberalen als Linke und der Konservativen als Rechte ebenso auf die Französische Revolution zurück: Die Königstreuen haben in der damaligen Nationalversammlung auf der rechten Seite (gesehen vom Parlamentspräsidenten aus), die revolutionär Gesinnten auf der linken gesessen.

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könnte. Selbst die Jakobinischen Revolutionäre sind als Radikalrepublikaner mehrheitlich zutiefst davon überzeugt, dass die Staatsleitung und die Lenkung der Geschicke eines großen Landes keinesfalls einer ›willkürlichen Zufälligkeit‹ demokratischer Mechanismen überlassen bleiben dürfe. Die drei folgenden Beispiele stellen die Entstehung von Parteien oder Gruppen im Rahmen der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung als negativ dar, insofern damit der im Sinne des Einheitsideals der Nation als homogen vorgestellte allgemeine Wille zugunsten von privaten und besonderen Interessen geopfert wird: a. Bei Jean-Jacques Rousseau: Einerseits diskreditiert der Contrat social (1762) die Entstehung von ›Parteiungen‹ / ›Teilvereinigungen‹ / ›Teilgesellschaften‹ (»brigues« / »associations partielles« / »sociétés partielles«) als Gefahr für die Formierung bzw. Erkenntnis der »volonté générale«; andererseits jedoch heißt es: »Que s’il y a des sociétés partielles, il en faut multiplier le nombre et en prévenir l’inégalité […]. Ces précautions sont les seules bonnes pour que la volonté générale soit toujours éclairée, et que le peuple ne se trompe point.«31 b. Beim Abbé und Staatsmann Emmanuel Joseph Sieyès: Auch wenn er in seiner Flugschrift Qu’est-ce que le Tiers État? (1789) eine andere Idee von Gemeinwohl als Rousseau entwickelt, ist sein Begriff des allgemeinen Willens resp. des allgemeinen Interesses als höchsten Legitimationsgrundes für den Staat der Theorie Rousseaus nachempfunden. Und ähnlich wie dieser unterscheidet auch Sieyès strikt zwischen persönlichem Interesse, Gruppeninteresse und allgemeinem Interesse.32 c. Die Schriftstellerin Anne-Louise-Germaine de Staël handelt von den verschiedenen Parteien in der Nationalversammlung (»des divers partis qui se faisaient remarquer dans l’assemblée constituante«) und beschreibt im Kontrast dazu ihren Vater, den früheren Finanzminister Jacques Necker, und dessen Anhänger als Stimme der Vernunft in der Versammlung. Sie begründet dies damit, dass diese sich nicht dem »Parteigeist«, der nur ein persönliches Interesse und Eigenliebe kenne, hingegeben hätten.33

31 Jean-Jacques

Rousseau: Contrat social ou Principes du droit politique. Une édition produite à partir du texte publié en 1762 (Paris 1963) Livre II, chap. 2.3. (»Si la volonté générale peut errer«) 32  Emmanuel Joseph Sieyès. Was ist der Dritte Stand? Ausgewählte Schriften, hg. von Oliver W. Lembcke (Berlin 2010) 166 f. 33  Anne-Loiuse-Germaine de Staël: Considérations sur les principaux événements de la Révolution française. Ouvrage posthume publ. en 1818, par M. Le Duc de Broglie et Le Baron de Staël (Paris 1843) 156–162.

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C. Deutschland Parteiisch sein, einer Fraktion angehören heißt im Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts – so die große Mehrheitsmeinung der Forschung –, als potentieller Oppositioneller, sprich rechtsgesetzlicher oder moralischer Nonkonformist, zu gelten. Doch weder Theoretiker, die der Idee der Partei den Weg bahnen, noch interessengeleitete Zusammenschlüsse, die sich in dieser Zeit zu heute als politische Parteien verstandene Gruppierungen entwickeln, denken Opposition nur als bloße ›Verneinung‹. Vielmehr wird der Begriff der ›Partei‹ nun allererst um seine – heute selbstverständliche – politische Dimension erweitert. Dies sei zunächst mit Blick auf Hegel erläutert.

1. Hegel Zu den zeitlebens vom Freiheitspathos der Französischen Revolution Begeisterten gehört Hegel. Und gewiss gehört er zu den ersten Denkern jener Epoche des Beginns der Moderne, der die Komplexität des Dilemmas der Freiheit oder des modernen Liberalismus zu durchschauen beginnt. Der von Johann Gottlieb Fichte bis in abstruseste Konsequenzen gesteigerte unüberwindliche Gegensatz zwischen der individuellen Freiheit als Reflexionsgrund der moralischen Subjektivität auf der einen und dem kollektiven Willen des Volkes auf der anderen Seite, welcher letzterer jedoch durch einen freien Entschluss der Bürger einem desto stärker zu denkenden Staatsapparat und einer von aller Moralität entbundenen ›Regierung‹ zu unterwerfen sei, bildet nach Hegels ungleich tieferer Einsicht in die Prämissen und Folgerungen keineswegs die eigentlich legitime Vorgestalt des demokratischen Verfassungsstaates der Gegenwart. Der vermeintliche Konservative Hegel plädiert ein halbes Jahrzehnt früher als der badische Staatsmann Alexander von Dusch34 für ein parlamentarisches Regierungssystem. So betont er in seinem Heidelberger Kolleg über Naturrecht und Staatswissenschaft (1817/18) die Notwendigkeit politischer Opposition; zudem fordert er die interne Disposition der Ständeversammlung in untereinander rivalisierende Fraktionen. Über eine reine Vermittlungsfunktion hinaus bezeichnet Hegel hier »Opposition« sowie »Controlle über die Regierungsangelegenheiten überhaupt« als »Hauptmoment« der Ständeversammlung.35 Auffällig ist jedoch die scharfe Kritik, die Hegel an der altliberalen Auffassung übt, die von einer Polarität von (parteifreier) Regierung vs. Ständevertretung (als einheitlich ge34  Vgl. Alexander von Dusch: Ueber das Gewissen eines Deputirten oder von dem System der Abstimmung in ständischen Versammlungen […] (Deutschland [sic!] 1823); vgl. HansPeter Schneider: Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland (Frankfurt a. M. 1974) 49 f. 35  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie des Rechts. GW 26,1: Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1817/18, 1818/19 und 1819/20 (Hamburg 2013) 205 f.

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wachsener Oppositionsfront) ausgegangen ist.36 Kurz darauf warnt er in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) davor, die Stände von der Regierungsarbeit auszuschließen,37 im Gegenteil: Wiederum betont er, Opposition sei »notwendig« und »gerechtfertigt«.38 Die restriktive Vereinsgesetzgebung im Vormärz verhindert zunächst noch die organisatorische Entwicklung der v. a. liberalen und demokratischen Opposition.39 Gemessen an der damaligen restaurativen Repräsentationstheorie in Deutschland40 macht Hegel einen erstaunlichen Vorschlag: Die eigentliche Kontroverse solle nicht länger zwischen der Kammer als ganzer und einer den Parteienkonflikten entbundenen, grundsätzlich unantastbaren Regierung stattfinden, sondern zwischen verschiedenen Fraktionen innerhalb des Parlaments: »Es müssen 3 Partheyen in der Ständeversammlung seyn, 2 die sich gerade zu gegen über stehen, die des Volks, und die absolut immer für die Regierung ist, und dann eine bedeutende 3te Parthie, die meistens auf der Seite des Ministeriums ist, im ganzen aber als unpartheyisch dasteht.«41 Zur selben Zeit kommentiert Hegel in den Heidelberger Jahrbüchern (1817) in seinen Besprechungen der Verhandlungen in der Versammlung der Landstände die seit 1815 sich ereignenden Auseinandersetzungen um die württembergische Verfassung wie folgt: »Wer nur etwas über die Natur einer Ständeversammlung nachgedacht hat, und mit ihren Erscheinungen bekannt ist, dem kann es nicht entgehen, daß ohne Opposition, eine solche Versammlung ohne äussere und innere Lebendigkeit ist, daß gerade ein solcher Gegensatz in ihr zu ihrem Wese n, zu ihrer R echtfe rtig u ng gehört, und daß sie nur erst, wenn eine Opposition sich in ihr hervorthut, eigentlich constituiert ist; ohne eine solche hat sie die Gestalt nur einer Pa rthe y, oder gar eines Klumpens.«42 Zwar denkt Hegel 36  Vgl. ebd. 205. 37 

Ders.: Grundlinien der Philosophie des Rechts. GW 14,1 (Hamburg 2009) § 302. – Nach Hegels Rechtsphilosophie ist die Rolle intermediärer Organisationen bei der Vermittlung von Staat und Gesellschaft nicht hoch genug einzuschätzen. 38  Ders.: GW 26,1, a. a.O. [Anm. 35] 205 f. 39 Wolfgang Schwentker: Konservative Vereine und Revolution in Preußen 1848/49. Die Konstituierung des Konservativismus als Partei (Düsseldorf 1988) 18. – Demgemäß erkennt Rohe im Vormärz bereits »Vorformen eines modernen Parteiensystems«. Damals existiert noch kein gesamtdeutsches Parlament, die Entwicklung setzt daher auf der Ebene der Einzelstaaten in Süd- und Mitteldeutschland ein. – Siehe: Karl Rohe: Entwicklung der politischen Parteien und Parteiendemokratie in Deutschland bis zum Jahre 1933. In: Parteiendemokratie in Deutschland, hg. von Oscar W. Gabriel u. a. (Bonn 1997) 39–58, hier: 41 f. – Vgl. ders.: Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteisysteme im 19. und 20. Jahrhundert (Frankfurt a. M. 1992) 38–44. 40 Man denke etwa an die Parlamentsidee i. S. einer beratschlagenden Körperschaft zur Auslotung » d e s Ge s a m m tw i ll e ns « , als deren » na t ür li ch e s O r g a n « die von der Regierungsgewalt kategorisch ausgeschlossenen Landstände firmieren, bei: Karl von Rotteck: Ideen über Landstände (Karlsruhe 1819) 65. – Hegel argumentiert im Kolleg 1817/18 konträr. 41  G. W. F. Hegel: GW 26,1, a. a.O. [Anm. 35] 205. 42  Ders.: GW 15: Schriften und Entwürfe I (1817–1825) (Hamburg 1990) 67. – Siehe auch: GW 26,1, a. a.O. [Anm. 35] 205.

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den Staat als die »Wirklichkeit der sittlichen Idee«;43 aber dieser Staat ist auch als Verfassungsstaat zu begreifen, genauer: als ein freiheitlich verfasster Staat.44 So empfiehlt Hegel ausdrücklich, »die Ansichten und Gedanken der Vie le n « 45 zu erkennen und plädiert zudem für die Etablierung intermediärer, d. h. zwischen Staat und gesellschaftlichen Kräften vermittelnden Organisationen.46 Hegel geht hier allerdings von Ständen und noch nicht von Parteien aus. Entscheidend ist jedoch, dass er nicht mehr mittelalterliche Feudalstände, sondern bereits ein organisches Repräsentationsmodell ansetzt, deren Abgeordnete »als Repräsentanten einer der wesentlichen Sphären der Gesellschaft« betrachtet werden, als »Repräsentanten ihrer großen Interessen«.47 Stände sind nach Hegel nichts anderes als Organisationsformen verschiedener ökonomischer und gesellschaftlicher Bedürfnisse – und somit integrale Bestandteile der bürgerlichen Gesellschaft. Häufig wird Hegels angebliches Ressentiment gegenüber Parteien behauptet.48 Andererseits äußert Hegel Bedenken gegen ein allgemeines, direktes Stimmrecht bei den Wahlen zur zweiten Kammer.49 So bemerkt Hegel verschiedentlich den hohen Stellenwert des Wählens für die Artikulation und Eingabe gesellschaftlicher Interessen in den Bereich staatlicher Entscheidungen. Allein das Wahlrecht ermögliche dem Volk, »an den öffentlichen Angelegenheiten, den höchsten Interessen des Staats und der Regierung, Theil zu nehmen.« Seine Ausübung sei folglich »eine hohe Pflicht, da die Constituirung eines wesentlichen Theils der Staatsgewalt, der Representanten-Versammlung, darauf beruht.« Die Ausübung des Wahlrechts sei nichts weniger als »der Act der Souveränetät des Volkes und zwar sogar der einzige […].«50 Hegel denkt sogar laut über die Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht nach.51

2. Revolution Im Unterschied zu England und Frankreich ist in Deutschland ›Partei‹ wesentlich durchlässiger für philosophische und anderweitige Einflüsse. Wenn sonach im Folgenden die geschichtliche Entwicklung dieses Begriffs im Deutschland des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt steht, ist vorauszuschicken, dass es weder von ›Partei‹ noch von ›Verein‹ bis heute durchweg sachlich überzeugende und all43 

Ders.; GW 14,1, a. a.O. [Anm. 37] § 257. Ebd. § 258. 45  Ebd. § 301. 46  Ebd. § 302. 47  Ebd. § 311. 48 Ebd. 49  Vgl. ebd. § 305 ff. – Die erste Kammer soll aus Mitgliedern des Adels zusammengesetzt sein. 50  Ders.: GW 15, a. a.O. [Anm. 42] 45; GW 16, a. a.O. [Anm. 26] 373 f. 51  Ders.: GW 15, a. a.O. [Anm. 42] 45. – Zur notwendigen Mitgliedschaft des Einzelnen in einer »Corporation« siehe: GW 14,1, a. a.O. [Anm. 37] § 253. 44 

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seits anerkannte Begriffe gibt. Dies hängt nicht zuletzt mit divergierenden Ver52 suchen zur Datierung der Entstehung von Parteien in Deutschland zusammen. Der vorliegende Artikel verfehlte allerdings sein Thema, beanspruchte er einen Beitrag zu leisten zur (deutschen) Parteigeschichtsschreibung. Parteigeschichte seit der 1848er Märzrevolution, die Deutschland zu einem geeinten Land mit einer parlamentarischen Verfassung zu konstituieren sucht, ist aber nicht zuletzt auch Revolutionsgeschichte. Eine Leitfrage lautet sonach: Wer ist für, wer ist gegen die (schließlich kurzlebige) deutsche Revolution? Die konservative Vereinsbewegung z. B. ist an einer Bekämpfung der die Revolution tragenden sozialen und politischen Gruppen interessiert – ein gleichwohl gescheitertes Interesse, 53 treten doch bald liberale sowie demokratische Kräfte in Staat und Gesellschaft 54 den Siegeszug an. Vor dem Hintergrund der damals kaum zu unterschätzenden Kontroverse um die deutsche Staatsform – Republik oder konstitutionelle Monarchie (Dieter Langewiesche) – interpretieren die Geschichtswissenschaftler die Gründe für den Zerfall und die Schwäche der Träger der Revolution seither disparat.

52 Manfred Botzenhart: Die Parlamentarismusmodelle der deutschen Parteien 1848. In: Gesellschaft, Parlament und Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland, hg. von Gerhard A. Ritter (Düsseldorf 1974) 129 (These: um 1848/49). – Thomas Nipperdey: Grundprobleme der deutschen Parteigeschichte im 19. Jahrhundert. In: Deutsche Parteien vor 1918, hg. von G. A. Ritter (Köln 1973) 32–55 (These: erste Ansätze im frühen 19. Jahrhundert; kontinuierlich bestehendes Fünf-Parteien-System seit den 1840er Jahren). – G. A. Ritter: Die deutschen Parteien 1830–1914. Parteien und Gesellschaft im konstitutionellen Regierungssystem (Göttingen 1985) 11 (These: bereits seit den 1830er Jahren). – Hans Fenske: Strukturprobleme der deutschen Parteiengeschichte. Wahlrecht und Parteiensystem vom Vormärz bis heute (Frankfurt a. M. 1974) 22 ff. (These: seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts). – Heino Kaack: Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems (Opladen 1971) 28 (These: 1848/49 bringe keine Parteien hervor). 53  Hartwig Gebhardt: Revolution und liberale Bewegung. Die nationale Organisation der konstitutionellen Partei in Deutschland 1848/49 (Bremen 1979). – Vor dem Hintergrund einer »Typologie der konstitutionellen Vereine« rekonstruiert Gebhardt die nationale und regionale Organisation der konstitutionellen Vereine von April bis November 1848 (d. h. die Deutschen Vereine, den Konstitutionellen Klub Berlin und die »verbrüderten demokratisch-konstitutionellen Vereine Deutschlands«), den Demokratisch-Konstitutionellen Landesverein Braunschweig, die Zusammenschlüsse konstitutioneller Vereine in Südwestdeutschland, sodann insbesondere die Etablierung sowie den Niedergang des Nationalen Vereins für Deutschland sowie schließlich die Organisation der Konstitutionellen Partei vom Zusammenbruch des Frankfurter Parlaments bis zum Frühjahr 1850. 54  Zur Geschichte der Entstehung und organisatorischen Konsolidierung konterrevolutionärer Eliten bzw. konservativer Vereine in Preußen vom Frühsommer 1848 bis zur Vertagung und Verlegung der Nationalversammlung, sprich des ersten gesamtdeutschen Parlaments, nach Brandenburg im November d.J., siehe: W. Schwentker: Konservative Vereine und Revolution in Preußen 1848/49, a. a.O. [Anm. 39] 72–143. Die Ansprüche der Liberalen verteidigt: Th. Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat (München 1983) z. B. 665.

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3. Verein Wenn demzufolge als Geburtsstunde moderner Parteien in Deutschland in aller Regel die Revolution gilt, wird indes die Frage nach der Geburtsstätte weiterhin unterschiedlich beantwortet: Sie liege entweder in den Fraktionen (verstanden als Angehörige einer bestimmten politischen Richtung) der Nationalversamm55 lungen – insbesondere dem »Paulskirchenparlament« – oder in den außerparla56 mentarischen Vereinen. Sonach rechnet die Forschung neben Fraktionen auch politisch ausgerichtete Vereine zur Parteiengeschichte. Bis in die 1880er Jahre freilich bedeutet »Partei« zu sein in erster Linie, einer Fraktion beizustehen. Dies ist v. a. in Zeiten des Wahlkampfes wichtig, zwischen den Wahlen gibt es anfangs noch kaum Organisationsformen; dementsprechend weisen zu Beginn der Revolution politische Gruppierungen noch recht rückständige organisatorische Infrastrukturen auf. Der politisch Bewegte dieser Zeit ist nirgends Mitglied, bestenfalls in einem Verein, der einer Partei kulturell verbunden ist. Wenn noch im Vormärz ein Verein in politischen Fragen nur hat »Partei nehmen« können, gewinnt das Konzept des »politischen Vereins« in der Folgezeit

55  Ludwig Bergsträsser: Parteien von 1848. In: Preußische Jahrbücher (Berlin) 117 (1919) 180–211. – Mit Blick auf die Frankfurter Nationalversammlung: Theodor Schieder: Die geschichtlichen Grundlagen und Epochen des deutschen Parteiwesens. In: ders.: Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit (München 1958) 133–171, 151. – Im Paulskirchenparlament fehlen sowohl die Erzkonservativen als auch die Sozialisten. Die Katholiken sind eher schwach vertreten und teilen sich zudem in mehrere Gruppen auf. – Die Frankfurter Paulskirche und ihre zumeist liberalen Abgeordneten können die Grundprobleme der Zeit nicht lösen. Trotzdem erarbeiten die Abgeordneten eine Verfassung, deren Grundrechte wie die Pressefreiheit nicht zuletzt die Arbeit von Parteien ermöglicht hätten. Am 28. März 1849 wählt die Paulskirche den preußischen König zum Kaiser der Deutschen; der König lehnt aber ab. Dies leitet das Ende der Revolution ein. – Siehe auch den schon beinahe als zynische Abrechnung sich gerierenden Rückblick Bruno Bauers: »Da brauste der Bürger auf und drohte: entweder die Verfassung, wie sie die Nationalversammlung beschlossen und verkündigt hat, oder eine neue Revolution! Da klagte Alles: unsere Erwartungen, die Erwartungen Deutschlands sind getäuscht.« – Siehe: B. Bauer: Der Untergang des Frankfurter Parlaments. Geschichte der deutschen constituierenden Nationalversammlung (Berlin 1849) 281. 56  Nipperdey begründet das geringe historiographische Interesse an der Organisationsentwicklung der Parteien in Deutschland damit, diese hätten bis 1918 nicht zu den »staatstragenden Gruppen« gehört und seien in der Weimarer Republik »noch nicht konsolidierte Realität« gewesen. – Siehe: Th. Nipperdey: Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918 (Düsseldorf 1961) 5. – Siehe auch: Walter Tormin: Die Geschichte der deutschen Parteien seit 1848 (Stuttgart 1966) 7. – M. Botzenhart: Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848–1850 (Düsseldorf 1977) 315 ff. – D. Langewiesche: Die Anfänge der deutschen Parteien. Partei, Fraktion und Verein in der Revolution von 1848/49. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 4 (1978) 324–361, hier 339 f. – Zum »engmaschigen städtischen Organisationsnetz […], das in unterschiedlicher Intensität mit den parlamentarischen Zentren in Frankfurt bzw. in Wien und in den Einzelstaaten verbunden war«, vgl.: ders.: Die deutsche Revolution von 1848/49 und die vorrevolutionäre Gesellschaft: Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: Archiv für Sozialgeschichte 21 (1981) 458–498, hier 470.

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an Bedeutung,57 wenn Vereine sich nun zu einer Partei bekennen oder gar in ihr aufgehen sollen. So existiert eine Vielzahl politischer Vereine außerhalb der Parlamente sowie Fraktionen in den Nationalversammlungen.58 Noch die erste deutsche Arbeiterpartei, der 1863 von Ferdinand Lassalle gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, bewahrt in seinem Titel den Terminus ›Verein‹. Er vereinigt sich 1875 mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei [!] zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Als Vereine gelten politische Verbände in Stadt und Land, wobei ›Parteien‹ die Gesamtausrichtung angeben. Scharfe Unterscheidungen gibt es allerdings weder in der ›Theorie‹ noch der Praxis. »Mit dem Parteiwesen geht das Vereinsleben Hand in Hand«, so ein das den Organisationsfaktor betonendes Gründungsmitglied des konservativen Berliner Preußenvereins.59 Im Volksblatt für Stadt und Land findet sich folgende, unserem heutigen Verständnis von Parteien schon recht nahe kommende Erklärung: »Eine Partei ist ein um ein bestimmtes Banner geschaarter, für einen bestimmten Zweck wirksamer, zu einer kompacten Einheit zusammengeschlossener Kreis […].«60 Die für heute vielleicht tragfähigste Definition hat Langewiesche gegeben: Partei seien »alle organisierten Gruppierungen, […] die sich durch gemeinsame Grundüberzeugungen von anderen politischen Gruppierungen abheben, sich nicht auf die Vertretung bestimmter beruflicher Interessen beschränken und darauf zielen, die staatliche und öffentliche Willensbildung zu beeinflussen sowie ihre Repräsentanten in ein Parlament zu entsenden.«61

4. Parlament Dass das Sachregister in Jürgen Osterhammels vielgepriesenem Buch Die Verwandlung der Welt ohne einen Eintrag zu ›Partei‹ auskommt, überrascht; immerhin aber erschließt diese universalhistorische Darstellung ihre wenigen parteitheo62 retischen Aspekte über das Phänomen des aufkommenden Parlamentarismus. Und in der Tat hängt die Entstehungsgeschichte politischer Parteien in Deutsch57 

Jens Peter Eichmeier: Die Anfänge liberaler Parteibildung 1847–1854 (Göttingen 1968). – M. Botzenhart: Deutscher Parlamentarismus, a. a.O. [Anm. 56] 338 ff. 58  Zu den differierenden Verwendungsweisen von ›Partei‹ in Vereinen sowie Fraktionen (d. h. Clubs und Gesellschaften) als Teile von Parteien im zu dieser Zeit bereits üblichen Sinne von (politischen) Richtungen oder Gesinnungsgemeinschaften vgl.: Klaus von Beyme: Art. ›Partei, Faktion‹. In: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. von Otto Brunner, W. Conze, R. Koselleck, Bd. 4 (Stuttgart 1978) 677–733, hier 716. 59  Julius Kuhr: Denkwürdigkeiten aus dem Revolutionsjahr 1848 mit seinen Folgen bis 1874 nach den Tagebuchblättern eigener Erlebnisse wahrheitsgemäß zusammengestellt, Bd. 1 (Berlin 1877) 2. 60  Volksblatt Nr. 26 vom 29.3.1848. 61  D. Langewiesche: Die Anfänge der deutschen Parteien. Partei, Fraktion und Verein in der Revolution von 1848/49, a. a.O. [Anm. 56] 325. 62  Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (München 2 2009) 73, 568, 594 f., 765, 774 f., 800, 811–815, 825, 835 ff., 857–864.

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land aufs engste mit der nationalen Parlamentsgeschichte zusammen. Am 5. März 1848 kommen liberale und demokratische Politiker in Heidelberg zum sog. »Vorparlament« zusammen. Erstere optieren für die Monarchie, letztere für die Einführung der Republik; gemeinsam stimmt man schließlich für Wahlen zu einer Nationalversammlung, die die Frage ›Monarchie oder Republik‹ beantworten würde. Lange Zeit hat es der (bürgerlichen) Geschichtsschreibung widerstrebt, politische Entwicklungen außerhalb des staatlichen und parlamentarisch institutionalisierten Bereichs in parteienhistorische Fragestellungen einzubezie63 hen. Gestützt wird diese Ansicht von einer konservativen Staatsrechtslehre, in deren an Obrigkeitsstaat und gesellschaftlicher Harmonie orientierten Leitvor64 stellungen für Parteien – und insbesondere organisierte (Massen-)Parteien – kein Platz ist. Dieser Anti-Parteien-Affekt reicht bis weit vor 1848 zurück, er hat sicherlich Einfluss auf das konstitutionell-liberale Bürgertum hinsichtlich der Etablierung einer eigenständigen Parteiorganisation. In erster Linie jedoch ist die Entstehung politisch agierender Parteien eng verbunden mit der Entsendung von Abgeordneten in die Parlamente. So existieren Parlamente in diesem mo63  Zu

denken ist hier an – teils extreme – Konservative wie Adam Müller, den insbesondere von Hegel scharf kritisierten Karl [Carl] Ludwig von Haller, den aus Bayern nach Berlin gekommenen ehemaligen Burschenschaftler, getauften Juden und preußischen Rechtsphilosophen Friedrich Julius Stahl oder Ernst Ludwig von Gerlach. Stahl und Gerlach zählen zu den hochreaktionären Ständisch-Konservativen. 64  Hier ist insbesondere an die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) zu denken, die seit 1890 als einzige reichsweite Partei beinahe flächendeckend Kandidaten in die Wahlkreise entsendet. – Siehe z. B.: W. Conze: Die Zeit Wilhelms II. und die Weimarer Republik. Deutsche Geschichte 1890–1933 (Tübingen 1964) 21 f. – Als erste deutsche ›Volkspartei‹ – denn ihre Wähler kommen aus sämtlichen sozialen Schichten – gilt indes die 1870 sich konstituierende katholische Deutsche Zentrumspartei (ZENTRUM). – Die nachfolgend eigens erörterte Organisationstendenz der Parteien ist eine Reaktion auf die um 1900 zunehmend länger sich hinziehenden und finanziell aufwendigeren Wahlkämpfe um Wählerstimmen von längst nicht mehr nur Landwirten und selbstständigen Handwerkern, sondern verstärkt auch von Angestellten, wobei auf Wählerseite die Schulung in Form politischer Enzyklopädien oder Wahlkatechismen in den Vordergrund rückt, wie z. B. das durch August Bebel angeregte ABC-Buch für freisinnige Wähler. Ein Lexikon parlamentarischer Zeit- und Streifragen (Berlin 81896) des Liberalen Eugen Richter. Darin zum Ausdruck kommen nicht zuletzt der Widerspruch und die Zustimmung gegen bzw. für das vom bestehenden System profitierende, politische und soziale Veränderungen fürchtende konservativ-nationalliberale Wahlbündnis (Kartellparteien), das zwischen 1887 und 1890 besteht. – Nicht wenige aus unmittelbarer zeitlicher Nähe vorgenommene Beurteilungen der damaligen Situation tendieren nicht nur deutlich in Richtung Rehabilitierung des ›Reichsgründers‹ Otto von Bismarck, sondern verkennen auch – oder zumindest missdeuten – die tatsächliche Lage der Parteien, wie z. B. diejenige W. Mommsens: »Gegen einen irgendwie entschiedenen Widerstand der politischen Vertreter des Volkes hätte der Kaiser niemals gewagt, den großen Kanzler zu entlassen, und erst ihr Beifall hat ihn, wie das auch in seinem Brief an den Kaiser Franz Joseph zum Ausdruck kommt, darin bestärkt, daß bei einem Konflikt mit Bismarck das Recht auf seiner Seite sei.« – Siehe die zu Bismarcks Kartellpolitik ansonsten einschlägigen Ausführungen bei: Wilhelm Mommsen: Bismarcks Sturz und die Parteien. In: Deutscher Staat und deutsche Parteien. Beiträge zur deutschen Partei- und Ideengeschichte. Friedrich Meinecke zum 60. Geburtstag dargebracht, hg. von Paul Wentzcke (München 1922, Neudr. Aalen 1973) 266–293, hier 267.

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dernen Verständnis in der Mehrzahl der Länder der Welt erst seit dem 19. Jahrhundert; z. B. bildet noch der Reichstag der ständisch organisierten Gesellschaft 65 im Heiligen Römischen Reich eine Vertretung von Einzelstaaten. Demgemäß sind zur Entstehungszeit der Parlamente Parteien in der Regel lediglich ungezwungene Vereinigungen, die v. a. in Zeiten unmittelbar vor Wahlen aktiv werden, um Kandidaten zu unterstützen.

5. Regierungsbeteiligung von Parteien Das Jahrzehnt der Reaktion nach der gescheiterten Märzrevolution bringt das Verbot von Parteien sowie politischer Vereine. Dies lockert sich im Königreich Preußen erst, nachdem 1858 Wilhelm I. die Amtsgeschäfte von seinem erkrankten Bruder übernimmt. 1869 schreibt der Schweizer Rechtswissenschaftler und Politiker Bluntschli: »Es ist keine Tugend des guten Statsbürgers [sic], keiner Partei zuzugehören, und ein sehr zweifelhafter Ruhm für einen Statsmann [mit Ausnahme des Erbfürsten, H. G.], außerhalb aller Parteien zu stehen. Die Parteien sind die naturnothwendige Erscheinung und Aeußerung der mächtigen 66 innern Triebe, welche das politische Leben der Nation bewegen.« Das gesellschaftliche Leben betreffe politische Parteien, dagegen mögen die mit Staatsgeschäften betrauten Minister sowie Beamte zwar nicht parteilos, wohl aber unpar67 teiisch sein; Gleiches gelte für Richter. In Deutschland fordern die Konservativen in der 1848er Nationalversammlung die konstitutionelle Monarchie als die für Preußen zukünftig verbindliche 68 Verfassungsform; gleichwohl gibt es schon bald erste Differenzen zwischen der rechten Fraktion der Nationalversammlung und den eigentlich Konservativen. Zwar können im Deutschen Reich Parteien seit 1871 über die Gesetzgebung des Reichstags mitbestimmen; doch in praxi übernehmen Parteien wichtige staatstragende Aufgaben erst nach 1918. Der Grund hierfür ist insbesondere in der Geschicklichkeit des Reichskanzlers Bismarck zu sehen, die Parteien gegeneinander auszuspielen (s. den Kulturkampf bis 1878, die Sozialistengesetze 1878–90 sowie Bismarcks relativ deutliche Drohung mit einer Staatsstreichpolitik). Gemäß der Verfassung haben Parteien zwar keinen Einfluss auf die Regierungsbildung, sie hätten aber dennoch die Machtfrage stellen können (wie in anderen Ländern tatsächlich geschehen). Eine Reichstagsmehrheit hätte die 65 

De facto existiert weder in den Gliedstaaten noch auf Reichsebene ein modernes Wahlrecht zu einer Repräsentativversammlung. Demgemäß ist die Kaiserwahl ein symbolischer Akt, setzt sich der Reichstag doch aus einer ständischen Versammlung von Abgesandten der Glieder des Reiches zusammen. 66  Siehe: J. C. Bluntschli: Charakter und Geist der politischen Parteien (Nördlingen 1896) 3. 67  Ebd. 7 f. 68  Vgl. Felix Salomon: Die deutschen Parteiprogramme, Bd. 1: Vom Erwachen des politischen Lebens in Deutschland bis zur Reichsgründung 1871 (Leipzig 1907) 23 f.

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Gesetzes- und Haushaltsvorlagen der kaiserlichen Regierung grundsätzlich ablehnen können, um den Kaiser zu zwingen, eine Regierung mit Angehörigen der Mehrheitsparteien einzusetzen.

6. Überregionale Parteien nach 1849 Im Prinzipiellen betrifft der vorliegende Artikel das Problem von Sonder- und Allgemeininteressen, die insbesondere in der Konzeption politisch verstandener Vereinigungen miteinander konkurrieren sowie interagieren. »Die Artikulation von Sonderinteressen hat ihren legitimen Ort in Verbänden, Parteien und Unternehmen. […] Parteien gehen programmatisch natürlich davon aus, das Wohl aller Bürger zu verfechten. Insofern entwerfen sie konkurrierende Allgemeininteressen, aber sie können sich gegenseitig nur unterscheiden, wenn bestimmbare Sonderinteressen, auf die ihre Wähler ansprechen, im Rahmen ihres allgemeinen 69 Programms besonders betont werden.« Als erste deutsche Partei gibt sich die 1861 gegründete liberale Deutsche Fortschrittspartei ein festes Programm. Sie setzt sich für einen deutschen Nationalstaat auf demokratischer und parlamenta70 rischer Grundlage ein. Im Blick auf die gegenwärtig zunehmend in den Mittelpunkt rückende politische Vertretung europäischer Allgemeininteressen existieren bis heute lediglich nationale Parteien, die in den einzelnen Mitgliedstaaten der Union für das Europaparlament kandidieren. Sie haben sich allerdings auf Unionsebene zu Parteibünden zusammengeschlossen und bilden im Europäischen Parlament jeweils eine Fraktion. Im eigentlichen Sinne ›supranationale‹ 71 Parteien existieren noch nicht. Die Bildung von Parteistrukturen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene sowie der Aufbau von Parteisekretariaten mit besoldeten Parteisekretären geht maßgeblich auf die Sozialdemokratie zurück. Gleichwohl ist diese Entwicklung bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts beklagt worden, sie gehört zum integralen Bestandteil der krisenhaften deutschen Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs, in deren Konsequenz die Realisierung der politischen Idee der ›Partei‹ zu stagnieren droht. Angesichts der kriegerischen Verwicklung mit dem Ausland beschwört Wilhelm II. die nationale Einheit und 72 gewährt seinem größten innenpolitischen Widersacher, der Sozialdemokratie, in einer generös intonierten rhetorischen Geste »Vergebung« für ihre Feindselig69  R.

Koselleck: Allgemeine Sonderinteressen der Bürger in der umweltpolitischen Auseinandersetzung. Vortrag anläßlich des vom Wissenschaftsrat der CDU am 29. Oktober 1979 veranstalteten Umweltkongresses »Lebendige Wirtschaft – Lebenswerte Umwelt«. In: Information 16 (1980) 23–34, hier 23. 70  Deutsche Fortschrittspartei, Programm vom 6. Juni 1861. – Zit. nach: Manfred Görtemaker: Deutschland im 19. Jahrhundert. Entwicklungslinien (Bonn 41994) 259. 71  Siehe: Gesetz über die politischen Parteien. 72  Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs herrscht in der Sozialdemokratie eine entschieden antimilitaristische und friedenspolitische Haltung vor, die auf internationalen Konferenzen der Sozialistischen Internationale in Stuttgart (1907) sowie in Basel (1912) kodifiziert wird.

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keiten in der Vergangenheit. Anlässlich der deutschen Kriegserklärung an Russland hält Wilhelm am Abend des 1. August 1914 vom Balkon über dem Portal IV des Berliner Stadtschlosses an eine im Lustgarten versammelte Volksmenge die zweite seiner später so genannten Balkonreden – und damit gleichsam die erste Kriegsrede im Ersten Weltkrieg, nachdem das Russische Kaiserreich das letzte deutsche Ultimatum zur Rücknahme seiner Generalmobilmachung hat verstreichen lassen: »Ich danke euch für alle Liebe und Treue, die ihr Mir in diesen Tagen erwiesen habt. Sie waren ernst, wie keine vorher! Kommt es zum Kampf, so hören alle Parteien auf! Auch Mich hat die eine oder die andere Partei wohl angegriffen. Das war in Friedenszeiten. Ich verzeihe es heute von ganzem Herzen! Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder. Will unser Nachbar es nicht anders, gönnt er uns den Frieden nicht, so hoffe Ich zu Gott, daß unser 73 gutes deutsches Schwert siegreich aus diesem schweren Kampfe hervorgeht.« Die Formel, er kenne »keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr«, greift Wilhelm in abgewandelter Form am 4. August 1914 in einer Thronrede vor Parlamentariern sämtlicher im Reichstag vertretenen Parteien auf: »Ich kenne keine Parteien mehr, Ich kenne nur noch Deutsche. (Langanhaltendes brausendes Bravo.) Zum Zeichen dessen, daß Sie fest entschlossen sind, ohne Parteiunterschiede, ohne Stammesunterschiede, ohne Konfessionsunterschiede durchzuhalten mit Mir durch dick und dünn, durch Not und Tod, fordere Ich die 74 Vorstände der Parteien auf, vorzutreten und Mir das in die Hand zu geloben.«

7. Partei-, Organisations- und Demokratietheorie Mit R. Michels Analyse des Parteiwesens, genauer: seiner Untersuchung der Wirkung der Demokratie auf das Parteileben,75 geht die Kritik einer Organisationslehre, die für die verzögert aufkommende Partei-Theorie heuristische Bedeutung gewinnt, einher. Michels’ These lautet nicht nur, die »Demokratie führt zur Oligarchie, wird zur Oligarchie«, sondern er konstatiert darüber hinaus ein »Vorhandensein immanenter oligarchischer Züge in jeder menschlichen Zweckorganisation«.76 Eine etablierte politische Partei sei nichts weiter als ein

73  Kriegs-Rundschau.

Zeitgenössische Zusammenstellung der für den Weltkrieg wichtigen Ereignisse, Urkunden, Kundgebungen, Schlacht- und Zeitberichte, hg. von der Täglichen Rundschau, Bd. 1: Von den Ursachen des Krieges bis etwa zum Schluß des Jahres 1914 (Berlin 1915) 43. 74  Verhandlungen des Reichstags, Stenographische Berichte (1914/16) Bd. 306, 1 f.; hier 2. 75  Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, a. a.O. [Anm. 27] XIX f. – Einen nützlichen Überblick zum Thema bietet: Hans-Otto Mühleisen: Organisationstheorie und Parteienforschung. In: Partei und System. Eine kritische Einführung in die Parteienforschung, hg. von Wolfgang Jäger (Stuttgart u. a. 1973) 59–89. 76  R. Michels, a. a.O. [Anm. 27] Vorwort zur 1. Aufl. XVIII, 12 f.

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individualisierter Staat resp. ein Staat im Staate – die alte Furcht ist wieder da.77 Tatsächlich führt Michels eine »Analyse des Führertums im Parteiwesen […] am lebenden Körper der linksdemokratischen und sozialistischen Parteien« durch, wobei weder Bolschewismus noch Faschismus behandelt werden.78 Die Sozialdemokraten bezeichnet er als »Fanatiker unter den Parteigängern des Organisationsgedankens« und prognostiziert angesichts der zur Stunde schwachen Weimarer Demokratie die Dämmerung moderner Politik: »Wer Organisation sagt, sagt Tendenz zur Oligarchie. Im Wesen der Organisation liegt ein tief aristokratischer Zug. Die Maschinerie der Organisation ruft, indem sie eine solide Struktur schafft, in der organisierten Masse schwerwiegende Veränderungen hervor. Sie kehrt das Verhältnis des Führers zur Masse in sein Gegenteil um. Die Organisation vollendet […] die Zweiteilung jeder Partei bzw. Gewerkschaft in eine anführende Minorität und eine geführte Majorität. […] Die Entwicklung der Demokratie beschreibt eine Parabel. Diese befindet sich, wenigstens im Parteileben, zur Zeit auf dem absteigenden Ast. Im Parteileben läßt sich die Beobachtung machen, daß mit fortschreitender Entwicklung die Demokratie wieder eine rückläufige Bewegung macht. Mit zunehmender Organisation ist die Demokratie im Schwinden begriffen. Als Regel kann man aufstellen: Die Macht der Führer wächst im gleichen Maßstabe wie die Organisation.« Das Prinzip direkter Demokratie sei im Parteileben unmöglich, denn in Deutschland werde die projektierte Masse in Kellern und Biersälen angesprochen.79 Jedenfalls spricht Michels bereits das auch für parteienstaatliche Demokratien der Folgezeit zentrale Problem an: den Zustand der innerparteilichen Demokratie.80 Wohl nicht zuletzt eingedenk M. Ostrogorskis betreibt Michels keine nationale Parteigeschichtsschreibung. Mit Blick auf England spricht Ostrogorski von einem »Break-up of the Old Society«.81 Sein Kapitel »The Begining of Party Organization«82 fasst er wie folgt zusammen: »The political parties who were aimed at by the extra-constitutional organizations in pursuit of reforms, have recourse to extra-parliamentary organizations themselves. Before 1832 they had 77  Ebd.

13. – Schon Hobbes’ eindringliche Warnung, die Religion möge keinen Staat im Staat bilden, bringt ihm die Feindschaft sowohl der katholischen als auch der anglikanischen Geistlichkeit ein. – Vgl. hierzu: Holger Glinka: Zur Genese autonomer Moral. Eine Problemgeschichte des Verhältnisses von Naturrecht und Religion in der frühen Neuzeit und der Aufklärung (Hamburg 2 2012) 134–143. 78  R. Michels, a. a.O. [Anm. 27] XXI, XXX; Vorwort zur 2. Aufl. – Vgl. ebenso: Philipp Erbentraut: Kann der Kampf für Demokratie demokratisch sein? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (7.12.2011). Natur und Wissenschaft, N4. 79  R. Michels, a. a.O. [Anm. 27] 25 f., 30. 80  Rolf Ebbinghausen: Die Krise der Parteiendemokratie und die Parteiensoziologie. Eine Studie über Moisei Ostrogorski, Robert Michels und die neuere Entwicklung der Parteienforschung (Berlin 1969). – Modern Political Parties: Approaches to Comparative Politics, ed. by Siegmund Neumann (Chicago 1956). 81  Moisei Ostrogorski: Democracy and the Organization of Political Parties. Two Volumes. Translated From the French by Frederick Clarke, M.A. (London, New York 1902) I, 25. 82  Ebd. I, 135–160.

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no organization outside Parliament, and had no need of one, territorial influence or electoral corruption being sufficient for getting them votes. It is only by the purchase of seats and by subventions to candidates that the party organizations inside Parliament make their influence felt in the country.«83

83  Ebd. I, xiii. – Ein wichtiger Nachfolger für die Erforschung der »Anatomie« von Parteien, insbesondere hinsichtlich des innerparteilichen Prozesses britischer Parteien, ist: Robert T. McKenzie: British Political Parties: The Distribution of Power within the Conservative and Labour Parties (London 1955).

Jürgen Goldstein

Politische Freiheit

Dolf Sternberger hat davon berichtet, mit einem Gefühl der Überwältigung 1948 das unveröffentlichte Testament Theodor Mommsens gelesen zu haben.1 Was den angehenden Mitbegründer der deutschen Politikwissenschaft am Letzten Willen des 1903 verstorbenen Historikers erschütterte, war dessen schlichtes Bekenntnis, er »wünschte ein Bürger zu sein«,2 gefolgt von der resignativen Einsicht, dies sei in der deutschen Nation nicht möglich. Er habe sich, so resümiert Mommsen sein Leben, stets als animal politicum verstanden, aber ohne Möglichkeit einer angemessenen Teilhabe am politischen Geschehen. Mit diesem Bekenntnis des nobelpreisgeehrten Altertumswissenschaftlers klingt das 19. Jahrhundert mit einem Moll-Akkord aus. Die Hoffnungen auf politische Freiheit hatten sich nicht erfüllt. Es war das lange Jahrhundert, von der Französischen Revolution 1789 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914. Zwischen diesen historischen Wegmarken liegen Freiheitskämpfe und gescheiterte Revolutionen, Modernisierungsschübe und Restaurationswellen, erwachendes Bürgertum und Militarismus, der Deutsche Idealismus und eine imperialistische Kolonialpolitik, deutsche Kleinstaaterei und die Reichsgründung unter Bismarck. Das 19. Jahrhundert lässt sich daher nicht auf einen Begriff bringen, selbst wenn man sich auf die deutsche Geschichte beschränkt. »Die deutsche Geschichte«, so kommentiert Ludwig Börne, »gleicht einem ungebundenen Buche; so beschwerlich und verdrießlich ist sie zu lesen. Man muß oft die Bogen umwenden, verliert den Zusammenhang darüber, und Titel und Register liegen nicht selten in der Mitte versteckt.«3 Man hat sich daher bei einem Versuch, aus dem Tau der Geistesgeschichte einen Faden zu isolieren, nicht immer an die großen Namen zu halten, die man mit dem Begriff der Freiheit im 19. Jahrhundert verbinden mag – Hegel oder Schelling, Alexis de Tocqueville oder John Stuart Mill. Zwar hat sich der Gedanke der Freiheit nicht ohne Pathos im 19. Jahrhundert Ausdruck zu verschaffen gewusst: Für Hegel war die »Weltgeschichte« nicht weniger als »der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, – ein Fortschritt, den wir in seiner Nothwendigkeit zu erkennen haben«;4 1 

So berichtet es Joachim Fest in seinem Portrait Dolf Sternbergs: Genie der Vernünftigkeit: Eine Nachschrift auf Dolf Sternberger. In: ders.: Begegnungen. Über nahe und ferne Freunde (Reinbek bei Hamburg 2004) 87–120, hier 102. 2  Die Testamentsklausel Mommsens vom 2. September 1899 zitiere ich nach Stefan Rebenich: Theodor Mommsen. Eine Biographie (München 2002) 187. 3  Ludwig Börne: Fragmente und Aphorismen, Nr. 30. Gesammelte Schriften. Vollständige Ausgabe, Bd. VII (Wien 1868) 1–120, hier 14. 4  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte [gehalArchiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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Fichte sah den »Zweck des Erdenlebens der Menschheit« darin, »daß sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte«.5 Aber die Entfaltung des Begriffs einer politischen Freiheit wurde oftmals in den vermeintlichen Niederungen der Sozialgeschichte und auf historische Ereignisse reagierend vorangetrieben, metaphysikfrei und fern aller Geschichtsphilosophie – in politischen Reden, auf Flugblättern und Schriften, die in das Dunkel der Zeitgeschichte zurückgesunken sind, und von Autoren, deren Namen man heute oftmals nicht mehr kennt. Es mag daher klug sein, dem Rat Dolf Sternbergers zu folgen, es erst gar nicht zu versuchen, das 19. Jahrhundert anders als in einem kaleidoskopartigen Panorama der vielfältigen Ansichten abzubilden und dabei den »oft verachteten Bodensatz der Zeitumstände«6 nicht unberücksichtigt sein zu lassen. Eine kurze Geschichte des Begriffs der ›politischen Freiheit‹, auf den deutschsprachigen Raum fokussiert,7 wenn auch nicht ohne einen unentbehrlichen Seitenblick auf die politischen Verhältnisse in Frankreich, wird keine Einheitlichkeit der Entwicklung suggerieren dürfen. Dennoch sollte sich aufzeigen lassen, ob und warum politische Freiheit zu den Schlüsselbegriffen dieses Jahrhunderts gehört. Zweifel daran sind berechtigt. Begriffsgeschichtlich sind die im 19. Jahrhundert leitenden philosophischen Schlüsselbegriffe rasch zur Hand. Kommt dem Begriff der ›politischen Freiheit‹ dabei aber überhaupt eine zentrale Rolle zu?8 Er lässt sich nicht ideengeschichtlich engführen und gleichsam unter sterilen, rein begriffsgeschichtlichen Bedingungen kontextfrei entfalten. Zwar ist für Kant der bürgerliche Zustand als bloß rechtlicher betrachtet – und er variiert dabei das Motto der Französischen Revolution – auf ›Freiheit‹, ›Gleichheit‹ und ›Selbständigkeit‹ als »Prinzipien a priori«9 gegründet; die zeitgeschichtlich bedingte Begriffsentfaltung einer ›politischen Freiheit‹ dagegen hat sich im Spannungsfeld von geschichtlicher Erfahrung und Theoriebildung ereignet. Die ten zwischen 1822/23 und 1830/31]. Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, hg. von Herrmann Glockner, Bd. XI (Stuttgart 41961) 46. 5  Johann Gottlieb Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters [1806]. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, Bd. I, 8 (Stuttgart-Bad Cannstatt 1991) 188–396, hier 193. 6  Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert. Schriften, Bd. V (Frankfurt a. M. 1981) 11. 7  Für einen quellenreichen Überblick unentbehrlich ist Christof Dipper: Der Freiheitsbegriff im 19. Jahrhundert. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Stuttgart 1975) 488–538. 8  Herbert Schnädelbach widmet in seiner Darstellung der Philosophie in Deutschland 1831– 1933 (Frankfurt a. M. 1983) der politischen Geschichte lediglich zweieinhalb Seiten, von ›politischer Freiheit‹ als bestimmendem Begriff ist in seiner Darstellung der deutschen Philosophie nach dem Tod Hegels bis zur Machtergreifung Hitlers nicht die Rede. 9  Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis [1793]. Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. XI (Frankfurt a. M. 1968) 125–172, hier 145.

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historischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts nicht im Blick zu haben und somit die gesellschaftlichen Konstellationen, in denen die Rede von einer politischen Freiheit situiert war, hieße, an der Bedeutung der politischen Freiheit in diesem Jahrhundert vorbeizureden. Kristalline Klarheit ist bei diesem Begriff nicht zu erwarten, da – nach Nietzsche – nur das definierbar ist, was keine Geschichte hat.10 Der Begriff der politischen Freiheit im 19. Jahrhundert ist aber in besonderem Maße von geschichtlichen Entwicklungen beeinflusst, die ihn in seiner Bedeutung haben hervortreten lassen, die seine Ausformulierung vorangetrieben oder zu Modulationen gezwungen und die schließlich seine pragmatische Ohnmacht offenbart haben. Aus der Perspektive des Historikers, mit Bismarck als Fluchtpunkt des 19. Jahrhunderts im Blick, könnte man ohnehin meinen, die Einheit der Nation sei den Deutschen wichtiger gewesen als die Freiheit. Aber das wäre voreilig. »Freiheit«, so Johann Baptist Gleich im Jahr 1795, »ist also heiliges Naturgesetz und Grundlage jeder menschlichen Verbindung«.11 Damit war früh der Bogen von einem naturrechtlichen Freiheitsbegriff zur Gestaltung des konkreten gesellschaftlichen Zusammenlebens gespannt und dem beginnenden 19. Jahrhundert ein Grundmotiv mit auf den Weg gegeben. Erst nach den gescheiterten politischen Hoffnungen von 1848/49 trat der seit der Französischen Revolution das politische Denken bestimmende Freiheitsgedanke ein wenig in den Hintergrund. Aber auch dort, wo in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Vereinigung des zersplitterten Reichs als dringendste Aufgabe verstanden wurde, gedachte man der Freiheit als einheitsstiftendem Moment: »Der deutsche Staat und die deutsche Freiheit müssen gleichzeitig mit denselben Mitteln errungen werden«,12 heißt es in dem Gründungsprogramm der Nationalliberalen Partei aus dem Jahr 1867. Freilich ist nach 1848 – wie in diesem programmatischen Satz auch – zuerst vom Staat oder der Nation und erst dann von der Freiheit die Rede. Dabei war der Ruf nach Freiheit bereits im 18. Jahrhundert erklungen,13 und als er von der Französischen Revolution auf die Tagesordnung der Weltpolitik gehoben worden war, wurde er nicht ohne Enthusiasmus auch in den deutschsprachigen Regionen aufgenommen und mit Forderungen an politische Partizipation verknüpft. Er war für das Erwachen des Bürgertums, das politische 10  Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift [1887]. Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Abteilung VI, Bd. II (Berlin 1968) 259–430, hier 333. 11  Johann Baptist Gleich: Bonner Dekadenschrift, Stück 3 und 5: Gespräche über Freiheit [1795]. Zitiert nach: Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution 1780–1801, hg. von Joseph Hansen, Bd. III (Bonn 1935) 604–607, hier 607. 12  Gründungsprogramm der Nationalliberalen Partei [Juni 1867]. In: Deutsche Parteiprogramme, hg. von Wilhelm Mommsen (München 1960) 147–151, hier 148. 13  »Freiheit! Ein Wort, das einzelne Menschen und ganze Nationen so gerne ausrufen […]«, notiert schon Heinrich Gottfried Scheidemantel: Das Staatsrecht nach der Vernunft und den Sitten der vornhemsten Völker betrachtet, Dritter Teil, § 119 (Jena 1773) 187, nicht ohne anzumerken, was jeweils unter Freiheit verstanden würde, wäre doch sehr unterschiedlich.

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Freiheit für sich reklamierte, so maßgeblich, dass noch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts als ein Scheitern dieser Hoffnungen und ein Versagen des Bürgertums begriffen werden müssen.

I.  Natürliche, bürgerliche und politische Freiheit »Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es auch«, heißt es in Artikel 1 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789.14 Damit hatte die Große Revolution proklamiert, was als Naturrechtsbegriff vorbereitet worden war. Schon Gottfried Achenwall und Johann Stephan Pütter hatten 1750 von der ›natürlichen Freiheit‹ (libertas naturalis) gesprochen, wonach der »reine Naturzustand der Zustand der vollen natürlichen Freiheit«15 sei. Zwar wurde diesem Freiheitsbegriff mit Blick auf den Staat ein Begriff ›bürgerlicher Freiheit‹ (libertas civilis) an die Seite gestellt, aber unter bürgerlicher Freiheit wurde vornehmlich das Recht verstanden, in »Ansehung der Handlungen, die nicht durch die Gesetze des Staates bestimmt sind, zu thun und zu lassen, was mir gut dünkt«.16 Selbst unter dem Einfluss der Französischen Revolution sollte sich das nicht unmittelbar ändern. Noch bei Georg Wedekind heißt es, »was ist denn bürgerliche Freiheit sonst als die Befugnis, alles tun zu dürfen, welches die Gesetze, in die ich selbst eingewilliget habe, nicht untersagen?«17 Damit war eine Selbstbeschränkung des Staates zum Schutz der bürgerlichen Freiheit des Menschen gemeint: »Die rechtmäßige Freiheit im Staat erfordert«, so Heinrich Gottfried Scheidemantel in seinem Staatsrecht von 1773, »daß der Fürst so wol seinen Befehlen und Entschließungen selbst ihre Grenzen sezze […].«18 Das sei erforderlich, so Wilhelm von Humboldt, da der »wahre Zwek des Menschen […]

14  Zitiert nach: Albert Soboul: Die Große Französische Revolution. Ein Abriß ihrer Geschichte (1789–1799) (Frankfurt a. M. 51988) 149. 15  Gottfried Achenwall und Johann Stephan Pütter: Anfangsgründe des Naturrechts (Elementa iuris naturae), § 248, hg. und übersetzt von Jan Schröder (Bibliothek des Deutschen Staatsdenkens, Bd. V; Frankfurt a. M./Leipzig 1995) 84 f. 16  Johann August Eberhard: Ueber die Freyheit des Bürgers und die Principien der Regierungsformen. Vermischte Schriften. Erster Theil (Halle 1784) 1–24, hier 8. 17  Georg Wedekind: Über die Regierungsverfassungen. Eine Volksrede in der Gesellschaft der Freunde der Freiheit und der Gleichheit, gehalten zu Mainz am 5. November im ersten Jahre der Republik. In: Mainz zwischen Rot und Schwarz. Die Mainzer Revolution 1792–1793 in Schriften, Reden und Briefen, hg. von Claus Träger (Berlin 1963) 190–204, hier 194. Ebd.: »Dieser Freiheit hoher Wert wird von jedem meiner Mitbürger gefühlt; jeder von ihnen weiß es, daß er meine Freiheit nicht antasten kann, ohne eben dadurch die seinige auf das Spiel zu setzen […].« 18  H. G. Scheidemantel: Das Staatsrecht nach der Vernunft und den Sitten der vornhemsten Völker betrachtet, § 129, a. a.O. [Anm. 13] 203. Zugleich habe aber auch zu gelten, dass der Staat »die Handlungen der Untertanen einschränke, in so weit sie dem Endzweck der Regierung widersprechen« (ebd.).

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die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen« ist: »Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlassliche Bedingung.«19 Aber es gab einen ideengeschichtlichen Überschuss, der über den Begriff einer ›negativen Freiheit‹ hinausging. Schon vor der Großen Revolution zeichnete sich ein wachsendes politisches Bewusstsein derer ab, die sich zunehmend in einem aktiven Sinne als Bürger zu verstehen suchten. Gottfried Achenwalls Statsverfassung der heutigen vornehmsten Europäischen Reiche und Völker im Grundrisse, in erster Auflage 1749 erschienen, erlebte bis 1781 sechs Auflagen. Die neueste atmete schon die Luft der Aufklärung, wenn es in dem ›Vorbericht‹ heißt: »Das Europäische Publicum ist nicht Vieh, wie das Africanische; es ist nicht mer Kind, wie im MittelAlter. Immer noch betet es seine Fürer, seine Vormünder, an: aber es will, es soll, im Geist und in der Wahrheit anbeten. Und um das zu können, muß es nicht blos fülen, daß es regiert wird, sondern wissen, wie es regiert wird.«20 Von politischer Freiheit ist hier noch nicht die Rede, sie wird eher als Implikat mitgedacht, aber ein politisches Bewusstsein ist unverkennbar, auch wenn in der Statsverfassung auf den glorreichen, für das Zeitalter charakteristischen »Triumph« verwiesen wird, »den die Pubilicität seit kurzem in merern Staten über die alte barbarische Verheimlichung erhält«.21 Öffentlichkeit und Freiheit werden als komplementär gedacht und zu Inbegriffen einer politischen Transparenz, die allein Gerechtigkeit zu verbürgen vermag. So notiert Georg Forster während einer Reise durch England 1790 in sein Tagebuch: »Göttliche Publicität! erhabene Würde der Gerechtigkeit, die nicht das Licht scheuet! Daß kein Volk, kein Land, keine Stadt es wage, sich frei zu nennen, so lange Richter bei verschlossenen Thüren über das Schicksal ihrer Mitmenschen entscheiden!«22 Aber erst der innovative Gedanke der Gleichheit aller Bürger, womit die Französische Revolution das einleitete, was Jürgen Habermas als die »horizon-

19 

Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen [1792]. Werke in fünf Bänden, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. I (Darmstadt 21960) 56–233, hier 64. 20  Gottfried Achenwall: Statsverfassung der heutigen vornehmsten Europäischen Reiche und Völker im Grundrisse [1749]. Sechste vermehrte Ausgabe (Göttingen 1781), Vorbericht [ohne Seitenzahl]. 21 Ebd. 22  Georg Forster: Tagebücher. Rundreise von Mainz aus 1790. Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. von der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. XII (Berlin 21993) 200–368, hier 293. In Forsters Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich, im April, Mai und Junius 1790 findet sich ein Beleg für die allgemeine Publizität des neuen politischen Freiheitsdenkens: »In den Wirtshäusern und Kaffeehäusern sahen wir fleißige Zeitungsleser, und selbst der gemeine Mann politisirte bei seiner Flasche Bier von den Rechten der Menschheit, und allen den neuen Gegenständen des Nachdenkens, die seit einem Zeitabschnitte von ein paar Jahren […] in Umlauf gekommen sind.« (In: Werke, Bd. IX, [Berlin 1958] 111)

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tale Vergesellschaftung der Bürger«23 beschreibt, vermochte das Potential einer ›politischen Freiheit‹ zu entfalten. Scheidemantel hatte 1773 als ›Untertan‹ bezeichnet, wer der Majestät entgegengesetzt sei und durch diese Differenz als Befehlsempfänger definiert werde. Der ›Bürger‹ dagegen wird nicht länger durch seinen Bezug auf die Majestät bestimmt, sondern durch seinen Bezug auf den Staat, dem beide, Bürger wie Majestät, angehören.24 Für Achenwall war daher der Landesherr der »vornemste Bürger der Republik«.25 In der Encyclopédie, die seit 1751 erschien, konnte man nun aber lesen, die ›natürliche Gleichheit‹ (égalite naturelle) sei »das Prinzip und die Grundlage der Freiheit«26 – daraus ließen sich Funken schlagen. Wenn die Gleichheit aller Bürger deren Freiheit bedingt, stehen die Verhältnisse einer hierarchisch gestuften Gesellschaft im Widerspruch zum erwachenden politischen Selbstbewusstsein der Bürgerschaft.27 Über eine ›natürliche‹ oder ›bürgerliche Freiheit‹ hinaus begann man, eine ›politische Freiheit‹ zu fordern, die nicht länger die den Bürgern vom Staat gewährten Freiheiten bezeichnete, sondern eine aktive Beteiligung am politischen Geschehen reklamierte. In diesem Sinn hat Johann August Eberhard politische Freiheit als eine »Theilnehmung an der Souverainität« beschrieben und damit die Freiheit zur Partizipation am Politischen aus der Latenz individueller Freiheitsrechte jenseits der Staatsgewalt herausgeholt: »Je mehr Bürger in einem Staate an dieser Theil nehmen«, eben an der Souveränität der Staatsgewalt, »­ desto größer ist seine politische Freyheit«.28 August Ludwig Schlözer hat in seinem Buch Allge23  Jürgen Habermas:

Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats (Frankfurt a. M. 1992) 166. 24  Siehe: H. G. Scheidemantel: Das Staatsrecht nach der Vernunft und den Sitten der vornhemsten Völker betrachtet, §§ 109 ff., a. a.O. [Anm. 13] 172 ff. 25  Ebd. § 20, 16. 26  Art. Égalité naturelle (Jaucourt). In: Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Textes choisis et présentés par Alain Pons. 2 Bde., Bd. II (Paris 1986) 29–31, hier 29: »Cette égalité est le principe et le fondement de la liberté.« 27  Das gilt insbesondere für den gesellschaftlichen Umgang mit Minderheiten, Randgruppen oder Gruppen mit verminderten Rechten. Christian Conrad Wilhelm Dohm hatte sich schon 1781 mit der programmatischen Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden (Berlin/Stettin) zu Wort gemeldet und darin eine jüdische Emanzipation gefordert, aber erst unter dem Einfluss der Französischen Revolution hat Preußen den Juden 1808 das kommunale Bürgerrecht gewährt. 1812 stellte ein Edikt – an dem Carl August Freiherr von Hardenberg und Wilhelm von Humboldt maßgeblich beteiligt waren – die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden in Preußen her und garantierte ihnen somit Bürgerrecht, Freiheit der Berufswahl und der Eheschließung sowie des Grunderwerbs. Der Zugang zu staatlichen Ämtern blieb Juden allerdings verwehrt. Dazu Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat (München 31985) 248–255. 28  J. A. Eberhard: Ueber die Freyheit des Bürgers und die Principien der Regierungsformen, a. a.O. [Anm. 16] 9. Vgl. auch: J. A. Eberhard: Ueber Staatsverfassungen und ihre Verbesserung. Ein Handbuch für Deutsche Bürger und Bürgerinnen aus den gebildeten Ständen. In kurzen und faßlichen Vorlesungen über bürgerliche Gesellschaft, Staat, Monarchie, Freyheit, Gleichheit, Adel und Geistlichkeit (Berlin 1793) 117 f.: »Es giebt eine Freyheit des Naturstandes, es giebt eine bürgerliche, und eine politische. Die erste genießen wir außer der bürgerlichen Gesellschaft, wo wir zwar durch keine bürgerlichen Gesetze und Einrichtungen eingeschränkt

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meines StatsRecht und StatsVerfassungslere von 1793 die Differenz von bürgerlicher und politischer Freiheit festgeschrieben: »Bürgerliche Freiheit ist voller Genuß der natürlichen Freiheit in allem, was nicht die Gesellschaft einschränken mußte; wo man nichts tun, nichts leiden darf, als was den Gesetzen gemäs ist. Politische Freiheit, ist Anteil des Bürgers an der Herrschaft […].«29 Hatte schon John Locke im Sinne eines politischen Liberalismus darauf verwiesen, Gesetze seien nicht dazu da, Freiheit abzuschaffen oder einzuschränken, sondern zu schützen und zu erweitern, und sie somit als Garanten der individuellen Freiheit zu bestimmen versucht,30 wurde nun die »Mitwirkung der Staatsbürger bey der Regierung des Staats, besonders bey der Gesetzgebung«,31 offensiv eingefordert. Mehr noch: Unter politischer Freiheit versteht Fichte das unabhängige Ermessen des Staatszwecks selbst.32 Das erforderte allerdings einen postabsolutistischen Staatsbegriff – schon Montesquieu hatte angemerkt,

sind, und also alles thun dürfen, was wir wollen und können, ohne durch eine obrigkeitliche Gewalt zurückgehalten zu werden, wo aber auch ein jeder anderer sich alles gegen uns erlauben darf, was er will und kann, ohne daß wir von einer obrigkeitlichen Gewalt geschützt werden. In diesem Zustande kann also die Freyheit in Zügellosigkeit ausarten […]. Um diesem Uebel zu entgehen, und unsere rechtmäßige Freyheit zu sichern, haben wir den Naturstand verlassen, und sind in bürgerliche Gesellschaft zusammengetreten. Um auch in dieser nicht wieder Raub der Unordnung und der Gewaltthätigkeit der Parteyen zu werden, hat sie die Ausübung der Souveränität ihren Regenten übertragen; nur eine sehr kleine und sehr unvollkommne bürgerliche Gesellschaft hat diese Ausübung der Souveränität selbst beybehalten können. Man nennt die Staaten, worin diese Ausübung in aller oder doch in mehrerer Händen ist, Freystaaten. Die Freyheit, die wir den Bürgern dieser Staaten beylegen, ist die politische. Diese ist aber noch von der bürgerlichen verschieden. Diese letztere wird durch die Menge der Handlungen bestimmt, über welche die bürgerlichen Gesetze nichts gebieten oder verbieten, die sie also der eigenen Willkühr eines jeden Bürgers überlassen. Je größer die Anzahl dieser Handlungen ist, desto größer ist die bürgerliche Freyheit; je weniger hingegen an der Ausübung der Souveränität Theil nehmen, desto geringer ist die politische Freyheit; in der uneingeschränkten Monarchie ist sie am geringsten.« 29  August Ludwig Schlözer: Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere, § 7 (Göttingen 1793) 37. 30  John Locke: Two Treatises of Civil Government [1690] Vol. II, 6 (London/New York 1955) 143: »So that however it may be mistaken, the end of law is not to abolish or restrain, but to preserve and enlarge freedom. For in all the states of created beings, capable of laws, where there is no law there is no freedom.« 31  Ernst Ferdinand Klein: Grundsätze der natürlichen Rechtswissenschaft nebst einer Geschichte derselben, § 539 (Halle 1797; Reprint: Meisenheim/Glan 1979) 277. Klein hebt auch deutlich eine politische von einer bürgerlichen Freiheit ab: »Die politische Freyheit ist nicht immer mit einem gleich großen Grade der bürgerlichen verbunden. Oft mangelt diese, wo jene zu finden ist. Je geringer aber die politische Freyheit ist, desto größer muß die bürgerliche seyn.« (ebd.) 32  J. G. Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, a. a.O. [Anm. 5] 315: »Da über die erwähnte Einsicht, und das Ermessen, des, an sich freilich durch das Ganze gesetzten Staatszwecks, im Staate selbst kein höheres Ermessen statt finden kann, indem dem erstern Ermessen ja alle übrigen Staatskräfte und Einsichten unterworfen, und darnach geleitet werden: – so ist dieses Ermessen äußerlich unabhängig, oder frei; und zwar politische Freiheit […].«

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politische Freiheit sei nur in moderaten Staaten anzutreffen.33 Das Staatsmodell der ›Republik‹ wurde daher kurzerhand als ›Freistaat‹ begriffen.34 Nur ein Staat, so Carl Theodor Welcker, dessen Verfassung sich der »Einwilligung und Freyheit der Bürger, welche nicht etwa blos leere Präsumtion seyn, sondern wirklich bestehen sollen«, verdankt, sei – wie es nun heißt – ein »Rechtsstaat«.35 Die Tage des Heiligen Römischen Reichs waren gezählt. Georg Forster nannte 1792 dieses überkommene Reich ein »Schreckbild«, dessen Reichskonstitution nichts sei als ein »lügenhaftes Gespenst, das sich für den Geist der deutschen Freiheit ausgiebt«, das aber nichts anderes darstelle als »der Teufel der feudalischen Knechtschaft«.36 Als Goethe im August 1806 auf Reisen schließlich von der Auflösung des Deutschen Reichs als Folge der Napoleonischen Kriege erfährt, notiert er lakonisch in sein Tagebuch: »Zwiespalt des Bedienten und Kutschers auf dem Bocke, welche uns mehr in Leidenschaft versetzte als die Spaltung des römischen Reichs.«37 Die Zeit schien reif für neue politische Verhältnisse.

II.  Die Freiheit der Alten und die Freiheit der Modernen Man hatte politische Freiheit gewollt, und es kam Napoleon. Die Französische Revolution hatte sich in ihre Terrorphase hineingesteigert, selbst ihre Anhänger sahen entsetzten Auges, dass die Revolution vielleicht den architektonischen Grundriss für eine neue Ordnung des Politischen geliefert hatte, der »Bau einer wahren politischen Freiheit«38 aber längst noch nicht abgeschlossen war. Die Lage in Frankreich war unübersichtlich, man hatte jetzt »in den neuesten Welt33 

Charles de Montesquieu: De l’esprit des lois [1784] vol. XI, 4. Œuvres complétes II (Bibliothèque de la Pléiade; Paris 1951) 395: »La liberté politique ne se trouve que dans les gouvernements modérés […].« 34  So etwa G. Achenwall: Statsverfassung der heutigen vornehmsten Europäischen Reiche und Völker im Grundrisse, § 2, a. a.O. [Anm. 20] 3: »[…] wenn merere zusammen genommen die Oberherrschaft haben, so heißt der Stat eine Republik, oder ein Freistat […].« 35  Carl Theodor Welcker: Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe philosophisch und nach den Gesetzen der merkwürdigsten Völker rechtshistorisch entwickelt (Gießen 1813) 95 f. Entzieht der Staat die Freiheit, »so hört er in demselben Augenblicke auf, als Rechtsstaat zu bestehen« (ebd. 92). 36  G. Forster: Über das Verhältnis der Mainzer gegen die Franken [Rede vom 15. November 1792]. Werke, Bd. X [Berlin 1990] 11–28, hier 23. 37  Johann Wolfgang von Goethe: Tagebuch vom 7. August 1806. Goethes Werke (Weimarer Ausgabe; Weimar 1887–1919, Reprint: München 1987) Abteilung III, Bd. III, 155. Der Vorfall auf der Kutsche war keineswegs harmlos, es wäre beinahe aufgrund des heftigen Streits zu einem Unfall gekommen. Darauf hat Gustav Seibt zu Recht hingewiesen, um den Irrtum, Goethe sei an der politischen Welt nicht interessiert, zurückzuweisen. Dennoch bleibt das Frappierende der Formulierung bestehen, die den Untergang des Reichs lakonisch durch den Vergleich mit dem privaten Vorkommnis als überfällig kommentiert. Vgl. Gustav Seibt: Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung (München 2008) 39 f. 38  Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen [1795], 2. Brief. Sämtliche Werke, Bd. V (München/Wien 2004) 570–669, hier 572.

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begebenheiten das belehrende Beyspiel vor Augen, daß in einem großen Reiche die völlige politische Freyheit in die größte Zügellosigkeit und Anarchie«39 ausgeartet war. Das Erbe der Großen Revolution drohte verspielt zu werden. Napoleon, der durch militärische Erfolge, nicht durch politische Handlungen kontinuierlich an Einfluss gewonnen hatte, konnte 1802 erklären: »Will man die Prinzipien, die mit der Revolution errungen wurden, auf Dauer bewahren, ist es notwendig, die Nation zu organisieren. Aber, was ist die Nation? Eine Wolke von Sandkörnern. Wir sind vereinzelt, ohne System, Zusammenhalt oder Verbindung.«40 Um dieses Vakuum des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu beseitigen, hatte Napoleon die politische Bühne betreten. Er wollte der Nation eine Richtung weisen. Seit dem Staatsstreich vom 18. Brumaire – dem 9. November 1799 – war Napoleon zum Ersten Konsul aufgestiegen und sollte die Geschicke Europas in den folgenden Jahren durch eine Mischung von absoluter Herrschaft und Liberalismus bestimmen. Napoleon war »wie ein Gewitter, welches die schwülen Südländer erfrischte«.41 Durch ihn wurde die Politik zum Schicksal, wie Napoleon Goethe gegenüber erklärte,42 und die Verfassung – als mögliche Garantin von Freiheitsrechten – zu etwas Nachgeordnetem. Eine Verfassung war für Napoleon ein corps métaphysique,43 was aus dem Munde eines Real- und Machtpolitikers nichts Gutes verhieß. Später, im Rückblick des Entmachteten, hat Napoleon betont: »Ich hasse keineswegs die Freiheit. Ich habe sie lediglich beiseite geschoben, als sie mir den Weg versperrte […].«44 Das Resultat für die Umsetzung einer politischen Freiheit im 19. Jahrhundert, verstanden als Partizipation der Bürger an der Macht, war zumindest zwiespältig. Napoleon hatte Europa verändert, nicht nur auf der Landkarte. Die Zeit der Restauration, die nach Napoleons Abdanken 1814 einsetzte, schwankte zwischen Konservatismus, Liberalismus und Nationalismus. In dieser Situation stellte Benjamin Constant eine Zeitdiagnose. Zur geschichtlichen Selbstverständigung eines Zeitalters gehört die Nutzung des Kontrastes von ›alt‹ und ›modern‹. Die Geschichte der entsprechenden Querelle des anciens et des modernes ist lang. Sie geht bereits auf antike Absetzbewegungen der ›neuen Poeten‹ (poetae novi) von den alten Dichtern zurück. Die Autoren der christlichen Patristik verstanden sich als die ›jetzigen‹, ›modernen‹ Autoren und prägten den Begriff der moderni, indem sie sich von den heidnischen Autoren abzusetzen unternahmen. Das späte Mittelalter kannte den Wegestreit 39 

J. A. Eberhard: Ueber Staatsverfassungen und ihre Verbesserung, a. a.O. [Anm. 28] 120 f. in einer Äußerung vom 8. Mai 1802; zitiert nach: Johannes Willms: Napoleon. Eine Biographie (München 2009) 319. 41  L. Börne: Fragmente und Aphorismen Nr. 254, a. a.O. [Anm. 3] 101. 42  Johann Wolfgang Goethe: Unterredung mit Napoleon [1808]. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Bd. XIV (Münchner Ausgabe; München 2006) 576–581, hier 579: »Was, sagte er, will man jetzt mit dem Schicksal, die Politik ist das Schicksal.« 43  Zitat nach: J. Willms: Napoleon, a. a.O. [Anm. 40] 163. 44 So äußerte sich Napoleon gegenüber Benjamin Constant im März 1815; zitiert nach: J. Willms: Napoleon, a. a.O. [Anm. 40] 682. 40  So

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zwischen der via moderna der Nominalisten und der via antiqua der alten, aristotelisch inspirierten Schule. Bernard de Fontenelle schließlich entschied die Querelle zwischen der antiken und der modernen Dichtung im 17. Jahrhundert zugunsten der zeitgenössischen. Der Streit um alt und neu gehört untrennbar zum Geschichtsbewusstsein, auch wenn erst die ›Neuzeit‹ von diesem Schema Gebrauch gemacht hat, um sich vollends als Epoche der ›Modernen‹ zu bestimmen. Es verwundert daher nicht, dass Benjamin Constant auch den politischen Freiheitsbegriff des frühen 19. Jahrhunderts durch einen epochalen Kontrast resümiert hat. Constant, der 1802 von Napoleon verbannt worden war und in den Folgejahren auch Deutschland bereist hatte, hielt 1819 in Paris einen Vortrag Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen und analysierte den Zustand der Freiheitsbewegung im postnapoleonischen Europa. Die Freiheit der Alten, führt er aus, habe in einer unmittelbaren Anteilnahme an allen Belangen des öffentlichen Lebens bestanden. Die Entscheidungen über Krieg und Frieden, die Erlassung von Gesetzen oder die kritische Überprüfung der Amtsführung politischer Organe oblag denen, die von der Politik betroffen waren. Im Privaten dagegen habe es keine vergleichbaren Freiheiten gegeben. Den Religionskult etwa, dem man nachzugehen hatte, bestimmte man nicht selbst. Bis in die Familien habe der Staat hineinregiert. »So ist bei den Alten der einzelne zwar fast durchweg souverän in nahezu allen öffentlichen Angelegenheiten, aber Sklave in allen privaten Beziehungen.«45 Dieses Verhältnis von antiker öffentlicher Freiheit und privater Fremdbestimmung hat sich nach Constant grundsätzlich gewandelt. Die Modernen seien in den »Genuß individueller Unabhängigkeit«46 gekommen. Jeder habe das Recht, seine Meinung frei zu äußern, einen Beruf zu wählen, über sein Eigentum zu verfügen oder seiner Religion nachzugehen. »Persönliche Unabhängigkeit ist das vornehmste Bedürfnis der Menschen der Moderne«,47 so Constants Fazit. Im Gegensatz zur Antike sei dem freien Individuum aber kaum Mitspracherecht in politischen Angelegenheiten gewährt. »Bei den Modernen […] ist das in seinem privaten Dasein so selbständige Individuum selbst in den freiesten Staaten souverän nur dem äußeren Anschein nach.«48 Es fehle dem modernen Bürger an politischer Freiheit. Damit skizziert Constant den Begriff einer Freiheit, der vor allem den Schutz des Bürgers vor ungerechtfertigten Zugriffen des Staates im Blick hatte, indem er das Recht garantierte, »nur den Gesetzen unterstellt zu sein, das heißt, nicht auf Grund willkürlicher Willensentscheidungen einer oder mehrerer Personen verhaftet, gefangenge-

45  Benjamin Constant: Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen [1819]. Werke in vier Bänden, Bd. IV, hg. von Axel Blaeschke und Lothar Gall, dt. von Eva RechelMertens (Berlin 1972) 365–396, hier 369. 46  Ebd. 389. 47  Ebd. 383. 48  Ebd. 369.

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setzt, hingerichtet noch in irgendeiner Form mißhandelt zu werden«.49 Constant will aber darüber hinaus »keineswegs auf die politische Freiheit verzichten«,50 die in einer Beteiligung des Bürgers an politischen Entscheidungsprozessen besteht. Dabei spielt Constant seine beiden Freiheitsbegriffe – individuelle Freiheit im Privaten und politische Freiheit – nicht gegeneinander aus: Die persönliche Freiheit sei »die wahre Freiheit unserer Tage. Die politische Freiheit gewährleistet sie: Sie ist demgemäß unentbehrlich.«51 Die Gefahr der Freiheit der Modernen, so schließt Constant seine Zeitdiagnose, bestehe darin, »daß wir, allzusehr vom Genuß unserer privaten Unabhängigkeit und der Verfolgung unserer Privatinteressen in Anspruch genommen, mit zu großem Gleichmut auf unser Recht der Teilhabe an der politischen Macht verzichten«.52 Für die Alten hatte die Freiheit in einer »aktiven, ständigen Teilhabe an der kollektiven Gewalt«53 bestanden, ihr Ziel war die »Verteilung der staatlichen Gewalt unter alle Bürger eines Landes«.54 Die Modernen begnügen sich mit einem »friedlichen Genuß der persönlichen Unabhängigkeit«.55 Indem Constant unter liberalen Vorzeichen politische Mitbestimmung anmahnt,56 scheint bei seinem Blick auf die Antike die Enttäuschung durch, die wie ein Schatten auf dem 19. Jahrhundert liegt: Das Freiheitsversprechen der Französischen Revolution hatte sich bislang nur unzureichend einlösen lassen.

III.  Freiheit statt Freiheiten Aber noch bestand Hoffnung. Zunächst drückte sie sich darin aus, dass man – gegen die restaurativen Tendenzen – einen Freiheitsbegriff verteidigte, der im Singular proklamiert wurde, um nicht zum Alten zurückkehren zu müssen. Ludwig Börne hat dies, bevor er 1837 in Paris starb, unternommen. »Aufmerksamen Lesern der französischen politischen Blätter«, führt Börne aus, »wird es nicht entgangen sein, daß die Aristokraten, sowohl auf der Redner-Bühne, als in ihren schriftstellerischen Mittheilungen, immer nur von Freiheiten sprechen, und nie das Wort Freiheit gebrauchen. Hier ist Mehr Weniger. Der Unterschied zwischen Freiheit und Freiheiten ist so groß, als zwischen Gott und Göttern. Wie die wahre kirchliche Religion besteht in der Erkennung eines einigen Gottes, so besteht die wahre politische Religion in der Erkennung der einigen Freiheit.«57 In anderen 49 

Ebd. 367. Ebd. 389. 51  Ebd. 388. 52  Ebd. 393. 53  Ebd. 376. 54  Ebd. 377. 55  Ebd. 376. 56  Ebd. 389: »[…] was ich fordere, ist die bürgerliche Freiheit mit anderen Formen der politischen Freiheit […].« 57  L. Börne: Fragmente und Aphorismen, Nr. 54, a. a.O. [Anm. 3] 23. 50 

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Ländern erkennt Börne »Beispiele von Freiheiten ohne Freiheit«,58 so wie es die alte ständische Gesellschaft kannte – es gab Freiheiten für einzelne Berufs- und Standesgruppen, aber keine Freiheit als gesamtgesellschaftlicher Bewegungsraum von politisch aktiven Bürgern. »Die Aristokraten«, so diagnostiziert Börne, »möchten durch Bewilligung von Freiheiten das französische Volk einschläfern« – daher gelte es wachsam zu sein: »Wenn zu wählen ist, ist Freiheit ohne Freiheiten besser, als umgekehrt.«59 Mit dem emphatischen Begriff der ›Freiheit‹ im Singular hatte man die ständischen Freiheiten im Plural endgültig hinter sich gelassen. Das war entscheidend, um die politische Ordnung im Ganzen verändern wollen zu können. »Mit den alten Freiheiten ist’s vorbei; / Die Freiheit muß uns werden«,60 heißt es bei Adolf Glaßbrenner. Für die politische Freiheit bedeutete das die Möglichkeit, Grundsätzliches fordern zu können – Pressefreiheit, Parlamentarismus, Mitbestimmung – und eine beachtliche Zahl von Bürgern hinter diesen Anliegen zu vereinen. Dem Höhenflug des Freiheitsbegriffs entsprach das wachsende Zutrauen, es mit der politischen Freiheit – trotz der zu verzeichnenden Rückschläge – ernst werden zu lassen.

IV.  Freiheitshoffnungen und die gescheiterte Revolution In der Julirevolution von 1830 hatten die Franzosen der Vorherrschaft der Bürger erneut zum Durchbruch verholfen. Der Funke sprang über, als sich am 27. Mai 1832 schätzungsweise zwanzig- bis dreißigtausend Menschen beim Hambacher Schloss versammelten, um gegen die restriktiven Zensurmaßnahmen des bayrischen Königs zu protestieren. 1848 unternahmen die Bürgerlichen einen neuen Anlauf, der von ihnen geforderten politischen Freiheit Geltung zu verschaffen.61 Die Revolution brach sich ab dem März Bahn, als es in einer Reihe von deutschen Städten zu Unruhen kam. Man verlangte Pressefreiheit, politische Öffentlichkeit, die Aufhebung der Zensur, Demokratisierung und ein Nationalparlament. Als der Funke der Revolution auf Preußen übersprang, kam es in Berlin zu Straßenkämpfen. Aber die Gegenwehr ebbte bald ab. Ende März, Anfang April 1848 berieten 574 Abgeordnete eines Vorparlaments in der Frankfurter Paulskirche. Das erste deutsche Parlament konstituierte sich, man stritt – bis in den Mai 1849 hinein – für einen neuen Staat mit einer freiheitlichen Ver58 Ebd. 59 Ebd. 60 

Zitiert nach: Ch. Dipper: Der Freiheitsbegriff im 19. Jahrhundert, a. a.O. [Anm. 7] 491. Dokumente dieses politischen Aufbruchs sind die Flugblätter, die verfasst und in Umlauf gebracht worden sind: Karl Obermann: Flugblätter der Revolution. Eine Flugblattsammlung zur Geschichte der Revolution von 1848/49 in Deutschland (Berlin 1970); Barbara James und Walter Moßmann: Glasbruch 1848. Flugblattlieder und Dokumente einer zerbrochenen Revolution (Darmstadt/Neuwied 1983). 61 Unschätzbare

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fassung. Ein Kompromiss war dabei die Akzeptanz einer konstitutionellen Monarchie. Man trug dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. die Krone an, doch dieser lehnte ab. Die »sogenannte Krone«, so Wilhelm, sei lediglich »ein Hundehalsband, mit dem man mich an die Revolution von 48 ketten wolle«.62 Überhaupt wies er den politischen Anspruch der Versammelten in der Paulskirche brüsk zurück – er sprach voller Verachtung von der »Frankfurter MenschenEsel-Hund-Schweine- und Katzen-Deputazion«,63 die ihn aufgesucht habe –, er lehnte die neue Verfassung ab und ließ die erwachte Volkssouveränität militärisch niederschlagen. Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung wurden zum Tode verurteilt und erschossen. Diese realpolitischen Entwicklungen ließen den Ruf nach einer politischen Freiheit leiser werden. Zehntausende der politisch Erwachten gingen ins Ausland. In Deutschland machte sich Enttäuschung breit. Man richtete sich im bürgerlichen Glück der kleinen Verhältnisse ein. »Gelegt hat sich der starke Wind, / Und wieder stille wird’s daheime; / Germania, das große Kind, / Erfreut sich wieder seiner Weihnachtsbäume«, spottete Heinrich Heine. »Wir treiben jetzt Familienglück – / Was höher lockt, das ist vom Uebel«, und gemütlich »ruhen Wald und Fluß, / Von sanftem Mondlicht übergossen; / Nur manchmal knallt’s – Ist das ein Schuß? – / Es ist vielleicht ein Freund, den man erschossen.«64 Die begeisterte Forderung nach politischer Freiheit – als bürgerliche Partizipation am Politischen verstanden – wich einem desillusionierten Realismus, der für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die Frage nach der Einheit der Nation in den Vordergrund stellte. Schon Ende 1848 notierte der Historiker Johann Gustav Droysen: »Mit allen unsern Grundrechten und Verfassungsformen ist es nichts, wenn wir nicht verstehen, unser ›Reich‹ zu einer Macht zu erheben. Ja, so sehr kommt es auf Macht und nur auf Macht an, daß selbst die Freiheit werthlos ist ohne sie.«65 Dem Begriff der politischen Freiheit wird der Enthusiasmus ausgetrieben. Das kann man auch bei einem anderen Historiker, Heinrich von Treitschke, beobachten. Zwar hält Treitschke in seiner Schrift Die Freiheit von 1861 daran fest, dass »persönliche Freiheit ohne die politische zur Auflösung des Staates«66 führe, aber der Begriff der politischen Freiheit steht so sehr im Schatten der Idee eines starken Staates, dass die individuellen Par62  Friedrich Wilhelm IV.: Brief vom 5. April 1849 an König Ernst August von Hannover. In: Revolutionsbriefe 1848. Ungedrucktes aus dem Nachlaß König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen, hg. von Karl Haenchen (Leipzig 1930) 436–438, hier 436. 63  Zitiert nach: Ulrike Ruttmann: Das Scheitern. In: 1848 Aufbruch zur Freiheit. Eine Ausstellung des Deutschen Museums und der Schirn Kunsthalle Frankfurt zum 150jährigen Jubiläum von 1848/49, hg. von Lothar Gall (Berlin 1998) 373–377, hier 374. 64 Heinrich  Heine: Im Oktober 1849. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. III/1 (Hamburg 1992) 117–119, hier 117. 65  Johann Gustav Droysen: Die Spitze des Reiches [Weihnachten 1848]. Politische Schriften, hg. von Felix Gilbert (München/Berlin 1933) 178–185, hier: 184. 66  Heinrich von Treitschke: Die Freiheit [1861]. Ausgewählte Schriften, Bd. I (Leipzig 81920) 1–47, hier: 16.

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tizipationsrechte den Interessen eines Nationalstaates unterliegen. Bürgerliche Freiheit war nicht zuletzt gegen den Staat errungen worden, von dem Wilhelm von Humboldt eine Beschränkung seiner selbst gefordert hatte. Treitschke wirft nun jenen Liberalen vor, »sich so krankhaft feindselig zum Staate«67 verhalten zu haben, dass es nicht zur Einheit der Nation hat kommen können. Der Staat sei aber seiner Natur nach »das einheitlich organisierte Volk«.68 Die »politische Freiheit ist […] ein tiefsinniges, umfassendes, wohlzusammenhängendes System politischer Rechte, das keine Lücke duldet«.69 Zwar gelte es für den Staat, die »Magna Charta der persönlichen Freiheit«70 zu respektieren, die »harte Erfahrung« habe aber alle jene »Wahnbegriffe« zerstört, »welche sich unter dem großen Namen Freiheit versteckten«.71 Zu einem nüchternen politischen Realismus erwacht, zieht Treitschke das historische Fazit: »Politische Freiheit ist politisch beschränkte Freiheit«.72 Wichtiger als sie sei die warnende »Erinnerung an das Vaterland«, denn »was du auch tun magst, um reiner, reifer, freier zu werden, du tust es für dein Volk«.73 Der Freiheitsbegriff, auch der politische, war nunmehr den nationalen Anliegen untergeordnet. Der Begriff der politischen Freiheit glich im Rückblick einem Rausch, dem nun der Kater folgte. Droysen formuliert einen Nachruf auf die Freiheitsemphase, wenn er in seinen Vorlesungen zur Historik von 1857 darauf beharrt, das Reich Deutscher Nation sei untergegangen, »weil das nationale Selbstgefühl, das nicht fehlte, die Kraft nicht besaß, die sog. teutsche Freiheit durch staatliche Formen unschädlich zu machen«.74 Politische Freiheit, staatlich unkontrolliert, wird zur schädlichen und zersetzenden Gefahr für die Nation.

V.  Nation ohne politische Freiheit Wenn Napoleon, wie Goethe meinte, die ›dämonische‹ Kraft75 des 19. Jahrhunderts verkörperte, da er die Politik zum europäischen Schicksal hatte werden lassen, war Bismarck eine Überraschung – zumindest für die deutsche Geschichte. 67 

Ebd. 3. Ebd. 7. 69  Ebd. 11. 70  Ebd. 12. 71  Ebd. 8. 72 Ebd. 73  Ebd. 47. 74 Johann  Gustav Droysen: Historik. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. I: Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882), hg. von Peter Leyh (Stuttgart-Bad Cannstatt 1977) 272. 75  Jan Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. In: J. W. Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Bd. XIX, a. a.O. [Anm. 42] 424 (2. März 1831). Dämonisch ist für Goethe »dasjenige, was durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen ist« (ebd.). 68 

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Ihm gelang gleichsam aus dem Handgelenk, woran sich ein Jahrhundert verhoben hatte: die nationale Einheit. Indem er Preußen zur Spitze der Nationalbewegung machte und durch den Deutsch-Französischen Krieg innerhalb weniger Wochen den Widerstand Frankreichs gegen ein Deutsches Reich brach, konnte er – durch sein militärisches Geschick – das geeinte Kaiserreich begründen. Das war verblüffend: »Was siebenmal sieben Jahre zerredet und immer wieder als unentscheidbar aufgezeigt worden war, hatten sieben Wochen« – der Krieg gegen Frankreich – »entschieden. Ein Zauberschlag.«76 Das Unerwartbare an Bismarcks Einigungspolitik war, dass sie ohne die tragenden theoretischen Fundamente auskam, an dem das Freiheitsdenken seit der Französischen Revolution gearbeitet hatte: »Das ungeheuer Geschickte, Kühne, Widernatürliche seiner Leistung liegt darin, daß er die deutsche Einheit zuwege brachte ohne die Elemente, die man seit fünfzig Jahren mit ihr verbunden hatte: Parlamentsherrschaft, Demokratie, Demagogie. Das, was ein halbes Jahrhundert lang der Traum des Bürgertums gewesen war, wurde nun ohne, ja zeitweise gegen das Bürgertum gemacht,«77 vollends seit der konservativen innenpolitischen Wende Bismarcks ab 1878, nach der eine Nationalpolitik gegen die liberalen und sozialdemokratischen Kräfte die Oberhand gewann.78 Es wäre naiv zu glauben, derartige Großereignisse der Geschichte hätten keinen Einfluss auf die Geschichte der politischen Leitideen. Den Demonstranten am Hambacher Schloss war der »unbeschwerte Optimismus derer, die sich nur mit Ideen befassen«,79 zu eigen gewesen. Die Revolutionäre von 1848/49 hatten die Niederschlagung bitter erfahren müssen. Nun war die Einheit des Reichs vollzogen, ohne dass es der politischen Freiheit bedurft hätte. Ein Leitbegriff des politischen Denkens im 19. Jahrhundert ist gleichsam ins Leere gelaufen. Hatte man gehofft, durch Freiheit zur Einheit zu kommen, war man nun zu einer Einheit gelangt, der die Freiheit als Ganzes und mitunter die Freiheiten für einzelne Bevölkerungsgruppen abhanden zu kommen drohte.80 Von Frei76 

Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Frankfurt a. M. 2002) 356. Ebd. 346 f. 78  Am 11. Mai und am 2. Juni 1878 waren auf den Kaiser Wilhelm I. Attentate verübt worden. Bismarck nutzte diese Ereignisse für eine den Liberalismus zurückdrängende innenpolitische Wende. Vgl.: Lothar Gall: Bismarck. Der weiße Revolutionär (Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1980) 526–591. 79  G. Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, a. a.O. [Anm. 76] 138. 80 Treitschke nahm den nationalen Tenor der Zeit auf, der sich zunehmend antisemitisch gab: »die Juden sind unser Unglück!«, schrieb er, um zu fordern, die »jüdischen Mitbürger« müssten sich »rückhaltslos entschließen Deutsche zu sein« (Heinrich von Treitschke: Unsere Aussichten. In: Preußische Jahrbücher, Bd. XXXXIV [Berlin 1879], 559–576, hier: 575, 575 f.). Das hieß nichts anderes, als dass ihnen die Freiheit abgesprochen wurde, Juden zu sein. Hatte das preußische Edikt von 1812 den Juden das Bürgerrecht zugesprochen, kam Treitschkes Forderung einer Aberkennung politischer Freiheit gleich, da sie an Bedingungen geknüpft war, die sich nicht erfüllen lassen sollten. So kam es zur »deutschen Judenfrage« (ebd., 572). Der auf Treitschkes Invektiven einsetzende Berliner Antisemitismusstreit – bei dem sich unter anderem Theodor Mommsen gegen Treitschkes Intoleranz wendete –, offenbarte, dass die politische Ein77 

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heiten war nunmehr so wenig die Rede wie von Freiheit. Der »unzulängliche Parlamentarismus«81 im Kaiserreich jener Jahrzehnte ließ einem politischen Liberalismus keinen Raum. »Es ist ein elendes Schicksal«, so der liberal gesinnte Theodor Mommsen, »in diesem sich regenerierenden Junker- und Pfaffenstaat, als Ornamentstück figurieren zu müssen.«82 Universallexika sind Refugien des Zeitgeistes, sie enthalten Einlagerungen des zeitgeschichtlich Konsensfähigen. Den Freiheits-Artikeln der Universallexika des späten 19. Jahrhunderts ist die Ernüchterung über die ausgebliebene politische Freiheit abzulesen. Im Brockhaus wird die zu Beginn des 19. Jahrhunderts errungene Differenz von bürgerlicher und politischer Freiheit eingeebnet, wenn »bürgerliche (politische)« Freiheit als die Unabhängigkeit von despotischer Gewalt und den Zumutungen des Staatsgesetzes bestimmt wird.83 Pierer’s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart definiert den Begriff der politischen Freiheit kurzerhand ohne das ihn tragende Fundament der Gleichheit aller Bürger: Politische Freiheit sei das Recht eines Volkes, »nach welchem es vermöge der Grundverfassung des Staates für die Ausübung gewisser Theile der Staatsgewalt (Gesetzgebung, Finanzhoheit) auf bestimmte Weise durch Stellvertreter mitwirkt«; die Ausübung der politischen Freiheit habe sich dabei »nach den verschiedenen Bildungsgraden, Interessen, Ständen u. Klassen der Bevölkerung allerdings sehr verschieden zu gestalten«, und ein System, welches vorzugsweise auf Verwirklichung der Freiheit Anspruch erheben könne, »läßt sich dabei keineswegs aufstellen«.84 Hatte Johann August Eberhard in seiner Schrift Ueber die Freyheit des Bürgers und die Principien der Regierungsformen aus dem Jahr 1784 das Maß der politischen Freiheit von der Partizipation der Bürger an der Staatsgewalt abhängig gemacht, wurde man in Meyers Konversations-Lexikon darüber belehrt, politische Freiheit hänge vom »zum Gesetz erhobenen Gesamtwillen aller« ab, womit die »willige Unterwerfung des eigenen Willens unter den Gesamtwillen des Staates«85 gefordert wird. Das Resultat des Bürgertums in der wilhelminischen Epoche hat Heinrich Mann in seinem 1914 fertiggestellten Roman Der Untertan beschrieben, in dem anhand des obrigkeitshörigen, opportunistischen und feigen Protagonisten erläutert wird, wie aus einem Bürger erneut ein Untertan wird, wenn die politische Freiheit fehlt. Als sich am Ende »die politische und vor allem auch die geistigheit des Reichs eine brüchige war. Vgl.: Der Berliner Antisemitismusstreit, hg. von W. Boehlich (Frankfurt a. M. 1965). 81  Eberhard Straub: Eine kleine Geschichte Preußens (Stuttgart 2011) 172. 82  Zitiert nach: St. Rebenich: Theodor Mommsen, a. a.O. [Anm. 2] 169. 83 Art. Freiheit. In: Brockhaus’ Konversations-Lexikon. Vierzehnte, vollständig neubearbeite Auflage. In sechzehn Bänden, Bd. VII (Berlin/Wien 1894) 266 f. 84 Art. Freiheit. In: Pierer’s Universal-Lexion der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Vierte, umgearbeitete und stark vermehrte Auflage, Bd. VI (Altenburg 1858) 677 f., hier 678. 85  Art. Freiheit. In: Meyers Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Fünfte, gänzlich neubearbeitete Auflage, Bd. VI (Leipzig/Wien 1896) 848 f., hier 848.

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moralische Kraft des deutschen Bürgertums definitiv als längst innerlich morsch und brüchig erwies, da stürzte die ganze Fassade binnen weniger Jahre krachend zusammen«.86

VI.  Politische Freiheit – eine Erbschaft des 19. Jahrhunderts Was man sich von dem Zeitalter, in dem man lebt, zu erwarten erlaubt, hängt von dem Maßstab ab, den man anlegt. Der Autor der Römischen Geschichte hatte sein 19. Jahrhundert im Spiegel antiker Vorgaben gesehen – und war hier wie dort enttäuscht. Schon Rom habe es versäumt, einen freiheitlich organisierten Nationalstaat hervorzubringen, der es vollbracht hätte, über Stadtstaaten hinauszugehen.87 Es habe hier wie dort an der Souveränität des Volkes gefehlt.88 Diese Doppelbödigkeit des opulenten Geschichtswerks lässt Theodor Mommsen noch als Historiker politisch engagiert sein. Die Geschichte hat für ihn ein Ziel, damals wie heute: politische Freiheit. Mommsen konnte von dem »Grundfehler der Politik des Althertums« sprechen, »daß sie nie vollständig von der städtischen zur staatlichen Verfassung oder, was dasselbe ist, von dem System der Urversammlungen zum parlamentarischen fortgegangen ist«,89 und dabei die Gegenwart im Blick haben. Er hatte gehofft, durch die Nacherzählung des damaligen Scheiterns den gegenwärtigen Kräften des politischen Liberalismus Auftrieb verleihen zu können. Da der deutschen Nation im 19. Jahrhundert der Versuch misslang, politisch freiheitliche Verhältnisse zu schaffen, wiederholte sich für Mommsen ein epochales Versagen. Als Dolf Sternberger das Testament Theodor Mommsens zu Gesicht bekam und darin von dem Wunsch des Historikers las, Bürger zu sein, hatte nicht allein der Erste Weltkrieg das 19. Jahrhundert beendet, sondern bereits der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg die Koordinaten bestimmt, was im Anschluss ›politische Freiheit‹ überhaupt zu sein hatte. Nietzsche, der Totengräber seines Jahrhunderts, hatte eine ›große Politik‹ im Sinne des europäischen Geistes angemahnt, die das Ganze zu beachten habe.90 Im Ersten Weltkrieg war eine kurzatmige Politik der Nationalstaaten – wie Thomas Mann die Vorkriegssituation im Zauberberg auf die schlüssige Metapher eines Lungensanatoriums gebracht hat – eben daran gescheitert, eine Politik des Ganzen zu schaffen. Was sich nach der Diktatur als Aufgabe abzeichnete, war eine Rehabilitierung des Bürgerlichen 86 

Lothar Gall: Bürgertum in Deutschland (Berlin 1989) 20. Egon Flaig: Die verfehlte Nation. Warum Mommsens Rom nicht ans geschichtliche Ziel gelangte. In: Theodor Mommsen. Wissenschaft und Politik im 19. Jahrhundert, hg. von Alexander Demandt, Andreas Goltz und Heinrich Schlange-Schöningen (Berlin 2005) 181–200. 88  Ebd. 197: »Politische Freiheit ist aber an die Souveränität des Volkes gebunden. Das hämmert uns Mommsens ›Römische Geschichte‹ Kapitel für Kapitel ein.« 89  Theodor Mommsen: Römische Geschichte, Bd. II (Berlin 31861) 95. 90  Vgl. Der Wille zur Macht und die »große Politik«. Friedrich Nietzsches Staatsverständnis, hg. von Hans-Martin Schönherr-Mann (Baden-Baden 2010). 87  Vgl.:

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um der politischen Freiheit willen, der sich Sternberger verschreiben sollte.91 Er habe »unter Hitler und paradoxerweise durch Hitler erst gelernt, was Freiheit bedeutet, was Freiheitsgarantie und daher auch was Verfassung bedeutet«.92 Der Anspruch auf ›politische Freiheit‹ als ›Partizipation‹93 am Politischen, den das 19. Jahrhundert unter so wechselvollen Bedingungen zu entfalten und umzusetzen versucht hat, um doch daran zu scheitern, ließ sich erneut erheben. Sternberger hat dazu als Auftakt und Neubeginn das Testament Mommsens in der programmatischen Monatsschrift Die Wandlung 1948 abdrucken lassen.94

91  Vgl.

Claudia Kinkela: Die Rehabilitierung des Bürgerlichen im Werk Dolf Sternbergers (Würzburg 2001). 92  Dolf Sternberger: Staatsordnung – Systemveränderung. Probleme der Sozialdemokratischen Partei in Geschichte und Gegenwart. Schriften, Bd. IV (Frankfurt a. M. 1980) 247–266, hier 259. 93  Siehe dazu: Dolf Sternberger: Drei Wurzeln der Politik. Schriften, Bd. II/1 (Frankfurt a. M. 1978) 410. 94  Theodor Mommsen: Ich wünschte ein Bürger zu sein. In: Die Wandlung 3 (1948) 69 f.

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Revolution

I. Semantisches Double ›Revolution‹ ist einer der wichtigsten politischen Begriffe der Neuzeit, insbesondere des ›langen‹ 19. Jahrhunderts. Bereits 1852 hatte ein konservativer Beobachter die Epochenbedeutung von ›Revolution‹ – verdichtet auf einen Kollektivsingular – hervorgehoben: »Empörung, Vertreibung der Dynastie, Umsturz der Verfassung hat es zu allen Zeiten gegeben. Die Revolution aber ist die eigenthümliche weltgeschichtliche Signatur unseres Zeitalters.«1 Dieser Begriff – immer nahe daran, in ein Schlagwort überzugehen – hatte erkenntnistheoretische und handlungsanleitende Funktionen, er artikulierte aber auch auf demonstrative Weise Ideale, Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche. Insofern war er – und nicht zuletzt im 19. Jahrhundert – ein emotionaler Orientierungs- und Weltanschauungsbegriff hohen Grades. Insbesondere diese Evokativfunktion ist eine, die heute nur noch bedingt nachvollziehbar ist. Der Begriff besaß eine emotionale Aura, verkörperte kulturelle Phantasmen, kulturelle Träume und Alpträume in einer heute nicht mehr gegebenen Weise.2 ›Revolution‹ war ein hochaufgeladener Begriff wie ein hochaufgeladenes Schlagwort, und was diesem Begriff an emotionalem Gehalt und an Emphase zuwuchs, das verlor er an analytischen Qualitäten. Allein im Wort als solchem verdichteten sich kulturelle Emotionalhaushalte. Schon 1793 betonte ein Revolutionär die geradezu magischen Qualitäten des Worts: »la magie de ce mot imposante de ›révolution‹«,3 und ein Lexikonautor hob im Jahr 1850 nochmals explizit die Macht des Wortes hervor: »Welch eine ungeheure Gewalt liegt in dem Wort Revolution […]. Die ganze Naturentwickelung, von Zeitalter zu Zeitalter, ist eine fortgesetzte Revolution, die Weltgeschichte eine bunte Reihe von aufeinanderfolgenden Revolutionen, die Kultur in ihren steigenden Graden von Stufe zu Stufe mit einer Revolution markirt.«4

1 

Friedrich Julius Stahl: Was ist die Revolution? Ein Vortrag […] (Berlin 1852) 4. Reinhart Koselleck: Revolution als Begriff und als Metapher. Zur Semantik eines einst empathischen Worts. In: ders.: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache (Frankfurt a. M. 2006) 240–251. 3  Joachim Vilate (1794), zit. nach: Christiane Leiteritz: Revolution als Schauspiel. Beiträge zur Geschichte einer Metapher innerhalb der europäisch-amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts (Berlin, New York 1994) 30. 4  [Anonym:] Art. Revolution und Reform. In: Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände, hg. von J. Meyer. 2. Abt. Bd. 5 (Hildburghausen 1850) 1003–1008, hier 1003. 2 Vgl.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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Einerseits war der Begriff im 19. Jahrhundert ein Universalbegriff für Veränderungen auf allen kulturellen Gebieten. Andererseits avancierte er zu einem politischen Zentralbegriff, der – unabhängig wie man zu dem stand, was Revolution bedeutete – Stellungnahmen und Parteinahmen geradezu erzwang. Er erlebte also eine rekonstruierbare Doppelkarriere: als umfassender kultureller Veränderungsbegriff und darüber hinaus und emotional verdichtet als politischer Veränderungsbegriff. Dieser politische Veränderungsbegriff durchlief nochmals eine Doppelkarriere, denn er war semantisch gedoubelt. Einerseits bezog er sich auf konkrete Ereignisse, Strukturen und Prozesse; er war gekoppelt an die Realitäten sozialer Bewegung und an die von institutionell sich konstituierenden sozialen Bewegungen. Andererseits war er die Chiffre eines hoch aufgeladenen Intellektuellentraums, eines utopischen Erwartungs- und Erlösungshorizonts, der diese sozialen Entwicklungen und Bewegungen idealisierte, okkupierte und instrumentalisierte. Deskriptive Begriffsgehalte (diagnostische und prognostische) wurden von normativen absorbiert. Insofern betrieb der Begriff ›Revolution‹ eine sich selbst verkennende semantische Camouflage. Was politische – und später soziale – Bewegungen theoretisch analysieren und praktisch motivieren sollte, war aufgeladen mit Wunschbildern und mit geradezu universalen Ansprüchen. Was schon Robespierre universalisierend als »la révolution du monde«5 erstrebte, spiegelte sich im Wortgebrauch als solchem. Es kam sprachlich zu einer Ontologisierung von ›Revolution‹. Der Topos rückte in den Rang einer sinnstiftenden Singularität mit fetischisierenden Tendenzen und erhielt den Charakter der Selbstreferentialität: »Die wichtigste Eroberung der Revolution ist die Revolution selbst«, schrieb Friedrich Engels 1848.6 Schon um 1800 prägte sich dieses Erwartungspotential des Begriffs als explizites Heils- und Erlösungspotential aus. Freilich ist keine unmittelbare begriffs- oder theoriegeschichtliche Linie von intellektuell-romantischen Spekulationen zu den politischen und geschichtsphilosophischen Entwürfen zu ziehen, die einige Jahrzehnte später z. B. das entstehende Proletariat zum revolutionären Subjekt stilisierten. Dennoch kann von einem Begriffsfeld mit wechselseitigen direkten und indirekten Bezügen, Polemiken, Adaptionen und Kritiken ausgegangen werden, und frühromantische Entwürfe haben Teil an der Evolution des Begriffs, so Friedrich Schlegel 1798: »Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung, und der Anfang der modernen Geschichte«, so auch Novalis 1799 in einer Replik auf den Genannten: »Auf dich hat die Revolution gewirckt, was sie wircken sollte, 5 

Maximilien Robespierre: Rede vom 7. Mai 1794, zit. nach: R. Koselleck u. a.: Art. Revolution, Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck, Bd. 5 (Stuttgart 1984) 736. 6  Friedrich Engels: Die Berliner Debatte über die Revolution [1848]. Karl Marx / Friedrich Engels: Werke, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Berlin 1956 ff.) [= MEW]. Bd. 5, 69.

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oder du bist vielmehr ein unsichtbares Glied der heiligen Revolution, die ein Messias im Pluralis, auf Erden erschienen ist.«7 Der politisch-instrumentelle Revolutionsbegriff sozialistischer und kommunistischer Revolutionäre (der eben nie rein politisch-instrumentell war) unterscheidet sich zwar gravierend von solchen Spekulationen, aber lässt bei genauerer Analyse mehr Gemeinsamkeiten zu Tage treten, als das Postulat einer reinen Diskontinuität zu erkennen gibt. So hat Moses Heß, dessen Verdienste bei der Etablierung sozialistischer und kommunistischer Ideen in Deutschland Anfang der vierziger Jahre im Vorfeld anderer (auch Marxscher) Kommunismen mittlerweile unumstritten sind, am Ende seiner Schrift Die heilige Geschichte der Menschheit 1837 prophezeit: »Mit der französischen Revolution […] begann die dritte und letzte Entpuppung der Menschheit, deren Prozeß noch nicht vorüber ist. Aber wir erblicken schon die Fittige des jungen Schmetterlings«, und diese Prognose mündete in den Verweis auf die biblische Apokalypse des Johannes: »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. Denn der erste Himmel und die erste Erde verging, und das Meer ist nicht mehr.«8 Auf ganz andere Weise apokalyptisch – nämlich auch erlösungsapokalyptisch, aber gegenrevolutionär erlösungsapokalyptisch – sah der politisch-konservative Theoretiker Friedrich Julius Stahl im Jahr 1852 Revolutionen an: »Sie sind die reine scharfe Herausstellung des bösen Princips. Sie treten darum im bestimmten Momente in die Weltgeschichte ein, bilden eine bestimmte, vielleicht die letzte, Stufe in der Entwickelung des Kampfes zwischen den Geistern des Lichts und den Geistern der Finsterniß. Sie sind vielleicht der Anfang des Endes, die Zeichen des Eintritts in die apokalyptische Zeit.«9 Beim Begriff ›Revolution‹ hat man es also, das muss als Befund herausgestellt werden, mit einer Verschlingung von Begriffs-, Schlagwort-, Metaphern- und Mentalitätengeschichte zu tun – mit der Mentalitätengeschichte von Intellektuellen. Und unter Intellektuellen erwies sich dieser Begriff als so faszinierend, dass er von ganz verschiedenen Richtungen reflektiert, abgewiesen, historisiert und transformiert wurde – bis hin zu den Ansprüchen auf eine ›konservative Revolution‹ und eine ›Revolution von Rechts‹, die sich verstärkt ab 1900 artikulierten. Um den Horizont einer reinen Begriffsgeschichte zu erweitern, ist hier zu erwähnen, dass in sozialwissenschaftlich-politologischen Revolutionsforschungen im engeren Sinn – wobei die bisher genannten Aspekte selbstverständlich auch in diesen Debatten eine Rolle spielen – u. a. die folgenden Thematiken kontro7  Friedrich

Schlegel: Athenäums-Fragmente [1798]. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler. 1. Abt. Bd. 2 (München, Paderborn, Wien 1967) 201; Novalis: Randbemerkungen zu F. Schlegels »Ideen« [1799]. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. von Richard Samuel, Bd. 3 (Stuttgart, Berlin, Köln 31983) 493. 8  Moses Heß: Die heilige Geschichte der Menschheit. Von einem Jünger Spinoza’s [1837]. Philosophische und sozialistische Schriften 1837–1850. Eine Auswahl, hg. von Wolfgang Mönke (Berlin 21980) 33, 35. 9  Friedrich Julius Stahl: Was ist die Revolution, a.a.0. [Anm. 1] 13.

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vers diskutiert werden: das Verhältnis von geschichtlichem Gesetz und handelndem Subjekt; von Verhältnis und Verhalten; von Ereignis, Prozess und Struktur; von Spontaneität und Planmäßigkeit; von Masse und Eliten; von Lokalem und Globalem; von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit usw. Pointiert und verkürzt gesagt, kann man von zwei gegenwärtigen Revolutionsmodellen ausgehen: Entweder wird der Akzent auf die objektive geschichtliche Struktur oder auf die subjektiv handelnden Kollektivsubjekte gelegt. Diese Debatten sind aber nicht Gegenstand dieser begriffsgeschichtlichen Analyse. Hier geht es um die Faszination des Begriffs unter Intellektuellen, und diese Faszination führte – das ist keine Anomalie, sondern eine Normalität angesichts von Faszinationsbegriffen – schon im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert relativ schnell zu begrifflichen Expansionen: ›industrielle Revolution‹, ›technische Revolution‹, ›soziale Revolution‹, bis hin zu Topoi des 20. und 21. Jahrhunderts: ›wissenschaftlich-technische Revolution‹, ›Kulturrevolution‹, ›digitale Revolution‹. So hat der Begriff ›Revolution‹ eine sichtlich wechselhafte Gegenwart und Zukunft. Er hat aber auch eine höchst wechselhafte Vergangenheit. Denn bevor der Begriff eine Karriere als politischer Bewegungs-, Veränderungs- und Umwälzungsbegriff durchlief, stand ›Revolution‹ semantisch für ganz andere, sogar gegenteilige Inhalte und Bedeutungen. Pointiert gefragt: Wie entwickelte sich aus dem antiken Wortgebrauch (räumliche und zeitliche Kreis- bzw. Zurückbewegung im unspezifischen Sinn), vermittelt über den naturwissenschaftlichastronomischen Gebrauch (Revolution als kontinuierliche räumliche Kreisbewegung) der moderne Gebrauch (sprunghafte politische Vorwärtsbewegung mit zeitlich-geschichtsphilosophischer Dimension)?

II. Begriffliches Looping: Vom Rückschritt über Kreislauf zur Progression ›Revolution‹ als Sozialbegriff oder als politischer Begriff war eine Metapher, die sich erst allmählich von der Metapher zum Begriff entwickelte, wobei Begriffs-, Schlagwort- und Metapherngehalte stets parallel miteinander einhergingen. Drei Hauptstränge lassen sich unterscheiden, die, mit entsprechenden Interferenzen, zu dem führten, was seit 1789 als ›Revolution‹ in die politische Sprache Eingang gefunden hat.10 Erstens war ›Revolution‹ ein Begriff aus der Astronomie und der Astrologie. Seit Kopernikus’ epochemachendem Buch De Revolutionibus Orbium Coelestium Libri VI (1543) erlangten astronomische Spezialdebatten gesellschaftliche Aufmerksamkeit und befruchteten in diesem Zuge 10  Vgl. Karl Griewank: Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. Entstehung und Entwicklung [1955], hg. v. Ingeborg Horn-Staiger (Hamburg 1992); R. Koselleck u. a.: Revolution, a. a.O. [Anm. 5]; H[orst] Günther: Art. ›Revolution‹. In: HWPh., hg. von Joachim Ritter / Karlfried Gründer, Bd. 8 (Basel 1992) 957–973; Ilan Rachum: »Revolution«. The Entrance of a New Word Into Western Political Discourse (Lanham, New York, Oxford 1999).

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andere Diskurse. ›Revolution‹ hieß hier schlichtweg ›Kreisbewegung‹, bedeutete den regelhaft-räumlichen Umlauf der Gestirne. In diesem Sinn wurde – hier besteht nach wie vor eine gravierende Forschungslücke – der Begriff auch in der sich entwickelnden Geologie gebraucht, die sich erst allmählich schöpfungstheologischen Spekulationen der Theologie entwinden konnte. Spätestens für das 18. Jahrhundert ist in den Geowissenschaften dieser Begriff nachweisbar, auch im Sinn von ›Kreislauf‹ und ›Umlauf‹. Hier ist aber eine andere inhaltliche Dimension zu verzeichnen. ›Umlauf‹ war weniger räumlich angelegt, sondern vor allem zeitlich, im Sinn stets sich wiederholender Zyklen der qualitativen Erdveränderung.11 Beiden Disziplinen gemeinsam war aber die Verwendung für naturale Vorgänge, und zwar in einem regelhaften, gesetzmäßigen Sinn, und auch vor diesem Hintergrund sind die immer wieder kehrenden Ansätze, Revolutionsverläufe naturhaft zu deuten (so in der Romantik etwa bei Joseph von Görres und Franz von Baader), als Suche nach gesetzmäßigen Abläufen von Revolutionen zu verstehen. Diese Verwendung – im Sinn von räumlichem und zeitlichem Kreislaufgeschehen – korrespondiert mit dem Begriffsgebrauch innerhalb eines zweiten Stranges. In der römischen Antike wurde der Begriff gelegentlich benutzt, um die – teilweise auch rückkehrende – Wiederholbarkeit von Ereignissen kleiner oder größerer Reichweite zu charakterisieren, der Tendenz nach im Sinn von zeitlichem Kreislauf (u. a. Seelenwanderung). Diese Kreislaufmetaphorik hielt Einzug in die Geschichtsschreibung und in das, was man politische Theorie (oder gar Geschichtsphilosophie) nennen könnte. Hier, in Geschichtsschreibung und Geschichtstheorie, liegt der dritte Strang, der zum modernen politischen Revolutionsbegriff führte. Angelehnt an die antike und astronomische Begriffsherkunft, wurden soziale und politische Wandlungsprozesse seit dem 16. Jahrhundert als Revolutionen benannt. Damit wurde ihre zeitliche Regelhaftigkeit markiert, aber stets im Sinn eines Kreislaufes und einer reglementiert abfolgenden Wiederkehr. Bezeichnete der französische Humanist Louis Le Roy im Jahr 1575 den beständigen Kreislauf von Monarchie, Aristokratie und Demokratie – eine wirkmächtige Idee seit Polybios – als »la révolution naturelle des polices«,12 so stand er symptomatisch für dieses geschichtsphilosophisch-politische Kreislaufmodell. Für Rebellionen, Aufruhr, Umstürze, Bürgerkriege hingegen – für all das, was man heute mit dem Revolutionsbegriff bezeichnet –, fand der Begriff bis in die frühe Neuzeit hinein nicht Verwendung. Für solche sprunghaften Wandlungsprozesse standen eher die Begriffe ›reformatio‹ und ›Reformation‹ (die aber auch nicht selten mit dem rückwärtsgewandten Anspruch auf eine ›restitutio‹ oder ›restauratio‹, auf eine Wiederherstellung einst besserer Zustände, einhergingen).

11  Vgl.

Olaf Briese / Timo Günther: Katastrophe. Terminologische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In: Archiv für Begriffsgeschichte 51 (2009) 155–195, hier: 174, 180 f., 183. 12  Zit. nach: I. Rachum: »Revolution«, a. a.O. [Anm. 10] 58 f.

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Erst im 17. Jahrhundert ergaben sich Veränderungen. Der Begriff transformierte sich schrittweise zu einem unspezifischen und wertfreien politischen Veränderungsbegriff, und zwar meist im Plural, im Sinn von ›Unordnung‹ und ›Erschütterungen‹, die nicht gezielt hervorgebracht worden waren und hinzunehmen seien (die Anfänge dafür lagen in Italien, wo schon früh, Mitte des 14. Jahrhunderts, dieser Wortgebrauch aufgekommen war)13. Diese politische Bedeutung wuchs im 18. Jahrhundert allmählich, wurde sogar dominant; ein nicht unwichtiger Schritt auf dem Weg dahin waren die nordamerikanischen Unabhängigkeitskämpfe. Und eine weitere Bedeutungsveränderung ergab sich durch das aufklärerische Fortschrittsdenken. ›Geschichte‹ bekam eine Progressionsrichtung. Statt in Kreisläufen verlief sie, so die neue Fortschrittsannahme, pfeilförmig in die Zukunft gerichtet. So standen vor 1789 mindestens drei formale Revolutionsbegriffe nebeneinander, mitunter sogar in derselben Publikation: erwünschte Rückkehr, ewiger Kreislauf sowie Progression (wobei letztere Bedeutung eindeutig das Übergewicht gewonnen hatte). Und inhaltlich standen sich ebenfalls drei verschiedene Revolutionsbegriffe gegenüber bzw. korrespondierten miteinander: Revolution der Sitten und des Geistes, Revolution von Kultur und Zivilisation schlechthin sowie politische Revolution (diese letztere Bedeutung war bereits dominierend geworden). Mit dem Zündfunken der Französischen Revolution wurde dieser politische Gebrauch von ›Revolution‹ – trotz weiterhin zu beobachtender Nebentendenzen – dann geradezu monopolisiert. Und noch eine Veränderung ergab sich mit diesem Schlüsselereignis. Greift man eine Unterscheidung auf, die jüngst in einer semantischen Analyse des Wortgebrauchs ›représentation‹ vor und nach 1789 getroffen wurde – nämlich gepflegte Semantik und wilde, gärende und spontane Semantik14 – so kann man auch dem Wort ›Revolution‹ bestimmte Züge gepflegter Semantik nicht absprechen. Mit dem Schlüsseljahr 1789 bekam aber auch dieser Begriff Züge einer wilden Semantik. Revolution stand nunmehr für höchste Dynamik, und das, was der Begriff an Dynamik bezeichnete, demonstrierte sein dynamisch sich wandelnder Wortgebrauch selbst. Sein endgültig sich verstetigender neuer politischer Gehalt fiel geradezu idealtypisch mit den Ereignissen vom Juli 1789 zusammen. Der König: »C’est une révolte.« Der Großmeister der Garderobe: »Non, Sire, c’est une révolution.«15 In den Jahren darauf entfalteten sich dann politische Begriffsgehalte, die im 19. Jahrhundert dominant bleiben sollten. Fünf generelle Merkmale lassen sich hervorheben: Erstens stand ›Revolution‹ für sprunghafte politische Veränderungen; zweitens für Veränderungen im Sinn von Zukunft und Linearität; drittens für ein revolutionäres Subjekt namens Volk; viertens für von ihm ausgeübte physische Gewalt; fünftens für eine Gewalt auf Leben und Tod. Denn ›Revolution‹ 13  Vgl. K. Griewank, a. a.O. [Anm. 10]

102 ff.; I. Rachum, a. a.O. [Anm. 10] 38 ff. Vgl. Fred E. Schrader: Zur politischen Semantik der Revolution. Frankreich (1750–1850) (Wiesbaden 2011). 15  Zit. nach K. Griewank, a. a.O. [Anm. 10] 189. 14 

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in diesem Sinn bedeutete keinen Wechsel innerhalb einer Herrschaftselite, sondern Machtwechsel zwischen grundsätzlich verschiedenen sozialen Gruppen, Ständen und Klassen, die mit absoluten Freund-Feind-Schemata operierten. Ganz in diesem Sinn sprach Friedrich von Gentz im Jahr 1793 von einer »TotalRevolution«: »Entschluß, eine Total-Revolution zu stiften, der Entschluß, die Bande der bürgerlichen Gesellschaft zu zerreißen, eine durchaus neue Ordnung der Dinge zu schaffen, und zwischen diese und die alte Ordnung eine scheidende Kluft zu setzen.«16 ›Revolution‹ war ein Veränderungsbegriff mit Superlativcharakter. Die den Revolutionsvorgängen zugeschriebene Dynamik war so hoch, dass Revolution den Scheidepunkt zwischen Gesellschaft und Antigesellschaft, zwischen Kultur und Antikultur, zwischen Menschen und Barbaren bildete. Im Jahr 1848 postulierte Friedrich Julius Stahl, ein Konservativer der nächsten Generation, in ähnlichem Sinn: »Es ist das die absolute Revolution, es ist nicht bloß eine Umwälzung des bestehenden politischen oder socialen Zustandes, es ist die Umwälzung der höchsten sittlichen und politischen Begriffe selbst, es ist eine Umwälzung der ewigen Gesetze menschlicher Ordnung, es ist geradezu die Entsittlichung des gesellschaftlichen Verbandes.«17

III.  Und immer und wieder: Revolution des Geistes und der Moral Im Unterschied zu Frankreich war für deutsche Aufklärer der positiv belegte Begriff Moralität ausschlaggebend. Moral war das bürgerliche Indiz dafür, kulturell überlegen zu sein. Soziale und politische Missstände zu überwinden, bündelte sich letzthin im Anspruch auf Sittlichkeit. So entstanden Moralische Abhandlungen, Moralische Wochenschriften oder Gesittete Gesellschaften. Das Theater wurde von den Gott­schedianern bis hin zum Sturm und Drang vornehmlich als moralische Anstalt verstanden. So war es gar nicht verwunderlich, mit der politischen Radikalisierung nach 1789 in Deutschland revolutionäre Veränderungen vor allem deshalb einzufordern, um Moralität zu befördern. So erklärte Kant 1793, es bedürfe einer »Revolution in der Gesinnung im Menschen […]; und er kann ein neuer Mensch nur durch eine Art von Wiedergeburt gleich als durch eine neue Schöpfung (Ev. Joh. III, 5; verglichen mit 1. Mose I, 2) und Änderung des Herzens werden«.18 Zwei Jahre darauf erhob der jakobinische Kantianer Johann Benjamin Erhard Revolutionen zur einer rechtmäßigen moralischen 16  Friedrich

von Gentz: Über die Moralität und Legitimität politischer Totalrevolutionen [1793]. In: Kritik der Revolution. Theorien des deutschen Frühkonservatismus 1790–1810. Bd. 1: Dokumentation, hg. von Jörn Garber (Kronberg/Ts. 1976) 54. 17  Julius Stahl: Betrachtungen über die Revolution. In: ders.: Die Revolution und die constitutionelle Monarchie, eine Reihe ineinandergreifender Abhandlungen (Berlin 1848) 1–13, hier 2. 18  Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [1793]. Gesammelte Schriften, Akademie-Ausg., Bd. 6 (Berlin 1902 ff.) 47.

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Angelegenheit und warb für die »wünschenswürdigste aller Revolutionen«, die darin bestehen werde, »daß Gerechtigkeit und Liebe und nicht Eigennutz und Hoffart die Quelle und der Zweck der bürgerlichen Verfassung sind«.19 Im Jahr 1797 sah der als Jakobiner verdächtigte Georg Friedrich Rebmann den Zweck der Revolution ausschließlich in der »Ausbreitung der Herrschaft der Moralität« und der »Unterdrückung der Immoralität«.20 Das heißt: Trotz der schlagartig gewachsenen politischen Wortbedeutung konnte der Begriff Revolution für umfassende Konzepte stehen, in denen Politik nur ein Teilbereich unter anderen war. Das knüpfte an den aufklärerischen Gebrauch an. Viele Kulturphänomene waren einst, verstärkt seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und vor allem in Frankreich, unter das Vorzeichen von Revolution gestellt worden, also unter das progressiver Wandlung. Voltaire sprach wiederholt von einer Revolution der Geister, Condillac von einer Revolution der Wissenschaft, Marmontel von Revolutionen in den Künsten, Raynal von denen des Handels.21 Alles konnte Revolution sein, und Mercier stilisierte Revolution emphatisch zum Kollektivsingular: »Tout est révolution dans ce monde.«22 Hier liegt der begriffliche Vorlauf für das, was Fichte – der kein Jakobiner war – auf dem Gebiet der Moral erstrebte. Im Anschluss an Kant zielte er, wie auch Erhard, auf eine umfassende Revolution in der Moral, in den Sitten, und er hoffte, auf seine Weise utopisch, auf einen neuen Menschen. Das ist verständlich vor dem religiösen Ringen, das sich in seinen Frühschriften spiegelt, und das durch die Entdeckung der Transzendentalphilosophie Kants in konkretere Vorstellungen mündete. Kants Critik der practischen Vernunft war, auch was Fichtes politische Vorstellungen betraf, ein wesentliches Fundament. Für ihn standen Moralität und Sittlichkeit im Zentrum gelingender Sozialverwirklichung, die sich zu einer universellen Kulturverwirklichung weitete. Kants Lehre vom Menschen als Selbstzweck wurde, verbunden mit einem emphatischen Freiheitsideal, in eine Kulturtheorie überführt, deren Endzweck die vollkommene Verwirklichung des Sittengesetzes sei. In der zentralen Feststellung Fichtes aus seiner zweiten Revolutionsschrift Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution (1793), dass Revolutionen politisch »an sich viel« bedeuten, aber nur den Boden für »das ungleich Wichtigere« von »Menschenrecht und Menschenwerth«, von »Pflichten, Rechten und Aussichten des Menschen 19  Johann Benjamin Erhard: Über das Recht des Volks zu einer Revolution [1795]. In: ders.: Über das Recht des Volks zu einer Revolution und andere Schriften, hg. von Hellmut G. Haasis (München 1970) 98. 20  Georg F. Rebmann: Die Laterne. Zweite Nummer [1797]. In: ders.: Ideen über Revolutionen in Deutschland, hg. v. Werner Greiling (Leipzig 1988) 166. 21  Vgl. K. Griewank: Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, a. a.O. [Anm. 10] 161ff.; Helmut Reinalter: Der Revolutionsbegriff in der französischen Aufklärung. In: ders. (Hg.): Revolution und Gesellschaft. Zur Entwicklung des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs (Innsbruck 1980) 53–66, hier 61 f. 22  Louis-Sébastien Mercier: L’an deux mille quatre cent quarante. Rêve s’il en fût jamais (Londres 1771) 300.

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über das Grab« bereiten würden,23 verdichtet sich diese Tendenz. Revolution war letztlich die Chiffre für eine universelle kulturelle Umwandlung.

IV.  Ein Schreck mehr: Die Entdeckung der sozialen Revolution Innerhalb weniger Wochen musste der empfindliche politische Seismo­graph Friedrich von Gentz seine strategische Hauptprognose gravierend korrigieren. Ende September 1831 sah er in einer Denkschrift noch den Antagonismus von Volkssouveränität und monarchischem Prinzip, von Bürgertum und Adel, als Grundgegensatz der Epoche an.24 Kurz darauf, im Januar 1832, umriss er in einer weiteren geplanten Denkschrift jedoch eine grundlegend veränderte Situation: »Nein! Wenn wir uns heute irgendeiner Besorgniß Preis geben wollten, so wäre es weit weniger der eines politischen, als eines gesellschaftlichen Krieges. Die Möglichkeit eines Aufstandes der unteren Volksclassen gegen die höheren, der Armen gegen die Reichen, das ist die Gefahr die über uns schwebt, für welche der moralische und materielle Zustand der Gesellschaft in fast allen Ländern den Keim in sich trägt, und wovon wir schon einige erschreckende Beispiele erlebt haben.«25 Woher die plötzliche Angst vor den unteren Volksklassen? Das arbeitende Volk, die Proletairs, hatten mit Macht die geschichtliche Bühne betreten. War noch die französische Juli-Revolution diejenige, in der nach Gentz’ Worten Volkssouveränität und monarchisches Prinzip miteinander rangen, war durch den Lyoner Seidenweberaufstand von November 1831 ein neues politisches Kampffeld eröffnet: das zwischen Armen und Reichen, Nichtbesitzenden und Besitzenden. Schon zwei Jahre zuvor, 1830, hatte ein weiterer weitsichtiger Konservativer – Joseph Maria von Radowitz – immerhin noch im Konjunktiv erklärt: »Der politische Theil der Revolution ist es, bei dem die Mittelstände allein interessirt sind, der sociale würde sich ganz gegen sie kehren.«26 Dieser Fall war jetzt eingetreten. Nicht nur kämpfte das Bürgertum gegen den privilegierten Adel, es sah sich seinerseits herausgefordert von einer nächsten aufstrebenden Macht. Diese erstrebte nicht lediglich eine politische Revolution, sondern eine umfassende soziale (der Terminus »la révolution sociale«,27 das sei angemerkt,

23  Johann

Gottlieb Fichte: Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution [1793]. Gesamtausgabe, hg. von Reinhard Lauth, Hans Jacob, Bd. I.1 (Stuttgart-Bad Cannstatt 1964) 204. 24  Vgl. Friedrich von Gentz: Betrachtungen über die politische Lage in Europa [September 1831]. Schriften. Ein Denkmal. Bd. 5, hg. v. Gustav Schlesier (Mannheim 1840) 196–206. 25  F. von Gentz: [Über die Gefahr einer Revolution, Januar 1832]. Aus dem Nachlasse, Bd. 1 (Wien 1867) 265. 26  Joseph Maria v. Radowitz: Das juste Milieu [1830]. Gesammelte Schriften, Bd. 4 (Berlin 1853) 33. 27  Vgl.: R. Koselleck u. a.: Revolution, a. a.O. [Anm. 5] 738.

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tauchte wohl erstmals, aber noch in einem unspezifischen Sinn, in einem Buchtitel im Jahr 1794 auf). Gesellenstreiks hatte es schon seit Jahrhunderten gegeben, Maschinenstürmereien waren mit zunehmender Industrialisierung hinzugekommen. Aber in Lyon waren zwei soziale Gruppen gewaltsam aufeinandergeprallt, deren Ansprüche vorerst nicht vermittelbar schienen. Der Tarifkampf von Arbeitern bzw. arbeitenden Kleineigentümern ging in einen mehrtägigen bewaffneten Aufstand mit Barrikadenbau über. Durch Teile der Nationalgarden, die sich mit den Aufständischen verbrüderten, gelangten Kanonen in die Hände der Insurgenten. Sie gingen zur Offensive über, brachten die Stadt für Tage in ihre Hände und mussten sich erst der Übermacht einer ganzen Armee ergeben. Wie Gentz befürchtete, war diese soziale Massenerhebung nur ein erstes Vorspiel von Auseinandersetzungen, die die Zukunft entscheidend prägen würden, und er empfahl ein Bündnis von alter staatlicher Macht und neuer Bourgeoisie. Andere, dezidiert christliche Konservative reagierten auf ganz andere Weise, so Franz von Baader. In Auseinandersetzung mit den revolutionären Paroles d’un croyant (1834) des französischen Priesters Félicité Robert de Lamennais – das konservative »Berliner politische Wochenblatt« vermerkte entsetzt über den französischen Autor, er wolle »die Grundlehren der Revolution als wesentlich christlich« herausstellen28 – bemühte sich Baader, die soziale Frage in einem Sinn, der heute katholische Soziallehre genannt wird, zu lösen. Lamennais hatte utopisch für einen Umsturz der Gesellschaft mit dem Ziel einer Wiederherstellung urchristlicher Gleichheit plädiert. Baader hingegen vermerkte 1834 in seiner Schrift Über den Evolutionismus und Revolutionismus kritisch, dass selbsternannte Revolutionäre »das eingetretene Bedürfnis einer Sozialreform mit dem Bedürfnis einer politischen Reform«29 vermengen würden. Erstere Reform sei nötig, letztere verwerflich. Baaders nächste betreffende Schrift wurde 1835 in dieser Hinsicht konkreter: Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen. Baaders Ziel war die Umgestaltung der Gesellschaft auf naturhaft-evolutionärer (statt revolutionärer) Basis. Deshalb müssten die sich bedrohlich zuspitzenden sozialen Konflikte – aufgrund der Entstehung eines Proletarierstandes und der damit quantitativ wie qualitativ wachsender Armut – entschärft werden. Weil der »Revolutionismus« sich »gewissermaßen von seinem früheren politischen Boden auf den sozialen im engeren Sinne«30 verlagert habe, also die Proletarier ergreifen würde, müssten soziale und politische Reformen, im Sinne einer gesunden Evolution der Ge28 Berliner

politisches Wochenblatt: Rez. zu Lamennais: »Paroles d’un croyant«. de Lamennais: Worte eines Gläubigen vollständig übersetzt und mit critischen Materialien begleitet (Hamburg 1834) 105–109, hier: 105. 29  Franz von Baader: Über den Evolutionismus und Revolutionismus [1834]. Schriften zur Sozialphilosophie, hg. von Johannes Sauter (Jena 1925) 281 f. 30  Ders.: Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen [1835], ebd. 323.

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sellschaft, eingeleitet werden. Um 1830 hatte der Begriff Revolution also deutliche sozialtheoretische Konturen gewonnen. Es hatte sich ein Bewegungsbegriff etabliert, der eine Feldverlagerung ins Soziale anzeigte. Bei Marx, um einen weiteren Dimensionswechsel zu erwähnen, erhielt der Begriff ›soziale Revolution‹ dann rund dreißig Jahre später einen umfassenden geschichtsphilosophischen Sinn. Nicht mehr soziales Elend und nicht mehr kurzzeitige materielle und soziale Interessen führen zu sozialen Revolutionen, sondern die Geschichte selbst erweist sich von ihrer sozio-ökonomischen Struktur her als umfassender und beständiger Prozess sozialer Revolution bzw. sozialer Revolutionen im Plural. Die Gesellschaft folgt – wie die Natur – ehernen Gesetzen, sie schließt Revolutionen mit Notwendigkeit ein. Geradezu deterministisch finden sie statt; aufgrund der gegebenen notwendigen Verhältnisse erweist sich das Verhalten menschlicher Akteure nur als Vollstreckung von geschichtlicher Gesetzmäßigkeit. Nicht revolutionäre Subjekte revolutionieren, sondern sachlich-gegenständliche materielle Produktivkräfte: »In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis […]. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen […]. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.«31

V.  Marx und das permanente Warten auf Revolution ›Revolution‹ war und ist ein einflussreicher wissenschaftlicher Beschreibungsund Erklärungsbegriff. Darüber hinaus war der Topos im Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts immer auch ein Bemächtigungs- und Ermächtigungsbegriff. Einerseits bemächtigten sich Akteure mittels dieses Kampfbegriffs der politischen Macht eines Widersachers und politischen Gegners; das ist der extern-politische Aspekt. Andererseits aber ermächtigen sie sich mittels dieses Begriffs auch eines potentiell revolutionären Subjekts – sie reagierten auf dessen latente Entstehung, formten, motivierten und stimulierten es, modellierten und konstruieren es. Das ist der intern-politische, binnenpolitische Aspekt. Die Rede von Revolution schloss immer (oder fast immer) auch den Bezug auf ein solches vermeintlich revolutionäres Subjekt ein. Was hatte es mit diesem auf sich? Marx, der Prognostiker der proletarischen Revolution, ist ein denkwürdiges Beispiel für die deduktive Entdeckung eines revolutionären Subjekts – des Proletariats. Er entdeckte es gänzlich anders als sein Freund Engels, nämlich von 31 

Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Oekonomie [1859]. MEW Bd. 13, 8 f.

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einem ausschließlich theoretisch-philosophischen Defizithorizont her. Der Industrielle Engels – der nie einen Hochschulabschluss erwarb – wurde durch seinen England-Aufenthalt auf die soziale Frage, auf die soziale Not und die neue Armut von Proletariern aufmerksam und entwickelte sich vor diesem Hintergrund, beeinflusst von utopischen Sozialisten Englands, Frankreichs und Deutschlands, zum Sozialisten. Marx hingegen arbeitete sich durch die Theorievorlagen Hegels und der Junghegelianer hindurch, um einen schlüssigen Systempunkt zu finden, von dem aus eine harmonische gesellschaftliche Gestaltung, abgeschlossen wie unabgeschlossen, zu finden wäre. Vor diesem Hintergrund entdeckte er das Proletariat rein theoretisch, und er entdeckte es auf eine Weise, die aus der Rückschau als höchst bemerkenswert anzusehen ist. In einer denkwürdigen Verquickung von theorieimmanenten Ziel-, Erfüllungs- und Ganzheitsansprüchen mit dem unter dem Einfluss von Zeitdiskussionen gewachsenen Bewusstsein über bestimmte revolutionäre Potentiale des Proletariats entstand eine umfassende Geschichtsphilosophie, die alsbald und nachfolgend politisch konturiert sowie nochmals später sozio-ökonomisch begründet wurde. Dieses Proletariat wurde von Marx, bestimmten damaligen philanthropischen Debatten folgend, als verarmt, als leidend begriffen. Die revolutionäre Potenz dieser Schicht ergab sich nicht aus seiner Positivrolle, sondern seiner Negativrolle. Hier zusammengefasst der Argumentationsgang Marx’ aus seinem Entwurf: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (1844): »Einer radikalen deutschen Revolution scheint indessen eine Hauptschwierigkeit entgegenzustehn. Die Revolutionen bedürfen nämlich eines passiven Elementes, einer materiellen Grundlage. Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist. […] Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen.«32 Für diese angezielte praktische Verwirklichung von Theorie (die die bisherigen Theorien als solche selbst umkehrt), für dieses Ziel, dass der Gedanke zur Wirklichkeit wird, weil die Wirklichkeit selbst zum Gedanken drängt, bedarf es einer radikal entrechteten, radikal asozialen und passiven Trägerschicht, des Proletariats. Die Umstülpung der Gesellschaft kann nur von einer Schicht oder Gruppierung aus erfolgen, die selbst nicht ihr Teil ist, die aber – um hier ein Hegelsches Diktum anzuführen – für den Weltgeist die Kastanien aus den Feuer reißt: »Damit die Revolution eines Volkes und die Emanzipation einer besondern Klasse der bürgerlichen Gesellschaft zusammenfallen, damit ein Stand für den Stand der ganzen Gesellschaft gelte, dazu müssen umgekehrt alle Mängel der Gesellschaft in einer andern Klasse konzentriert, dazu muß ein bestimmter Stand der Stand des allgemeinen Anstoßes, die Inkorporation der allgemeinen Schranke sein […]. Wo also die positive Möglichkeit der Deutschen Emanzipation? Antwort: In der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft 32 

Ders.: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW Bd. 1, 386.

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ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt […], welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.«33 Damit schien sich für das theoretische Problem, mit dem Marx rang, ein Ergebnis abzuzeichnen. Dieses Problem – nämlich wie sich eine universelle gesellschaftliche Umgestaltung tatsächlich ereignet und nicht nur, wie bei seinen idealistischen Vorgängern, lediglich in schönen geschlossenen Entwürfen auf dem Papier – löst sich insofern, als gerade die Parias der Gesellschaft, auf denen sich universelles Leiden konzentriert, ihre umstürzenden Erlöser sind: »Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehn. […] Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.«34 Das Wort ›Kommunismus‹ fiel in dieser Schrift noch an keiner Stelle. Die politische Entdeckung des Kommunismus und die noch später erfolgende sozio-ökonomische Fundierung der Revolutionstheorie durch eine auf Produktivkräften und Produktionsverhältnissen basierende Formationstheorie standen zu dieser Zeit noch aus. Aber das Proletariat als »passives Element«, als bloßes Verwirklichungsmedium hochgespannter philosophischer Ansprüche, war entdeckt. Das Proletariat war das Revolutionssubjekt. Es füllte eine Systemlücke, eine entscheidende Theorielücke, die die idealistisch-hegelianischen und junghegelianischen Vorgänger, von denen Marx sich nunmehr polemisch distanzierte, nicht hatten schließen können. Es war die Theorielücke, Theorie endlich und geradezu heilsgeschichtlich »praktisch« werden zu lassen. Von diesem Anspruch ließ der Theoretiker Marx nicht mehr. Nur rückte das vereinheitlichende Konstrukt Proletariat in immer neue Deutungsraster, um diesen Revolutionsanspruch zu untermauern. Anfangs diente es dazu – als in geradezu naiver Offenheit proklamierte philanthropische Instanz –, eine Systemlücke zu füllen. Kurz darauf rückte es in den politischen Kontext kommunistischer revolutionärer Ideen, und alsbald war es der Statthalter sozio-ökonomischer Verhältnisse, die ohnehin in gesetzmäßiger Weise zu Revolutionen führen müssten. Diese mindestens drei Phasen durchlief das Marxsche Revolutionsverständnis bis 1848 nacheinander – theoretisch-heilsgeschichtlich, politisch-aktivistisch, ökonomisch-ökonomistisch –, wobei Elemente der ersteren in den folgenden Phasen erhalten blieben. Mit den Revolutionen des Jahrs 1848 wurde dieses Verständnis sichtlich erschüttert. 33  34 

Ebd. 388, 390. Ebd. 391.

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Warum scheiterten alle minimalen Ansätze zu einer kommunistischen bzw. proletarischen Revolution? Die Antwort auf diese Frage wurde gegeben mit wiederholten Theorien der Nichtrevolution. Revolutionstheorien standen fortan nur sekundär im Zentrum der Marxschen Argumentation. Im Grunde konzentrierte er sich nach 1848 vor allem darauf, in wechselnden Anläufen das Ausbleiben von Revolutionen zu erklären. In strukturell-apokalyptischer Manier wurde dieses Ausbleiben zum Movens des wahren Kommens von Revolution stilisiert. Gerade das Ausbleiben von Revolution und der Sieg des Gegners stimuliere sie. Die sich zuspitzende Krise müsse sich in wirklicher Revolution und um so machtvoller entladen. Hier die Argumentation aus Die Klassenkämpfe in Frankreich von 1848 bis 1850 (1850): »Was in diesen Niederlagen erlag, war nicht die Revolution. […] Mit einem Worte: Nicht in seinen unmittelbaren tragikomischen Errungenschaften brach sich der revolutionäre Fortschritt Bahn, sondern umgekehrt in der Erzeugung einer geschlossenen, mächtigen Kontrerevolution, in der Erzeugung eines Gegners, durch dessen Bekämpfung erst die Umsturzpartei zu einer wirklich revolutionären Partei heranreifte. […] Erst durch die Juniniederlage also wurden alle Bedingungen geschaffen, innerhalb deren Frankreich die Initiative der europäischen Revolutionen ergreifen kann.«35 Eine detailliertere Analyse der Schriften der frühen fünfziger Jahre, als sie hier gegeben werden kann, stößt auf eine kumulative Engführung. ›Revolution‹ wird zu einem Akt der Einmaligkeit, summativ und reduktiv wird auf die eine, grundsätzliche Revolution hingezielt und Geschichte auf einen springenden Punkt hin fokussiert. Die antizipierte geschichtliche Entwicklung bleibt mittels Komplexitätsreduktion und Kontingenzreduktion gewahrt; hinter einer Vielzahl geschichtlicher Ereignisse und Niederlagen mit ihrer Zufälligkeit und Planlosigkeit steht ein geschichtlicher Plan, eine sich verdichtende Geschichte im Singular. Die Formel »Permanenzerklärung der Revolution«,36 die in dieser genannten Schrift und in ähnlicher Weise bei Marx auch in anderen Schriften nach dem Scheitern der 48er Revolution fiel, multiplizierte diese Singularität dann lediglich quantitativ. Aber letztlich blieb nicht die Revolution permanent, sondern das Warten auf sie. Im Zuge dieser summativen Engführung konnte die erwartete Revolution Züge annehmen, die einer fetischisierenden Ontologisierung, selbst Personifizierung nicht entrieten. Vor allem in der Phase der frühen fünfziger Jahre, als sich alle keimhaften Versuche einer proletarischen Revolution als gescheitert erwiesen hatten (und die Marxschen praktischen und theoretischen Einfluss35 

K. Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 [1850]. MEW Bd. 7, 11, 34. 89. Zum Thema »permanente Revolution« vgl.: Permanente Revolution von Marx bis Marcuse, hg. v. Leonhard Reinisch (München 1969); Dieter Kramer: Reform und Revolution bei Marx und Engels (Köln 1971) 89 ff.; Hartmut Mehringer: Permanente Revolution und Russische Revolution. Die Entwicklung der Theorie der permanenten Revolution im Rahmen der marxistischen Revolutionskonzeption 1848 – 1907 (Frankfurt a. M., Bern, Las Vegas 1978). 36  Ebd.

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möglichkeiten auch in Exilkreisen rapide schrumpften), zeigte sich diese Tendenz: »Aber die Revolution ist gründlich. Sie ist noch auf der Reise durch das Fegefeuer begriffen. Sie vollbringt ihr Geschäft mit Methode. […] Und wenn sie diese zweite Hälfte ihrer Vorarbeit vollbracht hat, wird Europa von seinem Sitze aufspringen und jubeln: Brav gewühlt, alter Maulwurf!« Angesichts des Fehlens eines revolutionären Subjekts Proletariat wird die Revolution – in explizite Einbettung in mythologische Horizonte – selbst zum Subjekt. Rein sprachlich erfolgt eine selbstreferentielle Evidenzakkumulation: »Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht […].«37 Man hat den Eindruck einer ewigen Verschiebung, eines ewigen Versprechens. Dieses Versprechen korrespondierte nur bedingt mit den sozialen Wirklichkeiten, nämlich mit der gewerkschaftlichen oder sozialdemokratisch-reformerischen Orientierung von Arbeiterbewegungen. Intellektuelles Ideal und weltanschaulicher Wunsch kollidierten immer wieder mit empirischen Wirklichkeiten, und immer wieder folgte der Vorwurf an arbeitende Massen und an deren Interessenvertreter, nur unmittelbaren Interessen zu folgen, sich reformerisch zu verhalten, statt revolutionär. Verbunden war das bei Marx mit der wiederkehrenden Hoffnung auf sich zuspitzende gesellschaftliche Krisen in ganz verschiedenen europäischen Staaten und auf damit kommende neue revolutionäre Situationen (vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben marxistische Nachfolger dann nach alternativen revolutionären Subjekten außerhalb des Proletariats gesucht). Untersucht man – um hier zu einem gewissen Fazit zu gelangen – das, was meist viel zu vereinfachend Marxsche Revolutionstheorie genannt wird, dann fällt auf, das es sich nach den Ereignissen von 1848 vornehmlich um »Revolutionsverhinderungstheorien« handelt, also um theoretische Analysen des Scheiterns von Revolutionen. Nicht Revolutionen werden begründet, sondern ihr sich wiederholendes Scheitern erklärt. Revolutionen tragen gesetzmäßigen Charakter, die proletarische Revolution sei eine geschichtliche Notwendigkeit. Ihr jeweiliges Ausbleiben bzw. ihr Scheitern – und gerade darauf konzentrieren sich Marx’ Schriften über die Revolutionen 1848 in Europa, über die Klassenkämpfe in Frankreich und England sowie über die Pariser Kommune ausführlich – sei raffinierten Verschwörungstaktiken politischer Widersacher geschuldet.

37 

K. Marx: Der 18te Brumaire des Louis Napoleon [1852]. MEW Bd. 8, 196, 118.

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Olaf Briese

VI.  Revolution als Schauspiel Ereignisse werden zu Ereignissen durch Wahrnehmung und Kommunikation. Revolutionen führen zu ganz unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Kommunikationsweisen. Unabhängig von einer positiven oder negativen Positionierung kann es – trotz differierender inhaltlicher Bewertungen – einen Set von Wahrnehmungen geben, der formal identisch ist. Wie u. a. romantische Revolutionsdiskurse zeigen, können Revolutionen von Medizinern vornehmlich im Rahmen medizinischer Aneignungseisen als Krankheiten oder als Genesung von Krankheiten gedeutet werden, Naturwissenschaftler hingegen deuten Revolutionen nicht selten in naturhaften bzw. naturwissenschaftlichen Termini. Schauspielund Theatermetaphern für die Bezeichnung von Revolutionen finden sich allerdings in fast allen Diskursgruppen. Sie waren bei Historikern ebenso verbreitet wie bei Philosophen, bei Publizisten wie bei Schriftstellern. Und vor allem – sie spielten im Diskurs von Revolutionären der französischen Revolution auch eine wichtige Rolle. Angesichts der kulturellen Leitfunktion, die damals dem Theater zukam, aber auch angesichts der langen, seit der Antike verbreiteten Deutung von Sozialereignissen in Theatermetaphern, kann dieser Rückgriff nicht überraschen. Er stützt sich auf ein anschauliches metaphorisches bzw. begriffliches Arsenal, übersetzt Unbekanntes in Bekanntes, vergleicht die Wendungen des realen Lebens mit denen auf der Bühne, kann Kompliziertes vereinfachen und kann gewalttätige Vorgänge ästhetisierend verklären. Dennoch hat der Rückgriff auf Theatermetaphern bei Camille Desmoulins (»magnifique spectacle«), oder bei Maximilien Robespierre (»le drame sublime de la révolution«38) – auch wenn er rhetorisch emphatische Zustimmung produziert – nicht nur eine positiv-ästhetisierende und kommunikative Funktion, sondern auch eine kognitive. Eine gewisse Regelhaftigkeit scheint den Ereignissen – wie dem Drama innerhalb der klassizistischen Regelpoetik – inne zu wohnen, und heroisch handeln die Revolutionäre allemal. In diesem ebenso emotionalen wie kognitiven Sinn verwandte auch Kant den Schauspielbegriff: »[D]iese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemüthern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Theilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt.«39 Ästhetisierend (Spiel, Zuschauer) und emotional (Gemüt, Wunsch, Enthusiasmus) ist Kants Rhetorik angelegt, und auch kognitiv wird die Theatermetapher eingesetzt. Es ist von einem Schauspiel die Rede, nicht von einer Tragödie oder Komödie. Der Verlauf des geschichtlichen Stücks scheint offen, noch sind nicht alle Akte gegeben. In ähnlichem Sinn sprach Fichte in einer seiner Revolutionsschriften von

38 

Beides zit. nach Ch. Leiteritz: Revolution als Schauspiel, a. a.O. [Anm. 3] 25 f. Kant: Der Streit der Fakultäten [1794]. Gesammelte Schriften, AkademieAusg. a. a.O. [Anm. 18] Bd. 7, 85. 39 Immanuel

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einem »schrecklichen Schauspiele«, aber auch einem »Schauspiel«.40 Letztlich hatte die Rede von einem Schauspiel bei beiden noch einen weiteren Sinn: Kant und Fichte sahen sich in Deutschland als Interpreten von Ereignissen, die sich andernorts abspielten. Sie und ihre Zeitgenossen in Deutschland wären nicht unmittelbar Betroffene, sie hätten die privilegierte Position der Zuschauer. In gänzlich anderem Sinn, nämlich distanzierend, konnte die Theatermetapher bei Marx, bezogen auf die Revolutionen des Jahrs 1848, angewandt werden. Mit den bürgerlichen Revolutionen, die er als unzeitgemäß ansah, wurden auch die eingebürgerten Theatermetaphern kritisch gewendet: »Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.«41

VII.  Nachsatz: Vom Ende der Geschichte Die in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts gehegten Erwartungen eines ›Endes der Geschichte‹ (Fukuyama) – Ende im Sinn des Endes sprunghafter und neuer Entwicklungen – haben sich nicht erfüllt. Den »friedlichen« und »samtenen« Revolutionen folgte inzwischen der »arabische Frühling«, und andere Rebellionen und Revolutionen werden beständig folgen. Immer wird von relevanten sozialen Gruppen, wenn sie kulturell nicht ›anerkannt‹ werden, wenn sie nicht ihre symbolischen und ökonomischen Qualitäten (Bourdieu) entfalten können, Revolutionspotentiale ausgehen, und das zeigt sich immer wieder in gewaltsamem Aufbegehren, in spontanem Ausbruch von Gewalt, in gewolltem und teilweise auch ziellosem Widerstand. Revolutionen sind Revolten – Revolten, die von politischen und intellektuellen Eliten stimuliert und instrumentalisiert werden. Aus dieser Perspektive trägt die Begriffsgeschichte von Revolution nur bedingt zur Analyse von Revolutionsvorgängen bei, aber sie trägt sehr viel bei zur Mentalitätengeschichte von Intellektuellen. Denn die Begriffsgenese von Revolution ist mit der Sozialgenese und kulturellen Genese von Intellektuellen untrennbar verbunden. Sie versuchen, zu antizipieren und zu prognostizieren, was nicht antizipierbar und prognostizierbar ist, sie versuchen planmäßig zu lenken, was nicht lenkbar ist, sie erklären nachträglich, was nicht erklärbar ist. Revolutionsdiskurse sind nichts anderes als sich selbst verkennende Diskurse über Revolten. Hat also der Begriff ›Revolution‹ den der Revolte gefressen? Dazu zwei Bestandsaufnahmen: Revolutionsdebatten kommen und gehen. Revolten waren und sind immer schon da.

40  Johann

Gottlieb Fichte: Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten. Eine Rede [1793]. Gesamtausgabe, a. a.O. [Anm. 23] 170. 41  K. Marx: Der 18te Brumaire, a.a.0. [Anm. 37] 115.



Ralf Becker

Unbewusstes

I. Vorbemerkung Kollektive Dynamisierung, substantialisierende Dissoziierung, apparative Instanziierung – in diesem Dreischritt kann man die Entwicklung, die der Begriff des Unbewussten im 19. Jahrhundert vollzogen hat, beschreiben. Am Anfang kennzeichnet ›unbewusst‹ noch eine bestimmte Klasse von Vorstellungen, die schon bald als Klasse zu einer eigenständig wirksamen Kraft dynamisiert wird. Dies schlägt sich auch in der Wortgeschichte nieder. Während das Adjektiv bereits im 18. Jahrhundert mit steigender Häufigkeit Verwendung findet, hält das Substantiv ›Unbewusstes‹ erst im 19. Jahrhundert (und dort verstärkt ab ca. 1830) Einzug in den Sprachgebrauch. Die Aufklärung (z. B. Sulzer und Herder, aber auch Kant) kennt zwar bereits dunkle Vorstellungen, Gefühle und Triebe – sie fasst sie allerdings noch nicht zu einem eigenen ›Unbewussten‹ zusammen, wie es für die Philosophie erstmals Schelling definiert (III). Eine mit Newtons physikalischer Dynamik vergleichbare psychologische Mathematisierung des Unbewussten erfolgt schließlich 1860 durch Gustav Theodor Fechner (V). Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts findet eine Abspaltung des substantivierten, aber erst jetzt substantialisierten Unbewussten vom Bewusstsein statt (VI), bevor es im letzten Drittel zu einer regierenden Instanz in Freuds ›psychischem Apparat‹ wird. Terminus a quo der folgenden begriffsgeschichtlichen Skizze ist Kants Anthropologie von 1798 (II), terminus ad quem Freuds Traumdeutung von 1900 (VII). Dazwischen liegt der Umbruch (IV) des klassisch-neuzeitlichen in das moderne Denken über das ›Unbewusste‹.1

1 Weiterführende Darstellungen zum ›Unbewussten‹ im Denken des 19. Jahrhunderts finden sich bei: Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten, übers. von Gudrun Theusner-Stampa (Bern/Stuttgart/Wien 1973); Odo Marquard: Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse (Köln 1987); Alfred Schöpf: Die Wissensform des Unbewußten im 19. Jahrhundert. In: Agora. Zu Ehren von Rudolph Berlinger. Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 13 (1987) 255–271; Tiefenphilosophie. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud, hg. von Ludger Lütkehaus (Hamburg 1995); Günter Gödde: Traditionslinien des »Unbewußten«. Schopenhauer, Nietzsche, Freud (Tübingen 1999); Das Unbewusste – Ein Projekt in drei Bänden, hg. von Michael B. Buchholz u. Günter Gödde. Bd. 1: Macht und Dynamik des Unbewussten. Auseinandersetzungen in Philosophie, Medizin und Psychoanalyse (Gießen 2005).

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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II.  Das Feld dunkler Vorstellungen »Vorstellungen zu haben und sich ihrer doch nicht bewußt zu sein, darin scheint ein Widerspruch zu liegen; denn wie können wir wissen, daß wir sie haben, wenn wir uns ihrer nicht bewußt sind?«2 In dieser Frage pointiert Kant ein erkenntnistheoretisches Problem, das die neuzeitliche Philosophie seit Einführung des Bewusstseinsbegriffs durch Descartes beschäftigt. Gegen Locke, der die Existenz latenter Vorstellungen verwirft – »Ideen haben und wahrnehmen ist ein und dasselbe«3 –, bekennt sich Kant zu Leibniz’ Konzept so genannter petites perceptions, dunkler Vorstellungen, die selbst zwar vorbewusst sind, vom Bewusstsein her aber mittelbar erschlossen werden können: »Allein wir können uns doch mittelbar bewußt sein eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich unmittelbar uns ihrer nicht bewußt sind. – Dergleichen Vorstellungen heißen dann dunkele; die übrigen sind klar und, wenn ihre Klarheit sich auch auf die Theilvorstellungen eines Ganzen derselben und ihre Verbindung erstreckt, deutliche Vorstellungen, es sei des Denkens oder der Anschauung. […] Daß das Feld unserer Sinnenanschauungen und Empfindungen, deren wir uns nicht bewußt sind, ob wir gleich unbezweifelt schließen können, daß wir sie haben, d. i. dunkeler Vorstellungen im Menschen (und so auch in Thieren), unermeßlich sei, die klaren dagegen nur unendlich wenige Punkte derselben enthalten, die dem Bewußtsein offen liegen; daß gleichsam auf der großen Karte unseres Gemüths nur wenig Stellen illuminirt sind: kann uns Bewunderung über unser eigenes Wesen einflößen; denn eine höhere Macht dürfte nur rufen: es werde Licht!, so würde auch ohne Zuthun des Mindesten […] gleichsam eine halbe Welt ihm vor Augen liegen.«4 Als Gegenstandsbereich gehört das Feld dunkler Vorstellungen, insofern diese bloß sinnliche Empfindungen und rein passiv sind, zur physiologischen Anthropologie, die den Menschen als Naturwesen erforscht. Anhand der Beispiele, die Kant angibt, wird die Nähe zu Leibnizens petites perceptions deutlich. So wie Leibniz unterstellt, dass wir in der Zusammensetzung der ganzen Wahrnehmung (z. B. Meeresrauschen) alle Teilsensationen (z. B. einzelne Wellenbrecher), wenngleich nicht bewusst, empfinden müssen, so nimmt auch Kant an, dass wir in den Vergrößerungen, die wir mit Hilfe eines Mikroskops oder eines Teleskops herstellen, bloß aus den dunklen Vorstellungen des Winzigen oder des weit Entfernten, das auch im unbewehrten Auge Netzhautbilder hinterlässt, klare Vorstellungen machen. Etwas anders gelagert ist das Beispiel des Organisten, der eine freie Improvisation spielt und sich währenddessen mit einem Nebenstehenden unterhält. Dass er eine Harmonie spielt und keine Missklänge erzeugt, beweist für Kant, dass der Orgelspieler gleichsam unter den klaren Vorstellungen, mit denen er das Gespräch führt, dunkle Vorstel2  Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. VII (Berlin 1907) 135. 3  John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Bd. I (Hamburg 52000), 112. 4  I. Kant: Anthropologie, a. a.O. [Anm. 2] 135.

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lungen von der musikalischen Phantasie besitzt. Schließlich eröffnet der Schlaf, der Kant zufolge niemals traumlos ist,5 im unwillkürlichen Spiel der reproduktiven Einbildungskraft ein weiteres Feld dunkler Vorstellungen. Anders als gut hundert Jahre später bei Freud sind hier die unbewussten Vorstellungen lediglich dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht von Bewusstsein begleitet sind. Ihnen fehlt sowohl die eigene Wirksamkeit als auch eine Verdrängungsgeschichte. Im Traum geben wir uns nach Kant dem logischen Eigensinn, dem sensus privatus, hin und verlieren den Gemeinsinn (sensus communis). Darin ist der Traum dem Wahnsinn verwandt.6 Bewegen sich die genannten Fälle noch in den Grenzen der Sinnlichkeit, verweist das Folgende aus Kants Logik-Vorlesungen auf den Bereich des Denkens. Der Wechsel von der Passivität zur Aktivität markiert für Kant einen kategorialen Unterschied, da wir hier nie dem »Spiel der Empfindungen«7 einfach ausgesetzt sind. Die Logik ist eine Wissenschaft, die uns die Denkgesetze bewusst macht, nach denen wir präreflexiv vernünftig schließen, ohne die Regeln eigens zu bedenken. Gleichwohl scheint in die Dunkelheit der Werkstatt unseres Verstandes immer schon Auroras Licht der Dämmerung: »Wenn wir uns einer Erkenntniß bewust sind, so wird der Begriff klar. Wir sind uns keiner Erkenntnisse schlechterdings unbewust. […] eine Erkenntniß der man sich nicht bewust ist findet gar nicht statt. Wenn also von unbewusten Begriffen geredet wird, so sollen die so viel anzeigen als Begriffe deren man sich nicht unmittelbar bewust ist, aber durch Schlüsse wohl bewust werden kann.«8 In der Kritik der reinen Vernunft definiert Kant klare Vorstellungen durch das Bewusstsein des Unterschiedes von anderen Vorstellungen. Wenngleich der Unterschied selbst diskret ist, erstreckt sich das Bewusstsein über ein Kontinuum »unendlich viele[r] Grade […] bis zum Verschwinden«. Daher muss »ein gewisser Grad des Bewußtseins, der aber zur Erinnerung nicht zureicht, […] selbst in manchen dunkelen Vorstellungen anzutreffen sein«.9 Das ›Unbewusste‹ ist für den Leibnizianer Kant das infinitesimal Bewusste. Aus unbewussten werden bewusste Vorstellungen, wenn ich sie mit meinem Denken begleite. Diese Aneignung kann dreifach geschehen: durch Perzeption, empirische oder transzendentale Apperzeption. Perzeptionen sind im Gegensatz zu den unbewussten (dunklen) klare Vorstellungen, nach dem Gesagten also solche, mit denen sich ein Bewusstsein des Unterschieds von anderen Vorstellungen verbindet.10 Empirische Apperzeption ist die Beobachtung meiner Vor 5  Vgl. ebd. 190.  6  Vgl. ebd. 219.  7 

Ebd. 136.

 8  Immanuel

Kant: Logik Philippi. Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. XXIV (Berlin 1966) 341.  9  Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. III (Berlin 1904) 271 (B 414 f. Anm). 10  Vgl. ebd. 249 f. (B 376 f.).

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stellungen durch innere Wahrnehmung, wie sie systematisch in der empirischen Psychologie erfolgt. Die reine oder transzendentale Apperzeption endlich ist das bloß formale Selbstbewusstsein: »Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt als: die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.«11 Reine Apperzeption ist das Selbstbewusstsein eines Niemand: »Durch dieses Ich oder Er oder Es (das Ding), welches denkt, wird nun nichts weiter, als ein transscendentales Subject der Gedanken vorgestellt = X, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädicate sind, erkannt wird, und wovon wir abgesondert niemals den mindesten Begriff haben können, um welches wir uns daher in einem beständigen Cirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urtheilen.«12 Bedenkt man, dass die transzendentale Apperzeption integrales Prinzip der Kantischen Transzendentalphilosophie ist, dann wird um so verständlicher, warum der systematische Ort für jenes Feld dunkler Vorstellungen in der Anthropologie bzw. empirischen Psychologie liegt. Im Feld des reinen Denkens gibt es schlicht keinen Platz für dunkle Vorstellungen, deren Spiel der Verstand unterworfen sein könnte. Doch auch in der empirischen Behandlung der Latenz geht Kant von einem Unbewussten aus, das nur graduell vom Bewussten verschieden ist und durch entsprechende ›Illumination‹ aufgeklärt werden kann. Anders verhält es sich mit dem eigenen Ich als einem Noumenon. Der intelligible Charakter – immerhin die Adresse moralischer Verantwortungszuschreibung – ist unserem Erkenntnisvermögen schlechterdings unzugänglich: »Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden.«13 Allerdings verknüpft Kant diese unaufhebbare epistemische Latenz intelligibler Kausalität nicht mit dem Begriff des Unbewussten. Hier verläuft gleichsam eine begriffsgeschichtliche Unterströmung, die über Schopenhauer und Eduard von Hartmann schließlich in Freuds Psychoanalyse mündet.

III.  Unbewusste Poiesis Der nachkantische Idealismus dynamisiert das Feld dunkler Vorstellungen, die bei Kant noch zum bloß passiven Teil des ›Gemüts‹ gehören. Dem korrespondiert eine Radikalisierung der Synthesis, die nun auch auf das Gegebene (Kants ›Mannigfaltiges‹) ausgedehnt wird und nicht mehr auf Formen und Begriffe beschränkt bleibt. Deutscher Idealismus und Romantik machen die Poiesis zum 11 

Ebd. 108 (B 131 f.). Ebd. 265 (B 404). 13  Ebd. 373 (B 579 Anm.). 12 

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Prinzip des Denkens über das Sein: Was ist, wurde hervorgebracht. Fortan sind es die Prozesse der Hervorbringung, die nicht unmittelbar erlebt, sondern mittelbar erschlossen werden müssen. Unbewusst sind nicht mehr sinnliche Empfindungen, denen gegenüber sich das Subjekt lediglich rezeptiv verhält – unbewusst ist die bewusstlose Produktivität, aus denen die Empfindungen selbst hervorgehen. Die dunklen Vorstellungen wandern dadurch von der Seite des Leidens auf die des Tuns. Der Prozess ihrer Hervorbringung ist die Geschichte bzw. die Natur(geschichte). Im Folgenden soll diese unbewusste Produktivität als gemeinsamer Ursprung von Geist und Natur skizzenhaft von Schelling her, dem ›Vollender‹ des Deutschen Idealismus (Walter Schulz), dargestellt werden. Odo Marquard vertritt in seiner Habilitationsschrift von 1963 die These, dass zwischen Schellings transzendentalem Idealismus, der romantischen Naturphilosophie (insbesondere Carus) und der Psychoanalyse eine Kontinuität besteht. Das verbindende Motiv sei die Rekonstruktion des Denkens aus seiner Geschichte: »[N]icht das Bewußtsein ist Fundament und Instanz des Bewußtseins, sondern seine (gegebenenfalls unbewußte) Geschichte.«14 Eine solche genetische Definition des Denkens selbst, der gemäß das Ich, sein Bewusstsein und seine Welt »Resultate einer ihm selbst ›unbewußten‹ Geschichte« sind, finde sich nicht bei Kant, wohl aber bereits bei Fichte, der »in seiner Lehre von der unbewußt produzierenden Einbildungskraft« die »Theorie des unbewußten Produziert-seins der gegebenen Welt entwickelt« habe. Das Unbewusste steht für die »Vorgeschichte des Bewußtseins«, die Transzendentalphilosophie wird, insbesondere bei Schelling, zur »Bewußtmachung des Unbewußten«.15 Was diese Anamnese von der Freud’schen Analyse unterscheide, sei die im Idealismus und der Romantik noch fehlende Theorie der Verdrängung. Gegen Marquards These argumentiert Elke Völmicke 2001 (wiederum in einer Habilitationsschrift) für eine Diskontinuität zwischen Schelling und Freud. Sowohl die Motivation, über das Unbewusste zu sprechen, als auch die Auffassung von diesem selbst seien verschieden. Das Projekt des Idealismus sei die Selbstbegründung der Vernunft, in der das Unbewusste als ein Eigenes der Vernunft behandelt wird. Beide Aspekte verhalten sich spiegelbildlich zur Psychoanalyse – hier steht das Unbewusste ausgehend von einer Psychopathologie gerade für das Andere der Vernunft. Die Rede vom Unbewussten im Deutschen Idealismus fungiert nach Völmicke »immer nur als Darstellungsmittel der spezifischen Form von Selbstbezüglichkeit, als die Bewußtsein in spekulativer Absicht gedacht ist«, und ist »nie Indiz für die Preisgabe des Projekts der Selbstbegründung der Vernunft«. Das Unbewusste werde nie »im Sinne eines eigenständigen Anderen der Vernunft« installiert, vielmehr solle auf dem Wege der systematischen Konstruktion »die produktive Dimension der Vernunft zur

14  15 

O. Marquard: Transzendentaler Idealismus, a. a.O. [Anm. 1] 20. Ebd. 95 ff.

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Darstellung« gebracht werden.16 Die Selbstbeziehung (Reflexion) als Form der Vernunft bleibe auch bei Schelling durchgängig gewahrt. Die Vernunft sei daher noch Herrin im eigenen Hause, deren »Souveränität und Unbedingtheit« gerade darin bestehe, »auch das den ›Begriff Fliehende‹ als notwendiges Strukturmoment in die Theorie vernünftiger Welt- und Selbstbildproduktion integrieren und als (intrinsisches) Moment der Selbstauslegung der Vernunft verstehen zu können.«17 Diese Integrationsleistung des Unbewussten – der bei Freud später eine Dissoziationsfunktion gegenübersteht – muss im Blick behalten, wer sich Schellings Begriff einer ›bewusstlosen Produktivität‹ nähert. Reinhard Loock zufolge konzipiert Schelling »die Subjektivität durch eine prinzipielle Funktion der bewußtlosen Tätigkeit; genauer gesagt, wird die bewußtlose Produktivität der Einbildungskraft zum Prinzip seines Systems«.18 Das »ewig Unbewußte« ist die absolute Identität von Subjekt und Objekt, »in welcher gar keine Duplicität ist, und welche eben deßwegen, weil die Bedingung alles Bewußtseyns Duplicität ist, nie zum Bewußtseyn gelangen kann«.19 Das absolut Identische markiert sowohl den gemeinsamen Ursprung von Erkenntnissubjekt und -objekt als auch die verbindende Mitte des logischen Subjekts mit seinen Prädikaten. Als produktiver Grund bleibt es »bewußtlos«, gleichsam im Rücken des Bewusstseins; man kann allerdings in den Gesetzmäßigkeiten von Natur und Geschichte seine Spuren lesen wie »das Gewebe einer unbekannten Hand«.20 Die bewusstlose Produktivität selbst ist also mittelbar erschlossen, wir erkennen sie an ihren Produkten. Schelling versucht nichts Geringeres, als den gemeinsamen Grund von Natur und Geist zu identifizieren, indem er ihn in die bewusstlose Vergangenheit des Geistes selbst verlegt: »Ich suchte also […] den unzerreißbaren Zusammenhang des Ich mit einer von ihm nothwendig vorgestellten Außenwelt durch eine dem wirklichen oder empirischen Bewußtseyn vorausgehende transscendentale Vergangenheit dieses Ich zu erklären, eine Erklärung, die sonach auf eine transscendentale Geschichte des Ichs führte.«21 Es geht – anders formuliert – darum, die Notwendigkeit der Erscheinungswelt und die Freiheit des Ichs durch die Annahme einer bewusstlosen transzendentalen Geschichte der Produktion zusammenzudenken, aus der eben die Außenwelt produziert wird, die das empirische Ich in der sinnlichen Anschauung immer schon vorfindet. Die Selbsterkenntnis der bewusstlosen Produktion erfolgt in der intellektuellen Anschauung. Ihr Aus16 

Elke Völmicke: Das Unbewußte im Deutschen Idealismus (Würzburg 2005) 274 ff. Ebd. 278 f. 18  Reinhard Loock: Schwebende Einbildungskraft. Konzeptionen theoretischer Freiheit in der Philosophie Kants, Fichtes und Schellings (Würzburg 2007) 426. 19  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transscendentalen Idealismus. In: Sämmtliche Werke. Bd. I/3 (Stuttgart/Augsburg 1858) 600. 20  Ebd. 601. 21  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie. In: Sämmtliche Werke. Bd. I/10 (Stuttgart/Augsburg 1861) 93 f. 17 

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ruf »Ich bin« ist »nur der Ausdruck des zu-sich-Kommens selber«, aber »nur das kann zu sich kommen, was zuvor außer sich war«. »Der erste Zustand des Ichs ist also ein außer-sich-Seyn.«22 Und dieser erste Zustand ist die Natur. Sie ist der bewusstlose Geist. Die Geschichte beschreibt Schelling daher als den Prozess der Bewusstwerdung der unbewussten Natur, die allerdings auf der Stufe des bewussten Geistes nicht mehr originär eingeholt werden kann. »Das individuelle Ich findet in seinem Bewußtseyn nur noch gleichsam die Monumente, die Denkmäler jenes Wegs [des Zusichkommens], nicht den Weg selbst. Aber eben darum ist es nun Sache der Wissenschaft und zwar der Urwissenschaft, der Philosophie, jenes Ich des Bewußtseyns mit Bewußtseyn zu sich selbst, d. h. ins Bewußtseyn, kommen zu lassen. […] Die Philosophie ist insofern für das Ich nichts anderes als eine Anamnese, Erinnerung dessen, was es in seinem allgemeinen (seinem vorindividuellen) Seyn gethan und gelitten hat.«23 Freilich darf diese Anamnese nicht bereits psychoanalytisch verstanden werden. Der unbewusste Grund des Bewusstseins, den es im Wortsinne zu er-innern, das bedeutet: in den Innenraum der individuellen Subjektivität zu integrieren gilt, bezeichnet hier eine absolute Identität (genauer gesagt: die absolute Identität von Identität und Differenz), während das Unbewusste bei Freud gerade eine absolute Differenz (genauer gesagt: die absolute Differenz von Identität und Differenz) anzeigt.

IV.  Lichter Punkt und blinder Fleck Der Deutsche Idealismus erweitert die Kantische Synthesis zu einer umfassenden Poiesis, die zum Eigenen der Vernunft gehört. Damit vollendet er das von Descartes ausgehende klassisch-neuzeitliche Denken. Der Einbruch der Moderne erfolgt genau dort, wo aus dem Eigenen das Andere der Vernunft wird. Besonders prägnant kommt dies zum Ausdruck in der unterschiedlichen Beschreibung des Selbstbewusstseins, das für Schelling noch »der lichte Punkt im ganzen System des Wissens [ist], der aber nur vorwärts, nicht rückwärts leuchtet«24 (die im Rücken des Selbstbewusstseins liegende Produktivität ist eben unbewusst). Ganz anders dagegen Schopenhauer: »Aber das Ich ist der finstere Punkt im Bewußtseyn, wie auf der Netzhaut gerade der Eintrittspunkt des Sehnerven blind ist, wie das Gehirn selbst völlig unempfindlich, der Sonnenkörper finster ist und das Auge Alles sieht, nur sich selbst nicht.«25 Claus-Artur Scheier erkennt in der Differenz von lichtem Punkt und blindem Fleck den Unterschied zwischen

22 

Ebd. 94. Ebd. 94 f. 24  F.W.J. Schelling: System des transscendentalen Idealismus, a. a.O. [Anm. 19] 357. 25  Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II. In: Werke in fünf Bänden, hg. von Ludger Lütkehaus. Bd. II (Zürich 1991) 570. 23 

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klassischer und moderner Rationalität:26 Während die klassische Rationalität bis einschließlich zum Deutschen Idealismus Fremdbeobachtung als eine modifizierte Selbstbeobachtung beschreibt, denkt moderne Rationalität die Selbstbeobachtung des Subjekts als eine modifizierte Fremdbeobachtung. Genau dieser Wechsel im Verhältnis von Selbst- und Fremdreferenz leitet den zweiten der eingangs genannten drei Schritte auf dem Weg zum psychoanalytischen Unbewussten ein: Nach der kollektiven Dynamisierung erfolgt mit Schopenhauer die substantialisierende Dissoziierung der Latenz zu einem Anderen des Bewusstseins. Die bewusstlose Produktivität, die für den Idealismus noch eine Form der Vernunft selbst ist, expropriiert Schopenhauer im blinden Willen. Unser wahres Selbst ist nicht unser erkennendes Ich, sondern der Wille: »Zwar sind wir, in Folge unserer Relation mit der Außenwelt, gewohnt, als unser eigentliches Selbst das Subjekt des Erkennens, das erkennende Ich, zu betrachten […] Unser wahres Selbst, der Kern unsers Wesens, ist Das, was hinter jenem steckt und eigentlich nichts Anderes kennt, als wollen und nichtwollen, zufrieden und unzufrieden seyn, mit allen Modifikationen der Sache, die man Gefühle, Affekte und Leidenschaften nennt. Dies ist Das, was jenes Andere hervorbringt […]«.27 Der Wille an sich ist »erkenntnißlos, der ihm zugesellte Verstand aber willenlos«.28 Demgegenüber hieß es bei Schelling noch: »Was bewußtlos in mir ist, ist unwillkürlich; was mit Bewußtseyn, ist durch mein Wollen in mir.«29 Schopenhauer zufolge erkennt der Wille nicht und der Verstand will nicht. Daher sei »das treffendeste Gleichniß« für das Verhältnis zwischen Wille und Verstand das Christophorus-Bild vom starken Blinden (Wille), der den sehenden Gelähmten (Verstand) auf seinen Schultern trägt.30 Der bewusstlose Wille ist Substanz, der Verstand, welcher das Bewusstsein bedingt, »ein bloßes Accidenz unsers Wesens«.31 Aufgrund der unaufhebbaren Bewusstlosigkeit unseres Willens ist für Schopenhauer das Ich »eine unbekannte Größe, d. h. sich selber ein Geheimniß«.32 Daher ist es uns zwar möglich, psychische Vorgänge zu beobachten, was aber diese eigentlich hervorbringt, bleibt im Verborgenen: »Das Bewußtseyn ist die bloße Oberfläche unsers Geistes, von welchem, wie vom Erdkörper, wir nicht das Innere, sondern nur die Schaale kennen. Was aber die Gedankenassociation selbst […] in Thätigkeit versetzt, ist, in letzter Instanz, oder im Geheimen unsers Innern, der Wille, welcher seinen Diener, den Intellekt antreibt«.33 Unseren Willen lernen wir erst durch unser 26  Claus-Artur

Scheier: Lichter Punkt und blinder Fleck. Zum Unterschied von moderner und klassischer Rationalität. In: Akten der XXV. Internationalen Tagung deutsch-italienischer Studien (Meran 2001) 221–236. 27  A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, a. a.O. [Anm. 25] 279. 28  Ebd. 241. 29  F.W.J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus, a. a.O. [Anm. 19] 594. 30  A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, a. a.O. [Anm. 25] 242. 31  Ebd. 232. 32  Ebd. 162. 33  Ebd. 157f.

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Handeln kennen. Ich bin, was ich will – und ich will, was ich tue. Der erkennende Verstand »bleibt von den eigentlichen Entscheidungen und geheimen Beschlüssen des eigenen Willens so sehr ausgeschlossen, daß er sie bisweilen, wie die eines fremden, nur durch Belauschen und Überraschen erfahren kann, und ihn auf der That seiner Aeußerungen ertappen muß, um nur hinter seine wahren Absichten zu kommen.«34 Wie diese Entlarvung aussehen kann, demonstriert Schopenhauer in seiner Metaphysik der Geschlechtsliebe. Der Geschlechtstrieb ist der stärkste aller Begierden und »der Kern des Willens zum Leben«. »Ja, man kann sagen, der Mensch sei konkreter Geschlechtstrieb«.35 Allerdings narrt uns unsere eigene Libido, indem sie uns vortäuscht, es würde um ein bestimmtes Individuum gehen, mit dem wir uns vereinigen wollen, während sie es eigentlich auf den Erhalt der Spezies abgesehen hat. In dieser besonderen List, deren sich der Geschlechtstrieb bedient, um sein wahres Ziel zu erreichen, zeigt sich ein allgemeiner Sachverhalt: »Alles Ursprüngliche, und daher alles Aechte im Menschen wirkt, als solches, wie die Naturkräfte, unbewußt. […] Alles Bewußte […] ist schon nachgebessert und ist absichtlich, geht daher schon über in Affektation, d. i. Trug.«36 Schopenhauers Willensmetaphysik implementiert eine Hermeneutik des Verdachts (Ricœur) in das Unbewusste, die schließlich von Freud aufgenommen wird. Zum metaphysischen Willensbegriff gehört außerdem, dass er sich schlechterdings nicht er-innern (in den Innenraum transzendentaler Subjektivität überführen) lässt, sondern lediglich per analogiam über eine Phänomenologie des Leibes erschlossen werden kann: Wie der Leib einmal als Vorstellung (Objekt unter Objekten) und sodann als Ausdruck eines Willens (Subjekt) gegeben ist, so auch die Welt. Doch hinter die wesensmäßige Selbstintransparenz führt kein Weg zur absoluten Identität von Subjekt und Objekt zurück. Gewissermaßen in einer konsequenten Weiterführung Schopenhauers kehrt Nietzsche den Kantischen Schluss vom Bewussten auf Unbewusstes um. »In summa: alles, was bewußt wird, ist eine Enderscheinung, ein Schluß – und verursacht nichts – alles Nacheinander im Bewußtsein ist vollkommen atomistisch. Und wir haben die Welt versucht zu verstehen mit der umgekehrten Auffassung, – als ob nichts wirke und real sei als Denken, Fühlen, Wollen…«.37 Die vermeintlich klaren Vorstellungen sind nichts weiter als das Wahrlügen eines Erkenntnissubjekts auf dem Rücken eines »Tigers« (Triebe).38 Aber nicht nur unsere Vorstellungen, auch unsere »Handlungen sind niemals Das, als was sie uns er34 

Ebd. 242. Ebd. 596. 36  Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena, Bd. II. In: Werke in fünf Bänden, hg. von Ludger Lütkehaus, Bd. V (Zürich 1991) 518. 37  Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1888. In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzimo Montinari. Bd. XIII (München 1980) 335. 38  Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. In: Sämtliche Werke, a. a.O. [Anm. 37] Bd. I (München 1980) 877. 35 

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scheinen! […] alle Handlungen sind wesentlich unbekannt.«39 Das Unbewusste erfasst über die Poiesis hinaus nun auch die Praxis. »Ich weiß, daß ich von mir nichts weiß.«40 Unsere Handlungen sind in ihrer Faktizität unergründlich – ihr Sinn indes ist keineswegs unerfindlich; vielmehr tritt auch hier an die Stelle der Tatsache die Interpretation: All unser »sogenanntes Bewusstsein [ist] ein mehr oder weniger phantastischer Commentar über einem ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefühlten Text«.41 Sich selbst zu verstehen, heißt fortan, sich selbst, vor allem aber die eigenen Gefühle, zu deuten.

V.  Psychologie des Unbewussten vom empirischen Standpunkt Neben der bislang rekonstruierten Linie, die von Kant über den Idealismus zu Schopenhauer und schließlich Nietzsche führt, verläuft eine weitere, die sich durch die empirische Psychologie zieht. Kants zweiter Nachfolger auf dessen Lehrstuhl in Königsberg Johann Friedrich Herbart dynamisiert parallel zum idealistischen Poiesis-Denken auf eine andere Weise die Klasse der dunklen Vorstellungen, indem er sie gegeneinander in einen Kampf um das Bewusstsein eintreten lässt. Dabei hemmen und verdrängen sich einige gegenseitig, während andere über die ›Bewusstseinsschwelle‹ treten. Herbart unterscheidet eine statische von einer mechanischen Schwelle. Eine Vorstellung befindet sich an der statischen Schwelle des Bewusstseins, wenn sie »aus einem Zustand völliger Hemmung so eben sich erhebt«; auf der mechanischen Schwelle sind Vorstellungen hingegen, wenn sie »aus dem Bewußtseyn verdrängt und doch darin wirksam sind«, indem sie »mit ganzer Macht wider die im Bewußtseyn befindlichen Vorstellungen« arbeiten und dadurch »einen Zustand des Bewußtseyns« (z. B. Depression) bewirken, »während ihr Object keineswegs wirklich vorgestellt wird«.42 Wirksamkeit ohne Bewusstseinspräsenz – diese Neuerung auf dem Feld der empirischen Psychologie markiert einen zweiten Einsatz des für das 19. Jahrhundert typischen Diskurses über das Unbewusste. Gustav Theodor Fechner greift in seiner Psychophysik Herbarts Begriff der Bewusstseinsschwelle auf und verknüpft ihn mit Ernst Heinrich Webers Gesetz zur geringsten spürbaren Differenz der Reizverstärkung. Das ›Weber-Fechnersche Gesetz‹ lautet in Formelschreibweise: E = k ln R r  , 39 

Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile. In: Sämtliche Werke, a. a.O. [Anm. 37] Bd. III (München 1980) 109. 40  Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Winter 1883–1884. In: Sämtliche Werke, a. a.O. [Anm. 37] Bd. X (München 1980) 656. 41 F. Nietzsche: Morgenröthe, a. a.O. [Anm. 39] 113. Vgl. außerdem ders.: Nachgelassene Fragmente Ende 1886 bis Frühjahr 1887. In: Sämtliche Werke, a. a.O. [Anm. 37] Bd. XII (München 1980) 315: »Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen.« 42  Johann Friedrich Herbart: Lehrbuch zur Psychologie (Königsberg 21834) 12, 14.

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wobei E für die Empfindungsintensität, R für die Reizintensität, r für die Reizschwelle und k für eine Konstante der sinnesorganspezifischen Relation von Reiz- zu Empfindungsintensität steht. Demnach verhält sich die Intensität der Empfindung proportional zum natürlichen Logarithmus der ihr korrespondierenden Reizintensität. Aus diesem mathematischen Verhältnis folgt, dass bei einer Reizintensität unterhalb der Reizschwelle die Empfindungsintensität einen negativen Wert annimmt. Solche negativen, also unterschwelligen Empfindungen nennt Fechner unbewusst.43 Dergestalt wird das Unbewusste zu einer messbaren (numerisch negativen) Größe der experimentellen Psychologie, die – qua Psychophysik – Empfindungen als Seelenatome behandelt. In der Konsequenz trägt sie jedoch zu einer Selbstentfremdung bei, die ebenfalls ein Topos des 19. Jahrhunderts ist. Denn wer »die Empfindungen, die er hat, nicht erlebt, gar die Handlungen, die er ausführt, nicht will, erfährt sich als Spielball von Kräften, die nach Belieben über ihn verfügen und die doch zu ihm selbst gehören, doch seine eigenen sind. Es gibt nun namenlose ›unterirdische‹ Kräfte, die mitbestimmen, was ›oben‹ geschieht.«44 Insofern vollzieht auch die empirische Psychologie jenen bereits beschriebenen Zweischritt von Dynamisierung und Dissoziierung: Erst werden aus Vorstellungen Kräfte, die dann ein vom Bewusstsein abgespaltenes und diesem unzugängliches Eigenleben führen. Angesichts dieser Folgen möchte es nicht verwundern, dass sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend ein Widerstand gegen die ›Hypothese‹ (Unter-Stellung) des Unbewussten bildet. Besonders scharf fällt die Kritik in Franz Brentanos Aktpsychologie aus.45 Brentano, bei dem Freud als junger Medizinstudent immerhin vier Semester (1874 und 1875) Vorlesungen besucht hat, verpflichtet die Psychologie auf die Beschreibung von Bewusstseinsakten und richtet ihr Augenmerk dabei auf das, was er die intentionale Inexistenz des Objekts im Bewusstseinsakt nennt. Die Gegenstände sind uns immer schon irgendwie gegeben, z. B. in Wahrnehmungen, Phantasien oder Urteilen. Jedes Objekt wird in Akten auf spezifische Weise aufgefasst. Bewusstsein ist ›Bewusstsein von etwas‹, und für diese Struktur übernimmt Brentano aus der scholastischen Philosophie den Ausdruck Intentionalität. ›Bewusstsein von‹ ist der Akt – ›etwas‹ das Objekt als Aktinhalt. Diese Analyse der Bewusstseinsform in Akt und Inhalt, die Brentano 1874 in seiner Psychologie vom empirischen Standpunkt vornimmt, besitzt eine frappierende Ähnlichkeit mit Freges Analyse der logischen Satzform 43 

Gustav Theodor Fechner: Elemente der Psychophysik, Bd. II (Leipzig 21889) 15, 39. Manfred Sommer: Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung (Frankfurt a. M. 1996) 58. Vgl. dort auch zu dem Zusammenhang mit der Cartesischen Philosophie. 45  Vgl. für die Assoziationspsychologie auch Wilhelm Wundt, der ebenfalls den Begriff des Unbewussten kritisiert: Grundzüge der physiologischen Psychologie (Leipzig 1874) 822: Die »unbewußte Seele« ist »eine überflüssige und nichtssagende Zutat«. Gegen den Ausdruck »unbewußte Empfindung« hat Wundt allerdings nichts einzuwenden. Vgl. dazu M. Sommer: Evidenz im Augenblick, a. a.O. [Anm. 44] 60. 44 

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in Funktion und Argument fünf Jahre später aus der Begriffsschrift (1879).46 Die Funktion ersetzt Kopula und Prädikat (›ist p‹; z. B. ›ist grün‹) aus der klassischen Logik, und das Argument tritt an die Stelle des logischen Subjekts. Die Funktion (z. B. ›Grünsein‹) ist selbst gegenständlich »ungesättigt« und bedarf zur ›Sättigung‹ eines Arguments (z. B. ›Wiese‹, ›Buch‹ etc.).

Brentano (1874):



Akt (Inhalt)

Frege (1879): Funktion (Argument)

In die Sprache von Brentanos Bewusstseinsphilosophie übertragen, könnte man sagen: Ohne Inhalt bleibt der Akt intentional ungesättigt. Doch aus der Beschreibung, dass Aktbewusstsein immer Bewusstsein von einem Objekt ist, folgt noch nicht, dass es nicht auch ein »psychisches Phänomen« geben kann, »welches nicht Objekt eines Bewußtseins ist«.47 Daher stößt die Aktpsychologie auf die Frage: Gibt es unbewusste Akte? Brentano diskutiert vier Wege, ein solches »unbewußtes Bewußtsein« mittelbar aus Erfahrungstatsachen zu erschließen, da es ja per definitionem nicht unmittelbar selbst erfahren werden kann. Alle vier Strategien, so versucht Brentano zu zeigen, halten einer genaueren Betrachtung nicht stand. Dies betrifft den Schluss von bewusst-psychischen Phänomenen auf unbewusst-psychische Ursachen wie umgekehrt (z. B. Leibniz’ petites perceptions). Dem hält Brentano entgegen, dass eine »Summe von Kräften« sich in ihrer Wirkung »nicht bloß quantitativ, sondern sehr oft auch qualitativ von den einzelnen Summanden« unterscheidet: »Eine geringere Abkühlung als Null Grad verwandelt das Wasser nicht teilweise oder in einem geringeren Maße in Eis […] So muß auch, wenn der größere physische Reiz eine Schallempfindung erzeugt, der kleinere nicht notwendig die Erscheinung eines Geräusches zur Folge haben, das nur seiner Intensität nach geringer ist.«48 Auch das Weber-Fechnersche Gesetz lässt Brentano nicht gelten und insistiert auf der einfachen Proportionalität zwischen Akt- und Inhaltsintensität: »Die Intensität des Vorstellens ist immer gleich der Intensität, mit welcher das Vorgestellte erscheint […]«.49 Also gibt es »keinen unbewußten psychischen Akt; denn wo immer er in einer größeren oder geringeren Stärke besteht, wird die gleiche Stärke einer mit ihm gegebenen Vorstellung zukommen, deren Objekt er ist«.50 Schließlich analysiert Brentano noch das vierte Argument, dass die

46 

Gottlob Frege: Begriffsschrift, eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens (Halle 1879) 15–19. Frege wählt die Schreibweise: Φ (A). 47 Franz Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt. Bd. I (Leipzig 1924) 143 (Hervorhebung R.B.). 48  Ebd. 164. 49  Ebd. 169. 50  Ebd. 170.

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Annahme, Bewusstsein sei selbst Gegenstand von Bewusstsein, in den infiniten Regress führe: … Akt (Akt (Akt (Inhalt))) Der infinite Regress ist aber, so Brentano, auch ohne die Annahme unbewusster Akte als Auffassungen bewusster Akte vermeidbar, wenn der Akt selbstreflexiv ist. Diese Form begleitender Selbstwahrnehmung nennt Brentano »inneres Bewußtsein«, und sie ist eine Vorform von Sartres ›präreflexivem cogito‹. Jeder psychische Akt ist von einem »darauf bezüglichen Bewußtsein begleitet«:51 »Die Vorstellung des Tones und die Vorstellung von der Vorstellung des Tones bilden […] ein einziges psychisches Phänomen, das wir nur, indem wir es in seiner Beziehung auf zwei verschiedene Objekte betrachteten […] begrifflich in zwei Vorstellungen zergliederten.«52 Der Akt enthält also sowohl den Ton wie auch sich selbst als Inhalt. Der Ton ist primäres (weil beobachtetes), das Hören selbst sekundäres (weil unbeobachtetes, aber gleichwohl miterfasstes und in der Wiedererinnerung beobachtbares) Objekt des Hörens.53 Am Ende seiner Kritik an den Beweisverfahren für ein »unbewußtes Bewußtsein« kommt Brentano zu dem Schluss, dass es keine latenten Bewusstseinsakte gibt. »Die Frage: gibt es ein unbewußtes Bewußtsein, in dem Sinne, in welchem wir sie gestellt hatten, ist demnach mit entschiedenem Nein zu beantworten.«54

VI. Metaphysik des Unbewussten Die nachidealistische Metaphysik substantialisiert das Unbewusste: Ist das ›ewig Unbewusste‹ als das Absolut-Identische bei Schelling gerade der vorsubstantielle Grund für die Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidenz, so macht Schopenhauer den bewusstlosen Willen zur Substanz des akzidentellen Bewusstseins. An diese Tradition einer »substantialisierenden Auffassung des Unbewußten« schließt Freud an, nicht an jene des Deutschen Idealismus. Erst wo das Unbewusste zur Substanz wird, gewinnt es die »Rolle eines eigenständigen Gegenspielers des Bewußtseins«.55 Diese Differenz wird auch in den verschiedenen Zugängen zum Unbewussten bei Carl Gustav Carus, der Schelling nahesteht, und Eduard von Hartmann, der Schopenhauer viel verdankt, sichtbar. Carus verarbeitete seine Erfahrungen, die er als Arzt (er war Leibarzt des Königs von Sachsen) machte, in seiner stark von der Romantik geprägten Naturphilosophie. Dabei spielt die Kontinuität zwischen Natur und Geist – wie bei Schelling – eine herausragende Rolle. »Der Schlüssel zur Erkenntniß vom Wesen 51 

Ebd. 195. Ebd. 179. 53  Vgl. ebd. 180. 54  Ebd. 194. 55  E. Völmicke: Das Unbewußte im Deutschen Idealismus, a. a.O. [Anm. 16] 193 f. 52 

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des bewußten Seelenlebens«, so schreibt er in seinem Werk Psyche (1846), »liegt in der Region des Unbewußtseins«.56 Diese macht den »bei weitem größte[n] Teil« unseres Seelenlebens aus. Psychologie versteht Carus als die Wissenschaft von der Entwicklung der Seele vom Unbewussten zum Bewusstsein, die sich in drei Etappen vom frühen Unbewussten, das bis in die vorembryonale und embryonale Periode zurückreicht, über das Weltbewusstsein zum Selbstbewusstsein vollzieht. Ähnlich wie in der Schelling’schen Identitätsphilosophie historisiert der Philosoph Carus die Natur, indem der Arzt Carus die (Individual-)Geschichte naturalisiert. Vor diesem Hintergrund unterscheidet er drei Schichten des Unbewussten: ein allgemein-absolutes, vorindividuelles Unbewusstes (das noch im Wachstum befindliche Lebensprinzip »Psyche« als solches), ein partiellabsolutes Unbewusstes (das sich bereits individuiert hat) und ein relatives oder sekundäres, bewusstes Seelenleben voraussetzendes Unbewusstes (abgesunkene Gefühle, Wahrnehmungen sowie Vorstellungen). Die Beziehung des bewussten Seelenlebens zur »Region des Unbewußtseins« vergleicht Carus mit Fundament und Spitze einer gotischen Kirche: »Wirklich ganz auf dieselbe Weise, wie jene glänzende Außenseite vom unscheinbaren Grunde eines Gebäudes, hängen alle die hohen und höchsten Qualitäten des bewußten Seelenlebens von tausenderlei Beziehungen auf das Unbewußte der Seele ab, und wie jene Spitze des Doms unrettbar stürzt, wenn nur eine Eisenklammer reißt oder ein Eckstein des Grundes weicht, so verschwinden auch sofort die glänzendsten Erscheinungen des Geistes, wenn dem unbewußten Wirken der Seele, wie es etwa den Blutstrom des Herzens lenkt, oder den Wechsel der Athmung regiert, nur das kleinste Hinderniß entgegengestellt wird.«57 In diesem (für die Romantik charakteristischen) Bild einer gotischen Kathedrale überträgt Carus nicht nur die entwicklungspsychologische Kontinuität von Unbewusstem und Bewusstsein auf ein räumliches Fundierungsverhältnis, sondern veranschaulicht zudem einen pathogenen Zusammenhang zwischen den bewusstlosen Vorgängen im Leib mit den Leistungen des Geistes. Hier erscheint aus ärztlicher Perspektive bestätigt, was Schelling philosophisch forderte: »Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn.«58 Eduard von Hartmann war gerade erst 27 Jahre alt, als sein Bestseller Philosophie des Unbewussten (1869) erschien.59 Zwei Jahre zuvor hatte er in Rostock promoviert und lebte fortan in Berlin als Privatgelehrter. Bis zu Hartmanns Tod im Jahr 1906 erreichte seine Philosophie des Unbewussten elf Auflagen und wurde »zum meistgelesenen philosophischen Buch des 19. Jh.s, insbesondere des

56 

Carl Gustav Carus: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele (Pforzheim 1846) 1. Ebd. 69. 58  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft. In: Sämmtliche Werke. Bd. I/2 (Stuttgart/Augsburg 1857) 56. 59  Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewussten. 2 Bde. (Berlin 1869). 57 

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deutschen Bildungsbürgertums«.60 Dabei bietet der Autor wenig Neues, sondern kompiliert Ideen der Deutsch-Idealisten, Carus’ und vor allem Schopenhauers. Hartmann grenzt sich ausdrücklich gegen den bloß negativen Begriff ab, den die empirische Psychologie um Fechner vom Unbewussten hat und installiert ein positiv bestimmtes Unbewusstes, das dem Bewusstsein entgegengesetzt ist. Beide sind nicht bloß dem Grade nach, sondern kategorial verschieden. Das eher unsystematische Werk ist in zwei Teile gegliedert: Der erste Teil behandelt die (erst in späteren Auflagen so benannte) »Phänomenologie des Unbewussten«, die zunächst die »Erscheinung des Unbewussten in der Leiblichkeit« und sodann »im Geiste« beschreibt. Der zweite Teil enthält die eigentliche »Metaphysik des Unbewussten«. Hier versammelt Hartmann allerhand Theorien, die von der spekulativen Metaphysik bis zu Darwin reichen. Unter anderem zählt er auch Eigenschaften des metaphysischen Unbewussten auf, das weder erkrankt noch ermüdet, unabhängig von der sinnlichen Erfahrung ist, nicht schwankt und zweifelt oder irrt, kein Gedächtnis besitzt und die Identität von Wille und Vorstellung stiftet. Gerade an dem zuletzt genannten Punkt wird deutlich, wie unentschieden Hartmann letztlich zwischen Schelling’scher Identitätsphilosophie und Schopenhauers Willensmetaphysik changiert, doch befindet er sich schon zu sehr in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, um noch Romantiker zu sein. Der entscheidende Gedanke, der den Zeitgeist ebenso abbildete wie auf ihn (und damit bis hin zu Freud) zurückwirkte, dürfte in der Dissoziation eines substantialisierten und wirksamen Unbewussten vom bewussten Seelenleben liegen. Das naturphilosophische und psychohygienische Kontinuum, das Carus noch betonte, hat sich in ein Diskretum aufgelöst.

VII.  Dynamiken der Verdrängung Wie tief der Begriff des Unbewussten am Ende des 19. Jahrhunderts in das psychologische Denken eingedrungen ist, wird an Theodor Lipps’ Schlussvortrag beim dritten Internationalen Kongress für Psychologie in München 1896 deutlich. Bereits der Titel des Vortrags indiziert Klärungsbedarf: »Der Begriff des Unbewussten in der Psychologie«. Denn häufig fragen wir nach der Bedeutung (Intension) eines Ausdrucks, wenn sich sein Umfang (Extension) so erweitert hat, dass der Begriff an Trennschärfe zu verlieren droht. Für Lipps ist die Frage nach dem Unbewussten nicht nur eine psychologische Frage, sondern »die Frage der Psychologie«.61 Eine erklärende Psychologie kann auf das Unbewusste nicht verzichten: »Es gibt keinen Begriff des Psychischen und keine mögliche Defini60  So zumindest die Einschätzung von Hans-Martin Gerlach in: Großes Werklexikon der Philosophie, hg. von Franco Volpi. Bd. I (Stuttgart 1999) 621. 61  Theodor Lipps: Der Begriff des Unbewussten in der Psychologie. In: Dritter Internationaler Congress für Psychologie in München vom 4. bis 7. August 1896 (München 1897) 146–164, hier 146.

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tion der Psychologie, ohne das unbewusst Psychische.«62 Unbewusste Vorstellungen sind keine bloße Hypothese, sondern »feststehende Thatsachen«.63 Das psychische Geschehen ist auch jederzeit bedingt durch vergangene Erlebnisse: »Ich will damit sagen, dass ein unbewusstes Psychisches nicht nur da ist, sondern dass ein Wirken desselben stattfindet.«64 Diese Formulierung bringt prägnant den begriffsgeschichtlichen Wandel zum Ausdruck: Unbewusste Vorstellungen wirken als »die allgemeine Basis des psychischen Lebens«. Auch Lipps greift zu einem Bild, um das Verhältnis von Latenz und Manifestation zu bezeichnen: »Das psychische Leben eines Momentes […] ist wie ein im Meer versunkenes weites Gebirge, von dem nur wenige höchste Gipfel über die Wasseroberfläche emporragen.«65 »In der Psychologie auf das Unbewusste verzichten, so lautet mein Ergebniss, heisst auf die Psychologie verzichten.«66 Freuds Epochenwerk Die Traumdeutung (1900) nimmt positiv Bezug auf Lipps’ Vortrag, den Freud allerdings auch heranzieht, um den Unterschied zu seinem eigenen Begriff vom Unbewussten hervorzuheben. Freuds Entdeckung des »inneren Auslands«, wie er den Bereich des Verdrängungsunbewussten gelegentlich nennt,67 beruht ebenfalls auf dem Ansatz einer kausal erklärenden Psychologie, die bewusste psychische Phänomene auf nicht selbst gegebene unbewusste psychische Ursachen zurückführt: »Der Arzt muß sich das Recht wahren, durch einen Schlußprozeß vom Bewußtseinseffekt zum unbewußten psychischen Vorgang vorzudringen; er erfährt auf diesem Wege, daß der Bewußtseinseffekt nur eine entfernte psychische Wirkung des unbewußten Vorgangs ist und daß letzterer nicht als solcher bewußtgeworden ist, auch daß er bestanden und gewirkt hat, ohne sich noch dem Bewußtsein irgendwie zu verraten.«68 Das Psychische und das Bewusste sind nicht mehr identisch, vielmehr ist das Bewusstsein ein ›Effekt‹ des Unbewussten, von dem Freud – im Gegensatz zu Lipps – noch das Vorbewusste unterscheidet. Der gesamte »psychische Apparat« sieht damit wie folgt aus: Bewusstsein Vorbewusstes (bewusstseinsfähig) Unbewusstes (bewusstseinsunfähig)

62 

Ebd. 155. Ebd. 163. 64  Ebd. 156. 65  Ebd. 158. 66 Ebd. 67  Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Studienausgabe. Bd. 1 (Frankfurt a. M. 2000) 496: »das Verdrängte ist aber für das Ich Ausland, inneres Ausland, so wie die Realität – gestatten Sie den ungewohnten Ausdruck – äußeres Ausland ist.« In dieser Metapher impliziert ist auch die Explorierbarkeit des Verdrängten aufgrund eines Symptoms: »Vom Symptom her führte der Weg zum Unbewußten, zum Triebleben, zur Sexualität […].« (ebd.) 68  Sigmund Freud: Die Traumdeutung. In: Studienausgabe. Bd. II (Frankfurt a. M. 2000) 580. 63 

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Während das Vorbewusste prinzipiell bewusstseinsfähig ist (z. B. unterschwellige Wahrnehmungen oder Erinnerungen), bleibt das Unbewusste bewusstseinsunfähig – und wirkt doch! Dies ist der eigentliche Skandal, die tiefgehende Kränkung unseres menschlichen Narzissmus: Dasjenige in uns selbst, das bestimmt, wer wir sind, was wir denken, fühlen und wollen, ist uns unbekannt. »Das Unbewußte muß nach dem Ausdrucke von Lipps als allgemeine Basis des psychischen Lebens angenommen werden. Das Unbewußte ist der größere Kreis, der den kleineren des Bewußten in sich schließt; alles Bewußte hat eine unbewußte Vorstufe, während das Unbewußte auf dieser Stufe stehenbleiben und doch den vollen Wert einer psychischen Leistung beanspruchen kann. Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane.«69 Auch ins Innere der eigenen Natur schaut kein erschaffner Geist – außer einem solchen, der die Dynamik des Unbewussten anhand der Spuren entziffern kann, die es im Bewusstsein hinterlässt. Die unbewussten Akte der Verdrängung machen sich indirekt bemerkbar durch verschiedene Zeichen, in denen sich der latente Inhalt verhüllt zeigt. Der Vorgang der Verdrängung ist für Freuds Entdeckung des Unbewussten (wiederum im Unterschied zu Lipps) zentral: »Unseren Begriff des Unbewußten gewinnen wir aus der Lehre von der Verdrängung. Das Verdrängte ist uns das Vorbild des Unbewußten.«70 Damit erst ist der dritte Schritt der Instanziierung vollzogen – das Unbewusste wird zu einer noch in der Verdrängung regierenden Instanz, die im bewussten menschlichen Seelenleben Spuren legt. Den Therapeuten interessieren natürlich insbesondere die Symptome psychischer Störungen wie Neurosen, die zugleich Wirkungen und Indizes verdrängter traumatischer Erlebnisse sind. Gelangt der Klient mit der Hilfe des Analytikers und von Verfahren wie der freien Assoziation zur kognitiven und emotionalen Erinnerung der ursächlichen Episode, so ist es möglich, dass die betreffende Symptomatik verschwindet. Doch man muss nicht immer auf die Couch, um der Wirkungsweise des Unbewussten auf die Schliche zu kommen. 1901 veröffentlichte Freud eine Psychopathologie des Alltagslebens. In Fällen des Vergessens, Versprechens, Verschreibens oder Verlesens äußert sich Verdrängtes bzw. Unterdrücktes über den Umweg einer Fehlleistung. So erzählt jemand beispielsweise »von Vorgängen, die er in seinem Innern für ›Schweinereien‹ erklärt. Er sucht aber nach einer milden Form und beginnt: ›Dann aber sind Tatsachen zum Vorschwein gekommen‹.«71 Ein weiteres Phänomen, das Freud in einer Studie von

69 Ebd. 70  Sigmund

Freud: Das Ich und das Es. In: Studienausgabe. Bd. III (Frankfurt a. M. 2000)

284. 71  Sigmund

Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum (Frankfurt a. M. 2009) 118.

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1905 in seiner Beziehung zum Unbewussten erläutert, ist der Witz.72 Psychoanalytisch gesehen lachen wir, wenn wir durch die Überwindung eines inneren Widerstandes gegen Verdrängtes Lust empfinden. Diese Lust kann sexueller oder aggressiver Natur sein wie in obszönen, blasphemischen oder diskriminierenden Witzen; wir kennen aber auch die kindlich-spielende Lust am puren Unsinn. In Freuds energetischem Modell wird mit der Aufhebung der Unterdrückung jener Lust Hemmungsenergie frei, die wir ›ablachen‹, d. h. als Überschuss abführen. »Die Traumdeutung aber ist die Via regia zur Kenntnis des Unbewußten im Seelenleben.«73 Sie besteht darin, die Traumarbeit rückgängig zu machen, die den latenten Traum in den manifesten transformiert. Jeder von uns träumt sozusagen zwei Träume: einen, an den er sich erinnert, und einen, den er wirklich des nachts erlebt hat. Zwischen Erleben und Erinnerung ist die Zensur geschaltet, die bewirkt, dass aus dem verborgenen Traum eine auch im Tageslicht erzählbare Geschichte wird. Die Zensur selbst geschieht unbewusst. Hinter diese regulierende Kontrollinstanz zurück, also in die entgegengesetzte Richtung vom manifesten zum latenten Traum geht die Deutungsarbeit, die die Traumarbeit aufheben möchte. Einer dieser Mechanismen der Traumarbeit ist die Darstellung des latent Geträumten durch seinen Gegensatz, so dass selbst Angstträume noch auf Wunscherfüllungen hinweisen können, die jedem (latenten) Traum eigentlich zugrunde liegen.74 Latente und manifeste psychische Akte sind zwar kausal miteinander verknüpft, doch führt vom manifesten zum latenten Inhalt nur die Deutung zurück: »erst der Sinn kann darüber entscheiden, welche Übersetzung zu wählen ist.«75 Wer bei dieser Bemerkung an Nietzsches »phantastische[n] Commentar über einem ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefühlten Text«76 denkt, dürfte mit seiner Assoziation nicht falsch liegen. Das Ende der Begriffsgeschichte des 19. Jahrhunderts ist der Anfang der Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Dies gilt auch und zumal für den Begriff des Unbewussten. Die Traumdeutung markiert nur den Beginn der Psychoanalyse; dem ersten topischen Modell von Bewusstsein, Vorbewusstem und Unbewusstem folgt in den zwanziger Jahren das zweite von Es, Ich und Über-Ich, mit dem sich auch das Unbewusste weiter ausdifferenziert, weil es sich durch alle drei Instanzen zieht. Ein wichtiger Einfluss für Freud, nämlich die Hypnose, wurde in der vorliegenden Skizze nicht eigens ausgeführt, soll abschließend aber

72  Sigmund

Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. In: Studienausgabe. Bd. IV (Frankfurt a. M. 2000) 9–219. 73  S. Freud: Die Traumdeutung, a. a.O. [Anm. 68] 577. 74  Vgl. ebd. 316: »Höchst auffällig ist das Verhalten des Traumes gegen die Kategorie von Gegensatz und Widerspruch. Dieser wird schlechtweg vernachlässigt, das ›Nein‹ scheint für den Traum nicht zu existieren. Gegensätze werden mit besonderer Vorliebe zu einer Einheit zusammengezogen oder in einem dargestellt«. 75  Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Studienausgabe. Bd. I (Frankfurt a. M. 2000) 185. 76  Vgl. Anm. 41.

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wenigstens nicht ungenannt bleiben.77 Für die Rekonstruktion des Wandels im philosophischen Verständnis des Unbewussten sind die wichtigen Stationen: die Dynamisierung der Klasse dunkler Vorstellungen, die Dissoziierung des substantialisierten Unbewussten und seine Instanziierung als ein regierender Teil des psychischen Apparats. Das 19. Jahrhundert macht, nach einem Wort von Rimbaud, aus dem Ich einen Anderen. Das Unbewusste ist eine Gestalt dieses Anderen.

77  Vgl.

dazu Johann Georg Reicheneder: Vom Magnetismus und Hypnotismus zur Psychoanalyse. In: Das Unbewusste, hg. von Michael B. Buchholz u. Günter Gödde. Bd. I, a. a.O. [Anm. 1] 262–295.



Peter Brandt

Volk

Die Vorgeschichte des modernen Volksbegriffs beginnt im klassischen Altertum. Die griechischen und lateinischen Bezeichnungen für Volk (›demos‹ bzw. ›populus‹; ›ethnos‹ bzw. ›gens‹/›natio‹, daneben ›plebs‹/›vulgus‹ für die sozial niederen Schichten) suchten zwischen der unpolitischen, ethnischen Größe einerseits und der weniger eindeutig abgegrenzten politischen und sozialen Entität andererseits zu differenzieren. Das germanische Wort ›fulca‹ bezog sich auf eine größere Menschenmenge, vor allem als Kriegerschaar, ein bis ins 18. Jahrhundert geläufiger Gebrauch (bis heute: Fußvolk). Während das althochdeutsche ›folc‹ (mittelhochdeutsch ›volc‹) auf die Gesamtheit der waffenfähigen Männer, dann einschließlich der Angehörigen, ausgedehnt wurde und damit auch eine ethnische Zuordnung ausdrücken konnte, stand ›liut‹ für die rechtsfähigen Bewohner eines Territoriums und ›thiuda‹ → ›deota‹/›diet‹ für das von einem König regierte Volk im politischen Sinn, Termini, die – nach Jahrhunderte langem Zurücktreten des Worts – auf die Dauer vom »Volk« absorbiert wurden.1 Endgültig geschah das aber erst durch die barocken Sprachgesellschaften. Es ist irreführend, die im ostfränkischen, dann im römisch-deutschen Reich zusammengefassten ›gentes‹ als »Stämme« einer sie umgreifenden höheren Einheit »deutsches Volk« zu kennzeichnen. Die sich als Abstammungsgemeinschaften verstehenden ›gentes‹ und namentlich ›nationes‹ sind als politische Einheiten bezüglich des Mittelalters allenfalls für den Adel zu greifen. Daneben trat das christliche Gottesvolk (›populus Dei‹) bzw. Kirchenvolk begrifflich auf den Plan. Anders als im alten Israel, wo die fremden »Zungen« bzw. »Stämme« – nach unterstellter Ablegung ihres Götzendienstes und der Herstellung einer gerechten Ordnung – durchaus ihren besonderen Heilsauftrag zugeteilt bekamen, so die Völkerwallfahrt zum Zion (Jes. 60 – die Heiligen Drei 1 Vgl.

Reinhart Koselleck u. a.: Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache, hg. von Otto Brunner u. a., Bd. 7 (Stuttgart1992) 141–431, hier 151–280; Otfried Ehrismann: Volk. Mediävistische Studien zur Semantik und Pragmatik von Kollektiven (Göppingen 1993); Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter, hg. von Joachim Ehlers (Sigmaringen 1989). Vgl. den erwähnten Lexikon-Artikel von Koselleck u. a., Volk, auch für alles Folgende; ferner Christian Meyer u. a.: Demokratie. In: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a.O., Bd. 1, 821–899; Elisabeth Fehrenbach u. a.: Reich. In: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a.O., Bd. 5, 423–508. Zur inhaltlichen Orientierung immer noch wegweisend ist Dieter Langewiesche: Reich, Nation und Staat in der jüngeren deutschen Geschichte. In: Historische Zeitschrift 254 (1992), 341–381; ders., »Nation«, »Nationalismus«, »Nationalstaat« in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter – Versuch einer Bilanz. In: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, hg. von ders. und Georg Schmidt (München 2000) 9–30. Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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Könige bilden das ab), hat das Christentum keine Völkertheologie entwickelt. Außerhalb der Kirche als Volk Gottes – das irdische Dasein stets als vorübergehend gedacht und deshalb auch begrifflich weniger relevant – gab es keinen theologischen Platz für den empirischen Volksbegriff. Allein die noch nicht getauften Heidenvölker firmierten dann als ›gentes‹. Möglicherweise war diese theologische Leerstelle einer der Gründe dafür, dass sich die jeweiligen nationalen Kirchen, vor allem, aber nicht allein die protestantischen, in der Moderne so einfach mit jeweiligen Varianten nationaler Ideologien, die in vieler Hinsicht ja säkularisierte Heilslehren waren, befreundeten bzw. sich für nationalantagonistische Ziele einspannen ließen, so im Ersten Weltkrieg.2 Das Volk im staatsrechtlichen Sinn (›populus‹) bestand im vormodernen, insbesondere im frühneuzeitlichen Europa allein aus denjenigen, die sich im status politicus befanden; wenn von ›natio‹ die Rede war, verwies das auf Sprachgruppen bzw. auf die Vorstellung einer Abstammungsgemeinschaft. Die Organisationsform des politischen Volkes waren die Stände, die letztlich, besonders ausgeprägt in Ungarn und in Polen, Adelsnationen verkörperten, während in Mittel- und Westeuropa bürgerliche, namentlich in Nordeuropa sogar bäuerliche Stände vertreten waren – diese allerdings ohne echte Stimme. Die »deutsche Nation« bzw. das politische Volk des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bestand aus dem Reichsadel, der (katholischen) Reichskirche und den Reichsstädten (in welchen intern ›cives‹, Leute mit Bürgerrecht, das Volk ausmachten). Diese drei Stände waren auf dem Reichstag vertreten – ein Kriterium auch in Frankreich (die Generalstände), England (das Parlament) und ebenso anderen Ländern. Nation bzw. Volk konnten begrifflich im modernen Sinn erst ausgeformt werden, als die Ständeordnung unter dem Druck der ökonomisch-sozialen Veränderungen begann, in Auflösung zu geraten. Die begriffliche Ebene reflektierte die für die zweite Hälfte des 18. und das 19. Jahrhundert prägende »Wechselwirkung von Nations- und Gesellschaftsverwirklichung«.3 Unter den hier relevanten 2  Vgl.

Karl Hammer: Deutsche Kriegstheologie 1870–1918 (München 1971); Volk-NationVaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, hg. von Horst Zilleßen (Gütersloh 1970); »Gott mit uns«. Nation, Religion und Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Gerd Krumeich und Hartmut Lehmann (Göttingen 2000). 3  Werner Conze: Nation und Gesellschaft. Zwei Grundbegriffe der Revolutionären Epoche. In: Historische Zeitschrift 198 (1964), 1–16, hier 11. – Zum Folgenden vgl. Richard von Dülmen: Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland (Frankfurt a. M. 1986); Wolfgang Ruppert: Bürgerlicher Wandel. Studien zur Herausbildung einer nationalen deutschen Kultur im 18. Jahrhundert (Frankfurt a. M./New York 1981); Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, insbes. Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815 (München 1987). Zur längerfristigen Nationalisierung des Denkens und Empfindens vgl.: Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit, hg. von Bernhard Giesen (Frankfurt a. M. 1991); Nationales Bewusstsein und kollektive Identität, Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit 2, hg. von Helmut Berding (Frankfurt a. M. 1994); Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven

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Teilprozessen sind die Formierung einer gesamtnationalen Kommunikationsgemeinschaft der Gebildeten einschließlich der Entstehung eines Nationaltheaters und einer Nationalliteratur sowie die Ausweitung der Lesefähigkeit und der Lesepraxis, schließlich die Zurückdrängung des alten Gelehrtenlateins, des höfischaristokratischen Französisch sowie tendenziell auch der popularen Dialekte hervorzuheben. Friedrich Nicolai zählte 1770 nicht mehr als 20.000 Menschen zu den Teilnehmern des aufgeklärten kulturellen und politischen Diskurses im deutschsprachigen Mitteleuropa.4 Allerhöchstens eine halbe Million Menschen lasen um 1800 literarische Werke in deutscher Sprache. Eine wachsende Zahl von Zeitschriften, vielfach und bis 1800 zunehmend als »deutsch« tituliert (wobei das »Deutsche« im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts mehr und mehr mit politischen Begriffen wie »Volk« und »Bürger« verbunden wurde),5 signalisierte das Aufkommen einer bürgerlich-deutschen kulturnationalen Bildungsgesellschaft im Schoß des Alten – so auch die Expansion des sich stetig differenzierenden Vereinswesens, das zur Ausbildung eines nachständischen Bewusstseins und Verhaltensstils im hohen Maß beitrug. Der Patriotismus des 18. Jahrhunderts bezog sich zumeist auf recht kleine Räume; daneben traten verschiedentlich Verfechter einer gesamtstaatlichen »Vaterlandsliebe« auf, die – wie bei Thomas Abbt für Preußen und bei Joseph von Sonnenfels für Österreich6 – aufklärerisch und antiständisch, insbesondere antiaristokratisch, aber nicht antimonarchisch ausgerichtet und somit auf die Homogenisierung der betreffenden Monarchien orientiert waren. Unter Patriotismus verstand man generell eine Haltung verantwortlichen und selbstlosen Einsatzes für das Gemeinwesen, wobei die allgemeine Menschenliebe, der Kosmopolitismus, eine übergeordnete Richtlinie bot, wenigstens theoretisch.7 ›Vaterland‹, ›Nation‹ und ›Volk‹ konnten sich auf unterschiedliche Ebenen beziehen – eine Mehrdeutigkeit, die auch noch für große Abschnitte des 19. Jahrhunderts galt. Friedrich Carl von Mosers Versuch, mit seiner Schrift Von dem Deutschen national-Geist (1765) einen erneuerten Reichspatriotismus zu propagieren, bediente sich zwar einer zeitgemäßen Sprache und war Teil eines aufBewusstseins in der Neuzeit 3, hg. von ders. (Frankfurt a. M. 1996); Neuzeit: Von der Französischen Revolution bis zum europäischen Nationalismus. Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 4, hg. von Iring Fetscher und Herfried Münkler (München 1986); Jörn Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840) (Frankfurt a. M. 1998); George L. Mosse: Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen von den Napoleonischen Kriegen bis zum Dritten Reich (Frankfurt a. M./New York 1976). 4  Vgl. Hagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte (München 1994) 147. 5  Vgl. – auch für das Folgende – Helga Schultz: Mythos und Aufklärung. Frühformen des Nationalismus in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 263 (1996), 31–67, hier 52 ff. 6  Vgl. Thomas Abbt: Vom Tode für das Vaterland (Berlin/Stettin 1780); Joseph von Sonnenfels: Über die Liebe des Vaterlandes (Wien 1771). 7  Vgl. u. a.: Patriotismus, hg. von Günter Birtsch (Hamburg 1991); Rudolf Vierhaus: Politisches Bewußtsein in Deutschland vor 1789. In: Der Staat 6 (1967), 175 ff.; Christoph Prignitz: Vaterlandsliebe und Freiheit, Deutscher Patriotismus von 1750 bis 1850 (Wiesbaden 1981).

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geklärten Diskurses, doch verstand der vom Pietismus beeinflusste Autor unter dem »Einen [deutschen] Volck«, auf dessen Existenz er sich berief,8 letztlich die tradierten Reichsstände; sein Vorstoß fand wenig Resonanz. War eine im ethnisch-sprachlichen Sinn politisch-nationale Strömung somit kaum auszumachen, so repräsentierte doch die literarische »Deutsche Bewegung« seit dem Sturm und Drang so etwas wie einen am Volk orientierten Kulturnationalismus, der sich in einer vermehrten Beschäftigung mit Stoffen germanischer Mythologie und germanisch-deutscher Geschichte niederschlug. Eine zentrale Botschaft war die Abwendung von der französischen Kulturhegemonie sowie der damit einhergehenden formalistischen, »künstlichen« Adels- und Hofkultur und im Gegenzug die Hinwendung zu der als verwandt erlebten englischen Literatur, insbesondere zu Shakespeares Dichtung.9 Johann Christoph Adelung meinte zu Beginn der 1780er Jahre den Stand der Äußerungen zusammenzufassen, als er schrieb: »Nation und Volk sind zwar vieldeutige Ausdrücke; allein dem gewöhnlichen Sprachgebrauch nach bezeichnen sie eine Menge Menschen, welche bey einer gemeinschaftlichen Abstammung einerley Vorstellungen durch einerley Laute, und auf einerley Art ausdruckt […]«.10 Als »Sprachgemeinschaft, Kulturgemeinschaft, Abstammungsgemeinschaft, Kognitionsgemeinschaft/Wesensgemeinschaft«11 waren die weitgehend synonym gebrauchten, jedenfalls nicht klar geschiedenen Begriffe ›Nation‹ und ›Volk‹ schon im 18. und sogar im 17. Jahrhundert geläufig. ›Volk‹ drückte in der Tradition der staatsrechtlichen Bedeutung von ›populus‹ dabei teilweise stärker als  8  Friedrich Carl von Moser: Von dem Deutschen national-Geist (o. O. 1765), beginnt mit dem Satz: »Wir sind Ein Volck, von Einem Nahmen und Sprache, unter Einem gemeinsamen Oberhaupt, unter Einerley unsere Verfassung, Rechte und Pflichten bestimmenden Gesezen zu Einem gemeinschaftlichen grossen Interesse der Freyheit verbunden, auf einer mehr als hundertjährigen national-Versammlung zu diesem wichtigen Zweck vereinigt«. Und weiter: »[E]in in der Möglichkeit glückliches, in der That selbst aber sehr bedauernswürdiges Volck.« Vgl. Notker Hammerstein: Das politische Denken Friedrich Carl von Mosers. In: Historische Zeitschrift 212 (1971), 316 ff.  9  Vgl. Hermann Nohl: Die Deutsche Bewegung. Vorlesungen und Aufsätze zur Geistesgeschichte von 1770 bis 1830 (Göttingen 1970); Paul Kluckhohn: Die Idee des Volkes im Schrifttum der deutschen Bewegung von Möser und Herder bis Grimm (Berlin 1934); Wolfgang Frühwald: Die Idee kultureller Nationsbildung und die Entstehung der Literatursprache in Deutschland. In: Nationalismus in vorindustrieller Zeit, hg. von Otto Dann (München 1986) 129–142; Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit, hg. von Klaus Garber (Tübingen 1989); Sven Aage Jørgensen u. a.: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik: 1740–1789 (München 1990); Gerhard Schulz (Bearb.): Das Zeitalter der Französischen Revolution: 1789–1806 (München 22000); ders. (Bearb.): Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration: 1806–1830 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bde. 6 u. 7/1 u. 2) (München 1989). 10 Johann Christoph Adelung: Umständliches Lehrgebäude der Deutschen Sprache …, Bd. 1 (Leipzig 1782) 5, zit. nach Andreas Gardt: »Nation« und »Volk«. Zur Begriffs- und Diskursgeschichte im 17. und 18. Jahrhundert. In: Nation. Europa. Welt. Identitätsentwürfe vom Mittelalter bis 1800, hg. von Ingrid Baumgärtner u. a. (Frankfurt a. M. 2007) 467–490, hier 469. 11  Vgl. A. Gardt: Nation, a. a.O. [Anm. 10].

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›Nation‹ die politische Komponente aus. Entsprechend gleichbedeutend waren im Englischen ›nation‹ als Gemeinschaft einer Anzahl von Menschen innerhalb fest umrissener Grenzen unter einer Regierung und ›people‹, das aber auch als Komponente von ›nation‹ verstanden werden konnte. Britanniens ›nation‹ bzw. ›people‹ waren charakterisiert durch ihre spezifischen ›liberties‹, die im Bedeutungsfeld des Parlaments und des Protestantismus angesiedelt waren.12 Auf die staatliche Einheit wurde in Großbritannien (eine einzige englisch-schottische ›nation‹ seit 1707) und ebenso in Frankreich aus nahe liegenden Gründen bei der Begriffserklärung also erheblich mehr Gewicht gelegt als in Deutschland. Daneben existierte das Volk (nicht die Nation) als gemeines, einfaches oder als niederes Volk, als ›common people‹ oder ›menu peuple‹, und zwar mit deutlich abwertender Tendenz aus der Perspektive der politischen Funktionäre, des Adels, der Geld- oder der Bildungselite. Die sprachliche Unbeholfenheit der »geringeren Volksklassen« wurde dabei nicht selten als Ausdruck geistiger und moralischer Defizite gesehen.13 Doch, wie der schon zitierte Adelung 1780 registrierte, werde jüngst versucht, das Wort Volk auch »in der Bedeutung des größten, aber untersten Theiles einer Nation oder bürgerlichen Gesellschaft wieder zu adeln«.14 Während Klopstock seine »Gelehrtenrepublik« in strikter Abgrenzung von der Masse der Bevölkerung konstruierte und Goethe zwischen dem empirischen Volk und der »Volkheit« als der Volksidee der »Verständigen« und »Vernünftigen« unterscheiden wollte,15 wandten sich Autoren wie Möser, Herder und Bürger16 explizit an alle Deutschsprachigen als ihr Volk und suchten gerade dessen mittlere und untere Schichten gezielt aufzuwerten, wobei der »Pöbel« weiter in Verruf blieb, ohne dass beide definitorisch klar geschieden waren. Vor allem in den letzten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts entwickelte die lange unterschätzte Volksaufklärung ein wirkliches Interesse für das Empfinden und Handeln namentlich der bäuerlichen Schichten, die aber ausschließlich Objekt der Gebildeten, der Träger aufklärerischer Bemühungen, blieben. Dennoch machte sich bei den Vertretern der Volksaufklärung die Sehnsucht geltend, die »eigenen Lebensformen aus dem Reservoir des Naiven, Ungebildeten, Natür12  Vgl. Karsten

Behrndt: Die Nationskonzeptionen in deutschen und britischen Enzyklopädien und Lexika im 18. und 19. Jahrhundert (Frankfurt a. M. u. a. 2003) insb. 29–45. Vgl. auch Linda Colley: Britons. Forging the Nation 1707–1837 (New Haven 1992). 13  Vgl. A. Gardt: Nation, a. a.O. [Anm. 10] insb. 478. 14  Zit. nach Alexander von Bormann: Volk als Idee. Zur Semiotisierung des Volksbegriffes. In: Volk, Nation, Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe, hg. von ders. (Würzburg 1998) 35–56, hier 35. 15  Vgl. ebd., 49 f. Goethes Unterscheidung von »Volk« u. »Volkheit« als Wille, »den die Menge niemals ausspricht, den aber der Verständige vernimmt und den der Vernünftige zu befriedigen weiß«. 16 Vgl. Justus Möser: Anwalt des Vaterlands. Ausgewählte Werke (Leipzig/Weimar 1978); Gottfried August Bürger: Werke in einem Band, hg. von der nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Berlin/Weimar 51990); für Herder vgl. weiter unten.

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lichen zu regenerieren«,17 wie man es hauptsächlich beim Landmann zu finden hoffte. Johann Gottlieb Herders Elaborierung des Volksbegriffs bedeutete einen Umschwung im Hinblick auf die Entschiedenheit und Eindeutigkeit, mit der er die Sprache und die damit verbundene tradierte Kultur zum Bestimmungskriterium schlechthin machte.18 Die einzelnen, von ihm systematisierten Elemente des »Volkes« und seiner theoretisch und praktisch richtigen Behandlung waren als solche schon länger im Spiel. Eine Traditionslinie verlief von Luthers Bibelübersetzung über die Sprachgesellschaften des 17. und früheren 18. Jahrhunderts. Berührungspunkte gab es mit der Volksaufklärung wie mit der Reaktivierung des Volkes in der Staatsrechtsliteratur, beides zeitlich parallel zu Herders Interventionen. Unpolitisch war dieser nur insofern als er nicht vom Staat, sondern von der Sprach- und Kulturgemeinschaft her dachte, eben dem organologisch konzipierten Volk, das bei ihm die synonym verwendete Nation terminologisch dominierte. Denn nicht die Gesetzgebung, sondern die Sprache bildete für Herder das stärkste Band um das grundlegende, göttlich gegebene volkliche Kollektiv.19 Offenkundig ist Herders sozialkritische und antipartikularistische Einstellung, auch wenn er noch keinen deutschen Nationalstaat im Sinn hatte. Zwei Aspekte waren für Herder zentral: erstens die Betonung der Eigengesetzlichkeit nationaler bzw. volklicher Entwicklung; auch die richtigen politischen Formen und das Recht könnten nur aus den jeweiligen spezifischen Traditionen herausgearbeitet werden. Das Herder’sche Fortschrittsdenken war relativistisch. Zweitens erhob er die Völker auf den Status von Quasi-Individualitäten. Nur durch die Kultivierung der eigenen Sprache könnten die Gesamtheit des Volkes wie die Einzelmenschen zu einer geistigen Vervollkommnung gelangen. Dabei ging es nicht nur und nicht in erster Linie um die Hochkultur und die Buchsprache, sondern besonders auch um die in den breiten Volksschichten schlummernden kreativen Kräfte, die freizusetzen seien. In erster Linie in der 17  Reinhart Siegert und Holger Böning: »Volksaufklärung«. Bibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum – Ausgewählte Schriften zur Volksaufklärung. Ein Werkstattbericht. In: Das Volk im Visier der Aufklärung. Studien zur Popularisierung der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert, hg. von Anne Conrad u. a. (Hamburg 1998) 34. 18  Vgl. Herders Sämmtliche Schriften, hg. von Bernhard Suphan u. a., 33 Bde. (Berlin 1877– 1913, ND Hildesheim 1967), darin vor allem: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791). In: ebd., Bde. 13 u. 14; Briefe zur Beförderung der Humanität (1796). In: ebd., Bd. 18. – Zu Herder vgl. Frederick M. Barnard: Zwischen Aufklärung und politischer Romantik. Eine Studie über Herders soziologisch-politisches Denken (Berlin 1964); Michael Zaremba: Johann Gottfried Herders humanitäres Nations- und Volksverständnis. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland (Berlin 1985). 19  »Wer in derselben Sprache erzogen ward, wer sein Herz in sie schütten, seine Seele in ihr ausdrücken lernte, der gehört zum Volk dieser Sprache«. Johann Gottfried Herder: Haben wir noch das Publicum und Vaterland der Alten? In: ders., Briefe zur Beförderung der Humanität. Fünfte Sammlung (1795). In: Herders Sämmtliche Werke, Bd. VI, a. a.O. [Anm. 18] (Berlin 1881) 284–319, hier 286.

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Volkspoesie, namentlich in den Volksliedern, die Herder in zehn verschiedenen Sprachen in eigener Übersetzung edierte, offenbare sich die wahre Substanz der jeweiligen volklich-nationalen Einheiten, deren Bewusstsein deshalb auf diesem Weg geweckt und gefördert werden sollte. »Ein Volk, das keinen Nationalgesang hat, hat schwerlich einen Charakter.«20 Dabei sollte dann auch die (geläuterte) Bildungselite zum Zuge kommen. Auch wenn die Individualisierung der Völker für Herder keine Hierarchisierung der Wertigkeit einschloss und er schon in den 1790er Jahren vor dem »Nationalwahn« warnte,21 ging es ihm wesentlich um die geistige Integration seines eigenen, des deutschen Volkes. Gottfried August Bürger mit seinem Gedichtband von 1778, Achim von Arnim und Clemens Brentano (Des Knaben Wunderhorn, 1806) und die Gebrüder Grimm mit ihrer Märchensammlung (1812/13) trugen das Anliegen weiter. In der von John Locke gemäß britischer Tradition entwickelten Konzeption des die Freiheit der individuellen Bürger und ihr Eigentum schützenden Verfassungsstaats, die die Sichtweise des späteren Liberalismus formulierte, kam das Volk hauptsächlich als Instanz der Berufung gegen absolutistische Bestrebungen vor.22 Der Theoretiker der Volkssouveränität wurde Jean-Jacques Rousseau.23 Über die Idee der »volonté général«, die trotz vorgesehener direktdemokratischer Gesetzgebung Züge eines objektiven, jenseits des individuellen Willens existierenden Gemeinwohls trägt, postuliert Rousseau die Identität von Volksherrschaft und individueller Selbstbestimmung. Das ist möglich, weil er das Volk zu einem personalen Subjekt macht, konstituiert durch die Ausübung seiner politischen Selbstbestimmung. Einen Widerspruch zwischen der Freiheit der Einzelnen und der uneingeschränkten Entscheidungsmacht der Volksversammlung gibt es in Rousseaus Theorie nicht, die ab 1792 vom französischen Revolutionsparlament zugrunde gelegt wurde. Rousseau war ein Bewunderer der Athener Polis-Demokratie (auch wenn er lieber von »Republik« sprach), die, anknüpfend 20  Herders Sämmtliche Werke, Bd. XXVII, a. a.O. [Anm. 18] 180. Vgl. besonders die Schriften »Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker (1773). In: Bd. V, 159–207, sowie die Volksliedsammlungen von 1774 und 1778/79. In: Bd. XXV. 21  J. G. Herder: Über Wahn und Wahnsinn des Menschen. In: Herders Sämmtliche Werke, Bd. XIII, a. a.O. [Anm. 18] 206. 22  Vgl. v. a. John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, hg. von Walter Euchner (Frankfurt a. M. 1977); dazu W. Euchner: Naturrecht und Politik bei John Locke (Frankfurt a. M. 1969). 23  Vgl. für das Folgende vor allem Jean-Jacques Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechts [1762] (Frankfurt a. M. 2005). Dazu vgl.: Die Republik der Tugend. Jean-Jacques Rousseaus Staatsverständnis, hg. von Wolfgang Kersting (Baden-Baden 2003); Peter Graf von Kielmannsegg: Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedingungen demokratischer Legitimität (Stuttgart 1977) 148 ff. Oliviero Angeli: Volk und Nation als »Zukunftsbegriffe«. Politische Leitbilder im begriffsgeschichtlichen Kontext der Aufklärung (Münster 2004) 60, weist darauf hin, dass auch der als solcher von allen ethnischen und kulturellen Eigenheiten abstrahierende Volksbegriff Rousseaus in der Beschäftigung mit den Verfassungsentwürfen für Korsika und Polen sowie im »Lettre à d’Alembert« im Sinne bestimmter kulturnationaler und sittlicher Volkscharaktere erweitert wurde.

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an Aristoteles, viele Jahrhunderte lang als ein Modell aus der Staatsformenlehre ohne Bezug zur gesellschaftlichen Realität mitgeschleppt worden war. Auch für Immanuel Kant ist das Volk ein staatsrechtlicher Begriff. Es entsteht in einem Prozess freier Willensbildung im Hinblick auf die staatliche Grundordnung. Unter der Bezeichnung »Nation« weist Kant auf die Faktizität der gemeinsamen Abstammung hin, und er definiert das Volk demgegenüber als »die in einem Landstrich vereinigte Menge, in so fern sie ein Ganzes ausmacht«.24 Der philosophische Republikanismus des Königsbergers, der den Staat wesentlich vom Recht und nicht vom Volk her deutet, formuliert keine eindeutigen konstitutionalistischen Konsequenzen, sondern verharrt vor dieser Hürde gewissermaßen im Unbestimmten. Kants Devise, der Gesetzgeber müsse so entscheiden, »als ob« die Gesetze »aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können«,25 konnte auch im Sinne eines aufgeklärten Reformabsolutismus verstanden werden, was nicht untypisch für die Gruppe der Gebildeten in Deutschland dieser Zeit gewesen wäre. Auch in der aus den spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen und politischen Traditionen hervorgegangenen ersten konstitutionellen Monarchie Europas, der britischen, beschränkte sich das Volk (›people‹) traditioneller Weise auf die politische Nation der das öffentliche Leben Verfolgenden und Partizipation Beanspruchenden; in der Regel verstand man darunter den aufgrund von Eigentumsqualifikation kleinen Wahlkörper, im Wesentlichen also die privilegierten, großenteils aristokratischen Oberschichten. Als der beschleunigte wirtschaftlich-soziale Wandel seit Mitte des 18. Jahrhunderts einer erweiterten bürgerlichen Gruppe ökonomische Unabhängigkeit und damit gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichte und sich eine politische Öffentlichkeit entwickelte, kam mit den innerstaatlichen Verhältnissen auch die Begrifflichkeit in Bewegung. Sowohl das Parlament als auch die bürgerliche, ab Ende des 18. Jahrhunderts zudem die sich davon separierende plebejische Öffentlichkeit bezogen ihre Legitimitätsressourcen aus dem Volk (The Voice of the People).26 Während die parlamentarische Opposition diesem zunehmend eine Rolle als eigener Faktor im Rahmen der tradierten Verfassung zubilligte, auch jenseits des Wahlakts, formierte sich eine außerparlamentarische Reformbewegung, die zunächst von Grundbesitzern, Kaufleuten und Akademikern, in den 1790er Jahren dann in erheblichem Umfang von kleinen Handwerkern und Händlern getragen wurde, letztere im Übergang in die Arbeiterklasse befindlich, doch noch orientiert an vorindustri24 

Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 2. Teil (1798) Akademie-Ausgabe, Bd. VII, 311. Vgl. zum Folgenden Ingeborg Maus: »Volk« und »Nation« im Denken der Aufklärung. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 5 (1994) 602–612. 25  Zit. nach Hans Vorländer: Demokratie: Geschichte, Forum, Theorien (München 2003) 74 f. 26  So hieß die von dem Baumwollspinner und Gewerkschafter John Doherty gegründete Zeitschrift. Vgl. Raymond G. Kirby and A. E. Musson: The Voice of the People: John Doherty, 1785–1854. Trade Unionist, Radical and Factory Reformer (Manchester 1975).

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ellen Gesellschaftsbildern. Neben der Presse artikulierte sich die Reformbewegung in öffentlichen Kundgebungen und Versammlungen, was vor allem für die unteren Schichten relevant war.27 Auch in ihrer quasi jakobinischen Phase wollte die nach dem Ende der antinapoleonischen Kriege massenhaft wieder auflebende, dann zeitweise unterdrückte populare Reformbewegung an die Idee des alten Republikanismus und die Country-Ideologie mit ihrem eigentumsorientierten Bürgerbegriff anknüpfen, die sie mit dem Naturrechtsdenken amalgamierte. Man verstand die wenig kodifizierte britische Verfassung als vortrefflich, wollte sie aber durch das allgemeine und gleiche Wahlrecht, häufigere Wahlen und die Stärkung des Parlaments erweitern. Die Feindbilder waren insofern zunächst eher der parasitäre Steuerstaat des bestehenden Regimes und seiner Nutznießer. Nach 1820 trat dann der Klassengegensatz von Arbeit und Kapital auch bewusst in den Vordergrund, und die Massenbewegung, die sich um die demokratische Wahlrechtsforderung der People´s Charter von 183828 gruppierte, hatte überwiegend proletarischen Charakter. Während die große Reform Bill von 1832 als Durchbruch der ›middle classes‹ (ein in diesen Jahren häufig synonym mit ›people‹ verwendeter Ausdruck) wahrgenommen wurde, bestanden die Arbeiterführer darauf, in das Volk die produktiven Arbeiter einzubeziehen; »for what are the people without us«. »We are the people.«29 Das Volk als politischer Souverän erblickte – wenn man von Korsikas, von Rousseau inspirierter Demokratie unter Führung Pascal Paolis von 1755–1769 absieht30 – erstmals in Nordamerika das Licht der Welt. Dort stellte die Virginia Bill of Rights 1776 fest: »That all power is vested in and consequently derived from the people …«31 Doch wer war dieses Volk? Jedenfalls zunächst nicht das Volk der USA, sondern das der Einzelstaaten. In den Kolonien, die dann die Union begründeten, fehlte nicht nur jedes feudale Erbe; es existierte sogar in den townhall meetings Neuenglands eine versammlungsdemokratische Tradition. Schon vor der Unabhängigkeit bestehende Repräsentationssysteme und ein 27  Vgl.

– auch für das Folgende – Günther Lottes: Politische Aufklärung und plebejisches Publikum. Zur Theorie und Praxis des englischen Radikalismus im späten 18. Jahrhundert (München 1979); Andreas Wirsching: Parlament und Volkes Stimme. Unterhaus und Öffentlichkeit im England des frühen 19. Jahrhunderts (Göttingen/Zürich 1990); Betty Kemp: King and Commons, 1660–1832 (London 21959); Albert Goodwin: The Friends of Liberty. The English Democratic Movement in the Age of the French Revolution (London 1979); Edward P. Thompson: The Making of the English Working Class (Harmondsworth 21980). 28  Vgl. The six points of the People’s Charter; Text of the first petition, u. a. In: www.chartist. net [31.08.2014]. 29  Zit. nach A. Wirsching: Parlament, a. a.O. [Anm. 27] 103. 30  Vgl. Francis Beretti: Pascal Paoli et l’image de la Corse au dix-huitième siècle (Oxford 1988); Jean-Jacques Rousseau: Entwurf einer Verfassung für Korsika. In: ders., Kulturkritische und Politische Schriften in zwei Bänden (Berlin 1989) 373–429, 552–554. 31 Virginia bill of rights, June 12, 1776. In: Staatsverfassungen. Eine Sammlung wichtiger Verfassungen der Vergangenheit und Gegenwart in Urtext und Übersetzung, hg. von Günther Franz (München 31964) 6.

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durchweg mehr als die Hälfte der erwachsenen weißen Männer einschließendes Wahlrecht beförderten im Krieg mit dem Mutterland und in den folgenden Jahrzehnten eine Dynamik, die in der frühzeitigen Durchsetzung des allgemeinen, gleichen Männerwahlrechts (zunächst nur für Weiße) kulminierte. In den ersten Jahren der Konfrontation der Kolonien mit der Kolonialmacht hielten die oppositionellen Amerikaner noch an der hoch geschätzten britischen Verfassung und an der Gemeinschaft mit dem britischen Volk fest. Sie sahen sich als Bestandteil einer das Gesamtreich betreffenden angelsächsischen Erneuerungsbewegung. In dem Maß, wie sich der Konflikt zuspitzte, wandten sie sich nicht nur vom König, sondern auch vom Volk der Briten ab. Das 1787 beim Übergang vom Staatenbund zum Bundesstaat beinahe handstreichartig eingeführte Volk der USA (»We the people of the United Staates […]«)32 existierte bis dahin allenfalls in der revolutionären Rhetorik. Die großen, enthusiastischen, auch mit sozialen Hoffnungen verbundenen Verfassungsfeiern des Jahres 1788, an denen sich vor allem die städtischen Mittel- und Unterschichten beteiligten, dann auch die Ergänzung der Verfassung durch die Bill of Rights schufen mit der Integration zumindest eines Teils der Anti-Federalists die Voraussetzungen dafür, dass neben den Völkern der Staaten auch das übergreifende Volk der Union begriffliche und reale Substanz gewinnen konnte. Schon bald entwickelte sich ein auch kulturelles Eigenbewusstsein.33 Während Thomas Jefferson die gesamtnationale Identität der USA hauptsächlich aus der Idee schöpfen wollte, »which is tending to unite the people in object and will«,34 waren die Federalists in erster Linie von dem Motiv geleitet, die demokratisierende Wirkung der Revolutionsereignisse zu konterkarieren. Staatstheoretische und machtpolitische Überlegungen verbanden sich mit dem unverhohlen geäußerten Misstrauen gegen das reale Volk der unteren Schichten. Nicht zuletzt im Interesse der Verteidigung des Eigentums wurde die Volkssouveränität mittels vertikaler sowie horizontaler Gewaltenteilung eingehegt und ausbalanciert. Die Furcht der sozial herrschenden Klassen aller Länder vor der demokratischen Diktatur des Volkes wurde also nicht erst durch die Sansculottenbewegung und den terreur in Frankreich hervorgerufen, allerdings dadurch beträchtlich verstärkt. Für die große Konjunktur des Nations- wie des Volksbegriffs in Europa nach 1800 war indessen die Französische Revolution entscheidend. Mirabeau schlug am 15. Juni 1789 vor, dass sich die Deputierten der Generalstände »représen32 

Constitution of the United States, September 17, 1787. In: Staatsverfassung, a. a.O. [Anm. 31] 10–37 (Zusatzartikel 1–10 von 1791, 37 f.) 10. 33 Vgl. zusammenfassend Jürgen Heideking: Einheit aus Vielfalt: Die Entstehung eines amerikanischen Nationalbewusstseins in der Revolutionsepoche 1760–1820. In: Volk-NationVaterland, hg. von Ulrich Hermann (Hamburg 1996) 101–117; ders.: Die Verfassung vor dem Richterstuhl. Vorgeschichte und Ratifizierung der amerikanischen Verfassung 1787–1791 (Berlin 1988). 34  Zit. nach Bernard Bailyn u. a.: The Great Republic: A History of the American People (Boston /Toronto 1977) 371.

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tants du peuple français« nennen sollten.35 Doch setzte sich für den erweiterten Dritten Stand mit großer Mehrheit die Bezeichnung Assemblée Nationale durch. Bei dieser Entscheidung fiel ins Gewicht, dass schon seit den 1750er Jahren die aristokratische Opposition gegen das absolute Königtum mit den historischen Freiheitsrechten der »Nation« als einer auch den Monarchen verpflichtenden Oberinstanz argumentiert hatte. Diesen »Kampfbegriff der Despotismuskritik«36 nahmen dann die Sprecher des liberalen Konstitutionalismus im Vorfeld des Umsturzes der Adelsopposition aus der Hand und kehrten ihn gegen diese, indem sie – wie Abbé Sieyès – das Volk sozial umfassend definierten und dessen im Dritten Stand versammelte Masse als die nützlichen Gemeinschaftsglieder gegen die parasitären oberen Stände abgrenzte: 25 Millionen gegen 25.000.37 Schnell setzte sich die Idee einer überständischen Nationalversammlung und einer egalitären Staatsbürgernation durch; vermittelt über den Repräsentationsgedanken, wie ihn Sieyès mitgeliefert hatte, befreundete man sich ohne großen Widerstand mit der Unterscheidung zwischen Aktiv- und Passivbürgern. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789, 1791 aufgenommen in die September-Verfassung,38 verband die Mirabeau’sche Formel: »Repräsentanten des französischen Volkes«, mit der Feststellung der Souveränität (»une, indivisible, inaliénable et inprescriptible«) der Nation. ›Nation‹ wie auch das nachgeordnete, fast synonym gebrauchte ›peuple‹ war in der ersten Phase der Revolution ein Integrationsbegriff. In der Radikalisierungsphase ab 1792 brachten die Sprecher der städtischen versammlungsdemokratischen Massenbewegung die Souveränität der Nation gegen die des Parlaments in Stellung. Während auch die Jakobiner-Regierungen an der integrativen Bedeutung von ›peuple‹ und ›nation‹ festhielten, breitete sich der Ausdruck ›nation sansculotte‹ aus, der zwar die Aktivbürgerschaft auf alle männlichen Staatsbürger ausdehnte, aber, nachdem man Adelige und illoyale Priester schon früher ausge35  Zit. nach Jean Tulard u. a.: Histoire et dictionnaire de la Revolution française 1789–1799 (Paris 1987) 1029. 36  Elisabeth Fehrenbach: Nation. In: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, Heft 7, hg. von Rolf Reichardt u. a. (München 1986) 75–107, hier 86. Vgl. zum Folgenden außerdem Pierre Nora: Nation. In: Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Bd. II, hg. von François Furet und Mona Ozouf (Frankfurt a. M. 1988) 1221–1238; Etienne François: »Peuple« als politische Kategorie. In: Volk-Nation-Vaterland, a. a.O. [Anm. 33] 35–45. Vgl. auch Gérard Fritz: L’Idée de peuple en France du XVIIe au XIXe siècle (Straßburg 1988); Jacques Guilhaumou: La langue politique et la Revolution française. De l’évènement à la raison linguistique (Paris 1989). 37  Emmanuel Joseph Siéyès: Was ist der Dritte Stand? In: ders., Politische Schriften 1788– 1790, hg. von Eberhard Schmidt und Rolf Reichardt (Darmstadt/Neuwied 1975) 122 ff. 38 Vgl. Constitution Française: 1791 Septembre 3. In: Staatsverfassungen, a.  a.O. [Anm. 31] 302–370, hier 314. – Zu den im weiteren Sinn verfassungsgeschichtlichen Konnotationen des Volksbegriffs vgl. durchgehend: Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, bisher 2 Bde., hg. von Peter Brandt et al. (Bonn 2006 und 2012), das Schlagwort »Volk« und verwandte Termini zu ermitteln durch die Suchfunktion der jeweils zugehörigen Quellen-CD-ROM.

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grenzt hatte, jetzt auch reiche Wirtschaftsbürger, die »Aristokratie des Geldes«, tendenziell ausschloss.39 Der spezifische Volksbegriff wurde von Anfang an von Jean Paul Marat prominent gemacht; Seine Zeitschrift L’Ami du Peuple erschien seit September 1789 und galt als Sprachrohr der plebejischen Strömung. In demselben Sinn appellierte Jacques Roux vier Jahre später an den »Peuple souverain, lève toi […] pour la dernière fois«:40 gegen die innere und äußere Konterrevolution, gegen die Volksfeinde. Noch deutlicher war die Identifikation des Volkes mit den, insbesondere städtischen, Unterschichten in Gracchus Babeufs frühsozialistischem Manifest der Plebejer, das er 1795, in dem Jahr, als das Volk im Frühjahr zum letzten Mal »erwachte« und aufstand, in seiner Zeitung Tribun de Peuple ausdrücklich an die unterdrückte Volksmehrheit adressierte.41 Deren Ausschaltung (wie auch das weitgehende terminologische Verschwinden des Volkes) besorgten die Thermidorianer seit dem Sommer 1794, denen die den Massen gegenüber durchaus misstrauische Jakobiner-Regierung unter Führung Robespierres durch die Gleichschaltung der Volksgesellschaften und die Abschaffung der Revolutionsarmeen in der Provinz bis Frühjahr 1794 bereits einen Großteil der Arbeit abgenommen hatte. Die zentrale Forderung Babeufs und seiner »Verschwörung der Gleichen« war die Inkraftsetzung der faktisch niemals praktizierten Konvents-Verfassung von 1793.42 Schon in den Beratungen der Nationalversammlung hatten sich zunehmend plebiszitäre Motive geltend gemacht, ohne dass der repräsentative Charakter der 1791er Verfassung wesentlich erweitert worden wäre. Doch ein Jahr danach deklarierte der Konvent auf Antrag Dantons einstimmig, dass es keine Verfassung geben könne »que lorsqu`elle est adopteé par le peuple.«43 Im 39  E.

Fehrenbach, Nation, a. a.O. [Anm. 36] 101 f.; E. François, »Peuple«, a. a.O. [Anm. 36] 38 ff.; vgl. Michael Vovelle: Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten (Frankfurt a. M. 1985). Vgl. generell auch: Die Französische Revolution. Programmatische Texte von Robespierre bis de Sade, hg. von Wolfgang Kruse (Wien 2012). 40 Zit. nach Wolfgang Kruse: Die Erfindung des modernen Militarismus. Krieg, Militär und bürgerliche Gesellschaft im politischen Diskurs der Französischen Revolution 1789–1799 (München 2003) 234. 41  Vgl. François Noél Babeuf: Manifest der Plebejer. In: Epoche Napoléon von der Bastille bis Waterloo. In: http://www.epoche-napoleon.net/werk/babeuf-g/politische-texte/manifest-derplebejer.ht; Francoys Larue-Langlois: Gracchus Babeuf: Tribun du peuple (Paris 2003). 42  Vgl. Constitution de la République Française, 1793 Juin 24. In: Staatsverfassungen, a. a.O. [Anm. 31] 372–396. 43  Zit. nach Karl Loewenstein: Volk und Parlament nach der Staatstheorie der Französischen Nationalversammlung von 1789. Studien zur Dogmengeschichte der unmittelbaren Volksgesetzgebung (1922), (ND Aalen 1964) 375 f. – Für das Folgende vgl. Franz Dumont: Die Mainzer Republik 1792/93. Studien zur Revolutionierung in Rheinhessen und der Pfalz (Alzey 21993); Helmut Reinalter: Die Französische Revolution und Mitteleuropa. Erscheinungsformen und Wirkungen des Jakobinismus: Seine Gesellschaftstheorien und politischen Vorstellungen (Frankfurt a. M. 1988); Deutschland und die Französische Revolution, hg. von Jürgen Voss (München/Zürich 1983); Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918 (Stuttgart 1992).

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späteren republikanischen Verfassungstext von 1793 war die Volkssouveränität – jetzt unter der Bezeichnung ›peuple‹ statt ›nation‹ – nachdrücklicher formuliert als 1791. Es handelte sich um eine weitgehend im Rousseau’schen Geist entworfene Urkunde, die zahlreiche plebiszitäre und basisdemokratische Elemente enthielt; sie ließ die Delegation von politischen Entscheidungen nur dort zu, wo es unumgänglich war – und auch das nur kurzfristig. Es handelte sich um das Modell der Versammlungsdemokratie, bezogen auf einen großen Flächenstaat, um den Entwurf einer radikalen Demokratie. Die Französische Revolution – und mit ihr der revolutionäre Volksbegriff – strahlte aus; mit Beginn des ersten Koalitionskriegs 1792 expandierte die neue Republik auch unmittelbar militärisch. Die etablierte, gemäßigt-aufgeklärte Intelligenz namentlich Deutschlands begann sich schon seit 1791 abzuwenden (an die Übertragung des französischen Modells hatte man ohnehin nicht gedacht), doch Gruppen demokratischer Intellektueller, später »deutsche Jakobiner« genannt, verstärkten ihr Engagement für eine grundlegende Umgestaltung der Verhältnisse durch das Volk und für das Volk, wobei die Unterschichten bewusst einbezogen wurden. Oft nannten sie sich »Volksfreunde« oder »Volksgesellschaften«. Als der »Aufruf an die deutsche Nation«, es den Franzosen nachzumachen und als Männer des einstmals freien »Germanien« eine eigene Revolution durchzuführen,44 ungehört verhallte, beschlossen die Delegierten des von Frankreich eroberten »freien [links-]rheinischen Volkes« den Anschluss an die Französische Republik. »Die freien Deutschen und die freien Franken sind hinführt ein unzertrennliches Volk«, äußerte Georg Forster im November 1792.45 Je mehr die von der französischen Nationalversammlung verabschiedete, vom Geist der Völkerbefreiung diktierte Friedenserklärung an die Welt vom 22. Mai 1792, mit der die Kriegserklärung an die im »Bund der Despoten gegen die Völker« zusammengeschlossenen Fürstenstaaten flankiert wurde, verblasste und das Streben des Direktorialregimes, dann Bonapartes nach Eroberungen und »natürlichen Grenzen« den emanzipatorischen Impuls überlagerte, desto problematischer wurde das Konzept der revolutionären Befreiung des Volkes von außen für die deutschen Jakobiner. Die leveé en masse und der Appell an die breiten, auch bäuerlichen Volksschichten, »das Vaterland in Gefahr« zu verteidigen, löste eine eigene Dynamik aus, die das »Recht der Völker, über sich selbst zu bestimmen«,46 zur Makulatur machte. Ohnehin ist davon auszugehen, dass die gefühlsmäßige Bindung an das Frankreich der Revolution auch auf vorpolitischen Faktoren beruhte, deren Ursprung weiter zurückreichte. 44 

Vgl. z. B. Johann Benjamin Erhard: Wiederholter Aufruf an die deutsche Nation. In: ders., Über das Recht des Volkes zu einer Revolution und andere Schriften, hg. von Hellmut G. Haasis (München 1970) 101–107. 45 Georg Forster: Rede über die Vereinigung des rheinisch-deutschen Freistaats mit der Frankenrepublik, zit. nach Maria Gilli: »Volk« bei Georg Forster und den deutschen Jakobinern. In: Volk-Nation-Vaterland, a. a.O. [Anm. 33] 46–54, hier 54. 46  Zit. nach P. Nora, Nation, a. a.O. [Anm. 36] 1227.

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Nachdem sich kulturnationales Denken schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts sukzessive in der Bildungsschicht Deutschlands verbreitet hatte, gewann der politische Nationalismus unter Berufung auf das Volk in Auseinandersetzung mit der napoleonischen Hegemonie ab 1806 ideologisch feste Formen und eindeutige Bezugspunkte. Große Teile des Gedankengebäudes stammten aus den patriotischen Schriften des 18. Jahrhunderts, und seine schnelle Rezeption unter den Gebildeten war nur dadurch möglich. Neu waren die Verknüpfung der verschiedenen Elemente und ihre Konzentration auf einen Punkt: die Volkwerdung der Deutschen unter dem Druck einer Fremdherrschaft, die nicht nur aus ökonomischen und politischen, sondern vor allem aus kulturellen Gründen als bedrohlich, auch für die eigenen Werte und Lebensformen, empfunden wurde. Die teilweise bis ins Groteske gesteigerte Deutschtümelei einiger Nationalpatrioten ist in dieser Periode letztlich daraus zu erklären. Selbst der kosmopolitische Aufklärer Martin Wieland fand – schon 1799 – den Gedanken »unerträglich, […] dass Deutschland aus der Reihe der Staaten verschwinden, und der deutsche Nahme in weniger als fünfzig Jahren nicht mehr genannt werden würde«.47 Die Radikalisierung und Politisierung des kulturnationalen Denkens und des national orientierten Patriotismus in den Jahren nach 1806 war in der Selbstinterpretation ihrer Betreiber ein defensiver Akt. Es galt zu hindern, dass »ein Volk seine Eigenthümlichkeit verläßt« und, »mißkennend seine innerste Natur, in fremde Kreise hinübertaumelt«.48 Dabei ging es dem Selbstverständnis der Beteiligten nach zunächst und zuerst um die Veränderung des Bewusstseins und Verhaltens und erst in zweiter Linie um institutionelle Um- oder Neugestaltung in der staatlichen (bzw. zwischenstaatlichen) und gesellschaftlichen Sphäre. Das ab 1806 Neue war somit nicht die Entdeckung und Heiligung des Volkes, auch wenn dessen Sakralisierung jetzt auf die Spitze getrieben wurde – allein im nationalen Volk und auf dessen Grundlage als Mittler zwischen Individuum und Menschheit könne der Einzelne für das Wohl der Menschheit wirken. Neu war jedoch die, wenn auch zunächst nur vereinzelt erhobene Forderung nach der Einheit von Volk und Staat im »Volksstaat« (= Nationalstaat). Dieser sollte zwar nicht nach Modellen schematischer Vernunft, sondern gemäß der Eigenart der Deutschen und ihrer historischen Traditionen geformt werden, doch ergab sich auch daraus eine Frontstellung gegen Absolutismus, Kleinstaaterei und Feudalismus, die Befürwortung des Rechtsstaats und irgendeiner Art von Verfas47 

Christoph Martin Wieland: Gespräche unter vier Augen, 10. Gespräch. In: ders.: Politische Schriften, insbesondere zur Französischen Revolution, hg. von Jan Philipp Reemtsma und Hans und Johanna Radspieler, Bd. 3. (Nördlingen 1988) 528–554, hier 540. – Zum Folgenden vgl. Aira Kemiläinen: Auffassungen über die Sendung des deutschen Volkes um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (Helsinki 1956). 48  Joseph von Görres: Über den Fall Deutschlands und die Bedingungen seiner Wiedergeburt, zuerst erschienen 1810 in der von Friedrich Perthes in Hamburg herausgegebenen Zeitschrift »Vaterländisches Museum« unter dem Pseudonym »Orion«, gedruckt in: ders., Politische Schriften, hg. von Marie Görres, Teil 1, Politische Schriften, Bd. 1 (München 1854) 115–132, hier 125.

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sungsstaat mit gewählten legislativen Körperschaften, meist als konstitutionelle Monarchie gedacht.49 Nicht selten war die Vorstellung eines Volkskaisertums, während nationalrepublikanische Positionen marginal blieben. Auch in den großen Lexika, wo ›Volk‹ im Unterschied zu ›Nation‹ indessen nicht unbedingt als eigenes Stichwort auftauchte, finden sich nach 1813/14 die erwähnten Aspekte – gewissermaßen verdünnt – wieder. ›Volk‹ wird meist synonym mit ›Nation‹ als vorwiegende Abstammungs-, Sprach- und Kulturgemeinschaft verwandt, teilweise auch – mehr als ›Nation‹ – auf den Staat bezogen.50 Johann Gottlieb Fichte steht für die Allianz der idealistischen Philosophie mit einem übersteigerten Herder’schen Nations- bzw. Volksbegriff. Obwohl Fichte das Volk als deutsche Gesamtbevölkerung im Blick hat, werden die tradierten bildungselitären Vorstellungen in seinem Konzept besonders deutlich – bis hin zu erziehungsdiktatorischen Überlegungen, denen zufolge ein »Zwingherr zur Deutschheit«, gleichzeitig »Zwingherr zur Freiheit«, aus der Mitte einer einzurichtenden »Gelehrten-Republik« gewählt werden soll, damit der wahre Vernunftstaat an die Stelle der existierenden Not- und Verstandesstaaten treten könne.51 Um die Gesamtmasse des Volkes zum Bewusstsein seiner weltgeschichtlichen Rolle und Bedeutung zu erheben, propagiert Fichte eine systematische »Nationalerziehung«, bei der es auch um den nie endenden Feldzug des früheren Jakobiner-Sympathisanten gegen die »Selbstsucht« geht. Die von Fichte propagierte »Deutschheit« ist offensichtlich ein metaphysisches Prinzip, die durch die Sprache vermittelte Fähigkeit, durch Freiheit die »Geistigkeit« ewig fortzubilden. Wer das wolle, »gehört uns an«,52 auch wenn er anderer Nationalität sei.

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Vgl. etwa Rolf Darmstadt: Der Deutsche Bund in der zeitgenössischen Publizistik (Frankfurt/M. et al. 1971); Karin Luys: Die Anfänge der deutschen Nationalbewegung 1815–1819 (Münster 1992); Heinrich Treitschke: Der erste Verfassungskampf in Preußen (1815–1823). In: Preußische Jahrbücher 29 (1872) 313–360, 409–473; Karl-Georg Faber: Die Rheinlande zwischen Restauration und Revolution. Probleme der rheinischen Geschichte von 1814 bis 1848 im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik (Wiesbaden 1966). 50 Vgl. K. Behrndt, Nationskonzeptionen, a. a.O. [Anm. 12] 51–60, insb. 58 ff., 75–87, insb. 83 ff.; 118–167, insb. 157 ff. 51  Vgl. vor allem Johann Gottlieb Fichte: Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre (1798). In: ders.: Sämmtliche Werke, hg. von I. H. Fichte, Bd. 4 (Leipzig o. J.) 1 ff., insb. 233 ff.; ders.: Die Staatslehre oder über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche (1813) 367 ff. – Vgl. zu Fichtes politischer Philosophie Hans Kohn: The Paradox of Fichtes Nationalism. In: Journal of the History of Ideas X (1949) 319–343; Werner Schneiders: Der Zwingherr zur Freiheit und das deutsche Urvolk. J. G. Fichtes philosophischer und politischer Absolutismus. In: Volk – Nation – Vaterland, a. a.O. [Anm. 33] 222–243; Hajo Schmidt: Politische Theorie und Realgeschichte. Zu Johann Gottlieb Fichtes praktischer Philosophie (Bonn 1978); Manfred Hinz: Fichtes »System der Freiheit«. Analyse eines widersprüchlichen Begriffs (Stuttgart 1981). 52  J. G. Fichte: Reden an die deutsche Nation (1808). In: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 7, 7. Rede, 375.

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Als Fichte nach dem militärischen Zusammenbruch Preußens 1807/08 das Berliner gebildete Publikum mit seinen Reden an die deutsche Nation aufzurütteln suchte, wurde die volksnationale Botschaft nicht mehr als sensationell empfunden, in der er »Volk und Vaterland« ausdrücklich dem Staat und der gesellschaftlichen Ordnung vorordnete und sie zum »Träger und Unterpfand der irdischen Ewigkeit« erklärte. In der Sprache offenbare sich die menschliche Natur, sie diene nicht nur der Kommunikation, sondern sei als geistiges Band auch bestimmend für politische Gemeinschaftsbildungen. Die Bedeutung des Wortes Volk erläuterte Fichte als »das Ganze der in Gesellschaft mit einander fortlebenden und sich aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesammt unter einem gewissen besonderen Gesetze der Entwickelung des Göttlichen aus ihm steht«.53 Weil sich nur in einer »lebendigen Sprache« ein »ursprünglicher Geist« manifestieren könne, der allerdings zur Verwirklichung des Bekenntnisses bedürfe, seien nur die Deutschen als »Urvolk« auch das »Weltvolk«. Im Unterschied zu anderen Völkern vermeintlich germanischer Abkunft wie den Franzosen und den Spaniern, wo die Franken bzw. Westgoten die Sprachen der Unterworfenen angenommen hätten (die für sie aufgrund ihrer Abstraktion nur tote Sprachen sein konnten, ungeeignet, ihr wahres Empfinden auszudrücken), seien die späteren Deutschen in Mitteleuropa sesshaft geblieben, hätten ihre ursprüngliche, im Wesentlichen unübersetzbare Sprache bewahrt und weiterentwickelt. Nur dadurch seien sie, sie allein, fähig zu klarer Erkenntnis des Ewigen. Aus dieser Perspektive musste die Unterjochung der – noch so verbesserungsbedürftigen – deutschen Fürstentümer durch Napoleon als existenzielle nationale, aber auch menschheitliche Gefahr erscheinen. »Es ist daher kein Ausweg: wenn ihr versinkt, so versinkt die ganze Menschheit mit, ohne Hoffnung einer einstigen Wiederherstellung.«54 Gegen den ausländischen Terminus der ›Nation‹, aber in überwiegend identischer Bedeutung, wurde das ›Volk‹ am entschiedensten von Friedrich Ludwig Jahn in Stellung gebracht. In seinem »volksthümlichen Bekenntnisbuch« von 1810 definierte er die Völker als die »Leiter der Begebenheiten« in der Geschichte und als »Gedächtnißträger«, das Volkstum als »das Gemeinsame des Volkes, sein innewohnendes Wesen, sein Regen und Leben, seine Wiedererzeugungskraft, seine Fortpflanzungsfähigkeit«.55 Die kulturelle und spirituelle Dimension des Volksbegriffs wurde also ergänzend biologisch materialisiert. Typisch für die frühe Nationalbewegung – nicht nur in Deutschland – wurde zudem die Verknüpfung des Zukunftsbegriffs Volk mit Bildern und Mythen der Germanenzeit, des mittelalterlichen Ritter- und Kaisertums sowie – mehr noch – der vorneuzeitlichen städtischen Bürgerkultur. Die jetzt konsequent volks53 

Ebd., 8. Rede, 384 u. 381. Ebd., 14. Rede, 499. 55  Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volksthum (Leipzig 21813) 7. 54 

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national gedeutete bzw. konstruierte, vermeintlich zweitausendjährige Geschichte des Teutschen Volkes56 diente der Selbstvergewisserung und hatte zugleich die Funktion, utopische Entwürfe durch historische Einkleidung zu legitimieren. Hermann der Cherusker, Arminius, avancierte während der antinapoleonischen Erhebung zur Inkarnation gemeindeutscher viriler Volkskraft. Seine französischjakobinische Entsprechung war Herkules gewesen und wurde Vercingetorix.57 Es wäre aber völlig verfehlt, aus der – wie gesagt: nicht untypischen – Idealisierung der »nationalen« Vergangenheit eine Rückwärtsgewandtheit im Inhalt zu schließen. Gerade Jahn, von dem auch besonders rabiate und kuriose Vorschläge der Abgrenzung Deutschlands von Frankreich stammen, skizzierte Vorstellungen zur künftigen inneren Gestaltung des deutschen Gesamtvaterlandes (oder deutete sie an), die radikal gegen den politischen und gesellschaftlichen Status quo gerichtet waren. Das wird noch deutlicher, wenn man die egalitären Formen und Ziele des von Jahn begründeten gemeinschaftlichen Turnens einbezieht.58 Mit der Gründung der ersten Turngemeinde in Berlin 1811 begann die Nationalisierung des immer weiter expandierenden deutschen Vereinswesens in inhaltlicher und dann auch geographischer Hinsicht. Massen organisierten und erreichten – neben den Turnern – in der Folgezeit vor allem die Sänger- und die Schützenvereine. Noch wirkungsmächtiger als Jahn war, insbesondere mit seinen populären, in relativ hohen Auflagen verbreiteten Flugschriften, ein anderer Vertreter des »volkstümlichen« Befreiungsnationalismus: Ernst Moritz Arndt. Arndt predigte unverhohlen und religiös begründet den »Volkshaß« gegen die Franzosen, »denn die haben sich der Kühnheit erfrecht, ein Volk unterjochen zu wollen, das stärker und mächtiger wäre als sie, wenn ihre Hinterlist nicht lange schon verstanden hätte, es zu entzweien und zu zerreißen«. In maßloser Übersteigerung älterer Gedanken, auch von Kant,59 sah der Autor den dauernden Volkshass als einzig sichere Wehr der neuen deutschen Grenzen, »der Haß als heiliger und schützender Wahn.« – »Jedes Volk behalte das Seine und bilde es tüchtig aus, hüte sich aber vor Buhlerei mit dem Fremden«.60 56 

So der Titel des im Hinblick auf das mittelalterliche Kaisertum allerdings relativ nüchternen Werkes von Heinrich Luden: Geschichte des Teutschen Volkes, 12 Bde. (Gotha 1825–1837). Zu Luden, der zu den Förderern der Burschenschaft gehörte, und seinem Umfeld vgl. Klaus Ries: Wort und Tat: Das politische Professorentum der Universität Jena im frühen 19. Jahrhundert (Stuttgart 2007). 57 Vgl. als Überblick Hagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte (München 1994) 172–189; vgl. auch: The Invention of Tradition, ed. by Eric Hobsbawm and Terence Ranger (Cambridge 1983). 58 Vgl. Dieter Düding: Organisierter Gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808–1847). Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung (München 1984); Willi Schröder: Burschenturner im Kampf um Einheit und Freiheit (Berlin 1967). 59  Vgl. I. Kant: Nachlaß zur Anthropologie, Akad.-Ausg. Bd. XV (1923), 590 f. 60  Ernst Moritz Arndt: Über Volkshaß (1813), abgedruckt in: Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, hg. von Michael Jeismann und Henning Ritter (Leipzig 1993) 319–334,

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Bei dieser und anderen Schriften des wortgewaltigen Agitators ist indessen die bewusst auf den Instinkt der Unter- und Mittelschichten abzielende, mobilisierende Funktion im begonnenen »Freiheitskrieg« gegen den »Despoten« und »Völkerbezwinger« Napoleon zu bedenken. In den Pamphleten wurde mit der Aufstachelung gegen die fremden Unterdrücker noch etwas anderes verkündet: die Majestät des Volkes nach innen, gegenüber seinen einheimischen Herrschern. Das Volk sei nicht da, damit es Fürsten gebe, sondern diese seien nur da »als Diener und Beamte des Volkes, und daß sie aufhören müssen, sobald das Volk ihrer nicht mehr bedarf, oder sobald sie sogar das Verderben dieses Volkes sind«.61 Das ethnische Volk wurde von Arndt also gleichzeitig als Demos gedacht, wie über die folgenden Jahrzehnte implizit auch bei vielen anderen. Wie für die meisten Liberalen des Vormärz war der gebildete Mittelstand anstelle des Adels für Arndt als »eigentliches Volk« der Kern, doch hob er »Bauern und Bürger« immer wieder als »den größten und ehrwürdigsten Teil des Volkes« hervor. Wenn er die Deutschen »ein unvergängliches, unsterbliches Volk in der Geschichte« und den »Nabel der europäischen Erde« nannte, verherrlichte er auch die einfachen Menschen.62 In dem 1818, nur wenige Jahre nach dem Krieg, erschienenen letzten Teil seines Hauptwerkes Geist der Zeit relativiert Arndt durch sein Eintreten für einen christlichen Staatenbund Europas seine antifranzösischen Ausfälle, vor allem unterstreicht er angesichts der restaurativen Tendenzen, dass er nicht als politischer »Rückschreiter« verstanden werden will. Die neue Zeit werde sich durchsetzen mit Volksbewaffnung (Landwehr), Pressefreiheit und Verfassungsstaatlichkeit – gegen blinden Gehorsam, persönliche Unfreiheit (Leibeigenschaft) und polizeiliche Unterdrückung.63 Im Hinblick auf die eindeutige nationalunifizierende wie auch Staat und Gesellschaft liberalisierende bzw. demokratisierende Tendenz unterschieden sich die Volkstümler wie Fichte, Arndt, Jahn, Luden usw. von den Vertretern der politischen Romantik im engeren Sinn, die den deutschen Volks- bzw. Nationsbegriff zwar in kultureller Hinsicht stark beeinflussten, aber politisch weniger Einfluss auf die Nationalbewegung in statu nascendi gewannen. Der Grund ist offenkundig: Sie »romantisierten« die Vergangenheit und die ständisch-feudalen Residuen der Gegenwart in einer Weise, die kaum Anknüpfungspunkte für die durch die Befreiungskriege stark beförderten, wenn auch zunächst meist vagen Erwartungen bot, Deutschlands Einheit und Freiheit würden Gestalt annehmen. hier 329, 334, 331. Vgl. Karl Heinz Schäfer: Ernst Moritz Arndt als politischer Publizist. Studien zu Publizistik, Pressepolitik und kollektivem Bewußtsein im frühen 19. Jahrhundert (Bonn 1974). 61  E. M. Arndt: Über Preußens Rheinische Mark und über Bundesfestungen. In: ders., Werke. Auswahl in zwölf Teilen, hg. von August Leffson und Wilhem Steffens (Berlin u. a. 1912) Bd. 11, 192. 62  E. M. Arndt zit. nach Kurt Lenk: Volk und Staat. Strukturwandel politischer Ideologien im 19. und 20. Jahrhundert (Stuttgart u. a. 1971) 89. 63  E. M. Arndt: Geist der Zeit, Teil IV (1818) (Leipzig o. J.) 5 ff., 33.

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Bei einem Teil der Romantiker verband sich die Volkskonzeption, vermittelt über altständische und monarchisch-patriarchalische Ideen, sogar mit der sozialen Adelsreaktion, so bei Adam Müller.64 Auch die Berufung Friedrich Carl von Savignys in der Kontroverse um Anton Friedrich Justus Thibauts Vorschlag eines gesamtdeutschen Gesetzbuchs, »den Bedürfnissen des Volkes gemäß«, als Gegenstück zum Code Napoléon – das Recht sei durch die Eigentümlichkeit des Volkes historisch geprägt, so wie seine Sprache, Sitte, Verfassung und widerstrebe einer »zufälligen und willkührlichen« Schöpfung – war politisch eindeutig konservativ gerichtet.65 Die schon auf Herder zurückgehende organologische Auffassung des Volkes und des »Volksgeistes« wurde in den Schriftstellerhänden von Repräsentanten der politischen Romantik und der Historischen Rechtsschule teilweise zur intellektuellen Waffe gegen den Liberalismus und den bürgerlichen Fortschritt. In ihrer Eigenwahrnehmung ging es diesen Strömungen darum, die alte Adelsnation mit der neuen Volksnation zusammenzuführen. Die Deutung des Charakters des Krieges von 1813/14 hatte politische Konsequenzen: Stellte man den Anteil des wie immer verstandenen Volkes in den Mittelpunkt, entsprechend Theodor Körners Verszeile »Das Volk steht auf, der Sturm bricht los«,66 klagte man indirekt den Anspruch auf politische Mitwirkung oder sogar auf Selbstbestimmung ein. Wenn der Rheinische Merkur Ende 1815 formulierte: »Das hat das Volk gethan! Und Volkes Vordermann!«67 dann mus64 Vgl.:

Gesellschaft und Staat im Spiegel der deutschen Romantik, hg. von Jakob Baxa (Jena 1924); Werner Weiland: Politische Romantikinterpretation. In: Zur Modernität der Romantik, hg. von Dieter Bänsch (Stuttgart 1977) 1–59; Carl Schmitt: Politische Romantik (München/Leipzig 21925); Benedikt Koehler: Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik; Ernst Behler: Die Zeitschriften der Brüder Schlegel. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Romantik (Darmstadt 1983). Vgl. zu Müller vor allem: Adam H. Müller: Die Elemente der Staatskunst, 3 Bde. (Berlin 1802); Benedikt Koehler: Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik (Stuttgart 1980). In seinen politischen Auffassungen deutlich davon zu unterscheiden ist Achim von Arnim, für den die Selbstständigkeit des Volkes (»Volkstätigkeit«) und die Beteiligung von »Repräsentanten des Volkes« an der staatlichen Gesetzgebung wesentliche politische Maximen waren. Vgl. Ulfert Ricklefs: Geschichte, Volk, Verfassung und das Recht der Gegenwart: Achim von Arnim. In: A. von Bormann, Volk als Idee, a. a.O. [Anm. 14] 65–104, hier 68 ff.; Jürgen Knaack: Achim von Arnim – Nicht nur Poet. Die politischen Anschauungen Arnims in ihrer Entwicklung. Mit ungedruckten Texten und einem Verzeichnis sämtlicher Briefe (Darmstadt 1976). In der französischen Romantik wird der Volksbegriff in einem popular-demokratischen Sinn erst ab den 1830er Jahren bedeutsam. Vgl. insb. Jules Michelet: Histoire de France, 19 Bde. (Paris 1833–1867); insb.: ders.: Le Peuple (Paris 1846). 65  Anton Friedrich Justus Thibaut: Über die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland (1814). In: Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften. Mit einer Einführung von Hans Hattenhauer (München 1973) 61–94; Friedrich Carl von Savigny: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814). In: ebd., 95–192. 66  Theodor Körner: Männer und Buben. In: ders.: Leyer und Schwerdt (Berlin 1814) 78 ff., hier 78. 67  Volkslied und Landwehrlied. In: Rheinischer Merkur vom 06.12.1815, zit. nach Ernst Weber: Zwischen Emanzipation und Disziplinierung. Zur Meinungs- und willenbildenden Funktion politischer Lyrik in Zeitungen zur Zeit der Befreiungskriege. In: Volk-Nation-Vaterland, a. a.O. [Anm. 33] 325–352, hier 349, FN 96.

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ste die höfische Reaktionspartei Preußens das als Kampfansage verstehen. Wie der »Geist von 1813« bürgerlich-emanzipatorische Tendenzen teilweise anderen Ursprungs in sich aufnahm, mag der Artikel eines Elberfelder Kaufmanns im regional verbreiteten »Hermann« verdeutlichen, in dem eine politische Neugestaltung auf Kosten der »souverainitätssüchtigen Fürsten«, ihrer »Rathgeber, Minister und deren Creaturen« angemahnt und ebenso dem Adel als einer »entarteten« Kaste eine Abfuhr erteilt wurde. Diese »Kriechlinge« hätten als »Verräter am Volk« sich Napoleon angepasst und berechtigten Hass auf sich gezogen, während die Bürger am Rhein, seit jeher nach »Freiheit und Unabhängigkeit« strebend, »reines Deutsch« sprächen und »sich nicht irre machen« ließen.68 Diese Denkfigur war durchaus verbreitet, so etwa bei Joseph Görres, der von der Liebedienerei der oberen Stände gegenüber dem Empereur »das Volk« abhob, das »allein sich selber treu geblieben« sei.69 Auch der monarchische Blick auf das Volk hatte sich mit Kriegsausbruch geändert. Die Proklamation von Kalisch der verbündeten Herrscher Russlands und Preußens vom 25. März 1813 stellte »den Fürsten und Völkern Deutschlands die Rückkehr der Freiheit und Unabhängigkeit« und eine Verfassung »aus dem ureignen Geiste des deutschen Volkes« in Aussicht, deren Einrichtung »allein den Fürsten und Völkern Deutschlands anheim gestellt« wurde.70 Schon in dem einige Tage früher in Preußen bekannt gemachten, von dem Reformbeamten Theodor Gottlieb von Hippel formulierten Aufruf Friedrich Wilhelms III. »An mein Volk« waren die Untertanen erstmals als ein politisches Subjekt mit eigenen Interessen, Wünschen und Urteilen angesprochen worden. Der König wandte sich an die Preußen, die er zugleich als Deutsche adressierte, indem er sein Handeln rechtfertigte und das Volk aufrief, gemeinsam mit ihm den Schicksalskampf zu wagen.71 Das Verhältnis von Herrscher und einst untertänigem Volk hatte sich unter dem Einfluss der Stein-Hardenberg’schen Reformen in ein dialogisches verwandelt. Dieser Schritt war nicht hintergehbar, auch wenn die wiederholten Quasi-Verfassungsversprechungen Friedrich Wilhelms72 nicht realisiert wurden. 68  Hermann

Nr. 12 v. 10.02.1818 (Der Bürgersinn vom Rhein). Vgl. Peter Brandt: Presse in der Grafschaft Mark: Die Zeitschrift »Hermann« (1814–1819). In: 1746/1996. Beiträge zur Geschichte der Stadt Hagen, hg. von ders. und Beate Hobein (Essen 1996) 124–141. 69 Joseph Görres (1815): Gesammelte Schriften. 1. Politische Schriften, Bd. 2 (München 1854) 12. 70  Proklamation des Kaiserlich Russischen General-Feldmarschalls Fürsten Kutusow-Smolenskoi an die Deutschen vom 25. März 1813, u. a. In: http://www.dokumentarchiv.de/nzjh/1813/ proklamation-von-kalisch.html [01.09.2014]. 71  Der Aufruf Friedrich Wilhelms III. vom 17. März 1813 »An mein Volk«, u. a. In: Tim Klein: Die Befreiung 1813, 1814, 1815. Urkunden-Berichte-Briefe mit geschichtlichen Verbindungen (Ebenhausen bei München 1913) 140 f. – Zur Deutung der antinapoleonischen Kriege vgl. Peter Brandt: Die Befreiungskriege von 1813 bis 1815 in der deutschen Geschichte. In: Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, hg. von Michael Grüttner u. a. (Frankfurt a. M./ New York 1999) 17–57. 72  Vgl. zuletzt »Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volks« v. 22. Mai 1815.

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In der Lyrik der Befreiungskriege dominierten noch patriotische Bekenntnisse, die sich auf den Einzelstaat bezogen, den gemeindeutschen Nationalpatriotismus; teilweise – insbesondere beim preußischen Staatspatriotismus – ging beides Hand in Hand.73 Ähnliches gilt für die politische Publizistik. Auch nach dem Wiener Kongress dachte die ganz überwiegende Zahl der Autoren unterschiedlicher politischer Richtungen nicht an einen unitarischen deutschen Volksstaat, sondern eher an eine sich sukzessive annähernde »teutsche Völkerfamilie« auf dem in der Proklamation von Kalisch angedeuteten Weg der Vereinbarung der jeweiligen »Fürsten mit ihren Völkern«; der Volksbegriff wurde noch lange parallel für die Gesamtheit aller Deutschen wie für separate deutsche »Völker« benutzt, auch dort mit kulturellen und Stammesbezügen.74 Achim von Arnim hatte 1813 davor gewarnt, »alles Herrliche der einzelnen deutschen Völker einem hohlen Wortideale von Deutschland [zu] opfern, wie es nie vorhanden gewesen ist und wie es nie entstehen kann«.75 Als um 1820 die gegenreformerischen Bestrebungen im Deutschen Bund und in den wichtigsten Einzelstaaten übermächtig wurden, geriet der Wunsch nach der Einheit Deutschlands mehr und mehr in einen unüberbrückbaren Gegensatz zur Verbundenheit mit den einzelstaatlichen Fürstentümern. Das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelte sich in dem Maß zum Sprengsatz für diese, wie sie die mit den südund mitteldeutschen Verfassungsgebungen der Jahre 1814 bis 182076 ausgelösten Erwartungen nicht befriedigen konnten und die Hauptmächte Österreich und Preußen den Schritt zur Konstitutionalisierung gar nicht erst gingen. Fichte, Arndt und andere hielten nicht nur alle Deutschsprachigen und die Niederländer, sondern auch die Skandinavier für »Deutsche«. In der Tat gab es beträchtliche ethnische und kulturelle Gemeinsamkeiten, die letztlich aus der germanischen Herkunft resultierten. Die Begriffsgeschichte des nordeuropäischen ›folk‹ lief weitgehend parallel zum deutschen ›Volk‹. In Schweden, wo (wie in Norwegen) die Bauern nie in die persönliche Unfreiheit gezwungen worden waren und seit jeher als eigener Stand im Reichstag vertreten waren, In: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, hg. von Ernst Rudolf Huber (Stuttgart u. a. 1961) 56 f. 73  Vgl. Ernst Weber: Lyrik der Befreiungskriege (1812–1815). Gesellschaftspolitische Meinungs- und Willensbildung durch Literatur (Stuttgart 1991); Karen Hagemann: »Mannlicher Muth und teutsche Ehre«. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der antinapoleonischen Kriege Preußens (Paderborn 2002). 74  Vgl.: Föderative Nation. Deuschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, hg. von Dieter Langewiesche/Georg Schmidt (München 2000); R. Koselleck u. a., Volk, a. a.O. [Anm. 1] insb. 334 f., 344, 353. 75  Achim von Arnim: Letzter Brief eines Freiwilligen (1813). In: ders.: Werke in sechs Bänden, hg. von Roswitha Burwick (Frankfurt a. M. 1992) Bd. VI, 425–427, hier 426. 76 Vgl. Hartwig Brandt: Die deutschen Staaten der ersten Konstitutionalisierungswelle. In: Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. 2: 1815–1847, hg. von Werner Daum u. a. (Bonn 2012) 823–877, mit Quellen CD-ROM-2: Verfassungen und verfassungsrelevante Texte unter Dok. Nr. 11.

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beschwor die erste im modernen Sinn quasi-konstitutionelle »Regierungsform« von 1809 das »uralte Recht des schwedischen Volkes, sich zu besteuern«.77 Die Volkssemantik hatte auch dort infolge der Französischen Revolution quantitativ und qualitativ an Bedeutung gewonnen. Weil das »Volk« als niederes Volk nicht wie im frühneuzeitlichen Deutschland negativ konnotiert gewesen war, gestaltete sich die Aufwertung des Volksterminus in der Aufklärung und in der Romantik Schwedens weniger einschneidend. Doch verlagerte sich wie mehr oder weniger überall in Europa um 1800 die Aufmerksamkeit schwergewichtig auf die sprachlich-kulturellen Aspekte des Begriffsfeldes. Die Orientierung an der germanischen Vorzeit in Gestalt der Goten, die Pflege der Volkslieder und der Mythologie, die Verherrlichung des einfachen und natürlichen Bauerntums (dessen Bündnis mit dem König gegen Adel und Klerus einen zentralen Gedanken der Geschichtsauffassung Erik Gustaf Geijers bildet) – alle diese aus Deutschland bekannten Elemente finden sich auch in Schweden, wo sie in der Folgezeit prägend und für die spätere, dezidiert demokratische und ausgiebige Benutzung des Volksbegriffs in seiner unterschiedlichen Bedeutung durch die Liberalen und dann die Sozialdemokraten anschlussfähig blieben.78 Einen originellen Beitrag zum Verständnis von Volk leistete der dänische Pfarrer Nikolai Frederik Severin Grundtvig (1783–1872), der auch als Philosoph, Philologe, Dichter, Historiker sowie Volkspädagoge in Erscheinung trat und als Politiker vom Anhänger des Aufgeklärten Absolutismus zum entschiedenen Demokraten, als Theologe vom Fundamentalisten zum Reformer wurde. Der Begriff ›folkelighed‹ (= Volklichkeit, sinngemäß eher: aus dem Volk, für das Volk) enthielt manches vom deutschen ›Volkstum‹, war aber weniger streng und betont unaggressiv akzentuiert. Dabei war die kritische Sicht auf Deutschland und die deutsche Mentalität unübersehbar. Eher noch stärker als in Schweden wurde das dänische Volk von Grundtvig und in dessen Nachfolge als ein bäuerliches verstanden; die spätere liberale »Linke« vertrat auch realhistorisch in erster Linie die Landbevölkerung. Aus dieser kamen dann die Besucher der seit den 1840er Jahren gegründeten grundtvigianischen Volkshochschulen, wo sie gewissermaßen »volklich« (dänische Sprache, Geschichte und Mytho-

77  Regierungsform v. 06.06.1809. In: Quellen zur europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, CD-ROM-1, Dok. Nr. 10.2.7 (schwed.)/10.2.8 (dt.). Erik Gustaf Geijer (1783– 1847) war ein nationalkulturell prägender Schriftsteller, Komponist, Volkskundler und Historiker, der in den letzten Lebensjahrzehnten den Übergang vom Konservatismus zum Liberalismus vollzog. Vgl. Sven Stolpe: Geijer (Stockholm 1976). 78  Vgl. Norbert Götz: Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim (Baden-Baden 2001) 190 ff.; Mats Rehnberg: Folk. Kaleidoskopiska anteckningar kring ett ord, dess innebörd och anvendning under skilda tider (Lund 1977); Valeska Henze: Das schwedische Volksheim. Zur Struktur und Funktion eines politischen Ordnungsmodells (Florenz 1999); Seppo Hentilä: The Origins of the Folkhem Ideology in Swedish Social Democracy. In: Scandinavian Journal of History (1978), 323–345.

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logie, auch eine Art Gemeinschaftskunde und Politik) recht frei ausgebildet wurden.79 Der stark auf muttersprachlich-kulturelle Faktoren abhebende deutsche Nations- bzw. Volksgedanke beeinflusste in hohem Maß die nationalen Bewegungen anderer Völker (oder als solche bezeichneten Menschengruppen) ohne eigenen Staat, hauptsächlich in Mittel- und Osteuropa. Dabei spielte Herders Slawenkapitel in seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« von 179180 eine bedeutende Rolle. Zum Teil existierten eigene Nationalsprachen nicht bzw. nicht mehr oder wurden nur noch als Bauern- und Unterschichtendialekte tradiert. Die Erneuerung oder Neuschaffung der Nationalsprachen war insofern ein wichtiger Schritt zur Erweckung eines kulturnationalen Volksbewusstseins. Dieses geschah in vielerlei Hinsicht nach deutschem Vorbild, doch gegen die deutsche Kulturhegemonie und gegen die bestehenden politischen Strukturen, während in bereits etablierten Nationalstaaten wie Frankreich (seit 1789) und Italien (seit 1860/61) die sprachliche Normierung bereits über die Institutionen der Elementarschule und der Armee, beide mit Teilnahmepflicht, vorangetrieben werden konnte. Beispielhaft lässt sich die Verdrängung älterer ständisch-aristokratisch geprägter landespatriotischer Bindungen ohne eindeutige sprachliche Festlegung durch die neue volklich-nationale Identifikation in Böhmen nachvollziehen, wo zu Beginn des 19. Jahrhunderts große Teile der Bevölkerung auch außerhalb der geschlossenen deutschen Siedlungsgebiete (»Sudetenland«) sprachlich germanisiert gewesen waren, namentlich in den Ober- und Mittelschichten. In einer Wechselwirkung von wirtschaftlich-sozialem Wandel durch die Industrialisierung einschließlich des Aufkommens einer neuen tschechisch-bürgerlichen Schicht einerseits und der Begründung eines tschechischsprachigen Gemeinwesens mit eigenem Vereinswesen innerhalb des habsburgischen Königreichs Böhmen in beinahe ständig sich verschärfender Konkurrenz mit den dort lebenden Deutschsprachigen andererseits zerfiel eine relativ einheitliche Kulturregion mit alter politischer Tradition bewusstseinsmäßig weitgehend bis Ende des 19. Jahrhunderts. »Die vom Adel übernommene politische Idee des böhmischen Staatsrechts wurde in der Hand des Bürgertums zur Rechtfertigungslehre für den Anspruch des tschechischen Sprachvolkes auf das gesamte Territorium der böhmischen Länder.«81 Der in die österreichisch-cisleithanische Verfassung 79  Vgl.

N.F.S. Grundtvig: Schriften zur Volkserziehung und Volkheit, 2 Bde., hg. von Johannes Fiedje (Jena 1927); Dansk identitetshistorie, Bd. 3, hg. von Ole Feldbaek (Kopenhagen 1992). Zum Vergleich mit dem deutschen Volks- und Nationsdenken vgl. Fridlev Skrubbeltrang: Die Volkshochschule (Kopenhagen 1950). Peter Brandt: Folkelighed – et oversættelseproblem? In: Folk – om et grundbegreb i demokrati og kultur, hg. von Jørn Møller (Århus 2004) 31–46. 80  J. G. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 4. Teil, Buch XVI, Kap. 4 »Slawische Völker«. In: ders.: Herders Sämmtliche Werke, Bd. XIV, 277–280. 81  Eugen Lemberg: Nationalismus, Bd. 1: Psychologie und Geschichte (Reinbek bei Hamburg 1964) 136 f. Zum Nationalitätenkonflikt in Böhmen-Mähren vgl. außerdem Martin Kucera: Nationalismus in den tschechischen Ländern 1848–1918 – eine historische Skizze. In: Die

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von 1867 aufgenommene Artikel 19 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, in dem es hieß: »Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung seiner Nationalität und Sprache«,82 bot keine Lösung. Denn Sprachenschutz und bloß kulturelle Autonomie genügten den »erwachten« Völkern nicht mehr. Der mährische Ausgleich verwirklichte eine ethnisch induzierte, aber nach subjektivem nationalen Bekenntnis durchgeführte Teilung der Landeskörperschaften: Den gemeinsamen Kompetenzbereichen in Politik und Wirtschaft standen deutsch-tschechisch getrennte, namentlich im kulturellen Bereich, gegenüber. Die vor allem in den 1820er Jahren und dann wieder ab 1832/33 repressiv in Erscheinung tretende Ordnung des Wiener Kongresses, das System der Legitimität und der Solidarität der Mächte gegen die nationalen und liberalen Bestrebungen der Völker, hatte die nationalantagonistische Komponente des Nationsbzw. Volksverständnisses aus der Zeit der letzten antinapoleonischen Kriege zunächst zurücktreten lassen. In der Begeisterung für den Freiheitskampf der Griechen (1821–1833) und dann der Polen (1830/31) fanden sich Anhänger der liberalen »Bewegungspartei« (und sogar darüber hinaus) etlicher Länder zusammen, die sich namentlich in Frankreich und Deutschland in humanitären Hilfsvereinen organisierten.83 Polens Erhebung galt als Stellvertreterkampf für die Völker ganz Europas, die Hilfe für die Polen erschien als eine gemeinsame Aktion der europäischen »Völkerfamilie«. Es war eine Art Internationalismus der Nationalbewegungen, der sich hier äußerte. Aus verschiedenen Ländern schlossen sich im Exil Anhänger eines solchen Bundes freier Völker zusammen, die sich »Junges Deutschland«, »Junges Italien« usw. nannten und 1834 gemeinsam ein »Junges Europa« stifteten. Der Initiator und spiritus rector dieser revolutionären Kaderorganisation war der Italiener Guiseppe Mazzini, der in seiner Person Benes-Dekrete. Nachkriegsordnung oder ethnische Säuberung: Kann Europa eine Antwort geben?, hg. von Heiner Timmermann u. a. (Münster 2005) 70–86; Anna M. Drabek: Tschechen und Deutsche in den böhmischen Ländern. Vom nationalen Erwachen der Tschechen bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs. In: Volk, Land und Staat. Landesbewusstsein, Staatsidee und nationale Fragen in der Geschichte Österreichs, hg. von Erich Zöllner und Hermann Möcker (Wien 1984) 54–82; Robert A. Kann: Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie, 2 Bde. (Graz/Köln 21964). Für die gesamteuropäische Perspektive vgl. Miroslav Hroch: Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich, Göttingen 2005; Die Entstehung der Nationalbewegungen in Europa 1750–1849, hg. von Heiner Timmermann (Berlin 1995); Die Entwicklung der Nationalbewegungen in Europa 1850–1914, hg. von ders., (Berlin 1998). 82 Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867, Artikel 19. In: Die österreichischen Verfassungsgesetze, hg. von Edmund Bernatik (Wien 21911) 426. 83  Vgl. David J. Brewer: The Flame of Freedom. The Greek War of Independence 1821–1833 (London 2001); Christoph Hauser: Anfänge bürgerlicher Organisation. Philhellenismus und Frühliberalismus in Südwestdeutschland (Göttingen 1990); Arnon Gill: Freiheitskämpfe der Polen im 19. Jahrhundert (Frankfurt a. M. 1997); Dieter Langewiesche: Das Europa der Nationen 1830–1832 (Bonn 2007); Dokumente zur Geschichte der deutsch-polnischen Freundschaft 1830–1832, hg. von Helmut Bleiber und Jan Kosim (Berlin 1982).

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republikanisch-jakobinisches und ethnisch-kulturelles Nationsverständnis (einschließlich des typischen Sendungsglaubens im Hinblick auf Italien) vereinte.84 Die meisten Liberalen und Demokraten des 19. Jahrhunderts waren der Meinung, die Staatsgrenzen sollten mit den Grenzen der Nationen übereinstimmen. »Jede Nation ist berufen und daher berechtigt, einen Staat zu bilden«, meinte der Schweizer, in Heidelberg lehrende Staatsrechtler Johann Caspar Bluntschli. »Jede Nation ein Staat. Jeder Staat ein nationales Wesen.«85 Ähnlich äußerte sich John Stuart Mill.86 Doch was besagte diese Devise konkret? Mazzinis Vision von 1857, festgehalten auf einer Karte, sah kaum ein Duzend Staaten bzw. Föderationen in Europa vor; Irland sollte z. B. nach Mazzinis Vorstellung weiterhin zu Großbritannien gehören.87 Spätestens in den europäischen Revolutionen von 1848 zeigte sich, dass die territorialen Ziele der Nationalbewegungen – bei weitgehender verfassungspolitischer Übereinstimmung – sofort miteinander kollidierten, als statt der alten Staatenlenker die durch die Revolution an die Spitze gelangten und vom Vertrauen ihrer Völker getragenen neuen Männer das Sagen hatten. Unter den Grenzfragen, mit denen sich die Frankfurter Nationalversammlung beschäftigen musste, erregten – abgesehen von der Entscheidung zwischen »großdeutsch« (unter Einschluss Deutsch-Österreichs) und »kleindeutsch« – vor allem der Schleswig-Holstein-Konflikt, wo die deutschen und die dänischen Liberal-Nationalen gegeneinander standen, sowie die Posen-Problematik die Gemüter. In der Polen-Debatte unterlagen diejenigen, die, auf der linken Seite des Parlaments, für eine Gleichberechtigung der nationalen Minderheiten auf allen Seiten eintraten und an der traditionellen Polenfreundschaft festhalten wollten, im Verhältnis von eins zu neun, als es darum ging, ob und in welcher Weise die, mehrheitlich polnisch bewohnte, preußische Provinz Posen in das neue Deutsche Reich einbezogen werden sollte. Mit der Teilung der Provinz wurde eine für die Polen recht ungünstige Lösung gefunden und die Bildung einer Keimzelle eines neuen polnischen Staates unterbunden. Der Abgeordnete Wilhelm Jordan formulierte drastisch den Standpunkt der Mehrheit, der den »gesunden Volksegoismus«, gegründet auf »das Recht des Stärkeren, das Recht der Eroberung«, einer national »erbärmlichen« »träumerischen Selbstvergessenheit« gegenüberstellte.88 84  Vgl. Guiseppe Mazzini: Schriften, hg. von Ludmilla Assing, 2 Bde. (Hamburg 1868). Vgl. auch Hartmut Ullrich: Bürgertum und nationale Bewegung im Italien des Risorgimento. In: Nationalismus und sozialer Wandel, hg. von Otto Dann (Hamburg 1978) 129–156. 85 Johann Heinrich Bluntschli: Die nationale Staatenbildung und der moderne deutsche Staat. In: ders.: Gesammelte kleine Schriften, Bd. II: Aufsätze über Politik und Völkerrecht (Nördlingen 1881) 90. 86 Vgl. das Zitat bei Hans Rothfels: Nationalität und Grenze im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 9 (1961) 225–233, hier 227; sowie Eric J. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780 (Frankfurt a. M. 1991) 42 f. 87  Vgl. ebd., 44. 88  Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen Nationalversammlung

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Im Staatsinnern banden die Liberalen unterschiedlicher Richtungen den Volksbegriff eng an den Konstitutionalismus. Ein Volk ohne Verfassung, meinte Carl von Rottek, später Mitherausgeber des »Staatslexikons«, eines Grundbuchs des deutschen Liberalismus, sei »– im edlen Sinne des Wortes – gar kein Volk«.89 Rotteck betonte später zugleich: »Das demokratische Prinzip gilt uns keineswegs für gleichbedeutend mit Volksherrschaft […], sondern wir verstehen darunter bloß die auf der Idee eines Gesamtrechts des […] Volkes beruhende Richtung.«90 Faktisch traten die gemäßigten Liberalen im größeren Teil des 19. Jahrhunderts fast überall in Europa für ein nach Besitz bzw. Bildung begrenztes oder ungleiches Wahlrecht ein, während die sich in Deutschland seit den 1840er Jahren separat formierenden Demokraten die »Volkshoheit« über das allgemeine, gleiche (Männer-)Wahlrecht auch faktisch verwirklichen wollten; Letztere tendierten zur republikanischen Staatsform und zu einer egalitären Gesellschaftspolitik.91 Wenngleich die Liberalen den verachteten »Pöbel« hauptsächlich moralisch klassifizierten, so dass vom »hohen und niedern Pöbel« die Rede sein konnte,92 neigten sie bei der Charakterisierung des Volkes zu einer sozialen Differenzierung und Eingrenzung. Dessen Kern bilde, so Friedrich Christoph Dahlmann, ein »weitverbreiteter, stets an Gleichartigkeit« wachsender Mittelstand, der ohne einsichtiges Streben nach »schützenden Einrichtungen«, sich »als Masse« geltend machend, zu einem »bildungs- und vermögenslosen Pöbel« mutieren könne.93 Im »Pöbel« lebte die abwertende Bedeutung des sozialen Volksbegriffs aus dem 18. Jahrhundert fort.94 zu Frankfurt am Main, Bd. 2, 1145 f. Vgl.: Die »Polen-Debatte« in der Frankfurter Paulskirche. Darstellung, Lernziele, Materialien, hg. von Michael G. Müller und Bernd Schönemann (Frankfurt/M. 1991); Günter Wollstein: Das »Großdeutschland« der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution (Düsseldorf 1977). 89  Carl von Rotteck: Ein Wort über Landstände. In: ders.: Gesammelte und nachgelassene Schriften, Bd. 2 (Pforzheim 1841) 407. 90  Ders.: Demokratisches Princip; demokratisches Element und Interesse, demokratische Gesinnung. In: Enzyclopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, Bd. 3, hg. von ders. und Carl Welcker (Leipzig 21846) 713. 91 Vgl. Hellmut G. Haasis: Spuren der Besiegten, Bd. 2: Von den Erhebungen gegen den Absolutismus bis zu den republikanischen Freischärlern 1848/49 (Reinbek bei Hamburg 1984); Peter Wende: Radikalismus im Vormärz. Untersuchungen zur politischen Theorie der frühen deutschen Demokratie (Wiesbaden 1975). 92  So die Kieler Blätter, 1815, S. 206, zit. nach Bernd Rindermann: Die Verwendung von Volk, Nation, Klasse, Masse u. a. Bezeichnungen für große Menschengruppen in deutschsprachigen Zeitungen des 19. Jahrhunderts. In: Politisch-sozialer Wortschatz im 19. Jahrhundert. Studien zu seiner Herausbildung und Verwendung, hg. von ders. et al. (Berlin 1986) 21–144, 56. 93  Friedrich Christoph Dahlmann: Die Politik, auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt (1835), hg. von Manfred Riedel (Frankfurt a. M. 1968) 133, 207. Vgl. James J. Sheehan: Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, 1770–1914 (München 1983). 94 Deutlich schärfer ausgeprägt war die Verachtung der Volksmassen bei Konservativen wie François-René de Chateaubriand, auf dessen Zeitung »Le Conservateur« der bis heute gebrauchte politische Richtungsname zurückgeht; dieser meinte: »le peuple-chaos est l’expression du chaos infernal«. Zit. nach G. Fritz, L’Idee, a. a.O. [Anm. 36] 164.

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An der Benutzung des als Bestandteil der politischen Sprache zunächst als fremd empfundenen Begriffs Volk (das gilt nicht gleichermaßen für Nation) lässt sich die Anpassung des Konservatismus an den modernen Verwaltungsstaat und an die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft nachverfolgen. Einen möglichen Zugang eröffnete der Rechtshegelianismus, der den Egoismus der subjektiven Willensäußerungen der Einzelnen dem schon von Hegel dem Staat zugeordneten metaphysischen »Volksgeist« als einem sittlichen Organismus unterwarf.95 Neben dieser etatistischen Übernahme der Volksterminologie und zum Teil in Verbindung damit machte sich die breite Historisierung der Volks- und Nationsbegrifflichkeit geltend, die praktisch das gesamte politische Spektrum erfasste. Die nationale Existenz des deutschen Volkes wurde von einer als Nationalgeschichtsschreibung reüssierenden Geschichtswissenschaft ins Mittelalter und weiter zurück verlängert. Laut Leopold von Ranke bestand der Verlauf der Geschichte darin, dass jede Nation ihre ganz eigentümliche Natur »auf die von Gott geforderte Weise« ausbildete.96 Friedrich Julius Stahl, der dem deutschen Konservatismus den Weg in den Verfassungsstaat wies, unterschied schon im Vormärz einen natürlichen, einen historischen und einen rechtlichen Volksbegriff. Die Abstammungsgemeinschaft und damit die »Einheit des Geistes, der Sitte, der Sprache« war für Stahl der »Urbegriff des Volkes«. Das Volk wurde hier nicht mehr allein als Hervorbringung der staatlichen Ordnung, also der Monarchie, und damit als reiner Untertanenverband gesehen, sondern in einem Wechselverhältnis zum Staat. Eine Neuordnung der europäischen Staatenwelt gemäß nationaler Selbstbestimmung, wie dann 1848/49 angestrebt, schien Stahl »rechtswidrig«, doch die Schaffung einer »höheren Staateneinheit« Deutschlands hielt er für wünschenswert.97 Neben der auch begrifflichen Fortexistenz der einzelstaatlichen »Völker« Deutschlands schlug hauptsächlich der konfessionelle Gebrauch des Volksterminus durch die katholische Kirche für ein Teilvolk Deutschlands zu Buche. Vom Kölner Kirchenstreit 1837 über die erste Formierung des politischen Katholizis95 

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, neu ed. Ausg. (Frankfurt a. M. 1986) 440, sprach vom »Staat, als Geist eines Volkes, zugleich das alle seine Verhältnisse durchdringende Gesetz, die Sitte und das Bewußtsein seiner Individuen […] jedes Volk hat […] die Verfassung, die ihm angemessen ist, und für dasselbe gehört«. Bei den Repräsentanten der rechten Hegel-Schule ging die kritische Potenz des dialektischen Denkansatzes weitgehend verloren, und die Formel vom Volksgeist, der die Glieder des Staates zusammenhalte, als »dem in den positiven Gesetzen sich ausdrückenden Gesamtwillen«, diente vorwiegend zur Legitimierung des Bestehenden. Vgl. K. Lenk, Volk, a. a.O. [Anm. 62] 61 ff., Zitat 64 f.; Die Hegelsche Rechte, hg. von Hermann Lübbe (Stuttgart/Bad Cannstatt 1962); Henning Ottmann: Individuum und Gemeinschaft bei Hegel, Bd. 1: Hegel im Spiegel der Interpretationen (Berlin/New York 1977). 96  Leopold von Ranke: Zur Geschichte Deutschlands und Frankreichs im 19. Jahrhundert. In: ders.: Sämtliche Werke, hg. von Alfred Dove, Bd. 49/50 (Leipzig 1887) 78. 97  Friedrich Julius Stahl: Die Philosophie des Rechts (1830/37), Bd. 2/2 (Heidelberg 31856) 163 ff. Zu Stahl vgl. insb. Dieter Grosser: Grundlagen und Struktur der Staatslehre Friedrich Julius Stahls (Köln/Opladen 1963).

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mus im Jahr 1848 bis zum Kulturkampf der 1870er Jahre stand das »katholische Volk« gegen den preußisch-protestantischen Obrigkeitsstaat, den überwiegend protestantischen, bürgerlichen Liberalismus und die an der Spitze und mehrheitlich ebenfalls protestantische Reichsnation von 1871.98 Mit der Hereinnahme der Zentrumspartei in das regierungsloyale Lager und dem Abbau der Kulturkampfgesetzgebung ab 1878 erhielt der »deutsche« Volkes- und Nationsbegriff, bezogen auf das Bismarck-Reich, auch dort zunehmend Gewicht, ohne dass das »katholische Volk« verschwand. Weder in der Paulskirchenverfassung noch in der Reichsverfassung von 1871 hatte das Volk semantisch einen prominenten Platz. Während 1849 die Parlamentarier der Zweiten Kammer (»Volkshaus«) als »Abgeordnete des deutschen Volkes« bezeichnet wurden (§ 93) und das »deutsche Volk« als Ensemble der Einwohner der zum Deutschen Reich vereinigten Einzelstaaten definiert wurde (§ 131), beschränkte sich die Anwesenheit des Volkes 1871 auf die indirekte Erwähnung in der Präambel, der zufolge die Fürsten einen »ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes sowie zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes« schlossen.99 Wie vielfältig kalkuliert der Begriff des Volkes von ein und derselben Person eingesetzt werden konnte, ist am Beispiel Otto von Bismarcks umfassend untersucht worden.100 Das Staatsgemeinschafts- (dabei nicht Selbstbestimmungs-) Konzept stand bei Bismarck im Vordergrund, doch auch das Kulturgemeinschaftskonzept (das Volk als Abstammungs-, Sprach- und Kulturgemeinschaft) wurde verfolgt, wobei unklar blieb, welche Kriterien für das Volk konstitutiv waren, und das (häufig abwertend als politisch unzuverlässig angesehene) Volk der unteren Schichten (= Pöbel) wurde nach Bedarf ebenfalls angesprochen. Stärker als die »Nation« drückte das »Volk« bei Bismarck eine Loyalitätsbeziehung zum Monarchen aus (im Sinne eines Untertanenkollektivs). Das galt in besonderem Maß, wenn vom »preußischen Volk« die Rede war, das bei dem Politiker anfangs ganz dominierte und seit den späten 1850er Jahren zunehmend um das »deutsche Volk« ergänzt wurde (das preußische Volk als »Teil des deutschen Volkes«, welches nach der Reichsgründung an die erste Stelle trat). »Die Interessen und Bedürfnisse des preußischen Volkes sind wesentlich und unzertrennlich identisch mit denen des deutschen Volkes«, ließ der königliche Ministerpräsident 1863, einige Monate nach seiner Ernennung, verlauten; wäh 98  Vgl.:

Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800, hg. von Albrecht Langner (Paderborn u. a. 1985); Rudolf Morsey: Die deutschen Katholiken und der Nationalstaat zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg. In: Historisches Jahrbuch. Im Auftrag der Görres-Gesellschaft 90 (1970), 31 ff.  99  Die Verfassung des Deutschen Reiches v. 28. März 1849. In: Staatsverfassungen. Eine Sammlung wichtiger Verfassungen der Vergangenheit und Gegenwart in Urtext und Übersetzung, hg. von Günther Franz (München 31964) 140–167, insb. 153, 159; Die Verfassung des Deutschen Reiches v. 16. April 1871. In: ebd., 168–191, insb. 168. 100  Vgl. Szilvia Odenwald-Varga: »Volk« bei Otto von Bismarck. Eine historisch-semantische Analyse anhand von Bedeutungen, Konzepten und Topoi (Berlin/New York 2009).

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rend der Revolution von 1848/49 hatte er allein das »spezifische Preußentum«, namentlich die Armee, als den »besten Repräsentanten des Volkes« im Sinn gehabt. Im ersten Deutschen Reichstag griff Bismarck auf die preußische, nicht die deutsche Nation zurück, um den Anspruch der polnischen Abgeordneten, eine nationale Minderheit zu vertreten, zurückzuweisen. Diese gehörten »zu keinem anderen Staate und zu keinem anderen Volke als zu dem der Preußen, zu dem ich selbst mich zähle«. Seinem hartnäckigen Opponenten, dem Fraktionsvorsitzenden der Freisinnigen Eugen Richter, gegenüber nutzte Bismarck den Volksbegriff, um Richters Berufung auf das Volk entgegenzutreten: »zum Volk wir alle gehören; ich bin auch Volk«.101 – Insgesamt lässt sich für den konservativen Reichsgründer eine differenzierte, doch insgesamt am Status quo orientierte Benutzung des Volksbegriffs festhalten. Ähnlich wie bei Bismarcks »Volk« steht im Artikel »Nation« des Brockhaus von 1885 die Betonung des »politischen Lebens« in seiner Spezifik und Gegensätzlichkeit zu anderen Nationen im Mittelpunkt, wobei die Definition als die »Gesamtheit der Staatsgenossen, die erbliche Stammes-, Sprach-, Sitten- und Kulturgemeinschaft, welche bestimmten Menschenmassen und Familien ein eigentümliches Rassegepräge aufdrückt und sie von anderen N. abhebt«,102 in hohem Maß auf Akzeptanz rechnen konnte. In einem monographischen begriffsgeschichtlichen Überblick unterschied 1888 Friedrich Julius Neumann vier Begriffe von »Volk«: als staatlich-politische Einheit; als lokale, soziale oder politische Gliederungseinheit; als sog. »natürliche Einheit«; und als Nation, die er an eine Hochkultur band103. Unter der Bezeichnung der ›Nationalität‹ gerieten die Fragen der nationalen Minderheiten, von multiethnischen Staaten und des Rechts einzelner Völker auf Eigenstaatlichkeit vermehrt in den Blick. Generell galt: Sofern überhaupt zwischen ›Nation‹ und ›Volk‹ unterschieden wurde, waren die Definitionskriterien entgegengesetzt. Entweder wurde ›Volk‹ eine eher ethnisch-kulturelle Bedeutung zugeschrieben und ›Nation‹ als stärker politische Kategorie gefasst oder genau umgekehrt. Meist wurde in den Lexika zwischen dem politischen und dem ethnischen Volk der Deutschen nicht unterschieden. Während die Autoren kleindeutsch-protestantischer Ausrichtung die Reichsgründung von 1871 unkritisch als Ausdruck des Willens des »deutschen Volkes« bzw. als Ergebnis gemeinsamer Bemühungen von »Fürsten und Volk« einordneten, bewahrte das katholische Staatslexikon eine gewisse Distanz zum Nationalstaat, der dort noch 1911 als die nahe liegendste, aber nicht als die einzig denkbare politische Organisationsform der Nation relativiert wurde.104 101  Alle

Zitate nach ebd., S. 463, 491, 496. Brockhaus’ Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie, Bd. 12 (Leipzig 131885)  91 f. 103  Vgl. Friedrich Julius Neumann: Volk und Nation. Eine Studie (Leipzig 1888). 104 Vgl. Victor S. J. Cathrein: Nation. In: Staatslexikon, Bd. 3, 1911, 1276–1292. Vgl. K. Behrndt, Nationskonzeptionen, a. a.O. [Anm. 12] 265. 102 Vgl.

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Der frühe Volkstumsnationalismus – hier lag eine der Überschneidungen mit der politischen Romantik – hatte dazu geneigt, die Juden aus dem deutschen Volk auszuschließen. Die Berliner Christlich-deutsche Tischgesellschaft (1811– 1813), wo sich Vertreter beider Richtungen trafen, nahm selbst getaufte Juden nicht auf. Der Berliner Historiker Friedrich Rühs trat mit einer judenfeindlichen Schrift hervor und löste damit eine publizistische Kontroverse aus.105 Und die 1817/18 gegründete, in vieler Hinsicht fortschrittliche Allgemeine Deutsche Burschenschaft beschloss auf mehreren Burschentagen, dass nur solche Juden beitreten dürften, die erwiesenermaßen »sich christlich-teutsch für unser Volk ausbilden wollen«.106 Gerade am Beispiel der studentischen Burschenschaften zeigt sich indessen, dass es eine unzulässige Verkürzung wäre, eine direkte Linie zum Antisemitismus im Kaiserreich von 1871 zu ziehen, als dessen organisierte Vorhut der 1881 gegründete Verein Deutscher Studenten auftrat. Die Verbindungen – insbesondere die Waffen tragenden – schlossen in der Folge nach und nach die nicht sehr zahlreichen jüdischen Mitglieder aus bzw. vollzogen eine Aufnahmesperre für Menschen jüdischer Herkunft. Allerdings war die Judenfeindschaft in der Burschenschaft seit Mitte der 1820er Jahre Dezennien lang auf dem Rückzug gewesen, war unter dem Einfluss des vormärzlichen radikalen Liberalismus sogar ausdrücklich widerrufen worden, parallel zum Nachlassen und zeitweiligen Verschwinden der aus der Konstellation von 1806/13 zu erklärenden Xenophobie, namentlich der Franzosenfeindschaft, in der Nationalbewegung überhaupt. Der um 1880 in Erscheinung tretende moderne Antisemitismus war in seinen zunächst einflussreichsten Vertretern, dem vom Nationalliberalismus kommenden Historiker Heinrich von Treitschke und dem Hofprediger Adolf Stoecker, Gründer einer Christlich-Sozialen Partei, noch nicht im engeren Sinn rassistisch, auch wenn der Ausdruck ›Rasse‹ gelegentlich gebraucht wurde, sondern ethnizistisch und kulturalistisch gefärbt. Es ging darum, dass das deutsche Volk »von dem fremden Geist sich losmachen« müsste, um neu zu genesen. Der Hauptvorwurf gegen das Judentum bestand darin, die natürliche volklich-nationale Ordnung der Welt zu zersetzen: »Die Juden sind und bleiben ein Volk im Volke, 105 

Vgl. Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft (Tübingen 2003); Karl Christian Ernst von Bentzel-Sternau: Anti-Israel. Eine projüdische Satire aus dem Jahre 1818. Nebst den antijüdischen Traktaten Friedrich Rühs’ und Jakob Friedrich Fries’ (1816), hg. von Johann Anselm Steiger (Heidelberg 2004); Nicoline Hortzitz: Früh-Antisemitismus in Deutschland 1789–1871/72 (Tübingen 1988); Die Konstruktion der Nation gegen die Juden, hg. von Peter Alter et al. (München 1999). 106  Zit. n. Georg Heer: Geschichte der Deutschen Burschenschaft, Bd. 2: Die Demagogenzeit. Von den Karlsbader Beschlüssen bis zum Frankfurter Wachensturm (1820–1833) (Heidelberg 1927) (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung, Bd. 10) 19; vgl. O. F. Scheuer: Burschenschaft und Judenfrage. Der Rassenantisemitismus in der deutschen Studentenschaft (Berlin 1927) (auch für das Folgende); Norbert Kampe: Studenten und »Judenfrage« im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus (Göttingen 1988).

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ein Staat im Staate, ein Stamm für sich unter einer fremden Race.«107 Im Frankreich der 1880er Jahre, nach der Niederlage von 1870/71 in einer politisch-psychologisch ähnlichen Situation wie der Deutschlands in der Weimarer Republik, wenn auch mit anderem Ausgang, nahm ein neuer antirepublikanischer »integraler Nationalismus« gleichzeitig die Dimension einer mächtigen politischen Strömung an, für die der Antisemitismus ein zentrales ideologisches Element darstellte. Edouard Drumonts La France Juive (1888) soll eine Gesamtauflage von über einer Million erzielt haben.108 Auch bei den im zweiten deutschen Kaiserreich wirksam werdenden neonationalistischen Anschauungen handelte es sich im Wesentlichen um eine neue Erscheinung mit neuer Qualität. Dafür spricht vor allem die gegenüber der Nationalbewegung in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts mit ihren emanzipatorischen Zielen und Wirkungen veränderte politische Konnotation des Nationalismus mit der Rechten. Die Voraussetzung für diese auch in anderen Ländern zu beobachtende Verschiebung der Deutungsmacht im Hinblick auf das Begriffsfeld von Volk und Nation nach rechts war die Öffnung des Konservatismus zur Realität des 1871 entstandenen Nationalstaats (auch wenn die Bewahrung der einzelstaatlichen Befugnisse und Identitäten, namentlich in Preußen, ein wichtiges Anliegen blieb) und der bürgerlichen Gesellschaft (auch wenn großagrarische Interessen gesellschaftspolitisch erstrangig blieben).109 Anders als die ursprünglich teilweise als revolutionär abgelehnte, nun aber adoptierte ›Nation‹ blieb das ›Volk‹ dem etablierten Konservatismus bis zum Ersten Weltkrieg eher fremd, ganz anders als bei den »Völkischen«, die mit Sozialdemokraten und Linksliberalen diesbezüglich in eine semantische Konkurrenz traten. Das hatte durchaus seine Logik, denn das Bismarck-Reich war nicht nur aus 107  Zitate

in: Adolf Stoecker: Erste Rede (18.09.1879). In: ders.: Christlich-Sozial. Reden und Aufsätze (Bielefeld/Leipzig 1885) 4, 17. Speziell zu Stoecker und Treitschke vgl. die eingehende Analyse von Klaus Holz: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung (Hamburg 2001). Allgemein auch Helmut Berding: Moderner Antisemitismus in Deutschland (Frankfurt a. M. 1988). 108  Édouard Drumont: La France Juive. Essai d’histoire contemporaine, 2 Bde. (Paris 1886) (deutsch 1890). Zur Auflagenhöhe K. Holz: Antisemitismus, a. a.O. [Anm. 107] 301. Allgemein zu Frankreich vgl. Zeev Sternhell: Ni droite ni gauche. L’ideologie fasciste en France (Paris 1983). Zur Rechtsverschiebung des Nationalismus in internationaler Perspektive vgl. überblicksartig H. Schulze: Staat, a. a.O. [Anm. 4] 243–278. 109  Vgl. Hans Booms: Die Deutschkonservative Partei. Preußischer Charakter, Reichsauffassung, Nationalbegriff (Düsseldorf 1954); James Retallack: The German Right 1860–1920. Limits of the Authoritarian Imagination (Toronto 2006). – D. Langewiesche: Reich, a. a.O. [Anm. 1] 372 f., konstatiert eine »konservative Inbesitznahme der ›Nation‹« und ergänzt perspektivisch: »Indem sich der Konservativismus ›nationalisierte‹, konnte er populistisch werden«. Vgl. auch Wolfgang Hardtwig: Nationsbildung und politische Mentalität. Denkmal und Fest im Kaiserreich. In: ders.: Geschichtskultur und Wissenschaft (München 1990) 264–301; Frank Bärenbrinker und Christoph Jakubowski: »Nation« und »Nationalismus« seit dem deutschen Kaiserreich. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung anhand von Handbüchern. In: Archiv für Begriffsgeschichte 38 (1996) 201–222.

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Sicht der Demokraten unfertig – seine Machthaber betrachteten kirchentreue Katholiken und dann sozialistische Arbeiter als »Reichsfeinde«. Es schloss in seiner Ausdehnung zudem etliche Millionen ethnischer Deutscher, namentlich in der Habsburger Monarchie, aus, während es andererseits in Schleswig, in den preußischen Ostprovinzen und – im Hinblick auf das subjektive Bekenntnis – in Elsass-Lothringen nationale Minderheiten eingemeindete.110 Die einseitige Radikalisierung des deutschen Volksdenkens begann etwa zeitgleich mit der als »zweite Reichsgründung« bezeichneten Abwendung Bismarcks von der Zusammenarbeit mit den Nationalliberalen, deren Hauptgruppierung die Rechtswendung allerdings nachvollzog, 1878/79 politisch-ideologisch relevant zu werden. Annexionistisch-imperialistische Kolonial- und Weltmachtambitionen einschließende, Krieg und Militär verherrlichende und damit verbundene sozialdarwinistische Ideen gewannen jetzt mehr und mehr Resonanz; hier bildete Deutschland keine Ausnahme. Cecil Rhodes war überzeugt, dass die Briten »die erste Rasse der Welt sind« – Rasse (race) steht hier für das ethnische Volk im deutschen Verständnis – und dass es umso besser für die Menschheit sei, »je mehr von der Welt wir bewohnen«, da »Gott offenkundig die englisch sprechende Rasse zu seinem auserwählten Werkzeug formt«.111 Der Alldeutsche Verband, gegründet 1891, der vielleicht einflussreichste nationalistische Agitationsverein des wilhelminischen Kaiserreichs, tendierte als pressure-group zu einer »nationalen Opposition« gegen die vermeintlich unentschiedene »deutsche Interessenpolitik« der Reichsleitung nach außen. »Die nationale Zusammenfassung des gesamten deutschen Volkstums in Mitteleuropa, d. h. die schließliche Herstellung Großdeutschlands«,112 war der Kern eines zunehmend maßlosen imperialistischen Programms, das explizit gegen andere Völker gerichtet war. »Ein Volk, das kolonisiert, ist ein Volk, welches das Fundament für seine Größe in der Zukunft und für seine Suprematie legt. Alle lebendigen Kräfte der kolonisierenden Nation erfahren eine Intensivierung durch diese Ausbreitung ihrer überschüssigen Energien.« Das schrieb schon 1874 der französische Publizist

110 Vgl.

Theodor Schieder: Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat (Köln 1961). 111  Cecil Rhodes: Draft of Ideas, zit. nach K. Lenk, Volk und Staat, a. a.O. [Anm. 62] 149. 112  Zit. nach Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990 (München 21994) 192. – Vgl. zur Radikalisierung des konservativen und rechtsliberalen Nationalismus ansonsten Stefan Breuer: Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945 (Darmstadt 2001); Dirk Stegmann: Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands. Sammlungspolitik 1897–1918 (Köln/Berlin 1970); Hans-Jürgen Puhle: Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im Wilhelminischen Reich (1893–1914). Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei (Hannover 1966); Geoff Eley: Reshaping the German Right. Radical Nationalism and Political Change after Bismarck (London/New Haven 1980); Roger Chickering: We Man Who Feel Most German. A Cultural Study of the Pan-German League 1886–1914 (Boston 1984); Rainer Hering: Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890–1939 (Hamburg 2003).

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Paul Leroy-Beaulieu.113 Es hätte in jedem der europäischen Staaten mit Kolonialbesitz so formuliert werden können. Durch ein Geflecht von nationalistischen und militaristischen Massenorganisationen entstand in Deutschland organisatorisch eine über das Besitz- und Bildungsbürgertum hinausreichende, populare Neue Rechte. Das deutsche Volk wurde nun ausschließlich aufgrund ethnischer Kriterien bestimmt. Das bedeutete die Exklusion der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens und jüdischer Abstammung und gleichzeitig aus dem gleichen Grund die – politisch unterschiedlich konzipierte – Einbeziehung der außerhalb des Reiches lebenden »Volksdeutschen«, wobei von den Nationalitätenkämpfen in Österreich-Ungarn und dem dort ebenfalls verankerten Antisemitismus starke Impulse ausgingen.114 Dabei hörte der affirmative Reichspatriotismus konservativen oder rechtsliberalen Zuschnitts, wie er gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Errichtung hunderter Wilhelm I.- und Bismarck-Denkmäler zum Ausdruck kam, nicht einfach auf. Er drückte weiterhin majoritäre Einstellungen der nichtsozialistischen Bevölkerung eher aus als es die Parolen der Radikal-Nationalisten taten, doch war eine Grenze zwischen beiden immer schwerer zu ziehen. Ein dezidiert liberaler Nationalismus und auch Imperialismus, wie ihn Max Weber und Friedrich Naumann vertraten, sollte wenigstens erwähnt werden. Naumann sah allein eine »vaterländische Demokratie« als »Trägerin der Volkszukunft«.115 Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts waren nationalantagonistische und machtstaatliche Auffassungen des Volkes verstärkt hervorgetreten. In Gustav Freytags einflussreichem Roman Soll und Haben, 1855 erschienen, verband sich gesteigertes bürgerliches Selbstbewusstsein mit Kulturchauvinismus insbesondere gegenüber den Polen. Als »Volk der Eroberer«, erklärt einer der Protagonisten, müssten die Deutschen ihre Stellung im polnischen Osten Preußens behaupten.116 Die eigentlich völkische Bewegung117 setzte an anderer Stelle an. Ungefähr gleichzeitig wie der erwähnte Roman von Freytag veröffentlichte Wilhelm Heinrich Riehl sein großes Werk Land und Leute, das die spätere völkische Sichtweise prägte und wissenschaftlich untermauern sollte. Riehl meinte, 113 

Zit. nach O. Dann, Nation und Nationalismus, a. a.O. [Anm. 112] 203. Vgl. Bruce Pauley: Vom Vorurteil zur Vernichtung. Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus (Wien 1993); John W. Boyer: Political Radicalism in the Late Imperial Vienna. Origins of the Christian Social Movement 1848–1897 (Chicago 1981); Paul Molisch: Geschichte der deutschnationalen Bewegung in Österreich (Jena 1926); Andrew G. Whiteside: Georg Ritter von Schönerer. Alldeutschland und sein Prophet (Graz/Wien 1981). 115  Friedrich Naumann: Demokratie und Kaisertum (1900). In: ders.: Werke Bd. 2: Schriften zur Verfassungspolitik, bearb. von Wolfgang J. Mommsen (Köln/Opladen 1966) 100. – Vgl.: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. von Rüdiger vom Bruch (Berlin/New York 2000). 116  Gustav Freytag: Soll und Haben (Leipzig 1855) 681. 117 Vgl. Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich (Darmstadt 2001); Handbuch zur »völkischen Bewegung« 1871–1918, hg. von ders. et al. (München 1996); George L. Mosse: Ein Volk – Ein Reich – Ein Führer. Die völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus (Königstein/Ts. 1979); Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland (München 1986) (auch für das Folgende). 114 

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dass das Volk seine organische Natur nur erreichen könne, wenn es mit der heimatlichen Landschaft verschmelze. In seinem hierarchisch-ständischen, soziale Unterschiede als natürlich rechtfertigenden Gesellschaftsideal standen der Adel und das mit dem Boden verwachsene Bauerntum an erster Stelle. Im Bürgertum wie in der Arbeiterschaft sah Riehl integrationsfähige Elemente, anders als bei den Entwurzelten aller Klassen (»Proletariat«), deren menschlichen Kern er in den Juden, deren Lebensraum er in der Großstadt lokalisierte, sah.118 Antirevolutionär und ständisch dachte auch Paul de Lagarde (ursprünglich Paul Anton Bötticher, 1827–1891), der die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands gerade wegen ihres modernisierenden Charakters noch skeptisch wahrnahm; die Träger der Modernisierung waren für ihn die emanzipierten Juden und in Verbindung mit ihnen die Liberalen. Lagardes Botschaft entsprang einem »germanisch« umgedeuteten Christentum, das aller jüdischen Elemente entkleidet werden sollte. Im Volk entfalte sich der lebendige Geist Gottes, wobei die Deutschen in besonderer Weise mit der geistigen Offenbarung begabt seien. »Die Heilsgeschichte wird zur innerweltlichen Volksgeschichte ontologisiert.«119 Lagarde grenzte seinen organischen Volksbegriff dabei gegen eine rein biologische Interpretation ab, indem er erklärte: »Das Deutschtum liegt nicht im Geblüte, sondern im Gemüthe.«120 Außenpolitisch trat Lagarde für eine Machtpolitik ein, die im Kriegsfall umfangreiche Annexionen in West und Ost sowie die Umwandlung der Donaumonarchie in einen »Kolonialstaat Deutschlands« vorsah, der im Lauf der Zeit ebenso germanisiert werden sollte wie die preußischen Provinzen Westpreußen und Posen. Die Deutschen seien ein »friedfertiges Volk«, doch hindere man sie, »ihrer Mission nachzugehen, so haben sie die Befugnis, Gewalt zu brauchen«.121 Der 23 Jahre jüngere Julius Langbehn vollzog Lagardes Abwertung des Staates gegenüber dem Volk und seine ständische Orientierung nach, steigerte dessen Ansatz dabei weiter ins Mystische und Spirituelle. Langbehns besonderes Interesse galt der Kunst, für ihn eine Form der Religion, über die sich die »nationale Wiedergeburt« des deutschen Volkes vollziehen sollte. Stets ging es um die Einheit von Individuum, Volk und Kosmos. Langbehns Schrift Rembrandt als Erzieher (1890) wurde ein großer publizistischer Erfolg.122 Mit ihrer anti118  Vgl. Wilhelm Heinrich Riehl: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik, 4 Bde. (Stuttgart 1851–1869). Zu Riehl vgl. Jasper von Altenbockum: Wilhelm Heinrich Riehl 1823–1897. Sozialwissenschaftler zwischen Kulturgeschichte und Ethnographie (Köln u. a. 1994). 119  K. Holz: Antisemitismus, a. a.O. [Anm. 107] 208. 120 Paul de Lagarde: Über die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik. In: ders.: Deutsche Schriften, Gesammtausgabe letzter Hand (Göttingen 51920) 18–39, 26. 121 Ders.: Die nächsten Pflichten deutscher Politik. In: ders.: Deutsche Schriften a.  a.O. [Anm. 120] 417–453, hier 423. 122  [Julius Langbehn]: Rembrandt als Erzieher von einem Deutschen, (Leipzig 1890) u. ö. Vgl. dazu Liselotte Ilschner: Rembrandt als Erzieher und seine Bedeutung. Studie über die kulturelle Struktur der neunziger Jahre (Danzig 1928).

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modernistischen Kulturkritik wurden Lagarde und Langbehn auch in der Neuromantik des Verlegers Eugen Diederichs und in der nach 1900 entstehenden bürgerlichen Jugendbewegung rezipiert, die dort eine Alternative zum seelenlosen Materialismus und zum angepassten Hurra-Patriotismus der etablierten wilhelminischen Gesellschaft zu finden meinten.123 Die spezifische Sicht der Sozialdemokraten um 1900 auf »das Volk, wie es sein soll«, lassen die satirischen Zeichnungen im Wahren Jacob erkennen. Während eine etwa zeitgleiche konservative bildliche Darstellung (Die Gartenlaube) das Volk als »Einwohner« eines Städtchens, den »Behörden«-Vertretern nachgeordnet, zeigt, wo sie in »Liebe und Verehrung« auf den Kaiser warten, und im liberalen Simplizissimus das Volk mit Hilfe der (nach Fertigstellung des Simplon-Tunnels) nach Deutschland geschafften Bohrmaschinen die dicke »Mauer zwischen Herrschern und Volk zu durchbrechen« sich anschickt, angeleitet von einer riesigen Germania-Figur, »rast« das »Volk« im Wahren Jacob in Gestalt eines jungen, nackten Riesen gegen diverse Übelmänner der herrschenden Klasse und ihrer Apparate. Mit einem Baumstamm als Waffe geht das Volk auf Pfaffen, Junker und Bürokraten los, die ihm mit Weihwasser, Mistforke und Federkiel zu Leibe rücken, nachdem ein Offizier schon zu Boden gestreckt ist und ein Wucherer durch die Luft fliegt. Ein Spießbürger im Schlafrock flüchtet auf einem Esel, und die ohnmächtige oder verletze Justitia wird von einer Hexe fortgeführt. Angesichts der Größe und der strotzenden Kraft des »Riesen Volk« besteht kein Zweifel, wer siegen wird. Es geht in der Zeichnung nicht um die Vermittlung zwischen Volk und Herrscher, sondern schlicht um die Vernichtung volksfeindlicher Herrschaft, wobei deren oberster monarchischer Repräsentant einfach ignoriert wird.124 Der sozialistische Volks- und Nationsbegriff hat zwei Wurzeln: erstens die Tradition der demokratischen Bewegung und ihrer Semantik, bei der das politische und soziale Volk nicht getrennt waren und das ethnische Volk nicht selten mitschwang. Der Hessische Landbote Georg Büchners und Friedrich Ludwig Weidigs formulierte 1834 den Antagonismus der »Vornehmen« und des »Volkes«.125 Die vormärzliche radikale Zeitschrift Das Westphälische Dampfboot (Bielefeld, dann Paderborn) trug den Untertitel: »Wohlstand, Bildung, Freiheit für alle. Alles für das Volk, Alles durch das Volk!« In diesem Sinn nannten sich später sozialdemokratische Zeitungen in Deutschland wie anderswo nach dem Volk (»Das 123 Vgl.

Eugen Diederichs: Leben und Werk, hg. von Lulu von Strauß und Torney (Jena 1936); Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, hg. von Werner Kindt (Düsseldorf 1963); Christa Berg: Familie, Kindheit, Jugend. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV: 1870–1918, hg. von dies. (München 1991) 91–145; Handbuch der deutschen Reformbewegungen, hg. von Diethardt Kerbs und Jürgen Reulecke (Wuppertal 1998). 124  Vgl. Hartwig Gebhardt: »Der Kaiser kommt!« Das Verhältnis von Volk und Herrschaft in der massenmedialen Ikonographie um 1900. In: Das Volk. Abbild. Konstruktion, Phantasma, hg. von Annette Graczyk (Berlin 1996) 63–81, Abbildungen 65, 72, 75, 77. 125  Gerhard Schaub: Georg Büchner: Der Hessische Landbote. Texte, Materialien, Kommentar (München 1976) 8.

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Volk«, »Volkszeitung«, »Volksstimme«, »Volksfreund« usw.). Den »freien Volksstaat« zielte das Eisenacher Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei von 1869 an126, und Der Volksstaat hieß deren Parteiorgan«. In der Massenagitation der deutschen Sozialdemokraten blieb das Volk als Adressat auch stets präsent, und im Übrigen lagen die frühen Umschreibungen der Arbeiterklasse durch Lassalle und Bebel nicht weit vom Volk der vorsozialistischen radikalen Demokratie entfernt.127 »Volkspartei« hießen auch die Versuche, in den mittleren und späten 1860er Jahren die entschieden gegen die großpreußisch-kleindeutsche Lösung opponierenden bürgerlichen und sozialistischen Demokraten zu sammeln. Der Name überdauerte in Süddeutschland, namentlich in Württemberg, wo die dortige Volkspartei schließlich 1910 in der reichsweiten linksliberalen Neugründung aufging, die sich Fortschrittliche Volkspartei nannten. In der Marx’schen und Engels’schen Theorie – zweitens – sind die Nationen Übergangserscheinungen; der Volksbegriff bleibt marginal, obwohl die Demokratie für die Begründer des »wissenschaftlichen Sozialismus« in verschiedener Weise konzeptionell relevant ist128 und im Agieren der sozialistischen Parteien gegen Ende des 19. Jahrhunderts demokratische Forderungen, namentlich im Wahlrechtkampf, zentral sind. Das allgemeine Stimmrecht, so Wilhelm Liebknecht 1886, also noch während des Sozialistengesetzes, »hat mit Millionen Wurzelfasern das deutsche Reich festwurzeln lassen im deutschen Volke. Wenn das Reich jetzt stark ist, so ist es das kraft des allgemeinen Wahlrechts, kraft des Prinzips der Volkssouveränität.«129 Ferdinand Lassalle, den theoretischen Ansätzen von Herder, Fichte und Hegel verpflichtet, hatte die innere »Autonomie, Selbstgesetzgebung des Volkes«, 1859 mit dem »Prinzip der freien, unabhängigen Nationalitäten« verknüpft, das er gewissermaßen als die außenpolitische Entsprechung innerstaatlicher Demokratie ansah. »Das Prinzip der Nationalitäten wurzelt in dem freien Recht des Volksgeistes auf seine eigene geschichtliche Entwicklung und Selbstverwirk126  Das Eisenacher Programm. Beschlossen auf dem Parteitag des Allgemeinen Deutschen sozial-demokratischen Arbeiterkongresses zu Eisenach am 7., 8. und 9. August 1869. Be­richt nach den Protokollen des Parteitages. Offenbach 1947 (= Schriftenreihe Demokratie und Sozialismus 6: Sozialistische Dokumente), http://library.fes.de/prodok/fa-38990.htm [06.09.2014]. 127 August Bebel verstand – ähnlich Lassalle – 1869 unter der »Arbeiterklasse« als der sozialen Basis der gesellschaftlichen Umgestaltung »nicht allein die Lohnarbeiter im engsten Sinn«, sondern »auch die Handwerker und Kleinbauern, die geistigen Arbeiter, Schriftsteller, Volksschullehrer, niederen Beamten.« Zit. nach Peter Brandt und Detlef Lehnert: »Mehr Demokratie wagen«. Geschichte der Sozialdemokratie 1830–2010 (Berlin 2013) 53. Vgl. zum sozialistischen Volksbegriff auch die Zitate bei B. Rindermann, Die Verwendung von Volk, a. a.O. [Anm. 92] insb. 46 ff. 128 Vgl. zusammenfassend die Artikel von Hartmut Wagner: Demokratie. In: Historischkritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 2, hg. von Wolfgang Fritz Haug (Hamburg 1995) Sp. 527–533; Uwe-Jens Heuer: Demokratie/Diktatur des Proletariats. In: ebd., 534–551. 129  Reichstagsrede v. 15. Januar 1886, auszugsweise abgedruckt. In: Die deutsche Nation. Aussagen von Bismarck bis Honecker, hg. von Carl Christoph Schweitzer (Köln 1976) 68–71, hier 68.

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lichung.« Für Deutschland bedeutete das, die »rein metaphysische Innerlichkeit« des Volksbegriffs zu überwinden, nationale Einheit und Demokratie Realität werden zu lassen.130 Bei Marx und Engels führte das Hegel’sche Erbe dazu, nach dem Maßstab ihrer globalen Evolutions- und Revolutionskonzepte selektiv mit der nationalen Selbstbestimmung umzugehen, wenn sie etwa die polnische Sache wegen der Hauptstoßrichtung gegen den russischen Zarismus vehement befürworteten, die tschechische aber als reaktionär verdammten. In Polen wie auch in Deutschland könne erst die Einrichtung eines unabhängigen, einheitlichen Nationalstaats die Voraussetzung schaffen für die Entstehung bzw. das Wachstum proletarischer Klassenparteien. Die nationalen Bewegungen der kleinen, wie schon seitens Hegels für geschichtslos gehaltenen Völker (»Natiönchen«, »Völkerruinen«, »Überreste früherer Völker«) in agrarisch geprägten Gesellschaften könnten indessen keine fortschrittliche Rolle im historischen Prozess spielen und müssten in den großen lebensfähigen Nationen aufgehen, eventuell auch als »ethnographische Denkmäler ohne politische Bedeutung« überdauern.131 – Anders als Marx und Engels verteidigte Bakunin das »absolute Recht« jeder noch so kleinen volklich-nationalen Gemeinschaft, bemessen allein nach dem subjektiven Willen der jeweiligen Gruppe, sich aus freien Stücken zu vereinigen oder zu trennen. Die als Föderation autonomer Provinzen gedachten »Nationen« sollten schließlich in einer internationalen Mega-Föderation zusammenwirken.132 Unter den größeren Staaten stellte die nationale Frage für die sozialistischen Arbeiterparteien vor allem Österreich-Ungarns und Russlands ein praktisches Problem dar. In beiden Reichen bildeten sich eigene Parteien oder Parteigliederungen einzelner Nationalitäten, die Unabhängigkeits- oder Autonomiebestre130  Ferdinand

Lassalle: Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens (1859). In: ders.: Gesammelte Reden und Schriften, hg. von Eduard Bernstein, Bd. 1 (Berlin 1919) 23–112, hier 31 und 33 – letztes Zitat ders.: Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des deutschen Volksgeistes. In: ebd., Bd. 5, 148. 131 Friedrich Engels: Po und Rhein. In: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 13 (Berlin 1961) 267. Vgl. auch die Untersuchungen von Roman Rosdolsky: Friedrich Engels und das Problem der »geschichtslosen« Völker. In: Archiv für Sozialgeschichte 4 (1964) 87–282; Charles C. Herod: The Marxist Concept of Nations with History and Nations without History (The Hague 1976); Nationalismus und Marxismus, hg. von Thomas Nairn et al. (Berlin 1978); Jochen Blaschke: Nationalitätsfrage und sozialistische Theorie. In: ders.: Volk, Nation, Interner Kolonialismus, Ethnizität. Konzepte zur politischen Soziologie regionalistischer Bewegungen in Westeuropa (Berlin 1985) 67–84; Ho Seong Park: Sozialismus und Nationalismus. Grundsatzdiskussionen über Nationalismus, Militarismus und Krieg in der deutschen Sozialdemokratie vor 1914 (Berlin 1986); Dieter Groh und Peter Brandt: »Vaterlandslose Gesellen«. Sozialdemokratie und Nation 1860–1990 (München 1992). Werner Conze und Dieter Groh: Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung. Die deutsche Sozialdemokratie vor, während und nach der Reichsgründung (Stuttgart 1966). 132  Michail Bakunin: Rede gehalten auf dem ersten Kongress der Friedens- und Freiheitsliga zu Genf (1867). In: Michail Bakunins sozial-politischer Briefwechsel mit Alexander Iw. Herzen und Ogarjow. Mit einer biographischen Einleitung, Beilagen und Erläuterungen von Prof. M. Dragomanow (Stuttgart 1895) 311–313, hier 313.

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bungen ihrer Völker aufnahmen und teilweise maßgeblich mit verfochten. Die österreichische Sozialdemokratie nahm 1899 die Umbildung des österreichischen Reichsteils der Donaumonarchie in einen »demokratischen Nationalitäten-Bundesstaat«, in ihr Programm auf, wobei ein Territorialitätsprinzip mit einem Persönlichkeitsprinzip der nationalen Zuordnung kombiniert werden sollte.133 Otto Bauers 1907 erschienene Schrift Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie beinhaltete die Abkehr von einem theoretisch abstrakten Internationalismus zugunsten einer Einschätzung des nationalen, vor allem durch die Sprache vermittelten Kollektivs als Kommunikationsgemeinschaft und insofern »Schicksalsgemeinschaft«. Es hatte sich gezeigt, dass die Industrialisierung die nationalen Bindungen auch der sich entwurzelt fühlenden Arbeiter der großen Städte stärkte und nicht schwächte. Der Zugang zur internationalen Kultur und zum politischen Internationalismus war für Bauer, wie dann auch für die Bolschewiki, die das nationale Selbstbestimmungsrecht propagierten, die nationale Frage aber hauptsächlich strategisch-politisch und weniger in ihrer kulturellen Dimension in dem Blick nahmen,134 nur auf der Basis einzelner Nationen möglich. Da der Proletarier erst spät in die nationale Verkehrsgemeinschaft integriert worden und »Hintersasse der Nation« geblieben sei, ginge es bei der Emanzipation der Arbeiterklasse maßgeblich auch um die Aneignung der nationalen Kultur durch die unterprivilegierten Volksmassen.135

Fazit Der Begriff des ›Volkes‹ ist seit über zweihundert Jahren so vielgestaltig wie die Sache selbst, um die es geht. In der modernen Geschichte, namentlich im 19. Jahrhundert, waren das politische, das ethnisch-kulturelle und das soziale Volk gleichermaßen prominent und nicht immer deutlich voneinander abgegrenzt. Das 1871 konstituierte Deutsche (Staats-)Volk konnte trotz der nationalen Minderheiten kaum ohne die muttersprachlichen und kulturellen Merkmale gedacht werden. Das gilt entsprechend oder ähnlich auch für andere Länder, einschließlich der etablierten westeuropäischen nationalen Verfassungsstaaten. Der rein logisch zu 133 Brünner Programm vom 29. September 1899. In: Österreichische Parteiprogramme 1868–1966, hg. von Klaus Berchtold (Wien 1967) 144 f.; vgl. Hans Mommsen: Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat. Das Ringen um die supranationale Integration der zisleithanischen Arbeiterbewegung, 1867–1907 (Wien 1963); ders.: Arbeiterbewegung und Nationale Frage. Ausgewählte Aufsätze (Göttingen 1979). 134  Für den Zugang der Bolschewiki vgl. Josef W. Stalin: Marxismus und nationale Frage (1913). In: ders.: Werke, Bd. 2 (Berlin 1950) 266–333; W. I. Lenin: Die nationale Frage in unserem Programm. In: ders.: Werke, Bd. 6 (Berlin 1975) 452–460; ders.: Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage. In: ders.: Werke, Bd. 20, 4–37. 135  Otto Bauer: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie (Wien 1907) 50 und 51; vgl. auch Synopticus [Karl Renner]: Staat und Nation (Wien 1899).

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Recht oft betonte Gegensatz zwischen einem westlich-staatsbürgerlichen und einem mittel- und osteuropäischen, ethnischen Volks- und Nationsbegriff verlor in der historischen Realität beiderseits an Kontur, weil in den einen nichtstaatliche, nichtpolitische Bedeutungen subkutan eingingen und der andere lange meist von Menschen propagiert wurde, die ihn durchaus mit Freiheits- und Verfassungsforderungen verbanden. Die einzelstaatlichen Völker Deutschlands, die um 1800 und darüber hinaus von mindestens gleicher Bedeutung gewesen waren wie das zuerst nur begrifflich kreierte bzw. »entdeckte« gesamtdeutsche Volk, traten im Einigungsprozess und nach der Reichsgründung zurück, fanden in den ausgeprägt föderativen und preußisch-hegemonialen Strukturen des Kaiserreichs jedoch weiterhin einen realen Bezugspunkt. Eine plausible, begrifflich klare Unterscheidung von ›Volk‹ und ›Nation‹ gelang in Deutschland so wenig wie anderswo – diesbezügliche Versuche gingen in entgegengesetzte Richtungen – › und so lässt sich lediglich konstatieren, dass die soziale Bedeutungsdimension von ›Volk‹ der ›Nation‹ ganz fremd, ›Volk‹ insofern umfassender blieb, wenngleich die Klassenspaltung der industriekapitalistischen Gesellschaft des späteren 19. Jahrhunderts im Anschluss an Benjamin Disraeli gelegentlich als Vorhandensein von »zwei Nationen« in einem Staat bezeichnet wurde. Noch krasser als im Hinblick auf die ›Nation‹, deren semantische Romanischstämmigkeit offensichtlich war und deren begrifflicher Siegeszug eng mit der Französischen Revolution verbunden war, drückte sich die Abkehr der gesellschaftlich-staatlich etablierten nationalen Bestrebungen von den liberaldemokratischen Emanzipationsvorstellungen der Zeit speziell in Deutschland in der nationalantagonistischen, nach innen repressiven und exklusiven Interpretation des Volkes durch die »Völkischen« und andere Vertreter einer Neuen Rechten aus. Allerdings blieben demokratische Volks- und Nationskonzeptionen daneben einflussreich. Die Hochkonjunktur der Volksterminologie in allen politischen Formationen und ideellen Strömungen stand indessen noch bevor.



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I.  Zur Begriffsbildung Schon weil der zunächst philosophische Begriff der Weltanschauung von den politischen Großideologien des 20. Jhs. adaptiert wurde, haben Begriff und Sache inzwischen ein großes Interesse auf sich gezogen, und die Begriffsgeschichte kann als recht gut erforscht gelten.1 Der Ausdruck hatte im 19. Jh. schnell eine große Verbreitung gefunden, und es entstand eine literarische Publikation, die man später unter dem Begriff ›Weltanschauungsliteratur‹ zusammenfasste.2 Diese Karriere des Begriffs ist erstaunlich. Denn in Abgrenzung zum 18. als dem »philosophischen Jahrhundert« verstand sich das 19. schon selbst als das Jahrhundert der Geschichte und der Naturwissenschaften, und gerade dieses Zeitalter der siegreichen empirischen Wissenschaften hat zugleich das hervorgebracht, was für uns keine Wissenschaft ist: die Weltanschauungen. Näher besehen, drängt sich sofort eine Vermutung auf. Da die empirischen Wissenschaften ihre großen Erfolge durch wachsende Spezialisierung erzielten, konnten sie immer weniger das bieten, wonach ein wachsendes Bedürfnis entstand: einen Blick auf das Ganze.3 Diese Lücke füllten die Weltanschauungen. Aber anderes trat hinzu. Erstaunlich ist auch, dass sich für den Blick aufs Ganze das deutsche Wort Weltanschauung durchsetzte und sogar in anderen Sprachen als Fremdwort rezi-

1  Siehe vor allem die materialreiche Dissertation von Helmut G. Meier: »Weltanschauung«. Studien zu einer Geschichte und Theorie des Begriffs (Diss.-Druck Münster 1970). – Viele Belege schon bei Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch Bd. 14, I.1 (Leipzig 1955, Repr. München 1984) 1530–1538. – Horst Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert, hg. von Lutz Danneberg, Friedrich Vollhardt (Tübingen 2002) 338–380. – Frank-Michael Kuhlmann, Reinhard Hempelmann: Weltanschauung. In: Theologische Realenzyklopädie Bd. 35 (Berlin, New York 2003) 544–559. – Horst Thomé: Der Blick auf das Ganze. Zum Ursprung des Konzepts ›Weltanschauung‹ und der Weltanschauungsliteratur. In: Aufklärungen. Zur Literaturgeschichte der Moderne. Festschrift für Klaus-Detlef Müller zum 65. Geburtstag, hg. von Werner Frick u. a. (Tübingen 2003) 387–401. – Ders.: Weltanschauung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 12 (Basel 2004) 453–460. – Arnulf Müller: Weltanschauung – eine Herausforderung für Martin Heideggers Philosophiebegriff (Stuttgart 2010) 15–118. Für das anhaltende theoretische Interesse siehe Ernst Wolfgang Orth: Ideologie und Weltanschauung. Zur Pathologie zweier Begriffe. In: Aufklärungsperspektiven. Weltanschauungsanalyse und Ideologiekritik (Tübingen 1989) 133–148. – Philosophie und Weltanschauung, hg. von Johannes Rohbeck (Dresden 1999). 2  H. Thomé: Weltanschauungsliteratur, a. a.O. [Anm. 1]. 3  H. Thomé: Der Blick auf das Ganze, a. a.O. [Anm. 1].

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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piert wurde,4 denn ganz wörtlich genommen bezeichnet es, wie man gesagt hat, ein Paradox: Man kann sehr vieles anschauen – einen neuen Film oder einen alten Dom –, aber nicht die Welt, schließlich kann nur das Bestimmte, Anschauliche, aber nicht das Unbestimmte und Unanschauliche ein Gegenstand der Anschauung sein. Allerdings wird das der Semantik des Wortes ›Anschauung‹ nicht gerecht. Bereits in der normalen Sprache heißt es oft soviel wie Meinung, Auffassung, Konzeption usw., ganz ähnlich wie auch ›Ansicht‹. Und in der Philosophie nahm ›Anschauung‹ sehr früh die Bedeutungen von ›visio‹ und ›intuitio‹ in sich auf, die sich beide von der Sphäre des Optischen längst gelöst und ihren metaphorischen Charakter abgestreift hatten. Sie waren in langer Tradition zentrale Begriffe in Metaphysik und Erkenntnislehre. Schon bei Kant war Anschauung ein Grundbegriff seiner Philosophie, und er unterschied mehrere Formen: zunächst die »sinnliche Anschauung«, eine Säule der empirischen Wissenschaften, die sich in äußere und innere gliedert; sodann die »reine Anschauung« der Mathematik, eine Erkenntnisbedingung der empirischen Anschauung; und schließlich die »intellektuelle Anschauung«, welche die Gegenstände unmittelbar, ohne sinnliche Wahrnehmung erfasse, die aber dem Menschen nicht möglich sei. Allerdings nennt Kant gelegentlich hier eine Ausnahme: das »intellektuelle innere Anschauen« unserer eigenen Tätigkeit, worauf unser Begriff der Freiheit gründe.5 Genau das ist der Begriff, der in der Folgezeit, im transzendentalen Idealismus von Fichte und Schelling, zum Angelpunkt der gesamten Philosophie wurde. Denn Fichte erklärte zum Prinzip der Philosophie das Ich, das sich in »intellektueller Anschauung« setzt und ergreift. Und nicht nur das selbstbewusste Ich, auch die äußere Welt wird gesetzt und erschlossen durch Anschauung. Denn das Ich setzt sich als anschauend und bringt in eins damit das Angeschaute hervor: »Das angeschaute, als solches, wird produciert. […] Das producierende Vermögen ist immer die Einbildungskraft; also jenes Setzen des angeschauten geschieht durch die Einbildungskraft, und ist selbst ein Anschauen.«6 Schließlich kann Fichte sagen: »Alles Wissen ist […] Anschauung«7 und gibt folgende »Worterklärung«: »Ein […] absolutes Zusammenfassen und Uebersehen eines Mannigfaltigen v(o)n Vorstellen, welches Mannigfaltige denn auch wohl überall zugleich ein unendliches seyn dürfte, wie sich ein solches in der […] Construktion eines Wissens gezeigt hat, heißt […] in der Wissenschaftslehre, Anschauung.«8 Wenn also der Begriff der Weltanschauung in der romantisch-idealistischen Philosophie erstmals häufiger gebraucht 4 

Michel Kowalewicz: Weltanschauung. In: Archiv für Begriffsgeschichte 55 (2013) 237–250. Immanuel Kant, opus posthumus Nr. 4336. Kant’s handschriftlicher Nachlaß, Akad.-Ausg. Bd. 17 (Berlin, Leipzig 1926) 509. 6  Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95). Akad.Ausg. Bd. I,2 (Stuttgart-Bad Cannstatt 1965) 173–451, hier 371. 7 J. G. Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre aus den Jahren 1801/02. Akad.-Ausg. Bd. II,6 (Stuttgart-Bad Cannstatt 1983) 129–324, hier 140. 8  Ebd. 138. 5 

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wurde, so liegt es nicht daran, dass schon diese Philosophie Weltanschauungen produzierte, sondern daran, dass in ihr ›Anschauung‹ zu einem Grundbegriff der Theorie des Erkennens und Wissens wurde und dabei gleichsam auch Seitentriebe entstanden: besonders ›Selbstanschauung‹ und ›Weltanschauung‹. Um die Entstehung des Ausdrucks ›Weltanschauung‹ zu rekonstruieren, kann man am Beginn der Begriffsentwicklung drei Phasen oder besser drei Formen des Gebrauchs unterscheiden. Das Wort wechselte in den verschiedenen Kontexten oft seine Bedeutung, zuweilen sogar bei demselben Autor, aber drei Grundbedeutungen stechen hervor. (1) Der noch immer älteste Nachweis des Wortes findet sich 1790 in Kants Analytik des Erhabenen im Rahmen seiner Kritik der Urteilskraft.9 Der Begriff verrät hier eine Schwierigkeit der Kantischen Philosophie: Die Welt ist der Inbegriff nicht der Dinge selbst, sondern der Erscheinungen, die sämtlich nur und ausschließlich in der Anschauung gegeben sind. Wie ist unter dieser Voraussetzung das unendliche Ganze der Erscheinungen zu denken, das nicht anschaubar ist? Kants Antwort: Wir unterstellen »die Idee eines Noumenons«, also eine gedachte Einheit, und gelangen so zum Begriff der Anschauung der ganzen Welt, der Weltanschauung. Schon bei Kant hat der Begriff zwei Merkmale, die er vorerst behalten wird: a) Die Weltanschauung als Synthesis des unendlich Mannigfaltigen ist eine spontane Leistung der Vernunft des Erkenntnissubjektes, dem außerhalb dieser Anschauung nichts von der Welt gegeben ist. b) Die theoretische und die praktische Vernunft selbst gehören ebenso wenig wie die Urteilskraft zur Welt als Inbegriff der Erscheinungen, und weder die Philosophie noch die Religion können Weltanschauungen genannt werden. Wir können weder davon ausgehen, dass Kant das Wort prägte – denn er gebrauchte es nur ganz beiläufig, und auch ›Weltansicht‹ gab es schon –, noch davon, dass man es in der Folgezeit immer nur von Kant übernahm, da es bald auch anders verwendet wurde. Schon als Fichte 1792 in seinem Versuch einer Kritik aller Offenbarung den Ausdruck benutzte, schloss er sich nicht an Kants Kritik der Urteilskraft an, sondern hatte vermutlich dessen Kritik der reinen Vernunft im Sinn. Denn es ging ihm in dieser Frühschrift nicht um das Problem, wie »das Unendliche der Sinnenwelt […] unter einem Begriff kann zusammengefasst werden«, sondern um die Frage, wie in der Welt Naturnotwendigkeit und Freiheit verbunden gedacht und von einem göttlichen Verstand gleichzeitig angeschaut werden könnten10 – eine Frage, die an Kants »kosmologische Idee« der Freiheit aus der »transzendentalen Dialektik« anschließt. Das Wort »WeltAnschauung« bot sich an, weil es um die Frage nach dem kohärenten Zusammenhang der »Weltbegebenheiten« ging, genauer: um die »kosmologische Idee von der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen«, wie  9 

I. Kant: Kritik der Urteilskraft, § 26. Akad.-Ausg. Bd. 5 (Berlin 1913) 255. G. Fichte: Versuch einer Critik aller Offenbarung, § 7 (1792). Akad.-Ausgabe Bd. I,1 (Stuttgart-Bad Cannstatt 1964) 1–161, hier 70 f. 10  J.

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es in Kants Vernunftkritik heißt.11 In Fichtes Naturrechtslehre von 1796 ergibt sich dann der Begriff schon ganz konsequent aus seinem eigenen neuen Denk­ ansatz: Das Vernunftwesen, das Ich, setzt sich in freier Tätigkeit selbst – und durch Selbst­begrenzung setzt es auch eine Welt, und zwar im Akt der Anschauung, der »Weltanschauung«. »Welt« ist der Inbegriff der Objekte, all dessen, was dem freitätigen Selbst gegenübersteht, also das Nicht-Ich, das aber nur sein eige­ nes, vergessenes Produkt ist, und »Anschauung« ist der produktive Akt der Setzung, wie oben schon zitiert.12 Schleiermachers einflussreiche Reden über die Religion von 1799 sind ein Gegenentwurf zu Fichtes Philosophie, denn an die Stelle des absoluten, freien Ich tritt das göttliche »Universum«, das alles umgreift und dem alle endlichen Wesen ihr Dasein verdanken. Aber der Anschauungsbegriff wird in seiner Zentralstellung gefestigt, wenngleich in anderer Bedeutung.13 Analog zur intellektuellen Anschauung des Ich bei Fichte erschließt sich bei Schleiermacher das Universum nur dem Gefühl und der Anschauung. Allerdings ist diese Anschauung des Unendlichen, des »Einen«, kein Akt der Spontaneität mehr, sondern eher der gefühlsmäßigen passiven Hingabe. Sie kann als eine Neufassung der ›visio Dei‹ unter spinozistischem Einfluss interpretiert werden.14 Eine ganz andere Stellung hat in diesem Kontext die ›Weltanschauung‹. Sie ist auch hier der Gegenbegriff zur ›Selbstanschauung‹: »Drei verschiedene Richtungen des Sinnes kennt jeder aus seinem eignen Bewusstsein, die eine nach innen zu auf das Ich selbst, die andere nach außen auf das Unbestimmte der Weltanschauung, und eine dritte die beides verbindet […].«15 Die Anschauung des Universums, die Religion, ist hier keine Weltanschauung, und Selbst- und Weltanschauung sind nicht religiös. Allerdings können sie zur Religion führen, indem sie zur Anschauung des Universums fortgetrieben und vertieft werden. Dann öffnet sich auf ihrem Boden der Sinn für das Unendliche. So liege die »Selbstbeschauung« dem orientalischen Mystizismus zugrunde und die »Weltanschauung« dem Polytheismus Altägyptens.16 Man sieht: In dieser ersten Gebrauchsweise war Weltanschauung weder eine Religion noch überhaupt ein bestimmtes System von Gedanken und 11 

I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, Akad.-Ausg. A 532 ff., B 560 ff. G. Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796). Akad.-Ausg. Bd. I,3 (Stuttgart-Bad Cannstatt 1966) 291–460, hier 329–331. 13  Siehe dazu Eilert Herms: »Weltanschauung« bei Friedrich Schleiermacher und Albrecht Ritschl. In: Ders.: Theorie für die Praxis – Beiträge zur Theologie (München 1982) 121–143, hier 124–133. 14  Konrad Cramer: »Anschauung des Universums«. Schleiermacher und Spinoza. In: 200 Jahre »Reden über die Religion«, hg. von Ulrich Barth und Claus-Dieter Osthövener (Berlin/ New York 2000) 118–141. 15 Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. 1799 / 1806 / 1821, Studienausgabe, hg. von Niklaus Peter, Frank Bestebreurtje und Anna Büsching (Zürich 2012) 146 (1. Aufl. 166). Dieser Passus wurde auch in den späteren Auflagen nicht verändert. Siehe auch den Wortgebrauch 79 (1. Aufl. 85) und 244 (1. Aufl. 300). 16  Ebd. 148 (1. Aufl. 168). Vermutlich um den später zur Lebensanschauung ausgeweiteten Begriff (s.u.) abzuwehren, ersetzt Schleiermacher in der zweiten Auflage den Begriff Welt12  J.

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Vorstellungen, sondern sie war gedacht als eine Leistung des erkennend-vorstellenden Menschen, der sich der Welt öffnet oder – wie bei Fichte – sie letztlich sogar produziert. (2) Kant ging von der einen transzendentalen Vernunft aus, Fichte vom absoluten Ich und Schleiermacher in der zitierten Passage vom Menschen überhaupt, und so war auch nur von der Welt schlechthin die Rede. Schelling hingegen reflektierte in seiner Naturphilosophie von 1799 die Individualität der Sichtweisen auf die Welt. Ähnlich wie bei Leibniz die Monaden, auf die Schelling hier Bezug nimmt, den gesamten Kosmos auf je individuelle Weise spiegeln, so vollziehen alle lebendigen Organismen, Menschen und Tiere, eine bestimmte »Weltanschauung«, ja die Weltanschauung ist das ihnen Wesentliche und findet in der Organisation, in der leiblichen Struktur, ihre Manifestation: »[S]o ist jede Organisation Abdruck eines gewissen Schematismus der Weltanschauung.« Auch die Vorstellungen, welche die menschliche Vernunft von der Welt erwirbt, bilden sich »nur nach einem bestimmten Typus« und unterliegen deshalb auch immer Schranken.17 Weltanschauung ist demnach konstitutiv für alle Lebe­wesen, und sie ist dabei immer eine bestimmte, individuelle und deshalb ursprünglich begrenzte Form, die Welt anzuschauen. In seinem System des transzendentalen Idealismus von 1800, in dem Schelling wie Fichte das Selbstbewusstsein als »Selbst­ anschauung« zum Prinzip der Philosophie erhebt, nimmt er dieses Problem der individuellen Sichtweisen wieder auf – aber nun mit der Pointe, dass trotz der verschiedenen Individualitäten die Intelligenz der Menschen ein und dieselbe ist und sich deshalb auch eine gemeinsame Weltanschauung herausbilden kann. Ohne solchen gemeinsamen Boden lebten die verschiedenen Subjekte in verschiedenen Welten und könnten sich nicht wechselseitig als Vernunftwesen anerkennen.18 Nachdem also die Perspektivität der Weltanschauungen betont wurde, musste sogleich die Frage nach einer gemeinsamen Anschauung der Welt beantwortet werden. Es klingt wie eine weitere Stellungnahme zu dieser Frage, wenn Novalis sich notierte: »Die Welt ist […] Resultat eines unendlichen Einverständnisses, und unsre eigne innere Pluralität ist der Grund der Weltanschauung.«19 Weltanschauung ist nicht schlicht ein Ergebnis unserer Wahrnehmung, der Rezeptivität, sondern wir erzeugen aufgrund der Kommunikation mit anderen und durch unsere eigene Spontaneität und Rezeptivität eine bestimmte, gemeinsame Auffassung von dem, was die Welt ist, eine Weltanschauung.

anschauung durch »Weltbetrachtung« und in der dritten durch »Betrachtung der Massen und ihrer Gegensätze«. Ebd. 148, Fußnote 278. 17  Friedrich Wilhelm Josef Schelling: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799). Sämmtliche Werke Abt. 1, Bd. 3 (Stuttgart/Augsburg 1858) 1–268, hier 182. 18  Ders.: System des transcendentalen Idealismus (1800). Ebd. 327–634, hier 543. 19  Novalis: Fragmente und Studien 1799 – 1800. Schriften Bd. 3: Das philosophische Werk II, hg. von Richard Samuel (Stuttgart 1968) 527–693, hier 662.

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Diesen Übergang von der eigenen, individuellen zu einer gemeinsamen »Weltanschauung« macht Schleiermacher später in seinen Vorlesungen über Pädagogik ausführlich zum Thema. Die theoretische Grundlage bildet auch hier die Annahme einer Polarität in der menschlichen Natur, aus der die Weltanschauung abgeleitet wird, und zwar – abgekürzt – wie folgt: »Die Bestimmung des Menschen ist, die Welt in sich aufzunehmen und sich in der Welt darzustellen.« Diese entgegengesetzten Tendenzen haben ihre Wurzeln in seiner Rezeptivität und Spontaneität, die sich mit der Entwicklung des Kindes aktualisieren und durch Erziehung weiter kultiviert werden müssen. »Allgemeine Aufgabe ist Entwicklung des rezeptiven Chaos zur Weltanschauung, und des spontaneen zur weltbildenden Selbstdarstellung.«20 Die Ausbildung einer »Weltanschauung«, eines geordneten Wissens von der Welt, ist deshalb nur die eine, die theoretische oder kognitive Seite seiner Aufgabe, welcher ergänzend als praktisch-sittliche Aufgabe die »Weltbildung«, die Formung und Umgestaltung der Welt, gleich­berechtigt zur Seite treten muss. Allerdings gehen gemäß der Schleiermacher’schen Denkweise alle Gegensätze auf einander zu und greifen ineinander, und so verbinden sich auch jene getrennten Bereiche. So gründet die entwickelte Weltanschauung nicht nur in der Rezeptivität, sondern gerade auch in der Spontaneität, und sie schließt neben dem Wissen von der äußeren Welt auch das Wissen von der eigenen Innenwelt ein. »Es ist die Weltanschauung eines jeden, worin die Totalität aller Eindrücke zu einem verständigen Ganzen des Bewußtseins bis auf den höchsten Punkt gesteigert, mit eingeschlossen die Totalität des Bewußtseins der menschlichen Zustände, ohne welche doch die Weltanschauung nichts sein würde, gedacht wird. Wenn wir dieses vom ersten Anfangspunkt bis zum Endpunkt konstruierend bloß auf den Endpunkt sehen: dann werden wir freilich nicht mehr sagen können, daß die Empfänglichkeit dominiert. Die Weltanschauung ist das Resultat der spekulativen Naturwissenschaft und der wissenschaftlichen Betrachtung der Geschichte, sie setzt die höchste Selbsttätigkeit des menschlichen Geistes voraus. […] [Ihr] liegen immer neue Eindrücke zum Grunde. Die Weltanschauung ist erst dann auf diesem höchsten Punkt, wenn die Ideen von der Welt an der Weltanschauung selbst und mit derselben realisiert werden.«21 Weltanschauung ist also Wissen von der Welt und der psychischen Zustände, und zwar in einer geordneten Form, welche die mannigfaltigen Erfahrungen zu einem Ganzen bündelt. Deshalb entwickelt sich die Weltanschauung zwar durch immer neue Eindrücke, durch empirische Kenntnisse, aber wichtig ist für sie theoretisches, allgemeines Wissen von Natur und Geschichte, das ein gegliedertes Ganzes begreifen lässt. Sind alle Menschen unterwegs, von ihren Erfah20 Friedrich

Schleiermacher: Pädagogik. Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. 3 (Leipzig 454 f. Vgl. ders.: Erziehungslehre. Sämmtliche Werke, 3. Abt. Bd. 9 (Berlin 1849) 620, 622 (Vorlesung von 1813/14). 21 Ders.: Pädagogik, a. a.O. [Anm. 20] 456. Ders.: Erziehungslehre, a. a.O. [Anm.20] 209 (Vorlesung von 1826). 21927)

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rungen aus ihr Wissen von der Welt zu erweitern, so vollendet es sich erst mit den Wissenschaften als einem Kollektivunternehmen. Die Weltanschauung ist im Zielpunkt nichts Subjektives mehr, sondern das Resultat der Wissenschaftsentwicklung, und sie ist deshalb auch kein abgeschlossenes System, sondern in stetem Werden begriffen. Die Weltanschauung und auch die Weltbildung sind »Fertigkeiten«, hingegen sind die »Gesinnung« und mit ihr die Religion auch hier noch etwas anderes. Zwar beeinflusst laut Schleiermacher das Wissen von der Welt die Religion: »Unser Wissen von Gott ist also erst vollendet mit der Weltanschauung. […] In dem Maaß als die Weltanschauung mangelhaft ist bleibt die Idee der Gottheit mythisch.«22 Aber nirgends wird von ihm die Religion zur »Weltanschauung« erklärt. »Welt« ist zuerst und vor allem immer noch das, was dem Selbst als Inbegriff der Objekte gegenüber steht. Das gilt z. B. auch für Goethe, wenn er 1824 die Einseitigkeit von Weltanschauungen beklagt, die mit den Mitteln einer bestimmten Naturwissenschaft das Ganze meinen erfassen zu können: »Sobald man in der Wissenschaft einer gewissen beschränkten Confession angehört, ist sogleich jede treue unbefangene Auffassung dahin. Der entschiedene Vulkanist wird immer nur durch die Brille des Vulkanisten sehen, so wie der Neptunist und der Bekenner der neuesten Hebungstheorie durch die seinige. Die Weltanschauung aller solcher in einer einzigen ausschließenden Richtung befangener Theoretiker hat ihre Unschuld verloren und die Objecte erscheinen nicht mehr in ihrer natürlichen Reinheit.«23 1841 stellt Ludwig Feuerbach die Weltanschauung als »Prinzip der Bildung« und der Wirklichkeitserfahrung der religiösen Phantasiewelt entgegen, in der »noch lebendige, gegenwärtige Wunder geglaubt wurden, wo die Realität der Dinge außer uns noch kein geheiligter Glaubensartikel war, wo die Menschen so abgezogen von der Weltanschauung lebten, daß sie tagtäglich dem Untergang der Welt entgegen sahen, wo sie nur lebten in der wonnetrunkenen Aussicht und Hoffnung des Himmels, also in der Einbildung«.24 Besonders Alexander von Humboldt zielte in seinem Kosmos (1845 – 1862) auf eine solche Weltanschauung im Sinne eines gegründeten und kohärenten Wissens vom Ganzen, allerdings begrenzt auf das Ganze der Natur.25 Die Welt als das andere des Geistes begegnet als Grundlage der Weltanschauung aber auch in ganz anderen Kontexten, z. B. früh in der Ästhetik. 1827 finden wir den dadurch geprägten Begriff der ›Weltanschauung‹ sogar schon in einem Buchtitel: Aesthetik oder Lehre 22 Ders.:

Vorlesungen über Dialektik, hg. von Andreas Arndt. Kritische Gesamtausgabe Bd. 10,1 (Berlin, New York 2002) 38 (Kolleg von 1811). 23  Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, 3. Thl. (Magdeburg 1848) 52 (Aufzeichnung vom 18.5.1824). 24  Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums (1841). Werke in sechs Bänden (Theorie Werkausgabe), hg. von Erich Thies, Bd. 5 (Frankfurt a. M. 1976) 158 f., vgl. 178. Auch wenn an anderer Stelle von der »Weltanschauung der Religion« die Rede ist (ebd. 231), ist deren Weltverhältnis gemeint. 25  Vgl. hierzu die zahlreichen Belege bei Meier: »Weltanschauung«, a. a.O. [Anm. 1] 161–167.

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von der Weltanschauung und Kunst.26 Die Welt ist hier der Inbegriff dessen, was den menschlichen Geist affiziert, und da aus dem ursprünglichen »Erfassen der Welt« auch die Möglichkeit der ästhetischen Sichtweise abgeleitet wird, ist der Begriff der Anschauung sogar noch eng mit der Wahrnehmung verknüpft. (3) Der Begriff bekommt eine andere, weitere Bedeutung, wenn er das Selbstverhältnis und das Verhältnis zu Gott oder dem Absoluten mit einbegreift und deshalb auch zur »Lebensanschauung« wird. 1801 fasste Hegel den Gedanken ins Auge, dass die Vernunft die »objektive Totalität« von »Sätzen und Anschauungen« mit der »entgegenstehenden subjektiven [Totalität] zur unendlichen Weltanschauung vereinigt« – zu einer Weltanschauung also, die nichts mehr außer sich hat und insofern auch die Lebensanschauung einschließt.27 Noch deutlicher wird der Gedanke 1802/03 in Schellings Charakteristik der »poetischen Welt« der griechischen Mythologie formuliert: Wie das Absolute, »das schlechthin Eine«, durch seinen Übergang in besondere Gestaltungen Leben hervorbringt, so »bildet sich wieder im Reflex der menschlichen Einbildungskraft das Universum zu einer Welt der Phantasie aus« – die Göttergestalten sind jeweils das Absolute in bestimmter Begrenzung. »Das Geheimniß alles Lebens ist Synthese des Absoluten mit der Begrenzung. Es gibt ein gewisses Höchstes in der Weltanschauung, das wir zur vollkommenen Befriedigung fordern, es ist: höchstes Leben, freiestes, eigenstes Daseyn und Wirken ohne Beengung oder Begrenzung des Absoluten.«28 Die mythologische Weltanschauung schließt also zentral den Bezug zum Absoluten und zum Leben mit ein, auch zum eigenen. Deshalb ist die Weltanschauung hier auch Lebensanschauung, sie umfasst jetzt alles. Während bei Schleiermacher 1799 die Weltanschauung nur die Basis für die Mythologie lieferte, ist sie bei Schelling 1802/03 das mythologische Bewusstsein selbst. So gebraucht, kann der fragliche Begriff natürlich auch auf das religiöse und philosophische Bewusstsein Anwendung finden. Jean Paul verbindet in seiner Vorschule der Ästhetik von 1804 Welt- und Lebensanschauung expressis verbis: »Das Herz des Genies, welchem alle andere Glanz- und Hülfs-Kräfte nur dienen, hat und gibt ein echtes Kennzeichen, nämlich neue Welt- oder Lebens-Anschauung. Das Talent stellet nur Teile dar, das Genie das Ganze des Lebens […].«29 Mag jeder eine Weltanschauung haben, so gehöre zur »höheren Weltanschauung« der Humor, der einen »poetischen Geist und dann einen frei und philosophisch gebildeten« verlangt.30 Kennzeichen der Weltanschauung ist hier weniger der Blick aufs Ganze der Welt im Sinne Kants 26 

Karl Friedrich Eusebius Trahndorff: Aesthetik oder Lehre von der Weltanschauung und Kunst. 2 Theile (Berlin 1827). 27  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (1801). Gesammelte Werke, Akad.-Ausg. Bd. 4 (Hamburg 1968) 1–92, hier 31. 28  F. W. J. Schelling: Philosophie der Kunst (1802/03 und 1804/05). Sämmt-liche Werke Bd. 5 (Stuttgart, Augsburg 1859) 353–736, hier 393. 29  Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. Werke, hg. von Norbert Miller, Bd. 5 (München 1963) 64. 30  Ebd. 145 f.

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als die eigene Haltung und die Perspektive, unter der alles einzelne und das eigene Leben erscheinen.31 Ähnlich verwendet auch Hegel dann den Begriff in seiner Phänomenologie des Geistes von 1807. Im Kapitel über die »moralische Weltanschauung« zeigt er die Widersprüche und Dissonanzen, in welche sich die kantisch-fichtesche Moralphilosophie verstrickt. »Welt« ist auch hier nicht mehr der Gegensatz zum Selbst sondern meint gerade das Verhältnis des Selbst in seiner moralischen Gesinnung zur Totalität der Natur und Gesellschaft, woraus sich dann auch eine Auffassung vom »Endzweck der Welt« ergibt.32 ›Weltanschauung‹ ist deshalb hier nicht nur das integrierte Wissen von der Welt, sondern vor allem eine ganz bestimmte Selbstinterpretation des Menschen in seiner Welt. Spricht man von der »moralischen Weltanschauung«, dann kann es freilich auch eine mythische, eine religiöse, eine ästhetische, eine wissenschaftliche Weltanschauung und viele andere geben. Damit meint der Begriff jetzt das, was Schleiermacher in seinen Monologen von 1800 »Weltansicht« nannte33 und was ähnlich für Fichte in den Anweisungen zum seligen Leben »Weltsichten« sind.34 Die Weltanschauung verbunden mit der Lebensanschauung ist immer eine bestimmte; sie ist ganz individuell oder eignet einer Schule, einer Nation oder Epoche. Damit hat sich der Begriff von seiner transzendentalphilosophischen Herkunft ganz gelöst und ist vielfältig einsetzbar geworden, um bestimmte Überzeugungen, Mentalitäten und Einstellungen zu bezeichnen, mit denen sich der Mensch zu sich und zur Welt verhält. Es ist dieser dritte und weite Gebrauch des Begriffs, der im 19. Jh. immer mehr an Dominanz gewann. Er hat früh den philosophischen Kontext verlassen und ist in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. 1821 schrieb z. B. Friedrich von Müller nach einem Gespräch mit Goethe in sein Tagebuch: »Nie war mir Goethes Weltanschauung, seine Universalität und Geistesschärfe imposanter gewesen als heute, aber nie hatte ich mich auch mehr verwirrt und gleichsam betäubt davon gefühlt.«35 Wenn er den Begriff wählte, mag das eine

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Das ist an späterer Stelle des Werkes anders: »Herder, Wieland und Goethe verbrüderten sich in hoher Eigentümlichkeit der Weltanschauung, daß sie an allen Völkern und Zeiten und menschlichen Großverwandlungen die Rechte, die Vorzüge, die Strahlen und die Flecken mit einer parteilosen Allseitigkeit erkannten und anerkannten, gleichsam als Nachahmer der drei unterirdischen Totenrichter.« (Ebd. 505). 32 G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Gesammelte Werke. Akad.-Ausg. Bd. 9 (Hamburg 1980) 324–332. 33 F. Schleiermacher: Monologen. Eine Neujahrsgabe (1800), Kap. III, Überschrift. Kritische Gesamtausgabe Bd. I.3 (Berlin/New York 1988) 28. 34  J. G. Fichte: Anweisungen zu ewigen Leben, oder auch die Religionslehre (1806). Akad.Ausg. Bd. I,9 (Stuttgart-Bad Cannstatt 1995) 1–212, hier 106–110, 133–136. – Allerdings gebrauchte auch der spätere Fichte den umfassenden Begriff Weltanschauung: Vorlesung über die Bestimmung des Gelehrten (1812). Akad.-Ausg. Bd. I, 10 (Stuttgart-Bad Cannstatt 2005) 277–400, hier 393. 35  Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe, hg. von Renate Grumach (München 1959) 61 (Tagebuch-Eintrag vom 8. 6. 1821).

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Art Echo auf Goethes Sprache gewesen sein.36 Alle weiteren, feineren Unterscheidungen, die man traf, scheinen mir zweitrangig zu sein.

II.  Weltanschauung und Wahrheit Fragt man, wieso der Begriff so schnell eine große Verbreitung fand, so lässt sich vorläufig antworten: durch Historismus und Individualismus. Durch sie trat die Überzeugung von der einen menschlichen Vernunft in den Hintergrund, und es wurde die Andersartigkeit der gesamten Denkweisen von Epochen oder Kulturen bewusst, wie sie schon Herder betont hatte, und es entstanden – da die Konventionen sich gelockert hatten und die Säkularisierung die Religion zurückdrängte – neue, individuelle Weltentwürfe. Die Divergenz zwischen den Einzelnen und zwischen den Epochen, Nationen oder Kulturen verlangte, sich auf die verschiedenen Denkweisen einzustellen, sie zu benennen und zu reflektieren. Dafür bot sich ›Weltanschauung‹ an, denn ›Religion‹ war zu einseitig, ›Philosophie‹, auch ›Konzeption‹, waren zu kognitiv, sollten doch auch mythische und religiöse Systeme einbegriffen werden, und ›Ideologie‹ war noch weitgehend unbekannt und wurde zumeist nur kritisch benutzt. ›Welt- und Lebensanschauung‹ hingegen war durch den philosophischen Entstehungskontext gleichsam geadelt und konnte besser als andere Sammelbegriffe neben den Leitgedanken auch den ganzen Hof von Einstellungen und Handlungsmaximen mit einbegreifen, die seit Herder zu einer individuellen Kultur hinzugedacht werden mussten. Die Philosophie und die Geisteswissenschaften konnten solche Weltanschauungen erforschen, darstellen, kritisieren oder affirmieren. Von den mannigfachen Funktionen des Begriffs stechen im 19. Jh. zwei hervor: die eine im Dienst der historischen Wahrheit, im Dienst der Bestimmung von historisch gegebenen Denkweisen; die andere im Dienst einer gleichsam systematischen Wahrheit, nämlich zur Kritik der falschen und zur Verteidigung der richtigen Denkweisen und Einstellungen. Hat sich jener erste Gebrauch bis heute gehalten, so ist der zweite obsolet geworden. Beide konnten im 19. Jh. auch verbunden werden. (1) Da das 19. als das »historische Jahrhundert« intensiv Geschichtsforschung betrieb und da zugleich die Altphilologie in Blüte stand, interessierte man sich für die Begründer und Klassiker der Geschichtsschreibung in der Antike. Schon 1831 erschien ein Buch über die Weltanschauung des Tacitus. Der Autor wählte den Begriff sehr bewusst und gab folgende Erläuterung: Während der Philosoph auf allgemeine Gedanken abziele, bewege sich der Historiker »frei in unmittelbaren, lebendigen Anschauungen«. »Zwar liegt der Weltauffassung des gebildeten Geschichtschreibers Einheit und Verbundenheit zu Grunde, aber er bringt sie nicht deutlich und unabhängig von den Einzeldingen zu Bewußtsein. Der 36 

Zum Begriff bei Goethe siehe H. G. Meier: »Weltanschauung«, a. a.O. [Anm. 1] 105–107.

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Philosoph lebt also in einer Begriffs- oder Ideenwelt, des Geschichtschreibers Lebensansicht ist eine Weltanschauung.«37 Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts kamen in eigenen Publikationen auch die Weltanschauungen von Herodot, Thukydides, Xenophon und Polybios zur Darstellung.38 Gleiches gilt für die Philosophen, für Seneca und Platon und natürlich auch für die späteren Denker, z. B. für Scotus Eriugena und besonders für Schopenhauer.39 Je populärer der Begriff wurde, desto weniger wurde er eigens bedacht. Seit der Mitte des Jahrhunderts konnten alle Philosophien als Weltanschauungen verstanden werden, so dass das dreibändige Werk Die Klassiker der Philosophie von 1884/85 laut Untertitel eine gemeinfassliche historische Darstellung ihrer Weltanschauung bietet. 40 Vor allem war auch die Weltanschauung der nationalen Klassiker der Dichtung von großem Interesse, waren ihre Werke doch Symbole und Organe der eignen nationalen Kultur und hatten Vorbildfunktion, und so entstanden eigene Publikationen zu den Weltanschauungen Goethes, Schillers, Herders und Richard Wagners.41 Welche Zielsetzung diese historischen Arbeiten des Näheren auch immer haben mochten, durch den fraglichen Titelbegriff wird angezeigt, dass man nicht einzelne Meinungen präsentieren, sondern das gesamte Denken des jeweiligen Autors in seinem Grundzug darstellen wollte, und zwar unter der An37  Karl Hoffmeister: Die Weltanschauung des Tacitus. Beiträge zur wissenschaftlichen Kenntniß des Geistes der Alten, Erstes Bändchen (Essen 1831) 14. 38  Georg Bippart: Pindar‘s Leben, Weltanschauung und Kunst (Jena 1848). – J. H. Lindemann: Vier Abhandlungen über die religiös-sittliche Weltanschauung des Herodot, Thucydides und Xenophon und den Pragmatismus des Polybius (Berlin 1852). – Wilhelm Markhauser: Der Geschichtschreiber Polybius. Seine Weltanschauung und Staatslehre mit einer Einleitung über die damaligen Zeitverhältnisse (München 1858). – Gustav A. Bockshammer: Die sittlich-religiöse Weltanschauung des Thukydides. Programm des Königlichen evangelischen Seminars zu Urach zur Feier des Geburtstagsfestes Seiner Majestät des Königs […]. (Tübingen 1862) 4–28. – Max Gaisser: Ueber die religiösen Grundideen in Herodot‘s Weltanschauung (Rottweil 1871). 39  Hermann Siedler: Die religiös-sittliche Weltanschauung des Philosophen Annäus Seneca (Fraustadt 1863). – Gustav Schneider: Die Weltanschauung Platos. Dargestellt im Anschluss an den Dialog Phädon (Berlin 1898). – Ludwig Noack: Johannes Scotus Eriugena. Sein Leben und seine Schriften, die Wissenschaft und Bildung seiner Zeit, die Voraussetzungen seines Denkens und Wissens und der Gehalt seiner Weltanschauung (Leipzig 1876). – Adolph Cornill: Arthur Schopenhauer, als Uebergangsformation von einer idealistischen in eine realistische Weltanschauung (Heidelberg 1856). 40  Moritz Brasch: Die Klassiker der Philosophie. Von den frühesten griechischen Denkern bis auf die Gegenwart. Eine gemeinfassliche historische Darstellung ihrer Weltanschauung nebst einer Auswahl aus ihren Schriften, 3 Bde. (Leipzig1884 – 1885). 41  Eduard Martin Job: Über Goethes Weltanschauung im Faust (Annaberg 1851). – Johann Philipp Kaiser: Die beiden Hauptgründe der sittlich-religiösen Weltanschauung Schiller’s (Trier 1871). – Paul Geyer: Schillers ästhetisch-sittliche Weltanschauung aus seinen philosophischen Schriften gemeinverständlich erklärt (1896). – Ferdinand Jacob Schmidt: Herders pantheistische Weltanschauung (Diss. Berlin 1888). – Eugen Kühnemann: Herders Persönlichkeit in seiner Weltanschauung. Ein Beitrag zur Begründung der Biologie des Geistes (Berlin 1893). – Hugo Dinger: Versuch einer Darstellung der Weltanschauung Richard Wagners. Mit Rücksicht auf deren Verhältnis zu den philosophischen Richtungen der Junghegelianer und Arthur Schopenhauers (Leipzig 1892).

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nahme, dass es eine gewisse Einheit und einen Zusammenhang hatte. Dabei ist bei der Zuwendung zu neueren Klassikern immer vorausgesetzt, dass die Leser selbst eine Weltanschauung brauchten und suchten. Zuweilen lassen schon die Titel erkennen, warum der Geist der Alten beschworen wurde. Akzentuierte man z. B. die religiös-sittliche Weltanschauung bei Sophokles, Thukydides, Plinius oder Seneca,42 dann ahnt man, dass man sich gegen eine materialistische Weltanschauung wendete, die im 19. Jh. immer mehr Einfluss gewann. Gerade bei der Darstellung von großen Zusammenhängen, von Epochen, bestimmten Traditionen oder Nationalkulturen, war der Begriff dienlich. Schon in der Aufklärung forderte man von der Geschichtsschreibung, nicht nur Ereignisse und Aktionen, sondern auch die »Ideen« zu erkunden und darzustellen, da sonst die Geschichte einseitig und unverständlich werde. Für diese Schicht bot sich im 19. Jh. der neue Ausdruck ›Weltanschauung‹ an. Schon 1807 setzte ihn Joseph Görres in seinen Volksbüchern entsprechend ein,43 und wirkungsreich sprach Hegel in seinen Vorlesungen über Stufen der Weltanschauung in der Entwicklung des Geistes, besonders in seiner Ästhetik-Vorlesung.44 Fortan blieb dieser Begriff wichtig für geistesgeschichtliche Untersuchungen, die größere Felder ins Auge fassten, so wie für ausgesprochen geschichtsphilosophische Werke – die Grenze dazwischen ist fließend. Die Beispiele häufen sich in den 40er Jahren, es erschienen jetzt Schriften mit Titeln wie Die weiblichen Charaktere in der griechischen Tragödie, entwickelt aus der Weltanschauung der Griechen.45 Schon W. von Humboldt hatte mindestens seit 1827 in seinen sprachphilosophischen Schriften ausgeführt, dass in den einzelnen Sprachen jeweils eine eigene Weltansicht oder Weltanschauung zum Ausdruck komme,46 und so konnte dann umgekehrt auch die Sprache als Mittel benutzt werden, um eine bestimmte Weltanschauung zu eruieren, wie Anton Schmitt in seinem Buch Organismus der lateinischen Sprache oder Darstellung der Weltanschauung des römischen Volkes in seinen Sprachformen (Mainz 1846). Hier ist die Weltanschauung nichts, wofür man kämpfen müsste oder könnte, denn sie ist eine historische Formation des geistigen Lebens einer vergangenen Epoche. Das war auch bei Hegel so, wenngleich die historische Darstellung auch die Gegenwart zu verstehen diente. Die Weltanschauung der »modernen christlichen Welt« als der höchsten Stufe des fortschreitenden 42 

S. Anm. 38. Joseph Görres: Die Teutschen Volksbücher (1807). Gesammelte Schriften Bd. 3: Geistesgeschichtliche und literarische Schriften (1803 – 1808), hg. von Günther Müller (Köln 1926) 169–293, hier 278. 44  Siehe die Belege bei H. G. Meier: »Weltanschauung«, a. a.O. [Anm. 1] 112–140. 45 August Spiess: Die weiblichen Charaktere in der griechischen Tragödie, entwickelt aus der Weltanschauung der Griechen (Dillenburg 1846). 46  Wilhelm von Humboldt: Ueber den Dualis (1827). Werke in fünf Bänden, hg. von Andreas Flitner, Klaus Giel (Darmstadt 41963) Bd. 3: Schriften zur Sprachphilosophie, 135. – Ders.: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues (1827 – 1829), ebd. 155, 224 f., 252. – Ders.: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (1830 – 1835), ebd. 390. 43 

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Weltgeistes kann und muss bei Hegel philosophisch begriffen werden, aber man braucht sie nicht zu verteidigen, denn sie ist ein historisches Faktum wie die Sprache und die Weltanschauung der römischen Antike.47 Solchem Begreifen der Geschichte diente auch das Werk von Moriz Carrière Die philosophische Weltanschauung der Reformationszeit in ihren Beziehungen zur Gegenwart von 1847. Der Autor zeichnet die Genese der »neuen Welt« nach, der Neuzeit, die sich mit dem Renaissance-Humanismus und der Reformation herauszubilden begann, weil wir deren Erben sind: »In unserer Zeit beginnt die Ideensaat aufzusprießen, welche in den Tagen der Reformation ausgestreut ward.«48 In solchen Konzeptionen ist die Weltanschauung nicht als Entwurf eines Autors gedacht, was man oft als typisch für Weltanschauungen ansieht, sondern als vorgegebene historische Realität. Der Ideenhistoriker bemüht sich um wahre Aussagen über die sich realisierende Wahrheit der Geschichte, nicht um eine neue, wahre Philosophie. (2) Bei Joseph Görres hingegen musste 1830 für die »große und wahre Weltanschauung« des Lichts und des Geistes, die sich mit dem Christentum ausbreite, Partei ergriffen werden, da sie sich von Anbeginn im Streit mit einer anderen, der Natur zugewandten Weltanschauung befunden habe und durch die »Rückkehr des alten Heidentums« – gemeint ist die radikale Aufklärung – erneut bedroht sei.49 Görres markierte, dass die christliche die allein richtige Weltanschauung sei, was Hegel nicht getan hatte. Auch als Friedrich Julius Stahl 1845/46 seine Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung publizierte, diente der Begriff zur abgrenzenden Kennzeichnung der eigenen Position.50 Hier war ebenfalls vorausgesetzt, dass keineswegs die christliche Weltanschauung siegreich ist, sondern verteidigt werden muss, schließlich waren solche Lehren inzwischen auch auf ganz anderer Grundlage ausgebildet worden – Stahl bezog scharf Stellung gegen die Rechts- und Staatstheorien der Aufklärung. Er stützte sich auf die »positive Philosophie« des späten Schelling, und so wie dieser die religiöse Tradition als Grundlage der wahren Philosophie gegen die ausschließliche Herrschaft des modernen Rationalismus zur Geltung bringen wollte, so verteidigte Stahl die christliche Weltanschauung als Basis der wahren Rechtslehre. Das Christentum als historisch vorgegebene Größe war damit zu einer Weltanschauung neben anderen, neueren geworden, mit denen

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G. W. F. Hegel: Ästhetik, hg. von Friedrich Bassenge, Bd. 1 (Frankfurt a. M. o. J.) 80, 311 u. ö. Carrière: Die philosophische Weltanschauung der Reformationszeit in ihren Beziehungen zur Gegenwart (Stuttgart, Tübingen 1847) 726. 49  Joseph Görres: Ueber Grundlage, Gliederung und Zeitenfolge der Weltgeschichte (1830). Gesammelte Schriften Bd. 15: Geistesgeschichtliche und politische Schriften der Münchner Zeit [1828 – 1838] (Köln 1958) 240–295, hier 245–252. 50  Friedrich Julius Stahl: Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung. Bd. 2,1: Enthaltend die allgemeinen Lehren und das Privatrecht. Rechts- und Staatslehre (Heidelberg 21845). Bd. 2,2: Enthaltend das vierte Buch. Die Lehre vom Staat und die Principien des deutschen Staatsrechts (ebd. 1846). 48 Moriz

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es konkurrieren musste. Das ist ein deutlicher Übergang von der historischen Funktion des Begriffs zu einer gleichsam systematischen, mit der die Richtigkeit einer bestimmten Weltanschauung behauptet oder angegriffen wird. 1848/49 stritt man sich über die »junghegelsche Weltanschauung« der Tübinger Schule, die mit ihrem Pantheismus die christliche Religion und jeden Theismus zu bedrohen schien.51 So wurde seit den 40er Jahren die religiöse Tradition als eigene »Weltanschauung« den neueren, philosophischen oder naturwissenschaftlichen Interpretationen der Welt entgegengestellt und zwar sowohl von ihren Kritikern wie von den Verteidigern. Man ergriff jetzt Partei für die christliche Weltanschauung, indem man z. B. ihre Bedeutung für Wissenschaft und Leben zeigte,52 und verwendete den Begriff auch in der Erbauungsliteratur.53 Aber man konnte auch innerhalb der christlichen Religion die eigene theologische Richtung als neue Welt-Anschauung von der bisherigen absetzen.54 Die Profilierung des religiösen Standpunktes war besonders dadurch nötig geworden, dass die neuen Sichtweisen der Naturwissenschaften ebenfalls als Weltanschauungen verstanden wurden, wenn auch zumeist nur im Sinne Schleiermachers (s. o.). Man sprach von der astronomischen oder der kosmischen Weltanschauung, und wie A. von Humboldt eine »Geschichte der physischen Weltanschauung« angestrebt hatte, so konnte nun auch eine Geschichte der naturwissenschaftlichen Weltanschauung entstehen.55 Die Vereinbarkeit von Wissenschaft und Religion wurde deshalb jetzt als Frage nach dem Verhältnis von Weltanschauungen diskutiert. Die schärfste Frontstellung ergab sich hier, als Vertreter der Naturwissenschaften die biologischen Forschungsergebnisse zum Materialismus ausgestalteten, der nun mit dem selben umfassenden Wahrheitsanspruch wie die Religion auftrat und auf einschneidende politische und soziale Reformen abzielte. Das geschah in der Jahrhundertmitte im berühmten Materialismusstreit, der die größte Polarisierung in den Grundüberzeugungen hervorbrachte und den Weltanschauungsbegriff zur Bezeichnung von Parteien festigte. In seiner Kritik an dem Zoologen Carl Vogt ging 1854 der Physiologe 51  Johann

Peter Romang: Der neueste Pantheismus, oder die junghegelsche Weltanschauung, nach ihren theoretischen Grundlagen und praktischen Consequenzen. Allen Denkenden gewidmet (Zürich 1848). – A. E. Biedermann: Unsere junghegelsche Weltanschauung oder der sogenannte neuste Pantheismus. Allen Denkenden J. P. Romangs gewidmet (Zürich 1949). 52  Leopold Trebisch: Die christliche Weltanschauung in ihrer Bedeutung für Wissenschaft und Leben (Wien 1852). 53  Georg Friedrich Daumer: Blumen und Früchte aus dem Garten christlicher Weltanschauung und Lebensentwicklung (Mainz 1863). 54  Eduard Baltzer: Alte und neue Welt-Anschauung. Vorträge, gehalten in der freien Gemeinde zu Nordhausen (Nordhausen 1859). 55  Eduard Flashar: Ob die astronomische Weltanschauung der christlichen widerspricht. Ein Vortrag auf Veranstaltung des evangelischen Vereins für Kirchliche Zwecke gehalten am 19. Januar 1857 (Berlin 1857). – Hermann J. Klein: Handbuch der allgemeinen Himmelsbeschreibung vom Standpunkte der kosmischen Weltanschauung. 2 Bde. (Braunschweig 1869 /1872). – Heinrich Boehmer: Geschichte der Entwickelung der naturwissenschaftlichen Weltanschauung in Deutschland (Gotha 1872).

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Rudolf Wagner davon aus, dass es bei den Naturforschern sicherlich verschiedene »Weltanschauungen« gebe, dass kein verantwortlicher Repräsentant der Wissenschaften aber von seinem begrenzten Standpunkt aus Vogts materialistische Thesen vertreten werde.56 In diesem Zusammenhang entstanden Publikationen wie Der Materialismus und die christliche Weltanschauung. So wie der Materialismus die christliche Religion als »Köhlerglaube« kritisierte,57 so verurteilt der Autor dieses Buches die »materialistische Weltanschauung der Gegenwart« als Folge des »Abfalls von Gott«, der zu »gänzlicher Stumpfheit in doctrineller wie ethischer Hinsicht« zu führen drohe.58 Schon das Vorwort des General-Superintendenten zeigt, wie sehr sich die Kirche angegriffen sah und deshalb die christliche gegen die Angriffe der materialistischen Weltanschauung wie die ›civitas Dei‹ gegen die ›civitas diaboli‹ verteidigte. Das Buch trete »in die Reihe derer, die eine finstere Macht bekämpfen, welche in unser Volksleben […] durch tausend Canäle bereits eindringt und von deren Unterliegen oder Siegen der Fortbestand unseres edelsten geistigen Lebens oder sein Untergang abhängt«.59 Der durch Darwin gestützte Materialismus hatte den bisherigen kulturellen Common sense aufgekündigt, der die religiöse Tradition zumeist in irgend einer Weise integriert hatte, und das wurde als ein Angriff auf die Kultur, auf das ganze christliche Abendland verstanden. Alle Parteien interpretierten den Streit aus ihrer Perspektive, also mit Begriffen, welche die Gegner nicht akzeptieren konnten. Aber einig war man sich, dass es um die ›Weltanschauung‹ ging. Dieser Begriff bezeichnete seit den 40er Jahren den Kampfplatz, auf dem sich der Materialismus in Verbindung mit den Naturwissenschaften und die religiöse sowie die philosophisch-idealistische Tradition entgegen traten. Carl Vogt und seine Anhänger Ludwig Büchner und Jakob Moleschott legten zunächst so wenig wie Marx und Engels Wert darauf, ihre Position als Weltanschauung zu präsentieren,60 gehörten dazu ja inzwischen auch subjektive Überzeugungen, wie die Äußerung Rudolf Wagners zeigt, und man argumentierte ja im Namen der objektiven Wissenschaft. Aber da der Materialismus allenthalben als neue Weltanschauung par exellence angesehen wurde, nahm er das Wort schließlich auch für sich in Anspruch. In der 9. Auflage von 1867 schreibt 56 Rudolf

Wagner: Menschenschöpfung und Seelensubstanz. Ein anthropologischer Vortrag, gehalten in der ersten öffentlichen Sitzung der 31. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Göttingen am 18. September (Göttingen 1854) 25. 57 Carl Vogt: Köhlerglaube und Wissenschaft. Eine Streitschrift gegen Hofrath Rudolph Wagner in Göttingen (Gießen 1855). 58  Otto Woysch: Der Materialismus und die christliche Weltanschauung (Berlin 1857) 5. 59  Vorwort von W. Hoffmann, ebd. III f. 60  Jakob Moleschotts Auseinandersetzung mit Liebig gilt zwar den einschlägigen Fragen, und wir sehen die typischen Gegensätze wie Offenbarung versus Naturgesetz, aber das Wort fällt nicht. Jakob Moleschott: Der Kreislauf des Lebens. Physiologische Antworten auf Liebig’s Chemische Briefe (Mainz 1852). Ähnlich auch in dem Buch von Ludwig Büchner: Natur und Geist. Gespräche zweier Freunde über den Materialismus und über die real-philosophischen Fragen der Gegenwart (Hamm 21865).

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Büchner in seinem wirkungsreichen Buch Kraft und Stoff, er habe schon mit der Erstauflage von 1856 die »bisherige theologisch-philosophische Weltanschauung auf Grund moderner Naturerkenntniß umgestalten« wollen.61 Damit hatte auch er die Frontstellung klar bezeichnet. Später markierte er sie sogleich in einem eigenen Titel: Über religiöse und wissenschaftliche Weltanschauung (Leipzig 1887). Seit den 50er Jahren erwartete man fast immer bei der Frage nach der richtigen Weltanschauung eine Stellungnahme zum Materialismus. Da dieser sich auf die Erfolge der Naturwissenschaften stützte und da deren Einsichten schwer zu bestreiten waren, suchten andere eine Versöhnung der heterogenen Positionen und entwarfen Eine höhere Weltanschauung zur Lösung der allgemeinen Lebensfrage und zur Versöhnung aller Parteien62 oder eine reformirende Weltanschauung, die den Materialismus ebenso für falsch hält wie das traditionelle Christentum,63 oder man versuchte, zumindest in zentralen Streitpunkten einen neuen Konsens herbeizuführen, z. B. in den Fragen nach der Unsterblichkeit der Seele und dem Verhältnis von Mensch und Tier.64 Der Historiker Johann Gustav Droysen berief die Geschichtswissenschaft zur Versöhnung der idealistischen und materialistischen Weltanschauungen (s. u.) und der Ethnologe Adolf Bastian die Psychologie, die bei ihm eine Form der Kulturanthropologie ist.65 Bei anderen führte der Streit zu einer neuen Fassung unseres Begriffs. Da für Ludwig Knapp die gesuchte und geahnte Einheit nur durch die mechanische Materie gegeben war, hatte noch niemand eine Weltanschauung, die sich auf Religion, Spekulation oder Wissenschaft stützte.66 Für Christian C. J. Bunsen konnte es gar keine moderne Weltanschauung geben. »Weltanschauung«, auf das Anschauen gestützt, herrsche jeweils nur auf der Kindheitsstufe der Völker und manifestiere sich in Sprache und Mythos. Sie werde abgelöst von der rationalen »Weltbetrachtung« in Philosophie und Wissenschaft als Sache 61 

Ludwig Büchner: Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien. In allgemeinverständlicher Darstellung. 9. vermehrte und verbesserte Auflage (Leipzig 1867) VI. 62  (Anonym): Eine höhere Weltanschauung zur Lösung der allgemeinen Lebensfrage und zur Versöhnung aller Parteien (Hamburg 1854). 63  Daniel Alexander Benda: Die reformirende Weltanschauung oder die Natur nach Vernunft ausgelegt (Berlin 1858, neue vollst. Ausg. 1860). 64  Friedrich Richter: Vorträge über die persönliche Fortdauer, zur Vermittelung zwischen naturwissenschaftlicher und theologischer Welt-Anschauung (Hamburg 21855). – Friedrich Körner: Thierseele und Menschengeist. Ein Versuch zum Ausgleich der materialistischen und idealistischen Weltanschauung (Leipzig 1872). 65 Adolf Bastian: Der Mensch in der Geschichte. Zur Begründung einer psychologischen Weltanschauung. 3 Bde. (Leipzig 1860, Neudr. Osnabrück 1968): Die Psychologie »allein kann jenes Räthsel lösen, dass das Denken über die Natur erst aus der Natur hervorgewachsen ist; sie allein wird jenen gordischen Knoten des Subjectiven und Objectiven bis in sein inneres Maschengewebe entwirren, statt ihn gewaltsam in eine materialistische und eine metaphysische Hälfte zu zerhauen.« Bd. 1, IX f. »Die wahre Wissenschaft kennt weder Materialismus, noch Idealismus, da sie beide umfasst.« Ebd. XIII. 66  Ludwig Knapp: System der Rechtsphilosophie (Erlangen 1857, Repr. Aalen 1957) 23– 26.

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kritischer Einzelner. Vereint seien diese Gegensätze nur im Leben des frommen Weisen und in der Kunst.67 Alle Stellungnahmen waren philosophisch insofern, als sie sich nie auf die empirischen Befunde beschränkten, sondern von diesen ausgehend prinzipielle Aussagen über Mensch und Welt riskierten oder sich als Weg dahin verstanden. Die professionelle Philosophie konnte sich aus diesem Streit nicht heraushalten und nahm in verschiedener Weise Stellung: Sie verteidigte den Gehalt der christlichen Tradition mit philosophischen Mitteln, wie es im Anschluss an die Spätphilosophie Schellings 1859 Carl Sederholm mit seiner Weltanschauung der Versöhnung tat.68 Der spekulative Theismus, der sich um die Zeitschrift für Philosophie und spekulative Theologie gruppierte, verfolgte dieselbe Richtung. Oder die Philosophen schlugen sich wie Eugen Dühring auf die Seite des Materialismus in der Überzeugung, dass die Naturwissenschaften eine sichere Basis für eine streng wissenschaftliche Weltanschauung boten.69 1885 bezeichnete Friedrich Engels den historischen Materialismus als »kommunistische Weltanschauung«,70 wenngleich er den Ausdruck »materialistische Geschichtsanschauung« bevorzugte,71 und so gab es nun zwei materialistische Weltanschauungen. Andere sahen sich gezwungen, im Gegenzug gegen diese Tendenzen der Zeit einen neuen Idealismus als einzig richtigen Ausgangspunkt für die Grundlegung einer Weltanschauung zu verteidigen wie Rudolf Eucken.72 Um den dominant gewordenen Erfahrungswissenschaften Rechnung zu tragen und dem Materialismus nicht die Erkenntnisse der Naturwissenschaften zu überlassen, suchten weitere Philosophen nach neuen Weisen einer Verbindung von Wissenschaft und Philosophie wie Eduard Hartmann in seiner Philosophie des Unbewußten von 1869, die er im Untertitel als Versuch einer Weltanschauung bezeichnet.73

67  Christian

Carl Josias Bunsen: Gott in der Geschichte oder der Fortschritt des Glaubens an eine sittliche Weltregierung. 3 Theile (Leipzig 1857/58) Thl. 1, 24, 48–51. 68  Carl Sederholm: Der geistige Kosmos. Eine Weltanschauung der Versöhnung (Leipzig 1859). 69  Eugen Karl Dühring: Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung (Leipzig 1875). 70 Friedrich Engels: Herrn Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft (1878). Vorwort zur zweiten Auflage 1885. Karl Marx Friedrich Engels Werke Bd. 20 (Berlin 1962) 8–14, hier 8. 71 Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1882). Marx Engels Werke Bd. 19 (Berlin 1962) 177–228, hier 187 f., 210 u. ö. 72  Rudolf Eucken: Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt. Neue Grundlegung einer Weltanschauung (Leipzig 1896). Später tauscht Eucken den Begriff aus: Grundlinien einer neuen Lebensanschauung (Leipzig 1907). 73 Später tilgte Hartmann den Untertitel seines Werkes: Philosophie des Unbewussten. 10. erweiterte Auflage in drei Theilen. Erster Theil: Phänomenologie des Unbewussten (Ausgewählte Werke. Zweite wohlfeile Ausgabe Bd. 7 (Leipzig [1888]). Aber Hartmann behielt den Term für sein Unternehmen durchaus bei: »Der Versuch einer Versöhnung der philosophischen und naturwissenschaftlichen Weltanschauung ist vor mir von Fechner und Lotze, etwas gleichzeitig mit mir von Lange, kurz nach mir von Wundt unternommen worden.« (Vorwort, ebd. XIII).

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Keine Philosophie, die nicht nur Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie sondern nach wie vor Prinzipienwissenschaft sein wollte, kam in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. darum herum, entweder eine Weltanschauung genannt zu werden oder sich gleich als solche zu präsentieren, denn das Wort avancierte zur gängigen Bezeichnung für materiale Philosophien. Wie schon erwähnt, konnte das Denken aller Klassiker der Philosophiegeschichte jetzt als ihre Weltanschauung verstanden werden. Auch eine Abhandlung wie Die Weltanschauungen und deren Consequenzen von 1875 ist nichts als eine Reflexion der neueren Philosophie in ihrem Verhältnis zur Religion und keine Stellungnahme zum »Problem« der Weltanschauungen wie später bei Dilthey.74 Man scheute das Wort zumeist gar nicht. Man brauchte es, weil man die Sache brauchte: »Die Zeit dürstet nach festen begründeten freien Lehren«, schrieb Eucken in seiner Grundlegung einer Weltanschauung.75 Denn so wie die modernen Wissenschaften religiöse und spekulative Weltanschauungen ins Wanken gebracht hatten, so konnten sie zugleich das Bedürfnis nach neuen erzeugen. Die divergenten wissenschaftlichen Resultate sollten einen Zusammenhang zeigen, und die Philosophie wagte nicht mehr, ohne Rücksicht auf die empirischen Wissenschaften ein materiales Wissen von Welt und Leben zu bieten. Deshalb schrieb Wilhelm Wundt 1889 in seinem System der Philosophie, im Zeichen der Wissenschaften habe die Philosophie die Aufgabe einer »Zusammenfassung der Einzelerkenntnisse zu einer die Forderungen des Verstandes und die Bedürfnisse des Gemüthes befriedigenden Weltund Lebensanschauung«.76 Da aber über die Grundlagen dafür kein Einvernehmen herrschte und da die Ergebnisse der Wissenschaften – zu denen ja auch die Geisteswissenschaften gehörten – kaum übersehbar und sehr verschieden interpretierbar waren, entstanden so viele Weltanschauungen, wie es zusammenfassende Philosophen gab, die mit je eigener Intuition und eigenem Interesse an die Arbeit gingen. Jeder neue wissenschaftliche Ansatz konnte zur Grundlage einer Deutung des Ganzen, zu einer neuen Weltanschauung werden. So publizierte Adolf Bastian 1860 eine dreibändige Begründung einer psychologischen Weltanschauung.77 Aber auch die Einstellung des Vegetariers konnte als neue Weltanschauung auftreten.78 Wer heute ›Weltanschauung‹ definiert und einen einschlägigen Texttypus beschreiben möchte, sollte sich deshalb besser vom faktischen Wortgebrauch lösen. Denn immer wurde vieles so genannt, was sich in solche allgemeinen Bestimmungen nicht einfügt, während einschlägige Quellen den Term auch ersetzen konnten.79 74 A.

L. Kym: Die Weltanschauungen und deren Consequenzen. In: ders.: Metaphysische Untersuchungen (München 1875) 321–383. 75  R. Eucken: Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt, a. a.O. [Anm. 72] IV. 76  Wilhelm Wundt: System der Philosophie (Leipzig 21897) 1. 77  A. Bastian: Der Mensch in der Geschichte, a. a.O. [Anm. 65]. 78 Gustav Struve: Pflanzenkost, die Grundlage einer neuen Weltanschauung (Stuttgart 1869). 79  Christoph Demmerling schreibt (Warum die Philosophie keine Weltanschauung ist. In: J. Rohbeck (Hg.), a. a.O. [Anm. 1] 15–23, hier 15): »Weltanschauung – so möchte ich es einmal

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Aufgrund der Erfahrung, dass sich über die ersten Gründe und Ursachen des Seins und Denkens, über den Sinn des Lebens und die Bedeutung der religiösen Tradition keine Einigung erzielen ließ, verzichteten einige Autoren sogleich auf den Anspruch auf allgemeingültige Wahrheit ihrer Weltanschauung. Schon 1850 markierte ein Autor bereits mit dem Titel seines Buches Eine Weltanschauung die Vielheit solcher Anschauungen und begann seine Anrede an den Leser: »Hier hast du meine Wahrheiten und Irrthümer; – die Antworten auf die Fragen, welche mir das Leben vorwarf […].«80 Nicht absolute Wahrheiten wollte der Verfasser mitteilen, sondern nur fragen, ob manche Leser eine Wahlverwandtschaft spüren. Ein Logenbruder publizierte später seine Ansichten über Gott und die Welt sogleich unter dem Titel Meine Weltanschauung.81 Die Vielheit neuer Weltanschauungen führte früh auch zur Kritik des Begriffs und der Sache. 1844 schrieb Jacob Burckhardt an Gottfried Keller: »Vor Zeiten war jeder ein Esel auf seine Faust und ließ die Welt in Frieden; jetzt dagegen hält man sich für ›gebildet‹, flickt eine ›Weltanschauung‹ zusammen und predigt auf die Nebenmenschen los.«82 1850/51 stritten sich Julian Schmidt und Friedrich Hebbel über Hebbels angebliche Ausrichtung auf eine Weltanschauung, waren sich aber einig, dass das Wort durch Hegel und Goethe in die Literaturkritik eindrang, dort schon »viel Unheil angerichtet« habe und dass die »alberne Jagd auf eine Welt-Anschauung« der Kunst wenig dienlich sei. Leider sei es schon durch die »halbphilosophischen Kritiker« so weit gekommen, dass »ein Drama, welches nicht eine Weltanschauung enthält, d. h. nicht de rebus omnibus et quibusdam aliis handelt, gar nicht mehr angesehen wird«.83 Doch da die Weltanschauungen wie die materialistische und die christliche keineswegs ihre Wahrheit relativieren wollten und in ihrem Konflikt die Gestaltung des gesamten gesellschaftlichen und kulturellen Systems auf dem Spiel stand, konnte der Streit der Weltanschauungen nicht durch vermittelnde Reflexionen beigelegt werden, sondern eskalierte. Es klingt wie ein Schrei der Verzweiflung, wenn Eucken 1896 angesichts des siegreichen Naturalismus in seiner Grundlegung einer Weltanschauung schreibt: »[W]ir kämpfen um den Sinn unseres Lebens und um die Behauptung eines geistigen Seins.«84 Die allgemeine Überzeugung sprach Wilhelm Jerusalem mit dem Satz aus: »Das Beprovokativ formieren – sind allumfassende Sinnangebote für diejenigen, denen die Verhältnisse in der modernen Welt zu unüberschaubar und zu vielfältig sind.« Das Wort sei heute synonym mit Ideologie. Philosophie sei das Gegenteil. Aber für das 19. Jh. vertraten alle Autoren der Philosophiegeschichte eine Weltanschauung, auch die der Antike. 80  Karl Schmidt: Eine Weltanschauung. Wahrheiten und Irrthümer (Dessau 1850). 81  E. Schulze: Meine Weltanschauung (Frankfurt a. M. 1894). 82  Jacob Burckhardt an Gottfried Keller am 26.4.1844. Bei Grimm: Deutsches Wörterbuch, a. a.O. [Anm. 1] 1530. 83  Julian Schmidt: Friedrich Hebbel. In: Die Grenzboten 9 (1850) 721–733, hier 732. – Friedrich Hebbel: Abfertigung eines aesthetischen Kannegießers (1851). Sämmtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Säkular Ausgabe Bd. 11 (Berlin 1913) 387–409, hier 405. 84  R. Eucken: Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt, a. a.O. [Anm. 72] 245.

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dürfnis nach einer einheitlichen Weltanschauung liegt tief in der Menschenbrust begründet.«85 Der Konflikt rückte als Kampf der Weltanschauungen deshalb am Ende des Jahrhunderts wie bei Eucken in weitere Buchtitel ein.86 Der Darwinist Ernst Haeckel, der seit den 90er Jahren für die »monistische Wissenschaft« als der richtigen Weltanschauung kämpfte87 und 1899 das populäre Buch Die Welträtsel veröffentlichte, hat die Notwendigkeit solchen Kampfes auch begründet. Im Vorwort seines Buches Der Kampf um den Entwicklungs-Gedanken, das drei Vorträge enthält, die alle »Kampf« im Titel tragen, heißt es: »Wenn ich als rücksichtsloser ›Kämpfer‹ erscheine, so möge man bedenken, daß ›der Kampf der Vater aller Dinge‹ ist und daß der Sieg der reinen Vernunft über den herrschenden Aberglauben nicht ohne den heftigsten Kampf errungen werden kann.«88 Eucken sah die Lage dramatischer. Es prallten verschiedene Gestaltungen des Lebens auf einander, so »daß dabei nicht bloße Bilder der Wirklichkeit, sondern Wirklichkeiten selbst miteinander kämpfen«.89 So wie sich im 16. und 17. Jh. die religiösen Konfessionen feindlich entgegentraten, so jetzt die Weltanschauungen: religiöse und wissenschaftliche, idealistische und materialistische Weltanschauungen befanden sich in einem Konflikt, der argumentativ nicht entschieden werden konnte, von dem aber die Gestaltung des Lebens und der gesamten politisch-sozialen Welt abhing. Deshalb gründete man für die Weltanschauungen auch eigene Vereine, Bündnisse, die sich wie vormals die Kirchen als Bastionen von verschiedenen Überzeugungen gegenüberstanden. Dazu gehörte z. B. die Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur (1892), der von Haeckel 1906 gegründete Monistenbund und der gegen diesen gerichtete Keplerbund zur Förderung der Naturerkenntnis (1907).90 Da die neuen, besonders durch Darwin beeinflussten wissenschaftlichen Weltanschauungen mit ihrem Anspruch, die wirklich moderne Weltanschauung zu sein,91 die Religion abzulösen beanspruchten, nahmen sie selbst religiöse Züge an. 1857 konnte man lesen, dass der Materialismus wie schon vorher der Pantheismus »nicht eine wissenschaftliche Schule oder Denkweise, sondern eine Religion ist, die Religion des Aberglaubens an den Stoff«.92 Das war Polemik, aber später 85 

Wilhelm Jerusalem: Einleitung in die Philosophie (Leipzig, Wien 1899) 2. In den späteren Auflagen äußerte er sich wie Wundt und hielt noch 1923 an der Weltanschauung als Aufgabe der Philosophie fest, als der Begriff längst strittig geworden war. 86 Richard Wimmer: Im Kampf um die Weltanschauung. Bekenntnisse eines Theologen (Freiburg i.Br. 71889). – Max Reischle: Das akademische Studium und der Kampf um die Weltanschauung. Ein Vortrag (Göttingen 1895). 87  Ernst Haeckel: Die Weltanschauung der monistischen Wissenschaft (Berlin 1892). 88  Ders.: Der Kampf um den Entwicklungs-Gedanken. Drei Vorträge, gehalten am 14., 16. und 19. April 1905 im Saal der Sing-Akademie zu Berlin (Berlin 1905) 9. 89  R. Eucken: Grundlinien einer neuen Lebensanschauung, a. a.O. [Anm. 72] 2. 90  Eberhard Dennert: Die Naturwissenschaft und der Kampf um die Weltanschauung. Ein Wort zur Begründung des Keplerbundes (Godesberg 1909). 91  Benjamin Vetter: Die moderne Weltanschauung und der Mensch. Sechs öffentliche Vorträge (Jena 1894). 92  W. Hoffmann, Vorwort, a. a.O. [Anm. 59] III.

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beanspruchte die angegriffene Partei durchaus selbst, eine Religion zu bieten. Bei David Friedrich Strauß entsprach 1872 der »modernen Weltanschauung« auch ein »neuer Glaube«, und seine Darlegung war ein »Bekenntniß«.93 Auch Haeckel trug seine Überlegungen unter dem Titel Glaubensbekenntniss eines Naturforschers vor.94 Dieses Bekennen war nicht Ausdruck der eingestandenen Subjektivität des neuen Standpunktes, wie man interpretierte, sondern des erklärten Mutes, eine unbestreitbare Wahrheit laut auszusprechen, welche die Mehrheit zu verdrängen schien. Strauß hatte es noch abgelehnt, durch einen Verein für »moderne Weltanschauung« die Kirche zu ersetzen, weil dieser dann »selbst wieder eine Art Kirche wäre«.95 Der Monismus aber scheute sich nicht, zur Selbstbehauptung und zur Durchsetzung seiner Weltanschauung diese Art Kirche zu gründen. Er verstand sich ja ausdrücklich selbst als Religion, und Haeckel suchte die Nähe zur Theologie. Sein Prinzip, die Einheit von Materie, Energie und »Psychoma«, nannte er die »Trinität der Substanz«.96 Wilhem Ostwald publizierte dann regelmäßig Monistische Sonntagspredigten.97 Paul de Lagarde hatte dazu auch schon die Erklärung gegeben: Alle Religionen seien Weltanschauungen, und alle Weltanschauungen seien religiös, da die Welt jeweils nur durch ein einziges Prinzip ein Ganzes sei.98 Der Monismus konnte sich deshalb als Religion präsentieren, obwohl laut Heckel »seine vernünftige Weltanschauung […] uns durch die neueren Fortschritte der einheitlichen Naturerkenntnis mit logischer Nothwendigkeit aufgedrungen wird«.99 Natürlich reagierten die Vertreter der christlichen Kirchen z. T. gereizt. Die neue darwinistische Weltanschauung zu verkünden heiße, »den geistigen, sittlichen und gesellschaftlichen Selbstmord predigen«, schrieb der Präsident des Christlichsozialen Vereins in Wien, und zeigte die richtige Weltanschauung: die Ordnung der Welt, die das Dasein Gottes beweise.100 In diesen Kampf mischte sich auch der neue Nationalismus ein. Da die Bindung an die Nation oft als wichtiger empfunden wurde als an Kirchen und Ver 93  David Friedrich Strauß: Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß [1. Aufl. 1872]. (Bonn 111881). Zum Begriff der neuen Weltanschauung siehe hier 10 f. u. ö.  94  Ernst Haeckel: Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Glaubensbekenntniss eines Naturforschers (Bonn 51893, 71898). Siehe auch sein Vorwort von 1893 zum Buch von Vetter [Anm. 91], IV. Das ist eine Antwort auf die Rede »über naturwissenschaftliche Glaubenssätze« von Schlesinger aus Wien.  95  D. F. Strauß: Glaube, a. a.O. [Anm. 93] 7.  96  E. Haeckel: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie. Elfte verbesserte Auflage der Hauptausgabe (Leipzig 1919) 21 f.  97  Wilhelm Ostwald: Monistische Sonntagspredigten. Erste Reihe (Leipzig 1911).  98  Paul de Lagarde: Die graue Internationale (1881). In: ders.: Schriften für das deutsche Volk. Bd. 1: Deutsche Schriften (München 21934) 358–371, hier 363.  99  E. Haeckel: Der Monismus als Band (51893), a. a.O. [Anm. 94] Vorwort, 7 f. – Eine Art Versöhnung ist angestrebt bei J. Sack: Monistische Gottes- und Weltanschauung. Versuch einer idealistischen Begründung des Monismus auf dem Boden der Wirklichkeit (Leipzig 1899). 100  Ludwig Psenner: Der Kernpunct der socialen Frage oder Die richtige Weltanschauung. Vier Hefte (Wien 1897 – 1902) Heft 4, 40.

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eine, konnte er seine Weltanschauung als Versöhnung der Parteien zur Rettung des Vaterlandes in die Debatte bringen, wie es 1891 de Lagarde tat: Durch Materialismus und Jesuitismus stünden sich eine geistlose Natur und ein unnatürlicher Geist gegenüber und es herrsche ein »vollständiger Mangel in der Harmonie der Weltanschauung«.101 Deshalb sei eine neue nötig: »Katholizismus, Protestantismus, Judentum, Naturalismus müssen vor einer neuen Weltanschauung das Feld räumen, ganz räumen, so daß ihrer nicht mehr gedacht werde, wie der Nachtlampe nicht mehr gedacht wird, wann die Morgensonne über die Berge scheint – oder aber die Einheit Deutschlands wird von Jahr zu Jahr fraglicher.«102 In der sprachwissenschaftlichen Untersuchung Der deutsche Sprachbau als Ausdruck deutscher Weltanschauung hatte diese Anschauung noch wenig Kontur und wurde nur konstatiert: Die Verbform der deutschen Sprache zeige die Dominanz des Willens.103 Der Publizist Friedrich Lange aber forderte im Sinne de Lagardes 1893 eine »deutsche Weltanschauung«, die schon alle Kennzeichen der späteren NS-Ideologie aufweist.104 In dieser Situation nahm am Ende des Jahrhunderts Wilhelm Dilthey Abstand vom Kampf um die richtige Weltanschauung und begann, eine Metatheorie auszubilden, eine »Philosophie der Philosophie«, welche die Weltanschauungen in Typen ordnet und ihre Basis in der menschlichen Natur aufweist. In seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1883 hatte er zumeist von »Weltansicht« gesprochen, z. B. von der »mechanischen Weltansicht« von Leukipp und Demokrit.105 Aber in seinen späteren Abhandlungen zur Geschichte der Philosophie und Religion benutzte auch er den Begriff für seine geistesgeschichtlichen Untersuchungen und unterschied bereits hier drei Typen von Weltanschauungen.106 In seiner Abhandlung Das Wesen der Philosophie von 1907 skizzierte er seine 101 Paul

de Lagarde: Über das Verhältnis des deutschen Staates zu Theologie, Kirche und Religion (1873 u. ö.). In: ders.: Schriften für das deutsche Volk. Bd. 1: Deutsche Schriften (München 21934) 45–90, hier 59. 102 Paul de Lagarde: Zum letzten Male Albrecht Ritschl (1891). In: ders.: Ausgewählte Schriften. Als Ergänzung zu Lagardes Deutschen Schriften zusammengestellt von Paul Fischer (München 1924) 255–279, hier 278. 103  Franz Nikolaus Finck: Der deutsche Sprachbau als Ausdruck deutscher Weltanschauung. Acht Vorträge (Marburg 1899). 104  Die wichtigsten Kennzeichen: Umformung des Christentums in eine »Deutschreligion«, Antisemitismus, Hinwendung zur »Volksseele«, »erkenntnißmäßig getragen von der Naturwissenschaft« und verbunden mit dem Sozialismus, der zu einer »Herzenssache des deutschen Volkes geworden« sei. Durch eine Schulreform als »deutsche Kulturreform« sollte »im Bunde mit moderner naturwissenschaftlicher Weltanschauung die deutsche Volksseele befreit werden aus dem Banne der Ausländerei«. Friedrich Lange: Reines Deutschthum. Grundzüge einer nationalen Weltanschauung (Berlin 1893) 106, 121, 140, 220. 105  Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883). Gesammelte Schriften Bd. 1, 169 ff., vgl. 52, 88, 148. Nur gelegentlich ist von Weltanschauung die Rede (291). 106  Ders.: Der entwicklungsgeschichtliche Pantheismus nach seinem geschichtlichen Zusammenhang mit den älteren pantheistischen Systemen (1900). Gesammelte Schriften Bd. 2: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Abhandlungen zur Geschichte und Philosophie der Religion (Leipzig, Berlin 21921) 312–390, hier 312 ff.

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lebensphilosophische und anthropologische Erklärung des Phänomens, die er dann 1911 in einer eigenen Abhandlung weiter ausführte.107 Sein Resultat: Die Weltanschauungen wollen die Rätsel des Lebens lösen, besonders das Rätsel des Todes, was aber angesichts der Vielseitigkeit und Unergründlichkeit des Lebens in allgemeingültiger Form prinzipiell nicht möglich ist. Kann der Kampf um die Wahrheit der Weltanschauungen nicht entschieden werden, so lassen sich doch verbindliche Aussagen über ihren Charakter und über die Gründe ihres ewigen Streites treffen. Die drei Grundtypen des Materialismus, des subjektiven und objektiven Idealismus gründen in der unterschiedlichen Dominanz der psychischen Funktionen Erkennen, Fühlen und Wollen. So wie schon weit vor Dilthey Philosophie, Religion und Dichtung als Weltanschauungen bezeichnet werden konnten, so werden diese Bereiche in die Kritik der Weltanschauungen einbezogen, wenn sie die Lebensrätsel lösen wollen. Weltanschauungen sind für den Einzelnen noch immer lebensdienlich, ja ganz unvermeidlich, da sie das abgründige, rätselhafte Leben mit dem lachenden Munde und den traurigen Augen108 aus bestimmter Perspektive interpretieren und dadurch Halt und Orientierung geben. Aber sie sind keine Wissenschaften, sie haben lediglich eine subjektive Wahrheit, sie sind authentischer Lebensausdruck. Die wissenschaftliche Philosophie kann sich deshalb nur über Weltanschauungen sinnvoll äußern, sie kann aber selbst keine ausbilden oder verteidigen. Angesichts dieser kritischen Stellungnahme liest man dann mit Erstaunen, dass der späte Dilthey, der einen Standpunkt über den Weltanschauungen einzunehmen und ihre Typen so sachlich zu erforschen anregte wie der Botaniker die Pflanzen,109 zugleich ganz selbstverständlich von »unserer historischen Weltanschauung« sprach110 und damit durchaus auch seine eigene Position meinte.

III.  Die »historische Weltanschauung« Die Semantik dieses Ausdrucks spiegelt den Wandel, der sich im 19. Jh. von der Philosophie zu den Wissenschaften vollzog. Wie oben erwähnt, interessierte man sich früh für die leitenden Gedanken der antiken Historiker, und so verwundert es nicht, dass man auch von deren »historischer Weltanschauung« handeln 107  Ders.: Das Wesen der Philosophie (1907). Gesammelte Schriften Bd. 5 (Stuttgart, Göttingen 71982) 339–416, hier 378–406. – Ders.: Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen. In: Weltanschauung. Philosophie und Religion, hg. von Max Frischeisen-Köhler (Berlin 1911) 1–54. – Diese Abhandlung zusammen mit weiteren Entwürfen zum Thema in: ders.: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie. Gesammelte Schriften Bd. 8 (Stuttgart, Göttingen 41968). 108  Ders.: Traum (1903). Gesammelte Schriften Bd. 8 (Stuttgart, Göttingen 41968) 220–226, hier 226. 109  Ders.: Das Wesen der Philosophie, a. a.O. [Anm. 107] 380. 110  Ders.: Das achtzehnte Jahrhundert und die geschichtliche Welt (1911). In: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 3 (Stuttgart, Göttingen 61992) 209–268, hier 217.

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konnte. Ein Beispiel für das, was man sich unter diesem Begriff dachte, finden wir in einer Abhandlung über die »historische Weltanschauung« des Thukydides, die eine »sittlich-religiöse« gewesen sei:111 »[D]er sittlich-religiöse Maßstab ist es ja doch am Ende, den jeder denkende Historiker auf feinere oder gröbere Weise an die Begebenheiten hält, und die ewigen göttlichen Ordnungen und sittlichen Gesetze herauszufinden, nach denen in der Menschenwelt Thaten und Schicksale sich aneinander knüpfen und aus dem ganzen Complex der verschiedenartigsten Handlungen und Bestrebungen die Geschicke der Einzelnen und ganzer Völker sich entwickeln, ist ja doch die Hauptaufgabe eines ächten Geschichtschreibers.« Kein Zweifel: Der Interpret verrät hier auch seine eigene historische Weltanschauung, aber sein Erkenntnisziel ist historisch, denn es geht ihm um die Geschichtsschreibung des Thukydides. Doch es wurde auch die wahre historische Weltanschauung zur Geltung gebracht, oder sie wurde zumindest schlicht vorausgesetzt. Schon 1807 nannte Görres den Überblick über die Entwicklung des gesamten menschlichen Wissens eine »große Weltanschauung«,112 und deshalb konnte auch jede Geschichtsphilosophie als historische Weltanschauung bezeichnet werden. 1839 bestimmte Hermann Ulrici, der dem Kreis des spekulativen Theismus zugehörte, in seinem Buch über Shakespeare die Gattung des historischen Dramas, indem er es zur Weltgeschichte in Beziehung brachte: »Die Weltgeschichte als Ganzes hat ja an sich keine poetische, sondern nur ihre eigne d. h. eine durchaus historische Physiognomie; sie zeigt ein Angesicht und eine Ansicht, die die religiöse, sittliche, künstlerische Betrachtung in sich begreift: sofern der wahre Zweck der Weltgeschichte über das bloß weltliche Dasein der Menschheit hinübergreift, so ist in ihr jene ganze volle Wahrheit der Weltanschauung zu lesen, welche das einzelne Subjekt nur als organisches Glied der ganzen Menschheit, und letztere nicht blos von Seiten ihres weltlichen Daseins und dessen Beziehungen zu Gott auffaßt, sondern von Seiten ihrer ewigen, wesentlichen Einigung mit Gott, wozu sie durch Gottes Gnade von Ewigkeit her bestimmt ist. Hier vereinigt sich mithin der tragische Untergang des Edlen, Großen und Schönen wie die komische Paralyse der menschlichen Schwäche, Kleinheit und Hinfälligkeit in dem Einen Gedanken, daß alles Menschlich-Weltliche untergehen und sich auflösen müsse, um in Gott zum wahren unendlichen Leben und zu ewiger Beständigkeit zu gelangen. […] Diese historische Weltanschauung aber, worin die tragische und komische als besondere Seiten in ihrer organischen Einheit zusammengefaßt sind, wird eben dadurch in einem höheren Sinne poetisch.«113 Die wahre historische Weltanschauung ist hier nur eine einzige, alle anderen sind nur deren Teilbereiche. Sie zeigt die Sache selbst, die Weltgeschichte, wie sie nun einmal ist, mit ihrer 111 

G. A. Bockshammer: Die sittlich-religiöse Weltanschauung des Thukydides, a. a.O. [Anm.

38] 3. 112 

J. Görres: Die Teutschen Volksbücher, a. a.O. [Anm. 43] 293. Hermann Ulrici: Ueber Shakspeare’s dramatische Kunst und sein Verhältniß zu Calderon und Goethe (Halle 1839) 373 f. 113 

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Verbindung von tragischen und komischen Aspekten. Da diese Weltanschauung kein Produkt von Menschen ist, muss niemand sie verteidigen. Bei Christlieb Julius Braniß war 1848 hingegen die historische Weltanschauung beides: Eine historische Realität und ein Ergebnis des menschlichen Geistes, und für ihre Wahrheit musste gestritten werden. Im Hinblick auf eine Diagnose der Krise seiner Zeit skizzierte der Autor eine Geschichtsphilosophie, der gemäß sich zwei Weltanschauungen in der Geschichte des menschlichen Geistes gegenüberstehen: der »Naturismus«, der in der griechischen Philosophie entstand und im Kern Naturphilosophie ist, und der »Historismus«, der sich im Mittelalter ausprägte und die Geschichtsphilosophie begründete.114 Jener sieht alles der Notwendigkeit unterworfen, dieser aber ist eine Philosophie der Freiheit. Beide haben letztlich ihre Wurzeln im menschlichen Geist, und beide wurden schon in der Religionsgeschichte vorbereitet, in der paganen Antike und der jüdisch-christlichen Religion.115 Braniß stellte damit den Hauptgegensatz der Weltanschauungen, noch bevor er durch den Materialismusstreit sich zuspitzte, in einen weltgeschichtlichen Kontext ein, und er nahm zugleich vehement Partei für die historische. Denn sein Hauptziel war, den Sieg der »historistischen« oder »geschichtsphilosophischen Weltanschauung« über die »naturistische« als »Thatsache« nachzuweisen116 und mit seinen Vorlesungen die Hörer zum Engagement für die Freiheit zu motivieren. In dieser Weise verband Braniß die historische mit der systematischen Wahrheit: Die historistische Weltanschauung realisiert eine der beiden Grundrichtungen des menschlichen Geistes, verlangt aber philosophische Erhellung und praktische Verwirklichung. Diese Theorie der Weltanschauungen ist geschichtsphilosophisch, und mit Recht wurde auch Braniß’ Philosophie sogleich selbst als geschichtsphilosophische Weltanschauung bezeichnet.117 Wie erwähnt, hatte Görres bereits 1830 von einer »zwiefachen Weltanschauung« gesprochen, welche die Weltgeschichte bestimme und deren Spannung der Mensch austragen müsse.118 Die geschichtsphilosophischen Theorien der Weltanschauungen von Görres und Braniß sind alles andere als relativistisch oder nur kontemplativ, sie greifen aktiv in die Auseinandersetzungen ihrer Gegenwart ein. Das tut die historische Weltanschauung auch noch bei Droysen, aber sie wurde jetzt zur Sache der Geschichtswissenschaft. In seinem Handout für seine Historik-Vorlesung von 1858 heißt es: »Die falsche Alternative der materialistischen und idealistischen Weltanschauung versöhnt sich in der historischen, der 114 

Christlieb Julius Braniß: Die wissenschaftliche Aufgabe der Gegenwart als leitende Idee im akademischen Studium (Breslau 1848) 136 u. ö. 115  Siehe dazu vom Verf.: »Historismus« als spekulative Geschichtsphilosophie: Chr. J. Braniß (1792–1873) (Frankfurt a. M. 1973) 97–130. 116  C. J. Braniß: Aufgabe, a. a.O. [Anm. 114] 141 ff., 229 ff. 117  Caesar Albano Kletke: Die geschichtsphilosophische Weltanschauung des Philosophen Chr. J. Braniß (Breslau 1849). 118 J. Görres: Ueber Grundlage, Gliederung und Zeitenfolge der Weltgeschichte, a. a.O. [Anm. 49] 245–248.

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Anschauung, auf die uns die sittliche Welt führt; denn das Wesen der sittlichen Welt ist, daß sich in ihr in jedem Augenblick jener Gegensatz versöhnt, um sich zu erneuern, sich erneuert, um sich zu versöhnen.«119 An anderen Stellen finden wir das erläutert: Der Mensch führt ein »Doppelleben«, denn er lebt im »Zwiespalt« seiner natürlichen und geistigen Existenz. Seine geschichtliche Welt, die »sittliche Welt«, kann weder als ein Stoffwechsel noch als rein geistig verstanden werden,120 vielmehr ist in ihr alles »materiell bedingt«, aber nichts nur aus diesen Bedingungen verstehbar.121 Deshalb gilt es, »den Dualismus jener Methoden, jener Weltanschauungen« von Materialismus und Supranaturalismus in »derjenigen Methode [zu] versöhnen, die der ethischen, der geschichtlichen Welt entsprechend ist, [und] sie zu der Weltanschauung zu entwickeln, die in der Wahrheit des menschlichen Seins, in dem Kosmos der sittlichen Mächte ihre Basis hat«.122 Die Weltanschauungen sind damit aus dem Bereich subjektiver Überzeugungen an die Wissenschaften übergegangen, sie sind Folge und Aufgabe von verschiedenen Methoden geworden, und ihr Konflikt kann deshalb auch nur durch eine übergreifende wissenschaftliche Methode beendet werden, die damit auch eine neue, wissenschaftliche Weltanschauung stiftet: die historische. Diese ist zwar schon ein Faktum, muss aber weiter ausgearbeitet und zur Geltung gebracht werden. Mit dem Werden der sittlichen Welt befasst, hat auch sie bei Droysen normativen Gehalt. Wenn der Historiker die sittliche Substanz der Geschichte weitergibt, ist er ein aktives Element der Tradition als werdender Sittlichkeit. Für Dilthey hat dieser Gedanke offensichtlich seine Überzeugungskraft verloren. 1903 endete er eine Rede zu seinem 70. Geburtstag mit einem recht skeptischen Resümee: »Die Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, sie sei eine Religion oder ein Ideal oder philosophisches System, sonach die Relativität jeder Art von menschlicher Auffassung des Zusammenhangs der Dinge ist das letzte Wort der historischen Weltanschauung, alles im Prozeß fließend, nichts bleibend. […] Die geschichtliche Weltanschauung ist die Befreierin des menschlichen Geistes von der letzten Kette, die Naturwissenschaften und Philosophie noch nicht zerrissen haben – aber wo sind die Mittel, die Anarchie der Überzeugungen, die hereinzubrechen droht, zu überwinden?«123 Dilthey bestätigt damit zwar Droysen insofern, dass aus den wissenschaftlichen Verfahrensweisen Weltanschauungen resultieren, aber diese können keine Normen begründen, sondern lösen sie auf. Wie bei Braniß und Droysen dient die historische Weltanschauung 119  Johann

Gustav Droysen: Grundriss der Historik, § 13. In: ders.: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg von Rudolf Hübner (Darmstadt 61971) 317–366, hier 330. 120  Ders.: Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft (1859). In: Historik, a. a.O. [Anm. 119] 387–405, hier 405. 121  Ders.: Natur und Geschichte. In: Historik, a. a.O. [Anm. 119] 406–415, hier 413. 122  Ders.: Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft. In: Historik, a. a.O. [Anm. 119] 405. 123 Wilhelm Dilthey: Rede zum 70. Geburtstag (1903). In: Gesammelte Schriften Bd. 5 (Stuttgart, Göttingen 71982) 7–9, hier 9.

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bei Dilthey der Freiheit, aber einer rein negativen Freiheit, einer Freiheit von allen tradierten Bindungen, die zur »Anarchie der Überzeugungen« führt. Die historisch vorgehende Philosophie, welche die Weltanschauungen in ihrem historischen und anthropologischen Kontext erforscht und zu Typen ordnet, realisiert so in der Tat nolens volens selbst eine Weltanschauung, aber keine, welche die Lebensrätsel zu lösen und zu bewältigen hilft, sondern die lediglich im Sinne Schleiermachers und A. von Humboldts geordnetes Weltwissen vermittelt (s. o.). In Diltheys Aufsatz über Die Anfänge der historischen Weltanschauung Niebuhrs von 1911 wird das bestätigt. Denn wenn Niebuhr laut Dilthey wichtige Impulse für seine »historische Weltansicht« durch Kant und Reinhold erhielt, so heißt das nur, dass er durch die »Weltanschauung« des »kritischen Idealismus« vieles besser zu verstehen gelernt hatte und leicht eine universalhistorische Perspektive einnehmen konnte, nicht aber, dass er Kants Geschichtsphilosophie übernommen habe.124 Die historische Forschungsarbeit erlaubt also dem Historiker durchaus, persönlich eine jener drei Weltanschauungstypen zu übernehmen, welche die Lebensrätsel lösen, aber die moderne historische Weltanschauung ist davon getrennt, sie ist Ergebnis allein der wissenschaftlichen Arbeit. Die liberale Stärke von Diltheys Konzeption war natürlich zugleich ihre Schwäche. Sie konnte für die Entscheidung praktischer Fragen keine Direktiven geben, sondern nur die historischen Bedingungen des gegenwärtigen Denkens und Handelns ins Bewusstsein heben. Immerhin hat Dilthey den historischen Hintergrund jener Weltanschauungskämpfe so reflektiert und dargestellt, dass ein Ausweg gezeigt war: Die europäische Geistesgeschichte, so erfahren wir schon in der Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1883, speist sich aus den drei heterogenen Quellen von griechischer Philosophie und Kunst, jüdischchristlicher Religion und römischem Recht; nachdem das Mittelalter sie vergeblich in einer Metaphysik zu vereinen versuchte, haben sich in einem Differenzierungsprozess die Bereiche Religion, Poesie und Wissenschaften getrennt und auf ihre jeweilige Funktion eingegrenzt. Während also laut Dilthey jene drei Typen von Weltanschauungen nicht vereinbar sind, schafft es die moderne Gesellschaft mehr und mehr, verschiedene Kulturformen relativ konfliktfrei nebeneinander bestehen zu lassen.125 1925 hielt Martin Heidegger Vorträge zum Thema Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwärtige Kampf um eine historische Weltanschau124  Ders.:

Die Anfänge der historischen Weltanschauung Niebuhrs (1911). In: Gesammelte Schriften Bd. 3, a. a.O. [Anm. 110] 269–275. 125  Siehe vom Verf.: Dilthey, Cassirer und die Geschichtsphilosophie. In: Dilthey und Cassirer. Die Deutung der Neuzeit als Muster von Geistes- und Kulturgeschichte, hg. von Thomas Leinkauf (Hamburg 2003) 127–148, hier 131–135. Vgl. Karl Achams Zuordnung der Weltanschauungen zu verschiedenen Denkformen: Denkformen und Lebensformen. Überlegungen zu Diltheys Weltanschauungslehre. In: Anthropologie und Geschichte. Studien zu Wilhelm Dilthey aus Anlass seines 100. Todestages, hg. von Giuseppe D’Anna u. a. (Würzburg 2013) 93–113, hier 98 ff.

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ung.126 Der berühmte Kritiker der Weltanschauungen bestimmt hier ganz sachlich und richtig, dass »Weltanschauung […] nicht nur theoretische Kenntnis, sondern praktische Stellungnahme« bedeute, und er erläutert die Leitbegriffe seines Themas wie folgt: »Historische Weltanschauung ist eine solche, in der das Wissen um die Geschichte die Auffassung von Welt und Dasein bestimmt. Sie gründet in dem geschichtlichen Charakter der Weltentwicklung und des menschlichen Daseins. – Kampf besagt Kampf um die Erringung einer solchen Position aus dem Wissen um den geschichtlichen Charakter von Welt und Dasein. Er geht darauf, die bestimmenden Mächte der Geschichte zu den primären für die Überzeugungsbildung und das Daseinsbewußtsein zu machen.«127 Heidegger hat als Kombattanten den Neukantianismus, Spengler und die Phänomenologie im Auge, der er Geschichtslosigkeit vorwirft. Gegen sie führt er Dilthey ins Feld, welcher schon den richtigen Weg einschlug, um »den Sinn der historischen Weltanschauung« richtig zu fassen, indem er auf deren Quellgrund, auf die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins zurückging.128 Und dann skizziert Heidegger als konsequente Fortsetzung von Diltheys und Yorcks Denken die Daseinsanalyse, die er wenig später in Sein und Zeit weiter ausführte. Ohne es klar auszusprechen, macht er deutlich, wie er auf das Relativismusproblem Diltheys, das sein Lehrer Husserl in scharfer Kritik herausgestellt hatte, antwortet: Der geschichtliche Wandel aller Orientierungssysteme gründet in der Bewegtheit und Zeitlichkeit des menschlichen Daseins und wird zum einen durch die entschlossene Eigentlichkeit des Existierens und zum anderen durch die in uns faktisch fortwirkende Geschichte bewältigt – wobei das Verhältnis dazwischen schon hier merkwürdig unklar bleibt. Beide Seiten finden sich auch bei Dilthey. Denn zu den daseinsdeutenden Weltanschauungen, die sich wissenschaftlich nicht begründen und verteidigen lassen, können und müssen wir uns als einzelne entscheiden, und wir dürfen uns ihnen auch anvertrauen, da sie alle einen »Teil der Wahrheit« enthalten.129 Zugleich vermögen wir nicht, die Vergangenheit abzuschütteln, und wir sollen es auch nicht, denn wir sind nur wahrhaft Mensch »durch die Hingabe an die großen objektiven Gewalten, welche die Geschichte erzeugt hat«.130 Solche Aussagen lassen vermuten, dass die historische Weltanschauung Diltheys sich doch eng mit einem jener drei Grundtypen berührt, nämlich mit dem objektiven Idealismus. Aber das bleibt in der Schwebe und zwar bezeichnenderweise: Es kann und darf im Zeichen der Wissenschaften nicht entschieden werden, da Wissenschaften keine Weltanschauungen sind.

126 

Martin Heidegger: Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwärtige Kampf um eine historische Weltanschauung, hg. von Frithof Rodi. In: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 8 (1992/93) 143–180. 127  Ebd. 145. 128  Ebd. 146 f. u. ö. 129  W. Dilthey: Traum (1903), a. a.O. [Anm. 108] 225. 130  Ebd. 226.

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Schon Friedrich Schlegel, der als erster gern von »Historismus« sprach, hatte die Welt als permanenten Werdeprozess aufgefasst und deshalb seine Philosophie zur »historischen Philosophie« erklärt. In seinen Vorlesungen über Die Entwicklung der Philosophie von 1804/05 heißt es: »Die Welt ist die unendliche Fülle im Werden, und insofern diese unendliche Fülle nur eine ist, ist sie zugleich die unendliche Einheit. Der Zweck des Verstandes ist Weltansicht, Weltweisheit, Geschichte mit einem Wort, insofern Geschichte alles Werden umfaßt, und zwar gibt es auf diesem höchsten Standpunkte, so wie nur ein Werden, so nur eine Geschichte; alle Unterabteilungen sind später und relativ.«131 Es ist fast ein Zufall, dass nicht schon Schlegel hier wörtlich von einer historischen Weltanschauung sprach. Wie Dilthey identifiziert seine historische »Philosophie der Philosophie« in der Geschichte Grundtypen der Philosophie, die sich wiederholen – allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Schlegel – am Beginn des Jahrhunderts – verteidigte den Idealismus, da er als einzige Philosophie das geschichtliche Werden wirklich denken könne. Dilthey aber musste sich am Ende des Jahrhunderts aufgrund der Pflicht zur Wissenschaftlichkeit eine solche Stellungnahme offensichtlich versagen.

131 Friedrich Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern [1804–1805]. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe Bd. 12: Philosophische Vorlesungen (1800–1807), hg. von Jean-Jacques Anstett (München, Paderborn, Wien 1964) 107–480, hier 407.



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Der Begriff ›Wille‹ hat im 19. Jahrhundert eine geradezu dramatische Karriere. Als Gegenbegriff zu ›Vernunft‹ steigt er zu Beginn im Rahmen der Kritik an der Aufklärung des 18. Jahrhunderts – ähnlich wie ›Leben‹ und durchaus auch im Zusammenhang damit – zu größter philosophischer Bedeutsamkeit auf; am Ende wird seine Berechtigung im Zusammenhang mit den ins 20. Jahrhundert vorausweisenden Entwicklungen in der Sprachphilosophie und Psychologie überhaupt verworfen. Die Problemfelder, die dabei zur Sprache kommen, sind aus der früheren Tradition bekannt: das Verhältnis von Wille und Intellekt, insbesondere die Frage, welcher von beiden den Primat beanspruchen könne; die Bestimmung des Willens unter den Aspekten eines rationalen Strebens, eines Dezisionsvermögens und eines Antriebspotentials;2 die Diskussion um die Freiheit des Willens; das Verhältnis von allgemeinem (oder göttlichem) und einzelnem Willen, um nur einige zu nennen. Sie erhalten nun aber besonderes Gewicht in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Glauben an die Vernunftbestimmtheit von Mensch und Welt, wie er das vorangegangene Jahrhundert geprägt hatte, aber auch noch im 19. Jahrhundert, vornehmlich bei Hegel, fortwirkte: Wenn der Wille das ist, was das Selbstsein des Menschen ausmacht, und wenn er dabei nicht von der Vernunft geleitet ist, dann kann der Glaube an die Vernünftigkeit im Leben und in der Geschichte nur eine Täuschung sein. Dieser Zusammenhang wertet den Begriff des Willens und die Diskussionen um seine Implikationen bereits an der Jahrhundertwende auf. Anknüpfungspunkt ist die Gleichsetzung von (gutem) Willen und (reiner praktischer) Vernunft bei Immanuel Kant.3 Diese Gleichsetzung lässt sich, obwohl sie im Gedanken an eine den Willen durch Maximen leitende Vernunft in der Tradition der Aufklärung steht, auch so interpretieren, dass in ihr der Wille das Bestimmende ist, weil nur aus seiner Autonomie die Gesetze der Vernunft zu erklären sind, zumal in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft die Vernunft auf die praktische Gesetzgebung beschränkt und dem theoretischen Verstand gegenübergestellt wird. Die Identität von Vernunft und Wille, durch die das pflicht1 

Dieser Beitrag steht im Zusammenhang mit dem durch das spanische Ministerio de Economía y Competitividad finanzierten Forschungsprojekt ›Hacia una historia conceptual comprehensiva: giros filosóficos y culturales‹ (›Zu einer umfassenden Begriffsgeschichte: philosophische und kulturelle Wendungen‹) FF 12011–24473. 2  Christoph Horn: Art. ›Wille‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Bd. 12 (Basel 2004) 763–796, hier 763. 3  Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Gesammelte Schriften. Akademieausgabe, Bd. 4 (Berlin 1911) 412. Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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mäßige Handeln als »Selbstzwang« des Willens auftritt,4 ist eine Weise, den vernunftgeleiteten Willen zu fassen, die gewissermaßen schon die Möglichkeit der Auflösung ihres Inhalts in sich trägt. Noch innerhalb dieser Identität bleibend, bestimmt Johann Gottlieb Fichte den Willen als das wahre Wesen des Menschen, und zwar in seiner »Absolutheit«, in der er schlechthin frei und unbedingt ist.5 Das Wollen als »ein absolut freies Übergehen von Unbestimmtheit zur Bestimmtheit« ist die Weise,6 in der allein sich das Ich als selbsttätige Vernunft bewusst werden kann, und aus ihm werden die Gewissenspflichten abgeleitet, die das Sittengesetz der Vernunft ausmachen. Der Wille ist, wie es später (1800) heißt, »Quelle und Richtschnur alles anderen Vernunftmäßigen«.7 Damit wendet sich Fichte gegen den Formalismus der kantischen Ethik, der daraus entstehe, dass die praktische Vernunft an der theoretischen ausgerichtet sei. Der Begriff des Wollens ist dabei »keiner Realerklärung fähig und er bedarf keiner«.8 Dennoch ist bei Fichte der Wille noch wie bei Kant der gute Wille: Wollen ist »bloß ein Denken«,9 die bloße Selbsttätigkeit der Vernunft. Die Freiheit besteht darin, in diesem Sinne tätig zu werden oder nicht, nicht aber darin, das Gute oder das Böse zu wollen. Das Böse entsteht aus der Trägheit, die in der sinnlichen Natur des Menschen gründet.10 Während Fichte mit dieser an Leibniz erinnernden Erklärung des Bösen in der Tradition der Aufklärung bleibt, wird eine ganz neue Sicht auf den Willen eröffnet, wenn Schelling 1809 Wollen als »Ursein« bestimmt.11 Denn für Schelling muss dem Willen die Freiheit nicht nur zum Tun und Lassen des Guten eignen, sondern zum Guten und zum Bösen in einem positiven Sinne. Insofern für ihn noch das Gute und das Vernünftige zusammenfallen, bedeutet das, dass ein »Urund Grundwollen« der Vernünftigkeit vorausgehen muss,12 nicht zeitlich oder logisch, sondern als »Grund« des guten, vernünftigen oder des bösen Wollens. Dieser grundhafte Vorrang des Wollens gilt sowohl im menschlichen als auch im kosmischen Maßstab. Für den Menschen heißt das, dass sein Wesen »seine eigene Tat« ist.13 Da dieses Wesen der Charakter seines Wollens ist, wie er aus  4 

Ders.: Die Metaphysik der Sitten. Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe Bd. 6 (Berlin 1907) 380.  5 Johann Gottlieb Fichte: Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre (Hamburg 1963) 24 f.  6  Ebd. 154.  7  Ders.: Die Bestimmung des Menschen (Hamburg 1962) 127.  8 Ders.: Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, a. a.O. [Anm. 5] 19.  9  Ders.: Wissenschaftslehre nova methodo, hg. von Erich Fuchs (Hamburg 1994) 124. 10 Ders.: Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, a. a.O. [Anm. 5] 195 ff. 11 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, hg. von Thomas Buchheim (Hamburg 1997) 23. 12  Ebd. 57. 13 Ebd.

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seiner Natur mit Notwendigkeit folgt, ist die Selbstbestimmung eine »intelligible Tat«,14 die aller Erkenntnis vorausgesetzt ist. Damit erklärt Schelling die menschliche Freiheit und das Bewusstsein der Verantwortlichkeit für das Handeln aus einem allem Wollen bestimmter Handlungen ewig zugrunde liegenden arationalen Wollen des eigenen Wesens. Dass der Mensch in dieser Weise einen guten oder bösen Willen haben kann, setzt wiederum die Bedingung der Möglichkeit des Bösen in der Welt voraus, die Schelling in der kosmischen Vorrangigkeit des Wollens sieht. Angeregt durch die Lektüre Jakob Böhmes (und Franz von Baaders) unterscheidet er im Willen Gottes zwei Aspekte, den »Willen der Liebe« und den »Willen des Grundes«,15 der notwendig mit dem ersten gegeben sein muss, weil das Eine sich entäußern muss, um die Liebe zu verwirklichen; dennoch ist er als der Grund der Existenz Gottes von dem als Liebe existierenden Gott geschieden und stellt das in Gott selbst dar, was »nicht Er selbst ist«.16 Der Wille des Grundes ist »Wille, in dem kein Verstand ist«, der aber »Sehnsucht und Begierde desselben« ist.17 Durch ihn liegt auch in der mit Verstand geordneten Welt immer noch »im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen«; er bildet »die unergreifliche Basis der Realität«,18 das Dunkel, aus dem der Verstand hervorgeht, dem er aber gerade deswegen nie ganz Herr werden kann. Diese latente Regellosigkeit im Grunde kann beim Menschen dazu führen, dass in ihm sich der Einzelwille vom Ziel der Vervollkommnung abwendet und als »bloße Sucht oder Begierde, d. h. blinder Wille« gegen den »Verstand als Universalwillen« stellt.19 So versucht Schelling, das Problem der Theodizee auf eine neue Weise zu lösen, indem er nicht aus Gott selbst, sondern aus dem Grund seiner Existenz die Möglichkeit des Bösen ableitet, die in der intelligiblen Tat des Menschen verwirklicht wird. Bei Schelling wird somit die Absolutheit des Willens mit dessen Arationalität verknüpft, so dass der Wille als Gegeninstanz zur Vernunft in den Blick zu kommen scheint. Aber auch hier bleibt der Wille des Grundes letztlich noch in den Willen der Liebe eingebunden; das Blinde und Irrationale in der Natur wie das Böse im Menschen werden im geschichtlichen Lauf der Offenbarung Gottes überwunden, deren Ausgangspunkt und Resultat der Verstand als Universalwille ist. Mit dieser an dem Problem der Theodizee orientierten Konzeption bringt Schelling den christlichen Voluntarismus zu Beginn des Jahrhunderts wieder zur Geltung, wie er zunächst von Augustinus und dann vor allem im Spätmittelalter für die Erklärung der Sünde vertreten worden war. Der vernunftlose, dunkle 14  Vgl.

Lore Hühn: Die intelligible Tat. Zu einer Gemeinsamkeit Schellings und Schopenhauers. In: Selbstbesinnung der philosophischen Moderne. Beiträge zur kritischen Hermeneutik ihrer Grundbegriffe, hg. von Christian Iber und Romano Pocai (Cuxhaven 1998) 55–94. 15  F. W. J. Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, a. a.O. [Anm. 11] 47. 16  Ebd. 31. 17  Ebd. 32. 18 Ebd. 19  Ebd. 35.

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Wille wird zur metaphysischen Grundlage von Natur- und Transzendentalphilosophie, wodurch die Gedanken der Irrationalität des Lebens und des Unbewussten im Handeln und Schaffen des Menschen besondere Prägnanz erhalten. Schelling hat seine Lehre vom Wollen als Ursein weiterentwickelt, vor allem in den Fragmenten über Die Weltalter und in den Vorlesungen über die Philosophie der Offenbarung. Da diese Aufzeichnungen erst sehr viel später veröffentlicht wurden, hatten sie zunächst keine über den Kreis der Hörer seiner Vorlesungen hinausgehende Wirkung. Auch der theologische Kontext, in dem Schelling seine Willenslehre entwickelt, mag dazu beigetragen haben, dass ihre auf spätere Entwicklungen in der Philosophie und Psychologie vorausweisenden Aspekte erst im 20. Jahrhundert gewürdigt wurden.20 Für die weitere Entwicklung des Willensbegriffs im 19. Jahrhundert ist daher Arthur Schopenhauer der wirkmächtigste Philosoph geworden. Schopenhauer, dessen Hauptwerk nun auch im Titel den Willen ins Zentrum rückt, greift Aspekte der Lehren Fichtes und Schellings auf, verknüpft sie aber zu einer eigenständigen Position, die eine radikale Kritik sowohl des Vernunftglaubens der Aufklärung als auch des Gottesbegriffs beinhaltet. Mit Fichte verbindet ihn die Auffassung vom Willen als dem Wesen des Menschen. Wie jener begründet er diese Auffassung damit, dass der Mensch sich nur als Wollender selbst bewusst wird, weil das Erkennen nicht Gegenstand irgendeiner Erkenntnis sein kann.21 Allerdings ist der Wille, der sich in innerer Erfahrung bekundet, nicht wie bei Fichte ein wesentlich vernünftiger, der in seiner Autonomie das Sittengesetz hervorbringt, sondern ein im Kern irrationales Streben, ein »blinder Drang«,22 wie er nicht nur dem mit der Fähigkeit zur vernünftigen Überlegung ausgestatteten Menschen, sondern auch der gesamten organischen und anorganischen Natur zugrunde liegt. Damit greift Schopenhauer Schellings metaphysische Konzeption vom dunklen Grund der Welt auf, freilich ohne dessen theologische Implikationen zu übernehmen;23 denn schon für den jungen Schopenhauer ist der Gottesbegriff philosophisch nicht haltbar. Beide Elemente werden von ihm durch eine Analogie verknüpft, was auch in methodischer Hinsicht eine Abkehr nicht nur von Fichte und Schelling, sondern von der neuzeitlichen philosophischen Tradition überhaupt mit sich bringt. 20  Dies gilt nur hinsichtlich des Willensbegriffs. Seine schon im System des Transzendentalen Idealismus (1800) vorgetragene und mit der Willenskonzeption in Beziehung stehende Lehre vom Unbewussten hatte etwa in Carl Gustav Carus’ Hauptwerk Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele (1846) Resonanz gefunden und wurde dann, wie noch zu sehen sein wird, von Eduard von Hartmann aufgegriffen. 21  Arthur Schopenhauer: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (21847). Sämtliche Werke, hg. von Arthur Hübscher (Wiesbaden 21946–1950) [= SW], Bd. 1, 140 ff. (§ 41). Vgl. Alessandro Novembre: Johann Gottlieb Fichte. In: Schopenhauer-Handbuch, hg. von Daniel Schubbe und Matthias Koßler (Stuttgart 2014) 231–236. 22  Ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1. SW Bd. 2, 212. 23  Zu Schelling und Schopenhauer vgl. Robert Jan Berg: Objektiver Idealismus und Voluntarismus in der Metaphysik Schellings und Schopenhauers (Würzburg 2003).

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Bereits in seiner Dissertation legt Schopenhauer im Rahmen der Erörterung des »Gesetzes der Motivation« eine Analyse bewusster, willkürlicher Handlungen vor,24 auf die er später eine Metaphysik des Willens aufbauen wird. Diese Analyse dürfte zwar durch Schopenhauers Fichte-Studium angeregt sein,25 geht aber von einem empirischen Standpunkt aus. So wird festgehalten, dass nur einzelne Willensakte in der Zeit Gegenstand des inneren Sinnes und damit innerer Erfahrung sein können, nicht aber der Wille als solcher oder das Subjekt des Wollens. Der Ort, an dem ein Willensakt erfahren wird, ist der Entschluss, denn in ihm scheidet sich das zur Tat führende Wollen vom bloßen Wünschen. Angesichts der aus dieser Analyse der unmittelbaren inneren Erfahrung sich ergebenden Alternative zwischen einer völligen Regellosigkeit der Entschlüsse oder der Annahme einer gewissen Gesetzmäßigkeit des Handelns nach Motiven spricht ein weiterer empirischer Befund für die letztere, nämlich die Beobachtung, dass bei gleichen aufweisbaren Motiven der eine Mensch so, der andere anders handelt, während umgekehrt dieselbe Person unter gleichen Umständen in der Regel die gleichen Entschlüsse trifft. Der freilich nur auf unsicherer Induktion beruhende Schluss von diesen Beobachtungen auf einen bestimmten Charakter der individuellen Handlungsweise führt zur Annahme eines der zeitlichen Erscheinungsform seiner Handlungen vorausgesetzten »gleichsam permanenten Zustands« des Subjekts des Wollens bzw. eines »außer der Zeit liegenden universalen Willensakt[s] […], von dem alle in der Zeit vorkommenden Akte nur das Heraustreten, die Erscheinung sind«.26 Damit fügt Schopenhauer den Schelling’schen Gedanken einer »intelligiblen Tat« in seine Überlegungen ein, jedoch ohne dessen metaphysischen Hintergrund; vielmehr bezieht er sich hier und auch später immer wieder auf Kants Lehre vom intelligiblen und empirischen Charakter als den Punkt, an dem seine Lehre vom Willen an Kant anschließe und zu dem Schelling nur »eine sehr schätzbare« Erläuterung gegeben habe.27 Erst in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) legt Schopenhauer seine aus dem empirischen Ansatz entwickelte Metaphysik des Willens vor. Auf dem Weg dahin verwirft er jegliche Form von Kausalität zwischen Wille und Handlung zugunsten einer Identitätsbeziehung, die er als »Sichtbarkeit« bezeichnet und mit verschiedenen Metaphern, vorzugsweise der des Spiegels, zu umschreiben versucht. Schopenhauers Willenslehre basiert auf dieser Identitätsbeziehung, durch die sie sich ausdrücklich von der Metaphysik Schellings absetzt. Der Willensakt, der immer noch den empirischen Ausgangspunkt bildet, wird nun zerlegt in einen äußeren Aspekt – die Handlung als Leibes24 A. Schopenhauer: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (11813). SW Bd. 7, 74 ff. 25 Vgl. ders.: Der Handschriftliche Nachlaß, hg. von Arthur Hübscher, Bd. 2 (München 1985) 348 f. 26  Ders.: Über die vierfache Wurzel, a. a.O. [Anm. 24] SW Bd. 7, 76. 27  Ebd. 77.

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aktion, die den Willen im Unterschied zum Wunsch kennzeichnet – und einen inneren Aspekt: das Gefühl, dass diese Leibesaktion anders als andere Bewegungen im Raum dem Subjekt als seine Tat zuschreibt, in der sich dessen Wille kundtut. Zur Erkenntnis des Willens gehören notwendig beide Aspekte: das unmittelbare Bewusstsein eines inneren Wollens, das mit der äußeren Bewegung des Leibes zusammenfällt, als Gefühl aber unbestimmbar bleibt; und die über den Rückschluss von den Handlungen vermittelte Erkenntnis der Einheit und Bestimmtheit des Willens als Charakter. Diese aus einem nur am je eigenen Leib erfahrbaren subjektiven Gefühl und hypothetischen Schlüssen zusammengesetzte Erkenntnis gibt dem erkennenden Subjekt »den Schlüssel zu seiner eigenen Erscheinung, offenbart ihm die Bedeutung, zeigt ihm das innere Getriebe seines Wesens, seines Thuns, seiner Bewegungen«.28 Dieses innere Wesen ist zu unterscheiden von den bewussten Willensakten, in denen es sich zu erkennen gibt. Wenn Schopenhauer es auf den Begriff des Willens bringt, der als Ding an sich im Kantischen Sinne bezeichnet wird, so betont er daher, dass es sich nur um eine inadäquate Benennung handelt, die eine »Erweiterung des Begriffs« verlangt, durch die der Wille nicht nur das Innere der bewussten Handlungen, sondern aller Leibesaktionen bezeichnet.29 Dieser methodische Schritt, der von Schopenhauer deutlich als »Anwendung der Reflexion« von der unmittelbaren inneren Erfahrung abgehoben wird,30 ist von besonderer Bedeutung für den Willensbegriff im 19. Jahrhundert, weil er den Übergang vom traditionellen Begriff des im Unterschied zum bloßen Begehren bewussten und verstandesgeleiteten Willens zum umfassenderen, das Triebhafte und Unbewusste einschließenden begründet. Anders als Schelling beansprucht Schopenhauer dabei, den Boden der Empirie nicht zu verlassen, sondern lediglich Schlüsse aus der inneren und äußeren Erfahrung zu ziehen. Dazu gehört auch die Übertragung des Verhältnisses zwischen dem Willen als Ding an sich und der Erscheinung beim Menschen auf die gesamte Natur durch eine »Analogie«.31 Der Analogie liegt der Gedanke zugrunde, dass sich in der Natur wie beim Charakter des Menschen aus den zu beobachtenden Bewegungen und Veränderungen charakteristische Gesetzmäßigkeiten feststellen lassen, hier aber eine unmittelbare Auskunft über das Innere der Vorgänge, über die vorausgesetzten Naturkräfte fehlt. Da uns außer äußerer und je eigener innerer Erfahrung nichts gegeben ist, sind wir nach Schopenhauer berechtigt, die eigene leibliche Erfahrung »weiterhin als einen Schlüssel zum Wesen jeder Erscheinung in der Natur« zu gebrauchen und zu schließen, dass das Wesen aller Erscheinungen »das selbe seyn muß, als was wir an uns Wille nennen«.32

28 

Ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1. SW Bd. 2, 119. Ebd. 132. 30  Ebd. 131. 31  Ebd. 125. 32 Ebd. 29 

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Auf der Basis dieser als ›Analogieschluss‹ in die Literatur eingegangenen Reflexionen entwickelt Schopenhauer eine Naturphilosophie, nach der der Wille als Ding an sich in einer Vielzahl von Erscheinungen auftritt, in denen er sich als »Wille zum Leben«33 in stetem Kampf um die Erhaltung und Steigerung der jeweiligen Objektivationsform (Idee) selbst entgegentritt. Die Entzweiung des einheitlichen Grundes, die bei Schelling zwar auch mit der Möglichkeit des Bösen verbunden, aber letztlich in die Liebe Gottes eingebunden war, ist hier nur noch das, was die Welt als »Hölle« erscheinen lässt.34 Und die aus dem Kampf ums Überleben resultierende Steigerung der Vollkommenheit in der Manifestation des Willens führt in der höchsten Stufe, dem Menschen, der sich diese wesentliche Verfasstheit der Welt zu Bewusstsein bringt, nur dazu, den Willen als das Wesen der Welt zu verneinen. Die naturphilosophische Konzeption, die in manchen Aspekten Ähnlichkeit mit der 40 Jahre später von Darwin vorgelegten Evolutionstheorie aufweist, beinhaltet auch die These, dass der Intellekt sich im Lauf der naturgeschichtlichen Entwicklung als ein Werkzeug im Kampf ums Überleben erst herausgebildet hat, dass also Verstand und Vernunft ursprünglich und natürlicherweise im »Dienste des Willens« stehen.35 Damit ist die Umkehrung des Verhältnisses zwischen Wille und Intellekt, wie es im 18. Jahrhundert selbstverständlich war, vollendet: Wenn dort der Wille das Begehren war, das unter der Leitung und Herrschaft von Verstand und Vernunft steht, so ist er nun das wesentlich blinde und bewusstlose Begehren, sich selbst zu erhalten und zu steigern, das Verstand und Vernunft beherrscht. Unter der Herrschaft des blinden Willens ist das Leben nicht nur wegen des Überlebenskampfes und der Gewissheit des Todes vom Leiden geprägt; die Struktur eines Begehrens, das sich selbst zu erhalten bestrebt ist, beinhaltet, dass jede Befriedigung sogleich in erneute Bedürftigkeit übergeht und dass der den Menschen natürliche Egoismus leicht in Bosheit übergeht, wenn der eigene Wille in die Sphäre des Anderen eingreift. Der Pessimismus im Hinblick auf die Möglichkeit einer Verbesserung des Lebens sowohl in individueller als auch geschichtlicher Perspektive ist eine Konsequenz der Willensmetaphysik. Die Lehre vom »Primat des Willens im Selbstbewußtseyn« und der Unterordnung des Intellekts unter den Willen, die ihm eine sekundäre, ja eigentlich tertiäre Stellung gibt, da er physisch vom Organismus, dieser aber wiederum metaphysisch vom Willen abhängt, untermauert Schopenhauer durch eine Reihe von neurophysiologischen und psychologischen Beobachtungen, bei denen der Geschlechtstrieb als »Brennpunkt des Willens« und stärkste Bejahung des Lebens eine herausgehobene Rolle spielt.36 Zusammenfassend lassen sich drei Aspekte festhalten, unter denen der Wille bei Schopenhauer zum Leitbegriff der Philosophie wird: 1. als phänomenologisch zu erschließende Wesensbestimmung 33 

Ebd. 324. Ebd. 421. 35  Ebd. 181. 36  Ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2. SW Bd. 3, 224 ff., 268. 34 

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des Menschen (intelligibler Charakter), 2. Als Fundament einer »immanenten« Metaphysik (Welt als Wille) und 3. als Instanz einer empirischen Psychologie des Unbewussten. Im 19. Jahrhundert hat vor allem der zweite Aspekt eine bedeutende Rezeption erfahren. Dabei ist zu beachten, dass der eigentümlich hermeneutische bzw. protohermeneutische Zugang zum Willen als Ding an sich, mit dem sich Schopenhauer von der traditionellen, auf kausalen Erklärungsmodellen beruhenden transzendenten Metaphysik abzugrenzen versucht, übergangen wird. Schopenhauer hat sich immer explizit gegen eine substantialistische Auffassung des Willens verwahrt. Der Willensbegriff ist ein Mittel, mit dessen Hilfe »das Ganze der Erfahrung […] aus sich selbst gedeutet, ausgelegt werden« kann37 und bleibt in unaufhebbarer Differenz zu dem Ding an sich, das er auf diese Weise nur mittelbar bezeichnet; die Frage, was dieses ist, unabhängig davon, dass es als Wille erscheint, »ist nie zu beantworten«.38 Diese Differenz ermöglicht es Schopenhauer, in der Ästhetik und Ethik Wege zur Erlösung von der Vorherrschaft des Willens zu finden, die in der »Verneinung des Willens zum Leben« ihren höchsten Ausdruck finden.39 Schopenhauer wurde lange Zeit kaum zur Kenntnis genommen. Eine frühe, nicht explizit gemachte Rezeption seiner Willenslehre meint Schopenhauer selbst bei einigen Naturwissenschaftlern ausmachen zu können, etwa bei dem Medizinprofessor Johann Dietrich Brandis. Schopenhauer äußert 1836 diese Vermutung in der Schrift Über den Willen in der Natur, allerdings kommt es ihm in ihr vor allem darauf an, zu zeigen, dass seine Lehre auch ganz unabhängig von der Kenntnis seines Werks durch die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung bestätigt wurde. Und er kann in der Tat eine Reihe von Beispielen anführen, in denen Naturkräfte auf einen Willen zurückgeführt werden. So zitiert er u. a. Brandis mit dem Begriff eines »organischen Willens ohne Vorstellung«,40 ähnlich Karl Friedrich Burdach, Gottfried Reinhold Treviranus und Johann Friedrich Meckel, den Astronom John Herschel, der die Schwerkraft als »Ergebniß eines Bewußtseyns und eines Willens« ansieht,41 und andere. Was Schopenhauer dabei verschweigt, ist, dass die meisten seiner Gewährsmänner dem Kreis der romantischen Naturphilosophie zugerechnet werden und zum Teil als Kollegen oder Studenten Kontakt zu Schelling hatten. Obwohl also die von Schopenhauer behaupteten Übereinstimmungen mit seiner Lehre vermutlich auf gemeinsame Wurzeln zurückzuführen sind, demonstriert die Zitatensammlung, die auch ältere Beispiele von Lamarck und Cuvier einschließt, dass Schopenhauers ›Analogieschluss‹ auf den Willen in der Natur bei den Naturwissenschaftlern seiner Zeit auf eine gewisse Affinität stoßen konnte.

37 

Ebd. 202 f. Ebd. 221. 39  Ebd. Bd. 1. SW Bd. 2, 447. 40  Ders.: Über den Willen in der Natur. SW Bd. 4, 11. 41  Ebd. 81. 38 

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Erst um die Mitte des Jahrhunderts begann sein, allerdings dann sehr schnell verlaufender Aufstieg zum einflussreichsten Denker in Europa. Seine Willenslehre wurde nicht nur in der Philosophie, sondern auch in Literatur und Kunst mit Begeisterung aufgenommen. Um nur einige Beispiele zu nennen: Leo Tolstoj nahm im Epilog zu seinem 1868/69 erschienenen Romans Krieg und Frieden Bezug auf sie, Max Klinger versah Mitte der 70er Jahre Bilder mit SchopenhauerZitaten und Richard Wagner schloss sich in seiner musiktheoretischen Schrift Beethoven (1870) der Lehre Schopenhauers von der Musik als unmittelbarem Abbild des Willens an. Wagner, der wie die meisten der frühen SchopenhauerAnhänger von Schelling und Hegel her kam, veränderte dabei, ohne sich dessen bewusst zu sein, die rezeptionsästhetisch ausgerichtete Musikphilosophie Schopenhauers im Sinne einer Produktionsästhetik: Während bei Schopenhauer das Musikerlebnis wie die Kunstbetrachtung überhaupt als Kontemplation des metaphysischen Willens gedeutet wird, bei der der Wille selbst des betrachtenden Individuums – und auch des Künstlers, der die Kontemplation ins Werk umsetzt – »aus dem Spiel bleibt«,42 zielt Wagner darauf ab, dass »der im bildenden Künstler durch reines Anschauen zum Schweigen gebrachte individuelle Wille im Musiker als universeller Wille wach wird«.43 Diese Konzeption, nach der sich in der Musik der Wille »laut verkündet«,44 hatte großen Einfluss auf den jungen Nietzsche. Eine eigenständige Weiterentwicklung der Willensmetaphysik findet sich etwa zeitgleich bei Eduard von Hartmann und Julius Bahnsen. Inzwischen war auch das Spätwerk Schellings aus dem Nachlass veröffentlicht worden,45 so dass sich hier die Einflüsse vermischen. Dies dürfte auch dazu beigetragen haben, dass, wie schon bemerkt, der hermeneutische Charakter der Schopenhauerschen Willensmetaphysik zugunsten einer traditionell-metaphysischen substantialistischen Lesart übergangen wurde. Recht deutlich wird das bei Eduard von Hartmann, der 1869 die »logische Idee« Hegels und den »unlogischen Willen« Schopenhauers den beiden Prinzipien Schellings, dem »Was« und dem »Dass der Dinge«, zuordnet und sie als Attribute einer »identischen individuellen Substanz« betrachtet, die als der »alleine unbewusste Geist« der Welt zugrunde liegt.46 In seiner Philosophie des Unbewussten legt Hartmann mit einem ähnlichen Anspruch wie Schopenhauer, von der empirischen Naturwissenschaft auszugehen, die Erscheinungsweisen des unbewussten Geistes dar. Dieses Werk stellt sozusagen eine mit Anleihen bei 42 

Ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2. SW Bd. 3, 516. Wagner: Beethoven. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, Bd. 9, hg. von Dieter Borchmeyer (Frankfurt a. M. 1983) 50. 44  Ebd. 51. 45 Die Philosophie der Offenbarung erschien 1856–1858, die Weltalter-Fragmente wurden 1861 veröffentlicht. 46  Eduard von Hartmann: Schelling’s positive Philosophie als Einheit von Hegel und Schopenhauer (Berlin 1869) 16, 60 f. 43  Richard

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Schelling zustande gebrachte substanzmetaphysische Version der Lehre Schopenhauers dar, bei der an die Stelle der Schopenhauerschen Abstraktion eines blinden Willens der eher traditionelle, notwendig mit der Vorstellung verknüpfte Wille tritt, der so als unbewusster Geist zu einem instinktiv zweckvoll, aber ursprünglich bewusst- und vernunftlos handelnden Weltwesen wird. Die unter diesem Zweckbegriff stehende Evolution in der Natur bringt erst das Bewusstsein und damit die »Emancipation der Vorstellung vom Willen« hervor, durch die zugleich der unvernünftige Wille in »Opposition« zum Bewusstsein tritt.47 Aus der Opposition geht auf metaphysischer Ebene ein »Kampf des Logischen mit dem Unlogischen« hervor,48 an dessen Ende die universale Aufhebung »alles Wollens in’s absolute Nichtwollen« steht.49 Da diese Umwendung des Wollens ins Nichtwollen das Ziel des Weltprozesses ist, sieht Hartmann die angemessene Haltung des Menschen nicht in der individuellen Verneinung des Willens zum Leben, sondern im Gegenteil in der Hingabe an diesen Weltprozess, in der »Bejahung des Willens zum Leben […], in der vollen Hingabe an das Leben und seine Schmerzen«, jedoch um »der allgemeinen Welterlösung willen«.50 Etwa zur gleichen Zeit entwickelte Julius Bahnsen eine andere substantialistische Variante der Willensmetaphysik, die er in seinem später erschienenen Hauptwerk Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt (1880–1882) zu einer »Willenshenadologie« ausarbeitete.51 Hier ist der Wille das Wesen der Welt nicht als All-Einheit, sondern als eine Vielheit von Einzelwillen, den Willens»Henaden«.52 Nicht nur in diesem Punkt, sondern auch bei der Analyse von Willensakten weicht Bahnsen sowohl von Schopenhauer als auch von Hartmann ab. Während bei Schopenhauer der Wille sich erst und nur in der Handlung erweist und man daher zwar Entgegengesetztes wünschen, aber immer nur Eines wollen kann,53 ist der Wille bei Bahnsen in sich selbst widersprüchlich, da jedes bestimmte Wollen die Negation eines möglichen anderen oder entgegengesetzten bestimmten Wollens und damit eine Minderung seiner Aktivität bedeutet, die sich in dem jedes Wollen begleitenden Nichtwollen niederschlägt: Die Willenshenade ist »Ens volens indemque nolens«,54 und aus dieser Widersprüchlichkeit resultiert das Prinzip einer die Welt durchziehenden »Realdialektik« sich stets durchkreuzender Willensbestrebungen, die sich selbst noch in die Sphäre des 47  Ders.: Philosophie des Unbewussten. Versuch einer Weltanschauung (Berlin 1869, Nachdr. Hildesheim 1989) 349. 48  Ebd. 634. 49  Ebd. 638. 50 Ebd. 51  Vgl. Winfried H. Müller-Seyfarth: Julius Bahnsen. Realdialektik und Willenshenadologie im Blick auf die ›postmoderne‹ Moderne. In: Schopenhauer und die Schopenhauer-Schule, hg. von. Fabio Ciracì u. a. (Würzburg 2009) 231–245. 52  Julius Bahnsen: Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt. Princip und Einzelbewährung der Realdialektik. Bd. 1 (Berlin 1880) 173. 53  A. Schopenhauer: Die beiden Grundprobleme der Ethik. In: SW Bd. 4, 17. 54  J. Bahnsen: Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt, a. a.O. [Anm. 52] 174.

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Logischen, das im Dienst des Willens steht, fortsetzt.55 Aus dem Leid, das mit diesem Prinzip verbunden ist, gibt es keine Erlösung; die ästhetisch-moralische Haltung, die der Mensch, das »Tragische als Weltgesetz« reflektierend, einnehmen kann, ist der Humor.56 Auf der Verbindung der Annahme einer Pluralität von Willenssubstanzen mit dem Erlösungsgedanken in der Art Hartmanns beruht die Philosophie der Erlösung Philipp Mainländers. Die Vielheit der realen, widerstreitenden Individualwillen wird demnach auf den Zerfall einer transzendenten Einheit zurückgeführt, der wiederum als der Entschluss Gottes, »nicht zu sein«,57 gedeutet wird: »Gott ist gestorben und sein Tod war das Leben der Welt«,58 das Leben aber ist nur ein »retardierendes Moment«59 in dem über die Vervielfältigung und Schwächung der Kräfte zum Nichts verlaufenden Prozess. Die Rede von Gott will Mainländer, der wie Hartmann und Bahnsen auch auf dem Boden einer immanenten, naturwissenschaftlich orientierten Philosophie zu stehen beansprucht, dabei als bloß regulativen Gedanken verstanden wissen, aus dem die Bewegung der Individualwillen auf das Nichts hin als Impuls erklärt wird, den sie aus dem Todeswillen Gottes erhalten haben. Der individuelle Wille ist »blind«, sein Wesen »ist reiner Trieb, reiner Wille, immer folgend dem Impulse, den er im Zerfall der Einheit in die Vielheit erhielt«.60 Auch die Vernunft steht im Dienste dieses Willens zum Tode, indem sie die natürliche Bewegung durch die Einsicht, dass das Nichtsein dem Sein vorzuziehen ist, beschleunigt. Auf der gesellschaftlichen Ebene folgt daraus für Mainländer die Forderung nach einer höchstmögliche Bildung für alle ermöglichenden sozialistischen Politik (die ähnlich wie bei Hartmann das Paradox einer nihilistischen Eudämonologie beinhaltet); individuell ist für ihn der Selbstmord eine vernünftige Handlung.61 Bei Mainländer ist die traditionelle, noch bei Schelling zugrunde liegende Metaphysik, nach der die Welt der Güte und Weisheit Gottes entspringt und daher auf ein vernunftgemäßes sittliches Leben abzielt, vollends in eine Metaphysik des Nihilismus gewendet. Eine gewisse, wenn auch freilich nicht zwingende Kon55 Vgl.

W. H. Müller-Seyfarth: ›Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur sein Schüler bleibt’. Die Schüler Schopenhauers und ihr Anspruch auf den Meisterschüler. In: Schopenhauer-Jahrbuch 92 (2011) 223–243, hier 231. 56  J. Bahnsen: Das Tragische als Weltgesetz und der Humor als ästhetische Gestalt des Metaphysischen (Lauenburg i. P. 1877, Nachdr. Berlin 1995). Zu Bahnsen vgl. auch Konstantin Alogas: Das Prinzip des Absurden. Eine historisch-systematische Untersuchung zur modernen Erkenntniskritik (Würzburg 2014). 57  Philipp Mainländer: Die Philosophie der Erlösung, Bd. 1 (Berlin 1876, Nachdr. Hildesheim 1996) 323 ff. 58  Ebd. 108. 59  Ebd. 329. 60 Ebd. 61 Vgl. Michael Gerhard: Politik des Pessimismus – Pessimismus der Politik, oder Philipp Mainländer und Die sociale Aufgabe der Gegenwart. In: Politik und Gesellschaft im Umkreis Arthur Schopenhauers (Internationale Mainländer-Studien), hg. von Matthias Koßler (Würzburg 2008) 65–82.

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sequenz führt von der Annahme eines arationalen Willens als Wesen zu einem derartigen Denken. Diese Konsequenz ist auch vor dem Hintergrund des Aufstiegs der Naturwissenschaften zu betrachten. So wie bei Naturwissenschaftlern schon früh die Willensmetaphysik auf Interesse gestoßen war, beanspruchten die Philosophen, ihre »immanenten« Willensmetaphysiken aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ableiten zu können. Die in dieser Zeit von Helmholtz vorgetragene kosmologische Theorie des Wärmetods des Universums aufgrund des Entropiegesetzes etwa entspricht genau den Grundsätzen der Philosophie Mainländers, die auch als »Philosophie der Entropie« bezeichnet wurde.62 Die nihilistischen Konsequenzen der Willensmetaphysiken zu bekämpfen, war ein Hauptanliegen der Philosophie und insbesondere der Willenslehre Friedrich Nietzsches. Vor allem Hartmann, der mit seiner Kombination aus Pessimismus und Fortschrittsglauben den Geist seiner Zeit getroffen hatte (sein Hauptwerk erreichte noch zu Lebzeiten 12 Auflagen), geriet als Philosoph der »unbewußten Ironie« immer wieder ins Fadenkreuz der Polemik.63 In systematischer Hinsicht zielt seine Kritik, in die er auch Schopenhauer und sogar Kant mit einbezieht, auf die metaphysische Bestimmung des Willens und auf den »Pessimismus der Schwäche«, den er als Phänomen der »décadence« betrachtet.64 Obwohl Nietzsche sich anfangs noch ganz in der Begriffswelt Schopenhauers bewegt und auch den pessimistischen Gedanken, dass »der absterbende Wille (der sterbende Gott) zerbröckelt in die Individualitäten«, noch vor dem Erscheinen von Mainländers Hauptwerk notiert,65 zeigt sich bereits in seiner ersten philosophischen Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), dass er einen anderen Weg einschlägt, der schließlich zur Konzeption des Willens als »Wille zur Macht« führen wird. Indem er den Willen im Schopenhauerschen Sinne der künstlerischen Macht des »Dionysischen« zuordnet, das als Zustand des »Rausches«, als »glühendes Leben« charakterisiert wird,66 und in dessen Feiern »das ganze Uebermass der Natur in Lust, Leid und Erkenntniss« laut wird,67 liegt hier schon, wie Nietzsche in der Selbstkritik zu diesem Frühwerk schreibt, der »fürsprechende Instinkt des Lebens« zugrunde.68 Der dionysische Wille steht für das Leben als eine schöpferische, sich steigernde Kraft. Später, in Also sprach Zarathustra (1883), grenzt Nietzsche diesen Willensbegriff als »Wille zur Macht« von Schopenhauers »Wille zum Leben« scharf ab: »Nur wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – 62 

Vgl. dazu W. H. Müller-Seyfarth: Metaphysik der Entropie. Philipp Mainländers transzendentale Analyse und ihre ethisch-metaphysische Relevanz. (Berlin 2000) 75 ff. 63  Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Werke. Kritische Gesamtausgabe [= KGW], hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Berlin, New York 1967 ff.) Bd. III/1, 307. 64  Ders.: Nachgelassene Fragmente 1888/1889. KGW Bd. VIII/3, 21 65  Ders.: Nachgelassene Fragmente 1869–1872. KGW Bd. III/3, 74. 66  Ders.: Die Geburt der Tragödie. KGW Bd. III/1, 25. 67  Ebd. 36 f. 68  Ebd. 13.

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Wille zur Macht!«69 In einer Aufzeichnung aus der zweiten, den Wissenschaften zugewendeten Werkphase, wird diese Abgrenzung im Zuge einer Analyse der Rede vom Willen zum Leben, die zunächst als »glücklicher Fund« Schopenhauers eingeführt wird, vorbereitet. Wenn der Wille das Leben selbst ist, so lautet jedoch der erste Einwand, dann kann es keinen Willen zum Leben geben, der dem Leben vorausging. Mit dieser trivial anmutenden Beobachtung sind die substanzmetaphysischen Vorstellungen von einem Willen als Grund des Lebens, wie sie bei Hartmann und Mainländer zu finden sind, abgelehnt. Aber freilich sieht Nietzsche die Bedeutung des Ausdrucks für gewichtiger an, die ihm seiner Meinung nach Schopenhauer (und wohl auch Darwin und andere) gegeben haben, nämlich als »Wille im Leben zu bleiben, also […] Erhaltungstrieb«. Eine psychologische Analyse der Selbstwahrnehmung gibt aber keinen Hinweis auf einen solchen Erhaltungstrieb, sondern wenn der Mensch in sein Inneres blickt, findet er nur »Lust- oder Unlustempfindungen«; der Erhaltungstrieb ist daher nur ein »unklares irreführendes Wort für […] den Willen zur Lust«.70 Das Streben nach Lust ist zwar eine »universelle«, aber »keine erste ursprüngliche Thatsache«.71 In seiner Auseinandersetzung mit dem Christentum, dessen Moral er als Ausdruck des Ressentiments, als »Aufstand der Schlechtweggekommenen« entlarvt,72 kommt Nietzsche zu der Überzeugung, dass der Grundantrieb zu allen Formen des Strebens nach Lust und damit allen Lebens, selbst wenn es sich in Mitleid und Askese vordergründig gegen die Lust und gegen das Leben selbst wendet, der Wille zur Macht, zum Herrschen und Beherrschen ist. In Jenseits von Gut und Böse (1886) wird das »Befehlen und Gehorchen« als die intrinsische Struktur des Wollens selbst entwickelt,73 wobei der Wille als »etwas Complicirtes, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist«, von den bisherigen Willensverständnissen, namentlich von der von Schopenhauer zugrunde gelegten Auffassung, der Wille sei etwas jedem unmittelbar Bekanntes, abgehoben wird. Der Wille ist demnach »nicht nur ein Complex von Fühlen und Denken, sondern vor Allem noch ein Affekt und zwar jener Affekt des Commando’s«. Insofern bei einer willentlichen Handlung der Befehlende und die gehorchenden »Werkzeuge« des Leibes eine Zweiheit sind, über die wir die Gewohnheit haben, uns »vermöge des synthetischen Begriffs ›ich‹ hinwegzusetzen, hinwegzutäuschen«, entsteht der Glaube an die »Freiheit des Willens«, nämlich daran, dass der Wille und die Aktion Eins seien, und der Wollende »genießt dabei einen Zuwachs jenes Machtgefühls, welches alles Gelingen mit sich bringt.« Zugleich bewirkt die Illusion der Einheit von Wille und Aktion, dass der Wollende »die Lustge69  Ders.: Also

sprach Zarathustra. KGW Bd. VI/1, 145. Zum Verhältnis der Willensbegriffe bei Schopenhauer und Nietzsche vgl. Friedhelm Decher: Wille zum Leben – Wille zur Macht (Würzburg 1984). 70  F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1876/77. KGW Bd. IV/2, 502 f. 71  Ebd. 503. 72  Ders.: Nachgelassene Fragmente 1887/1888. KGW Bd. VIII/2, 336. 73  Ders.: Jenseits von Gut und Böse. KGW Bd. VI/2, 25 ff.

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fühle der ausführenden, erfolgreichen Werkzeuge, der dienstbaren Unterwillen oder Unter-Seelen – unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen – zu seinem Lustgefühle als Befehlender« hinzunimmt. Indem dieser Wille zur Macht die »Herrschafts-Verhältnisse« begründet, »unter denen das Phänomen ›Leben‹ entsteht«, sind in ihm die vorherigen Bestimmungen des Willens als Leben und als Wille zur Lust aufgehoben.74 Nietzsche entwirft auch den Plan einer auf dieser Einsicht aufbauenden Lehre, nach der »unser gesammtes Triebleben« und »alle organischen Funktionen«, auf den Willen zur Macht zurückzuführen wären: »Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ›intelligiblen Charakter‹ hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben ›Wille zur Macht‹ und nichts ausserdem.«75 Die Rede vom intelligiblen Charakter erinnert an die Herleitung des Willensbegriffs bei Schopenhauer, die zur Konzeption des Willens als Schlüssel zur Auslegung und Deutung der Welt führte. Diese hermeneutische Funktion des Begriffs war zwar deutlich ausgesprochen, aber methodisch nur rudimentär entwickelt; viele Formulierungen und Unklarheiten, vor allem aber die Verwendung der Kantischen Terminologie (Ding an sich), hatten der substantialistischen Auffassung der Willensmetaphysik Vorschub geleistet. Nietzsche, der nun gegen diese Auffassung zu Felde zieht, greift den Gedanken von der »WeltAuslegung« auf und verfolgt ihn konsequenter.76 Dazu gehört zunächst, dass er jede unmittelbare Bekanntschaft mit dem Willen im Selbstbewusstsein, wie zu sehen war, ausschließt. Damit wird auch das Subjekt des Willens zur Macht zu einer Sache der Interpretation: »[…] das ›Subjekt‹ ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes.«77 So wie der Leib als »Gesellschaftsbau vieler Seelen« bezeichnet wurde, stellt der Wille zur Macht auch keine Einheit dar. Der Organismus ist eine »perspektivische innere Vielheit«, der eine Vielheit sich bekämpfender, überwindender und zusammenschließender »Willens-Quanta« oder »Machtquanten« ist.78 Die Problematik der Einheit des Willens, die bei Schopenhauer schon erkannt, aber nicht weiter verfolgt worden war, scheint hier eine Auflösung im Sinne der Henaden Bahnsens zu finden, doch fällt die Annahme von individuellen Willenssubstanzen ebenso dem Perspektivismus zum Opfer. Nietzsche zieht die Konsequenz aus dem hermeneutischen Charakter des Willensbegriffs, wenn er schreibt: »es giebt keinen Willen: es giebt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren.«79 Schließlich wird auch der Umstand, dass die Auslegung des Lebens auf den Willen zur Macht hin selbst nicht außerhalb der Perspektivität steht, berücksichtigt.

74 

Ebd. 26–28. Ebd. 51. 76  Ders.: Nachgelassene Fragmente 1885–1887. KGW Bd. VIII/1, 92. 77  Ebd. 323. 78  Ders.: Nachgelassene Fragmente 1888/1889. KGW Bd. VIII/3, 49 und 54. 79  Ders.: Nachgelassene Fragmente 1887/1888. KGW Bd. VIII/2, 279 f. 75 

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»Unsre Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen.«80 Der Leib, der »eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne« ist, ist es letztlich, was »Werth und Willen schuf«.81 Mit dem Satz: »es giebt keinen Willen«, spricht Nietzsche aus, was das in den Kategorien der Substanz und des Dings verlaufende Denken angesichts des bloß hermeneutischen Charakters dieses Begriffs sagen muss, wie zu seiner Zeit etwa Ernst Mach82 und dann im 20. Jahrhundert die Analytische Philosophie, die ihn als sinnlosen metaphysischen Begriff zu entlarven sucht. Aber Nietzsche ist weit davon entfernt, bei diesem Resultat zu bleiben. Es gibt »einen Namen für diese Welt« und »eine Lösung für alle ihre Räthsel«, nämlich: »Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!«.83 Denn auch noch jene Kategorien, unter denen sich der Mensch seine Welt zurechtlegt, sind demnach Werkzeuge des Willens zur Macht, Mittel, die Herrschaft über die Natur zu erringen, wie seine Werte Mittel sind, die Herrschaft über den Menschen zu befestigen. Und als solche sind sie nur »ein Pfad und Fusstapfen« des Willens zu Macht, den er in einer »neuen Überwindung« hinter sich lässt.84 Die hier aufgezeigte Entwicklung des Willens zum Leitbegriff einer säkularisierten und nachaufklärerischen Metaphysik85 war nicht unabhängig von dem für das 19. Jahrhundert ebenfalls charakteristischen Aufstieg der Psychologie, die zunächst im Verein, später auch in Konkurrenz mit den Naturwissenschaften beanspruchte, die Philosophie als Grundwissenschaft abzulösen. Die von Schopenhauer zum Ausgangspunkt genommene Analyse des Willensaktes ist auch im Kontext der von Jakob Friedrich Fries, Johann Friedrich Herbart und Friedrich Eduard Beneke ausgehenden Entwicklung der an den Naturwissenschaften orientierten Psychologie zu sehen. Insbesondere das mit dieser Orientierung verbundene methodische Verfahren, von den empirischen Erkenntnissen der Naturwissenschaften auf deren metaphysische Bedingungen zu schließen, wie es in Herbarts Postulatenlehre und der »induktiven Metaphysik« Rudolf Hermann Lotzes und Wilhelm Wundts angewandt wurde, hat eine gewisse Nähe zur Begründung der Willensmetaphysik bei Schopenhauer. Doch spielte hier wie in 80 

Ders.: Nachgelassene Fragmente 1885–1887. KGW Bd. VIII/1 323. Ders.: Also sprach Zarathustra. KGW Bd. VI/1, 35 f. 82  Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältniss des Physischen zum Psychischen (1885) (Jena 41903) 132 ff. 83  F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885. KGW Bd. VII/3, 339. 84  Ders.: Also sprach Zarathustra. KGW Bd. VI/1, 144 f. 85  Obwohl Nietzsche nach seiner ersten Werkphase konsequent als Metaphysikkritiker auftrat, kann man auch den Willen zur Macht noch als metaphysischen Begriff bezeichnen, sofern man darunter einen Begriff versteht, der den Ereignissen und Dingen in der Welt nur Einheit und Zusammenhang verschafft, ohne dass damit eine substantielle Einheit behauptet wäre. Vgl. dazu Volker Gerhardt: Vom Willen zur Macht. Anthropologische Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches (Berlin, New York 1996) 288. Diesen Metaphysikbegriff muss man auch schon bei Schopenhauers Verwendung des Willens als »Schlüssel« ansetzen, wenngleich er hier noch nicht immer konsequent berücksichtigt wurde. 81 

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der auf Metaphysik verzichtenden rein empirischen Psychologie der Willensbegriff keine besondere Rolle. Von Herbart wird der Wille als »Begehren, verbunden mit der Voraussetzung der Erfüllung«, definiert, wobei das Begehren einen »Zustand von Vorstellungen« bezeichnet,86 also dem Vorstellungsvermögen zugeordnet wird. Lotze unterscheidet zwischen Trieb und Wille, wobei die Triebe auf das allein innerlich wahrnehmbare »Gefühl« zurückgeführt werden, »das in Lust und Unlust uns den Wert eines vielleicht nicht zu bewußter Einsicht kommenden körperlichen Zustands verrät«, während vom Willen dann zu sprechen sei, wenn »in deutlichem Bewußsein jene Triebe, die zu einer Handlung drängen, wahrgenommen worden, die Entscheidung darüber jedoch, ob ihnen gefolgt werden soll oder nicht, erst gesucht und […] der bestimmenden freien Wahl des von ihnen nicht abhängigen Geistes überlassen wird«.87 Lotze sieht aber auch, dass die hierbei vorausgesetzte Annahme der Freiheit problematisch ist, insofern sie nur auf der »Überzeugung unserer Vernunft« beruht, die mit dem »widersprechenden Anschein unserer Erfahrung in Einklang zu bringen« ist.88 Friedrich Albert Lange zieht 1875 die Konsequenz aus dieser Problematik, dass es sich bei einem Willensakt, den er als »bewußten Willensimpuls« bezeichnet, »nur um einen organischen Vorgang gleich jedem andern« handelt und dass die Auffassung der »alten Psychologie« vom Willen als einem besonderen Vermögen abzulehnen ist. Wenn wir vom »Willen« reden, so fügen wir nur »ein zusammenfassendes Wort für diese Gruppe von Lebenserscheinungen hinzu«.89 Diese Tendenzen zu einer Physiologie des Willens dürften nicht ohne Einfluss auf die mittlere Phase in Nietzsches Schaffen gewesen sein, in der er den Willen zum Leben auf Empfindungen von Lust und Unlust reduziert. Erst bei Wilhelm Wundt spielt der Wille in der Psychologie eine bedeutendere Rolle. Wenn er sich auch explizit gegen Schopenhauer absetzt, so schlägt sich doch zumindest die zentrale Stellung, die der Wille im Anschluss an dessen Lehre in der Philosophie eingenommen hat, bei ihm nieder. Wundt beschreibt den »Willensvorgang« zunächst (1896) als einen »Gefühlsverlauf«, der sich dadurch auszeichnet, dass er, nachdem er in einen Affekt gemündet ist, »in eine plötzliche Veränderung des Vorstellungs- und Gefühlsinhalts über[geht], die den Affect momentan zum Abschluß bringt«.90 Dabei wendet er sich wie Lange gegen die bei älteren Psychologen zu findende Hypostasierung des Wollens zu einem »metaphysischen Willensvermögen«, aus dem die Willensakte hervorge86 

Johann Friedrich Herbart: Lehrbuch zur Psychologie (1816). Sämtliche Werke. Bd. 4, hg. von Karl Kehrbach und Otto Flügel (Langensalza 1891, Nachdr. Aalen 1964) 340, 380. 87  Rudolf Hermann Lotze: Mikrokosmos. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit (1856), Bd. 1 (Leipzig 61923) 286, 288. 88  Ebd. 292. 89  Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, hg. von Alfred Schmidt (Frankfurt a. M. 1974) 806 f. 90  Wilhelm Wundt: Grundriß der Psychologie (Leipzig 41901) 219.

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hen.91 Gleichzeitig wehrt er sich aber auch gegen eine Reduzierung der Analyse auf physiologische Vorgänge, da psychische Abläufe nur durch unmittelbare innere Erfahrung erfasst werden können; so kommt er auch zur Annahme von Gefühlen »der Entscheidung und der Entschließung« und zur Unterscheidung zwischen äußeren Willenshandlungen, die sich in Tätigkeit zeigen, und inneren, die sich nicht unmittelbar durch äußere Symptome verraten.92 Trieb- und Reflexhandlungen werden als besondere Formen unter die Willenshandlungen subsumiert.93 Trotz seiner metaphysikkritischen Äußerungen entwickelt Wundt in seiner späteren Schrift Sinnliche und übersinnliche Welt selbst ein »metaphysisches Weltbild«, das, indem der metaphysische Willensbegriff als »Postulat« verstanden wird, »an die Erscheinungen gebunden ist, in denen es sich manifestiert«, nicht so weit von der Lehre Schopenhauers entfernt ist, wie er vorgibt.94 Freilich möchte er sich von den früheren Willensmetaphysiken durch eine präzisere Bestimmung des Willens unterschieden wissen, die er auf seine psychologischen Analysen stützt. Der Wille kommt für ihn deshalb bei der Frage nach dem »Wesen alles Geschehens« in Betracht, weil der komplexe »Willensvorgang« der einzige psychische Prozess ist, der die Forderung, »typischer Repräsentant aller psychischer Erfahrungsinhalte zumal zu sein« erfüllt.95 Bei der Begründung der Metaphysik verfährt Wundt umgekehrt zu Schopenhauer, indem er den aus Gefühlen, Affekten, Trieb-, Reflex- und Entschlussaspekten zusammengesetzten Willensvorgang auf den charakteristischen »Schlußakt« reduziert und als »Prinzip der Willenseinheit« die »Einheit des Tuns« zugrunde legt.96 Die Psychologie und Philosophie Wundts hatte auch Einfluss auf William James und den amerikanischen Pragmatismus. Neben der das 19. Jahrhundert in besonderem Maße prägenden Entwicklung der Willensmetaphysik und der mit ihr in weiterem Zusammenhang stehenden Ausbildung der Psychologie gibt es noch einen dritten Bereich, in dem der Willensbegriff eine bedeutende Rolle spielte, nämlich den gesellschaftlichen, wie er in der Sozial-, Staats- und Rechtsphilosophie, später in Gesellschaftstheorien behandelt wurde. Hegel macht in seiner Rechtsphilosophie den Willen, der konkret allgemeiner Wille ist, zum tragenden Begriff der vom Recht über die Moralität zur Sittlichkeit verlaufenden und in der Weltgeschichte sich manifestierenden Bewegung des Bewusstwerdens seiner Freiheit. Dabei schließt er an die Gleichsetzung von Wille und Vernunft bzw. Wille und Denken bei Kant und Fichte an. Der Wille wird von ihm definiert als »die Intelligenz, sich wissend als das Bestimmende des Inhalts, der ebenso der ihrige, als er als seiend be-

91 

Ebd. 233. Ebd. 226, 228 f. 93  Ebd. 230 f. 94  Ders.: Sinnliche und übersinnliche Welt (Leipzig 1914) 345, 367. 95  Ebd. 338 f. 96  Ebd. 346. 92 

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stimmt ist«.97 Er ist »eine besondere Weise des Denkens«98 und hat als solcher seine Wahrheit und Wirklichkeit nur als allgemeiner Wille, wie er sich in den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnissen des »objektiven Geistes« manifestiert.99 Der Willensbegriff hat bei Hegel und im Hegelianismus, bei Marx und in den Staatstheorien jedoch nicht die hervorgehobene Bedeutung eines Schlüsselbegriffs des 19. Jahrhunderts. Denn in dieser Bestimmung, die den Auffassungen des 18. Jahrhunderts verbunden bleibt, steht der Willensbegriff in einer weit zurückreichenden Tradition der Rechts- und Staatsphilosophie. Charakteristisch für das 19. Jahrhundert ist dagegen seine herausragende Stellung in den Versuchen, der Welt einen Zusammenhang und eine einheitliche Bedeutung zu geben, nachdem sowohl die Religion als auch der Glaube an die Autonomie der Vernunft ihre Allgemeingültigkeit angesichts der Fortschritte naturwissenschaftlicher Erkenntnis verloren hatten; mit deren Ergebnissen war seitdem jede Weltdeutung in Einklang zu bringen.

97 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), hg. von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler (Hamburg 61959) § 468, 379. 98 Ders.: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Sämtliche Werke, hg. von Hermann Glockner Bd. 7 (Stuttgart-Bad Cannstatt 41964) § 4 Zusatz, 51. 99  Ders.: Enzyklopädie …, a. a.O. [Anm. 97] § 483 ff., 389 ff.

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Wissenschaft Zur philosophischen Geschichte einer Leitidee des 19. Jahrhunderts: Hauptrichtungen und -entwicklungen »Begriffe von Wissenschaft sind nicht Begriffe von Gegenständen, die in empirischer Wirklichkeit vorliegen, sondern von Aufgaben […]. Sie sind also, in Kantischem Sprachgebrauch, Ideen d. h. Begriffe, ›denen kein congruirender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann‹. Das gilt von allen Wissenschaften […].«1

I.  Einleitung: Ein Jahrhundert der Wissenschaft? Es mangelt nicht an Charakterisierungen des 19. Jahrhunderts als einem bzw. dem ›Jahrhundert der Wissenschaft‹ oder der Wissenschaften: Der Industrielle und Techniker Werner von Siemens spricht bereits 1886 von ihm als einem »naturwissenschaftlichen Zeitalter«,2 der Physiker Ludwig Boltzmann im gleichen Jahr von einem »Jahrhundert der mechanischen Naturauffassung«.3 Der Biologe Ernst Haeckel blickt 1899 auf ein »Jahrhundert der Naturwissenschaft« zurück,4 und der Theologe und Historiker Adolf von Harnack stellt im folgenden Jahr in einer Remineszenz auf das 19. Jahrhundert neben die Naturwissenschaften gleichberechtigt die Geisteswissenschaften5 – er sieht diese überhaupt erst in jenem Jahrhundert »in allen ihren Disziplinen begründet, ja geschaffen«.6 Als besonders prägend werden hier die Geschichtswissenschaften gesehen, die dem Jahrhundert dazu verhelfen, dass es »ein historisches ist«.7 Auch in jüngeren und 1  Friedrich Paulsen: Ueber das Verhältniss der Philosophie zur Wissenschaft. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie 1 (1877) 15–50, hier 15. 2  Werner von Siemens: Das naturwissenschaftliche Zeitalter (Berlin 1886). 3  Ludwig Boltzmann: Der zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie (1886). In: ders.: Populäre Schriften (Leipzig 1905) 25–50, hier 28. 4  Ernst Haeckel: Die Welträtsel (Bonn 1899, 111919; ND Berlin 1961) 5. 5  »Blicken wir auf die Geisteswissenschaften: auch das Studium der Geschichte und Sprachen blieb in diesem Zeitraum hinter dem der Naturwissenschaften nicht zurück. Welche Erinnerungen steigen in uns auf, wenn wir neben den ausgezeichneten Naturforschern […] der Namen Haupt und Curtius, Droysen und Dunck, Müllenhoff und Scherer, Sybel und Treitschke und so vieler anderer gedenken, wenn wir Ranke nennen, ihn, dessen Schüler wir alle sind.« Adolf von Harnack: Rede zur Zweihundertjahrfeier der Akademie (1900). In: ders.: Wissenschaftspolitische Reden und Aufsätze, hg. von Bernhard Fabian (Hildesheim, Zürich, New York 2001) 179–194, hier 192. 6  Ebd. 189. 7  Theobald Ziegler: Die geistigen und sozialen Strömungen des Neunzehnten Jahrhunderts (Berlin 31910) 624. In vollem Wortlaut: »Daß unser Jahrhundert ein historisches ist und dem-

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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daher distanzierteren historischen Untersuchungen sind Bezeichnungen für das 19. Jahrhundert wie »The Age of Science«8 oder »Beginn des Zeitalters der Wissenschaft«9 gängige Münze. Solche (Selbst-)Zuschreibungen sind – mag von Wissenschaft im Singular oder Plural die Rede sein, mag das fragliche Jahrhundert mit bestimmtem oder unbestimmtem Artikel daher kommen – keineswegs selbstverständlich: Gilt die Zeit vom 16. bis zur Mitte oder gar bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als Epoche der großen wissenschaftlichen Revolution,10 so wird man vielleicht eher geneigt sein, das 19. Jahrhundert als eine Periode der Konsolidierung und Arrondierung von Wissenschaft aufzufassen denn als eine, dem Wissenschaft eine ganz neue ›Zeitqualität‹ verliehen hätte. So verständlich ein solches Bedenken im Lichte großformatiger Epochenbestimmungen erscheinen mag, so irreführend und geradezu falsch ist es in verschiedenen Hinsichten – und nicht von allen dieser Hinsichten kann in einer kurzen Gesamtschau wie der vorliegenden,11 die ein ganzes Jahrhundert stürmischer Wissenschaftsentwicklung und intensiver Wissenschaftsreflexion in den Blick nimmt, die Rede sein. Wissenschaft im hier vorgestellten Sinne ist eine bestimmte, systematische Züge tragende Form menschlichen Wissens, zugleich eine sozial verfasste, institutionell etablierte und methodisch geregelte Verfahrensform, um solches Wissen zu erlangen. Die vielfach betonte ›Zweckrationalität‹ moderner Wissenschaften (Naturbeherrschung zur Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstandes, zur Verbesserung der Lebensverhältnisse oder der bloßen technischen Verwertung) sollte nicht den Blick darauf verstellen, dass sie – als Nachfolgerinnen der traditionellen Naturphilosophie und der artes liberales – stets auch der Einsicht in Strukturen und Prozesse der Natur, der menschlichen Gesellschaft und des Geisteslebens dienten und dienen, die solchen externen gemäß auch das Studium der Geschichte und die Geschichtsschreibung besonders eifrig geübt und gepflegt wurde, ist schon wiederholt hervorgehoben worden.«  8 Vgl. David Knight: The Age of Science: The Scientific World-view in the Nineteenth Century (London 1986).  9 S. William C. Dampier: Geschichte der Naturwissenschaft in ihrer Beziehung zu Philosophie und Weltanschauung (Wien, Stuttgart 1952) 240. 10  S. etwa A. Rupert Hall: The Scientific Revolution, 1500–1800. The Formation of Modern Scientific Attitude (London 1954); in der 2. Aufl. schränkt der Vf. den Zeitraum auf 1500–1750 ein. Eine breitere begriffsgeschichtliche Untersuchung zum Revolutionsbegriff im wissenschaftshistorischen Kontext gibt I. Bernard Cohen: Revolutionen in der Naturwissenschaft (Frankfurt a. M. 1994). 11  Dieser Beitrag nimmt in den Teilen III–V ausgedehnt Bezug auf begriffsgeschichtliche Untersuchungen des Verfassers, die im Historischen Wörterbuch der Philosophie erschienen sind und hier in aktualisierter und z. T. ergänzter, z. T. auch verknappter Form wiedergegeben werden. Neben verschiedenen spezielleren Beiträgen zu Lemmata des Komplexes ›Wissenschaft‹ handelt es sich vor allem um zwei Artikel, nämlich H. Pulte: Wissenschaft III. Ausbildung moderner Wissenschafts-Begriffe im 19. und 20. Jh. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie [= HWPh], hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Bd. 12 (Basel 2004) 921–948; Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsphilosophie, ebd. 973–981 (hierauf wird im Folgenden in der Regel nicht mehr ausdrücklich Bezug genommen).

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Zwecksetzungen nicht folgen: Auch moderne Wissenschaft hat sich – so ist jedenfalls gegen ein instrumentelles Wissenschaftsverständnis zu fordern – zu eigenen epistemischen und ethischen Werten zu bekennen, wenn ihr Tun als Wissenschaft verstanden werden soll.12 Man würdigt die Kulturleistungen anderer Erdteile nicht herab,13 wenn man feststellt, dass Wissenschaft im 19. Jahrhundert wesentlich eine europäische und nordamerikanische Angelegenheit war und dabei (noch) von Europa dominiert wurde. Ihre lange, bis in die Antike zurückreichende Entstehungsgeschichte einschließlich der ›revolutionären‹ Ausbildung der neuzeitlichen Naturwissenschaften bis hin zum 18. Jahrhundert ist kein Hinderungs-, sondern im Gegenteil ein Ermöglichungsgrund dafür, Hinsichten zu identifizieren, unter denen das 19. Jahrhundert tatsächlich verdient, ein ›Jahrhundert der Wissenschaften‹ genannt zu werden. Schematisierend sollen zunächst fünf solcher Hinsichten herausgestellt werden, denen historisch nicht klar voneinander abgrenzbare Themenbereiche und Prozessverläufe korrespondieren, die eine je eigene Betrachtung und Untersuchungsmethode verdienten; die letztgenannte wird dann in den späteren begriffsgeschichtlichen Ausführungen näher in den Blick genommen werden: Erstens trifft es zwar zu, dass das 18. Jahrhundert ganz auf die Wissenschaften setzt – auf ihre ›aufklärerische‹ intellektuelle Kraft wie auch auf ihr gesellschaftliches und ökonomisches Fortschrittspotential. Es trifft aber auch zu, dass die Programmatik der Aufklärung im 18. Jahrhundert erst in Ansätzen eingelöst wurde. Dies zeigt sich u. a. in der sozialen Rolle dessen, der Wissenschaft trägt: Ausgehend von ›Wissenschaftsinseln‹ wie Akademie, Universität und Privatgelehrtentum entsteht im 19. Jahrhundert überhaupt erst die Profession des Wissenschaftlers, der in Forschungseinrichtungen arbeitet und von seiner wissenschaftlichen Tätigkeit lebt. Es ist daher auch kein Zufall, dass sich entsprechende Berufsbezeichnungen (wie ›scientist‹) erst im Laufe des 19. Jahrhunderts ausbilden und nicht früher.14 Der Akademiker, Universitätsprofessor, Naturgelehrte, Literat oder wissenschaftliche Amateur des 18. Jahrhunderts vertritt nicht 12 

Aktuell hierzu: Werte in den Wissenschaften. Neue Ansätze zum Werturteilsstreit, hg. von Gerhard Schurz und Martin Carrier (Frankfurt a. M. 2013). 13  S. etwa für eine Zusammenfassung seiner ausgedehnten und mittlerweile ›klassischen‹ Untersuchungen zur chinesischen Wissenschaftsgeschichte Joseph Needham: Wissenschaftlicher Universalismus. Über Bedeutung und Besonderheit der chinesischen Wissenschaft (Frankfurt a. M. 1977). Eine differenziertere Betrachtung der europäischen und nordamerikanischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts im globalen Kontext, als sie hier gegeben werden kann, findet sich in Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (München 2011) 1105–1171. 14  Exemplarisch hierzu sei auf die Einführung von ›scientist‹ im Englischen hingewiesen: Während für den Naturforscher noch im 18. Jahrhundert die Bezeichnung ›philosopher‹ (oder später auch ›naturalist‹) üblich war, führt William Whewell (vgl. Teil V.A.) diesen Berufsnamen 1834 ein. S. hierzu Sidney Ross: Nineteenth Century Attitudes: Men of Science (Dordrecht, Boston, London 1991) 8 f.

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›Wissenschaft als Beruf‹ (Max Weber) im späteren Sinne, wonach nicht Zugehörigkeiten, Bildungsauftrag oder Gelehrsamkeit, sondern die Hingabe an eine bestimmte Sache die Forschungstätigkeit beherrscht. Zweitens, und eng mit dieser Professionsbildung verbunden, ist es erst das 19. Jahrhundert, in dem sich Wissenschaft als ein autonomes Handlungssystem in der Gesellschaft etabliert und durch innere Differenzierung das ›moderne System wissenschaftlicher Disziplinen‹ ausbildet.15 Dieser Ausdifferenzierungsprozess zeigt sich zum einen im Universitätssystem, das – akzentuiert besonders in der Neugründung der Berliner Universität im Jahre 1810 – eine enge Verknüpfung von Forschung und Lehre anstrebte, aber auch in der Ausbildung und Vervielfachung wissenschaftlicher Gesellschaften und wissenschaftsnaher kultureller Institutionen.16 Harnack spricht daher bereits 1905 von einem weit verzweigten, international tätigen »Großbetrieb der Wissenschaft«,17 der sich längst nicht mehr ›nur‹ im Tun der Universitäten und Akademien erschöpft. Drittens wird dieser expandierende ›Großbetrieb‹ bereits im 19. Jahrhundert eminent wirksam im Sinne einer gesellschaftlich-ökonomischen Transformation aller Lebensbereiche: Während das 18. Jahrhundert Fortschritt durch Wissenschaft im Wesentlichen erst verspricht, verändern wissenschaftliche Erkenntnisse und ihre technischen Umsetzungen im 19. Jahrhundert den urbanen wie den ländlichen Lebensraum irreversibel und – wie in der zweiten Jahrhunderthälfte u. a. in naturwissenschafts-kritischen Äußerungen von Seiten der Literatur und Lebensphilosophie vernehmlich wird – durchaus nicht nur zum Positiven. In keiner früheren Zeit nahm Wissenschaft zudem einen solchen Einfluss auf Bildung und Ausbildung.18 Viertens wird Wissenschaft im 19. Jahrhundert zunehmend zu einer weltbildprägenden Institution und tritt damit nicht nur in Konkurrenz zur Theologie – eine Konkurrenz, die schon das Aufklärungszeitalter kennt –, sondern zunehmend auch zur Philosophie. Letztere erhebt um 1800 gewöhnlich noch den Anspruch, das Ganze der Wissenschaft zu umfassen und Wissenschaftlichkeit überhaupt erst zu verleihen.19 Im 19. Jahrhundert gehen mit der Ausbildung einer 15  Vgl. hierzu, wiederum

exemplarisch, die Studie von Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740–1890 (Frankfurt a. M. 1984); allgemeiner: ders.: Wissenschaft, Universität, Professionen (Frankfurt a. M. 1994). S. zur Universitätsgeschichte der Zeit auch: Geschichte der Universität in Europa, Bd. 3: Vom 19. Jahrhundert zum Zweiten Weltkrieg (1800–1945), hg. von Walter Rüegg (München 2004). 16 S. hierzu Hans-Christof Kraus: Kultur, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert (München 2008) 36–40. 17  A. von Harnack: Vom Großbetrieb der Wissenschaft (1905). In: ders.: Reden und Aufsätze a. a.O. [Anm. 5] 3–9. Th. Ziegler spricht im Rückblick auf das Jahrhundert zugespitzt sogar vom »wissenschaftlichen Massenbetrieb«; s. Ziegler: Die geistigen und sozialen Strömungen, a. a.O. [Anm. 7] 632. 18  Für einen Überblick mit ausführlichen Literaturverweisen s. wiederum Kraus: Kultur, Bildung und Wissenschaft, a. a.O. [Anm. 16], bes. 100–104 (Lit.). 19 Vgl. hierzu Alwin Diemer: Die Begründung des Wissenschaftscharakters der Wissenschaft im 19. Jahrhundert – Die Wissenschaftstheorie zwischen klassischer und moderner Wis-

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eigenen Wirklichkeit der Wissenschaft auch wachsende Deutungsansprüche in Bezug auf Themen einher, die bis dahin Sache der Philosophie waren. Dies zeigt sich in der zweiten Jahrhunderthälfte in verschiedenen weltanschaulich gefärbten Kontroversen wie in der um den Materialismus, den Darwinismus oder um die sog. ›Ignorabimus-Frage‹, die nur vor dem Hintergrund eines zunehmenden Szientismus und der durch ihn hervorgerufenen philosophischen Abwehrreaktionen zu verstehen sind.20 Rückblickend auf das 19. Jahrhundert ist dann zu konstatieren, dass »Wissenschaft […] zu einer Weltdeutungsmacht und zu einer kulturellen Instanz von außerordentlichem Prestige geworden« war.21 Sofern damit vor allem die Deutungsansprüche der aufstrebenden Naturwissenschaften angesprochen sind, könnte man versucht sein, in Verallgemeinerung einer Wendung von Rudolf Virchow, die sich primär auf die Entwicklung der Berliner Universität bezog, das 19. Jahrhundert auch als »Übergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter« zu charakterisieren.22 Diese tendenziell auf die Verschiebung von Deutungs- und Geltungsansprüchen zwischen beiden Bereichen zutreffende Beschreibung ist allerdings zu relativieren und zu qualifizieren: Zum einen haben alle wichtigen philosophischen Richtungen und Schulen des 19. Jahrhunderts die Entwicklungen und Fortschritte in den Wissenschaften reflektiert und der zunehmenden Fragmentierung wissenschaftlichen Wissens wie auch der Entfremdung des Menschen von einer ›verwissenschaftlichten‹ Welt entgegengearbeitet. Zum anderen aber hat die Autonomisierung der Wissenschaft von der Philosophie auch die Zunahme einer philosophisch zu nennenden Reflexion über Grundlagen und Methoden des eigenen Tuns auch innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen befördert und zur Ausbildung eines modernen Wissenschaftsverständnisses (vgl. Teil II) maßgeblich beigetragen. Damit kommt eine fünfte Hinsicht ins Spiel, unter der das 19. Jahrhundert begründet als ein ›Jahrhundert der Wissenschaften‹ angesprochen werden kann: Es ist nämlich im Wesentlichen jenes Jahrhundert, das einen modern zu nennenden Wissenschaftsbegriff, der in seinen wichtigsten Zügen auch heute noch als verbindlich gelten kann, hervorgebracht hat – besonders die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Semantik von Wissenschaft ist wesentlich ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Diese These wird in den folgenden begriffsgeschichtlichen ›Längsschnitten‹ dieses Beitrags im Einzelnen belegt (Teile III–V) und resümiert (Teil VI). Es ist jedoch ratsam, im folgenden, zweiten Teil zunächst den senschaftskonzeption. In: Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert, hg. von A. Diemer (Meisenheim a.G. 1968) 3–62. 20  S. hierzu näher: Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, hg. von Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke, 3 Bde. (Hamburg 2007). 21  J. Osterhammel: Verwandlung, a. a.O. [Anm. 13] 1107. 22  Rudolf Virchow: Die Gründung der Berliner Universität und der Uebergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter: Rede am 3. August 1893 in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (Berlin 1893).

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Wandel des Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaft im fraglichen Zeitraum kurz allgemeiner in den Blick zu nehmen.

II. Philosophie, Wissenschaft und die Modernisierung des Wissenschaftsbegriffs Von Platon und Aristoteles bis hin zur Neuzeit wird der Wissenschaftsbegriff von der Auffassung beherrscht, dass absolute Wahrheit, strenge Allgemeinheit und unbedingte Notwendigkeit die (je notwendigen, zusammen hinreichenden) Attribute echten wissenschaftlichen Wissens (episteme) sind; das wichtigste Vorbild für diese Auffassung war zweifellos die Euklidische Geometrie. Es ist eine ebenso verbreitete wie unzutreffende historische Meinung, dass dieses axiomatisch- bzw. kategorisch-deduktive Ideal mit der frühneuzeitlichen naturwissenschaftlichen Revolution zerbrochen sei und einer neuen und ›epistemisch weicheren‹ Bestimmung von Wissenschaft Raum gegeben habe; schließlich sei ja die hypothetisch-deduktive Methode geradezu als der »Kern neuzeitlicher Wissenschaft« aufzufassen.23 Während diese Methode in den frühneuzeitlichen und neuzeitlichen Wissenschaftspraxen durchaus an Boden gewinnt und in den Wissenschaftstheorien des 19. Jahrhunderts philosophisch zunehmend Beachtung findet, kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass das leitende Wissenschaftsideal des 19. Jahrhunderts – neben der Geometrie nun auch exemplifiziert durch die im 17. und 18. Jahrhundert überaus erfolgreich entwickelte Mechanik – für die Naturwissenschaften ein axiomatisch-deduktives bleibt, das in Wissenschaftsbegründungen von philosophischer Seite im Systembegriff seine klarste Form erhält. Immanuel Kant fasst dies in seiner ›klassisch‹ gewordenen Wissenschaftsdefinition der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786) in diese Worte: »Eine jede Lehre, wenn sie ein System, d. i. ein nach Principien geordnetes ganzes der Erkenntniß, sein soll, heißt Wissenschaft […]. Eigentliche Wissenschaft kann nur diejenige genannt werden, deren Gewißheit apodiktisch ist […].«24 Kants ›Kopernikanische Revolution der Denkungsart‹ war revolutio­ när in ihrer transzendentalphilosophischen Begründungsart von Wissenschaft, aber im Wesentlichen konservativ bezüglich der epistemischen Ansprüche an Wissenschaft und an ihre Form. Auch empiristische bzw. positivistische Wissenschaftsbegründungen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, wie etwa John Herschels A Preliminary Discourse on the Study of Natural Philosophy (1830) oder Auguste Comtes Cours des philosophie positive (1830) vertreten – zumin23  Gernot Böhme: Alternativen der Wissenschaft (Frankfurt a. M. 1980) 84. Ich zitiere hier Böhme stellvertretend für eine ganze Auslegungstradition, der ich nicht folgen kann; s. hierzu näher H. Pulte: Axiomatik und Empirie. Eine wissenschaftstheoriegeschichtliche Untersuchung zur mathematischen Naturphilosophie von Newton bis Neumann (Darmstadt 2005), bes. Kap. II. 24  Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786). Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd. 4 (Berlin 1968) 467 f.

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dest bezüglich des universellen Wissenschaftsideals der mathematischen Physik – solche Ansprüche und ähnliche Systemvorstellungen, wenngleich ganz andere Begründungsmethoden.25 Im deutschen Idealismus tritt der Systemgedanke besonders deutlich hervor und wird gegen eine Auflösung der Notwendigkeit wissenschaftlichen Wissens durch ›bloße‹ Erfahrung in Stellung gebracht, wobei die philosophische ›SelbstReflexion‹ als Garant und letzte Instanz von Wissenschaftlichkeit eintritt. In diesem Sinne schreibt Georg Friedrich Wilhelm Hegel: »Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existirt, kann allein das wissenschaftliche System derselben seyn. Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme, – dem Ziele, ihren Nahmen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu seyn, – ist es, was ich mir vorgesetzt. Die innere Nothwendigkeit, dass das Wissen Wissenschaft sey, liegt in seiner Natur, und die befriedigende Erklärung hierüber ist allein die Darstellung der Philosophie selbst.«26 Verwandte philosophische Fundierungsbemühungen klassischer Wissenschaft sind um 1800 u. a. auch bei Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Wilhelm Schelling anzutreffen.27 Bei ihnen ist ›Wissenschaft‹ das apriorische, von aller Empirie absehende Denken der Transzendentalphilosophie, während wenig später – darin zeigt sich die ideengeschichtliche Wende dieser Zeit – sich die Wissenschaft gerade auf die Erfahrung als ihre wesentliche Basis berufen wird. Wissenschaft in den eingangs dargestellten Hinsichten befreit sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehr und mehr von den philosophischen (Letzt-)Begründungsansprüchen. Vor allem zwei Entwicklungen sind dafür signifikant: Auf der einen Seite die stürmische Entwicklung der Naturwissenschaften, die ihre Autonomieansprüche gegen die Philosophie – besonders gegen die naturphilosophischen Systeme der klassischen deutschen Philosophie28 – geltend macht; auf der anderen Seite eine starke Historisierung des Denkens in den Geisteswissenschaften – oft verkürzt als ›Historismus‹ bezeichnet –, das sich gegen die Geschichtsphilosophien der Zeit wendet.29 Philosophie ist somit für das weitere 19. Jahrhundert Ausgangs-, aber auch Abstoßungspunkt einer Neubestimmung von Wissenschaft. Dies gilt besonders für die deutschsprachigen Länder, in denen die Deutungsmacht der Philosophie um 1800 größer war als etwa in englisch- oder französischsprachigen Ländern: »[…] die Wissenschaftlichkeit als die Signatur des Zeitalters mußte nach Überzeugung der Zeitgenossen in einem Ab25  Vgl. H. Pulte: Axiomatik

und Empirie, a. a.O. [Anm. 23] 284–290. Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Phänomenologie des Geistes (Bamberg, Würzburg 1807, ND Hamburg 1999) 11. 27  S. hierzu näher Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 3 (Berlin 21923, ND Darmstadt 1994) Kap. 2 und 3. 28  S. hierzu die Untersuchung von Wolfgang Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel. Mathematische versus spekulative Naturphilosophie (Frankfurt a. M. 1997). 29 Vgl. hierzu Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933 (Frankfurt a. M. 41991) 49–69. 26 

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lösungsprozeß von der Philosophie des deutschen Idealismus und gegen deren Monopolanspruch auf Wissenschaftlichkeit erst erkämpft werden.«30 Dieser Ablösungsprozess mag im deutschsprachigen Kulturraum auf Grund der vorfindlichen philosophischen Formationen besonders markant hervortreten, ist allerdings tendenziell auch in anderen Ländern festzustellen. Er geht mit einer Auflösung der klassischen Wissenschaftsauffassung, wonach Wissenschaft als ein axiomatisch- bzw. »kategorisch-deduktives System absoluter Wahrheiten bzw. Erkenntnisse« aufzufassen ist,31 einher. Deren »Minimalcharakterisierung«32 durch die Trias Allgemeinheit, Notwendigkeit und Wahrheit wird durch die »Dynamisierung der Wissenschaft«33 überholt und weicht anderen, epistemisch bescheideneren Bestimmungen des Wissenschaftsbegriffs, die zumeist der sich entfaltenden Wirklichkeit der Wissenschaft stärkere Bedeutung beimessen. Die Etablierung eines modernen Begriffs von Wissenschaft in weiten Teilen der Philosophie und der Wissenschaften vollzieht sich im Wesentlichen ab dem zweiten Drittel des Jahrhunderts. Ist moderne Wissenschaft in erster Näherung dadurch beschreibbar, dass Wissenschaft nur noch als ein konditional formuliertes, hypothetisch-deduktiv organisiertes System von Propositionen über einen begrenzten Erfahrungs- und Gegenstandsbereich aufgefasst wird, kann der ihn herbeiführende Prozeß durch Momente wie »Reflexionscharakter, Positivierung, Ent­metaphysierung, Autonomisierung, Operationalisierung, Problematisierung, Konditionalisierung, Hypothesierung, Propositionalisierung, Intersubjektivierung und abstrahierende Theoretisierung« von Wissenschaft gekennzeichnet werden.34 Mit diesem Prozess geht tendenziell eine Ausweitung und Pluralisierung des Wissenschaftsbegriffs einher, es gibt aber auch tradierende und sogar gegenläufige Tendenzen: So scheint die wachsende Bedeutung der Naturwissenschaften35 und deren begriffsgeschichtliche Wirkung dazu beigetragen zu haben, dass etwa von ›schönen Wissenschaften‹ schon bald keine Rede mehr sein kann, sich andererseits aber eine Bezeichnung wie ›Kunstwissenschaft‹ ausbildet.36 Auch andere Begriffsbildungen auf geistes- und kulturwissenschaftlicher Seite sind durch das Bemühen gekennzeichnet, die eigene Wissenschaftlichkeit gegen die der Naturwissenschaften zu behaupten. An prominentester Stelle ist hier der Begriff ›Geisteswissenschaften‹ selber zu nennen: Bereits 1817 werden von Lorenz Oken die ›Geisteswissenschaften‹ (Philosophie und Staatswissenschaft) 30 

Ebd. 88. Diemer, Gert König: Was ist Wissenschaft? In: Technik und Wissenschaft, hg. von Armin Hermann und Charlotte Schönbeck (Düsseldorf 1991) 3–28, hier 4. 32  S. hierzu näher H. Pulte: Axiomatik und Empirie, a. a.O. [Anm. 23] 23. 33  H. Schnädelbach, Philosophie in Deuschland, a. a.O. [Anm. 29] 107. 34  A. Diemer, G. König: Was ist Wissenschaft? a. a.O. [Anm. 31] 5; vgl. A. Diemer: Begründung […], a. a.O. [Anm. 19] 36. 35  Zu deren Begriffsgeschichte s. G. König: Naturwissenschaften. In: HWPh Bd. 6, 641–650. 36  Vgl. Werner Strube: Die Geschichte des Begriffs ›schöne Wissenschaften‹. In: Archiv für Begriffsgeschichte [im Folgenden: AfB] 33 (1990), 136–216; Gunter Scholtz: Kunstphilosophie, Kunstgeschichte, Kunstwissenschaft. In: HWPh Bd. 4, 1449–1458, bes. 1455. 31  Alwin

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neben den sog. ›Sinneswissenschaften‹ (Kunst und Geschichte) von ›Naturwissenschaften‹ (wie Physik, Chemie u. a.) unterschieden.37 Und lange bevor Wilhelm Dilthey zu Beginn des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts Natur- und Geisteswissenschaften im Sinne einer vollständigen und dichotomischen Unterscheidung des Gesamtkomplexes ›Wissenschaft‹ gegenüberstellt, ist das Begriffspaar in der philosophischen und wissenschaftstheoretischen Literatur vertreten und wird zum Kristallisationspunkt unterschiedlichster Ansätze, eine eigene Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften aufzuweisen.38 Dies gilt insbesondere auch für Diskussionen um den Wissenschaftscharakter einzelner ihrer Teildisziplinen (im neueren Verständnis) wie die Geschichte39 oder die Philologie40 sowie die Ausbildung zugehöriger Metatheorien wie die Historik oder die Hermeneutik. Die weitere Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen geht nicht nur mit wissenschaftstheoretischen Untersuchungen zum Wissenschaftscharakter verschiedener Disziplinengruppen, sondern auch mit der Ausbildung neuer Wissenschaftsbezeichnungen einher; stellvertretend sei hier verwiesen auf die terminologische Fixierung von ›Biologie‹41 als Bezeichnung für eine eigene Disziplin um 1800 und auf ›Psychologie‹42 als Bezeichnung für eine Disziplin, die sich um 1900 etabliert. Die mit solchen Ausdifferenzierungsprozessen verbundene Pluralisierung des Wissenschaftsbegriffs ruft im Laufe des Jahrhunderts auch zahlreiche, wissenschaftstheoretisch höchst unterschiedlich begründete Ordnungsversuche in Gestalt von Wissenschaftsklassifikationen auf den Plan.43 37 

S. hierzu Ulrich Dierse: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs (Bonn 1977) 68 (Anm. 3). Frühere, aber bedeutungsverschiedene Funde zu dieser Bezeichnung finden sich bei A. Diemer: Geisteswissenschaften. In: HWPh Bd. 3, 211–215, hier 211. 38  Umfangreiche Belege hierzu finden sich in U. Dierse: Das Begriffspaar Naturwissenschaften – Geisteswissenschaften bis zu Dilthey. In: Kultur verstehen. Zur Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften, hg. von Gudrun Kühne-Bertram, Hans-Ulrich Lessing und Volker Steenblock (Würzburg 2002) 15–33. Aktuelle Untersuchungen zu Diltheys Philosophie im Kontext der Wissenschaften seiner Zeit sind enthalten in: Diltheys Werk und die Wissenschaften. Neue Aspekte, hg. von Gunter Scholtz (Göttingen 2013); Wilhelm Dilthey als Wissenschaftsphilosoph, hg. von Christian Damböck und Hans-Ulrich Lessing (Freiburg, München 2014). 39  Vgl. Gunter Scholtz: Geschichte IV. In: HWPh Bd. 3, 361–371, bes. 368 f.; ders.: Geschichte V, ebd. 371–380, bes. 372, 375 f. 40  Vgl. Axel Horstmann: Philologie. In: HWPh Bd. 7, 552–572, bes. 563–567. 41 Vgl. hierzu Georg Toepfer: Biologie. In: Historisches Wörterbuch der Biologie, Bd.   1 (Stuttgart, Weimar 2011) 254–295. 42  S. hierzu näher Eckart Scheerer: Psychologie. In: HWPh Bd. 7, 1599–1653, bes. 1620–1634. 43  Vgl. insbes. Jeremy Bentham: Essay on the Nomenclature and Classification of Arts and Science. In: Works, ed. by John Bowring, Bd. 8 (Edinburgh 1843, ND New York 1976) 63–128; Auguste Comte: Cours de philosophie positive. 6 Bde. (Paris 1830–1842); André-Marie Ampère: Essai sur la Philosophie des Sciences, ou Exposition analytique d’une Classification naturelle de toutes les Connaisssances humaines (Paris 1834; ND Brüssel 1966); Joseph Duval-Jouve: Traité de Logique, ou Essai sur la Théorie de la Science (Paris 1844, 21855) bes. 92 ff.; Antoine Augustin Cournot: Essai sur les Fondements de nos Connaissances et sur les Caractères de la Critique philosophique (Paris 1851); Leopold George: Die Gliederung der Wissenschaft in

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Weder solche allgemeinen Klassifikationsansätze noch die besonderen, philosophisch bedeutsamen Diskussionen zur systematischen Abgrenzung von Geistes- und Naturwissenschaften können hier im Einzelnen verfolgt werden. Im Folgenden sollen vielmehr bezüglich der Entwicklung und Modernisierung des Wissenschaftsbegriffs drei Hauptrichtungen in einer gewissen Allgemeinheit näher ausgeführt werden, die sich hinsichtlich ihrer Begründungsweisen von Wissenschaft stark unterscheiden. Die erste, an Kant anschließende Richtung ist besonders in den deutschsprachigen Ländern prominent und grenzt Wissenschaft recht rigoros von anderen kulturellen Überzeugungssystemen, wie etwa der Religion, aber auch vom ›Alltagswissen‹ ab (Teil III). Die beiden anderen Richtungen dagegen sind nicht in vergleichbarer Weise einem bestimmten Sprach- bzw. Kulturraum zuzuordnen und vertreten generell permissivere Wissenschaftsauffassungen (s. die Teile IV und V).

III.  Aprioristische Wissenschaftsbegriffe in der Tradition Kants A. Jakob Friedrich Fries Der Jenaer Philosoph J. F. Fries sieht sich zu Beginn des Jahrhunderts als eigentlicher und getreuester Fortentwickler der Kantischen Philosophie. Als kenntnisreicher Mathematiker und Naturwissenschaftler setzt er sich intensiv mit der Wissenschaftsentwicklung seiner Zeit auseinander und integriert vergleichsweise junge, von Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen nicht eigens untersuchte Forschungsgebiete wie die Theorie der Elektrizität und des Magnetismus in Kants Wissenschaftstheorie, die ihrerseits eine deutliche Ausweitung und Dynamisierung erfährt. Primär hält Fries dabei an dem engen Zusammenhang von ›Wissenschaft‹ und ›System‹, wie er von Kant formuliert worden war, fest: »Die Erkenntnis aus Principien ist Wissenschaft, und die höchste logische Form der Unterordnung alles Besondern unter sein Princip ist System.«44 Da der Systemihrer Einheit (Greifswald 1862); Herbert Spencer: The Classification of the Sciences. With a Postscript, replying to Criticisms (New York 1864). In ders.: Essays: Scientific, Political, and Speculative, Bd. 3 (London 1878) 1–56; Benno Erdmann: Die Gliederung der Wissenschaften. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie 2 (1878) 72–105; Thomas G. Masaryk: Versuch einer concreten Logik. Classifikation und Organisation der Wissenschaften (Wien 1887); Adrien Naville: Classification des Sciences. Les Idées maitresses des Sciences et leurs Rapports (Paris 1888, 31920); Wilhelm Wundt: Ueber die Eintheilung der Wissenschaften. In: ders.: Philosophische Studien, Bd. 5 (Leipzig 1889) 1–55, bes. 37 f. 43 f. 47; August Stadler: Zur Klassifikation der Wissenschaften. In: Archiv für systematische Philosophie 2 (Berlin 1896) 1–37; Edmond Goblot: Essai sur la Classification des Sciences (Paris 1898); Ernest C. Richardson: Classification, Theoretical and Practical (New York 1901); Carl Stumpf: Zur Einteilung der Wissenschaften. Philosophische und historische Abhandlungen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Berlin 1906) 1–94. 44  Jakob Friedrich Fries: Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft, 3 Bde. (Heidelberg 1807, 21828–1831). Bd. 1. Sämtliche Schriften, hg. von G. König und Lutz Geldsetzer (­Aalen

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begriff wesentlich die logische Form der Erkenntnis bezeichnet, bestimmt Fries »logisch vollständige Erkenntniß« bzw. ein »angeordnetes Ganzes der Erkenntniß« auch dahingehend, dass es »seiner Form nach ein System, seinem Gehalt nach eine Wissenschaft« heiße.45 Weil zudem »jede Wissenschaft ein System von Begriffen, und ein System von Urtheilen« hat, können sich für ihn zwar je nach Stand und Art der Begriffsbildungen ganz verschiedene Wissenschaften ergeben, die logische Form von Wissenschaft (im »vollendeten System«) ist dabei jedoch durch die verschiedenen Urteilsformen eindeutig bestimmt: »Dem ganzen System aller Wissenschaften liegen drey einfache systematische Formen, des kategorischen, hypothetischen, und konjunktiven Systems zu Grunde.«46 Formal, d. h. gemäß seiner angewandten Logik und wissenschaftlichen Architektonik, unterscheidet Fries daher grundsätzlich folgende Typen: »Eine Wissenschaft heisst philosophisch, wenn ihr System kategorisch ist, sie heißt mathematisch, wenn ihr System hypothetisch ist, und historisch, wenn ihr System disjunktiv« (resp. konjunktiv) ist.47 Es ist hier wichtig zu sehen, dass nach Fries’ Erkenntnistheorie der apodiktische Charakter der Philosophie und Mathematik keinen objektiven Gewißheitsvorrang gegenüber dem empirischen Charakter der Historie begründet, sondern nur einen Unterschied der subjektiven Gültigkeit: »Historische nur erzählende Wissenschaften, wie Geschichte und Naturbeschreibung, stehen in gleichem Rang der Gewißheit in Beziehung auf objective Gültigkeit neben Mathematik und Philosophie […].«48 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts tritt in der formalen Kennzeichnung von Wissenschaft in allen wissenschaftstheoretischen Richtungen, auch der aprioristischen, der Systembegriff zugunsten des Theoriebegriffs zurück. Auch in dieser Hinsicht ist bereits Fries’ Standpunkt aufschlussreich: Wissenschaft ist per definitionem für ihn immer System, und Theorie ihr Ideal, in dem empirische Empfindungen (Historie), innere Anschauung (Mathematik) und begriffliche Erkenntnis (Philosophie) in der Erklärung des Einzelnen aus dem Allgemeinen ineinanderlaufen: »Das logische Ganze unsrer Erkenntnis ist die Vereinigung dieser drey Formen, d. h. Theorie.«49 Neben dieser dreifachen formalen bzw. lo1967–2011), Bde. 4–6 (1967), hier Bd. 4, 292, vgl. auch 88; s. hierzu ferner ders.: System der Philosophie als evidente Wissenschaft (Leipzig 1804). Sämtliche Schriften, ebd. Bd. 3 (Aalen 1968) 25 f. 45  J. F. Fries: Grundriß der Logik (Heidelberg 1827). Sämtliche Schriften, ebd. Bd. 7 (Aalen 1971) 87. 46  J. F. Fries: Neue Kritik, Bd.1, a. a.O. [Anm. 44] 292 f. 47  J. F. Fries: System der Philosophie, a. a.O. [Anm. 44] 172; vgl. ders.: Neue Kritik a. a.O. [Anm. 44] 293 f., 14 f. 48  J. F. Fries: System der Logik (Heidelberg 1837). Sämtliche Schriften, a. a.O. [Anm. 44] Bd. 7 (Aalen 1971) 540. 49  J. F. Fries: Neue Kritik, a. a.O. [Anm. 44] 419. Vgl. System der Philosophie, a. a.O. [Anm. 44] 25 f. Zum Zusammenhang von System, Wissenschaft und Theorie vgl. H. Pulte: Von der Physikotheologie zur Methodologie. Eine wissenschaftstheoriegeschichtliche Analyse der Transformation von nomothetischer Teleologie und Systemdenken bei Kant und Fries. In: Jakob Fried-

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gischen Unterscheidung von Wissenschaft nimmt Fries auch eine vollständige erkenntnistheoretische Unterscheidung aller Wissenschaften in empirische bzw. »Wahrnehmungswissenschaften« (wie z. B. Geschichte und Geographie) und »Vernunftwissenschaften«, d. h. Philosophie und Mathematik vor.50 Letztere zerfallen noch einmal in »reine und angewandte«, wobei »reine Vernunftwissenschaften« nur »reine Erkenntnisse a priori« enthalten, während »angewandte Vernunftwissenschaften« bzw. »theoretische Wissenschaften« oder auch »Erklärungswissenschaften« Einzeltatsachen aus notwendigen Gesetzen erklären, sich also neben Erkenntnis a priori auch auf Empirisches beziehen.51 Da Fries die Erklärung empirischer Einzeltatsachen und ihres Zusammenhangs aus allgemeinen und apriorischen Gesetzen auch als wichtigste Aufgabe von Theorie ansieht,52 gebraucht er die Begriffe ›erklärende‹ bzw. ›theoretische Wissenschaft‹ und ›Theorie‹ häufig synonym.53 Sein Begriff von Wissenschaft ist auf Grund der von ihm vorgenommenen ›Methodisierung‹ und ›Empirisierung‹ des Kantischen Apriorismus erheblich weiter als derjenige Kants.54 Dennoch bleibt er Kants Bestimmung ›eigentlicher‹ Wissenschaft aus den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft und dessen Auffassung, dass Mathematik für Wissenschaft konstitutiv sei, verpflichtet. Er sieht hierin sogar den wichtigsten Demarkationspunkt gegenüber den Wissenschaftsauffassungen der idealistischen Systeme.55 Mit Kant weiß sich Fries auch darin einig, »daß alle menschliche Wissenschaft Naturwissenschaft sey«.56 Schließlich stimmt er mit ihm auch darin überein, dass erst eine »einzige vollständig wissenschaftliche Erkenntniß« gäbe, nämlich die bezüglich der »Welt der Gestalten und deren Bewegungen«.57 Damit greift er Kants transzendentalphilosophische Begründung der Mechanik auf und ent­ wickelt sie weiter. rich Fries. Philosoph, Naturwissenschaftler und Mathematiker, hg. von Wolfgang Hogrebe und Kay Herrmann (Frankfurt a. M. 1999) 301–351, bes. 333–338. 50  J. F. Fries: System der Logik a. a.O. [Anm. 48] 415 f.; vgl. ders.: Grundriß der Logik, a. a.O. [Anm. 45] 100 f. 51  J. F. Fries: System der Logik, ebd. 416 f. Vgl. 414 f. Grundriß der Logik a. a.O. 146 f., sowie J. F. Fries: System der Metaphysik (Heidelberg 1824). Sämtliche Schriften a. a.O. [Anm. 44], Bd. 8 (Aalen 1970) 28, 158 f. 52  Vgl. J. F. Fries: System der Logik, a. a.O. [Anm. 48] 416 f., 550 f. 53  Vgl. ebd. 550 f., 594 f. 54  S. hierzu näher H. Pulte: ›… sondern Empirismus und Speculation sich verbinden sollen‹. Historiographische Überlegungen zur bisherigen Rezeption des wissenschaftstheoretischen und naturphilosophischen Werkes von J. F. Fries und einige Gründe für dessen Neubewertung. In: J. F. Fries a. a.O. [Anm. 49] 57–94, bes. 70–79; ders., Kant, Fries and the Expanding Universe of Science. In: Kant and the Exact Sciences, ed. by M. Friedman and A. Nordman. (Cambridge, Mass. 2004) 101–121. 55  J. F. Fries: Die mathematische Naturphilosophie nach philosophischer Methode bearbeitet (Heidelberg 1822). Sämtliche Schriften, a. a.O. [Anm. 44], Bd. 13 (Aalen 1979) 1–32 (Einleitung). Vgl. Gert König und Lutz Geldsetzer: Vorbemerkung der Herausgeber zum 13. Bd., a. a.O. [Anm. 44] 17*–94*, bes. 20* ff. 56  Ebd. 1. 57  Ebd. 3.

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Das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft sowie die »philosophische Wissenschaft«58 sind für Fries von größter Bedeutung. Mit Blick auf die Bestimmung der reinen Vernunftwissenschaft konstatiert er allgemein: »Philosophie ist Wissenschaft.«59 Als »Wissenschaft von den philosophischen Erkenntnissen« wird sie zwar nicht objektiv (d. h. von den Erkenntnisgegenständen her, die allesamt der philosophischen Betrachtung zugänglich sind), so doch »nach dem subjectiven Eintheilungsgrund der Wissenschaften von andern Wissenschaften unterschieden werden müssen«.60 Hier differenziert Fries nochmals, nun nach dem ›Erkenntnisinteresse‹, »freie Wissenschaften, welche rein um der Wahrheit willen getrieben werden«, und »pragmatische (positive) Wissenschaften«, die (zumindest teilweise) den Zwecken des menschlichen Lebens dienen.61 Neben der Philosophie als freier Wissenschaft schlechthin hebt er hier noch die »philologischen Wissenschaften oder Sprachwissenschaften« heraus, weil diese aufgrund der erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen 62 Bedeutung der Sprache eine »Pragmatik aller Wissenschaften überhaupt« bilden. 63 Die wissenschaftspragmatische Relevanz der Philologien bildet somit ein systematisches ›Gegengewicht‹ zum Theorieideal von Wissenschaft überhaupt, das Fries in der mathematischen Physik verkörpert sieht. Fries betont derart in seinen systematischen Ausführungen immer wieder den Primat von Wissenschaft bzw. Theorie als Idealform menschlicher Erkenntnis, macht aber auf der anderen Seite – und besonders mit Blick auf die Philosophie als Wissenschaft64 – auch deutlich, dass dieses Ideal bisher kaum realisiert und jedenfalls nicht vollständig realisierbar sei, sondern vielmehr »der Mittelpunkt unsrer Ueberzeugungen von der nothwendigen Einheit in den Dingen über alle Wissenschaft hinaus in Glaube und Ahndung liege«.65 Auch wenn Fries gelegentlich Kants theoretische Philosophie dafür kritisiert, den Vernunftgebrauch in konstitutiver Hinsicht überzustrapazieren, bleibt er hier doch der Auffassung verpflichtet, dass die durch Verstand und Sinnlichkeit konstituierten Theorien der Wissenschaft einer regulativen Vernunftidee der Natureinheit untergeordnet werden müssen.

58 Vgl.

etwa J. F. Fries: System der Metaphysik, a. a.O. [Anm. 51] 160; ders.: Neue Kritik, a. a.O. [Anm. 44]. Sämtliche Schriften a. a.O. [Anm. 44], Bd. 6 (Aalen 1967) 176. 59 J. F. Fries: Reinhold, Fichte und Schelling (Leipzig 1803, 21824) Anhang I. Sämtliche Schriften, a. a.O. [Anm. 44] Bd. 24 (Aalen 1978) 369; vgl. ders.: Neue Kritik, a. a.O. [Anm. 44]. Sämtliche Schriften, Bd. 6 (Aalen 1974) 176. 60  J. F. Fries: System der Metaphysik a. a.O. [Anm. 51] 28. 61  Ebd. 28 f. 62  Vgl. J. F. Fries: Reinhold, Fichte und Schelling, a. a.O. [Anm. 59] 408 f. 63  J. F. Fries: System der Metaphysik a. a.O. [Anm. 51] 29. 64  Vgl. J. F. Fries: Reinhold, Fichte und Schelling a. a.O. [Anm. 59] 371. 65  J. F. Fries: Handbuch der Religionsphilosophie und philosophischen Ästhetik (Heidelberg 1832). Sämtliche Schriften, a. a.O. [Anm. 44], Bd. 12 (Aalen 1970) 48; vgl. ders.: Wissen, Glaube und Ahndung (Jena 1805). Sämtliche Schriften, a. a.O. [Anm. 44], Bd. 3 (Aalen 1968) 489–504.

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B. Fries’sche und neue Fries’sche Schule Fries’ Wissenschaftstheorie fand trotz ihrer philosophischen Elaboriertheit und ihres wissenschaftlichen Kenntnisreichtums im 19. Jahrhundert auf Grund verschiedener, zumeist kontingenter Gründe keine große Resonanz.66 Es bildeten sich jedoch eine kleinere Fries’sche Schule67 um Ernst Friedrich Apelt sowie später eine einflussreichere Neue Fries’sche Schule68 um Leonard Nelson aus, die die Empirisierung und Methodisierung des Kantischen Wissenschaftsbegriffes weiterführten. Der Botaniker Matthias Jacob Schleiden, wichtigster Mitstreiter von Apelt, lässt diese Orientierung bereits im Titel seines Hauptwerkes Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik nebst einer methodologischen Einleitung als Anleitung zum Studium der Pflanze (1842) bzw. Die Botanik als inductive Wissenschaft behandelt (21845) erkennen,69 das sich gegen Schellings und Hegels Dogmatismus (»ein Erbstück des Mittelalters«) nicht nur als Entdeckungs-, sondern auch als Mittel der systematischen Darstellung wendet und – im Sinne einer Vorgängigkeit wissenschaftlicher Entwicklung gegenüber philosophisch-dogmatischer Begründung – geltend macht, »daß eine Wissenschaft doch erst da sein muß, ehe man sie systematisch vorträgt. Wir haben bis jetzt in der Botanik noch nichts als einige Versuche, zu Wissenschaft zu gelangen, und die lassen sich gar nicht dogmatisch behandeln […].«70 Gegen diesen »philosophischen Irrweg«71 setzt Schleiden mit Berufung auf Fries die Methode der rationellen (also auf apriorische Erkenntnis zugreifende) Induktion,72 die die Erfahrung ernst nimmt, aber am Systemcharakter von Wissenschaft festhält.73 Auch Apelt betont diesen Charakter74 66  Zur Rezeptionsgeschichte und einer diesbezüglichen Gründeanalyse s. H. Pulte, a. a.O. [Anm. 54]. Eine neuere Untersuchung im Kontext des wissenschaftstheoretischen Apriorismus gibt Kay Herrmann: Apriori im Wandel. Für und wider eine kritische Metaphysik der Natur (Heidelberg 2012). 67  S. Abhandlungen der Fries’schen Schule von Apelt, Schleiden, Schlömilch und Schmidt (Heft 1: 1847, Heft 2: 1849, ND in 1 Bd. Hildesheim1964). S. auch Thomas Glasmacher: FriesApelt-Schleiden. Verzeichnis der Primär- und Sekundärliteratur 1798–1988 (Köln 1989). 68  S. Abhandlungen der Fries’schen Schule. Neue Folge, hg. von Gerhard Hessenberg, Karl Kaiser und Leonard Nelson (ab Bd. 5: Otto Meyerhof, Franz Oppenheimer und Minna Specht), 6 Bde. (Göttingen 1906–1937). Vgl. Volker Peckhaus: Fries in ›Hilberts Göttingen‹: Die Neue Fries’sche Schule. In: J. F. Fries, a. a.O. [Anm. 44], 353–368. 69  Beide Aufl. in zwei Teilen (Leipzig 41861), ND der »Methodologischen Einleitung« in 4. Aufl. in Matthias Jacob Schleiden: Wissenschaftsphilosophische Schriften mit kommentierenden Texten von J. F. Fries, Ch. G. Nees von Esenbeck und Gerd Buchdahl, hg. von Ulrich Charpa (Köln 1989) 45–196. 70  Methodologische Einleitung a. a.O. [Anm. 69] 66. 71  Ebd. 62. 72 Vgl. ebd. 50 f., 61 f.; hierzu näher Gerd Buchdahl: Leitende Prinzipien und Induktion: Matthias Schleiden und die Methodologie der Botanik. In: Wissenschaftsphilosophische Schriften a. a.O. [Anm. 69] 315–345. 73  Vgl. Methodologische Einleitung, a. a.O. [Anm. 69] 76 f. 74  Ernst Friedrich Apelt: Die Theorie der Induction (Leipzig 1854) 166 f., 65; ders.: Metaphysik (Leipzig 1857), neu hg. von Rudolph Otto (Halle 1910) 471.

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und akzentuiert Fries’ wiederholte Kritik an Kants mangelnder Abgrenzung von Verstandesbegriffen und Vernunftideen dahingehend,75 dass Kant zwischen dem logischen »Ideal der Architektonik menschlicher Wissenschaft« als einem einheitsstiftendem »Absoluten, aber eben darum jenseits aller Wissenschaft« und Fries’ Verständnis von Vollständigkeit, die in der konkreten wissenschaftlichen Theorie qua Induktion erreichbar sei, nicht unterscheide.76 »Theorie« und »theoretische Wissenschaft« sind Apelt dabei synonym,77 nämlich »Wissenschaft, in der die Thatsachen in ihrer Unterordnung unter nothwendige Gesetze erkannt werden und ihr Zusammenhang aus diesen erklärt wird«.78 In Weiterführung von Fries,79 aber auch von William Whewell,80 entwickelt er die empirische und rationelle Induktion als eine Methode, die die erreichbare »Einheit der Wissenschaften« herbeiführen soll.81 Die hier selbst im Anspruch auf Einheit bereits deutlich werdende Pluralisierung von Wissenschaft zeigt sich auch darin, dass Apelt die (eine) »Naturwissenschaft« in zwei große Klassen von Einzelwissenschaften, nämlich »die Wissenschaft vom Geiste, anthropologische Wissenschaften« und »die Wissenschaft von der Körperwelt, physikalische Wissenschaften« untergliedert.82 Über Leonard Nelson, Kurt Grelling, Julius Kraft, Paul Bernays u. a. blieb die Kant-Friessche Tradition auch in Diskussionen des Wissenschaftsbegriffs im frühen 20. Jahrhundert präsent – wenngleich von überschaubarem Einfluss, der sich etwa in der Auseinandersetzung mit dem Positivismus bzw. Phänomenalismus83 und »der sogenannten neukantischen Schule«,84 in der Diskussion um 75  Vgl. H. Pulte: Von

der Physikotheologie zur Methodologie, a. a.O. [Anm. 49]. E. F. Apelt: Die Theorie der Induction a. a.O. [Anm. 74], 167. 77  Ebd. 168. 78  Ebd. 65. 79 S. hierzu näher W. Bonsiepen: E. F. Apelts Fries-Rezeption dargestellt anhand seiner Schriften Die Theorie der Induktion und Metaphysik. In: Jakob Friedrich Fries, a. a.O. [Anm. 49] 195–220, bes. 203 ff. 80  Vgl. E. F. Apelt: Die Theorie der Induction, a. a.O. [Anm. 74] 178 ff.; zu Whewell s. näher Teil V.A. 81  Ebd. 169. 82  E. F. Apelt: Über Begriff und Aufgabe der Naturphilosophie (1842/43). In: Abhandlungen a. a.O. [Anm. 68], Bd. 1 (1906) 89–134, 124. Zur Anthropologie als Wissenschaft bei Schleiden vgl. M. J. Schleiden: Über die Anthropologie als Grundlage für alle übrigen Wissenschaften, wie überhaupt für alle Menschenbildung. In: Westermann’s Jahrbuch der Illustrierten Deutschen Monatshefte 11 (1861/62) 49–58, bes. 57 f.; vgl. Ilse Jahn: Die Psychische Anthropologie von Fries und ihre Auswirkung auf Schleidens Lehrkonzept der Anthropologie. In: Jakob Friedrich Fries, a. a.O. [Anm. 49] 243–254. 83 Leonard Nelson: Ist metaphysikfreie Naturwissenschaft möglich? In: Abhandlungen a. a.O. [Anm. 68], Bd. 2 (1908) 241–299; Über die Unhaltbarkeit des wissenschaftlichen Positivismus in der Philosophie (1914). Gesammelte Schriften, hg. von Paul Bernays u. a., Bd. 1 (1970) 199–206; zum Positivismus und Phänomenalismus s. Teil IV dieses Beitrags. 84  L. Nelson: Die sogenannte neukantische Schule in der gegenwärtigen Philosophie (Hamburg 1914). Gesammelte Schriften, ebd. Bd. 1, 207–217, bes. 215 f.; zum Neukantianismus vgl. den nachfolgenden Teil III.C. 76 

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den Wissenschaftsstatus der Geisteswissenschaften,85 insbesondere auch den der Philosophie,86 in der metamathematischen Diskussion bei und im Anschluss an David Hilbert,87 in der Grundlagendiskussion der Physik88 sowie im frühen Kritischen Rationalismus Karl Raimund Poppers manifestiert.89 Besonders die ›konservative‹ Haltung im Kontext der Diskussionen um die sog. ›Nichteuklidischen Geometrien‹ sowie, nach der Jahrhundertwende, um die beiden Einsteinschen Relativitätstheorien trugen maßgeblich dazu bei, dass diese Richtung im frühen 20. Jahrhundert den Anschluss an die aktuelle Wissenschaftsdiskussion verlor und vom aufkommenden logischen Empirismus nicht mehr als philosophisch fruchtbare Wissenschaftstheorie der ›exakten Wissenschaften‹ rezipiert wurde.90 C. Neukantianismus Trotz der Abgrenzungsbemühungen Leonard Nelsons wird in der heutigen philosophiegeschichtlichen Literatur nicht zwischen der Neuen Friesschen Schule und dem Neukantianismus unterschieden. Dies ist wesentlich darauf zurückzuführen, dass sich der Neukantianismus nach dem Niedergang der Hegelschen Philosophie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als breite, aber auch äußerst heterogene Strömung etablierte,91 die die deutschsprachige Schulphilosophie am Jahrhundertende dominierte.92 Auch in ihr ist eine Methodisierung, Empirisierung und Pluralisierung der Kantischen Wissenschaftsauffassung konstatierbar, 85  Julius

Kraft: Die Unmöglichkeit der Geisteswissenschaft (Leipzig 1934, Frankfurt a. M. Problem der Geisteswissenschaft. In: Erkenntnis 6 (1936) 211–222. 86  J. Kraft: Philosophie als Wissenschaft und als Weltanschauung. In: Abhandlungen a. a.O. [Anm. 68], Bd. 5 (1933) 421–448. 87  Vgl. Volker Peckhaus: Hilbertprogramm und Kritische Philosophie. Das Göttinger Modell interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Mathematik und Philosophie (Göttingen 1990) bes. 123–195. 88  Vgl. Paul Bernays: Die Grundgedanken der Fries’schen Philosophie in ihrem Verhältnis zum heutigen Stand der Wissenschaft. In: Abhandlungen a. a.O. [Anm. 68], Bd. 5 (1933) 97– 113; Grete Hermann: Die naturphilosophischen Grundlagen der Quantenmechanik, ebd. Bd. 6 (1937) 69–151; Adolf Kratzer: Wissenschaftstheoretische Betrachtungen zur Atomphysik, ebd. 291–308; dies.: Über die Grundlagen physikalischer Aussagen in den älteren und den modernen Theorien, ebd. 309–396. 89 Vgl. insbes. Karl Raimund Popper: Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Aufgrund von Manuskripten aus den Jahren 1930–1933 hg. von Troels Eggers Hansen (Tübingen 1979, 21994). 90  S. hierzu näher H. Pulte: J. F. Fries’ Philosophy of Science, the New Friesian School and the Berlin Group: On Divergent Scientific Philosophies, Difficult Relations and Missed Opportunities. In: The Berlin Group and the Philosophy of Logical Empiricism, ed. by Nikolay Milkov and V. Peckhaus (Dordrecht etc. 2013) 43–66. 91  Vgl. die Ausdifferenzierung von sechs bzw. sieben »Richtungen des Neukritizismus« bei Friedrich Ueberweg: Grundriß der Geschichte der Philosophie, 4. Teil: Das 19. Jahrhundert und die Gegenwart, hg. von Konstantin T. Oesterreich (Berlin 111916) 364. 92  Vgl. hierzu näher Karl Christian Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus (Frankfurt a. M. 1993). 21957), ders.: Das

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die aber insgesamt stärker als die Friessche Tradition auf die Ausdifferenzierung der Wissenschaften reagiert und im Zuge ihrer Ausbildung wissenschaftstheoretisch zunehmend schwer auf einen Nenner zu bringen ist.93 Ein wichtiger Vorbereiter in dieser Linie ist Friedrich Adolf Trendelenburg, der den Einzelwissenschaften zwar die »Logik und Metaphysik als grundlegende Wissenschaft«94 überordnet (und damit für die Ausbildung der Wissenschaftstheorie als eigenständiger philosophischer Disziplin wichtig wird),95 der Logik aber die Aufgabe zuweist, zunächst die spezifischen Methoden der Einzelwissenschaften beobachtend und vergleichend festzustellen, d. h. als Gegenstand eigener Theoriebildung vorauszusetzen,96 um von ihnen aus das Denken zu bestimmen, wobei die Notwendigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis der Orientierungspunkt bleibt: »Wenn wir den Weg Nothwendigkeit zu erzeugen oder den Weg die Erkenntniss dem Nothwendigen anzunähern und den Grad der Annäherung an die Nothwendigkeit zu ermessen Methode nennen, so macht die Methode die Wissenschaft zur Wissenschaft«; in diesem Sinne führe »jede Wissenschaft auf die Logik, auf die Untersuchung des Denkens, das erkennend Wissenschaften erzeugt«.97 Die von Trendelenburg mit initiierte Reform der Logik trägt wesentlich dazu bei, dass im Neukantianismus das ›Systemdenken‹ in Bezug auf Wissenschaft zurücktritt: Nur die Grunddisziplinen der theoretischen Philosophie (Logik, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie) können Einheit stiften, »das ›Ganze‹ bleibt jetzt der Wissenschaft verschlossen«.98 Auch in psychologisch orientierten Logiken wie denen von Christoph Sigwart99 und Wilhelm Wundt100 wird die Bedeutung der Methodologie betont und dabei die Typik der Einzelwissenschaften sowie die Eigenständigkeit der Wissenschaftsbereiche Natur- bzw. ›exakte Wissenschaften‹ einerseits und der Geisteswissenschaften andererseits durch die Ausweisung je eigener ›Logiken‹ unterstrichen.101  93 

Für einen Überblick s. Werner Flach: Die Bedeutung des Neukantianismus für die Wissenschaftstheorie. In: Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, hg. von Ernst Wolfgang Orth und Helmut Holzhey (Würzburg 1994) 174–184, hier 179 f.  94 Friedrich Adolf Trendelenburg: Logische Untersuchungen, Bd. 1 (Berlin 1840, 31870, ND Hildesheim 1964), 4.  95  Vgl. H. Pulte: Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsphilosophie, a. a.O. [Anm. 11] 976.  96  S. Trendelenburg a. a.O. [Anm. 94] IV f., 4 ff.  97  Ebd. 10.  98  Vgl. K. Ch. Köhnke: Entstehung und Aufstieg, a. a.O. [Anm. 92] 35–57.  99  S. Christoph von Sigwart: Logik (Tübingen 1873–1878, 51924), bes. »Zweiter Band: Die Methodenlehre«. 100  Wilhelm Wundt: Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung (Stuttgart 1880–1883; in 3 Bdn. 41919–1921) bes. »II. Band: Logik der exakten Wissenschaften« (einschließl. »Logik der Mathematik«, der Physik, der Chemie und der Biologie) und »III. Band: Logik der Geisteswissenschaf­ten« (einschließl. Geschichtswissenschaften, der Gesellschaftswissen­schaften sowie: »Die Methoden der Philosophie«); s. auch bereits W. Wundt: Über den Einfluss der Philosophie auf die Erfahrungswissenschaften (Leipzig 1876). 101  Vgl. hierzu Volker Peckhaus: Logik, Mathesis universalis und allgemeine Wissenschaft (Berlin 1997) 144–151.

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Bezüglich der genannten Bereichsunterscheidung wird für den Neukantianismus selbst und darüber hinaus die – auch gegen Wilhelm Diltheys primär gegenstandsorientierte Unterscheidung102 gerichtete – Differenzierung Wilhelm Windelbands von Natur- und Geisteswissenschaften nach dem »formalen Charakter ihrer Erkenntnisziele« wichtig;103 erstere sind demnach »nomothetische« oder »Gesetzeswissenschaften«, letztere »idiographische« oder »Ereigniswissenschaften«.104 Heinrich Rickert übernimmt diese methodologische Rahmung im wesentlichen, akzentuiert dabei aber die individualisierende Methode der Geisteswissenschaften stark werttheoretisch: »Durch die Werte, die an der Kultur haften, wird der Begriff einer darstellbaren historischen Individualität erst konstituiert«.105 Er stellt daher den Naturwissenschaften nicht die Geisteswissenschaften, sondern die »historischen Kulturwissenschaften« gegenüber.106 Windelbands und Rickerts Abgrenzungsvorschläge wurden weit über den Südwestdeutschen Neukantianismus hinaus einflußreich, so etwa für Max Weber.107 Der Wissenschaftsbegriff des Marburger Neukantianismus orientiert sich gegenüber dem der Südwestdeutschen Schule108 vorwiegend an der Mathematik109 und den sog. ›exakten‹, d. h. mathematischen Naturwissenschaften,110 wobei die »durchgreifende Bedeutung der Mathematik« selbst den Wissenschaftsstatus der Geisteswissenschaften noch mitbestimmen soll.111 Hermann Cohen identifiziert geradezu Erfahrung mit der Erkenntnis der mathematischen Naturwissenschaften112 und sieht in ihr ein objektives »Factum, welches in der Wissenschaft sich 102 Vgl.

insbes. Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften (Leipzig 1883). Gesammelte Schriften, Bd. 1 (Stuttgart 1966) 3 ff.; ders.: [Über vergleichende Psychologie] Beiträge zum Studium der Individualität (1895/96), a. a.O.. Bd. 5 (Stuttgart 1964) 241–269. 103  Wilhelm Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft (Straßburg 1894). In: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einführung in die Philosophie, Bd. 2 (Tübingen 41911) 136–160, bes. 144. 104  Ebd. 145. 105 Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (Tübingen 1899, 31915) 90; vgl. ders.: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften (Tübingen 1902, 31921) bes. 137 ff.; hierzu auch Thomas Rentsch: Verstehen und Erklären – Idiographische und nomothetische Methode. Die zwei Kulturen in der transzendentalen Wissenschaftslogik des südwestdeutschen Neukantianismus. In: Glanz und Elend der zwei Kulturen. Über die Verträglichkeit der Natur- und Geisteswissenschaften, hg. von Helmut Bachmaier und Ernst Peter Fischer (Konstanz 1991) 29–43, bes. 38 f. 106  H. Rickert: Die Grenzen, a.a.O [Anm. 105] bes. 22 f., 389–404. 107  S. hierzu Peter-Ulrich Merz: Max Weber und Heinrich Rickert. Die erkenntniskritischen Grundlagen der verstehenden Soziologie (Würzburg 1990). 108 Vgl. aber in der Tradition der Südwestdeutschen Schule das (um Vermittlung beider Richtungen bemühte) Werk von Bruno Bauch: Studien zur Philosophie der exakten Wissenschaften (Heidelberg 1911) bes. 6 ff. 109  S. insbes. Hermann Cohen: Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte (Berlin 1883). Werke, Bd. 5 (Hildesheim 1984) bes. 4–8. 110  Vgl. Paul Natorp: Die logischen Grundlagen der exacten Wissenschaften (Leipzig 1910, 31923) 1–4. 111  Vgl. Hermann Cohen: Logik der reinen Erkenntnis (Berlin 1902, 21914) 42–45, bes. 43. 112  H. Cohen: Kants Begründung der Ethik (Berlin 1877) 24 f.; s. hierzu auch P. Schulthess: Einleitung zu H. Cohen: Werke, Bd. 5 a. a.O. [Anm. 109] 11*.

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vollzogen hat und auf gegebenen Grundlagen sich zu vollziehen fortfährt«.113 Für ihn geht die »Wissenschaft […] der Logik und deren Ergänzung vorauf«,114 so dass die eigentliche Aufgabe der Erkenntniskritik im Sinne einer transzendentalen Logik115 nicht in der Analyse der Konstitution der Wissenschaft und ihrer Gegenstände, sondern in der Geltungsbegründung und -erklärung ihrer Aussagen liegt.116 Philosophie als Erkenntniskritik ist stets auf Wissenschaft zu beziehen, hat aber gleichwohl eine von der Wissenschaft wohlunterschiedene Aufgabe: »[W]as die Wissenschaft zur Wissenschaft macht, welche Bedingungen ihrer Gewissheit sie voraussetzt, von welchen Grundsätzen ihre Wirklichkeit nach ihrem angenommenen Werthe als Wissenschaft ermöglicht wird – das ist die natürliche Frage aller Philosophie; das ist das Problem der in Kant reif gewordenen Philosophie.«117 Paul Natorp übernimmt später in seinem Werk Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften (1910) zunächst Cohens Ausgangspunkt – die Klärung apriorischer Voraussetzung von Erfahrung, die beim »›Faktum‹ der Wissenschaft«118 ansetzt –, kommt aber in seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Positivismus wie auch mit der aktuellen Grundlagendiskussion der mathematischen Wissenschaften119 zu einer ›dynamischen‹ Auffassung von Wissenschaft als »Wissen-schaffen«.120 Nach Natorp soll die Logik die Wissenschaft nicht als abgeschlossenes Ganzes, sondern als einen offenen Prozess behandeln, dessen Entwicklungsgesetze selbst sie noch zu bestimmen hat.121 Gegen Cohen konstatiert er daher: »Der Fortgang, die Methode ist alles […]. Also darf das ›Faktum‹ der Wissenschaft nur als ›Fieri‹ verstanden werden«.122 Auch für Ernst Cassirer gilt später: »[…] das ›Faktum‹ der Wissenschaft ist und bleibt […] seiner Natur nach ein geschichtlich sich entwickelndes Faktum«.123 Sein Ziel ist dabei, durch die Analyse der Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaftsentwicklungen letzte ›Invarianten‹ wissenschaftlicher Erfahrung aufzudecken und so dem Kantischen Systemgedanken in einem ›dynamisierten‹ Sinne Rechnung zu tragen. 124 113 

H. Cohen: Das Prinzip, a. a.O. [Anm. 109] 5. Ebd. 5. 115  Vgl. ebd. 7. 116  S. hierzu Helmut Holzhey: Die Marburger Schule des Neukantianismus. In: Erkenntnistheorie und Logik im Neukantianismus: Eine Textauswahl, hg. von Werner Flach und H. Holzhey (Hildesheim 1980) 15–34, hier 15 f. 117  H. Cohen: Das Prinzip, a. a.O. [Anm. 109] 7; vgl. ders.: Kants Theorie der Erfahrung (Berlin 1871, 31918). Werke, Bd. 1.1 ( 5. Aufl., unveränderter ND der 3. Aufl., Hildesheim1987) 733 f. 118  P. Natorp: Die logischen Grundlagen, a. a.O. [Anm. 110] 10. 119  Vgl. H. Holzhey: Die Marburger Schule, a. a.O. [Anm. 116] 25 ff. 120  P. Natorp: Die logischen Grundlagen, a. a.O. [Anm. 110] 415. 121  Vgl. ebd. 10 ff. 122  Ebd. 14. 123  Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 1 (Berlin 1906, Darmstadt 31922; ND 1994) 18. 124 Vgl. Karl-Norbert Ihmig: Grundzüge einer Philosophie der Wissenschaften bei Ernst Cassirer (Darmstadt 2001) 94–193, bes. 97 f. 114 

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Mit Cassirer soll ein weiterer Blick über die Jahrhundertwende hinaus diese knappe Darstellung der Entwicklung des Wissenschaftsbegriffs des Neukantia­ nismus abrunden: 1910, im gleichen Jahr wie Natorps Grundlagen, erscheint mit Cassirers Substanzbegriff und Funktionsbegriff das zweite wissenschaftstheoretische Hauptwerk der Marburger Schule.125 Cassirer weist hier die – bereits von Hermann Cohen mit Blick auf Kant konstatierte »Relativierung der Substanz«126 – historisch am Übergang von subsumierenden und klassifizierenden ›Dingbegriffen‹ zu nebenordnenden und gesetzesstiftenden ›Relationsbegriffen‹ an zentralen Konzepten der Mathematik und Naturwissenschaften nach127 und argumentiert auch systematisch für die Allgemeinheit eines dem »Ideal des wissenschaftlichen Begriffs« gemäßen »Reihenprinzips«.128 Schon mit diesem Prinzip geht eine ›Symbolisierung‹ wissenschaftlicher Erkenntnis einher. Cassirer behandelt später129 Wissenschaft als eines unter mehreren Symbolsystemen (wie Mythos, Religion und Kunst), die nicht aufeinander zurückführbar sind.130 Mit ihren sprachlichen und kulturellen Bindungen büßt Wissenschaft bei ihm zum Teil jene erkenntnistheoretische Privilegierung ein, die ihr bei Cohen und Natorp noch zukommt. Sie behält jedoch in den Symbolisierungen der »reinen Wissenschaft« (u. a. der Logik und Mathematik) einen ›reflexiven Vorrang‹ insofern, als hier erst nach Cassirers Auffassung der Geist sich »wahrhaft als das entdeckt, was das Prinzip, was den Anfang der Bewegung in sich selbst hat«.131 Gerade in den Naturwissenschaften wird in dieser Reflexion die Loslösung vom Naturgegebenen bewußt.132 Sie gelten daher Cassirer in der Entwicklung der Menschheit sogar als »letzte Stufe ihrer geistigen Entwicklung«, als ihr »Höhepunkt«, als »Wesenszug der geistigen Kultur« und daher auch als zentrale Herausforderung an die Philosophie: »Es gibt heute keine andere Macht, die mit der des naturwissenschaftlichen Denkens verglichen werden kann. Die Naturwissenschaft gilt als Gipfel und Vollendung aller menschlichen Bestrebungen, als das Schlußkapitel in der Geschichte der Menschheit und das wichtigste Thema der europäischen Philosophie.«133

125  Vgl. H. Holzhey: Die

Marburger Schule, a. a.O. [Anm. 116] 31. H. Cohen: Logik, a. a.O. [Anm. 111] 212. 127  E. Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff (Darmstadt 1910, Berlin 71994) 35– 210. 128  Ebd. 25 f.; vgl. Ihmig: Grundzüge, a. a.O. [Anm. 124] 221 ff. 129 E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen (Berlin 1923–1929; Darmstadt 101994) Teil 3, 329–560. 130  Vgl. Thomas Knoppe: Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers. Zu den Grundlagen transzendentaler Wissenschafts- und Kulturtheorie (Hamburg 1992) 5 f., 101 ff. 131  E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, a. a.O. [Anm. 129] 398. 132  Vgl. Th. Knoppe: Die theoretische Philosophie, a. a.O. [Anm. 130] 160 f. 133  E. Cassirer: An Essay on Man (New Haven 1944), dt.: Was ist der Mensch? Versuch einer Philosophie der menschlichen Kultur (Stuttgart 1960) 263. 126 

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D. ›Kritisch-Wissenschaftsorientierte‹ Bestrebungen Innerhalb der aprioristischen Tradition sind auch stark wissenschaftsorientierte und weitgehend aus den Naturwissenschaften selber erwachsende philosophische Bestrebungen zu verzeichnen, die die ›Empirisierung‹ und ›Hypothesierung‹ des Wissenschaftsbegriffs besonders deutlich hervortreten lassen. Sie wurden134 und werden135 zwar dem Neukantianismus in einem weiten Sinne zugerechnet, blieben aber außerhalb seiner ›schulphilosophischen‹ Ausbildung und verabschiedeten letztlich zentrale und konstitutive Elemente der Kantischen Wissenschaftstheorie. Der wohl wichtigste, wissenschaftlich und auch wissenschaftsorganisatorisch äußerst einflussreiche Vertreter solcher Bestrebungen ist Hermann von Helmholtz, in dessen Werk die ›Modernisierung‹ des klassischen Wissenschaftsbegriffes über ein halbes Jahrhundert hinweg exemplarisch aufweisbar ist.136 Der Physiker, Physiologe, Mediziner und Philosoph bildet sein Wissenschaftsverständnis zunächst stark an Kants Theorie der Naturwissenschaft aus, entfernt sich aber um 1870 zusehends von dieser Position und vertritt in seiner späteren Laufbahn eher empiristische Auffassungen, die jedoch stets von einer ›kritischen‹ Reflexion über Voraussetzungen und Methoden der Wissenschaften begleitet bleiben. ›Kantisch‹ ist etwa Helmholtz’ frühe Unterscheidung zwischen den »beschreibenden Naturwissenschaften«,137 die in ihrer Sammlung und Ordnung von Tatsachen dem entsprechen, was er an anderer Stelle als bloßes »Wissen« bezeichnet,138 und eigentlicher, d. h. auf Gesetzeserkenntnis beruhender Wissenschaft: »Es ist nicht genug, die Thatsachen zu kennen; Wissenschaft entsteht erst, wenn sich ihr Gesetz und ihre Ursachen enthüllen.«139 Der starke Einfluss Kants auf seinen frühen Mechanismus140 manifestiert sich u. a. in der Unterscheidung eines empirischen bzw. »experimentellen Theils« und eines apriorischen bzw. »theoretischen Theils« der physikalischen Wissenschaften141 und wirkt in der 134 Vgl. F. Ueberweg: Geschichte der Philosophie, a. a.O. [Anm. 91] 364, dagegen wendet sich allerdings bereits früh Joseph Schwertschlager: Kant und Helmholtz erkenntniss-theoretisch verglichen (Freiburg 1883) bes. 95 ff. 135  K.-Ch. Köhnke: Entstehung und Aufstieg, a. a.O. [Anm. 92] bes. 146 ff. 136 Vgl. G. König: Der Wissenschaftsbegriff bei Helmholtz und Mach. In: Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie, a. a.O. [Anm. 19] 90–113, bes. 100; Gregor Schiemann: Wahrheitsgewissheitsverlust. Hermann von Helmholtz’ Mechanismus im Anbruch der Moderne. Eine Studie zum Übergang von Klassischer zu moderner Naturphilosophie (Darmstadt 1997) bes. 309 ff. 137  Hermann von Helmholtz: Ueber Goethe’s naturwissenschaftliche Arbeiten (1853). In: Vorträge und Reden, 2 Bde. [= VuR] (Braunschweig 51903), Bd. 1, 23–45, hier 25 f. 138  H. von Helmholtz: Ueber das Verhältniss der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaften (1862). VuR Bd. 1, 157–185, 169. 139  Ebd. 169. 140  Vgl. H. von Helmholtz: Ueber die Erhaltung der Kraft (1847). In: Ostwalds Klassiker der exacten Wissenschaften, Bd. 1 (Leipzig 1889) 7. 141  Ebd. 3 f.

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These fort, dass »das Endziel der Naturwissenschaften ist […] sich in Mechanik aufzulösen«.142 Später betont er dagegen nicht nur die Enge des Anwendungsbereichs der mathematischen Physik als »vollendeter Wissenschaft«,143 sondern auch, dass sie eine »reine Erfahrungswissenschaft ist; dass sie keine anderen Principien zu befolgen hat, als die experimentelle Physik«.144 In der Folge nähert er sich Gustav Robert Kirchhoffs Deskriptionismus an, den er ›gesetzestheoretisch‹ umdeutet.145 Dabei bestimmt er jetzt in durchaus empiristischer Weise »echte Wissenschaft […] als eine methodisch und absichtlich vervollständigte und gesäuberte Erfahrung«.146 Experimente sind ihm nun »die eigentliche Basis der Wissenschaft«,147 und unfruchtbaren, »angeblichen Deductionen a priori«148 stellt er nun die induktive Methode als primäres Verfahren der Wissenschaft gegenüber.149 Helmholtz hat in zahlreichen Vorträgen und Aufsätzen die z. T. ideologisch aufgeladenen wissenschaftspolitischen und -organisatorischen Diskussionen seiner Zeit durch seine integrierenden, die komplementären Funktionen der verschiedenen Wissenschaftsbereiche herausarbeitenden Reflexionen auf das Wissenschaftsgesamt zu versachlichen gesucht. In der Befolgung der wissenschaftlichen Methode weisen ihm Natur- und Geisteswissenschaften die »engste Verwandtschaft« ebenso auf »wie in den letzten Zielen beider Klassen von Wissenschaften«; erstere können sich auf Grund der relativen Einfachheit ihrer Gegenstände »die unbestechliche Kritik der Thatsachen« leichter zur Prüfung nutzbar machen,150 letztere haben jedoch den wertmäßigen Vorzug, dass sie sich »mit den theuersten Interessen des menschlichen Geistes und mit den durch ihn in die Welt eingeführten Ordnungen befassen«.151 Philosophie und Naturwissenschaften ist das erkenntnistheoretische Interesse und die erkenntnistheoretische Aufgabe gemeinsam;152 von beiden streng zu unterscheiden ist Metaphysik als 142  H.

von Helmholtz: Ueber das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft (1869). VuR Bd. 1, 367–398, hier 379. 143  H. von Helmholtz: Antwortrede gehalten beim Empfang der Graefe-Medaille zu Heidelberg (1886). VuR Bd. 2, 311–320, hier 318. 144  H. von Helmholtz: Zum Gedächtniss an Gustav Magnus (1871). VuR Bd. 2, 33–51, hier 45. 145  Gustav Robert Kirchhoff: Vorlesungen über Mechanik (Leipzig 1876, 41897) 1; vgl. H. von Helmholtz: Einleitung zu den Vorlesungen über theoretische Physik, hg. von Arthur König und Carl Runge (Hamburg 1922) 13; ders.: Die Thatsachen in der Wahrnehmung (1878). VuR Bd. 2, 213–247, hier 242. Vgl. G. König: Der Wissenschaftsbegriff, a. a.O. [Anm. 136] 96. 146  H. von Helmholtz: Einleitung, a. a.O. [Anm. 145] 20. 147  H. von Helmholtz: Das Denken in der Medicin (1877). VuR Bd. 2, 165–190, hier 180. 148  H. von Helmholtz: Ueber das Streben nach Popularisierung der Wissenschaft (1874). VuR Bd. 2, 422–434, hier 432. 149  H. von Helmholtz: Das Denken in der Medicin, a. a.O. [Anm. 147] 183; ders.: Goethe’s Vorahnung kommender naturwissenschaftlicher Ideen. VuR Bd. 2, 337–361, hier 338 f. 150  H. von Helmholtz: Ueber die akademische Freiheit der deutschen Universitäten (1877). VuR Bd. 2, 191–212, hier 194; vgl. ders.: Über das Verhältniss, a. a.O. [Anm. 138] 165 ff. 151  H. von Helmholtz: Ueber das Verhältniss, a. a.O. [Anm. 138] 166, vgl. 178 f. 152  H. von Helmholtz: Die Thatsachen, a. a.O. [Anm. 145] 218.

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Versuch, allein durch »reines Denken Aufschlüsse über die letzten Principien des Zusammenhangs der Welt zu gewinnen«.153 Sie ist nur »vermeintliche Wissenschaft« und verhält sich zu einer erkenntniskritischen Philosophie wie die Astrologie zur Astronomie.154 Helmholtz’ Bestimmungen von Wissenschaft sind bis weit ins 20. Jahrhundert hinein einflußreich geblieben.155 Im Wandel seines Verständnisses von Wissenschaft wird eine Auflösung des klassischen Wissenschaftsbegriffs erkennbar, die für die mathematischen Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts allgemein charakteristisch ist.156

IV.  Empiristische Wissenschaftsbegriffe unterschiedlicher Provenienz A. Der frühe Britische Empirismus In den britischen Wissenschaftsdiskussionen des 19. Jahrhunderts sind die Naturwissenschaften (›sciences‹) gegenüber den Geisteswissenschaften (›humanities‹) noch tonangebender als im deutschsprachigen Kulturraum. ›Science‹ bleibt – abgesehen von einigen wichtigen Ausnahmen (vgl. V.A.) – methodologisch zunächst vom Induktivismus in der Tradition Francis Bacons geprägt, der programmatisch besonders durch Isaac Newton und den Newtonianismus – eine Bezeichnung, die in der Aufklärungszeit oft als Synonym für die experimental philosophy diente – an das 19. Jahrhundert vermittelt wurde. Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts löst sich die britische Tradition aus wissenschaftsimmanenten und -theoretischen Gründen von dieser Engführung und steht der deduktiven Methode und der theoretischen Spekulation generell größeren Raum zu.157 John Herschels Werk A Preliminary Discourse on the Study of Natural Philosophy (1830), das ausdrücklich an Bacon anschließt,158 dominierte die ältere Tradition für geraume Zeit und wurde vielfach als für den britischen Empirismus des 19. Jahrhunderts modellhafte Darstellung von Wissenschaft und ihrer Methodologie verstanden.159 Leitend für ihn ist die Unterscheidung von ›ab­ 153 

H. von Helmholtz: Über das Streben, a. a.O. [Anm. 148] 432 f. Ebd. 432 f. 155  Vgl. Hermann von Helmholtz and the Foundations of Nineteenth Century Science, ed. by David Cahan (Berkeley u. a. 1993); Universalgenie Helmholtz. Rückblick nach 100 Jahren, hg. von Lorenz Krüger (Berlin 1994). 156  S. hierzu näher H. Pulte: Axiomatik und Empirie, a. a.O. [Anm. 23] und für Helmholtz die Studie von Schiemann: Wahrheitsgewissheitsverlust, a. a.O. [Anm. 136]. 157 Vgl. Enrico Bellone: A World on Paper: Studies on the Second Scientific Revolution (Cambridge, Mass. 1980) 79 ff. 158  John Herschel: A Preliminary Discourse on the Study of Natural Philosophy (London 1830) 72, 104 f., 114, 181 ff. 159  Vgl. etwa William Minto: Logic, Inductive and Deductive (London 1893) 257; Peter Caws: Scientific Method. In: The Encyclopedia of Philosophy, ed. by Paul Edwards, Bd. 7 (New York 154 

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strakter Wissenschaft‹ als allgemeiner Gründekenntnis und ›natürlicher Wissenschaft‹ als allgemeiner Ursachenkenntnis: »Science is the knowledge of many, orderly and methodically digested and arranged, so as to become attainable by one. The knowledge of reasons and their conclusions constitutes abstract, that of cause and their effects, and of the laws of nature, natural science«.160 Wie vor ihm etwa auch David Hume, führt er beide Wissenschaftsfelder auf verschiedene Erkenntnisquellen zurück: erstere auf Vernunft in einem weiten Sinne (»memory, thought and reason«), letztere auf äußere Erfahrung (»observation« and »experiment«),161 die als gänzlich theoriefrei konzipiert ist.162 Die apriorischen ›abstract sciences‹ Logik und Mathematik sind auch bei Herschel durch besondere Erkenntnissicherheit ausgezeichnet163 und bringen notwendige Wahrheiten hervor,164 während das Erfahrungswissen über die Natur gewöhnlich vorläufig und fehlbar ist.165 Gleichwohl bleibt Herschel in seinen methodologischen Ausführungen zu den auf Gesetzes- und Ursachenkenntnis ausgerichteten »physical sciences«166 auch hier einem klassischen Wissenschaftsbegriff verhaftet, wenn er durch Induktion als abstrahierenden und (im Newtonschen Sinne) analysierenden167 Prozess für die Grundgesetze der Dynamik (»the head of all the sciences«) axiomatische Sicherheit beansprucht.168 In der Tradition des Baconschen Programm kann er Gesetze noch als vorurteils- bzw. theoriefreie Klassifikation von Beobachtungen (»general facts«) verstehen, deren sukzessive Verallgemeinerung zu einer infalliblen Wissenschaft von der Natur führt.169 Herschels Wissenschaftsverständnis hat nicht nur William Whewell (vgl. IV.B.) und den späteren Positivismus eines John Stuart Mill (vgl. IV.C.), sondern auch Wissenschaftler wie Michael Faraday, Charles Babbage und James Clerk Maxwell beeinflusst.170 Nicht zuletzt wurde es auch für Charles Darwin wichtig, der seine Evolutionstheorie zunächst unter Herschels Begriff von Wissenschaft

1967) 339–343, hier 339; Victorian Science. A Self-Portrait from the Presidential Addresses of the British Association for the Advancement of Science, ed. by George Basalla and William H. Coleman (Garden City, New York 1970) 399 ff.; Ulrich Charpa: John F. W. Herschels Methodologie der Erfahrungswissenschaft. In: Philosophia Naturalis 24 (1987) 121–148, bes. 121–125. 160  J. Herschel: Discourse, a. a.O. [Anm. 158] 18. 161  Ebd. 18. 162  Vgl. hierzu kritisch Joseph Agassi: Sir John Herschel’s Philosophy of Success. In: Historical Studies in the Physical Sciences 1 (1969) 1–36, bes. 12 ff. 163  J. Herschel: Discourse, a. a.O. [Anm. 158] 19 f. 164  Vgl. ebd. 19, 75. 165  S. hierzu ebd. 91 ff. 166  Vgl. ebd. 13 f., 75 ff. 167  Vgl. hierzu ebd. 85 ff. 168  Vgl. ebd. 96. 169  Ebd. 102; vgl. 96. 170  Vgl. U. Charpa: John F. W. Herschels Methodologie, a. a.O. [Anm. 159] 124 f.; Walter F. Cannon: John Herschel and the Idea of Science. In: Journal of the History of Ideas 22 (1961) 215–239.

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zu subsumieren suchte,171 im Zuge der Kritik dieser Theorie durch Herschel, Whewell und andere aber eine eigenständige, insbesondere nicht-induktive Wissenschaftsauffassung entwickelte.172

B. Der Französische Positivismus Der Terminus ›Positivismus‹ als philosophische Richtungsbezeichnung bildet sich am Ende des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts in Frankreich und auch in Deutschland aus; er beansprucht gewöhnlich neben dem Ausgang seiner Theoriebildung vom ›Gegebenen‹ auch eine weltanschauliche Orientierung an der Wissenschaft und ihrer Methode. Auguste Comte ist in der ersten Jahrhunderthälfte der wichtigste Vertreter und eigentliche Gründungsvater dieser Richtung. In seiner Grundlegung des Positivismus bildet »wirkliche Wissenschaft« (»la science réelle«) einmal einen Gegenpol zum »Mystizismus«, der auf einer (rein intellektuell zu verstehenden) »Einbildungskraft« (»l’imagination«) ohne genügende »Beobachtung« (»l’observation«) beruht; zugleich dient Wissenschaft aber zur Absetzung vom älteren »Empirismus«, dem Comte eine einseitige Leitung durch die Beobachtung zur Last legt, die auf einer »unfruchtbaren Anhäufung zusammenhangloser Fakten« beruhe.173 Dagegen kommen in »jeder gesunden wissenschaftlichen Theorie« (»de toute saine spéculation scientifique«) Beobachtung und Einbildungskraft im Verbund zur Geltung, wobei die Beobachtung leitend ist.174 Nach Comtes sog. ›Drei-Stadien-Gesetz‹ ist die positive Wissenschaft nach Theologie und nach Metaphysik als dritte und höchste Form der Naturerklärung aufzufassen.175 In seiner streng hierarchischen Wissenschaftsklassifikation176 steht die Mathematik als »Anfangswissenschaft« (»science initiale«) 171 

Charles Darwin: On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (London 1959, ND Cambridge, Mass. 1964) 1; The Autobiography of Charles Darwin, ed. by Nora Barlow (London 1958) 67 f.; vgl. Michael Ruse: The Darwinian Revolution (Chicago 1979); Silvian S. Schweber: John Herschel and Charles Darwin: A Study in Parallel Lives. In: Journal for the History of Biology 22 (1989) 1–71. 172 Vgl. David Hull: Charles Darwin and Nineteenth-Century Philosophy of Science. In: Foundations of Scientific Method. The Nineteenth Century, ed. by Ronald N. Giere and Richard S. Westfall (Bloomington, London 1974) 114–132; H. Pulte: Darwin in der Physik und bei den Physikern des 19. Jahrhunderts. Eine vergleichende wissenschaftstheoretische und –historische Untersuchung. In: Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, hg. von Eve-Marie Engels (Frankfurt a. M. 1995) 105–146, bes. 109 f., 121. 173  Auguste Comte: Discours sur l’esprit positif (Paris 1844), dtsch.: Rede über den Geist des Positivismus, hg. von Iring Fetcher (Hamburg 1979) 33. 174 Ebd. 175  A. Comte: Opuscule fondamental. In: ders.: Système de politique positive ou traité de sociologie instituant la religion de l’Humanité (Paris 1851–1854¸ 41912) Bd. 4 (Appendice) 77. 176  A. Comte: Cours, a. a.O. [Anm. 43] 44 ff., 83 ff.; Zur Ausbildung dieser Klassifikation vgl. Annie Petit: Genèse de la Classification des Sciences d’Auguste Comte. In: Revue de synthèse 115 (1994) 71–102.

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mit ihren Zweigen Arithmetik, Geometrie und Mechanik an oberster Stelle und bildet »den wahren Ursprung des ganzen Wissenschaftssystems«.177 Mit abnehmender Allgemeinheit ihrer Aussagen und zunehmender Komplexität ihrer Gegenstände178 folgen der Mathematik als weitere unter den »sechs Grundwissenschaften« (»des six sciences fondamentales«) die Astronomie, die Physik, die Chemie, die Biologie und die Soziologie nach; letztere stellt nach Comte »das einzig wesentliche Ziel der gesamten positiven Philosophie« dar.179 Der ›Abstieg‹ in der Wissenschaftshierarchie geht mit einer Zunahme methodologischer Anforderungen – bis hin zur Soziologie mit ihrer Einbeziehung der historischen Methode – einher.180 Die Biologie ist trotz ihres unzureichenden Entwicklungsstandes aufgrund ihrer holistisch-vergleichenden Methode für die benachbarte, ebenfalls nicht elementaristisch und reduktionistisch verfahrende Wissenschaft der Soziologie von großer Bedeutung.181 Das Ideal aber einer auf metaphysische Spekulationen, insbesondere auf problematische ontologische Annahmen verzichtenden und sich auf die gesetzmäßige Darstellung von konstanten Relatio­ nen unter den Erscheinungen beschränkenden ›positiven Wissenschaft‹ bleibt für Comte die analytische Mechanik.182 Erfolgreiche Voraussagen, etwa in der Astronomie, bestätigen, dass solche konstante Relationen gefunden wurden und sind – gegenüber der bloßen Faktensammlung der noch nicht ›positiv gewordenen‹ Wissenschaft im älteren Empirismus – das Ziel »echter Wissenschaft« (»la véritable science«) und ein »Hauptkennzeichen des positiven Geistes«.183 Carl Twesten überträgt später Comtes Drei-Stadien-Gesetz auch auf die Philosophie, unter der er »jede wirklich universelle Theorie« fasst; er will daher »drei Arten der Philosophie unterscheiden, die theologische, die metaphysische und die der exakten Wissenschaft«.184 Der starke Einfluss des Comteschen Positivismus im allgemeinen und seiner Wissenschaftsauffassung im besonderen erstreckt sich auf die wichtigsten philosophischen Strömungen des 19. Jahrhunderts,185 wobei insbesondere die metaphysikkritische Ausrichtung seines Begriffs von 177  A. Comte: Discours, a. a.O. [Anm. 173] 178  Vgl. Hermann

209. Gruber: Auguste Comte, der Begründer des Positivismus (Freiburg 1889)

42 f. 179  A. Comte: Discours, a. a.O. [Anm. 173]

209. Ebd. 209 f.; vgl. auch I. Fetscher: Einleitung, a. a.O. [Anm. 173] XV–XLIV, hier XXX f. 181  A. Comte: Discours, a. a.O. [Anm. 173] 213 f.; vgl. Mary Pickering: Auguste Comte. An Intellectual Biography, Bd. 1 (Cambridge 1993) 617, 623 f., 708. 182  A. Comte: Cours, a. a.O. [Anm. 43] 226–440; vgl. Craig G. Fraser: Lagrange’s Analytical Mechanics, its Cartesian Origins and Reception in Comte’s Positive Philosophy. In: Studies in the History and Philosophy of Science 21 (1990) 243–256; M. Pickering: Auguste Comte, a. a.O. [Anm.181] 584 f. 183  A. Comte: Discours, a. a.O. [Anm. 173] 35. 184  Anonymus [Carl Twesten]: Lehre und Schriften Auguste Comte’s. In: Preußische Jahrbücher, hg. von Rudolf Haym 4 (1859) 279–307, hier 281; zur Urheberschaft Twestens s. G. König: Der Begriff des Exakten. Eine bedeutungsdifferenzierende Untersuchung (Meisenheim a.G. 1966) 88, 130. 185  Vgl. A. Comte: Discours, a. a.O. [Anm. 173] 250–252 (Lit.), sowie: Positivismus im 19. Jahr180 

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Wissenschaft große Resonanz findet.186 Er wird aber – ungeachtet der Orientierung Comtes am Ideal der ›exakten Wissenschaft‹ – weniger über die Theorien der Mathematik und Naturwissenschaften als über die der Soziologie und deren Nachbardisziplinen (wie der Rechtswissenschaft) vermittelt und für diese bedeutsam. Die methodologische Diskrepanz zwischen Comtes ›leitender‹ und ›intendierter‹ Wissenschaft wird also in der Rezeption abgebildet und bestätigt auch für Comte die allgemeinere Feststellung von Joachim Ritter, »daß der Wissenschaftsbegriff des Positivismus in denjenigen Wissenschaften in Anknüpfung und Auseinandersetzung eine Rolle gespielt hat und spielt, zu deren Gegenstand an sich Voraussetzungen gehören, die nicht durch die Methode, die sie als Wissenschaft konstituiert, gesetzt sind«.187

C. Der spätere Britische Positivismus Für die weitere Ausbildung des positivistischen Wissenschaftsbegriffs ist besonders die britische Tradition wichtig. Sie sucht, wie besonders im Werke John Stuart Mills deutlich wird, einen Anschluss an Comtes Positivismus188 und auch an den älteren Induktivismus eines John Herschel.189 Zugleich bemüht sie sich um Abgrenzung von stärker ›theoriegeleiteten‹ Wissenschaftsauffassungen wie denen eines William Whewell (vgl. V.A.).190 Mill verteidigt gegen Herbert Spencer191 Comtes Klassifikation der Wissenschaften,192 gegen Comte jedoch betont er die Wichtigkeit einer von der Biologie unabhängigen Psychologie als Wissenschaft (»the science of psychology«)193 und besonders auch einer politischen Ökonomie (»a distinct branch of science«).194 Sie soll eine erst noch zu etablierende Soziologie stützen, die Mill als deduktive Wissenschaft nach dem Modell der Newtonschen Mechanik konzipiert.195 Eine normative, etwa von der Logik bereitgestellte allgemeine Definition von Wissenschaft kann es nach Mill nicht hundert, hg. von Jürgen Blühdorn und Joachim Ritter (Meisenheim a.G. 1971); Auguste Comte 1798–1998. In: Revue Internationale de Philosophie 52 (1998). 186  Alois Halder: Metaphysikkritische Aspekte im Positivismus des 19. Jahrhunderts. In: Positivismus im 19. Jahrhundert, ebd. 161–174, bes. 164 ff.; vgl. Jürgen von Kempski: Zum Selbstverständnis des Positivismus, ebd. 15–26, bes. 20 ff. 187  J. Ritter: Einführung. In: Positivismus im 19. Jahrhundert, a. a.O. [Anm. 185] 11–14, hier 12. 188  Vgl. John Stuart Mill: Auguste Comte and Positivism (London 1865, ND Bristol 1993). 189  Vgl. J. St. Mill: A System of Logic, Ratiocinative and Inductive (London 1843, 81872). Collected Works, ed. by John M. Robson, Bde. 7, 8, (Toronto, Buffalo 1973–74) bes. Bd. 7, 414 ff. 190  Vgl. ebd. 236 ff., 287 ff. 191  Vgl. H. Spencer: The Classification, a. a.O. [Anm. 43] 43 f. 192  J. St. Mill: Auguste Comte, a. a.O. [Anm. 188] 41 ff. 193  Ebd. 63. 194  J. St. Mill: A System of Logic, a. a.O. [Anm. 189] 901; vgl. Alan Ryan: The Philosophy of John Stuart Mill (London 1970) 140–147. 195  Vgl. A. Ryan: The Philosophy, ebd. 149–167.

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geben,196 sondern nur eine deskriptive, die vorläufig bleibt und sich notwendigerweise mit dem Bestand wahrer und allgemeiner Tatsachenaussagen verändert: »the definition of a science must necessarily be progressive and provisional.«197 Der Sachverhalt, dass Wissenschaft den Bestand des positiven Wissens in eine systematische, idealerweise deduktive Form bringt, ändert nichts daran, dass sie ein wesentlich zeitliches, dynamisch sich veränderndes Phänomen ist, wie besonders der von Mill eingehend untersuchte Prozess der Induktion deutlich macht. Auf induktivem Wege bildet Wissenschaft Tatsachenaussagen gleichsam auf Vorrat (»for record«) und wendet sie bei Bedarf – insbesondere für Zwecke der Voraussage – deduktiv an, wobei eine Abgrenzung zur Praxis des nichtwissenschaftlichen Alltags (»practical life«) nur durch den graduellen (und daher verläßlicheren) Charakter der wissenschaftlichen Induktion angebbar ist.198 Die Methoden der Naturwissenschaften im engeren Sinne (»physical sciences«) sind nach Mills Auffassung grundsätzlich auf die Humanwissenschaften (»moral sciences«) übertragbar.199 Dabei ist jedoch zu beachten, dass Moralität als solche nicht Wissenschaft, sondern Kunst ist (»Morality not a Science, but an Art«) – eine Ethik als Wissenschaft kann es für Mill nicht geben, weil die Aussagen der Wissenschaft gleichsam immer im ›Indikativ‹ und nicht im ›Imperativ‹ stehen müssen: »[…] the imperative mood is the characteristic of art, as distinguished from science«.200 Anders als im älteren Empirismus sind in seinem Positivismus alle deduktiven Wissenschaften, auch die Mathematik, als Erfahrungswissenschaften aufzufassen. Mills These, dass auch die Mathematik, einschließlich der Arithmetik, in Erfahrung gegründet sei,201 fand – befördert durch den »evolutionistischen Positivismus«,202 insbesondere denjenigen Herbert Spencers203 – starke Zustimmung, so etwa bei William Kingdon Clifford. 204 Vertreter einer aprioristischen Mathematikbegründung wie Gottlob Frege wiesen eine solche ›Naturalisierung‹ der Mathematik jedoch entschieden zurück. 205 Generell betont der britische Positivismus am Ausgang des 19. Jahrhunderts, im Unterschied zur älteren Tradition, die deskriptive gegenüber der explanativen Funktion von

196  Vgl. J. St. Mill: A

System of Logic, a. a.O. [Anm. 194] 3 f. Ebd. 140. 198  Ebd. 287 (Anm.). 199  Vgl. ebd. 943 f. 200  Ebd. 943; vgl. A. Ryan: The Philosophy, a. a.O. [Anm. 195] 187–212. 201  Vgl. J. St. Mill: A System of Logic, a. a.O. [Anm. 194] 290 ff., 609 ff. 202  S. Leszek Kolakowski: Die Philosophie des Positivismus (München 1971) 107–122. 203  Vgl. H. Spencer: First Principles (London 1862, 61937) 149 ff., 338 ff. 204  William Kingdon Clifford: The Common Sense of the Exact Sciences (New York 1885, London 41898; ND New York 1955) bes. 43 ff.; s. auch Karl Pearson: The Grammar of Science (London 1892, 21900) bes. 518–520. 205  S. Gottlob Frege: Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl (Breslau 1884). Centenarausgabe hg. von Christian Thiel (Hamburg 1986) bes. 19 ff., 36 ff. 197 

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Wissenschaft206 und zugleich ihre lebenspraktische Bedeutung.207 Getragen wird auch diese spätere Tradition von der Überzeugung, dass die wissenschaftliche Methode einer universellen Anwendung fähig sei: »There are no scientific subjects. The subject of science is the human universe; that is to say, everything that is, or has been, or may be related to man.«208

D. Phänomenalismus und Empiriokritizismus In den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ist eine Radikalisierung des empiristischen Denkens zu konstatieren, die selber nur vor dem Hintergrund der Wissenschaftsentwicklung, vor allem des Aufstiegs der Psychologie, der Physiologie und der Evolutionsbiologie, verstehbar sein dürfte. Ältere sensualistische Auffassungen, wie insbesondere die Humesche, werden mit neueren wissenschaftlichen Befunden zu einem Programm verknüpft, das wissenschaftliches Wissen auf einfache, unmittelbar gegebene Sinnesempfindungen bzw. -daten zurückführen möchte. Richard Avenarius’ ›Empiriokritizismus‹ und Ernst Machs ›Phänomenalismus‹ sind diesem Programm verpflichtet: Sowohl Mach209 als auch Avenarius fassen Wissenschaft als eine Verstandesleistung auf, die eine Vielzahl von Erfahrungen in theoretischer Form in ›denkökonomischer‹ Weise komprimiert.210 Dies gilt selbst für die Philosophie: »[…] die eine Wissenschaft, die sich so stolz die ›Wissenschaft der Wissenschaften‹ genannt hat, […] die Philosophie« unterliegt,211 da sie »die wissenschaftliche Erfassung der Gesammtheit als […] eigenthümliche Aufgabe« zum Ziel hat,212 dem »Princip des kleinsten Kraftmasses« als dem »Grund aller theoretischen Apperceptionen, alles Triebes zu begreifen und aller begreifenden Wissenschaften«.213 Insofern 206  Vgl. W.

K. Clifford: The Common Sense, a. a.O. [Anm. 204] 1 ff., 115 ff.; dagegen wendet sich noch William Stanley Jevons: The Principles of Science. A Treatise on Logic and Scientific Method (London 1883) 532 ff. 207  Vgl. etwa William Kingdon Clifford: On the Aims and Instruments of Scientific Thought (1872). Lectures and Essays, ed. by Leslie Stephen and Frederick Pollock (London 21886) 85–109. 208  Ebd. 86; vgl. auch K. Pearson: The Grammar of Science, a. a.O. [Anm. 204] 12 ff., 24 ff. 209  Vgl. Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (Jena 1886, 91922, ND Darmstadt 1991), 38–46, bes. 40 f.; vgl. Hermann Lübbe: Positivismus und Phänomenologie (Mach und Husserl). In: Beiträge zu Philosophie und Wissenschaft. Wilhelm Szilasi zum 70. Geburtstag, hg. von Helmut Höfling (München 1960) 161–184, hier 165. 210  Richard Avenarius: Philosophie als Denken der Welt gemäss dem Princip des kleinsten Kraftmasses. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung (Leipzig 1876) bes. 16 ff., 32 ff.; E. Mach: Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung. In: ders., Populär-wissenschaftliche Vorlesungen (Leipzig 1896, 51923, ND Wien 1987) 217–244, bes. 222 ff., 242 ff.; ders.: Die Leitgedanken meiner naturwissenschaftlichen Erkenntnislehre und ihre Aufnahme durch die Zeitgenossen. In: Physikalische Zeitschrift 11 (1910) 599–606, bes. 600 ff. 211  R. Avenarius: Philosophie, a. a.O. [Anm. 210] 16. 212  Ebd. 20. 213  Ebd. 17, vgl. 21.

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sind wissenschaftliche Theorien bei beiden als Instrumente bzw. ›Denkwerkzeuge‹ zu verstehen, deren Form durch ein Prinzip der intellektuellen Sparsamkeit bestimmt sein soll. Mach unterscheidet in der progressiven Entwicklung einer Wissenschaft die experimentelle, die deduktive und die formelle Stufe214 und bildet für jede Stufe einen Begriff von Wissenschaft aus.215 Generell kann Wissenschaft auch bei ihm auf keiner dieser Stufen über die ›reine Erfahrung‹ im Sinne der Konstatierung von Wahrnehmungstatsachen hinausgehen: »Die Wissenschaft schafft nicht eine Tatsache aus der anderen, sie ordnet aber die bekannten.«216 Die Höherentwicklung von Wissenschaft ist also lediglich durch eine immer verbesserte Darstellung der Tatsachen im Sinne einer Steigerung der Einfachheit und Ökonomie gekennzeichnet217 und wird dann erreicht, wenn Wahrnehmungskomplexe auf funktionale Beziehungen zwischen möglichst wenigen gleichartigen Wahrnehmungselementen zurückgeführt werden können.218 Entsteht in diesem Sinne »Wissenschaft […] immer durch einen Anpassungsprozeß der Gedanken an ein bestimmtes Erfahrungsgebiet«,219 so gewinnt mit ihrer fortschreitenden Entwicklung auch die Anpassung an bereits ausgebildete wissenschaftliche Gedanken an Gewicht, so dass Mach konstatieren kann: »In kürzester Art ausgedrückt erscheint […] als Aufgabe der wissenschaftlichen Erkenntnis: Die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und die Anpassung der Gedanken aneinander.«220 Dabei ist seine Idee, die Ausbildung von Wissenschaft als eine kognitive Anpassungsleistung aufzufassen, maßgeblich von Darwins Evolutionstheorie beeinflusst,221 weist allerdings in ihrer weiteren Ausbildung zu einer allgemeinen Theorie der Wissenschaftsentwicklung eher lamarkistische Züge auf.222 Bereits Hans Kleinpeter macht darauf aufmerksam, dass durch Machs Phänomenalismus eine »ganz neue Definition von ›Wissenschaft‹« gegeben wird, »die ganz wesentlich von allen früheren Begriffsbestimmungen abweicht und »vor ihnen eben den Umstand voraus hat, daß sie unserem Streben ein erreichbares Ziel setzt«.223 Tatsächlich erreicht mit Mach die Auflösung des eingangs als klassisch beschriebenen Wissenschaftsbegriffs innerhalb des 214 Ernst

Mach: Die Mechanik. Historisch-kritisch dargestellt (Leipzig 1883, 91933, ND Darmstadt 1982) 409. 215  S. hierzu G. König: Der Wissenschaftsbegriff, a. a.O. [Anm. 136] 102 ff. 216  E. Mach: Die ökonomische Natur a. a.O. [Anm. 210] 242. 217 Ebd. 238; s. auch E. Mach: Erkenntnis und Irrtum (Leipzig 1905, Berlin 51926, ND Darmstadt 1980) 179. 218  E. Mach: Die Analyse der Empfindungen, a. a.O. [Anm. 209] 13 ff.; vgl. auch ders.: Erkenntnis und Irrtum, ebd. 179. 219  Ebd. 25. 220  E. Mach: Die Leitgedanken, a. a.O. [Anm. 210] 600. 221  Vgl. H. Pulte, a. a.O. [Anm. 172] 132–137 und 141–145 (Lit.). 222  Ebd. 135 f.; näher hierzu Kurt Bayertz: Wissenschaftsentwicklung als Evolution? Evolutionäre Konzeptionen wissenschaftlichen Wandels bei Ernst Mach, Karl Popper und Stephen Toulmin. In: Zeitschrift für Allgemeine Wissenschaftstheorie 18 (1987) 61–91. 223  Hans Kleinpeter: Über Ernst Mach’s und Heinrich Hertz’ prinzipielle Auffassung der Physik. In: Archiv für systematische Philosophie 5 (1898) 159–184, hier 184.

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Empirismus einen gewissen Abschluss: Wissenschaft begegnet bei Mach nicht als eine Leistung allgemeinbegrifflicher und -gesetzlicher Erfahrungssystematisierung oder gar -konstituierung, sondern als ein ›Kompensationsinstrument‹ für das Unvermögens unseres Geistes, das erfahrbare Einzelne in seiner Gesamtheit zu erfassen,224 denn »wenn uns alle einzelnen Tatsachen, alle einzelnen Erscheinungen unmittelbar zugänglich wären […], so wäre nie eine Wissenschaft entstanden«.225 Gäbe es in Analogie zum heute sog. ›Laplaceschen Dämon‹ einen ›Machschen Dämon‹, der über ein solches Vermögen verfügte, so ließe sich von diesem sagen: »Ein ›Machscher Dämon‹ benötigte keine Wissenschaft.«226 Machs Wissenschaftsauffassung, besonders aber die ihr zugrunde liegende Erkenntnistheorie, hat den logischen Empirismus, der sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ausbildet, deutlich beeinflusst und insbesondere in der Programmatik des Wiener Kreises seine Spuren hinterlassen.

V.  Vermittelnde Wissenschaftsbegriffe Es liegt auf der Hand, dass die Geschichte eines komplexen Begriffs wie ›Wissenschaft‹ nicht nach einem Prinzip von ›Kopf oder Zahl‹ (respektive ›Apriorismus oder Empirismus‹) geschrieben werden kann. Gleichsam ›zwischen‹ den beiden vorgestellten Traditionslinien sind verschiedene, untereinander recht heterogene Auffassungen von Wissenschaft zu verorten, die mit dem Apriorismus die Bedeutung der Theorie und der theoretischen Spekulation für Wissenschaft betonen, aber mit dem Empirismus die Erfahrung nicht nur für unverzichtbar halten, sondern oft auch als wissenschaftskonstitutiv ansehen. Sie können verkürzt so charakterisiert werden, dass sie Theorie und Erfahrung in ein ›Gleichgewicht‹ zu bringen suchen und dabei auf apodiktische Wahrheitsansprüche für Wissenschaft ganz oder weitestgehend verzichten. Einige wichtige dieser vermittelnden Wissenschaftsbegriffe sollen zur Abrundung dieses Überblicks noch kurz vorgestellt werden.

A. William Whewell William Whewell war der wohl wichtigste englische Wissenschaftstheoretiker und -historiker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er spielt offenbar – bei aller sonstigen Abgrenzung – auf Francis Bacons Begriff der Interpretation an, wenn er konstatiert: »Man is the interpreter of Nature, and Science is the 224  Vgl. E. Cassirer: Das

Erkenntnisproblem, a. a.O. [Anm. 123] Bd. 4,115. E. Mach: Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit (Prag 1871, 21909) 31. 226  G. König, Der Wissenschaftsbegriff, a. a.O. [Anm. 136] 110. 225 

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right Interpretation.«227 In seinem Versuch, den von Bacon inaugurierten Induktivismus und einen Kantischen Apriorismus wissenschaftstheoretisch zu einer Einheit zu bringen, unterscheidet er »two principal processes by which science is constructed«, nämlich die Explikation von Begriffen (»Explication of Conceptions«) und die Sammlung von Tatsachen (»Colligation of Facts«).228 Wissenschaft bildet sich als besondere Form von Erkenntnis bzw. Wissen (»knowledge«) durch systematische Anwendung beider Verfahren aus: »When our conceptions are clear and distinct, when our facts are certain and sufficiently numerous, and when the conceptions, being suited to the nature of the facts, are applied to them so as to produce an exact and universal accordance, we attain knowledge of a precise and comprehensive kind, which we may term Science.«229 Da es für Wissenschaft keine Fakten ohne Theorie gibt, wird wissenschaftlicher Fortschritt primär nicht durch die Sammlung von Fakten, sondern durch die Anwendung grundlegender wissenschaftsleitender Ideen (»fundamental ideas«) erzielt.230 Deren nähere Bestimmung erfolgt in starker Bezugnahme auf Kant231 und führt Whewell zur Einteilung der reinen Wissenschaften (»Pure Sciences«) bzw.  formalen Wissenschaften (»Formal Sciences«) nach den jeweils zur Anwendung kommenden Ideen.232 Diese Wissenschaften verfahren deduktiv und sind von keiner Induktion abhängig,233 ihre Ideen kommen jedoch in den induktiven Wissenschaften als ›leitende Prämissen‹ zur Anwendung.234 Wissenschaft überhaupt – sowohl in ›reiner‹ als auch in ›induktiver‹ Form – will Whewell von den Künsten (»Arts«) strikt unterschieden wissen: »Art and Science differ. The object of Science is Knowledge, the objects of Art, are Works. In Art, truth is a means to an end; in Science, it is the only end. Hence the Practical Arts are not to be classed among the Sciences.«235 Whewells Bestimmung von Wissenschaft konnte sich in und nach der bekannten Auseinandersetzung mit Mill236 in England gegenüber einer weitgehend empiristisch gebliebenen Wissenschaftsauffassung nicht durchsetzen, hat aber gleichwohl in verschiedener Hinsicht weitergewirkt. Dies gilt insbesondere 227  William

Whewell: The Philosophy of the Inductive Sciences (London 1840, 21847, ND London 1967) Bd. 1, 37; vgl. 10 ff. und Bd. 2, 443 (Aph. I). 228  Ebd. Bd. 2, 5. 229  Ebd. 3. 230  Vgl. ebd. 71 ff., 139 ff. 231  Vgl. Curt J. Ducasse: William Whewell’s Philosophy of Scientific Discovery. In: Theories of Scientific Method: The Renaissance through the Nineteenth Century, ed. by Edward H. Madden (Seattle 1960) 183–217, hier 183 f.; G. Buchdahl: Deductivist versus Inductivist Approaches in the Philosophy of Science as Illustrated by some Controversies between Whewell and Mill. In: William Whewell. A Composite Portrait, ed. by Menachem Fisch and Simon Schaffer (Oxford 1991) 311–344, 318 f., 331 ff. 232  Vgl. Whewell a. a.O. [Anm. 227] Bd. 1, bes. 78–81 und 82–163. 233  S. ebd. 83. 234  Vgl. ebd. Bd. 2, 74 ff., 472 ff. 235  Ebd. 471; vgl. 106 ff. 236  Näheres hierzu bei G. Buchdahl: Deductivist versus Inductivist Approach, a. a.O. [Anm.

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für seine enge Verbindung von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie sowie deren Implikationen für ein adäquates Verständnis von Wissenschaft selber237 wie auch seine Hervorhebung der Bedeutung wissenschaftlicher Fachsprache mit einer eigenen Terminologie (»technical terms«) für die Wissenschaftsentwicklung.238

B. Vermittelnde Positionen in der zweiten Jahrhunderthälfte Andere vermittelnde Auffassungen von Wissenschaft werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wichtig. In Frankreich verbindet Claude Bernard Elemente des älteren, von Comte geprägten Positivismus und eines gemäßigten Apriorismus in seiner einflussreichen Introduction à l’Étude de la Médicine Expérimentale.239 Bernard arbeitet u. a. in forschungspraktisch relevanter Weise die Auffassung aus, dass Wissenschaft zwar nur auf der Basis von Tatsachen (»faits«) entwickelt werden könne,240 bei deren Erwerbung aber nicht voraussetzunglos verfährt, sondern in ihren Beobachtungen und u. a. ihren Experimenten stets durch vorgefasste theoretische Überzeugungen (»idees«) geleitet werde: »L’idee […] est le mobile de tout raisonnement, en science comme ailleurs.«241 Sein Werk hat über die Medizin hinaus gewirkt und insbesondere im späteren Positivismus eine kritischere Haltung zur Wissenschaft befördert.242 Wie Whewell wendet sich in England auch William Stanley Jevons gegen Mills einseitig-positivistisches Verständnis von Wissenschaft.243 »Science« entsteht für ihn durch eine »discovery of Identity amidst Diversity«,244 ist also nicht induk231]; Edward W. Strong: William Whewell and John Stuart Mill: Their Controversy about Scientific Knowledge. In: Journal of the History of Ideas 16 (1955) 209–231. 237  W. Whewell: The History of the Inductive Sciences, from the Earliest to the Present Time (London 1837, 31857, ND London 1967); ders.: The Influence of the History of Science upon Intellectual Education (London 1854); ders.: On the Philosophy of Discovery: Chapters Historical and Critical (London 1856); vgl. Menachem Fisch: William Whewell, Philosopher of Science (Oxford 1991); Laura J. Snyder: Whewell and the Scientists. Science and Philosophy of Science in 19th Century Britain. In: History of Philosophy of Science. New Trends and Perspectives, ed. by Michael Heidelberger and Friedrich Stadler (Dordrecht, Boston, London 2002) 81–94. 238  W. Whewell: The Pilosophy, a. a.O. [Anm. 227] bes. Bd. 1, 481 ff. Bd. 2, 479 ff., 492 ff., 549 ff. 239  Claude Bernard: Introduction à l’Étude de la Médicine Expérimentale (Paris 1865; ND Paris 1943); vgl. Joseph Schiller: The Genesis and Structure of Claude Bernard’s Experimental Method. In: Foundations of Scientific Method, a. a.O. [Anm. 172] 133–160, bes. 159 f. (zu Comte). 240  C. Bernard: Introduction, a. a.O. [Anm. 239] 11–45. 241  Ebd. 45–85, bes. 63. 242  Vgl. hierzu Amédée Ferraud: Claude Bernard et la science contemporaine (Paris 1879); Reino Virtanen: Claude Bernard and his Place in the History of Ideas (Lincoln, Neb. 1960); Georges Canguilhem: L’idée de médicine expérimentale selon Claude Bernard (Paris 1965). 243  William Stanley Jevons: John Stuart Mill’s Philosophy Tested (1877–1879). In: ders.: Pure Logic and other Minor Works, ed. by Robert Adamson and Harriet A. Jevons (New York 1890) 199–294. 244  W. St. Jevons: The Principles of Science, a. a.O. [Anm. 206] 1.

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tiv im Sinne einer bloßen empirischen Datenerhebung vor der Theoriebildung, sondern von vornherein in ihren Vergleichungen und Klassifikationen theoretisch orientiert: »Accordingly, the value of classification is co-extensive with the value of science and general reasoning«.245 Ähnlich wie bei Avenarius und Mach, haben dabei Klassifikationen der Wissenschaft denkökonomische Funktion. Da sie unter verschiedenen, grundsätzlich gleichberechtigten theoretischen Gesichtspunkten vorgenommen werden können, wendet Jevons sich gegen die in der älteren Tradition der Wissenschaftsklassifikation u. a. von André-Marie Ampère246 vertretene Vorstellung einer ausgezeichneten bzw. ›natürlichen‹ Klassifikation.247 Er nähert sich somit der modernen Auffassung, dass der gleiche Objektbereich durch verschiedene, grundsätzlich nicht voreinander ausgezeichnete Systeme von Wissenschaft dargestellt werden kann. In der Theorie der Physik des ausgehenden 19. Jahrhunderts findet man verwandte Auffassungen u. a. bei Ludwig Boltzmann und Heinrich Hertz, die dort jedoch primär am Begriff der Theorie entwickelt werden. Eine interessante Zwischenstellung, die in der aktuellen wissenschaftstheoretischen Diskussion zur theoretischen Unterbestimmtheit einen gewissen Anschluss findet,248 nimmt auch der Pragmatismus ein. Charles Sanders Peirce ordnet den traditionellen logischen (wie: Systemcharakter) und methodologischen Spezifizierungen (wie: Verfahren der Induktion oder Deduktion) von Wissenschaft als Sonderform von Erkenntnis bzw. Wissen (»knowledge«) den Handlungs- und Prozesscharakter von Wissenschaft vor: »[…] it is necessary to consider science as living, and therefore not as knowledge already acquired but as the concrete life of the men who are working to find out the truth.«249 Peirce versteht Wissenschaft als ein grundsätzlich fehlbares Unternehmen und nimmt damit eine wichtige Bestimmung von Wissenschaft im modernen Verständnis, das im 20. Jahrhundert vor allem K. R. Popper betont hat, vorweg. Peirce versteht Wissenschaft aber auch als ein sich selbst korrigierendes, unbegrenzt fortschreitendes und wahrheitsapproximierendes Unternehmen.250 Er richtet sich damit auch gegen einen am Ausgang des 19. Jahrhunderts verbreiteten ›fin de siècle-Pessimismus‹, der ein Ende der naturwissenschaftlichen Entwicklung als Möglichkeit ins Auge fasst.

245 

Ebd. 674.

246  Vgl. A.-M. Ampère: Essai, a. a.O. [Anm. 43]

9. Principles of Science, a. a.O. [Anm. 206] 679 f. 248  S. hierzu Michael Anacker: Unterbestimmtheit und pragmatische Aprioris: Vom Tribunal der Erfahrung zum wissenschaftlichen Prozess (Paderborn 2012). 249  Charles Sanders Peirce: Science (1902). Collected Papers, ed. by Arthur W. Burks (Cambridge 1958) Bd. 7, 37–43, hier 38; vgl. ders.: What is Science? [Ch. 2 of the ›Minute Logic‹] (1902). In: ders., Essays in the Philosophy of Science, ed. by Vincent Thomas (New York 1957) 189–194, hier 189. 250  Vgl. Nicholas Rescher: Peirce’s Philosophy of Science. Critical Studies in His Theory of Induction and Scientific Method (Notre Dame 1978) bes. 1–39. 247  W. St. Jevons: The

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C. Critique de la Science Mit einigen Einschränkungen könnte man bereits Claude Bernard (vgl. V.B.) der Critique de la Science zuordnen, die im Frankreich der zweiten Jahrhunderthälfte durch Philosophen und Wissenschaftlern wie Antoine Augustin Cournot,251 Pierre Boutroux,252 Émile Meyerson,253 Gustav Milhaud254 und Edmond Goblot255 repräsentiert wurde.256 Ihr Ziel war es, den Positivismus Comtes durch eine neue wissenschaftliche Philosophie zu transformieren; sie nimmt dabei teils direkt auf das Werk Kants, teils auf dessen Vermittlung durch Charles Bernard Renouvier Bezug.257 Gegenüber Comte betont sie generell die aktive und gestaltende Rolle des menschlichen Geistes für die Wissenschaft: »Cette conception de la science rationelle montre suffisamment le rôle de l’intervention active de l’esprit.«258 Aus der Critique de la Science geht die für die weitere Ausbildung des Wissenschaftsbegriffes wohl einflußreichste wissenschaftstheoretische Richtung am Ausgang des 19. Jahrhunderts, der Konventionalismus, hervor. Seine beiden wichtigsten Vertreter sind Henri Poincaré und Pierre Duhem. Der Wissenschaftsbegriff des Konventionalismus orientiert sich vor allem an der Grundlagenentwicklung der Geometrie und der mathematischen Physik259 und ist daher deduktivistisch geprägt. Kennzeichnend für die ›ersten‹ Sätze (Prinzipien oder Axiome) einer Wissenschaft nach Poincaré ist, dass sie weder empirische Verallgemeinerungen noch synthetische Urteile a priori im Sinne Kants sind, sondern freie, aber nicht willkürliche Setzungen des menschlichen Verstandes, die unter pragmatischen Gesichtspunkten und solchen der empirischen Relevanz gewählt werden: »Gerade hieraus schöpfen diese [mathematischen] Wissenschaften ihre Strenge; diese Übereinkommen sind das Werk der 251  Vgl.

insbes. A. A. Cournot: Essai, a. a.O. [Anm. 43], sowie ders.: Des méthodes dans les sciences de raisonnement (Paris 1865); ders.: Études sur l’emploi des données de la science en philosophie (Paris 1872). 252  S. insbes. Pierre Boutroux: L’ideal scientifique des mathématiciens dans l’antiquité et dans les temps modernes (Paris 1920); dt.: Das Wissenschaftsideal der Mathematiker (Leipzig 1927, ND Wiesbaden 1968). 253  Vgl. Émile Meyerson: Identité et Realité (Paris 1908, 31926); dt.: Identität und Wirklichkeit (Leipzig 1930); ders.: De l’Explication dans les Sciences (Paris 1921); ders.: Réel et Déterminisme dans la Physique quantique (Paris 1933). 254 Vgl. Gustav Milhaud: La Science rationelle. In: Revue de Métaphyique et Moral 4 (1896), 280–302; ders.: Le Positivisme et le Progrès de l’Ésprit. Études critiques sur August Comte (Paris 1902). 255  Vgl. E. Goblot: Essai, a. a.O. [Anm. 43]; ders.: Traité de Logique (Paris 1918, 91952). 256  S. hierzu Isaak Benrubi: Philosophische Hauptströmungen der Gegenwart in Frankreich (1928) 184–261. 257  Vgl. ebd. 183 f. 258  G. Milhaud: La Science rationelle, a. a.O. [Anm. 254] 301. 259  Vgl. Jerzy Giedymin: Science and Convention. Essays on Henri Poincaré’s Philosophy of Science and the Conventionalist Tradition (Oxford 1982); H. Pulte: Beyond the Edge of Certainty: Reflections on the Rise of Physical Conventionalism. In: Philosophia Scientiae 4 (2000) 47–68.

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freien Tätigkeit unseres Verstandes […]. Hier kann unser Verstand behaupten, weil er befiehlt; […] diese Befehle beziehen sich auf unsere Wissenschaft, welche ohne dieselben unmöglich wäre; sie beziehen sich nicht auf die Natur.«260 Die Veränderbarkeit der Konventionen und somit die Möglichkeit unterschiedlich strukturierter und sprachlich verfasster, dabei empirisch gleichwertiger Wissenschaften über einen Erfahrungsbereich wird durch die pragmatische Forderung nach Einfachheit eingeschränkt, aber nicht grundsätzlich aufgehoben.261 Im Konventionalismus tritt also – ›selbst‹ in Bezug auf die für ihn maßgeblichen Wissenschaften Mathematik und Physik – das für den modernen Wissenschaftsbegriff so wichtige Charakteristikum der Pluralität besonders deutlich hervor. Erweist sich Poincaré insofern als entschiedener ›Modernisierer‹ des Kantischen Apriorismus, vertritt er zugleich mit dem ›modernen‹ Kant die Auffassung, dass Wissenschaft nie zur Erkenntnis eines ›Dinges an sich‹ gelangen kann: »[…] nicht nur die Wissenschaft kann uns die Natur der Dinge nicht kennen lehren, sondern nichts ist imstande, sie uns kennen zu lehren, und wenn ein Gott sie kennt, so würde er keine Worte finden, um sie auszudrücken.«262 Die Objektivität der Wissenschaft besteht allein in der Gesetzmäßigkeit der Beziehungen und deren Invarianten.263 Duhem betont gegenüber Poincaré u. a. die Einschränkungen bei der Wahl wissenschaftskonstitutiver Prinzipien bzw. Hypothesen nicht nur durch die systematische Forderung nach Einfachheit, sondern auch durch historische Determinanten.264 Weiter sucht er innerhalb von Wissenschaft zwischen deskriptiven Teilen und ›metaphysisch imprägnierten‹ erklärenden Teilen zu unterscheiden. Während letztere bei Theorieablösungen untergehen, bleiben erstere »fast vollständig« erhalten und verschaffen so »der Wissenschaft Beständigkeit des Lebens und des Fortschritts«.265 Besonders einflussreich für das Wissenschaftsverständnis des 20. Jahrhunderts, hier besonders für den logischen Empirismus und die neuere analytische Philosophie, wurde Duhems These (heute oft auch ›Duhem-Quine-These‹ genannt), wonach es nicht möglich ist, isolierte Teile wissenschaftlicher Theorien der empirischen Überprüfung zu unterwerfen. Zur Veranschaulichung seines wissenschaftstheoretischen Holismus verwendet Duhem die Metapher des Organismus: »Die physikalische Wissenschaft ist ein System, das man als Ganzes nehmen muß, ist ein Organismus, von dem man nicht einen

260 

Henri Poincaré: La science et l’hypothèse (Paris o. J. [1902]; ND Leipzig 1914), dt.: Wissenschaft und Hypothese (Leipzig 1914) XIV. 261  Vgl. ebd. 150. 262  H. Poincaré: La Valeur de la Science (Paris o. J. [1905]), dt.: Der Wert der Wissenschaft (Leipzig 1906, 21910) 201. 263  Vgl. ebd. 200. 264  S. hierzu Pierre Duhem: La Théorie physique, son objet et sa structure (Paris 1906), dt.: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien (Leipzig 1908, ND Hamburg 1978) 296–348. 265  Ebd. 38.

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Teil in Funktion setzen kann, ohne daß auch die entferntesten Teile desselben ins Spiel treten […].«266 Eine Radikalisierung des konventionalistischen Wissenschaftsbegriffs im Sinne ihrer weitgehend erfahrungsunabhängigen Konstitution durch Konven­ tionen, die nicht dem Anspruch auf Wahrheit unterworfen sind, sondern lediglich auf Erfolg in der Praxis abzielen, nimmt Édouard LeRoy vor:267 Danach wird Wissenschaft durch weitestgehend erfahrungsunabhängige Konventionen, die keinem Wahrheitsanspruch unterworfen sind, sondern sich nur an ihrem Erfolg in der Praxis zu messen haben, überhaupt erst konstituiert. Poincaré hat darin den Versuch einer Nivellierung von Wissenschaft und Alltagspraxis gesehen und mit der Replik »von der Wissenschaft und für die Wissenschaft« kritisch reagiert.268 An der Schwelle zum 20. Jahrhundert hebt er nicht nur gegen LeRoy, sondern ganz allgemein die spezifischen Leistungen einer stetig fortschreitenden Wissenschaft hervor, »ohne die moderne industrielle Entwicklung, im ganzen betrachtet, unmöglich gewesen wäre […]. Der Unwissendste lebt heute in einer durch die Wissenschaft gestalteten Umgebung und empfängt unbewußt ihren Einfluß. Die Wissenschaft ist es, die seinen Träumen die Form gibt, die in anderen Jahrhunderten eine ganz andere gewesen wäre.«269

VI.  Schluss: Ein Jahrhundert der Wissenschaft und der Wissenschaftsreflexion Wenn Wissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts Teil der Lebenswirklichkeit auch des ›Unwissendsten‹ geworden ist und selbst seinen ›Träumen‹ (Poincaré) oder – etwas nüchterner gesprochen – seinen Zukunftserwartungen noch ihre Form gibt, kann wohl von einem ›Jahrhundert der Wissenschaft‹ gesprochen werden. Wenn der in diesem Beitrag unternommene Versuch, in den unterschiedlichen Wissenschaftsbestimmungen der Zeit Hauptrichtungen zu identifizieren und zu charakterisieren, sowie Hauptentwicklungsmomente herauszuarbeiten, der Reflexion auf die Naturwissenschaften mehr Raum gegeben wurde als der auf die Geistes- und Sozialwissenschaften, so spiegelt dies selber einen Zug des Jahrhunderts wider: Der Aufstieg der Naturwissenschaften, ihre durchdringende Einwirkung auf die Lebenswirklichkeit und ihre zunehmenden Deutungsansprüche machen sie zum primären Bezugspunkt des Nachdenkens über Wissenschaft, und sie stehen auch im Vordergrund einer Wissenschaftsgläubig266  Ebd.

249; vgl. Can Theories be Refuted? Essays on the Duhem-Quine-Thesis, ed. by Sandra G. Harding (Dordrecht 1976). 267  S. Édouard LeRoy: Science et Philosophie. In: Revue de Métaphysique et de Morale 7 (1899) 375–425, 503–562, 708–731 und 8 (1900) 37–72; ders.: Une Positivsme nouveau a. a.O. 9 (1901), 138–153. 268  Vgl. Poincaré : La Valeur, a. a.O. [Anm. 262] 159–186. 269  Ebd. VII.

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keit, die die kritischen Distanzierungstendenzen, etwa in der Lebensphilosophie, überlagert: »[…] so sind denn wissenschaftliche Großtaten kaum jemals mehr gefeiert worden als in unserer Zeit, sobald nur ihr Nutzen für das Leben einleuchtend gemacht werden kann. Das ist natürlich am leichtesten bei Medizin und Naturwissenschaft.«270 Weiter habe ich versucht herauszustellen, wie sich innerhalb der verschiedenen philosophischen Richtungen der Wissenschaftsbegriff selber verändert – ein komplexer Prozess, der mit dem Etikett ›Modernisierung‹ nur angedeutet wird und erst durch die Ausfüllung der eingangs dargestellten, eher formalen Entwicklungstendenzen (vgl. Teil II) durch das vorgestellte historische Material an Konturen plausibel geworden sein mag. Dieser Prozess geht mit einer Distanzierung von (schul-)philosophischen Methodendirektiven, Begründungs­ ansprüchen und Systemidealen einher. Er sollte nicht so mißverstanden werden, als wenn der Systemgedanke in den Wissenschaften und für sie jede Bedeutung verloren hätte: Er bleibt vielmehr weiter präsent, wird aber gewöhnlich nicht mehr näher präzisiert und jedenfalls nicht mehr inhaltlich philosophisch gerechtfertigt, sondern gewöhnlich als formallogischer Ordnungsrahmen gedacht. Auch sollte die gemeinte Modernisierung eher als eine generelle Entwicklungscharakteristik verstanden werden, die Ausnahmen und Ungleichzeitigkeiten in Rechnung zu stellen hat. So schreibt etwa einer der wichtigsten Vertreter eines wissenschaftlich-philosophischen Denkens im frühen 20. Jahrhundert, der Begründer der modernen Logik, Gottlob Frege, wenn er mit Blick auf die Mathematik als Leitideal für die Wissenschaft generell proklamiert: »Man muss immer unterscheiden zwischen der Geschichte und dem System der Wissenschaft […]. Nur im Systeme vollendet sich die Wissenschaft.«271 Für den modernen Begriff von Wissenschaft bleibt dagegen, neben den eingangs dargestellten Charakteristika, festzuhalten: »Systematisierung […] ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung von Wissenschaftlichkeit […]. Eine systematische Ordnung ist zwar ein Element der ›Exaktheit‹ einer Wissenschaft im Aufbau […], aber sie ist nicht von letztlich entscheidendem Charakter.«272 Andere Bestimmungen von Wissenschaft werden demgegenüber wichtig: Peirce (vgl. V.B.) beispielsweise artikuliert nicht nur die grundsätzliche Fallibilität von Wissenschaft, sondern auch deren Praxisbezüge und den grundsätzlichen Handlungscharakter von Wissenschaft. Whewell (vgl. V.A.), später auch Mach (vgl. IV.D.) und Duhem (vgl. V.C.) anerkennen die historische Bedingtheit und Veränderbarkeit von Wissenschaft; im Zuge dieses Wandels rücken auch ihre sozialen und kulturellen Voraussetzungen sowie ihre institutionelle Verfasstheit stärker in den Blick. Diese Entwicklungen führen, in Verbindung mit dem Grundlagenstreit der Mathematik des frühen 20. Jahrhunderts und den tiefgreifenden Revolutio­ 270  Th. Ziegler: Die

geistigen und sozialen Strömungen, a. a.O. [Anm. 7] 623. Gottlob Frege: Logik in der Mathematik (1914). Nachgelassene Schriften, hg. von Hans Hermes, Friedrich Kambartel und Friedrich Kaulbach (Hamburg 21981) 219–270, hier 261. 272  Alwin Diemer: Was heißt Wissenschaft? (Meisenheim a.G. 1964) 74. 271 

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nen in der Physik dazu, dass dort bald auch die Vorstellung, Wissenschaft sei in ihrer Entwicklung durch einen stetigen und kumulativen Fortschritt gekennzeichnet, in Frage gestellt wird – ein wichtiger Problemkreis der weiteren Wissenschaftsreflexion. Die Wurzeln dieses Auffassungswandels sind aber bereits in den Dynamisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts und der Relativierung wissenschaftlicher Begründungsansprüche zu suchen. Nicht zuletzt sollte diese Begriffsgeschichte gezeigt haben, dass und in welchem Maße das 19. Jahrhundert auch ein Jahrhundert der Wissenschaftsreflexion war. Dieser Punkt betrifft eminent das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft in der fraglichen Zeit, denn die metatheoretische Auseinandersetzung mit dem ›Gegenstand‹ oder ›Faktum‹ Wissenschaft findet nicht allein in der ›akademischen Philosophie‹ statt, sondern auch in den Wissenschaften selber: Die Philosophie reagiert auf die neuen Entwicklungen der Wissenschaft und setzt sich mit deren – oft gegen die Philosophie erhobenen – Deutungsansprüchen auseinander; die Ausbildung einer sog. ›wissenschaftlichen Philosophie‹ im Neukantianismus zeigt dies besonders deutlich. In den Wissenschaften findet umgekehrt eine philosophische Reflexion auf den eigenen Gegenstand dort statt, wo ›schulphilosophische‹ Lehren den Grundlagenproblemen des eigenen Faches nicht beihelfen können; hierfür dürfte die Ausbildung einer »Philosophie der Physiker«273 ab dem Jahrhundertende ein besonders markantes Beispiel sein. Beide Strömungen münden im späteren 19. Jahrhundert in die Ausbildung von Wissenschaftstheorie bzw. Wissenschaftsphilosophie als einer eigenen Teildisziplin der Philosophie.274 Nun bedeutet die Einrichtung eigener Lehrstühle, Institute und Zeitschriften per se noch keinen Erkenntnisgewinn. Wichtiger als diese Teildisziplinenausbildung als solche ist daher, dass die gegen die Philosophie erhobenen Deutungsansprüche (vgl. II), besonders von Seiten des Materialismus und eines szientistischen Mechanismus, letztlich nicht eingelöst wurden. Die Philosophie erwies sich vielmehr nicht trotz, sondern (auch) auf Grund der ›Wissenschaftsexpansion‹ als unverzichtbar: Die weltanschaulich gefärbten Kontroversen der zweiten Jahrhunderthälfte haben nämlich, sofern sie von beiden Seiten argumentativ geführt wurden, gezeigt, dass die fortschreitende Entwicklung von Wissenschaft immer wieder Fragen hervorbringt, zu deren Beantwortung ihr selber die Mittel fehlen, denen sich aber auch die Philosophie nur mit Aussicht auf Erfolg zuwenden kann, wenn sie sich auf Voraussetzungen und Methoden wissenschaftlichen Denkens einlässt. Diese Art von Reflexion auf Wissenschaft ist in der Hauptsache ebenfalls eine Hervorbringung des 19. Jahrhunderts, und sie scheint die einzige Möglichkeit der Philosophie zu sein, Wissenschaft in der fortgeschrittenen Moderne zu bearbeiten. Eine Gefahr dieser Herangehensweise, der gerade heute wieder ein Teil der (sich als genuin ›wissenschaftlich‹ gebärdenden) Philosophie sehr stark ausgesetzt scheint, liegt darin, über eine be273  Vgl. Erhard 274 

Scheibe: Die Philosophie der Physiker (München 2006). S. hierzu näher H. Pulte: Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsphilosophie, a. a.O. [Anm. 11].

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dingungslose Anerkennung und bewusstlose Verinnerlichung wissenschaftlicher Methode die Dimension kognitiver und nichtkognitiver Werte zu verlieren, die im klassischen Wissenschaftsbegriff mitgeführt wurde, und zu der sich moderne Wissenschaft und ihre Anhängsel entschließen müssten, wenn sie nicht bloßes Instrument sein wollen. Vielleicht darf man Friedrich Nietzsches Worte in diese Richtung interpretieren, denn er war ja keinesfalls der kategorische Kritiker der Wissenschaft seiner Zeit, als der er manchmal dargestellt wird, sondern ein Denker, der die Wissenschaft und ihre Methode hoch zu schätzen, aber auch ihre Verlustgefahren hellsichtig einzuschätzen wusste: »Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser 19tes Jahrhundert auszeichnet, sondern der Sieg der wissenschaftlichen Methode über die Wissenschaft.«275

275 

Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1887–1889. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari Bd. 13 (München 1999) 442, Nr. 15 [51].

Personenregister

Abbt, Thomas  397 Achenwall, Gottfried  342, 343, 344 Adelung, Johann Christoph  398, 399 Adorno, Theodor W.  148, 158, 161 Aenesidemus-Schulze (Gottlob Ernst Schulze)  23, 26 d’Alembert, Jean Lerond  286, Altmeyer, Jean-Jacques  220 Ampère, André-Marie  516 Apelt, Ernst Friedrich  496, 497 Aristoteles  117–119, 201, 207, 291, 402, 488 Arndt, Ernst Moritz  411, 412, 415 von Arnim, Achim  401, 415 Aveling, Edward  186 Avenarius, Richard  142, 278, 279, 511, 516 von Baader, Franz  172, 224, 361, 366, 467 Babeuf, Gracchus (François Noël Babeuf) 406 Bacon, Francis  227, 246, 505, 513, 514 von Baer, Karl Ernst  182 Bahnsen, Julius  473–475, 478 Bakunin, Michail  431 Baptist, Johann  341 Bastian, Adolf  450, 452 Bauch, Bruno  278, 279 Bauer, Bruno  156, 229, 277, 331 Bauer, Otto  432 Babbage, Charles  506 Beck, Jacob Sigismund  23 Becket, Thomas  325 Belyj, Andrej  142 Beneke, Friedrich Eduard  40, 56, 479 Bergson, Henri  59–61 Bernard, Claude  515, 517 Bernays, Paul  497 von Bismarck, Otto Eduard Leopold  316, 334, 339, 341, 352, 353, 422, 423, 426

Bloch, Ernst  145 Bluntschli, Johann Caspar  308, 309, 334, 419 Bogdanow, Alexander  142 Boltzmann, Ludwig  137, 138, 141, 483 Bolzano, Bernard  36 le Bon, Gustave  141 Bonaparte, Napoleon  1, 229, 263, 346– 348, 352, 397, 398, 403, 408, 410–414, 418 Bonnet, Charles  165 Böhme, Jakob  461 Börne, Ludwig  172, 246, 339, 349, 350 Bossuet, Jacques-Béninge  211 Bourdieu, Pierre  93, 266, 372 Boutroux, Pierre  517 Braniß, Christlieb Julius  459, 460 Brandis, Johann Dietrich  472 Breitinger, Johann Jakob  323 Brentano, Clemens  401 Brentano, Franz  56, 385–387 Bronn, Heinrich Georg  186 Brücke, Ernst  140 Buchez, Phillippe J.-B.  236 Büchner, Georg  429 Büchner, Ludwig  2, 185, 449, 450 Buckle, Henry Thomas  227, 236, 238, 244 de Buffon, Georges-Louis Leclerc  170, 210 Bultmann, Rudolf  159 Bulwer-Lytton, Edward  213 Bunsen, Christian Carl Josias  450 Burcke, Edmund  202, 323 Burckhardt, Jacob  209, 241, 242, 244, 453 Burdach, Karl Friedrich  472 Bürger, Gottfried August  399, 401 Busch, Wilhelm  137 Canetti, Elias  141 Carrière, Moritz  447

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Personenregister

Carnot, Sadi  136 Carus, Carl Gustav  379, 387–389 Carus, Friedrich August  168 Cassirer, Ernst  45, 208, 278, 279, 282, 501, 502 De Chateubriand, François-René  214 von Cieszkowski, August  230 Clausius, Rudolf  136–138 Clifford, William Kingdon  510, 511 Cohen, Hermann: 44, 45, 278–282, 500–502 Cohn, Jonas  207 Comte, Auguste  2, 235, 246, 488, 507– 509, 515, 517 Comte de Gobineau, Arthur  312 Condillac, Étienne Bonnot  364 Constant, Benjamin  347–359 Coste, Pierre  192 de Coriolis, Gustave-Caspard  132 Cournot, Antoine Augustin  517 Cousin, Victor  227 Croce, Benedetto  126, 244 Cuvier, George  174, 472 Dahlmann, Friedrich Christoph  74, 422 Dahn, Felix  213 Danton, Georges  406 Darwin, Charles  174, 175, 178, 179, 181–183, 186, 187, 234, 236, 312, 313, 389, 449, 454, 471, 477, 506, 512 Darwin, Erasmus  174 Davy, Humphry  129 Descartes, René  129, 192, 195, 273, 376, 377 Delboeuf, Joseph  184 Demokrit 456 Desmoulins, Camille  372 Dessoir, Max  40 Diederichs, Eugen  429 Diderot, Denis  325 Dilthey, Wilhelm  8, 44, 58, 78, 79, 81, 120, 187, 195, 206–208, 238–241, 244, 278, 279, 452, 456, 457, 460–463, 493, 500 Disraeli, Benjamin  433 Drumont, Edouard  425

Du Bois-Reymond, Emil Heinrich  50, 53, 136 Duhem, Pierre  517, 518, 520 Dühring, Eugen  451 von Dusch, Alexander  327 Droysen, Johann Gustav  206, 226–228, 246, 351, 352, 450, 459, 460 Eberhard, Johann August  344, 354 Echtermeyer, Theodor  71 Eckhart (Meister), 145, 157, 161 Engels, Friedrich  124–126, 139, 157, 180, 184, 185, 233, 247, 249, 254, 258–260, 265, 277, 358, 367, 368, 431, 449, 451 Erhard, Johann Benjamin  171, 363, 364 Eriugena, Johannes Scotus  445 Eucken, Rudolf  186–189, 451–454 Faraday, Michael  129, 506 Fechner, Gustav Theodor  40, 56, 140, 375, 384, 385, 389 Feuerbach, Ludwig  120, 121, 123, 155, 156, 177, 277, 441 Fetscher, Iring  158 von Fichte, Immanuel Hermann  48, 49, 206 Fichte, Johann Gottlob  23, 26–33, 37, 48, 63, 64, 109, 110, 113, 152, 169, 195–198, 203–205, 211, 215, 217, 220, 271–274, 314, 315, 327, 340, 345, 364, 372, 373, 379, 409, 410, 412, 415, 430, 436–439, 443, 466, 468, 469, 481, 489 Florenskij, Pavel  142 Fontane, Theodor  2, 266 de Fontenelle, Bernard  348 Forster, Georg  169, 171, 343, 346, 407 Frantz, Constantin  220 Frege, Gottlob  36, 385, 386, 510, 520 Freud, Sigmund  2, 41, 60, 140, 141, 375, 377, 381 Freytag, Gustav  75, 213, 427 Fries, Jakob Friedrich  479, 492–497 Fromm, Erich  161 Gadamer, Hans-Georg  194 Galvani, Luigi  129

Personenregister

Gehlen, Arnold  55 Geiger, Theodor  135 von Gentz, Friedrich  363, 365, 366, Gervinus, Georg Gottfried  226 Glaßbrenner, Adolf  350 Goblot, Edmond  517 von Goethe, Johann Wolfgang  63, 64, 67–71, 73–76, 79, 90, 172, 183, 193, 195, 217, 231, 346, 347, 352, 399, 441, 443–445, 453, Görres, Joseph  225, 361, 414, 446, 447, 458, 459 Gor’kij, Maksim  142 Gottsched, Johann Christoph  321 Gramsci, Antonio  126 Grelling, Kurt  497 Grimm, Jacob und Wilhelm  401 Grove, William Robert  134 Gruntvig, Nikolai Frederik Severin  416 Haake, Hans  307 Habermas, Jürgen  158, 277, 304, 343 Haeckel, Ernst  139, 183–186, 436, 454, 455, 483 Haller, Albrecht von  165 Hamann, Johann Georg  21, 37, 270 von Harnack, Adolf  483, 486 Hartmann, Nicolai  126, 207, 208 von Hartmann, Eduard  40, 54, 278, 387, 388, 473, 474 Hebbel, Friedrich  453 Heidegger, Martin  61, 148, 159- 161, 163, 207, 461, 462 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  2, 32–38, 45, 46, 63, 66, 67, 70, 72–74, 78, 79, 84, 110–115, 119, 148, 151, 156, 171, 173, 175–178, 184, 191, 195, 196, 198–203, 205, 206, 208, 211, 218–221, 227–231, 235, 238, 241, 251, 271, 272, 274–277, 280, 281, 283, 288, 293, 298– 302, 313, 314, 327–329, 339, 368, 373, 421, 430, 431, 442, 446, 447, 453, 465, 473, 481, 482, 489, 496 Heine, Heinrich  74, 232, 233, 246, 351 Heisenberg, Werner  128

525

von Helmholtz, Hermann  56, 128, 130– 133, 138, 139, 277, 278, 476, 503–505 Helm, Ferdinand Georg  141 Herbart, Johann Friedrich  36, 40, 48, 51, 56, 57, 384, 479, 480 Herder, Johann Gottfried  21, 37, 63, 79, 135, 166–168, 170, 171, 176, 184, 187, 195, 196, 228, 238, 270, 314, 315, 375, 399, 400, 401, 413, 417, 430, 444, 445 Herodot 445 Herschel, Wilhelm  129 Herschel, John  472, 488, 505–507, 509 Hertz, Heinrich  128, 516 Hess, Moses  178, 230, 231, 359 Heydorn, Heinz-Joachim  70, 73 Hilbert, David  498 Hintze, Otto  316 von Hippel, Theodor Gottlieb  414 Hobbes, Thomas  149 d’Holbach, Paul Henri Thiry  325 Hölderlin, Friedrich  63, 195 Horkheimer, Max  158, 161 Hugo, Victor  213 von Humboldt, Alexander  441, 448, 461 von Humboldt, Wilhelm  63–67, 69, 70, 72, 73, 75, 79–81, 85, 136, 142, 195, 222, 226, 246, 314, 342, 352, 464 Hume, David  323, 506 Husserl, Edmund  60, 61, 159, 462 Huxley, Thomas  186 Jacobi, Friedrich Heinrich  18, 21, 26, 37, 168 Jaeggi, Rahel  163 Jahn, Friedrich Ludwig  410–412 James, William  40, 56–60, 481 Jefferson, Thomas  404 Jenisch, Daniel  167 Jevons, William Stanley  515, 516 Jordan, Wilhelm  419 Joule, James Prescott  128, 130, 131 Kant, Immanuel  7–28, 31, 32, 34–37, 41–44, 49, 51, 54, 56, 58, 63, 66, 71, 84, 87, 105–113, 114, 117, 168, 169, 171, 176, 184, 187, 192, 193–196, 198, 199, 202,

526

Personenregister

204–206, 215, 216, 238, 27–275, 277– 282, 293–298, 300–302, 318, 323, 340, 363, 364, 372, 373, 375–379, 384, 402, 411, 436, 439, 442, 461, 465, 466, 476, 481, 488, 492, 494, 495, 497, 501–503, 514, 517, 518 Kautsky, Karl  185, 247 Keller, Gottfried  453 Kirchhoff, Gustav Robert  504 Kirkegaard, Søren Aabye  2, 121, 122, 159, 221 Kleinpeter, Hans  512 Klinger, Max  473 Knapp, Ludwig  450 Kopernikus, Nicolaus  170, 360 Körner, Theodor  413 Koselleck, Reinhart  165, 178, 211, 313, 320 Kraft, Julius  497 von Kreittmayr, Wiguläus Xaver Aloysius 322 Kroner, Richard  207 Krug, Wilhelm Traugott  73, 172 Kuhn, Thomas  128 Labriola, Antonio  244 de Lagarde, Paul  76, 77, 428, 429, 455, 456 Lamarck, Jean Baptiste  175, 176, 472 de Lamennais, Félicité Robert  366 Lamprecht, Karl  228 Landsberg, Ernst  320 Langbehn, Julius  76, 77, 428, 429 Lange, Friedrich Albert  49, 50, 456, 480 Langewiesche, Dieter  330, 332 Lagrange, Joseph-Louis  286 Lask, Emil  278 Lassalle, Ferdinand  229, 332, 430 Lazarus, Moritz  206 de Lavoisier, Antonie Laurent  129, 130, 133 Lenin, Wladimir Iljitsch  126, 142, 158, 172, 436 Leibniz, Gottfried Wilhelm  39, 40, 50, 52, 129, 131, 165, 166, 175, 177, 192, 323, 376, 386, 439, 466

Leo, Heinrich  75 Lepsius, Mario Rainer  304 LeRoy, Éduard  519 Leroy-Beaulieu, Paul  427 Lessing, Gotthold Ephraim  166, 167, 228 Leukipp 456 Liebknecht, Wilhelm  430 Liebmann, Otto  278 von Linné, Carl  210 Lilienfeld, Paul  181 Lipps, Theodor  389–391 Littré, Émile  236 Locke, John  39, 56, 192, 345, 376, 401 Loock, Reinhard  380 Loos, Adolf  1 Lorenzen, Paul  292 Lotze, Rudolf Hermann  54, 58, 59, 237, 479, 480 Löwith, Karl  2 Luden, Heinrich  412 Lukács, Georg  126, 148, 158 Lunatscharski, Anatoli  142 Luther, Martin  400 Lyell, Charles  174 Mach, Ernst  128, 142, 479, 511–513, 516, 520 Maimon, Salomon  23–27, 29, 31, 195 Mainländer, Philipp  475–479 De Maistre, Joseph  212 Mann, Heinrich  354 Mann, Thomas  355 Mauthner, Fritz  39 Marat, Jean Paul  400 Marcuse, Herbert  159–163 Markovic, Mihajlo  163 Marquard, Odo  379, Marx, Karl  1, 46, 47, 74, 84, 122–126, 133, 134, 145, 148, 151–153, 155–160, 178–181, 183–186, 188, 189, 233, 247, 249–266, 277, 312, 358, 367, 371, 373, 431, 449, 482 de Maupertuis, Pierre-Louis Moreau 286 Mayer, Julius Robert  128–131, 141, 143

Personenregister

Maxwell, James Clerk  139, 506 Mazzini, Guiseppe  418, 419 Meckel, Johann Friedrich  472 Menzel, Wolfgang  172, 233 Mercier, Louis-Sébastien  364 Merleau-Ponty, Maurice  126 de La Mettrie, Julien Offray  325 Meyerson, Émile  517 Michels, Robert  336, 337 Mill, John Steward  56, 75, 98, 236, 238, 339, 419, 506, 509, 510, 514, 515 Milhaud, Gustav  517 Milošević, Slobodan  163 de Mirabeau, Victor Riquetti  404 Mirowski, Phillip  134 Moleschott, Jakob  449 Molitor, Franz Joseph  224 Mommsen, Theodor  101, 339, 354–356 Möser, Justus  166, 399 von Moser, Carl  397 Müller, Adam  223, 413 von Müller, Friedrich  443 von Müller, Johannes  130, 136, 225 Natorp, Paul  126, 278–280, 501, 502 Necker, Jacques  326 Nelson, Leonard  496–498 Neumann, Friedrich Julius  423 Newton, Isaac  135, 223, 246, 283, 284, 287–292, 301, 375, 505 Nicolai, Friedrich  397 Niebuhr, Barthold Georg  461 Nietzsche, Friedrich  2, 42, 47, 48, 77–80, 139, 177, 188, 189, 205, 209, 242–244, 247, 316, 341, 355, 383, 384, 392, 473, 476–480, 522 Nordau, Max  187 Novalis  223, 358, 439 Oersted, Hans Christian  129 Oken, Lorenz  490 Osterhammel, Jürgen  332, 485 Ostrogorsk, Moisei  337 Ostwald, Wilhelm  128, 141, 142, 455 Pabst, Johann Heinrich  220

527

Paoli, Pascal  402 Paul, Jean (Johann Paul Friedrich Richter)  225, 406, 442 Paulsen, Friedrich  44, 76 Peirce, Charles Sanders  516, 520 Planck, Max  128 Platon  115, 116, 445, 488 Plinius (d. Ä.)  210, 446 Poincaré, Henri  517–519 Polybios  355, 445 Poncelet, Jean-Victor  126 Popitz, Heinrich  158 Popper, Karl Raimund  498, 516 Pütter, Johann Stephan  342 von Radowitz, Joseph Maria  365 von Ranke, Leopold  206, 226, 228, 246, 421 Rankine, William  135, 136 Rebmann, Georg Friedrich  364 Reinhold, Karl Leonhard  21–23, 31, 271–283, 461 Renan, Ernest  236, 306, 311–313 Renouvier, Charles Bernard  517 Rethel, Alfred  214 Rhodes, Cecil  426 Rickert, Heinrich  187, 207, 245, 280– 282, 500 Riehl, Alois  43, 44, 279 Riehl, Wilhelm Heinrich  83, 87, 427, 428 Ritter, Johann Wilhelm  129 Robespierre, Maximilien  304, 358, 372, 406 von Rotteck, Carl  74, 420 Rosmini, Antonio  126 Rousseau, Jean-Jacques  63, 89, 148–154, 326, 401, 403 Roux, Wilhelm  188, 406 le Roy, Louis  361 Rubner, Max  134 Ruge, Arnold  70–73, 230, 246 Rühs, Friedrich  424 de Saint-Simon, Claude-Henri  235, 249 Sartre, Jean-Paul  126, 148, 159–161, 387 von Savigny, Friedrich Carl  173, 413

528

Personenregister

Schäffle, Albert  73, 181 von Scheffel, Joseph Viktor  213 Scheidemantel, Heinrich Gottfried  342, 344 Scheier, Claus-Arthur  381 Scheler, Max  208 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  53, 54, 113–115, 122, 129, 175–177, 195– 200, 204, 206, 210, 217, 218, 220, 235, 246, 271, 277, 339, 375, 379–382, 387, 388, 436, 439, 442, 447, 451, 466–475, 489, 496 von Schiller, Johann Christoph Friedrich  70, 71, 73, 90, 193, 169, 211, 216, 315, 322, 445 Schopenhauer, Arthur  40, 41, 43, 54, 58, 59, 118, 119, 199, 237, 378, 381–384, 387, 389, 445, 468–481 Schmidt, Julian  75, 453 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst  72, 81, 115–117, 119–122, 220, 221, 438–443, 448, 461 Schleiden, Matthias Jacob  496, 497 Schlegel, August Wilhelm  210 Schlegel, Friedrich  116–118, 169, 223, 224, 246, 258, 463 Schlözer, August Ludwig  344 Schulz, Walter  379 von Schwind, Moritz  214 Scott, Walter  213 Sederholm, Carl  451 Seebeck, August  129 Seneca, Lucius Annaeus  445, 446 Shakespeare, William  398, 458 Sieyès, Emmanuel Joseph  307, 326, 405 Simmel, Georg  79, 80, 189, 206, 245 von Sigwart, Christoph  499 Smith, Adam  133, 153, 249 Solvay, Ernest  141 von Sonnenfels, Joseph  397 Sophokles 446 Spencer, Herbert  182, 184, 2387, 509, 510 Spengler, Oswald  462 de Staël, Anne-Louise-Germaine  326

Stahl, Friedrich Julius  324, 359, 363, 421, 447 Stalin, Josef Wissarionowitsch  126, 158 Staudenmaier, Franz Anton  220 von Stein, Lorenz  74, 229, 249 Steintahl, Heymann  206 Sternberger, Dolf  3, 339, 340, 355, 356 Stirner, Max  71, 72, 189, 229, 230 Stöcker, Adolf  100, 424 Strauß, David Friedrich  455 Stumpf, Carl  140 Sulzer, Johann Georg  135, 375 Swedenborg, Emmanuel  192 von Sybel, Heinrich  213 Tarde, Gabriel  141 Taylor, M. Aravilla  190 Tetens, Johann Nicolaus  166 de Tocqueville, Alexis  238, 246, 339 Thibaut, Anton Friedrich Justus  413 Thomson, William  135 Thukydides  445, 446, 458 Tolstoj, Leo  473 von Treitschke, Heinrich  75, 100, 228, 351–353, 409, 424 Trendelenburg, Friedrich Adolf  36, 116, 119, 120, 122, 499 Treviranus, Gottfried Reinhold  472 Tucholsky, Kurt  102 Twesten, Carl  508 Ulrici, Hermann  458 Vera, Agostino  220 de Vigny, Alfred  213 Viollet Le Duc, Eugène  213 Virchow, Rudolf  81, 487 Virey, Julien Joseph  175 Vogt, Carl  448, 449 Völmicke, Elke  379 da Volpedo, Giuseppe Pellizza  101 Volta, Alessandro  129 Voltaire  284–286, 289, 364 Wagner, Richard  1, 233, 445, 473

Personenregister

Wagner, Rudolf  449 Weber, Ernst Heinrich  384 Weber, Max  81, 100, 101, 142, 265, 266, 310, 311, 313, 427, 486, 500 Wedekind, Georg  342 Weil, Hans  75 Weisse, Christian Hermann  206, 220 Wienbarg, Ludwig  232, 246 Wiener, Norbert  143 Wieland, Christoph Martin  408 Wieland, Wolfgang  167, 178, 181 Weidig, Friedrich Ludwig  429 Welcker, Carl Theodor  74, 346 Whewell, William  497, 506, 507, 509, 513–515, 520 Winckelmann, Johann Joachim  63, 77 Windelband, Wilhelm  244, 245, 278

529

Wilhelm I., Friedrich Ludwig  334, 427 Wilhelm II., Friedrich Viktor Albert  335, 336 Wilhelm II., Friedrich  414 Wilhelm IV., Friedrich  351 Wolff, Caspar Friedrich  165, 166 Wolff, Christian  39 Wundt, Wilhelm  41, 42, 50–53, 56, 57, 59, 140, 188, 385, 452, 479–481, 499 Xenophon 445 Yorck von Wartenburg, Paul  240, 241, 462 Zedler, Johann Heinrich  135