Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts [1 ed.] 9783787319169, 9783787319954

Es ist kein Zufall, daß mit den wirkmächtigen Destruktionsversuchen der philosophischen Fachsprache von Heidegger über W

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Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts [1 ed.]
 9783787319169, 9783787319954

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Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 6

Archiv für Begriffsgeschichte Begründet von Erich Rothacker herausgegeben von Christian Bermes, Ulrich Dierse und Michael Erler

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts herausgegeben von Christian Bermes und Ulrich Dierse

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Im Felix Meiner Verlag erscheinen folgende Zeitschriften und Jahrbücher: – Archiv für Begriffsgeschichte – Aufklärung. Interdisziplinäre Zeitschrift für die Erforschung des 18. Jahrhunderts – Hegel-Studien – Phänomänologische Forschungen – Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft und seiner Wirkungsgeschichte – Zeitschrift für Kulturphilosophie – Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung

Ausführliche Informationen finden Sie im Internet unter »www.meiner.de«.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-78731916-9

ISSN 0003-8946 © Felix Meiner Verlag 2010. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type &Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Münzer«, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSINorm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/afb

INHALT

Ulrich Dierse, Christian Bermes Einleitung ...............................................................................................................

1

Peter Welsen Der Andere ............................................................................................................

7

Werner Schneiders Aufklärung ..............................................................................................................

25

Christoph Demmerling Bedeutung und Sinn ..............................................................................................

43

Klaus Sachs-Hombach Bild .........................................................................................................................

59

Martin F. Meyer Dialog .....................................................................................................................

73

Rainer Thurnher Existenz, Sein .........................................................................................................

87

Alois Hahn / Matthias Hoffmann Gemeinschaft und Gesellschaft ............................................................................

105

Ulrich Steinvorth Gerechtigkeit .........................................................................................................

117

Anton Hügli Identität ..................................................................................................................

131

Ernst Wolfgang Orth Krise ........................................................................................................................

149

Birgit Recki Kultur ......................................................................................................................

173

Ferdinand Fellmann Leben.......................................................................................................................

189

Käte Meyer-Drawe Leib, Körper ...........................................................................................................

207

VI

Inhalt

Kurt Röttgers Macht.......................................................................................................................

221

Dieter Mersch Medium ...................................................................................................................

235

Hans-Ulrich Lessing Mensch, Dasein ......................................................................................................

249

Ralf Konersmann Metapher .................................................................................................................

267

Paul Hoyningen-Huene Paradigma ...............................................................................................................

279

Eva-Maria Engelen Schuld ......................................................................................................................

291

Volker Gerhardt Selbstbestimmung ..................................................................................................

313

Ulrich Dierse Sprache ....................................................................................................................

327

Reto Luzins Fetz Struktur ...................................................................................................................

355

Barbara Naumann Symbol, Zeichen .....................................................................................................

371

Dirk Baecker System .....................................................................................................................

389

Jacek Filek Verantwortung........................................................................................................

407

Frithjof Rodi Verstehen ................................................................................................................

419

Gunter Scholtz Zukunft und Utopie...............................................................................................

431

Namensregister ......................................................................................................

453

Ulrich Dierse, Christian Bermes

E INLEITUNG

Das 18. Jahrhundert war wohl das erste Jahrhundert, das sich bewußt als Epoche begriff und sich zugleich einen Namen gab; es nannte sich programmatisch das ›Jahrhundert der Aufklärung‹, ›le siècle philosophique‹ und ähnlich, und es war damit so erfolgreich, daß selbst seine Gegner diese Bezeichnung übernahmen. Für das 19. Jahrhundert hat Dolf Sternberger aus dem Abstand von mehr als dreißig Jahren mit den Begriffen ›Entwicklung‹ und ›natürlich – künstlich‹ zwei leitende Vorstellungen benannt, die die Epoche markieren können. Das 20. Jahrhundert liegt nun schon einige Jahre zurück, aber eine allgemeine, geschweige denn anerkannte Kennzeichnung hat es bisher nicht erhalten. Es hieß und heißt das Zeitalter der Extreme, des Totalitarismus, der Information etc., das technokratische, Atom- oder (in seiner Spätzeit) das postindustrielle Jahrhundert der Medien. In seinen letzten Jahrzehnten wurde vielfach die Postmoderne ausgerufen, die vielleicht nicht mehr war als einer der vielen Wenden oder ›turns‹, die innerhalb der Philosophie und der Wissenschaften das Denken beschäftigten. Es fällt schwer, seinen Charakter mit nur einem Begriffspaar oder gar nur einem Schlagwort zu umreißen. Leicht scheint es demgegenüber zu sein, Anfang und Ende dieses Jahrhunderts anzugeben. Es begann, so kann man mit einigem Recht sagen, 1917 mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg und mit der Russischen Revolution, und es endete 1989 mit dem Ende des West-Ost-Konflikts. Doch mit diesen politischen Marksteinen allein ist wenig gesagt. Begann die Moderne nicht schon um 1900, mit der Jugendbewegung und dem Aufbruch in der Kunst? Und setzen sich die Kriegsbedrohungen nicht auch nach 1989 in gewandelter Form fort? Wird das 20. Jahrhundert nicht eher durch eine Kontinuität mit dem 19. Jahrhundert – zumindest mit seiner zweiten Hälfte – als durch einen Bruch mit diesem geprägt, also mit Charles Darwin, John Stuart Mill und Karl Marx, die alle drei in demselben Jahr 1859 ihre Hauptwerke publizierten? Zum Glück müssen diese auf die gesamte Lebenswirklichkeit ausgreifenden Fragen hier nicht entschieden werden. Einstweilen mögen Andeutungen hinsichtlich der Philosophie und der Wissenschaften genügen: Neben den genannten neuen Phänomenen und Konstellationen in Politik, Gesellschaft und Kunst sind es in der Philosophie der Neubeginn mit der Phänomenologie (Edmund Husserls Logische Untersuchungen erscheinen 1900/01), die Hinwendung zur Sprache und die Grundlegung der modernen Logik (im Ausgang von Freges Wirken um die Jahrhundertwende), die Psychoanalyse (Freuds Traumdeutung wird 1900 publiziert), die Soziologie bzw. philosophische Ökonomie (Georg Simmel veröffentlich seine Philosophie des Geldes ebenfalls 1900), schließlich auch die Philosophie des Dialogs, die den Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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Ulrich Diese · Christian Bermes

Anfang des 20. Jahrhunderts markieren. Daneben aber werden der Neukantianismus, die Lebensphilosophie, die hermeneutische Philosophie und die Gesellschaftsphilosophie des Sozialismus aus dem 19. Jahrhundert übernommen und fortgeführt. Kontinuität und Neuanfang stehen so eng nebeneinander und gehen nicht selten auch Allianzen ein, die erst hinter den Etiketten sichtbar werden. Und nicht zuletzt hier sind es die Begriffe selbst, die die Trennungen relativieren, die hinter der Ordnung der Schulen eine vielschichtige Struktur der Ideen und Gedanken erschließen – oder mit einem anderen Wort: Es sind die Begriffe und deren Verwendung, die die komplexen Sinnstrukturen im philosophischen Denken des 20. Jahrhunderts entschlüsseln können und deren Analyse eine Topologie des philosophischen Terrains dieser Zeit ersichtlich werden läßt. Fragt man auf diese Weise nach den Schlüsselbegriffen des 20. Jahrhunderts und ihrer Geschichte, so kann damit nicht gemeint sein, daß diese, so kurz nach dem Ende dieses Zeitalters, schon vollzählig benannt werden können. Und ebenso soll es nicht bedeuten, daß die die Epoche prägenden Leitbegriffe nicht schon vorher in Gebrauch gewesen wären und andere jetzt nicht mehr ausschlaggebend seien. Aber viele Begriffe, wie z. B. ›Dialog‹ oder ›Existenz‹, erhalten ein neues Gewicht; andere, wie etwa ›Paradigma‹ und ›Utopie‹ bekommen einen neuen Stellenwert. Vor allem sind die Phänomene der Verzeitlichung und Ideologisierung der politisch-sozialen Termini, die Reinhart Koselleck so nachdrücklich für deren Umbruch in der Zeit zwischen 1750 und 1830 verantwortlich machte, auch für das 20. Jahrhundert zu konstatieren (und sie werden uns aller Wahrscheinlichkeit nach erhalten bleiben). Aber innerhalb dieses Rahmens lassen sich Veränderungen feststellen, die sich im Laufe des vergangenen Jahrhunderts abzeichnen und – vor allem nach 1989 – verstärkt haben. Da ist zum einen die Tatsache, daß man sich mit dem ideologischen, von jedem anders und neu zu besetzenden Charakter vieler öffentlich wirksamer Begriffe in gewisser Weise abgefunden hat. Man rechnet schon damit, daß der Nachbar ›Gerechtigkeit‹ anders als man selbst definiert, nimmt sie trotzdem für sich in Anspruch und überläßt ihre Durchsetzung einem Interessenaustrag und -ausgleich. In der Zwischenzeit herrscht sozusagen ›Friedenspflicht‹, also Toleranz. Das eigene Interesse als Gemeinwohl oder wenigstens als diesem förderlich auszugeben, gehört zur legitimen sprachlichen Formulierung des subjektiven Wohls. Vor allem kommt es darauf an, im Meinungsstreit seine Stimme zu erheben, mithin sich in ›Kommunikation‹ einzuüben. Diese ersetzt nicht das Handeln, ist aber für dessen Vorbereitung unerläßlich. (Es könnte gefragt werden, ob das weitgehende Verschwinden des Ideologiebegriffs und -vorwurfs, das gegenwärtig zu beobachten ist, nicht mit dieser z.T. in Kauf genommenen, z.T. akzeptierten Ideologieträchtigkeit vieler Begriffe zusammenhängt.) Zum anderen – dies kann trotz vieler Vorbehalte konstatiert werden – verstärken sich zunächst die großen, aus dem 19. Jahrhundert ererbten Parolen, sofern sie Hoffnungs- und Zukunftsträger bezeichnen, um dann aber, nach 1945 und erst recht nach 1989, an Kraft zu verlieren. Utopien, die (so Ernst Bloch

Einleitung

3

schon 1918) nicht mehr unbedingt einen Gegensatz zur Wirklichkeit bilden, sind nicht mehr fern, sondern werden konkret. Zuweilen hat man auch Angst vor ihnen und nennt sie dann ›negative Utopien‹. Selbst die ›Aufklärung‹, früher ein nahezu unbestrittener Wert, steht im Verdacht (so Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1947), totalitär zu sein. Das Schlagwort ›Revolution‹ (seine zeitweilige Kompromittierung durch Joseph Goebbels wurde gern übersehen) mag 1989 kaum jemand auf seine Fahnen schreiben. Sie heißt jetzt ›Wende‹ oder allenfalls ›sanfte Revolution‹. Bei aller Vorsicht vor eiligen Diagnosen: Es läßt sich eine gewisse Ernüchterung beobachten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzt und dazu geführt hat, vom ›Ende der Ideologien‹ zu sprechen (Raymond Aron 1955, Daniel Bell 1960). Andererseits werden aber einige Kollektivbegriffe, gegenwärtig etwa ›Natur‹ und ›Umwelt‹, stark moralisch aufgewertet; sie tragen gewissermaßen per se einen positiven Index. Die Versachlichung muß demnach nicht endgültig sein; enttäuschte Hoffnungen machen jedoch häufig eine Rückwendung zur Wirklichkeit nötig. Immerhin lassen sie sich nur schwer vergessen. Dem Begriffshistoriker steht es jedoch nicht an, diese Entwicklungen zu bedauern, zu kritisieren oder zu loben; er hat sie zu registrieren, ihre Genese und ihre Wendungen aufzudecken. Zu dieser Entwicklung gehört, daß Veränderungen, auch wenn sie an sich begrüßenswerte Fortschritte sein wollen (wie z. B. in der Medizin), zunehmend befragt, wenn nicht zunächst skeptisch beurteilt werden. Die Zerstörungen zweier Welt- und einiger nachfolgender Kriege lassen auch an die Bewahrung des Herkömmlichen denken, ohne daß dieses Selbstzweck wird. Noch immer erhält das Neue eine Präferenz, aber nicht alle technischen Neuerungen werden eo ipso begrüßt. Die Erinnerung an das geschichtlich nah oder fern Zurückliegende begleitet notwendig den Gedanken an die Zukunft. Selbst die Wissenschaft und die durch sie errungenen Erfolge, im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch nahezu uneingeschränkt begrüßt, müssen sich vielfach eigens legitimieren. Jedenfalls scheinen die oft rasanten Veränderungen verstärkt das Bedürfnis nach der Geschichte hervorzurufen. Das führt zu einer weiteren Beobachtung. Das 20. Jahrhundert verlief, auch in den für die Zeitspanne konstitutiven Begriffen, nicht gradlinig. Vielmehr sind seine Prägungen, soweit sie sich zugleich mehr als rein fachliche Tendenzen und Strömungen ausweisen, als Gegensätze aufeinander zu beziehen: Den schnellen Umbrüchen folgt das geschichtliche Verstehen; der sich ausbreitenden Technik die Sehnsucht nach der (vermeintlich) ursprünglichen Natur; der Wissenschaft die Lebenswelt und der Rationalität eine sich neu verstehende Subjektivität. ›Systeme‹ und ›Strukturen‹ lassen das ›Leben‹ oder den ›Leib‹ nicht verschwinden – im Gegenteil. Diskurse machen den Dialog nicht überflüssig, sondern verstärken eher das Desiderat des Subjektiven. Auch umgekehrt läßt sich schließen: Wissenschaftliche Philosophie, Analyse und Logik sind eine Reaktion auf den (tatsächlichen oder unterstellten) Historismus und Relativismus. So gesehen, stehen die genannten Begriffe und ihre Philosopheme nicht für sich, sondern sie

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Ulrich Diese · Christian Bermes

antworten aufeinander, auch und gerade da, wo sie sich auszugrenzen scheinen. Die Frage bleibt, ob sich alle Begrifflichkeit in ›Bildern‹ und ›Metaphern‹ auflösen lassen oder ob diese nicht selbst wieder auf eine nicht-bildliche Grundlage zurückgeführt werden können und müssen, mindestens aber immer das NichtMetaphorische, die Realität, als Gegenpol haben. Noch ist es zu früh, mit diesen Andeutungen und über sie hinaus ein kohärentes Bild des spannungsvollen vergangenen Jahrhunderts zu entwerfen. Es ist auch nicht sicher, ob eine abschließende oder zumindest umschließende Deutung dieses Zeitraums angesichts der disparaten Selbstverständigungsversuche, die im 20. Jahrhundert vorgelegt wurden, in absehbarer Zeit geleistet werden kann. Dies aber verhindert nicht ein Verständnis, sondern verlangt einen neuen, zumindest anderen Zugang. So könnte das 20. Jahrhundert dasjenige Jahrhundert sein, das nur in einer Vielzahl von Termini und unter unterschiedlichen Aspekten begriffen werden kann. Die terminologische Sicherheit dieser Begriffe bleibt dann notwendig prekär und läßt sich in keine vorgegebene Hierarchie mehr einordnen, da sie an Schnittstellen entstehen und sich in Schnittstellen formen: an den Schnittstellen beispielsweise zwischen den philosophischen Schulen, zwischen Philosophie und Naturwissenschaften oder zwischen der philosophischen Fachsprache und der Alltagssprache. Es ist in diesem Sinne kein Zufall, daß mit den wirkmächtigen Destruktionsversuchen der philosophischen Fachsprache von Heidegger über Wittgenstein bis hin zur Postmoderne das Denken sich neu justiert – und zwar um Begriffe, deren semantischer Gehalt sich vielleicht in und durch Grenzbestimmungen und Grenzüberschreitungen aufdecken läßt. Schlüsselbegriffe können so nicht nur das komplexe Denken des 20. Jahrhunderts als ein verwobenes dechiffrieren helfen; sie markieren zugleich die impliziten Grenzen dieses Denkens, das nicht selten alle Schranken niederzureißen suchte. Die Begriffsgeschichte weiß zudem seit je, daß sie weder Begriffe normieren, noch Theorien ersetzen kann. Allerdings versteht sie sich, wie es Erich Rothakker 1955 in seinem Geleitwort zum ersten Band dieser Zeitschrift ausdrückte, durchaus als konstitutiver Bestandteil der verschiedenen Bereiche »des philosophischen Denkens überhaupt« – und damit auch als Beitrag zur Aufklärung der Kultur des Denkens, aber nicht nur dieser Kultur allein.

Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts

Peter Welsen

Der Andere

Obgleich der Begriff des Anderen bereits im Deutschen Idealismus (Kant, Fichte, Hegel) auftritt, kommt ihm erst im Denken des 20. Jahrhunderts eine zentrale Stellung zu. Das gilt sowohl für die dialogische Philosophie als auch – besonders – für die Phänomenologie, die sich dem Anderen aus recht unterschiedlichen Perspektiven nähert. Während der Dialogismus gegenwärtig keine nennenswerte Beachtung findet, scheint für die Phänomenologie das Gegenteil zu gelten. Nicht allein in ihren klassischen Texten, sondern auch in der aktuellen Diskussion nimmt der Begriff des Anderen beträchtlichen Raum ein. Eine entscheidende, den Anderen betreffende Frage lautet, auf welche Weise sich der kognitive Zugang zu ihm gestaltet und in welchem Maße er ihm gerecht wird. Natürlich betrifft dieses Problem auch das Subjekt, welchem der Andere begegnet. Es ist offenkundig, daß es zwei markante, einander entgegengesetzte Antworten auf diese Frage gibt: Entweder wird der Andere im Ausgang von einem aktiven Subjekt konstituiert und erweist sich als Reflex der Leistungen desselben, oder er ist ihm unmittelbar gegeben und drängt es in eine passive Rolle. Neben diesen extremen – von Husserl und Levinas vertretenen – Positionen werden im folgenden eine Reihe von Denkern zu diskutieren sein, die sich von der einen zur anderen hin bewegen oder zwischen ihnen vermitteln. Ersteres gilt für Scheler, Heidegger und Sartre, letzteres für Ricœur.

I. Husserl Husserl verleiht in seiner transzendentalen Phänomenologie der Philosophie den Rang einer »Wissenschaft aus absoluter Begründung«.1 Gegenstand der phänomenologischen Forschung ist das Bewußtsein. Freilich geht es Husserl nicht um das empirische Bewußtsein, denn dieses kann nicht Gegenstand einer auf Apodiktizität abzielenden Wissenschaft sein. Vielmehr interessiert sich Husserl für das reine, transzendentale Bewußtsein, zu dem er in zwei Schritten gelangt: 1) Als transzendentales Bewußtsein darf es nicht dem Bereich angehören, dessen Konstitution es begreiflich machen soll, das heißt, es darf kein Element der bewußtseinsunabhängigen Welt sein und darf keine Stellungnahmen zu ihr enthalten. Daher setzt Husserl die natürliche Einstellung zur bewußtseinsunabhängigen Wirklichkeit durch die transzendental-phänomenologische Reduktion

1

Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen (Hamburg 21987) 3.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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Peter Welsen

außer Kraft. 2) Als reines Bewußtsein beinhaltet es keine kontingenten Erlebnisse, sondern Husserl kommt es lediglich auf dessen wesenhaften Merkmale an. Die transzendental-phänomenologische Reduktion geht demnach mit einer eidetischen Reduktion einher. Husserl gelangt im Zuge der transzendental-phänomenologischen Reduktion zu einer Position, die als transzendentaler Idealismus einzustufen ist. Wie aber verträgt sich das mit dem Anliegen der Aufklärung des Sinnes der im Bewußtsein gegebenen Sachverhalte, zu denen ja die transzendente Welt gehört? Deren bewußtseinsunabhängige Existenz wird durch die Reduktion eingeklammert. Damit hat es die transzendentale Phänomenologie nur mit einem »Weltphänomen«2 zu tun, zu dessen Sinn freilich die Transzendenz zählt. Der Sinn der Transzendenz der Welt ist demnach innerhalb des transzendentalen Bewußtseins zu erhellen. In diesem Zusammenhang kommt dem Anderen seine Bedeutung zu, und es wird auch verständlich, unter welchem Vorzeichen er in den Blick gerät. Die transzendente Welt zeichnet sich dadurch aus, daß sie nicht nur einem Subjekt gegeben ist, sondern eine mehreren Subjekten gemeinsame, intersubjektive Welt ist. Um ihren Sinn einsichtig zu machen, ist zu klären, wie es um den Sinn des Anderen bestellt ist. Offenbar hat der Andere die Funktion, die Objektivität der Vorstellungen des transzendentalen Egos zu verbürgen. Ist die Objektivität der Welt auf dem Umweg über den Anderen zu begreifen, so ist dessen Konstitution zu untersuchen. Diese Aufgabe ist im Ausgang vom transzendentalen Ego zu erfüllen. Da dieses – kraft der Reduktion – den Status eines solus ipse innehat, kommt das, was zu leisten ist, einer Überwindung des transzendentalen Solipsismus gleich. Wie aber läßt sich der Andere in seiner Transzendenz begreifen, wenn man sich ihm aus der Perspektive eines solipsistisch auf sich selbst zurückgeworfenen Egos nähert? Da sich Husserl dem Anliegen einer Letztbegründung verschrieben hat, leuchtet ein, daß er bei der Darlegung der Konstitution eines Phänomens auf der Seite des Konstituierenden nichts voraussetzen darf, was der Seite des Konstituierten angehört. Solch ein Vorgehen wäre zirkulär. Folglich darf nichts, was dem Anderen selbst zukommt, benutzt werden, um seine Konstitution zu erhellen. Husserl führt daher eine weitere Reduktion durch, in deren Zuge im transzendentalen Bewußtsein »von allen konstitutiven Leistungen der auf fremde Subjektivität unmittelbar oder mittelbar bezogenen Intentionalität«3 abgesehen wird. So gewinnt Husserl die »Eigenheitssphäre«. Zwar schließt diese Transzendentes in sich, aber es haftet ihr nichts an, was sich fremder Intentionalität verdankt. Natürlich ist auch beim Anderen von allem abzusehen, was nicht der Eigenheitssphäre des transzendentalen Egos angehört. Husserl beschreibt das eigenheitlich reduzierte, primordiale Ego als psychophysische Einheit, die Leib und Körper beinhaltet. Während letzterer ein tran2 3

Ebd. 101. Ebd. 95.

Der Andere

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szendentes Objekt ist, wird ersterer allein vom Ego als eigener erlebt. Er ist mit Empfindungen verbunden, kann bewegt werden und ist fähig, Handlungen auszuführen. Bislang bietet sich der Andere als Gegebenheit in der primordialen Welt dar. Alles an ihm, was nicht auf die Intentionalität des konstituierenden Egos zurückgeht, ist eingeklammert. Das betrifft auch seine Erlebnisse, die im Gegensatz zum Körper nicht ursprünglich gegeben sind. Um zu zeigen, daß der Andere nicht nur alter, sondern auch ego ist, greift Husserl auf das Phänomen des Leibes zurück. Dieser wird vom Ego als zweiseitig – nämlich als physisch und psychisch – erlebt. Was den Anderen betrifft, so ist er zunächst nur als Körper, nicht aber als Leib gegeben. Da der Körper des konstituierenden Egos zugleich Leib ist, also in Verbindung zu Erlebnissen steht, und der Andere ebenfalls einen Körper besitzt, kann dieses den Körper des Anderen in apperzeptiver Übertragung als Leib – und damit als von Erlebnissen begleitet – auffassen. Zwar sind die Erlebnisse des Anderen dem transzendentalen Ego nicht ursprünglich gegeben, sondern werden nur appräsentiert, doch gelangt es auf diese Weise im Ausgang von seiner Eigenheitssphäre über sie hinaus. Husserl hebt zwei Merkmale der analogisierenden Auffassung des Anderen hervor, die einerseits die Abhängigkeit der Fremderfahrung vom Eigenen, anderseits aber die Alterität des Anderen verdeutlichen. Das eine besteht darin, daß eigener und fremder Leib im Modus der Paarung gegeben sind. Damit meint Husserl, daß der fremde Leib eine durch Assoziation gestiftete Einheit mit dem eigenen bildet. So bleibt der Andere an das transzendentale Ego gebunden. Das andere Merkmal hingegen läuft darauf hinaus, daß das, was in der Paarung appräsentiert wird, nämlich die Erlebnisse des Anderen, »nie wirklich zur Präsenz kommen kann, also zu eigentlicher Wahrnehmung.«4 Trotz der Begrenztheit der Erfahrung des Anderen hat dieser mit dem Ego eine objektive Natur gemeinsam. Sie verdankt ihre Konstitution nicht allein dem transzendentalen Ego, sondern auch dem Anderen. Auf diese Weise tritt eine gewisse Spannung zwischen dem transzendentalen Ego und dem Anderen zutage, der einerseits ein konstituierter, anderseits aber auch ein konstituierender ist. Demnach wäre der Andere – aufgrund seiner konstitutiven Leistungen – im Verhältnis zum transzendentalen Ego ontologisch gleichrangig, während letzteres das erkenntnistheoretische Privileg genießt, den Nullpunkt einer orientierten Konstitution zu bilden.5

Ebd. 115. Vgl. auch Karl-Heinz Lembeck: Einführung in die Phänomenologie (Darmstadt 1994) 62 und Ernst Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger (Berlin 1970) 220 ff. 4 5

10

Peter Welsen

II. Scheler Scheler unterscheidet sich darin von Husserl, daß er der Phänomenologie keine transzendentale – und damit auch keine idealistische – Wendung verleiht. Nach seiner Auffassung mündet der transzendentale Idealismus in einen Solipsismus, der eine Anerkennung der Realität des fremden Ichs verhindert.6 Mehr noch, Scheler weist das Ansinnen, im Ausgang vom eigenen Erleben zum Anderen vorzudringen, generell zurück. Er ist vielmehr von der ursprünglichen Gewißheit der Existenz des fremden Ichs überzeugt und glaubt, daß sich dieses unmittelbar – also ohne Vermittlung durch primär gegebene eigene Erlebnisse – erkennen lasse. Scheler kritisiert zwei Theorien, die versuchen, eine Brücke vom eigenen Ich zum fremden zu schlagen. Die eine beruft sich auf einen Analogieschluß, die andere auf Einfühlung in den Körper des Anderen. Was die erstere anbelangt, so registriert sie ein dem eigenen Erleben entsprechendes körperliches Verhalten, konstatiert dasselbe Verhalten bei einem anderen Lebewesen und schließt daraus auf dasselbe Erleben bei diesem. Scheler wendet dagegen ein, daß auch Lebewesen, die keinen Schluß ziehen können, den Ausdruck bestimmter Gefühle erfassen. Zwar reicht die Tatsache, daß Ausdrucksbewegungen manchmal auch ohne Schlüsse verstanden werden, nicht aus, um den Analogieschluß insgesamt als Mittel der Erkenntnis fremden Erlebens zu disqualifizieren, doch befindet sich Scheler trotzdem im Recht, wenn er dem Analogieschluß mißtraut. Man könnte zu seinen Gunsten argumentieren, daß sich daraus, daß eigenes Verhalten mit einem bestimmten Erleben verbunden ist, keineswegs folgern läßt, daß gleichem Verhalten bei anderen ebenfalls gleiches Erleben entspricht.7 Ferner macht Scheler geltend, daß der Versuch, durch einen Analogieschluß oder Einfühlung fremdes Erleben zu erfassen, nur gelingen kann, wenn man voraussetzt, daß man es mit dem Körper eines beseelten Wesens zu tun hat. Daß letzteres zutreffe, lasse sich freilich auf diesem Weg nicht erkennen. Berufe man sich auf eine weitere Einfühlung, so sei das Problem nicht gelöst, sondern nur verschoben. Die entscheidende Frage bleibe offen: »Bei welchen objektiven Daten ist die Einfühlung des ›Lebensgefühls‹ berechtigt?«8 Ein weiterer Einwand, den Scheler vorbringt, läuft darauf hinaus, daß sie nicht die Annahme eines fremden, individuellen Ichs rechtfertigen könne, sondern bloß eine Projektion des eigenen Ichs in den anderen Körper beinhalte. So betont Scheler, die Individualisierung des Anderen gründe weder in seinen Erlebnissen noch in seinem Körper, sondern in einer anderen, geistigen Instanz, der Person.9

6 7 8 9

Vgl. Max Scheler: Wesen und Formen der Sympathie (Bern, München 61973) 221 f. Vgl. auch Franz von Kutschera: Die falsche Objektivität (Berlin, New York 1993) 238 f. M. Scheler: Wesen und Formen, a. a.O. [Anm. 6] 236. Vgl. ebd. 237.

Der Andere

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Scheler legt dar, daß beide Versuche, das fremde Ich im Ausgang vom eigenen zu erreichen, auf folgenden Voraussetzungen beruhen: »1. es sei uns zunächst immer nur das eigene Ich ›gegeben‹; 2. was uns von einem anderen Menschen ›zunächst‹ gegeben sei, das sei allein die Erscheinung des Körpers […], und erst fundiert auf diese Gegebenheit komme es – irgendwie – zur Annahme seiner Beseeltheit, zur Annahme der Existenz des fremden Ich.«10 Gegen die erste Voraussetzung führt Scheler ins Feld, daß wir ebenso die Gedanken anderer denken können wie andere die unseren. In der Tat ist schwer zu leugnen, daß nicht alle Gedanken eines Individuums auf dieses selbst zurückgehen. Da meistens keine Reflexion auf deren Ursprung stattfindet, ist nachvollziehbar, daß Scheler annimmt, es liege zunächst ein »in Hinsicht auf IchDu indifferenter Strom der Erlebnisse«11 vor, in dem Eigenes und Fremdes erst allmählich voneinander unterschieden werde.12 Nun läßt sich schwer bestreiten, daß einem Individuum seine eigenen Gedanken anders gegeben sind als fremde. Es kann sich eigene Erlebnisse unmittelbar selbst zuschreiben, hat also einen privilegierten Zugang zu ihnen. Dennoch besteht Scheler darauf, daß auch fremde Erlebnisse in gewisser Hinsicht unmittelbar erfaßt werden können. In diesem Zusammenhang bringt er den Körper ins Spiel, und zwar den fremden ebenso wie den eigenen. Allerdings gelangt Scheler nicht durch einen Analogieschluß oder Einfühlung vom körperlichen Verhalten zum Erleben, sondern betrachtet die körperlichen Veränderungen lediglich als »ontische Bedingung« der unmittelbaren Erfassung desselben.13 Entscheidend ist, daß der Körper eine andere Rolle als bei einem Analogieschluß innehat. Er fungiert als Instanz, in der sich die Erlebnisse selbst ausdrücken, so daß sie unmittelbar erfaßbar sind. Dies bedeutet, daß sich das Ich ebensowenig vom Körper absondern läßt, wie das auch umgekehrt gilt. So braucht man sich, um fremde Erlebnisse zu erfassen, nicht im Ausgang vom fremden Körper in einen Bereich der Innerlichkeit zu versetzen, sondern die Erlebnisse sind unmittelbar mit dem Körper gegeben. Was die Voraussetzung anbelangt, nach der nur der Körper des Anderen wahrnehmbar ist und sich Seelisches allenfalls erschließen läßt, so argumentiert Scheler, daß zunächst keine isolierten Körper, sondern »einheitliche Ganzheiten« gegeben seien, bei denen die körperliche Seite zugleich als Ausdruck des Seelischen fungiere. Dies bedeute, daß die Erlebnisse des Anderen ebenso unmittelbar wie sein Körper wahrnehmbar seien. Zwar räumt Scheler ein, daß in manchen Fällen – etwa bei Störungen oder Täuschungen – fremdes Erleben durchaus auch erschlossen werden könne, aber dies setze voraus, daß zunächst

10 11 12 13

Ebd. 238. Ebd. 240. Vgl. ebd. 240. Vgl. ebd. 243.

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Peter Welsen

eine unmittelbare Wahrnehmung stattgefunden habe.14 Man könnte gegen Scheler einwenden, eine Wahrnehmung sei ein Komplex von Empfindungen, und eine solche liege allenfalls in Hinblick auf den Körper, nicht aber in Hinblick auf die Erlebnisse des Anderen vor. Scheler weist dieses Argument mit der Begründung zurück, daß sich Wahrnehmung nicht in bloßer Empfindung erschöpfe, sondern darin bestehe, daß bestimmte Aspekte aus der Ganzheit des anschaulich Gegebenen herausgegriffen und als – körperliche oder seelische – Einheiten aufgefaßt würden.15 Auf diese Weise gelingt es Scheler, den Zirkel zu vermeiden, in den sich die transzendentale Phänomenologie beim Versuch einer egologischen Aufklärung des Zugangs zum Anderen verstrickt. Allerdings fragt sich, welchen Preis er dafür zu entrichten hat. So elegant die von Scheler vorgeschlagene Lösung zunächst anmutet, so problematisch erscheint sie, wenn man sich vergegenwärtigt, daß im dunkeln bleibt, welche konstitutiven Leistungen des Subjekts die unmittelbare Erfassung des Anderen und seiner Erlebnisse voraussetzt. Besonders prekär erscheint, daß Scheler die angeblich ursprüngliche Gewißheit der Existenz des Anderen als »Wesenswissen um Gemeinschaft und um Du-Existenz überhaupt«16 hinstellt, ohne dies näher zu begründen.17

III. Heidegger Auch Heidegger kommt ohne transzendentale und eidetische Reduktion aus. Das liegt daran, daß die Frage nach dem Sein im Zentrum seines Ansatzes steht und daß beide Reduktionen nach seiner Auffassung von dieser Frage wegführen. Während die transzendentale Reduktion das Sein des Phänomens ausklammere, ziele die eidetische Reduktion an der Tatsache vorbei, daß es mit dem Dasein ein Seiendes gebe, dessen Wesen nicht vom Sein getrennt sei, sondern mit ihm zusammenfalle. Während Husserl dem formalen Aspekt menschlicher Subjektivität nachgeht, verfolgt Heidegger das Anliegen, dem individuellen, konkreten Dasein gerecht zu werden. Er beschreibt das Dasein als ein Seiendes, dem es um sein eigenes Sein geht. Dennoch bleibt Heidegger in gewisser Hinsicht dem transzendentalen Denken verpflichtet. So beantwortet er die Frage nach dem Sein nicht direkt, sondern betont, daß sie vom Dasein aufgeworfen wird, das über ein Vorverständnis vom Sein verfüge, und daß mit diesem Vorverständnis die Bedingungen zu klären seien, unter welchen die Seinsfrage gestellt werde. Da sich Heidegger nicht für den formalen, sondern den materialen Aspekt menschlicher Subjektivität interessiert, erstaunt es nicht, daß er diese

14 15 16 17

Vgl. ebd. 234, 254 f. Vgl. ebd. 258. Ebd. 229. Vgl. ebd. 228 f., 240.

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Bedingungen in der Lebenswelt des Daseins sucht und dieses als In-der-Weltsein charakterisiert. Heidegger betont, daß nicht etwa ein isoliertes Subjekt aus seiner Innerlichkeit heraustritt, um sich innerweltlichem Seienden zuzuwenden, sondern daß das Dasein ursprünglich mit diesem verbunden ist. Dabei biete sich das innerweltliche Seiende zunächst nicht als theoretisch zu erkennendes Vorhandenes, sondern als praktisch zu besorgendes Zuhandenes dar. Unter dieser Voraussetzung stellt sich gar nicht die Frage, wie das Dasein zum innerweltlichen Seienden gelangt. Weder muß die Realität der Außenwelt bewiesen noch ihre Erkenntnis im Ausgang vom Subjekt konstituiert werden, sondern beide – Dasein wie innerweltliches Seiendes – bilden im In-der-Welt-sein einen ursprünglichen Zusammenhang. Daher überrascht es nicht, daß Heidegger das Verhältnis des Daseins zu anderem Dasein ebenfalls als ein bereits gegebenes betrachtet, das nicht eigens aufgebaut werden muß. Dasein ist seinem Wesen nach Mitsein mit Anderen, die sich ihrerseits als Mitdasein darbieten.18 Angesichts der Tatsache, daß Heidegger die Beziehung des Daseins zu anderem Seienden nicht als äußerliche, sondern als solche konzipiert, in der es mit diesem – vortheoretisch – vertraut ist, läßt sich nachvollziehen, daß dies auch für die Beziehung zum Mitdasein gilt.19 So kann Heidegger die Auffassung vertreten, die Vertrautheit des Daseins mit dem Mitdasein werde nicht durch Einfühlung gewonnen. Vielmehr gründe sie im Mitsein.20 Daß Heidegger den praktisch-besorgenden Zugang zu Seiendem im Verhältnis zum theoretisch-erkennenden als fundierend einstuft, schlägt sich auch in seiner Beschreibung des Zugangs zum Mitdasein nieder. Er legt dar, daß der Andere nicht wie ein vorhandenes Ding – oder gar ein »freischwebendes Subjekt«21 – begegne, sondern als ein Seiendes, das sich durch sein In-der-Welt-sein auszeichne. Sind Dasein und Mitdasein in eine Welt eingebettet, in der sie dem Besorgen von Zuhandenem nachgehen, so verwundert es nicht, daß Mitdasein zusammen mit Zuhandenem in Erscheinung tritt und aus der Welt her begegnet. Da die Welt den Zusammenhang darstellt, von dem her sich Seiendes erschließt, kann Heidegger sagen, daß die Welt auch das Mitdasein freigibt.22 Vor diesem Hintergrund bietet sich der Zugang des Daseins zum Anderen in gewisser Hinsicht als ambivalent dar. Einerseits negiert Heidegger, daß Dasein und Mitdasein in Gestalt isolierter Subjekte auftreten. Insofern das Dasein immer schon mit dem Mitdasein vertraut ist, könnte man seinen Zugang zu diesem als unVgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit (Tübingen 141977) 125. Theunissen erblickt in dieser These freilich nur eine »pure Behauptung« (Michael Theunissen: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart [Berlin 1965] 167). 19 Vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit, a. a.O. [Anm. 18] 123. 20 Vgl. ebd. 125. 21 Ebd. 123. 22 Vgl. ebd. 123. 18

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mittelbaren charakterisieren. Anderseits sind Dasein und Mitdasein dergestalt durch ihr In-der-Welt-sein gekennzeichnet, daß der Andere von der Welt freigegeben wird. Angesichts dieses Umstands erscheint der Zugang zum Anderen nicht als unmittelbarer, sondern als durch die Welt vermittelter. Da erkenntnistheoretische Überlegungen bei Heidegger im Hintergrund stehen, erstaunt es nicht, daß die Frage nach dem kognitiven Zugang zum Anderen sowie nach dem Verhältnis, in dem seine physische und psychische Seite stehen, nicht gestellt wird. Dennoch macht sich Heidegger darüber Gedanken, in welchem Maße sich dem Dasein das Mitdasein erschließt. Er tut dies freilich weniger unter erkenntnistheoretischem als unter fundamentalontologischem Aspekt. Dasein steht nach Heidegger vor der Alternative, sich eigentlich oder uneigentlich zu seinem Sein zu verhalten. In der Dimension der Uneigentlichkeit verfällt das Dasein, es geht im Man oder in der Welt auf. Heidegger charakterisiert das Man als den Anderen, wie er zunächst und zumeist begegnet, nämlich als Neutrum, das nicht in Gestalt einer konkreten Person auftritt.23 Vergegenwärtigt man sich, daß sich Dasein und Mitdasein vorwiegend im Modus der Uneigentlichkeit befinden, so ist nachvollziehbar, daß der Unterschied zwischen ihnen in dieser Konstellation eingeebnet ist.24 Umgekehrt begibt sich das Dasein, sofern es seine Eigentlichkeit erreicht, in Distanz zum Mitdasein. Läßt es sich die Möglichkeiten, die es ergreift, nicht vom Man vorgeben, sondern wählt es diese selbst, so gelangt es in eine Position der Vereinzelung, die Heidegger veranlaßt, von einem »existenziale[n] ›Solipsismus‹«25 zu sprechen. Dies bedeutet, daß Dasein und Mitdasein im Modus der Eigentlichkeit auf sich selbst zurückgeworfen sind und daß sich das »eigentliche Miteinander«26 gerade durch Vereinzelung auszeichnet. Es liegt auf der Hand, daß es dann keinen direkten Zugang zum Anderen gibt. Angesichts der Tatsache, daß Heidegger das Sein des Daseins als Sorge bestimmt, erstaunt es nicht, daß er das Verhältnis, das es zum Mitdasein einnimmt, als besondere Weise der Sorge – als Fürsorge – interpretiert. Dabei unterscheidet er zwischen ihren defizienten und indifferenten Modi einerseits und ihren positiven Modi anderseits. Die ersteren sind kennzeichnend für das »alltägliche und durchschnittliche Miteinandersein« und bieten sich z. B. in Gestalt des »Ohneeinanderseins«, »Aneinandervorbeigehens« oder »Einander-nichts-angehens« dar.27 Letztere hingegen bestehen darin, daß das Dasein auf den Anderen zugeht. Dies kann dergestalt geschehen, daß es im Sinne einer »einspringenden Fürsorge« dem Anderen seine Sorge abnimmt und ihn so in seine Abhängigkeit bringt, oder daß es im Sinne der »vorausspringenden Fürsorge« dem Anderen

23 24 25 26 27

Vgl. ebd. 128. Vgl. ebd. 118. Ebd. 188. Ebd. 298. Vgl. ebd. 121.

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seine Sorge zurückgibt, so daß er für sie frei wird. Damit bahnt sie dem Anderen den Weg zum eigentlichen Selbstsein, ohne es ihm freilich abnehmen zu können.

IV. Sartre Sartre beabsichtigt, eine Reihe von Defiziten, die er bei Husserl, Hegel und Heidegger diagnostiziert, zu beheben und im Rahmen eines existenziell-dialektischen Ansatzes einen angemesseneren Zugang zum Anderen zu finden. Während er Husserl vorwirft, den Anderen lediglich als von einem transzendentalen Subjekt konstituiertes Objekt der Erkenntnis zu behandeln und damit im Solipsismus zu verharren, hält er Hegel zugute, daß er nicht von einem, sondern von zwei Subjekten ausgeht, die wechselseitig aufeinander verweisen und dergestalt voneinander abhängen, daß das Selbstbewußtsein des einen jeweils durch das andere vermittelt ist. Allerdings kritisiert Sartre an Hegel, daß er den Anderen als Gegenstand des Erkennens betrachtet und auf diese Weise die Differenz seines Bewußtseins zum eigenen nivelliert. Darüber hinaus moniert er, der Unterschied zwischen dem einen und dem anderen Bewußtsein werde auch in ontologischer Hinsicht eingeebnet. Sartre versucht, dieser Gefahr dadurch zu entgehen, daß er von der irreduziblen Interiorität des Cogito ausgeht. Von Heidegger erwartet sich Sartre eine tragfähigere Lösung. Er hebt zustimmend hervor, daß dieser die Beziehung zum Anderen nicht auf der Ebene der Erkenntnis, sondern auf der Ebene des Seins ansiedelt und den Anderen nicht als Gegenstand konzipiert, dem erst zu begegnen wäre, sondern als – mit dem Dasein ursprünglich verbundenes – Mitdasein. Freilich wendet er ein, daß Heidegger diese Beziehung eher behaupte als nachweise und daß er sie ontologischabstrakt, nicht aber ontisch-konkret beschreibe. Daraus ergibt sich für Sartre die Aufgabe, der Begegnung des Subjekts mit dem Anderen in ihrer Konkretion gerecht zu werden, ohne ihn zu einem Gegenstand der Erkenntnis erstarren oder in einer Totalität aufgehen zu lassen. Sartre beschreibt die Beziehung des Cogito bzw. Für-sich zum Anderen im Rahmen einer doppelten, sich als Negation darbietenden Bewegung, die im einen Fall darin besteht, daß der Andere das Für-sich negiert, und im anderen darin, daß das Für-sich den Anderen negiert. Zwar betrachtet Sartre das Cogito als Ausgangspunkt der Bewegung, doch er vertritt die Auffassung, daß es den Anderen nicht direkt als Objekt erfaßt, sondern zunächst von diesem als Objekt erfaßt werden muß. Dies läuft darauf hinaus, daß in einem ersten Schritt der Andere die Position des Subjekts und das Für-sich jene des Objekts und in einem zweiten Schritt das Für-sich die Position des Subjekts und der Andere jene des Objekts einnimmt. Dabei betont Sartre, daß das Für-sich und der Andere, wenn sie die eine Position innehaben, sich nicht zugleich in der entgegengesetzten befinden können, so daß die Vermittlung zwischen ihnen kein Aufgehen in einer Totalität beinhaltet.

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Die erste Bewegung besteht darin, daß das Für-sich dadurch aus der Position des Subjekts herausgedrängt wird, daß es der Andere durch seinen Blick objektiviert. Dabei erfährt es den Anderen nicht als Objekt, sondern auf eine ursprüngliche, nicht durch seinen Leib oder die Welt vermittelte Weise, ja nicht einmal die Augen des Anderen, die es erblicken, sind ihm als Objekt gegeben. Zwar gehören sie dem Feld seiner Wahrnehmung an, aber »sie sind neutralisiert, aus dem Spiel, sie sind nicht mehr Objekt einer These, sie bleiben im Zustand der ›Ausschaltung‹ […].«28 Sartre behauptet, daß der Andere in dieser Situation nicht konstituiert wird, sondern daß man ihm »begegnet«, und daß man sich als Erblickter nicht erkennt, sondern »erlebt«.29 Er deutet die unmittelbare Gegebenheit des Anderen als »leibhaftige Anwesenheit« und die Objektivierung des Für-sich als »Entfremdung« oder als »Knechtschaft«, in der es dem Anderen unterworfen ist.30 Dabei wird das Für-sich vom Anderen verweltlicht, es wird zu einem Ding neben anderen der Welt angehörenden Dingen, und zugleich weicht seine eigene Welt vor ihm zurück. Sartre spricht von einem »Abfließen«31 der Welt desselben. Gemeint ist, daß dadurch, daß das Für-sich seine Position als Subjekt einbüßt und der Andere sie einnimmt, die Welt ein neues Zentrum erhält. Das Für-sich hingegen rückt vom Zentrum an die Peripherie, es wird dezentriert. Auf die Erfahrung der Objektivierung durch den Anderen reagiert das Für-sich mit Furcht, Scham oder Stolz. Gegen die These, der Andere werde in einer Unmittelbarkeit erlebt, in der er keine Merkmale eines Objektes trägt und sich auch der Subjektcharakter des Erlebenden verflüchtigt, ist einzuwenden, daß sie eine bedenkliche Affinität zur Mystik erkennen läßt.32 Sartre indes bestreitet, daß er sich auf »irgendeine mystische Erfahrung oder auf etwas Unaussprechbares« stützt.33 Ob dies mehr als eine bloße Behauptung ist, mag dahingestellt bleiben. Anlaß zur Skepsis bietet freilich die Einschätzung, der Andere bedürfe nicht der konstitutiven Leistungen des Für-sich, und die Gewißheit des Seins des Anderen falle mit jener des Selbstbewußtseins in eins.34 In einer zweiten Bewegung überwindet das Cogito den Zustand, in den es der Andere versetzt hat. Es reißt sich von diesem los und negiert ihn. Dies bedeutet für das Cogito, daß es sich als Objekt-Ich überwindet und zu einem Subjekt-Ich wird, das sich sein Objekt-Ich aneignet. Es liegt auf der Hand, daß dem Cogito das angeeignete Objekt-Ich in dieser Konstellation nicht ursprünglich gegeben ist, sondern entgleitet. Im Zuge dieser Inversion widerfährt dem Anderen dasselbe wie vorher dem Cogito: Es wird aus der Position des Subjekts in jene des 28 29 30 31 32 33 34

Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts (Reinbek bei Hamburg 122006) 466. Vgl. ebd. 452, 471, 524. Vgl. ebd. 457, 482. Ebd. 471. Vgl. auch M. Theunissen: Der Andere, a.a.O. [Anm. 18] 223. Vgl. J.-P. Sartre: Das Sein, a. a.O. [Anm. 28] 458 f. Vgl. ebd. 494.

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Objekts versetzt. Dabei ist entscheidend, daß das Cogito auf diese Weise befähigt wird, den Anderen, der ihm als Objekt erscheint, als ein Wesen zu begreifen, das, obgleich es nicht als Subjekt, sondern als Objekt erfahren wird, auch Subjekt ist. Die Voraussetzung für diese Einsicht erblickt Sartre darin, daß das Cogito zunächst vom Anderen objektiviert wird und sich seine Objektivierung aneignet. Sartre umschreibt diesen Sachverhalt wie folgt: »Das ›Vom-Anderngesehen-werden‹ ist die Wahrheit des ›Den-Andern-sehens‹.«35 Dies besagt, daß das Cogito, um den Anderen als Objekt, das zugleich Subjekt ist, erfassen zu können, zunächst an sich selbst erfaßt haben muß, was ein derartiges Wesen ist. Freilich ist dieser Zugang zum Anderen kein direkter, sondern ein indirekter.36 Soll sich der Andere erneut unmittelbar und ursprünglich als Subjekt darbieten, so muß sich der Blick wiederum umkehren. Dies aber bedeutet, daß Sartre die Möglichkeit ausschließt, beide Seiten des Anderen zugleich zu erfassen: »Kurz gesagt, der Andere kann für uns in zwei Formen existieren: wenn ich ihn mit Evidenz erfahre, verfehle ich, ihn zu erkennen; wenn ich ihn erkenne, wenn ich auf ihn einwirke, dann erreiche ich nur sein Objekt-sein und seine wahrscheinliche innerweltliche Existenz; eine Synthese dieser beiden Formen ist nicht möglich.«37

V. Levinas Levinas nimmt eine Position ein, mit der er sich in diametralen Gegensatz zu Husserl begibt, aber auch von Autoren wie Scheler, Heidegger und Sartre unterscheidet. Es ist charakteristisch für ihn, daß er darauf verzichtet, den Weg vom Subjekt zum Anderen konstitutionstheoretisch zu durchmessen. Vielmehr gründet dieses nach seiner Auffassung in einer außerhalb seiner selbst gelegenen Instanz und kann allein von ihr her angemessen verstanden werden. Levinas möchte dem Anderen dadurch gerecht werden, daß er ihn unter dem Zeichen der Exteriorität bzw. Transzendenz deutet. So glaubt er, die Wirklichkeit leide unter einem allumfassenden Krieg, der geradezu den Rang eines ontologischen Ereignisses besitze. Charakteristisch für diesen Zustand sei eine Totalisierung, die alles zu erfassen drohe. Damit meint Levinas, daß das, was den Bereich des Anderen in seiner Differenz ausmacht, durch die Unterwerfung unter ein einheitliches Prinzip nivelliert und von sich selbst entfremdet wird. In der

Ebd. 464. Theunissen erblickt darin ein Abgleiten in einen Transzendentalismus, welcher das Anliegen, dem Anderen in seiner ursprünglichen Gegebenheit gerecht zu werden, konterkariert. Vgl. M. Theunissen: Der Andere, a.a.O. [Anm. 18] 225 f. 37 J.-P. Sartre: Das Sein, a. a.O. [Anm. 28] 538. Waldenfels wirft zu Recht die Frage auf, ob der Gegensatz zwischen beiden Gegebenheitsweisen – und damit auch zwischen dem Cogito und dem Anderen – so radikal ist, wie Sartre annimmt. Vgl. Bernhard Waldenfels: Phänomenologie in Frankreich (Frankfurt a.M. 1983) 89 f. 35 36

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Philosophie ordnet Levinas diesem Phänomen die Ontologie zu, die ebenfalls auf Totalisierung angelegt ist und als deren Gegenspieler zunächst eine – ethisch geprägte – Metaphysik und später die Ethik selbst auftritt. Während die erste Alternative für Totalität und Unendlichkeit kennzeichnend ist, wird die letztere in Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht entwickelt. Den Vorzug der Metaphysik erblickt Levinas darin, daß sie sich des Unendlichen annimmt, ohne der Illusion zu verfallen, es je erreichen zu können. Das metaphysische Begehren, das er ins Spiel bringt, läßt sich nicht befriedigen, denn das Unendliche ist vom Menschen getrennt, seine hervorstechende Eigenschaft ist die Exteriorität. In diesen Rahmen fügt sich auch das Verhältnis des Subjekts zum Anderen ein. Dieses Subjekt hat die Neigung, von den Dingen, auf die es trifft, Besitz zu ergreifen, so daß deren Alterität verloren geht, doch Levinas versucht, dieser Tendenz entgegenzuwirken. Er fragt: »Wie kann das Selbe, das als Egoismus auftritt, eine Beziehung mit dem Anderen eingehen, ohne es gleich seiner Alterität zu berauben?«38 Dabei setzt Levinas voraus, daß sich der Andere als dem Subjekt begegnender Mensch – wie das Unendliche – durch Exteriorität auszeichnet. Nach seiner Auffassung liegt kein symmetrisches Verhältnis zwischen einem Ich und einem Du vor, das sich aus der Perspektive eines Dritten adäquat beschreiben läßt, sondern eine Exteriorität, die irreduzibel ist. In diesem Zusammenhang benutzt Levinas die Metapher des Antlitzes. Begegnet der Andere als Antlitz, so bedeutet dies zunächst, daß er sich dem Versuch einer Aneignung entzieht. Er ist nicht adäquat gegeben, sondern erscheint in einer Epiphanie, für die es typisch ist, daß etwas flüchtig aufleuchtet, ohne sich objektivieren zu lassen. Levinas spricht von einem »ethischen Widerstand«, den der Andere leistet. Dieser liegt darin begründet, daß sich im Antlitz das Unendliche in seiner Exteriorität bekundet. Widerstand entgegenzusetzen, das bedeutet, daß der Andere an sein Gegenüber appelliert, ihn nicht zu töten. Nach Levinas stehen sich das Subjekt und der Andere so gegenüber, daß kein Standpunkt des Dritten – und damit auch keine Sprachgemeinschaft – vorausgesetzt ist, sondern der Andere sich durch bloßen Ausdruck artikuliert. Damit ist Sinn mit Ausdruck gleichzusetzen oder gründet darin. Da der Ausdruck auf den Anderen in seiner radikalen Alterität bezogen ist, stellt Levinas fest: »Der Sinn, das ist das Antlitz des Anderen.«39 Ist aber die Beziehung zwischen dem Subjekt und dem Anderen grundlegender als der Standpunkt des Dritten, so erstaunt es nicht, daß Levinas das Verhältnis des Subjekts zum Dritten im Ausgang von der geschilderten Begegnung zu begreifen versucht. Geht es Levinas in Totalität und Unendlichkeit vor allem darum, die Ontologie durch die Metaphysik zu überwinden, so verleiht er dieser Aufgabe in Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht insofern eine neue Wendung, als er betont, die Dimension des Unendlichen transzendiere jegliches Sein. Dabei 38 39

Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit (Freiburg 1987) 43. Ebd. 298.

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gelangt er zu der Auffassung, die Ethik stelle die grundlegende philosophische Disziplin dar. Während in Totalität und Unendlichkeit das Verhältnis des Subjekts zum Anderen durch eine Spannung zwischen Trennung und Verbindung gekennzeichnet ist, wird diese nun dadurch überwunden, daß eine ursprüngliche Verstrickung des Anderen im Selben aufgezeigt wird.40 Das läßt sich insbesondere anhand des Sagens verdeutlichen. Dieses nimmt eine zentrale Stellung ein, denn es bildet die Voraussetzung dafür, daß überhaupt Phänomene gegeben sind. Durch das Sagen wird das Sein zur Erscheinung gebracht, so daß, wie Levinas betont, das Phänomen selbst bereits Phänomenologie ist.41 Wird etwas gesagt, so richtet sich das Sprechen an einen Anderen, dem sich der Sprechende nähert. Mehr noch, indem dieser spricht, setzt er sich dem Anderen aus und geht das Risiko ein, sich beleidigen oder verletzen zu lassen. Die ethische Dimension, die so ins Spiel kommt, ist dem Sagen, nicht aber dem Gesagten eigentümlich, und deshalb hebt Levinas hervor, es komme auf das Sagen an oder darauf, daß das Gesagte auf das Sagen zurückgeführt bzw. reduziert werde. Levinas siedelt die Ethik auf einer fundamentaleren Ebene als das Sollen oder die Werte an. Indem sich der Andere an das Subjekt richte, entstehe ein Anspruch, vor dem es kein Entrinnen gebe und der seinen Adressaten zur Antwort zwinge. Levinas stilisiert diesen Sachverhalt dadurch zu einem »Drama der Verantwortung«, daß er den Zwang zu antworten als »Besessenheit« oder »Verfolgung« und die Haltung, die angesichts des Anderen einzunehmen sei, als »Verantwortung« deutet, und zwar als unbegrenzte. Daß dies nicht im Sinne einer gültige Normen bereitstellenden, sondern einer ursprünglichen, sie erst begründenden Ethik zu verstehen ist, geht daraus hervor, daß Levinas zu Formulierungen wie »Anklage, die der Schuld vorausgeht«42 oder »Verantwortung zu tragen ohne vorheriges Engagement«43 greift. Dabei behauptet er sogar, das Subjekt verdanke seine Reflexivität nicht sich selbst, sondern der Begegnung mit dem Anderen, der ihm seine Verantwortung zuweise. Erst dadurch werde das Subjekt zu einem Selbst. Mehr noch, Levinas faßt den Anderen als Aggressor auf, der das Subjekt zur Geisel nimmt und zu seinem Stellvertreter macht, der seine ganze Schuld – ja sogar die aller – auf sich lädt. Levinas stuft die Dimension, um die es ihm geht, als »anarchisch« und »vorursprünglich« ein. Damit erheben sich zwei Fragen: Was ist mit dieser Dimension gemeint? Und wie läßt sie sich als etwas, das jeglichem Ursprung vorausliegt, überhaupt begreifen? In diesem Zusammenhang spricht Levinas von einer Spur, die für etwas steht, das selbst nicht anwesend ist, und das, was sie hinterlassen hat – anders als ein Zeichen – nicht zum Erscheinen bringt. So erweist sich

40 41 42 43

Vgl. auch László Tengelyi: Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte (München 1998) 242 ff. Vgl. E. Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (Freiburg 1992) 94. Ebd. 250. Ebd. 257.

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die Abwesenheit, auf die Levinas abzielt, als irreduzibel. Da keine Kontinuität zwischen dem Abwesenden und der Spur vorliegt, sondern dieses von der Gegenwart abgelöst ist, läßt sich nachvollziehen, daß Levinas den zeitlichen Aspekt dieses Verhältnisses als Diachronie beschreibt, die jeglicher Synchronisierung, durch welche das Abwesende zu einem Anwesenden würde, einen unüberwindlichen Widerstand entgegensetzt. So überrascht es nicht, daß Levinas mit alledem Gott bzw. das Unendliche meint. Diejenige Instanz aber, in der sich das Unendliche offenbart, ist das Sagen, so daß Levinas feststellen kann, daß »das Unendliche sich im Sagen vollzieht.«44 Freilich handelt es sich um ein Sagen, das nicht mit dem Gesagten zu verwechseln ist, sondern Levinas fordert, das Gesagte sei dadurch auf das Sagen zu reduzieren, daß es widerrufen werde.

VI. Ricœur Ricœur schlägt eine Konzeption des Anderen vor, die im Vergleich zu Husserl und Levinas weniger einseitig ist und überdies den Vorteil bietet, daß sie den Anderen auf unterschiedlichen, miteinander verflochtenen Ebenen thematisiert. Dabei grenzt er sich sowohl von Husserl wie auch von Levinas ab.45 Ricœurs zentraler Einwand gegen Husserl lautet, daß die Konstitution des Anderen nach dem Modell der Konstitution eines Dinges begriffen wird. Dies kommt dem Vorwurf eines Zirkels gleich. Die Konstitution eines Dinges setzt nämlich voraus, daß sich nicht nur die Intentionen eines eigenheitlich reduzierten Egos darauf richten, sondern auch diejenigen des oder der Anderen, mit denen es eine intersubjektive Gemeinschaft bildet. Demnach baut die Konstitution eines Dinges, die eine Voraussetzung für die Konstitution des Anderen bildet, selbst auf der letzteren auf. Soll eine Konstitution mit dem Anspruch der Letztbegründung aufgeklärt werden, so darf auf der Seite des Konstituierenden nichts gegeben sein, was auf die Seite des zu Konstituierenden gehört. Andernfalls läge ein Zirkel vor. Ließe sich dieser Einwand für die Konstitution des Anderen erhärten, so wäre der Versuch einer Letztbegründung angesichts der Vorgabe des Anderen fehlgeschlagen. Ricœur argumentiert wie folgt: 1) Ist bei Husserl von einer primordialen Welt die Rede, so setzt dies eine – dem transzendentalen Ego sowie dem Anderen – gemeinsame Natur und damit den Anderen voraus. Was dem transzendentalen Ego in seiner Eigenheitssphäre gegeben ist, macht noch keine Welt aus, und wäre es eine, so wäre sie nicht primordial. 2) Faßt das transzendentale Ego seinen Leib als Körper auf, so besitzt er den Charakter eines der Welt angehörigen

Ebd. 323. Vgl. Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer (München 1996) 395 ff. sowie ders.: Autrement. Lecture d’Autrement qu’être ou au-delà de l’essence d’Emmanuel Levinas (Paris 1997). 44 45

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Dinges und damit einen Grad an Objektivität, der allein im Rekurs auf den Anderen einsichtig gemacht werden kann. Ricœur räumt allerdings ein, daß Husserl mit den Begriffen der Appräsentation und der Paarung die Gegebenheitsweise des Anderen in ihrer Dialektik von Ähnlichkeit und Asymmetrie angemessen beschreibt. Auf den Einwand, damit werde das ego im Vergleich zum alter privilegiert, erwidert er, das lasse sich, solange man das Verhältnis von Selbst und Anderem erkenntnistheoretisch betrachte, gar nicht vermeiden. Freilich betont Ricœur, daß sich dieses Verhältnis nicht in einer Bewegung vom Selbst zum Anderen erschöpft, sondern daß auch die umgekehrte Bewegung einer Affektion des Selbst durch den Anderen stattfindet. Nach seiner Auffassung hat sich Levinas das Verdienst erworben, diesen Aspekt zu beleuchten. Aber auch er argumentiere einseitig. Ricœur weist auf folgende Schwierigkeiten hin: 1) Die Entschiedenheit, mit der Levinas die Passivisierung des Subjekts betreibe und die ihn dazu bringe, Selbstheit als Resultat einer Konstitution durch den Anderen hinzustellen. 2) Die Spannung zwischen dem Standpunkt des Dritten und dem Anliegen einer Reduktion des Gesagten auf ein Sagen, das sich dem objektivierenden Zugriff entziehe. Zunächst weist Ricœur den Versuch zurück, die Reflexivität des Subjekts im Anderen gründen zu lassen. Aus seiner – reflexionsphilosophischen46 – Perspektive macht Ricœur geltend, daß das Subjekt, soll es vom Anruf des Anderen erreicht werden, fähig sein muß, diesen zu vernehmen. Dies aber setze ein Subjekt voraus, das sich zu sich selbst verhalte und daher nicht erst vom Anderen zu konstituieren sei. Was angeblich aus einer Konstitution durch den Anderen entsteht, wäre demnach eine Voraussetzung dafür, daß der Andere vom Subjekt erfaßt wird. Damit habe sich auch Levinas in einen Zirkel verstrickt. Die andere Schwierigkeit betrifft die Spannung zwischen den Ebenen des Sagens und des Gesagten. Während der Ontologie das Gesagte entspricht, gehört die Begegnung mit dem Anderen dem Bereich des Sagens an. Um dieses nicht zu einem Gesagten erstarren zu lassen, fordert Levinas, das Gesagte auf das Sagen zu reduzieren. Wie aber, so fragt Ricœur, gelingt es ihm, dabei etwas zur Sprache zu bringen, was kein Gesagtes ist? Ricœur erläutert dies anhand der Begriffe der Nähe, der asymmetrischen Beziehung der Verantwortung sowie der Stellvertretung. Nach seiner Auffassung handelt es sich um Hyperbeln, also um einen übertragenen Gebrauch sprachlicher Ausdrücke, der signalisiert, daß sich das Gemeinte dem Zugriff eines klassifizierenden Diskurses entzieht. Sei davon die Rede, daß sich das sprechende Subjekt dem Anderen dergestalt aussetze, daß es in seiner Nähe zum Anderen einer Besessenheit durch diesen anheimfalle, so sei das nicht wörtlich zu nehmen. Vielmehr bedeute die Nähe des Anderen, daß dieser, indem er begegne, nicht erscheine oder gegenwärtig sei.

46

Vgl. auch P. Ricœur: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique II (Paris 1986) 25.

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Genau darauf komme es Levinas an, wenn er von einer »Nicht-Phänomenalität des [Antlitzes]«47 spreche. Noch weiter gehe die Hyperbel der Stellvertretung. Sie laufe darauf hinaus, daß sich das Subjekt zur Verfügung stelle, um durch den Anderen und für ihn zu leiden und sich an seiner Stelle anklagen zu lassen. Was aber die Verantwortung betrifft, so erschöpfe sie sich in dem, was zur Nähe sowie zur Stellvertretung gesagt wurde. Angesichts dieses Befunds formuliert Ricœur eine rhetorische Frage: »Wird damit nicht eingestanden, daß die von der Ontologie losgelöste Ethik keine unmittelbare, eigene, angemessene Sprache hat?«48 Man mag darüber streiten, ob es überhaupt gelingt, das Unsagbare zur Sprache zu bringen. Dies ist jedoch nicht der Weg, den Ricœur beschreitet. Ihm geht es vielmehr darum, daß Levinas noch auf einer anderen Ebene spricht und glaubt, er könne sie von derjenigen des Sagens ableiten. So begnügt er sich nicht damit, die Begegnung des Subjekts mit dem Anderen zu beschreiben, sondern geht auch auf das Phänomen des Dritten ein. Ricœur spricht geradezu von einem »beunruhigenden Einbruch des Themas des Dritten.«49 Damit meint er, daß dieser Begriff in einem prekären Spannungsverhältnis zur Ebene des Sagens steht. Mit dem Dritten kommt der Andere ins Spiel, dem das Subjekt nicht unmittelbar gegenübersteht. Um das Verhältnis des Subjekts zum Dritten zu thematisieren, ist es erforderlich, Vergleiche anzustellen und zu objektivieren. Dazu bedarf es eines angemessenen Diskurses, und dieser ist derjenige des Gesagten. Es muß, wie Ricœur feststellt, eine »subversion de la subversion«50 bzw. ein »dédire [du] Dire«51 stattfinden. Auf diese Weise tritt die Synchronie an die Stelle der Diachronie, und der Entzug weicht der Repräsentation. Entscheidend ist für Ricœur, daß Levinas glaubt, die Ebene des Dritten sei bereits in jener der asymmetrischen Begegnung des Subjekts mit dem Anderen angelegt. Träfe dies zu, so wäre der Gegensatz zwischen dem Sagen und dem Gesagten aufgehoben, und genau dies veranlaßt Ricœur, den Verdacht einer Erschleichung zu äußern.52 So wirft er die Frage auf, ob nicht Levinas in das zurückfällt, was er dementiert. Birgt das Sagen bereits das Gesagte in sich, so ist schwer nachzuvollziehen, daß es radikal von der Ebene des Dritten geschieden ist. Allerdings ist Ricœur vorsichtig genug, um lediglich von einer »Quasi-Ontologie« sowie von einer »Post-Ethik«53 zu sprechen, die sich bei Levinas bemerkbar mache. Trotz seiner Kritik an Husserl und Levinas ist Ricœur weit davon entfernt, deren Ansätze zurückzuweisen. Vielmehr insistiert er, daß beide Positionen, so47 48 49 50 51 52 53

E. Levinas: Jenseits des Seins, a. a.O. [Anm. 41] 201. P. Ricœur: Autrement, a. a.O. [Anm. 45] 25. Ebd. 19. Ebd. 29. Ebd. 31. Vgl. ebd. 33 f. Ebd. 35.

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fern sie nicht verabsolutiert werden, legitim sind. Dies bedeutet für ihn, daß sich der erkenntnistheoretische Primat des Selbst und der ethische Primat des Anderen ergänzen.54 Unabhängig davon, ob man sich der These vom ethischen Primat des Anderen anschließt oder nicht, ist von Ricœur zu lernen, daß keine Erfahrung des Anderen – so unmittelbar und ursprünglich sie sich auch geben mag – ohne Rekurs auf die konstitutiven Leistungen des Subjekts, das sie vollzieht, einsichtig gemacht werden kann.

54

Vgl. P. Ricœur: Das Selbst, a. a.O. [Anm. 45] 409.

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Aufklärung

I. Der Ausdruck ›Aufklärung‹ ist, obwohl wahrscheinlich durch das französische ›éclairer‹ und vielleicht auch durch das lateinische ›clarificatio‹ angeregt, eine originär deutsche Wortschöpfung. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts lexikalisch in der bis zum Ende des 18. Jahrhunderts maßgeblichen und seinerzeit positiv konnotierten Kombination ›Aufklärung des Verstandes‹ belegt, wird das Verbalsubstantiv seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, jetzt offensichtlich verselbständigt und selbstverständlich, auch ohne Angabe eines Objektes gebraucht. ›Aufklärung‹ in diesem Sinn bezeichnet dann – anders als die meisten entsprechenden, im allgemeinen späteren Wortbildungen in anderen Sprachen – einerseits eine gezielte geistige Aktion, andererseits aber auch und zwar schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine kulturelle Epoche (also im wesentlichen das 18. Jahrhundert, in dem die Aufklärung als Programm und Bewegung eine maßgebliche Rolle spielte). In dieser doppelten, teils universalen und handlungslogischen, teils partikularen und epochengeschichtlichen Bedeutung ist ›Aufklärung‹ bis heute geläufig und zugleich immer noch problematisch. Dabei pflegen sich vor allem die Befürworter einer engagierten Aufklärung an Kant zu orientieren, der die vorherrschende, eher rationalistische Auffassung von Aufklärung (Klärung von Begriffen und Tatsachen) durch die Hervorhebung ihrer emanzipatorischen Intention (Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit) vertieft hatte, und beziehen sich dann, nicht selten mit einer gewissen Engführung, auf einen prononcierten, beide Aspekte verbindenden Begriff von Kritik. ›Aufklärung‹ wird dabei nicht selten zum bloßen Schmuckwort.1 Das aus dem Überdruß an den Glaubenskämpfen und aus der Orientierung an der Wissenschaft, nicht zuletzt auch aufgrund der gesellschaftlichen Bedingungen, entwickelte Programm einer Aufklärung des Verstandes führte, trotz aller sensualistischen und voluntaristischen Aspekte, zu einer allgemeinen Betonung des menschlichen Intellekts, die dann ihrerseits, seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, zu verschiedenen Reaktionen, von der als höhere Aufklä-

Zum auch international unterschiedlichen Verständnis der Aufklärung als Epoche vgl.: Robert Darnton, Jean Mondot und Werner Schneiders im Gespräch über Aufklärung und Aufklärungsforschung. Leitung des Interviews: Harro Zimmermann. Aufgezeichnet während des 9. Internationalen Kongresses zum Zeitalter der Aufklärung (Münster, 23.–29. Juli 1995) im Landesstudio des Westdeutschen Rundfunks, Münster. Leicht gekürzt abgedruckt in: Das achtzehnte Jahrhundert 20, H. 2 (1996) 137–149. 1

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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rung gemeinten Aufklärungskritik bis zur prinzipiellen Ablehnung der Aufklärung in der sogenannten Gegenaufklärung führen konnte. Dazu gehörten, außer einer neuartigen Gefühlskultur und einem neuartigen Geschichtsbewußtsein, auch die für Deutschland typische Diskussion über die sogenannte wahre Aufklärung, deren Möglichkeiten und Grenzen, und die allmähliche Ersetzung des nunmehr degradierten, sogenannten bloßen Verstandes durch eine prätendierte höhere Vernunft. Aus dieser Gemengelage entstand, neben der klassischen und romantischen Literatur, die Philosophie des Deutschen Idealismus, die sich zwar zunächst als eine höhere Aufklärung verstand, dann aber mehr und mehr zu einer elitären, nahezu völligen Abwertung der Aufklärung gelangte. Damit war die Aufklärung in Deutschland, nicht zuletzt wegen der Genialität der vielen neuen Denker, zunächst einmal verschüttet. Selbst Kant galt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als überholt. Im 19. Jahrhundert und sogar bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts bleibt die Aufklärung in Deutschland gründlich vergessen und wird, soweit überhaupt noch bekannt, sogar immer wieder verdammt. Zwar gibt es gelegentliche, meist ambivalente Bekenntnisse zur Aufklärung, z. B. bei Marx und Nietzsche, die sich allerdings beide bezeichnenderweise fast ausschließlich auf die französische Aufklärung, genauer gesagt, auf deren radikalkritische, materialistische und atheistische Tendenzen, beziehen. Und es gibt auch indirekte, nämlich historisch intentionierte Rehabilitationsversuche, z. B. in Form einer Textsammlung und einer Literaturgeschichte.2 Im großen und ganzen galt die Aufklärung in Deutschland jedoch, weil angeblich oberflächlich rationalistisch und fortschrittsgläubig, als eine obsolete Bewegung, ja sogar als bloßer Import aus England und Frankreich und daher dann nicht selten sogar als undeutsch. Auf dem Hintergrund dieser philosophischen und politischen Zeitläufe mußte auch der großangelegte, mehr systematisch als historisch ambitionierte Versuch von Ernst Cassirer3 in Deutschland ohne nennenswerte Resonanz bleiben. Aufklärung als geistige Epoche galt und gilt auch heute vielfach noch als gescheitert oder geistig überholt, und dementsprechend wird auch Aufklärung als Programm nicht selten mit Mißtrauen betrachtet. Eine Darstellung des Begriffs ›Aufklärung‹ im 20. Jahrhundert muß sich, wenn sie nicht uferlos werden will, eine doppelte Beschränkung auferlegen. Erstens muß sie sich topographisch, hier also auf Deutschland, beschränken. Dies läßt sich auch sachlich vertreten, da die philosophische Diskussion über Aufklärung bisher ohnehin vor allem in Deutschland stattgefunden hat.4 Zweitens muß

Martin von Geismar: Bibliothek der deutschen Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts, 5 Bde. (Leipzig 1846–47); Hermann Hettner: Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, 3 Theile (Braunschweig 1856–60). 3 E. Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung (Tübingen 1932). 4 Als Beispiel für die außerdeutsche Diskussion seien hier nur Foucault und Popper genannt. Beide Autoren beziehen auf Kant, den sie natürlich jeweils verschieden verstehen. Karl Popper 2

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sie sich doxographisch beschränken. Denn es ist zwar richtig, daß hinter ähnlich klingenden Begriffsbestimmungen in der Regel unterschiedliche Philosophien stehen, aber es ist natürlich unmöglich, diese jeweils näher zu entwickeln. Und ebenso ist es auch ausgeschlossen, alle eher beiläufigen Bemerkungen zur Aufklärung aufzusammeln oder alle Begriffsvarianten, Entwicklungen und Widersprüche bei den einschlägig interessanten Autoren zu dokumentieren. Daher ist es natürlich auch nicht möglich, die verschiedenen modernen Aufklärungskonzepte mit den ihrerseits vielfältigen Aufklärungsbegriffen des 18. Jahrhunderts zu vergleichen. Es dürfte im übrigen geradezu a priori klar sein, daß die Aufklärungskonzepte des 20. Jahrhunderts, trotz ihrer häufigen formelhaften Wiederholung der Kantischen Definition, mit der Aufklärung der Epoche dieses Namens inhaltlich meist nur noch wenig gemein haben.

II. Während die Aufklärung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts meist nur marginal und dann vor allem negativ thematisiert wurde, wurde sie in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zu einem vielfach diskutierten Problem. Unverkennbar war es die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und der daraus resultierende Zusammenbruch des tradierten, tendenziell romantischen nationalen Selbstverständnisses in Deutschland, die hier zu einer Rückbesinnung auch auf die Aufklärung (als historische Epoche wie als gezielte geistige Aktion) führten. Andererseits schien durch die Unmenschlichkeiten des 20. Jahrhunderts gerade die Aufklärung mit ihrer Hoffnung auf eine Besserung des Menschen endgültig widerlegt zu sein. Die neue Grundsatzdiskussion setzte allerdings auch nach

ist zwar zunächst nur an Kant als Erkenntniskritiker interessiert, versteht ihn dann aber auch als Vorkämpfer für eine offene Gesellschaft (Immanuel Kant. Der Philosoph der Aufklärung, 1954, in: ders.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde [Tübingen 71992] Bd. 1). In diesem erkenntnis- und politikkritischen Sinn scheint sich auch Popper als Fortsetzer der Aufklärung zu verstehen. Die Identifikation des Kritischen Rationalismus mit dem Aufklärungsdenken wird mit Nachdruck jedoch erst von seinen deutschen Nachfolgern vollzogen (Hans Albert, Hans Lenk). Michel Foucault, der immer wieder die Abhängigkeit des Denkens von der Macht analysiert und dabei vor allem die Aufklärung kritisiert hat, bemüht sich in seinem Aufsatz Was ist Aufklärung? (dt. in: Eva Erdmann [Hg.]: Ethos der Moderne [Frankfurt a.M. u. a. 1990]) im Anschluß an Kant um einen positiven Begriff von Aufklärung. Zwar ist diese für ihn, dem französischen Sprachgebrauch gemäß, zunächst ein Ereignis oder ein Prozeß. Darüber hinaus aber ist sie »die ständige Reaktivierung einer Haltung – das heißt eines philosophischen Ethos, das als permanente Kritik unseres historischen Seins beschrieben werden könnte« (45). In Kants Auffassung der Aufklärung erkennt Foucault den Anfang der Moderne, die für ihn wesentlich darin besteht, eine permanente und autonome Selbstschöpfung »mittels einer historischen Ontologie unserer selbst« zustande zu bringen (vgl. 47 ff.). Offensichtlich wird hier versucht, eine existentialistische Vorstellung vom Menschen um eine zugleich konkrete historische und universale kritische Dimension zu erweitern.

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1945 mit einer gewissen Verspätung ein. Die politisch restaurativen Tendenzen der Nachkriegszeit und die damit zum Teil verbundenen personellen Kontinuitäten aus der Kriegs- und Vorkriegszeit begünstigten immer noch eine gewisse oberflächliche Aufklärungskritik, wie sie zum Teil auch heute noch verbreitet ist. Der Dezisionismus Carl Schmitts und die Institutionenlehre Arnold Gehlens waren nicht zuletzt gegen das angeblich uferlose Räsonnement der Aufklärung gerichtet. Auch biologistische Deutungen der menschlichen Existenz wie in der Verhaltenslehre von Konrad Lorenz unterlaufen de facto das aufklärerische Postulat einer freien Vernunftorientierung. Hinzu kamen die antiaufklärerischen Tendenzen der Seinsspekulation, durch die Martin Heidegger, wenn auch keineswegs als einziger, einer gewissen Rehabilitierung des Mythos vorarbeitete (während sich Karl Jaspers’ Existenzphilosophie schon seit 1930 zur Vernunft und zu einer »wahren Aufklärung« bekannte). Die neue Grundsatzdiskussion über die Aufklärung begann gewissermaßen mit einem Paukenschlag, nämlich mit der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Das Werk war gegen Ende des Zweiten Weltkrieges im Exil geschrieben worden – vor allem angesichts des nationalsozialistischen Terrors, aber wohl auch aus Enttäuschung über den ursprünglich favorisierten Marxismus, der zum Stalinismus pervertieren konnte, und zugleich mit angstvollem Blick auf den amerikanischen Industrialismus und Kapitalismus. Das Buch, eine Zeitdiagnose als Geschichtsphilosophie, erschien 1947 in den Niederlanden, blieb jedoch zunächst unbeachtet, bis es in Raubdrucken zu kursieren begann. Daraufhin veröffentlichten die Autoren, nicht ohne selbstkritisches Zögern, 1969 eine Neuauflage, durch die nun die alte Frage nach der Notwendigkeit wie den Grenzen, den Schwächen wie den Kosten der Aufklärung regelrecht angeheizt wurde. Die Dialektik der Aufklärung versteht »Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens« als Selbstbehauptung mit dem Ziel der »Entzauberung der Welt«.5 Die Aufklärung will dem Menschen seine Furcht nehmen und ihn zum Herrn über die Welt einsetzen und ist daher mehr oder weniger identisch mit technikorientierter Wissenschaft. »Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst«.6 Aufklärung ist Rationalität aus Angst, und ihr primäres Ziel ist die Beherrschung der Natur. Daher wird auch als Beispiel für die so verstandene Aufklärung als erster Francis Bacon genannt, für den Wissen bekanntlich Macht bedeutete und der vor allem an technischem Fortschritt interessiert war.7 Aus der Zeit der Aufklärung in der engeren Bedeutung des Wortes werden dann nur noch Kant als einerseits unerbittlicher, andererseits bornierter Aufklärer und der Marquis de Sade als folgerichtig pervertierter Aufklärer behandelt – beide nicht gerade typische Aufklärer. Mit anderen Worten, 5 6 7

M. Horkheimer, Th. W. Adorno: Die Dialektik der Aufklärung (Frankfurt 1969) 9. Ebd. 22. Vgl. ebd. 10 f.

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die Aufklärung als Epoche, die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, kommt in der Dialektik der Aufklärung so gut wie gar nicht zu Wort. Dies führt unter anderem dazu, daß der Begriff der Aufklärung, obwohl sehr allgemein genommen, inhaltlich einseitig bestimmt wird; die praktischen Postulate bzw. Errungenschaften der Aufklärung im engeren Sinne (Toleranz und Denkfreiheit, Rechtsgleichheit und Emanzipation usw.), von denen nicht zuletzt auch die Autoren der Dialektik profitierten, werden faktisch ignoriert. Zudem wird die Aufklärung im weiten Sinne des Wortes, die Aufklärung als allgemeine Verhaltensweise, indem sie mit wissenschaftlicher Erkenntnis bzw. Wissenschaftsgläubigkeit identifiziert wird, von vornherein als naiv und positivistisch dargestellt. Die forschende Erkenntnis, im Grunde die Basis jeder nicht-archaischen Existenz, wird so gut wie ausschließlich negativ gesehen. Sie zerstört »die glückliche Ehe von Mensch und Natur«,8 sie ist der Sündenfall, der zum Verlust des Paradieses geführt hat. In diesem Sinne ist Aufklärung eine der gesamten Weltgeschichte immanente negative Tendenz, die Weltgeschichte ist wesentlich Verfallsgeschichte, eigentlich eine einzige Katastrophe. Das Gegenteil von Aufklärung im weitesten Sinne des Wortes ist für Horkheimer und Adorno der Mythos, und zwar ebenfalls im weitesten Sinne des Wortes. Die Aufklärung als Entzauberung der Welt richtet sich gegen die magische Auffassung der Wirklichkeit im Mythos, gegen dessen narratives und mimetisches Verhältnis zur Natur. Allerdings ist der Gegensatz von Aufklärung und Mythos weder eindeutig noch fest. Einerseits war der Mythos selbst schon ein Erkenntnisversuch, nämlich ein Versuch, mit der Wirklichkeit bzw. der Angst vor der Wirklichkeit irgendwie fertig zu werden, insofern also Aufklärung. Andererseits kann oder muß die Aufklärung, als Wissenschaft bzw. Ideologie der Wissenschaft, selbst wieder zu einer Art Mythos werden: »Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück«,9 und zwar anscheinend unvermeidlich. Es geht daher nach Horkheimer und Adorno wesentlich darum, zu erkennen, »daß die Ursache des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie […] bei der in Furcht vor der Wahrheit erstarrenden Aufklärung selbst zu suchen ist«.10 Aufklärung endet in »Selbstzerstörung der Aufklärung«.11 Das alles verdinglichende und identifizierende Denken richtet sich am Ende sogar gegen sich selbst. Aufklärung wird von Horkheimer und Adorno als zerstörerischer und selbstzerstörerischer Rationalismus gesehen, der sich seine eigenen Pseudomythen und damit sich selbst als Pseudomythos schafft; sie hat sich letztlich sogar als »totalitär« erwiesen.12 In diesem Sinn ist die Aufklärung der Grund aller Übel

8 9 10 11 12

Vgl. ebd. 9 f. Ebd. 6. Ebd. 3 f. Vgl. ebd. 1, 3 u. ö. Vgl. ebd. 12.

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der modernen Welt. Ihr Wissenschaftsprogramm, das sich inzwischen überall in Technik und Industrie realisiert, nähert sich heute, geradezu apokalyptisch oder eschatologisch, einem absoluten Höhepunkt. »Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils«.13 Vor allem der Irrsinn der nationalsozialistischen Politik ist als Irrationalismus nur die Folge oder Kehrseite des mit der Zerstörung des Mythos beginnenden Rationalismus. Eine zur Selbstkritik unfähige Aufklärung muß im Positivismus einerseits und im Faschismus andererseits enden. Aufklärung wird letztlich sogar zum Massenbetrug. Nur die Kunst scheint den Autoren der Dialektik der Aufklärung gelegentlich noch ein gewisses Refugium für die wahre Substanz der Wirklichkeit und damit eine Erinnerung an eine allerdings unvorstellbare Erlösung zu bieten; die auf Kritik als bestimmte Negation reduzierte Philosophie hingegen findet heute nichts mehr, woran sie sich, wenn auch nur vorläufig, festmachen könnte. Nur ganz vage verbleibt im Hintergrund dieser Weltsicht eine Hoffnung auf das Absolute und eine Art Erlösung, die Philosophie soll heute vom – antizipierten – »Standpunkt der Erlösung« her denken. Und eher verhehlt wird angedeutet, daß sich Reste ursprünglicher Wahrheit noch bei Juden und Frauen finden könnten. Aber natürlich setzen Horkheimer und Adorno auch die eigene Vernunft als eine wesentlich unbeschädigte und daher zur Kritik und Selbstkritik fähige Vernunft voraus und lassen daher auch so die Ahnung von einer besseren Aufklärung anklingen, ohne diese Vorstellung allerdings irgendwie zu konkretisieren. Die Dialektik der Aufklärung als ein sozusagen romantischer Rationalismus denkt im Grunde nach dem biblischen Schema von Sündenfall und Erlösung, ohne jedoch diese Grenzpunkte des Geschichtsprozesses klarmachen zu können. Feststeht für sie nur die Negativität von allem und jedem und ihre eigene Heilsbedürftigkeit (bis hin zur religiösen Hoffnung auf eine Resurrektion der Natur). Auch deshalb verharrt die Dialektik der Aufklärung, trotz vieler scharfsinniger Analysen und geistreicher Anspielungen, bei einem einseitigen und historisch fragwürdigen Begriff von Aufklärung, der sich aus einer pessimistischen, zum Teil auch romantischen (linken) Rationalismus- und Kulturkritik speist. Außerdem bleibt die Dialektik der Aufklärung, trotz ihrer vielen pointierten Formulierungen, letztlich im Ungefähren. Sie versteht Aufklärung nicht nur wechselnd als Programm wie als Epoche, als eine Geisteshaltung und universale Verfallsgeschichte bzw. deren innere Struktur – auch ihre Verdammung der Aufklärung ist nicht eindeutig. Obwohl die Autoren im wesentlichen von der Ambivalenz oder Zwiespältigkeit der Aufklärung, nämlich aller bisherigen, offenkundig falschen Aufklärung, handeln, halten sie am Ende doch an der Notwendigkeit von Aufklärung in einem positiven Sinne des Wortes fest. Selbstbesinnung soll die weitere Selbstzerstörung der Aufklärung aufhalten, »die Aufklärung muß sich auf sich selbst besinnen, wenn die Menschen nicht vollends verraten werden sol13

Ebd. 9.

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len«.14 Mit diesem Postulat erweist sich die Dialektik der Aufklärung, wenn auch anscheinend ohne Kenntnis dieser Tradition, als ein Beitrag zur alten und immer wieder neuen Diskussion über die wahre Aufklärung. Die Kritik der fehlgegangenen Aufklärung, also die eigene Aufklärung über Aufklärung, soll den Weg für eine neue und bessere Aufklärung vorbereiten, wie immer es möglich sein soll, den diagnostizierten universalen Verblendungszusammenhang zu durchbrechen. Der Erfolg des Buches basierte allerdings weniger auf dieser positiven Intention als vielmehr auf der (theologisch eingefärbten) marxistischen Kritik der kapitalistischen Industrie und Kultur. Dabei wurde auch übersehen, daß Horkheimer und Adorno vor wie nach dieser Abrechnung mit der Aufklärung einen sehr viel positiveren Begriff von Aufklärung favorisierten. In der sogenannten zweiten Generation der Frankfurter Schule kam es auch in der Auffassung der Aufklärung zu einer (durch neomarxistische Gemeinsamkeiten zunächst noch verdeckten) Wende, nämlich zu einer positiveren Sicht sowohl der Errungenschaften der bisherigen als auch der Möglichkeiten der zukünftigen Aufklärung. Offensichtlich war Aufklärung über Aufklärung, die als totale Kritik zugleich versucht, ihre Kriterien dahingestellt sein zu lassen, und sich mit unbestimmten religiösen Ahnungen begnügt, auf die Dauer nicht durchzuhalten. Vor allem aber entwickelte sich seit dem Beginn der sechziger Jahre eine verstärkte Kritik an den restaurativen Tendenzen der Nachkriegszeit, die zu unterschiedlichen Optionen führte, die nun vor allem einen Weg von der Aufklärung bzw. Aufklärungskritik zur Praxis suchten. So kam es auch außerhalb des Neomarxismus zu einer Konjunktur des Begriffs ›Aufklärung‹, wie z. B. bei R. Dahrendorf und G. Szczesny.15 Im Rahmen der Frankfurter Schule findet sich vor allem bei Jürgen Habermas von Anfang an ein ins Positive gewendetes Modell von Aufklärung. Allerdings spielt der Terminus Aufklärung, obwohl Habermas zeitweise Assistent Adornos war, bei ihm keine signifikante Rolle. Zwar handelt seine Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) auf weite Strecken über die Rolle der Öffentlichkeit im Denken des 18. Jahrhunderts, dennoch wird der Ausdruck ›Aufklärung‹ nur eher beiläufig und unspezifisch, vor allem historisch, gebraucht. Erst in den unter dem Titel Theorie und Praxis veröffentlichen Abhandlungen, vor allem in dem Kapitel Dogmatismus, Vernunft und Entscheidung – Zu Theorie und Praxis in der verwissenschaftlichten Zivilisation, wird Habermas’ eigene Auffassung von Aufklärung als einer wünschenswerten zielgerichteten proEbd. 5. Ralf Dahrendorf (Die angewandte Aufklärung [München 1954]), der schon 1954 das Frankfurter Institut für Sozialforschung verließ und sich parteipolitisch neoliberal orientierte, sah die als praktischen Rationalismus verstandene Aufklärung, trotz aller Kritik, wesentlich positiv und fand ihre vorläufige Vollendung in Amerika. Gerhard Szczesny versuchte mit seinem Club Voltaire. Jahrbuch für kritische Aufklärung [München 1953 ff.]) einer Vielfalt von Aufklärungskonzeptionen eine Plattform zu bieten. Er selbst verstand Aufklärung wesentlich als Vorurteilskritik. 14 15

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grammatischen Aktion deutlicher. Aufgrund seines neomarxistischen Ansatzes versteht er Aufklärung vor allem als Ideologiekritik (ein Ausdruck, den er später lieber vermeiden möchte) und in diesem Sinne als Kritik des Dogmatismus und der Irrtümer bzw. Vorurteile. Es ist das »falsche Bewußtsein«, das aus »den Institutionen einer falschen Gesellschaft« resultiert, wogegen die Ideologiekritik kämpfen muß; dagegen hat sich die Aufklärung z. B. bei Marx gerichtet, und dagegen muß sie sich weiterhin richten.16 Aufklärung ist Ideologiekritik als Gesellschaftskritik. Auch nach seiner Distanzierung von der sogenannten Studentenrevolte hielt Habermas zumindest zunächst an diesem Aufklärungsbegriff fest und verlangte als Voraussetzung einer umfassenden Änderung aller Verhältnisse eine Ideologiekritik im neomarxistischen Sinn. Die Errichtung einer Gesellschaft, die »politische Freiheit im materialistischen Sinne zu ihrem Inhalt hat«, bedarf einer »langfristigen Strategie der massenhaften Aufklärung«.17 Diese aber wird, wie es nun, vor allem in der Schrift Erkenntnis und Interesse, weniger marxistisch, nämlich eher anthropologisch als geschichtsphilosophisch, heißt, von einem emanzipatorischen Interesse bestimmt. Es gibt, wie Habermas schon länger vermutet hatte, ein a priori einsehbares Interesse des Menschen an Mündigkeit.18 Aufklärung ist ein Bedürfnis der Vernunft und nach Vernunft, nämlich der vollen, nicht der sogenannten positivistisch halbierten Vernunft. Und dieses basiert auf einem ursprünglichen Freiheitsbedürfnis, resultiert nicht nur aus der Angst vor mythischen Mächten. Mit seiner Hoffnung auf den Erfolg einer neuen, nämlich seiner eigenen Aufklärungsarbeit hatte sich Habermas weit von Adornos und Horkheimers pessimistischer Aufklärungskritik entfernt und bringt dies nun auch in einer Kritik der Aufklärungskritik seiner Lehrer zum Ausdruck. Der Totalisierung der radikalen Ideologiekritik, die sich seit Nietzsche auch noch gegen sich selbst wendet, glaubt er nun – mehr und mehr im Vertrauen auf den Wahrheitswillen des Sprechens und die kommunikative Struktur der Vernunft – durch das Postulat eines idealen herrschaftsfreien Diskurses entgehen zu können. Das emanzipatorische Interesse wird schon im Sprechen sichtbar. Im Unterschied zu Adorno, der sich aller Affirmation verweigerte und daher die seine Kritik der Aufklärung legitimierenden Prinzipien nicht angeben konnte, und im Unterschied zu Horkheimer, der sich mehr und mehr wieder der biblischen Gottesidee zuwandte, glaubt Habermas, durch eine (andere) notwendige Antizipation, im »Vorbild der idealisierten, in herrschaftsfreier Kommunikation erzielten Übereinstimmung« die Idee eines wahren Lebens und damit eine angemessene Idee von Wahrheit wie

J. Habermas: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien (Neuwied am Rhein, Berlin 1963) 234, vgl. 231 ff., 239. 17 Ders.: Die Scheinrevolution und ihre Kinder. In: Die Linke antwortet Jürgen Habermas (Frankfurt a.M. 1968) vgl. 5, 11 f., 14. 18 Vgl. ders.: Theorie und Praxis, a. a.O. [Anm. 16] 231, 239; Erkenntnis und Interesse (Frankfurt a.M. 1968). 16

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auch von Mündigkeit erreichen zu können.19 Indem er, nach eigenem Selbstverständnis, eine Wendung von der Subjektphilosophie zur Kommunikationstheorie oder von der Bewußtseinsphilosophie zur Sprachphilosophie vollzieht, entwickelt er das postmarxistische Ideal einer durch freie Kommunikation aufgeklärten und mündigen Gesellschaft. Damit ändert sich auch das Profil der zunächst wesentlich als Aufklärung, d. h. als Ideologiekritik verstandenen Philosophie. Nach dem Ende der großen Systeme und dem Verschwinden großer Philosophen und angesichts der Tendenzen zu einer depersonalisierten arbeitsteiligen Forschung stellt sich für Habermas die Frage nach den Möglichkeiten einer Philosophie, die sich zuletzt hauptsächlich noch als Kritik verstanden hat. In seinem Aufsatz Wozu noch Philosophie? heißt es: Philosophie als bloße Kritik (»Kritisch schließlich gegen das elitäre Selbstverständnis der philosophischen Tradition, besteht sie auf universeller Aufklärung – auch über sich selber«) sei letztlich das parasitäre »leere Exerzitium der Selbstreflexion«.20 Aber es gibt nach Habermas’ Überzeugung noch eine andere Möglichkeit, nämlich die einer Wissenschaftskritik, die zugleich praktische Philosophie oder Gesellschaftstheorie wäre; sie wäre eine nicht-szientistische Wissenschaftsphilosophie mit politischem Verantwortungsbewußtsein.21 Die Philosophen, die sich einmal exemplarisch als Aufklärer verstanden haben, sind allerdings keine privilegierten Lehrer der Menschheit mehr. Eine sich in diesem Sinne selbst beschränkende Philosophie ist nun für Habermas nur noch die »Platzhalterin der Vernunft« und nur in diesem Sinne noch kritische Aufklärung. Offensichtlich hat sich gegen Ende der sechziger Jahre, nach den Enttäuschungen über die spektakulären politischen Protestbewegungen der Zeit, auch bei Habermas eine gewisse Ernüchterung bzw. Enttäuschung breitgemacht. Es kommt daher auch bei ihm zu einer deutlichen Interessenverlagerung, vor allem hin zu den Problemen von Sprache und Moral. Damit verliert auch der Begriff ›Aufklärung‹ an Bedeutung. Das Problem der Aufklärung wird von ihm und in der Folge von vielen anderen nun allgemeiner als Problem der Moderne gefaßt. Und ähnlich wie Hegel und andere schon zu ihrer Zeit von einer »unbefriedigten Aufklärung« ausgingen, so konstatiert auch Habermas nun das unvollendete Projekt der Moderne, »das im 18. Jahrhundert von den Philosophen der Aufklärung formuliert worden ist« und das insofern immer noch ein »Projekt der Aufklärung« ist. Offensichtlich rechnet Habermas sich zu den Geistern, die »an den Intentionen der Aufklärung, wie gebrochen auch immer, festhalten«.22 Im

Vgl. ders.: Theodor W. Adorno. Ein philosophierender Intellektueller [1963] in: ders.: Philosophisch-politische Profile (Frankfurt a.M. 1971, 1973) 194 ff. 20 Ders.: in: Philosophisch-politische Profile, ebd. 29 f. 21 Vgl. ebd. 34. 22 J. Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt [1980]. In: ders.: Kleine Politische Schriften, Bd. 4 (Frankfurt a.M. 1981) 452 f. 19

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Vertrauen auf das Rationalitätspotential der Sprache bzw. des Sprechens, hält er einen Fortschritt der Geschichte in Richtung auf Vernunft und Freiheit für möglich, teilweise sogar für schon gegeben. Indem er für die Fortführung dieses sogenannten Projekts der Moderne plädiert, engagiert er sich auch weiterhin für eine weitere, reflektiertere Aufklärung.23

III. Etwa gleichzeitig mit dem Beginn des Bekanntwerdens der Dialektik der Aufklärung und dem Auftreten von Habermas setzt eine Diskussion über die Aufklärung ein, die sich weitgehend aus ganz anderen Quellen als die linke Ideologiekritik speist und die sich zunächst nur am Rande auch gegen die Frankfurter Schule wendet. Es sind verschiedene Autoren, die politisch am ehesten einer sozial-liberalen Richtung zuzuordnen, aus der Sicht der Marxisten allerdings eher Neokonservative sind. Auch sie sind vor allem der Gesellschafts- und der Wissenschaftstheorie verpflichtet, und zwar zunächst aus der Sicht der Soziologie und der Politikwissenschaft. Sie alle halten ausdrücklich an einem positiven Begriff von Aufklärung fest, auch wenn sie die bisherige Aufklärung, manchmal fast stereotyp, als unreflektiert und unzureichend kritisieren. Und sie tendieren einerseits dazu, Aufklärung als Kritik in einem weiten, inhaltlich noch nicht fixierten Sinne des Wortes zu definieren, andererseits dazu, Aufklärung vor allem als (nicht-marxistische) Ideologiekritik zu verstehen. So können szientistische wie politische, vor allem aber betont moralische Aufklärungsbegriffe entwickelt werden.24 In seinem Aufsatz Soziologische Aufklärung (1967)25 versucht Niklas Luhmann, »Soziologie als Aufklärung« zu etablieren, und zwar auf dem Hintergrund einer sogenannten »Abklärung der Aufklärung«, nämlich einer Abrechnung mit Ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne (Frankfurt a,M. 1985, 21985) 155 ff. So versteht Hans-Joachim Lieber in seiner Festrede Ideologie und Aufklärung von 1965 (in: Feier der Rektoratsübergabe der Freien Universität Berlin am 27. November 1965 [Berlin 1966]) Aufklärung ausdrücklich als Ideologiekritik und unterscheidet dabei zwischen einer erkenntniskritischen und einer sozialkritischen »aufklärerischen Ideologiekritik« sowie einer gegenaufklärerischen, »irrationalistischen Ideologiekritik«. Allerdings, wenn die zunächst aufklärerische Ideologiekritik dogmatisch an eine als Wahrheit behauptete Ideologie gebunden wird, muß die Aufklärung am Ende selbst ideologisch werden und der Ideologiekritik verfallen. Dann entsteht eine konservative »Ideologietheorie«, die von der Behauptung eines Gegensatzes »von aufgeklärter Führung und unaufgeklärter Masse« lebt. Damit stellt sich die Frage, wie eine gesellschaftliche Aufklärung als Kritik durchgehalten und als Instanz gesichert werden könne (30 f., vgl. 22 ff.). Lieber glaubt, auch wenn er sich für die sogenannte erkenntnistheoretische Aufklärung im Grunde nicht interessiert, mit Bezug auf Kant, daß es nur mit Hilfe einer kritisch reflektierten Utopie als regulative Idee möglich sei, eine »aufgeklärte Gesellschaft« zu entwickeln (33). 25 In: ders.: Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme (Köln, Opladen 1970) 66–91. 23 24

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der aus seiner Sicht gescheiterten Aufklärung des 18. Jahrhunderts, als »Programm der Soziologie«.26 Aus der Sicht dieser soziologischen Aufklärung über Aufklärung wird die Epoche der Aufklärung, die sogenannte Vernunftaufklärung, einigermaßen klischeehaft als optimistisch und vernunftgläubig bezeichnet. Unter Aufklärung als bisherige Verhaltensweise versteht Luhmann dann »das Streben, die menschlichen Verhältnisse frei von allen Bindungen an Tradition und Vorurteil aus der Vernunft neu zu konstruieren«.27 Demgegenüber legt die Soziologie für ihn eine neue »Deutung des Aufklärungsgedankens« nahe: Aufklärung muß als »Erweiterung des menschlichen Vermögens, die Komplexität der Welt zu erfassen und zu reduzieren«, verstanden werden.28 Für eine solche wissenschaftliche, sinnvolle oder »verantwortbare« Aufklärung brauchen wir nicht »eine immer mehr entlarvende Aufklärung«, sondern einen »Durchblick« auf die von der »Aufklärungsutopie« ignorierten »Grenzen der Aufklärung«; wir brauchen einen »neuartigen Stil von Aufklärung«, nämlich eine praktikable Systemtheorie. »Die Frage, wie übermäßig komplexe Informationsbestände verarbeitet werden können, bezeichnet das noch verborgene Problem der Aufklärung«.29 Allerdings ist die wissenschaftliche Erfassung und Reduktion von Komplexität, also auch die Soziologie als »Teil einer weltaufklärenden Wirklichkeitswissenschaft«,30 nur ein Sonderfall des allgemeinen Problems, wie der Mensch mit seiner Welt zurechtzukommen versucht. Daher kann Luhmann auch sehr allgemein sagen: »Aufklärung ist der geschichtliche Prozeß, der sich bemüht, die Möglichkeiten der Welt dem Leben und Handeln als Sinn zugänglich zu machen«.31 So kann sich Aufklärung – durch oder als Soziologie – zugleich als Wissenschaft und als zielorientierte geschichtliche Bewegung verstehen. Aufklärung ist, wenn auch mit anderer Wendung als bei Adorno, nicht nur eine Epoche und die primär in dieser Epoche entwickelte Geisteshaltung bzw. Programmatik, sondern sogar die innere Struktur der Geschichte als Prozeß. Soziologische Aufklärung kann nicht mehr als »Vorstellung richtiger oder Herstellung zweckmäßiger Sachverhalte nach Maßgabe gemeinmenschlicher Vernunft begriffen werden«.32 In der als Systemtheorie verstandenen Soziologie tritt an die Stelle der Handlungsrationalität die Systemrationalität, und diese ist systemrelativ oder geschichtlich. Wenn aber in den Systemen die unbestimmte Komplexität der Welt verarbeitet und strukturiert wird, dann bestimmt die jeweilige Eigenkomplexität des Systems auch das Niveau der Aufklärung, nämlich ihre Weltverarbeitungsqualität. Aufklärung besteht offenbar in der

26 27 28 29 30 31 32

Ebd. 66 ff. Ebd. 66. Ebd. 67. Ebd. 72, vgl. 68 ff. Ebd. 73. Ebd. 74. Ebd. 78.

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Entwicklung immer besserer Systeme, Systeme sind geradezu das »Medium der Aufklärung«.33 »Wirksame Aufklärung kann durch Systembildung geleistet […] werden«.34 Daher kann Luhmann auch mit Wendung gegen Kant (und unausdrücklich wohl auch schon gegen Habermas) dem frei diskutierenden Publikum die wahre Aufklärungskompetenz absprechen. »Nicht schon die Befreiung der Vernunft zu zwangloser Kommunikation klärt auf, sondern nur eine effektive Steigerung des menschlichen Potentials zur Erfassung und Reduktion von Komplexität«.35 Wenn aber die Soziologie mit Hilfe der Systemtheorie Systeme erforscht, »darunter sich selbst«, stellt sie auch sich selbst unter das Postulat der Aufklärung und wird so kritisch reflexiv. »Letztlich läuft die Abklärung der Aufklärung mithin auf ein Reflexivwerden des Aufklärens hinaus. In der Soziologie kann die Aufklärung sich selbst aufklären und sich dann als Arbeit organisieren«. Erst so lassen sich »Bedingungen und Chancen einer wirklichen Aufklärung« erkennen.36 In diesem Sinne hält auch Luhmann an der Idee einer wahren Aufklärung fest. Allerdings reduziert sie sich bei ihm auf – der Absicht nach – strenge, durch seine Systemtheorie geleitete wissenschaftliche Arbeit, die sich ihrerseits als das progressive Moment eines Sinn suchenden, geistigen Geschichtsprozesses versteht. Luhmann verstand sich, trotz aller seiner meta-soziologischen Spekulationen, als wissenschaftlicher Soziologe.37 Offensichtlich bleibt jedoch die Diskussion

Ebd. 76. Ebd. 80. 35 Ebd. 77. 36 Ebd. 86. 37 Auch in anderen Richtungen der Soziologie, vor allem in denen, die sich der Ideologiekritik widmeten, wie z. B. in dem von Popper ausgehenden Kritischen Rationalismus, spielt die Idee der Aufklärung eine gewisse Rolle. Hans Albert (Traktat über Kritische Vernunft [Tübingen 1968, 51991]), der sich »der Tradition der Aufklärung und des kritischen Denkens« verpflichtet weiß (150), setzt die kritische Rationalität, die in der Aufklärung vorherrscht, mehr oder weniger mit einem für die moralischen und gesellschaftlichen Probleme offenen Kritischen Rationalismus gleich. Aufklärung als Ideologiekritik im Sinne des Kritischen Rationalismus soll helfen, »die Irrationalität des sozialen Lebens« zu vermindern, vor allem durch die »Korrektur bestimmter Vorurteile« (106), insbesondere die des hermeneutischen Denkens. Hans Lenk setzt sich in seinem Vortrag von 1969, der eine Kleine »nichtaufklärerische« Aufklärung über Aufklärung (in: ders.: Philosophie im technologischen Zeitalter [Stuttgart 1971]) versucht, bereits deutlich von Horkheimer und Adorno ab, denen er vor allem eine Vermischung von Elementen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts mit der heute mehr denn je unabdingbaren Aufklärung als Aktion vorwirft. Aber auch Kants Vorstellungen über die Existenz einer reinen Vernunft und über einen zur Aufklärung notwendigen Vernunftgebrauch werden als utopisch bzw. zaghaft verworfen. Den Grundfehler der »traditionellen« Aufklärung sieht Lenk in ihrem Willen zum System sowie in ihren Optimismus. Heute ist der dogmatische Fundamentalismus und damit auch die naive Fortschrittsgläubigkeit durch die Wissenschaftstheorie obsolet geworden. Die Selbstbesinnung und Selbstanwendung der Aufklärung, also Aufklärung über Aufklärung, läßt Aufklärung heute nur noch als Methode und als Appell zu. Und dies geschieht im sogenannten Kritischen Rationalismus oder, wie Lenk sich ausdrückt, in der »Richtung des begründungsfreien rationalen Kritizismus« (65). Ideologiekritik hingegen ist nur ein Aspekt der Aufklärung, 33 34

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über Aufklärung auch in den siebziger Jahren vor allem ein Problem der Philosophie, wenn auch vor allem der Gesellschaftsphilosophie.38 Hermann Lübbe, der sich mehrfach um eine Diagnose der geistigen Situation der Zeit »nach der Aufklärung« bemüht und sich dabei immer wieder mit der sogenannten Neuen Linken auseinandergesetzt hat, kritisiert in seinem Vortrag »Aufklärung und Gegenaufklärung« vor allem die Frankfurter Schule.39 Diese versucht, so Lübbe, die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, aus der die Grundsätze, »auf denen Menschenrechte und Bürgerfreiheiten beruhen«, stammen, als ihr politisches und moralisches Erbe zu reklamieren und alle Andersdenkenden als Gegenaufklärer oder »Aufklärungsrenegaten« zu diffamieren. Ihr »definitorisches Ausschließungsverfahren« bedeute einen Angriff »auf die politische Kultur der liberalen Aufklärungstradition« und beruhe auf dem Versuch, »die liberalen Traditionen der politischen Aufklärung, die unsere zweite deutsche Demokratie bis heute überwiegend bestimmen, radikaldemokratisch oder neomarxistisch zu transformieren«.40 Lübbe wertet solche »ideologiepolitischen Abqualifikationen«, denen er nicht zuletzt sich selbst ausgesetzt sieht, als einen »Akt anmaßender moralisch-politischer Selbstprivilegierung«, als eine »dreiste und vergiftende moralisch-politische Zweiteilung unserer Intelligenz«. Sie ist letztlich Gegenaufklärung. »Wir haben es auch mit Erscheinungen einer Gegenaufklärung zu tun, die aus Selbstzerstörungstendenzen der politischen Aufklärung hervorgeht. Ihre Grundfigur ist regelmäßig diese: Destruktion der Liberalität aufgeklärter

deren Begriff weiter und wissenschaftlicher gefaßt werden muß. »Der konsequente rationale Kritizismus ist die Methode zu einem Programm moderner Aufklärung« (68), und diese anzuwenden ist ein »programmatischer Appell« (71). Der kritische Rationalismus ist daher als regulative Idee »zunächst nur Mittel zur Verwirklichung eines emanzipatorischen Appells« (71). So verbindet sich bei Lenk der betonte Rationalismus mit einem unbestimmten Moralismus, die permanente Kritik wird ethisch motiviert. 38 Wie schon in seinem Beitrag: Probleme des neuzeitlichen Freiheits- und Aufklärungsprozesses (in: Kirche im Prozeß der Aufklärung [München, Mainz 1970]) versucht Willi Oelmüller in Was ist heute Aufklärung? (Düsseldorf 1972), die »Philosophie als Aufklärung« in ihre Rechte einzusetzen; denn für ihn gibt es »keine ernsthafte Alternative zur Fortsetzung der Aufklärung in allen Systemen und auf allen Ebenen« (7). Dazu bedarf es jedoch einer »Revision der Aufklärung« (12). Unter Aufklärung versteht Oelmüller die »theoretisch-kognitiven und praktischen Prozesse […], die auch heute Beiträge zur Weiterführung der Geschichte der unvollendeten Freiheiten leisten können« (7). So wird die Geschichte selbst zu einem Prozeß der unvollendeten (»unbefriedigten«) Aufklärung. Da es Oelmüller jedoch vor allem um die Frage der Handlungsorientierung geht und er das ›alte‹ Naturrecht, das nach seiner Ansicht der Aufklärung widerspricht, als nicht mehr brauchbar verwirft, bestimmt er Aufklärung näherhin als ein rationales oder »als ein auch in komplexen Gesellschaften plausibles und effizientes Begründungsverfahren von Handlungszielen und Entscheidungskriterien« (66, vgl. 17 f., 31 u. ö.), und zwar in enger Verbindung mit den modernen Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien, ohne allerdings diese Prozesse und Verfahren und deren mögliche Ergebnisse inhaltlich näher zu bestimmen (vgl. 8, 15). 39 H. Lübbe: Aufklärung und Gegenaufklärung. In: Aufklärung heute. Bedingungen unserer Freiheit, hg. von Michael Zöller (Zürich 1980) 11–27. 40 Ebd. 11 ff.

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Öffentlichkeit durch allerlei Formen der Selbstzuschreibung eines Monopols auf die politisch privilegierende Aufklärerrolle«.41 Aufklärung als Ausgang aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit »verkehrt sich in ihr Gegenteil, nämlich in ein System ideologisch befestigter politischer Vormundschaft«, wenn sich eine Gruppe öffentlich ein exklusives Aufklärungsmonopol zuschreibt, sich z. B. nach dem unangebrachten Vorbild der Psychoanalyse als »Nationaltherapeut« aufspielt und sich dabei auch noch als das fortgeschrittenste Subjekt der Weltgeschichte versteht.42 Offensichtlich versucht Lübbe, die durch die Aufklärung errungene Liberalität und damit die Möglichkeit weiterer Aufklärung vor Mißbrauch zu bewahren, indem er die aufklärerische Kritik an Dogmatisierung mit Nachdruck auf sich selbst verabsolutierende Aufklärer zurückwendet. Dabei muß er die Grenzen der Erkenntnis- und Politikkritik allerdings überschreiten und moralisch argumentieren. Die Selbstzerstörung aufgeklärter Öffentlichkeit durch exklusiven Selbstvorbehalt der Aufklärerrolle, durch Selbstprivilegierung und Ausschließung, läuft, wie Lübbe zeigen kann, letztlich auf eine »terroristische Selbstermächtigung zur Gewalt« hinaus, und diese ideologische und moralische »Selbstlegitimation« ist die nahezu unvermeidliche Folge der »Selbstzuschreibung des prinzipiell höheren politischen Standpunktes«, des Anspruches auf »ein politisches Erkenntnisquellenbesitzmonopol«. Im Grunde ist es gerade der Marxismus, der den herrschaftsfreien Diskurs zerstört. »Die marxistische Theorie zerstört die Argumentationssymmetrie«.43 Lübbe versucht deshalb, diese und andere Tendenzen der »Transformation aufgeklärter politischer Öffentlichkeit in die Illiberalität« durch die Analyse der ihnen zugrundeliegenden Denkfiguren, z. B. der »Entgrenzung der Emanzipationszumutung«, zu bekämpfen; es sind »Figuren der Autotransformation von Aufklärung in Gegenaufklärung«.44 Insofern gibt er den Vorwurf der Gegenaufklärung, im Namen der Liberalität einer zugleich traditionsbewußten und ergebnisoffenen Aufklärung, an Habermas, den er trotz dessen Theorie eines herrschaftsfreien Diskurses als totalitär einstuft, zurück. Mit anderen Worten, auch er versteht sich unvermeidlich als Vertreter einer wahren Aufklärung, die die neuen »Verdunkelungen« alter Wahrheiten durch den »Neomarxismus« bekämpft.45 Dabei konzentriert sich sein Aufklärungsbegriff faktisch auf die politisch-moralische Aufklärung, auf eine Aufklärung, die wesentlich Ideologiekritik ist, nämlich Kritik einer Ideologiekritik, die selbst auf einer dogmatischen Ideologie beruht. In den sechziger Jahren und zu Beginn der siebziger Jahre waren Aufklärung und die damit verknüpften Begriffe (›Kritik‹, ›Emanzipation‹, ›Mündig-

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Ebd. 16, vgl. 15 f. Ebd. 17, 21. Ebd. 21, vgl. 16 ff. Ebd. 22 ff. Ebd. 27, vgl. 23 ff.

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keit‹ usw.) ein zentrales Thema der philosophischen, vor allem aber auch der pädagogischen und politischen Diskussion. Ende der siebziger Jahre begann die zeitweise aufgeheizte Aufklärungsdiskussion in Deutschland jedoch schon wieder zu ermatten. Ursache war einerseits die übliche Reflexionserschöpfung; die großen geistigen Schlachten waren geschlagen, das Thema war anscheinend ausdiskutiert. Ursache war aber auch die Veränderung der politischen bzw. gesellschaftlichen Verhältnisse; die Unruhen von 1968 und die dann weitergehende Prätention einer militanten Aufklärung seitens extremistischer Gruppen waren gescheitert, und die allgemeine Wirtschaftskrise begünstigte einen neuen, egoistisch-antiutopistischen Privatismus. Die verschiedenen Kämpfer für eine so oder so verstandene, zudem stark gegenwartsbezogene Aufklärung konzentrierten sich mehr und mehr auf andere Themen von eher überzeitlichem Interesse. Das Modewort ›Kritik‹ verflüchtigte sich aus der philosophischen bzw. wissenschaftlichen Diskussion. Dennoch ist ›Aufklärung‹ auch heute noch im alltäglichen, vor allem im politischen und feuilletonistischen Diskurs ein anscheinend unverzichtbares Schlagwort – sei es als Parole in allen möglichen Reformprogrammen, die zu der immer nötigen Verbesserung der Welt beitragen sollen, sei es als Identifikation einer Illusion, von der man sich wie von einem Popanz absetzen möchte.

IV. Neben der allgemeinen, an einem Allgemeinbegriff von Aufklärung interessierten und mehr oder weniger philosophischen Diskussion über Aufklärung existiert seit über einem halben Jahrhundert auch in Deutschland eine umfassende, zum Teil sehr konkrete Aufklärungsforschung, die sich der Erforschung des 18. Jahrhunderts in Europa, und zwar zunehmend auch der Aufklärung in Deutschland, widmet. Sie begann schon vor der Jahrhundertmitte, also zunächst völlig unabhängig von der Frankfurter Schule, die seit dem Ende der sechziger Jahre das akademische wie das politische und publizistische Interesse auf sich zu ziehen begann. Hier waren es nicht zufällig remigrierte Romanisten (Fritz Schalk, Werner Krauss, Herbert Dieckmann), die der Aufklärungsforschung, vor allem im Hinblick auf die außerdeutsche Aufklärung, wichtige Anstöße gaben. Doch hatte sich auch, schon während des Krieges, Max Wundt, der ursprünglich sogar dem Nationalsozialismus nahestand, der Philosophie der deutschen Aufklärung zugewandt.46 Ein verbreitetes Interesse an der Erforschung der Aufklärung als historische Epoche entwickelt sich dann seit den fünfziger Jahren, vor allem natürlich in den Literaturwissenschaften (Romanistik, Anglistik, Germanistik), aber auch in der allgemeinen Geschichtswissenschaft und Soziologie sowie in der Philosophie.

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M. Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung (Tübingen 1945).

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In Anbetracht der politischen Verhältnisse, nämlich der Teilung Deutschlands, mußte die Aufklärungsforschung in Ost und West allerdings schon früh unterschiedliche Wege einschlagen. In der alten Bundesrepublik begann sich schon in den fünfziger Jahren eine Aufklärungsforschung zu entwickeln, die sich nachdrücklich auch für die deutsche Aufklärung interessierte und deren Eigenart herauszuarbeiten begann. Diese Aufklärungsforschung wird von mancherlei Interessen bestimmt und ist natürlich auch über den Begriff von Aufklärung, vor allem als historische Epoche, aber auch als gezielte Aktion, uneinig. Demgegenüber mußte die Aufklärungsforschung im Osten Deutschlands aus ideologischen wie auch aus materiellen Gründen unterentwickelt bleiben. Sie war auf einen engen, ›marxistisch‹ dogmatisierten Begriff von Aufklärung, der sich an den materialistischen und atheistischen Tendenzen der französischen Aufklärung orientierte, festgelegt und daher vor allem als romanistische Forschung möglich. Erst nach der Wiedervereinigung konnte auch in den neuen Bundesländern eine voraussetzungslosere und ergebnisoffene Aufklärungsforschung mit Nachdruck in Gang kommen. Die Aufklärungsforschung setzt – methodisch unvermeidlich – zumindest als Anfangsverdacht irgendeinen Begriff von Aufklärung voraus, und dieser kann positiv, aber auch negativ konnotiert sein. Zunächst hatte sie in aller Regel ein prinzipiell affirmatives Verhältnis zu ihrem Gegenstand: Aufklärung als historische Epoche ist es wert erforscht zu werden, zumal Aufklärung ein überzeitliches Anliegen ist. Allerdings bestand auch nirgendwo die Meinung, die Aufklärung des 18. Jahrhunderts könnte schlichtweg wiedererweckt und auf das 20. Jahrhundert übertragen werden, vielmehr gab es von Anfang an ein deutliches Bewußtsein von der Geschichtlichkeit dieser Epoche. Dieses Bewußtsein, gerade auch von den geschichtlichen Grenzen der geschichtlichen Aufklärung, konnte sich mit einem ›neuen‹ Bewußtsein von den sachlichen Schwächen aller bisherigen programmatischen Aufklärung verbinden und damit auch – wieder einmal – ein aufklärungskritisches Interesse an ganz anderen Phänomenen wecken, die aller Aufklärung anscheinend widersprechen bzw. ihr dialektisch inhärent sind. So gab es auch in der Aufklärungsforschung einerseits den offenen oder verkappten Vorwurf, daß die Aufklärung des 18. Jahrhunderts nicht radikal genug, vor allem nicht zureichend emanzipatorisch gewesen sei. Andererseits aber richteten sich die Blicke, auch dies oft genug in frappanter Übereinstimmung mit den neuesten Wandlungen des Zeitgeistes, auf Phänomene wie Gefühl, Melancholie, Mythos usw., und zwar nicht selten mit der implizierten Kritik, daß diese Phänomene nicht nur in der geschichtlichen Epoche der Aufklärung mißachtet worden seien, sondern notwendigerweise in aller programmatisch engagierten Aufklärung zu kurz kämen. Und gelegentlich konnten sich sogar beide Vorwurfstypen, der Vorwurf mangelnder Radikalität und der Vorwurf dogmatischer Borniertheit, miteinander verbinden. So entstanden viele Arbeiten über die Grenzen der Aufklärung, die dunkle Aufklärung bzw. die dunkle Kehrseite der Aufklärung einerseits und ihre soziale Blindheit oder theoretische Borniertheit andererseits.

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Insofern nimmt auch die Aufklärungsforschung immer wieder Momente klassischer deutscher Kulturkritik, der Aufklärungskritik des ausgehenden 18. wie des beginnenden 19. Jahrhunderts, auf, bestimmt sich aber auch durch moderne Perspektiven, nämlich radikale gesellschafts- und wissenschaftskritische Postulate. Die Unterscheidung von historischer Aufklärungsforschung und prinzipieller Aufklärungsdiskussion ist daher nicht immer leicht zu ziehen, zumal die geschichtliche Epoche der Aufklärung ihren Namen der Aufklärung als allgemeines Anliegen verdankt. Diese letztlich unauflösliche Verbindung macht eine ambivalente Gewichtung der Interessen und zugleich deren Verschlingung möglich. Daher kommen einerseits die prinzipiell gemeinten Theorien zur Aufklärung meist nicht ohne historische Reminiszenzen, andererseits die historischen Arbeiten so gut wie nie ohne allgemeine Begriffsbestimmungen aus. Manche prima facie ›historische‹ Arbeiten zur Aufklärung als Epoche dienen mehr oder weniger deutlich systematischen oder programmatischen Zielen.47 Doch gibt es natürlich auch Versuche, die historische und die systematische Analyse soweit wie möglich zu unterscheiden.

V. Die geistige Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert kann auf weite Strekken als eine Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern der Aufklärung betrachtet werden oder, wenn man diesen Streit wohlwollend betrachten will, als eine Diskussion über die wahre Aufklärung, und dabei können mehr formale und mehr materiale Aufklärungsbegriffe entwickelt werden, zumal die zumeist als Maßstab beanspruchten Begriffe ›Vernunft‹ und ›Freiheit‹ selbst immer noch sehr deutungsbedürftig sind. Da man kaum ernsthaft und offen für

47 Jürgen Mittelstraß versteht in seinem unfangreichen Überblick (Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie [Berlin u. a. 1970]) Aufklärung als vernünftige Selbständigkeit und Kritik der Disziplinlosigkeit des Denkens. Aus betont wissenschaftstheoretischer Perspektive wird die Epoche der Aufklärung (wie schon am Ende des 18. Jahrhunderts) als zweite Aufklärung nach den Anfängen der griechischen Philosophie betrachtet und relativ kurz am Beispiel von Kant und der französischen Enzyklopädie abgehandelt. Den weitaus größten Teil seiner Ausführungen widmet Mittelstraß der Darstellung der Geschichte der Naturwissenschaften und endet mit der Forderung nach einer dritten, noch kritischeren Aufklärung. Panajotis Kondylis geht in seiner noch umfangreicheren Darstellung (Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus [Stuttgart 1981]) von einer systematischen Prämisse aus, nämlich daß die Beziehung zwischen Geist und Sinnlichkeit und damit die Wertfrage in gewisser Weise das Hauptproblem aller Philosophie sei und die Aufklärung ein besonders wichtiger Versuch, dieses Problem zu lösen. Aus dieser problematischen Perspektive wird dann, nach einem Überblick über die Entstehung des neuzeitlichen Rationalismus, die sogenannte antiintellektualistische Hauptströmung der Aufklärung, und zwar vor allem am Beispiel bekannter englischer und französischer, aber auch einiger deutscher Aufklärer, erörtert.

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Blindheit oder Dummheit, also Verblendung und Verdummung der Menschen, plädieren kann, Unvernunft bzw. eine Entscheidung gegen Vernunft jedenfalls nicht vernünftig rechtfertigen kann, muß sich die sogenannte Gegenaufklärung in ihrer Aufklärungskritik darauf beschränken, die faktische Unmöglichkeit einer allgemeinen Aufklärung zu konstatieren, und sie muß diese ihre Einsicht für eine Aufklärung über Aufklärung halten. Insofern geht es in jeder Aufklärungsdiskussion immer nur um das richtige Verständnis von Aufklärung und also im Hinblick auf die bereits vorhandene Aufklärung bzw. die bereits vorhandenen Aufklärungsbegriffe um eine Revision der Aufklärung. Deshalb dürfte es allerdings auch, sowenig es einen Abschluß von Aufklärung gibt, einen Abschluß der Aufklärung über Aufklärung geben. Aufklärung ist ein unvollendbarer Prozeß, auch in permanenter Revision ihrer selbst. Es gibt keine endgültig aufgeklärte Aufklärung, so wie es wahrscheinlich auch nie eine absolut unaufgeklärte Aufklärung, eine unreflektierte Aufklärung ohne Aufklärung über Aufklärung, gegeben hat. Allerdings gibt es auch immer wieder den Absturz von Einsichten und die Unterdrückung von Aufklärung oder Aufklärungsversuchen, geradezu epidemisch auftretende militante, private wie kollektive Selbstverblendungen (dogmatische Ideologien). Insofern bleibt Aufklärung immer ein Postulat oder Programm, in gewisser Weise ein frommer Wunsch: Luceat lux vestra coram hominibus (Matth. 5, 16).

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Bedeutung und Sinn

Die Begriffe ›Bedeutung‹ und ›Sinn‹ sind mehrdeutig. Dies gilt nicht nur für deren philosophische Verwendung, sondern auch für ihre Anwendung in anderen Disziplinen sowie für den vorwissenschaftlichen Sprachgebrauch. ›Bedeutung‹ wird in der neueren philosophischen Diskussion in erster Linie für dasjenige verwendet, wofür sprachliche Ausdrücke oder andere Zeichen stehen, und gehört zu den Grundbegriffen der Sprachphilosophie bzw. Zeichentheorie. Im alltäglichen Sprachgebrauch sind auch andere Verwendungen des Bedeutungsbegriffs verbreitet: Wenn von der Bedeutung bestimmter Dinge oder Ereignisse die Rede ist, wird die besondere Wichtigkeit der betreffenden Dinge und Ereignisse akzentuiert. Ein bedeutendes Ereignis ist ein wichtiges Ereignis. Wie der Begriff der Bedeutung gehört der Begriff des Sinns vordergründig betrachtet in das Gebiet der Sprachphilosophie. Häufig wird er synonym mit dem Begriff der Bedeutung gebraucht und dient zur Bezeichnung desjenigen, was mit einem sprachlichen Ausdruck oder einem Zeichen gesagt wird bzw. was an einem Ausdruck oder Zeichen verstanden wird. In der analytischen Philosophie werden ›Sinn‹ und ›Bedeutung‹ im Anschluß an Gottlob Frege häufig voneinander unterschieden, wobei als Bedeutung eines Zeichens dessen Bezug aufgefaßt wird, während ›Sinn‹ die Art und Weise bezeichnet, in welcher der Bezug des Ausdrucks gegeben ist. Von grundlegender Relevanz ist der Sinnbegriff zudem in der philosophischen Hermeneutik. Sinn gilt als Korrelat des Verstehens, welches sich im Prinzip auf beliebige, nicht nur sprachliche Phänomene erstrecken kann. So können Welt und Leben als Sinnphänomene angesehen werden, und alles, was in Welt und Leben begegnet, kann unter dem Gesichtspunkt seines Sinns betrachtet werden. Wo nach dem Sinn einer Sache gefragt wird, geht es um deren Ziel und Zweck bzw. um deren Funktion. ›Bedeutung‹ und ›Sinn‹ lassen sich im allgemeinen auch als Grundbegriffe einer philosophischen Anthropologie verwenden: Menschen sind Wesen, deren Grundzug darin besteht, daß sie alles unter dem Gesichtspunkt seiner Bedeutung wahrnehmen und beurteilen können. Sie bilden ihr Selbst- und Weltverhältnis nach Maßgabe dessen aus, was für sie jeweils von Bedeutung ist. Menschen sind außerdem Wesen, welche die Sinnfrage stellen, die in Sinnkrisen häufig als Frage nach dem Sinn des Lebens aufgeworfen wird. ›Bedeutung‹ und ›Sinn‹ haben als Begriffe in unterschiedlichen Strömungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts eine maßgebliche Rolle gespielt. Sie kommen nicht nur in der Philosophie vor, sondern auch in anderen Disziplinen wie Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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beispielsweise in der Soziologie und Psychoanalyse.1 Der vorliegende Beitrag ruft zunächst maßgebliche Stationen der Begriffe an der Schwelle zum bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Erinnerung (I), bevor wichtige Etappen des Diskussionsverlaufs in analytischer Philosophie (II) und Phänomenologie bzw. Hermeneutik (III) erläutert werden. Die Verwendung des Begriffs innerhalb der Psychoanalyse ist Thema eines weiteren Abschnitts (IV). Schließlich geht es um Debatten im Umfeld der Begriffe ›Bedeutung‹ und ›Sinn‹, die das Ende des 20. Jahrhunderts geprägt haben, zum einen um verschiedene Versuche zur Formulierung einer naturalistischen Theorie der Bedeutung zu gelangen (V), zum anderen um Strategien zu einer Depotenzierung von Bedeutung und Sinn (VI). Der letzte Abschnitt formuliert ein kurzes Fazit (VII).

I Es waren Arbeiten von Gottlob Frege, Edmund Husserl und Wilhelm Dilthey, die den Begriffen der Bedeutung und des Sinns zu einer maßgeblichen Karriere im 20. Jahrhundert verholfen haben. Freges Arbeiten stützen sich auf weit verzweigte Diskussionen innerhalb der Philosophie des 19. Jahrhunderts. Man denke an Beiträge von John Stuart Mill, Alexius Meinong, Bernard Bolzano, Franz Brentano oder Hermann Lotze.2 Frege unterscheidet explizit zwischen dem Sinn und der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke.3 Die Bedeutung eines Namens ist ihm zufolge der Gegenstand, auf welchen sich dieser Name bezieht. Als Sinn eines Namens gilt die Gegebenheitsweise dieses Gegenstandes. So haben die Ausdrücke »Morgenstern« und »Abendstern« die gleiche Bedeutung; beide Ausdrücke beziehen sich auf die Venus. Sie haben aber einen unterschiedlichen Sinn, sofern sich der erste Ausdruck auf einen Stern bezieht, der am Morgen am Himmel steht, während man mit dem zweiten Ausdruck über einen Stern spricht, welcher am Abend am Himmel steht. Die Bedeutung von Sätzen ist nach Frege ein Wahrheitswert, als ihr Sinn gilt der jeweils von den Sätzen ausgedrückte Gedanke. Freges Analysen sind kontrovers diskutiert worden, zumal sein Verwendungsvorschlag dem alltäglichen Vorverständnis dieser Begriffe nicht entspricht. Was Frege »Sinn« nennt, entspricht im großen und ganzen dem alltäglichen Verständnis des Wortes »Bedeutung«; was er »Bedeutung« nennt, läßt sich terminologisch präziser

Vgl. dazu Ian Hacking: Why does Language Matter to Philosophy? (Cambridge 1975) 51. Zur Vorgeschichte der analytischen Philosophie und zur Rolle Freges vgl. Michael Dummett: Ursprünge der analytischen Philosophie (Frankfurt a.M. 1988); zum Verhältnis von Frege und Lotze siehe Gottfried Gabriel: Objektivität: Erkenntnistheorie bei Lotze und Frege. In: Hermann R. Lotze: Logik 3: Vom Erkennen (Hamburg 1989). 3 Gottlob Frege: Über Sinn und Bedeutung. In: ders.: Funktion, Begriff, Bedeutung, hg. von Günther Patzig (Göttingen 51980) 40–65. 1 2

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als »Bezug« auffassen und mit einem philosophischen Kunstwort auch als »Referenz« bezeichnen. Daß Frege die Bedeutung von Sätzen als Wahrheitswert aufgefaßt hat, darf als einer seiner folgenreichsten Gedanken gelten. Daß die Bedeutung von Sätzen das Wahre oder Falsche sein soll, scheint alltäglichen Vorverständnissen zu widersprechen. Vergegenwärtigt man sich jedoch die erkenntnistheoretische Dimension, die Freges Überlegungen aufweisen, was in Standarddarstellungen seiner Sprachphilosophie häufig übersehen wird, erscheint die Identifikation der Bedeutung eines Satzes mit einem Wahrheitswert nicht mehr so unplausibel. Denn worum geht es, wenn Sätze geäußert werden? Im Fall von Aussagesätzen ist vor allem deren Wahrheit bedeutend, sie ist es, an der wir interessiert sind. So gesehen läßt sich die Rede von der Bedeutung eines Satzes auch im Sinne des Verständnisses von Bedeutung als Wichtigkeit auffassen. Ernst Tugendhat hat deshalb die englische Übersetzung von Freges Begriff der Bedeutung mit »reference« oder »denotation« kritisiert und statt dessen vorgeschlagen, einen Ausdruck wie »significance« zu gebrauchen, der auch den Sinn von »importance« besitzt.4 Freges eigenwillige terminologische Maßnahme ist vor allem dem Umstand geschuldet, Mathematik und Logik vom Psychologismus befreien zu wollen. Als im engeren Sinne »psychologistisch« werden alle Versuche bezeichnet, Mathematik und Logik in der Psychologie zu begründen. Folgt man derartigen Positionen, sind logische Regeln nichts anderes als ›Naturgesetze‹ des Denkens. Frege wendet sich mit seiner antipsychologistischen Philosophie gegen Theorien, welche die Gesetze der Logik empirisch im Rückgriff auf die psychologische Beschaffenheit unseres Denkvermögens fundieren möchten, und er kritisiert alle Ansätze, in denen der Gehalt von Begriffen mit subjektiven Vorstellungen in Verbindung gebracht wird. Der Begriff »Pferd« ist ihm zufolge etwas anderes als die subjektive Vorstellung, die sich jemand von einem Pferd macht. Im Unterschied zu Vorstellungen sind Begriffe bzw. die Bedeutungen von Begriffen etwas Objektives. Ähnlich wie Frege war auch Husserl an einer Verteidigung der Geltungssphäre von Mathematik und Logik gegenüber den Anfechtungen des Psychologismus gelegen. Seine Überlegungen enthalten eine Widerlegung des Psychologismus in der Logik, der als skeptischer Relativismus kritisiert wird. Sie stellen diesem das Konzept der Logik als einer normativen Wissenschaft entgegen.5 Allerdings geht Husserl nicht so weit wie Frege, indem die subjektive Erfassung von Sinn-

E. Tugendhat: Die Bedeutung des Ausdrucks »Bedeutung« bei Frege. In: ders.: Philosophische Aufsätze (Frankfurt a.M. 1992) 230–250, hier 231. 5 Zu Frege und Husserl vgl. John Aach: Psychologism Reconsidered. A Re-Evaluation of the Arguments of Frege and Husserl. In: Synthese 85 (1990) 315–338; vgl. auch den ersten Teil der Arbeit von Tania Eden: Lebenswelt und Sprache. Eine Studie zu Husserl, Quine und Wittgenstein (München 1999). 4

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gehalten für ihn durchaus eine Rolle spielt. Im übrigen kritisiert Husserl Freges Gegenüberstellung von Bedeutung und Sinn, indem er auf die Synonymie beider Begriffe hinweist.6 Er thematisiert den Bedeutungsbegriff im Zusammenhang mit der Verbindung zwischen sprachlichen Zeichen und psychischen Erlebnissen. Ihm zufolge ist es für die Verwender von sprachlichen Zeichen charakteristisch, daß sie sich vermittels einer »Bedeutungsintention« auf etwas Gegenständliches beziehen. Sprachliche Zeichen gelten als Ausdrucksphänomene, denen Bedeutungsintentionen wesentlich sind.7 Bedeutungen denkt sich Husserl als fest mit mentalen Akten verbunden. Später ändert er seine Auffassungen bezüglich des ontologischen Status von Bedeutungen. Der intentionale Gehalt wird nicht mehr einfach mit einem geistigen Akt identifiziert, sondern als abstrakte Entität aufgefaßt. Husserl verwendet die Begriffe ›Bedeutung‹ und ›Sinn‹ trotz seiner Kritik an Frege nicht im strikten Sinne gleichbedeutend. Der Begriff des Sinns ist in seinem Gebrauch weiter als derjenige der Bedeutung. Bedeutung hängt Husserl zufolge immer mit Ausdrucksphänomenen zusammen, ist auf Gegenstände bezogen, und zu ihr gehören bedeutungsverleihende Akte. Der Begriff des Sinns hingegen bleibt nicht ausschließlich Ausdrucksphänomenen vorbehalten, sondern läßt sich auf intentionale Erlebnisse beliebiger Art beziehen, wobei er sowohl den Gehalt eines Erlebnisses bezeichnen kann als auch dessen sinngebenden Aspekt.8 Im Unterschied zu Frege hält Husserl auch an dem Gedanken fest, daß es so etwas wie vorsprachliche Gehalte gibt. Anders als Frege und Husserl verwendet Wilhelm Dilthey die Ausdrücke ›Bedeutung‹ und ›Sinn‹. Seine Ausführungen können als dritte maßgebliche Quelle der Diskussionen um diese Begriffe im 20. Jahrhundert gelten. Dilthey pflegt einen weiten Gebrauch der Begriffe, insbesondere des Bedeutungsbegriffs, der bei ihm im Zusammenhang mit dem Versuch einer Fundierung der Logik als allgemeiner Theorie des Wissens auf dem Boden einer Philosophie des Lebens steht. Bedeutung wird nicht primär als sprachphilosophische oder logische Kategorie betrachtet, sondern als Grundkategorie des (menschlichen) Lebens aufgefaßt.9 »Bedeutung ist die umfassende Kategorie, unter welcher das

Vgl. E. Husserl: Logische Untersuchungen II/1. Gesammelte Schriften Bd. 3, hg. von Elisabeth Ströker (Hamburg 1992) § 15, 58. 7 Vgl. ebd. 30–110. 8 Vgl. dazu z. B. E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Gesammelte Schriften Bd. 5 (Hamburg 1992) §§ 85, 88; zur Verortung von Husserl im Kontext der frühen analytischen Philosophie vgl. Dagfinn Føllesdal: Husserl und Frege. Ein Beitrag zur Entstehung der phänomenologischen Philosophie (Oslo 1958). 9 Vgl. dazu insbesondere Georg Misch: Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl (Berlin 21931, Neudr. Stuttgart 1967) v. a. 103 ff.; ferner: Otto Friedrich Bollnow: Dilthey und die Phänomenologie. In: Dilthey und die Philosophie der Gegenwart, hg. v. Ernst Wolfgang Orth (Freiburg, München 1985) 31–61. 6

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Leben auffaßbar wird.«10 Immer wieder bringt Dilthey die Rede von der Bedeutung als einer Beziehung von Teilen zum Ganzen des Lebens mit der Bedeutung von Wörtern und Sätzen in Verbindung, wobei erstere im Vergleich zu letzterer als grundlegend gilt. »In der Lebenserfahrung treten nun verschiedene Klassen von Aussagen auf, welche auf Unterschiede des Verhaltens im Leben zurückgehen. Denn das Leben ist ja nicht nur eine Quelle des Wissens, […] die typischen Verhaltensweisen der Menschen bedingen auch die verschiedenen Klassen von Aussagen.«11 Es gelingt Dilthey nicht immer, die Zusammenhänge deutlich zu explizieren; er denkt sich die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke als eng mit der Bedeutung von Erlebnissen verwoben. Einzelne Wörter besitzen Bedeutung, aus der Verbindung der Wörter zum Satz wird »Sinn abgeleitet«. Einzelne Erlebnisse, Teile des Lebensverlaufs haben Bedeutung, die zu einem Verständnis des Ganzen, zum »Sinn des Lebens« führen.12 Eine terminologisch präzise Verwendung des Sinnbegriffs findet sich bei Dilthey allerdings nicht durchgehend. Gleichwohl wird der Ausdruck bei Dilthey und im Anschluß an ihn zu einer ganz zentralen Kategorie: Da menschliches Erleben immer auf Sinn bezogen ist, ist Verstehen grundsätzlich als Sinnverstehen anzusehen.

II In der analytischen Philosophie wurde vorrangig Freges sprachphilosophische Unterscheidung diskutiert. Eine Frage lautete, ob Eigennamen überhaupt eine andere Funktion haben als diejenige, auf einen Gegenstand zu referieren. Frege hatte dafür argumentiert, daß Namen einen Sinn haben, um deutlich zu machen, inwiefern auch Namen, die keinen Bezugsgegenstand haben, als Elemente sinnvoller Sätze, die einen Gedanken ausdrücken, verwendet werden können. Russell hatte den Sinn von Eigennamen als etwas aufgefaßt, was sich durch eine Kennzeichnung zum Ausdruck bringen läßt. Die Identifikation des Sinns eines Eigennamens mit dem Sinn einer Kennzeichnung ist jedoch nicht unwidersprochen geblieben, zumal man zumeist mehrere, häufig ganz unterschiedliche Kennzeichnungen mit einem Eigennamen verbinden kann. Mit dem Namen »Neapel« kann man beispielsweise die Kennzeichnung »die Stadt, die ca. 200 Kilometer südlich von Rom liegt« verbinden, aber auch die Kennzeichnung »die Stadt, die am Fuß des Vesuv liegt«. Verschiedene Autoren haben deshalb eine »Bündeltheorie« formuliert: Der Sinn eines Eigennamens wird immer durch mehrere Kennzeichnungen bestimmt.13

10 W. Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften, Bd. 7 (Stuttgart, Göttingen 71979) 232. 11 Ebd. 133. 12 Ebd. 235. 13 Als Ideengeber für diese Auffassung gilt Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersu-

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Die Identifikation der Bedeutung bzw. des Sinns von Eigennamen mit Kennzeichnungen bzw. Bündeln von Kennzeichnungen ist ebenfalls nicht unwidersprochen geblieben. Die Verbindung eines Namens mit einer oder mehreren Kennzeichnungen stellt keine hinreichende Bedingung dafür dar, sich mit Erfolg auf einen Gegenstand zu beziehen. Saul A. Kripke und andere haben vorgeschlagen, die Bedeutung bzw. den Bezug von Eigennamen als Ergebnis einer Art von ›Taufe‹ aufzufassen. Die Bedeutung eines Eigennamens wird durch eine Tauf- oder andersartige Einführungszeremonie festgelegt und durch den faktischen Sprachgebrauch etabliert. Wenn man einen Eigennamen verwendet, dann bezieht man sich damit auf genau den Gegenstand, auf den sich auch andere Sprachverwender im Rahmen der von der Taufe bis zum jeweiligen Sprecher reichenden kausalen Kette beziehen.14 Obwohl Anhänger kausaler Theorien gelegentlich davon ausgehen, daß Namen gar keinen Sinn haben, sondern ausschließlich auf etwas referieren, läßt sich Sinn unter den Voraussetzungen einer kausalen Theorie als Geschichte der Übertragung von einem zum anderen Sprecher, die man als Glieder in einer kausalen Kette verstehen muß, interpretieren. Wie verhält es sich mit der Frage nach dem Sinn bzw. der Bedeutung von Sätzen? Im Anschluß an den frühen Wittgenstein, der die Überlegungen Freges aufgegriffen und weiterentwickelt hatte und im Tractatus logico-philosophicus die These vertrat, die Bedeutung eines Namens sei der Gegenstand, für den dieser Name steht, während der Sinn von Sätzen darin bestehe, Sachverhalte zur Darstellung zu bringen, haben Vertreter des Wiener Kreises für Sätze eine verifikationistische Theorie der Bedeutung entwickelt. Der Sinn eines Satzes galt als Methode seiner Verifikation. Freges Differenzierung zwischen der Bedeutung und dem Sinn von Ausdrücken wurde schließlich von Rudolf Carnap modifiziert: Er hat auf die genannten Ausdrücke verzichtet und statt dessen von der Extension bzw. der Intension sprachlicher Ausdrücke gesprochen und mit seinen diesbezüglichen Überlegungen Einfluß auf die Entwicklung unterschiedlicher semantischer Konzeptionen genommen. Man denke an intensionale Semantik, Modelltheorie und Semantik möglicher Welten.15 Für einen Verzicht auf den Bedeutungsbegriff im herkömmlichen Sinne plädieren die Überlegungen von W. V. O. Quine, da es kein Kriterium für die Identität der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke gibt. Er ersetzt den Begriff der Bedeutung durch denjenigen der Reizbedeutung, der als die Klasse der Reizungen definiert wird, die einen Sprecher zum Gebrauch eines Ausdrucks veranlassen bzw. ihn dazu veranlassen, chungen (Oxford 1953) § 79; eine systematische Version der Bündeltheorie formuliert John R. Searle: Proper Names. In: Mind 67 (1958) 166–173.; vgl. auch ders.: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay (Frankfurt a.M. 1983) 243 ff. 14 S. A. Kripke: Bedeutung und Notwendigkeit (Frankfurt a.M. 1993); vgl. auch Hilary Putnam: Die Bedeutung von »Bedeutung« (Frankfurt a.M. 1979). 15 Rudolf Carnap: Meaning and Necessity. A Study in Semantics and Modal Logic (Chicago 21956).

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der Verwendung eines Ausdrucks zuzustimmen.16 Quines Skepsis gegenüber Bedeutungen im Sinne von Intensionen hat jedoch der Diskussion über Bedeutung keinen Abbruch getan. So ist beispielsweise eine kontroverse Diskussion über die Form einer Bedeutungstheorie für natürliche Sprachen entstanden. Im Zentrum dieser Diskussion zwischen Donald Davidson und Michael Dummett steht die Rekonstruktion von komplexeren Ausdrücken als Wörtern. Davidson entwickelt die Auffassung, daß eine Bedeutungstheorie für natürliche Sprachen »rekursiv« sein müsse, während Dummett davon spricht, daß sie »systematisch« sein müsse. Mit Hilfe von der Wahrheitstheorie Alfred Tarskis entnommenen W-Theoremen der Form »s ist w dann und nur dann, wenn p« formuliert Davidson bedeutungstheoretische Hypothesen wie »Der Satz ›Das Gras ist grün‹ ist wahr dann und nur dann, wenn das Gras grün ist«, die sich empirisch testen lassen sollen. In diesem Zusammenhang entwickelt er ebenfalls eine Theorie radikaler Interpretation.17 Dummett kritisiert die Vorschläge Davidsons, die ihm nicht weit genug gehen. Er formuliert eine Theorie, die dem Anspruch nach das Wissen von Sprechern, welche Äußerungen verstehen, rekonstruiert. Die Grundlinien einer derartigen Theorie entfaltet er im Anschluß an Frege; sie besteht aus vier Teilen: einer Theorie der Referenz, einer Theorie des Sinns, einer Theorie der illokutionären Kraft und einer Theorie des Tons.18 Ob sich überhaupt Theorien nach Art der skizzierten Vorstellungen formulieren lassen, darf als fraglich gelten.19 Quelle der Kritik an den genannten Ansätzen ist zumeist Wittgensteins in den Philosophischen Untersuchungen ausgeführte Zurückweisung des »Name-GegenstandModells« der Bedeutung, die deutlich machen soll, daß der Gebrauch sprachlicher Ausdrücke eine zentrale Rolle für unser Verständnis der Bedeutung der betreffenden Ausdrücke spielt. Für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes Bedeutung könne man sagen, die Bedeutung eines Wortes sei sein Gebrauch in der Sprache.20 Obwohl sich die analytische und phänomenologische Tradition des Nachdenkens über die Begriffe der Bedeutung und des Sinns zunächst vergleichsweise nahe sind, entwickeln sich beide Traditionen im Verlauf des 20. Jahrhunderts auseinander. Im Umfeld von Phänomenologie und Hermeneutik werden ›Bedeutung‹ und ›Sinn‹ nicht ausschließlich auf sprachliche Phänomene bezogen.

Willard Van Orman Quine: Word and Object (Cambridge 101976). Vgl. zu diesem Theorieprojekt die Aufsätze in D. Davidson: Wahrheit und Interpretation (Frankfurt a.M. 1986). 18 Vgl. z. B. M. Dummett: The Logical Basis of Metaphysics (Cambridge 1991) 148 ff. 19 Ausführlich dazu Gordon P. Baker, Peter M. S. Hacker: Language, Sense and Nonsense. A Critical Investigation into modern Theories of Language (Oxford 1984); ferner Ch. Demmerling: Sinn, Bedeutung, Verstehen. Untersuchungen zu Sprachphilosophie und Hermeneutik (Paderborn 2002). 20 Vgl. L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (Oxford 1953) § 43. 16 17

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III Heidegger spricht nicht nur von »Bedeutung«, sondern verwendet daneben auch den (von Dilthey entlehnten) Begriff der Bedeutsamkeit, der sich gegenüber dem Bedeutungsbegriff auf ein reichhaltigeres Spektrum von Phänomenen bezieht. Bedeutsamkeit haftet Dingen und Wörtern nicht als solchen an, sondern entsteht auf dem Hintergrund von Handlungszusammenhängen. Im Rahmen seiner sogenannten Zeuganalyse zeigt Heidegger, daß menschliches Dasein durch praktisches Tun ein Bedeutungsganzes instituiert. Durch den Umgang mit Zeug entsteht ein Verweisungszusammenhang, zu welchem auch sprachliche Äußerungen gehören. Sprachliche Äußerungen und Aussagen werden in diesem Kontext lediglich als eine bestimmte Art von Zeug angesehen, nämlich als Zeug, welches zum Zeigen dient.21 Bedeutung im engeren, auf die Sprache bezogenen Sinn schließlich wird von Heidegger mit der Zeitlichkeit des Daseins in Verbindung gebracht: »Aus der Zeitlichkeit der Rede, das heißt des Daseins überhaupt, kann erst die ›Entstehung‹ der ›Bedeutung‹ aufgeklärt und […] verständlich gemacht werden.«22 Gleiches wie für den Begriff der Bedeutung, der im Rückgriff auf praktische Tätigkeiten des Menschen verständlich gemacht wird, gilt auch für denjenigen des Sinns. Wenn Heidegger nach dem Sinn von Sein fragt, setzt er von vornherein voraus, daß Sinn auf menschlichen Leistungen gründet und auf diese zu beziehen ist: »Was im verstehenden Erschließen artikulierbar ist, nennen wir Sinn. Der Begriff des Sinnes umfaßt das formale Gerüst dessen, was notwendig zu dem gehört, was die verstehende Auslegung artikuliert. Sinn ist das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem etwas als etwas verständlich wird.«23 Sinn ist wie Bedeutung in einer grundsätzlichen Abhängigkeit von den menschlichen Lebensvollzügen zu sehen. Zentral ist die Verschränkung von Sinn und Zeitlichkeit. Mehr noch als Husserls Überlegungen scheinen es die Bemühungen Diltheys gewesen zu sein, von welchen sich Heidegger in diesem Zusammenhang leiten läßt, zumal ein enger Zusammenhang zwischen Bedeutung bzw. Bedeutsamkeit, Sinn und der Faktizität des menschlichen Lebens unterstellt wird. Die Orientierung an Dilthey ist ebenfalls für die Vertreter der hermeneutischen Logik wie Georg Misch und Hans Lipps maßgeblich.24 Misch verwendet den Begriff der Bedeutung, um einen Prozeß zu bezeichnen, im Rahmen dessen das Leben zur Bestimmtheit seiner Gestaltung findet. Der Bedeutung in dieM. Heidegger: Sein und Zeit (Tübingen 1927, 151979) z. B. § 15 ff. Ebd. § 68 d. 23 Ebd. § 72. 24 Vgl. dazu O. F. Bollnow: Studien zur Hermeneutik II: Zur hermeneutischen Logik von Georg Misch und Hans Lipps (Freiburg, München 1983); Gudrun Kühne-Bertram: Logik als Philosophie des Logos. Zu Geschichte und Begriff der hermeneutischen Logik. In: Archiv für Begriffsgeschichte 36 (1993) 260–293. 21 22

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sem Sinne wird die Kraft des unmittelbar treibenden Lebens gegenübergestellt, und der Begriff der Bedeutung wird zu einer Grundkategorie, mit Hilfe derer sich die gesamte geistige und kulturelle Welt erfassen lassen soll. Der Begriff ist – wie bei Dilthey – nicht auf die Sprache beschränkt, sondern Bedeutung gilt als etwas, was untrennbar mit dem menschlichen Leben verbunden ist und dort seinen »Sitz« hat. Allerdings unterscheidet Misch zwischen der Bedeutung als einer Grundkategorie zur Erfassung des Lebens und Bedeutung in einem logischen Sinne.25 In den Lebensäußerungen sind Ausdruck und Bedeutung ungeschieden, während sie in der Sprache auseinandertreten. Was die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke betrifft, so akzentuiert Misch, daß auch der Klang eines Wortes und andere Elemente, die im Rahmen sprachanalytischer Untersuchungen zur Bedeutungsfrage häufig gar nicht erst in den Blick treten, von Belang sind. Eine Erweiterung des Begriffs der sprachlichen Bedeutung ist auch in den Arbeiten von H. Lipps zu finden, die sich z. B. mit Mundart, Jargon und Metapher als Elementen befassen, die Bedeutung tragen.26 Die im engeren Sinne sprachphilosophischen Überlegungen von Autoren im Umfeld von Phänomenologie und hermeneutischer Logik machen darauf aufmerksam, daß die Bedeutung vieler sprachlicher Äußerungen und Sätze allein im Rückgriff auf jeweils relevante Redekontexte ermittelt werden kann. So können beispielsweise Sätze ihren Sinn und ihre Bedeutung ändern, wenn sie in unterschiedlichen Geschichten vorkommen.27 Und es mag Sätze geben, die immer nur das bedeuten, »was der Redende mit ihnen bedeutet und d. h. auch bei gleichem Wortlaut in jedem Falle etwas anderes«, wie Josef König im Zusammenhang mit Überlegungen zu von ihm sogenannten praktischen Sätzen zu bedenken gibt, die er von theoretischen Sätzen unterscheidet, welche als solche bereits aufgrund ihrer sprachlichen Formulierung verständlich sind.28 ›Bedeutung‹ bzw. ›Bedeuten‹ versteht König in erster Linie als ein »Auf-etwasHinzeigen«, während zum Sinn zwei Bedingungen gehören: Eine Handlung hat beispielsweise dann Sinn, wenn sie von einer Absicht getragen wird und geeignet ist, die Absicht auch zu erfüllen, wenn in ihr – wie König sich ausdrückt – »Weg, Richtung« steckt, wobei er auf die Etymologie von »Sinn« und »sinnen« im Sinne von »Weg, Reise, Gang« und »reisen, streben, gehen« verweist.29 Wie andere Autoren in der hermeneutischen Tradition akzentuiert auch HansGeorg Gadamer die Abhängigkeit des Sinns von Äußerungen bzw. sprachlichen G. Misch: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens (Freiburg, München 1994) vgl. 209 ff. 26 Vgl. H. Lipps: Die Verbindlichkeit der Sprache. Werke Bd. 4 (Frankfurt a.M. 31997). 27 Vgl. dazu Wilhelm Schapp: Philosophie in Geschichten (Frankfurt a.M. 21981) 153. 28 J. König: Der logische Unterschied theoretischer und praktischer Sätze und seine philosophische Bedeutung (Freiburg, München 1994). 29 Ebd. 498, 491; zur Etymologie vgl. auch Wilhelm Köller: Der sprachtheoretische Wert des semiotischen Zeichenmodells. In: Kaspar H. Spinner (Hg.): Zeichen, Text, Sinn. Zur Semiotik des literarischen Verstehens (Göttingen 1977) 7–77, hier 52. 25

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Ausdrücken von den Situationen, in welchen sie verwendet werden. Dafür hat er die Formel von der Okkasionalität bzw. Gelegentlichkeit des Sprechens gefunden: »Die hermeneutische Analyse […] vermag zu zeigen, daß solche Gelegentlichkeit das Wesen des Sprechens selbst ausmacht. Denn jede Aussage hat nicht einfach einen eindeutigen Sinn in ihrem sprachlichen und logischen Aufbau als solchem, sondern jede Aussage ist motiviert.«30 Allgemein wird der Begriff des Sinns in der philosophischen Hermeneutik Gadamerscher Prägung als Inhalt von Sinngebilden ganz unterschiedlicher Art aufgefasst; das können Texte, aber auch ein Lebensvollzug sein, der sich im Verstehen erschließt, indem er »in die geistige Lebendigkeit«, aus der er hervorgegangen ist, zurückübersetzt wird.31 Von besonderem Interesse und wiederum ganz eigener Art sind die Überlegungen, die Maurice Merleau-Ponty den Begriffen ›Bedeutung‹ und ›Sinn‹ widmet. Bereits im Vorwort zu seiner Phänomenologie der Wahrnehmung bemerkt er, daß Menschen zum Sinn verurteilte Wesen sind und daß ›alles‹ Sinn hat, so daß sich der Begriff des Sinns als Grundbegriff seiner Philosophie auffassen läßt.32 Auch bei Merleau-Ponty ist der Sinnbegriff nicht auf die Sprache beschränkt. Obwohl die Welt als etwas gilt, was bereits in sich sinnvoll ist, wird sie erst durch Vollzüge von Subjekten, die sich unter anderem mit den Mitteln der Sprache ausdrücken, als sinnvoll erfahren. Eine besondere Rolle erkennt Merleau-Ponty dabei dem Leib zu. Dieser gilt als »Knotenpunkt lebendiger Bedeutungen«33 und als »Ausdruck der Existenz«, wie die Sprache als »Ausdruck des Denkens« gilt.34 Leib und Sprache schließlich werden immer wieder aufeinander bezogen, was Merleau-Ponty mit dem Bild der Geste zum Ausdruck bringt: »In Wahrheit ist das Wort Gebärde, und es trägt seinen Sinn in sich wie die Geste den ihren […] Die Sprache ist Geste, ihre Bedeutung ist eine Welt.«35 Am Ende führt Merleau-Ponty Bedeutung und Sinn, auch sprachliche Bedeutung, auf die leibliche Konstitution des Menschen zurück: »Der Leib ist es, der nicht nur Naturgegenständen, sondern auch Kulturgegenständen, wie etwa Worte es sind, ihren Sinn gibt.«36 Eine allgemeine Verbindung zwischen den phänomenologischen und hermeneutischen Reflexionen auf die Begriffe der Bedeutung und des Sinns gegenüber den Ansätzen in der analytischen Philosophie ergibt sich daraus, daß die Autoren, welche der Phänomenologie nahestehen, Bedeutung und Sinn vor

H.-G. Gadamer: Semantik und Hermeneutik. In: ders.: Wahrheit und Methode II (Tübingen 21993) 174–183, 178 f. 31 Vgl. dazu H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode (Tübingen 51986) 71. 32 Vgl. M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (Berlin 1966) 16. 33 Ebd. 182. 34 Ebd. 198. 35 Ebd. 217 f. 36 Ebd. 275. 30

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der Sprache verorten, auch wenn es den meisten zufolge einer Sprache bedarf, um die Bedeutung von etwas ausdrücken und den Sinn von etwas verstehen zu können. Analytische Philosophen gehen indessen zumeist mit großer Selbstverständlichkeit davon aus, daß vor allem sprachliche Zeichen Sinn und Bedeutung besitzen. Ohne die verschlungene und heterogene Geschichte der Begriffe auch nur im Ansatz nachzeichnen zu können,37 thematisiert der folgende Abschnitt ihren Gebrauch im Rahmen einer weiteren Strömung im Denken des 20. Jahrhunderts: der Psychoanalyse.

IV Daß die Begriffe der Bedeutung und des Sinns in der Psychoanalyse eine wichtige Rolle spielen, ist von Autoren ganz unterschiedlicher Provenienz akzentuiert worden.38 ›Äußerungen‹ eines Menschen wie Fehlleistungen, verschiedene Arten von Zwangshandlungen oder andere neurotische Symptome, vor allem aber Träume, lassen sich als Phänomene auffassen, die Sinn bzw. Bedeutung besitzen. Obwohl ein wilder Traum, der Zwang, sich zu waschen, Klaustrophobie oder ein Versprecher auf den ersten Blick gar keinen Sinn zu haben scheinen, kann man sie laut Freud, man denke beispielsweise an den Traum, als manifeste Phänomene auffassen, deren Sinn mit Hilfe einer Deutung erschlossen werden kann. Nach psychoanalytischer Auffassung handelt es sich bei diesen Phänomenen bereits um unabsichtliche ›Übersetzungen‹ etwa durch den psychischen Mechanismus der Verschiebung von im Grunde auch sprachlich artikulierbaren Inhalten (Freud spricht von latenten Inhalten) in Traumbilder oder andere ›verschlüsselte‹ Zeichen. Der Psychoanalytiker leistet eine Rückübersetzung z. B. von Traumbildern in eine öffentliche bzw. nachvollziehbare Sprache und fördert deren Sinn zu Tage. Die psychoanalytische Praxis kann man so verstehen, daß der symptomatische, zunächst verborgene Sinn eines Phänomens in eine zugängliche Sprache übersetzt wird und so dem Verstehen zugänglich wird. Im Hintergrund der Überlegungen Freuds steht eine assoziationistische Theorie der Bedeutung, der zufolge sich die Bedeutung eines Wortes aus einer mit diesem Wort verknüpften Objektvorstellung ergibt. In einer frühen Schrift Zur Auffas-

37 Für den Sinnbegriff vgl. z. B. Jochen Köhler: Die Grenze von Sinn. Zur strukturalen Neubestimmung des Verhältnisses Mensch-Natur (Freiburg, München 1983). 38 Um lediglich einige Arbeiten zu nennen: vgl. Marcia Cavell: Freud und die analytische Philosophie des Geistes. Überlegungen zu einer psychoanalytischen Semantik (Stuttgart 1993); Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse (Frankfurt a.M. 61981); Jacques Lacan: Funktion und Feld des Sprechens in der Psychoanalyse. Schriften I (Weinheim, Berlin 31991); Hermann Lang: Die Sprache und das Unbewußte. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse (Frankfurt a.M. 21993); Alfred Lorenzer: Sprachspiel und Interaktionsformen. Vorträge und Aufsätze zu Psychoanalyse, Sprache und Praxis (Frankfurt a.M. 1977); Paul Ricœur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud (Frankfurt a.M. 41993).

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sung der Aphasien bemerkt Sigmund Freud: »Das Wort ist also eine komplexe, aus den angeführten Bildern [Klangbild, Buchstabenbild, Sprachbewegungsbild, Schreibbewegungsbild, Ch. D.] bestehende Vorstellung […] dem Wort entspricht ein verwickelter Assoziationsvorgang, den die aufgeführten Elemente visueller, akustischer und kinästhetischer Herkunft miteinander eingehen. Das Wort erlangt aber seine Bedeutung durch die Verknüpfung mit der ›Objektvorstellung‹ […] Die Objektvorstellung selbst ist wiederum ein Assoziationskomplex aus den verschiedenartigsten visuellen, akustischen, taktilen, kinästhetischen und anderen Vorstellungen.«39 Worte sind also Freud zufolge auf der Grundlage von Assoziationsvorgängen mit subjektiven Wortvorstellungen und mit Objektvorstellungen verknüpft, wodurch sie Bedeutung erhalten. Diese Idee stellt das Muster für Freuds psychoanalytische Auffassung von Bedeutung dar. Phänomene wie Träume oder Neurosen haben Bedeutung, weil sie auf der Grundlage unbewußter Assoziationsvorgänge zu Vorstellungen führen, die wegen psychischer Konflikte aber nicht die entsprechenden Wortvorstellungen nach sich ziehen. Sie sind jedoch in der gleichen Weise mit Denkinhalten verknüpft, wie es die entsprechenden Wortvorstellungen sind und haben deshalb die gleiche Bedeutung bzw. repräsentieren den gleichen psychischen Inhalt.40

V Man kann sich fragen, ob es gerechtfertigt ist, das Verhältnis zwischen einem Traum oder einem neurotischen Phänomen und einem Inhalt, der sich im Prinzip auch mit den Mitteln der Sprache ausdrücken läßt, als semantische Relation aufzufassen. Handelt es sich nicht vielmehr um eine kausale Relation?41 In der Alltagssprache kann man sich mit dem Ausdruck ›Bedeutung‹ sowohl auf kausale wie auch auf semantische Relationen beziehen. Man denke an Aussagen wie »Der Rauch am Horizont bedeutet Feuer« und »Das italienische Wort ›fumo‹ bedeutet ›Rauch‹«. Anders als die Relation zwischen den Wörtern »fumo« und »Rauch« ist die Relation zwischen Feuer und Rauch eine kausale Relation: das Feuer ist die Ursache für den Rauch. Um diese Art der Bedeutungsrelation zu kennzeichnen, hat es sich im Anschluß an Paul Grice eingebürgert, von natürlicher Bedeutung zu sprechen, während die Bedeutung sprachlicher Zeichen in der Regel als Fall nicht-natürlicher Bedeutung angese-

S. Freud: Zur Auffassung der Aphasien (Frankfurt a.M. 1992) 121 f. Vgl. zu dieser Formulierung die Arbeit von Achim Stephan: Sinn als Bedeutung. Bedeutungstheoretische Untersuchungen zur Psychoanalyse Freuds (Berlin, New York 1989) 83, der meine Überlegungen folgen. 41 Das ist eine innerhalb der philosophischen Diskussion um die Psychoanalyse umstrittene Frage. Vgl. dazu A. Stephan: Sinn als Bedeutung, ebd., insbes. die Auseinandersetzung mit Robert Shope 134 ff. 39 40

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hen wird.42 Allerdings gibt es in der neueren Philosophie Tendenzen, semantische Relationen als Ergebnisse kausaler Relationen aufzufassen. Zu denken ist insbesondere an verschiedene Naturalisierungsprojekte innerhalb der neueren Philosophie des Geistes. In diesen Diskussionen stehen zwar nicht immer die Begriffe ›Bedeutung‹ und ›Sinn‹ im Vordergrund, statt dessen ist von ›Gehalt‹ oder ›Repräsentation‹ die Rede. Diese Ausdrücke lassen sich allerdings als naturalistische Nachfolger des Bedeutungsbegriffs auffassen, wobei die Ausdrücke ›Gehalt‹ bzw. ›Inhalt‹ bereits vor Frege und auch noch bei Husserl eine wichtige Rolle gespielt hatten. So hat z. B. Jerry Fodor eine kausale Theorie des Gehalts mentaler Zustände vorgelegt, der zufolge sich diese Zustände auf dasjenige beziehen, wodurch sie verursacht werden.43 Alternative Ansätze, die aber ebenfalls in einem naturalistischen Rahmen verbleiben, wie beispielsweise die von Ruth G. Millikan skizzierte Biosemantik, knüpfen an die Evolutionstheorie an, um das Problem der Bedeutung auf der Grundlage von biologischen Zwecken der Symbolproduktion zu diskutieren.44 An der Schnittstelle von Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes hat Robert B. Brandom strikt naturalistische Theorien kritisiert und eine inferentialistische Rekonstruktion sprachlicher Bedeutung bzw. geistigen Gehalts vorgeschlagen, die bei der Normativität sprachlicher Gehalte ansetzt. So hat er der neueren Diskussion eine Wendung verliehen, die sich wieder stärker auf ihre Wurzeln bei Frege und Wittgenstein besinnt. Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke oder geistiger Gehalte ergibt sich für ihn aus den Ableitungszusammenhängen, in denen Ausdrücke, Äußerungen und Gedanken mit jeweils anderen Ausdrücken, Äußerungen und Gedanken stehen. So impliziert beispielsweise die Feststellung, daß ein bestimmter Gegenstand blau ist, die Feststellung, daß er farbig ist, und sie schließt aus, daß er rot ist.45

VI Ganz anders gelagert sind die Überlegungen im Umfeld der Philosophie der Dekonstruktion. In einer eigenwilligen Anknüpfung an Phänomenologie, Hermeneutik und Psychoanalyse, aber auch mit den Mitteln einer – ebenfalls eigenwilligen – Auseinandersetzung mit verschiedenen Vertretern der analytischen 42

P. Grice: Meaning. In: ders.: Studies in the Way of Words (Cambridge 1989) 213–223, hier

213 ff. J. Fodor: Psychosemantics. The Problem of Meaning in the Philosophy of Mind (Cambridge 1987) 101 ff. 44 Vgl. R. G. Millikan: Biosemantics. In: dies.: White Queen Psychology and other Essays for Alice (Cambridge 1993) 83–101. 45 R. B. Brandom: Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung (Frankfurt a.M. 2000), zum semantischen Programm insbes. 122–218. 43

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Philosophie hat insbesondere Jacques Derrida Begriff und Phänomen der Bedeutung bzw. des Sinns negativitätstheoretisch zum Gegenstand der Dekonstruktion gemacht. Zentral für seine Überlegungen ist die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Kontextes. Anders als viele Philosophen in der Tradition Wittgensteins glauben, läßt sich der Begriff des Kontextes Derrida zufolge nicht als Grundlage einer Theorie der Bedeutung verwenden. Kontexte können niemals in einem absoluten Sinne bestimmt werden, zumal in ihre Bestimmung ihrerseits wieder Worte einfließen, deren Bedeutung unbestimmt ist. Da es keinen »strengen und wissenschaftlichen Begriff des Kontextes« geben kann, ist der Versuch, Bedeutungen zu greifen zu bekommen, von vornherein zum Scheitern verurteilt, wie Derrida in einer Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie deutlich macht.46 Außerdem macht er geltend, daß die Wiederholbarkeit der Verwendung von Zeichen eine Voraussetzung dafür darstellt, sich regelgeleitet zu verständigen. Wiederholung jedoch ist niemals bloße Wiederholung, vielmehr wohnt jeder Wiederholung ein Moment der Andersheit inne, was stabile Bedeutungsverhältnisse immer wieder zum Einsturz bringt. Auf dem Hintergrund dieser Sprachphilosophie schließlich ist auch der Sinnbegriff der philosophischen Hermeneutik in das Kreuzfeuer der Kritik geraten, da Äußerungen, und dies gilt ebenfalls für Texte, keinen bestimmbaren Sinn aufweisen. In Texten überlagert sich vielmehr eine Vielzahl von Perspektiven, deren Potentiale sich nur in Abhängigkeit von Lektüren erschließen, die letztlich unerschöpflich sind.47 Insbesondere sollte man Intentionen (z. B. der Autoren von Texten) nicht als dasjenige ansehen, was den Sinn von Texten festlegt.

VII Trotz vielfältiger Überlagerungen zwischen den verschiedenen Traditionen verläuft die Diskussion um die Begriffe ›Bedeutung‹ und ›Sinn‹ im 20. Jahrhundert außerordentlich heterogen. Als Meilenstein in der Geschichte der Begriffe ist Freges terminologische Unterscheidung zwischen ›Sinn‹ und ›Bedeutung‹ anzusehen. Die Unterscheidung hat sich zwar in dieser Form nicht durchgängig etabliert, gleichwohl sind mit ihr – zumindest gilt dies für die analytische Philosophie – entscheidende systematische Weichenstellungen erfolgt. Die Entwicklung innerhalb der Phänomenologie, aber auch in dem von Dilthey ausgehenden Strang der Hermeneutik kann so interpretiert werden, daß im Vergleich zu sprachphilosophischen Erörterungen eine weite Verwendung der Begriffe

46 Vgl. dazu J. Derrida: Signatur Ereignis Kontext. In: ders.: Randgänge der Philosophie (Wien 1988) 291–314; ders.: Limited Inc (Evanston 21990). 47 Zur Debatte zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion vgl. Philipp Forget (Hg.): Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte (München 1985).

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durchgesetzt werden soll. Und zwar aus zwei Gründen: Zum einen sollen die Begriffe auch auf den Gehalt vorsprachlicher psychischer Gebilde angewendet werden können (wie noch nicht sprachlich artikulierte intentionale Zustände); zum anderen soll dem Umstand Rechnung getragen werden, daß auch nichtsprachliche Gebilde (wie praktische Lebensvollzüge, Ereignisse und Objekte in der Welt) Bedeutung bzw. Sinn haben können und letztlich ein Fundament für Bedeutung und Sinn sprachlicher Gebilde darstellen. Die Psychoanalyse läßt sich als Maßnahme verstehen, Sinnphänomenen auf die Spur zu kommen, welche verborgen sind. Sie macht deutlich, inwiefern auch das, was vermeintlich sinnlos ist, Sinn haben kann, und daß bestimmte Phänomene einen anderen Sinn besitzen als denjenigen, den sie vordergründig aufzuweisen scheinen. In der Philosophie der Dekonstruktion schließlich werden neben intentionalen nicht nur symptomatische Sinnphänomene eingeräumt, sondern Äußerungen bzw. Texte verlieren das (intentionale) Zentrum der Sinnorganisation. Die Frage nach dem Verhältnis von sprachlicher und nicht-sprachlicher Bedeutung sowie das Problem der Beziehungen zwischen intendiertem und symptomatischem Sinn sind von bleibendem systematischem Interesse.

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1. Einleitung Geschichtlich gesehen ist der Bildbegriff zwar selten zu einem der zentralen Grundbegriffe der Philosophie aufgestiegen, er übernahm aber doch beständig in seinen unterschiedlichen Aspekten (und entsprechend über die jeweiligen philosophischen Teildisziplinen verstreut) wichtige Funktionen innerhalb der philosophischen Theoriebildung. Seit der Rede von den platonischen Urbildern und Abbildern spielte er so bis heute in sehr unterschiedlichen philosophischen Kontexten eine konstitutive Rolle, vor allem in der Metaphysik, Ästhetik, Sprach- bzw. Zeichenphilosophie, Erkenntnistheorie und Philosophie des Geistes. Das heißt aber leider auch, daß innerhalb der Philosophie die Bildthematik (noch) keinen eigenen, systematisch verankerten Ort erhalten hat.1 Bildtheoretische Fragen werden derzeit vorwiegend der Ästhetik zugeordnet, obschon es vielen bildtheoretischen Überlegungen explizit nicht um spezielle Probleme der Kunst geht, sondern um alltägliche Formen der Bildverwendung. Immerhin lassen die inzwischen zahlreichen philosophisch orientierten Monographien und Sammelbände zum Thema erkennen, daß sich das Bildthema als eigenständiger philosophischer Bereich zu behaupten beginnt.2 Die heterogene Verteilung der Bildthematik auf unterschiedliche philosophische Disziplinen ergibt sich aus der Vieldeutigkeit des Ausdrucks ›Bild‹. Im enVgl. Oliver R. Scholz: Bild. In: Ästhetische Grundbegriffe, hg. von Karlheinz Barck u. a. Bd. 1 (Stuttgart 2000) 618–669. 2 Nelson Goodman: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols (Indianapolis 1968); Flint Schier: Deeper into Pictures. An Essay on Pictorial Representation (Cambridge 1986); O. R. Scholz: Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildhafter Darstellung. (Freiburg i.Br., München 1991), 2., vollständig überarbeitete Auflage: (Frankfurt a.M. 2004); Heike Kämpf, Rüdiger Schott (Hg.): Der Mensch als homo pictor? Die Kunst traditioneller Kulturen aus der Sicht von Philosophie und Ethnologie. Beiheft 1 der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft (Bonn 1995); Dominic Lopes: Understanding Pictures (Oxford 1996); Jakob Steinbrenner, Ulrich Winko (Hg.): Bilder in der Philosophie & in anderen Künsten & Wissenschaften (Paderborn 1997); Lambert Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik (Reinbek 1997); Robert Hopkins: Picture, Image and Experience (Cambridge, Mass. 1998); Gernot Böhme: Theorie des Bildes (München 1999); Reinhard Brandt: Die Wirklichkeit des Bildes (München, Wien 1999); Klaus Rehkämper: Bilder, Ähnlichkeit und Perspektive. Auf dem Weg zu einer neuen Theorie der bildhaften Repräsentation (Wiesbaden 2002); Börries Blanke: Vom Bild zum Sinn. Das ikonische Zeichen zwischen strukturalistischer Semiotik und analytischer Philosophie (Wiesbaden 2003); K. Sachs-Hombach: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft (Köln 2003); Stefan Majetschak (Hg.): BildZeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild (München 2005). 1

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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gen Sinn bezeichnet ›Bild‹ einen Gegenstand, der innerhalb einer Mitteilungsoder Ausdruckshandlung im Unterschied zur sprachlichen Darstellung nicht als Beschreibung, sondern als visuelle Veranschaulichung eines (fiktiven oder realen) Sachverhalts aufgefaßt wird. Umgangssprachlich werden jedoch eine Vielzahl von Phänomenen als Bilder bezeichnet, die sich in ontische, sprachliche, ethisch-normative, mentale, informatische und materielle Bilder differenzieren lassen. Entsprechend kann zwischen speziellen metaphysischen, linguistischen, ethischen, kognitionswissenschaftlichen, informationstechnischen und ästhetischen Bildbegriffen unterschieden werden. Der metaphysische Bildbegriff (bzw. der Begriff des ontischen Bildes) ist etwa in der platonischen Ideenlehre als spezielle Teilhabebeziehung entwickelt und in verschiedene Bereiche übertragen worden. Hieran anknüpfend hat beispielsweise die mittelalterliche Theologie von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen gesprochen. Für sprachliche Bilder gilt das Phänomen der Metapher als paradigmatisch. Die historische Entwicklung der Metapherntheorie hat das Bild dabei in einen Gegensatz zum Begriff gesetzt und die Bildtheorie als Theorie des Unbegrifflichen ausgeführt. Der in mittelalterlichen wie neuzeitlichen Erkenntnistheorien sowie in kognitionswissenschaftlichen Repräsentationstheorien wichtige Begriff der mentalen Bilder meint in der Regel anschauliche Vorstellungen bzw. die entsprechenden Gedächtnisinhalte. Bei ethisch-normativen Bildern wird vor allem an Aspekte gedacht, wie sie in der Rede vom Weltbild, vom Menschenbild oder vom Vorbild bzw. Leitbild, aber auch im Begriff der Bildung zum Ausdruck kommen. Als (in der Philosophie bisher weniger verhandelte) informatische Bilder gelten Datenstrukturen mit entsprechender Pixelmatrix. Materielle oder externe Bilder fasse ich schließlich als Bilder im engen Sinne auf. Sie lassen sich weiter nach Bildtypen untergliedern in darstellende Bilder – etwa illusionistische Bilder, Illustrationen oder Liniengrafiken –, logische Bilder bzw. Strukturbilder – etwa Diagramme oder Graphen – und reflexive Bilder – vor allem ungegenständliche (etwa monochrome) Bilder oder Bilder der Konkreten Kunst – differenzieren. Bevor ich einzelne der genannten Bereiche genauer darstelle, möchte ich zunächst einige Anmerkungen zur Strukturierung der Phänomene machen und dabei insbesondere meine Unterscheidung zwischen Bildern im engen, im weiten und im metaphorischen Sinne erläutern. Es wird eine detaillierte Erörterung der Bilder im engen Sinne folgen, in der die beiden wichtigsten Theorietraditionen, nämlich die perzeptuelle und die semiotische Bildtheorie, verglichen werden. Hieran schließt sich eine Darstellung des Begriffs der mentalen Bilder an. Der letzte Abschnitt deutet abschließend unter dem Titel Bild als anthropologische Kategorie gewissermaßen die philosophische Tiefe des Begriffs in der gegenwärtigen Bilddiskussion an.

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II. Enger und weiter Bildbegriff Obwohl wir umgangssprachlich den Ausdruck ›Bild‹ in einer Vielzahl von Fällen verwenden, heißt dies sicherlich nicht, daß alle diese Fälle in demselben Sinn Bilder sind und damit gleichermaßen Gegenstand einer Bildwissenschaft. So wird niemand ernsthaft behaupten wollen, daß Briefköpfe allzu viel mit den Köpfen von Lebewesen zu tun haben und vielleicht gar Gegenstand der Zoologie oder der Anatomie sein sollten. Metaphorische Übertragungen zählen zu den Eigentümlichkeiten natürlicher Sprachen und sind zu einem guten Teil für deren Leistungsfähigkeit verantwortlich. Im Bereich der Wissenschaft ist es aber notwendig, den Gegenstandsbereich möglichst genau zu bestimmen bzw. einzugrenzen. Damit werden diejenigen Bereiche ausgegliedert, die in nur metaphorischer Weise mit dem thematischen Ausdruck verbunden sind. Als Kernbereich der Bildphänomene bietet sich meines Erachtens der Bereich der externen Bilder an, da zum einen ihre Existenz unproblematisch ist und wir zum anderen auf eine bereits umfangreiche Beschäftigung mit diesen Bildern (etwa innerhalb der Kunstgeschichte) zurückgreifen können. Neben den künstlerischen Bildern zählen zu dieser Klasse bildhafter Darstellungen vor allem alle Arten von Gebrauchsbildern, in denen reale, fiktive oder auch abstrakte Sachverhalte veranschaulicht werden. Viele ebenfalls als ›Bild‹ angesprochene Phänomene sind keine Bilder in diesem Sinne, entstammen aber gleichwohl nicht (nur) einer metaphorischen Übertragung. So bezeichnete das heute weniger gebräuchliche Wort ›Bildwerk‹ auch Skulpturen oder Werke der Architektur. Zwar gibt es einen offensichtlichen Unterschied zwischen einer Skulptur und einem Bild im engen Sinne, beide Phänomene sind aber verwandt und daher durchaus mit Recht in der traditionellen Kunstgeschichte und im Bereich der bildenden Kunst zusammengefaßt worden. Entsprechend ließen sich Argumente anführen, daß auch ›Wolkenbilder‹ oder ›Weltbilder‹ nicht nur metaphorisch zu verstehen sind. Um diesen Phänomenen gerecht zu werden, ließe sich hier von Bildern im weiten Sinne sprechen. Es wären also drei Bereiche zu unterscheiden: Phänomene im engen, im weiten und im metaphorischen Sinne. Im folgenden werde ich davon ausgehen, daß externe Bilder Bilder im engen Sinne sind und mentale oder interne Bilder Bilder im weiten Sinne. Dagegen erachte ich z. B. Weltbilder oder Leitbilder als Phänomenklassen, die Bilder nur im metaphorischen Sinne sind. Die Ausarbeitung der Gründe für eine derartige Strukturierung des Phänomenbereichs ›Bild‹ ist eine der Aufgaben einer allgemeinen Bildwissenschaft.3 Hierbei ist wichtig zu sehen, daß der Ausdruck ›allgemein‹ nicht (oder nicht nur) im Sinne eines möglichst weiten Gegenstandsbereichs verstanden werden

Vgl. K. Sachs-Hombach (Hg.): Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden (Frankfurt a.M. 2005). 3

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sollte. Wichtiger als die Extension ist bei der intendierten Allgemeinheit die Intension. Daher fällt die kunstgeschichtliche Forschung selbst nach einer Ausweitung ihres Gegenstandsbereichs auf bisher vernachlässigte Phänomenbereiche nicht mit einer allgemeinen Bildwissenschaft zusammen. Vielmehr ist es entscheidend, die Fragestellungen, die eine allgemeine Bildwissenschaft verfolgt bzw. verfolgen sollte, so zu fassen, daß es nicht mehr primär um einzelne Bilder oder Bildtypen geht, sondern um das, was als Bildfähigkeit oder Bildkompetenz bezeichnet werden könnte und jeder konkreten Bildverwendung immer schon vorausgeht. Natürlich ist die Analyse einzelner Bildverwendungssituationen zur Klärung der Bildfähigkeit hilfreich, aber in der Regel doch nur im Sinne einer vergleichenden, auf die Gemeinsamkeiten der speziellen Phänomene abzielenden Untersuchung. Das Verhältnis von engen und weiten Begriffen läßt sich am besten an einem einfachen Beispiel verdeutlichen, nämlich anhand des Relationsausdrucks »ist Bruder von«. Eine mögliche Definition, mit der »Bruder im engen Sinne« bestimmt wird, lautet: x ist Bruder von y dann und nur dann, wenn (1) x ein Mensch ist, (2) x dieselben Eltern wie y hat und (3) x männlich ist. Damit ist Brudersein im engen Sinn als eine spezielle Familienbeziehung definiert. Dieses Phänomen kann dann als Kernbereich gelten. Natürlich gibt es viele verwandte Redewendungen, die damit ausgeschlossen werden, etwa »Blutsbruder«, »Klosterbruder«, oder auch »Brüderlichkeit«. Ein Begriff im weiten Sinne, möchte ich vorschlagen, würde nun jene Phänomene umfassen, die nicht alle, aber zumindest ein konstitutives Merkmal mit den Phänomenen des Kernbereichs gemeinsam haben. Das betrifft etwa die Übertragung in den außermenschlichen Bereich (wenn wir von Geschwisterbeziehungen bei Haustieren reden und damit die erste Bedingung aufgeben) oder die Übertragung auf Freundschaftsbeziehungen (wenn wir von Blutsbrüdern reden und damit die zweite Bedingung aufgeben). Die dritte Gruppe der uneigentlichen Redeweisen entsteht schließlich durch Übertragung kontingenter Begriffsmerkmale. So ist eine Brudergemeinde eine bestimmten Verhaltensnormen verpflichtete Gemeinschaft. Diese Verhaltensnormen und die entsprechenden Verhaltensweisen mögen unter Brüdern häufig anzutreffen sein, sind aber für das BruderSein im engen Sinne kontingent und damit zur Bestimmung des Kernbereichs irrelevant. Übertragen wir die Anmerkungen zur Begriffsbestimmung auf den Bildbereich, dann ist, so möchte ich vorschlagen, ein Gegenstand ein Bild im engen Sinne, sofern er (1) flächig, artifiziell sowie relativ dauerhaft ist und (2) visuellwahrnehmungsnah rezipiert wird. Diese verwendungstheoretische Bestimmung des Bildbegriffs beschreibt, was wir üblicherweise als den Kernbereich der externen Bilder ansehen, also beispielsweise Gemälde in Museen, Urlaubsfotos, Abbildungen in Illustrierten, Pressefotografien oder auch diagrammatische Darstellungen in Lehrbüchern. Sie sollte im Sinne eines mehrstelligen Relationsbegriffs verstanden werden, nach dem ein Gegenstand G ein Bild ist, so-

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fern ein Verwender V ihm zu einem Zeitpunkt Z relativ zu dem zugehörigen Symbolsystem S eine zumindest teilweise perzeptuell konstituierte Bedeutung B zuschreibt. Ein weiter Bildbegriff ergibt sich nun, wenn einige oder auch alle Bedingungen unter (1) aufgeben werden. Ein Gegenstand ist demnach ein Bild im weiten Sinne schon dann, wenn er visuell-wahrnehmungsnah rezipiert wird. Als solche Bilder im weiten Sinne können Skulpturen oder auch Wolkenbilder gelten. Die wesentliche Bedingung, die sie aber mit den Phänomenen des Kernbereichs teilen müssen, ist die wahrnehmungsnahe Rezeption. Diese ließe sich folgendermaßen präzisieren: Ein Gegenstand wird wahrnehmungsnah rezipiert, wenn er (A) aufgrund seiner intrinsischen Struktur und (B) relativ zu unserer Wahrnehmungskompetenz interpretiert wird.4 Bilder im nur metaphorischen Sinne sind schließlich diejenigen Phänomene, die keine der begrifflichen Merkmale des Kernbereichs mehr aufweisen und die insbesondere nicht oder nicht mehr auf die wesentliche Bestimmung, nämlich die wahrnehmungsnahe Rezeption, bezogen sind. Es ist eine durchaus interessante Frage, warum sich die metaphorischen Übertragungen und Verschiebungen im Sprachgebrauch ergeben haben. Dies wird auch etwas mit den Phänomenen selbst zu tun haben. So zeichnet sich ja auch der Briefkopf dadurch aus, immer am oberen Rand der Seite zu stehen. Diese Art von Analogie (hier zu speziellen Lebewesen, die aufrecht gehen und deren Köpfe sich am oberen Ende des Organismus befinden) ist aber für wissenschaftliche Fragestellungen und die entsprechenden begrifflichen Vorentscheidungen offensichtlich nicht relevant.

III. Bilder im engen Sinne Die Eingrenzung auf Bilder im engen Sinne zeichnet keinen konkreten Bildbegriff aus. Neben dem semiotischen Bildbegriff5 hat sich in der Diskussion vor allem ein wahrnehmungstheoretischer Bildbegriff6 herausgebildet. Während die semiotische Sicht Analogien zwischen bildhaften und sprachlichen Zeichen betont, koppelt die phänomenologische Bildtheorie den Bildstatus an die Bildwahrnehmung. Zuweilen werden diese Bildbegriffe der analytischen und der phänomenologischen Philosophie zugerechnet, paradigmatisch durch Goodman und Merleau-Ponty vertreten. Dies ist jedoch irreführend, da sich die beiden

Vgl. K. Sachs-Hombach: Bild als kommunikatives Medium, a. a.O. [Anm. 2] 88 f. Vgl. Göran Sonessen: Pictorial Concepts. Inquiries into the Semiotic Heritage and its Relevance for the Analyses of the Visual World (Lund 1989); B. Blanke: Vom Bild zum Sinn, a. a.O. [Anm. 2]. 6 Vgl. Richard Wollheim: Art and its Objects. With six supplementary essays (Cambridge 21980); Was ist ein Bild? Hg. von Gottfried Böhm (München 1994); L. Wiesing: Phänomene im Bild (München 2000). 4 5

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philosophischen Richtungen eher in ihrer Methodologie als in den inhaltlichen Bestimmungen des Bildbegriffs voneinander unterscheiden und zumindest in der analytischen Tradition sowohl semiotische wie auch perzeptuelle Positionen vorliegen. Zudem bedeutet die Betonung unterschiedlicher Schwerpunkte keineswegs, daß sich beide Bildbegriffe gegenseitig ausschließen. Grundzüge einer integralen Theorie, der es um die Synthese der semiotischen und perzeptuellen Theoreme geht, lassen sich unter dem Titel »wahrnehmungsnahes Zeichen« entwickeln. Hierbei dient der zeichentheoretische Bildbegriff zwar als Ausgangpunkt, die Besonderheiten der bildhaften Zeichen werden aber im Rekurs auf den wahrnehmungstheoretischen Ansatz erläutert. Eine Klärung des Bildbegriffs beinhaltet also eine Klärung der Begriffe der Wahrnehmung bzw. Wahrnehmungsnähe und des Zeichens. Es ist zu betonen, daß der Zeichenbegriff hierbei sehr allgemein zu verstehen ist. Ein Gegenstand ist ein Zeichen schon dadurch, daß wir ihm einen Inhalt bzw. eine Bedeutung zuweisen. Ein Klingelzeichen mag etwa bedeuten, daß die Schulstunde zu Ende ist. Keineswegs ist hier impliziert, daß das Zeichen auf einen realen oder auch nur fiktiven Gegenstand verweist. Bei der vorgeschlagenen integralen Theorie soll der Begriff der Wahrnehmungsnähe nicht darauf hindeuten, daß Zeichen im Kommunikationsprozeß wahrgenommen werden müssen, denn diese Bedingung gilt für den Zeichengebrauch generell. Im Unterschied zu arbiträren Zeichen ist vielmehr entscheidend, daß auch die Interpretation des Zeichens zumindest teilweise auf Wahrnehmungskompetenzen beruht, die keine speziellen Kodierungsregeln voraussetzen. Zumindest einige Aspekte der Bedeutung, die mit wahrnehmungsnahen Zeichen vermittelt werden soll, ergeben sich folglich aus der Struktur der Zeichen selbst – genauer gesagt: der Zeichenträger –, während die Zeichenträger arbiträrer Zeichen in der Regel keinerlei Hinweise auf die entsprechende Bedeutung enthalten. Dies ist in besonderem Maß der Fall bei illusionistischen Bildern. Zwar müssen wir auch hier bereits verstanden haben, daß es sich um ein Bild handelt, also eine rudimentäre Zeichenkompetenz besitzen, die vermutlich auch konventionelle Vorgaben enthält; aber um zu bestimmen, was im Bild dargestellt ist, können wir im wesentlichen auf die Prozesse zurückgreifen, die wir mit der Fähigkeit zur Gegenstandswahrnehmung bereits besitzen. Das prototypische wahrnehmungsnahe Zeichen ist das an die visuelle (oder auch taktile) Wahrnehmung gebundene figürliche Bild. Für die übrigen Wahrnehmungsmodalitäten gibt es eingeschränkt vergleichbare Darstellungsformen – etwa wahrnehmungsnahe akustische Zeichen. Allerdings bleiben vor allem die ungegenständlichen Bilder zunächst ausgeklammert. Ihr Verständnis erfordert, genauer zu bestimmen, in welcher Weise und in welchem Maße Wahrnehmungsund Zeichenaspekt korrelieren. Eine Abgrenzung von wahrnehmungsnahen und arbiträren Zeichen fällt aufgrund der fließenden Übergänge generell schwer. Zum einen beinhalten die einzelnen Darstellungssysteme in der Regel sowohl wahrnehmungsnahe als auch arbiträre Zeichen, zum anderen gibt es viele Zei-

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chen (z. B. Diagramme), die beide Momente integrieren. Darüber hinaus können Zeichen in alternative Darstellungssysteme überführt werden. Schließlich ist es jederzeit möglich, ein wahrnehmungsnahes Zeichen um arbiträre Aspekte zu ergänzen (z. B. Bildallegorie) oder arbiträre Zeichen in ihrer Wahrnehmungsqualität zu würdigen (z. B. Kalligraphie). Hinsichtlich des Zeichenbegriffs gibt es zwar zahlreiche Kontroversen, Einigkeit besteht aber zumindest darin, daß sinnvoll zwischen syntaktischen, semantischen und pragmatischen Aspekten unterschieden werden kann, auch wenn strittig ist, wie das Verhältnis der verschiedenen Ebenen zu denken ist. Für meine Zwecke ist diese Unterscheidung zunächst ausreichend, insofern sie eine Einordnung der unterschiedlichen Bildtheorien erlaubt. Die semiotischen Bildtheorien lassen sich nach dem Grad gliedern, in dem sie sich an der linguistischen Begrifflichkeit orientieren. Eine extreme Variante der semiotischen Bildtheorien wäre dann eine Theorie, die den Bildbegriff einführt, indem sie ihn auf syntaktischer, semantischer wie pragmatischer Ebene mit linguistischen Kategorien bestimmt. Dies ist sicherlich nur sehr begrenzt sinnvoll. In der Regel sprechen semiotische Theorien den Bildern daher zumindest auf syntaktischer Ebene linguistisch nicht beschreibbare Eigenschaften zu. Sie betonen etwa, daß es für Bilder keine Grammatik im sprachwissenschaftlichen Sinn gibt. Goodmans Bildtheorie, die Bilder explizit mit den Begriffen der syntaktischen Dichte und der relativen Fülle charakterisiert, gehört in diese Klasse. Eine semiotische Theorie könnte darüber hinaus aber auch semantische Besonderheiten für Bilder geltend machen. Die Ähnlichkeitstheorie liefert einen solchen Versuch, in dem die Bedeutung eines Bildes, anders als bei sprachlichen Zeichen, unter Rückgriff auf bildeigene Merkmale bestimmt wird. Schließlich kann eine semiotische Theorie selbst auf pragmatischer Ebene Besonderheiten der Bilder annehmen, etwa indem sie für Bilder spezielle Verwendungskontexte oder spezielle Kommunikationsakte einräumt. Dem Gesagten zufolge ist die semiotische Bildtheorie recht flexibel und keineswegs so starr, wie mitunter dargestellt und von der Kritik behauptet wird. Nach den syntaktischen oder semantischen Merkmalen von Bildern zu fragen, heißt daher keineswegs, linguistische Begrifflichkeiten auf Bilder anzuwenden. Darüber hinaus schließt die semiotische Bildtheorie eine Integration wahrnehmungstheoretischer Ansätze nicht aus. Auch hier bestehen unterschiedliche Möglichkeiten der Ausführung. Die Integration kann zunächst auf einer oder auf mehreren semiotischen Ebenen erfolgen. Es ist etwa denkbar, daß Wahrnehmungskompetenz innerhalb der Bildwahrnehmung nur für das Erkennen syntaktischer Strukturen wichtig ist. Sie ist aber auch für bestimmte Bildformen in unterschiedlicher Weise denkbar. Bei einem Diagramm mag der Zeichenaspekt stärker ausgeprägt sein, bei einer Fotografie der Wahrnehmungsaspekt. Die konkrete Beschaffenheit einer Theorie, die Bilder als wahrnehmungsnahe Zeichen versteht, hängt entscheidend von der gewählten Wahrnehmungstheorie ab. Die konkurrierenden perzeptuellen Bildtheorien unterscheiden sich dem-

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entsprechend durch die unterschiedliche Konzeptualisierung der für die Bildwahrnehmung relevanten Wahrnehmungsaspekte. Bildwahrnehmung kann zum einen, wie illusionistische Bildtheorien annehmen,7 mit der Gegenstandswahrnehmung identifiziert oder aber aus speziellen Wahrnehmungsprozessen abgeleitet werden, wie etwa Wollheim in seiner Seeing-in-Theorie annimmt.8 Sofern das, was diese spezielle Wahrnehmungsform auszeichnet, sehr unterschiedlich gefaßt werden kann, lassen sich entsprechend viele wahrnehmungstheoretische Ansätze formulieren. Kombiniert man diese Ansätze mit den theoretischen Möglichkeiten auf der zeichentheoretischen Ebene, ergibt sich eine teilweise verwirrende Fülle, die dem tatsächlichen Theorienbestand recht nahe kommt. Traditionell galt als wesentliches Merkmal der verschiedenen Bildtheorien die semantisch interpretierte Ähnlichkeitsbeziehung. Seit Goodmans umfassender Kritik der Ähnlichkeitstheorie sind die Mängel einer solchen Position jedoch deutlich geworden.9 Das Merkmal der Ähnlichkeit ist sicherlich für sich nicht ausreichend, um verständlich zu machen, daß ein Gegenstand ein Bild ist, denn viele Gegenstände sind sich ähnlich, ohne daß der eine ein Bild des anderen wäre. Da sich hinsichtlich der hierin enthaltenen generellen Frage, wieso ein Gegenstand überhaupt auf etwas Bezug nimmt, aber weitgehend eine gebrauchstheoretische Auffassung durchgesetzt hat, nach der ein Gegenstand letztlich aufgrund einer bestimmten Verwendungsweise zum Bild wird, ist es durchaus sinnvoll zu fragen, ob das Ähnlichkeitskriterium nicht zumindest geeignet ist, bildliche und sprachliche Bezugnahme zu unterscheiden. Auch in dieser Fassung bereitet die Ähnlichkeitstheorie – besonders sichtbar bei abstrakten und fiktiven Bildern – einige Probleme. Zu präzisieren wäre zunächst, was genau unter Ähnlichkeit zu verstehen ist. Dies wird z. B. mit Hilfe des Isomorphiebegriffs versucht.10 Sodann dürfte sich die Ähnlichkeit immer nur auf die Wahrnehmung des Bildes und des abgebildeten Gegenstandes beziehen. Vielleicht sollte Ähnlichkeit aber auch lediglich als heuristisches Prinzip verstanden werden, an dem wir uns – mitunter erfolglos – bei der semantischen Interpretation eines Bildes normalerweise orientieren. Als eine der bekannteren Alternativen zur Ähnlichkeitstheorie hat sich geschichtlich schon sehr früh die Kausaltheorie herausgebildet, die das Spezifische des Bildes ebenfalls über eine Bestimmung der Bildsemantik zu erklären versucht.11 Da die meisten Kausalbeziehungen aber keine Repräsentationsbeziehungen sind, kann die Kausaltheorie sinnvoll nur behaupten, daß der konkrete Bildinhalt kausal festgelegt wird, nicht aber die Eigenschaft, ein Bild zu sein.

Vgl. Ernst H. Gombrich: Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation (Princeton, NJ 1960). 8 Vgl. R. Wollheim: Art and its Objects, a. a.O. [Anm. 6]. 9 Vgl. O. Scholz: Bild, Darstellung, Zeichen, a. a.O. [Anm. 2] 16 ff. 10 Vgl. K. Rehkämper: Bilder, Ähnlichkeit und Perspektive. a. a.O. [Anm. 2]. 11 Vgl. O. Scholz: Bild, Darstellung, Zeichen, a. a.O. [Anm. 2] 16 ff. 7

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Diese Fassung der Kausaltheorie mag eine gewisse Plausibilität für das Phänomen ›natürlicher‹ Bilder haben, als Bestimmung der semantischen Dimension der Bilder im engen Sinn teilt sie aber die Schwächen aller kausalen Bedeutungstheorien. Dies kann bereits das Beispiel fiktiver Bilder illustrieren. Die Schwächen zeigen sich grundsätzlich, weil das Phänomen der ›Darstellung-als‹ kausal prinzipiell nicht zu erfassen ist. Die Ähnlichkeits- wie die Kausaltheorien deuten den Bildstatus über den Rekurs auf eine ›natürliche‹ semantische Beziehung. Im Gegensatz hierzu bestreitet insbesondere die semiotische Bildtheorie von Goodman, daß sich bildliche und sprachliche Darstellungsformen auf der semantischen Ebene überhaupt unterscheiden. Als spezifisches Merkmal gilt Goodman lediglich, daß Bilder zu syntaktisch dichten Zeichensystemen gehören und sich durch relative Fülle auszeichnen. Unter syntaktischer Dichte ist hierbei zu verstehen, daß es etwa zwischen zwei beliebigen Punkten immer einen weiteren Punkt oder zwischen zwei Farbtönen immer einen Zwischenton gibt. Syntaktische Dichte bezieht sich dabei nur auf bestimmte Aspekte. Deshalb liefert der Begriff der syntaktischen Dichte auch ein Kriterium zur Klassifikation bildhafter Darstellungen. Diagramme oder Landkarten sind danach gemischte Symbole, die nur wenige syntaktisch dichte Bereiche besitzen. Im Unterschied zu ihnen weisen Gemälde nach Goodman eine relative syntaktische Fülle auf. Besondere Beachtung verdient die von Goodman eingeführte Aufgliederung der Bezugnahme in Denotation und Exemplifikation. Ihr zufolge können wir mit einem Bild einerseits einen Gegenstand (oder eine Klasse von Gegenständen) denotieren, andererseits kann ein Bild aber auch als Muster für eine Eigenschaft oder ein Prädikat verwendet werden, wobei der als Bild verwendete Gegenstand die Eigenschaft, die er exemplifiziert, selbst besitzen muß. Diese Unterscheidung ist vor allem für eine kognitivistische Auffassung der Ästhetik von Bedeutung.12

IV. Mentale Bilder Als ein Beispiel für Bilder im weiten Sinn können mentalen Bilder gelten. Sie werden traditionell mit den anschaulichen Vorstellungen identifiziert, innerhalb der kognitionswissenschaftlichen Theorien entsprechen sie jedoch subpersonalen Repräsentationen, auf denen die anschaulichen Vorstellungen beruhen. Beide Möglichkeiten müssen nicht als Alternativen gedacht werden, sondern können auch als zwei Seiten derselben Sache verstanden werden. Mentale Bilder sind dann insofern Bilder, als die subpersonalen Repräsentationen einen Bildträger liefern, die phänomenalen Anschauungen dagegen den Inhalt, der, wie bei externen Bildern, einen spezifischen psychischen Prozeß zur Voraussetzung hat und einen eigenen Status 12

Vgl. Jakob Steinbrenner: Kognitivismus in der Ästhetik (Würzburg 1996).

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als intentionales Objekt besitzt. Das heißt, daß die letztlich neurophysiologisch realisierten Grundlagen imaginativer Prozesse nicht für sich schon Bilder sind, sondern zu Bildern werden durch ihre Einbettung in die entsprechenden Interpretationsprozesse, bei denen dann, gemäß des vorgeschlagenen Bildbegriffs, eine perzeptuelle Komponente wesentlich ist. Das entscheidende Problem liegt nun offensichtlich in der Frage, inwiefern innerpsychische Prozesse oder gar neurophysiologische Prozesse eine perzeptuelle Komponente aufweisen können, denn der Ausdruck »Perzeption« wird nach dem üblichen Sprachgebrauch nur Lebewesen zugesprochen und nicht bereits deren Teilsystemen. Der Gedanke, die Explikation des Begriffs interner Bilder stärker an den Begriff der externen Bilder anzulehnen, ist in der sogenannten ›Imagery-Debate‹, in der sich Deskriptionalisten und Piktoralisten gegenüberstehen, seit den 1980er Jahren intensiv diskutiert worden: Während die Deskriptionalisten die Ansicht vertreten, daß unser kognitives System Information nur im propositionalen Zustand verarbeitet und anschauliche Vorstellungen bei Bedarf aus Beschreibungen erzeugt werden, behaupten die Piktoralisten, daß es mindestens zwei Repräsentationsformate gibt, ein propositionales und ein piktorales, und daß letzterem eine mitunter entscheidende kognitive Funktion zukommt. Ein umfassendes, experimentell gestütztes Modell, das propositionale zugunsten piktoraler Repräsentationen zurückstellt, hatte erstmals Kosslyn vorgestellt.13 Unter den begrifflichen Argumenten, die die Annahme mentaler Bilder auf Grund von Konsistenzerwägungen kritisieren, hatte sich ein Argument ausgezeichnet, das sich genau gegen die Analogie mit externen Bildern richtete. Es läuft auf ein Homunculus-Problem hinaus und kann als Argument gegen das geistige Auge bezeichnet werden. Es besagt, daß die Annahme mentaler Bilder im Sinne ›realer‹ Bilder die Annahme eines mentalen Auges (mind’s eye) erfordert. Dies ist jedoch – wörtlich verstanden – eine absurde Annahme. Vor allem aber ergibt sich ein infiniter Regreß, weil das innere Auge (und der innere Sinn allgemein) ein eigenes Verarbeitungs- oder Interpretationssystem benötigen würde, das seinerseits wiederum ein Auge besitzen müßte. Daher können nach diesem Argument die sogenannten mentalen Bilder keine Bilder sein. Das entscheidende Gegenargument läuft darauf hinaus, daß auch diejenigen Theorien, die eine propositionale Grundlage unserer imaginativen Kompetenzen annehmen, begreiflich machen müssen, wie interne Repräsentationen ›gelesen‹ und ›interpretiert‹ werden. Die Annahme, daß interne Repräsentationen satzartig sind, beseitigt das Problem interner Interpretationsprozesse also nicht. Sie mag uns nur plausibel erscheinen, solange wir den Computer als Paradigma für die entsprechenden Prozesse nehmen.

13 Vgl. Steven Kosslyn: Image and Mind (Cambridge, Mass. 1980); Bilder im Geiste. Zur kognitiven und erkenntnistheoretischen Funktion piktorialer Repräsentationen, hg. von K. Sachs-Hombach (Amsterdam 1995); Verena Gottschling: Bilder im Geiste. Die Imagery-Debate (Paderborn 2003).

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Die Reichweite des Arguments zum geistigen Auge (bzw. der Kritik an ihm) zeigt sich, wenn der Begriff des primitiven Prozessors einbezogen wird.14 Ein primitiver Prozessor zeichnet sich dadurch aus, daß er nur nomologisch beschrieben werden kann. Fragen wir etwa, wie eine Maschine multipliziert, dann läßt sich noch auf der Programmebene durch die Angabe einer Regel antworten: Indem sie entsprechend häufig die eine Zahl zu sich selbst addiert. Auf die Frage, wie die Maschine addiert, ist aber nur noch der Verweis auf die elektrischen Mechanismen möglich. Diese Ebene liegt der Programmebene zugrunde und kann auf sehr unterschiedliche Weisen realisiert werden. Weil die einzelnen Prozesse hier nach den in der Hardware fest installierten Vorgaben ablaufen, brauchen wir keine weiteren ›Augen‹ anzunehmen, um die Informationsverarbeitung verständlich zu finden. Das heißt nun aber, daß – anders als der Funktionalismus angenommen hatte – den jeweiligen Weisen der neurophysiologischen Realisierung die entscheidende Rolle innerhalb der ›ImageryDebate‹ zukommt. Für unser zu Beginn des Abschnitts festgestelltes Problem läuft das darauf hinaus, daß spezifische neurophysiologische Verarbeitungsprozesse als wahrnehmungsanalog aufgefaßt werden müssen, wenn mentale Bilder wirklich als Bilder gelten sollen. Klar ist auf jeden Fall, daß mentale Bilder damit keine Bilder im üblichen Sinne sind und daher nicht als Bilder im engen Sinne gelten können. Die Berechtigung, sie als Bilder anzusehen, ergibt sich erst aus den bildtypischen Prozessen, die mit der entsprechenden neurophysiologischen Realisierung verbunden sind. Um diesen Sachverhalt auszudrücken, hatte Kosslyn den Begriff des funktionalen Bildes geprägt. Die prinzipielle Möglichkeit funktionaler Bilder hat Ned Block mit dem Beispiel der Rotation einer Linie veranschaulicht: Nehmen wir an, daß ein räumliches Feld in einer Region des visuellen Kortex durch Spannung und Stromstärke repräsentiert wird.15 Eine Linie läßt sich dann bildhaft repräsentieren, wenn an verschiedenen Punkten dieser Region die Spannung die Entfernung vom Nullpunkt und die Stromstärke den Winkel der Linie angibt. Das elektrische Feld bildet so eine Matrix, die eine unbewegte Linie repräsentiert, solange beide Werte konstant bleiben. Ändert sich lediglich die Spannung an einigen Punkten, entsteht eine unterbrochene Linie, ändert sich dagegen die Stromstärke allmählich und an allen Punkten gleichmäßig, dann entsteht eine langsame Rotation der Linie, weil die Stromstärke ja den Winkel angibt. Dieses Beispiel zeigt also, wie etwas als Bild funktionieren kann, ohne selbst ein externes Bild im üblichen Sinn zu sein. Im Kortex dreht sich ja nichts, dennoch repräsentiert die Operation eine Drehung und kann dementsprechend auch als Drehung erlebt werden. Entscheidend ist folglich nicht, ob die Bildträger mentaler Bilder, in diesem Fall eine bestimmte Zellregion mit entsprechenden elektrochemischen Eigenschaften, alle Merkmale der Bildträger externer Bilder besitzen, sondern nur, ob sie Operationen erlauben, die wir, an externen Symbolen vollzogen, Vgl. Ned Block: Mental Pictures and Cognitive Science. In: Philosophical Review 92 (1983) 499–541. 15 Vgl. ebd. 14

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als typisch bildhaft ansehen würden. Dies sind insbesondere die Prozesse, mit denen Informationen nicht über einen Code vermittelt, sondern dem Repräsentationsmedium selbst in direkter Weise entnommen werden. Die Diskussion um den Status der mentalen Bilder hat sich in jüngerer Zeit insbesondere auf das Verhältnis von Wahrnehmung und mentaler Bildlichkeit konzentriert und in den Bereich der Neurophysiologie verschoben.16 Hierbei wird davon ausgegangen, daß es gute Gründe für die Annahme partieller Übereinstimmungen von Perzeption und Imagination gibt. Diese empirisch überprüfbaren Beziehungen betreffen die Repräsentationsformate, die Verarbeitungsprozesse und schließlich die beteiligten Gehirnareale. Es liegt nun nahe, mentale Bilder in dem Maße als Bilder anzusehen, in dem sie von denselben Prozessen verarbeitet werden, die für unsere Wahrnehmungen relevant sind. Das läuft neurophysiologisch auf die Frage hinaus, in welchen Gehirnarealen mentale Bilder lokalisiert werden können. Die Bildträger mentaler Bilder sind dem Gesagten zufolge die Neuronen im visuellen Kortex, deren Aktivitätsmuster (zumindest für topografische Informationen) zu der Struktur der Retina isomorph sind. Um nun eine genauere Konzeption mentaler Bilder zu erhalten, wird gegenwärtig detailliert untersucht, mit welchen speziellen Aspekten der visuellen Wahrnehmung mentale Bilder korrespondieren. Hierzu unterscheidet die neurophysiologische Wahrnehmungsforschung im Anschluß an David Marrs Wahrnehmungstheorie üblicherweise drei Ebenen: Im primären visuellen Kortex erfolgen low-level Verarbeitungen sehr elementarer Aspekte, wie z. B. der Kantenerkennung. Oberflächeneigenschaften oder Informationen zur perspektivischen Gestalt finden sich auf einer mittleren Ebene in den so genannten extrastriären Arealen. Die Objekterkennung ist schließlich high-level Verarbeitungen im infratemporalen Kortex vorbehalten, in dem Informationen zu Objekten (etwa Teil-Ganzes-Informationen) unabhängig vom Betrachterstandpunkt gespeichert werden. Diese obere Ebene enthält vor allem Konzeptualisierungen, die sich als strukturierte Beschreibungen charakterisieren lassen. Sollte sich herausstellen, daß die Prozesse zur Verarbeitung mentaler Bilder wesentlich durch diesen Bereich beeinflußt werden, dann ist zu vermuten, daß sie bildhaft eher im metaphorischen Sinne sind. Die Piktoralisten tendieren daher dazu, mentale Bilder mit den Aktivierungsmustern im primären visuellen Kortex zu identifizieren. Das würde aber vermutlich nicht alle Arten mentaler Bildlichkeit umfassen. Viele Phänomene mentaler Bilder scheinen anspruchsvoller zu sein, so daß sie Verarbeitungsprozesse zumindest der extrastriären Areale, vermutlich sogar der high-level Aspekte (also konzeptuelle Interpretationen), einschließen.17 Mentale Bilder müßten dann bereits als interpretierte Einheiten gelten, die beispielsweise eine nachträgliche Neuinterpretation (etwa bei Vexierbildern) erheblich erschweren.

16 Vgl. S. Kosslyn: Image and Brain (Cambridge, Mass. 1996); V. Gottschling: Mental Pictures: Pictorial? Perceptual? In: Bildwissenschaft zwischen Anwendung und Reflexion, hg. von K. Sachs-Hombach (Köln 2005) 299–316. 17 Vgl. V. Gottschling: Mental Pictures, a. a.O. [Anm. 16] 299–316.

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Wahrscheinlich ist nach dem Gesagten, daß mentale Bilder eine Mischform darstellen, in der sensorische Daten immer in mehr oder weniger interpretierter Form vorliegen. Ausgehend von Kosslyns Modell ist dann zu fragen, in welchem Ausmaß die sensorischen Repräsentationen von high-level Informationen abhängen und bestimmt werden. Wie diese Antwort auch immer ausfällt, die derzeitigen Befunde lassen es unwahrscheinlich erscheinen, daß mentale Bilder in einem anspruchsvollen Sinn als Bilder im engen Sinn verstanden werden können. Insofern aber eine Beziehung zu den für die Wahrnehmung wichtigen Verarbeitungsmechanismen im primären visuellen Kortex weiterhin eine wichtige Rolle spielt, können sie als Bilder im weiten Sinne gelten.

V. Bild als anthropologische Kategorie Die Ausführungen zum engen Bildbegriff sollten zeigen, daß sich wahrnehmungstheoretische und zeichentheoretische Erwägungen nicht widersprechen, sondern zwei konstitutive Aspekte der Bildpraxis darstellen. Die besondere Bedeutung, die der Zeichenbegriff hierbei erhält, legt die Annahme nahe, daß der Gebrauch von propositionaler Sprache und der Gebrauch von Bildern wesentlich enger miteinander zusammenhängen, als gemeinhin angenommen wird. Es ist sogar möglich, daß eine gegenseitige logische Abhängigkeit von Sprach- und Bildfähigkeit besteht. Dies würde die eigentlich anthropologische Dimension der Bilder ausmachen.18 Sie würde darin bestehen, daß Wesen, die Sprache gebrauchen, notwendig mit Bildern umgehen können müssen, und umgekehrt Wesen, die Bilder gebrauchen, notwendig sprachbegabte Wesen sind. Abschließend möchte ich diese beiden Richtungen einer solchen begrifflichen Abhängigkeit skizzenhaft erläutern.19 Die eine Richtung der Argumentation wird traditionell als weniger problematisch angesehen: Bildgebrauch setzt Sprachfähigkeit voraus, weil die entsprechenden Wesen fähig sein müssen, zwischen aktueller Erscheinung eines individuellen Gegenstands und dem Gegenstand selbst (zwischen Ähnlichkeit und Gleichheit) zu differenzieren, um so im Bild dargestellte Gegenstände situationsunabhängig zu identifizieren. Sie müssen, mit anderen Worten, in der Lage sein, die aktuelle Erscheinung eines Gegenstandes in der Wahrnehmung regelhaft mit beliebigen vergangenen, zukünftigen, hypothetischen und potentiellen Erscheinungen desselben Gegenstands in ganz anderen Kontexten in

Vgl. Hans Jonas: Homo Pictor und die Differentia des Menschen. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 15 (1961) 161–176; Ferdinand Fellmann: Der Mensch und die Bilder. In: Mitteilungen der TU Braunschweig 26 (1989) 31–34. 19 Vgl. auch Jörg R. J. Schirra, K. Sachs-Hombach: Fähigkeiten zum Bild- und Sprachgebrauch. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2006) 887–905. 18

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Beziehung setzen zu können. Das einzige verläßliche Kriterium dafür ist der Gebrauch von Zeichen mit propositionalem Gehalt. Die Fähigkeit, Bilder zu gebrauchen, kann mithin frühestens bei Wesen auftreten, die eine Fähigkeit zum Gebrauch propositionaler Zeichenkomplexe besitzen. Als wahrnehmungsnahe Zeichen begriffen, sind Bilder also nur im Verhältnis zu propositionaler Sprache begrifflich-systematisch verständlich zu machen. Stimmt die Annahme von der wechselweisen Abhängigkeit von Bild und Sprache, dann muß auch das Umgekehrte gelten: Auch der Gebrauch von propositionaler Sprache wäre nur in direkter begrifflicher Relation zu wahrnehmungsnahen Zeichen und insbesondere zu Bildern zu begreifen. Der wesentliche Gedanke, um diese Annahme plausibel zu machen, ergibt sich aus dem Begriff der Kontextbildung. Um das in einer Proposition behauptete Zutreffen bestimmter Begriffe auf die angegebenen Einzelgegenstände empirisch zu überprüfen, müßte man die aktuelle Verhaltenssituation verlassen und die relevanten Kontexte aufsuchen. Gedanklich ist durch die verfügbaren Schlußverfahren nur eine logische Überprüfung möglich. Im Falle des Bildes wird jedoch eine Verhaltenssituation heraufbeschworen, die als dem erforderlichen Kontext täuschend ähnlich wahrgenommen werden kann. Auf diese Weise werden die senso-motorischen Testroutinen direkt anwendbar. Dieser Kontext ist nicht, wie bei einer rein sprachlichen Kontextbildung, völlig von der aktuellen Situation des Zeichengebrauchs abgetrennt und erlaubt deshalb eine empirische Vergegenwärtigung. Wahrnehmungsnahe Zeichen können also dieser Argumentation zufolge eine Mittlerrolle einnehmen, um uns die Kluft verständlich zu machen, die zwischen Wesen mit situationsabhängigen Signalsprachen und Wesen mit situationsunabhängigen propositionalen Sprachen besteht. Problematisch ist die ausgeführte Ansicht insofern, als die empirischen Zeugnisse darauf hinweisen, daß sich die Fähigkeit zum Sprechen zumindest in rudimentärer Form vor einzelnen Bildrealisierungen herausgebildet zu haben scheint. Gehen wir hiervon aus, ergibt sich in freilich noch sehr spekulativer Weise die Vermutung, daß die gesuchte Vermittlungsrolle ursprünglich von den mentalen Bildern übernommen wurde. Es ist dann letztlich die Kraft einer bildhaften Imagination, die uns den Weg zu einem situationsunabhängigen, propositionalen Sprachgebrauch ermöglicht hat. Die mentalen Bilder sind allerdings, wie dargestellt, keine Bilder im engen Sinne, da sich ihnen keine materiellen Bildträger zuordnen lassen, auf die mehrere Bildnutzer in einer gemeinsamen Zeichenhandlung zugreifen könnten. Es ist hier also eher von einem wahrnehmungsnahen, insbesondere von einem visuellen Vorstellungsvermögen zu reden, das mit einer imaginativen Fähigkeit zu einem die aktuelle Situation transzendierenden Als-ob ausgestattet ist. Wie diese Zusammenhänge zu verstehen sind, wie überhaupt die Bereiche der externen und internen Bilder zusammenhängen und sozial eingebunden sind, all dies wird eine zukünftige Philosophie des Bildes erst noch zu erkunden und im interdisziplinären Verbund methodisch kontrolliert zu erforschen haben.

Martin F. Meyer

Dialog Die allgemeine Noth des Landes ist das Gespräch. Friedrich Schiller

Seit der Antike und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war der Dialog in erster Linie ein Gegenstand poetologischer und literaturwissenschaftlicher Analysen: Er wurde zuerst als Gattung, später auch als Teil der fiktiven Literatur (namentlich des Dramas) verstanden.1 Im 20. Jahrhundert löste sich der Begriff aus dem literaturwissenschaftlichen Diskurs. Mit ›Dialog‹ war fortan ein reales Geschehen gemeint. Die Wirklichkeit dieses Geschehens hieß nun ›das Dialogische‹ – und dieser Ausdruck wurde kennzeichnend für das Dialogverständnis des neuen Säkulums.2 Die Transformation des Dialogbegriffs aus der Sphäre des Fiktiven in diejenige des Realen ist das Thema der vorliegenden Überlegungen. Daß sich mit dieser Transformation ein kategorialer Wandel der Deutung sozialer und kommunikativer Prozesse verband, ist ihre These. Um den Dialog als Realgeschehen zu begreifen, bedurfte es einer Kategorie, die den spezifischen Realitätsstatus des Dialogischen begrifflich absichern konnte. Diese ›Sonderkategorie‹ fand sich im sog. ›Zwischenmenschlichen‹. Der ontologische Eigenwert dieser ›Sonderdimension unseres Daseins‹ wurde durch den Hinweis auf die Unmittelbarkeit der Erfahrung zwischen ›Ich und Du‹ legitimiert. Galt vormals die thematisch vermittelte Einheit der wechselseitigen Rede als Signum des Dialogs, so wurde nun die interpersonale ›Beziehung‹ selbst zum Wesentlichen. Das vermeintlich Unmittelbare dieser Beziehung verklebte den Dialog zu einem räumlich-zeitlich situierten Komplex, einer kommunikativen Monade, deren Bestand bloß akzidentell von dem Moment der sprachlichen Vermittlung abzuhängen schien. Damit ist nicht gesagt, daß es in früheren Zeiten keine realen Dialoge gab. Durchaus aber läßt sich zeigen, daß diese Realität nicht in jene Begrifflichkeit eingeschlossen war, die uns etwas sehen ließ, das dem prämodernen Denken nicht ernsthaft problematisch schien. Es geht hier also um eine hermeneutische Differenz. Diese These wird in drei Schritten vorgetragen: Es wird

Vgl. Rudolf Hirzel: Der Dialog. Ein literaturhistorischer Versuch (Leipzig 1895, Neudr. Hildesheim 1963); Johannes Heinrichs: Art. ›Dialog, dialogisch‹. In: HWPh Bd. 2 (Basel, Stuttgart 1972) 226–229. 2 Ähnlich: Wolfgang H. Pleger: Art. ›Dialog‹. In: Enzyklopädie Philosophie, hg. von Hans J. Sandkühler, Bd. 1 (Hamburg 1999) 255 f.: »Der Begriff D[ialog] ist in der Philosophie des 20. Jh. nicht, wie in der platonischen Philosophie, Thema der Dialektik, sondern einer dialogischen Philosophie, einer Dialogik, einer Argumentations-, Kommunikations- oder Gesprächstheorie.« 1

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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gezeigt, daß es so war, warum es so war und welche Folgen dies hatte: Zuerst wird der Transformationsprozeß beschrieben (I); dann werden Bedingungen zu seiner Erklärung angeführt (II); schließlich die Folgen des Begriffswandels behandelt (III).

I Die Transformationsthese besagt, daß im 20. Jahrhundert statt des fiktiven Geschehens nun das reale Dialoggeschehen in den Blick kommt. Es ist also zunächst über den poetologischen Diskurs (1), dann über die realistische Dialogauffassung (2) zu reden. 1. Wenn gesagt wurde, der Dialogbegriff sei seit der Antike in einen poetologischen Diskurs eingelassen, so ist zu fragen: Wie ist es dazu gekommen und warum wurde das reale Gespräch, das es in der Antike doch zweifellos gab, nicht als solches wahrgenommen – oder, vorsichtiger formuliert, nicht terminologisch fixiert? Das Substantiv διáλογος geht sprachgeschichtlich auf die aktive Verbform διαλéγειν zurück. Dem Medium διαλéγεσθαι folgte kein eigenes Substantiv. Ursprünglich meint λéγειν soviel wie ›etwas in eine Reihe lesen‹.3 Das Präfix διà qualifiziert dieses Lesen als ›aussondern‹, ›auseinander lesen‹, ›aussuchen‹ oder ›zergliedern‹. Im Medium ›zergliedert‹ der Akteur ›etwas für sich‹, er ›legt sich etwas auseinander‹ oder ›untersucht es für sich‹. In diesem Sinne begegnet das Wort schon in der Ilias. Es steht hier in einer fünfmal stets wortgleichen Formel: »Aber warum erwog (διελéξατο) mein Herz nur solche Gedanken«.4 Vor seinem letzten Kampf zweifelt Hektor, ob er nicht besser fliehen solle. Die untergründige Fluchtneigung beunruhigt ihn. In einer an sich selbst gewandten Rede fragt er, warum sein θωμóς sich in dieser Weise ›zergliedert‹ – ihm also zu dieser Absonderung rät. Bei Herodot befiehlt Xerxes, jemanden vom Heer »auszusuchen«. διαλéγειν meint hier ›erlesen‹ oder ›aussondern‹.5 Derselbe Passus enthält auch den Infinitiv διαλéγεσθαι: Niemand will sich mit Perianders (abgesondertem) Sohn »unterreden«.6 Demokrit sagt, es sei »göttlichen Geistes, stets etwas Schönes zu erörtern« (διαλογíζεσθαι καλóν).7 In Platons Werk begegnet διαλéγεσθαι an mehr als siebzig Stellen: Die sachliche Problemerörterung steht

3 Vgl. Wolfgang Schadewaldt: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen (Frankfurt a.M. 1978) 370: »Das Wort logos hängt zusammen mit dem lateinischen legere, ›sammeln‹, ›lesen‹, ›erlesen‹. Ebenso auch griechisch in der alten Zeit, etwa Ilias XXIV, 793 für das Herauslesen der Gebeine des Toten aus der Asche nach der Verbrennung; so öfters bei Homer.« Vgl. auch: 182–188. 4 Homer: Ilias XI, 407; vgl. XVII, 97; XXI, 562; XXII, 122; XXII, 385: λλà τí  μοι τατα φíλος διελéξατο θωμóς. Sprecher sind (in Reihenfolge der Angaben): Odysseus, Menelaos, Agenor, Hektor bzw. die anonymen Schänder von Hektors Leiche. 5 Herodot: Hist. III, 121. 6 Ebd. III, 52. 7 Demokrit: Frg. 68 B 112.

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hier ausnahmslos im Vordergrund. Dem ›Sich-unterreden‹ ist eher äußerlich, ein ›Dialog‹ zu sein.8 Das bloße Zusammensein (σωνοωσíα) oder der Verkehr (μιλíα) mit anderen ist für diese themenzentrierte Analyse so selbstverständlich wie akzidentell.9 Nur selten beschreiben Platons Figuren ihre Unterredungen als einen διáλογος.10 Stets könnte hier ›Untersuchung‹ oder ›Erörterung‹ übersetzt werden. Daß Platon das Denken selbst als διáλογος bezeichnet,11 erhellt, daß der Dialog – hierin dem Gedanken (διáνοια) verwandt – weder räumlich-zeitlich noch interpersonal situiert ist. Ebenfalls weist die Bestimmung der Dialektik in diese Richtung.12 Dialogische Analysen haben weder einen exakt bestimmbaren räumlichen Anfang noch ein zeitlich genau fixierbares Ende. Der Dialog, so wie Platon ihn versteht, wird oft vor dem dramatischen ›Gespräch‹ begonnen; er läuft weiter, wenn das räumlich-zeitliche ›Miteinander‹ der dramatis personae längst disloziert ist. So gehört das situative Moment bei Platon allenfalls akzidentell zum Dialog; Definiens ist die im Medium des λóγος zu vollziehende Analyse von philosophischen Problemen.13 Erst im Medium der Schrift gewinnt die Erörterung eines Themas räumliche Gestalt. Texte haben einen exakt bestimmbaren Anfang und ein genau definiertes Ende. Texte sind Kunstprodukte, griechisch verstanden Resultate der ποιητικ τéχνη. Als Aristoteles die Sokratischen Logoi als eigene Textgattung qualifizierte,14 hatten sich bereits zahlreiche Autoren an einer je eigenen Sokratesdarstellung versucht.15 Einige von ihnen hatten sich zudem früh von einer ›realistischen‹ Darstellung abgewandt, um statt der (anfänglich zu Erinnerung

8 R. Hirzel, a. a.O. [Anm. 1] bemerkt zu Resp. 354 d: »Da aber Sokrates kurz vorher nur von seiner Untersuchung spricht, ohne auf die Betheiligung des Thrasymachos daran Gewicht zu legen, so scheint es [sc. das Gespräch] vielmehr in der Bedeutung von ›Erörterung‹ überhaupt gefaßt werden zu müssen.« 9 Daß das ›Miteinander‹ für die sachliche Erörterung eher akzidentell ist, heißt keineswegs, daß Platon seine Szenarien (Personen, Orte, Zeitangaben) zufällig arrangiert. Daß diese Arrangements bewußt inszeniert sind, bedeutet wiederum nicht, daß sie auch realen Gegebenheiten entsprechen: Der Gorgias enthält elf einander widersprechende Zeitangaben; ein Treffen zwischen Parmenides und Sokrates hat nie stattgefunden, etc. 10 Platon: Lach. 200 e; Prot. 335 d; Resp. 354 c. 11 Ders.: Soph. 263 e bzw. 264 a. 12 Ders.: Resp. 531 c–535 a; Phaidr. 265 e–266 c. 13 Vgl. W. H. Pleger: Sokrates. Der Beginn des philosophischen Dialogs (Reinbek bei Hamburg 1998) 193–202. 14 Aristoteles: Poetik 1447 b 11; Rhet. 1417 a 20. 15 Vor Aristoteles haben außer Platon Antisthenes, Aischines, Aristipp, Phaidon, Simon, Glaukon, Simmias, Kebes, Kriton und Xenophon sokratische Dialoge verfaßt. Antisthenes war vermutlich der Erfinder der Gattung; vgl. Hirzel, a. a.O. [Anm. 1] 2–173; Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Platon (Berlin 51959) 98 ff.; Klaus Döring: Der Sokrates des Aischines von Sphettos und die Frage nach dem historischen Sokrates. In: Hermes 112 (1984) 16–30; ders.: Der Sokrates der platonischen Apologie und die Frage nach dem historischen Sokrates. In: Würzburger Jahrbücher für Altertumswissenschaft 13 (1987) 75–95; Charles Kahn: Plato and the Socratic Dialogue. The philosophical use of a literary form (Cambridge 1996) 1–35.

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gedachten) ›Notizen‹ eine kunstvollere Inszenierung ins Bild zu setzen.16 Mit dieser Wende vom bloßen Sokrates-Bericht zur Sokrates-Fiktion war dem Dialog sein Ort im poetologischen Diskurs vorbestimmt. Aristoteles spricht zwar noch nicht von ›Dialogen‹.17 Seine Subsumtion der Sokratestexte als ›Form‹ bewirkte indes, diese später wie Theaterwerke zu lesen – und (bis heute folgenreich) auch so zu edieren. Die Dialogschreiber ließen Sokrates allerdings bald als Hauptfigur fallen: Man stellte Diogenes ins Zentrum, schrieb (wie Eudoxos) fiktive Hundegespräche (κωνẁν διáλογοι), verlegte die Handlung nach Troja oder übereignete (wie Herakleides) dem Papyrus die Ansichten eines vom Mond auf die Erde gefallenen Mannes. Abseits vom Theater entstand eine literarische Form, die an ein weit verstreutes, stetig wachsendes Lesepublikum adressiert war. Wann genau (ob etwa schon in der hellenistischen Grammatik) sich ›Dialog‹ als poetologischer terminus technicus etablierte, ist nicht geklärt. Die an den Text gebundene dramatische Dialogauffassung ist spätestens bei Diogenes Laertius belegt: »Der Dialog ist eine sich in Frage und Antwort abspielende Ausführung eines philosophischen oder politischen Themas unter angemessener Charakteristik der auftretenden Personen und gehöriger Rücksicht auf die sprachlichen Anforderungen.«18 Diogenes unterstreicht den Aspekt der szenischen Aufführung. Der Dialog war nun endgültig der Sphäre des Fiktiven zugeschlagen. Die Ausgrenzung der Poetik aus dem Fächerkanon der septem artes liberales erschwerte eine Integration des Dialogbegriffs in die Geisteskultur des frühen Mittelalters: Augustinus hatte noch Dialoge verfaßt. In den folgenden Jahrhunderten ebbte diese Tradition dann ab. Einen Wendepunkt markieren die lateinischen Übersetzungen der aristotelischen Poetik.19 Die Renaissance insbes. der platonischen Tradition, die (begeistert aufgenommene) Editio princeps der aristotelischen Poetik (1508), die Aversion der Humanisten gegen scholastische Darstellungsformen, nicht zuletzt die Option gefährdeter Autoren, sich hinter ihren Dialogfiguren verbergen zu können, bedingten eine erhebliche Steigerung der Dialogproduktion.20 Folgenreich war überdies, daß (entweder durch ÜberVgl. M. F. Meyer: Form und Inhalt des platonischen Dialogs, in: ders. (Hg.): Zur Geschichte des Dialogs. Philosophische Positionen von Sokrates bis Habermas (Darmstadt 2006) 27–39, insbes. 29–33. 17 Aristoteles bezeichnet seine eigenen (erst also später so genannten) Dialoge (in denen er selbst als Sprecher auftritt) nie als Dialoge; vgl. dazu: Jacob Bernays: Die Dialoge des Aristoteles in ihrem Verhältnisse zu seinen übrigen Werken (Berlin 1863). 18 Diogenes Laertius III, 48. 19 Daß sich das Wiederaufleben des Dialogs v. a. der Übersetzung der Aristotelischen Poetik verdankt, zeigt sich daran, daß Abaelard seine Gespräche noch unter dem Titel Collationes publizierte, während Ockham sich des (nun latinisierten) Dialogus als Titel bediente, vgl. dazu: Jörn Müller: Philosophie und Theologie im Dialog über die rechte Lebensführung: Abaelards Collationes, in: M. F. Meyer, a. a.O. [Anm. 16] 78–90; Jürgen Goldstein: Die Wiederentdeckung der politischen Philosophie in Ockhams Dialogus; in: M. F. Meyer, ebd. 91–102. 20 Vgl. Norbert Herold: Dialogisches Denken in der frühen Renaissance; in: M. F. Meyer, 16

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setzungsfehler oder falsche Abschrift) ›dialogus‹ nun teils auch als ›dyalogus‹ notiert, d. h. als ›Zwiegespräch‹ verstanden wurde. Das Kriterium der Personenzahl erklärt, warum John Wyclif oder Nikolaus von Kues ihre Dreiergespräche als ›trialogus‹ verstanden wissen wollten. Die Unterscheidung von Zweier- und Dreiergesprächen war vielleicht ein Grund für die Kreation des (dem Altgriechischen unbekannten) Kunstwortes ›Monologos‹ zu Anfang des 16. Jahrhunderts. Der ›Dialog‹ wurde nicht länger allein als Gattungsbegriff, sondern auch (in Opposition zum Monolog) als Partie des Dramas verstanden.21 In der Dramentheorie v. a. des 18. Jahrhunderts und der Goethezeit22 entzündete sich eine Debatte über das (ästhetisch) richtige Verhältnis zwischen Monolog und Dialog im Theater, die in den entsprechenden Handbüchern23 ihren definitorischen Niederschlag fand. Die von der Bühnensituation getragene Vorstellung hat zweifellos den Blickwinkel für das Realgeschehen des Dialoges geöffnet. Vorerst aber, und mindestens bis zu Dilthey, bleibt es dabei, daß der Dialog eine »Kunstform« ist.24 2. Wie nun wird aus diesem künstlichen der reale Dialog? Daß der Dialog im 20. Jahrhundert als ein Realgeschehen begriffen werden konnte, ist Martin Buber und den sog. ›Dialogikern‹ geschuldet. Buber spricht zwar erst spät von einem »wirklichen Gespräch«.25 Bereits aber in seiner Frühschrift Daniel (1913) war das später sog. »dialogische Prinzip« in nuce angelegt.26 Den »ersten vollen

a. a.O. [Anm. 16] 103–124; Angelika Bönker-Vallon: Der Dialog im Zeichen der kopernikanischen Wende. Giordano Bruno und Galileo Galilei. In: M. F. Meyer, ebd. 125–138; Rudolf Lüthe: Verwirrspiele. Themen, Argumente und Gesprächstrategien in Humes Dialogues Concerning Natural Religion. In: M. F. Meyer, ebd. 139–149. 21 Vgl. Friedrich Düsel: Der dramatische Monolog in der Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts und in den Dramen Lessings (Hamburg 1897, Neudr. Nendeln/Lichtenstein 1977) 7–12. 22 Vgl. etwa: Johann Jakob Engel: Über Handlung, Gespräch und Erzählung (1774, Neudr. Stuttgart 1964); Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie (insb. ›Unterbrechungen im Dialog‹). Werke Bd. 4: Dramaturgische Schriften (Darmstadt 1996) insb. 229–719; Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, § 60. Werke, 1. Abt., Bd. 5 (München 1963) 226; Joseph von Sonnenfels: Briefe über die Wienerische Schaubühne (Wien 1768) 649f.; Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Die Poesie. Werke Bd. 15 (Frankfurt a.M. 1971) 278. 23 Vgl. Karl Heinrich Ludwig Pölitz: Das Gesamtgebiet der teutschen Sprache nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit theoretisch und praktisch dargestellt. Dritter Band. Sprache der Dichtkunst (Leipzig 1825) 448–451 über ›Dialog und Monolog‹; Otto Friedrich Gruppe: Ariadne: Die tragische Kunst der Griechen in ihrer Entwickelung und in ihrem Zusammenhange mit der Volkspoesie (Berlin 1834); Karl Georg Högelsberger: Das Gesamtgebiet der deutschen Sprachwissenschaft im Abriß (Wien 1859) 381–386; Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (Conversationslexikon) in 12 Bänden, 9. Bd. (Leipzig [Brockhaus] 81836) Art. ›Schauspiel‹, 718–724. 24 Vgl. Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften, Bd. 1 (Göttingen 91990) 180. 25 Vgl. Martin Buber: Das Problem des Menschen [zuerst 1943 hebr.]. Werke Bd. 1: Schriften zur Philosophie (Heidelberg 1962) 404. 26 M. Buber: Daniel. Gespräche der Verwirklichung. Werke, ebd. Bd. 1. Gleich im Eingang heißt es: »Damals erschien mir das Gespräch. Denn wie jener Stab ist die Rede des Menschen,

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Durchbruch« zum neuen Dialogbegriff sah Buber später in Hermann Cohens Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919). Den weiteren Begriffsweg schildert Johannes Heinrichs: »Wenig später erscheinen, unabhängig voneinander und doch in erstaunlicher Übereinstimmung […] die Schriften der eigentlichen ›Dialogiker‹: F. Ebners pneumatologische Fragmente unter dem Titel Das Wort und die geistigen Realitäten (1921), F. Rosenzweigs Der Stern der Erlösung (1921) und M. Bubers Ich und Du (1923). Ebner ›geht aus von der Erfahrung der ›Icheinsamkeit‹ in jenem existentiellen Sinn, den sie in unserer Zeit gewonnen hat … Von hier aus vertieft er sich […] in das Mysterium der Sprache als der ewig neuen Setzung des Verhältnisses zwischen dem Ich und dem Du. Er bekennt sich […] als einer, der das Du im Menschen nicht zu finden vermochte‹ (Buber). Vom D[ialog] ist bei Ebner unmittelbar weniger die Rede als vom Wort als der Realität schlechthin […]. Sein an sich antisystematisches Denken gewann durch F. Gogartens Ich glaube an den dreieinigen Gott rasch Einfluß auf die Theologie. Anders versucht F. Rosenzweig […] jüdischen Glauben und Kult von einem Neuen Denken her am Leitfaden der Sprache zu durchdringen. M. Buber hat dem dialogischen Denken die zugänglichste und auch die phänomenal reichste Ausgestaltung gegeben. Die grundlegende Unterscheidung von IchDu-Welt und Ich-Es-Welt, die Analyse der Zeitlichkeit der Begegnung als ›Gegenwart‹, der Begriff des dialogischen Wirkens […], die versuchte Einbeziehung der Natur und der Gegenstandswelt in die Beziehungswelt, vor allem der Begriff des ›Zwischen‹ als des in Gegenseitigkeit […] ereignishaft konstituierten Sinnes sind originale Leistungen Bubers. Hand in Hand mit dem phänomenologischen Aufweis des Dialogischen als der Wirklichkeit im eigentlichen Sinne geht es ihm wie den anderen Dialogikern um die ›Verwirklichung‹.«27 Die Verwirklichung des Dialogs hat ihren Ausgang in Bubers Ich und Du. Alles Gewicht liegt hier auf der interpersonalen Beziehung: »Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. […] Vor der Unmittelbarkeit der Beziehung wird alles Mittelbare unerheblich. […] Im Anfang ist die Beziehung.« Das neue Realium wird durch »Gegenwärtigkeit, Begegnung, Beziehung« konstituiert.28 In dem Aufsatz Zwiesprache (1930) faßt Buber die »menschliche Zwiesprache« erstmals expressis verbis als »Dialog«. Die Begrifflichkeit ist noch ganz in der Vorstellungswelt der Dramentheorie verhaftet: Buber spricht von einer »Vermengung« von Dialogischem und Monologischen. Die Unmittelbarkeit der nun als ›dialogisch‹ qualifizierten ›Beziehung‹ verleitet Buber zu einem Absehen von jeder sprach-

wo immer sie echte Rede, und das heißt: wahrhaft zugewandte Rede ist.« Den Stab, von dem hier die Rede ist, hatte der Erzähler zuvor gegen einen Eschenstamm gedrückt: »Da fühlte ich zwiefach meine Berührung des Wesens: hier wo ich den Stock hielt, und dort, wo der Stab die Rinde traf. Scheinbar nur bei mir, fand ich dennoch dort, wo ich den Baum fand, mich selber.« (11) 27 J. Heinrichs, a. a.O. [Anm. 1] 228. 28 M. Buber: Ich und Du. Werke Bd. 1, a. a.O. [Anm. 25] 85, 90, 86.

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lichen Vermittlung: Sogar das »mitteilende Schweigen« wird ins Dialogische integriert.29 Der Dialog ist nun vollends auf die Unmittelbarkeit der zwischenmenschlichen Beziehung reduziert. Aus der Perspektive dieser (in »wortloser Tiefe« gründenden) kommunikativen Monade erscheint alle Vermittlung nur als Systemumwelt. Entscheidend kommt es darauf an, daß Buber das »Zwischenmenschliche« als »Sonderkategorie«, als eine »Sonderdimension unseres Daseins«, begreift – als Kategorie, die insbes. das Soziale erklären und deuten helfen soll.30 Mit dieser Wendung konstituiert sich das Dialogische als Wirklichkeit sui generis.

II Wie läßt sich die Transformation des Dialogbegriffs erklären? Abgesehen von dem allgemeinen (aber schwer faßbaren) Unbehagen an den zu Anfang des 20. Jahrhunderts neuen Medien (Telefon, Kino, Radio, Schallplatte), die mit dem unmittelbaren Kommunikationsgeschehen konkurrierten (dieses Unmittelbare also erst kategorial bewußt und recht ›eigentlich‹ machten), lassen sich drei Erklärungslinien für den Transformationsprozeß skizzieren: Der Schwund der Dialogform in Philosophie und Wissenschaft (1); Schleiermachers Platonübersetzung (2); der (von den Dialogikern selbst beschriebene) Versuch einer Lösung des Intersubjektivitätsproblems (3). 1. Die Philosophie des 20. Jahrhunderts präsentiert sich nur ausnahmsweise in jener literarischen Dialogform, die dem Fach einst den Weg gebahnt hatte. War das Zurücktreten des Dialoges in der Antike dem Stil des Isokrates und »dem goldenen Redefluß des Aristoteles« (Cicero) geschuldet,31 so begünstigten seit der Neuzeit neue Formen wie Essai, Diskurs,32 Traktat, Aphorismus oder Brief die allmähliche Verdrängung der Dialogform. Bereits die Klassiker der deutschen Philosophie (Kant, Fichte, Hegel und Schelling33) schreiben keine Dialoge mehr. Bei Schleiermacher und Hegel beginnt zwar die erste philosophische Reflexion auf die Dialogform, ihre eigene Textproduktion scheut aber dieses Medium. Mit dem frühen Positivismus, aber auch bei Schopenhauer und Nietzsche festigt sich die Abkehr vom Dialog. In der deutschen Universitätsphi-

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Ebd. 175 f. M. Buber: Elemente des Zwischenmenschlichen [1954]. Werke, a. a.O. [Anm. 25] Bd. 1,

267. Vgl. Heinrich Niehues-Pröbsting: Die antike Philosophie (Frankfurt a.M. 2004) 38–90. Vgl. Peter Kohlhaas: Diskurs und Modell. Historische und systematische Aspekte des Diskursbegriffs und ihr Verhältnis zu einer anwendungsorientierten Diskurstheorie, in: HeinzUlrich Nennen (Hg.): Diskurs. Begriff und Realisierung (Würzburg 2000) 27–56. 33 F. W. J. Schelling verfaßte 1810 zum Gedenken an seine im Vorjahr verstorbene Frau Caroline einen kleinen (eher privaten) Dialog Clara oder über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt; vgl. dazu: Hans M. Baumgartner, Harald Korten: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (München 1996) 20. 31 32

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losophie vor dem zweiten Weltkrieg (Dilthey, Neukantianismus, Husserl, Heidegger) findet sich kein einziges in Dialogform geschriebenes Werk. Auch bei Wittgenstein, und ebenfalls in der Nachkriegszeit (in der Frankfurter Schule, bei Bloch, Gadamer, Blumenberg, Habermas, Luhmann, Patzig, Mittelstraß u. a.), sucht man vergeblich nach Dialogen. Ein analoger Befund ergäbe sich auch für den anglo-amerikanischen und den französischen Sprachraum. Erst seit den siebziger Jahren kommt es zu einer Mikrorenaissance des philosophischen bzw. wissenschaftlichen Dialogs.34 Etwas überspitzt läßt sich sagen, daß der literaturwissenschaftlichen Dialogforschung (sofern diese sich nicht auf das Drama kaprizierte) ihr Gegenstand abhanden gekommen war. Der Dialog mußte gewissermaßen woanders gesucht und gefunden werden. 2. Friedrich Schleiermachers fulminante Übersetzung fast aller platonischen Schriften (1801–1828) hat die Platonhermeneutik bis in die Gegenwart hinein beeinflußt. Oben war deutlich geworden, daß διαλéγεσθαι, διαλéγειν und διáλογος von Platon selbst vielleicht anders übersetzt worden wären. Hier kommt es darauf an, daß der von Schleiermacher favorisierte Terminus des ›Gesprächs‹ zu seiner Zeit keineswegs eindeutig konnotiert war. Der Ausdruck ›Gespräch‹ (von ›Gespr[a]eche‹, dem Gesprochenen) hatte im 19. Jahrhundert ein noch weites Spektrum an Bedeutungen.35 Schleiermachers Übersetzung von διáλογος bzw. διαλéγεσθαι spitzte den deutschen Ausdruck ›Gespräch‹ auf den Sinn von ›Besprechung‹, ›Wortstreit‹ oder ›Unterredung‹ zu. Dies lenkte die Aufmerksamkeit der Leser auf das situative und interpersonale Geschehen. Ebenfalls in Schleiermachers Übersetzung von διαλεκτικ τéχνη als ›Gesprächskunst‹ trat das Vermittelnde der sprachlichen Analyse hinter die situativen Momente zurück. Das Gespräch unterschied sich zwar durch seine thematische Zentriert-

Drei Beispiele: Josef M. Jauch: Die Wirklichkeit der Quanten. Ein zeitgenössischer galileischer Dialog. Vorwort von Carl Friedrich von Weizsäcker (München 1973 [engl. Original: Indiana 1973]), führt in bewußter Anlehnung an Galilei (mit denselben Gesprächspartnern) einen Disput zwischen klassischer Physik und Quantenmechanik vor. – Martha C. Nussbaum: Aristotle, De motu animalium (Princeton 1978) fügt in ihre meisterliche Interpretation einen kurzen Dialog zwischen Demokrit und Aristoteles ein, der dem Nachweis dient, daß rein materialistische Erklärungen auf dem Gebiet der Lebenswissenschaft durch finale (meint hier: funktionale) Erklärungen ergänzt werden müssen. – Ernst Tugendhat: Dialog in Leticia (Frankfurt a.M. 1997) führt in einem mehr oder minder erfundenen Dialog die Gedanken seiner Vorlesungen über Ethik (1993) fort. Der Dialog behandelt Fragen der Moralbegründung und plädiert für ein egalitaristisches Gerechtigkeitskonzept. 35 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch (Leipzig 1854–1960) Bd. 5: Eintrag ›Gespräch‹, Sp. 4161–4166: Hiernach ist das Gespräch das Vermögen und die Fähigkeit zu sprechen, die Sprache; die einer Person bzw. einer Gruppe typische Art zu sprechen; das Sprechen eines einzelnen als Rede; die Besprechung, Unterredung, Verhandlung oder Beratung; die beratende Versammlung; das Ergebnis einer Beratung, die Satzung; Rede, Widerrede und Wortstreit; literarisch: das Buch als Gesprächsform; die Unterredung zweier oder mehrerer Personen, namentlich in zwangloser Unterhaltung; verächtlich: das Geschwätz; Rede i. S. v. Gerücht; den Gegenstand der Unterhaltung. 34

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heit von der (dem zeitgenössischen Kommunikationsideal36 gemäß) bewußt dezentriert zu führenden Konversation. Den Worten selbst indes war dies nicht anzusehen: Noch bei Hirzel gelten Dialog und Konversation als Unterformen des Gesprächs. Schleiermacher begünstigte so eine Lesart Platons, welche die dramatischen Effekte in den Vordergrund stellt. Da Platons Texte ihrer Form nach als Dialoge gelesen wurden, wurde bald auch ihr Inhalt, die sokratischen ›Gespräche‹, als Dialog gedeutet. Die literarische Form wurde zum Signum des Inhalts – eines Inhalts zumal, der im Zuge der (von der Philologie aufgeworfenen) sog. ›Sokratischen Frage‹ auf seine Historizität hin abgeklopft wurde. Die Frage nach dem echten und authentischen Sokrates ließ mithin auch das reale (historische) Geschehen als ›Dialog‹ erscheinen. Die Form wurde zu einem Inhalt, der infolge der Schleiermacherübersetzung als interpersonal situierte Angelegenheit aufgefaßt werden konnte. Von hier aus war es nur noch ein kleiner Sprung, auch das reale Geschehen selbst als Dialog zu begreifen. 3. In seiner Geschichte des dialogischen Prinzips reflektiert Buber rückblikkend auf den Problemhorizont, vor dem sich die eigene philosophische Konzeption abzeichnete. Etwas vergröbert handelte es sich dabei um die Frage, wie das als absolut gesetzte Ich überhaupt einem andern Ich Sein und Realität zuerkennen kann. Buber sieht eine erste Antwort bei Jacobi artikuliert, der in einem Brief an Lavater die Unzertrennlichkeit von Ich und Du bemerkt hatte. Jacobis »reife Formulierung« habe gelautet: »Ohne Du ist das Ich unmöglich.«37 Erst bei Feuerbach aber sei der »Mensch für sich als Mensch« begriffen.38 Feuerbachs Fehler, diese Identität durch eine Beziehung des menschlichen Ich mit dem göttlichen Du zu vermitteln, habe Kierkegaard korrigiert, indem er den Menschen mit seiner Kategorie »Der Einzelne sein« erkannt habe. Hierdurch indes habe sich eine »Seinskluft zwischen Du und Du« aufgetan. Diese »Seinskluft« zu schließen, sei das Anliegen (des späten) Cohen, Rosenzweigs, Ebners und schließlich sein eigenes gewesen. Dieser Weg führte von der Anrede des (jüdischen) Du-Gottes zum Du-Menschen: »Wir hatten erkannt, daß eben dasselbe Du, das von Mensch zu Mensch geht, eben dasselbe ist, das vom Göttlichen her zu uns niederfährt«.39 Die kleine Skizze zeigt, daß Buber sich vom Dialogischen

Vgl. Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798] § 61, BA 174. Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe Bd. 7 (Berlin 1907) 234: »Unterredungen, die wenig Wechsel der Vorstellungen enthalten, heißen langweilig, eben hiemit auch beschwerlich, und ein kurzweiliger Mann wird, wenn gleich nicht für einen wichtigen, doch für einen angenehmen Mann gehalten […]«. Zu Kant vgl. Birgit Recki: ›An der Stelle [je]des anderen denken‹. Über das kommunikative Element der Vernunft bei Kant. In: M. F. Meyer, a. a.O. [Anm. 16] 150–161. Zum Begriff der Konversation vgl. Claudia Schmölders (Hg.): Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie (München ²1986). 37 Friedrich Heinrich Jacobi: Brief an einen Unbekannten vom 16. 10. 1775. Briefwechsel Bd. I, 2 (Stuttgart-Bad Cannstatt 1983) 27; vgl. Buber: Werke Bd. 1, a. a.O. [Anm. 25] 293. 38 Buber, ebd. 294. 39 Ebd. 301. 36

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eine Überwindung des Intersubjektivitätsproblems erhoffte. Der Schritt, der Unmittelbarkeit der Dialogbeziehung den Status einer ›Sonderkategorie‹ zuzuerkennen, verweist auf theologische Motive. Es ist bezeichnend, daß Buber Hegels Kritik der kantischen Ich-Setzung einfach übergeht. Der eigentliche Ausgangspunkt dieses philosophischen Problems, der cartesische Dualismus, wird erst gar nicht hinterfragt. Insofern bleibt dieser Lösungsversuch notwendig in den Aporien der Subjektphilosophie gefangen; in einem tieferen Sinne verschärft er sie sogar noch. Dieser Punkt kann hier nicht weiter verfolgt werden. Hier ging es allein um den Erweis, daß Buber erstens selbst den Denkweg der Dialogiker im Kontext des Intersubjektivitätsproblems begriffen hat, zweitens dieser Lösungsversuch in die Konstruktion der neuen ›Sonderkategorie‹ des Unmittelbaren der dialogischen Beziehung eingemündet ist.

III Abschließend ist von den Folgen des genannten Transformationsprozesses zu reden. Die gewaltige Literatur zum Thema des Dialogs, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist, ist kaum zu überblicken. Es ist vielleicht sinnvoll, eine eher praktische (1) von einer eher theoretischen Dimension (2) zu unterscheiden. 1. Weitreichende Bedeutung hat das Prinzip des Dialogischen auf den Feldern der praktischen Wissenschaften erlangt. Im Anschluß an Bubers Reden über Erziehung (1925) entwickelte sich bei Romano Guardini, Josef Derbolav und Otto Friedrich Bollnow eine »Pädagogik der Begegnung«.40 In Gesprächen mit Carl R. Rogers (1957) gab Buber Impulse zur Fortbildung von dessen Gesprächstherapie. Für Rogers war es wichtig, seinen Ansatz einer humanistischen Psychologie, die sich von Begriffen wie Begegnung, Interaktion, Echtheit und Empathie leiten ließ,41 auch für Pädagogik und Didaktik fruchtbar zu machen.42 In einem analogen Sinne hat das von Ruth Cohn entwickelte Modell der »themenzentrierten Interaktion« auf Lerntheorien und Didaktiken gewirkt.43 In den pädagogischen Subdisziplinen Sozial-, Heil- oder Sonderpädagogik scheinen dialogische Ansätze heute unverzichtbar.44 Mit dem Eindringen der dialogischen

Vgl. dazu: Heinz-Horst Schrey: Dialogisches Denken (Darmstadt 1983) 113–128. Vgl. Jobst Finke: Empathie und Interaktion. Methodik und Praxis der Gesprächspsychotherapie (Stuttgart, New York 1994); Wilfried Datler, Toni Reinelt (Hgg.): Beziehung und Deutung im psychotherapeutischen Prozeß (Berlin, Heidelberg 1988). 42 Vgl. Helmut Quitmann: Humanistische Psychologie (Göttingen 1985) 124–174. 43 Vgl. ebd. 175–204. 44 Vgl. Peter Rödler: Dialog-orientierte Pädagogik: Pädagogik für Schüler – Sonderpädagogik für Lehrer. In: Emil E. Kobi u. a. (Hgg.): Zum Verhältnis von Pädagogik und Sonderpädagogik (Luzern 1984, 66–70); ders: Dialogische Pädagogik mit ›Autisten‹ – Paradox? Möglich? Voraussetzung! In: Familie, Schule und Gesellschaft, H. 3/84, 37–42; E. E. Kobi: Heilpädagogik 40 41

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Ideen in Kindergärten, Schulen und Hochschulen ergriff das entsprechende Vokabular nahezu alle Kreise der Gesellschaft: Ausdrücke wie ›Miteinander‹, ›Zwischenmenschliches‹ oder ›Beziehung‹ avancierten zu zentralen Chiffren zur Codierung mikrosozialer Verhältnisse. Die Eliten widerstanden der Verlockung nicht, den von therapeutischen Heilserwartungen genährten Sprachgebrauch metaphorisch zu instrumentalisieren: Heute ist es möglich, in einem Atemzug vom Dialog der Staaten, Kirchen, Religionen oder Kulturen zu reden. Solche Formeln sind Krisensymptome und sollen die stetig komplexere Vermittlung von politischen, exekutiven, juristischen, sozialen, technischen und ökonomischen Entscheidungsprozessen verdecken. Ebenso wie die mediale Inszenierung von Dialogsituationen in Talkshows oder Polit-Talks bedienen sie die (der Intransparenz entspringende) Sehnsucht nach ursprünglicher Unmittelbarkeit. Im Medienbetrieb sinkt der Dialog zur bloßen Ware herab: Argumentative Analysen finden ihren Sendeplatz zur Geisterstunde. Öffentlich-rechtliche Programmdirektoren etikettieren ihren Unterhaltungstrieb als »Infotainment«. Daß auch die Bedienung eines Computers ›Dialog‹ geheißen wird, sagt viel über den realen Status von ›Beziehungen‹ in der Postmoderne. Kein Zweifel: Das Dialogische ist allgegenwärtig. Es gibt Arzt-, Beratungs-, Bewerbungs-, Bewährungs-, Kunden-, Lehrer-Schüler-, politische, religiöse und professorale Gespräche. Zur Einübung der diversen Dialogpraktiken bieten zahllose Ratgeber mehr oder minder seriöse Anleitungen zum ›Gesprächstraining‹.45 Die SPD wirbt für ihre politischen Inhalte auf der Internetseite www.deutschland-dialog.de. Als diese Zeilen geschrieben wurden, riegelten die Chinesen gerade Tibet von der Außenwelt ab; die Kanzlerin forderte einen »friedlichen Dialog«; der chinesische Premierminister ließ erst verlauten »die Tür zum Dialog« mit dem Dalai Lama sei »weiterhin offen«, erklärte aber zugleich, man befinde sich »in einem Kampf auf Leben und Tod«. 2. Parallel zu den Dialogikern entwickelte Karl Bühler 1934 mit seinem »Organonmodell der Sprache« eine Sprachauffassung, die das »Sprechereignis« in den Brennpunkt des linguistischen Interesses rückte.46 Ähnlich wie Buber (aber mit diametral anderen Interessen) betont Bühler den ›Ereignischarakter‹ des Sprechens.47 Bühler spricht zwar nicht von Dialogen. Er hält die »Kausal-

als Dialog. In: Aloys Leber (Hg.): Heilpädagogik (Darmstadt 1980) 61–79; Gerd Iben (Hg.): Das Dialogische in der Heilpädagogik (Mainz ²1991). 45 Vgl. Ernest W. B. Hess-Lüttich: Art. ›Dialog‹. In: Hist. Wb. der Rhetorik, Bd.2 (Tübingen 1994) 606–621. 46 Vgl. Karl Bühler: Sprachtheorie (Stuttgart, New York 1982) 24 ff. 47 Nach Bühler war die Auffassung vom »Sprechereignis« begrifflich durch Alan H. Gardiner The Theory of Speech and Language (1932) und die hier vertretene »Situationstheorie der Sprache« vorbereitet. Auch der Situationsbegriff ist der Dramentheorie entlehnt und durch die Existenzphilosophen (Kierkegaard, Jaspers, Heidegger und Sartre) zu einer Kategorie für die Beschreibung der ›zwischenmenschlichen‹ Wirklichkeit aufgestiegen; vgl. dazu: Uwe Laucken: Art. ›Situation‹. In: HWPh Bd. 9 (Basel, Stuttgart 1995) 923–937.

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betrachtung […] im Gesamtrahmen der linguistischen Analyse der konkreten Sprechvorgänge« aber für »unvermeidlich«.48 Diese Kausalbetrachtung ermöglichte einen naturwissenschaftlich objektivierbaren Zugriff auf das »Sprechereignis«. Durch Vermittlung seines Schülers Paul Lazarsfeld avancierte Bühlers Sprachtheorie (insbes. sein Sender-Empfänger-Modell) nach dem Krieg zu einem zentralen Paradigma der empirischen Gesprächs- und Kommunikationsforschung. Dieser Diskurs hat sich inzwischen weit verästelt: Vielfach überschneiden sich die Gebiete von Medienwissenschaft, Linguistik und Rhetorik. Von der Sprechakttheorie inspiriert forschen insbes. Linguisten nach abstrakten und generalisierbaren Dialogregeln.49 Auch in der Literaturwissenschaft hat das neue Paradigma eine neue Hermeneutik auf den Plan gerufen: Die Analyse der räumlich-zeitlich und interpersonalen Situiertheit der in den Texten enthaltenen Reden und Gegenreden ist längst nicht mehr auf das Drama beschränkt, sondern erstreckt sich auf alle Textsorten.50 Die Transformation des Dialogbegriffs hat mithin gerade jenen Diskurs verändert, aus dem der Begriff einst hervorgegangen war. Zur Blütezeit der dialogischen Bewegung, in den siebziger und achtziger Jahren, entstanden auch philosophische Werke wie Dialogisches Denken51 und sogar eine Dialogische Logik.52 Der Enthusiasmus ist derweil einer nüchternen Analyse gewichen: Die Reetablierung des Diskursbegriffes durch Michel Foucault und Jürgen Habermas nötigte zu der Einsicht, daß abstrakte Machtmechanismen gerade nicht in unmittelbaren Kommunikationsszenarien gründen, bzw. das Programm einer universalistischen Moralbegründung sich gerade durch die weitgehende Unabhängigkeit von dialogischen Situationen auszeichnet.53 In dieser Hinsicht also erweist sich das existentialistisch aufgeladene Dialogkonzept als wenig anschlußfähig. Die zunehmende Intransparenz von

K. Bühler, a. a.O. [Anm. 46] 26. Helmut Rehbock: Arten der Antworterwartung in Ergänzungsfragen. In: Inger Rosengren (Hg.): Sprache und Pragmatik. Lunder Symposium 1986 (Stockholm 1987) 357–384; Werner Holly: Holistische Dialoganalyse. Anmerkungen zur »Methode« pragmatischer Textanalyse. In: Sorin Stati, Edda Weigand (Hgg.): Methodologie der Dialoganalyse (Tübingen 1992) 15–40; Franz Hundsnurscher, Gerd Fritz: Handbuch Dialoganalyse (Tübingen 1994); Helmut Henne, H. Rehbock: Einführung in die Gesprächsanalyse (Berlin, New York ³1995); Arnulf Deppermann: Gespräche analysieren (Opladen 1999); Michael Klemm: Zuschauerkommunikation. Formen und Funktionen der alltäglichen kommunikativen Fernsehaneignung (Frankfurt a.M. 2000); Klaus Brinker, Sven F. Sager: Linguistische Gesprächsanalyse. Eine Einführung (Berlin ³2001); K. Brinker, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann, S. F. Sager (Hgg.): Text- und Gesprächslinguistik, 2 Bde. (Berlin, New York 2001). 50 Vgl. Andrew K. Kennedy: Dramatic Dialogue. The Dialogue of Personal Encounter (Cambridge 1983); Dieter Cherubim, H. Henne, H. Rehbock (Hgg.): Gespräche zwischen Alltag und Literatur. Beiträge zur germanistischen Gesprächsforschung (Tübingen 1984). 51 H. H. Schrey, a. a.O. [Anm. 40]. 52 Paul Lorenzen, Kuno Lorenz: Dialogische Logik (Darmstadt 1978). 53 Vgl. Helmut Heit: Politischer Diskurs und dialogische Philosophie bei Jürgen Habermas. In: M. F. Meyer, a. a.O. [Anm. 16] 225–235. 48 49

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stetig komplexeren Entscheidungsstrukturen, vor allem aber die reale Erfahrung von Entfremdung, Ohnmacht, ökonomischer Deklassierung und sozialer Isolation machen indes steigende Erwartungen an unmittelbare Dialogszenarien erwartbar. So läßt sich prognostizieren, daß die Idee des realen Dialogs auch weiterhin ein stabiles Element in den individuellen Vorstellungen von einem guten Leben bleibt.

Rainer Thurnher

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Versuche, die Rede vom ›Sein‹ als unzulässig und die Frage danach als bereits im Ansatz verfehlt und müßig zu erweisen, wurden im 20. Jahrhundert immer wieder unternommen. Von sprachanalytischer Seite kam der Einwand, die in der natürlichen Sprache mögliche Substantivierung des ›ist‹ verstoße gegen die logische Syntax. Führe man sich in formallogischer Notation die Struktur jener Sätze vor Augen, in welchen das Hilfszeitwort ›ist‹ vorkommt, so sehe man, daß es in der Zeichensprache nicht mehr erscheint. Zudem werde deutlich, daß dem umgangssprachlichen ›ist‹ keine eindeutige Bestimmtheit eignet, da es in einer Vielfalt von Funktionen auftritt. Ausgehend von Frege1 lassen sich vier Verwendungsweisen unterscheiden: die Prädikation als Subsumtion eines Gegenstands unter einen Begriff [die Tafel ist grün; P(a)], die Identitätssetzung [der Abendstern ist der Morgenstern; I(a,b)], die Unterordnung von Begriffen [Menschen sind Lebewesen; ⌳x{P(x) Õ Q(x)}] und die Existenzbehauptung, in welcher zum Ausdruck kommt, daß eine Klasse von Dingen nicht leer ist [Löwen sind bzw. existieren; in der formalisierten Sprache durch den Existenzoperator vertreten]. Im Zuge solcher Präzisierungen äußert sich Frege kritisch zur »Vergöttlichung der Copula« und zum »Quasibegriff ›Seiendes‹ ohne Inhalt«.2 An Frege anknüpfend glaubte Carnap,3 Aussagen über »Sein« als »Scheinsätze« entlarven zu können. Freges und Carnaps Argumente vertiefend zog Stegmüller gegen die »Seinspest«4 zu Felde, und in jüngerer Zeit hat Tugendhat geltend gemacht, daß die Funktionen der Prädikation, der Identifizierung und Existenzbekräftigung derart heterogen seien, daß »›die‹ Seinsfrage als eine Orientierung für ernsthafte Untersuchungen endgültig ihren Sinn verloren«5 habe. Einwände dieser Art haben sich indes als wenig durchschlagskräftig erwiesen: weder vermochten sie die allenthalben – und mittlerweile selbst in der ana-

Gottlob Frege: Über Begriff und Gegenstand. In: Funktion, Begriff, Bedeutung, hg. von Günther Patzig (Göttingen 41975) 66–80; vgl. auch das Vorwort von G. Patzig, ebd. 9; Gottlob Frege: Dialog mit Pünjer über Existenz. In: Schriften zur Logik und Sprachphilosophie, hg. von Gottfried Gabriel (Hamburg 1971) 1–22. 2 G. Frege: Dialog mit Pünjer, a. a.O. [Anm. 1] 17. 3 Rudolf Carnap: Die Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. In: Erkenntnis 2 (1931) 219–241. 4 Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. 1: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung (Berlin, Heidelberg, New York 1969) 5; siehe ferner: ders.: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie (Stuttgart 61976) 188–193; ders.: Sprache und Logik. In: Studium Generale 9/2 (1956) 57–65. 5 Ernst Tugendhat: Philosophische Aufsätze (Frankfurt a.M. 1992) 12; vgl. ebd. 23. 1

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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lytischen Philosophie6 – beobachtbare Konjunktur ontologischen Fragens zu dämpfen, noch haben sie dazu geführt, daß ›Existenz‹ und ›Sein‹ das philosophische Vokabular unserer Tage nicht mehr mitprägten. So ist davon auszugehen, daß sie die Sache im Kern nicht treffen. Denn es ist gerade die Vieldeutigkeit – positiv ausgedrückt: die Aspektmannigfaltigkeit – des ›ist‹, der in der ontologischen Forschung seit Aristoteles’ Entdeckung der Bedeutungsvielfalt von ›Sein‹ in der einen oder anderen Weise nachgegangen wird; zudem entgeht den Denkern in der Regel die Problematik nicht, die im philosophischen Umgang mit dergleichen Kunstwörtern wie οσíα, τò ν, esse, ens, ›Sein‹, ›entity‹ oder ›existence‹ liegt: daß sie nicht einen Gegenstand bezeichnen, sondern anzeigenden Charakter haben; daß sie hinweisen auf etwas, was nur dem Anschein nach selbstverständlich ist, in Wahrheit aber sehr wohl der Erhellung bedarf und in der einen oder anderen Weise auch zugänglich ist: daß und wie und warum und in welchem Sinne dies oder jenes ist. So gesehen ist es die mit dem ›ist‹ angezeigte Existenz, die in erster Linie zur philosophischen Besinnung Anlaß gibt. Man macht es sich zu leicht, wenn man sie als bloßes Vorkommen, als Konstatierbarkeit von Elementen einer Klasse auffaßt. Denn eben dies, daß ein bestimmtes Etwas vorgefunden wird, hat zur Voraussetzung, daß es sich (in einer näher zu bestimmenden Weise) präsentiert, daß es sich behauptet als ein (in der einen oder anderen Weise) identisch sich Durchhaltendes, daß es (in der ihm eigenen Bestimmtheit) von sich her sich gibt und darbietet: sagen wir statt ›ist‹ doch auch ›es gibt‹ oder ›es zeigt sich‹. Dies ist zunächst das Verwunderliche, dem, seit es Philosophie gibt, nachgegangen wird. Gilt das Staunen zu Recht als deren Ursprung, so sollte nicht übersehen werden, daß es nicht nur dadurch hervorgerufen wird, daß dies oder jenes so ist, wie es – entgegen aller Erwartung – der Fall ist. Ursprünglicher und tiefergehend, wenngleich seltener (und dies aus Gründen, auf die noch einzugehen sein wird) ist die Verwunderung darüber, daß etwas überhaupt ist. So bemerkt Hobbes: »Die erstaunlichste Erscheinung von allen ist das Erscheinen selbst«,7 und Natorp nennt es »das Wunder aller Wunder […], daß überhaupt etwas für uns ist«.8 Der daraus entspringenden Seinsfrage kann, wie ein Blick auf die Geschichte der Ontologie zeigt, in zweierlei Richtung nachgegangen werden. In der verallgemeinernden Richtung wird davon abgesehen, daß es Seiendes verschiedener Artung gibt (z. B. wahrnehmbare, raum-zeitlich bestimmte Naturgegenstände, seelische Akte oder Zustände, Zahlen, ereignishafte Abläufe usf.), in deren Seinsweise sich Unterschiede ausmachen lassen. Davon wird abstrahiert und

6 Einen Überblick mit umfassender Bibliographie bieten Edmund Runggaldier und Christian Kanzian: Grundprobleme der Analytischen Ontologie (Paderborn u. a. 1998). 7 Thomas Hobbes: De corpore IV, Kap. 25. Opera philosophica quae latine conscripsit omnia, ed. by William Molesworth, Bd. 1 (London 1939, Repr. Aalen 1966) 316. 8 Paul Natorp: Philosophische Systematik, hg. von Hans Natorp (Hamburg 1958) 22.

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die Frage aufgeworfen nach Bestimmungsmomenten des Seins überhaupt. Als Beispiel dafür kann die mittelalterliche Transzendentalienlehre gelten mit ihrer These »Omne ens, inquantum est ens, est unum, verum, bonum.« Häufig wurde in der generalisierenden Betrachtungsweise das Allgemeine des Seins in der Partizipation an einem letzten Seinsgrund gesehen, wobei es naheliegend war, die regionale Differenzierung des Seienden auf Grade der Intensität dieser Partizipation zurückzuführen. Der Seinsgrund selbst kommt dann entweder jenseits des Seins zu liegen (wie das Gute bei Platon, das neuplatonische Übereine) oder er wird (wie vielfach in der Scholastik) als »ipsum esse« und Seinsinbegriff schlechthin gefaßt. In beiden Fällen erscheint er als das Göttliche und dieses damit als Quelle allen Seins. Damit wird aber auch schon die Problematik der generalisierenden Betrachtungsweise deutlich: indem sie von den Konkretisierungen des Seins absieht, entfernt sie sich von den anschaulichen Grundlagen. Der Seinsbegriff verliert seine Bestimmtheit. Vage und inhaltsleer geworden, ist er anfällig dafür, daß ihm abstrakt-begriffliche Konstruktionen, an welche das Denken sich klammert, substruiert werden. So gerät die Ontologie in die Zonen des Spekulativen und der Metaphysik. Wo das Sein auf ein Seiendes (Gott) zurückgeführt und dieses als »Sein schlechthin« bezeichnet wird, wird der Begriff des Seins zudem schillernd und mehrdeutig. Heidegger hat deshalb zu Recht die strikte Beachtung der ›ontologischen Differenz‹ eingefordert, die zwischen dem Seienden und seinem Sein besteht: ihre Mißachtung ziehe sich durch die gesamte Metaphysik, die als Onto-Theologie zugleich eine Vorentscheidung darüber beinhalte, worin das Sein des Göttlichen bestehen soll, nämlich in seinem Grund- und Ursachesein.9 Gegenläufig zur verallgemeinernden Richtung gibt es in der ontologischen Forschung aber auch die konkretisierende Betrachtungsweise, deren Anliegen es ist, Unterschiede zwischen den einzelnen Seinsweisen zu thematisieren. Sie gelangt – der Differenzierung der Seinsweisen entsprechend – zu einer regionalen Gliederung des Seienden. Dieser Aufgabe kann die Ontologie aber nur nachkommen, wenn sie der Neigung zu vorgreifenden Konstruktionen widersteht, sich statt dessen an das Gegebene hält und auf anschauliche Erfüllung aus ist. Zur Darstellung zu bringen ist dabei nicht das Seiende, sondern seine spezifische Seinsweise. Sie zu erschauen verlangt einen Wechsel der Blickrichtung und die Anerziehung einer gewissen Sicherheit, sie einnehmen und festhalten zu können: denn gewohnterweise richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf das Ontische (das Seiende) und nicht auf das Ontologische (das Sein des Seienden). In diesem Sinne unterscheidet Heidegger, nachdem er zunächst das Phänomen

9 Vgl. dazu R. Thurnher: Martin Heideggers Auseinandersetzung mit dem Gottesverständnis der metaphysischen Tradition. In: »Die Grenze des Menschen ist göttlich«. Beiträge zur Religionsphilosophie, hg. von Klaus Dethloff, Ludwig Nagl und Friedrich Wolfram (Berlin 2007) 161–180.

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als »das Sich-an-ihm-selbst-zeigende«10 bestimmt hat, zwischen dem »vulgären Phänomenbegriff«, der das Seiende als das unmittelbar und für gewöhnlich Sichzeigende meint, und dem genuin »phänomenologische[n] Phänomenbegriff«.11 Dieser meint das Sein des Seienden als das, »was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt«,12 was aber als das »je vorgängig und mitgängig, obzwar unthematisch«13 schon Mitintendierte »zum Sichzeigen gebracht werden«14 kann. Nach Nicolai Hartmann hat die »neue Ontologie« ein dreigliedriges Verfahren einzuhalten, das sich aus der Aporetik (der kritischen Sichtung der »Erbfehler«15 der »alten Ontologie«), der Analytik (der Auseinandersetzung mit dem Gegebenen und den Wissenschaften) und schließlich dem »Erschauen« des Seins des Seienden zusammensetzt, welches es in der Folge begrifflich-kategorial zu fassen gilt.16 Husserl war bemüht zu zeigen, daß es eine Anschauung nicht nur im Sinnlichen, sondern auch im Bereich des Eidetischen und Kategorialen gibt, auf welche die Ontologie sich stützen kann.17 Halten wir uns vor Augen, daß am Beginn des Jahrhunderts die Tendenz zur Wissenschaftlichkeit, zum positiv Gegebenen und zur Anschaulichkeit vorherrschte, daß ferner durch den Kritizismus und seinen Rückgriff auf Kant ein strenges, vom Spekulativen sich distanzierendes Denken zur Norm geworden war und die Phänomenologe ihr »Zu den Sachen selbst!« einforderte, so ist es naheliegend, daß nunmehr die konkretisierende Betrachtungsweise an Boden gewinnen und die abstrahierende ihr gegenüber in den Hintergrund treten mußte. Wo sie fortbesteht – wie in Husserls Formalontologie18 oder in Hartmanns Frage nach allgemeinsten Seinsbestimmungen – tut sie dies ausdrücklich als Seitenstück und Ergänzung zu den materialen Ontologien, die sich der Erforschung der Seinsweise einzelner Regionen widmen. Die Ontologie versteht sich seitdem als sachbezogene, der Ausweisung anhand der jeweiligen Gegebenheiten verpflichtete philosophische Reflexion. Als Herausarbeitung der grundlegenden Seinsbestimmungen einzelner Regionen begreift sie sich als Kategorialanalyse. Die Kategorien gelten ihr – je nach philosophischer Ausrichtung – entweder (wie in der transzendentalphilosophischen, zum Idealismus tendieMartin Heidegger: Sein und Zeit. GA 2, 42. Wir zitieren Heidegger hier und im folgenden nach: Gesamtausgabe (Frankfurt a.M. 1975 ff.) [=GA] mit Angabe von Band- und Seitenzahl. 11 Ebd. 12 Ebd. 47. 13 Ebd. 42. 14 Ebd. 15 N. Hartmann: Neue Ontologie in Deutschland. Kleinere Schriften, Bd. 1 (Berlin 1955) 64. 16 N. Hartmann: Wie ist kritische Ontologie möglich? Kleinere Schriften, Bd. 3 (Berlin 1958) 278 f., 295 f. 17 Hua III, 23–25, 160–165; Hua XIX/2, 657–709. Husserl zitieren wir hier und im folgenden nach Husserliana. Gesammelte Werke, aufgrund des Nachlasses veröffentlicht vom HusserlArchiv (Leuven) (Den Haag 1950 ff.) [=Hua mit Angabe von Band- und Seitenzahl). 18 Hua III, 26–29. 10

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renden Einstellung einzelner Neukantianer) als subjektive Konstituentien der durch die Spontaneität des Subjekts vermittelten Phänomene oder (wie in der realistisch-gegenstandsbezogenen Ausrichtung etwa bei Nicolai Hartmann) als Bestimmungsmomente des allem Erscheinungshaften zugrundeliegenden Ansich der Gegebenheiten selbst. Eine gewisse Sonderstellung nimmt in dieser Hinsicht Husserl ein: hält er die gegenstandsbezogene eidetische Reduktion, in der im beobachtenden und imaginierenden Durchlaufen der Varianten eines Gegebenen zum Erschauen des invarianten Eidos vorgestoßen wird,19 für grundlegend, um zu einer regional gegliederten Ontologie zu gelangen,20 so ist er doch der Auffassung, daß eine letzte und vertiefte Sinnklärung der zentralen Bestimmungsmomente einer Region nur dadurch zu erreichen ist, daß man die intentionalen Akte und ihren Aufbau sich vor Augen führt, die der Konstitution ihrer Sinngehalte zugrundeliegen.21 So gilt es, die Korrelation aufzudekken zwischen den Gegebenheiten einer Region und den Akten, in welchen sie zur Selbstgebung gelangen.22 Um das konstitutive Aktleben unverfälscht in den Blick zu bringen, ist – ergänzend zur eidetischen – die transzendental-phänomenologische Reduktion zu vollziehen, in welcher die »Einklammerung« der »Generalthesis der natürlichen Einstellung« erfolgt,23 d. h. der permanenten Setzung von Sein in unserem unmittelbaren Weltleben; geht es doch darum, das durch das Aktleben bedingte Zustandekommen spezifischer Seinssetzungen transzendental zu erhellen.24 Die Differenziertheit des Seins, die auf diese Weise zutage tritt, erweist sich als derart elementar, daß der traditionelle Weg, sie im Sinne einer graduellen Abstufung oder eines Analogieverhältnisses aufzufassen, von den meisten Denkern als nicht mehr gangbar angesehen wird. Ihr Bemühen richtet sich darauf, die Seinscharaktere in ihrer irreduziblen Vielfalt zur Darstellung zu bringen. Auf deren Besonderung und Gleichursprünglichkeit sehen wir den Akzent gelegt, wenn Nicolai Hartmann auf die »Einschnitte oder ›Schichtendistanzen‹, die […] die Seinsebenen voneinander abheben«25 hinweist oder Heidegger von der »Gewinnung fundamentaler Seinsunterscheidungen«26 spricht. Erst auf der Basis der zutage getretenen Mannigfaltigkeit ist die Frage nach der Bezogenheit der Seinsweisen aufeinander und der daraus resultierenden Einheit oder Ordnung sinnvoll und legitim. Lediglich der vorschnell und vorgreifend ins Spiel gebrachte Einheitsgedanke birgt die Gefahren des Reduktionismus und der Hua III, 15–17, 160–163; Hua IX, 72–78; Hua XVII, 254 f. Hua III, 23–25, 165–168. 21 Hua III, 148. 22 Hua III, 64, 314 f., 364–380; Hua XI, 320 f.; Hua VI, 168–175; Hua XVII, 253–256. 23 Hua III, 63–69. 24 Hua III, 117, 121, 135. 25 N. Hartmann: Neue Ontologie, a. a.O. [Anm. 15] 80. 26 GA 20, 183; zu der daraus resultierenden »Mannigfaltigkeit der Seinsweisen« vgl. exemplarisch GA 27, 71 f. 19 20

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Nivellierung in sich, wohingegen die Frage nach der Einheit in der zutage getretenen Vielfalt der Seinsmodi unabtrennbar zur Seinsfrage als solcher gehört. Der Ansatz zu ihrer Lösung bestimmt weitgehend das Sepzifische eines ontologischen Entwurfs. Zu einem guten Teil verdankt sich die Hinwendung zu pluralistischen Konzeptionen auch der Reaktion auf monistisch-reduktionistische Tendenzen in Philosophie und Wissenschaft. Das Ungenügen und die Kritik daran gaben Anlaß, auf Seinsbereiche hinzuweisen, die entweder übersehen oder um den Preis grober Verfälschungen und Gewaltsamkeiten als bloße Epiphänomene ausgegeben wurden. So kam es als Reaktion auf die naturalistische Ontologie Quines, mit der im Bereich der analytischen Philosophie die ontologische Diskussion eröffnet wurde,27 zu den pluralistischen Konzepten von Chisholm28, Grossmann29, Tegtmeier30 und anderen. Mit seiner Drei-Welten-Ontologie, die neben der »Welt der physikalischen Gegenstände oder Zustände« eine »Welt der Bewußtseinszustände« und eine »Welt der objektiven Gedankeninhalte, insbesondere der wissenschaftlichen und der dichterischen Gedanken und der Kunstwerke« als gegeben annimmt,31 tritt Popper in Opposition zum Physikalismus eines Carnap, Feigl oder Quine.32 Poppers Ontologie zeigt eine gewisse Ähnlichkeit mit der des späten Rickert, der zwischen den drei Sphären des gegenständlich Gegebenen, des verstehbaren Sinns (z. B. mathematischer und realwissenschaftlicher Sätze) und der transzendentalen Subjektivität unterscheidet.33 Gelegentlich wird dieses Schema um eine vierte Sphäre erweitert, der Rickert die religiös-metaphysischen Gehalte zurechnet, die nur dem Glauben, der symbolischen Deutung und einer gleichnishaften Sprache zugänglich sind.34 Die Debatte35 um den spezifischen Seinscharakter der Werte – von Lotze als »Geltung« bezeichnet –

Willard van Orman Quine: On what there is (1948). In: ders.: From a Logical Point of View. (Cambridge, Mass. 1953). 28 Roderick M. Chisholm: On Metaphysics (Minneapolis 1989); ders.: A Realistic Theory of Categories. An Essay on Ontology (Cambridge 1996). 29 Reinhardt Grossmann: The Existence of the World. An Introduction to Ontology (London, New York 1992). 30 Erwin Tegtmeier: Grundzüge einer kategorialen Ontologie (Freiburg i. Br., München 1992). 31 Karl Popper: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf (Hamburg 41984) 109. 32 Ebd. 158, 305–314. 33 Heinrich Rickert: System der Philosophie. Erster Teil: Allgemeine Grundlegung der Philosophie (Tübingen 1921) 110 ff. 34 H. Rickert: Grundprobleme der Philosophie. Methodologie, Ontologie, Anthropologie (Tübingen 1934) 140 ff. 35 Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Gesammelte Werke, Bd. 2 (Bern 1954) 202 ff.; ders.: Vom Ewigen im Menschen. Gesammelte Werke, Bd. 5 (Bern 1954) 306 f.; ders.: Das Sein und seine Grundarten. In: Schriften aus dem Nachlaß II. Gesammelte Werke, Bd. 11 (Bern 1979) 234 ff.; N. Hartmann: Ethik (Berlin, Leipzig 21935) 133 ff.; Coelestin Lauer: Wert und Sein. Eine Untersuchung zur Wertphilosophie der Gegenwart. In: Philosophisches Jahrbuch 58 (1948) 28–54, 121–145. 27

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trug zur Favorisierung pluralistischer Sichtweisen ebenso bei wie die Abwendung vom Psychologismus, mit welcher die Frage nach dem Seinsstatus logischer und mathematischer Gesetzlichkeiten nicht mehr zu umgehen war. Auch die um die Jahrhundertwende sich häufenden Grundlagenkrisen einzelner Wissenschaften bewirkten eine Belebung des Interesses an regionalontologischen Themen; bedeutet doch die Krise einer Wissenschaft, daß die mit der bisherigen Forschungspraxis untrennbar verbundenen ontologischen Grundannahmen und Kategorien ins Wanken geraten. Die Wissenschaftler, die bisher von diesen Gebrauch gemacht hatten, ohne eigens auf sie zu reflektieren, sehen sich mit den für sie zunächst ungewohnten Fragen konfrontiert, weshalb die herkömmlichen Kategorien die Erschließung des Sachgebiets nicht mehr zu leisten vermögen, wie dessen Verfaßtheit neu zu denken ist, welche Entitäten mit welchem Seinsstatus man postulieren und welche Begrifflichkeit man in Anschlag bringen soll, um einen Durchbruch zu erzielen. Es ist hier nicht der Ort, eine detaillierte und umfassende Darstellung der Entfaltung des Seinsdenkens im 20. Jahrhundert zu geben. Statt dessen müssen wir uns mit exemplarischen Hinweisen und einer skizzenhaften Zeichnung begnügen. Eben diese aber macht es unumgänglich, nunmehr auf den Begriff der ›Existenz‹ näher einzugehen und jenen Bedeutungswandel ins Auge zu fassen, den er durch Kierkegaard und die Denker, die an ihn anknüpften, erfahren hat. Denn nur auf diesem Wege läßt sich der tiefgreifende Wandel verstehen, den das Existenzdenken im Bereich der Ontologie auslöste. Bedeutet ›Existenz‹ herkömmlicherweise (und in der analytischen Philosophie bis heute) das Vorhandensein beliebiger Gegebenheiten, so dient das Wort bei Kierkegaard ausschließlich zur Kennzeichnung des Menschseins. In seinem Umfang damit wesentlich eingeschränkt, nimmt der Begriff zugleich einen sehr prägnanten und spezifischen Inhalt an, indem er auf das Vollzugshafte des menschlichen Seins abzielt. Als vom je Einzelnen zu vollbringendes und zu verantwortendes ist dieses Sein nicht vorgegeben – im Sinne der ›essentia‹ als einer vorgezeichneten und nur zur Entfaltung zu bringenden Wesensprägung wie bei den Natur- und Gebrauchsdingen –, sondern dem Individuum aufgegeben. Erst durch den Vollzug seiner Freiheit gewinnt es, im Durchgang durch Akte der Wahl und Entscheidung, seine Bestimmtheit. So sagt Sartre, an Heidegger anknüpfend, daß beim Menschen »die Existenz der Essenz vorausgeht«; er ist jenes Seiende, das »zuerst existiert […] und sich danach definiert«.36 Mit der paradox anmutenden Formulierung, der Mensch sei »zur Freiheit verdammt«,37 weist Sartre zudem darauf hin, daß auch Unterlassung, Unentschiedenheit und Zögern Akte der Wahl darstellen, die der Mensch, da sie ihn prägen, zu verant-

36 Jean-Paul Sartre: Ist der Existenzialismus ein Humanismus? In: ders.: Drei Essays (Frankfurt a.M. 1981) 11. 37 Ebd. 16; vgl. ferner ders.: Das Sein und das Nichts (Reinbek bei Hamburg 1991) 764, 829 f., 838.

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worten hat. So findet sich bereits bei Kierkegaard die Kennzeichnung der Existenz als »Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält«.38 Dieses Selbstverhältnis bedeutet eine seinsmäßige Betroffenheit: wir haben gegenwärtig und künftig mit unserer Geschichte zurechtzukommen, d. h. mit den Resultaten unserer Handlungen, Entscheidungen und Unterlassungen, darüber hinaus aber auch mit unserer »Geworfenheit«. Damit ist angezeigt, daß die eigene Geschichte durch vieles mitbestimmt wird, das niemals Gegenstand freier Entscheidung war: ob wir als Mann oder Frau geboren wurden, in welchem Zeitalter wir leben, welche Muttersprache mit ihren Sichtweisen und Verstehenshorizonten wir sprechen, in welche Schicksalsgemeinschaft wir uns gestellt sehen mit ihrer Geschichte, die wir mitzutragen haben, in welcher Familie und welchem sozialen Milieu wir aufgewachsen sind; all dies sind Momente der Geworfenheit, angesichts derer die Freiheit sich darauf beschränkt und verwiesen sieht, dazu Stellung zu beziehen und so zumindest die Bedeutung des Unabänderlichen für das eigene Sein zu bestimmen. Das Selbstverhältnis, als welches die Existenz zu sehen ist, betrifft auch die Zukunft: je und je geht es im Existieren um unser künftiges Sein. Der Mensch hat als der zu existieren, der sich gewinnen oder sich verfehlen kann, der durch Akte seiner Wahl sich genuine Möglichkeiten und Horizonte erschließt oder verschließt. So gehört zur Existenz eine Interessiertheit am eigenen Sein; der Existierende ist, wie Kierkegaard sagt, »unendlich interessiert an seinem Existieren«,39 so daß die »Selbstbekümmerung«40 bzw. »Sorge«41 ein zentrales Bestimmungsmoment der Existenz darstellt. Aus diesen Hinweisen dürfte deutlich geworden sein, daß mit der Analytik der Existenz erneut eine spezifische Seinsweise zutage getreten ist. Schon Kierkegaard hält fest: »Das Existieren als einzelner Mensch […] ist nicht Sein in demselben Sinne, wie eine Kartoffel ist, aber auch nicht in demselben Sinne, wie die Idee ist.«42 Heidegger hebt daher die Bestimmungsmomente der Existenz auch terminologisch von den Kategorien des nichtmenschlichen Seins ab, indem er sie als »Existenzialien« bezeichnet.43 Dazu gehören, neben den bereits angeführten, das In-der-Welt-sein, die Erschlossenheit (A-letheia), der Entwurf, die Zeitlichkeit, das Sein zum Tode, Angst, Gewissen, um nur die wichtigsten zu nennen. Jaspers nennt sie »existenzerhellende signa«.44 Entscheidend ist, daß sie nichts Gegenständliches meinen, sondern den Charakter einer »formalen

Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Gesammelte Werke, hg. von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes, 24./25. Abt. (Düsseldorf, Köln 1950–1966) 8. 39 S. Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift II. Ges. Werke 16. Abt.. Teil II, 2. 40 S. Kierkegaard: Das Buch über Adler. Ebd. 36. Abt., 120. 41 GA 2, 254 ff. und passim. 42 S. Kierkegaard: Nachschrift II, a. a.O. [Anm. 39] 33. 43 GA 2, 59 f. 44 Karl Jaspers: Philosophie, Bd. 2: Existenzerhellung (Berlin 1932) 17. 38

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Anzeige«45 haben. Da Autonomie und Freiheit des Einzelnen zentrale Anliegen des Existenzdenkens sind und es den Appell beinhaltet, sein Selbstsein zu gewinnen, hat es seine Begriffe von inhaltlichen Vorgaben, die einer Fremdbestimmung gleichkämen, freizuhalten. Die Existenzialien weisen folglich nur auf Möglichkeiten hin, deren individuelle Umsetzung und besondernde Gestaltung dem Freiheitsvollzug obliegt. Für die Ontologie bedeutet die Berücksichtigung der Existenz indes nicht nur ein additives Moment, als würde ihr Forschungsfeld damit um eine bislang vernachlässigte Seinsweise lediglich erweitert. Vielmehr erfährt das Seinsdenken durch die Integration der Existenzialanalyse eine grundsätzliche Verwandlung, und zwar im Inhaltlichen nicht minder als im methodischen Zugriff, denn: nun bildet nicht mehr die Subjektivität im klassischen Sinne den Bezugspunkt. Nicht mehr vom cogito wird ausgegangen als dem vorstellenden, denkenden Bewußtsein, dem alles Seiende zur Gegenständlichkeit gerinnt. Vielmehr steht in der Seinsenthüllung nunmehr der Mensch im Vordergrund als »dies wollend fühlend vorstellende Wesen«.46 Sein Wirklichkeitssinn und seine Weltoffenheit sind nicht in erster Linie auf Akte des Vorstellens, Denkens und Urteilens gegründet, sondern verdanken sich, diesen vorgreifend, seinem Wollen und Handeln sowie, auch dieses noch tragend, seiner Affizierbarkeit, seinem Fühlen und Befinden. So erfährt sich der Mensch im Vollzug seiner Existenz als eingebunden in Wirklichkeitssphären, die ihm anfänglich nicht in gegenständlicher Weise begegnen, auf die er vielmehr handelnd bezogen und eingespielt ist, mit welchen er verstehend zurechtkommt und die ihn in dieser oder jener Weise angehen und betreffen. Derart liegen sie einer allfälligen Vergegenständlichung ihrer Inhalte im wissenschaftlichen Zugriff voraus und zugrunde. Die wissenschaftliche Objektivierung wird nunmehr als ein nicht unproblematischer, weil auf Beherrschbarkeit und Bemeisterung abzielender Aneignungsmodus gesehen, dessen Motivation wiederum aus der existenzialen Verfaßtheit – der Verankerung des Menschen in der Lebenswelt – zu begreifen und aufzuklären ist. Damit eröffnet sich die Möglichkeit eines Seinsdenkens, das in vielfältigen Wegen der Besinnung den nunmehr sichtbar werdenden Bezügen nachzugehen versucht. Jaspers etwa strebt, ausgehend von der Einsicht: »Kein gewußtes Sein ist das Sein«47 nicht länger ein Seinswissen an (wie von den Ontologien bisher intendiert), sondern ein Seinsbewußtsein, das zur »Grundhaltung […] des philoso-

GA 2, 155; GA 29/30, 430, 432; GA 58, 59 ff., 141 f.; GA 60, 63 f.; GA 61, 19 f. Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften, Bd. 1 (Berlin 21923) XVIII. Zu Überschneidungen des Existenzdenkens mit dem lebensphilosophischen Ansatz Diltheys siehe Otto Friedrich Bollnow: Existenzphilosophie (Stuttgart u. a. 91984); ders.: Dilthey. Eine Einführung in seine Philosophie (Stuttgart 21955); Georg Misch: Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Husserl und Heidegger (Stuttgart 31964). 47 K. Jaspers: Von der Wahrheit (München 1947) 37. 45 46

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phierenden Menschen« werden soll.48 Da sich jede Vergegenständlichung in geschlossenen Horizonten vollzieht, ist das Sein als das »Umgreifende« zu denken, welches »uns mit dem Offenbarwerden aller entgegenkommenden Erscheinung doch immer nur zurückzuweichen scheint« und »im gegenständlich Gegenwärtigen und in den Horizonten« sich immer nur ankündigt, ohne je Gegenstand zu werden.49 Zwar gibt es einzelne immanente »Weisen des Umgreifenden«,50 die der Vergegenständlichung zugänglich sind. Ihr Sein ist uns aber nicht durch diese vermittelt, sondern von je her vertraut durch unser Eingebundensein in die jeweiligen Horizonte. Das Umgreifende des Daseins ist uns im Vollzug des Vitalen vor aller Vergegenständlichung in Biologie, Psychologie und Soziologie erschlossen;51 das des Bewußtseins überhaupt im wissenschaftlichen Urteilsvollzug näher als in der Vergegenständlichung durch die Transzendentalphilosophie,52 das des Geistes durch das Eingebundensein in zeitgeistige Strömungen vor aller wissenschaftlichen Objektivation in den Geisteswissenschaften zugänglich,53 das der Welt durch unsere Verschränktheit mit ihr vor aller Vergegenständlichung einzelner Weltgehalte in den Wissenschaften.54 In keiner der immanenten Weisen des Umgreifenden vermag der Mensch Genüge zu finden, so daß er sich darauf verwiesen sieht, den »Aufschwung« zur Existenz zu vollziehen, die sich – wie auch die in ihr offenbar werdende Transzendenz – der Vergegenständlichung grundsätzlich entzieht. Gerade in diesen »transzendenten Weisen des Umgreifenden« jedoch läßt sich Sein nach Jaspers in der intensivsten und ursprünglichsten Weise erfahren.55 Angesichts der »Seinsvergessenheit«, die, wie er meint, das abendländische Denken seit Platon in zunehmendem Maße beherrscht, sieht Heidegger die »Notwendigkeit einer ausdrücklichen Wiederholung der Frage nach dem Sein«56 gegeben. Dabei soll neben der »Leitfrage« nach dem »Sein des Seienden« und hinter diese zurückgehend in einer »Fundamentalontologie« die »Grundfrage« nach dem »Sinn von Sein« aufgeworfen und einer Lösung zugeführt werden, denn: »Alle Ontologie, mag sie über ein noch so reiches und fest verklammertes Kategoriensystem verfügen, bleibt im Grunde blind und eine Verkehrung ihrer eigenen Absicht, wenn sie nicht zuvor den Sinn von Sein zureichend geklärt und diese Aufgabe als ihre Fundamentalaufgabe begriffen hat.«57

48 49 50 51 52 53 54 55 56 57

Ebd. 41. K. Jaspers: Existenzphilosophie (Berlin 1964) 13 f. K. Jaspers: Von der Wahrheit, a. a.O. [Anm. 47] 43, 49. Ebd. 55 f., 59 f. Ebd. 67. Ebd. 71, 76. Ebd. 37, 89 ff. Ebd. 111 f. GA 2, 3. GA 2, 15. Zur Unterscheidung von Leitfrage und Grundfrage vgl. GA 31, 39–138.

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In der Frage nach dem Sinn von Sein geht es nicht um die Semantik des Wortes »Sein«, da dieses in seiner Einförmigkeit die Vielfalt der Seinsweisen, welche die Ontologie in den Blick zu bringen hat, eher verdeckt als zugänglich macht. Die Indifferenz der Kopula weist vielmehr auf den »sekundären Charakter alles Aussagens«58 hin, welches die Erschlossenheit des In-der-Welt-seins und das Seinsverständnis schon voraussetzt: »Das Seinsverständnis dessen, worüber die Rede ist, erwächst nicht erst aus der Aussage, sondern diese spricht jenes aus. Das ›ist‹ kann in seiner Bedeutung indifferent sein, weil der differente Seinsmodus im primären Verstehen des Seienden schon fixiert ist.«59 Somit hat die Fundamentalontologie auf dieses Seinsverständnis zu rekurrieren und mit ihrer Frage nach dem »Sinn von Sein« den Horizont freizulegen, von dem her die einzelnen Seinsweisen in ihrer Differenziertheit je schon verstanden werden. Den Sinn von Sein als das, »was die ganze Unterscheidung des Seinsunterschiedes dirigiert«,60 glaubte Heidegger in der Zeit erblicken zu können, genauer: in der zeitlichen Erstrecktheit und Verfaßtheit der Existenz. Deren ekstatisches Hineinreichen und Ausgespanntsein in Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart ist nicht statisch, sondern in sich abwandelbar, so daß, wie Heidegger meinte zeigen zu können, dem Verständnis der jeweiligen Seinsweisen ein spezifischer Zeitigungsmodus der Existenz als Bedingung der Möglichkeit zuzuordnen ist. Der Erreichung dieses Ziels dient die Analytik der Existenz, d. h. der Seinsweise des Daseins. Dieser Terminus ersetzt bei Heidegger die Bezeichnung »Mensch«, weil ihm diese durch die Definition als animal rationale belastet erscheint. Mit der ›rationalitas‹ als Kriterium des Menschlichen nährt und transportiert sie das Vorurteil, Denken und Urteilsvermögen eröffneten als solche den Zugang zum eigenen Selbst und zur Welt. Um dem entgegenzutreten, zieht Heidegger die Bezeichnung »Dasein« vor, die als »reiner Seinsausdruck« die Gelichtetheit von Selbst und Welt (die Erschlossenheit des »Da«) im Vollzug der Existenz zum Ausdruck bringen soll.61 Diese Gelichtetheit läßt Heidegger in den Existenzialien der Befindlichkeit, des Verstehens und der Rede fundiert sein, d. h. im Affektiven, den Stimmungen, ferner dem Handeln, insofern menschliche Praxis mit einem Sich-Auskennen und Zurechtfinden einhergeht, und schließlich der Teihabe an jener Ausgelegtheit, die jede Sprache in ihrer Gesamtheit verkörpert. Die Reihenfolge, in der Heidegger diese Momente nennt, ist keineswegs zufällig. Sie stellt eine bewußte Umkehrung des traditionellen Kanons der psychischen Vermögen dar: Denken, Wollen, Fühlen. Deren Reihung kann als Rangordnung gelten, in der zum Ausdruck kommt, das Wollen und Handeln sei als solches blind und auf die Führung des Denkens angewiesen, das allein Erkenntnis und Wahrheit verbürgt. Das Füh-

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GA 24, 301. Ebd.; vgl. GA 29/30, 482. GA 20, 158. GA 2, 17 f.; GA 63, 21 ff.

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len als ›niedrigstes‹ Seelenvermögen wäre in Betracht zu ziehen als Beeinträchtigung und Trübung des nüchternen Urteils. Demgegenüber macht Heidegger geltend, daß in den Grundbefindlichkeiten des Daseins ein kognitives Potential steckt: sie zeigen an, wie es um uns selbst und unser Weltverhältnis bestellt ist; daß ferner das Handeln mit einem impliziten Wissen, einem Verstehen und Sichauskennen verbunden ist. Die Rede schließlich beinhaltet eine Vielfalt von Äußerungsformen und läßt sich nicht auf das aufzeigende, deskriptive Urteil reduzieren, welches, wie Heidegger mit Nachdruck betont, keineswegs ursprünglich wahrheitsstiftend ist, sondern die Erschlossenheit von Welt je schon voraussetzt: »Das Aufzeigen der Aussage vollzieht sich auf dem Grunde des im Verstehen […] umsichtig Entdeckten. Aussage ist kein freischwebendes Verhalten, das von sich aus primär Seiendes überhaupt erschließen könnte, sondern hält sich immer schon auf der Basis des In-der-Welt-seins.«62 In dieser ihrer Abkünftigkeit ist die Aussage zugleich verengend: indem sie auf die Darstellung von Bestimmungen an einem Seienden abhebt, greift sie (im Unterschied zu anderen Redeformen) nicht mehr aus auf das Bedeutungsganze, das im befindlich-verstehenden Entwurf erschlossen und in der Rede insgesamt artikuliert ist. Das »hermeneutische ›Als‹« lebensnaher Äußerungen wandelt sich im Urteil, das aus abständiger Betrachtung erwächst, unvermerkt zum bloß »apophantischen ›Als‹«, womit eine Nivellierung des Seinsverständnisses einhergeht. Das Seiende wird in der theoretisch-urteilenden Einstellung nur mehr als Vorhandenes aufgefaßt, womit die Vorhandenheit den Blick auf die originären Seinsweisen verstellt.63 Der Primat des Logos und der Theorie, die Tendenz zur wissenschaftlichen Vergegenständlichung, der Umstand, daß die Ontologie sich bisher am innerweltlichen Seienden orientiert hat: all dies hat zur Nivellierung des Seinsbegriffs im Sinne der bloßen Vorhandenheit geführt, die – im Zusammenspiel mit der bereits erörterten Mißachtung der ontologischen Differenz – die Seinsvergessenheit ausmacht. Schon in der Antike stellte sich, wie Heidegger meint, »ein Durchschnittsbegriff von Sein heraus, der zur Interpretation alles Seienden der verschiedenen Seinsgebiete und Seinsweisen verwendet wurde«.64 Im Gegenzug dazu komme es darauf an, »uns überhaupt das Problem einer Mannigfaltigkeit von Weisen des Seins, über die Einzigkeit des nur Vorhandenen hinaus, näher zu bringen«.65 Trifft es zu, daß dem Dasein sein Sein nicht vorgegeben, sondern aufgegeben ist, dann kann es dieser Aufgabe nur nachkommen, wenn es sich auf dergleichen wie Existenz versteht. Zugleich muß es sich auch auf das Sein alles dessen verstehen, womit es im Vollzug seiner Existenz umgeht, womit es zu schaffen und zu rechnen hat. In diesem Sinne ist Dasein nach Heidegger durch ein uni-

62 63 64 65

GA 2, 208; vgl. ebd. 299. GA 2, 204–213, 295–298; GA 21, 143–161. GA 24, 30. Ebd. 171.

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versales Seinsverständnis vor allem anderen Seienden ausgezeichnet: sorgend um sich versteht es in der Durchsichtigkeit seine Existenz; umsichtig mit den Gebrauchsdingen hantierend versteht es deren Seinsweise der Zuhandenheit; fürsorgend versteht es in Rücksicht und Nachsicht die Seinsweise anderer Menschen als Mitdasein; im bloßen Betrachten und im wissenschaftlichen Urteil erschließt sich ihm die Vorhandenheit als Seinsweise des bloß Vorfindlichen und der wissenschaftlichen Gegenstandswelten. Dieses vorgängige, im Existenzvollzug angelegte, auf unterschiedliche Seinsweisen eingespielte Verständnis ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, mit verschieden geartetem Seienden sinnvoll umgehen zu können: »Verstünden wir nicht, wenngleich zunächst roh und unbegrifflich, was Wirklichkeit besagt, dann bliebe uns Wirkliches verborgen […]. Verstünden wir nicht, was Existenz und Existenzialität besagt, dann vermöchten wir selbst nicht als Dasein zu existieren. Verstünden wir nicht, was Bestand und Beständigkeit bedeutet, dann blieben uns bestehende geometrische Beziehungen und Zahlenverhältnisse verschlossen. Wir müssen Wirklichkeit, […] Lebendigkeit, Existenzialität, Beständigkeit verstehen, um uns positiv zu bestimmtem Wirklichen, […] Lebendigen, Existierenden, Bestehenden verhalten zu können.«66 Dieses Seinsverständnisses sind wir uns in der Regel allerdings nicht bewußt. Es ist ein unthematisches, vorontologisches Seinsverständnis, das sich dadurch auszeichnet, daß es der Unterschiedlichkeit der Seinsweisen verschiedener Regionen weitgehend Rechung trägt. So ist es, wenngleich unthematisch, doch differenzierter als der durchschnittliche, am Modus der Vorhandenheit sich orientierende Seinsbegriff der philosophischen Tradition. Dies ermöglicht es Heidegger, auf dieses vorontologische Seinsverständnis zu rekurrieren und es im Wege seiner Analytik der Existenz thematisch zu machen, weshalb für ihn gilt: »Die Seinsfrage ist […] nichts anderes als die Radikalisierung einer zum Dasein selbst gehörenden Seinstendenz, des vorontologischen Seinsverständnisses.«67 In der Durchführung jedoch erwies sich das Vorhaben der Fundamentalontologie als problematisch, was unter anderem zur Folge hatte, daß der geplante zweite Teil von Sein und Zeit nie erschienen ist. Offensichtlich ließ sich nur für eine begrenzte Zahl von Seinsweisen ein Zusammenhang mit der existenzialen Zeitlichkeit herstellen. Zudem trat alsbald ein Spannungsverhältnis zutage zwischen dem transzendentalphilosophischen Begründungsdenken der Fundamentalontologie und der Konzeption des Daseins, in welcher – in den Momenten der Geschichtlichkeit, Endlichkeit, Geworfenheit, Befindlichkeit etc. – Momente der Unverfügbarkeit ersichtlich wurden, die mit einer Subjektkonzeption, wie sie die Transzendentalphilosophie erfordert, unverträglich waren. So fand Heidegger – gerade diesen Momenten nachgehend – Mitte der dreißi66 67

GA 24, 14. GA 2, 20.

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ger Jahre zu seinem aus seinsgeschichtlicher Besinnung erwachsenen EreignisDenken.68 In ihm wird davon Abstand genommen, Sein vom Seienden her (als dessen Seinsweise) zu denken. Stattdessen bringt es das »Seyn« (jetzt vorzugsweise mit ›y‹ geschrieben) in seiner Geschickhaftigkeit zur Sprache, mit welcher es in epochalen Wandlungen das Seiende und den Menschen »überkommt«. Somit wandelt sich die Grundfrage: sie gilt nicht mehr dem Sinn von Sein, sondern der (geschichtlichen) Wahrheit des Seins (im Sinne des sich wandelnden Vorverständnisses von Sein in den einzelnen Epochen der abendländischen Metaphysik).69 Indem dieses Denken in einem »Schritt zurück« den bisher ungedachten Grund der Metaphysik freizulegen vorgibt, versteht es sich als »Verwindung der Metaphysik«.70 Denn in dieser ist, wie Heidegger meint, das Sein in seinem geschickhaften Wesen bislang unbedacht geblieben. Dies allerdings ist nicht den Denkern zur Last zu legen, die mit ihren Entwürfen lediglich dem Zuspruch des Seins entsprechen.71 Somit erscheint die Seinsvergessenheit nunmehr als Folge der Seinsverlassenheit: Es ist das Sein selbst, das sich entzieht, sich spart und an sich hält, womit es alles Seiende und den Menschen jener Seinsnot und »Verwahrlosung« ausliefert, die im machenschaftlichen Wesen der Technik ihr Äußerstes erreicht.72 Durch die damit einhergehende »Erschütterung« alles Seienden, sein Wesenloswerden in einem globalen Nihilismus, kündigt sich die Notwendigkeit – wörtlich als »Wende der Not« zu begreifen – eines andersanfänglichen, besinnlichen Denkens an. Der Mensch ist so der vom Sein »gebrauchte« und be-nötigte, der sich darauf verwiesen sieht, sich nicht länger als »Herr des Seienden« zu gebärden, sondern als »Hirt des Seins« zu begreifen.73 Mit den Wegen und Wendungen seines Denkens hat Heidegger eine Fülle von Perspektiven eröffnet, an die in der Folge angeknüpft werden konnte. Dies im einzelnen darzulegen ist hier nicht der Ort. Nur einzelne Momente, welche die Entwicklung der Ontologie nachhaltig prägten, seien hervorgehoben. Kaum zu überschätzen in ihrer Tragweite ist Heideggers Abhebung der Lebenswelt und ihrer Gehalte (insbesondere des »Zeugs«) als einer eigenständigen Seinssphäre gegenüber der wissenschaftlichen Objektwelt. Hatte Husserl in Anknüpfung an Avenarius seit langem bereits das Ziel formuliert, zu einem »natürlichen Weltbegriff« zu gelangen,74 so blieb doch der Durchbruch dazu

68 Vgl. dazu R. Thurnher: Wandlungen der Seinsfrage. Zur Krisis im Denken Heideggers nach »Sein und Zeit« (Tübingen 1997). 69 GA 15, 345. 70 GA 11, 58 f.; GA 9, 365, 352, 343; GA 12, 103 f. 71 GA 14, 13 f.; GA 7, 18 f. 72 GA 79, 47, 50 f. 73 GA 9, 342, 331; GA 45, 190; GA 6, 2. Abteilung, 22. 74 Vgl. dazu Hua XIII, xxviii, 131f., 196 ff; Hua XVI, 3–7; Hermann Lübbe: Bewußtsein in Geschichten (Freiburg 1972) 19, 21, 46, 49; Christian Bermes: »Welt« als Thema der Philosophie (Hamburg 2004).

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Heidegger vorbehalten. Zu Recht machte er Husserl gegenüber geltend, daß zu einem natürlichen Weltbegriff nur zu gelangen sei, wenn man einen natürlichen ›Subjekt‹-Begriff zugrunde legt, also nicht vom »Bewußtsein überhaupt« als einem »phantastisch idealisierten Subjekt« ausgeht, sondern vom Dasein im »Zunächst und Zumeist« seiner »Alltäglichkeit«.75 Hervorzuheben ist ferner Heideggers Behandlung der ontologischen Differenz. Sie ist nicht nur etwas, was wir im Denken zu beachten und in bewußter Intention zu vollziehen haben. Vielmehr ist sie darüber hinaus und ursprünglicher noch etwas, was sich – wenngleich nur in seltenen Augenblicken – in unserem Existieren ereignet, und zwar im Affektiven, in Befindlichkeiten, die uns überkommen. Für gewöhnlich sind wir auf das innerweltlich Seiende bezogen und achten nicht eigens auf dessen Sein. Wenn jedoch – wie in der Angst76 oder der tiefen Langeweile77 – unser Weltbezug brüchig wird, das Seiende sich entzieht und das eintritt, was Heidegger als »Hineingehaltenheit in das Nichts«78 bezeichnet, wird uns mit einem Mal – im Entzug – das uns sonst selbstverständliche Sein als solches bewußt.79 Sartre hat dies aufgegriffen. Er sieht im Ekel (nausée) und in der Langeweile (ennui) Momente, in welchen das Sein als Phänomen sich dem Menschen geradezu aufdrängt.80 In diesem Sinne ist der Mensch jenes Wesen, in dem die Differenz von Sein und Seiendem sich ereignet. In seinem seinsgeschichtlichen Denken baut Heidegger diesen Gedanken dahin gehend aus, daß sich der Mensch der Gegenwart gegen dergleichen Erfahrungen sträubt, daß er dem Nichts in keiner Weise Raum geben will und sich statt dessen in einer Haltung, die Heidegger als »Insistenz« und »Irrnis« bezeichnet, fest im Seienden einzurichten bestrebt ist.81 Um Angst und Langeweile nicht aufkommen zu lassen, schafft sich der Mensch künstliche Ersatzwelten – bei Heidegger als »Erleben« thematisiert – und betreibt hektisch eine inflationäre Vermehrung des Seienden. Der klassischen Frage der Metaphysik »Warum ist überall Seiendes und nicht vielmehr Nichts« gibt Heidegger einen neuen Akzent, indem er ihr den Sinn unterlegt: warum zeigt sich (heute) überall Seiendes und nicht mehr Nichts?82 In diesem Versacken im Seienden, in der Verdrängung des Nichts und der Mißachtung des Seins sieht Heidegger das Wesen des Nihilismus. Für ihn

GA 2, 58 f., 69, 153 f., 273–276, 303; GA 20, 146 f., 158, 250, 253 f.; GA 56/57, 70–75, 85– 91; GA 63, 85–92; Walter Biemel: Husserls Encyclopedia-Britannica-Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu. In: Husserl, hg. von Hermann Noack (Darmstadt 1973) 282–315. 76 GA 9, 111 ff. 77 GA 9, 110; GA 40, 3 f.; GA 29/30, 230–249. 78 GA 9, 115. 79 Ebd.: »Das Nichts ist die Ermöglichung der Offenbarkeit des Seienden als eines solchen für das menschliche Dasein.« 80 J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts (Reinbek bei Hamburg 122006) 14; ders.: Der Ekel (Hamburg 1959) 148–163. 81 GA 9, 194 f. 82 GA 9, 382, 420. 75

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besteht er nicht, wie für Nietzsche, in der »Entwertung der obersten Werte«, sondern darin, »daß es mit dem Sein nichts ist«.83 Den Dichtern und Denkern sei es, wie Heidegger meint, vorbehalten, dem Nichts Raum zu geben.84 Nur als »Platzhalter des Nichts« könne der Mensch »Hirt des Seins« werden.85 An Heideggers Gewichtung der Befindlichkeit und emotionalen Verfassung anknüpfend, aber in originären, philosophisches Neuland erkundenden Ansätzen wurden von Sartre und Levinas Wege gewiesen, wie – die Immanenz des Bewußtseins durchbrechend – das Sein des Anderen in seiner Erschlossenheit zu denken ist. Nicht durch die Wahrnehmung seiner Leiblichkeit, durch Analogieschlüsse und das Vermögen der Einfühlung ist uns der Andere zugänglich, sondern durch jene seinsmäßige Betroffenheit, die er in uns auslöst. Was in der Begegnung mit ihm geschieht, ist ein ohne unser Zutun an uns sich vollziehender Wandel des existenziellen Habitus, in dem sich das Sein des Anderen bekundet. So hat Sartre beschrieben, wie das Auftauchen des Anderen in unserem Gesichtsfeld unser In-der-Welt-sein dahin gehend modifiziert, daß eine »Ausblutung« der Welt stattfindet. Solange der Andere nicht gegenwärtig ist, sind wir es, die den Dingen ihre Bedeutung und ihren Platz zuweisen und auf diese Weise eine Strukturierung ›unserer‹ Welt vornehmen. Mit dem Auftauchen des Anderen erfahren wir jedoch, daß die Dinge Seiten und Aspekte haben, die uns notwendigerweise entgehen: jene nämlich, die der Andere durch seine Weise, die Welt um sich zu zentrieren, ihnen verliehen hat. Schmerzhaft erfahren wir, wie die Welt einem Schwinden unterworfen ist, einem ständigen Abfließen auf ein Weltzentrum zu, das der Andere ist.86 Ein Wandel in unserem Selbst- und Weltverhältnis vollzieht sich auch, sobald wir den Blick des Anderen auf uns gerichtet fühlen. Der Blick des Anderen macht uns zum Objekt, enthüllt uns, wie Sartre meint, die Absicht des Anderen, uns auf den gegenwärtigen Aspekt und die gegenwärtige Situation zu fixieren, in welcher er uns zufälligerweise angetroffen hat. So haben wir die Empfindung, durch den Blick des Anderen unserer Subjektivität und Transzendenz beraubt zu sein, was Scham in uns auslöst, von der wir uns nur befreien können, indem wir unsererseits den Anderen anblicken und zum Objekt degradieren.87 Faßt Sartre die Begegnung als eine Art Kampf auf, der unter dem Gesichtspunkt der Dialektik von Herr und Knecht zu sehen ist, so entwickelt Levinas eine ganz andere, dem Paradigma der Gewaltlosigkeit verpflichtete Sichtweise. Er sieht im Anderen nicht den Feind, der uns beherrschen will, weil er im selben Maße wie wir auf Anerkennung und Selbstbehauptung bedacht ist. Bei Levinas erscheint der Andere als der wehrlose Andere, der sich uns ausliefert. Gerade

83 84 85 86 87

GA 5, 259, 264. GA 40, 28 f. GA 5, 348; GA 9, 347 f., 359 f., 410. J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts, a. a.O. [Anm. 80] 459–463. Ebd. 463–537.

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dadurch aber wird unser herrschaftliches Gebaren unterbrochen und in Frage gestellt. Wir erhalten durch die Begegnung die Chance, unsere Verantwortlichkeit für den Anderen wahrzunehmen und in die Dimension des Ethischen einzutreten. Diese ist für Levinas fundamentaler als die Dimension des Denkens und des Seins, die in der abendländischen Philosophie immer im Vordergrund gestanden hat. Die Ontologie hält Levinas für eine Bewegung der Totalisierung, in welcher es um Vereinheitlichung, um Unterwerfung des Fremden unter vorgegebene Prinzipien geht.88 Als die innere Logik dieser Bewegung tritt, wie er meint, der Krieg immer deutlicher zutage.89 Ihr Ziel sei Abgeschlossenheit durch Ausmerzung alles Fremden, um jene Beunruhigung loszuwerden, die Fremdheit stets mit sich bringt. Dieser Haltung gegenüber bedeutet die Begegnung mit dem anderen Menschen, wie Levinas sie begreift, einen Einbruch. Die totalisierende Logik der Immanenz sehe sich durch die unverfügbare Begegnung mit dem Anderen in Frage gestellt. Das Subjekt erfahre eine Verwandlung, eine Umorientierung seiner Sprache und seiner Zeitlichkeitsstruktur sowie eine Öffnung auf Unendlichkeit und Transzendenz hin. Levinas spricht von einer »Traumatisierung«, die das Subjekt in der Begegnung erfährt.90 Dabei geht es um den Anderen in seiner Schutzlosigkeit und Not, der uns sein Antlitz zuwendet. Auf dem Antlitz des Anderen, der sich uns ausliefert, sei ein »du wirst mich nicht töten« ablesbar.91 In solcher Begegnung sind wir nach Levinas unbedingt und ohne vorgreifendes Rechnen auf Gegenseitigkeit in Anspruch genommen. Es kommt eine Sprache (dire) in Gang, die sich von dem Diktat (le dit) der totalisierenden Dialektik radikal unterscheidet.92 Zudem erfolgt im Ethischen, wie Levinas zu erkennen glaubt, eine Öffnung auf das Unendliche und die Transzendenz hin: Hinter dem Antlitz des Anderen werde »eine Spur« des Göttlichen sichtbar,93 das uns diese Begegnung geschickt und damit in die Verantwortung gerufen hat. Gott lasse sich als der Geber erahnen, der aber in der Gabe sich verberge, der hinter ihr zurücktrete und – anders als in der Metaphysik – sich einer vorstellenden Repräsentation entzieht. Damit sollte deutlich geworden sein, inwiefern die Integration des Existenzdenkens in die Ontologie diese verwandelt und der Philosophie insgesamt neue Gesichtspunkte und Wege erschlossen hat.

Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit (Freiburg, München 21993) 38–47 und passim. 89 Ebd. 19 f., 321 ff.; E. Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (Freiburg, München 1992) 26 ff., 348, 378. 90 Ebd. 50 f., 245 f., 274 f. 91 E. Levinas: Totalität, a. a.O. [Anm. 88] 285, 313. 92 E. Levinas: Jenseits des Seins, a. a.O. [Anm. 89] 29 ff., 51 f., 93 ff., 110 ff. 93 Ebd. 44 ff., 257 ff., 329, 258, 395. 88

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Gemeinschaft und Gesellschaft

I. Ferdinand Tönnies Die Unterscheidung von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« geht auf das gleichnamige Buch von Ferdinand Tönnies (1887) zurück.1 Für Tönnies waren »Gemeinschaft« und »Gesellschaft«, wie der Untertitel seines Buches lautet, »Grundbegriffe der reinen Soziologie«. Eine der Schwierigkeiten der modernen Soziologie, mit diesem Begriffspaar umzugehen, liegt darin begründet, daß für sie Gesellschaft der Oberbegriff für alle Formen von Kommunikationen, sozialen Handlungen und sozialen Beziehungen ist und Gemeinschaften lediglich eine Spezialform von Gesellschaften bzw. sozialen Beziehungen sind. Tönnies selbst erwähnt als Beispiele für »Gemeinschaften« unter anderem Familien, Verwandtschaften, Ortsgemeinschaften, wie z. B. Nachbarschaft und Freundschaft. Er rechnet aber auch hinzu »natürliche« Einheiten wie Volk, Stamm und Clan. Immer geht es ihm um soziale Gebilde, die durch persönliche Beziehungen, typischerweise »face-to-face relationships«2 gekennzeichnet sind. Im Gegensatz dazu steht die Gesellschaft, in der die sozialen Zusammenhänge auf Nützlichkeitserwägungen beruhen und der persönlichen Beziehung der Handelnden nicht mehr bedürfen. Bei Tönnies entsprechen der »Gemeinschaft« und der »Gesellschaft« auch zwei unterschiedliche Formen des menschlichen Willens, die er Wesenwille und Kürwille nennt, wobei Kürwille die für Organisationen und Marktbeziehungen charakteristische willkürliche Bestimmbarkeit von Zielen meint. Während Zielsetzungen in traditionalen »Gemeinschaften« weitestgehend kulturell vorgegeben sind, sind »Gesellschaften« gerade dadurch bestimmt, daß die Zahl der Möglichkeiten dramatisch gesteigert wird, so daß das Feld der Entscheidungen immer komplexer wird. In »Gemeinschaften« ergeben sich schon aus dem Wesen der Gemeinschaft die möglichen Ziele und weitgehend auch die wählbaren Mittel zu ihrer Erreichung. In »Gesellschaften« expandieren sowohl die Horizonte für die Ziele als auch für die Mittel. Der klassische Ausdruck für diese Explosion ist selbstredend Markt und Geld. Wobei schon Hegel darauf hingewiesen hatte, daß Geld eben ein »Sein für Anderes« ist, dem

F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft (Leipzig 81935). Die letzte noch vom Autor besorgte Auflage liegt dem photomechanischen Nachdruck (Darmstadt 1963) zugrunde. 2 Auf diesen Ausdruck von Charles Horton Cooley kommen wir unten zurück. 1

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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Geld also als Mittel keine wesentliche Zuordnung zu einem bestimmten Zweck eignet.3 Diese Zusammenhänge lassen sich auch so fassen, daß es zwar sowohl in Gemeinschaften als auch in Gesellschaften den »Doppelhorizont« von Konsens und Dissens (Luhmann) gibt. Der Dissens bezieht sich aber in traditionalen Gesellschaften eher auf Fragen danach, was der Fall ist. Die zugrundeliegenden Schemata, sowohl im Kognitiven als auch im Moralischen und Kathektischen, scheinen aber als Konsens den Beteiligten nicht einmal bewußt zu sein. Im Einzelfall gibt es selbstverständlich immer darüber Streit, ob Handlungen den Standards entsprechen oder nicht. Zumindest fehlt es in Gesellschaften, deren zentrale Kommunikationsform Interaktion ist (d. h. Gesellschaften, deren einzige Kommunikationsform die unter Anwesenden ist4), an Möglichkeiten, Dissens gegenüber moralischen Prinzipien gedächtnisfähig zu artikulieren. Von all diesen Erwägungen völlig unabhängig sind Selbstdarstellungsformen von Gesellschaften. Gerade auch hoch ausdifferenzierte moderne Typen sind sehr wohl in der Lage, glaubwürdig ideologisch zu kommunizieren, daß sie z. B. nationale Gemeinschaften sind oder doch werden sollten. Die Selbstthematisierung von Staaten als nationalen Gemeinschaften hat gerade in Europa, besonders seit dem 19. Jahrhundert, integrative Funktionen übernommen, die reale Differenzen des Status, der Kenntnisse und der Interessen invisibilisiert haben: »Funktionssystemdifferenzen werden ignoriert; man hätte sich ja auch kaum vorstellen können, daß Unterschiede von Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Religion, Familie usw. ›patriotisch‹ integriert werden können. Es geht insofern also noch um alte Differenzen […], die Gemeinschaftsidee des 19. Jahrhunderts hat dagegen bereits ganz andere Konnotationen. Sie reagiert auf die modernen Lebensbedingungen dadurch, daß sie sich von ihnen unterscheidet.«5 Man kann denn auch nicht übersehen, daß Tönnies selbst die Unterscheidung von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« nicht nur rein formal als Differenz unterschiedlicher Gruppen ansehen wollte. Vielmehr sollte mit dieser Differenz auch die Zäsur zwischen eher archaischen Gesellschaften und der Moderne beSimmels Philosophie des Geldes greift diesen Aspekt erneut auf. Das »principle of limited possibilities« im Sinne Alexander Goldenweisers (vgl. A. Goldenweiser: The Principle of Limited Possibilities in the Development of Culture. In: Journal of American Folk-Lore 26 [1913] 259–290) ist insofern eher eine Beschreibung traditionaler Gesellschaften, und das gleiche gilt auch für den berühmten Artikel von George M. Foster: Peasant Society and the Image of Limited Good. In: American Anthropologist 67 (1965) 293–315. Die neuzeitliche Selbsterfahrung verknüpft sich demgegenüber immer wieder mit der durch Geld eröffneten Möglichkeit der Entfaltung beliebiger Möglichkeiten. 4 Vgl. hierzu Niklas Luhmann: Einfache Sozialsysteme. In: ders.: Soziologische Aufklärung 2 (Opladen 1975) 21–38; André Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme (Frankfurt a.M. 1999). 5 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (Frankfurt a.M. 1997) 949. Vgl. dazu auch Alois Hahn: Identität und Nation in Europa. In: Berliner Journal für Soziologie 3 (1993) 193– 203. 3

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stimmt werden. Übersetzt in die Begriffe der modernen Soziologie wären dann Gemeinschaften vormoderne Gesellschaftstypen, Gesellschaften moderne. Die Gemeinschaften erscheinen in diesem Licht als Gesellschaften mit einem geringen Grad von sozialer Ausdifferenzierung. Zumindest die Ausdifferenzierung autonomer sozialer Subsysteme im Sinne der modernen Systemtheorie findet sich dort nicht. Aber auch wenn man einen Begriff der modernen Welt betrachtet, wie er für die marxistische Theorie charakteristisch ist, und wie er sich gegenwärtig am prominentesten bei Immanuel Wallerstein zeigt,6 findet man diese Zäsur. Nur sind hier nicht Unterschiede der funktionalen, sondern der lokalen Differenzierung zentral, nämlich der zwischen Zentrum und Peripherie. Es ist aber ersichtlich, gerade bei Wallerstein, daß dieses Weltsystem, das sich von vormodernen Formen sozialer Gliederung unterscheidet, vor allem das ökonomische System betrifft. Bei Tönnies zeigt sich denn auch, daß sein Gesellschaftsbegriff im Grunde an der Ausdifferenzierung insbesondere des modernen Wirtschaftssystems mit den zu ihm passenden Formen der verselbständigten ökonomischen Interessen der freien Verfügung über Eigentum und dem formalen Recht orientiert ist. Ähnliche Dichotomien hat es in der sozialwissenschaftlichen Tradition während des ganzen 19. Jahrhunderts immer wieder gegeben. Man denke etwa an Durkheims Unterscheidung von »mechanischer und organischer Solidarität«, Spencers »Militant and Industrial Societies« oder an Sir Henry Maines Gegensatz von »Status and Contract«.7 Immer also geht es um den Gegensatz von mehr oder minder archaischen Gesellschaften, die besonders stark auf lokaler Verbundenheit mit familialer und verwandtschaftlicher Solidarität aufbauen und Gesellschaften, die, losgelöst von verwandtschaftlichen Beziehungen, auf der Basis überlokaler Verbindungen organisiert sind. Dabei leugnet Tönnies natürlich keineswegs, daß auch in allen Hochkulturen und vormodernen Reichen überlokale Beziehungen und Ausdifferenzierungen von Rollen, etwa auf der Ebene der Berufe, bestanden haben. Sie sind aber zumindest in ihrer Selbstdarstellung immer wieder auch an »natürlichen« Beziehungen orientiert gewesen. So schreibt Tönnies etwa über Herrschaft in Gemeinschaften: »So begründet das Vatertum am reinsten die Idee der Herrschaft im gemeinschaftlichen Sinne: wo sie nicht Gebrauch und Verfügung zum Nutzen des Herrn bedeutet, sondern Erziehung und Lehre als Vollendung der Erzeugung; Mitteilung aus der Fülle des eignen Lebens, welche erst in allmähVgl. I. Wallerstein: The Modern World-System. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century (New York, San Francisco, London 1974). 7 Immerhin ist die Erstauflage von Gemeinschaft und Gesellschaft sechs Jahre vor Durkheims De la division du travail social erschienen, wohingegen das Werk von Sir Henry Maine von 1861 von Tönnies selbst ausführlich ausgebeutet wird. Vgl. Émile Durkheim: De la division du travail social (Paris 1893); Herbert Spencer: First principles of sociology (London 1860– 1862); Henry Sumner Maine: Ancient Law. Its Connection with the Early History of Society and its Relation to Modern Ideas (London 1905). 6

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lich zunehmender Weise durch die Heranwachsenden erwidert werden und so ein wirklich gegenseitiges Verhältnis begründen kann. Hier hat der erstgeborene Sohn den natürlichen Vorzug: Er steht dem Vater am nächsten und rückt in die leer werdende Stelle des Alternden ein; auf ihn beginnt daher schon mit seiner Geburt die vollkommene Macht des Vaters überzugehen, und so wird durch ununterbrochene Reihenfolge von Vätern und Söhnen die Idee eines immer erneuten Lebensfeuers dargestellt.«8 Die Tönnies-Kritik hat, auf solche und ähnliche Formulierungen gestützt, immer wieder moniert, Tönnies verherrliche vormoderne Gemeinschaften als Welten vollkommener Harmonie und friedvoller Solidarität. Solche Kritik ist auch nicht ganz ungerechtfertigt. Aber immerhin geht Tönnies davon aus, daß sich auch Gemeinschaften durch dramatische Konflikte auszeichnen, die nicht weniger heftig sind als Kämpfe zwischen Klassen oder Konkurrenten im modernen Wirtschaftssystem. Der Typus der Feindseligkeit ist seiner Meinung nach freilich ein anderer. Er tendiert in »Gesellschaften« häufig zu unpersönlichen und emotional neutralen Formen. Für Konflikte in »Gemeinschaften« ist demgegenüber die Aufladung mit Affekten fast unvermeidlich: »Freundliche und feindselige Stimmungen und Leidenschaften unterliegen den gleichen oder sehr ähnlichen Bedingungen. Hier aber ist die Feindschaft, welche aus Zerreißung oder Lockerung natürlicher und vorhandener Bande hervorgeht, durchaus zu unterscheiden von derjenigen Art, die auf Fremdheit, Unverständnis, Mißtrauen beruht. Beide sind instinktiv, aber jene ist wesentlich Zorn, Haß, Unwille, diese wesentlich Furcht, Abscheu, Widerwille; jene akut, diese chronisch.«9 Grundsätzlich aber geht Tönnies davon aus, daß sich Feindschaft in Gemeinschaften gerade auf der Basis gemeinschaftlicher Werte, Ziele und Normen ergibt. Daß also alle Zwietracht gerade als Zerreißung ursprünglicher Eintracht zu verstehen sei. Mord und Totschlag zum Beispiel sind in Gemeinschaften feindselige Akte gegenüber Nahestehenden, wohingegen ein Bankraub typischerweise fremde Personen zum Ziele hat. Auch Tönnies übersieht natürlich nicht, daß es auch in der modernen Gesellschaft weiterhin gemeinschaftliche Sozialbeziehungen gibt. Sie dominieren aber nicht die Struktur dieser Gesellschaften, sondern werden von ihm als mikrosoziologische Reservate angesehen. Demgegenüber seien in vormodernen Gesellschaften gemeinschaftliche Beziehungsformen entweder die einzigen, die überhaupt existierten, oder doch die dominanten Strukturformen gewesen. Es ist leicht zu sehen, daß die Beschreibungen, wie sie seit Rousseau, aber auch im Deutschen Idealismus und bei Marx im Kontext der Entfremdungstheorie auftauchen, auch die Tönniesschen Überlegungen bestimmen. Moderne Gesellschaften sind eben aufgrund der Anonymisierungen der Beziehungen, 8 9

F. Tönnies: Gemeinschaft, a. a.O. [Anm. 1] 11. Ebd. 21.

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der hohen Arbeitsteiligkeit und der formalen Organisationen, die sich über weltweite Märkte Konkurrenzkämpfe liefern, Generatoren von Entfremdung, die es in dieser Form in der Vormoderne nicht gegeben hat. Es wäre aber unfair, Tönnies zu unterstellen, daß er Haß und Neid, Bösartigkeit, Unglück und Verzweiflung als etwas angesehen hat, das es in vormodernen Gesellschaften nicht gegeben habe. Lediglich Anlaß und Form hält er für höchst unterschiedlich. Zu den wichtigsten Kritikern der Unterscheidung von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« gehörte in Deutschland René König, der diese Dichotomie »insbesondere im deutschen Sprachbereich (aber nicht nur da), [für] verantwortlich für zahlreiche sozialethische Überhöhungen der Begriffe Familie und Gemeinde« hielt, und die dadurch, aus seiner Sicht, »zahlreichen Stereotypen und Vorurteilen Vorschub leistete.«10 Im Grunde ist das Begriffspaar für René König keine analytisch verwendbare Strukturkategorie, sondern nur Symptom für bestimmte ideologische Auffassungen. Nichtsdestoweniger hat es auch empirische Untersuchungen in diesem Zusammenhang gegeben, die mit Tönnies’ eigenen soziographischen Studien begannen, in denen er z. B. zwischen gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Formen von Kriminalität unterschied. Der Vorwurf Königs, Spannungen und desintegrative Formen seien von Tönnies für Gemeinschaften geleugnet und für Gesellschaften überdramatisiert worden, läßt sich ausweislich solcher Studien nicht aufrechterhalten.11 Talcott Parsons hingegen, auf den wir noch ausführlich zu sprechen kommen, interpretiert zu Recht sowohl Gemeinschaft als auch Gesellschaft im Sinne von Tönnies als differentielle Formen von Integration. Bei Parsons freilich wird der Konflikt nicht nur für Gemeinschaften, sondern auch für Gesellschaften vor dem Hintergrund des solidaritätsstiftenden Wertkonsensus gleichermaßen marginalisiert. Es ist deshalb nicht zufällig, daß Parsons den Begriff der »societal community« geprägt hat, also der gesellschaftlichen Gemeinschaft.12 Auch in der Ethnologie taucht ein diesbezüglicher Konflikt auf. So hatte Robert Redfield in Tepotzlán13 ein mexikanisches Dorf als eine Gemeinschaft Vgl. R. König: Soziologie. Das Fischer Lexikon (Frankfurt a.M. 1958) 158 f. Vgl. dazu ausgewogen die, übrigens bei König als Dissertation angefertigte, Arbeit von Alfred Bellebaum: Das soziologische System von Ferdinand Tönnies unter besonderer Berücksichtigung seiner soziographischen Untersuchungen (Diss. Köln 1964) (Meisenheim am Glan 1966). 12 Parsons’ Bemerkungen zu Tönnies selbst sind allerdings ihrerseits einseitig übertrieben, insofern er glaubt, daß sowohl Gemeinschaft als auch Gesellschaft bei Tönnies als »positive types of social relationships« fungieren, beide Typen also in der Tat Konfliktelemente ausschlössen (»both types specifically exclude conflict elements.«). Vgl. T. Parsons: The Structure of Social Action. A Study in social theory with special reference to a group of recent european writers (New York 21937) 687 f. Kampf und Konflikte sind für Tönnies vielmehr in beiden Gesellungsformen unvermeidlich, verschieden ist nur die jeweilige Form. 13 R. Redfiel: Tepotzlán. A Mexican Village. A Study of Folk Life (Chicago 1949) (zuerst 1939). 10 11

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im Tönniesschen Sinne beschrieben. In einer viele Jahre später angefertigten Studie von Oscar Lewis Tepotzlán Restudied 14 erwies sich das Dorf keineswegs als Insel der Harmonie und konfliktfreien Solidarität, sondern als durch mannigfache Spannungen zerrissen. Vor allem die Nichtberücksichtigung unterbäuerlicher Schichten seitens Redfields hatte dies bedingt. Rein logisch ergibt sich natürlich insofern daraus kein Widerspruch, da zumindest für die von Redfield untersuchten Dorfgruppen Gemeinschaftlichkeit unterstellt werden kann. Im übrigen ist Konfliktfreiheit weder bei Tönnies noch bei Redfield Gemeinschaften zu unterstellen.15

II. Max Weber Bei Max Weber findet sich in Wirtschaft und Gesellschaft16 anstelle der Begriffsdichotomie »Gemeinschaft und Gesellschaft« das Gegensatzpaar »Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung«. Waren »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« bei Tönnies noch Substanzbegriffe, so sind »Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung« bei Weber Prozeßbegriffe, so daß man bei ihm deutlich eine Dynamisierung des Unterschiedes feststellt.17 Weber folgt dem Vorbild von Georg Simmel, der freilich nur von »Vergesellschaftung«, nicht aber von »Vergemeinschaftung« spricht.18 Dabei darf man nicht übersehen, daß die von Simmel unter diesem Titel abgehandelten Prozesse durchaus auch solche einschließen, die Weber als Vergemeinschaftung bezeichnet. Das wird bei Simmel vor allem deutlich in seinen Abhandlungen über Freundschaft oder Liebe und Ehe.19 Im einzelnen führt Weber zum Gegensatz von »Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung« folgendes aus: »›Vergemeinschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns – im Einzelfall oder im Durchschnitt oder im reinen Typus – auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht. ›Vergesellschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf O. Lewis: Life in a Mexican Village. Tepotzlán Restudied (Urbana 1951). Vgl. R. Redfiel: The Primitive World and Its Transformations (New York 1953); ders.: The Little Community. Viewpoints for the Study of a Human Whole. (Uppsala, Stockholm 1955); ders.: Peasant Society and Culture (Chicago 1960). 16 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (Tübingen 51980) (zuerst 1920). 17 Weber verhält sich allerdings nicht ganz konsistent in seiner Begriffswahl. Spricht er doch sehr wohl auch von »Gemeinschaften«, wenn er soziale Beziehungen meint, die durch Vergemeinschaftung charakterisierbar sind. So spricht er zum Beispiel von »Hausgemeinschaft«, »Nachbarschaftsgemeinschaft« usw. 18 Vgl. hierzu G. Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (Frankfurt a.M. 1982). 19 Vgl. dazu generell ebd. 14 15

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ebenso motivierter Interessenverbindung beruht. Vergesellschaftung kann typisch insbesondre (aber nicht: nur) auf rationaler Vereinbarung durch gegenseitige Zusage beruhen. Dann wird das vergesellschaftete Handeln im Rationalitätsfall orientiert a) wertrational an dem Glauben an die eigene Verbindlichkeit, – b) zweckrational an der Erwartung der Loyalität des Partners.«20 Einerseits ist für Weber die Differenz dieser Begriffe dadurch deutlich, daß »Vergesellschaftung« in ihren reinsten Typen stets mit einer Form von Rationalität verbunden ist, und im Gegensatz zur »Vergemeinschaftung« daher gerade »von der Pflege emotionaler und affektueller Interessen absieht und nur der Sache dienen will«21. Andererseits stellt er mit Nachdruck fest, daß die große Mehrzahl der sozialen Beziehungen sich gerade dadurch auszeichnet, daß sie »teils den Charakter der Vergemeinschaftung, teils den der Vergesellschaftung«22 besitzen, daß also gerade jede noch so zweckrationale soziale Beziehung Gefühlswerte stiften könne, die über den gesetzten Zweck hinausgriffen. Die Möglichkeit der Kombination ändert jedoch nichts daran, daß für die jeweils unterschiedlichen Typen unterschiedliche Verhältnisse von Emotionalität und Rationalität dominant sind. Aber ebenso wie schon für Tönnies, entgegen der Unterstellung einiger seiner Interpreten, ist auch für Weber vollständig evident, daß »Vergemeinschaftung«, wiewohl sie »auf jeder Art von affektueller oder emotionaler oder aber traditionaler Grundlage«23 ruhen kann, keineswegs zwangsläufig mit Harmonie oder Friedfertigkeit einhergehen muß. Normalerweise sei Vergemeinschaftung »dem gemeinten Sinn nach der radikalste Gegensatz gegen Kampf.«24 Aber, so Weber weiter: »Dies darf nicht darüber täuschen, daß tatsächlich Vergewaltigung jeder Art innerhalb auch der intimsten Vergemeinschaftungen gegenüber dem seelisch Nachgiebigeren durchaus normal ist, und daß die ›Auslese‹ der Typen innerhalb der Gemeinschaften ganz ebenso stattfindet und zur Verschiedenheit der durch sie gestifteten Lebens- und Überlebenschancen führt wie irgendwo sonst.«25 Simmel hatte diesen Umstand schon einige Jahre früher dahingehend interpretiert, daß der Streit selbst eine Form der Integration sei.26

M. Weber: Wirtschaft, a. a.O. [Anm.16] 21–22. Ebd. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Vgl. G. Simmel: Soziologie, a. a.O. [Anm. 18]; vgl. im Anschluß an Simmel auch Lewis A. Coser: The Functions of Social Conflict (London 1956) und ders.: Continuities in the Study of Social Conflict (New York 1967). 20 21

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III. Helmuth Plessner 1924 erscheint mit Helmuth Plessners Grenzen der Gemeinschaft 27 ein Werk, das die Ideologieanfälligkeit des Begriffs »Gemeinschaft« kritisiert. Im gleichen Zuge wertet es den Begriff der »Gesellschaft« auf. Der Zeitbezug ist evident. Gerade mit der Jugendbewegung und den illegitimen Erben, den Nationalsozialisten, war ja eine ins Extrem gesteigerte Nachfrage nach Gemeinschaftlichkeit entstanden, die vom Einzelnen das Aufgehen in der und Aufopfern für die Gruppe, den Bund28 und schließlich die Volksgemeinschaft verlangte. Plessner unterstrich demgegenüber den Wert der Distanz und der freien Selbstgestaltung des Daseins, wie er sich aus seinem anthropologischen Zentralkonzept der exzentrischen Positionalität ergab. Gemeinschaften erweisen sich nicht nur als Fluchtburgen der Geborgenheit, sondern eben auch als drastische Einschränkung individueller Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit. Wenn es ein Kontinuum zwischen Bindung und Distanz gibt, so liegt sicher die Gemeinschaft, so wie sie Tönnies konzipiert, an einen Ende des Kontinuums. Bereits Simmel hatte in seiner Arbeit über die moderne Persönlichkeit darauf hingewiesen, daß sie gerade im Kreuzungspunkt sozialer Kreise entsteht, daß sie also nur als gleichsam extrasozietale ihre Selbständigkeit erringt.29 Oder, um eine Luhmannsche Formulierung zu wählen: »Das Individuum kann nicht mehr durch Inklusion, sondern nur durch Exklusion definiert werden.«30 Es verdankt »[…] seine Individualität nun nicht mehr der sozialen Inklusion, sondern der sozialen Exklusion« in dem Maße, wie »[…] das Verhältnis der Gesellschaft von Inklusionsindividualität auf Exklusionsindividualität umgestellt wird.«31 Der Grund dafür ist, daß das Individuum eben in keiner der Gruppen, denen es angehört, als Ganzes sich einbringen kann, sondern jeweils nur mit einer seiner Rollen in die verschiedenen Kontexten hineinreicht, in denen es agiert. 27 H. Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (Frankfurt a.M. 2002). 28 Hermann Schmalenbach: Die soziologische Kategorie des Bundes. In: Dioskuren 1 (1922) 35–105, hat in diesem Zusammenhang den »Bund« als dritte Kategorie zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft eingeführt. Dieser Typus von sozialer Beziehung ähnelt insofern den Gemeinschaften, als es sich, jedenfalls dem Ideal nach, um Beziehungen handelt, die die gesamte Person, auch emotional, betreffen. Und insofern ähneln sie auch wieder der Gesellschaft, da es sich nicht um Gruppen handelt, denen man schicksalhaft im Tönniesschen Sinne angehört, sondern in die man absichtlich ein- oder austreten kann. 29 Vgl. G. Simmel: Die Kreuzung sozialer Kreise. In: ders.: Soziologie, a. a.O. [Anm. 18] 456– 511. 30 N. Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus. In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3 (Frankfurt a.M. 1989) 149–258, hier 158. 31 Ebd. 159 f. Vgl. hierzu auch Cornelia Bohn: Inklusion, Exklusion und die Person (Konstanz 2006) und A. Hahn: Partizipative Identität. Wiederabdruck in: ders.: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte (Frankfurt a.M. 2000) 13–80.

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Der hier angesprochene Punkt bezieht sich also auf die Rolle von Gemeinschaften für die Bildung der menschlichen Person. Hier hatte schon der bereits erwähnte Charles Horton Cooley darauf hingewiesen, daß gemeinschaftsähnliche Gruppen für die Herausbildung der menschlichen Person und der menschlichen Natur fundamental sind. Er definiert diese Gruppen, die er »primary groups« nennt, »[…] by intimate face-to-face association and cooperation. They are primary in several senses, but chiefly in that they are fundamental in forming the social nature and ideals of the individual. The result of intimate association, psychologically, is a certain fusion of individualities in a common whole, so that one’s very self, for many purposes at least, is the common life and purpose of the group. Perhaps the simplest way of describing this wholeness is by saying that it is a ›we‹; it involves the sort of sympathy and mutual identification for which ›we‹ is the natural expression.«32 Wie für seinen Zeitgenossen Tönnies ist allerdings auch für Cooley klar, daß primäre Gruppen konfliktanfällig sind: »It is not to be supposed that the unity of the primary group is one of mere harmony and love. It is always a differentiated and usually a competitive unity, admitting of self-assertion and various appropriative passions; but these passions are socialised by sympathy, and come, or tend to come, under the discipline of a common spirit. The individual will be ambitious but the chief object of his ambition will be some desired place in the thougt of the others.«33 Für Cooley sind insofern Primärgruppen, zu denen er vor allen Dingen die Familie, den »playground« und die Nachbarschaft zählt, die »nursery of human nature in the world about us.«34 In vielen Gesellschaften gibt es nun freilich lediglich primäre Gruppen. Dies ist für moderne Gesellschaften aber eben nicht der Fall. Insofern ist deutlich, daß es einerseits Gruppen gemeinschaftlichen Typs bedarf, um jene elementare Sozialisation von Gefühlen, Empfindungen und basalen Sinnvorstellungen zu entwickeln, andererseits aber auch komplexe Formen des Umlernens bei der Existenz in sekundären Gruppen. Man könnte diese Umstellungsnotwendigkeiten mit dem Wandern zwischen zwei Welten vergleichen. T. Parsons betont vor allem mit Hinweis auf Eisenstadts From Generation to Generation 35 den dramatischen Charakter und »[…] the sharpness of the change of orientation which must occur in modern industrial societies in shift of the child’s primary anchorage of personal security from the family to the more universalistic, achievment oriented and affectively neu-

Ch. H. Cooley: The Social Organisation [1902], hier zitiert nach: The Two Major Works of Charles H. Cooley (Glencoe 1956) 23. 33 Ebd. 23 f. 34 Ebd. 24. 35 Vgl. Shmuel N. Eisenstadt: From Generation to Generation. Age Groups and Social Structure (London 1956). 32

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tral social roles, especially in the occupational and market structures, but very much foreshadowed in the system of formal education.«36

IV. Talcott Parsons Wie zuerst R. König gezeigt hat,37 findet sich in der Soziologie von T. Parsons eine Auflösung des einen Begriffspaares »Gemeinschaft und Gesellschaft« in fünf begriffliche Gegensatzpaare, die jeweils alternative Orientierungsweisen des Handelns in Bezug auf ein soziales Objekt darstellen. Die fünf Alternativpaare dieser »pattern variables« (Affektive Orientierung – Affektive Neutralität; Orientierung an der Kollektivität – Orientierung an der eigenen Person; Orientierung an einem partikularen Bezugsrahmen – Orientierung an einem universellen Bezugsrahmen; Orientierung an vorgegebenen Eigenschaften – Orientierung an Leistung; Diffuse Orientierung – Orientierung an spezifischen Eigenschaften) stellen im jeweils ersten Teil des Begriffspaares ein charakteristisches Merkmal einer Gemeinschaft und im zweiten Teil ein charakteristisches Merkmal einer Gesellschaft im Sinne von Tönnies dar.38 Nimmt man als Beispiel für Gemeinschaft einmal die Familie und als Beispiel für eine gesellschaftliche Beziehung die Tätigkeit eines Arztes, lassen sich die Gegensatzpaare der »pattern variables« leicht erläutern. Innerhalb der Familie ist das Handeln sehr wohl an den affektuellen, emotionalen Äußerungen der Familienmitglieder orientiert: Ärgert man sich über die Geschwister, kann man ihnen soweit wie möglich aus dem Weg gehen, bis der Ärger verraucht ist. Der Arzt aber muß auch den Patienten, der ihm persönlich noch so unsympathisch sein mag, ebenso nach den Regeln seiner Kunst behandeln, wie alle anderen Patienten auch. Das heißt in der Folge auch, daß die ausgeführten ärztlichen Maßnahmen und Therapieanstrengungen sich einzig am Wohle des Patientenkollektivs auszurichten haben und nicht etwa an Erwägungen, die der Bequemlichkeit des Arztes geschuldet sind, wohingegen in gemeinschaftlichen Beziehungen ein weitaus größerer Spielraum für persönliche Vorlieben und Launen bleibt. Was die Orientierung an einem partikularen oder universellen Bezugsrahmen betrifft, so gehört es geradezu zur Vater-, Mutter- oder Geschwisterrolle, sich den Familienmitgliedern gegenüber z. B. loyaler zu verhalten als Nicht-Familienmitgliedern gegenüber. Diese Art von Partikularismus ist genau das, was Max Weber als »geschlossene Vergemeinschaftung« bezeichnet hatte, im Gegensatz zu

36 T. Parsons: Some Afterthoughts on Gemeinschaft and Gesellschaft. In: Ferdinand Tönnies. A New Evaluation, ed. by Werner J. Cahnman (Leiden 1973) 151–160, hier 156. 37 Vgl. R. König: Soziologie, a. a.O. [Anm. 10] 88 f. 38 Vgl. T. Parsons: The Social System (New York 1951) und: T. Parsons, Edward Shils (Ed.): Toward a General Theory of Action (New York 1962).

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»offenen Vergemeinschaftungen«, bei denen im Grunde jeder, der die gleichen Bedingungen erfüllt, gleich behandelt werden muß.39 In »Gemeinschaften« sind Zugehörigkeiten in einem ganz bestimmten Bereich unabhängig davon, was der Zugehörige leistet. Man ist Mitglied einer Familie auch dann, wenn man nicht besonders tüchtig ist, insbesondere gilt hier typischerweise das Prinzip der askriptiven Zugehörigkeit. Man wird in eine Gruppe hineingeboren oder jedenfalls nach der Heirat für immer einer neuen Gruppe zugeordnet. Oder, um es mit Tönnies zu sagen, »Gemeinschaften« sind Schicksalsgemeinschaften, nicht Vereine, denen man beitritt, um bestimmte Interessen zu verwirklichen. Man kann deshalb aus ihnen auch nicht einfach austreten, wenn eine alternative Gruppe größere Profitchancen bietet. Im Gegensatz dazu hängen die Aufnahme und der Verbleib in einer Organisation fast einzig an der Erfüllung formal vorgeschriebener Leistungen. Was der Einzelne zu leisten hat, richtet sich in gesellschaftlichen Zusammenhängen nach funktional-spezifischen Vorgaben, die sich in Gemeinschaften kaum finden. Die Mutter ist eben nicht nur für einen bestimmten Bereich kindlicher Bedürfnisse zuständig, sondern für alle. Diffusheiten sind Allzuständigkeiten in der sachlichen Sinndimension. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß im Kontext von »Gesellschaft« von der Person als Ganzer abgesehen werden kann. Die Person wird zum Hintergrund, der für die konkrete Interaktion in einem gegebenen Systemkontext irrelevant wird. Parsons unterstreicht bereits 1937, also bevor er die Pattern Variables als Theoriemodell entwickelt, diesen Zusammenhang eigens: »In particular it is irrelevant whether the ultimate-value systems of the parties are integrated. When a man walks into a store in a strange city to make a purchase his only relevant relation to the clerk behind the counter concerns matters of kind of goods, price, etc. All other facts about both persons may be disregarded. Above all it is not necessary even to know whether the two have any further interests in common beyond the immediate transaction.«40 Das wird auch besonders deutlich, wenn man sich den Typus von Pflichten in beiden Gesellungsformen anschaut. In »Gesellschaften« sind sie im wesentlichen vertraglich oder rechtlich gesetzt und genau spezifiziert. Wozu man rechtlich oder vertraglich nicht verpflichtet ist, das ist erlaubt. Gemeinschaftspflichten hingegen sind, wie Parsons das formuliert, »typically unspecified and unlimited. If specified at all it is in the most general terms. Thus in the marriage oath each assumes the obligation to ›love and cherish, for richer for poorer, in sickness and in health‹. It is a blanket obligation to help in whatever contingency may arise in the course of a common life. The burden of proof is on him who would evade an obligation arising in any such contingency.«41 39 40 41

Vgl. M. Weber: Wirtschaft, a. a.O. [Anm. 16] 23. T. Parsons: Structure, a. a.O. [Anm. 12] 86. Ebd. 690.

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Auch Parsons selbst betont: Die kritische Auseinandersetzung mit der Gemeinschafts-Gesellschafts-Dichotomie »constituted the most important reference-point in the theoretical literature for the developement of the conceptual scheme which eventually came to be called pattern variables.«42 Vor allen Dingen in seinem Aufsatz über die akademischen Berufe43 zeigt Parsons im Gegensatz zur Konstruktion bei Tönnies, daß die verschiedenen Pattern Variables auch anders kombiniert werden können als in der oben beschriebenen Liste. Der eigentlich zentrale Punkt für gemeinschaftliche Gruppen bleibt letztlich Affektivität oder Liebe, wie sie für Familie oder Partnerschaft unverzichtbar zu sein scheinen: »[…] the primary ›cement‹ which makes such groups solidarity is affective ties.«44 Parsons weist allerdings darauf hin, daß Liebe und Erotik mit Geld, Macht und Einfluß zumindest in ihrer Wirkung bestimmte funktionale Äquivalente aufweisen. Sie werden von ihm als generalisierte Austauschmedien interpretiert: »[…] affect may be considered to be a generalized medium of interchange operating at the level of the general system of action parallel to the societal media, like money, power, and influence.«45 Aus dem Charakteristikum für eine traditionale Gesellschaftsform wird also nunmehr ein gesamtgesellschaftliches Medium für ausdifferenzierte Subsysteme in der modernen Gesellschaft. Genau an dieser Stelle hat Niklas Luhmann die Systemtheorie von Parsons weiterentwickelt.46 Liebe wird also zu einem ausdifferenzierten Medium, das sich eigener Codes bedient, sie wird als eine »Gemeinschaft« dadurch etabliert, daß sie eine eigene Weltkonstruktion im Intimbereich institutionalisiert, die gesellschaftlich gerade nicht konsensfähig ist. Es geht um die Reziprozität einzigartiger Weltentwürfe. In Liebesbeziehungen also »[…] wird einem ein Bestätigungsverhalten zugemutet, das nach außen nicht anschlußfähig ist, das wohl anderswo nicht vertreten werden kann.«47 »Gemeinschaft« wird also nicht zu einem anderen Gesellschaftstyp als »Gesellschaft«. Vielmehr wird Liebesgemeinschaft zu einem Subsystem innerhalb der Gesellschaft. Damit kann man den Gemeinschaftsbegriff verabschieden.

T. Parsons: Some Afterthoughts, a. a.O. [Anm. 36] 151. T. Parsons: The Professions and Social Structure. In: ders: Essays in Sociological Theory (Glencoe 1964) 34–50. 44 T. Parsons: Some Afterthoughts, a. a.O. [Anm. 36] 157. 45 Ebd. 157. Zur definitiven Fassung der Idee der Pattern Variables bei Parsons vgl. ders.: Pattern Variables Revisited. A Response to Robert Dubin. In: ders.: Sociological Theory and Modern Society (New York 1967) 192–220. 46 Zu Luhmanns Theorie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien vgl.: Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. In: Zeitschrift für Soziologie 3 (1974) 236–255; auch in: ders.: Soziologische Aufklärung 2 (Opladen 1975) 150–169. 47 N. Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität (Frankfurt a.M. 1982) 25. 42 43

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Gerechtigkeit

I. Das oberste Gerechtigkeitsprinzip und seine Geschichte Gerechtigkeit wird heute in, aber überwiegend auch außerhalb der Philosophie als der Teil der Moral verstanden, dessen Regeln notfalls erzwungen werden dürfen. Sie fällt zusammen mit dem nicht-positivierten Recht, das man oft moralisch nennt und früher ›natürlich‹ oder ›vernünftig‹ nannte. Kant drückte die spezifische Differenz der Gerechtigkeit von der Moral im Satz aus: »Das Recht ist mit der Befugniß zu zwingen verbunden.«1 Mit der Eigenschaft der Erzwingbarkeit wird zwar nur eine formale Bedingung der Gerechtigkeit beschrieben, aber gerade weil sie die Gerechtigkeit vom Rest der Moral unterscheidet, ohne auf Inhalte festzulegen, taugt sie für ein erstes Verständnis der Gerechtigkeit. Antike Philosophen verstanden Gerechtigkeit umfassender. In Platons Frühdialog Euthyphron gehört zum Gerechten alles, was mit der Behandlung von Menschen und Göttern zu tun hat.2 Dies Verständnis läßt weder Platz für eine Unterscheidung der Art der Behandlung – ob sie Zwang anwenden darf oder nicht, noch für ihren Gegenstand – ob es Menschen oder nicht-menschliche Intelligenzen sind. Noch Cicero hebt unter den Pflichten zwar, der größeren Komplexität der römischen Gesellschaft entsprechend, die der Gerechtigkeit hervor, definiert die »Grundlagen der Gerechtigkeit« aber als die zwei Regeln, »niemandem zu schaden« und »dem Gemeinnutzen zu dienen«;3 die zweite wurde später eher der ›caritas‹ als der Gerechtigkeit zugeordnet. Der weitere Begriff der Antike entsprach der geringen Differenzierung der Gesellschaft, die eine ebenso geringe Unterscheidung der Art bedingte, Moral durchzusetzen. Das 17. Jahrhundert verwies dagegen Religion und Wirtschaft aus der Staatssphäre, nachdem Religionskriege Europa ruiniert und das Bürgertum sich als fähiger als die Staaten erwiesen hatten, Reichtum zu produzieren. Was als Privatsphäre galt, zuvor nur der enge häusliche Bereich, schwoll um die Bereiche der Religion und Wirtschaft an und löste die Sphäre des Staats als primären Ort der Moral ab. Da die meisten Handlungen Familie, Religion und Wirtschaft betreffen, galt die Moral primär als System zur Lenkung nicht mehr des Staats, sondern des Privatbereichs. Nur ihr nun kleiner Teil der Gerechtigkeit war als zwangsbewehrt vom Normalfall solcher Regeln zu unter-

1 Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten. Einleitung in die Rechtslehre § D. Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, Bd. 6 (Berlin 1907) 231. 2 Platon: Euthyphron 10e–12e. 3 Cicero: De officiis I, 10 (31), lat.-dt. hg. von Heinz Gunermann (Stuttgart 1976) 30 f.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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scheiden, die mit den Mitteln von Familie, Religion und Wirtschaft durchgesetzt werden: mit Überredung, Lob und Tadel und den Marktmechanismen von Angebot und Nachfrage; kurz mit positiver Verstärkung statt mit negativer wie im Staat. So verstehen die Moraltheorien des 18. Jahrhunderts moralische Normen und Tugenden als Ergebnisse der menschlichen Natur, die man verdirbt und um ihre moralische Würde bringt, wenn man sie mit Zwang hervorbringen will. Hume nennt solche Tugenden »natürlich«, solche der erzwingbaren Gerechtigkeit dagegen »künstlich« (»artificial«).4 Kant verweigert der (erzwingbaren) Gerechtigkeit sogar den Titel einer Tugend, da er ihre Normen als Rechtslehre und die übrigen, nach ihm die eigentlich moralischen Normen, als Tugendlehre zusammenfaßt.5 Humes und Kants Unterscheidung von Moralität und Gerechtigkeit wurde im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Rechtspositivismus verschärft, der das Recht im Unterschied zur Moralität als grundsätzlich willkürliche Regeln des amoralischen Staats betrachtete. Heute ist dagegen die Gerechtigkeit überwiegend wieder als der Teil der Moral anerkannt, der aus moralischen Gründen erzwingbar ist: nicht weil der Staat, sondern die Schlechtigkeit ungerechter Handlungen es verlangt. Dies Verständnis der Gerechtigkeit hat sich erst nach der Aufklärung durchgesetzt. Der Zwang, zu dem, wie Kant sagt, das Recht befugt, ist nur erlaubt, wenn er »als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit […] recht« ist.6 Er darf nur sekundär sein und muß primären Zwang verhindern. Wenn wir nicht annehmen wollen, daß Menschen Gerechtigkeits- und Rechtsideen ohne Sinn und Verstand entwickelt haben, so müssen wir als ihr implizites Ziel die Minimierung von Zwang betrachten. Wir können vermuten, daß sie lernten, daß Gesellschaften mit wenig Zwang besser gedeihen als solche mit viel; daß Zwangminimierung nicht nur für die Beherrschten, sondern auch die Herrscher vorteilhaft ist. Diese Erfahrung kann leicht zum positiven Ideal werden, jedes Individuum in seinem Willen zu respektieren. Dies Ideal orientiert Kants Rechtslehre. In einem weiteren Schritt erreichen wir das Ideal, jedem Individuum zu helfen, soweit man kann, – zu Kants Ideal der Moralität. Im Gebrauch von Zwang zur Zwangminimierung liegt eine Paradoxie, die immer wieder zur Verpönung jeglichen Zwangs, auch des Rechtszwangs, herausfordert. Aber Recht, individuelle Rechte und Gerechtigkeit ließen sich alle nicht von bloßen Pflichten unterscheiden, wären sie nicht mit der Befugnis zu zwingen verbunden. Denn ein Recht gibt notwendig seinem Träger die Befugnis, den Rechtsadressaten zu dem zu zwingen, wozu der Rechtsträger ein Recht hat;

4 David Hume: A Treatise of Human Nature III, 2, 1–2; ed. by Lewis A. Selby-Bigge and Peter H. Nidditch (Oxford 1978) 477–501. 5 I. Kant: Metaphysik der Sitten. Einl. in die Rechtslehre. Einteilung der Met. der Sitten, a. a.O. [Anm. 1] 239. 6 I. Kant: Metaphysik der Sitten, a. a.O. [Anm. 1].

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andernfalls wäre es kein Recht. Solange wir für Menschen Rechte fordern, fordern wir auch den Gebrauch von Zwang zur Minimierung von Zwang. Das Verständnis von Gerechtigkeitsregeln als erzwingbar impliziert das der Moral als zweistufiger Institution. In ihrer ersten Stufe zielt die Moral auf Zwangsvermeidung und erlaubt Zwang zu diesem und nur zu diesem Zweck. In ihrer zweiten Stufe fordert sie, wenn einmal Individuen als zu respektieren anerkannt sind, über Achtung hinaus auch Hilfe für sie. Die Stufen sind nicht historisch zu verstehen. Die Geschichte der Moral ist vielmehr von den Unterschieden in den Normen geprägt, die für das Verhalten zu Verwandten und Freunden gelten (weitgehend übereinstimmend mit Normen der Moralität), zu Feinden und zu solchen Gruppen, die Freunde, aber auch Feinde werden könnten (weitgehend übereinstimmend mit Normen der Gerechtigkeit).7 Die Stufen sind zu verstehen als logische Folge. Die erste ist die logische Bedingung der zweiten. Sie legt fest, was eine Gesellschaft verbannt; die zweite, worauf sie zielt. Die eine zieht eine scharfe Grenze zwischen verboten und erlaubt; die andere gibt Ideale an, die man freiwillig und um ihrer selbst willen anstrebt. Gesellschaften können die Grenze zwischen verboten und erlaubt verschieden ziehen, verschiedene positive Ziele zu Idealen erheben und sich dadurch voneinander unterscheiden. Soweit sind Moral und Gerechtigkeit kulturrelativ. Gemeinsam ist ihnen jedoch die Verpönung von Handlungen, deren Zwangscharakter offensichtlich ist. Solche sind Mord und andere Gewalttaten sowie Betrug und andere Irreführungen. Was als Gewalt und Betrug verstanden wird, kann verschieden sein. Aber wird eine Handlung als Gewalt oder Betrug verstanden, gilt sie als Unrecht. Diese Vorstellung läßt sich in allen heutigen Gesellschaften finden und entspricht den Gerechtigkeitsintuitionen der meisten Menschen. Sie gründet vermutlich darin, daß Menschen sich und einander als Wesen sehen, die von Tieren durch das Vermögen zu überlegten Entscheidungen unterschieden sind und dies Vermögen gebrauchen sollten. Weil sich Menschen und Gesellschaften nicht nur voneinander, sondern auch von Tieren abgrenzen, ist das oberste Gerechtigkeitsprinzip der Ausschluß von Zwang, der allein zu Zwang befugt, unabhängig von einer bestimmten Kultur. Es ist vielmehr das Prinzip der Zivilisation, soweit diese von Barbarei oder tierischem Verhalten unterschieden wird.

II. Arten der Gerechtigkeit Gewalt und Betrug können in verschiedenen Handlungsbereichen auftreten; nach diesen lassen sich Arten der Gerechtigkeit und der Rechte unterscheiden. Schon Aristoteles unterschied anders als Platon Gerechtigkeit im allgemeinen Vgl. U. Steinvorth: Moral als Gewalt gegen sich selbst? In: Moral als Gift oder Gabe, hg. von Brigitte Boothe und Philipp Stoellger (Würzburg 2004) 104–126. 7

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als Gesetzestreue8 von besonderen Arten der Gerechtigkeit, die mit »Ehre, Geld oder Sicherheit« zu tun haben9 und von ihm als Verteilungs-, Tausch- oder Reziprozitäts- und Strafgerechtigkeit erörtert wurden.10 Heute können wir diese Unterscheidungen weiter differenzieren, ihnen neue hinzufügen und voraussichtlich immer wieder neue entdecken, gemäß den angeschwollenen Sphären, in denen Menschen einander Gewalt und Betrug antun und ihre Ungerechtigkeit zu verbergen suchen. Ich stelle im folgenden die Bereiche vor, die in den letzten Jahrzehnten die wichtigsten Themen waren: Verteilungsgerechtigkeit in und zwischen den Nationen, die die Gerechtigkeit in der Güteraneignung oder das Recht auf Eigentum einschließt; das Recht zum und im Krieg; das Recht von Staaten auf Gehorsam. Diese Bereiche der Theorie sind ebenso eng miteinander verzahnt wie die Bereiche der Gesellschaft; daher ist ihre Unterscheidung nicht ohne Willkür.

A. Verteilungsgerechtigkeit in Nationen Fragen der Verteilung der Güter, die Menschen in der Natur vorfinden oder gemeinsam erjagen, rauben oder produzieren, ebenso wie der Lasten, denen sie gemeinsam ausgesetzt sind, haben zu allen Zeiten interessiert und manche Denker zur Gleichsetzung von Gerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit geführt. Gäbe es alle Güter im Überfluß oder wären Menschen so wohlwollend zueinander, daß sie alles miteinander teilten, dann, so argumentiert Hume, gäbe es keine Gerechtigkeit. Daher nennt er sie eine »cautious, jealous virtue«.11 Ähnlich hält Marx das Recht für eine bürgerliche Einrichtung, die überflüssig wird, »nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen«.12 Aber Gewalt und Betrug können Menschen einander nicht nur in der Verteilung von Gütern und Lasten antun. Wenn sie einander verletzen, demütigen oder Verträge brechen, muß es nicht um Verteilung gehen. Wenn sie einander so wohlwollen, daß sie alles miteinander teilen, dann allerdings wären Gewalt und Betrug per definitionem ausgeschlossen. Solches Wohlwollen ist jedoch auch dann nicht zu erwarten, wenn Menschen nicht mehr um Güter und Lasten strei-

Aristoteles: Nikomachische Ethik V, 1129 a 31 ff. Ebd. 1130 b 2. 10 Ebd. 1131 a 10 ff. (Verteilung), 1131 b 25 ff. (Strafe), 1132 b 21 ff. (Reziprozität). 11 D. Hume: An Enquiry Concerning the Principles of Morals § 145, ed. by Lewis A. SelbyBigge and Peter H. Nidditch (Oxford 1975) 184. 12 K. Marx: Kritik des Gothaer Programms, I, 3. Karl Marx, Friedrich Engels: Werke Bd. 19 (Berlin 1962) 21. 8 9

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ten. Sie werden noch immer um Neigung und Beachtung konkurrieren und aus Eifersucht, Neid und anderen vermeintlichen Kränkungen Unrecht tun. Wenn Gerechtigkeit nicht nur in gerechter Güter- und Lastenverteilung besteht, kann sie keine Form der Gleichheit sein, auch nicht, wie Marx und viele andere meinen, »nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn«. Marx hat in der, wie er annahm, notwendigen Beziehung von Gerechtigkeit und Gleichheit eine »Schranke« allen Rechts gesehen, unvereinbar mit einer Menschen angemessenen Gesellschaft. Die Schranke bestehe darin, daß vor dem Recht »die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedne Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären) […] nur an gleichem Maßstab meßbar [sind], soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt«.13 Als Beispiel führt Marx an: »Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc. Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein.« Aber dann wäre es nach Marx kein Recht mehr. Eine Gesellschaft, die wie die voll entwickelte kommunistische Gesellschaft nicht mehr den Anteil eines Individuums am »gesellschaftlichen Konsumtionsfonds« an seiner Arbeitsleistung oder einem andern »gleichen Maßstab« mißt, hätte kein Recht mehr.14 Wenn wir anders als Marx Gerechtigkeit auch für Überflußgesellschaften notwendig halten, können wir sie nicht notwendig auf Gleichheit oder einen gleichen Maßstab beziehen, sondern etwa auf die Freiheit oder eine andere zu achtende Eigenschaft des Individuums. Verteilungsgerechtigkeit könnte allerdings eine Form der Gleichheit sein; auf den ersten Blick ist plausibel, daß Verteilungsprobleme nur nach einem gleichen Maßstab gerecht gelöst werden. Als solchen Maßstab gebrauchte Marx, dem Beispiel John Lockes folgend,15 die Arbeitsleistung. Woran soll jedoch die Arbeitsleistung gemessen werden? Arbeitszeit und Mühe sind unzureichend, weil manche in kurzer Zeit mühelos produzieren, wofür andere viel Zeit und Mühe brauchen. Zudem gehen Mühe und Geschick leer aus, wenn das Produkt nicht interessiert. Faktisch wird Arbeitsleistung in Marktgesellschaften durch den Markt gemessen, der Markt aber mißt den Wert von Gütern um so höher, je knapper sie sind. Die eingegangene Arbeitsleistung aber ist nur ein möglicher Knappheitsfaktor unter andern. Daher scheint die Güterverteilung durch den Markt nicht nur ungerecht; sie ist es auch, wenn Verteilungsgerechtigkeit jedenfalls nach einem gleichen Maßstab zu

Ebd. Ebd. 15 J. Locke: Two Treatises of Government II, § 34, ed. by Peter Laslett (Cambridge 1966) 309: »God gave the World to Men in Common; but […] to the use of the Industrious and Rational, (and Labour was to be his Title to it)«. Vgl. §§ 36, 45, 51. 13 14

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messen ist, der etwas mit dem zu tun haben soll, was Individuen zu Produkten beitragen. Aus dieser Voraussetzung allein aber läßt sich nicht auf die Ungerechtigkeit des Marktes schließen. Woran können wir messen, ob der Markt gerecht ist? Wenn er eine Gesellschaft ruiniert, kann er nicht gerecht sein, selbst wenn er alle nach einem Maßstab mißt. Wenn er dagegen Verhältnisse hervorbringt oder ermöglicht, mit denen alle zufrieden sind, werden wir ihn kaum ungerecht nennen. Ob aber die Verteilung in einer Gesellschaft gerecht ist, können wir offensichtlich nicht unabhängig davon entscheiden, ob ein Markt gerecht ist. Nach dieser Überlegung betrachten die meisten heutigen politischen Philosophen die Verteilungsgerechtigkeit als Teil einer umfassenden gesellschaftlichen Gerechtigkeit. Das Paradigma dieser Entwicklung lieferte John Rawls, da er seinen Grundsatz der Verteilungsgerechtigkeit als Ergebnis einer Vereinbarung der Regeln gewinnt, unter denen Gesellschaftsmitglieder leben wollen.16 Die Konsequenz dieses Ansatzes ist, daß das, was Marx und der liberalen Tradition als Arbeitsleistung gilt, den Arbeitenden kein natürliches Recht auf den Arbeitsertrag gibt. Der traditionelle Liberale und Marx bestreiten gewiß nicht, daß es schwer ist, die Größe einer Arbeitsleistung zu bestimmen. Aber sie halten daran fest, daß der Produzent – nach Marx natürlich nur im Rahmen des bürgerlichen Rechts, das er immerhin als höchste Stufe des Rechts vor seiner Aufhebung betrachtet – ein Recht auf sein Produkt hat, das unabhängig von vereinbarten Gerechtigkeitsregeln und in diesem Sinn ein Naturrecht ist. Arbeit gibt ein natürliches Recht auf Eigentum; das ist das Evangelium, das Locke in seinem Eigentumskapitel verkündet.17 Nach dem Rawlsschen Ansatz dagegen ist alles Eigentum nur ein Lehen von Gnaden der Gesellschaft, die sich und ihre Souveränität konstituiert in einer Vereinbarung ihrer Gerechtigkeitsgrundsätze. Auch wenn der Philosoph die Vereinbarung konstruiert, rekonstruiert er sie als das, was reale Individuen realer Gesellschaften rationalerweise vereinbaren. Die heutigen Neoliberalen, am prominentesten Robert Nozick,18 halten dagegen an der Idee natürlicher, auf Arbeit oder auch Erstaneignung gegründeter Eigentumsrechte fest. Soweit sie Eigentum auf Erstaneignung natürlicher Ressourcen gründen, sind sie kaum der Diskussion wert; es ist nicht einzusehen, warum der Zufall, zuerst auf ein Naturgut gestoßen zu sein, ein Recht geben sollte, andere von seinem Gebrauch auszuschließen. Bei der Arbeit behält dagegen das Lockesche Evangelium Überzeugungskraft. Wenn es aber ein natürliches Recht auf Eigentum gibt, läßt sich darauf ein natürliches Recht auf einen Markttausch gründen, das ebenso unabhängig von übergeordneten gesellschaftlichen Gerechtigkeitsbedingungen ist. Das Lockesche Evangelium gewinnt für manche

16 17 18

J. Rawls: A Theory of Justice (Oxford 1972). J. Locke: Two Treatises of Government II, chap. V, a. a.O. [Anm. 15] 303–320. R. Nozick: Anarchy, State and Utopia (New York 1974).

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auch dadurch an Attraktivität, daß es ein natürliches Recht auf geistiges Eigentum rechtfertigen kann, damit auf Patente und Urheberrechte.19 Individuen sind jedoch zu sehr in ihren Lebensbedingungen voneinander abhängig, als daß ein Recht auf Eigentum natürlich sein könnte. In ihrer Arbeit und Ausbildung beeinflussen sie einander so stark, und in dem, was überhaupt als Arbeitsleistung gilt, sind sie so sehr voneinander abhängig, daß es immer willkürlich sein wird, was und wieviel an einem Arbeitsertrag als individuelle Leistung gilt. Das heißt nicht, daß Individuen nicht mehr oder weniger zu einem Produkt beitragen oder eine Gesellschaft nicht individuelle Leistung prämieren könnte oder sollte. Aber solche Zurechnungen sind Belohnungen, die eine Gesellschaft entsprechend ihren gesellschaftlichen Idealen vergibt. Sie sind selbst ein Faktor, durch den Individuen sich in ihren Leistungen als abhängig von der Gesellschaft erweisen, keine Anerkennung unabhängig von ihrer Entscheidung bestehender Rechte. Die Leugnung natürlicher Rechte auf Eigentum impliziert jedoch nicht die Leugnung jeglicher natürlicher Rechte. Sie ist vielmehr mit der Annahme natürlicher Rechte auf Unverletzlichkeit der Person vereinbar. Sie trägt sogar dazu bei, die Eigenart natürlicher Rechte hervorzuheben. Natürliche Rechte dienen nicht der Grenzziehung zwischen den Individuen, sondern dem Schutz einer (nicht nur verbalen) Kommunikation, die den spezifisch menschlichen Fähigkeiten entspricht. Wenn sich die Gerechtigkeit einer Verteilung nicht an einem Maßstab messen läßt, der eine objektive, unabhängig vom Urteil der Gesellschaft bestehende Größe an einer Handlung oder Eigenschaft eines Individuums mißt, woran dann? Daran, wieweit die Verteilung den Idealen einer Gesellschaft entspricht. Was aber sind solche Ideale? Nach Rawls ist es das Prinzip, alle Güter, »all social values – liberty and opportunity, income and wealth, and the bases of selfrespect«, gleich zu verteilen, »unless an unequal distribution of any, or all, of these values is to everyone’s advantage.«20 Ungleichheiten, die allen Individuen mehr Freiheit, Betätigungsmöglichkeit, Geld und Selbstachtung sichern, sind demnach gerecht. Dies sind die positiven Ideale, an denen zu messen ist, ob der Markt oder andere Verteilungsmechanismen gerecht sind. Der Bezug auf Gleichheit wird praktisch bedeutungslos. Entscheidend ist, ob die Verteilung die genannten vier Ideale sichert. Sie, und mit ihr individuelles Eigentum und die Wirtschaft einer Gesellschaft, wird den Idealen einer Gesellschaft untergeordnet. Das widerspricht zwar der gesellschaftlichen Wirklichkeit, dürfte aber den Gerechtigkeitsintuitionen der meisten Menschen entsprechen.

19 Verfassung der USA art. 1, s. 8, cl. 8; vgl. U. Steinvorth: Natürliche Eigentumsrechte, Gemeineigentum und geistiges Eigentum. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (2004) 717–738. 20 Rawls, a. a.O. [Anm. 16] 62.

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Mit dieser Auffassung ist die politische Philosophie von einer Phase, in der sie Eigentum als Selbstzweck achtete, zur antiken Auffassung seiner Unterordnung zurückgekehrt. Damit steht sie jedoch vor dem alten Problem, die positiven Ideale einer Gesellschaft zu bestimmen. Bei Rawls bleibt dies Problem verdeckt, weil er gleich vier Ideale zugleich nennt. Aber natürlich können Freiheit, Betätigungsmöglichkeiten und Geld konkurrieren. Ein Mehr an Freiheit, etwa ein stärkeres Recht, Kapital nach Belieben anzulegen, kann Betätigungsmöglichkeiten durch Verringerung der Arbeitsplätze einschränken. Einkommen kann man auch durch Arbeitslosenunterstützung erhalten, wird dabei aber in den Betätigungsmöglichkeiten eingeschränkt. Rawls tendiert zu einer Lösung solcher Konflikte durch das Ziel der Selbstachtung. Aber Selbstachtung wird ihrerseits von gesellschaftlichen Idealen beeinflußt. Die Unterordnung der Verteilungsgerechtigkeit unter positive gesellschaftliche Ideale gefährdet die klassische liberale Idee der Staatsneutralität; denn die Ideale implizieren Ideen des guten Lebens.21 Rawls und andere moderne, d. h. sich von den Neoliberalen abgrenzende Liberale wie Jürgen Habermas22 halten jedoch daran fest, daß Gerechtigkeit nicht an Ideen des guten Lebens zu messen ist.23 Rawls sieht durchaus, daß er eine Theorie des Guten impliziert; sie sei aber nur eine »dünne« Theorie, die die Neutralität des Staats gegenüber konkurrierenden Ideen des guten Lebens, wie sie insbesondre Religionen verfechten, nicht gefährde. In der Tat lassen sich seine Ideale ähnlich wie die vieler anderer sozialdemokratischer Liberaler in der Idee einer positiven Freiheit zur Entwicklung der Talente der Individuen24 zusammenfassen und der neoliberalen Idee der negativen Freiheit von Behinderung durch andere25 ebenso wie der

Darauf verweisen Vinit Haksar: Equality, Liberty, and Perfectionism (Oxford 1979); Joseph Raz: The Morality of Freedom (Oxford 1986); Ronald Dworkin: Foundations of Liberal Equality. In: Grethe B. Peterson (Ed.): The Tanner Lectures on Human Values, vol.11 (Salt Lake City 1990) 1–119; John Gray: Enlightenment’s Wake (Oxford 1995); Patrick Neal: Liberalism and Its Discontents (New York 1997). 22 Habermas unterscheidet sich in der Begründung, aber wenig im Inhalt seiner Gerechtigkeitskonzeption von Rawls und anderen modernen Liberalen; vgl. J. Habermas: Faktizität und Geltung (Frankfurt a.M. 1992) bes. 65. 23 J. Rawls: The Priority of Right and Ideas of the Good. In: Philosophy and Public Affairs 17 (1988) 251–276, hier 263: sein politischer Liberalismus »can be seen as neutral in procedure and in aim«. Er erkennt jedoch an »that the term ›neutrality‹ is unfortunate; some of its connotations are highly misleading, while others suggest altogether impracticable principles. For this reason I have avoided it (and did so in Theory)« (260), denn sein Liberalismus könne »encourage certain moral virtues«. 24 Außer den Arbeiten von Rawls und Habermas vgl. Philip Pettit: A Theory of Freedom (Oxford 2001); ders.: Republicanism (Oxford 1997); Amartya Sen: Rationality and Freedom (Harvard Belknap Pr. 2002); ders.: Development as Freedom (Oxford 1999); Martha Nussbaum and A. Sen: The Quality of Life (Oxford 1993); M. Nussbaum: Women and Human Development: The Capabilities Approach (Cambridge 2000); U. Steinvorth: Rewriting Rationality, erscheint demnächst. 25 Vgl. R. Nozick, a. a.O. [Anm. 18]; Friedrich A. von Hayek: Law, legislation and Liberty 21

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utilitaristischen Idee des Glücks oder der Wohlfahrt26 entgegenstellen. Die positive Idee der Freiheit aber verhindert, entgegen den Bedenken Isaiah Berlins,27 nicht notwendig eine Gesellschaft, die ihren Bürgern Freiheit in der Wahl ihrer Tätigkeiten läßt. Kann sie aber für die gesamte Menschheit oder gar alle Vernunftwesen, außerirdische Intelligenzen eingeschlossen, verbindlich sein oder nur für einen Kulturkreis oder die Individuen des Staates, für den der Vertragstheoretiker die Vereinbarung über Gerechtigkeitsregeln konstruiert?

B. Verteilungsgerechtigkeit zwischen Nationen Für den Vertragstheoretiker Rawls war es konsequent, sie nicht für universal verbindlich zu halten. Verträge können nur als verbindlich für die gelten, die sie schließen; Rawls’ Vertragspartner haben zwar nur als allgemein menschliche gedachte Eigenschaften (Rationalität und einen Sinn für Gerechtigkeit), die Wahl ihrer Regeln aber hängt vom Ausmaß ihrer Risikobereitschaft ab, die kulturell bedingt sein könnte. Er unterstellt jedoch als Subjekte gesellschaftlicher Gerechtigkeitsideale nicht Staaten, sondern Völker (peoples) »to highlight their moral character«;28 diese seien frei, sich etwa für Kinderreichtum statt Industrialisierung zu entscheiden, könnten dann aber nicht unter Berufung auf das Differenzprinzip finanzielle Hilfen von den reicheren industrialisierten Nationen fordern.29 Dies Prinzip erlaubt Einkommensunterschiede nur, wenn sie den Schlechtergestellten nützen; das ist der Fall, wenn sie als Lohnanreize das gesellschaftliche Gesamtprodukt steigern und jedem eine größere Portion daraus ermöglichen. Ansonsten sind Einkommensunterschiede nicht erlaubt, da sie von Zufällen der Geburt, der Gelegenheit und des Talents abhängen und solches »outcome of the natural lottery […] arbitrary from a moral perspective« ist.30 Da die Unterschiede zwischen arm und reich in Bangladesch und New York nicht weniger willkürlich sind als die in New York selbst, müßte das Differenzprinzip auch global gelten. Gegen diese Konsequenz behauptete Rawls, das Differenzprinzip sei nur »concerned with inequality in domestic society«.31

(London etc. 1973–79), vol.1: Rules and Order, vol. 2: The Mirage of Social Justice, vol. 3: The Political Order of a Free People. 26 Vgl. Jonathan Glover: What Sort of People Should There Be? (Hammondsworth 1984); Peter Singer: One World: The Ethics of Globalization (New Haven 2002). 27 I. Berlin: Two Concepts of Liberty. In: ders.: Four Essays on Liberty (Oxford 1969) 118– 172; vgl. U. Steinvorth: Positive und negative Freiheit – der richtige Mix? In: Thomas Meyer und Udo Vorholt (Hg.): Positive und negative Freiheit (Dortmund 2007) 54–68. 28 J. Rawls: The Law of Peoples (Cambridge, Mass. 1999) 27. 29 Ebd. 117 f. 30 Ebd.: A Theory of Justice, a. a.O. [Anm. 16] 74. 31 Ebd.: The Law of Peoples, a. a.O. [Anm. 28] 114.

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Gegen seine Kritiker32 führte Rawls ein ökologisches Argument an: » […] an important role of government, however arbitrary its boundaries may appear from a historical point of view, is to be the effective agent of a people as they take responsibility for their territory and the size of their population, as well as for maintaining the land’s environmental integrity. Unless a definite agent is given responsibility for maintaining an asset and bears the responsibility and loss for not doing so, that asset tends to deteriorate«.33 Armut in Bangladesch und Reichtum in New York sind demnach nicht willkürlich, sondern Folge davon, daß die bengalische und die amerikanische Regierung für die Ressourcen ihrer Territorien und die Größe ihrer Bevölkerungen ungleich verantwortlich gehandelt haben – die bengalische unverantwortlich oder unmoralisch, die amerikanische vorbildlich. Selbst wenn das wahr wäre, sollte die Konsequenz ein Versuch sein, die Folgen des unmoralischen Handelns die Regierenden oder ihre Nutznießer tragen zu lassen und nicht, wie es Rawls’ nationale Begrenzung des Differenzprinzips impliziert, das Volk. Rawls erkennt zwar die Willkür der historischen Bedingungen an und führt zu ihrer Behebung »the duty of assistance« an.34 Sie verpflichtet bessergestellte Nationen zu Hilfe, jedoch nicht nach dem Differenzprinzip. Sie muß vielmehr für demokratische Grundinstitutionen und eine »politische Kultur« sorgen, die eine Regierung zur Verantwortlichkeit für ihre Ressourcen und ihre Bevölkerungsgröße befähigt.35 Am Recht der Staaten, über ihre Territorien und deren Ressourcen als ihr Eigentum zu verfügen, hält Rawls dagegen fest: » […] the point of the institution of property is that, unless a definite agent is given responsibility for maintaining an asset and bears the loss for not doing so, that asset tends to deteriorate. In this case the asset is the people’s territory and its capacity to support them in perpetuity; and the agent is the people themselves as politically organized […]. They are to recognize that they cannot make up for their irresponsibility in caring for their land and its natural resources by conquest in war or by migrating into other people’s territory without their consent.«36 Dies Argument ist wenig überzeugend in einer Zeit, in der alle Individuen und Nationen in ihrer Gesundheit und sogar Existenz vom Zustand einiger elementarer natürlicher Ressourcen wie Süßwasser, frischer Luft, Klima abhängen und diese von einigen wenigen Nationen verdorben werden können. Solche Ressourcen stellen Allmenden dar, die nicht nur allen gehören, sondern auch alle zu ihrer Erhaltung verpflichten, und diese Verpflichtung ist heute mit den

Charles Beitz: Political Theory and International Relations (Princeton 1979, 21999); Thomas Pogge: An Egalitarian Law of Peoples. In: Philosophy and Public Affairs 23 (1994) 195–224. 33 J. Rawls: Law of Peoples, a. a.O. [Anm. 28] 8, vgl. 39. 34 Ebd. 39. Zum Begriff der »decent« oder »well-ordered« peoples vgl. ebd. 3 f. und 71 ff. 35 Ebd. 107–109. 36 Ebd. 39. 32

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traditionellen Eigentumsrechten unvereinbar. Welche Gerechtigkeitsregeln hier gelten sollten, gehört zu den wichtigsten Aufgaben der heutigen politischen Philosophie.37 C. Gerechtigkeit im Krieg Obgleich der Krieg zu einer Realität geworden ist, ohne die der westliche Bürger die Abendnachrichten im Fernsehen für unvollständig halten würde, hat die heutige Diskussion über Gerechtigkeit keine neuen Einsichten gewonnen, ob überhaupt und wenn ja, wann ein Krieg gerecht ist. Waffen sind heute so vernichtend geworden, daß jeder Krieg die traditionell anerkannte Bedingung der Verhältnismäßigkeit der Mittel zu ihrem Zweck zu verletzen scheint: das Recht verlangt Gewaltgebrauch zur Verminderung von Gewalt; militärische Gewalt aber scheint heute grundsätzlich Gewalt nicht vermindern zu können. Selbst die Gerechtigkeit des Kriegs der Alliierten gegen Hitler wird zweifelhaft, wenn man die 72 Millionen Toten bedenkt, die er forderte, 47 Millionen davon Zivilisten, die meisten unter den Alliierten. Gab es wirklich keine andern Mittel, Hitlers unakzeptable Pläne zu verhindern, als den Krieg? Selbst wenn es andre Mittel gegeben hätte, scheinen Kriege auch heute eine traurige Realität zu sein, die man durch ein von der Weltöffentlichkeit getragenes Kriegsrecht hoffen kann zu begrenzen. Das war schon die Hoffnung bei der Aufstellung der traditionellen Lehre vom gerechten Krieg. Es unterschied zwischen dem ›ius ad bellum‹, dem Recht zum Krieg, dessen wichtigste Bedingung war, es müsse um eine ›gerechte Sache‹ gehen, und dem ›ius in bello‹, dem Recht im Krieg, das die Angemessenheit der militärischen Mittel an ihren Zweck und die Schonung der Zivilbevölkerung und der Kriegsgefangenen forderte.38 Diese Die Besonderheit von Allmenden wird diskutiert seit Garrett Hardin: The Tragedy of the Commons. In: Science 162, No. 3859 (Dec. 13, 1968) 1243–1248. Hardin wies auf die Gefahr der Übernutzung von Gemeineigentum, wie vor ihm Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges I, 141 und Aristoteles: Pol. II, 3. 1261 b 34 f. Carol M. Rose: The Comedy of the Commons: Commerce, Custom and Inherently Public Property. In: ders.: Property and Persuasion: Essays on the history, theory, and rhetoric of ownership (Boulder etc. 1994,) chap. 5 wies auf den Nutzen von Allmenden unter dem Titel der ›comedy of the commons‹. Michael A. Heller: The Tragedy of the Anticommons. In: Harvard Law Review (Jan, 1998) und M.A. Heller, Rebecca Eisenberg: Can Patents Deter Innovation? The Anticommons in Biomedical Research. In: Science 280 (1 May 1998) 5364 prägten den Begriff der ›tragedy of the anticommons‹, um am Beispiel der Behinderung biomedizinischer Forschung durch Patente die Gefahr der Unternutzung von Gütern hervorzuheben. Über Allmenden in modernen Technologien, v. a. der Softwareproduktion, vgl. Richard M. Stallman: Free Software, Free Society (Boston 2002); Michael Hardt, Antonio Negri: Empire (Cambridge, Mass. 2000) 300–303 verweisen auf die grundsätzliche Bedeutung der Allmenden für die Entwicklung neuer Eigentumsformen. Vgl. auch U. Steinvorth: Zwei Wurzeln der Allmendebewegungen, eine Politik. In: Wem gehört die Welt? hg. von Silke Helfrich (München 2009). 38 Vgl. dazu und zur traditionellen Lehre vom gerechten Krieg U. Steinvorth: Gründe und Grenzen militärischer Gewalt. Nationale Interessen und internationale Politik. In: Rechts37

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Bedingungen bedürfen offensichtlich der Präzisierung. Es ist auch moralisch notwendig, schon das Recht zum Krieg an das Angemessenheitsprinzip zu binden, es nur für Extremfälle anzuerkennen und Massenvernichtungswaffen unter allen Bedingungen zu verbieten. Manche Autoren verweisen zurecht darauf, daß das ›ius in bello‹ im sogenannten Krieg gegen den Terror aktuell geworden ist.39 Man sollte gegen die Idee einer Eingrenzung des Kriegs nicht einwenden, daß Personen, die heute einen Krieg für vertretbar halten, sich eh nicht an sie halten. Erstens ist diese Idee in internationale Abkommen wie die Genfer Konvention eingegangen und kann zur Bestrafung von Kriegsverbrechern führen. Zweitens könnten die Idee und ihre Institutionalisierung in Friedenszeiten zu einem so festen Bestandteil der politischen Kultur werden, daß auch im Krieg die, die sie grundsätzlich anerkennen, nicht verletzen.40

D. Recht des Staats auf Gehorsam Die neue Aktualität von Kriegen hat alte Zweifel an der Legitimität des Staats bestärkt. Kommentatoren des 11. Septembers haben bemerkt, daß in der berechtigten Wut auf Terroristen und der Furcht, sie könnten auch Atomwaffen anwenden, vergessen wird, »that it is not some distinctive breed of footloose or insane nuclear terrorists that is the source of the greatest nuclear danger, but the routinized and disguised terrorism of deterrence thinking by otherwise ordinary, sane, humane, and ethical people«.41 Erst Staatsapparate haben Individuen wie Hitler und Stalin, Mao und Pol Pot ihre ungeheuren Verbrechen ermöglicht, und heute sehen viele von amerikanischen Regierungsmitgliedern Verbrechen ausgeführt, zu denen sie nur der Staat befähigt. Auch wenn ihre Wahrnehmung falsch sein sollte, es ist durchaus nicht klar, daß ein möglicher Nutzen des Staates seine Schäden aufwiegt. Daher wird heute das grundsätzliche Recht des Staats auf Gehorsam von vielen seiner Bürger in Frage gestellt. Sie nehmen für sich nicht nur das Recht auf Widerstand gegen offensichtlich illegitime Staatsforderungen oder -handlungen in Anspruch. Sie behalten sich vielmehr das Recht vor, jeder Staatsforderung den Gehorsam zu verweigern, wenn Gehorsam ihnen mehr Nach- als Vorteile verschafft. Der Grund dieser Einstellung ist die Überzeugung, daß Staaten nicht dem Ziel dienen, das Philosophen wie Kant und Locke ihnen zugesprochen haben, philosophische Hefte 10 (2005) 43–67. Der klassische Autor, der den Krieg grundsätzlich als menschenunangemessen ächtet und Regeln ›ad bellum‹ und ›in bello‹ formuliert, ist Cicero: De officiis, I, 11 (34 f.), a. a.O. [Anm. 3] 32 ff. 39 etwa Achin Vanaik: The ethics and efficacy of political terrorism. In: Eric Hershberg und Kevin W. Moore (Ed.): Critical Views of September 11 (New York 2002) 23–43, bes. 40 f. 40 Vgl. dazu Rawls: Law of the Peoples, a. a.O. [Anm. 28] 102. 41 Vanaik, a. a.O. [Anm. 39] 36.

Gerechtigkeit

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nämlich Gerechtigkeit durchzusetzen. Sie werden als Mittel der Ausbeutung und Unterdrückung wahrgenommen, das zwar in den Händen manchmal wohlwollender, aber dann auch ohnmächtiger Politiker ruhen kann. Diese Wahrnehmung wird nicht nur durch die fatale Kriegsneigung von Staaten gestützt, sondern noch mehr von ihrer Hilflosigkeit vor der Wirtschaft, die den Bürgern die Lebensbedingungen diktiert. Obgleich Vollbeschäftigung unter einer Technologie, die mehr und mehr Menschen durch Automaten und Computer ersetzt, unmöglich und es die erste Aufgabe der Politik ist, eine Gesellschaft einzurichten, die aus der Gefahr der Arbeitslosigkeit den Segen einer Lebensform ohne Mühsal und Stumpfsinn der Lohnarbeit macht, laufen die meisten Politiker der Illusion der Vollbeschäftigung nach und wetteifern um die Gunst von Unternehmen durch Unterwerfung unter deren Forderungen. Dabei haben Theoretiker aus verschiedenen Bereichen durchaus Alternativen entwickelt. Eine ist das bedingungslos ausgezahlte Grundeinkommen, das ausreicht, um jeden ein bescheidenes Leben ohne Lohnarbeit zu gewähren, aber unattraktiv genug ist, um genug Menschen zur Lohnarbeit zu bringen, aber unter Bedingungen, zu deren Aushandlung sie nicht mehr schwächer sind als die Arbeitgeberseite. Das Argument, dies sei finanziell untragbar, überzeugt nicht; denn die enorme Produktivität der heutigen Wirtschaft produziert durch wenige, was viele konsumieren. Sie ermöglicht auch ein bedingungsloses Grundeinkommen.42 Das bisherige Versagen der Staaten, ihre Gesellschaften auf die neuen Gegebenheiten zum Nutzen aller umzustellen, untergräbt die Reste ihrer moralischen Autorität und wird dazu führen können, sie nicht nur als gefährlich, sondern überflüssig zu erweisen. Schon heute könnte die Bevölkerung durch Druck nicht auf Politiker, sondern direkt auf Wirtschaftsvertreter die Einrichtung eines Fonds herbeiführen, aus dem das bedingungslose Grundeinkommen gezahlt würde. Der Staatsapparat wäre dabei überflüssig. Vermutlich wird er dennoch in vielen Bereichen der Gesellschaft für absehbare Zeit notwendig bleiben. Sicher ist es nicht. Die Geschichte hat Hobbes’ These widerlegt, Menschen versänken ohne eine »common Power to keep them all in awe« und ohne deren »terror« in »such a warre, as is of every man, against every man«.43 Gesellschaften mit konkurrierenden Machtzentren wie England gediehen besser als solche mit einer Zentralgewalt wie das zaristische oder kommunistische Rußland. Zur Durchsetzung von Gerechtigkeit ist eine Mehrzahl gut organisierter und einander kontrollierender und anerkennender Sphären notwendig, zu denen die Wirtschaft, die Medien, die Gerichte, Wissenschaft und

42 Vgl. u. a. Thomas Straubhaar: Grundeinkommen: Nachhaltigkeit für den Sozialstaat Deutschland (HWWI Update Mai 2006); U. Steinvorth: Rethinking the Western Understanding of the Self (New York 2009) chap. 21. 43 Thomas Hobbes: Leviathan, chap. 13 and 17, ed. by Crawford B. Macpherson (London 1985) 185, 227.

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Technologie und die Familien und Ausbildungsstätten gehören, aber nicht notwendig der Staat. Das moderne internationale Privatrecht liefert ein Beispiel für die Wirksamkeit der Justiz ohne einen Machtmonopolisten.44

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Vgl. dazu Anne-Marie Slaughter: A New World Order (Princeton 2005).

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Identität

Symptomatisch für das 20. Jahrhundert ist das Leiden an Problemen der Identität. Die Suche nach der erst noch zu findenden oder schon wieder verlorenen Identität ließ den Begriff ›Identität‹ zum »Inflationsbegriff Nr. 1«1 werden, in den Sozialwissenschaften ebenso wie im medialen und politischen Diskurs. Die Philosophie – jedenfalls die nach der so genannten linguistischen Wende – hat sich mit neuer Energie auf die Probleme geworfen, die mit diesem Begriff einhergehen. Deutlich wurde dabei zumindest eines: Das Wort kann höchst verschiedene Dinge bedeuten. Und es ist zweifelhaft, ob es irgendwelche Gemeinsamkeiten gibt, die diese verschiedenen Bedeutungen miteinander verbinden. Statt der einen Begriffsgeschichte gibt es darum ebenso viele Geschichten der Identität wie dieser Begriff Bedeutungen hat, und nur im Glücksfall berühren sie sich. Das Unangenehmste dabei: ›Identität‹ ist kein Begriff, den man durch einen andern ersetzen, beliebig modifizieren oder gar links liegen lassen könnte. Er ist vielmehr von bedrängender Unvermeidlichkeit. Keine philosophische Reflexion über die Grundlagen unseres Denkens und Seins, die nicht – in immer wieder neuen Zusammenhängen – auf diesen (oder einen äquivalenten) Begriff stoßen und sich an ihm abarbeiten müßte. Das spezifisch Historische zeigt sich darum jeweils höchstens an der Intensität, der Häufigkeit und Tragweite, in der über Identität nachgedacht wird, und an den Zusammenhängen, in denen dies geschieht. Hier einige der perennierenden Probleme der Identität: 1. Das erste Problem beginnt, wenn wir zu reden beginnen: Minimalvoraussetzung jedes verständlichen Redens ist, daß ich über dasselbe zur selben Zeit und in derselben Hinsicht dasselbe sage. Auf welche Weise aber mache ich mir und andern klar, worüber ich rede? Wir wollen dies Problem als das der Identifikation bezeichnen. 2. Unter welchen Umständen ist es möglich, einen Gegenstand, über den zu einem früheren Zeitpunkt gesprochen wurde, als denselben Gegenstand anzusehen, über den jetzt gesprochen wird? Dies ist das Problem der Reidentifikation. 3. Ein mögliches Mittel der Reidentifikation besteht darin, auf die Eigenschaften zu rekurrieren, die einem Gegenstand zukommen – auf das also, was er ist? Garantiert der Umstand, daß ein Gegenstand a ein und dieselben Eigenschaften hat wie ein Gegenstand b, daß es sich um ein und denselben Gegenstand handelt? Wir wollen dies als das Problem der Individualität bezeichnen. 4. Einen Gegenstand als denselben zu reidentifizieren setzt voraus, So Karl-Michael Brunner: Zweisprachigkeit und Identität. Probleme sprachlicher Identität von ethnischen Minderheiten am Beispiel der Kärtner Slowenen. In: Psychologie und Gesellschaftskritik 11 (1987) 57–76, bes. 63. 1

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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daß er tatsächlich auch derselbe Gegenstand ist: Was aber macht es aus, daß ein Gegenstand über die Zeit hinweg derselbe Gegenstand sein kann? Dies ist die alte ontologische Frage nach dem Bleibenden im zeitlich Wechselnden und das metaphysische Problem, wie das Sein der Welt zu denken sei – als ein in sich Bleibendes oder als ein sich ständig Wandelndes. Dies ist das Problem der ontologischen Persistenz. 5. Über dasselbe dasselbe sagen: Wie stellen wir sicher, daß wir dies tatsächlich tun? Wie lösen wir, mit einem Wort, das Problem der sprachlichen Eindeutigkeit? 6. Ein verwandtes Problem ist das der Identität des Gemeinten: Wie stellen wir fest, ob das, was die Person a sagt, dasselbe sei wie das, was die Person b sagt? Soweit eine kleine Liste der Probleme, die man alle als Probleme der Identität bezeichnen kann. Die Liste ist keineswegs abgeschlossen2 und erweitert sich unweigerlich, sobald man sich in eines dieser Probleme vertieft. Am eklatantesten zeigt sich dies bei den Problemen der Reidentifikation und der ontologischen Persistenz. Denn hier stellen sich Fragen, die sich kaum allgemein beantworten lassen, sondern unweigerlich die Frage nach sich ziehen, ob es nicht für jede Art des Seienden andere Weisen der Persistierens geben mag und andere Kriterien der Identifikation: für Wolken und Atome z. B. andere als für Artefakte oder für Personen oder Personengruppen. Welches aber sind diese besonderen Arten und worin bestehen deren Bedingungen und Kriterien der Identität über die Zeit hinweg? Eben dieses Problemfeld, das auch in den erwähnten populären Identitätsdiskursen zum Ausdruck kommt, soll im Folgenden im Zentrum stehen. Die wichtigsten Beiträge des 20. Jahrhunderts zu den übrigen Problemsträngen seien vorab nur kurz erwähnt.

I. Probleme der Identifikation Wer (propositional) redet, spricht immer über etwas. Das, was von diesem Etwas prädiziert wird (daß es ein F sei ), ist wahr nur dann, wenn es auf dieses Etwas zutrifft. Wie aber nehmen wir Bezug auf das jeweilige Etwas, von dem wir reden, und halten es als diesen einen Gegenstand fest? Dies war eine der treibenden Fragen der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts. Bis hin zu Mill war man der Auffassung, es sei der dem Gegenstand angeheftete Name, der ihn für die ganze Dauer seiner Existenz begleite und der den sprachlichen Zugriff auf ihn ermögliche. Frege machte als erster darauf aufmerksam, daß auch Namen nicht nur einen direkten Bezug auf den von ihnen bezeichneten Gegenstand haben – eine »Bedeutung«, wie er sagt –, sondern auch einen »Sinn«: sie sind mit den Kennzeichnungen verknüpft, unter denen der betreffende Name eingeführt wurde: Mit auf eine erweiterte Liste gehörte beispielsweise die im Satz des Parmenides ausgesprochene Identität von Denken und Sein, an die Martin Heidegger anknüpft (Identität und Differenz [Pfullingen 1957] 9–30). 2

Identität

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der Name »Platon« etwa mit der Kennzeichnung »Schüler von Sokrates«. Frege hat damit die Grundlagen gelegt für alle späteren Theorien der Identifikation von Gegenständen, von Russell über P. F. Strawson bis hin zu P. T. Geach und E. Tugendhat. Als Quintessenz ergibt sich folgendes Bild: Um einen Gegenstand identifizieren zu können, brauchen wir singuläre Termini und generelle Termini. Die singulären Termini, zu denen nicht nur Namen gehören, sondern auch Kennzeichnungen wie ›der Lehrer von Platon‹ und deiktische Ausdrücke wie ›dies‹, ›jenes‹, ›hier‹, ›dort‹, dienen dazu, einen bestimmten Gegenstand aus allen andern eines bestimmten Bereichs als den allein gemeinten herauszugreifen. Die generellen Termini, deren Funktion darin besteht, Gegenstände zu klassifizieren und zu unterscheiden, geben jeweils den Bereich an, innerhalb dessen der betreffende Gegenstand zu suchen ist.3 Es darf aber nicht ein Terminus sein, der eine allgemeine Eigenschaft wie ›rot‹ oder ›hölzern‹ bezeichnet, sondern ein so genanntes sortales Prädikat wie ›Stuhl‹ oder ›Mensch‹, das Kriterien enthält zur räumlichen Ausgrenzung und dadurch auch zur Zählbarkeit konkreter Gegenstände. Zur genauen Festlegung des gemeinten Gegenstandes müssen4 zudem noch zwei weitere Bedingungen gegeben sein: zum einen eine bestimmte Wahrnehmungssituation, die es erlaubt, mit Hilfe eines deiktischen Ausdrucks auf den gemeinten Gegenstand hinzuweisen, zum andern ein umfassendes RaumZeit-System, innerhalb dessen die Wahrnehmungssituation objektiv lokalisiert werden kann. Nur so können wir uns – situationsunabhängig – auf konkrete Gegenstände beziehen, die einen kontinuierlichen Weg in Raum und Zeit zurücklegen: ›Der Gegenstand S, der sich zum Zeitpunkt t am Ort a befunden hat und sich im Zeitpunkt t’ am Ort a’ befindet.‹ Gegen alle diese Theorien, die Eigennamen auf komplexe Weise an Kennzeichnungen und deiktische Ausdrücke binden, hat S. Kripke die alte These geltend gemacht, daß Eigennamen keine andere Bedeutung haben als die, für einen Gegenstand zu stehen.5 Er hat damit eine neue Diskussionsrunde eingeläutet.

II. Probleme der Reidentifikation / der Individualität Der Vorgang der Identifikation durch singuläre Termini erlaubt die Aussonderung eines Gegenstandes aus allen andern: dieser und kein anderer. Wann aber reden wir von Identität? Offenbar dort, wo wir zwei scheinbar verschiedene Geach bezeichnet darum Identität mit Recht als relativ: »X ist identisch mit y« heiße immer: »x ist dasselbe A wie y« (Peter T. Geach: Logic Matters [Oxford 1972] 238–247). 4 So Ernst Tugendhat: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie (Frankfurt a.M. 1976) Vorl. 23–26. Zur Kritik vgl. etwa Dieter Henrich: »Identität« – Begriffe, Probleme, Grenzen. In: Identität, hg. von Odo Marquard und Karlheinz Stierle (München 1979) 133–168, zit. 165. 5 Vgl. Saul A. Kripke: Naming and Necessity. In: Donald Davidson, Gilbert Harmann (Ed.): Semantics of Natural Language (Dordrecht 1972) 253–355. 3

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Gegenstände im Auge haben, und nun feststellen, daß es sich um den gleichen Gegenstand handelt. Das Wort ›gleich‹ ist allerdings doppeldeutig. Darauf hat bereits Aristoteles hingewiesen. Es kann zum einen heißen: es ist ein und derselbe Gegenstand, oder aber: der eine Gegenstand ist dem andern in gewisser Hinsicht, in bezug auf bestimmte Prädikate, gleich: es ist derselbe Typ von Auto z. B. oder dieselbe Art von Pferd. Im zweiten Fall geht es um qualitative Identität, im ersten um numerische Identität: um Dasselbe und nicht bloß um das Gleiche. Könnte es zwei Gegenstände geben, die qualitativ in jeder Hinsicht gleich und doch numerisch verschieden sind? Leibniz hält dies für unmöglich, gemäß seinem bekannten Grundsatz von der Identität des Nicht-Unterscheidbaren (principium identitatis indiscernibilium). Denn dieser Grundsatz impliziert: Es kann keine numerisch verschiedenen Gegenstände geben, die in all ihren Eigenschaften gleich, d. h. im qualitativen Sinn identisch sind. Kant hat dies bestritten. Was die numerische Identität ausmache, sei die raum-zeitliche Lokalisierung. Raum-zeitliche Lokalisierung scheint (auch aus der Sicht des 20. Jahrhunderts) in der Tat der einzige Weg zu sein, um überhaupt zu dem Begriff der numerischen Identität zu kommen. Numerische Identität allein verbürgt Individualität: zu sein wie kein anderes Seiendes. Ihre Problematik zeigt sich, wenn wir numerische Identität auszudrücken versuchen: Entweder geht es wirklich um denselben Gegenstand, und dann können wir bloß tautologisch sagen, a ist identisch mit a, oder es geht um zwei Gegenstände, aber von diesen zu sagen, sie seien identisch, wäre Unsinn.6 Daß der Unsinn dennoch Sinn machen kann, hat Frege zu zeigen versucht und auch damit wieder die Prämissen für alle weiteren Diskussionen gelegt. Identitätsaussagen von der Form a = b haben durchaus einen Erkenntniswert, nämlich dann, wenn ich in Erfahrung bringe, daß der Gegenstand, den ich unter dem einen Namen kenne, derselbe Gegenstand ist wie der, den ich auch unter einem andern Namen kenne. So in Freges berühmten Beispiel: »Der Abendstern ist der Morgenstern.« Genau genommen wird mit einer solchen Aussage nicht die Identität eines Gegenstandes mit sich selbst ausgesagt und auch nicht eine Identität von Bezeichnungen ausgedrückt, es geht vielmehr um unterschiedliche »Arten des Gegebenseins des Bezeichneten«: Singuläre Termini, deren Sinn verschieden ist, können ein und denselben Gegenstand bezeichnen. Der Erkenntnisgewinn besteht darin, daß ich gewahr werde, daß der mit dem singulären Terminus a identifizierte Gegenstand derselbe ist wie der unter dem singulären Terminus b identifizierte, und eben dies drückt die Formel ›a = b‹ aus.

Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus [1921] 5. 5303; ähnlich schon David Hume: A Treatise of Human Nature I, 4, 2, ed. by Lewis A. Selby-Bigge (London 1888) 200. 6

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III. Das Problem der Identität des Gesagten Wie stellen wir sicher, daß wir nicht nur über dasselbe reden, sondern auch dasselbe über dasselbe sagen? Daß wir dieselben Wörter gebrauchen, genügt offensichtlich nicht: Wichtig ist, daß wir sie auch im selben Sinn verwenden. Und umgekehrt können wir mit verschiedenen Wörtern ein- und dasselbe ausdrücken. Die Bedingungen, unter denen zwei Ausdrücke identisch sind, haben bereits Aristoteles7 und später Leibniz in der zweiten Fassung seines Ununterscheidbarkeitssatzes genannt: Identisch sind diejenigen (Termini), deren einer für den andern mit Erhaltenbleiben der Wahrheit eingesetzt werden kann (»eadem sunt quorum unum in alterius locum substitui potest, salva veritate«).8 Richtig zum Tragen kommt dieser Satz aber erst in der Logik des 20. Jahrhunderts: mit der von Frege eröffneten neuen Sicht des Verhältnisses zwischen singulären Sätzen (vom Typ »a ist F«) und generellen Sätzen (»alle F sind G« resp. »einige F sind G«). Statt den Ausdruck »alle F« resp. »einige F« als semantische Einheit aufzufassen, die für ein bestimmtes Subjekt, für einen Gegenstand steht, versteht Frege diesen Ausdruck als eine Handlungsanweisung: Das Wort »alle« z. B. heißt: Man nehme der Reihe nach jeden einzelnen der unter den Prädikator F fallenden Gegenstände, und für jeden einzelnen gilt dann die folgende Behauptung: »Wenn x ein F ist, so ist es auch ein G«. Ob der generelle Satz wahr ist, hängt davon ab, ob die singulären Sätze wahr sind, die sich bilden lassen, wenn man der jeweiligen Handlungsanweisung folgt. Der Wahrheitswert des generellen Satzes, mit andern Worten, hängt ab vom Wahrheitswert der singulären Sätze, die sich mit seiner Hilfe bilden lassen. Dies führt dann zu dem von Wittgenstein auf den Punkt gebrachten allgemeinen Verständnis von Sätzen: »Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist.«9 Und für die Logik heißt dies: komplexe Sätze müssen so analysiert werden, daß der Wahrheitswert des ganzen Satzes von dem Wahrheitswert der in ihm enthaltenen Glieder abhängt. Dieser Zugriff erlaubt es den Logikern des 20. Jahrhunderts, Aussagen über die Identität von singulären Gegenständen zu verknüpfen mit Aussagen über die Identität von sprachlichen Ausdrücken und Konstruktionsverfahren zu entwickeln, mit deren Hilfe man – ohne unnötigen ontologischen Ballast10 – von konkreten Gegenständen zu abstrakten Entitäten wie Begriffen, Klassen und Zahlen kommen kann. Die Faszination des von den begrifflichen Abstrakta ausgehenden Gleichheitsdenkens hat im 20. Jahrhundert – in ganz anderem Kontext – vor allem Adorno und die Frankfurter Schule herausgefordert. Ihr Einspruch richtet sich

Aristoteles: Top. 152 b 27–29. Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften, hg. Carl Immanuel Gerhardt, Bd. 7 (Berlin, Halle 1890) 219. 9 L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus [1921] 4. 024. 10 Vgl. Willard van Orman Quine: Philosophie der Logik (Stuttgart u. a. 1973) 291. 7 8

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gegen den »Begriffsfetischismus«, wie er in der als Identitätsphilosophie bezeichneten Philosophie des deutschen Idealismus zum Ausdruck kommt, verkappt aber auch in der Phänomenologie,11 und den sie in Beziehung setzen zu dem innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft vorherrschenden Tauschprinzip, dem alle individuellen und qualitativen Differenzen der erarbeiteten Produkte der Gleichmacherei des Geldes zum Opfer fallen.12 Das treibende Motiv der »negativen Dialektik« Adornos besteht darin, gerade das »Nichtidentische« zu erkennen, das Partikulare, das, was in keinem Begriff aufgeht, »das von den Begriffen Unterdrückte, Mißachtete und Weggeworfene«13 – im Gegenzug zum dialektischen Denken der Identitätsphilosophen, die alle Differenzen in der Einheit des einen Identischen auflösen wollen.14 Besondere Aufmerksamkeit gefunden hat in der Sprachphilosophie das Problem der Identität sprachlicher Ausdrücke in intensionalen Kontexten von de dicto-Aussagen, von Aussagen über Aussagen: In intensionalen Kontexten ist, wie Quine gesehen hat,15 der Leibnizische Ununterscheidbarkeitssatz nicht gültig: Ausdrücke von gleicher Bedeutung lassen sich nicht salva veritate austauschen, ohne daß wir in Gefahr geraten, der von uns zitierten Person inkonsistente Überzeugungen zuzuschreiben: Wenn eine Person über den Morgenstern redet, können wir nicht darauf schließen, sie hätte auch über den Abendstern gesprochen, denn diese Identität könnte ihr nicht bekannt gewesen sein. Referentiell transparent sind nur die Aussagen, die sich unmittelbar auf die Welt selber beziehen (de re-Aussagen): nur hier können korreferentielle Ausdrücke salva veritate wechselseitig substituiert werden. Wenn ich verstehen und als wahr oder falsch beurteilen will, worüber ein anderer spricht, muß ich darum zumindest die von ihm angesprochenen Gegenstände in der von ihm gewählten Einstellung identifizieren können.16 Das sowohl theoretisch wie sprachpraktisch zu lösende Problem besteht dabei, wie Brandom feststellt, ganz allgemein darin, zwischen zitierten, andern zugeschriebenen Aussagen und selbst erhobenen Behauptungen unterscheiden, sich flexibel zwischen diesen beiden Einstellungen bewegen und sie gegenseitig in das richtige Verhältnis setzen zu können.17

Theodor W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Gesammelte Schriften, Bd. 5 (Frankfurt a.M. 2003) 197. 12 Ders.: Soziologische Schriften I. Gesammelte Schriften, Bd. 7 (Frankfurt a.M. 1995) 209. 13 Ders.: Negative Dialektik (Frankfurt a.M. 1966) 19 ff. 14 Vgl. etwa ders.: Philosophische Terminologie (Frankfurt a.M.1974) Bd. 2, 70–136. 15 W. van Orman Quine: Quantifiers and Propositional Attitudes. In: Journal of Philosophy 53 (1956) 177–187. 16 Robert B. Brandom: Expressive Vernunft (Frankfurt a.M. 2000) 713 f. 17 Ebd. 695–722. 11

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IV. Das ontologische Problem der Persistenz Wie kann ein Ding sich in seiner Substanz verändern und doch dasselbe Ding bleiben? Wie kann ich zweimal in denselben Fluß steigen, wenn doch immer neues Wasser mich umströmt? Dieses alte metaphysische Problem, darüber besteht unter den Philosophen des 20. Jahrhunderts weitgehend Konsens, ist – dem Anschein zum Trotz – kein Problem des Begriffs der Identität, sondern ein Problem des Begriffs ›Ding‹ und des Begriffs ›Zeit‹. Ein Ding – ein Stein, ein menschlicher Körper, ein Fluß – hat nicht nur eine räumliche Ausdehnung als eine Ansammlung von im Raum verteilten physikalischen Teilchen, sondern auch eine zeitliche Erstreckung über eine stetige Reihe momentaner Zustände. Es gibt darum zeitliche Phasen ein und desselben Gegenstandes, wie es verschiedene räumliche Teile gibt. Der einzige Unterschied zwischen den verschiedenen Dingen: die Konfiguration der einzelnen Teilchenzustände, aus denen die Dinge bestehen, kann sich rascher oder langsamer verändern. Aber solange ein Ding noch unter denselben Sortal fällt, bleibt es ein und dasselbe Ding, selbst wenn, wie im Falle des Flusses oder des menschlichen Körpers, keine einzige der ursprünglichen Konfigurationen der physikalischen Teilchen erhalten bleibt. Irritierende Probleme gibt es allerdings noch immer genug, wie die neuzeitliche Diskussion von Locke und Hume an gezeigt hat. Hier einige dieser Probleme: 1) Das Problem der Teilung, wie es insbesondere bei Artefakten oder organischen Wesen auftreten kann: Der entzweigeschnittene Regenwurm, der nun in zwei Versionen weiter existiert; das Schiff des Theseus, dessen Teile im Verlauf der Zeit alle ersetzt worden sind, und das Schiff des Antiquars, der aus den alten Teilen das ursprüngliche Schiff wieder zusammengesetzt hat: Kann ein und derselbe Gegenstand mit zwei Gegenständen gleichzeitig identisch sein? Identität also ohne Transitivität, da A identisch ist mit B und mit B’, aber B nicht identisch mit B’? 2) Die Frage, ob es so etwas wie eine notwendige Essenz individueller Gegenstände geben müsse, die sie zu ein und denselben machen. Wie befriedigend ist die Antwort von Locke, der auch Kripke, Mackie u. a. zustimmen: Was den Gegenstand notwendigerweise als den einen kennzeichnet, ist der Umstand, daß er in einem bestimmten Raum-Zeit Punkt seinen Anfang genommen hat? 3) Das Problem der kontrafaktischen Identität: Wäre es noch immer derselbe Gegenstand, wenn seine Geschichte einen andern Verlauf genommen hätte? Wäre er noch derselbe, wenn er einen andern raumzeitlichen Anfang gehabt hätte? 4) Das Problem der Identität über verschiedene Arten von Gegenständen hinweg: Ist der Blitz identisch mit einer elektrischen Entladung? Der Schmerz mit der Stimulation einer C-Fiber? Allgemeiner gefragt: Lassen sich die phänomenalen Qualitäten eines erlebenden Subjekts reduzieren auf rein physikalische; so genannt sekundäre auf primäre? Kristallisationspunkt dieser Frage ist die Diskussion um die Theorie der Leib-Seele-Identität, wie sie etwa D. M. Armstrong, J. J. C. Smart und insbesondere H. Feigl vertreten haben18 18

Vgl. etwa Herbert Feigl: The Mind-Body-Problem in the Development of Logical Empiri-

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und wie sie im Zuge der heutigen neuro-physiologischen Diskussion über Gehirn und Geist erneut wieder virulent geworden ist. 5) Das Hume-Kant-Problem: Wie kann die Identität eines Gegenstandes zu verschiedenen Zeitpunkten festgestellt werden, ohne daß wir dabei die Identität eines individuellen Bewußtseins über die Zeit hinweg voraussetzen? Aber ist uns dieses Bewußtsein überhaupt je gegeben? Müßten wir nicht, wie Kant, ein besonderes transzendentales Subjekt annehmen? Wer aber ist dann das Subjekt, das dieses Wissen hat? Und woher weiß es, daß es selber Objekt dieses Wissens ist?19

V. Das Problem der personalen Identität Das Hume-Kant-Problem ist offensichtlich eng verknüpft mit dem Problem, an dem sich das philosophische Denken am meisten entzündet hat: das Problem der personalen Identität. Was verbindet den Erwachsenen mit dem Kind, das er einmal war? Was rechtfertigt es, trotz der Veränderung zu sagen, es handle sich um denselben Menschen?20 Die heutige Diskussion ist noch immer eine Fortsetzung der Diskussion, die John Locke eröffnet hat.21 Nach Locke müssen wir zumindest dreierlei unterscheiden: den Körper, den wir haben, den konkreten Menschen, der wir sind (als Exemplar einer biologischen Spezies), und unsere Person. Für jede dieser Arten unseres Seins gelten andere Identitätskriterien. Lockes Ausgangspunkt bei der Bestimmung personaler Identität ist die Tatsache, daß wir uns unserer diachronen Identität über die Zeit hinweg auf besondere Weise bewußt sind. Dies erlaubt uns, uns von der Vorstellung einer Substanz, die diese Identität trägt, zu befreien und diese in das Selbstbewußtsein zu verlagern. Daraus ergibt sich Lockes Kriterium der Identität einer Person: Soweit das Bewußtsein, das vom Denken untrennbar ist und »jeden zu dem macht, was er sein Selbst nennt und wodurch er sich von allen andern unterscheidet […], rückwärts auf vergangene Taten oder Gedanken ausgedehnt werden kann, soweit reicht die Identität dieser Person«.22 Den Schwierigkeiten, die sich mit dem Begriff der Erinnerung verbinden (Erinnerungslücken, Erinnerungstäuschungen), versuchen analytische Philosophen wie Grice, Quinton und Shoemaker mit Verfeinerungen des Erinnerungskriteriums zu begegnen, ohne dabei Lockes

cism. In: Revue International de Philosophie 4 (1950) 64–83. Dazu die einschlägigen Texte von Ullin T. Place, David M. Armstrong, John J. C. Smart u. a. in: The Mind-Brain Identity Theory, ed. by Clive Vernon Borst (London 1970). Einen guten Überblick gibt: Peter Bieri (Hg.): Analytische Philosophie des Geistes (Königstein/Ts. 1981) 36–43. 19 Vgl. E. Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung (Frankfurt a.M. 1979) 64 ff. 20 Vgl. Platon: Symposion 207 d–e. 21 Erhellend dazu John L. Mackie: Problems from Locke (Oxford 1976) 173–203. 22 J. Locke: An Essay Concerning Human Understanding [1690] chap. 27, § 9, dt.: Versuch über den menschlichen Verstand (Hamburg 41981) Bd. 1, 419 f.

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Grundansatz selber in Frage zu stellen.23 Der Umstand allerdings, daß Erinnerung an keinen Körper gebunden erscheint, ließe den (absurden) Fall zu, daß dasselbe Bewußtsein mit denselben Erinnerungen in zwei Körpern gleichzeitig existieren könnte. Aus diesen und weiteren Gründen vertreten B. Williams, D. Wiggins u. a. die These, daß ohne Rekurs auf den Körper die Identität einer Person nicht zu bestimmen und »jeglichen Inhalts beraubt« sei.24 Die meisten Autoren sind heute bereit, das Körperkriterium zu akzeptieren: zumindest das Gehirn müsse erhalten bleiben, um das mentale Weiterleben einer Person zu sichern. Sie stehen allerdings vor dem Problem, welches Kriterium nun gelten soll, das Erinnerungskriterium oder das Körperkriterium, 25 und wenn beide gelten sollen, wie sie miteinander in Einklang zu bringen sind.26 Das Gehirn, so etwa Wiggins’ Antwort auf dieses Problem, sei konstitutiv für die Identität, die Erinnerung bloß epistemisches Kriterium zur Feststellung von Identität.27 Andere Philosophen, so R. G. Swinburne28, R. M. Chisholm29 und neuerdings M. Nida-Rümelin,30 versuchen die Identität einer Person an einer noch tiefer liegenden, basalen und nicht weiter analysierbaren Tatsache festzumachen. Aus ihr allein lasse sich auch unsere Sorge um unsere künftige Identität erklären. Eine entschiedene Gegenposition zu dieser »einfachen Sicht« hat D. Parfit ins Spiel gebracht mit seiner These, daß es überhaupt nicht auf die Identität ankomme, sondern auf die Kontinuität unserer diachronen leiblichen und psychischen Verknüpfungen.31 Unser Interesse an unserem künftigen Selbst sei darum eine Frage des Grades und nicht eine Frage des Alles oder Nichts.

Herbert P. Grice: Personal Identity. In: Mind 50 (1941) 330–350; Anthony Quinton: The Soul. In: The Journal of Philosophy 59 (1962) 393–409; Sidney Shoemaker: Self-Knowledge and Self-Identity (Ithaca 1963). Gut dokumentiert sind diese Ansätze in dem Reader von John Perry: Personal Identity (Berkeley, Los Angeles, Oxford 1975). 24 Bernard Williams: Personenidentität und Individuation. In: ders.: Probleme des Selbst. Philosophische Aufsätze 1956–1972 (Stuttgart 1978) 7–36, zit. 22. 25 Mit Gedankenexperimenten versuchen B. Williams (ebd.) und S. Shoemaker, a. a.O. [Anm. 23] plausibel zu machen, daß nur das Körperkriterium konstitutiv sein kann. 26 Sehr gut veranschaulicht wird der Konflikt zwischen diesen beiden Kriterien von B. Williams mit einem weiteren Gedankenexperiment (Das Selbst und die Zukunft. In: Probleme des Selbst, ebd. 78–104). Eine Zusammenstellung der auf dieses Problem antwortenden Texte enthält der Reader: Personale Identität, hg. von Michael Quante (Paderborn u. a. 1999). 27 David Wiggins: Identity and Spatio-Temporal Continuity (Oxford 1967). 28 Richard G. Swinburne: Personale Identität. In: Quante, a. a.O. [Anm. 26] 101–120. 29 Roderick M. Chisholm: The Loose and Popular and the Strict and Philosophical Senses of Identity. In: Perception and Personal Identity, ed. by Norman S. Care, Robert H. Grimm (Cleveland 1969) 82–106. 30 Martine Nida-Rümelin: Der Blick von innen. Zur transtemporalen Identität bewußtseinsfähiger Wesen (Frankfurt a.M. 2006). 31 Vgl. den seminalen Aufsatz aus dem Jahr 1971: Derek Parfit: Personal Identity. In: J. Perry: Personal Identity, a. a.O. [Anm. 23] 199–226. Elaboriert: ders.: Reasons and Persons (Oxford 1984). 23

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Gegen Parfits reduktionistische Position erheben sich Stimmen auch aus Frankreich32 und Deutschland: Es wird hier zu differenzieren sein, wie Henrich betont,33 zwischen selbstbewußtem Subjekt, Leib und im Leib individuierter Person. Person-Identität sei in der Tat nur zu bestimmen über die mentalen und leiblichen Verknüpfungen, die Identität des Subjekts dagegen sei von ganz anderer, mit keiner anderen vergleichbaren Art. Diese stelle sich nicht her durch irgendwelche Festlegungen, so und so zu sein oder sein zu wollen, ich habe sie immer schon: als das numerisch eine, immer gleiche Subjekt, das sich in jedem Bewußtseinsakt als immer gleiches weiß. Auf diesem Subjekt als dem Inbegriff des Transzendentalen insistiert zu haben, ist, neben Henrich, das Verdienst insbesondere auch von M. Frank (im Verbund mit ihren analytischen Gewährsleuten). Ihr wichtigster Bezugsautor ist, neben Kant und den deutschen Idealisten, Sartre mit seiner Analyse der Transzendenz des Ego: Es gibt kein Ich, das Bewußtsein hat, das Bewußtsein ist unpersönliche permanente Spontaneität und mein Ich Gegenstand dieses Bewußtseins.34 Personale Identität hat aus dieser Sicht durchaus mit Identität im Sinne der Identifikation eines einzelnen Gegenstandes einer prädikativen Aussage zu tun. Als ein meiner selbst bewußtes Subjekt habe ich ein kriterienloses Wissen davon, daß ich selbst in einem bestimmten mentalen Zustand bin. Ich weiß (ohne einen Akt der Identifikation vornehmen zu müssen), daß mein Schmerz ein Gefühl ist, das ich (und nicht ein anderer) hat. Ein anderer jedoch muß, wenn er auf mich in der intersubjektiven Rede Bezug nehmen will, eine Identifikation und Prädikation vornehmen (die auch fehlschlagen kann) – daß es der Schmerz der Person x ist – indem er von äußeren Kriterien Gebrauch macht.35 Zwischen dem internen Gebrauch von mentalen Ausdrücken und dem intersubjektiven Gebrauch besteht darum eine Spannung, die von mir erfordert, daß ich aus meiner Subjektperspektive heraustrete in die öffentliche Welt und Prädikationen verwende, die auch jeder andere auf mich anwenden könnte.36 Für mich stellt sich dann die Frage, ob es genau dies sei, was ich über mich sagen kann, und, bei mentalen Zuständen, auf die ich Einfluß nehmen kann (wie meine Absichten z. B. und meine Handlungen), ob es genau dies ist, was ich will. Dieses Problem der Selbstfestlegung ist das praktische Problem personaler Identität über die Zeit hinweg, das auch mit einem andern Verständnis von Person einhergeht: die Person wird nicht, wie in der empiristischen Tradition, als Inbegriff eines Paul Ricœur: Sois-même comme un autre (Paris 1990), dt.: Das Selbst als ein Anderer (München 1996) 5. Abh. 33 Dieter Henrich: Denken und Selbstsein (Frankfurt a.M. 2007) 63 f. 34 Vgl. etwa Manfred Frank: Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis (Stuttgart 1991). 35 D. Henrich: Identität, a. a.O. [Anm. 4] 175 ff. 36 Zu Recht stellt sich darum die Frage, ob eine vollständige Theorie personaler Identität nicht auf eine Verbindung von »einfacher Sicht« und »komplexer Sicht« hinauslaufen müßte. Vgl. etwa Dieter Sturma: Selbstreferenz, Zeit und Identität. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 56 (2008) 569–581. 32

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passiven Erlebens von Bewußtseinszuständen gesehen, sondern – kantisch – als Ursprung selbstverantwortlichen Handelns.37 Neuere Konzeptionen der personalen Identität haben ihre Wurzel in diesem Gedanken einer sich – praktisch – zu sich selbst verhaltenden Person, der auch unmittelbar wieder anschlußfähig ist an den existenzphilosophischen Diskurs über Selbst und Selbstwahl. Anklang gefunden hat insbesondere die narrative Auffassung,38 die personale Identität im Sinne jener Einheit versteht, die eine Person in ihrem Leben herstellt, indem sie erzählendes Ich und Hauptfigur zugleich einer sich ständig neu verfertigenden Lebensgeschichte ist. Diese »narrative Identität« ist kein Gegenstand mehr der Erkenntnistheorie, sondern der Hermeneutik und der Ethik. »Die Erzählung konstruiert die Identität der Figur […], indem sie die Identität der erzählten Geschichte konstruiert.«39 Die dem praktischen Selbstverhältnis entspringende Frage personaler Identität, die Frage, wie ich mich zu mir selber stelle und wer ich selber sein will, ist die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – weit über die Philosophie hinaus – wohl virulenteste Frage. Sie bildet den Hintergrund des überaus populären und inflationär gebrauchten sozialpsychologischen Begriffs der Identität.

VI. Der sozialpsychologische Begriff der Identität Beim sozialpsychologischen Gebrauch von ›Identität‹ handelt es sich nicht um eine neue Bedeutung von Identität, sondern – im Sinne der erwähnten aristotelischen Unterscheidung – um qualitative Identität: um die Art von Person, die ich als Einzelner sein oder werden will. Um ein anderer werden zu können, muß ich jedoch numerisch schon ein und dieselbe Person sein: Die Behauptung, es gehe in diesem Kontext um Individualität oder Singularität, gehört mit zu den herrschenden Konfusionen auf diesem Feld.40 Auch wer nicht sein will wie jeder andere, gewinnt dadurch nicht schon Individualität, er gehört nun bloß zu einer anderen Kategorie, der Kategorie jener, die nicht sein wollen wie die anderen. Wie Christine M. Korsgaard: Personale Identität und die Einheit des Handelns: eine kantianische Antwort auf Parfit. In: M. Quante: Personale Identität, a. a.O. [Anm. 26] 195–237) geltend macht. 38 Sie geht zurück auf Alasdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart (Frankfurt a.M. 1987) bes. 290 ff. und Paul Ricœur: Temps et récit, 3 Bde. (Paris 1983–1985); ders.: Das Selbst als ein Anderer, a. a.O. [Anm. 32] 6. Abh., wird zu einem der zentralen Themen von Charles Taylor (Quellen des Selbst [Frankfurt a.M. 1994] 94); zu Taylors Auffassung vgl. Hartmut Rosa: Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor (Frankfurt a.M., New York 1998) 114–117, 166–176, 401–406) und wird heute breit rezipiert (exemplarisch: Dieter Thomä: Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem [München1998]). 39 P. Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, a. a.O. [Anm. 32] 182. 40 Vgl. die kritischen Bemerkungen von E. Tugendhat: Selbstbewußtsein, a. a.O. [Anm. 19] 282–291, und D. Henrich: Identität, a. a.O. [Anm. 4] 135 f. 37

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Vorläufer des sozialpsychologischen Begriffs41 ist der von W. James ins Spiel gebrachte Begriff des Selbst, das einerseits, in der Gestalt des reinen Ich, Subjekt der Erkenntnis und andererseits – das »self as known«, das »empirical self« – Objekt der Erkenntnis ist und aus der im Bewußtseinsstrom sich herausbildenden Persönlichkeitsstruktur besteht. 42 Das »empirical self« zerfällt nach James wiederum in drei verschiedene, mit einander unverbundene Teile, darunter das »social self« als Summe der »Anerkennungen«, die ein Individuum von andern Individuen erfährt.43 Die pragmatistischen Mitstreiter von James wollten sich aber weder mit der bei James ungeklärt gebliebenen Genese des reinen Ich noch mit dessen als starr empfundenen Gesamtstruktur des Selbst zufrieden geben.44 Durchgesetzt hat sich am Ende G. H. Meads Versuch, den Begriff des Selbst interaktionistisch zu verflüssigen und als eine über die sozialen Beziehungen vermittelte Struktur der Selbstbeziehung einer Person zu verstehen, die sich zu ihren eigenen Zuständen und Handlungen verhalten kann und der es dabei gelingt, die unterschiedlichen und konkurrierenden Erwartungen der Anderen in sich zu integrieren.45 Mead jedoch spricht, entgegen der irreführenden deutschen Übersetzung von »self« schon im Titel seines Hauptwerks,46 nie von Identität, sondern immer nur vom Selbst. Es war erst E. Erikson, der nach 1945, in der Tradition der von Freud herkommenden Ich-Psychologie, aber wohl nicht unbeeinflußt von Meads Konzept des Selbst, dem auch in seinen Augen nie ganz geklärten Begriff der Identität47 zu seinem Siegeszug verholfen hat. Gemäß Eriksons Theorie einer die ganze Lebensspanne umfassenden, achtstufigen Entwicklung stellt sich jedem Menschen48 in der Adoleszenz die zentrale, in modernen Gesellschaften

Zur ausführlichen Begriffsgeschichte vgl. Andrew J. Weigert, J. Smith Teitge, Dennis W. Teigte: Society and Identity. Toward a sociological psychology (Cambridge, London u. a. 1986) 5–29; Philip Gleason: Identifying Identity. A Semantic History. In: Journal of American History 69 (1983) 910–931. 42 William James: The Principles of Psychology [1890] (Cambridge, Mass. 1981) 219–278. 43 Ebd. 279–379. 44 Vgl. Hans-Joachim Schubert: Demokratische Identität. Der soziologische Pragmatismus von Charles Horton Cooley (Frankfurt a.M.1995) 245–323. Zu Mead allgemein: Hans Joas: Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von Georg Herbert Mead (Frankfurt a.M.1989). 45 Georg Herbert Mead: Mind, Self and Society. From the standpoint of a social behaviorist (Chicago 1934) bes. part III. 46 Ders.: Geist, Identität und Gesellschaft (Frankfurt a.M.1973). Kritisch zur Übersetzung: E. Tugendhat: Selbstbewußtsein a. a.O. [Anm. 19] 247, 282 ff.; apologetisch: Hans Joas: Einleitung. In: G. H. Mead: Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, hg. von dems. (Frankfurt a.M. 1987) 17 f. 47 Vgl. Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus (Frankfurt a.M. 1966) 124 f.; vgl. auch ders.: Identity, Psychosocial. In: International Encyclopedia of the Social Sciences (New York 1978) Bd. 7, 60–65. 48 Taylor, Giddens u. a. halten diese Anthropologisierung für fragwürdig: Sinn- und Identitätsprobleme zu haben, sei ein Merkmal des modernen Menschen (vgl. Taylor: Quellen des 41

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sich krisenhaft zuspitzende Entwicklungsaufgabe, eine »Ich-Identität« auszubilden, d. h. zu dem zu werden, als den ihn die andern wahrnehmen, ohne sich dabei verleugnen zu müssen. Der Prozeß gelingt, wenn der Einzelne »das Gefühl der Ich-Identität« gewinnt, »das angesammelte Vertrauen darauf, daß der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrechtzuerhalten.«49 Dieses Vertrauen ist Voraussetzung dafür, daß eine Person auch spätere Entwicklungsaufgaben zu meistern vermag und sich als zur Intimität fähige, generative und integre Person gegen Isolation, Absorption und Lebensüberdruß zu behaupten weiß. Wo Identitätsbildung mißlingt, droht »Identitätsdiffusion«, eine innere Zersplitterung und Auflösung,50 die mit Überidentifikation, Anklammern an Vorbilder und Intoleranz abgewehrt werden kann.51 Die Kritik richtete sich vor allem gegen Eriksons normative Vorstellung einer gelungenen resp. mißlungenen Identitätsbildung und seinen angeblich allzu harmonistischen Glauben an eine Passung von sozialen Erwartungen und individuellen Selbstansprüchen.52 Sie gibt den Anstoß zu einer ausgedehnten empirischen Identitätsforschung. Federführend im amerikanischen Raum ist J. E. Marcia,53 der von der Polarität von Identität versus Identitätsdiffusion wegzukommen versucht und in den faktischen (potentiell die gesamte Lebenszeit umfassenden) Identitätsbildungsprozessen jeweils vier Arten von Identitätszuständen (identity statuses) unterscheiden zu können glaubt (identity achievement, moratorium, foreclosure, identitity diffusion). Diese differieren in bezug auf das Ausmaß, in dem jeweils Alternativen exploriert und innere Verpflichtungen übernommen werden. Jede Art von Status kann – aus der Sicht der Betroffenen und der Forschung – eine jeweils als normal angesehene Antwort auf krisenhafte Lebenssituationen in unterschiedlichen Bereichen (Beruf, Partnerschaft etc.) und unter wechselnden sozialen Bedingungen darstellen.54

Selbst, a. a.O. [Anm. 38] 41 f.; Anthony Giddens: Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age [Cambridge 1991] 9). 49 E. H. Erikson: Identität, a. a.O. [Anm. 47] 107. 50 Ebd. 154. 51 Ebd. 110. 52 Vgl. etwa Edward E. Sampson: The Decentralization of Identity. Toward a revised concept of personal and social order. In: American Psychologist 40 (1985) 1203–1211. 53 Vgl. etwa James E. Marcia: Development and Validation of Ego-Identity Status. In: Journal of Personality and Social Psychology 3 (1966) 551–558; ders.: The Status of the Statuses: Research Review. In: Ego Identity. A Handbook for Psychological Research, ed. by J. E. Marcia, Alan S. Waterman [u. a.] (New York 1973) 22–41. 54 Zur Würdigung dieser Forschungsrichtung vgl. Wolfgang Kraus, Beate Mitzscherlich: Abschied vom Großprojekt. Normative Grundlagen der empirischen Identitätsforschung in der Tradition von James E. Marcia und die Notwendigkeit ihrer Reformulierung. In: Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung, hg. von Heiner Keupp und Renate Höfer (Frankfurt a.M. 1997) 149–173.

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In der deutschen Diskussion dagegen, die – angeführt von Habermas – Erikson stärker mit Mead zu verbinden sucht,55 wird weiterhin am normativen Gehalt des Identitätsbegriffs festgehalten: Identitätsbildung wird als Autonomiegewinn und das Mißlingen der Identitätsbildungsprozesse als ein Verharren in Unmündigkeit dargestellt. Im Focus stehen die formalen Fähigkeiten, die eine gelingende Identitätsbildung erlauben, so, nach Krappmann, die Fähigkeit zur Rollendistanz, zur Empathie, zum Ertragen von Rollenambiguitäten und zur Selbstpräsentation.56 Als Erklärungsmodell für die Genese solcher Kompetenzen dient Kohlbergs Theorie der Entwicklung des moralischen Urteils von der präkonventionellen und konventionellen Stufe hin zur Stufe der postkoventionellen Moralität. Auf jeder dieser Stufen, die zugleich auch als Stufen der Menschheitsentwicklung gesehen werden, bildet sich nach J. Habermas eine andere Art von Ich-Identität heraus: die »natürliche Identität« im Rahmen der Familien- und Stammesmoral, die »Rollenidentität« im Rahmen von Hochkulturen, die »Ich-Identität« im Rahmen einer auf Vernunft beruhenden universalistischen Moral.57 Gesellschaftstheoretisch wird die Entwicklung hin zur »vernünftigen Identität«58 als die einzig mögliche Antwort auf die Rationalisierungsprozesse der Moderne gepriesen. Die fragwürdig gewordene kulturelle Überlieferung könne nur noch fortgesetzt werden durch reflexive Aneignung der überkommenen Normen und durch autonome Entscheidungen angesichts der sich eröffnenden Vielfalt individueller Lebensentwürfe.59 Auf systemischer Ebene brauche es dazu die Einrichtung von Verfahren der diskursiven Meinungs- und Willensbildung, denn der Zwang zur Individualisierung nötige dazu, neue soziale Regelungen zu konstruieren und kraft eigener kommunikativer Anstrengung Verbindlichkeiten zu schaffen und neue Quellen der Solidarität zu finden. Wichtige frühe Quellen der Fusion dieser beiden Linien sind: Nelson N. Foote: Identification as the Basis for a Theory of Motivation. In: American Sociological Review 16 (1951) 14–21; Helen Merrell Lynd: On Shame and the Search for Identity (New York 1951); Anselm Strauss: Mirrors and Masks: The Search for Identity (Glencoe 1959); Ervin Goffman: The Presentation of Self in Everyday Life (Garden City, New York 1959). Der Focus innerhalb dieser Richtung des symbolischen Interaktionismus liegt vor allem auf der Frage der Rollenidentität (»roleidentity«): »[…] the character and the role that an individual devises for himself as an occupant of a particular social position« (Georg McCall, Jerry L. Simmons: Identities and Interactions [New York 1966] 67). 56 Lothar Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität (Stuttgart 1971) bes. 132– 173. 57 Jürgen Habermas: Notizen zum Begriff der Rollenkompetenz [1972]. In: ders.: Kultur und Kritik (Frankfurt a.M. 1973) 219–231, bes. 222–231. 58 Ders.: Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden? In: ders., Dieter Henrich: Zwei Reden (Frankfurt a.M. 1974) 9–22, zit. 25 u. ö. Erw. Fassung: J. Habermas: Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus (Frankfurt a.M. 1976) 92–126. 59 Vgl. J. Habermas: Die postnationale Konstellation. Politische Essays (Frankfurt a.M. 1998) 226 f. In Verknüpfung mit dem existenzphilosophischen Thema der Selbstwahl, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken (Frankfurt a.M. 1988) 203 ff. 55

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Gegen diese emanzipativen Verheißungen richtet sich ab 1968 der Einspruch der von Nietzsche inspirierten Poststrukturalisten und Postmodernisten.60 Die eingeforderte Identität wird – fälschlicherweise – mit einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur gleichgesetzt61 und darum als Zwang, Gewalt, Unterwerfung und Entfremdung perhorresziert, als Verherrlichung des unter dem Diktat der Konsistenz- und Kontinuitätszumutung stehenden modernen, nach Herrschaft über sich und die Natur strebenden Menschen, der sich, gemäß dem berühmten Horkheimer-Adorno-Zitat, »Furchtbares« habe »antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete männliche Charakter des Menschen geschaffen war.«62 Die Umbruchserfahrungen der postmodernen Gesellschaft, so die postmodernistische Botschaft, läuteten jedoch den Abschied von den überkommenen Identitätskonzepten ein;63 das vormals kohärente Selbst löse sich – durch kommunikative Übersättigung – in eine fragmentierte Identität auf,64 eine »Patchworkidentität«65 sei gefragt. Für die »postmodernen Nomaden« gebe es nur noch »Augenblicks-Identitäten«, »Identitäten für heute« und »Identitäten bis auf weiteres«.66 Daß die Suche nach Identität jedoch anhält, zeigt sich schon daran, daß jede anständige Firma sich um ihre »corporate identity« bemüht zeigt und die Ratgeberliteratur uns weiterhin ein »identity styling« oder »identity shaping« nahelegt. »Alltägliche Identitätsarbeit« sei weiterhin gefordert, wie selbst der Protagonist der »Patchworkidentität« neuerdings wieder eingesteht, eine die uns helfe, eine kohärente Lebensgeschichte »ohne Identitätszwang« aufrechterhalten zu können.67 Wenn wir nicht gesellschaftlich determiniert sind wie in der Vormoderne, sondern uns selber authentisch definieren müssen und dies nur in der Interaktion mit andern tun können, wird Identitätsfindung, so A. Honneth68 und so

Vgl. etwa die Überblicksdarstellung von Harald Wenzel: Gibt es ein postmodernes Selbst? Neuere Theorien und Diagnosen der Identität in fortgeschrittenen Gesellschaften. In: Berliner Journal für Soziologie 1 (1995) 113–131. Kritisch zum Ganzen: H. Joas: Die Entstehung der Werte (Frankfurt a.M. 1997) 227–251. 61 Vgl. H. Joas, ebd. 240. 62 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung [1947] (Frankfurt a.M.1969) 33. 63 Vgl. etwa Dietmar Kamper: Die Auflösung der Ich-Identität. In: Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, hg. von Friedrich A. Kittler (Paderborn 1980) 79–86. 64 So Kenneth Gergen: The Saturated Self. Dilemmas of Identity in Contemporary Life (New York 1991). 65 Ein Begriff geprägt von Heiner Keupp: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. In: Verunsicherungen, hg. von H. Keupp, Helga Bilden (Göttingen 1989) 47–69, bes. 63 ff. 66 Zygmunt Baumann: Soil, blood and identity. In: The Sociological Review 40 (1992) 674– 701, zit. 694. 67 So das Ergebnis eines Forschungsprojekts von H. Keupp u. a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne (Reinbek bei Hamburg 1999, 22002). 68 Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte (Frankfurt a.M. 1992) 213. 60

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auch Taylor, zu einem Problem der Anerkennung: Wollen mich die andern so sehen, wie ich mich selber sehe und sehen will? Es ist aber zugleich auch ein Problem der Authentizität: Stehe ich zu dem, was ich – gemäß meinem genuinen spontanen Empfinden und Erleben – als meine Identität ansehe und bleibe ich mir selber treu, statt mich dem sozialen Anpassungsdruck zu beugen.69 Die Schwierigkeiten dieses verzweifelten Kampfes um Anerkennung, die vor allem E. Goffman70 in ihren alltäglichen Formen in bezug auf sozial stigmatisierte Personen eindrücklich beschrieben hat, wird ab den neunziger Jahren zunehmend auch im soziokulturellen und politischen Kontext registriert. Von der »identity politics« progressiver Bewegung ist die Rede, wie der Frauen-, Schwulen- und Lesbenbewegung.71 Identität wird als »Waffe« gesehen,72 die unterdrückte Minderheiten im Kampf um Anerkennung ihrer Differenz einsetzen können, die aber umgekehrt auch von rechtsgerichteten oder fundamentalistischen Gruppierungen verwenden werden kann, um eine »Blut und Boden«-Identität zu verteidigen und ihre »mörderische Identität«73 gegen die jeweils Anderen zu richten. Taylor weist auf die Bedingungen hin, die mit jeder »Identitätsfrage« verbunden sind: Wissen, wer ich bin, heißt wissen, wo ich mich befinde. »Definiert wird meine Identität durch die Bindungen und Identifikationen, die den Rahmen oder Horizont abgeben, innerhalb dessen ich von Fall zu Fall zu bestimmen versuchen kann, was gut oder wertvoll ist oder was getan werden sollte bzw. was ich billige oder ablehne.«74 Ohne diese Bindungen und Identifikationen, seien es nun frei gewählte moralische oder spirituelle Bindungen75 oder aber Volksoder Traditionszugehörigkeiten, gäbe es auch keine Möglichkeit, seinen eigenen Standort zu bestimmen mit Bezug auf die für unsere Identität maßgeblichen »Fragen nach dem Guten, Ersprießlichen, Bewundernswerten und Wertvol-

69 Ch. Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung (Frankfurt a.M.1993) 13 f., 23 ff. Der politische Kampf um Anerkennung hat dabei zwei Seiten: zum einen geht es darum, daß jeder dieselben Rechte und Pflichten hat, wie jeder andere auch, zum andern, daß jeder in seiner Besonderheit, seiner Differenz anerkannt wird (28 ff.). 70 E. Goffman: Stigma, a. a.O. [Anm. 55]. 71 vgl. Edward E. Sampson: Identity Politics. Challenges to Psychology’s Understanding. In: American Psychologist 48 (1993) 1219–1230; Social Theory and the Politics of Identity, ed. by Craig Calhoun (Oxford 1994). 72 Vgl. etwa Diederich Diederichsen, Jacob Günther: Differenz und Reaktion. In: Konkret 2 (1994) 53. 73 Amin Maalouf: Mörderische Identitäten (Frankfurt a.M. 2000) 31. 74 Ch. Taylor: Quellen des Selbst, a. a.O. [Anm. 38] 55. 75 Taylor untermauert damit anthropologisch, was Soziologen wie Hans Mol (Identity and the Sacred [New York 1976]) in der Nachfolge von Robert Bellah (R. Bellah et al.: Habits of the Heart [Berkeley 1985]) und Peter L. Berger (The Sacred Canopy [Garden City, New York 1967]) in Bezug auf die identitätsstabilisierende Funktion der Religion behauptet hatten.

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len«.76 Dieser Grundgedanke, der sich gegen die atomistische Vorstellung eines ethisch neutralen, von allen intersubjektiven Bindungen freien Subjekts richtet, kann dann, wie exemplarisch bei M. Sandel, leicht zu einem Argument zugunsten des Kommunitarismus umgebogen werden: der Einzelne bedarf, um zwanglos zu seiner »Identität«, zu einem angemessenen Verständnis seiner selbst zu gelangen, des Rückhalts in einer intakten, an gemeinsamen Werten sich orientierenden Gemeinschaft.77 Der enge Bezug zwischen personaler Identität und Kollektiv bildet den Hintergrund der nach 1960 einsetzenden ausgedehnten Debatte über kollektive (ethnische, soziale, kulturelle, nationale etc.) Identität.78 Angesichts dieser Debatte stellt sich die skeptische Frage, ob es überhaupt zulässig sei, von kollektiver Identität zu reden, da diese Redeweise zwangsläufig dazu verleitet, die Existenz und Einheit eines »Sozialkörpers« zu unterstellen, der als solcher gar nicht existieren kann, jedenfalls nicht in derselben leiblichen Form wie ein Individuum.79 Kritische Autoren kommen zum Schluß, daß man von Identität immer nur in Bezug auf Individuen und nie in Bezug auf Kollektive sprechen sollte, falls man nicht einem »ideologisierenden Sprachgebrauch« verfallen wolle.80 Die Gefahr des manipulativen Mißbrauchs liege jedenfalls nahe: mit fragwürdigen Etikettierungen und entsprechenden Grenzziehungen zwischen Innen und Außen, zwischen dem »Wir« und den Andern,81 und – ins Normative gewendet – dem damit einhergehenden Ruf nach einer identitätsstiftenden Politik, nach Restaurierung oder Bewahrung »kollektiver Identität«.82 Der einzige wissenschaftlich verantwortungsvolle, empirisch abgestützte Begriff kollektiver Identität dürfte der rekonstruktive Begriff sein, den J. Assmann zur Grundlage seiner Theorie des kollektiven Gedächtnisses gemacht hat: Kollektive Identität als »das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizie-

Ch. Taylor: Quellen des Selbst, a. a.O. [Anm. 38] 55. Michael Sandel: Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst. In: Kommunitarismus, hg. von A. Honneth (Frankfurt a.M. 1993) 29 f. 78 Die Frage der »ethnischen Identität« war eines der großen Themen in der Zeit zwischen 1960 und 1980. Vgl. etwa: Ethnicity: Theory and Experience, ed. by Nathan Glazer, Daniel P. Moynihan (Cambrige, Mass. 1975). Dokumente zur neueren Debatte über kollektive Identität sind etwa: Identità e politica, a cura di Furio Cerutti Rom, Bari 1996); Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, hg. von Bernhard Giesen (Frankfurt a.M. 1991). 79 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (München 1992) 131 f. 80 Reinhard Kreckel: Soziale Integration und nationale Identität. In: Berliner Journal für Soziologie 4 (1994) 13–20, zit. 14. 81 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, a. a.O. [Anm. 79] 145 ff. 82 Vgl. Lutz Niethammer: Konjunkturen und Konkurrenzen kollektiver Identität. Ideologie, Infrastruktur und Gedächtnis in der Zeitgeschichte. In: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 24 (1994) 378–399. 76 77

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ren«, und die »so stark oder so schwach ist, wie sie im Denken und Handeln der Gruppenmitglieder lebendig ist und deren Denken und Handeln zu motivieren vermag«.83

83 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, a. a.O. [Anm. 79] 132. Vgl. auch das Plädoyer von Jürgen Straub: Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs. In: Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3, hg. von Aleida Assmann und Heidrun Friese (Frankfurt a.M.1998) 96–104.

Ernst Wolfgang Orth

Krise

Der Begriff ›Krise‹ – oder auch ›Krisis‹ – gehört zu jenen Begriffen, die uns als suggestive Schlagwörter bekannt sind. Hier verbindet sich eine das Subjekt ganz und gar einnehmende Bedeutsamkeit mit einem prägnant identifizierbaren Ausdruck, der wie ein affektives Signal wirkt. Man kann auch von ›Ausdrucksbegriffen‹ sprechen.1 Einen ähnlichen Schlagwortcharakter hat beispielsweise der Begriff ›Interesse‹, der über Jahrhunderte immer wieder einmal zu besonderer Bedeutsamkeit anschwillt.2 Es kommt vor, daß sich ganze Verständigungssysteme um einen Ausdruck dieser Art – eben einen Ausdrucksbegriff – gruppieren. Dabei ist die lexikalische Grundbedeutung des griechischen Ausgangsverbes κρíνειν ganz elementar. Es bedeutet ›sondern‹ (im Sinne von ›unterscheiden‹). Ähnlich elementar ist das den Ausdruck ›logos‹ (λóγος) inaugurierende λéγειν, das ›sammeln‹, ›auflesen‹ bedeutet. Und schließlich ist die verbale Grundbedeutung des aus dem Lateinischen stammenden interesse ›dazwischen sein‹. Aus den drei Substantiven, die sich aus den drei harmlos elementaren Verben κρíνειν, λéγειν, interesse bilden lassen – aus ›Krisis‹, ›Logos‹, ›Interesse‹ – kann man eine ganze Philosophie auftürmen. Wichtig ist wohl, daß die betreffenden Wörter zunächst einfache Verhältnisse ausdrücken, die dann semantisch ausbaufähig sind. Im κρíνειν wird etwas von etwas gesondert, oder es sondert sich. Im λéγειν wird etwas gesammelt, oder es sammelt sich. Im interesse ist etwas zwischen etwas, resp. es befindet sich zwischen etwas. Wirklichkeiten scheinen hier selbst einen subjektiven Modus anzunehmen resp. sich zu modalisieren, indem sich etwas so oder so verhält. Diese Subjektivität als ein Sichverhalten wird noch deutlicher, wenn man das κρíνειν, λéγειν, interesse jemandem zuschreibt, der sondert, sammelt oder dabei ist. Im formalen Anhalt an die entsprechenden Ausdrücke und ihre elementaren Bedeutungen lassen sich Inszenierungen entfalten, die geradezu neue Welten eröffnen. ›Krisis‹ ist das Ergebnis einer solchen Inszenierung. Allerdings ist die Inszenierung auch ihrerseits von Krisis, d. h. von Unterscheidung und Unterscheidungen abhängig. Und wie bei der Krisis bleibt oft offen, ob ein Akteur hinter ihr steht oder nicht. In neuerer Zeit richtet sich die Aufmerksamkeit durchaus auf diesen Inszenierungscharakter von Krisen. Krise wird dabei geradezu zum literaturtheoreti-

1 Vgl. E. W. Orth: Theoretische Bedingungen und methodische Reichweite der Begriffsgeschichte. In: Historische Semantik und Begriffsgeschichte, hg. von Reinhart Koselleck (Stuttgart 1978) 136–153, bes. 145. 2 Vgl. dazu E. W. Orth: Interesse. In: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. 3 (Stuttgart 1982) 305–310, 318–344, 362–365.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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schen Begriff, z. B. in einer Aufsatzsammlung von 2007 mit dem Titel Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen, Diskursstrategien.3 Der Begriff ›Krisis‹ macht dabei sogar vergessen, daß für das, was damit gelegentlich literaturtheoretisch gemeint sein soll, bereits ein ebenfalls griechischer Begriff existiert, nämlich ›Peripetie‹.4 Der Dichter Botho Strauß weiß das und spricht in seiner ›Bewußtseinsnovelle‹ – Die Unbeholfenen – vom »Bewusstsein einer Krise oder Peripetie« in der Dichtung.5 Allerdings benutzt Strauß den Begriff Krise nicht nur literarisch. Er hat eine »Krise des Bewusstseins« und eine »Krise des Wissens« schlechthin im Blick und diagnostiziert zugleich eine Unfähigkeit des gegenwärtigen Menschen zur Krise, d. h. zur echten Entschiedenheit und zur wahren Unterscheidung.6 In der allfälligen Rede vom »Klimawandel« sieht er »die aktuellste Krisenschwelgerei«.7 Kurz: der suggestive Ausdruck ›Krise‹ zeigt Verschleißerscheinungen, die Helmuth Plessner schon 1956 verbucht, indem er seinem Kollegen Erich Rothacker das Diktum zuschreibt: »Der Bildungsphilister des 19. Jahrhunderts hat dem Krisenphilister des 20. Jahrhunderts Platz gemacht.«8 Weniger sarkastisch und eher ethisch appellierend schreibt der Rothacker-Schüler Gerhard Funke 1987: »Krisen der Forschung oder Krisen einer wissenschaftlichen Disziplin zu diagnostizieren, ist eine Sache; sich durch den Genuß der Krisensituation zu narkotisieren, ist eine andere.«9 Schon zu Beginn der achtziger Jahre (des 20. Jahrhunderts) wendet man sich in Deutschland der Analyse des vermeintlich inflationären Gebrauchs des Krisenvokabulars zu. »›Krise‹-Komposita«, die als »verbale Leitfossilien unserer Tage« figurieren, werden zu Hunderten gesammelt – mit ›Krise‹ sowohl als Grund- wie auch als Bestimmungswort. ›Krise‹ wird »in der Krise« gesehen als eine »Vokabel im Sog ihrer Komposita und auf dem Weg zum leeren Schlagwort.«10 Gleichwohl bedient man sich des Krisenvokabulars auch weiterhin – und zwar in durchaus sinnvollen Analysen geschichtlicher und kultureller Sachverhalte. Dabei kommt gerade solchen Komposita wie ›KriHenning Grunwald und Manfred Pfister (Hg.): Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen, Diskursstrategien (München 2007). Vgl. auch: Literarisches Krisenbewußtsein. Ein Perzeptionsund Produktionsmuster im 20. Jahrhundert, hg. von Keith Bullivant und Bernhard Spies (München 2001). 4 Vgl. z. B. Ansgar Nünning: Grundzüge einer Narratologie der Krise. Wie aus einer Situation ein Plot und eine Krise (konstruiert) wird. In: H. Grunwald und M. Pfister (Hg.): Krisis!, ebd. 48–71, wo der Begriff Peripetie unerwähnt bleibt. 5 B. Strauss: Die Unbeholfenen. Eine Bewusstseinsnovelle (München 2007) 88. 6 Ebd. 81, 90, 96. 7 Ebd. 59. 8 H. Plessner: Über einige Motive der philosophischen Anthropologie (1956). Gesammelte Schriften, Bd. 8 (Frankfurt a.M. 1983) 126. 9 Vgl. die Einleitung in: Zur Selbstbegründung der Philosophie seit Kant, hg. von Wolfgang Marx (Frankfurt a.M. 1987) 7. 10 Vgl. Renate Bebermeyer: »Krise«-Komposita – verbale Leitfossilien unserer Tage. In: Muttersprache. Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache 90 (1980) 189– 210; dies.: »Krise« in der Krise. Eine Vokabel im Sog ihrer Komposita und auf dem Weg zum leeren Schlagwort. In: Muttersprache 91 (1981) 345–359. 3

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senphänomen‹, ›Krisenwahrnehmung‹ und ›Krisenbewältigung‹ eine Schlüsselfunktion zu.11 Das ist um so bemerkenswerter, als unter dem Titel ›Krisis‹ hier auch Epochen der antiken Geschichte behandelt werden, deren Quellen – sofern es lateinische sind – noch gänzlich ohne das Krisenvokabular auskommen müssen. Zwar findet κρíσις in den antiken griechischen Quellen schon für den Bereich »der Jurisprudenz, der Medizin, der Theologie und des Militärwesens eine spezifische Anwendung«, hat aber im Lateinischen kein Äquivalent, außer als latinisiertes ›crisis‹.12 Es dürfte vor allem über seine Verwendung in der Hippokratisch-Galenischen Medizin eine gewisse Nachhaltigkeit erlangt haben.13 Krise als die entscheidende Phase einer Krankheit im Sinne der lebensentscheidenden Alternative zwischen wiederzugewinnender Gesundheit oder Tod – das war einerseits das prominente und professionell behandelte Thema der traditionellen Medizin (bis in die Neuzeit). Andrerseits bietet sich mit diesem medizinischen Bild ein reicher Illustrationsfundus für allerlei metaphorische Ausgestaltungen an, die vor allem an das Bild des Staates oder Gemeinwesens als lebendiger Körper anknüpfen können. Bei all dem hält sich allerdings eine feste, eher abstrakte Grundstruktur durch. Es ist die Thematisierung eines Zustandes, der auf eine dramatische Zuspitzung zustrebt, von wo aus eine unabdingbare Wendung entweder zum Positiven oder zum Negativen erfolgt. Der juridische Richterspruch ist ebenso impliziert wie das göttliche Gericht resp. das religiös heilsgeschichtliche Geschehen. In der Krise wird auf Zeit und mit Zeit gespielt.14 Die Struktur erlaubt es, sie durchaus unterschiedlich zu akzentuieren. Man kann

11 Vgl. neuerdings: Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit, hg. von Helga Scholten (Köln, Weimar, Wien 2007). Davor: Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, hg. von Volker Drehsen und Walter Sparn (Berlin 1996). 12 Vgl. Raban von Haeling: Zeitkritik und Krisenempfinden bei Cassius Dio. In: Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen, ebd. 65. ›Krise‹ und ›Krisen‹ sind beliebte Titel in der Erforschung der Antike: vgl. Geza Alföldi, Ferdinand Seibt und Albrecht Timm (Hg.): Krisen in der Antike. Bewußtsein und Bewältigung (Düsseldorf 1975); Krise, Krisenbewußtsein und Krisenbewältigung. Ideologie und geistige Kultur im Imperium Romanum während des 3. Jahrhunderts. Konferenzvorträge, hg. vom Wissenschaftsbereich Griechisch-römisches Altertum der Sektion Orient- und Altertumswissenschaft (Halle 1988). Wortgeschichtlich interessant ist der Beitrag von Renate Schlesier: Entscheidungsrisiken. Krisen und Kultus in der griechischen Antike. In: H. Grunwald und M. Pfister (Hg.): Krisis!, a. a.O. [Anm. 3] 21–40. 13 Wort- und Begriffsgeschichte von ›Krisis‹ sind lexikographisch gut belegt. Vgl. die Artikel unter ›Krisis‹ von R. Koselleck zum Geschichtsphilosophischen, Sozialen und Theologischen (1235–1242), von Nelly Tsouyopoulos zum Medizinischen (1240–1242), von Schönpflug zu Psychologie und Psychiatrie (1242–1245). In: HWPh Bd. 4 (Basel, Stuttgart 1976). Des weiteren sehr informativ R. Koselleck: Krise. In: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a.O. [Anm. 2], Bd. 3 (Stuttgart 1982) 617–650. Zum Verhältnis von Wort- und Begriffsgeschichte generell vgl. E.W. Orth: Terminologie. In: HWPh, Bd. 10 (Basel 1998) 1009–1012. 14 Kultur als Zeitgestaltung manifestiert sich in gleichsam ungesättigten Begriffen, beispielsweise in Prozeßbegriffen und ›Erwartungsbegriffen‹. Solange nicht entschieden ist oder wenn nicht entschieden wird, kann man auch von ›Dauerkrise‹ sprechen.

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mit der Krise einerseits den anhaltenden Zustand der Unentschiedenheit betonen, andererseits aber auch den Augenblick der Wende selbst. Man kann erfüllt sein von der Hoffnung auf die glückliche Wendung15, oder man fürchtet den Zusammenbruch, den man verzagt antizipiert. Die Nachwirkung des medizinischen Bildes findet sich noch in Goethes Formulierung »Alle Übergänge sind Krisen, und ist eine Krise nicht Krankheit?«16 Oswald Spengler bemüht den Topos der Krise, um die Krise zu überbieten: »in allen Versammlungen und Zeitungen hallt das Wort Krise wider als der Ausdruck für eine vorübergehende Störung des Behagens, mit dem man sich über die Tatsache belügt, daß es sich um eine Katastrophe von unübersehbarem Ausmaß handelt, die normale Form, in der sich die großen Wendungen in der Geschichte vollziehen«.17 Also: die heutige Krise ist mehr als Krise, nämlich Katastrophe – und das ist für Jahre der Entscheidung »normal«. Kein Wunder, daß für Spengler die »›Weltkrise‹ dieser Jahre« »viel zu flach« »aufgefaßt« wird.18 Überbietungsgesten solcher Art sind auch von Heidegger bekannt. Mag im beginnenden 20. Jahrhundert – zumal seit dem Ersten Weltkrieg – auch die negative Akzentuierung im Krisenbegriff überwiegen; das Bewußtsein für die Alternative bleibt dennoch erhalten. So stellt Karl Bühler in Die Krise der Psychologie – was die Entwicklung der Psychologie betrifft – einer möglichen »Zerfalls«krise eine »Aufbaukrise« entgegen, um seinem Fach tatsächlich eine positive Zukunft zu diagnostizieren.19 Voraussetzung für den Einsatz des Topos Krise ist offenbar immer so etwas wie eine zuständliche Wirklichkeit in Bewegung, wofür der (lebendige) Organismus das paradigmatische Modell scheint abgeben zu können. Das Leben ist der Boden der Krisen. Vor allem aber die meist mittels der Lebensmetaphorik beschriebene ›Kultur‹ – die ›Welt des Menschen‹20 – ist krisendurchwirkt. Das Im 18. und 19. Jahrhundert ist diese positive Konnotation noch häufiger anzutreffen; im 20. Jahrhundert überwiegt der Pessimismus, der allerdings gern auf Widerlegung spielt. 16 J. W. von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre (8. Buch, 1. Kap.). Sämtliche Werke, Bd. 7 (Zürich 1977) 542. 17 O. Spengler: Jahre der Entscheidung. Erster Teil. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung (München 1933) 11. 18 Ebd. 16. 19 K. Bühler: Die Krise der Psychologie (Jena 1927, 21929; Stuttgart 31965) 1. – Die Psychologie wurde schon früher in der Krise gesehen – so bei Constantin Gutberlet: Die »Krisis in der Psychologie«. In: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 11 (1898) 121–146. Rudolf Willy: Die Krisis der Psychologie (Leipzig 1899); Hans Driesch: Grundprobleme der Psychologie. Ihre Krisis in der Gegenwart (Leipzig 1926, 21929). Als eine Reaktion auf Krise mittels Kritik (nämlich der Kantischen) vgl. Hans Ehrenberg: Kritik der Psychologie als Wissenschaft. Als Dialektik der inneren Erfahrung (Leipzig 1910). Fach und Praxis der Medizin können sich selbst in einer Krise befinden; vgl. Gottfried Benn: Medizinische Krise. In: Der Querschnitt 6 (1926) 360–347, jetzt in: Gesammelte Werke, Bd. 1: Essays, Reden, Vorträge (Wiesbaden 1959) 31–40. 20 Dazu E. W. Orth: Was ist und was heißt »Kultur«? Dimensionen der Kultur und die Medialität der menschlichen Orientierung (Würzburg 2000). 15

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heißt: Krisis spielt sich ab in einer Dimension zwischen Organismus und Kultur (wobei letztere ja durchaus in ersterem ›fundiert‹ ist). Krisen – das sind die Unterscheidungen und Entscheidungen, die organismus- und kulturkonstitutiv sind, indem sie Kultur inszenieren. Die Krisis ist der Logos der Kultur. Deshalb ist mit dem Begriff der Krise stets auch derjenige der Kritik in Betracht zu ziehen. Im Deutschen teilen sich die Substantive Krise und Kritik das gemeinsame Adjektiv ›kritisch‹.21 Zur vollen Entfaltung kommt das Krisenvokabular im 18. Jahrhundert, wo es mittels der Spielmarken ›Kritik‹ und ›Krise‹ der Selbstbeschreibung vornehmlich im Bereich von Politik und Kultur dient. Diese Selbstbeschreibung kann enthüllen, ja zuspitzen, aber auch verschleiern oder verklären. Sie dient der sachlichen Analyse, aber ebenso der Selbstaufmunterung und gelegentlich durchaus auch der Resignation. R. Koselleck hat die beginnende Karriere von ›Kritik‹ und ›Krise‹ als Pathogenese der bürgerlichen Welt dargestellt und sie gleichzeitig als »Ambivalenz« des Projekts »Aufklärung« charakterisiert.22 Er weist auf die publizistische Dignität hin, die der Krisenbegriff bereits zwischen 1776 und 1783 in der von Thomas Paine herausgegebenen Zeitschrift The Crisis in den werdenden Vereinigten Staaten von Amerika erlangt und beschreibt vor allem die Rolle, die Rousseau für die Etablierung der Begriffe Kritik und Krise spielt – nämlich in Richtung auf eine über das bloß Politische hinausführende Befragung der condition humaine im Ganzen. Diese Befragung ergibt sich aus einer Hypokrisie, die sich nach Koselleck in dem nicht selten frivolen Spiel zwischen Kritik und Krise einstellt. Gegenüber diesem Befund beschreibt P. Hazard 1935 die politisch-geistige Entwicklung Europas zwischen 1680 und 1715 durchaus trotzig-optimistisch. Zum Wesen Europas gehöre es, »sich nie zufrieden zu geben, seine Suche nach Wahrheit und dem Glück immer von neuem zu beginnen, so liegt in diesem Bemühen eine schmerzliche Schönheit.«23 Über dieser literarisch-heroischen Geste muß man jedoch die sachliche These des Autors nicht vergessen, die besagt, daß die wesentlichen Veränderungen des modernen Denkens noch im 17. Jahrhundert aufbrechen und schon im frühen 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichen. Bemerkenswert ist, daß hinter der Benutzung des Krisenbegriffs für diese und jene konkreten, z. B. geschichtlichen, sozialen und politischen Sachverhalte

21 Vgl. die Artikel zu ›Kritik‹ von Claus von Bormann (1249–1262), von Giorgio Tonelli und C. von Bormann (1262–1267), von Helmut Holzhey (1267–1282) sowie zu ›Kritik, Literaturkritik‹ von Fritz Schalk (1282–1285) und von Heinz-Dieter Weber (1285–1292); zu ›Kritik, immanente‹ von Edzard Krückeberg (1292–1293), zu ›Kritik, kritische‹ von Horst Stuke (1293– 1294) und schließlich zu ›Kritizismus‹ von Wolfgang Nieke (1294–1299). In: HWPh, Bd. 4 (Basel, Stuttgart 1976). 22 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (Freiburg, München 1959, 21969) 154. 23 Paul Hazard: La Crise de la Conscience Européenne 1680–1715 (Paris 1935), dtsch.: Die Krise des europäischen Geistes, mit einer Einführung von Carlo Schmid (Hamburg o. J.) 27.

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häufig eine zugleich tiefere und allgemeinere Struktur angedeutet wird, die das menschliche Weltverhältnis und Weltverständnis schlechthin betrifft. Auch Hazard spricht schließlich von einer Krise des europäischen Bewußtseins (conscience). Im 18. Jahrhundert ist es Kant, der den Krisenbegriff (zusammen mit dem der Kritik) mit dem philosophischen Projekt einer Analyse der Vernunft, sozusagen einer Abschätzung ihrer Möglichkeiten überhaupt, verknüpft. Die Analyse heißt Kritik der Vernunft. Ihre Frage könnte lauten: Wie vernünftig ist das Bewußtsein, auf das wir doch alle Anspruch erheben müssen? Und diese Frage erweist sich in vielfachem Sinne als ›kritisch‹. 1765 – also in ›vorkritischer‹ Zeit! – schreibt Kant in einem Brief an Lambert mit Blick auf die Philosophie und Wissenschaft seiner Zeit von einer »Krisis der Gelehrsamkeit« und der daraus erwachsenden Hoffnung auf eine »große Revolution der Wissenschaften«. Er erklärt seinem Adressaten: »Ehe wahre Weltweisheit aufleben soll, ist es nötig, daß die alte sich selbst zerstöre; und wie die Fäulnis die vollkommene Auflösung ist, die jederzeit vorausgeht, wenn eine neue Erzeugung anfangen soll, so macht die Krisis der Gelehrsamkeit, zu einer solchen Zeit, da es an guten Köpfen gleichwohl nicht fehlt, die beste Hoffnung, daß die so längst gewünschte Revolution der Wissenschaften nicht mehr weit entfernt sei.«24 Bemerkenswert ist, daß Kant in der »Fäulnis«, die wesentlich zur Krisis dazu gehört, immerhin einige »gute Köpfe« ausmacht, denen der Zersetzungsprozeß zu einer positiven Erneuerung werden wird – als »gewünschte [!] große Revolution der Wissenschaften.« Hier beansprucht einer in der Krise, die Krise in den Griff zu bekommen. Offensichtlich sind nicht alle von der Krisis der Gelehrsamkeit in gleichem Maße und in gleicher Weise betroffen.25 In seinem Brief tröstet Kant Lambert, der offenbar über »Getändel« und »Schwatzhaftigkeit« oberflächlicher philosophischer »Skribenten« geklagt hatte; dies sei nichts anderes als die »Euthanasie der falschen Philosophie« und besser als falsche »Grübelei« und »Pomp von strenger Methode«.26 Die Formel von der Euthanasie finden wir auch noch sechzehn Jahre später als »Euthanasie der reinen Vernunft«. Hier, im Zusammenhang des (eben nicht patent zu entscheidenden) Antinomienproblems, unterscheidet Kant zwischen zwei (falschen) Haltungen: »einer skeptischen Hoffnungslosigkeit« und einem »dogmatischen Trotz«. Die erste Haltung möchte er »allenfalls noch Euthanasie der reinen Vernunft« nennen.27 Sicherlich handelt es sich bei der Antinomienthematik um eine Krise im prägnanten Sinne; insofern steht es hier buchstäblich ›kritisch‹ um die Vernunft. Aber es gehört zu dieser Krise, daß

Vgl. Kants Brief vom 31.12.1765 an Johann Heinrich Lambert. In: Kants Briefe, hg. von Fritz Ohmann (Leipzig 1911) 20 f. 25 Es ist das Paradoxon, daß die korrupte Vernunft, die korrupte Moral und die korrupte Politik sich in der diese Korruption beklagenden Kritik selbst sanieren. Zu diesen InteresseParadoxien vgl. E. W. Orth: Interesse, a. a.O. [Anm. 2] 330. 26 Kant, a. a.O. [Anm. 24] 20. 27 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 407. 24

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es keine patente Entscheidung gibt, sondern nur einen besonnenen – sprich: kritischen – Kommentar. Später wird Kant diese Position im Verhältnis zu zwei Fehlhaltungen – nämlich gegenüber Skeptizismus einerseits und Dogmatismus andrerseits – »Kritizismus« nennen.28 Dabei ist bemerkenswert, daß – bei aller Bekämpfung des Skeptizismus – die Skepsis ein positives Motiv für die Erarbeitung des Kritizismus ist. Oder anders ausgedrückt: in der skeptischen Haltung manifestiert sich eine eigentümliche und produktive Begegnung zwischen Kritik und Krise. Kurz: Skepsis steht zwischen Kritik und Krise. Skepsis kann in der Tat ›kritisch‹ sein im doppelten Sinn. Die Kritik der reinen Vernunft scheint diesen Doppelsinn aus dem kritischen Geschäft vertrieben zu haben. »Der kritische Weg ist« hier – ausdrücklich gegen »dogmatische« und »skeptische« Verfahrensweisen! – »allein noch offen«.29 Dieser Weg ist die scientifische Methode; ›kritisch‹ bezieht sich auf wissenschaftlich-methodische Kritik als Analyse. ›Kritisch‹ heißt ›kriteriologisch‹.30 Aber in der Vorrede zur 1. Auflage der Kritik der reinen Vernunft finden wir anmerkungsweise einen Passus, in welchem der bloße scientifische Analysecharakter der Kritik überspielt wird von Tönen, die an Krise und Revolution (auch über Philosophie und Wissenschaften hinaus) erinnern: »Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß«. Hier scheint (wie das Folgende zeigt) an eine zwingende Macht appelliert zu werden, die möglicherweise – gut aufklärerisch! – auch Selbstermächtigung ist. »Religion durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich […].« Wer sich der Macht, die hier Kritik heißt, entzieht, macht sich verdächtig und kann »auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.«31 Wer die hier aufgebotene bewilligende Vernunft ist, bleibt merkwürdig unbestimmt; das von ihr Geprüfte – Religion und Gesetzgebung – erscheint grammatisch als ›was‹, nicht als ›wer‹ und also entpersonalisiert. Der Topos der Kritik stimmt hier eher kritisch im Sinne der Krise. In der 2. Auflage von 1787 – also noch be-

I. Kant: Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (1790). Gesammelte Schriften. Akademie-Ausg., Bd. 8 (Berlin 1923) 226 ff. Auch Alois Riehl verbindet im Kritizismus Kritik und Krise: »Seit Locke’s Versuch über den menschlichen Verstand ist die Philosophie in einer inneren Krisis begriffen, die entweder zu ihrer Umgestaltung, oder zu ihrer Auflösung führen muß. Man nennt diese Krisis der Philosophie den philosophischen Kriticismus; kürzer und einschneidender könnte sie auch als Kritik der Philosophie bezeichnet werden.« (Vgl. A. Riehl: Der philosophische Kriticismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft, Bd. 2, T. 2: Zur Wissenschaftstheorie und Methaphysik [Leipzig 1987] 1.) 29 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 856. 30 Vgl. Tilman Borsche: Art. ›Kriterium‹. In: HWPh Bd. 4, 1247–1249. Dort auch Verweis auf P. D. Mercier: Critériologie générale (Louvain 41900). 31 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, Vorrede XI (Anm.). 28

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vor ein Wöllner hätte eingreifen können – wird die suggestive Anmerkung ohne jeden Kommentar weggelassen. Das 19. Jahrhundert pflegt dagegen einen Kritikbegriff, der sich gerne auch einmal – Krisen oder Krisengefühle schürend – als action directe versteht und die bloße Analyse hinter sich zu lassen scheint. 1843/44 schreibt Marx pointiert, »die Kritik« sei »keine Leidenschaft des Kopfes, sie ist der Kopf der Leidenschaft. Sie ist kein anatomisches Messer. Sie ist eine Waffe. Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will.«32 Schließlich dekretiert er: »Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.«33 F. Nietzsche teilt diesen – auf Krise setzenden – martialischen Kritikbegriff mit Marx. Er unterscheidet drei Beziehungsweisen zum Historischen: die »monumentalische«, »antiquarische« und »kritische«. Die »kritische« Historie ist nicht etwa die nach Kriterien den historischen Prozeß aufklärende historische Forschung; das ist bei Nietzsche eher die »antiquarische«. Im Falle der kritischen Historie ›kritisiert‹ das geschichtliche Leben sich selbst, indem es seine eigenen Schöpfungen einfach vernichtet oder abräumt. »Das Bedürfnis zur kritischen« Historie ist eigentlich dasjenige zur »richtenden und verurteilenden Historie.«34 Die »kritische« »Art, die Vergangenheit zu betrachten« steht »im Dienste des Lebens«. »Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch weniger die Gnade, die hier das Urteil verkündet: sondern das Leben allein, jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht.« »Es ist immer ein gefährlicher, nämlich für das Leben selbst gefährlicher Prozeß« – wobei »leben und ungerecht sein eins ist.« Allerdings ist diese ›kritische‹ Betrachtungsweise nach Nietzsche nur eine »neben [!] der monumentalischen und antiquarischen Art.«35 Die Verbindung von Kritik und Krise wird vor allem in dem faßbar, was man im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert – und bis in dessen vierziger Jahre – als ›kulturkritisch‹ und ›Kulturkritik‹ bezeichnet. Hier ist mit ›Kritik‹ und ›kritisch‹ nicht so sehr die (kantische) Frage nach den Bedingungen der Möglichkeiten (der Kultur beispielsweise) gemeint als vielmehr das sinnfällige und wertende Beklagen der vermeintlichen oder tatsächlichen Mißstände der Kultur, wobei nicht selten offen bleibt, ob es sich um Mißliches in der Kultur, das zu überwinden wäre, oder um für das Kulturelle selbst konstitutive Fehler handelt, die unvermeidlich sind. Im Nachhinein nennt man gerne Marx, Nietzsche und

Karl Marx: Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Werke. Schriften, Bd. 1, hg. Hans-Joachim Lieber und Peter Furth (Darmstadt 1962) 491. 33 Ebd. 497. 34 Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Werke, hg. von Karl Schlechta, Bd. 1 (Frankfurt, Berlin, Wien 1972) 225. 35 Ebd. 229. 32

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Freud als Autoren, die eine entsprechende Krisensensibilität zu zeigen scheinen. Sprichwörtlich dafür ist Freuds späte Schrift Das Unbehagen in der Kultur (von der »Störung des Behagens« spricht ja auch Spengler).36 Als Urvater dieser kritischen und Krisen-Attitüde gilt Rousseau, dessen entsprechend ›ausgewählte Werke‹ – im 20. Jahrhundert – auch gerne einmal unter dem Titel Die Krisis der Kultur erscheinen.37 Die Terminologie und die Art ihrer Verwertung werden hier vom 20. Jahrhundert auf frühere Zeiten zurückprojiziert, um bestimmte vergleichbare Situationen und Mentalitäten mit Interesse am Aktuellen zu beschreiben.38 Trotz des gelegentlich zu Taten aufrufenden Habitus (im Sinne von Nietzsche und Marx) ist diese Art Kulturkritik nicht selten pathisch und pflegt die Position des betroffenen Zuschauers. Neben dieser Art einer ›kritischen‹ Einstellung zur Kultur entwickelt sich jedoch bereits im 19. Jahrhundert eine ›Kulturphilosophie‹, die an das kritische Projekt Kants anknüpft – so bei W. Windelband,39 der 1910 das »System des [kantischen] Kritizismus als eine umfassende Kulturphilosophie« charakterisiert.40 1923 dekretiert schließlich E. Cassirer, daß die »Kritik der Vernunft« »zur Kritik der Kultur« werden müsse.41 Im englischen Exil 1936 spricht Cassirer programmatisch über Critical Idealism as a Philosophy of Culture.42 Jetzt ist die Kantische Formel von der Kritik der […] Vernunft endgültig für die Kritik der Kultur adoptiert. Es ist bekannt, daß schon bald nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft die geglückte kantische Titel-Trouvaille vielfach nachwirkt und übernommen wird – bis hin zu Marx’ Kritik der politischen Ökonomie.43 Das Anknüpfen an die kantische Formel – als allgemeiner Name für ein in Angriff zu nehmen-

Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930). Gesammelte Werke, Bd. 14 (Frankfurt a.M. 1991). Zu Spengler vgl. O. Spengler: Jahre der Entscheidung, a. a.O. [Anm. 17]. 37 Vgl. J. J. Rousseau: Die Krisis der Kultur. Die Werke ausgewählt von Paul Sakmann, hg. von Raymund Schmidt (Stuttgart 21956). 38 Vgl. Ehrenfried Muthesius: Ursprünge des modernen Krisenbewußtseins (München 1963); Johannes Rohbeck und Herta Nagl-Docekal (Hg.): Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und Systematische Studien (Darmstadt 2003); Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders (München 2007). 39 Vgl. Wilhelm Windelband: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einführung in die Philosophie. 2 Bde. (Tübingen 41911). 40 W. Windelband: Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus. In: ebd. Bd. 2, 258. 41 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. 1. Teil: Die Sprache (1923) (Darmstadt 1956) 11. 42 E. Cassirer: Critical Idealism as a Philosophy of Culture. In: Symbol, Myth, and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer 1935–45, ed. by Donald Phillip Verene (New Haven, London 1979) 64–91. 43 Vgl. dazu E. W. Orth: Zur Kritik der beleidigten Vernunft (1988). In: ders.: Was ist und was heißt »Kultur«?, a. a.O. [Anm. 20] 119–136, besonders 120 ff., wo zur kantischen ›Kritik‹ analoge Titel bis in unsere Gegenwart genannt werden. Ein jüngeres Beispiel ist Francesca Rigotti: Philosophie in der Küche. Kleine Kritik der kulinarischen Vernunft (München 2003), ital.: La filosofia in cuccina. Piccola critica della ragion culinaria (Bologna 1999). 36

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des, rationalisierendes Selbstklärungsprojekt – muß jedoch nicht in jedem Falle alles Irrationale, Affektive, geschichtlich Kontingente ausschließen. Das heißt: Krisenhaftes – noch Unentschiedenes oder Unentscheidbares – bleibt auch in dem kantischen Titelprogramm noch erhalten. Das wird auch faßbar in Peter Sloterdijks ausführlicher Darlegung einer Kritik der zynischen Vernunft.44 Man kann dieses Unternehmen durchaus in einen größeren Zusammenhang einordnen, der sich als eine ›Kritik der beleidigten Vernunft‹ bezeichnen läßt. Eine solche Kritik knüpft an den facettenreichen Befund an, daß die Vernunft auf ihren vielen Wegen und bei all ihren Gelegenheiten vermeintlicher Selbstklärung allfällig in Widrigkeiten gerät – vergleichbar den schon genannten Interesseparadoxien.45 Sie erweisen sich als prinzipielle, als konstitutive Krisenbehaftetheit aller Vernunft resp. der menschlichen Intelligenz (oder wie immer die Instanzen heißen mögen). Es ist die Krisis des Sich-Orientierens selbst.46 Die Verknüpfung des rationalen, kantianisierenden Kritikinteresses mit der alles Leben durchdringenden Krise wird bei Georg Simmel besonders augenfällig. Bei ihm ist im übrigen unterdessen der Kulturbegriff so weit formiert, daß er ein wahrhaft paradigmatisches Thema der Kritik werden kann. Simmel hatte zudem zu zeigen versucht, daß das Kantische kritische Projekt der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit (von Erkenntnis) und der Konstitution des Gegenstandes viel authentischer mit Bezug auf das Geschichtliche und Kulturelle als auf die Natur – wie vornehmlich bisher – zu bewerkstelligen ist.47 Dabei stellt Simmel uns seinen Krisenbegriff und Krisenbefund in einer merkwürdigen Doppelsinnigkeit vor. Einerseits handelt es sich bei Krisen um die strukturellen, schon im Leben angelegten Antagonismen von Lebendigkeit und Erstarrung (Verdinglichung!), die in der Kultur allerdings verschärft werden. Andrerseits beschreibt uns Simmel ganz spezielle Krisen, deren Zeitgenosse und Zeuge er ist – wie z. B. die Epoche des beginnenden Ersten Weltkrieges. Dabei fallen seine Urteile oft gar nicht mehr so strukturell, sondern eher persönlich und recht zeitgebunden aus. In einem 1918, seinem Todesjahr, veröffentlichten Vortrag hat Simmel die Strukturkrise (in Leben und Kultur) unter dem Titel Der Konflikt der modernen Kultur behandelt.48 Auf die Kriegszeit und damit Vgl. Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, 2 Bde. (Frankfurt 1983). Vgl. Anm. 25 und E.W. Orth: Interesse, a. a.O. [Anm. 2] 330. Hierzu zählen auch die berühmten drei Kränkungen, die – nach Freud! – der Mensch sich selbst durch die Lehren von Kopernikus, Darwin und Freud zugefügt hat. Sloterdijk wartet mit weiteren sechs Kränkungen auf. Vgl. P. Sloterdijk: Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger (Frankfurt 2001) 340–345. 46 Eben dieser Befund motiviert eine ›Kritik der beleidigten Vernunft‹ (vgl. Anm. 43). 47 Vgl. G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie (1892). Gesamtausgabe Bd. 2 (Frankfurt a.M. 1989); (21905/07) in: Gesamtausgabe Bd. 9 (ebd. 1997). 48 G. Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur (München, Leipzig 1918). Vgl. ders.: Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: ders.: Philosophische Kultur (Leipzig 1911, 21919, Potsdam 31923); Untertitel: Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne (Berlin 1983) 195–219. 44 45

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seine eigene Gegenwart bezieht sich Simmel in der Aufsatzsammlung Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Die Beiträge tragen die Titel: Deutschlands innere Wandlung (vom November 1914!), Die Dialektik des deutschen Geistes, Die Krisis der Kultur und Die Idee Europa.49 Wenn bei Simmel von Konflikten und Krisen der ›modernen‹ Kultur die Rede ist, so heißt das jedoch nicht, daß Konflikte und Krisen nur in modernen Kulturwirklichkeiten vorkommen; sie gehören vielmehr konstitutiv zu jeder Kulturwirklichkeit. Allerdings kommen sie in modernen Kulturwirklichkeiten sinnfälliger zum Ausdruck. Diese Argumentationsfigur hat allererst – 1928 – Helmuth Plessner ausgearbeitet und auf den Punkt gebracht – übrigens ohne die Krisenterminologie sonderlich zu bemühen. Die Bestimmung des Menschen als ›exzentrische Positionalität‹ arbeitet genau mit diesem Doppelsinn: nämlich einerseits die kulturanthropologische Grundstruktur, daß der Mensch sich seines Zentrums nicht sicher ist, sondern es immer suchen und herstellen muß, andererseits der allfällige, occasionelle Hinweis auf moderne Zeiten der Entsicherung, in denen die Ideen sowohl des Mikro- als auch das Makrokosmos verlorengehen und deshalb die ›exzentrische Positionalität‹, die es immer schon gibt, besonders bewußt gemacht werden kann.50 In seiner Dissertation von 1918 hatte Plessner am Beispiel der Bestimmung der apriorischen »transzendentalen Wahrheit« die menschliche Orientierung schlechthin in der »Krisis« gesehen.51 Ganz undramatisch hat E. Cassirer anläßlich seiner Davoser Vorlesung vom März 1929 im »Problem der philosophischen Anthropologie« das »Zentrum der modernen philosophischen Probleme« gesehen, das aber »keineswegs« »ein spezifisch ›modernes‹« sei – wie es heute in Metaphysik (Scheler), in Phänomenologie und kritischem Idealismus zur Geltung komme. Denn das Problem (philosophische Anthropologie) trete überall auf, wo die »Reflexion zu einer bestimmten Reife und Höhe gediehen ist und wo sie sich vor bestimmte letzte Entscheidungen gestellt sieht. Die großen Epochen der Scheidung und Entscheidung, der ›Krisis‹ im eigentlichen Wortsinne – sie führen immer wieder zum Problem der philosophischen Anthropologie. Es liegt im Wesen der Philosophie, daß sie nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie, Besinnung über die Welt, über den Kosmos, sondern daß sie wesentlich Selbstbesinnung ist – und diese Selbstbesinnung findet als erstes, als wesentliches Problem die Frage nach dem Wesen des Menschen«.52 In ihm – dem Menschen – ist alle Krisis und alles Krisenbewußtsein angelegt. G. Simmel: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Reden und Aufsätze (München, Leipzig 1917) (Widmung: ›Den Straßburger Freunden‹). 50 H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928). Gesammelte Schriften, Bd. 4 (Frankfurt 1981); ders.: Die Frage nach der Conditio humana (1961). Gesammelte Schriften, Bd. 8 (Frankfurt 1983). 51 Vgl. H. Plessner: Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang (1918). Gesammelte Schriften, Bd. 1 (Frankfurt 1980) 299–308. 52 Es handelt sich um Ausführungen aus einem Text aus dem Cassirer-Nachlaß in der 49

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Ehe Husserl in den dreißiger Jahren seine grundlegende Philosophie der ›Krisis‹ entwickelt, in welcher die vielen konkreten Krisen alle ausgeblendet scheinen (einschließlich der großen weltpolitischen), wird sich allerdings noch manche Krisendiskussion auf diesem oder jenem Feld abspielen. Hier sollen drei Formen der Krisendiskussion im 20. Jahrhundert genannt werden: die politisch-geschichtliche, die kulturelle und die wissenschaftlichphilosophische. In einem wohlverstandenen Sinne des Topos Kultur erweisen sich allerdings alle Krisen als Kulturkrisen. Dabei ist es zweifellos die Erfahrung des Ersten Weltkrieges, also ein geschichtlich-politisches Ereignis, das wie ein Kulturschock wirkt. Der mit Spenglers Werk 1918 hervortretende Titel Der Untergang des Abendlandes verleiht so auch einer Stimmung Ausdruck, die alle möglichen Bereiche des menschlichen Lebens umfaßt.53 Noch 1926 wird Hugo Dingler sein Buch Der Zusammenbruch der Wissenschaft und der Primat der Philosophie mit der Bemerkung eröffnen: »Eines der größten Schauspiele der Weltgeschichte überhaupt, für uns Europäer aber das größte der für uns wichtigen, ist der Untergang der Antike. Und gerade heute meinen wir zu fühlen, daß dieses Geschehnis für uns von einer ganz besonderen aktuellen symbolischen und prophetischen Bedeutung sei. Ist doch ein Gefühl nach dem Weltkrieg und durch ihn unter uns aufgekommen, als ob auch wir an solcher Weltenwende stünden.«54 Die Parallelisierung der Jetztzeit mit antiken Untergängen findet sich schon 1919 bei Paul Valéry in seinem Brief-Essai La Crise de l’Esprit. Die europäische Kultur entdeckt hier ihre Sterblichkeit und die Fragwürdigkeit ihres Sinnes im Angesicht des Krieges. »Nous autres, civilisations, nous savons maintenant que nous sommes mortelles.”55 Valéry weist ausdrücklich darauf hin, daß es eines hohen Standes der Wissenschaft bedurfte, um so viele Menschen im Krieg zu töten,56 und stellt damit den Zustand der gesamten europäischen Kultur in Frage – auch im Sinne einer Bilanzierung ihrer Entwicklung seit der Antike. Doch bevor das 20. Jahrhundert seine Krisentexte verfaßte, hatte Jacob Burckhardt 1868 und 1870/71 in seinen Vorlesungen Über das Studium der Geschichte, die 1905 posthum unter dem Titel Weltgeschichtliche Betrachtungen publiziert wurden, den Befund der ›geschichtlichen Krisen‹ ausdrücklich zum Thema gemacht. Das 4. Kapitel der Weltgeschichtlichen Betrachtungen trägt den Titel Die geschichtlichen Krisen.57 Burckhardt konstatiert zunächst lakonisch:

Beinecke Rare Book and Manuscript Library an der Yale University, New Haven, Text Nr. 94. 53 Zu einem differenzierenden Vergleich zwischen Spengler und Husserl vgl.Christian Möckel: Krisendiagnosen. Husserl und Spengler. In: Phänomenologische Forschungen. N. F. 3, Halbbd. 1 (Freiburg, München 1998) 34–60. 54 H. Dingler: Der Zusammenbruch der Wissenschaften und der Primat der Philosophie (München 1926) 9 (21931). 55 P. Valéry: La Crise de l’Esprit. Œuvres I (Paris 1957) 988. 56 Ebd. 989. 57 Vgl. J. Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen (1905). Erläuterte Ausg., hg. von

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»Die echten Krisen sind überhaupt selten«. Eine »wahre Krisis« sei allerdings die das römische Reich erschütternde »Völkerwanderung« gewesen.58 Im übrigen kann man nach Burckhardt »Krisen« auch »abschneiden« resp. unterbinden, und ebenso ist die »gemachte Scheinkrisis« möglich.59 Von der »großen Krisis«, auf die »die moderne Kultur« im 18. Jahrhundert und seit 1815 mit erhöhter Geschwindigkeit zueile, heißt es, daß sie einhergehe mit der Verdunklung des Staates in der Aufklärungszeit – »durch Leute, welche […] als philosophes die Welt beherrschten: durch einen Voltaire, einen Rousseau u. a.«; man könne daran sehen, »wie die Kultur heute dem Staat das Programm schreibt«.60 Und dann wieder heißt es: »Übrigens wird jetzt manches auch zerschwatzt, bevor es ein Element einer Krisis werden kann«. Burckhardt unterscheidet »Hauptkrisis« und Nebenkrisen sowie Kreuzungen von Krisen.61 Dazu gehört die geradezu »physiologische« Einsicht, »daß in jeder Krisis eine bestimmte Quote von fähigen, entschlossenen und eiskalten Menschen mitschwimmt, welche mit der Krisis nur Geschäfte machen und vorwärts kommen wollen.« »Vollends aber betrachtet neuer Besitz sich selbst und seine Erhaltung, nicht aber die Krisis selbst, durch die er entstanden ist, als das Wesentliche; die Krisis soll ja nicht rückgängig gemacht werden, wohl aber genau an der Stelle innehalten, da der Besitz ins Trockene gebracht ist«.62 Hier wird also so etwas wie der Krisen- und Revolutions-Gewinnler ausgemacht. Allerdings erkennt man nach Burckhardt den Charakter einer »ganz großen Krisis« erst »proportional« zum Zeitabstand von ihr.63 Burckhardt kann »Krisen« durchaus auch Positives abgewinnen, denn sie »beseitigen auch die ganz unverhältnismäßig angewachsene Scheu vor ›Störung‹ und bringen frische und mächtige Individuen empor« – gegen »Pseudoorganismen«! Gerade mit Bezug auf »Literatur und Kunst« treten »mitten in der allgemeinen Unsicherheit« »große, bisher latente geistige Kräfte auf den Schauplatz und machen bisweilen die bloßen Ausbeuter der Krisis ganz verblüfft«.64 Ausdrücklich »Zum Lobe der Krisen« schreibt Burckhardt: »Die Krisen und selbst ihre Fanatismen sind […] als echte Zeichen des Lebens zu betrachten, die Krisis selbst als eine Aushilfe der Natur, gleich einem Fieber, die Fanatismen als Zeichen, daß man noch Dinge kennt, die man höher als Habe und Leben schätzt. Nur muß man eben nicht bloß fanatisch gegen andere und für sich selbst ein zitternder Egoist sein.« »Überhaupt geschehen alle geistigen Entwicklungen sprunghaft und stoßweise. […] Die Krisis ist als ein neuer EntwickRudolf Marx (Stuttgart 1963) 157–205. Burckhardt spricht hier auch von »beschleunigten Prozessen« (159). 58 Ebd. 167. 59 Ebd. 168, 190. 60 Ebd. 132, 190. 61 Ebd. 191, 177. 62 Ebd. 182, 183. 63 Ebd. 181. 64 Ebd. 189.

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lungsknoten zu betrachten.« »Die Krisen räumen auf: zunächst mit einer Enge von Lebensformen, aus welchen das Leben längst entwichen war, und welche sonst mit ihrem historischen Recht aus der Welt nicht wären wegzubringen gewesen.«65 Bei J. Burckhardt wird deutlich, daß zumal die geschichtlich-politische Krisis als ein europäisches (Kultur-)Phänomen eingeschätzt wird. Der Ort der Krisis ist Europa. Und der große europäische Krieg scheint das zu belegen. Er heißt (Erster) Weltkrieg; aber es geht um die Welt Europas, um Europa und seinen Weltbegriff. In diesen Zusammenhang ist auch das 1917 entstandene Werk von Rudolf Pannwitz einzuordnen.66 Der mit Simmel verbundene Pannwitz entfaltet ein Panorama der europäischen Politik, in welchem Frankreich, England und Deutschland eine wichtige Rolle spielen. Napoleon und seine europäische politische Konzeption erhalten eine bemerkenswert positive Akzentuierung. Vor allem aber wird die Rolle der europäischen Geistesgeschichte – besonders seit der Neuzeit – vorgeführt und gewürdigt. Die ›Kultur‹ ist für Pannwitz die eigentliche Dimension des Menschlichen und läßt sich nicht »überspringen«, auch nicht auf die ›Natur‹ hin; denn solche Rufe zur Natur erweisen sich selbst unvermeidlich wiederum als Kulturprogramme.67 Rousseaus Kulturkritik wird von Pannwitz durchaus kritisiert. »Wo Kulturen sinken, steigen bald Barbareien. Sich barbarisieren heißt zur Macht kriechen. Damit dieser lasterhafte Kreis schließe, muß die Erziehung mit aller Kultur auch sich selbst aufgeben.«68 Unter dem Pseudonym J. J. Ruedorffer beschäftigt sich Kurt Riezler (ehemals Professor in Frankfurt, später an der New School of Social Research in New York) 1920 unter dem Titel Die drei Krisen mit dem »gegenwärtigen politischen Weltzustand«. Auch hier sind die Zerrüttungen in und nach dem Ersten Weltkrieg Ausgang der Betrachtungen. Riezler unterscheidet drei Krisen: eine außenpolitische (betreffend die »internationale Organisation der Welt, insonderheit Europas«), eine innenpolitische »der Staaten und Staatsformen« und eine »Krise der Gesellschaft«. »Jede dieser drei Krisen hat ihre wirtschaftliche Seite.«69 Es sind nicht nur die einzelnen Krisen, sondern auch die vielfachen Gegenläufigkeiten (von Außenpolitik, Innenpolitik und Gesellschaft), in denen Riezler das Problem der Zeit – und letztlich – eine Kulturkrise sieht. Darüber hinaus macht Riezler auf neue Herausforderungen aufmerksam, die darin motiviert sind, daß die Weltgeschichte nicht mehr länger europäisch dominiert

Ebd. 188. R. Pannwitz: Die Krisis der europäischen Kultur (1917), Neuaufl. (Nürnberg 1947). 67 Ebd. 45. 68 Ebd. 166. Das Original benutzt konsequent Kleinschreibung und verzichtet weitgehend auf Interpunktion. 69 J. J. Ruedorffer: Die drei Krisen. Eine Untersuchung über den gegenwärtigen politischen Weltzustand (Stuttgart, Berlin 1920) 5. 65 66

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wird.70 Riezler wird das Krisenthema auch auf dem Gebiet der Wissenschaft behandeln (s. u.). J. Ortega y Gasset wird 1942 nach der Funktionsweise geschichtlicher Krisen fragen, nach dem »Schema«, (span. »esquema«) der Krisen. Noch 1943 erscheint sein Büchlein in Deutschland unter dem Titel Das Wesen geschichtlicher Krisen.71 Vieles, was wir hier lesen, erinnert an Burckhardt und zudem an lebensphilosophische Positionen sowie an übliche geschichtsphilosophische Urteile – etwa zu Antike und Renaissance. Ortega meint: »was man letzten Endes ›Krise‹ nennt, ist nichts anderes als der Übergang von einem Leben, das in bestimmten Dingen gefangen und geborgen ist, zu einem Leben, das gefangen und geborgen ist in andern«. Und es sei ein »Faktum«, »daß der Mensch sich periodisch losmachen muß von seiner eigenen Kultur und ganz ohne sie bleiben muß, wie der Fuchs, der ins Wasser stürzt, um alle seine Flöhe an der Schnauze zu sammeln und durch ein schnelles Untertauchen sich von ihnen zu befreien«; »eben dieses Phänomen nennt man eine historische Krisis.«72 Des näheren führt Ortega aus, »Leben« sei »immer« ein »in einer Überzeugung stehen«. Demgemäß ist die »Kultur« »nur die Deutung, die der Mensch seinem Leben gibt«, eine »Reihe mehr oder minder zufriedenstellender Lösungen«, wozu die Begriffe »materieller Ordnung« ebenso gehören »wie die so genannten geistigen.«73 Aber die jeweiligen Lösungen legen nachkommende Generationen fest und beschränken deren schöpferische Lebendigkeit; deshalb suchen sie neue Lösungen. »Kultur« als ein »System von Lösungen« von Fragen, die das Leben stellt, bindet folgende Generationen und motiviert sie damit zugleich zu neuen oder anderen Lösungen. In diesem Sinne ist die Kultur eine »Reihe menschlicher Lebensformen«, die durch Krisen strukturiert wird.74 Historisch hält Ortega die Zeit von 1550 bis 1650 – die Epoche Galileis und Descartes’ – für eine entscheidende Wendezeit und Krisis. Diese Epoche habe ›heute‹ allerdings ihre Möglichkeiten erschöpft und deshalb stehe eine neue Krise an.75 Wenn man sich Erscheinungsort und -zeit des deutschen Textes vergegenwärtigt, fragt man sich, ob man aus ihm trotzigen Stoizismus oder verblasenen Ästhetizismus heraushören soll.76 Demgegenüber versucht K. Mannheim schon seit 1935 unter dem Titel Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus die Krise der westlichen Demokratien im Angesicht heraufkommender, moderner Diktaturen zu analysieren und – was eine eigene Note ist – nach Wegen der positiven Entwicklung zu Ebd. 72. José Ortega y Gasset: Das Wesen geschichtlicher Krisen (Stuttgart, Berlin 1943). 72 Ebd. 18, 19. 73 Ebd. 39, 53. 74 Ebd. 96, 88. 75 Ebd. 13; hier ist eine Analogie zu Husserls Geschichtsbild aus seiner Krisis zu erkennen. 76 Zu Ortegas Geschichtsauffassung ist auch heranzuziehen ders.: History as a System. In: Philosophy and History. The Ernst Cassirer Festschrift, ed. by Raymond Klibansky und H. J. Paton (Oxford 1936) (Reprint New York 1963) 283–322. 70 71

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suchen. Dabei ist von Interesse, daß das Erscheinen des Buches – bis zu seiner Endgestalt – sich über die Vorkriegsjahre bis in die Kriegszeit und darüber hinaus erstreckt.77 Der zweite und dritte Teil sind ausdrücklich dem Krisenthema gewidmet.78 Bemerkenswert ist es, daß für den Soziologen Mannheim das Krisengeschehen letztlich ein psychisches ist, das sich allerdings sozial auswirkt.79 Es bedürfe eines Rückganges auf die »Quellen unseres Weltbildes«, um dabei zu klären, wieweit die Geschichte »durch rationale Überlegung« oder »durch irrationale Kräfte gelenkt wird.«80 Mannheim geht zur Bestimmung der modernen Krisen von »drei Ausgangsthesen« aus: 1. Die menschlichen Fähigkeiten entwickeln sich disproportional. 2. Das menschliche Verhalten hängt nicht in erster Linie von individuellen Begabungen, sondern viel mehr von Aufgabenbereichen und Aufgabenstellungen ab.81 3. Im Gegensatz zu früheren Gesellschaften ist die moderne Gesellschaft weniger fähig Disproportionalitäten zu ertragen, was in ihrer »Fundamentaldemokratisierung« begründet sei. Dazu komme ein »Prozeß zunehmender Interdependenz.«82 Des näheren sieht Mannheim ein Grundproblem der modernen Gesellschaft und Demokratie in der Koordinierbarkeit von »Freiheit und Planung«. Es gelte Lösungen zu finden, die statt mit »blinder Regulierung« mit »gut überlegter Planung« operieren. Das »alte laisser-faire Prinzip und das neue Prinzip der Regulierung« dürfe nicht »planlos [!] nebeneinander« fungieren.83 »Freiheit, Kultur und Demokratie« sollen so zu neuem Leben zusammengeführt werden. Für Mannheim besteht die Krise offensichtlich im originären Problem kultureller Selbstorganisation, in welcher die psychischen Möglichkeiten des Menschen sich in tragfähigen Interaktionen auswirken können. Ausdrücklich betont er, daß die »Wirtschaftswissenschaft« zwar »viele Symptome der gegenwärtigen Krise« erklären könne, aber das reiche nicht aus. Deshalb fordert er die »Verbindung zwischen den Sozialwissenschaften und der Psychologie.«84 »Es geht um das Problem, in welcher Weise seelische, geistige und moralische Entwicklungen mit dem gesellschaftlichen Geschehen zusammenhängen und aus welchen verschiedenen soziologischen Faktoren man den Zusammenbruch unserer

Vgl. Karl Mannheim: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus (Bad Homburg v. d. Höhe, Berlin, Zürich 1967). Erste dtsch. Version (weniger umfangreich) (Leiden 1935); erheblich erweiterte Fassung engl. 1940: Man and Society in an Age of Reconstruction (London 81951). 78 Vgl. K. Mannheim: Mensch und Gesellschaft, ebd.: Teil II. Die gesellschaftlichen Ursachen der gegenwärtigen Kulturkrise, 91–137; Teil III. Krisis, Diktatur und Krieg, 141–172. 79 Ebd. 19. 80 Ebd. 47. 81 Das erinnert an Toynbee’s Gegenüberstellung von ›challenge and response‹ resp. diejenige Rothackers von ›Lage und Antwort‹. 82 Zu den drei Thesen K. Mannheim: Mensch und Gesellschaft, a. a.O. [Anm. 77] 48–51. 83 Ebd. 10, 15. 84 Ebd. 18, 19. 77

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Kultur erklären könnte, der sich vor unseren Augen vollzieht.«85 Mannheim, der die Probleme »nicht mit den überlieferten Denkformen« für lösbar hält, reklamiert allerdings den »Standpunkt des krisenempfindlichen Beobachters« und formuliert: »Nur durch die Umformung des Menschen selbst ist ein Umbau der Gesellschaft möglich.«86 Die Umformung des Menschen aber bedeutet vor allem, daß seine Selbstund Weltauffassungen modifiziert werden. Herausragende Organe solcher Auffassungen sind die Wissenschaften und die Philosophie. Und so ist es nicht verwunderlich, daß das Krisenthema mit dem beginnenden 20. Jahrhundert auch auf dieser Ebene ausgemacht wurde. Man kann zwar zwischen Krisenthematisierungen in verschiedenen Wissenschaften (z. B. sogenannten ›Grundlagenkrisen‹) einerseits und in der Philosophie andrerseits unterscheiden. Bemerkenswert ist jedoch, daß die einzelwissenschaftlichen Krisendiskussionen meist in philosophische Betrachtungsweisen führen – so wie die philosophische Krisenanalyse gerne auch den Stand und das Verständnis der Wissenschaften zum Thema macht. Ausgangspunkt ist dabei die Entwicklung der Wissenschaften und der Philosophie selbst. Die Akkumulierung des Wissens bis ins ausgehende 19. Jahrhundert führt zum Verlust, zumindest zur Erschütterung der Maßstäbe seiner Bewertung – sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht. Die Kulturbedeutung der Wissenschaften (einschließlich der Philosophie), die einerseits offenkundig ist, erscheint andrerseits – was ihren Sinn betrifft – fraglich.87 Diese Lage trifft zusammen mit dem Ereignis des Ersten Weltkrieges, der als eine Erschütterung der gesamten europäischen Kultur bis hinein in die konkreten Lebensbereiche erfahren wird. Aber noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges hat K. Joël in seiner Baseler Rektoratsrede vom 14. November 1913 Die philosophische Krisis der Gegenwart beschrieben und beklagt, daß »Geistesforschung und Welterfassung« auseinander klaffen. »Geist und Welt verstehen sich nicht mehr.« Bei rationaler und gehaltvoller Würdigung neuerer philosophischer und einzelwissenschaftlicher Entwicklungen plädiert Joël für »eine organische Weltanschauung« (gegen bloße »Mechanisierung«) im Sinne einer »Wissenschaft als Organisation der Erfahrung«, um eine neue »Brücke zu schlagen« »vom Geist zur Welt, vom Denken zum Leben.«88 Mit durchaus metaphysischem Unterton verweist Joël

Ebd. 18. Ebd. 13, 17. 87 Hier liegt das Motiv dafür, warum man im 20. Jahrhundert verschiedene ›Wissensformen‹ zu unterscheiden und zu vergleichen versucht. Zu dem Beispiel Max Scheler vgl. E.W. Orth: Schelers Konzeption der Wissensformen und ihre Bedeutung für das Selbstverständnis des Menschen. In: Max Scheler. Esistenza della persona e radicalizzazione della fenomenologia, a cura di Guido Cusinato (Milano 2007) 101–122. 88 Vgl. Karl Joël: Die philosophische Krisis der Gegenwart. Rektoratsrede (Leipzig 1914) 28, 49 f. Husserl hat unter anderem auch über diesen Artikel, den der Verfasser ihm zugesandt hatte, mit Joël korrespondiert. 85 86

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auf die »schöpferische Synthesis.« Und eben diese heiße »Organisierung.« Und wenn »sich uns die Denkformen schon als Organisationsformen« darstellen, so seien »neben der Wissenschaft die anderen geistigen Lebensformen, die Praxis insgesamt wie die Kunst und die Religion« der Logik nicht unter-, sondern nebenzuordnen, damit sich alle Formen »in organischer Einigung und Gliederung […] entfalten.«89 Gegenüber der umsichtig rationalen Analyse Joëls wirkt der Beitrag, den der Neukantianer P. Natorp zum Krisenthema beisteuert, eher spekulativ und gleichsam existenziell.90 Natorp ist nun in der Tat entscheidend vom Schock des Ersten Weltkrieges betroffen. Vielleicht unterschätzen heutige Leser – trotz ihres Informationsvorsprunges –, was es bedeutete, daß ein Gelehrter um die Jahrhundertwende und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfahren mußte, daß er nicht nur einer theoretische Probleme traktierenden Gelehrtenrepublik angehörte, sondern auch einem Volk, das sich in konkreten geschichtlichen Situationen befindet, die sich vorschneller Rationalisierung entziehen. Auf diese Erfahrung ist Natorps eigentümliches Buch Deutscher Weltberuf der Versuch einer Antwort. Daß der Verfasser sich hier auf eine Geschichtsphilosophie einläßt, deren wissenschaftlich-objektive Unbegründbarkeit er ausdrücklich einräumt, ist merkwürdig genug. Falsch ist es sicher, wenn man in Natorps Weltberuf einen supernationalistischen Ton hören will.91 Natorp geht es darum, wie eine Kultur, die immer auch eine konkrete Kultur in einer konkreten Geschichte ist, ihre Würde bewahren kann. Und diese Würde sucht er nach wie vor in der Vernunft. Allerdings scheint gerade diese Vernunft in der Krise. Sie tritt dauernd unter Masken auf – als Scientismus, Technik, Rationalismus, soziale Ordnung usw. Bei dem Versuch, dahinter die ›wahre‹ Vernunft zu erfassen, kommt es zu eigentümlichen Überbietungen, die ihrerseits wie eine Maskerade erscheinen. Natorp sucht dabei auch Rat bei Formen religiöser und poetischer Vernunft. In diesem Sinne wird er noch ein Jahr vor seinem Tod bei Dostojewski nach Auskünften über die »gegenwärtige Kulturkrisis« forschen.92

K. Joël; ebd. 46; ebd. 45 wird von einem »Ruf zur Formung« gesprochen, der »durch die Welt« ziehe. Das erinnert an Cassirers Projekt der symbolischen Formung. 90 Paul Natorp: Deutscher Weltberuf. Geschichtsphilosophische Richtlinien (Jena 1918). Das Werk ist in zwei Bücher gegliedert – 1. Buch: Die Weltalter des Geistes. 2. Buch: Die Seele des Deutschen (ob maskulin oder neutrum ist offen!). In den Indizes der jeweiligen Bücher ist das Wort ›Krise‹ (oder ›Krisis‹) nicht aufgeführt. 91 Zur Klärung vgl. Nils Bruhn: Vom Kulturkritiker zum ›Kulturkrieger‹. Paul Natorps Weg in den ›Krieg der Geister‹ (Würzburg 2007). 92 P. Natorp: Fjodor Dostojewskis Bedeutung für die gegenwärtige Kulturkrisis. Mit einem Anhang zur geistigen Krisis der Gegenwart (Jena 1923). Vgl. dazu Gerhard Ressel: Aspekte einer nichtliterarischen Dostojewskij-Rezeption in Deutschland. Kulturphilosophische Bedingungen und zeitgeschichtliche Gründe der Dostojewskij-Schrift des Neukantianers Paul Natorp. In: Zeitschrift für Slavistik 42 (2002) 276–287. Übrigens stammt eine frühe Krisisschrift von Wladimir Sergeiwitsch Solov’ev: Die Krisis der westlichen Philosophie (Moskau 1874) (Solov’evs Dissertation). 89

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Der junge Neukantianer A. Liebert, der später im Belgrader Exil jene Zeitschrift Philosophia herausgeben wird, in welcher Husserls Krisis-Abhandlung zunächst erscheint, hat das Krisenthema als generelles Strukturproblem behandelt. 1923 schreibt er: »Jedes Zeitalter, jede geschichtliche Lebenslage und Zeitstimmung ist in einer Hinsicht Voraussetzung und Ausgangspunkt einer ihm eigentümlichen Krisis, in einer anderen Hinsicht Ergebnis und Ausmündung einer solchen.« »Von jeder Krisis gänzlich frei sein oder sich frei machen, heißt den Charakter geschichtlicher Geltung und eigentlicher geschichtlicher Wirksamkeit preisgeben oder verlieren […].« »Eine krisenlose Zeit wäre eine tote Zeit, wie ein krisenloser Mensch ein toter Mensch, ein untätig-teilnahmsloser und überflüssiger Spießbürger und ein passiver Verleber seiner Tage wäre. Eine solche Zeit oder Stimmung findet sich jedoch nicht auf den Blättern der Weltgeschichte.«93 Die eigentliche Krise seiner Epoche – jede Epoche habe ihre eigenen Krisen – sieht Liebert im »Problem der geschichtlichen Welt und unserem Verhältnis zu ihr.«94 Das Bewußtsein geschichtlicher Entwicklung von allem und jedem vermittelt eine Einsicht in die Relativität unserer Lebensverhältnisse und Normen, die buchstäblich erschütternd ist. Ein Relativismus der Normen droht alle verbindliche Orientierung zunichte zu machen. Liebert sieht in dieser geschichtlichen Krise, die zugleich die geistige ist, eine Art Antinomienproblem im kantischen Sinne, und er behandelt diese Antinomie in Analogie zur kantischen Freiheitsantinomie unter dem Titel »Die Tragik des gegenwärtigen Zeitgeistes.«95 Von Liebert her läßt sich leicht der Anschluß an einzelwissenschaftliche Krisendiskussionen finden – eben zunächst auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft. Es ist der auch von Liebert genannte Theologe E. Troeltsch, der 1922 Die Krisis des Historismus publizierte.96 1932 betont der Theologe K. Heussi unter demselben Titel noch einmal die Relativität historischer Forschung. Er unterstreicht die »Immanenz« der sich »im Bereich des Tatsächlichen haltenden Historie«, um ihr die »Transzendenz« der Ideen, auf die sie nicht verzichten kann, entgegenzustellen. Aber diese »Transzendenz« sei »sozusagen innerhalb der Immanenz erschlossen.«97

Arthur Liebert: Die geistige Krisis der Gegenwart (Berlin 1923) 5. Ebd. 12. 95 Ebd. 181–202; vgl. weiter und mit zunehmend engagiertem Ton – A. Liebert: Zur Kritik der Gegenwart (Langensalza 1927); ders.: Von der Pflicht der Philosophie in unserer Zeit. Ein Aufruf und Mahnruf an die Philosophie und an die Philosophen der Gegenwart (Zürich, Leipzig 1938). 96 Ernst Troeltsch: Die Krisis des Historismus. In: Die Neue Rundschau 33 (1922) 572–590. Im selben Jahr war auch Troeltschs Buch Der Historismus und seine Probleme erschienen. 97 Karl Heussi: Die Krisis des Historismus [Vortrag 1929] (Tübingen 1932) 104. ›Transzendenz in der Immanenz‹ ist auch eine Formel der phänomenologischen Erkenntnistheorie Husserls. 93 94

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Der schon erwähnte K. Riezler beschreibt 1928 Die Krise der Wirklichkeit als die des Weltbildes der Naturwissenschaft in ihren neuesten Entwicklungen. Er analysiert den Zustand der Naturwissenschaften, die er in viele Richtungen zerfallen sieht und die die Einheit eines Weltbildes verfehlen. »Unsere Kenntnisse reichen aus, jeden bisherigen Glauben in Zweifel zu ziehen, nicht aber einen neuen zu begründen.«98 Riezler weist darauf hin, »daß die Ordnung«, die wir durch die Verarbeitung unserer sinnlichen Empfindungen und in der Folge durch naturwissenschaftliche Methoden »formen«, keineswegs unabhängig von uns sei. »Sie ist weder ihrem Anhang noch ihrer inneren Struktur nach fertig« und demgemäß lasse sie sich nicht rein »aus dem Verstande […] erklären.« Deshalb setzen wir »eine absolute Wirklichkeit als den Grund« an.99 Riezler schlägt drei Wirklichkeitsbegriffe vor: 1.Wirklichkeit als durch »Zahlgestalten« vollständig durchstrukturierte. 2. Wirklichkeit nur partiell durch Zahlgestalten strukturiert – mit einer Schicht oder Schichten, die in der Sprache der Physik nicht gefaßt werden und zum »Unmeßbaren« gehören. 3. Die absolute Wirklichkeit (die durch 2. indiziert wird) ist breiter und reicher als die physikalische. Riezler sieht in der dritten Bestimmung eine »Welt des lebendigen Geistes von Formungen und Ordnungen« in Anspruch genommen, »denen mit dem Ordnungsgefüge der Physik nicht beizukommen ist.«100 Die Krisis besteht in der Offenheit oder auch Unbestimmtheit einer endgültigen Weltordnung, einer Wirklichkeitsstruktur, die man »nicht vor aller Forschung wissen kann.«101 »Ein neues Weltbild wird« zwar »möglich; es ist aber »dynamisch, nicht statisch. Die Welt ist nicht fertig, sondern unfertig. Ihre Ordnung ist keine seiende, sondern eine werdende. Ihr Gleichnis ist nicht die vermeintliche Harmonie des Sternenhimmels und seiner ewigen Gesetze, sondern die Menschengeschichte, die ruhelose, in der sich nichts gleich bleibt – es sei denn der Sinn, die Mühe und das Schicksal.«102 Wenig später übt auch der von Bergson inspirierte F. Kottje Kritik an dem naturalistischen Scientismus der Naturwissenschaften. Er nimmt die »Illusionen der Wissenschaft« ins Visier und begreift sie als »Kulturkrisis«.103 Er will zeigen, wie »ein rein geistesgeschichtlicher Zersetzungsprozeß, der von der modernen Wissenschaft ausgegangen ist, zu einer gefährlichen geistigen und seelischen Krisis geführt hat, die gänzlich unabhängig ist von aller Einwirkung der äußeren Umwelt; sodann ist die Frage nach den innersten Triebkräften zu stellen, aus

98 Vgl. Kurt Riezler: Die Krise der ›Wirklichkeit‹. In: Die Naturwissenschaften 16, H. 37/38 (14. Sept. 1928) 705–712, hier 708/1. 99 Ebd. 708/2. 100 Ebd. 710. Das erinnert an Cassirers Konzeption der symbolischen Formung ebenso wie an Husserls Naturalismuskritik. 101 Ebd. 711/1. 102 Ebd. 712/2. Hier ist an Schelers Überlegungen zum ›werdenden Gott‹ zu erinnern. 103 Friedrich Kottje: Illusionen der Wissenschaft. Eine notwendige Selbstbesinnung zur heutigen Kulturkrisis (Stuttgart, Berlin 1931). Das Buch ist dem technikkritischen Schriftsteller Eugen Diesel, dem Sohn des Automobilpioniers Rudolf Diesel, gewidmet.

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denen die in ihrem Ursprung rein abendländische Technik hervorging.« Kottje sieht primär eine »Krisis der abendländischen Seele« im Gange, die er auf die Tendenz zu einer die lebendigen Seelenkräfte überspielenden »Objektivation« zurückführt.104 Die meisten dieser Analysen zu Krise und Krisis könnte man in Husserls Krisis-Abhandlung von 1936 zusammenfassen.105 Allerdings gibt Husserls Krisis nur noch die Strukturform der Krise wieder. Von den konkreten Krisen ist nicht mehr die Rede. Selbst die Werke anderer Autoren, von denen man annehmen kann, daß Husserl sie kannte, verschweigt er.106 Die Dimension, in welcher sich die »Krisis« abspielt, ist das Struktursystem der menschlichen Orientierung selbst, das bei Husserl Intentionalität heißt. Die Krise ist im System der Intentionalität als Zusammenhang aller Intentionen angelegt. Man kann von Inter-Intentionalität sprechen, deren ›Inter‹ von Zeitlichkeit und Interaktion bestimmt wird.107 Intentionalität bedeutet sowohl subjektive Lebendigkeit des Konstituierens als auch objektivierende Stabilisierung von Konstitution (dies alles in zeitlichem und interaktivem Zusammenhang). Sofern die Lebendigkeit sich an die Objektivität verliert, sich gleichsam selbst zu vergessen droht (z. B. an objektivistische Einzelwissenschaften), muß man von Krise sprechen. Obwohl Plessner – wie wir schon gezeigt haben – ähnliche Krisenstrukturen in der menschlichen Orientierung ausmacht, hat er Husserls Krisis-Schrift nicht entsprechend gewürdigt.108 In einem Punkt unterscheidet sich allerdings auch Plessners Auffassung von derjenigen Husserls: Während Husserl die Hauptgefahr in der Verkürzung der lebendigen Intentionalität durch den Objektivismus (zumal den Naturalismus) sieht, ist Plessner mit seinem Theorem von der exzentrischen Positionalität (des Menschen) auf beide Gefahren aufmerksam: die Lebendigkeit der Intentionalität kann sich nicht nur in Objektivismen verlieren, sie kann sich auch in leerer Überlebendigkeit – alles Objektive überspielend – in Nichts auflösen. Husserl hat diese letztere Gefahr nicht gesehen, weil sein

Ebd. 6. Vgl. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Husserliana. Gesammelte Werke, Bd. 6 (Den Haag 1954) (im folgenden Hua, römische Ziffern bezeichnen die Bandzahl, hier: Hua VI). 106 Zur Entstehung, den Publikationsumständen und dem gedanklichen Zusammenhang von Husserls Krisis vgl. E. W. Orth: Edmund Husserls ›Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie‹. Vernunft und Kultur (Darmstadt 1999). 107 Vgl. dazu E. W. Orth: Interkulturalität und Inter-Intentionalität. Zu Husserls Ethos der Erneuerung in seinen japanischen Kaizo-Artikeln. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 47 (1993) 333–351. 108 Vgl. H. Plessner: Phänomenologie. Gesammelte Schriften, Bd. 9 (Frankfurt a.M. 1985) 122–147; unter dem Pseudonym Ulrich Eyser hatte Plessner diese Würdigung Husserls 1938/39 im 2. Jg. der von Thomas Mann hg. ›Zweimonatsschrift für freie Deutsche Kultur‹ Maß und Wert (Zürich) publiziert (ebd. 8–30). In Husserls letzter Abhandlung, der Krisis-Schrift, sieht Plessner »gewissermaßen die historische Ergänzung eines berühmten Artikels« Husserls, nämlich der »Philosophie als strenge Wissenschaft« von 1910/11 (vgl. ebd. 125 f.). 104 105

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Problem vor allem der naturalistische Psychologismus war, dem gegenüber er die ›Eigenwesentlichkeit‹ des Seelischen retten wollte.109 Deshalb kann seine Kritik (und damit die Krise) auch paradigmatisch an den Formen objektivistischer und naturalistischer Psychologien ansetzen. So trägt eine der Vorlagen der Krisis, nämlich die Prager Vorträge vom November 1935 den Titel Die Psychologie in der Krise der europäischen Wissenschaft.110 Letztlich aber ist die Krise der Psychologie für Husserl eine Krise der Psyche, eine Krise des Menschen in seiner Welt und damit auch eine Krise der Kultur. Dieser Aspekt kommt in einer anderen Vorlage der Krisis-Abhandlung zur Geltung, nämlich in dem Wiener Vortrag vom Mai 1935, der den Titel trägt: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie.111 Es geht Husserl in der »Krisis unserer Kultur« um das »Rätsel der Subjektivität« und gleichzeitig darum, »sich selbst wahr zu machen.«112 Das ist ein Aufklärungsprogramm im Sinne einer totalen (intentionalen) Selbstaufklärung, in welcher selbst noch das einfache Leben, als »Lebenswelt« transzendental durchdacht, d. h. ein transzendentales Präparat ist. Gleichwohl appelliert Husserl an einen »Glauben« an die Vernunft, indem er dessen »Zusammenbruch« klagend beschwört. Diese Vernunft möchte er allerdings vor allem einseitigen »Rationalismus« geschützt sehen.113 Der Aufklärungsimpetus gerät bei Husserl an Grenzen, die sich darin bemerkbar machen, daß er an einen – im übrigen unbestimmten – Vernunftglauben appelliert und die Überwindung, besser: das Überstehen der Krise einem Prozeß überlassen muß, dessen Herkunft und Ziel uns unergründlich bleibt. In diesem Umstand kann man das Motiv dafür sehen, warum das Krisenthema noch einmal um eine Variante erweitert wird. Gerade wenn man die Krisis – wie Husserl – im Intentionalitätssystem, d. h. in aller Orientierung schlechthin, angelegt sieht, dann hat das auch Folgen für unsere Konzeption von Aufklärung. Aufklärung kann nicht aus einem bloßen, selbstermächtigenden Beschluß des – im übrigen naturalistisch indifferent gedachten – Menschen hervorgehen. Der Mensch muß aufklärbar sein, um aufgeklärt werden zu können oder sich aufzuklären. Das bedeutet: Die Vernunft muß als menschliche Vernunft ein über ihre eigene Endlichkeit hinausweisendes Moment anerkennen. Vernunft ist auch ein Aneignungsprozeß. Die Krise liegt in dieser Aneignung, und das heißt in der Differenz und Verbindung von Eigenem und Anderem, die sich in der vernünftigen Aneignung abspielen. Im letzten Band seiner History of Political Ideas, Vgl. E. W. Orth: Edmund Husserls ›Krisis‹, a. a.O. [Anm. 106] 128. Vgl. den Krisis-Ergänzungsband Hua XXIX, 103–139; siehe auch Hua VI, 1 sowie E. W. Orth: Edmund Husserls ›Krisis‹, a. a.O. [Anm. 106] 14. 111 Hua VI, 314–348; zum Kulturthema sind auch Husserls Kaizo-Artikel aus den zwanziger Jahren einschlägig (vgl. Hua XXVII). Erwähnenswert ist, daß P. Wust knapp zehn Jahre früher einen einschlägigen Essay publiziert, den Husserl anscheinend nicht kennt; vgl. Peter Wust: Die Krisis des abendländischen Menschentums (Innsbruck 1927). 112 Hua VI, 3, 11. 113 Hua VI, 10 f. Vgl. E. W. Orth: Edmund Husserls ›Krisis‹, a. a.O. [Anm. 106] 32, 160–166. 109 110

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beschäftigt sich E. Voegelin mit der Krise des neuzeitlichen Menschen in seiner auch politischen Geschichte (zumal seit dem Aufklärungszeitalter)114 und untersucht die Theorien menschlicher innerweltlicher Selbstermächtigungen, wie sie unter anderem von Voltaire über Helvétius, Condorcet bis zu Comte und Marx führen. Mit dem ideenfeindlichen Verhalten des Positivismus (»man kann nicht Gott verleugnen und die Vernunft bewahren«115) werde »die Zerstörung der Substanz des Menschen« »zum erklärten Programm«, wie es sich bei den Enzyklopädisten angekündigt habe.116 Voegelin nennt es die »Apokalypse des Menschen«. »Die Krise des Westens« – so schreibt er in den frühen fünfziger Jahren – »ist kein Ereignis, das zu einem bestimmten Zeitpunkt eintritt; sie ist ein Prozeß, der sich nun über mehr als 150 Jahre erstreckt und sich, soweit wir wissen, noch über ein weiteres Jahrhundert hinziehen kann. Die Krise gehört nicht der Vergangenheit an, sie ist lebendige Gegenwart.«117 Das Beachtliche an der Konzeption Voegelins, die im übrigen gemäß Order and History unter einer universalhistorischen Perspektive steht, ist, daß sie dazu zwingt, die in modernen Krisendiskussionen mitschwingenden para-religiösen und para-metaphysischen Konnotationen ernst zu nehmen. Voegelins Geschichtsauffassung bestätigt zudem den originären Kulturbezug der Krise, denn Geschichte ist für ihn »Symbolization of Order«, symbolische Formung oder Inbegriff symbolischer Formen.118 Das bisher Dargelegte scheint zu insinuieren, daß es eine Art Entwicklung des Krisenbewußtseins gibt, die sich in ausgreifenden und ausgereiften Krisenphilosophien paradigmatisch manifestiert. Die einschlägigen Schriften Husserls und Voegelins – auch in ihrer möglichen gegenseitigen Adjustierung – sind Beispiele dafür. Bei ihnen – so scheint es – wird mit ›Krisis‹ ein geradezu kulturkonstitutiver Befund als Begriff in seiner ganzen Tiefenstruktur zur Geltung gebracht. Befund und Bewußtsein des Befundes (hier also ›Krisenbewußtsein‹) scheinen ineinander zu laufen. Irritierend an solchen Beobachtungen ist jedoch das Zufällige, gleichsam Beihergespielte der jeweiligen ›Bedeutsamkeit‹; denn zum ei-

Dt.: Eric Voegelin: Die Krise. Zur Pathologie des modernen Geistes, hg. von Peter J. Opitz (München 2008). (In: Periagoge. Texte. Eric-Voegelin-Archiv). Anders als Order and History blieb dies Werk zu Lebzeiten des Verf. als abgeschlossene Gesamtausgabe unveröffentlicht. 115 Ebd. 420. 116 Ebd. 382. 117 Ebd. 195. Vgl. zum zeitgeschichtlichen Zusammenhang sehr erhellend E. Voegelin: Autobiographische Reflexionen, hg. von Peter J. Opitz (München 1994). Zuerst engl. (Louisiana, USA 1989). 118 Vgl. E. Voegelin: Order and History, Bd. 1: Israel and Revelation (Louisiana, USA 1956) 1–11. Mit der ›Symbolisierung‹ will Voegelin die abstrakte ›Ideen‹geschichte verbessern (oder auch überwinden), um das Ideenhafte in seinen konkreten Gestaltungen, in die es stets verwoben ist, sichtbar werden zu lassen. Obwohl die Verwandtschaft mit der Konzeption einer Philosophie der symbolischen Formen Ernst Cassirers unübersehbar ist, nimmt Voegelin auf ihn keinen Bezug. 114

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nen ist der Topos ›Krisis‹ auch bei Husserl und Voegelin nur einer unter vielen anderen, die auch in den Vordergrund geschoben werden könnten; zum anderen meldet sich der Begriff Krisis (oder Krise) plötzlich wieder in einem älteren Text und scheint eine universale Reichweite zu beanspruchen. Der Neukantianer H. Cohen (in erster Linie nicht als ein Krisenphilosoph bekannt!) gibt 1902 zu verstehen, daß er Parmenides für den wahren Philosophen hält, weil er Sein und Nichtsein unterschieden habe: »Wie Hamlet hat er formuliert: ›Sein oder Nichtsein. Darin liegt die Krisis‹«119 Bringt man diese »Krisis« mit der »Tat« der »Zeit« in Verbindung, die nach Cohen »Zukunft« von »Vergangenheit« abheben und »ersondern« läßt,120 so gerät man alsbald in die Nähe der Schellingschen Spätphilosophie und seiner Weltalterlehre. Dort figuriert »Krisis« – die vom gewöhnlicheren Topos ›Krise(n)‹ zu unterscheiden sei – als »Selbst-scheidung« im Sinne der »Selbst-Verzeitlichung«. Die entsprechende Krisentheorie, die durchaus aus Schellings Texten zu gewinnen ist, betrifft sowohl eine ontologische Konzeption als auch eine solche der Subjektivität, die über bloß individuelle Subjekte hinausgeht. Philosophen wie Walter Schulz, Jürgen Habermas und Wolfgang Wieland haben sich in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts an diesen ›Krisen‹ und den damit verbundenen Geschichtstheorien mit Gründlichkeit und Umsicht versucht.121 Auf diese Weise – des Konfrontiertwerdens mit Texten – wird Begriffsgeschichte zu einer Art Mnemotechnik, die tiefere Bedeutsamkeit suggeriert. Subjekt dieser Memotechnik ist allerdings nicht nur der einzelne Leser, der Studierende, der Forscher oder der Begriffsgeschichtler. Subjekt der Sinn-Suggestion, die so begrifflich verdichtet wird, ist vielmehr die Kultur selbst. In Befund und Begriff Kultur wird gerade deutlich, daß Subjektivität ebensowohl gebend als auch nehmend ist. Das Subjektive ist Krisen ausgesetzt und ermöglicht Krisen, indem es Krisenbewußtsein an den Tag legt. So ist es auch Begriffen ausgesetzt und propagiert oder erfindet sie. Hier liegt das Faszinierende und Problematische des Projekts Begriffsgeschichte.

Hermann Cohen: Logik der reinen Erkenntnis. Werke Bd. 6, hg. von H. Holzhey (Hildesheim 1977) 112. 120 Ebd. 154 f. 121 Vgl. Aldo Lanfranconi: Krisis. Eine Lektüre der ›Weltalter‹-Texte F. W. J. Schellings (Stuttgart-Bad Cannstatt 1992) 9, 95–105. ›Krisis‹ als Leitbegriff seiner Untersuchung charakterisiert Lanfranconi mit einer Formel Nietzsches: »semiotisch zusammengefaßt« (57). 119

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I. Cultura und τéχνη – zur Geschichte des Begriffs Begriff und Problem der Kultur gehören von Anfang an zu den Gegenständen der Philosophie. Versteht man Begriffsgeschichte als Wortgeschichte, so stößt man in der Ableitung des Kulturbegriffs vom lateinischen Verb ›colere‹ für ›drehen‹, ›wenden‹, ›bebauen‹, ›anbauen‹, und von dem Substantiv ›cultura‹ für ›Ackerbau‹, ›Anbau‹, ›Pflege‹ auf seinen agrarischen Ursprung. Kultur steht von daher stets im begrifflichen Kontrast zur Natur als dem Gegebenen, das in unseren Handlungszusammenhängen zwar als notwendig vorausgesetzt, aber nur begrenzt disponibel ist. Die wortgeschichtliche Ableitung bringt zum Bewußtsein, daß das menschliche Herstellen und Handeln immer auf das bereits Gegebene, in letzter Instanz Unverfügbare bezogen ist: Das Land muß da sein, damit ein Acker daraus gemacht werden kann. Alle Kultur impliziert unabdingbar ein Naturverhältnis, das jedoch nicht allein schlechthin vorausgesetzt ist, sondern mit fortschreitender kultureller Differenzierung reflexiv eingeholt werden kann. Schon bei Cicero wird das Wort in der Auszeichnung der Philosophie als ›cultura animi‹ (Pflege des Geistes) metaphorisch verwendet und in ähnlichen Wendungen in der gesamten Spätantike und Renaissance – ohne den spezifizierenden Genitiv seit Samuel Pufendorf. Erst in der Neuzeit setzt sich der Ausdruck für die Gesamtheit menschlicher Leistungen durch. Einem problemgeschichtlichen Ansatz erschließt sich zudem, daß das generalisierende kulturphilosophische Denken schon viel früher eingesetzt hatte: Seit Platon hat es einen seiner Ursprünge in der Kritik der Kultur als des von Menschen in absichtlicher Tätigkeit Hervorgebrachten. Im Dialog Protagoras, in dem es um die Lehrbarkeit der Tugend geht, wird in einem Mythos erzählt, wie die Technik zu den Menschen gekommen ist: Der Mensch ist bei der Verteilung der natürlichen Güter schlechter weggekommen als alle anderen Lebewesen. Prometheus stiehlt daraufhin den Göttern das Feuer des Hephaistos und die Weisheit der Athene, und damit die Künste des Schmiedens und der Weberei, um sie den Menschen zu bringen. Zeus fügt den Gaben zum Überleben der Menschheit schließlich noch die Scham (αδẃς, auch: ›Hochachtung‹, ›Ehrerbietung‹) und das Recht (δíκη)als politische Tugend hinzu und; ob er dies in der Absicht tut, die unzureichende Fürsorge des Prometheus vorzuführen, oder als abgenötigte Bestätigung von dessen Werk, mag offen bleiben. In jedem Fall ist im Rekurs auf die Gegenüberstellung von φúσις als dem natürlich Gegebenen und θéσις als dem von Menschen Gemachten die Kultur als das begriffen, was ein menschliches Leben in der Gemeinschaft erst ermöglicht – mit Technik, ReArchiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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ligion, Sprache und Politik der Inbegriff dessen, was den Menschen zur Kompensation ihrer natürlichen Schwäche von den Göttern zugekommen ist. In diesem Sinne ist auch noch für Sigmund Freud die Kultur »die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen […], in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander.« Und weiter: »Als kulturell anerkennen wir alle Tätigkeiten, die dem Menschen nützen, indem sie ihm die Erde dienstbar machen, ihn gegen die Gewalt der Naturkräfte schützen u. dgl. […] die ersten kulturellen Taten waren der Gebrauch von Werkzeugen, die Zähmung des Feuers, der Bau von Wohnstätten.«1

II. Kulturpessimismus und Hoffnung in die Kultur A. Kultur als Form der Freiheit bei Kant versus Kultur als Entfremdung bei Rousseau Seit Platon hat sich über die Jahrhunderte die wechselvolle Auseinandersetzung mit dem Faktum der Kultur entfaltet, immer wieder neu im Hin und Her zwischen Bejahung und Verwerfung der prometheischen Kompensation, zwischen dem Beklagen des menschlichen Schicksals als eines Mängelwesens und der Bestreitung des mangelhaften Charakters in der Einschätzung, die produktive Offenheit sei das bessere Los.2 Exemplarisch dafür ist im 18. Jahrhundert die Konstellation Rousseau und Kant, die sich als eine virtuelle Kontroverse lesen läßt.3 »Es brennt, wenn man es berührt«, heißt es bei Rousseau vom Feuer des Prometheus.4 Dementsprechend konzentriert sich Rousseau auf die Verluste, auf das Leiden, auf die Schmerzen, die den Menschen durch die Kultur entstehen. Dies ist paradigmatisch für einen Kulturpessimismus, von dem die Moderne seither begleitet wird wie von einem Leitmotiv. So beginnt, nachdem in den Jahrhunderten davor die Frage nach der Kultur integriert war in die ande-

S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930). Gesammelte Werke, Bd. 14 (Frankfurt a.M. 1999) 448 f. 2 Siehe B. Recki: Kulturphilosophie/Kultur. In: Enzyklopädie Philosophie, hg. von Hans Jörg Sandkühler. Bd. 2 (Hamburg 1999) 1093–1101. 3 Siehe ausführlich B. Recki: Kulturbejahung und Kulturverneinung. In: Kolleg Praktische Philosophie, Bd. 1: Ethik zwischen Kultur- und Naturwissenschaft, hg. von Franz Josef Wetz (Stuttgart 2008) 259–295. 4 Jean-Jacques Rousseau: Über Kunst und Wissenschaft (Abhandlung über die Frage: Hat der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen? [1750], im folgenden: 1. Discours; Über die Ungleichheit zwischen den Menschen [1755], im folgenden: 2. Discours). In: ders.: Schriften zur Kulturkritik (Die zwei Diskurse von 1750 und 1755), hg. von Kurt Weigand (Hamburg 1971) 29. 1

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ren Disziplinen der Philosophie, die moderne Disziplin der Kulturphilosophie mit einer radikalen Kulturkritik,5 die Rousseau mit dem 1. Discours von 1750 einläutet und die er im 2. Discours von 1755 Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen in den entscheidenden Punkten konsequent und nur noch entschiedener fortsetzt. Dabei nimmt Rousseau von Anfang an eine Umdeutung der seit Platon und bis ins 20. Jahrhundert diskutierten Ausgangslage der Kultur vor: Der Mensch ist kein Mängelwesen. Er wird dazu erst gemacht. Der Naturmensch ist zwar »nackt und ohne Waffen«, aber durch die Nötigung zur ständigen Übung seiner körperlichen Kräfte ist er stark, geschickt, schnell und geistesgegenwärtig und dem Kulturmenschen in allem überlegen. Es ist erst die Kultur, die den Menschen schwächt.6 Der Mensch gewöhnt sich zunehmend an die Bequemlichkeiten, die ihm die Kultur gewähren, zunächst an die Erleichterung der Mühen bei der Selbsterhaltung, dann mehr und mehr an den immer größer werdenden Überfluß, den die Entfaltung der Wissenschaften und der Künste erzeugt. Der Begriff der Kunst bezieht sich dabei im Sinne des antiken τéχνη-Begriffs unspezifisch auf alle organisierten Fähigkeiten und Fertigkeiten, durch die der Mensch seine Verhältnisse gestaltet. Die schönen Künste sind nur als die Aufgipfelungen der kulturellen Hervorbringung begriffen, ihre pauschale Verwerfung steht ganz im Dienst der fundamentalistischen Kritik, die Rousseau an der Kultur insgesamt entwickelt. Überdies differenziert Rousseau auch nicht zwischen Künsten und Wissenschaften, sondern nimmt sie beide als Instanzen vernunftgeleiteter Erleichterung und Verfeinerung des Lebens, an der er vor allem den schädlichen Effekt der Verweichlichung herausstellt. An Rousseaus Kulturkritik hat die mit aller Schärfe vorgetragene Luxusschelte keinen geringen Anteil, und als Effekt des Luxus ist neben dieser körperlichen Schwächung auch die moralische Korruption zu betonen: Der Luxus führt zu allem anderen Elend auch zu einer »Lockerung der Sitten«.7 Schon die bloße Nähe zu seinesgleichen, zu der die Kultur die Menschen nötigt, zieht durch ihre wechselseitige Abhängigkeit Verfälschungen und Verwerfungen der Gesinnung und des Handelns nach sich: Lügen, Heuchelei, Verbiegung des Charakters, Opportunismus, sklavische Gesinnung der einen, herrische Anmaßung der anderen. Durch die Abhängigkeit vom Luxus werden diese korrumpierenden Auswirkungen der Kultur ins Maßlose gesteigert. Rousseau geht sogar so weit, eine historische Gesetzmäßigkeit zu behaupten, die er mit derselben Determination am Werke sieht wie die Naturgesetze: In dem Maße, in dem die Künste und Wissenschaften und damit der Luxus florieren, liegt die Sittlichkeit darnieder. Bei Rousseau bedeutet Kultur für den Menschen im wesentlichen Entfremdung von der Natur. Zwar wird die Kulturkritik durchweg in der Orientierung 5 6 7

Siehe Ralf Konersmann: Kulturkritik (Frankfurt a.M. 2008). J.-J. Rousseau: 2. Discours, a. a.O. [Anm. 4] 99. J.-J. Rousseau: 1. Discours, a. a.O. [Anm. 4] 39.

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am Ideal des Nutzens und der Tugend vorgetragen, doch schon im Begriff des Nützlichen geht es mit der Beschwörung der elementaren und unverfälschten Bedürfnisse um die Natur. Was Rousseau auch beklagt und beeifert, er sagt es im Namen einer Natur, deren Begriff freilich ebenso emphatisch vorgetragen wird, wie er unklar bleibt. Denn wie soll man, den Gegensatz schon vorausgesetzt, mitten in der Kultur an die Natur herankommen? Rousseau ist sich darüber im klaren, daß hier eine prinzipielle Grenze der Erkennbarkeit besteht: »Es ist kein einfaches Unternehmen zu entwirren, was an der jetzigen Natur des Menschen ursprünglich und was künstlich ist, sowie einen Zustand richtig zu erkennen, den es nicht mehr gibt, vielleicht nie gegeben hat und wahrscheinlich nie geben wird, über den man aber dennoch rechte Begriffe nötig hat, um den jetzigen Zustand richtig beurteilen zu können.«8 Wir können uns den natürlichen Menschen lediglich – und Rousseau behauptet: in der Not der kulturkritischen Argumentation müssen wir ihn uns – konstruieren. Die Natur ist eine Idee, die wir im Rahmen einer derart fundamentalen Kulturkritik in normativer Absicht nötig haben. Ebenso unklar bleibt, worin jener Sündenfall der Entfremdung von der Natur besteht und wie es zu ihm kommt. Wenn es, wie Rousseau denkt, die Bestimmung des Menschen ist, »einfach, gleichförmig und allein zu leben«,9 was konnte die Menschen dann – gegen ihre Bestimmung – zueinander und zu den Komplikationen der Kultur treiben? Rousseau umkreist das Problem des Ursprungs der Gesellschaft – und damit des Übels – durch verschiedene Stadien der Vergesellschaftung: Ist es der Akt der Aneignung von Land? »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und dreist sagte: ›Das ist mein‹ und so einfältige Leute fand, die das glaubten, wurde zum wahren Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.«10 Mit ihm begänne damit eine lange Kette von Verbrechen, Kriegen, Leiden und Schrecken. Ist es also das Eigentum oder nicht doch eher die Arbeitsteilung oder erst die Gewöhnung an die Bequemlichkeiten der Kultur? Ist es womöglich schon die Anerkennung individueller Vorzüge im Rahmen anfänglicher Geselligkeit? Diese Möglichkeiten zieht Rousseau in der Frage nach dem Ursprung des Übels allesamt in Erwägung, ohne die Frage definitiv zu entscheiden. Der vindizierte Sündenfall läßt sich nicht identifizieren. Und so erfahren wir von ihm nicht, wodurch das Böse, also: die Kultur, in die Welt gekommen ist. Rousseau trägt einen – unbegriffenen – Manichäismus in den Begriff des Menschen selbst hinein. Der Mensch ist Teil der Natur nur in der (mythischen) ›Vorgeschichte‹, in der er sich gerade nicht kennt, sondern auf Konstruktion angewiesen ist; so wie er sich – als stets schon kultivierter Mensch – kennt, ist er von der Natur radikal getrennt und ohne die Chance, auch dies zu (re)konstruieren. 8 9 10

J.-J. Rousseau: 2. Discours. Vorwort, ,a. a.O. [Anm. 4] 67; siehe auch 79 f. Ebd. 99. Ebd. 191.

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So beeindruckt Immanuel Kant von jener egalitären Intuition Rousseaus war, die dazu taugen konnte, die Würde und die Rechte des Menschen zu achten,11 so sehr ihn das Gesetz des kulturellen Verfalls als systematischer Versuch der Vermeidung eines Theodizeeproblems beeindruckt hat12 – die fundamentalistische Kritik an der Kultur und deren vermeintlicher Gegensatz zur Natur konnten ihn nicht überzeugen. In seiner Kritik der Urtheilskraft bestimmt Kant »die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit)« als »die Cultur« und ordnet diese in den Plan einer zweckmäßigen Natur ein.13 Deutlich wird hier an jenem basalen vormoralischen Verständnis von Freiheit, das Kant seit der Kritik der reinen Vernunft im Begriff der negativen Freiheit wie der Willkürfreiheit hat, die kulturelle Implikation: Wenn Freiheit die Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt ist, dann ist sie die grundlegende Fähigkeit, aus sich selber und seinen Verhältnissen zu machen, was immer man sinnvoll findet. Deutlich wird damit auch der Begriff von Kultur: Die selbstverständliche Verknüpfung von Vernunft, Freiheit und Kultur läuft auf einen Begriff der Kultur hinaus, in dem es um all das geht, was der Mensch unter Nutzung seiner besten Kräfte aus sich selbst in seinen vorgefundenen Verhältnissen macht. Es geht hier um die kulturelle Dimension der Vernunft, und sie enthält die Freiheit der Bestimmung der eigenen Verhältnisse im Machen und Herstellen. Zu rekonstruieren sind diese Überlegungen als eine Integration der instrumentellen Vernunft in das Verständnis der Freiheit: Kants Vernunftbegriff umfaßt auch die pragmatischen Leistungen der Vernunft. Im Rekurs auf die Kantische Grundlegung der Kultur wird somit eine sachliche und methodische Gegenposition zur rousseauistischen Kulturkritik erkennbar. Das bedeutet auch: In den Gründungsakten der kulturphilosophischen Moderne gibt es eine ernsthafte Alternative zu der unweigerlichen Konsequenz des Rousseauismus, mit der die Kultur durch die Opposition zur Natur metaphysisch in die Defensive gedrängt wird: Schon 1764, in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, hatte Kant jenen erst in der Kritik der Urtheilskraft begründeten, systematisch folgenreichen Begriff einer Natur, die

11 »Rousseau hat mich zurecht gebracht«, sagt er mit Blick auf den Bildungsdünkel, der ihn vor seiner Lektüre von dessen Schriften auf die einfachen Leute herabblicken ließ. (I. Kant: Bemerkungen in den ›Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen‹, neu hg. und kommentiert von Marie Rischmüller [Hamburg 1991] 38; siehe auch B. Recki: Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Kap. 1 [Frankfurt a.M. 2001] 11–41). 12 Kant setzt Rousseau in diesem Punkt sogar auf dieselbe Stufe mit Newton, weil er »das verstekte Gesetz« entdeckt habe, »nach welchem die Vorsehung […] gerechtfertigt wird. […] Nach Newton und Rousseau ist Gott gerechtfertigt.« (I. Kant: Bemerkungen, ebd. 48). 13 I. Kant: Kritik der Urtheilskraft (1790) § 83. Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, Bd. 5 (Berlin 1913) 431.

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absichtsvoll mit den Menschen verfährt und sich dabei der Kultur als Mittel der Entfaltung von dessen Anlagen bedient. Kant betont in der Konsequenz dieses Gedankens die Durchdringung von Moralität und Kultur14 und macht die Distanz zu Rousseau auch so deutlich wie nur irgend möglich. Er zählt die ›Moralisierung‹ gemeinsam mit Kunst und Wissenschaft zur Kultur als dem Inbegriff von Formen der verfeinernden und verbessernden Bearbeitung der menschlichen Natur. In diesem Sinne kann er in der Metaphysik der Sitten mit Bezug auf die eigenen »Naturkräfte (Geistes-, Seelen- und Leibeskräfte)« von deren »Anbau (cultura)« sprechen.15 Nur in der Kultur hat der Mensch die Möglichkeit, seine Einsichten aus praktischer Vernunft auch zu verwirklichen. Wie es für den Transzendentalphilosophen möglich ist, die Moralität unter die Kultur zu subsumieren, läßt sich im Rekurs auf jene Stelle im § 83 der Kritik der teleologischen Urtheilskraft verdeutlichen, mit der Kant die Kultur als Inbegriff positiver Fertigkeiten bestimmt, als »Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit).«16 Die Kultur kann den Menschen nicht anders in der Entwicklung seiner positiven Fertigkeiten fördern, sie kann seine »Tauglichkeit zu beliebigen Zwecken überhaupt« nicht anders hervorbringen, als indem sie ihn zugleich in seiner Freiheit hervorbringt. Denn es liegt in der Natur dieser Tauglichkeit, daß der Mensch sie selber, also: selbsttätig, entwickeln muß. Da die Entfaltung von Freiheit als Selbstbestimmung gegen die allenthalben mögliche Fremdbestimmung aber nur in der Form einer eigenen Gesetzgebung gesichert werden kann, läuft Kants Verständnis von Freiheit schließlich auf jene Autonomie hinaus, die nur als Moralität möglich ist.

B. Tragödie der Kultur oder Dialektik des Kulturbewußtseins: Ernst Cassirer versus Georg Simmel Rousseau und seine fundamentale Kritik der Kultur als Entfremdung – Kant und sein Begriff der Kultur als Medium der Freiheit dürfen als klassische Positionen des Kulturpessimismus und des Kulturoptimismus gelten. Von hier aus lassen sich die großen Positionen des 20. Jahrhunderts erschließen. Georg Simmel hat für den immer schon positiven Sinn, der im Begriff von Kultur enthalten ist, ein einfaches Beispiel gegeben, um zu illustrieren, daß die Struktur der

I. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784). Gesammelte Schriften, ebd. Bd. 8 (Berlin 1923) 26; siehe Wolfgang Bartuschat: Kultur als Verbindung von Natur und Sittlichkeit. In: Naturplan und Verfallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur, hg. von Helmut Brackert und Fritz Wefelmeyer (Frankfurt a.M. 1993) 69–93. 15 I. Kant: Die Metaphysik der Sitten (1796). Gesammelte Schriften, ebd. Bd. 6 (Berlin 1907) 444. 16 I. Kant: Kritik der Urtheilskraft, § 83, s. o. [Anm. 13]. 14

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Zwecktätigkeit menschlicher Handlungen allein den spezifischen Sinn kultureller Leistungen noch nicht trifft: Wenn ein Junge dem anderen ein Bein stellt und ihn zum Stolpern bringt, dann erfüllt dieser Vorgang zwar den Begriff einer zweckgerichteten Tätigkeit, einer Handlung; doch wir haben Schwierigkeiten, diese Handlung als einen Beitrag zur Kultur zu begreifen.17 Simmel bringt auf diese Weise das poietische bzw. ergologische, das produktiv auf den Werkcharakter ausgerichtete Moment zur Geltung, und er verweist im selben Zuge alles Destruktive aus dem Begriff der Kultur. Daß dies nicht das letzte Wort seiner Kulturphilosophie geblieben ist, macht das später entwickelte Theorem von der Tragödie der Kultur deutlich. Nach seiner Theorie ist eigentlich alles, was der Mensch hervorbringt, eine Weise seiner Selbstentfaltung. Der Prozeß der Kultur ist aber nur auf der Grundlage von Arbeitsteilung möglich, und deren zunehmende Entfaltung führt mit der Spezialisierung der Produkte zwangsläufig zu einer Anhäufung und Verselbständigung der Objekte gegen ihre Urheber, und damit zu einem Syndrom der Überforderung durch die eigenen Produkte. Die Menschen haben keine Chance mehr, sich die »objektive Kultur«, wie Simmel in freier Variation der Hegelschen Unterscheidung von objektivem und subjektivem Geist formuliert, zum Vorteil ihrer »subjektiven Kultur« anzueignen: Die eigenen Werke verselbständigen sich gegen ihre Produzenten zu fataler Objektivität. Von dem Problem, das damit berührt ist, kann uns keine kulturelle Entwicklung befreien, weil es sich aus dem Wesen der kulturellen Entwicklung selber ergibt und mit jeder ihrer Errungenschaften reproduziert. Weil die gegen die Kultur gerichteten vernichtenden Kräfte aus ihrer eigenen Dynamik entspringen und sich mit der so entbundenen Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihr selbst angelegt ist, spricht Simmel nicht von Problemen oder von Krise, sondern von der »Tragödie der Kultur« und bringt damit ein fatales double-bind zum Ausdruck: »Es ist der Begriff der Kultur, daß der Geist ein selbständig Objektives schaffe, durch das hin die Entwicklung des Subjektes […] ihren Weg nehme; aber eben dadurch ist jenes integrierende, kulturbedingende Element zu einer Eigenentwicklung prädestiniert.«18 Auf entschiedenen Widerspruch ist Simmels seither vielgelobte Diagnose der modernen Kultur bei Ernst Cassirer gestoßen. Für Cassirer offenbart sich Simmel mit seiner Exposition vor allem als ein Mystiker, weil er mit seiner tragischen Sicht eine geheime Idealvorstellung zu erkennen gibt, die nach Cassirer theoretisch haltlos ist und praktisch nur zu überspannten Erwartungen führen kann: Es sei das Ideal der Einheit von Ich und äußerer Welt, das zu jener Dämonisierung führe, mit der die Verselbständigung der Objekte gegen die Subjekte

17

G. Simmel: Vom Wesen der Kultur. In: ders.: Brücke und Tür (Stuttgart 1957) 86–94; hier

87. G. Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: ders.: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. von Michael Landmann (Frankfurt a.M. 1968) 142 f. 18

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als das letzte Wort genommen wird, so als käme der Prozeß der Kultur in einer bloßen Anhäufung von lauter Dingen an irgendeiner Stelle zum Stillstand. Die Verselbständigung der Werke haben wir mit Cassirer vielmehr als eine konstitutive, und das heißt hier: eine immer wieder eintretende und immer wieder zu überwindende Phase des kulturellen Prozesses zu begreifen. Was Simmel als die »Tragödie der Kultur« beschreibt, ist für Cassirer »die dialektische Struktur des Kulturbewußtseins«.19 Insbesondere ist es der Dualismus zwischen objektiver und subjektiver Kultur, den Cassirer bestreitet: Im Werk, so macht Cassirer geltend, ist schließlich nicht mehr zu sehen »als eine menschliche Tat, die sich zum Sein verdichtet hat«;20 das Werk bleibt bei aller Bedeutsamkeit doch immer nur »ein Durchgangspunkt« – ein »Vermittler zwischen Ich und Du«.21 Es ist das kommunikative und damit zugleich das soziale Element aller kulturellen Produktivität, dessen synthetische, grundsätzlich zur Aufhebung des Gegensatzes tendierende Funktion er ins Bewußtsein hebt. Nicht das dualistische Modell der Entgegensetzung von Ich und Werk, sondern erst die Triade von Ich, Werk und Du taugt zum Verständnis des Kulturprozesses. Cassirers Einspruch darf freilich mit einer Verleugnung der Konflikte und Krisen in der Kultur nicht verwechselt werden. Von dem metaphysischen Optimismus, die Kultur als eine prästabilierte Harmonie zu begreifen, ist Cassirer weit entfernt. Was er allerdings in seinen Reflexionen behauptet, ist ein praktischer Optimismus. Auch für ihn ist die Kultur »kein ruhiger Ablauf, sondern sie ist ein Tun, das stets von neuem einsetzen muß, und das seines Zieles niemals sicher ist. […] Alles, was sie aufgebaut hat, droht ihr immer wieder unter den Händen zu zerbrechen.«22 Er markiert damit wie schon in früheren Texten den ausdrücklich so genannten agonalen Charakter der Kultur.23 Doch Simmels Dramatisierung der Schwierigkeiten in der Kultur kommt nach Cassirers Verständnis der Verkennung jener positiven Arbeitshypothese gleich, die wir in der Kultur haben – und ohne die wir nicht sein können. Am Grunde von Cassirers Kritik ist ersichtlich kein harmonistisches Weltbild wirksam – wohl aber ein humanistisches Selbstverständnis. Cassirer sieht generell – und gerade im Blick auf die Spannungen, Konflikte und Krisen der Kultur – keinen guten Grund, dieses humanistische Selbstverständnis zur Disposition zu stellen. Im Gegenteil ist ihm bewußt, daß dieses seine Funktion immer schon und immer wieder allein im Hinblick auf jene Probleme zu erweisen hat. Die epistemologische Naivi-

E. Cassirer: Die ›Tragödie der Kultur‹. In: ders.: Zur Logik der Kulturwissenschaften [1942]. Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki (=ECW), Bd. 24 (Hamburg 2007) 463. 20 Ebd. 486. 21 Ebd. 469. 22 E. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften (Darmstadt 1994) 109. 23 E. Cassirer: Die ›Tragödie der Kultur‹, a. a.O. [Anm. 19] 471 f. 19

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tät des unbegriffenen mimetischen Fehlschlusses, welcher der zeitgenössischen Kritik so gern unterläuft – so als wäre eine Position des Humanismus gleichsam spiegelbildlich nur so lange vertretbar, wie es die Zustände in der Welt eben zulassen –, verbietet sich durch die Einsicht in das immer schon normative Element jeden Humanismus. Diese Einsicht, in welcher der Begriff der Kultur als Humanum kulminiert, bildet den systematischen Hintergrund von Cassirers philosophischem Werk.

III. Kultur – ein Begriff und seine Dimensionen A. Kultur und Gesellschaft Worin aber liegt eigentlich die Pointe der Zuwendung der philosophischen Theoriebildung zur Kultur? Welchen spezifischen, durch andere Bestimmungen nicht bereits geleisteten Aufschlußwert hat es, wenn wir den Menschen, wie es mit Nachdruck in der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts geschieht, als kulturelles Wesen begreifen?24 Dem Zeitgenossen des 20. und 21. Jahrhunderts mag es auf den ersten Blick so scheinen, als wäre die These vom kulturellen Wesen des Menschen nicht mehr als eine ins Vage übersetzte Variante dessen, was uns die moderne Soziologie nahebringt: daß der Mensch ein auf die Gemeinsamkeit mit seinesgleichen und deren Errungenschaften angewiesenes, ein gesellschaftliches Wesen sei. Bezeichnen doch Kultur und Gesellschaft gleichermaßen den Aspekt der genuin menschlichen und zugleich überindividuellen Wirklichkeit. Doch es ist nicht dieselbe Bestimmung in mehr oder weniger präziser Fassung, es sind vielmehr zum einen spezifische Differenzierungen, die wir an einem generellen Begriff anbringen, und diese bezeichnen zum anderen am Menschen komplementäre Tendenzen seiner Einbindung in die Zusammenhänge seiner Gattung. In der Bestimmung als gesellschaftliches Wesen ist es die Vorgängigkeit des sozialen Zusammenwirkens, damit auch die Realität des Geprägtseins durch die immer schon wirkenden Faktoren des Kollektivs als Milieu; in derjenigen als kulturelles Wesen die Produktivität des Prägens einer immer erst und immer wieder neu hervorzubringenden gemeinsamen Welt als dessen Bedeutungs- und Orientierungsraum.

E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen (1923, 1925, 1929). ECW Bd. 11–13 (Hamburg 2001–2002); Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos (1927) (München 1947); Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) (Berlin 1975); Arnold Gehlen: Der Mensch (1940) (Bonn 1950); Jean-Paul Sartre: L’Être et le néant (Paris 1943); dtsch.: Das Sein und das Nichts (Reinbek bei Hamburg 1970); Hans Jonas: Organismus und Freiheit (Göttingen 1973); Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation (Basel 1939); Hannah Arendt: The Human Condition (Chicago 1958), dtsch.: Vita activa oder Vom tätigen Leben (München 1960). 24

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Wenn Karl Marx in polemischer Wendung gegen Feuerbach im menschlichen Wesen »das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« erkennen will, so droht schon hier der Ertrag der damit verbundenen Einsicht in die Dialektik der »menschlichen Praxis« zurückzutreten hinter den plakativen Vorteil, den es mit sich bringt, den Menschen als »gesellschaftliches Produkt« zu begreifen.25 Ganz ähnlich wie in der Betonung seiner Geschichtlichkeit tendiert hier die Bestimmung des Menschen als gesellschaftliches Wesen zu jener Hypostasierung, wie sie in der Sicht von Gesellschaft als Verhängnis verselbständigter Herrschaft bei Horkheimer und Adorno auf die Spitze getrieben ist, wo das gesellschaftliche Individuum als der »Verkehrsknotenpunkt der Tendenzen des Allgemeinen« fungiert.26 Natürlich unterliegt solche Verdinglichung einer Logik des falschen Scheines; ihn gilt es epistemologisch wie handlungstheoretisch aufzulösen durch die Einsicht in die Unabdingbarkeit menschlicher Aktivität für alle gesellschaftlichen Wirkungen. Wenn es darum geht, die Spontaneität des Subjektes gesellschaftlicher Tätigkeit zu würdigen, kann der Blick auf das kulturelle Wesen des Menschen, dem sich der menschliche Geist als Ursprung und als Medium produktiver Leistungen zeigt, die Funktion des Korrektivs erfüllen. Dem unvoreingenommenen Blick zeigen sich Kultur und Gesellschaft als spezifische Differenz in der eigenen Tätigkeit, durch die der Mensch zu seiner Wirklichkeit kommt. Ebenso wie Gesellschaft steht Kultur von vornherein im begrifflichen Kontrast zur Natur als dem Gegebenen und in unseren Handlungszusammenhängen zwar notwendig Vorausgesetzten, aber nur begrenzt Verfügbaren. Die Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft hat im menschlichen Selbstverständnis die gleiche Funktion wie die Gegenüberstellung von Natur und Kultur. Gemeint ist in beiden Fällen der Charakter der Prägung durch die eigene und ihre eigene Sphäre begründende Gattungsaktivität, die im Vergleich mit dem bloß Vorgefundenen, Naturbelassenen den Aspekt des Artifiziellen hat. Auf der Basis der gemeinsamen Abgrenzung von der Natur (physis – thesis) kommt hierin mit einer handlungstheoretischen Gleichursprünglichkeit zugleich eine handlungstheoretische Differenzierung zum Tragen: Die Gesellschaft bezeichnet den Aspekt der freien Vereinigung zur gemeinsamen Bewältigung des Lebens und damit den vollzugsorientierten kommunikativen Charakter der Schaffung eigener Verhältnisse, die Kultur den Aspekt der Hervorbringungen, der objektiven Leistungen – der Werke, die aus dieser kollektiven Lebensbewältigung hervorgehen. Gemeint ist mit anderen Worten die Aristotelische Unterscheidung zwischen praxis und poiesis, von auf gemeinsame Lebensführung bezogenem Handeln und produktbezogenem Herstellen. Innerhalb des Funktionszusammenhanges, in dem eins ins andere greift, bezeichnet dies eine perspektivische und funktional bestimmte Unterscheidung. In der Arbeit und in K. Marx: Thesen über Feuerbach [1845]. Marx-Engels-Werke, Bd. 3 (Berlin 1969) 5–7. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung [1947] (Frankfurt a.M. 1969) 164. 25 26

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der Arbeitsteilung wird prägnant, daß es Gesellschaft ohne Kultur und Kultur ohne Gesellschaft nicht geben kann. Die Kultur entspringt damit im poietischen Moment menschlicher Tätigkeit, das Paradigma ihrer Leistungen ist das Werk. Die Wirklichkeit des Menschen in der Kultur besteht im Prozeß werkhafter Objektivationen aller Art. Es ist dieser in der Herstellung von Werken kulminierende Funktionssinn, der die spezifische Differenz der hier investierten Tätigkeit gegen die in der problembezogenen kommunikativen Praxis geleistete und damit den funktionalen Unterschied von Kultur und Gesellschaft ausmacht. Den Geltungssinn dieser Differenzierung finden wir selbst noch in der wissenschaftspolitischen Tatsache bestätigt, daß es in der Reformierung des gegenwärtigen Universitätsbetrieb nicht die Sozialwissenschaften sind, die sich als Kulturwissenschaften ein zeitgemäßes Gepräge zu geben versuchen, sondern die seit Wilhelm Dilthey als Geisteswissenschaften verstandenen Fächer, die sich mit den von Menschen hervorgebrachten, durch ihre Bedeutung ausgezeichneten Werken befassen.

B. ›Kultur‹ im Singular und im Plural: Disparate Begriffe oder gestaffelte Dimensionen? Die handlungstheoretische Gleichursprünglichkeit von Gesellschaft und Kultur, ihre nicht immer transparente Differenzierung durch die komplementären Momente von Praxis und Poiesis, bilden nicht das einzige Problem bei der Annäherung an den Begriff der Kultur. Auf den ersten Blick hat der Begriff verschiedene Bedeutungen: Kultur wird ebenso 1. im Kollektivsingular als die grundlegende, in alle menschlichen Tätigkeiten ausdifferenzierte Funktion der Lebensgestaltung und damit als Inbegriff poietisch-praktischer Selbstauslegung begriffen wie 2. als der spezifische Bereich der Artikulation verfeinerter geistiger, vorwiegend ästhetischer Ansprüche auf Kreativität, Kommunikation und Unterhaltung, die sich in den hochkulturellen Medien und künstlerischen Spitzenprodukten vergegenständlichen. Es ist zu beobachten, daß die unreflektierte Identifikation dieses spezifischen Begriffs von verfeinerter intellektueller und ästhetischer Kultur mit dem Gegenstand der Kulturphilosophie die Disziplin in den Verdacht bringt, sie habe es mit Allotria und Adiaphora zu tun. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, wie nahe sich in der Verzeichnung des Kulturbegriffs etwa die Antipoden Heidegger und Adorno sind. Für das hochkulturell-spezialistische Mißverständnis der Kultur als eines feinsinnigen Spezialinteresses hat Adorno mit seinem gegen Simmel gerichteten Verdikt die Metapher von der Metaphysik mit dem »Silbergriffel« geprägt.27 Genährt wird diese Polemik aber auch durch den ideologiekritischen Vorbehalt gegen die Th. W. Adorno: Henkel, Krug und frühe Erfahrungen [1965]. Gesammelte Schriften, Bd. 11 (Frankfurt a.M. 1974) 561. 27

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als konservativ beargwöhnte Tendenz der kulturphilosophischen und anthropologischen Ansätze bis in die sechziger Jahre: Einem hartnäckigen Gerücht zufolge, das vor allem von der Frankfurter Kritischen Theorie der Gesellschaft wie von den Neomarxismen überhaupt geschürt wurde, gehört es zu den Effekten, wenn nicht gar zu den Intentionen einer jeden Anthropologie, den Menschen auf ›anthropologische Konstanten‹ festzulegen und so mit der Dimension der Geschichte auch die Möglichkeit des Fortschritts zu unterschlagen. In Frankfurt war man demgegenüber an Gesellschaft als dem Inbegriff der Wandlungsfähigkeit des Menschen interessiert. Wo in diesem Zusammenhang von Kultur anders als in abgrenzender Absicht die Rede ist, da geht es um deren spezifischen Begriff (2), und Kulturkritik wird als das spezialisierte Unternehmen der ideologiekritischen Auseinandersetzung mit einem gesellschaftlichen Bereich verstanden.28 Tatsächlich hat sich jede elaborierte Kulturphilosophie ganz anders, nämlich im Sinne des grundlegenden Begriffs von Kultur als des Elementes menschlicher Lebensgestaltung stets als Anthropologie verstanden (1) und sich von daher zugetraut, etwas über den Menschen zu sagen, das sich – wie auch immer geschichtlich vermittelt – in die bloße Geschichtlichkeit nicht auflösen läßt. Die Einsicht aber, daß eben diese zum Wesen des Menschen gehört, dürfte den Vorwurf gegen die Ungeschichtlichkeit anthropologischer Konstanten widerlegen, indem sie ihn ad absurdum führt. Gleichermaßen stilbildend für den Vorbehalt gegen die Kultur ist aber der ganz anders gerichtete Vorwurf, den Martin Heidegger 1929 in der Davoser Disputation dem »Kulturphilosophen« Ernst Cassirer entgegengehalten hat: Die Kultur markiere den »faulen Aspekt eines Menschen, der bloß die Werke des Geistes benutzt«.29 Von Interesse ist hier zunächst, daß der Kritiker, der so spricht, sich zutrauen muß, das Invariante des menschlichen Daseins – das Eigentliche des Menschen – unter völligem Absehen von den Leistungen der Kultur zu bestimmen, die auf diese Weise, selbst noch wenn ihr Begriff als grundlegend verstanden sein sollte, nach Art der verzichtbaren ornamentalen Beigabe abgewertet wird. Im Leben in der Kultur verbinden sich nach Heideggers Ansatz Ablenkung vom eigentlichen Dasein und der Charakter der trügerischen Versicherung.30 Heideggers Bewertung und die Einschätzung Adornos sind je für sich und in ihrer Gemeinsamkeit exemplarisch. Über die darin zutage tretende Verunklärung der Begriffskontur wie der systematischen Perspektiven hinaus ist eine zusätzliche Komplizierung darin zu sehen, daß Kultur (3) in den relativierenden Plural tritt, wenn die Konkretisierung des grundlegenden, universalen Kultur-

Siehe ders.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft (Frankfurt a.M. 1955). Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger. In: M. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik. Gesamtausgabe Bd. 3 (Frankfurt a.M. 1991) 291. 30 Siehe Michael Großheim: Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz (Bonn, Berlin 1991) 102–110. 28 29

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konzepts (1) in seinen einzelnen geographischen und historisch-nationalen Ausprägungsformen berücksichtigt wird und von der Kultur des Abendlandes, der lateinamerikanischen Kultur usw. die Rede ist. In mehr als nur einer Hinsicht scheint daraufhin der Kulturbegriff problematisch zu sein. In der Konzentration auf die Unterschiede zwischen den je für sich mit einem Anspruch auf Anerkennung auftretenden Kulturen droht dem für Probleme der Differenz sensibilisierten Zeitgenossen der Sinn für die nach wie vor begriffswürdige und theoriebedürftige Tatsache einer Gemeinsamkeit abhanden zu kommen: daß alle Menschen Kultur haben. Es sieht so aus, als befänden sich der universalistische Anspruch des Kollektivsingulars Kultur und die Tatsachen der Spezialisierung kultureller Ansprüche wie der Vielfalt von Kulturen im Widerstreit, und als hätten wir es mit ganz verschiedenen Kulturbegriffen zu tun. Doch genau besehen betrifft diese Mehrdeutigkeit kein Problem der Äquivokation, sondern der Spezifikation: Der Begriff der Kultur umfaßt verschiedene Dimensionen. Generell bezeichnet er das menschliche Selbstverständnis unter allen Aspekten der Gestaltung; er ist der »Inbegriff der von Menschen produzierten und reproduzierten menschlichen Lebenswelt«31 – oder »jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten«.32 Die Buntheit der damit benannten Ingredienzien ist nur scheinbar einer vermeidbaren begrifflichen Diffusion geschuldet, in Wahrheit verweist sie auf die Komplexität der Sache. Letztlich geht es in allen Verwendungen des Ausdrucks, bei jedem Grad an Konkretion und Spezifikation des Kulturbegriffs stets um den Anspruch des Menschen, etwas aus den vorgefundenen Bedingungen und aus sich selbst zu machen. Kultur ist dabei immer schon eine Vielheit der Leistungen und Methoden. In den verschiedenen Kulturen realisiert sich im historischen Maßstab der Menschheit, was allgemein für den Menschen Kultur ist; und in den anspruchsvollen Spielräumen der Gestaltung, im Hochgeistigen und Feinsinnigen, wird ihr Gestaltungscharakter exemplarisch und reflexiv. Der Begriff der Kultur kann somit alle Aspekte des gestaltenden Elementes im menschlichen Selbstverhältnis bezeichnen und damit das Charakteristikum der Menschheit, Wirklichkeit nicht anders als in einer produktiv angeeigneten Welt zu haben: Kultur ist das Element menschlicher Lebensgestaltung. Ihre Leistung ist in der produktiven Vermittlung des Weltbezuges zu sehen.33 Der Be-

Herbert Schnädelbach: Kultur. In: Philosophie. Ein Grundkurs, hg. von Ekkehard Martens und H. Schnädelbach, Bd. 2 (Reinbek 1991) 517. 32 Edward Burnett Tylor: Primitive Culture (London 1871) 1. 33 Es scheint aussichtsreich, die damit gemeinte Kultur durch einen Hegel und Cassirer nahen Begriff des Geistes als »vieldimensionale[n] Gestaltungsprozeß im Zwischenreich der Symbolismen« bzw. als »Interaktionsgeschehen zwischen dem Bewußtsein und den (bewußtseinstranszendenten) Symbolismen« näher zu bestimmen; so Oswald Schwemmer: Die kulturelle Existenz des Menschen (Berlin 1997) 32, 68. 31

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griff der Kultur steht damit von Grund auf in einer anthropologischen Dimension. C. Kultur als normativer Reflexionsbegriff Er steht aber ebenso auch in einer ethischen Dimension.34 Auffällig in unserem Verhältnis zur Kultur ist die permanente Grenzüberschreitung zwischen deskriptivem und evaluativ-normativem Urteil. Im gleichen Maße und im gleichen Sinne, wie es zu unserem humanen Selbstverständnis gehört, daß wir immer schon Ansprüche an uns selbst und Bewertungen unserer selbst haben, sind Anspruch und Bewertung auch unserem Begriff von Kultur integral. Wie wir in generalisierender Perspektive nicht sagen können, was wir sind, ohne dabei über das zu sprechen, was wir sein wollen und sein sollen, gehört es zu unserem Begriff von Kultur, daß diese uns nicht gleichgültig sein kann. Wir können sie nicht beschreiben, ohne sie zugleich grundsätzlich in ihrem Bestand zu bejahen – oder zu verneinen. Wenn wir nach Beispielen für diese evaluative Besetzung der Kultur suchen, so werden wir sie vor aller Theorie in der glücklichen Identifikation ebenso häufig finden wie in der scheiternden oder verwehrten: Wir kennen – unabhängig von historischer und nationaler Nähe – das Gefühl, stolz zu sein auf Errungenschaften der Menschheit als solche, ganz gleich, ob diese aus dem antiken Griechenland oder aus der Neuen Welt kommen. »Daß die großen Momente eine Kette bilden, daß sie, als Höhenzug, die Menschheit durch Jahrtausende hin verbinden, daß für mich das Größte einer vergangenen Zeit auch groß ist, […] das ist für mich der Grundgedanke der Kultur.«35 Umgekehrt empfinden wir Scham und Empörung, die beiden wichtigsten Gefühle der moralischen Abgrenzung,36 angesichts großer Roheiten, Gemeinheiten und Verbrechen, die unter den Bedingungen der Kultur möglich sind – ja, wir bekunden überdies unser intuitives Vertrauen in deren historischen Fortschritt durch die Entgeisterung darüber, daß dies in einer hochentwickelten Kultur noch möglich ist. Und – ein Beispiel, dem im Negativen besonderer Aufschlußwert zukommt: So wie wir nach Kant im friedlichen Genuß einer unzerstörten schönen Natur »ein Bedürfniß« haben, »irgend jemand dafür dankbar zu sein«,37 so verspüren wir selbst angesichts solcher Zerstörung menschlicher Werke, die durch Naturkatastrophen bedingt ist, in unserer Hilflosigkeit das Bedürfnis, irgendwem einen Vorwurf zu machen.

B. Recki: Die Idee der Kultur. Über praktisches Selbstverständnis im Kontext. In: Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongreß für Philosophie (Vorträge und Kolloquien), hg. von Wolfram Hogrebe (Berlin 2004) 564–573. 35 Friedrich Nietzsche: Ueber das Pathos der Wahrheit. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3. 2 (Berlin, New York 1973) 250. 36 Vgl. Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik (Frankfurt a.M. 1993) 57 ff. 37 I. Kant: Kritik der Urtheilskraft, a. a.O. [Anm. 13] § 86, 445. 34

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Wir können die sinnlose Zerstörung menschlicher Lebenszusammenhänge und Leistungen noch nicht einmal dort als einfache Tatsache hinnehmen, wo niemand dafür verantwortlich zu machen ist. Bemerkenswert ist daran, daß Kultur keine bloße Tatsache ist, die sich im Blick gleichsam von außen notieren ließe. Jedenfalls ist sie es nicht für uns, um deren Sache es geht, wenn von Kultur die Rede ist. Sie ist ein normativer Reflexionsbegriff, dessen positiver Sinn sich nur im Wechselspiel zwischen Beschreibung, Bewertung und Anspruch explizieren läßt. Was Cassirer gegen Simmel mit dem Hinweis auf die Dialektik und damit auf die Permanenz des Prozesses kultureller Auseinandersetzung geltend macht, ist ein Kabinettstück auf diese Einsicht: In seinem Einspruch gegen Simmel ist eine exemplarische Weise zu sehen, wie sich die Einsicht in die Unverzichtbarkeit der Kultur für die Realisierung menschlicher Freiheit in der mehr als bloß deskriptiven Konzeption der Kultur selbst Geltung verschafft. Wir werden uns selbst als kulturellen Wesen nicht gerecht, ja wir bedrohen uns selbst mit der Gefahr der Paralyse unserer praktisch-poietischen Potenzen, wenn wir die Kultur als eine Tragödie beschreiben – und uns damit am Ende selbst womöglich praktisch auf die Rolle von ergriffenen Zuschauern festlegen. Cassirers gegen Simmel vorgebrachter Einwand, seine Vervollständigung des bloß dualistischen Modells von Ich und Werk um das kommunikative Ferment einer Vermittlung zwischen Ich und Du, bringt sinngemäß auch die Unabsehbarkeit menschlicher Spontaneität zur Geltung und repräsentiert damit im Medium der Theorie bereits eine praktische Form der Achtung vor der Freiheit der anderen. In diesem Hinweis ist zweifellos eine positive Arbeitshypothese des Menschen in der Kultur – eine praxisorientierende, ermutigende Einsicht der Theorie zu sehen, und darin wird ein Moment der evaluativ-normativen Besetzung von Kultur als solcher erkennbar. Die Moral von der Geschicht’, die hier denkbar unprätentiös artikuliert ist: Wir haben die Konflikte und Krisen der Kultur ebensosehr konzeptuell zu entdramatisieren wie praktisch zu akzeptieren, um das Ethos der Freiheit zu bestärken.38

Siehe B. Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (Berlin 2004) 151–188. 38

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Alltagssprachlich hat ›Leben‹ zwei sich überschneidende Bedeutungsfelder. Das eine umfaßt Erscheinungen des Lebendigen oder Organischen im Unterschied zum Unbelebten oder Mechanischen. Die Biologie untersucht Strukturen und Funktionen des Organischen, wobei eine abschließende Antwort auf die Frage, was Leben ist, nicht vorliegt.1 Deshalb ziehen es moderne Biologen vor, nicht »das Leben«, sondern »das Lebendige« als ihren Forschungsgegenstand zu bezeichnen. Als Charakteristika des Lebendigen gelten Selbstbewegung, Stoffwechsel, Wachstum und Fortpflanzung, wobei die Liste keineswegs vollständig ist. Auch die damit zusammenhängende Frage nach dem Ursprung des Lebens ist noch offen. In neuerer Zeit hat sich »Künstliches Leben« als interdisziplinäres Forschungsgebiet an der Schnittstelle von Biologie, Chemie, Informatik und Kognitionswissenschaften etabliert. Es geht von der zentralen Arbeitshypothese aus, Leben lasse sich unabhängig von bestimmten materiellen Substraten als selbstorganisierende Form von Informationsverarbeitung simulieren. Das andere Bedeutungsfeld umfaßt die Erscheinungen und Bewertungen der menschlichen Existenz. Zu ihren Urphänomenen zählen Geburt, Krankheit und Tod. Sie erzeugen eine besondere Art von Erfahrung: die Lebenserfahrung, die im Unterschied zu wissenschaftlicher Erkenntnis als nicht übertragbar angesehen wird. Der theoretischen Behandlung des menschlichen Lebens in den Lebenswissenschaften von der Medizin über die Psychologie bis zur Soziologie geht eine praktische Disziplin voraus: die »Lebenskunst« als Ausdruck von Lebensweisheit. Ihre Aussagen konzentrieren sich auf die Dauer, die Qualität sowie die unhintergehbare Faktizität des Lebens und bieten Techniken des Umgangs mit sich selbst.2 In allen Phasen ihrer Entwicklung haben sich die Wissenschaften vom Leben mit philosophischen Fragestellungen berührt. Auch der Alltagsgebrauch des Begriffs leitet zu philosophischen Reflexionen über; oft verschwimmen die Grenzen. Der große Umfang des Begriffs macht ihn inhaltlich unbestimmt, die Unbestimmtheit aber verleiht ihm eine implizite metaphysische Dimension. Diese läßt sich wissenssoziologisch als unthematisches Hintergrundwissen beschreiben, das allen Ontologien zugrunde liegt. Hinzu kommt, daß Aussagen über das Leben mit seinem Vollzug verflochten sind, so daß Diskurs und Geschehen

Ernst Mayr: Das ist Biologie. Die Wissenschaft des Lebens (Heidelberg, Berlin 2000). Thomas Rolf: Normale Selbstverwirklichung. Über Lebenskunst und Existenzästhetik. In: Kritik der Lebenskunst, hg. von Wolfgang Kersting und Claus Langbehn (Frankfurt a.M. 2007) 315–341. 1 2

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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nicht sauber zu trennen sind. »Leben« hat ferner die Tendenz, sich mit anderen Schlüsselbegriffen des menschlichen Daseins zu verbinden: »Lebensraum«, »Lebenszeit«, »Lebensqualität«, »Lebenssinn« usw. Der Begriff steht schließlich auch für erhoffte oder gedachte Möglichkeiten: »Ewiges Leben«, »Neues Leben«, Formulierungen, die im religiösen Diskurs beheimatet sind. Der große Umfang des Wortfeldes und die Unbestimmtheit seiner Grenzen wirft eine Reihe von theoretisch relevanten Fragen auf: 1. Welche systematische Stelle nimmt »Leben« in der Philosophie ein? 2. Welcher semantische Status kommt dem philosophischen Lebensbegriff zu? 3. Welche Auswirkungen hat der Begriff auf das Profil des modernen Philosophierens? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, werde ich die Entwicklung der Lebensphilosophie rekonstruieren. Dabei geht es mir nicht um historische Genauigkeit, sondern darum, in systematischer Absicht die Denkformen herauszuarbeiten, die eine philosophische Verwendung des Begriffs legitimieren.

I. Postkantischer Transzendentalismus In der europäischen Philosophie ist »Leben« erst spät zu einem Schlüsselbegriff aufgerückt. Zwar werden die Erscheinungen des Lebens in der Natur wie in der Gesellschaft von Anfang an registriert und beschrieben, aber dem Begriff wird keine systematische Stelle eingeräumt, vergleichbar dem Substanzbegriff in der Antike, dem Naturbegriff in der Renaissance oder dem Vernunftbegriff in der Aufklärung. In der antiken Ethik fungiert menschliches Leben (bios) als Referenzsubjekt, aber es bleibt bei der Bezeichnung eines Gegenstandsbereichs und steigt nicht zum Prinzip auf. Der Aufstieg von »Leben« zum philosophischen Zentralbegriff hat in der Neuzeit eine lange Vorgeschichte.3 Sie reicht von der neuplatonisch inspirierten Renaissancephilosophie über die religiösen Denker des 18. Jahrhunderts bis hin zur Naturphilosophie und Religionsphilosophie des Deutschen Idealismus. »Leben« fungiert allerdings nicht in allen Phasen als eigenständiges philosophisches Prinzip, sondern als Komplementärbegriff zu »Sein«, »Gott« und »Natur«. Hegel, der in seinen theologischen Jugendschriften Leben mit Liebe als »lebendige[m] Band« zwischen den Menschen gleichsetzt, räumt in seiner Phänomenologie des Geistes dem Lebensbegriff keine zentrale Stellung mehr ein. Der Übergang vom Leben zum Geist und die Transformation der kreatürlichen und emotionalen Lebendigkeit in »Leben des Begriffs« lassen erkennen, daß Hegel »Leben« teleologisch als Schema für Stufen der Objektivation begreift. Auch in der logischen Fassung steht »Leben« für ein Vermittlungsproblem, das Hegels Auffassung der gesellschaftlichen Wirklichkeit prägt.4 Ulrich Dierse (u. a.): Art. ›Leben‹. In: HWPh Bd. 5 (Basel 1980) 71–97. Klaus Düsing: Die Idee des Lebens in Hegels Logik. In: Hegels Philosophie der Natur, hg. von Rolf-Peter Horstmann und Michael John Petry (Stuttgart 1986) 276–289. 3 4

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Als philosophischer Schlüsselbegriff fungiert »Leben« lediglich in der kurzen Spanne der Lebensphilosophie von 1880 bis 1920. Hier besetzt der Begriff die Stelle des transzendentalen Subjekts in Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik. In der Erkenntnistheorie wird die Einheit des gegenständlichen Bewußtseins durch den im Erleben unmittelbar gegebenen Lebenszusammenhang ersetzt, um damit der Tatsache gerecht zu werden, daß intentionale Akte immer auf einem unverfügbaren Hintergrund des zuständlichen Bewußtseins erfolgen. Daraus resultiert, daß der Gegenstand der Erkenntnis seine festen Konturen verliert und sich in eine Folge von Deutungen auflöst. In der Ethik liegt die lebensphilosophische Wende darin, daß die Instanz moralischer Verpflichtung nicht mehr eine reine, von der empirischen Existenz abgelöste praktische Vernunft ist. Vom Lebensvollzug selbst gehen Forderungen aus, die sich nicht auf eine bloße Orientierungspraxis beziehen, sondern durchaus einen die Situation überschreitenden normativen Charakter haben. Eine Ethik des Lebens beschränkt sich also nicht auf eine naive Protomoral, sondern schließt universale Forderungen ein. Damit allerdings verschiebt sich der Akzent von Normen auf Werte, wobei Werte allerdings nicht mehr als überzeitliche Ideen angesehen werden, sondern als Funktionen des Lebens selbst. In der Ästhetik schließlich steht »Leben« für die Überwindung der Ontologie des Schönen durch die ästhetische Erfahrung, wobei zwischen dem Naturschönen und dem Kunstschönen vermittelt wird. Damit wird der triebhaften Dimension der ästhetischen Erfahrung Rechnung getragen, der schöpferischen Emotionalität, die sich nicht auf die Logik des ästhetischen Urteils reduzieren läßt. In diesem systematischen Rahmen hat der Lebensbegriff seine transzendentale Funktion entfaltet; er steht für die Abkehr der Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts vom logischen Formalismus der Transzendentalphilosophie.5 Gegenüber dem Programm einer begrifflichen Konstruktion der Welt durch ein transzendentales Subjekt steht »Leben« für die Fülle der Wirklichkeit, die sich einer quantitativen Erfassung und kausalen Erklärung entzieht. Dem entspricht auf der Seite der Erfahrung eine Dynamisierung der Formen des Denkens und Sprechens, deren Ursprung und Verankerung in »Lebensformen« gesucht wird. Dabei fungiert »Leben« als gewirkte Form (natura naturata) und zugleich als wirkende Form (natura naturans). Es ist allerdings nicht damit getan, wie in der Literatur üblich, die Vieldeutigkeit des Lebensbegriffs zu betonen. Seine Vieldeutigkeit liegt, wenn überhaupt, im besonderen semantischen Status, nämlich dem eines Reflexionsbegriffs.6 Darunter versteht Kant Begriffspaare wie »Einstimmung« und »Widerstreit«

5 Philipp Lersch: Grundsätzliches zur Lebensphilosophie. In: Blätter für Deutsche Philosophie 9 (1936) 22–55. 6 Rudolf Walter: Reflexionsbegriffe. Gedanken zu einer schwierigen Begriffsgattung und zu einem unausgeführten Lehrstück der Kritik der reinen Vernunft. In: Philosophia naturalis 19 (1982) 125–150.

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oder »Materie« und »Form«, welche die Zusammengehörigkeit von Erfahrungen aus verschiedenen Wissensgebieten in einem subjektiven Zustand bezeichnen. Reflexionsbegriffe weisen zwar auf die Gesetzgebung des Verstandes zurück, unterscheiden sich aber von den Kategorien darin, daß sie nicht konstitutiv für Gegenstände der Erkenntnis sind, sondern lediglich dem Vergleich schon gegebener Begriffe dienen. Darin liegt eine wichtige bewußtseinstheoretische Einsicht, die von den Neukantianern allerdings kaum genutzt worden ist. Diese haben sich auf die Erweiterung der Kategorienlehre konzentriert und dabei übersehen, daß zur Einheit des Bewußtseins Reflexionsbegriffe gehören, die sich propositionalen Wahrheitsansprüchen entziehen. Genau das aber trifft auf die Erscheinungen des Lebens zu, die sich in den von Kant angeführten Begriffspaaren explizieren lassen. Die Wende zum Leben als Grundbegriff hat der Lebensphilosophie den Vorwurf des Irrationalismus eingebracht, der die Verwendung des Begriffs bis heute suspekt macht. Wenn der Irrationalismusvorwurf besagt, die Lebensphilosophie verabschiede Vernunft und Wahrheit und liefere das menschliche Selbstverständnis dunklen Mächten aus, so ist das eine ideologisch motivierte Unterstellung, die ich im folgenden entkräften möchte. Weit entfernt, ein asylum ignorantiae zu sein, eröffnet der philosophische Begriff des Lebens logische Räume, die dem Rationalismus verschlossen bleiben. Meine These lautet: Der Lebensbegriff gehört in den postkantischen Transzendentalismus, wird als solcher aber nicht angemessen gewürdigt. Seine Rehabilitierung tut not, damit der philosophische Diskurs der Moderne nicht an sprachanalytischen Formalismen zugrunde geht. »Leben« hat zur Erweiterung der Subjektphilosophie geführt, die über ihre praktische Konkretisierung weit hinausgeht. Ich werde im folgenden die wichtigsten Stationen dieser komplexen Entwicklung nachzeichnen.

II. Wegbereiter: Schopenhauer Die Überwindung der rationalistischen Fassung der Subjektphilosophie hat Arthur Schopenhauer vollzogen, der damit zum »Großvater« der Lebensphilosophie geworden ist. Er hat Leben an die systematische Stelle gesetzt, die bei Kant die Vernunft einnimmt. Schopenhauer hat dafür die Formel »Vom Primat des Willens im Selbstbewußtsein« geprägt.7 In der Erkenntnistheorie vertritt Schopenhauer im Anschluß an Kant den transzendentalen Idealismus. Was Kant »Erscheinung« nennt, heißt bei Schopenhauer durchweg »Vorstellung«. Die Vorstellungswelt ist durchaus real, insofern sie nach empirischen Gesetzen geordnet ist, aber ihre Realität beschränkt sich auf orientierungspraktische Funktionen. Das nähert »Vorstellung« dem A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Sämtliche Werke (Frankfurt a.M. 1986) Bd. 2, Kap. 19. 7

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Schein an, so daß es bei Schopenhauer für die Unterscheidung von Traum und Wirklichkeit kein logisches Kriterium gibt. Die Welt als Vorstellung erschöpft nach Schopenhauer nicht den Erfahrungshorizont des Menschen. Dieser umfaßt auch und primär gefühlte Bedeutungen, also die Art, wie Dinge und Ereignisse die Beteiligten emotional berühren. Damit kommt eine zweite Quelle der Erkenntnis ins Spiel, die Schopenhauer »Wille« nennt. Dieser hat nichts mit Wahlfreiheit und Selbstbestimmung zu tun, sondern bezeichnet die Antriebe, die den Menschen dazu motivieren, sich mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen. Der primäre Antrieb liegt im Luststreben, das sich konzentriert im sexuellen Begehren äußert, so daß man Schopenhauers »Wille« mit Sigmund Freuds »Libido« gleichsetzen kann. Der Wille resultiert somit aus der körperlichen Konstitution des Menschen. Daher nimmt für Schopenhauer die Erfahrung des eigenen Leibes eine Sonderstellung ein. Der Leib, den wir als Objekt von außen und als Subjekt von innen zugleich erfahren, ist der Ort, an dem die zwei Quellen der Erkenntnis, Wille und Intellekt, zusammenfließen. So kann man formelhaft sagen: Schopenhauer gibt dem Erkenntnisproblem, der Frage also, wie das Bewußtsein zu den Dingen kommt, eine anthropologische Wendung. Im Willensdrang bleibt das Bewußtsein bei der symbolisch noch ungedeuteten Wirklichkeit in ihrer emotionalen Unmittelbarkeit. Folgerichtig setzt Schopenhauer den dranghaften Willen mit dem »Ding an sich« als tiefstem Punkt der Erkenntnis gleich, für den sich keine Gründe angeben lassen. Damit ist die systematische Stelle markiert, die der Lebensbegriff in der Lebensphilosophie einnehmen wird. Es ist bemerkenswert, daß Schopenhauer erst im 4. Buch seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung den Begriff in der bekannten Formel vom »Willen zum Leben« einführt.8 Eine Formulierung, die nach Schopenhauers eigener Aussage eigentlich einen Pleonasmus darstellt, da der Wille im Leben nur sich selbst will. Damit aber hebt Schopenhauer am Lebensbegriff hervor, was Interpreten häufig übersehen: daß Leben im biologischen Sinn nicht schöpferisch produktiv, sondern nur reproduktiv ist. Die Folge von Keimzellen, die sich teilen, stellt den eigentlichen kontinuierlichen Lebensfaden dar, von dem Individuen nur kleinperiodische Auswucherungen sind. Die individuellen Formen betrachtet Schopenhauer als Selbstdarstellung des Willens in der Vorstellung. Der Wille zum Leben richtet sich also nicht auf bestimmte Gegenstände, sondern besteht darin, im anonymen Begehren sich selbst zum Erscheinen zu bringen, sichtbar zu werden. Der Wille ist somit einem permanenten Zwang zur Selbstartikulation unterworfen, der rein formal seine Entsprechung in Kants Selbstgesetzgebung der Vernunft hat. Die Parallele zu Kant geht noch weiter. So wie sich bei diesem die Vernunft in Antinomien und Paradoxien verstrickt, wenn sie sich selbst zu Ende denkt, so zeugt die Dynamik des Willens von einer inneren Widersprüchlichkeit, die 8

Ebd. Bd. 1, § 57.

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in Vorstellungen nach Ausgleich sucht. Einen vergleichbaren Gedanken hat Kant übrigens in seiner Schrift Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), wo er den unerfüllbaren, aber unausrottbaren Traum vom Paradies der »rastlosen und […] unwiderstehlich treibenden Vernunft« zuschreibt.9 Anthropologisch entspricht dem eine pessimistische Auffassung vom Wesen des Menschen. Emotional hat das Luststreben seine Gewißheit allein in der Gegenwart, sobald es in die Zukunft reicht, wird es zur Quelle des Leidens, da Erwartung und Erfüllung nie zur Deckung kommen. »Leben« hat demnach für Schopenhauer zwei Seiten. Der Begriff steht einerseits für die grundlose Triebhaftigkeit des Bewußtseins, die William James dann »Bewußtseinsstrom« nennen wird, andererseits für die reproduktive Daseinsform, die der Machbarkeit enge Grenzen setzt. Damit baut Schopenhauer dem transzendentalen Idealismus gleichsam ein Stockwerk unter, das der Vernunft Bodenhaftung gibt und sie an die Bedingungen der körperlichen Konstitution bindet.

III. Nietzsche Wenn man Schopenhauer als Großvater der Lebensphilosophie bezeichnen kann, dann ist Nietzsche ihr Vater. Seine geistesgeschichtliche Bedeutung liegt darin, Schopenhauers Lebensbegriff aufgenommen und umgewertet zu haben. Er transformiert dessen resignative und pessimistische Grundhaltung in einen kämpferischen Aktivismus. Dabei dient ihm der Begriff als Referenzpunkt aller seiner theoretischen Bemühungen. Leben im Unterschied zur reinen Theorie rückt so zu einem existentiellen Wertbegriff auf, an dem alle Formen des Geistes gemessen werden. Aber auch Nietzsche beurteilt das menschliche Dasein keineswegs nur positiv. Auch er leidet unter den negativen Seiten des Lebens, unter seiner schicksalhaften Unberechenbarkeit. Diese Einstellung gipfelt in dem Ausruf: »Ja, das Leben ist ein Weib!«10 In der systematischen Funktion des Begriffs als transzendentales Argument folgt Nietzsche Schopenhauer. Aber anders als dieser setzt Nietzsche nicht mit dem Erkenntnisproblem ein, sondern mit der künstlerischen Produktion. Ihm geht es darum, die Kunst aus dem Leben heraus zu verstehen, wofür ihm der »Mystagoge des Lebens« Richard Wagner das leuchtende Beispiel ist. In Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) kehren Schopenhauers zwei Quellen der Erkenntnis wieder als die zwei Prinzipien schöpferischer Produktivität: das Dionysische und das Apollinische. In dieser triebhaften Polarität spiegelt sich die Ambivalenz der menschlichen Subjektivität. Sie bedarf der

9 Immanuel Kant: Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte. Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe Bd. 8 (Berlin 1968) 115. 10 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (München 1980 ff.) [im folgenden: KSA], Bd. 3, 569.

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Täuschung und des Scheins, damit der Mensch nicht nur physisch, sondern auch psychisch und mental überleben kann. In diesem Sinne spricht Nietzsche von ästhetischer Rechtfertigung des Daseins und der Welt durch den Schein. Mit dem Primat der künstlerischen Produktion transformiert Nietzsche Schopenhauers »Wille zum Leben«. Obwohl Nietzsche Darwins »Kampf ums Dasein« grundsätzlich akzeptiert, will er Leben doch nicht auf Selbsterhaltung und Fortpflanzung reduziert wissen. Denn das treffe nur dort zu, wo es sich um Bewältigung von Notlagen handelte, was für die äußere Natur sicherlich gelte. In den Innenwelten der Menschen hingegen herrsche ein bis zur Verschwendung gesteigerter Überfluß an Vorstellungen und Gefühlen. Hier werde nicht um knappe Ressourcen gekämpft, sondern um Macht.11 Freilich nicht um physische Macht, sondern um die Macht des Ausdrucks. In diesem Sinne wird bei Nietzsche aus Leben »Wille zur Macht«. Nietzsche hat die transzendentale Funktion des Lebens als produktives Prinzip in der Ethik, der Wissenschaftstheorie sowie in der Historik durchgespielt. Auf allen Gebieten geht es ihm um die Überwindung des Naturalismus, die freilich nie vollständig gelingt. Die Produktivität wird ständig unterwandert von der Rückläufigkeit der biologischen Reproduktion. Das kommt in Nietzsches später Metaphysik der »ewigen Wiederkehr des Gleichen« zum Ausdruck, welche die Stetigkeit der Keimbahn auf die kulturelle Entwicklung überträgt: Alle kulturellen Formen werden durch die ununterbrochene Kontinuität der elementaren Formen des Lebens immer wieder auf die Anfänge zurückgeführt. So bleibt auch Nietzsches Kampf um einen »Sinn des Lebens« ambivalent, ein Schwanken zwischen Ursprung und Ziel, das auf das Selbstverständnis der Moderne eine eigentümliche Faszination ausgeübt hat und immer noch ausübt. Hinzu kommt, daß Nietzsches Beschreibungen sich auf der Ebene einer Individualpsychologie bewegen, die einen stark analytischen, die Psychoanalyse präludierenden Einschlag hat. Sein autobiographisch stilisiertes Selbstverständnis als »Philosoph des Lebens« ist gebrochen, da Selbsttäuschung und Lebensneid Grundthemen des Lebens sind.12 Ludwig Klages hat in seiner Schrift Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches (1926) die Ambivalenz der Gleichsetzung von Leben mit »Willen zur Macht« herausgestellt. Der psychologische Zugang hat Nietzsche allerdings den Blick für die soziale Dimension des Lebens verstellt. Folgerichtig ist »Macht« für ihn denn auch kein politischer Begriff. Sein »Wille zur Macht« bleibt im Bann eines individualistischen Ästhetizismus, der seinem Lebensbegriff aber nichts von seiner anthropologischen Bedeutsamkeit nimmt. Schopenhauer und Nietzsche haben den Rahmen abgesteckt, in dem die Lebensphilosophie um 1900 zur geistigen Hauptströmung geworden ist.13 Ihr

KSA Bd. 6, 120 f. Josef M. Werle: Nietzsches Projekt »Philosoph des Lebens« (Würzburg 2003). 13 F. Fellmann: Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung (Reinbek bei Hamburg 1993); Robert Kozljanic: Lebensphilosophie. Eine Einführung (Stuttgart 2004). 11 12

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Lebensbegriff transformiert den transzendentalen Idealismus in eine Art phantastischen Realismus, der zwischen Naturalismus und Fiktionalismus schwankt. Kants synthetische Einheit der Apperzeption wird bereichert um die triebhaften und emotionalen Momente, welche die Vernunft zur Urteilsbildung motivieren. Diese Sinnverschiebung gibt dem postkantischen Transzendentalismus ein neues Gesicht. Nicht nur die Anschauungs- und Denkformen werden dynamisiert, auch Kants Primat der praktischen Vernunft erhält eine neue anthropologische Bedeutung. Denn die philosophische Explikation der subjektiven Seite des Bewußtseins in Reflexionsbegriffen bezieht sich zwar auf die Welt, aber der Weltbezug, den schon Schopenhauer als »Geworfenheit« interpretiert, wird stets auf seine Bedeutsamkeit für das Lebensgefühl des Menschen hin betrachtet. Und dieses ist keineswegs immer ausgeglichen, sondern spiegelt die innere Widersprüchlichkeit der Subjektivität, in der Aktivität und Passivität, Rezeptivität und Spontaneität zusammenfallen.

IV. Wilhelm Dilthey: Leben und Erlebnis Als Reflexionsbegriff gewinnt ›Leben‹ eine Spannweite, die den Duktus des Philosophierens radikal verändert hat. Zwischen Realismus und Fiktionalismus, zwischen Monismus und Pluralismus, zwischen Pessimismus und Optimismus eröffnet der Begriff ein breites Spektrum von Deutungsmöglichkeiten, das die Hauptvertreter der Lebensphilosophie vor den konkurrierenden Hauptströmungen ihrer Zeit wie Materialismus und Neukantianismus auszeichnet. Im folgenden möchte ich drei näher unter die Lupe nehmen: Wilhelm Dilthey, Henri Bergson und Georg Simmel. Dilthey geht von der Psychologie aus, Bergson von der Biologie und Simmel von der Soziologie. Alle drei Denker sind erst in ihrer Spätphase zu Lebensphilosophen geworden, aber alle erreichen schließlich die transzendental-logische Stufe. Aus der Erweiterung des Bewußtseinsbegriffs haben sie die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Folgerungen gezogen. Während Kant nur gegenständliche Erkenntnis der Natur zugelassen hat, formuliert Dilthey für die Geisteswissenschaften das Verstehen als selbständige Erkenntnisform, Bergson die Intuition für die Metaphysik und Simmel die Wechselwirkung für die Prozesse der Vergesellschaftung. Wilhelm Diltheys Weg zum Leben beginnt mit wissenschaftstheoretischen Überlegungen. Seine Einleitung in die Geisteswissenschaften aus dem Jahre 1883 ist der Versuch, für die Erkenntnis der gesellschaftlichen Welt eine eigene transzendentale Kategorienlehre zu entwickeln. Ausgehend vom Standpunkt des Subjekts legt er dar, daß die von Kant entwickelten Denkformen die soziale Welt nicht erfassen. Im Anschluß an Schopenhauer kontrastiert er die Vorstellungen mit dem Willen als der Instanz, die Zugang zu den Wirklichkeiten schafft, in denen die Menschen leben. Von Schopenhauers biologischer Reproduktivität unterscheidet sich Dilthey unter dem Einfluß Hegels durch die Produktivität,

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die Leben mit Geist verbindet. In diesem Sinne gebraucht er »Leben« als psycho-physische Erfahrung, die dem bloßen Vorstellen, logischem Erkennen und Begründen an Realitätsgehalt überlegen ist. Wie das religiöse Erleben hat die Lebenserfahrung eine andere Evidenz als begriffliche Konstruktionen. Leben als Erkenntnisform umfaßt die historische Dimension des Gegebenen, dem Dilthey einen für die Erkenntnis unauflöslichen Kern zuschreibt. Die begriffliche Unhintergehbarkeit des Lebens läßt Dilthey freilich nicht auf sich beruhen. Im Gegenzug zur mechanistischen Psychologie seiner Zeit entwickelt er eine beschreibende Psychologie, um die komplexen Strukturen des zuständlichen Bewußtseins zu beschreiben. Er legt die bedeutungsbildende Funktion der emotionalen und voluntativen Schichten des Bewußtseins frei. Der Zugang zur Erlebnissubjektivität erfolgt aber nicht über Introspektion, sondern orientiert sich an den Ausdrucksphänomenen, die schon bei Schopenhauer die schöpferische Seite des dranghaften Willens ausmachen. Hier ist der Punkt, an dem Erleben in Verstehen übergeht. Diltheys Verstehenslehre, die ihn zum Begründer der modernen Hermeneutik gemacht hat, läßt sich somit als philologische Anwendung des philosophischen Lebensbegriffs lesen. Insofern gehören auch bei Dilthey Hermeneutik und Ethik eng zusammen. Ethik ist dabei nicht mehr im normativen Sinne zu verstehen, sondern deskriptiv im Sinne einer Weltanschauungslehre.14 Anders als die Konstruktion überzeitlicher Wertsysteme neukantianischer Prägung beschränkt sich Dilthey auf Typen epochaler Weltanschauungen, welche die grundsätzlichen Möglichkeiten der Stellung des Menschen zu den unaufhebbaren Faktizitäten des Lebens wie Arbeit, Liebe, Krankheit und Tod explizieren. Die Entwicklung der Weltanschauungen läuft bei Dilthey auf eine resignative Einstellung hinaus, die der Weisheit des historischen Bewußtseins entspricht. Obwohl Diltheys Weltanschauungslehre durch die Letztbegründungsansprüche einer sich als strenge Wissenschaft verstehenden Philosophie stark angefeindet wurde, zeigt sich in ihr der philosophische Lebensbegriff in seiner ganzen heuristischen Leistungsfähigkeit. Er steht für die Idee einer integralen Rationalität, welche die Erkennbarkeit der Welt vom Selbstverständnis des Menschen abhängig macht. Leben wird damit keineswegs zum Ausdruck einer irrationalistischen Metaphysik, vielmehr zum Reflexionsmedium, ohne damit in einen Subjektivismus zu verfallen. Als Leben wird Bewußtsein sich seiner unerschöpflichen Produktivität, zugleich aber auch seiner Rekursivität inne. Das hat Diltheys Lebensphilosophie zum Wegbereiter der existentiellen Wende gemacht, welche die Philosophie Heideggers nach dem Ersten Weltkrieg genommen hat.

14

Matthias Jung: Dilthey zur Einführung (Hamburg 1996).

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V. Henri Bergson: Leben und Entwicklung Auch Bergson nimmt seinen Anfang von einer Analyse des phänomenalen Bewußtseins, die mit der atomistischen Psychologie seiner Zeit bricht. In Zeit und Freiheit (1889) beschreibt er die »unmittelbaren Gegebenheiten des Bewußtseins« als kontinuierlichen Fluß, der sich nicht in einzelne Empfindungen zerlegen läßt. Die originäre Kontinuität der Zustandsfolge verweist auf eine produktive Kraft hinter dem Bewußtsein, die nach Ausdruck strebt. Bergson bewegt sich zwar in einer anderen geistesgeschichtlichen Tradition als Schopenhauer, aber sachlich bestätigt er dessen Primat des Willens im Selbstbewußtsein. Die erlebte Zeit, die Bergson »Dauer« nennt, wird somit zum ersten Charakteristikum des Lebendigen, das sich im Unterschied zum Mechanischen nicht berechnen läßt. Mit diesem bewußtseinstheoretischen Ansatz wendet sich Bergson in seinem zweiten Werk, Materie und Gedächtnis (1896), der Frage nach dem ontologischen Status der materiellen Welt zu. Materie ist für ihn kein selbständiges Sein, sondern eine Form der Erscheinung. Bei dieser Betrachtung orientiert sich Bergson nicht mehr wie Dilthey an der Psychologie, sondern an der Biologie. Die biologische Denkform hat freilich stark vitalistische Züge, wenn Bergson auch einen Finalismus ablehnt. Dadurch gelingt es Bergson, die von der Biologie ausgehende Gefahr einer Naturalisierung des Geistes abzuwehren, indem er den Spieß umdreht und Materie als Funktion von Bewußtsein beschreibt. Dabei bedient er sich eines für die spätere Lebensphilosophie zentralen Bildbegriffs, der den Dualismus von Subjekt und Objekt unterläuft. Die Bilder, so Bergson, sind Projektionen von Erfahrungen, die anders als bloße Vorstellungen den Menschen zum Handeln motivieren. Das trifft insbesondere für die Bilder des eigenen Körpers zu, den Schopenhauer »unmittelbares Objekt« genannt hat.15 Im selben Sinne spricht Bergson von einem Bild, »das an sich existiert«.16 Der Fluß der Bilder ist unumkehrbar, und damit entziehen sie sich der kausalen Erklärung. Seine volle Entfaltung erfährt der Lebensbegriff in Bergsons Hauptwerk Schöpferische Entwicklung aus dem Jahre 1907. Es handelt sich um eine Kulturanthropologie auf entwicklungsbiologischer Grundlage. Bergson sucht nach einem dritten Weg zwischen Darwinismus und Vitalismus. Der ihn dabei leitende Zentralbegriff lautet: »Lebensschwungkraft«. Dabei handelt es sich offenbar um einen metaphysischen Begriff, der sich nicht restlos operationalisieren läßt. Aber das Ziel, das Bergson mit seiner ontologischen Hypostasierung verfolgt, ist klar: Er will jenseits von Mechanismus und Finalismus die kulturelle Entwicklung des menschlichen Geistes als einen sich selbst organisierenden Prozeß der Ausdifferenzierung konstitutioneller Möglichkeiten des organischen Lebens beschreiben. Dazu fehlten ihm freilich die begrifflichen Instrumentarien 15 16

A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, a. a.O. [Anm. 7] Bd. 1, § 18. H. Bergson: Materie und Gedächtnis und andere Schriften (Frankfurt a.M. 1964) 46.

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der modernen Systemtheorie und der Logik der Selbstorganisation, wie sie später von der Molekularbiologie entwickelt worden sind. Sicherlich haben diese Defizite die Epigonen zu »kosmogonischen« Mystizismen verleitet, wogegen sich Bergson selbst übrigens heftig gewehrt hat. Aber daß seine Ontologie des schöpferischen Werdens der modernen Kulturanthropologie den Weg geebnet hat, bleibt unbestritten. Die Modernität von Bergsons Lebensbegriff beschränkt sich nicht auf die Ontologie, er ist ebenfalls in methodischer Hinsicht wegweisend. Er stellt der wissenschaftlichen Erkenntnis eine eigene philosophische Erkenntnisform gegenüber, die er »Intuition« nennt. Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis sieht er in der »kinematographischen« Diskretisierung des Bewußtseinsstroms, die das heterogene Kontinuum der Bewußtseinsinhalte zerstöre. Unter »Intuition« versteht Bergson ein unmittelbares Erfassen des Werdens, so wie es an organischen Bewegungen erfahren wird. Was ihm vorschwebt, ist eine Art Hermeneutik des kulturellen Lebens, deren methodologische Umsetzung freilich an Grenzen stößt. Die damit verbundene Absage an die formale Logik hat Bergson den Vorwurf des Irrationalismus eingebracht. Aber auch dieser Vorwurf wird den methodologischen Implikationen von Bergsons Lebensbegriff nicht gerecht. Er hat aus der Intuition zwar keine Methode machen können, aber er hat damit eine Aufgabe, ein Projekt formuliert, das noch unvollendet ist. Immerhin war es kein Geringerer als Edmund Husserl, der in seiner Spätphase die Gegenstandskonstitution genetisch hinterfragt hat. Seine »genetische Phänomenologie« will mit der Lehre von der »passiven Synthesis« gleichsam dem Werden des Werdens auf die Spur kommen, ein Programm, das Bergsons lebensphilosophischem Intuitionismus entspricht. Die der Morphologie verpflichtete »eidetische Phänomenologie« konnte dieses Programm nicht umsetzen. Erst die Beschreibung organischer Systeme als rekursive Prozesse der Informationsverarbeitung hat hier auch methodologisch den Durchbruch gebracht. Die in Bergsons »Lebensschwungkraft« gedachte Einheit von Leben und Bewußtsein ist in den systemtheoretischen Modellen des Zivilisationsprozesses methodologische Wirklichkeit geworden.

VI. Georg Simmel: Geld und Leben Georg Simmel ist der Denker, der nach der Jahrhundertwende die psychologisch-hermeneutische sowie die biologisch-ontologische Ausprägung der Lebensphilosophie aufgenommen und zu einer kulturphilosophischen Synthese gebracht hat. Ausgangspunkt ist Die Philosophie des Geldes von 1900, in der Vergesellschaftung logisch als Wechselwirkung beschrieben wird. Die sich im Warentausch vollziehende Wechselwirkung erhält im Geld ihre symbolische Form, welche das gesellschaftliche Leben der Menschen von tierischen Formen der Sozialität unterscheidet. Im Geld gewinnt die menschliche Lebensform Frei-

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heit von instinktiven Bindungen, so daß man Simmels Logik der Vergesellschaftung mit Cassirer als Schritt vom Substanz- zum Funktionsbegriff bezeichnen kann. Geld als symbolische Form verbindet nach Simmel zwei Funktionen der sozialen Wirklichkeit: Bewegung und Bedeutung. Die soziale Dynamik, die Simmel an der Zirkulation des Geldes expliziert, macht er später zur Grundfigur des menschlichen Lebens in allen seinen Ausprägungen.17 Für das moderne Leben gibt Simmel drei Charakteristika an: Distanz, Rhythmus und Tempo. Simmels Entwicklung zur Lebensphilosophie durchläuft eine Phase des neukantianischen Transzendentalismus, der in seiner Theorie der historischen Erkenntnis seinen stärksten Niederschlag gefunden hat. Die Geschichtswissenschaft, so Simmel in Die Probleme der Geschichtsphilosophie, bildet das Geschehen nicht ab, sie formt es nach ihren Vorstellungen um.18 Der konstitutionstheoretische Standpunkt weicht vom kantischen Apriorismus aber darin ab, daß die Geschichte die »Bedingungen der Möglichkeit« ihrer Erkenntnis in Form von immanenten Wertbegriffen selbst hervorbringt. Im »historischen Apriori« liegt eine lebensphilosophische Konkretisierung der kantischen Kategorientafel mit dem Ziel, das Allgemeine der Gesetze mit dem Individuellen der besonderen Situation zu verbinden. Die gleiche Problematik beschäftigt Simmel in einem Exkurs »Wie ist Gesellschaft möglich?« in seiner Soziologie von 1908.19 Aus der Besonderheit, daß Subjekt und Objekt der Erkenntnis im Prozeß der Vergesellschaftung zusammenfallen, versucht Simmel eine eigene Form der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung abzuleiten. Es gehe nicht um reine Erkenntnis, sondern um Wissen, dessen Formen nicht unabhängig von den Gegenständen definiert werden können. Die Klärung der sozialen Wissensformen hat Simmel später durch Aufnahme von Bergsons Lebensbegriff einer Lösung näher gebracht.20 Daran hebt Simmel zwei Momente heraus: zum einen die unauflösbare Kontinuität der Dauer, zum anderen die Unumkehrbarkeit der erlebten Zeit. Beide Momente machen die schöpferische Produktivität des Lebens aus, die weder durch mechanistische noch durch finalistische Theorien erfaßt werden kann. So wohlwollend er Bergsons Begriff des Lebens auch gegenübersteht, kritisiert Simmel doch daran, daß er die Tragik verfehle, die mit der Dialektik von Leben und Form verbunden sei. Diese beschreibt Simmel so: Leben bedarf zu seiner Erhaltung der Formen, diese aber hindern den Prozeß an seiner Entfaltung. Damit knüpft Simmel an das Begriffspaar Materie und Form an, das Kant zu den Reflexionsbegriffen zählt. Im Unterschied zur antiken Ontologie, in der Form das aktive Prinzip ist,

F. Fellmann: Die Sprache des Geldes. In: Traum, Logik, Geld, hg. von Helmuth Vetter u. a. (Tübingen 2001) 202–222. 18 G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (München, Leipzig 1923) VII. 19 G. Simmel: Soziologie (Frankfurt a.M. 1992) 42–62. 20 G. Simmel: Henri Bergson. In: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918, Bd. 2 (Frankfurt a.M. 2000) 53–69. 17

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welches gleichsam »von oben« auf die rezeptive Materie einwirkt, wird nun Leben selbst zum aktiven Prinzip, das seine eigenen Formen erzeugt. Während man bei diesem Modell konkret angeben kann, welche sozialen Tatsachen mit »Form« gemeint sind, nämlich Institutionen jeder Art, bleibt offen, welcher ontologische Status dem Leben zukommt. Entsprechend verschiebt sich der logische Status des Begriffs. Obwohl Simmel mit aller wünschenswerten Klarheit den rekursiven Charakter des sozialen Lebens als sich selbst erschaffendes System herausarbeitet, für die Bestimmung des Lebens als Reflexionsbegriff fehlt auch ihm das logische Instrumentarium. Aber immerhin wird soviel deutlich: Gesellschaft und Geschichte sind sich selbst beschreibende Prozesse, sie erzeugen selbst den Text, der sie lesbar macht. Die Operationalisierung des Lebensbegriffs erreicht in Simmels Spätwerk, Lebensanschauung, ihren Höhepunkt.21 Im Bereich der Ethik operiert Simmel mit der Opposition von »Mehr Leben« und »Mehr-als-Leben«. Ersteres steht für die Grenzenlosigkeit des menschlichen Machtstrebens, letzteres für die Geltungsansprüche, die aus der Dynamik des Lebens selbst entspringen. So wird das Sollen zu einer eigenen Wissensform, die zur metaphysischen Dimension des Lebens gehört. Was Simmel unter »Metaphysik« versteht, hat allerdings nur noch wenig mit der antiken Ontologie zu tun. Der Weg vom Substanz- zum Funktionsbegriff läßt sich nicht mehr umkehren. Aber nicht alles ist Funktion im pragmatischen Sinne. Das Wissen des Lebens von sich selbst steht für die Repräsentation sozialer Prozesse, die der Logik der Wechselwirkung unterliegen. Simmel hat die hier liegenden semantischen Probleme wohl gesehen (zuletzt in einer Anmerkung zu Der Konflikt der modernen Kultur von 1918, wo er die Unvermeidlichkeit »einer gewissen Unschärfe, logischen Undeutlichkeit« des Ausdrucks »Leben« konstatiert),22 was ihn dazu führt, Leben als »unbegründeten Grundbegriff« zu bezeichnen. Aber anders als Ludwig Wittgenstein hat ihn das nicht dazu veranlaßt, den Philosophen Schweigen zu gebieten. Immerhin hat auch Wittgenstein später in seinen Philosophischen Untersuchungen das Schweigen gebrochen und die Idee intensionaler Logiken in Form einer Sprachkritik ausgeführt, die in Wahrheit eine ästhetische Theorie ist.23

VII. »Gelebte Philosophie« Mit den drei Erkenntnisformen Verstehen, Intuition und Wechselwirkung hat die Lebensphilosophie um 1900 in Dilthey, Bergson und Simmel ihren Höhepunkt erreicht. Parallel dazu hat der Lebensbegriff bei populärwissenschaftlichen Au-

G. Simmel: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel (München, Leipzig 1918). G. Simmel: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. von Michael Landmann (Frankfurt a.M. 1968) 172. 23 Kai Buchholz: Ludwig Wittgenstein (Frankfurt a.M., New York 2006) 81–100. 21 22

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toren eine zentrale Rolle gespielt. Hier ist insbesondere das Werk Rudolf Eukkens zu nennen, der in Der Sinn und Wert des Lebens (1913) und Erkennen und Leben (1912) den werttheoretischen sowie den erkenntnistheoretischen Aspekt des Begriffs zu einer neuidealistischen Weltanschauungsphilosophie verbunden hat. Leben als »Beisichselbstsein« und als »Selbsterkennen« steht für den Protest gegen die rationalistische Entzauberung der Welt.24 Der Aufstand des Vitalen gegen das mechanistische Weltbild hat »Leben« zum kulturellen Leitbegriff gemacht, der das jugendbewegte Selbstverständnis einer ganzen Epoche um 1900 artikuliert. Nach der Zäsur des Ersten Weltkriegs hat die Lebensphilosophie ihre Vormachtstellung verloren und ist zum Teil ideologisch geworden, was zur Diskreditierung des Lebensbegriffs geführt hat. Daran konnte auch das monumentale Werk von Ludwig Klages nichts ändern, der im Anschluß an Goethe Leben als Polarität deutet und daraus bedeutsame erkenntnispsychologische und kulturanthropologische Einsichten gewinnt. Die Wirkung von Klages ist eher verdeckt über Erich Rothacker erfolgt, an den Jürgen Habermas wie Hans Blumenberg anschließen.25 Als offizieller Erbe ist Martin Heidegger angetreten, der die Lebensphilosophie in Existenzphilosophie transformiert hat.26 In welchen Formen der Lebensbegriff in den philosophischen Strömungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitergelebt hat, will ich hier nicht im einzelnen untersuchen. Aber ich möchte doch deutlich machen, wie der Lebensbegriff das Profil des modernen Philosophierens insgesamt verändert hat. Das zeigt sich an der Krise des klassischen Repräsentationsparadigmas in der Erkenntnistheorie, an der Rehabilitierung materialer Wertethiken gegenüber dem normativen Universalismus und nicht zuletzt an der Entgrenzung der ästhetischen Erfahrung im Hinblick auf ihren Sitz im Leben. Allgemein läßt sich feststellen: Das allgegenwärtige Erbe der Lebensphilosophie liegt in der Wende zur Lebenswelt, mit der die Philosophie den metaphysischen Standpunkt der Letztbegründung aufgegeben hat. Ihr absoluter Wahrheitsanspruch ist hinter die Manifestationen des Lebens, hinter die Lebensformen und ihre mehrwertigen sprachlichen oder bildlichen Ausdrücke zurückgetreten. Was aus der Sicht der Philosophie als strenger Wissenschaft als Relativismus angeprangert wurde, hat einen neuen Stil der philosophischen Reflexion erzeugt. Aus der Lebensphilosophie ist »gelebte Philosophie« geworden. Umgekehrt ist nicht zu übersehen, daß das anfängliche Lebenspathos seine Berechtigung verloren hat. Bis in die 1920er Jahre hinein steht ›Leben‹ für Ursprünglichkeit der Erfahrung und Anschaulichkeit des Wissens, deren Ersatz

Rudolf Eucken: Lebenserinnerungen (Leipzig 1922) 70–77. F. Fellmann: Gelebte Philosophie in Deutschland (Freiburg, München 1983). 26 Michael Großheim (Hg.): Perspektiven der Lebensphilosophie. Zum 125. Geburtstag von Ludwig Klages (Bonn 1999); Georg Misch: Lebensphilosophie und Phänomenologie (Leipzig, Berlin 1931). 24 25

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durch Symbolisierung und Technisierung der Welt beklagt wird.27 Die Entzauberung der Welt, ihre Verwandlung in ›Beziehungswelten‹ erzeuge, so die Befürchtung der Lebensphilosophen, eine ›innere Leere‹, die nur durch Rückkehr zur Erfahrung in authentischen Lebensformen überwunden werden könne. Dagegen zeigt sich heute, daß die Dämonisierung der Technik eine Verengung war, die durch die Entwicklung der Technik selbst aufgehoben worden ist. Solange Technik mit Mechanik identifiziert wurde, war die Opposition verständlich. Aber schon die Entdeckung der Einheit von Funktion und Form hat die ästhetische Evidenz technischer Gebilde hervortreten lassen. Mit den modernen Informationstechniken hat sich das Bild noch einmal verschoben: Die Transformation der Bedeutungen in Relationen hat die fundamentale Identität von Denken und Leben aufgedeckt. Seitdem gehört die Technik als symbolische Form zur modernen Lebenswirklichkeit. Die funktionalistische Explikation des Lebens, seine Transformation in sich selbst tragende Symbolsysteme hat zu einem integralen Lebensdiskurs geführt, der ohne die Vorarbeit der Lebensphilosophie nicht denkbar wäre. Aussagen werden nicht mehr primär an ihrem Wahrheitswert gemessen, sondern daran, wie aufschlußreich sie für das phänomenale Bewußtsein sind. Damit aber bekommt der Stil erkenntnisleitende Bedeutung, so daß Logik und Ästhetik sich als komplementäre Erkenntnisformen ergänzen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Wittgensteins Tractatus, dessen epochale Wirkung nicht zuletzt auf seiner ästhetischen Dimension beruht.28 Der tiefere Grund dafür aber liegt in der Affinität zur Lebensphilosophie, die Wittgenstein von Schopenhauer übernommen hat. Das Unaussprechliche, so Wittgenstein, sei das Mystische – aber, so ließe sich korrigierend ergänzen, es zeigt sich im Metaphorischen.29 In diesem Sinne gehört zum Erbe der Lebensphilosophie auch Nietzsches Programm einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt, die der Philosophie auch heute mehr am Herzen liegt als das Streben nach epistemischer Rechtfertigung von Überzeugungen.

VIII. Leben als absolute Metapher Der Gestaltwandel des modernen und postmodernen Philosophierens als Folge des transzendentalen Lebensbegriffs tritt noch deutlicher hervor, wenn sein logischer Status als Reflexionsbegriff durch den semantischen Status ergänzt und präzisiert wird. Vorbild für die Semantik ist die von der modernen Biologie ausgehende Bestimmung des Lebendigen als autopoetisches System, das in re-

Christian Möckel: Anschaulichkeit des Wissens und kulturelle Sinnstiftung (Berlin 2003). Sagen und Zeigen. Wittgensteins »Tractatus«, Sprache und Kunst, hg. von Chris Bezzel (Berlin 2005). 29 Ulrich Arnswald [u. a.] (Hg.): Wittgenstein und die Metapher (Berlin 2004). 27 28

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kursiver Form die Organisation seiner selbst reproduziert. Sprachliche Systeme erzeugen ihre eigene Grammatik und ihre eigene Metasprache. So läßt sich Leben auf allen Ebenen als Selbstverhältnis beschreiben: Selbsterhaltung, Selbstbewegung, Selbstartikulation und Selbstreferenz bezeichnen Isomorphien des Lebendigen auf verschiedenen Stufen. Damit ist ein Modell für die Übertragung des Begriffs auf andere Bereiche gegeben: Vernunft als Leben, Erkenntnis als Leben, Bewußtsein als Leben. Hier handelt es sich um Deutungen oder Interpretationen von epistemischen Sachverhalten, die sich auch anders beschreiben lassen und traditionell auch anders beschrieben worden sind. Aber das ›als Leben‹ bringt nicht nur eine neue Deutung, es legt eine andere Wirklichkeit frei. Auch der vieldeutige Begriff ›Repräsentation‹ wird durch das Paradigma der Selbstreferenz gehaltvoller. Denn es werden strukturell-funktionale Eigenschaften sichtbar, die einer streng substantialistischen Sichtweise verborgen bleiben. Die systemtheoretische Denkform der Selbstreferenz bestätigt die immanente Teleologie des Lebens, die den Begriff unbegrenzt anschlußfähig macht. In semantischer Hinsicht nimmt ›Leben‹ eine Sonderstellung unter den philosophischen Grundbegriffen ein. Zu den Reflexionsbegriffen im Sinne Kants gehört das Moment der Vergleichung. Das trifft auch auf die Metapher zu, die in der Rhetorik als abgekürzter Vergleich betrachtet wird. In diesem Sinne bekommt der Reflexionsbegriff den semantischen Status einer Metapher. Dabei geht es allerdings nicht nur um Veranschaulichung von abstrakten Begriffen, sondern auch um eine Erweiterung des logischen Raums. Das wird erst klar, wenn man über die gängige Vergleichstheorie der Metapher hinausgeht und die von Max Black entwickelte Interaktionstheorie zugrunde legt.30 Ihr zufolge tritt durch eine metaphorische Kennzeichnung ein Vorstellungskomplex mit einem anderen in semantische Wechselwirkung, so daß ein neues Bedeutungsfeld entsteht, das sich nicht auf eine bloße Addition der Eigenschaften beider Seiten beschränkt. Ein Grenzfall der metaphorischen Interaktionstheorie liegt vor, wenn Ausdrücke in Analogie zur Selbstorganisation auf sich selbst referieren. In diesem Fall kann man von »absoluter Metapher« sprechen. Selbstreferenz oder Selbstbezeichnung im semantischen Sinne wird in der modernen Logik im Rahmen der Antinomien-Problematik diskutiert. Ihre Anwendung auf die Theorie der Metapher aber ist, soweit ich sehe, bisher nicht erfolgt. Durch die Lebensmetapher verändert sich sowohl unsere Vorstellung von Erkenntnis- als auch von Lebensvollzügen. Aber das ist noch nicht alles: ›Leben‹ wird durch Selbstreferenz zur Metapher seiner selbst. Es ist das Verdienst von Christian Bermes, die Metaphorik des Lebens auf verschiedenen Ebenen der Selbstorganisation herausgearbeitet zu haben.31 Die metaphorische Rekursivi-

30 Max Black: Die Metapher (1954). In: Theorie der Metapher, hg. von Anselm Haverkamp (Darmstadt 1996) 55–79. 31 Ch. Bermes: Leben. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern, hg. von Ralf Konersmann (Darmstadt 2007) 188–195.

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tät ist nicht gleichbedeutend mit postmoderner Flucht aus der Kategorie. Sie besagt lediglich, daß die Bedeutungen der Referenzen eines Ausdrucks nicht festgelegt sein müssen, so daß Selbstapplikation von Prädikaten sinnvoll sein kann. In der Selbstreferenz liegt die Paradoxie der Lebensmetapher, tautologisch und bedeutsam zugleich zu sein. Das gilt nicht nur in theoretischen Kontexten, wo ›Leben‹ als Chiffre für die Vorgänge des Lebendigseins gebraucht wird, es gilt auch und besonders für die moralische Verwendung: »So ist das Leben«. In anthropologischer Hinsicht fungiert ›Leben‹ als Daseinsmetapher, durch die der Mensch als das sich selbst unbekannte Wesen sich mit sich selbst verständigt.32 Die Totalität des von den Lebensphilosophen evozierten ›Gesamtlebens‹ ist die der dichten Beziehungen und Vernetzungen, die keinen Raum für »metaphysische Obdachlosigkeit« läßt. Im Gegenteil: Die ›großen Fragen‹: woher wir kommen und wohin wir gehen, finden heute ihre Antwort in der Form innerer Relationen zwischen den Äußerungen, von denen der moderne Mensch in seinem Selbstverständnis abhängt. Die Artikulation des Selbstverständnisses ist Aufgabe der Philosophie, die damit die Arbeit der Wissenschaften noch einmal macht. Das wiederholt sich auf einer Metaebene für die Philosophien selbst. Ihre Systeme fungieren ungeachtet ihrer Geltungsansprüche als Elemente des kulturellen Diskurses, in dem der Mensch sich selbst begegnet. Im Medium der Metaphorik ist das moderne Leben permanent mit seiner Selbstdarstellung beschäftigt. Darin liegt eine mediale Vervielfältigung des Lebens, die der realen Reproduktion an Produktivität überlegen ist. Leben heißt metaphorisieren, und in der Zirkulation der Zeichen werden Form und Materie eins. Damit gewinnt das Philosophieren eine neue Stufe der Reflexion: »Metaphorologie« statt Metaphysik.33 Darin liegt der epochale Stilwandel des modernen Denkens: Beschreibung statt Begründung, Geschichten statt System, Stil statt Wahrheit. In diesem Sinne hat das Leben die Theorie eingeholt. Die »Zerstörung der Vernunft«, die der Lebensphilosophie vorgeworfen wurde, der noch heute gängige Irrationalismusvorwurf, erweist sich als Befreiung von überzogenen epistemischen Geltungsansprüchen und als Bestätigung der Fallibilität philosophischer Theorien. All das verdankt das ›Projekt der Moderne‹ den scheinbar rückwärtsgewandten lebensphilosophischen Wissensformen. Zwar ist ›Leben‹ als expliziter Terminus aus den gegenwärtigen philosophischen Theorien weitgehend verschwunden, aber gleichsam inkognito wirkt er als absolute Metapher auch dort weiter, wo die lebensweltliche Erfahrung in Sprachhandlungen oder in Informationsverarbeitung aufgelöst wird. Die Metaphorizität des Begriffs ist nach meiner Überzeugung symptomatisch für den Zustand des gegenwärtigen Philosophierens. Er wird historisch nur verständlich als Fortsetzung der Lebensphilosophie auf einem höheren ReflexionsH. Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigmen einer Daseinsmetapher (Frankfurt a.M. 1979). 33 H. Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie (Frankfurt a.M. 1998). 32

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Ferdinand Fellmann

niveau. Ich möchte geradezu von »Aufhebung« der Theorie durch das sich selbst beschreibende Leben sprechen. Pointiert formuliert: Wer das Leben verstanden hat, der braucht keine Philosophie mehr, jedenfalls keine Philosophie als »Grundwissenschaft«, sondern allenfalls Philosophie als Selbstprädikation der Wirklichkeiten, in denen wir leben. Eine explizite Rehabilitierung der Lebensphilosophie im engeren Sinne dürfte daher kaum zu erwarten und auch nicht mehr nötig sein.34 Vielmehr ist Philosophie nach der Lebensphilosophie auf ganzer Linie zur Metaphorologie geworden. In dieser Form gehören Wirklichkeit und Fiktion zusammen. Das Fiktionale hat eine andere Evidenz als die Fakten, ohne daß die brutale Faktizität des Lebens damit geleugnet würde. Diese wird durch den logischen Kunstgriff der Selbstreferenz für den Menschen in einer Form erträglich gemacht, die allein dem Lebensdiskurs gelingt. So liegt der Sieg des philosophischen Lebensbegriffs in seiner metaphorischen Aufhebung.

Jürgen Große: Revitalisierung der Lebensphilosophie? In: Philosophische Rundschau 53 (2006) 12–33 und 108–129. 34

Käte Meyer-Drawe

Leib, Körper

Die Leiblichkeit der konkreten menschlichen Existenz stand in der okzidentalen Tradition nicht in Frage. Probleme ergaben und ergeben sich dann, wenn man die Relevanz des Leibes für das Erkennen oder für personale Selbstdeutungen des Menschen überdenkt.1 Immer wieder gerät dabei der vergängliche Leib in den Verdacht, reine Erkenntnis zu behindern. Er ist zahlreichen Unwägbarkeiten ausgesetzt und verursacht, daß wir nicht nur durch Lust sowie Unlust bestimmt sind, sondern unser Leben durch Krankheit und Tod begrenzt wird. Der Leib begründet unsere sinnliche Existenz und damit das unvermeidliche Risiko, getäuscht zu werden. In seinem radikalen Zweifelsgang mußte René Descartes deshalb unsere Wahrnehmungen als Erkenntnismöglichkeiten verwerfen. Mit seinem Programm, menschliches Erkennen rein aus sich heraus zu begründen, stößt er auf einen Grund, der im Denken selbst liegt. Nicht die leibliche Existenz ist ein mögliches fundamentum inconcussum, sondern daß wir auch und vor allem res cogitans sind. Mit seiner Differenzierung von res cogitans und res extensa leitet er nicht nur das Schicksal des Körpers als bloßes Objekt wissenschaftlichen Forschens ein, er provoziert gleichzeitig manchen Versuch zur Neubestimmung der Leiblichkeit. Nach Friedrich Nietzsche gaukelt uns unser Geist nur vor, unser Eigentliches zu sein, obwohl er in Wirklichkeit »ein kleines Werk- und Spielzeug« der »grossen Vernunft«, nämlich des Leibes ist.2 Seine eigene Philosophie, die sich »am Leitfaden des Leibes«3 orientiert, hat vor allem französischen Philosophen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Impulse geliefert. So vollzieht Michel Foucault Nietzsches Umkehr der platonischen Überlieferung mit, indem er die Seele als Gefängnis des Leibes identifiziert.4 In dieser Umstellung der Prioritäten büßt auch das moderne Subjekt seine Vorrechte ein. Mit der Anerkennung seiner Leiblichkeit wird das denkende Ich aus dem Mittelpunkt der Sinnstiftung gerückt. Stattdessen fällt ein Licht auf die Grenzen seiner Verfügung. Weder seine Welt noch seine Mitmenschen, aber auch nicht er selbst sind dem Menschen in vollständiger Klarheit und DeutlichVgl. Volker Schürmann: Die Bedeutung der Körper. Literatur zur Körper-Debatte – Eine Auswahl in systematischer Absicht. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 28.1 (2003) 50– 69. 2 Vgl. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 4 (München 1988) 39. 3 F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1884–1885. Kritische Studienausgabe, a. a.O. [Anm. 2] Bd. 11, 565. 4 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (Frankfurt a.M. 1977) 42 [Surveiller et punir. Naissance de la prison (Paris 1975) 34]. 1

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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keit gegeben. Seine Leiblichkeit verursacht infolgedessen eine unhintergehbare Fremdheit, die jedes Verstehen zugleich ermöglicht und behindert. Die Frage nach dem Leib gehört zum Kern der phänomenologischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Sie zielt in ihrer Auseinandersetzung mit den Grenzen wissenschaftlicher Objektivierungen des Körpers auf die grundsätzliche Problematik des Leib-Seele-Dualismus. Dabei scheiden sich die Wege in der Beantwortung. Für Edmund Husserl ist das Bewußtsein das Zentrum der Sinnstiftung.5 In seinem Bemühen, an die letzten Gründe unseres Erkennens zu gelangen, stößt er allerdings immer wieder auf den Widerstand des Leibes. Sowohl in der Klärung der Konstitution des Sinns der Dinge6 als auch bei der Analyse der Fremderfahrung7 spielt unser Leib eine wichtige Rolle. Auf der einen Seite gehört er der Dingwelt an, aber auf der anderen Seite ist er mir selbst näher als jeder andere Gegenstand. Diese Doppelexistenz wird in der Tasterfahrung sinnfällig. Dennoch bleibt die Frage nach der geistigen Formung des Materiellen, also das Problem einer sinnlichen Gebung, virulent. Der Leib trägt »den Nullpunkt aller Orientierungen in sich«.8 Er fungiert dergestalt als »Nullerscheinung« im Unterschied zu Außenkörpern.9 Auch hier zeigt sich bei näherem Hinsehen seine Sonderstellung. Während er mir ermöglicht, zu allen Dingen meiner Umwelt meine Stellung zu verändern, gelingt dies nicht im Hinblick auf ihn selbst. »Derselbe Leib, der mir als Mittel aller Wahrnehmung dient, steht mir bei der Wahrnehmung seiner selbst im Wege und ist ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding.«10 Husserls Anspruch auf Letztbegründung läßt es nicht zu, daß die Selbstgegebenheit des Bewußtseins getrübt wird. Selbst wenn er von einer »Seinsanmutung der Gegenstände« spricht11, bleibt ihm der

Theodor W. Adorno setzt sich in seiner Dissertation Die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie und den überarbeiteten Manuskripten aus den Emigrationsjahren in Oxford Zur Metakritik der Erkenntnis intensiv mit Husserls Phänomenologie auseinander, indem er vor allem die dominante Rolle des Bewußtseins kritisiert. Im Lichte dieser Kritik zeigt sich die eminente Bedeutung der Dinge, aber auch der Materialität der menschlichen Existenz. Wenngleich insbesondere der leidende Leib im Rahmen von Adornos Überlegungen Beachtung findet, unterbleibt eine eigene Thematisierung. Vgl. K. MeyerDrawe: Der Leib – »ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding«. In: Phänomenologie im Widerstreit. Zum 50. Todestag Edmund Husserls, hg. von Christoph Jamme und Otto Pöggeler (Frankfurt a.M. 1989) 291–306. 6 Vgl. E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Bd. 2: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Husserliana Bd. 4 (Den Haag 1952). 7 Vgl. E. Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Husserliana Bd. 1 (Dordrecht, Boston, London 21963) 121 ff. 8 E. Husserl, a. a.O. [Anm. 6] 158. 9 Vgl. E. Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Husserliana Bd. 14 (Den Haag 1973) 510 ff. 10 E. Husserl, a. a.O. [Anm. 6] 159. 11 Vgl. E. Husserl: Analysen zur passiven Synthesis. Husserliana Bd. 11 (Den Haag 1966) 42. 5

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Leib als Umschlagspunkt zwischen kausalem und intentionalem Geschehen, gleichsam zwischen Natur und Sinn, rätselhaft. Diese ungeklärte Lage zeigt sich auch in der Analyse der Fremderfahrung. Dem eigenen Leib kommt in der Begegnung mit anderen aufgrund seiner Originalität ein Vorrang zu, wenngleich Husserl bemerkt, daß »der fremde Mensch konstitutiv der an sich erste Mensch« ist.12 Leibkörper führen nach ihm ein beunruhigendes Doppelleben: Der Andere ist mir in leibhaftiger Gegenwart gegeben, allerdings nicht in vollständiger Präsenz. Er ist mir nur durch eine »Art Kompräsenz«, eine »Art Analogie« in einer Art »paarenden Assoziation« zugänglich.13 Husserl hatte mit seinen Analysen des Leibes, die sein ganzes Werk durchziehen, zwar keine konsistente Lösung gefunden, aber doch entscheidende Problemstellungen entfaltet, die in seiner Nachfolge aufgegriffen wurden. Anknüpfungspunkte liefern die Fragen nach der Erfahrung des Fremden und des eigenen Ich, aber auch die nach der Gegebenheit der dinglichen Welt, also grundsätzlich nach der Verflechtung von Konstituierendem und Konstituiertem. Das beunruhigende Motiv zeigt sich durchgehend darin, daß der Leib zwar eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung ist, er selbst aber zugleich einer vollständig transparenten Erkenntnis entgegensteht, weil er gegen seine Transformation in ein bloßes Noema Widerstand leistet. Während für Husserl der Leib eine ständige Irritation auf dem Wege zu einer transzendentalen Phänomenologie bedeutete, räumt Martin Heidegger ihm zwar eine »grundlegende Bedeutung« ein14 und würdigt ihn als »das schwierigste Problem«,15 widmet ihm aber keine zusammenhängenden systematischen Untersuchungen. Dabei beschäftigt ihn nicht nur in seiner phänomenologischen Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft das Verständnis von Anschauung, »in der mir etwas leibhaftig als es selbst vor-gestellt wird«,16 sondern überhaupt die Frage nach dem »unverstellten Anwesen des Dinges«, in dem uns »die Dinge, ganz wörtlich genommen, auf den Leib« rücken.17 Eugen Fink, der als Husserl-Schüler in kritischer Nachbarschaft zu Heidegger stand, arbeitet mit letzterem in der Interpretation von Heraklit heraus, daß unsere Leibhaftigkeit die dunkle Seite unserer Existenz bedeutet, die allererst von der Seite des Lichts her ansprechbar ist.18 Wenngleich nicht eigens als Thema entfaltet, durchzieht die Bedeutung unserer Leiblichkeit seine Philosophie der ›Coexistenz‹: »Unser Leben in der menschlichen Gemeinschaft ist in einem weiten Ausmaße mitbeE. Husserl, a. a.O. [Anm. 7] 153. Ebd. 149. 14 M. Heidegger: Zur Bestimmung der Philosophie. Gesamtausgabe Bd. 56/57 (Frankfurt a.M. 1987) 210. 15 M. Heidegger: Seminare. Gesamtausgabe Bd. 15 (Frankfurt a.M. 1986) 236. 16 M. Heidegger: Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft. Gesamtausgabe Bd. 25 (Frankfurt a.M. 1977) 85. 17 M. Heidegger: Holzwege. Gesamtausgabe Bd. 5 (Frankfurt a.M. 1977) 10. 18 Vgl. E. Fink. In: M. Heidegger, a. a.O. [Anm. 15] 234 f. 12 13

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stimmt durch die Art, wie uns eigene und fremde Leiblichkeit – und dies eben nicht nur als tierische Organisation – offen ist.«19 In nächster Nähe zu Husserl entfalten Edith Stein und Ludwig Landgrebe die Frage nach dem Leib. Von zentraler Bedeutung sind für sie Husserls Konstitutionsanalysen der Ideen II. Stein bringt ihre Phänomenologie durch die »Frage nach der Einfühlung«20 auf den Weg. Sie folgt Husserls Denken in strenger Treue und gelangt zu einer Auffassung von Person, die aufgrund der Leiblichkeit der Existenz doppeldeutig zu verstehen ist, nämlich als vom Leib getragen, der wiederum durch die Seele geformt wird. Ihre Sozialphänomenologie bleibt in der Suche nach einer »Seele im eigentlichsten Sinne«,21 in der diese Zwiefalt versöhnt ist, belastet mit metaphysischen Reminiszenzen, die einen vollen Durchbruch zur konstitutiven Bedeutung der Leiblichkeit behindern, wenngleich sie erkennt, daß wir in unserem Leib wohnen und nicht nur ein reines, sondern auch ein leibliches Ich sind.22 Landgrebe widmet sich besonders der kinästhetischen Dimension unserer Erfahrung, in der sich unser Können und Erkennen verknüpfen. Er schließt sich Husserl in der Überzeugung an, daß unser Leib »absolute[r] Nullpunkt in dem Koordinatensystem [ist], in dem ein Jeder Erfahrung von seiner Welt erlangt, die er aber damit zugleich als die Welt aller Anderen erfährt«.23 Sein Augenmerk liegt deshalb auf der konstituierenden Bedeutung unserer fungierenden Leiblichkeit. »Sie ist ein System von Vermöglichkeiten, dem die jeweiligen Sinnesfelder zugeordnet sind, und gehört als solche zur transzendentalen Subjektivität.«24 Der Leib ist nach ihm eine präreflexive Öffnung zur Welt, die durch Reflexion niemals vollständig eingeholt werden kann. In diesem Sinne bedeutet unser Leib den »dunklen Untergrund« unserer »geistig-personalen Subjektivität«.25 Deutlicher als Husserl betont Landgrebe damit die praktischen Möglichkeiten des »Ich kann«, also eine eigentümliche Aktivität der Sinnlichkeit, »eine[r] Spontaneität, die nicht Spontaneität des Denkens ist«.26 Max Scheler unterwirft Theorien der Einfühlung vom Standpunkt der Leiblichkeit einer grundsätzlichen Kritik.27 Die Bindung der Gefühle und Empfin-

E. Fink: Existenz und Coexistenz. Grundprobleme der menschlichen Gemeinschaft (Würzburg 1987) 157. 20 E. Stein: Zum Problem der Einfühlung (München 1980). 21 E. Stein: Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins (Louvain, Freiburg 1950) 344. 22 Vgl. ebd. 339. 23 L. Landgrebe: Faktizität und Individuation. Studien zu den Grundfragen der Phänomenologie (Hamburg 1982) 68. 24 Ebd. 82. 25 L. Landgrebe: Die Phänomenologie der Leiblichkeit und das Problem der Materie. In: ders. (Hg.): Beispiele. Festschrift für Eugen Fink (Den Haag 1965) 291–305, hier: 300. 26 Ebd. 302. 27 Vgl. M. Scheler: Wesen und Formen der Sympathie. Gesammelte Werke, Bd. 7 (Bern 61973) 244 f. 19

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dungen an den Leib setzen dem Fremdverstehen auch Grenzen: Da der Mensch nur in seinen eigenen Leibzuständen lebt, bleibt ihm das seelische Erleben des Anderen letztlich verschlossen.28 Scheler unterscheidet den Leib von der Person, die nicht als Gegebenes existiert. In äußerer Anschauung ist uns unser Leib als Leibkörper gegeben, in innerer Anschauung als Leibseele.29 Beide Anschauungen finden zwar in unserem Leibbewußtsein zusammen, allerdings im Rahmen einer metaphysischen Rangordnung von Geist und Leben zugunsten eines fleischlosen Geistes.30 Aron Gurwitsch würdigt Schelers Kritik an Konzeptionen, welche die Fremderfahrung im Sinne eines Analogieschlusses oder der Einfühlung interpretieren, und setzt wie dieser die unmittelbare Wahrnehmung des Fremdseelischen im Ausdruck dagegen. Aber selbst wenn Ausdrucksphänomene das Problem des Zugangs zum Mitmenschen im einzelnen lösen, bleiben sie auf die unmittelbare Begegnung beschränkt und klären somit nur einen kleinen Ausschnitt der gemeinsamen Milieuwelt.31 Seine Wahrnehmungstheorie siedelt er im Umkreis von Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie an, distanziert sich allerdings von dieser dadurch, daß er auch die Erfahrungen des Leibes nur als reflektierte, also als Noemata, für zugänglich hält. »Wie wichtig auch immer die Eigenbewegungen und die leiblichen Phänomene im allgemeinen (z. B. die Kinästhesen) für die Konstitution der wahrnehmbaren Dinge sein mögen, so darf man, auf streng phänomenologischer Grundlage, die leiblichen Phänomene nur als erfahrene leibliche Phänomene in Anspruch nehmen.«32 Gurwitsch hält das Konzept einer fungierenden Intentionalität, das Merleau-Ponty von Fink übernimmt, für einen Verstoß gegen den Primat des Bewußtseins, der nach ihm unhintergehbar ist.33 Sein langjähriger Briefpartner Alfred Schütz teilt mit ihm die Skepsis gegenüber einer »passiven Bewußtseinsleistung«, von der er argwöhnt, daß sie ein »hölzernes Eisen« bedeute.34 Schütz räumt den leiblichen Erfahrungen in seiner Sozialphänomenologie zwar eine gewisse Bedeutung ein, bleibt aber zweifelnd im Hinblick auf ein anonymes Bewußtseinsfeld. In der reflexiven Zuwendung »mache ich meine vorhergegangenen Gedanken und Handlungen zu Gegenständen eines anderen, nämlich reflektiven Denkens, durch das ich sie erfasse.

Vgl. ebd. 249. Vgl. M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Gesammelte Werke, Bd. 2 (Bern, München 51966) 399. 30 Vgl. M. Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos. Gesammelte Werke, Bd. 9 (Bern, München 1976) 62. 31 Vgl. A. Gurwitsch: Die mitmenschlichen Begegnungen in der Milieuwelt (Berlin, New York 1977) 46 f. 32 A. Gurwitsch: Das Bewußtseinsfeld (Berlin, New York 1975) 246. 33 Vgl. A. Gurwitsch: Bemerkungen zu den Referaten der Herren Patočka, Landgrebe und Chisholm. In: Akten des XIV. Internationalen Kongresses für Philosophie. Wien 2.–9. September 1968 (Wien 1968–71) 209–214, hier: 210. 34 A. Schütz, A. Gurwitsch: Briefwechsel 1939–1959 (München 1985) 440. 28 29

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Mein ›Selbst‹, das bis dahin durch die Gegenstände meiner Handlungen und Gedanken verborgen war, tritt jetzt hervor. Es tritt jedoch nicht etwa in das Bewußtseinsfeld ein, indem es am Horizont oder in dessen Mittelpunkt erscheint: vielmehr konstituiert allein das Selbst das Bewußtseinsfeld.«35 Leibbewegungen sind bezogen auf ein Handeln, das als Ausdrucksfeld von nachgeordneter Bedeutung ist. Zentral bleibt das aktive Zugreifen des Bewußtseins.36 Im Unterschied zu Gurwitsch und Schütz schließt sich Jan Patoka ausdrücklich Merleau-Pontys Revision der Husserlschen Phänomenologie an.37 Gegen Heidegger wendet er kritisch ein: »Der Leib und die Leiblichkeit gehören wesentlich nicht nur zu dem, was enthüllt wird durch das erhellte, erschlossene Seiende in seinem In-der-Welt-Sein, sondern zum ontologischen Status der Existenz selbst.«38 Wenngleich er Jean-Paul Sartres ungemeine Begabung für die konkrete Phänomenbeschreibung bewundert,39 gibt er zu bedenken, daß die Kategorien des »an sich« oder »für sich« der Ambiguität unserer Leiblichkeit nicht gerecht werden.40 Nach Patoka führt kein Weg von einem reinen Ich zu seiner Welt. »Was phänomenal da ist, wäre umgekehrt das gewichtige Faktum, daß nicht wir, sondern das phänomenale Sein uns zu bedeuten gibt, was für Möglichkeiten unseres eigenen Seins da sind.«41 Sartre ist in seiner phänomenologischen Ontologie beeinflußt von Husserls Ideen I und von Heideggers Daseinsanalyse. Das Grundmuster seines Denkens bleibt der cartesische Dualismus, den er mit Hilfe von Hegelschen Motiven vermittelt. Dementsprechend kommt unser Leib zunächst in zwei Weisen vor, nämlich als Für-sich-sein (le corps comme être-pour-soi)42 und als der Körperfür-andere (le corps pour autrui)43. »Das Für-sich-sein muß ganz Körper und ganz Bewußtsein sein: Es kann nicht mit einem Körper vereinigt sein. Ebenso ist das Für-Andere-sein ganz Körper; es gibt da keine mit dem Körper zu vereinigenden ›psychischen Phänomene‹; es gibt nichts hinter dem Körper, sondern der

35 A. Schütz: Gesammelte Aufsätze, Bd. 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit (Den Haag 1971) 195. 36 Vgl. A. Schütz, Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Bd. 2 (Frankfurt a.M. 1984) 30. 37 Vgl. J. Patoka: Die Kritik des psychologischen Objektivismus und das Problem der phänomenologischen Psychologie bei Sartre und Merleau-Ponty. In: Akten …, a. a.O. [Anm. 33] 175–184, hier: 181 ff. 38 J. Patoka: Die natürliche Welt als philosophisches Problem. Ausgewählte Schriften. Phänomenologische Schriften I (Stuttgart 1991) 232. 39 Vgl. ebd. 179. 40 Vgl. J. Patoka: Die Bewegung der menschlichen Existenz. Ausgewählte Schriften. Phänomenologische Schriften II (Stuttgart 1991) 250. 41 Ebd. 307. 42 J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts (Reinbek bei Hamburg 1993) 543 ff. [L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique (Paris 1943) 353 et suiv.]. 43 Ebd. 598 ff. [388 et suiv.].

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Körper ist ganz und gar ›psychisch‹.«44 Mein Auftauchen in der Welt bringt die Ordnung der Dinge in ihrer notwendigen Existenz hervor. Der Für-sich-Körper ist kein Gegebenes, das erkannt werden könnte. Er ist die »kontingente Form der Notwendigkeit meiner Kontingenz«.45 Sartre gebraucht das Verb »existieren« im transitiven Sinne, um den Körper als Struktur des Bewußtseins bestimmen zu können: Daß das Bewußtsein seinen Körper existiert, bedeutet, daß der Körper zwar »das Unbeachtete, das ›mit Stillschweigen Übergangene‹«, aber daß das Bewußtsein nichts anderes als Körper46 und der Körper »das psychische Objekt par excellence« ist.47 Insofern bin ich für den Anderen das Objekt, dem er sich als Subjekt enthüllt. In einer dritten ontologischen Dimension existiere ich »für mich als durch den Andern als Körper erkannt«.48 Die Tatsache, daß mich der Andere anblickt und mir gegenüber Gesichtspunkte einnimmt, die mir radikal entzogen sind, bedeutet eine schockierende Erfahrung, denn obgleich mein Körper Da-sein bedeutet, »entgeht [er] mir nach allen Seiten«.49 Maurice Merleau-Ponty, der eine Zeitlang Weggefährte von Sartre war, bis er zu dessen Kontrahenten wurde, verknüpft in seiner Phänomenologie der Leiblichkeit unterschiedliche Einflüsse. Zentral ist für ihn Husserls Phänomenologie und zu Beginn vor allem die Konstitutionsproblematik der Ideen II. Aber auch Heideggers Daseinsanalysen spielen in modifizierter Weise in seine Philosophie der Erfahrung hinein, die sich grundsätzlich gegen den Primat des Bewußtseins richtet und der Doppeldeutigkeit unserer leiblichen Existenz in vollem Umfang Rechnung tragen will, ohne sie durch ein wie immer geartetes Fundament zu unterlaufen oder in einer letzten Synthese zu vereinen. Diese Bodenlosigkeit erinnert auch an Gabriel Marcels Differenz von »corps que j’ai« und »corps je suis«.50 Marcel, der die phänomenologische Bewegung eher unabsichtlich begleitet, geht davon aus, daß »Dasein […] immer nur inkarniertes Sein« ist.51 Nach Marcel ist die Differenz zwischen Körper und Leib, welche die deutsche

Ebd. 543 [353]. Ebd. 549 [356]. 46 Vgl. ebd. 583 [378]. 47 Vgl. ebd. 612 [396]. 48 Ebd. 619 [401]. 49 Ebd. 620 [402]. 50 G. Marcel: Leibliche Begegnung. Notizen aus einem gemeinsamen Gedankengang. In: Leiblichkeit. Philosophische, gesellschaftliche und therapeutische Perspektiven, hg. von Hilarion Petzold (Paderborn 1986) 15–46, hier: 15. Während das Deutsche die Differenz von Leib und Körper bereithält, das englische »body« den vollen Bedeutungsumfang abdeckt, wird der Leib im Französischen durch ein Adjektiv vom Körper unterschieden, z. B. ›corps phénoménal‹, ›corps vivant‹. Im Französischen kann wiederum ›Fleisch‹ in ›viande‹ und ›chair‹ (im Englischen ›meat‹ und ›flesh‹) differenziert werden. Vgl. Christian Grüny: Quälbare Körper, verwesendes Fleisch. Erfahrungen von Materialität bei Adorno. In: Diesseits des Subjektprinzips. Körper – Sprache – Praxis, hg. von Thomas Bedorf, Stefan A. B. Blank (Magdeburg 2002) 197–209, hier: 205. 51 G. Marcel, a. a.O. [Anm. 50] 16. 44 45

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Sprache zur Verfügung stellt, zwar geeignet, die beiden Seiten unseres leiblichen Existierens festzuhalten, aber sie könnte dazu verleiten, die Verschränkung zu übersehen, die in der »abgründigen Zweideutigkeit der Leiblichkeit« besteht: »indem ich Leib bin, habe ich einen Körper – aber zugleich verfüge ich nur scheinbar über diesen Körper, eben weil ich Leib bin.«52 Leiblich bin ich mir selbst gegeben und zugleich entzogen. Der Leib ist verwickelt mit einer Welt, die ihn durch den »Biß des Realen« verwunden kann.53 Merleau-Ponty widmet sich immer wieder diesem Problem unserer ambiguosen Existenz, die in eins ein reines Bewußtsein undenkbar und die Wahrnehmung unserer Welt möglich macht. »Der Leib vereinigt uns durch seine Ontogenese direkt mit den Dingen, indem er beide Skizzen, aus denen er besteht, seine beiden Lippen verschweißt: die sinnliche Masse, die er selber ist, mit der Masse des Empfindbaren, aus der er durch Ausgliederung hervorgeht und für die er als Sehender offen bleibt. Er ist es, und er allein, […], der uns zu den Dingen selbst zu führen vermag.«54 Mit seiner Philosophie der Leiblichkeit widerstreitet Merleau-Ponty Auffassungen, die dem Leib eine Bedeutung nur dank der Reflexion zubilligen wollen. Unser Leib ist nach ihm »jener Bedeutungskern, der sich wie eine allgemeine Funktion verhält, jedoch existiert und der Krankheit zugänglich ist.«55 Philosophien, die dem Bewußtsein das letzte Wort geben, haben die Welt in eine bloß gedachte, in ein Noema, uns selbst in lediglich Denkende und die Anderen in Undenkbare verwandelt.56 Die Thematisierung der leiblichen Erfahrung kann nach Merleau-Ponty nur dann den Fallen des Cartesianismus entgehen, wenn sie eine dritte Dimension anerkennt, in der sich Natur und Geist durchdringen. Differenzierungen wie die von Körper und Geist entstehen allererst durch den Bruch mit der Lebendigkeit dieses chiasmatischen Vollzugs. In seiner Spätphilosophie ringt er unter dem Stichwort »Fleisch« um die Fassung dieses anonymen Bündnisses von Mensch, Mitmensch und Dingen, dieser vorreflexiven Verflochtenheit, die durch das Denken zerstört wird, wenn es ihr zu nahe kommt. Emmanuel Levinas entfaltet seine Leibkonzeption in enger Verbundenheit zu Merleau-Ponty, befürchtet aber, daß bei diesem die Bedeutung des anderen Menschen nicht in voller Radikalität zum Tragen kommt, weil die Analysen des Vortheoretischen auf das Theoretische bezogen und damit gleichsam im Schatten dessen bleiben, worauf sie sich beziehen.57 Für die Erfahrung des Fremden Ebd. 18. Ebd. 19. 54 M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare (München 1986) 179 [Le visible et l’invisible – suivi de notes de travail (Paris 1964) 179]. 55 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (Berlin 1966) 177 [Phénomémologie de la perception (Paris 1945) 172]. 56 Vgl. M. Merleau-Ponty, a. a.O. [Anm. 54] 61 und 67 [62 et 67]. 57 Vgl. E. Levinas: Über die Intersubjektivität. Anmerkungen zu Merleau-Ponty. In: Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken (München 1986) 48–55, hier: 52. 52 53

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bedeutet dies, daß seine absolute Andersheit, die »unauslöschliche Differenz« in der Begegnung von Leib zu Leib58, zugunsten einer vorgängigen Zwischenleiblichkeit (intercorporéité) übergangen wird. Nach Levinas ist der Leib »weder Hindernis, das der Seele entgegensteht, noch Grab, das sie gefangenhält, vielmehr das, wodurch das Sich die Empfänglichkeit selbst ist«.59 Der Standort des Erkennens wird überschritten zugunsten einer ethischen Beziehung. Levinas denkt das Ausgesetztsein an den Anderen nicht wie Sartre, sondern im Sinne einer »zweideutigen Widrigkeit des Schmerzes«: »Das Für-den-Anderen (oder der Sinn) geht bis zum Durch-den-Anderen, bis zum Leiden durch einen Splitter, der im Fleisch brennt, und zwar vergebens. Nur so bleibt das Für-den-Anderen – Passivität, passiver als alle Passivität, Emphase von Sinn – vor dem Für-Sich bewahrt.«60 Unser Leib ist Empfänglichkeit, Möglichkeit von Schmerz, aber auch Genießen. Die »Besessenheit durch den Nächsten«61 verkörpert die Struktur des »für den Anderen, wider den eigenen Willen, von sich her«.62 Wie MerleauPonty und im Unterschied etwa zu Gurwitsch kritisiert Levinas eine noematische Phänomenologie des Leibes. Das Empfundene empfängt seinen Sinn nicht vom reflektierenden Bewußtsein. Es sprengt die intentionale Struktur: »Gordischer Knoten des Leibes! Die Extremitäten, in denen er beginnt oder endet, sind auf ewig in dem unauflösbaren Knoten verborgen, der in der unfaßbaren Noese seinen eigenen transzendentalen Ursprung beherrscht.«63 Helmuth Plessner rückt die Leiblichkeit des Menschen in das Zentrum seiner philosophischen Anthropologie. Er sucht in ihr nicht die versöhnende Einheit, die allem zugrunde liegt, sondern im Gegenteil: Aufgrund seiner Leiblichkeit existiert der Mensch als ein Doppelwesen. Dem Menschen »ist der Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des Leibes ein unaufhebbarer Doppelaspekt der Existenz, ein wirklicher Bruch seiner Natur. Er lebt diesseits und jenseits des Bruches, als Seele und als Körper und als die psychophysisch neutrale Einheit dieser Sphären.«64 Diese Zusammengehörigkeit vollzieht sich in dem Bruch selbst. Seine »exzentrische Positionalität« zwingt den Menschen, sich unentwegt ins Verhältnis zu seiner eigenen Verhältnishaftigkeit von Leibsein und Körperhaben zu setzen. Unsere Erkenntnis wird durch »unsere am Leib gebrochene Geistigkeit«65 bedingt und kann deshalb niemals vollständig klar und deutlich sein. Plessners Anthropologie steht wie andere Ver-

Vgl. ebd., 53. E. Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (Freiburg, München 1992) 242, Anm. [Autrement qu’être ou au-delà de l’essence (La Haye 21978) 139, note]. 60 Ebd. 122 [64 et suiv.]. 61 Ebd. 132 [70 et suiv.]. 62 Ebd. 133 [71]. 63 Ebd. 174 [97]. 64 H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch (Berlin, New York 31975) 292. 65 H. Plessner: Die Frage nach der Conditio humana. Gesammelte Schriften, Bd. 8 (Frankfurt a.M. 1983) 188. 58 59

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suche, die Dimension unserer leiblichen Existenz zurückzugewinnen, vor dem Problem, auf eine Sprache angewiesen zu sein, die das, was in Zweifel gezogen wird, nämlich den Dualismus, permanent beglaubigt. Deswegen greift er immer wieder zu anstößigen Formulierungen. Er spricht von »vermittelter Vermitteltheit« und »natürlicher Künstlichkeit«. Unentwegt kommt er auf Zweideutigkeiten zurück, auf Doppeldeutigkeiten, Zwiespältigkeiten, die sich jeder Synthese entziehen. Der Mensch existiert doppeldeutig – das ist sozusagen die »Wahrheit des Cartesianismus«. Deshalb muß er sein Leben führen. Die Versagung einer Erfahrung von Authentizität ist zugleich die Ermöglichung von Intersubjektivität. Hier zeigt sich Plessners Nähe zu Merleau-Ponty, der auch jene Verflechtung betont, welche der Mensch ist, bevor er sie denkt. Der Mensch lebt in seinen sozialen Situationen in der Weise eines »kategorischen Konjunktivs«. Er ist ein Wesen der Grenze und der Möglichkeit. Bernhard Waldenfels entwickelt seine Philosophie des Antwortens in den Spuren Husserls, Merleau-Pontys und Levinas’. Damit unterscheidet er sich von Hermann Schmitz, der seinen Weg abseits der Tradition in einer »neuen Phänomenologie« sucht und der das »unmittelbare, eigenleibliche Spüren« vor allem als Appell an konkrete individuelle Erfahrungen ausbreitet.66 Waldenfels greift die phänomenologische Tradition des 20. Jahrhunderts auf, bringt innere Widerwendigkeiten zum Vorschein und markiert sie als Grenzen einer Bewußtseinsphilosophie. Er entfaltet eine Philosophie, die auf eine fundamentale Schicht des Bewußtseins verzichten kann, weil er von einer leiblichen Responsivität ausgeht, welche die Grenzen der Intentionalität überschreitet. »Mit anderen Worten, eine Revision, die den Intentionskreis zu sprengen imstande wäre, könnte an Husserls Affektenlehre anknüpfen, wenn man Affektion als ein Antun oder Angehen begreift, als einen Anruf oder Anspruch, der nur im Antworten auftritt.«67 Der Leib wird zu einem Antworten par excellence. Der Leib, mit dem mein Leben beginnt, bevor ich es beginne, führt in seiner grundsätzlichen Unfaßlichkeit zur Modifikation einer Phänomenologie, die in einem konstituierenden Bewußtsein ruht. Leiblich sind wir uns selbst und anderen gegeben und zugleich entzogen. Dergestalt prallen fremde Ansprüche auch des eigenen Selbst auf Antworten, die in strengem Sinne unerwartet sind. »Der Leib tut seine Dienste bereits mehr oder weniger gut, wenn er zu einem ausdrücklichen Thema gemacht wird.«68 Eine responsive Leiblichkeit macht sinnliche Gebungen verständlich, eine Verwicklung mit einer appellierenden Welt, die ihre Bedeutung nicht länger nur als Ideat hat. »Ein Ding, von dem Anrufe und Winke ausgehen, hört auf, ein bloßes Ding zu sein, das in der Welt, in meiner Welt vorkommt. Wir nähern uns der Möglichkeit eines achtungsvollen und antwortenden Hinsehens, das nicht bei

66 67 68

Vgl. H. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand (Bonn 1990). B. Waldenfels: Antwortregister (Frankfurt a.M. 1994) 330. Ebd. 465.

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sich selbst beginnt.«69 Damit sind die Grenzen jeder Phänomenologie erreicht, die den letzten Sinn den Leistungen eines Bewußtseins zuschreibt. Die Beachtung der Leiblichkeit unserer Erfahrungen relativiert die Bedeutung reflektierender Initiativen, indem sie den Ansprüchen einer sinnlichen Welt ihr Recht zugesteht und die Doppeldeutigkeit unserer aktiven und passiven Existenz als unhintergehbar ausweist.70 Gerade in der Einschränkung der Selbstgegebenheit gründet die Möglichkeit von Intersubjektivität. »Fremdheit in mir und Fremdheit der Anderen würde heißen, daß ich von vornherein im Blickfeld der Anderen lebe. Die Anderen treten nicht zusätzlich in meine Eigenheitssphäre ein, sondern ich gehöre mir nie ganz selber.«71 Auch in der analytischen Philosophie unserer Zeit wird dem Körper zwar nicht in ethischer, so doch in erkenntnistheoretischer Hinsicht Aufmerksamkeit geschenkt. In ethischer Hinsicht spielt der Körper in analytischen Bestimmungen der Person bislang keine prominente Rolle. In der Tradition von John Locke und Immanuel Kant dominiert die Vernunftnatur des Menschen. Da die personale, diachrone Identität gerade durch die unbeständige Leiblichkeit in Frage gestellt wird, kommt der Körper lediglich als raumzeitliche Einheit vor, die in ethischer Hinsicht unbedeutend ist.72 Im Unterschied dazu messen Ansätze, die im Anschluß an die Philosophie Ludwig Wittgensteins entfaltet werden, dem Körper ein erhebliches Gewicht bei. Zurückgestellt wird dabei, daß Descartes keinen ontologischen, sondern einen methodischen Solipsismus vertrat. Insgesamt wird moniert, daß eine solche erkenntnistheoretische Introspektion die Rolle des anderen, also die Bedeutung von Intersubjektivität außer acht läßt. Die analytische Kritik an der überlieferten Zwei-Substanzen-Lehre führt zu vielfältigen Bestimmungen des Verhältnisses von Geist und Körper, bei denen grundsätzlich zwischen zwei Positionen unterschieden werden kann. Vom monistischen Standpunkt aus werden mentale Gegebenheiten eliminiert. Dagegen beziehen sich dualistische Ansichten auf verschiedene Arten der Korrelation von physiologischen Bedingungen und psychischen Akten. Vor allem in bezug auf die Reichweite der Neurowissenschaften werden diese Auffassungen derzeit unter Stichworten wie »Qualia«, »Supervenienz« und »Emergenz« kontrovers diskutiert. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Darlegungen die Auffassung, daß Menschen aufgrund ihrer Körperlichkeit empirisch zu beobachten und intersubjektiv zu erkennen sind. Gilbert Ryle bringt seine einflußreichen Bedenken gegenüber »Descartes’ Mythos« mit der oft zitierten Formel vom »Dogma des Geistes in der Maschine« Ebd. 532. Vgl. B. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden (Frankfurt a.M. 2006). 71 B. Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes (Frankfurt a.M. 2000) 44. 72 Vgl. Anne Reichold: Die vergessene Leiblichkeit. Zur Rolle des Körpers in ontologischen und ethischen Persontheorien (Paderborn 2004). 69 70

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zum Ausdruck.73 Er prangert die Kategorienverwechslung an, die durch die Mißachtung entsteht, daß geistige und körperliche Vollzüge nicht im selben Sinne Substanzen sind, daher auch nicht in denselben Deutungsrahmen einzuordnen sind; »geistigeVorgänge sind Ursachen und Wirkungen, aber Ursachen und Wirkungen anderer Art als Körperbewegungen«.74 Eines seiner zahlreichen Beispiele veranschaulicht diesen Befund: Der Mannschaftsgeist eines Cricketteams kommt nicht zu den anderen Rollen der Spieler hinzu. Er ist kein weiteres Ding. Er meint vielmehr die Art und Weise, wie die Spieler miteinander agieren.75 Der cartesische Dualismus von geistigen Akten, die nicht durch Dritte zu bezeugen sind, und beobachtbaren physikalischen Effekten führt zu einer Verwechslung von Dispositionen und Ereignissen. Dispositionen kann ich nicht unmittelbar beobachten, sie zeigen sich jedoch in Mimiken und Gesten, demzufolge durch Expressionen des Körpers, die durch sie geprägt sind. Gegen die sprachliche Bestimmung des Ich als Substanz setzt Ryle deshalb die sogenannten Indexwörter wie »hier« und »jetzt«. Beide nehmen in konkreten Situationen einen spezifischen Bezug zum Anlaß auf und bezeichnen ihn, selbst wenn sie in allen möglichen Lagen geäußert werden können.76 Peter Frederick Strawson greift insbesondere Wittgensteins Kritik an der Privatsprache auf. In semantischer Hinsicht ist nach ihm die Trennung von Körper und Geist abzulehnen, da ein durch bloße Introspektion gewonnener Geistbegriff aus der Perspektive einer dritten Person als unsinnig erscheint. Personen okkupieren Zeit und Raum. Sie können über ihre körperliche Gegebenheit identifiziert und unterschieden werden.77 Strawsons kritischer Monismus ermöglicht überdies eine Differenzierung von menschlichen und anderen materiellen Körpern. Über physikalische Bestimmungen hinaus spielt nach ihm beim Körper auch die Intentionalität des Handelns und Verhaltens eine Rolle. Lächeln ist etwas anderes als ein bloß physikalisches Ereignis. Damit kritisiert er nicht nur die eine Seite des cartesischen Dualismus, die Isolierung der res cogitans, sondern auch die Absonderung des bloß Materiellen in der res extensa. Selbst wenn Vertreter der analytischen Philosophie die physikalische Bestimmung des Körpers überschreiten, bedienen sie sich dennoch der überlieferten Begrifflichkeit. Somit hinterläßt der Substanzdualismus unvermeidliche Spuren in der Sprache.78 Dagegen sind phänomenologische Analysen etwa im Sinne von Merleau-Ponty und Waldenfels darum bemüht, das Sprechen über den Leib zu modifizieren und zu erweitern. Allerdings stoßen sich hier gelegentlich die Berücksichtigung des Vgl. G. Ryle: Der Begriff des Geistes (Stuttgart 1992) 7 ff. [The concept of Mind (London 1990) 13]. 74 Ebd. 18 [20]. 75 Vgl. ebd. 15 [18]. 76 Vgl. ebd. 253 f. [179]. 77 P. F. Strawson: Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics (London 1969) 132. 78 Zu der »vergessenen Leiblichkeit« in der analytischen Philosophie und zu Wegen, diese durch eine Phänomenologie des Leibes zu bereichern, vgl. A. Reichold, a. a.O. [Anm. 72]. 73

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Schattenhaften, Unbestimmten und Ambiguosen mit dem Anspruch der analytischen Philosophie auf größtmögliche Klarheit. Auf zumindest zwei Gebieten kommt im späten 20. Jahrhundert dem Leib eine Schlüsselstelle zu: zum einen in der erkenntnistheoretischen Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der empirischen Hirnforschung und zum anderen in Fragen der Bio- sowie Medizinethik und der ökologischen Ethik. Die Frage nach der Korrespondenz neuronaler Strukturen mit den zeitlich parallelen mentalen Akten hat dabei sehr unterschiedliche monistische und dualistische Positionen zur Folge. Bislang wurde im Rahmen dieser kontroversen Diskussionen nur wenig Gebrauch von der Differenz zwischen Leib und Körper gemacht. Die leibliche Dimension unserer Existenz zählt nicht zum Repertoire des Beobachtbaren. In ethischen Fragen mehren sich dagegen die Versuche, der Leiblichkeit Beachtung zu schenken. Erwähnt werden soll beispielsweise die phänomenologische Auseinandersetzung mit dem Problem, ob es »ein Eigentum am menschlichen Körper« geben kann, die nach einer Antwort auf die Schwierigkeit sucht, wie der Umgang mit Organen und Körpersubstanzen nicht nur philosophisch, sondern auch juristisch zu klären sei.79 Außerdem wird in der Debatte um eine ökologische Ethik dem Leib eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Aufgrund seines konstitutiven Selbstentzugs und seiner Verletzlichkeit ist er offen für die Ansprüche der Natur. Er steht für eine Zwischendimension, in der sich Ansprüche des Ich mit denen des Nicht-Ich überkreuzen.80 Insbesondere im Hinblick auf die Problematik möglicher Eingriffe ins Erbgut sowie in bezug auf die Bestimmung des Lebensanfangs und -endes könnte die Beachtung des Leibes dazu dienen, ethisches Denken und moralisches Handeln durch den Einspruch zu bereichern, daß menschliches Leben nicht in dem aufgeht, was über es gedacht werden kann.

Vgl. Petra Gehring: Kann es ein Eigentum am menschlichen Körper geben? Über einen Umbruch. In: dies.: Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens (Frankfurt a.M., New York 2006) 35–54. 80 Vgl. Karl Mertens: Verletzlichkeit des Leibes und Ansprüche der Natur. In: Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik, hg. von Bernhard Waldenfels und Iris Därmann (München 1998) 239–257. 79

Kurt Röttgers

Macht

Es gibt keine einheitliche Theorie der Macht im 20. Jahrhundert. Abgesehen von der Frage, ob eine solche überhaupt möglich ist1 oder nicht vielmehr maximal eine Semiologie, entfaltet sich die Machtbegrifflichkeit in mindestens sieben verschiedenen theoretischen Linien, die sich natürlich auch gegenseitig durchkreuzen und beeinflussen, überlappen und mißverstehen.

I. Als erstes wäre hier zu nennen die von Nietzsche ausgehende und bis zu Deleuze und Foucault reichende Redeweise von einem Willen-zur-Macht. In Nietzsches reifer Periode ist diese These alles andere als eine psychologische oder gar soziologische These. Ihre Begründung liegt vielmehr in einer Abkehr von der in Schopenhauers Philosophie entwickelten Willens-Ontologie. Hatte der Liberalismus des 19. Jahrhunderts in, fast möchte man sagen, unsinniger Weise Macht als ›an sich böse‹ verdächtigt und von einem unaufhebbaren Gegensatz von Geist und Macht gesprochen, so gewinnt Nietzsches Willens-Metaphysik einen in ihren Grundlagen positiven Machtbegriff zurück. Allem Lebendigen ist als Grundtrieb in der Form des Willens ein Wille-zur-Macht, d. h. zum Leben und zum Überwältigen, eingeschrieben. Auch der Geist, der Wille zur Sinngebung und zur Interpretation, ist eine Artikulation des Willens-zur-Macht. Dieser Wille hat einerseits keine immanente Grenze, besteht aber andererseits nur in der Differenz, d. h. setzt stets ein ihm entgegenstehendes Machtquantum voraus. Obwohl es die höchste Form des Willens-zur-Macht wäre, dem ›Werden den Charakter des Seins‹ aufzuprägen, gelingt dieses angesichts fortlaufenden Werdens doch nie endgültig und kommt daher nie in einer einfachen Unterwerfung zur Ruhe. Der Genuß, der in diesem liegt, ist daher nicht auf das Resultat, sondern stets auf den Prozeß, auf die Übermächtigung bezogen. Macht-Willen wollen »dem Widerstrebenden das Siegel der Macht«2 einbrennen. Der damit vorliegende Machtbegriff des späteren Nietzsche ist in seinem Kern ein differenztheoretischer Machtbegriff einer dynamischen Ontologie des Willens. Für ihn ist es notwendig, daß Macht einer Gegenmacht gegenübersteht und sich in

1 Zum Vorschlag einer Semiologie der Macht anstelle einer Theorie siehe K. Röttgers: Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik (Freiburg, München 1990), 2. leicht verb. Aufl. unter http://sammelpunkt. philo.at:8080/archive/00000256/01/shspuk.pdf. 2 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3 (München, Berlin, New York 1980) 385.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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der Konfrontation bewährt. »Ein Machtquantum ist durch die Wirkung, die es übt, und der es widersteht, bezeichnet […]. Es ist essentiell ein Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigungen zu wehren. Nicht Selbsterhaltung: jedes Atom wirkt in das ganze Sein hinaus, – es ist weggedacht, wenn man diese Strahlung von Machtwillen wegdenkt. Deshalb nenne ich es ein Quantum ›Wille zur Macht‹ […]«.3 Der differenztheoretische Machtbegriff lebt von dem ›Pathos der Distanz‹. Nietzsche versucht verschiedentlich auch, dem eine Fundierung im Kraftbegriff der Physik zu geben, weil dieser sich ebenfalls vektoriell als Quantitäts-Differenz bestimmen läßt. Bezugsebene des Machtbegriffs von Nietzsche sind nicht mehr Menschen oder Menschengruppen, sondern dieser Machtbegriff ist bezogen auf das sich selbst wollende Leben in seinen vielfältigen Gestaltungen. Für den Menschen selbst heißt das, daß er Dividuum ist, nicht Individuum, nicht unteilbar, sondern immer schon aufgeteilt, und daß sich die Einheit des Seelischen im Leib einem Willen-zur-Macht der Seelenteile ebenso verdankt wie die Einheit der Gesellschaft keine metaphysische Voraussetzung ist, sondern ein Resultat der Durchsetzung eines gestaltenden Willens-zur-Macht, der ›größere Macht-Einheiten‹ unter anderem durch das Recht als Gestaltungsmittel allererst schafft. Der differenztheoretische Machtbegriff ist vor allem von Heidegger einerseits, von Deleuze andererseits aufgegriffen und weiterentwickelt worden. In seinem Nietzsche-Buch spricht Heidegger davon, daß jede Macht »am meisten von dem abhängig ist, was sie übermächtigt«, daß sie aber genau diese Abhängigkeit als Macht nicht eingestehen darf, auch sich selbst nicht.4 Die Verkennung ist für sie konstitutiv. An ihr selbst erscheint diese Verkennung als der Wille zur permanenten Steigerung von Macht. »Macht machtet nur, indem sie Herr wird über die je erreichte Machtstufe.«5 Auch bei Heidegger ist das kein irgendwie anthropologisch oder gar psychologisch fundierter Zug der Macht, sondern folgt ausschließlich aus einer Ontologie des Wollens, aus der dann überhaupt erst anthropologische Konsequenzen gezogen werden könnten. Damit ist dieser Machtbegriff weiter als daß er je von der Sozialphilosophie zur Gänze in den Blick genommen werden könnte. Beim späteren Heidegger wird dieser fundamentale Machtbegriff bereits eng an den Begriff der Möglichkeit angenähert, wie es später für die Modaltheorie der Macht maßgeblich sein wird.6 Und das bedeutet auch bereits bei ihm, daß eine Theorie der Macht, in der Macht grundsätzlich zum Thema werden könnte, ausgeschlossen ist. Denn jedem theoreti-

F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Frühjahr 1988. Kritische Studienausgabe, ebd. Bd. 13, 258. 4 Martin Heidegger: Nietzsche, Bd. 1 (Pfullingen 31961) 478. 5 Ebd. Bd. 2, 266. 6 Vgl. auch Eugen Fink: Traktat über die Gewalt des Menschen (Frankfurt a.M. 1974) passim; zum Begriff der Macht bei Heidegger siehe auch Hermann Mörchen: Macht und Herrschaft im Denken von Heidegger und Adorno (Stuttgart 1980). 3

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schen und auch kritischen Reden über Macht steht diese selbst noch im Rücken und läßt sie sehen, was sie sieht, und sagen, was sie sagt. Die Thematisierung der Macht ist in Macht verstrickt, keine Philosophie der Macht kann sich dieser aporetischen Einsicht entziehen. Einer ganz anderen differenztheoretischen Linie folgt G. Deleuze, nämlich einer zugleich genealogischen, symptomatologischen und semiologischen. Auch er versteht demnach Macht nicht als ›Äußerung‹ eines substantiell gedachten Vermögens im Menscheninneren, sondern auch für ihn ist Macht nirgendwo anders als in der Übermächtigung eines Willens durch einen anderen. »Er [Nietzsche] nennt ›Wille zur Macht‹ das genealogische Element der Kraft. Genealogisch will heißen differentiell und genetisch.«7

II. Nicht unbeeinflußt durch Nietzsche, aber doch weitgehend eigenständig entwickelt Max Weber den handlungstheoretischen Ansatz einer Theorie der Macht. Danach ist Macht eine »Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.«8 Hier wird ein handelndes Subjekt als Grundlage der Zurechnung von Macht angesetzt. Dieses handelnde Subjekt ist als mit einem Willen und mit Interessen ausgestattet gedacht. In einer sozialen Beziehung begegnen nun diesem gleichartig ausgestattete Subjekte, deren Interessen mit denen des ersten Subjekts konfligieren (können). Ist das der Fall, dann werden sich die Interessen des einen von beiden, getragen von seinem Willen, gegenüber denen des anderen durchsetzen. Nicht die Durchsetzung selbst, sondern die Chance dazu, bezeichnet Weber als ›Macht‹. Die Grundlage bzw. der Hintergrund dieser ›Chance‹ bleiben ungeklärt. Aber nicht nur das: auch der Begriff der Chance selbst, d. h. die Durchsetzungschance gegenüber einem Widerstrebenden, bleibt diffus, weil Weber sie auch auf ein ›Gemeinschaftshandeln‹ bezogen wissen möchte.9 Zudem greift Weber an anderer Stelle auch auf den in der Tradition geläufigeren Begriff der Möglichkeit statt Chance zurück.10 Gegenüber dem ›soziologisch amorphen‹ Begriff der Macht hält Weber den Begriff der Herrschaft für präziser, weil er die Art der Befehle (zur Willensdurchsetzung) und die Adressatengruppe festlegt und daher auch die Frage nach der Legitimität operationalisierbar mache.11 Am Machtbegriff bei Weber bleibt unklar, ob die Chance oder die Möglichkeit eine im oder am Handlungssubjekt liegende Fä-

7 8 9 10 11

Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie (München 1976) 59. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (Tübingen 31948) 38. Ebd. 678. Ebd. 692. Ebd. 157.

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higkeit ist oder aber eine bloße Wahrscheinlichkeit; wäre letzteres der Fall, dann erübrigte sich allerdings die handlungstheoretische Fundierung. Bleibt man jedoch der Handlungstheorie treu, dann muß man das Wirken von Macht als einen besonderen Typ von Kausalität begreifen; Kant sprach in Zusammenhängen der Praktischen Philosophie bekanntlich von einer ›Kausalität aus Freiheit‹ und meinte damit einen nicht als Phänomen zu beobachtenden Wirkungszusammenhang. Die Nichtbeobachtbarkeit von Macht ist eine Folgelast der handlungstheoretischen Begründung. Denn wenn man sich entschließen sollte zu sagen, daß immer wenn einer seinen Willen und seine Interessen durchsetzt, er offenbar vorher die Macht dazu hatte, dann erklärt der Begriff gar nichts mehr, sondern ist nur mehr eine quasi-handlungsmetaphysische Umschreibung der bloßen Tatsache der Durchsetzung. Diese müßte sich in prognostischen Zusammenhängen bewähren, um operationalisierbar zu sein und Beschreibungsrelevanz zu bekommen. Man müßte sagen dürfen, jemand habe Macht, folglich könne und werde er sich durchsetzen und er ›hätte‹ diese Macht auch dann, wenn er aus ganz anderen Gründen darauf verzichtete, sie auszuüben, um seine Interessen durchzusetzen. Das andere Problem des handlungstheoretischen Machtbegriffs ist das ›Widerstreben‹. Widerstreben soll offenbar weniger besagen als offener, manifester Widerstand. Aber wie unsichtbar darf dieses Widerstreben bleiben, ohne seinerseits reduziert zu sein auf eine bloß metaphysische Verdopplung der einfachen Tatsache eines zweiten Handlungssubjekts mit einem eigenen Willen? Ist jedoch im handlungstheoretischen Ansatz – der letztlich auch den Entscheidungstheorien zugrunde liegt – mit Chance die bloße Möglichkeit gemeint, so gerinnt die Webersche Definition zu der Trivialität, daß die Wirklichkeit (des Handelns) die Möglichkeit dieser Wirklichkeit (des Handelns) voraussetzt, oder anders gesagt: Unmögliches geschieht nicht. Jedes sich durchsetzende Handeln beweist, daß die Möglichkeit bestand, sich handelnd durchzusetzen. Erst wenn man den handlungstheoretischen Rahmen verläßt und die strukturellen Voraussetzungen in den Blick nimmt, die definieren, was in einem gewissen Zusammenhang in den in ihm vorkommenden Prozessen als ein Handlungssubjekt zu gelten hat, gewinnt der Begriff der Macht seinen Sinn zurück. Subjekte werden gemacht, zugerüstet oder fingiert oder auch simuliert, ein freier (?) Wille wird ihnen supponiert, Interessen werden ihnen attribuiert. Erst wenn man von einer handlungstheoretischen Fundierung der Philosophie der Macht Abstand nimmt, gewinnt auch jener ominöse Nachsatz Webers (›gleichviel worauf diese Chance beruht‹) eine operationalisierbare Bedeutung. Oder im Sinne der entscheidungstheoretischen Umformulierung der Handlungstheorie gesprochen, wird nun die Aufmerksamkeit auf jene Rahmenbedingungen des Entscheidens und Handelns gelenkt, die festlegen, was überhaupt zur Entscheidung ansteht. Diese Rahmenbedingungen sind nur zum Teil ihrerseits Entscheidungen (Entscheidungen über die Agenda, nicht innerhalb der Agenda), zum größten Teil jedoch haben sie institutionellen Charakter, d. h. sie entlasten gerade von Entscheidungen und vom Handeln. Der Ontologie handlungstheoretischer

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Machttheorien, die auf ein Vermögen eines Subjekts zurückgehen, korrespondiert notwendigerweise eine Ontologie der Möglichkeiten auf der Seite der Weltzurechnung. Was real unmöglich ist, liegt in niemandes Macht (der mittelalterliche Begriff der ›potentia absoluta‹ steht endlichen Handlungssubjekten nicht zur Verfügung), andererseits ist so allerlei möglich, ohne daß es geschieht, weil sich keiner zum Handeln entschließt. Bindet man jedoch den Machtbegriff zu eng an den der Realisierung (›Durchsetzung‹), dann handelt man sich ebenfalls Probleme ein. Denn die ›Chance‹ zu einem Handeln ist in der Realisierung verschwunden und bleibt nicht länger ›Chance‹. Aus dieser Schwierigkeit, in die sich Handlungstheorien der Macht begeben, hilft scheinbar ein Platonismus der Macht, der eine Macht-zur-Macht analog zur Willensfreiheit jenseits der Handlungsfreiheit annimmt. B. Taureck hat eine solche Macht jenseits der Macht imaginiert und sie »essentielle Macht« getauft.12 Das mittelalterliche Denken hatte solche Macht-Transzendenz benötigt, um den Übergang und zugleich die Verschiedenheit der Macht Gottes und der Macht der Menschen zu plausibilisieren. In das Denken des 20. Jahrhunderts sind solche Ideen nur schwer einzufügen. Obwohl dem Kausaldenken verpflichtet und mit seiner politischen Vertragstheorie dem Handlungsmodell der Macht verschrieben, hatte jedoch bereits Hobbes diesen Rahmen überschritten, indem er Macht nicht nur als Verursachung von Wirkungen beschrieb, sondern auch als rein fiktives Zuschreibungsphänomen: »Reputation of power, is power […].«13 Handlungstheorien der Macht vertreten im 20. Jahrhundert neben Weber R. A. Dahl, H. D. Lasswell und A. Kaplan, P. Bachrach und M. S. Baratz, St. Lukes und zu Beginn des 21. Jahrhundert B.-Ch. Han.14 Im Übergang von handlungstheoretischen zu anthropologischen Fundierungen und gewissermaßen die Schwächen beider teilend, steht das groß angelegte Werk von V. Gerhardt Vom Willen zur Macht (1996), dessen erstes und programmatisches Kapitel den symptomatischen Titel trägt »Der Mensch als Macht. Vom Ursprung der Macht in der Handlung.«15 Gerhardt geht davon aus, daß im Reden von Macht von Wirkungen die Rede ist und daß jede Wirkung einen Urheber habe, wohl übersehend, daß sein Bezugsautor Nietzsche gerade diesen Schluß vom Tun auf einen dahinter stehenden Täter für einen bloß sprachlich nahegelegten Fehlschluß hielt, wie sich am Satz ›Der Blitz leuchtet‹ zeigen ließe, als ob es ›dem‹ Blitz freistünde, zwischendurch auch ein-

12 Bernhard Taureck: Die Zukunft der Macht. Ein philosophisch-politischer Essay (Würzburg 1983) 25 ff. 13 Thomas Hobbes: The English Works, Bd. 3 (ND Aalen 1962) 74. 14 Robert Alan Dahl: The Concept of Power. In: Behavioral Science 2 (1957) 210–215; Harold Dwight Lasswell und Abraham Kaplan: Power and Society (New Haven, London 1950); Peter Bachrach und Morton S. Baratz: Macht und Armut (Frankfurt a.M. 1977); Steven Lukes: Power. A Radical View (London, Basingstoke 1974); Byung-Chul Han: Was ist Macht? (Stuttgart 2005). 15 Volker Gerhardt: Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches (Berlin, New York 1996) 7 ff.

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mal in Dunkelheit zu verharren. Gerhardt aber folgert weiter, daß Urheber eines Tuns nur ein »bewußt tätiges Wesen« sein könne,16 d. h. ein Subjekt. »Also ist die Macht nur das Mittel, über welches ein Urheber im Hinblick auf mögliche Wirkungen verfügt.«17 In der Tat sieht sich Gerhardt dann auch zu den oben schon erwähnten handlungsmetaphysischen platonistischen Vorstellungen einer »Macht von Mächten« genötigt, und zwar weil Mächte Wirkungen zeitigen können, »sie müssen es aber nicht.«18 Unzweideutig bekennt sich Gerhardt zu seiner handlungstheoretischen Fundierung: »Das ursprüngliche Anwendungsfeld des Machtbegriffs ist das menschliche Handeln […].«19 So bleibt dies allerdings nicht stehen, weil erstens der fiktionale Charakter des Vermögens eines Subjekts hervorgehoben wird, zweitens aber der sozialrelationale Aspekt von Macht ebenfalls Berücksichtigung findet. Wenn dann außerdem noch der teleologische Charakter des Machthandelns und, da subjektbezogen, die Intentionalität eingeführt werden, fragt sich allerdings, wie diese unterschiedlichen Konzeptionen in eine Ordnung gebracht werden können. Um nun dieses zu erreichen, rekurriert Gerhardt erneut auf das Subjekt als Zentrum: »Die Macht ist nicht nur zwingend in einen Zweck-Mittel-Konnex eingebunden, sondern sie verweist mit gleicher Notwendigkeit auf ein in sich wirksames, richtunggebendes Zentrum. […] Damit erscheint die Macht stets als Vermögen eines handelnden Wesens, das Zwecke verfolgt, somit einen Willen hat und sich auf etwas anderes bezieht, über das sie verfügt.«20 Nun wandelt sich ›das Subjekt‹ zu ›dem Menschen‹, und es ist von der »tiefsitzenden Beziehung zwischen Macht und Mensch« die Rede.21 Kein Wunder also, daß wir Menschen uns in der Macht als Menschen selbst begegnen. – Konsequenter verfahren anthropologische Machttheorien, von denen im folgenden diejenigen von H. Plessner und H. Popitz herausgegriffen werden sollen.

III. Als Plessner 1931 Macht und menschliche Natur veröffentlichte, war diese Studie nicht primär in eine Folge von Macht-Theorien eingereiht, sondern es ging Plessner zunächst um den Stellenwert und die Methodik einer ›politischen Anthropologie‹. Im Mittelpunkt steht daher für ihn die Frage nach dem Menschen, nicht die Frage nach der Macht. Wegen der Besonderheit des Ansatzes der Plessnerschen Anthropologie mit ihren Grundbegriffen der Exzentrizität und der Unergründlichkeit ist jedoch dieser Ansatz auch von erheblichem machttheore-

16 17 18 19 20 21

Ebd. 7. Ebd. 8. Ebd. 9. Ebd. 11. Ebd. 19. Ebd.

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tischen Interesse. Plessners Ausgangsfrage lautet daher auch: »[…] wie weit gehört Politik – der Kampf um Macht in den zwischenmenschlichen Beziehungen […] zum Wesen des Menschen.«22 Aber wegen des Prinzips der Unergründlichkeit des Menschen ist Plessners These »der Mensch als Macht«23 gerade keine Extrapolation einer Metaphysik der menschlichen Vermögen, sondern folgt jener »offenen Immanenz«. Auf einer ersten Bedeutungsebene heißt »Mensch als Macht«, daß der Mensch nicht durch die Geschichte bedingt ist, sondern daß er seine eigene Vergangenheit sowohl theoretisch als auch praktisch gestaltet. Denn der Mensch ist nicht nur, was er (geworden) ist, sondern er ist über sich hinaus, er schafft sich und damit auch seine Gewordenheit. »Solange er an dieser Konzeption seines Wesens als Macht festhält, hat er Macht und gibt es Entwicklung.«24 Und der Mensch muß die Macht und sich als Macht ergreifen, genau deswegen, weil sein Wesen unbestimmt ist. Der anthropologische Ansatz wird am entschiedensten fortgeführt von H. Popitz.25 Popitz erweitert die anthropologische Fragestellung und unterscheidet anhand der Handlungsfähigkeit des Menschen vier anthropologische Grundformen der Macht, und zwar Aktionsmacht, instrumentelle Macht, autoritative Macht und datensetzende Macht. Die Aktionsmacht äußert sich als Gewalt, d. h. als die Möglichkeit, andere zu schädigen, sie hat ihre natürliche Grenze und verausgabt sich in der Tötung. Die instrumentelle Macht arbeitet raffinierter mit positiven und negativen Sanktionen, mit Drohungen und Versprechen. Der machtvoll Drohende teilt das potentielle Verhalten des Bedrohten in Erlaubtes und Verbotenes. Und er legt sich selbst fest, negative Sanktionen zu verfügen, wenn das Unerlaubte geschieht. Den erwünschten Effekt der Fügsamkeit hat die Drohung freilich nur, wenn ihr geglaubt wird, d. h. wenn die Sanktion bloße Möglichkeit bleiben kann und ihr die permanente Ausführung erspart bleibt. Die dritte anthropologisch fundierte Machtform nach Popitz, die autoritative Macht, beruht auf einer Bindung des Machtunterworfenen an den Mächtigen, die z. B. auf dem Begehren nach Anerkennung beruht. Da Anerkennung gewährt oder versagt werden kann, handelt es sich auch bei der Autoritätsbeziehung um eine echte Machtbeziehung. Die ›datensetzende Macht‹ schließlich ist an technisches Handeln des Menschen gebunden.

Helmuth Plessner: Gesammelte Schriften, Bd. 5 (Frankfurt a.M. 1981) 139. Ebd. 185; diese Formulierung hat V. Gerhardt auch als Überschrift des ersten Kapitels seines oben angegebenen Werkes gewählt, allerdings ohne die Formulierungshilfe Plessners dabei zu erwähnen, V. Gerhardt: Willen, a. a.O. [Anm. 15] 7 ff. 24 H. Plessner: Schriften, Bd. 5, a. a.O. [Anm. 22] 190. 25 Heinrich Popitz: Phänomene der Macht (Tübingen 21992). 22 23

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IV. Eine grundsätzliche Alternative zu handlungstheoretischen und anthropologischen Ansätzen der Machttheorie bietet die Systemtheorie von T. Parsons26 und N. Luhmann.27 Denn die handlungstheoretischen und anthropologischen Machttheorien bilden letztlich eine nicht operationable Metaphysik des Phänomens. Sie schränkt die Perspektive ein und wird dadurch nötig, daß das mittelalterliche Ordnungsdenken, in dem die Macht als mit Positionen in einer Ordnung verbunden gedacht war, durch den Individualismus der Neuzeit abgelöst worden ist. Indem die hierarchische Ordnung selbst als Erklärungsgrundlage hinfällig geworden war, benötigte man eine andere Grundlage, um sogar noch (hierarchische) Ordnungen von dieser neuen Grundlage aus erklären zu können. Diese fand man bekanntlich im Gesellschaftsatom, dem Individuum. Da dieses unteilbar war und von vielen anderen Unteilbaren umgeben, wurde eine Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenhalts gesucht und selbstverständlich gefunden: die Theorie des Gesellschaftsvertrags. Im Gesellschaftsvertrag, so wurde fingiert, wird ein ursprünglicher Macht-›Besitz‹ dieser Unteilbaren auf einen Souverän vertragsförmig übertragen, der natürlich erst dadurch seine Superiorität erhält. Herrschaft des neuzeitlichen Staates konnte so erklärt werden, jede andere gesellschaftliche Macht jedoch erschien damit dysfunktional oder mußte der staatlichen Herrschaft zugeordnet werden können, oder wurde bekämpft oder ignoriert, indem sie dem dominanten kategorialen Raster (dem Diskurs) entzogen wurde. Erst nach Auflösung der Substanz-Metaphysiken seit Ende des 19. Jahrhunderts – die Macht entweder als im Subjekt oder im Objekt versteckt vermuteten und die vor dem Problem standen, daß Macht, die dieses ihr Versteck verließ und sich äußerte als Realisierung einer Möglichkeit, gerade keine Macht mehr war – fanden sich Ansätze, die dem Relational-Charakter ihre Hauptaufmerksamkeit widmeten, d. h. der Tatsache, daß Macht zwischen den Relata besteht, seien diese nun als Menschen, als Individuen oder als Handlungs-Subjekte (zuletzt auch kollektive Akteure) konzipiert. Eine erste Annäherung an diesen im 20. Jahrhundert gewandelten Befund bietet die Systemtheorie der Macht, zuerst formuliert von T. Parsons, dann ausgeführt von N. Luhmann. Die Systemtheorie nennt Macht ein Medium. Ein Medium ist ein Zwischen, genauer gesagt, eine Modalität von Kommunikation. Und da eine Gesellschaft nicht ›aus Menschen besteht‹, sondern als Kommunikation – wir sagen als kommunikativer Text – sind die Kommunikationsmedien, unter denen Macht eines ist, primordial für eine Systemtheorie der Gesellschaft. Eine solche systemtheoretisch fundierte Theorie der Macht als Medium basiert auf der Annahme, daß moderne und postmoderne Gesellschaften neben Talcott Parsons: On the Concept of Power. In: Proceedings of the American Philosophical Society 107 (1963) 232–262. 27 Niklas Luhmann: Macht (Stuttgart 1975). 26

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der Sprache andere Kommunikationsmedien ausdifferenzieren. Macht erspart langes Reden und Herumreden in der Übertragung von Sinn und Sinnselektionen. Beide Seiten sind sich einig, nämlich darüber, worum es geht, insofern besteht in Machtbeziehungen eine spezifische Produktivität der Erzeugung von Gemeinsamkeit. An den Rändern der Machtbeziehungen gibt es zwei Optionen, die beide Seiten auf jeden Fall vermeiden möchten: auf der einen Seite, daß gar nichts geschieht, also z. B. die gemeinsamen Aufgaben nicht mehr erledigt werden, das wäre dann das Ende der Gemeinsamkeit und damit auch das Ende der Macht dieser Beziehung und in dieser Beziehung, und auf der anderen Seite, daß zu Gewalt übergegangen wird; denn Gewalt ist nicht, wie manche immer noch glauben, z. B. die Erbauer des Käfigs von Heiligendamm, der Extremfall der Macht, sondern Gewalt ist das Scheitern der Macht. Der Gewalthandelnde hat das Gesetz des Handelns aus der Hand gegeben, er kann in für ihn selbst nicht kontrollierbarer Weise immer neu zu kostspieligen und zeit- und ressourcenaufwendigen Reaktionen gezwungen werden. In beiden Fällen, im Nichthandeln und im Gewalthandeln, endet die Kommunikation und damit das soziale Band. In beiden Fällen ist das Kommunikationsmedium Macht am Ende, weil Macht – ich komme später darauf zurück – eine die Bestands-Kontinuität sichernde Handlungsmodalisierung ist. Weder das Nichthandeln noch das Gewalthandeln manifestieren Macht als Medium, welches allein die Modalisierung des aktualen Handelns zur Möglichkeit des Handelns wäre. Warum aber sind nun beide Seiten einer Machtbeziehung mit der Asymmetrie einverstanden? Erstens, weil Macht keine Unterdrückung ist, sondern eine Formierung; Unterdrückung schränkt den Möglichkeitsspielraum ein, Formierung erweitert ihn unter Umständen. Zweitens und wichtiger noch, sind die beiden in unterschiedlich starkem Maße an der Vermeidung des Endes der Modalisierung interessiert. Präferenztheoretisch ausgedrückt, könnte man sagen: eine Seite ist stärker als die andere an der Modalisierung und an der Vermeidung des Endes der Kommunikation interessiert und zahlt deswegen mehr für diese Vermeidung von Nichthandeln oder Gewalthandeln. »Macht setzt voraus, daß beide Partner Alternativen sehen, deren Realisierung sie vermeiden möchten«, sagt Luhmann.28 In solch einer Darstellung ist sowohl die Unterdrückungsmetaphorik aufgegeben als auch die Redeweise, daß einer der Macht-Haber, der andere der Macht-Lose ist. Macht ist kein Ding, das gehabt und besessen werden könnte oder, wie die Gesellschaftsvertragstheoretiker fingieren, wie ein Besitztum vertragsförmig veräußert und übertragen werden könnte. Ein Kommunikationsmedium kann man nicht besitzen, es ist immer im Zwischen der Positionen eines gesellschaftlichen Feldes.

28

Ebd. 22.

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V. Ebenfalls in Opposition zu einem vom politischen Liberalismus ins Spiel gebrachten generellen Mißtrauen gegenüber Macht als ›an sich böse‹ und Unterdrückung steht die Konsenstheorie der Macht. Prominent ausformuliert wurde sie von H. Arendt29 und variiert von J. Habermas.30 Handeln in gemeinsamer Praxis steigert die Macht der in diese Gemeinsamkeit Eintretenden, so daß ein Sozialverband dann als mächtig gelten kann, wenn er von der freien Zustimmung aller getragen ist. Dieser Machtbegriff tritt damit in scharfen Kontrast zum Begriff der Gewalt. Die Größe eines Gewaltpotentials hängt einzig ab von der Größe der technisch zur Verfügung stehenden Mittel, konkret der Waffen. Arendt stilisiert daher die Extreme von Macht und Gewalt folgendermaßen. Das Extrem von Macht wäre Alle gegen Einen; das Extrem von Gewalt wäre: Einer gegen Alle. Macht ist direkt abhängig von der Breite des tragenden Konsenses, Gewalt dagegen von der Effektivität der Mittel. Und Habermas ergänzt: »Das Grundphänomen der Macht ist nicht die Instrumentalisierung eines fremden Willens für eigene Zwecke, sondern die Formierung eines gemeinsamen Willens in einer auf Verständigung gerichteten Kommunikation.«31 Habermas differenziert allerdings den Arendtschen Machtbegriff, indem er zugibt, daß Machterwerb und die Behauptung von Macht sehr wohl gewaltförmig auftreten können, davon aber die Geltungs- und Bestandsbedingungen von Macht im Konsens unterscheidet. Kommunikations- und Konsenstheorien von Macht haben ebenso wie die systemtheoretischen die engen Konfinien der handlungstheoretischen und anthropologischen Fundierungen verlassen. Was ihnen aber fehlt, sind die Mittel, diesen Bereich des Medialen der Macht zu analysieren, weil sie davon ausgehen, daß Kommunikation immer auf Verständigung abziele und damit immer der Formierung eines gemeinsamen Willens in der Macht diene. Damit ist übersehen, daß Macht immer im Geflecht von Konsensualisierung und Dissensualisierung steht. Gemeinsam sind wir stark, stärker, als wenn wir Einzelne wären, aber diese Stärke bewährt sich gerade in der Auseinandersetzung mit denen, mit denen es keine Gemeinsamkeit gibt. Und Kommunikation dient immer auch der Distanzierung. Macht eint, aber sie trennt auch.

Hannah Arendt: Macht und Gewalt (München 1970). Jürgen Habermas: Hannah Arendts Begriff der Macht. In: ders.: Politik, Kunst, Religion (Stuttgart 1978) 103–126. 31 Ebd. 104. 29 30

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VI. Diesem komplexen Geflecht widmet sich die Machttheorie von M. Foucault.32 Von besonderem Interesse ist dabei jener Typ von Macht, der nach Foucault das »Fest der Martern« und die Einsperrung als Strafen ablösen soll, nämlich die Disziplinarmacht. Für sie gilt: »[…] die Macht wird nicht auf die Individuen angewandt, sie geht durch sie hindurch.«33 Von der Disziplinarmacht ist zu unterscheiden die souveräne Macht und die Macht des Rechts, erstere wirkt von außen auf die Subjekte ein, oft in der Form exemplarisch ausgeübter Gewalt, letztere wirkt vermittelt durch vernünftige Einsicht.34 In einem Netzwerk von Relationen verwandeln sich Handlungsenergien in Dispositive der Macht, wobei unter einem Dispositiv eine Strukturierung eines Handlungsfeldes zu verstehen ist, das Handlungen ermöglicht und damit in Ablösung zu dem Subjektbezogenen Begriff der Disposition steht. Indem Foucault in seinen historischen Analysen den feinsten Verästelungen solcher Machtstrukturen folgt, wird der Blick dafür frei, daß die Konzentration von Kräften in einem Punkt sehr wohl kombinierbar ist mit einer Ausdehnung des Wirkungsradius dieser Kräftekonzentration. Die Macht nämlich strukturiert einen Raum, sie teilt ihn in verschiedene Zonen ein, in privilegierte, zulässige, kriminelle, pathologische usw., so daß dann jede partikulare Macht entweder als teilhabend oder als ausgeschlossen bzw. als Widerstand erscheint. Was unter diesen Umständen die Rede vom Subjekt noch besagen kann, ist schon von Foucault angesprochen worden: das Subjekt wird zu einem Produkt der Macht, Subjekte werden durch Macht formiert. Zum eigentlichen Thema wird dieser Aspekt in der Theorie von J. Butler.35 Foucault folgend, ist für sie das Subjekt einerseits Produkt der Macht, es ist aber zugleich und in paradoxer Weise auch Ursprung einer (Handlungs-)Macht. Bei Butler hat diese Redeweise aber alle Reminiszenzen an die metaphysischen Handlungstheorien der Macht abgestreift, Subjekte werden wie Institutionen in einem Macht-Raum gebildet, und sie sind dann wie Institutionen fähig zu handeln. Die Handlungsmacht verdanken sie daher derjenigen Macht, die sie zu Subjekten ausgebildet hat. Diese Verfügung der Macht über das Leben-Können wurde von Foucault auch Bio-Macht genannt.36 »Das Subjekt läßt sich durchaus so denken, daß es seine Handlungsfähigkeit von ebender [!] Macht bezieht, gegen die es sich stellt, so unangenehm und beschämend das insbesondere für

Michel Foucault: Überwachen und Strafen (Frankfurt a.M. 1976). M. Foucault: Dispositive der Macht (Berlin 1978) 82. 34 Vgl. auch Gilles Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: ders.: Unterhandlungen 1972–1990 (Frankfurt a.M. 1993) 254–262. 35 Judith Butler: Psyche der Macht – das Subjekt der Unterwerfung (Frankfurt a.M. 2001). 36 M. Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1 (Frankfurt a.M. 1977) 166 und passim. 32 33

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jene sein mag, die glauben, Komplizenschaft und Ambivalenz ließen sich ein für allemal ausrotten.«37

VII. Die Einwendungen gegen handlungstheoretische und anthropologische Fundierungen einer Theorie der Macht und die positiven Anknüpfungsmöglichkeiten an differenztheoretische, relationale und mediale Anregungen zu einer Theorie der Macht für das 21. Jahrhundert legen nun eine Modaltheorie der Macht nahe. Diese denkt Macht als eine modale Relation, und zwar als modale Relation, die zwischen und nicht bei oder in Menschen besteht.38 Auf diese Weise wird jeglicher Unterdrückungs-Unterstellung, die annimmt, daß die Eigentlichkeit und Selbstverwirklichung des Subjekts durch die Macht eingeschränkt oder deformiert würde, der Boden entzogen. Nur als Unterworfene sind sie Subjekte. Die Vielfalt möglicher Verhaltensweisen ist durch den kommunikativen Text immer schon an eine Modalisierung durch Symbole angeschlossen, und daher nie weder diffus, noch authentisch. Die Macht garantiert nicht – in der Postmoderne immer weniger – die Kontinuität eines Selbst oder seiner Identität,39 sondern die Kontinuität der Relation von Selbst und Anderem als nicht substantialistisch identifizierbare Positionen im sozialen Prozeß des kommunikativen Textes.40 Wenn Macht heute nicht mehr selbst als eine Substanz oder als ein Akzidenz irgendeiner Substanz aufgefaßt werden kann, sondern als eine modale Relation, die ein (tendenziell gewaltförmiges) Handeln aufschiebt oder erübrigt, indem dieses als bloße Möglichkeit in die Zukunft oder auf Andere oder in einen anderen diskursiven Rahmen (Ebene) verlagert wird, stellt sich die Frage, über welche Vermittlungsweisen eine solche Macht bei der Verlagerung zurückgreifen kann. Eine derartige Vermittlung ist notwendig, weil das gegenwärtige Nichthandeln eines Selbst nicht heißt, daß nichts geschieht, und auch nicht, daß den

J. Butler: Psyche, a. a.O. [Anm. 35] 22. Wird dieses »in« freilich komplementär und analog zum Sozialen gedacht, dann läßt sich darüber auch in der Form modaler Relationen reden. Georg Simmel: Exkurs über die Analogie der individualpsychologischen und der soziologischen Verhältnisse. Gesamtausgabe, Bd. 11: Soziologie (Frankfurt a.M. 1992) 850–855; K. Röttgers und Wolfgang Mack: Gesellschaftsleben und Seelenleben. Anknüpfungen an Georg Simmel (Göttingen 2007). J. Butler: Psyche, a. a.O. [Anm. 35], geht der Frage nach, wie dieses zusammenhängt: »In jedem Fall nimmt die Macht, die zunächst von außen zu kommen und dem Subjekt aufgezwungen und es in die Unterwerfung zu treiben schien, eine psychische Form an, die die Selbstidentität des Subjekts ausmacht.« (Ebd. 9) Ja, sie hält die Unterscheidung von Innen und Außen selbst für bedingt, so daß die geläufige Redeweise von einer »Verinnerlichung von Normen« obsolet wird. (Ebd. 24) 39 So noch B.-Ch. Han: Macht, a. a.O. [Anm. 14] 87 u. ö. und ganz deutlich: »[…] daß die Macht primär kein Phänomen des Zusammen, sondern das des Selbst ist, daß jedem Machtgebilde eine Subjektivität, eine Entschlossenheit zu sich innewohnt […].« (Ebd. 105) 40 Zu letzterem Begriff siehe K. Röttgers: Kategorien der Sozialphilosophie (Magdeburg 2002). 37 38

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Dingen ihr Lauf gelassen wird, im Gegenteil: Durch die Modalisierung wird das Handlungsfeld stärker und effektiver strukturiert als es durch ein Handeln möglich gewesen wäre. Der Raum sozialer Prozesse (der kommunikative Text) sieht Handlungen von Selbst und Anderem vor, er sieht aber auch vor, daß die Realität von Handlungen (›actus‹) zur bloßen Möglichkeit von Handlungen (›potentia‹) modalisiert wird, beides sichert, daß es weitergehen kann, Anschlüsse möglich sind; d. h. in der Macht wird die Realisierungsrichtung (im Handeln von der Möglichkeit zur Wirklichkeit) umgekehrt: von der Realität des Handelns zur Möglichkeit des Handelns. Auf diese Weise können Handlungsmöglichkeiten nicht nur akkumuliert werden, sondern auch iterativ gesteigert werden (die sogenannte Unersättlichkeit der Macht), nämlich indem nicht nur weitere Handlungsmöglichkeiten für morgen bereitgehalten werden, sondern auch weitere Möglichkeiten der Eröffnung zukünftiger Möglichkeiten. Die mit dieser Institutionalisierung von Macht einhergehende Stabilisierung der Erwartungen in sozialen Prozessen ist selbst ein Machtfaktor; denn von jemandem (einer Position im kommunikativen Text) zu sagen, er (oder sie) sei mit Macht versehen, kreiert bereits eine Macht – und umgekehrt: der Zweifel an dem Vorliegen von Macht läßt diese bereits wenigstens partiell kollabieren und zwingt unter Umständen zu einem Handeln, das zu ersparen eigentlich die Funktion der Macht gewesen wäre. Das Maximum an Macht wäre demnach für eine solche Modaltheorie der Macht, nicht mehr wirklich handeln zu müssen, den Übergang von ›potentia‹ zu ›actus‹ niemals mehr selbst vollziehen zu müssen, weil nun alles möglich wäre und alles, was geschieht, im Sinne dieser Allmacht wäre: sie ließe nur noch handeln und mit Handlungsmöglichkeiten operieren.41

Kurt Röttgers: Spuren der Macht und das Ereignis der Gewalt. In: Reden von Gewalt, hg. von K. Platt (München 2002) 80–120. 41

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I. Vorgeschichte Der Medienbegriff weist eine lange und verwickelte Geschichte auf. Sie ist durch zahlreiche Brüche und Verschiebungen gekennzeichnet. Vor allem läßt sich kein klarer Gegenstandsbezug erkennen, vielmehr handelt es sich um einen Relationsbegriff, der durch eine Stellendifferenz markiert ist. ›Medium‹ (lat. Mitte) nennt dasjenige, was sich, wörtlich, ›in medio‹, d. h. in der Mitte hält,1 so daß Medienbegriffe regelmäßig dort bedeutsam werden, wo ein Drittes zwischen Differenzen tritt. Von vornherein ist damit ein ›tertium‹ aufgerufen, das sich den Registern klassischer Dichotomisierung entzieht. Daraus leitet sich sowohl die Schwierigkeit einer angemessenen Explikation des Begriffs als auch die rationalitätskritische Emphase philosophischer Medienreflexionen besonders der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab. Systematisch bezeugt werden kann die philosophische Verwendung des Begriffs spätestens seit den mittelalterlichen Kommentaren des Aristoteles. So werden einerseits die Zwischenglieder der Syllogismuslehre als ›medius terminus‹ bezeichnet, die den Schluß erzwingen, indem sie in dessen Vollzug zugleich untergehen.2 Zudem übersetzte Thomas von Aquin den Ausdruck μεταξú, der an prominenter Stelle in der Aisthesislehre von Aristoteles’ De Anima auftaucht,3 mit ›medium‹ und leitete damit eine Tradition ein, die über die neuzeitliche Naturphilosophie bis ins frühe 20. Jahrhundert reichen sollte.4 Denn nach Aristoteles muß sich das Wahrgenommene ›vermittels eines anderen‹ dem Wahrnehmenden mitteilen, wofür er unter Rückgriff auf ältere Wahrnehmungslehren den Ausdruck des Diaphanen (διαφαν"ς) oder »Durchscheinenden« einsetzte.5 Die ganze Problematik des Medienbegriffs ist darin vorgezeichnet: Ohne Medium sieht man nichts, wie umgekehrt das Medium selbst unsichtbar bleibt, das als durchsichtiger Stoff, der sich von Licht unterscheidet, lediglich indirekt, d. h.

Dietrich Kerlen: Einführung in die Medienkunde (Stuttgart 2003) 9. Hans-Dieter Bahr: Medien-Nachbarschaften I. Philosophie. In: Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen, hg. von Joachim-Felix Leonhard et al. (Berlin 1999) 273–281. 3 Aristoteles: De anima 419a 20; 421 b 9; 422 b 22; 423 a 23, b 26. Philosophische Schriften Bd. 6 (Hamburg 1995) 45 ff. 4 Stefan Hoffmann: Geschichte des Medienbegriffs. Archiv für Begriffsgeschichte. Sonderheft (Hamburg 2002) 29 ff. 5 Aristoteles, a. a.O. [Anm. 3] 418 b 1, 4, 12, 28, 30. 1 2

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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durch ›Trübung‹ hervorzutreten vermag. ›Medium‹ und ›Medialität‹ bilden dann negative Größen, die in dem Maße eine konstitutive Funktion erfüllen, wie sie sich ihrer Wahrnehmbarkeit verweigern. Von hier aus schreibt sich eine Traditionslinie des Medienbegriffs fort, wie sie für die gesamte Naturphilosophie und Physik der frühen Neuzeit bis zur Romantik maßgeblich geblieben ist: Immer geht es um ein Stoffliches, das wahrnehmbar macht, dessen Materialität freilich fraglich bleibt. Das gilt für die nacharistotelische Ära genauso wie für die mittelalterliche Optik oder die Lehren Francis Bacons und Gottfried Wilhelm Leibniz’. Noch der Ätherbegriff zehrt davon; doch setzen mit der Entdeckung anderer, nichtstofflicher Milieus wie dem Magnetismus, der Elektrizität und der Gravitation in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begriffliche Verschiebungen ein, die die Verwendung des Medienbegriffs an Energien anschließen, die selbst nicht stofflich sind, sondern Stoffe bewegen. Es sind diese Verschiebungen, die seinen Übergang zur Metapher prädestinieren, wie sie sich beispielsweise in Johann Gottfried Herders Sprachphilosophie findet, denn die Sprache »ist also für die Vernunft ein solches Medium von Absonderungen, Bildern, Karaktern, Geprägen, als das Licht dem Auge war […].«6 Dann liegt ein Medienverständnis nahe, wie es sich ebenfalls in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik findet, das das Mediale überhaupt mit »Vermittlung« gleichsetzt und ans Symbolische koppelt.7 Doch bliebe diese knappe Rekonstruktion der Vorgeschichte des Medienbegriffs unvollständig, wenn nicht gleichzeitig noch eine weitere Linie verfolgt würde, die ebenfalls im 19. Jahrhundert beginnt und auf Industrialisierung und Technisierung als Vorboten einer neuen Kultur reagiert. Sie nimmt vor allem den Faden der Immaterialität und Entkörperlichung auf, wie er einerseits mit Energien verbunden ist, andererseits mit den visuellen Reproduktions- und Illusionstechniken, an deren Spitze zunächst die Fotografie, später der Film stehen. Sie gestatten, dem Medialen gleichzeitig okkulte Züge anzudichten. Dabei nehmen lichtempfindliche Chemikalien genauso wie Elektrizität den einstigen Platz des Diaphanen ein, der jetzt freilich substanzlos wird, so daß das Medium nicht länger im Sinne eines unsichtbaren Stoffes zu verstehen ist, sondern Prozessen einer ebenso unsichtbaren wie verlustlosen Übertragung dient, denen geradezu magische Qualitäten zugeschrieben werden. Bis in die 1950er Jahre hielt sich noch die Bedeutungsschicht des Geistvermittlers, wenn vom ›Medium‹ die Rede war – die keineswegs marginale Konnotation bezeugt ihre medienhistorische Relevanz vor allem dadurch, daß die frühen Ausdrücke des ›Fernsehens‹ und ›Fernhörens‹, wie sie im späten 19. Jahrhundert aufkommen, durchweg der Be-

6 J. G. Herder: Vom Erkennen und Empfinden [1775]. Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. 8 (Berlin 1892) 291. 7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Einleitung. Sämtliche Werke, hg. von Hermann Glockner, Bd. 12 (Stuttgart-Bad Cannstatt 41964) 56; vgl. D. Mersch: Medientheorie zur Einführung (Hamburg 2006).

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schreibung telepathischer Phänomene entstammte und erst später ins Vokabular technischer Medien einwanderte.8

II. Medialität, Übersetzung, Geschichte Mit dieser Bürde tritt der Medienbegriff ins 20. Jahrhundert und trifft dort sowohl auf das Phänomen der Masse als auch auf eine Explosion neuer Medientechnologien – vom Phonographen bis zu Radio, Film und Fernsehen. Den Medienbegriff schon früh in diese Richtung weitergedacht und zu einer Philosophie der Wahrnehmung und Übertragung im Zeichen von Sprache, Geschichte und Kunst ausgebaut zu haben, ist das besondere Verdienst von Siegfried Kracauer und Walter Benjamin.9 Beide interessieren die Oberflächenphänomene, die als Fragmente oder Splitter die Umbrüche einer neuen Zeit lesbar machen, wobei die privilegierten Referenzen neben Fotografie und Film das Panorama, Reisen, die Weltausstellung sind, sowie das, was Dingwelten, Interieur und die ihnen korrespondierende Praxis des Sammelns physiognomisch preisgeben. Sie bilden Kaleidoskope einer durchgängigen Mediatisierung der Lebenswelt, die bis in Atmosphären durchschlägt und den Medienbegriff ubiquitär erscheinen lassen. Vor allem Benjamin kennt Medienreflexion in dreifacher Hinsicht: zum einen mit Blick auf die Sprache und ihre Übersetzungsproblematik, zum zweiten hinsichtlich von Einzelmedien, wobei die optischen Geräte dominieren, schließlich drittens in Gestalt von Artefakten und das, was sie an Sprache und Ausdruck zeigen. Benjamin spannt damit von vornherein ein weites Feld auf, wofür die frühe Arbeit Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen von 1916 als Schlüsseltext fungieren kann. Sie rückt die Frage des Medialen als Übersetzungsproblem ins Zentrum.10 Zugrunde liegt ein messianischer Sprachbegriff, der zugleich an Herder und die frühromantische Sprachauffassung anschließt.11 Ihr Leitbild ist die Sprache Gottes als »reine Sprache« im Sinne unmittelbarer Nennung des »Wesens«, wohingegen die Sprache des Menschen notwendig der Übersetzung bedarf, die, wie die Vorrede zum Ursprung des deutschen Trauerspiels nahelegt,12 an einer chronischen Verfehlung leidet. Alle Erkenntnis ist folglich Mediation und alle Mediation Übersetzung, die ihre Ankunft verweigert

8

Medientheorie 1888–1933, hg. von Albert Kümmel, Petra Löffler (Frankfurt a.M. 2002)

38 ff. Bes. S. Kracauer: Das Ornament der Masse (Frankfurt a.M. 1977); ders.: Kino (Frankfurt a.M. 1974); W. Benjamin: Gesammelte Schriften, 7 Bde. (Franfurt a.M. 1972–89). 10 Ders.: Ges. Schriften, ebd. Bd. II. 1, 140–157. 11 Winfried Mennighaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie (Frankfurt a.M. 1995); Anja Hallacker: Es spricht der Mensch. Walter Benjamins Suche nach der lingua adamica (München 2004) 47 ff. 12 W. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Ges. Schriften, Bd. I. 1, a. a.O. [Anm. 9] 214 ff. 9

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und den Grund »aller Traurigkeit und (vom Ding aus betrachtet) allen Verstummens« der Natur ausmacht.13 Dann bestünde, so Benjamin in Die Aufgabe des Übersetzers von 1921, dessen Leistung darin, die Differenz zwischen Sprachen ebenso zu bezeugen, wie ihre »überhistorische Verwandtschaft« zueinander, deren Kriterium »die reine Sprache« Gottes darstellt.14 Irdisch vermöge sie allein die Kunst zu berühren, die selber noch »in gewissen Arten von Dingsprachen« gründet, um darin erneut den »Zusammenhang mit Natursprachen« zu erretten.15 Klingt darin bereits die Figur der Aura an, gilt ähnliches auch für den Sammler und das Sammeln, das ebenfalls eine Übersetzungsleistung vollbringt, denn das Gedächtnis, heißt es in den Denkbildern, sei nicht das Instrument, sondern das »Medium« des Vergangenen »wie das Erdreich das Medium ist, in dem die alten Städte verschüttet liegen«:16 Es formt und verkleidet, wie alle Mediation, was es verwahrt. Entsprechend betrachte der Sammler seine Stücke mit dem »Blick des Physiognomikers« und verwandle sie in eine »magische Enzyklopädie«, um »durch sie hindurch in ihre Ferne zu schauen«,17 deren Gewinnung ihm nicht weniger versagt bleibt wie dem Übersetzer das Original. Im Zuge von Benjamins Adaption marxistischer Ideen wird dieses dem Messianismus jüdischer Theologie entnommene Motiv jedoch durch einen diesseitigen Utopismus ersetzt, so daß die Wunde der nicht zu heilenden Differenz zwischen dem Göttlichen und Menschlichen in politische Praxis umschlägt. Das Medium der Übertragung, auf das der Mensch ebenso notwendig verwiesen ist, wie dessen Mediationen scheitern, muß sich dann selbst noch transformieren. Umgekehrt verändert sich mit dem Medium auch die Wahrnehmung, die so geschichtlich wird. Zum ersten Mal formuliert sich damit ein Medienbegriff im Sinne einer Konstitutionslehre. Sie wird für alle weitere Medientheorie des 20. Jahrhunderts leitend bleiben. Dafür steht besonders der späte, für die Benjaminsche Medientheorie zentrale Essay über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von 1936/1939, der den früheren, magisch konnotierten Aura-Begriff gegen eine, wie es im Nachwort heißt, »Politisierung der Kunst« ausspielt und als deren Emblem die Ästhetik des Films entdeckt wird18 – ein Schluß, der das Mißfallen Gershom Sholems auslöste, der darin Verrat an allem sah, wovon Benjamin in

13

Ders.: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, a. a.O. [Anm. 9]

155. 14 15

Ders.: Die Aufgabe des Übersetzers. Ges. Schriften IV. 1, a. a.O. [Anm. 9] 13. Ders.: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, a. a.O. [Anm. 9]

156. Ders.: Denkbilder. Ges. Schriften IV. 1, a. a.O. [Anm. 9] 400. Ders.: Das Passagen-Werk (Frankfurt a.M. 1982), Bd. 1, 274, 275 passim. 18 Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Ges. Schriften Bd. I. 2, a. a.O. [Anm. 9] 2. Fassung 471–508, hier: 508. 16 17

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seiner Jugend ausging.19 Doch enthält der Essay nicht nur in nuce eine Theorie des Kinematografischen, die für die künftige Erforschung medialer Strukturen richtungsweisend werden sollte,20 er impliziert auch, den Medienbegriff mit Bezug auf sein Verhältnis zur Kunst zu historisieren und ihm eine politische Sprengkraft zu verleihen. Denn anstelle der Orientierung an der »Unmittelbarkeit« der göttlichen Sprache tritt nunmehr die gesellschaftlich zu vollbringende Tat der Vermittlung. Kunst findet dann nicht länger ihr Kriterium in der Anrührung an eine verlorene Dingsprache, deren Auratisches, wie es im späten BaudelaireText heißt,21 sie im antwortenden »Widerblick« empfängt; vielmehr würden die »Veränderungen im Medium der Wahrnehmung, deren Zeitgenossen wir sind«, allererst im »Verfall der Aura« begreiflich, wie sie die technische Reproduktion besorge.22 Das an »Ursprungsglaube«, »Kult« und »Ritus« angelehnte »bürgerliche« Kunstideal23 muß dann zugunsten einer neuen, revolutionären Ästhetik untergehen. Das Anliegen Benjamins ist also nicht nur, Veränderungen des Medialen in seinen Folgen entzifferbar zu machen, sondern Kunst und Ästhetik in sozialer Praxis zu begründen, der Erlösung nicht länger in unerreichbarer Ferne winkt, sondern gestattet, durch Einsatz technischer Mittel »die Dinge räumlich und menschlich ›näherzubringen‹«:24 »In dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik.«25

III. Mündlichkeit und Schriftlichkeit So formiert sich im Laufe der 1920er und 30er Jahre auf theoretische Weise, was im eigentlichen Sinne als Analyse medialer Wirklichkeiten apostrophiert werden kann. Sie bedeutet, im Medialen eine konstitutive Kraft zu erkennen. Neben Benjamins und Kracauers Büchern gehören dazu ebenfalls Bertolt Brechts Radiotheorie und Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Überlegungen zur Kulturindustrie in deren Dialektik der Aufklärung, die eine Philosophie medialer Massenkultur beinhalten. Sie sind durchweg kritischer Natur. Gleich-

19 Gershom Sholem: Walter Benjamin. Die Geschichte einer Freundschaft (Frankfurt a.M. 1975) 257 ff. 20 Joel Snyder: Benjamin on Reproducibility and Aura: A reading of ›The Work of Art in the Age of its Technical Reproducibility‹. In: Benjamin. Philosophy, Aesthetics, History, ed. by Gary Smith (Chicago, London 1989) 158–174. 21 W. Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Ges. Schriften I. 2, a. a.O. [Anm. 9] 509–690, hier: 646 f. 22 Ders.: Das Kunstwerk…, a. a.O. [Anm. 18] 479. 23 Ebd. 480. 24 Ebd. 479. 25 Ebd. 482.

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wohl kündet sich gleichzeitig und alternativ dazu eine andere Diagnose an, die Umberto Eco rückblickend und im Gegenzug zur Apokalyptik der Frankfurter Schule als Perspektive der »Integrierten« charakterisierte.26 Sie prophezeiten einen Wandel von der jahrhundertelang dominierenden Schriftkultur zu dem, was sie unter das Stichwort der »sekundären Mündlichkeit« stellten und mit Freiheit assoziierten. Tatsächlich läßt sich der Gedanke bis zu Bela Balász’ Der sichtbare Mensch von 1924, der einen Ausblick auf ein bevorstehendes »visuelles Zeitalter« gibt, worin das Bild das Wort überflügelt, sowie zu István Hajnals Die Erneuerung des Schreibwesens: Ein Beitrag zur Schriftgeschichte zurückverfolgen, die vieles von dem vorwegnehmen, was ein halbes Jahrhundert später Marshall McLuhan als »Ende der Gutenberggalaxis« ausrief.27 Doch waren es vor allem die amerikanischen Sozialanthropologen und Sozialwissenschaftler wie Talcott Parsons oder Harold Innis, die die Effekte von »Mechanisierung« und Industrialisierung untersuchten, um sie bis auf den Buchdruck zurückverfolgten. Zusammen mit McLuhan, Eric Havelock und später Walter J. Ong, Jack Goody und Ian Watt läuteten sie jene Debatte ein, die die Heraufkunft einer »elektronischen Kultur« mit völlig neuen Sozialstrukturen prognostizierten. Zugrunde liegt ein Medienbegriff, der, anders als die Übersetzungsproblematik Benjamins, Medialität aus dem Modell des »Transports« und damit von vornherein technisch verstand, auch wenn die Historizität des Medialen, sein Einfluß auf Kultur und Gesellschaft, als zugrundeliegendes Motiv weitergeschrieben wurde. Die Toronter Schule um McLuhan inaugurierte auf diese Weise eine Position, wie sie der heute geläufigen Verwendung des Ausdrucks nahe kommt und weit auf den Siegeszug von Fernsehen, Computerisierung und Internet vorwies: Derrick de Kerkhove hat den »McLuhanismus« in diesem Sinne weiterentwickelt und radikalisiert.28 So fügen sich in der langen Periode zwischen den 1930er Jahren und der Nachkriegszeit bis etwa 1970 die Bausteine für jenen zeitgenössischen Medienbegriff zusammen, der die medientheoretische Diskussion in Richtung Technikgeschichte und gesellschaftlicher und kultureller Effekten »Neuer« Medien ausweitete.29 Die Initialzündung dafür lieferten McLuhans Schriften The Gutenberg Galaxy von 1962 und Understanding Media von 1964.30 Präsentierte dieser sich noch in The Mechanical Bride. Folklore of the Industrial Man von 195131 als

26 U. Eco: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur (Frankfurt a.M. 1984). 27 Kristof Nyíri: Post-Literacy as a Source of Twentieth Century Philosophy. In: Synthese (2002/2) 185–199. 28 Derrick de Kerckhove: Schriftgeburten (München 1995). 29 Claus Pias: Zur Einführung. In: Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, hg. von Claus Pias et al. (Stuttgart 42002) 78. 30 M. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis (Bonn 1995); ders.: Die magischen Kanäle (Frankfurt a.M. 1970). 31 Ders.: Die mechanische Braut. Volkskultur des industriellen Menschen (Amsterdam 1996).

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Advokat einer literarischen Kultur, entdeckte er später die Auswirkungen der medialen Massenkommunikation auf die Gesamtheit der Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsstrukturen, so daß der Medienbegriff eine ebenso transzendentale wie anthropologische Note erhielt: Medien bezeichnen diejenigen Bedingungen, ohne welche der Mensch einerseits nicht zu leben vermag, die andererseits aber auch seine Erfahrungen, sein Wissen sowie seine sozialen und politischen Beziehungen determinieren. Medien gleichen dann materialen wie mentalen Milieus, die uns umhüllen, worin wir uns bewegen und die wir, gleich einer zweiten Haut, nicht abzustreifen vermögen. Entsprechend versteht McLuhan unter Medien sämtliche Extensionen des menschlichen Körpers und seiner Sinne, seien es Kleidung, Instrumente, die Brille, das Rad oder Bücher, Glühbirnen, Zeitungen und Fernsehen;32 sie korrespondieren, wie Techniken überhaupt, mit Prothesen, die zugleich auf das Artifizielle der menschlich geschaffenen Umwelt verweisen. Sie funktionieren um so effektiver, je mehr sie in der Lage sind, ihre Materialgebundenheit abzustreifen, so daß sich Entkörperlichung als immanentes Telos des Medialen erweist: Der Genealogie der Medien, so McLuhan, wohnt eine fortschreitende De-Materialisierung inne, die nicht nur erlaubt, die innere Dynamik von Mediengeschichte entlang ihrer technologischen Realisation zu dechiffrieren, sondern auch die Utopie des Mediums in einer »Figur ohne Grund« zu erblicken, die vollständig in verlustloser Identität und Transparenz aufgeht.33 Daher das berühmte Diktum, das längst zum geflügelten Wort avancierte: »The medium is the message«.34 Nicht was Medien übermitteln zählt, sondern wie.35 Das Neue an McLuhans Medienbegriff ist folglich, daß er auf den Eigensinn des Medialen abhob und damit über die klassischen hermeneutischen und semiotischen Kulturtheorien hinausging. Gleichzeitig berührten sich seine Analysen mit dem Strukturbegriff des Strukturalismus, wie schon früh Helmut Heißenbüttel bemerkt hat36 – eine Verwandtschaft, die sich ebenfalls darin niederschlägt, daß sich sein Ansatz mit Konstitutionstheorien und dem Begriff des »historischen Apriori« im Sinne Michel Foucaults zusammenschließen ließen.37 Zugleich knüpfte sich daran eine Fortschrittsgeschichte, die in ihrem Determinismus der Hegelschen Geschichtsphilosophie in nichts nachstand, nur daß sie statt einer teleologischen Vernunft ihr Ziel in einer sich zunehmend entmaterialisierenden Medientechnologie erkannte, die gestatte,

32

M. McLuhan, Quentin Fiore: Das Medium ist Massage (Frankfurt a.M., Berlin 1969)

26 ff. M. McLuhan: Das Medium ist die Botschaft (Dresden 2001) 14, 15. Ders.: Die magischen Kanäle, a. a.O. [Anm. 30] 17ff. 35 Ders.: Das Medium ist die Botschaft, a. a.O. [Anm. 32] 193. 36 Helmut Heißenbüttel: Augenzwinkernd gibt er dem Kunden. In: McLuhan Für und Wider, hg. von Gerald Emanuel Stearn (Düsseldorf, Wien 1969) 302f. 37 Oliver Lerone Schultz: Marshall McLuhan – Medien als Infrastrukturen und Archetypen. In: Medientheorien. Eine philosophische Einführung, hg. von Alice Lagaay und David Lauer (Frankfurt a.M., New York 2004) 31–68, hier: 45 f. 33 34

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die stets begrenzte und regionale zwischenmenschliche Kommunikation im globalen Maßstab miteinander zu verbinden. Noch einmal erscheint so der Anspruch auf Universalgeschichte wiederholbar, diesmal im Gewand von Medientheorie.

IV. Technikphilosophien des Medialen Ein, zwei Jahrzehnte vor McLuhan sind dazu bereits die Vorbedingungen gelegt worden, indem die medialen Übertragungs-, Aufzeichnungs- und Verarbeitungsfunktionen einer durchgängigen mathematischen Schematisierung unterworfen wurden. Sie geschieht dreifach: einmal als mathematische Theorie der Kommunikation, wie sie Claude Shannon und Warren Weaver vorschlugen, zum zweiten durch die Formalisierung des Algorithmus, z. B. in Gestalt der ›TuringMaschine‹, sowie drittens durch die Kybernetik als formale Theorie der Steuerungssysteme. Erstere basiert auf der Generalisierung des Informationsbegriffs, der den Medienbegriff auf den ›Kanal‹ zwischen ›Sender‹ und ›Empfänger‹ reduziert, während die Turing-Maschine auf der Annahme eines virtuellen Endlosbandes sowie einer Matrix von Befehlen beruht, die in der Lage sein sollte, jede entscheidungslogisch darstellbare Aufgabe in endlich vielen Schritten zu lösen; schließlich modellierte letztere das Prinzip der Selbstreferenzialität oder Selbstreflexion auf der Grundlage von Feedback-Schleifen. Alle drei wiederum bildeten das Fundament einer Computerisierung, die sämtliche, vormals getrennten, medialen Formate wie Schrift, Bild, Text oder Zahl und Raum in sich vereinigte und ihre wechselseitige Transferierung erlaubte. McLuhans »Ende der Gutenberg-Galaxis« war damit buchstäblich geworden, und zwar als Ersetzung des Alphabets durch den Digitalcode. Seither steht die Technisierung der Kommunikation unter dem mächtigen Fokus einer Konvergenz, die dabei ist, als »universale Schnittstelle« die unterschiedlichsten Technologien miteinander zu verkoppeln und bis in die Privatsphäre hinein das Leben nachhaltig zu verändern. Der Umstand hat den Mediendiskurs und seine Begriffe noch einmal revolutioniert. So hat der Siegeszug des Computers in den 1960er und 70er Jahren und vor allem die Durchsetzung des Internets in den 1990er Jahren das Wort von der »Informationsgesellschaft« geprägt, für die Kompatibilität, Instantibilität und Konnektibilität als Schlüsselthemen zeichnen. Darauf haben, im Zeichen von Poststrukturalismus und Postmoderne, »neue« Medientheorien reagiert, die auf die Immaterialität des Medialen setzten und mit der Strukturalität des Symbolischen, die nur mehr Signifikantenketten und keine Substanzen mehr kennt, kurzschlossen. Genannt seien vor allem Jean Baudrillard mit seiner These vom Verschwinden des Realen im Simulakrum, Paul Virilio und seine Beschwörung eines Exzesses von Geschwindigkeiten, vor allem aber Vilém Flusser und Friedrich Kittler als Begründer einer universellen ›Medienphilosophie‹, die in Digitalisierung und Computerisierung die Transformation aller bisherigen Kultur

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erblickten. Das ›Neue‹ des Mediums Computers ist danach die Ersetzung der Repräsentation durch syntaktische 0-1-Reihen, der Mimesis durch Simulation sowie der Übersetzung durch Echtzeit-Übertragungen und nahezu unbegrenzter Speicherkapazitäten, die klassische Unterscheidungen wie die zwischen Sein und Schein, Realität und Fiktionalität, Original und Kopie oder Autor und Rezipient obsolet machten. Einer der ersten, die dies spürten, war V. Flusser, der als wichtigster Impulsgeber gegenwärtiger Medientheorien gelten kann. Er knüpfte sowohl an semiotische Ansätze als auch an die Phänomenologie Edmund Husserls und Motive Martin Heideggers an, um Medialität aus elementaren »Gesten« wie »Schreiben«, »Rechnen« oder »Bilden« und »Gestalten« herzuleiten. Suchte er ihre verschiedenen Aspekte unter der Perspektive einer allgemeinen »Kommunikologie« zusammenzufassen, deren Ausarbeitung sich über einen Zeitraum von mehr dreißig Jahren erstreckte, gelang sein entscheidender Durchbruch erst in den 1980er Jahren mit Büchern wie Ins Universum der technischen Bilder oder Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft.38 Sämtlich kreisen sie um das Schicksal des »alphanumerischen Codes« sowie der Utopie einer »telematischen Gesellschaft«,39 die bündelt, was Flusser als eigentliches Ziel seiner Überlegungen vorschwebte: »Die hier auszubreitende Hypothese lautet: Die okzidentale Kultur ist ein Diskurs, dessen wichtigste Informationen in einem alphanumerischen Code verschlüsselt sind, und dieser Code ist daran, von anders strukturierten Codes verdrängt zu werden. Falls die Hypothese zutreffen sollte, dann wäre in naher Zukunft mit einer tief greifenden Veränderung der Kultur zu rechnen. Die Veränderung wäre tief greifend, weil unser Denken, Fühlen, Wünschen und Handeln, ja sogar unser Wahrnehmen und Vorstellen, in hohem Maße von der Struktur jenes Codes geformt werden, in welchem wir die Welt und uns selbst erfahren.«40 Implizierte dabei der klassische »Diskurs« des alphanumerischen Codes Linearität und Geschlossenheit, bestünde durch »Codewechsel« und Implementierung »digitaler Codes« nunmehr die Chance, reziproke Kommunikationsnetze zu entwickeln, die auf »authentische Weise demokratisch« verführen.41 Mit Rückgriff auf die Ethik Martin Bubers und Franz Rosenzweigs42 formuliert Flusser damit eine Parallele zum Messianismus Benjamins, doch so, daß die vorherrschende »verfremdete, konsumierende [und] massifizierende« Logik der Massenmedien43 durch einen Utopismus der »Nähe« überwunden werde,

V. Flusser: Ins Universum der technischen Bilder (Göttingen 61999); ders.: Die Schrift (Göttingen 21989). 39 Ders.: Medienkultur (Frankfurt a.M. 21999) 145 ff. 40 Ders.: Krise der Linearität. In: absolute Vilém Flusser, hg. von Silvia Wagnermaier und Niels Röller (Freiburg 2003) 71–84, hier: 71. 41 Ders.: Kommunikologie (Frankfurt a.M. 32003) 32 ff. 42 Ders.: Ins Universum der technischen Bilder, a. a.O. [Anm. 38] 170 ff. 43 Ders.: Kommunikologie, a. a.O. [Anm. 41] 21 ff., 225. 38

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worin das, was Benjamin in Form einer politischen Ästhetik vorschwebte, im Technischen verwirklicht. F. A. Kittler, dessen Medienbegriff weite Teile der deutschen Diskussion beeinflußt hat, hat daran, ebenso wie an McLuhan, angeknüpft, allerdings um deren Implikationen in Richtung eines Antihumanismus zuzuspitzen. Davon zeugt schon der Titel seiner Frühschrift Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften von 1980, die von der konsequenten Ersetzung klassischer philosophischer Begriffe wie Geist, Seele, Bewußtsein, Subjekt oder Sinn durch Medientechnologien, genauer: durch Buchstaben, Signale, Datenverarbeitung und Turingmaschinen handelt. Nicht Botschaften oder Inhalte zählen, sondern, wie es ebenso schlagend und provokant in Grammophon, Film, Typewriter von 1986 heißt, »einzig Schaltungen, dieser Schematismus von Wahrnehmung überhaupt«.44 Und Draculas Vermächtnis, eine Sammlung »technischer Schriften« von 1993, ergänzt: »Nichts ist, was nicht schaltbar ist.«45 Formuliert wird so das Programm eines medientechnischen Universalismus, dessen Basis ein »informationstheoretischer Materialismus« mit der Konsequenz bildet,46 dem Medialen ausschließlich einen »technischen Sinn« zuzuschreiben: »An ihnen zählen nur Materialität, Sende-, Empfangsbedingungen und Frequenz der Zeichen.«47 Ausdrücklich nimmt dabei Kittler auf McLuhans The medium is the message Bezug,48 doch so, daß das »Begehren nach Medialität« keinem Wunsch nach Organerweiterung, sondern allein einem Willen zur Optimierung des Technischen gehorcht. Und gegen semiotische Ansätze schließt Kittler – darin radikaler als Flusser – jede Referenzialität aus. Kittler postuliert damit, vielleicht entschiedener als andere Medientheoretiker, ein »mediales Apriori«,49 das zuletzt in eine umfassende Rationalitäts- und Philosophiekritik mündet. Die Technik wie auch die materiellen Eigenschaften der »Hardware« bilden ihr Kriterium. Was Foucault als Geschichte von Diskursordnungen entfaltete, wird nunmehr ›medienmaterialistisch‹ konkretisiert: Als Auflösung DES Menschen im Rahmen einer fortschreitenden Implementierung von Denkmaschinen, die Bewußtsein, Wahrnehmung oder Gedächtnis als Effekte von Medientechniken entlarven.50 Doch was sich derart als Technikversessenheit geriert, entpuppt sich gleichzeitig als Umschreibung der Grundprämissen strukturaler Linguistik: Kittler wird das Sprach- und Textapriori, das das Paradigma fast aller Medienbegriffe des 20. Jahrhunderts ausmacht, nicht los.

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Friedrich A. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter (Berlin 1986) 332. Ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften (Leipzig 1993) 152. Ebd. 182. Ders.: Nietzsche. In: Klassiker der Literaturtheorie, hg. von Horst Turk (München 1979)

195. 48 Ders.: Geschichte der Kommunikationsmedien. In: Raum und Verfahren. Interventionen, hg. von Jörg Huber et al. (Basel, Frankfurt a.M. 1993) 169–188, hier: 172. 49 Ders.: Grammophon, Film, Typewriter, a. a.O. [Anm. 44] 167. 50 Ebd. 29.

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Sein Technikdeterminismus verdankt sich vielmehr einer durchgängigen Verschränkung von Mathematik und Schrift, die er vom Anfang ihrer antiken Identität bis zum Ende ihrer digitalen Synthese verfolgt. Die alte, seit Aristoteles tradierte Bestimmung des μεταξú, des stofflichen ›Zwischen‹, das Materialität mit Medialität verquickte und dem Medialen eine ästhetische Bestimmung verlieh, scheint damit endgültig ausgeräumt: Stoff und Form werden als Größen hingestellt, die die »Medienwissenschaft […] vergessen [darf]«.51

V. Spur und Differenz: Zur Reflexivität des Medialen Es war demgegenüber Niklas Luhmann, der zeitgleich an den ursprünglichen, ästhetischen Sinn des Mediums wieder anknüpfte und einen Medienbegriff einführte, der aus dem Technikdiskurs heraustrat. Sein Entwurf, der sich in großen Teilen sowohl auf Fritz Heiders Ding und Medium (1926) als auch auf George Spencer-Browns Laws of Form (1969) berief, erfreut sich inzwischen innerhalb der deutschsprachigen Mediendiskussion ebenso weiter Verbreitung wie er gleichzeitig eine Sonderrolle spielt. Vorderhand scheint der Medienbegriff zwar eine Marginalie unter den primären Unterscheidungen zwischen »System« und »Umwelt«, »allopoietischen« und »autopoietischen« Systemen oder »Beobachtung erster Ordnung« und »zweiter Ordnung«; zudem argumentiert Luhmann soziologisch und im Namen einer »Theorie sozialer Systeme«, deren allgemeine Strukturen er seit ihrer Grundlegung in den Sozialen Systemen von 1984 bis zu seinem monumentalen Hauptwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft von 1997 durchzudeklinieren versuchte. Doch bildet ihr Kern eine Theorie der Kommunikation, die insoweit als »allgemeinstes Medium« ausgewiesen wird, als es »psychische und soziale Systeme« allererst ermöglicht.52 Der Medienbegriff taucht damit als Systemkategorie auf, die eine prominente Stelle eines gesellschaftlichen Konstituens besetzt und zusehens, vor allem in Differenz zur »Form«, die Grundunterscheidung zwischen »System« und »Umwelt« rekonzeptualisiert:53 »Kommunikationssysteme konstituieren sich selbst mit Hilfe der Unterscheidung von Medium und Form […]. Kommunikation ist nur […] als Prozeß dieser Differenz möglich.«54 Auffallend ist, daß Luhmann die Form-Medium-Differenz entlang der klassischen Unterscheidungen wie Form und Stoff bzw. actus und potentia entwickelt, diese aber zugleich überschreitet. Insbesondere werden nicht Funktionen, wie Übertragung und Speicherung, ausgezeichnet, sondern Gestaltungen. Dann läßt

51 Ders.: Zahl und Ziffer. In: Bild, Schrift, Zahl, hg. von Sybille Krämer und Horst Bredekamp (München 2003) 193–204, hier: 197. 52 N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Frankfurt a.M. 1997) 173. 53 Stefan Weber: Theorien der Medien (Konstanz 2003) 206. 54 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (Frankfurt a.M. 1997) 195.

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sich der Medienbegriff nur negativ bestimmen, weil allein Formen als »strikte Kopplungen« kenntlich seien, wohingegen Medien im Sinne »loser Kopplungen« als deren Konditionen zurücktreten.55 Beide Ausdrücke verhalten sich demnach zueinander wie Bedingendes und Bedingtes, wobei der Ausdruck »lose Kopplung«, der im Grunde schon bei Heider vorkommt,56 nicht etwas gänzlich Unstrukturiertes meint; vielmehr bleibt dessen Strukturalität unbestimmt und besitzt die Eigenart, andere Strukturen hervorzubringen.57 Historisch sind dabei Medien und Formen einem laufenden Prozeß der »Kopplung und Entkopplung« unterworfen, woraus sich erst die »Fülle« differenter »Wirklichkeiten« ergibt – ein Prozeß, der dem unendlichen Spiel von Figuration und Defiguration bei Jacques Derrida und Paul de Man vergleichbar ist. Dennoch enthüllt sich am Funktionalismus der Begriffe auch der Mangel der Luhmannschen Konzeption: Sie läßt an Bausätze denken, aus denen Formen aus Formen gefügt werden können, die nirgends über die Möglichkeit einer Medienreflexivität Rechenschaft ablegen, so daß die systematische Schwierigkeit besteht, wie ein konsequent differenztheoretischer Medienbegriff, der Medialität im Sinne eines »Zwischen« oder einer »unbestimmten Mitte« ernst nimmt, angemessen bestimmt werden kann. Die Schwierigkeit deckt sich mit dem Problem jener Verallgemeinerung des Medienbegriffs, wie er im Verlauf des 20. Jahrhundert vom Stoffbegriff über Milieu bis zu einem transzendentalen Konstitutionsbegriff beobachtet werden kann. Denn entweder wird seine Apriorität nur behauptet, dann bleibt unklar, auf welche Weise Medialität als Konstituens fungiert und wie sie kenntlich gemacht werden kann, oder aber der Medien»begriff« ist kein Begriff, sondern eine paradoxe Metapher, die sich positiver Bestimmbarkeit verweigert. Überhaupt unterliegt sein Anspruch auf Universalität der Aporie, einerseits ein Medien-›Anderes‹ oder -›Äußeres‹ nicht denken zu können, anderseits es jedoch denken zu müssen, um sie als solche plausibel zu machen. Denn wenn ›alles‹, was ist, in Medien gegeben ist, bleibt die Frage, wie Medien selbst gegeben sind und sich zu erkennen geben, so daß wir mit einem circulus vitiosus konfrontiert sind, der voraussetzen muß, was er negiert, und negiert, was er voraussetzt. Einen Ausweg bietet der Rekurs auf die Spätphilosophie Heideggers und die Grammatologie Derridas, wie ihn jüngere Medientheorien vorschlagen. Zwar sprechen diese nicht explizit von Medien, wohl aber von Sprache und Schrift, doch lassen sich daraus methodische Leitlinien ziehen, die für eine Untersuchung des Medialen fruchtbar gemacht werden können.58 So beginnen Heideggers Überlegungen in Unterwegs zur Sprache mit der Problematik der unver-

Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, a. a.O. [Anm. 52] 170 f., 173 f., 209. Fritz Heider: Ding und Medium (Berlin 2005) 37 f. 57 N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, a. a.O. [Anm. 52] 167 ff. 58 D. Mersch: Negative Medialität. Derridas Différance und Heideggers Weg zur Sprache. In: Journal Phänomenologie 23 (2005) 14–22. 55 56

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meidbaren Selbstreferenzialität alles Sprechens über die Sprache, weil dieses bereits jene Sprache Anschlag gebracht haben muß, über die es spricht. Der »Weg zur Sprache« sieht sich darum zugleich »in ein Sprechen verflochten […], das gerade die Sprache freistellen möchte, um sie als die Sprache vorzustellen und das Vorgestellte auszusprechen, was zugleich bezeugt, daß die Sprache selber uns in das Sprechen verflochten hat.«59 Erweist es sich darum als unmöglich, die Sprache von einem anderen Ort als der Sprache – und nota bene das Medium von einem anderen Ort als dem Medium – thematisch zu machen, kann sie als Sprache und d. h. auch als Medium nur dort auftauchen, wo ihre Selbsthematisierung in ihren Diskurs bzw. ihre Medialität interveniert und mitspricht. Dann »zeigt« sich das »Wesen der Sprache« gerade aus den Marken und Differenzen, die ihre Praxis in ihr hinterläßt, so daß Medienreflexion zur Spurenlese gerät: An den Rissen oder »Furchen«, so der Heideggersche Ausdruck, die die Reflexion vollzieht, manifestiere sich ihr »Aufriß«60 – ein Wort, das ebenso an eine skizzenhafte Zeichnung oder »Blaupause« gemahnt wie an den »Riß« oder die Brechung und damit an die ganze Indirektheit sprachreflexiver Bemühungen. Sie avanciert für Heidegger zum Grundmotiv, denn alle Rede, die sich »unterwegs« zur Sprache befinde, habe diese bereits »gezeichnet«, d. h. auch modifiziert. Die Konsequenz deckt sich mit der Dekonstruktion Derridas, die mit der Überschreibung von Texten als Strategie einer Entlockung innerer Strukturen arbeitet, um dessen »Unbewußtes« – oder wie man ergänzen könnte –, die verborgene Medialität zu enthüllen. Das »Verfahren«, das eigentlich keine Methode, sondern eine Praktik der Entdeckung darstellt, beschreibt bis in die Wortwahl hinein (»Furche« und »Zeichnung« bei Heidegger61 und »Spur« und »Einschreibung« bei Derrida62) ein analoges Manöver, nämlich ein Unsichtbares anhand jener Veränderungen oder Verschiebungen aufscheinen zu lassen, die ihm durch ihren Vollzug widerfahren. Die gegenwärtige Diskussion des Medienbegriffs schließt daran an, um dem Medienbegriff jenseits seines technologischen Präjudizes eine angemessene philosophische Färbung zu verliehen: Sei es vom Modell der »Spur« und des »Boten« her, sei es von der τéχνη statt der Technik und der μεταφορá statt der Kommunikation her oder sei es als Entzug im Sinne einer »negativen Medientheorie«.63 Zugleich machen diese Versuche deutlich, daß dem Medienbegriff

Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache (Pfullingen 51975) 241, 242 passim. Ebd. 252, 251. 61 Ebd. 251 ff. 62 J. Derrida: Randgänge der Philosophie (Wien 21999) 51 ff. 63 S. Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat. In: Medien, Computer, Realität, hg. von S. Krämer (Frankfurt a.M. 1998) 73–94; dies.: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität (Frankfurt a.M. 2008); Georg Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen (Frankfurt a.M. 2002); D. Mersch: Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine ›negative‹ Medientheorie. In: Performativität und Medialität, hg. von S. Krämer (München 2004) 75–96. 59 60

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innerhalb der geisteswissenschaftlichen Reflexion eine Grundlagenstellung zukommt – vergleichbar den Begriffen des Sinns, des Zeichens oder der Performativität.

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Mensch, Dasein

Wenn es zutrifft, daß jede Zeit – wie Helmuth Plessner behauptet1 – ihr »erlösendes Wort« findet und die Terminologie des 18. Jahrhunderts im Begriff Vernunft kulminiert, die des 19. im Begriff Entwicklung oder vielleicht besser in dem der Geschichte, so kann man mit einigem Recht die These wagen, daß es möglicherweise der Begriff Mensch ist, in dem das 20. Jahrhundert gipfelt. ›Mensch‹ ist ganz ohne Zweifel ein entscheidendes Grundwort des letzten Jahrhunderts, ein veritabler Schlüsselbegriff, nicht nur für den philosophischen Diskurs. Im 20. Jahrhundert findet – nach den Vorläufen bei Nietzsche und Dilthey – die definitive Begründung der modernen philosophischen Anthropologie als integraler Gesamtwissenschaft des Menschen statt.2 Das Denken über den Menschen, in Gestalt der durch M. Scheler begründeten philosophischen Anthropologie, die in der deutschen Philosophie im Verlaufe des Jahrhunderts eine Reihe bedeutender Entwürfe hervorgebracht hat, deren Begründungen von dezidiert metaphysischen Geist-Theorien bis zur postmetaphysischen Theorie der Handlung reichen, entwickelt sich seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu einer Fundamentaldisziplin, die alle weiteren philosophischen Probleme grundiert. Obwohl die philosophische Anthropologie, die mit je unterschiedlichen Ansätzen versucht, das »Transanimalische im Menschen« (Hans Jonas) zu ermitteln, schon Ende der zwanziger Jahre durch Martin Heideggers existenziale Daseinanalyse, die im Dienste einer Fundamentalontologie steht und sich dezidiert als Nicht-Anthropologie begreift, und nach dem 2. Weltkrieg durch Existenzphilosophie, kritische Theorie, analytische Philosophie, philosophische Hermeneutik, Strukturalismus, Dekonstruktivismus oder andere jeweils modische Strömungen des philosophischen Denkens überlagert wird, läßt sich eine kontinuierliche Bewegung philosophisch-anthropologischen Denkens über fast das gesamte Jahrhundert hin ausmachen, das gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine neue Aktualität erlebt. Heidegger bemerkt schon kritisch: »Keine Zeit hat so viel und so Mannigfaltiges vom Menschen gewußt wie die heutige. Keine Zeit hat ihr Wissen vom Menschen in einer so eindringlichen und bestrikkenden Weise zur Darstellung gebracht wie die heutige. Keine Zeit hat bisher vermocht, dieses Wissen so schnell und leicht anzubieten wie die heutige. Aber

1 H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie [1928] (3Berlin, New York 1975) 3. 2 Vgl. zuletzt die große Darstellung von Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts (Freiburg, München 2008).

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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auch keine Zeit wußte weniger, was der Mensch sei, als die heutige. Keiner Zeit ist der Mensch so fragwürdig geworden wie der unsrigen.«3

I. Am Anfang dieser Denkbewegung steht Max Scheler, der versucht, mit einer Wesensbestimmung des Menschen, für die noch einmal Anleihen bei der traditionellen Geist-Metaphysik gemacht werden, auf die Krisenlage des modernen Menschen zu reagieren. Anfänglich vertritt Scheler die These, daß alle zentralen Probleme der Philosophie »in einem gewissen Verstande« auf die Frage zurückzuführen seien, »was der Mensch sei und welche metaphysische Stelle und Lage er innerhalb des Ganzen des Seins, der Welt und Gott einnehme«. Diese Frage nach dem Menschen bestimme die gesamte gegenwärtige moderne Philosophie.4 Daneben gewinnt durch die Entwicklung der modernen Biologie u. a. die Frage nach der »Idee des Menschen«, nach dem Verhältnis des »homo naturalis«, also des Menschen im Naturzustand, zum Kulturmenschen an entscheidender Relevanz. Da die klassischen Definitionen des Menschen (»homo sapiens«, »homo faber« etc.) Scheler zu eng sind und ein so »breites, buntes, mannigfaltiges Ding« wie ihn nicht treffen,5 glaubt er, den Weg zur Kultur nicht historisch, sondern nur metaphysisch erklären zu können. Unter rein biologischer, vitaler Perspektive betrachtet, ist der Mensch das »konstitutiv kranke Tier, das Tier, in dem das Leben einen faux pas gemacht und sich in eine Sackgasse verlaufen hat«, und nicht die Krone der vitalen Entwicklung. Der menschliche Verstand ist demgemäß keine ursprüngliche, »sondern nur diejenige Tugend, die ein ursprünglicher Mangel zur Folge hat«. Verstand wie auch Sprache und Werkzeugbildung sind demnach »ein Surrogat für den ausbleibenden oder unsicher gewordenen Instinkt«.6 Andererseits ist der Mensch - oder kann es sein - zugleich mit seinem Verstand auch »das alles Leben und in ihm sich selbst transzendierende Wesen«.7 »›Mensch‹ in diesem ganz neuen Sinne ist die Intention und Geste der ›Transzendenz‹ selbst, ist das Wesen, das betet und Gott sucht.«8 Als solcher aber ist der Mensch undefinierbar: »Er ist nur ein ›Zwischen‹, eine ›Grenze‹, ein ›Übergang‹, ein ›Gotterscheinen‹ im Strome des Lebens und ein ewiges ›Hinaus‹ des Lebens über sich selbst.«9 Sinnvoll erscheint es Scheler allein, den Menschen als »›Gottsucher‹ und als Durchbruchspunkt einer allem sonstigen Natur-Dasein M. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik [1929] (Frankfurt a.M. 41973) 203. M. Scheler: Zur Idee des Menschen [1914]. Gesammelte Werke Bd. 3: Vom Umsturz der Werte (Bern, München 51972) 171–195, zit. 173. 5 Ebd. 175. 6 Ebd. 185. 7 Ebd. 186. 8 Ebd. 185. 9 Ebd. 186. 3 4

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überlegenen Sinn-, Wert- und Wirkform, der ›Person‹« zu bestimmen.10 Damit wird der Mensch in seiner Besonderheit definiert, da er ansonsten, wie die Naturforschung gezeigt hat, Tier nicht nur war, sondern noch ist und »ewig bleiben« wird.11 Entsprechend ist der Mensch ist »der Ort […] für das Auftreten und Insichttreten einer Ordnung der Dinge, die von aller Natur wesensverschieden ist: sie heißt Geist, Kultur und Religion«.12 Das bedeutet auch, daß erst mit dem »gottbezogenen ›historischen‹ Menschen« etwas »Neues« beginnt: »Eben durch die Idee Gottes und einer unendlichen vollkommenen Person.«13 Unter ausschließlich biologischen Gesichtspunkten betrachtet sind der Mensch und seine Vernunft minderwertig.14 Gehlen antizipierend behauptet Scheler, die menschliche Verstandesausbildung sei Folge eines »vitalen Defizits«; er sei hilfsbedürftig und in seiner »Entwicklungsfähigkeit« fixiert; aber gerade darin liege die » Befähigung für die Zivilisation«.15 Unter geistiger Wertsetzung allerdings ist der Mensch das »höchste« Wesen, insofern er »Träger von Akten ist, die von seiner biologischen Organisation unabhängig sind«, von Werten, »die diesen Akten entsprechen«, d. h. er ist ein »sittliches Wesen«, das »über sich und sein Leben hinausgeht«, »alles Leben transzendiert« zum »Göttlichen« hin.16 In seiner Spätzeit argumentiert Scheler ebenfalls metaphysisch, indem er jetzt die These vertritt, daß sich der Weltgrund »im Menschen selbst unmittelbar erfaßt und verwirklicht«. Dabei verzichtet Scheler jetzt auf einen expliziten Gottes-Bezug,17 aber die Grundrichtung seiner Argumentation bleibt erhalten. Vor allem diagnostiziert er, daß man keine einheitliche Idee mehr vom Menschen besitze, da drei »unter sich ganz unvereinbare Ideenkreise« konkurrieren, der Gedankenkreis der jüdisch-christlichen Tradition (der Mensch als Geschöpf Gottes), der griechisch-antike Gedankenkreis (der Mensch als Vernunftwesen) und der Gedankenkreis der modernen Naturwissenschaft (der Mensch als Endergebnis der Evolution). Niemals ist »der Mensch sich so problematisch geworden […] wie in der Gegenwart«.18 Scheler geht von einer »Stufenfolge der psychischen Kräfte und Fähigkeiten« aus. Die unterste Stufe dieses Aufbaus bildet der »bewußtlose, empfindungs-

Ebd. 189. Ebd. 190 f. 12 Ebd. 191. 13 Ebd. 194. Wie Scheler wenig später deutlich macht, soll der Mensch damit nicht als definierbare Einheit, sondern als ein »noch völlig variables« Wesen gedacht werden, als ein »X« mit einem »unendlichen Spielraum.« (Gesammelte Werke Bd. 2: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik [Bern 41954] 305 f.) 14 Vgl. Der Formalismus …, ebd. 299. 15 Ebd. 301. 16 Ebd. 302 f. 17 M. Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos. Gesammelte Werke Bd. 9 (Bern, München 1976) 70. 18 Ebd. 11. 10 11

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und vorstellungslose ›Gefühlsdrang‹«,19 gefolgt von dem »Instinkt«.20 Als dritte Stufe unterscheidet Scheler das »assoziative Gedächtnis«,21 und abgeschlossen wird die Stufenfolge durch die »prinzipiell noch organisch gebundene praktische Intelligenz«.22 Der Wesensunterschied von Mensch und Tier liegt – das ist Schelers Grundthese – außerhalb dieser Stufenfolge. Es gibt im Menschen über die von ihm unterschiedenen Stufen hinaus etwas ihm spezifisch Zukommendes, was durch Intelligenz nicht getroffen wird. Dieses Neue, was den Menschen erst zum Menschen macht und was ihm seine Sonderstellung sichert, ist der Geist. Er »steht außerhalb alles dessen, was wir ›Leben‹ im weitesten Sinne nennen können«; er ist »ein allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetzes Prinzip: eine echte neue Wesenstatsache, die als solche überhaupt nicht auf die ›natürliche Lebensevolution‹ zurückgeführt werden kann, sondern, wenn auf etwas, nur auf den obersten einen Grund der Dinge selbst zurückfällt: auf denselben Grund, dessen eine große Manifestation das ›Leben‹ ist.« Ein Wesen, das »Geist« hat, ist durch Weltoffenheit und Sachlichkeit ausgezeichnet; es ist nicht mehr trieb- und umweltgebunden, sondern »umweltfrei«, d. h. »weltoffen«. Es ist ferner in der Lage, die »›Widerstands‹- und Reaktionszentren seiner Umwelt«, in der das Tier aufgeht, zu vergegenständlichen und das Sosein dieser Gegenstände rein zu erfassen.23 Durch die Weltoffenheit gelingt es dem Menschen, den »Umweltbann« (prinzipiell) abzuschütteln. Daher kann Scheler definieren: »Der Mensch ist das X, das sich in unbegrenztem Maße ›weltoffen‹ verhalten kann. Menschwerdung ist Erhebung zur Weltoffenheit kraft des Geistes.«24 ›Vergegenständlichung‹ heißt, daß der Mensch die »Umwelt« zur »Welt« distanzieren kann.25 Der Mensch besitzt gegenüber dem Tier die Fähigkeit sich zu sammeln, mit dem Ziel, ein »Bewußtsein des geistigen Aktzentrums von sich selbst« herauszubilden.26 »Sammlung, Selbstbewußtsein, und Gegenstandsfähigkeit des ursprünglichen Triebwiderstandes bilden eine einzige unzerreißbare Struktur, die als solche erst dem Menschen eigen ist.« Das impliziert auch die Fähigkeit, ›nein‹ sagen zu können: Der Mensch ist »der ›Neinsagenkönner‹, der ›Asket des Lebens‹, der ewige Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit«.27 Ganz im Schatten Schelers steht Paul Alsberg, ein »genialer Außenseiter«28 und früher Vertreter der philosophischen Anthropologie, der schon 1922 den

19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

Ebd. 12 f. Ebd. 17. Ebd. 22. Ebd. 27. Ebd. 31 f. Ebd. 33. Ebd. 43. Ebd. 34. Ebd. 44. A. Gehlen: Gesamtausgabe Bd. 4 (Frankfurt a.M. 1983) 238.

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Versuch einer Verbindung von naturwissenschaftlicher, darwinistisch-entwicklungsgeschichtlicher Perspektive mit Phänomenen des Kulturmenschen unternimmt, ohne allerdings eine nennenswerte Resonanz zu erzielen. Im Zentrum seiner Überlegungen steht das »Prinzip der Körperausschaltung«. Diese Ausschaltung des Körpers mittels künstlicher Werkzeuge ist – so seine These – das Kennzeichen des Menschen. Während das Tier in seiner Entwicklung den Körper fortbildet, schaltet der Mensch im Gegensatz dazu in seiner Entwicklung den Körper aus. Der Mensch untersteht insofern dem Entwicklungsprinzip der »außerkörperlichen Anpassung«.29 Während Scheler das Werkzeug als »ein bloßes Surrogat für mangelhafte Weiterbildung der Organe« und den Verstand als »Tugend eines Fehlers« begriff,30 versteht Alsberg umgekehrt das Werkzeug als Mittel zur Körperausschaltung.31 Die menschliche Entwicklung wird allein durch das Werkzeug bestimmt.32 Dazu zählen auch die Sprache,33 alles menschliche Kulturleben, d. h. die Vernunft, die die Fähigkeit zur abstrahierenden Begriffsbildung ist, ferner die Technik, Wissenschaft, Moral und Kunst.34 Der Körperausschaltung bzw. -befreiung verdankt der Mensch seine Menschwerdung und kulturelle Entwicklung; sie treibt den Menschen zur Herstellung künstlicher Werkzeuge an, »um mit ihnen seine Befreiung vom naturbeschränkten Körper zu erwirken«.35 Der Mensch ist so »Produkt und zugleich Träger des Prinzips«: »Alle Menschen stehen in ihrer Entwicklung unter dem gleichen Prinzip der Körperbefreiung, sind nur durch den Grad der Entwicklung von einander verschieden, dem Wesen nach aber gleich.«36 Der wesentliche Unterschied zwischen Tier und Mensch besteht darin,37 daß der Mensch durch den Gebrauch der Werkzeuge geformt wird, so daß er zwar in physiologischer Hinsicht Tier bleibt, aber eine »eigene, neue Wesensform der Gesamtheit der Tiere gegenüber« bildet, da er das Tier in sich überwunden hat.38 Der Mensch ist folglich ein »Ausnahmewesen«, er »nimmt eine eigene, besondere Stellung in der Natur ein«.39 Der erste Werkzeuggebrauch markiert auch den Anfang des »Kulturprinzips«: »Kultur ist Menschsein, ist Befreiung vom Körper«,40 und »die Kulturbeherrschung ist die natürliche Bestimmung des Menschen«.41 Alsberg erklärt P. Alsberg: Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung [1922] (4Gießen 1978) 49. 30 M. Scheler: Zur Idee des Menschen, a. a.O. [Anm. 4] 185. 31 Vgl. Alsberg, a. a.O. [Anm. 30] 52. 32 Vgl. ebd. 57. 33 Vgl. ebd. 64. 34 Vgl. ebd. 83, 108. 35 Ebd. 83. 36 Ebd. 109. 37 Vgl. ebd. 112. 38 Ebd. 110 f., 184. 39 Ebd. 185. 40 Ebd. 193. 41 Ebd. 197. 29

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die biologisch gesehen mangelhafte Ausstattung des heutigen Menschen damit, daß der ursprünglich ebenso wie das Tier an die Natur angepaßte Mensch, weil er sich andere Mittel zur Gefahrenabwehr erworben hatte, der »körperlichen Schutz- und Anpassungsvorrichtungen nicht mehr bedurfte«, so daß diese infolge Nichtgebrauchs einer allmählichen Rückbildung verfielen«.42 Der Mensch wird also erst durch den Werkzeuggebrauch zum (biologischen) Mängelwesen. Anders als später bei Gehlen kompensiert der Mensch durch den Einsatz von Werkzeugen nicht seine Mängelhaftigkeit, sondern diese ist die Folge einer erfolgreichen Entlastung des Körpers durch Werkzeuge: »Nur dank der Erwerbung andrer Schutz- und Trutzmittel konnte die körperliche Organisation des Menschen sekundär absinken.«43

II. Eine radikale Auseinandersetzung mit der Möglichkeit einer philosophischen Anthropologie und ihrer Versuche, das Wesen des Menschen zu bestimmen, enthält Martin Heideggers Sein und Zeit.44 In ihm wird die antike Frage nach dem Sinn von Sein erneut gestellt und aufgenommen bei dem Seienden, das wir, als die Fragenden, selbst sind. Terminologisch faßt Heidegger »dieses Seiende, das wir selbst je sind und das unter anderem die Seinsmöglichkeit des Fragens hat, […] als Dasein«45 und nicht als »Mensch«, »weil die Wesensbestimmung dieses Seienden nicht durch Angabe eines sachhaltigen Was vollzogen werden kann, sein Wesen vielmehr darin liegt, daß es je sein Sein als seiniges zu sein hat«.46 Das Dasein ist nach Heidegger vor anderem Seienden »dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht«. Das heißt, es hat »in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis«, was besagt: »Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein«. Das »Dasein« hat somit ein »Seinsverständnis«, sein Sein ist ihm selbst »erschlossen«. Dieses Sein, »zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält«, bezeichnet Heidegger als »Existenz«. Die Daseinsanalyse wird zur »Fundamentalonotolgie«, zum »ersten Anliegen in der Frage nach dem Sein«.47 Heideggers Kritik an bisherigen philosophischen Anthropologie (wohl Scheler) lautet folglich, daß diese, obwohl er ihr zugesteht, daß sie sachlich ergiebig war, die grundsätzliche ontologische Frage nach dem Sein des Daseins verfehlen mußte, weil sie es für selbstverständlich hielt.48 42 43 44 45 46 47 48

Ebd. 47. Ebd. M. Heidegger: Sein und Zeit (Tübingen 1927, 121972). Ebd. 7. Ebd. 12. Ebd. 12 f., 16. Vgl. ebd. 45.

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In seinem Kant-Buch erneuert Heidegger die fundamentale Kritik der Anthropologie unter anderer Akzentsetzung. Er kritisiert nun wegen der »mehrfachen Möglichkeiten der Umgrenzung des philosophischen Charakters einer Anthropologie« die »Unbestimmtheit« der Anthropologie (Scheler). Außerdem bleibt »ihre Funktion im Ganzen der Philosophie […] ungeklärt und unentschieden«;49 zentrale Fragen wie die nach dem Wesen des Philosophierens und den entscheidenden Problemen der Philosophie müssen außer acht bleiben, weil die Anthropologie nicht ihre »innere Grenze« erkennt, eine Grenze, ohne deren Erörterung aber »der Boden für die Entscheidbarkeit über Wesen, Recht und Funktion einer philosophischen Anthropologie« fehlt.50 Heidegger faßt zusammen: »Die ›philosophische Anthropologie‹ mag noch so vielerlei und wesentliche Ergebnisse über den Menschen beibringen, sie kann sich nie nur deshalb in das Recht einer Grunddisziplin setzen, weil sie Anthropologie ist. Im Gegenteil: sie birgt die ständige Gefahr in sich, daß die Notwendigkeit verdeckt bleibt, die Frage nach dem Menschen in Absicht auf eine Grundlegung der Metaphysik allererst als Frage auszubilden.«51 Die in Sein und Zeit durchgeführte Analyse konnte die Einsicht festhalten, daß es wesenhaft zur Seinsart des menschlichen Daseins gehört, »dergleichen wie Sein zu verstehen«.52 Deshalb »ist die Frage nach dem Sein […] eine, ja die Frage nach dem Menschen selbst« oder »die rechtverstandene Frage nach dem Menschen«. Diese Frage ist eine »fundamentalphilosophische Frage« nach dem Menschen; sie liegt »vor aller Psychologie, Anthropologie und Charakterologie«.53 Im Kant-Buch findet dieser Gedanke eine abweichende Formulierung. Das Seinsverständnis – so Heidegger - ist der »innerste Grund« der menschlichen Endlichkeit. Da diese ursprünglicher ist als der Mensch, kann dieser »nur Mensch« sein »auf dem Grunde des Daseins in ihm«, und die Frage, »was ursprünglicher ist als der Mensch, grundsätzlich keine anthropologische sein,« da sie den Menschen schon voraussetzt. Philosophische Anthropologie muß deshalb durch eine »Metaphysik des Daseins« ersetzt werden.«54

Ders.: Kant und das Problem der Metaphysik, a. a.O. [Anm. 3] 205. Ebd.; vgl. 207. 51 Ebd. 212. 52 M. Heidegger: Gesamtausgabe Bd. 26. Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz. Marburger Vorlesung Sommersemester 1928 (Frankfurt a.M. 1978) 20. 53 Ebd. 20, 21. 54 M. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, a. a.O. [Anm. 3] 222–224. 49 50

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III. Anders als Scheler versucht Helmuth Plessner, durch eine »Logik der lebendigen Form«55 die verschiedenen Lebewesen zu kennzeichnen, d. h. allein auf der Grundlage ihrer »organischen Wesensmerkmale«, und dann die Ausnahmestellung des Menschen unter ihnen freizulegen. Durch seinen Freund Josef König war er zwar über den Inhalt von Heideggers Marburger Vorlesungen unterrichtet;56 er konnte Sein und Zeit aber nicht mehr berücksichtigen.57 Plessner gewinnt Einsicht in die spezifische Daseinsart des Menschen als eines Wesens, das Naturwesen und Geschichtswesen zugleich ist, durch eine Kontrastierung mit den anderen Daseinsarten der lebenden Natur, und zwar am Leitfaden des Begriffs der Positionalität.58 Dadurch konzipiert er seine Anthropologie anders als Scheler als eine strikt nicht-spekulative,59 durch die Biologie fundierte Anthropologie.60 Auch auf Begriffe wie »Geist«, »Trieb« oder »Drang« wird verzichtet. Durch den Einsatz beim Begriff der Positionalität,61 der – sehr verkürzt gesagt – das nach Organisationsstufe je spezifische Verhältnis eines lebendigen Seienden zu seiner Grenze bezeichnet,62 unterläuft Plessner den cartesianischen Dualismus von res extensa und res cogitans63 und begreift das naturhaft-geistige Doppelwesen Mensch aus einer Perspektive.64 Es ist das eigentümliche Verhältnis des Körpers zu seiner Grenze, das organisches Seiendes von anorganischem unterscheidet: Lebendige Dinge sind im Unterschied zu unbelebten Körpern »grenzrealisierende Körper«.65 Auf dieser Basis entwirft Plessner eine apriorisch, und zwar wesensphänomenologisch entwickelte Stufenfolge des lebendigen Daseins. Die unterste Stufe der Organisationsformen des Lebendigen bildet die Pflanze, die Plessner als »offene« Organisationsform bestimmt. Auf der folgenden Stufe steht das Tier, dem eine »geschlossene« Form zukommt. Die tierische Organisation ist durch eine

55 H. Plessner: Selbstdarstellung. Gesammelte Schriften Bd. 10 (Frankfurt a.M. 1985) 327; vgl. 325. 56 Vgl. J. König, H. Plessner: Briefwechsel 1923–1933. Mit einem Briefessay von Josef König über Helmuth Plessners »Die Einheit der Sinne« (Freiburg, München 1994) 111 ff. 57 Vgl. aber Plessners Bemerkungen zu Heidegger in: Macht und menschliche Natur [1931]. Gesammelte Schriften Bd. 5 (Frankfurt a.M. 1981) 154 ff. und seinen Aufsatz: Der Aussagewert einer Philosophischen Anthropologie [1973]. Gesammelte Schriften Bd. 8 (Frankfurt a.M. 1983) 380–399. 58 Vgl. H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a.O. [Anm. 1] XIX. 59 Vgl. ebd. XI. 60 Vgl. ebd. 76 f. 61 Vgl. ebd. 129 ff. 62 Vgl. 103 ff., 122 und ders.: Der Mensch als Lebewesen. In: ders.: Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie (Stuttgart 1982) 9. 63 Vgl. H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a.O. [Anm. 1] 38 ff. 64 Vgl. ebd. 6. 65 Ebd. 126.

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»Position der Frontalität«, d. h. der Gerichtetheit gegen ein Umfeld gekennzeichnet. Selbst wenn das Tier eine zentrale Organisation, ein Zentralnervensystem ausbildet, kann es eine fundamentale Schranke nicht überschreiten. Diese liegt darin, »daß dem Individuum sein selber Sein verborgen ist, weil es nicht in Beziehung zur positionalen Mitte steht, während Medium und eigener Körperleib ihm gegeben, auf die positionale Mitte, das absolute Hier-Jetzt bezogen sind.« Mit anderen Worten: Das Tier kann zwar mit Bewußtsein leben, aber es besitzt kein Bewußtsein seines eigenen Selbst: Es »lebt aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte. Es erlebt Inhalte im Umfeld, Fremdes und Eigenes, es vermag auch über den eigenen Leib Herrschaft zu gewinnen, es bildet ein auf es selber rückbezügliches System, ein Sich, aber es erlebt nicht – sich.«66 Das Tier verfügt über keine Selbstreflexivität, es kann sich daher nicht selbst vergegenständlichen. Der Mensch dagegen besitzt die letzte, äußerste und nicht mehr steigerbare Realisierungsmöglichkeit zentrischer Positionalität. Seine Wesenseigenschaft ist die totale Reflexivität; er ist sich der »Zentralität seiner Existenz« bewußt: Das Lebewesen Mensch »hat sich selbst, es weiß um sich, es ist sich selber bemerkbar und darin ist es Ich, der ›hinter sich‹ liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit […].«67 Durch diese Fähigkeit zur Selbstdistanzierung ist der Mensch das Lebewesen, das hinter sich gekommen ist: »Der Mensch als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus.«68 Die neue Stufe des Organischen, die mit dem Menschen erreicht ist, ist die der Exzentrizität. Das Leben des Menschen ist, »ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch«. Exzentrizität ist damit die »charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld«.69 Sie bedingt, daß die menschliche Existenz »wahrhaft auf Nichts Ebd. 288. Ebd. 290. 68 Ebd. 291. 69 Ebd. 292. – Bemerkenswert ist, daß Heidegger in seiner Davoser Disputation mit Ernst Cassirer (1929) Plessners Begriff der Exzentrizität aufnimmt: »Dadurch, daß der Mensch das Wesen ist, das transzendent, d. h. offen ist zum Seienden im Ganzen und zu sich selbst, daß der Mensch durch diesen exzentrischen Charakter zugleich auch hineingestellt wird in das Ganze des Seienden überhaupt – und daß nur so die Frage und die Idee einer philosophischen Anthropologie Sinn hat. Nicht in dem Sinne, daß man den Menschen empirisch als gegebenes Objekt untersucht, auch nicht so, daß ich eine Anthropologie des Menschen entwerfe, sondern die Frage nach dem Wesen des Menschen hat einzig nur den Sinn und das Recht, daß sie motiviert ist aus der zentralen Problematik der Philosophie selbst, die den Menschen über sich selbst hinaus und in das Ganze des Seienden zurückzuführen hat, um ihm da bei all seiner Freiheit die Nichtigkeit seines Daseins offenbar zu machen, eine Nichtigkeit, die nicht Veranlassung ist zu Pessimismus und zum Trübsinn, sondern zum Verständnis dessen, daß eigentliches Wirken nur da ist, wo Widerstand ist, und daß die Philosophie die Aufgabe hat, aus dem faulen Aspekt eines Menschen, der bloß die Werke des Geistes benutzt, gewissermaßen den Menschen zurückzuwerfen in die Härte seines Schicksals.« Davoser Disputation. In: M. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, a. a.O. [Anm. 3] 263. 66 67

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gestellt« ist. Der Mensch, der »körperlich Tier bleiben muß«, d. h. weiterhin und unablösbar an die zentralistische Organisationsform gebunden bleibt, die er mit dem Tier teilt, geht nicht mehr wie das Tier im »Hier-Jetzt« auf, sondern steht als ein »Ich« vielmehr »›hinter‹ ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts, geht er im Nichts auf«.70 In drei anthropologischen Grundgesetzen versucht Plessner die Konsequenzen, die sich aus der exzentrischen Existenzform des Menschen für sein Leben ergeben, zu erfassen. Es sind das »Gesetz der natürlichen Künstlichkeit«,71 das »Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit«72 und das »Gesetz des utopischen Standorts«.73 Der Mensch ist aufgrund der Brüchigkeit, »Hälftenhaftigkeit«74 und konstitutiven Heimatlosigkeit,75 »Gleichgewichtslosigkeit«76 und »Wurzellosigkeit«77 seines exzentrischen Existenztyps ein konstitutives In-definitum. Die Exzentrizität erlaubt keine eindeutige und endgültige Festlegung der menschlichen Position.78 Damit verbietet sich auch eine definitive inhaltliche Bestimmung seines Wesens für eine philosophische Anthropologie, die wesentlich durch Diltheys Einsicht in die fundamentale Geschichtlichkeit des Menschen geprägt ist.79 Vertretbar ist nur eine Strukturformel, die die natürliche Grundlage des Menschen wie auch seine zur Zukunft hin offenen Entwicklungsmöglichkeiten in Rechnung stellt. Plessners Formel der »exzentrischen Positionalität« ist eine solche Strukturformel, die mit seiner Sonderstellung zugleich seine biologische Abkunft festhält. Der Mensch ist ein wurzelloses, ungesichertes, gefährdetes, vieldeutiges, nicht-festgestelltes Wesen, das sich immer wieder neu definieren muß, trotz des Wissens um die Tatsache, daß seine Definitionen niemals definitiv sein können.80 Daher rückt Plessner in den dreißiger Jahren unter Anschluß an Diltheys-Schüler Georg Misch81 konsequent das »Prinzip der Unergründlichkeit des Menschen« ins Zentrum seiner anthropologischen Überlegungen: Es ist jetzt das »verbindliche Prinzip seines Lebens und seines Lebensverständnisses.«82 Der Mensch wird jetzt zum »homo absconditus«, der sich als unergründ-

Ebd. 292 f. Vgl. ebd. 309–321. 72 Vgl. ebd. 321–341. 73 Vgl. ebd. 341–346. 74 Ebd. 311. 75 Vgl. ebd. 310. 76 Ebd. 316. 77 Ebd. 341. 78 Vgl. ebd. 342. 79 Vgl. H. Plessner: Philosophische Anthropologie. In: ders.: Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge (München 2001) 185. 80 Vgl. H. Plessner: Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie [1937]. Gesammelte Schriften Bd. 8, a. a.O. [Anm. 57] 39. 81 Vgl. G. Misch: Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl (Bonn 1930, 4Darmstadt 1975) 50 ff. 82 Vgl. H. Plessner: Macht und menschliche Natur, a. a.O. [Anm. 57] 160 f. 70 71

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lich weiß83 und dessen Verborgenheit die »Nachtseite seiner Weltoffenheit« ist.84 Nach diesem Prinzip bestimmt Plessner das Wesen des Menschen – ebenfalls unter Rückgriff auf Misch85 – als »Macht oder als eine offene Frage«.86 Er faßt so die »Unerschöpflichkeit menschlichen Könnens« und läßt dadurch die konkrete Wesensbestimmung offen und begreift den Menschen dementsprechend als »Macht zu …, als Können«, wobei offen bleiben muß, welche Entwicklung der Mensch nehmen wird.87 An Plessners »Prinzip der Unergründlichkeit oder der offenen Frage« schließt unmittelbar Mischs Schüler Otto Friedrich Bollnow an, der für eine »hermeneutisch« verfahrende Anthropologie plädiert88 und den Menschen von den von ihm produzierten kulturellen Gebilden her zu begreifen sucht (»Organon-Prinzip«).89 Bollnow versucht, ausgehend von der Deutung von Einzelphänomenen wie Stimmungen und Gefühlen, zu einem Verständnis des Menschen im ganzen zu gelangen,90 aber dieser Versuch schließt sich wegen der »unerschöpfliche[n] Vielfalt aller menschlichen Möglichkeiten« und der unaufhebbaren Geschichtlichkeit des Menschen91 nicht zu einem abgerundeten, fixierbaren Gesamtbild des Menschen zusammen. Die Forderung danach wäre auch unangemessen und gefährlich.92 Wegen seiner Unergründlichkeit kann es, wie Bollnow unter Hinweis auf Plessner festhält, keine endgültige Wesensbestimmung des Menschen geben.93 – Mit einem solchen Verzicht konnte sich Bollnow auch auf Hans Lipps berufen, der in seiner phänomenologisch geführten Analyse menschlicher Phänomene wie Verlegenheit, Scham, Stimmungen, Zwangsvorstellungen, Geiz, Eifersucht etc. ebenfalls gegen die Möglichkeit eines abschließenden Wesensbildes des Menschen argumentiert hatte.94 »Immer von neuem hat man einzusetzen, um ins Freie zu bringen, was in den verschiedenen Richtungen der Kenntnis des Menschen unter je anderen Seiten gestreift oder mit angeschnitten ist.«95

83 84 85 86 87 88

Vgl. ders.: Homo absconditus [1969]. Gesammelte Schriften Bd. 8, a. a.O. [Anm. 57] 357. Ebd. 359. Vgl. G. Misch: Lebensphilosophie und Phänomenologie, a. a.O. [Anm. 81] 18 und 45. H. Plessner: Macht und menschliche Natur, a. a.O. [Anm. 57] 190; vgl. 188 f. Vgl. ebd. 190 f. Vgl. O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen [1941]. Schriften Bd. 1 (Würzburg 2009)

9–11. Vgl. ders.: Die anthropologische Betrachtungsweise in der Pädagogik (Essen 1965) 32 f. Vgl. ebd. 33–39. 91 Ebd. 37, vgl. ders.: Das Wesen der Stimmungen, a. a.O. [Anm. 88] 13. 92 Vgl. ders.: Die philosophische Anthropologie und ihre methodischen Konsequenzen [1972]. Schriften Bd. 1, a. a.O. [Anm. 88] 211 und: Die anthropologische Betrachtungsweise in der Pädagogik, a. a.O. [Anm. 89] 51 f. 93 Vgl. ders.: Die anthropologische Betrachtungsweise, ebd. 36. 94 H. Lipps: Werke Bd. 3: Die menschlichen Natur [1941] (Frankfurt a.M. 1977) 7. 95 Ebd. 9. 89 90

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IV. Unter z.T. starker, wenn auch zumeist nicht ausdrücklich eingeräumter, Beeinflussung durch Schelers Anthropologie und unter Verwertung einiger Ansätze Herders und Nietzsches96 entwickelt Arnold Gehlen eine konsequente, streng empirisch, strikt biologisch verfahrende Gesamttheorie vom Menschen, die den Verzicht auf metaphysische Anleihen explizit zum Programm erklärt und in einer Kompensationstheorie gipfelt, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur wohl einflußreichsten Konzeption philosophischer Anthropologie wird. An sie können auch Autoren wie Hans Blumenberg und Odo Marquard anschließen. Gehlen postuliert eine Anthropologie diesseits von Naturalismus und Geist-Metaphysik, die den traditionellen Dualismus von Körper und Geist unterläuft: »Der Mensch darf nicht naturalistisch betrachtet werden und auch nicht vom Geiste her.«97 Unter Rückgriff auf Herder98 bezeichnet Gehlen den Menschen als »Mängelwesen«.99 Der Mensch ist organisch mittellos, unspezialisiert und – wie er unter Berufung auf die Theorie des niederländischen Anatomen Louis Bolk zeigen kann100 – durch Organprimitivismen ausgezeichnet.101 Aber er kompensiert – so Gehlens Grundgedanke – seine (physischen) Mängel durch kulturschaffende Tätigkeiten; er ist ein »handelndes«102 oder »kulturschaffendes Wesen«103, er ist »von Natur ein Kulturwesen«.104 Damit rückt die Handlung an die Stelle der Vernunft oder des Geistes in das Zentrum anthropologischer Untersuchung, und die (psychophysisch neutrale) Handlung wird statt des Geistes zum methodischen Ansatzpunkt von Gehlens Forschung.105 Da der Mensch in jeder natürlichen Umwelt lebensunfähig wäre, »muß er sich eine zweite Natur, eine künstlich bearbeitete und passend gemachte Ersatzwelt,

Vgl. A. Gehlen: Ein Bild vom Menschen. Gesamtausgabe Bd. 4: Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, a. a.O. [Anm. 28]: 52. 97 Ders.: Das Problem des Menschen. Resultate der philosophischen Anthropologie. In: Lothar Samson: Gehlen und Scheler: Gehlens Anthropologie-Vorlesung von 1936. In: Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens, hg. von Helmut Klages und Helmut Quaritsch (Berlin 1994) 597. 98 Vgl. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Werke, hg. von Martin Bollacher u.a., Bd. 1 (Frankfurt a.M. 1985) 715 ff., 769 f. 99 A. Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (Frankfurt a.M. 101974) 20, 33 usw. 100 Vgl. ebd. 86–123; vgl. A. Gehlen: Ein Bild vom Menschen, a. a.O. [Anm. 96] 53 f. 101 Vgl. ders.: Der Mensch, a. a.O.[Anm. 99] 33; vgl.: Das Problem des Menschen, a. a.O. [Anm. 98] 596: »Der Mensch ein Monstrum an Rückgebildetheit und Unspezialisiertheit.« 102 Vgl. Der Mensch, a. a.O. [Anm. 99] 23. 103 Ein Bild vom Menschen, a. a.O. [Anm. 96] 56. 104 Der Mensch, a. a.O. [Anm. 99] 80; vgl. ders.: Das Menschenbild der modernen Anthropologie. Gesamtausgabe Bd. 4, a. a.O. [Anm. 28] 171. 105 Vgl. ders.: Zur Systematik der Anthropologie. Gesamtausgabe Bd. 4, a. a.O. 106; vgl. Der Mensch, a. a.O. [Anm. 99] 33. 96

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die seiner versagenden organischen Ausstattung entgegenkommt, erst schaffen […]. Er lebt sozusagen in einer […] von ihm ins Lebensdienliche veränderten Natur, die eben die Kultursphäre ist.« Er ist »biologisch zur Naturbeherrschung gezwungen.«106 Als handelndes Wesen ist der Mensch, wie Gehlen mit Nietzsche sagt, das »noch nicht festgestellte Tier«, d. h. er ist das unfertige, »das stellungnehmende Wesen«.107 Da das »Unfertigsein« zu seiner Natur gehört, ist er auch ein »Wesen der Zucht«: »Selbstzucht, Erziehung, Züchtung als In-Form-Kommen und InForm-Bleiben gehören zu den Existenzbedingungen eines nicht festgestellten Lebens. Sofern der Mensch auf sich selbst gestellt108 eine solche lebensnotwendige Aufgabe auch verpassen kann, ist er das gefährdete oder ›riskierte‹ Wesen,109 mit einer konstitutionellen Chance, zu verunglücken.«110 Schließlich ist der Mensch auch »vorhersehend«: »Er ist – ein Prometheus – angewiesen auf das Entfernte« und Zukünftige.111 Daß der Mensch als Mängelwesen »weltoffen« ist, also über keine fixierte Umwelt verfügt, hat die negative Folgen, daß er »der tierischen Einpassung in ein Ausschnitt-Milieu entbehrt« und sich von der eintretenden »ungemeinen Reiz- oder Eindrucksoffenheit« entlasten muß, d. h. er muß »die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung umarbeiten.«112 Darüber hinaus ist das nichtspezialisierte, organisch mittellose Wesen Mensch durch einen »konstitutionellen Antriebsüberschuß«113 gekennzeichnet und so auf die Notwendigkeit von Zuchtformen (Erziehung, Institutionen etc.), d. h. Moral angewiesen.114 Der Mensch ist »das handelnde Wesen und damit das

Ders.: Ein Bild vom Menschen, a. a.O. 55; vgl. Der Mensch, a. a.O. [Anm. 99] 38. Ders.: Der Mensch, a. a.O. [Anm. 99] 10; vgl. Das Problem des Menschen, a. a.O. [Anm. 98] 596. 108 In der Vorlesung von 1936 heißt es: »Der Mensch hat physisch und psychisch Kultur nötig.« Er ist »wesentlich ein gesellschaftliches Wesen. Ohne Gemeinschaft könnte er die notwendige Kultur nicht schaffen: Er hat eine geradezu monströs lange Entwicklung. So ist die Gesellschaftlichkeit schon organisch gefordert. Die lange Gemeinschaft der Sippe wird gefordert. Nur eine Gemeinschaft bewältigt die Umwelt und gibt dem Kinde Lebenschancen. Eine soziale Gruppe ist dem Menschen nicht nur Um-, sondern auch Mitwelt.« (Das Problem des Menschen, a. a.O. [Anm. 97] 596). 109 Vgl. Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Der Mensch – das riskierte Wesen. Zur Naturgeschichte menschlicher Unvernunft (München, Zürich 1988). 110 A. Gehlen: Der Mensch, a. a.O. [Anm. 99] 32; vgl. 61. 111 Ebd. 32, vgl. auch 50. 112 Ebd. 35 f. 113 Vgl. die Vorlesung von 1936: »Der Mensch ist auch ein Monstrum durch seine Triebhypertrophie. Die Triebe sind immer wach, nicht rhythmisch. Die von ihm geschaffene zweite Natur steigert die Triebansprechbarkeit. Durch Arbeitsenergie entlädt er den Triebüberschuß. Der Mensch wäre durch seine chronische Triebwachheit auch wieder lebensunfähig, wenn er nicht die Arbeit hätte, die nicht umsetzen könnte. Nur ein arbeitendes Leben gestaltet die Triebdiszipliniertheit.« A. Gehlen: Das Problem des Menschen, a. a.O. [Anm. 97] 596. 114 Ders.: Der Mensch, a. a.O. [Anm. 99] 61. 106 107

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Wesen der Zucht«.115 Als »Gegen-Rousseau«116 ist für Gehlen die Kultur eine unentbehrliche Stabilisierungsinstanz.117 Mit großem Nachdruck warnt er daher vor einem drohenden Institutionenabbau, der angesichts der »innere[n] Unstabilität des menschlichen Antriebslebens«118 zu einer Vernatürlichung, einer ReInstinktivierung, d. h. einer Primitivisierung des Menschen führen würde. Auch Erich Rothacker begreift den Menschen als »handelndes Wesen«, das sich in »unausgesetzter wechselseitiger Auseinandersetzung mit dem Widerspiel der Welt befindet«119: »An dem Widerstand der Welt gestalten sich seine Kräfte, werden aus Gefühlen und Stimmungen: Taten und Werke. An ihrem Druck erprobt sich die Spannkraft und Spannweite dieser Kräfte, die schöpferische Phantasie, seine Lage zu erfassen und zu meistern. An ihrem Überdruck kann das an der Grenze seines Könnens angelangte Leben zerbrechen.«120 Als »Urtatsache« menschlichen Lebens macht Rothacker die Bewährung in »jeweils bestimmten Lagen aus«, denn unser Gegenüber ist nicht die Welt, sondern »zunächst eine jeweilige Situation oder Lage«, die es zu meistern gilt. Das zweite Charakteristikum menschlicher Endlichkeit ist, »daß der Mensch sich unausgesetzt entscheiden muß« und sich dem nicht entziehen kann, denn »stets und ebenfalls unentrinnbar alternativisch« wird entschieden.121 Das dritte Kennzeichen der conditio humana ist daher, daß der Mensch »alles, was er mit eigener Verantwortung zu tun hat, [nicht] auf einer bequemen Werttabelle ablesen« kann. »Es gilt: in schöpferischer Entscheidung Lagen zu bewältigen durch Einschlagen einer fruchtbaren Richtung bis zu dem Punkte, der die optimale Lösung enthält. Diesen Punkt gilt es zu entdecken.«122 Fruchtbarkeit ist damit das Kriterium polarer Entscheidungen. Schließlich zeichnet sich das menschliche Leben im Unterschied zum tierischen dadurch aus, daß »das Leben als solches« stets »in einer bestimmten Haltung« handelt: »der Haltung in der gehandelt wird und aus der gehandelt wird«. In diesen Haltungen, »die ebenso innerlich wie äußerlich bis ins Leibliche durchgestaltet sind« und deren Dasein unvermeidlich ist und von Rothacker als ein »apriori einsichtiger Wesensbestandteil allen Tuns« bezeichnet wird, steckt »der Kern der großen Lebensstile«.123 Lebensstile und Haltungen interpretiert Rothacker als »›schöpferische Einfälle‹ des Lebens […], in seiner Weise, so fruchtbar wie möglich auf eine Lage zu antworten«: »In Lebensstilen antwortet der Mensch nicht nur mit einer Tat, sondern mit seinem Sein

Ders.: Zur Systematik der Anthropologie, a. a.O. [Anm. 105] 75. Ders.: Der Mensch im Lichte der Kulturanthropologie. Gesamtausgabe Bd. 4, a. a.O. [Anm. 28] 132. 117 Ebd. 133. 118 Ebd. 132. 119 E. Rothacker Probleme der Kulturanthropologie [1942] ( 3Bonn 1968) 9. 120 Ebd. 9 f. 121 Ebd. 10 f. 122 Ebd. 12. 123 Ebd. 14. 115 116

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selbst.«124 Da der Mensch ein Lebewesen ist, das wir ausschließlich »als Träger und Glied kulturellen Lebens kennen«, daß er immer schon »kulturell geformt« ist125 und jeder konkrete Mensch in einer Kultur lebt,126 der Mensch also ein »Kulturwesen« ist,127 plädiert Rothacker nachdrücklich für eine Ergänzung der philosophischen Anthropologie durch eine »umfassende Kulturwissenschaft«. Ihre Aufgabe wäre es, »den Menschen als Kulturträger« zu interpretieren.128

V. Diese Forderung macht sich Michael Landmann zu eigen. Er tritt für eine Überwindung der Individualanthropologie durch eine Sozialanthropologie ein und will die von Plessner formulierte Einsicht in die kulturschöpferische Rolle des Menschen fruchtbar machen. Landmann setzt nicht mehr beim Einzelmenschen an, um die Sonderrolle des Menschen im Vergleich zum Tier herauszuarbeiten, sondern unmittelbar beim Menschen als Kulturwesen. Der Mensch ist »Schöpfer und Geschöpf der Kultur« und als Kulturwesen »notwendig zugleich Traditionswesen«. Die von ihm hervorgebrachten kulturellen Tätigkeiten und Produkte gerinnen zum »objektiven Geist«,129 wirken aber als gleichsam dinglich gewordene Macht auf die Subjekte zurück. Der Mensch muß seine kulturelle Umwelt nicht jedes Mal neu erarbeiten, sondern wird in ein kulturelles Milieu hineingeboren, das er sich aneignen und an dem er weiter wirken kann: »Das von Früheren Gewonnene wird zur Institution, auf die der Spätergeborene sich stützen darf.«130 Landmann knüpft damit an eine Einsicht an, die Plessner formulierte, der den Menschen »als das Subjekt, als den Schöpfer und die produktive ›Stelle‹ des Hervorgangs einer Kultur« bezeichnet hatte.131 Anthropologie ist nach Landmann nur mehr als Kulturanthropologie möglich; die Individualanthropologie, die den Menschen ausschließlich von seinen leiblich-psychischen Eigenschaften aus zu begreifen sucht, »ist noch zu sehr naturalistische Anthropologie, die an der Naturausstattung des Menschen haftet«.132 Die Menschen sind durch die Ebd. 16. Ebd. 7. 126 Ebd. 120. 127 Ebd. 107. 128 Ebd. 8, vgl. 139. 129 M. Landmann: Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur (München, Basel 1961) 18 f. 130 Ebd. 17 f. 131 H. Plessner: Macht und menschliche Natur, a. a.O. [Anm. 57] 149. Plessner verwendet hier einen Gedanken von Georg Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur [1911/12]. Gesamtausgabe Bd. 12 (Frankfurt a.M. 2001) 194–223. 132 M. Landmann: Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, a. a.O. [Anm. 129] 20. 124 125

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Kultur in hohem Maße vorgeprägt; sie sind »nur partiell Individuen« sind, die mit dem anderen Teil ihrer Existenz aber in »einem allen Gemeinsamen« wurzeln.133 Der Mensch ist in seinem Kern ein Geschichtswesen, das kein zeitlos gleichbleibendes Wesen besitzt. Der Mensch schafft Kulturen, die so verschieden sind, wie die in ihnen jeweils lebenden und durch sie geprägten Menschen. »Der Einfluß der sich wandelnden Kulturen [erstreckt sich] bis ins Innerste des eben selbst wandelbaren Menschen hinein. Erst durch sie wird er, was er jeweils ist. Deshalb ist der Mensch als Kulturwesen zugleich das geschichtliche Wesen: die Zeitstelle, an der er steht, […] konstituiert ihn.« Der Mensch als radikal geschichtlich verstandenes Wesen hat, wie Landmann mit Graf Paul Yorck von Wartenburg sagen kann, nicht nur Geschichte, »sondern er ist Geschichte«.134 Alles Kulturelle tritt notwendigerweise pluralistisch auf, d. h. der Mensch »schafft nicht die Kultur, sondern er schafft jeweils eine Kultur, er schafft Kulturen«, die »grundsätzlich gleichberechtigt sind«.135 Da es keine im Plan der Geschichte angelegte »natürliche« Kultur geben kann, tritt »an die Stelle des übergeschichtlich Einen […] die Multiplizität der Geschichtlichkeit« und der Kulturen. Ihrer Vielgestaltigkeit entspricht der von ihnen geprägte Mensch: »Die Kulturen schaffend, schafft er ja sich selbst zu Ende, und in jeder von ihnen gibt er daher auch sich selbst eine andere Form und Richtung.« Der Kern des Menschen kann daher nur als »offene Plastizität« bestimmt werden. Im Zentrum ist der Mensch also »das geschichtlich mit den variierenden Kulturen variable Wesen.« Und diese Geschichtlichkeit greift, so formuliert Landmann an Heidegger gerichtet, »sehr viel tiefer […], als wenn man ihn etwa als das Wesen, das Angst und Sorge kennt, bestimmt«.136 Landmanns Grundgedanke ist die »Kulturalität« des Menschen, und die Anthropologie »erfüllt sich erst als Kultur- und Geschichtsanthropologie«.137 Ähnlich wie Gehlen verteidigt Landmann die Unaufhebbarkeit der Kultur: »Es gibt für den Menschen kein Sich-genügen-Lassen an der Natur, kein Zurück zur Natur. Wer den Menschen will, muß die Kultur mitwollen, aus der er nirgends ausbrechen kann.«138 Ebenfalls in Richtung auf eine kulturphilosophische Fragestellung entwikkeln sich die Reflexionen Ernst Cassirers: Der Mensch unterscheidet sich von den Tieren dadurch, daß er »gleichsam eine neue Methode entdeckt [hat], sich an seine Umgebung anzupassen«. Während der tierische Weltbezug, sein »Funktionskreis«, durch die beiden von Jacob von Uexküll beschriebenen Aspekte des »Merknetzes« und des »Wirknetzes« konstituiert wird, ist die menschliche Welt um eine Dimension erweitert, die Cassirer als »Symbolnetz« bezeich-

133 134 135 136 137 138

Ebd. 19 f. Ebd. 26. Ebd. 25, 27. Ebd. 61 f. Ebd. 62. Ebd. 57.

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net.139 Dieses Symbolnetz ist die vom Menschen geschaffene Kultur, der der Mensch nicht entkommen kann: »Er lebt nicht mehr in einem bloß physikalischen, sondern in einem symbolischen Universum. Sprache, Mythos, Kunst und Religion sind Bestandteile dieses Universums. Sie sind […] das Symbolnetz, das Gespinst menschlicher Erfahrung.« Da die Vernunft nicht geeignet ist, die Vielfalt der kulturellen Formen zu erfassen, definiert Cassirer den Menschen nicht mehr als »animal rationale«, sondern als »animal symbolicum«.140 Er verzichtet konsequent auf den Versuch, den Menschen durch eine substantielle Definition zu bestimmen und gibt nur eine funktionelle Definition: »das Eigentümliche des Menschen […] ist nicht seine metaphysische oder physische Natur, sondern sein Wirken. Dieses Wirken, das System menschlicher Tätigkeiten, definiert und bestimmt die Sphäre des ›Menschseins‹.«141 Somit wird erneut sichtbar, daß sich Anthropologie und Kulturtheorie reziprok bedingen. Dies ist signifikant für die neueren philosophisch-anthropologischen Bemühungen. Am Ende des 20. Jahrhunderts legt Hans Blumenberg eine Tabelle von nicht weniger als 34 Definitionen des Menschen aus der jüngeren Philosophiegeschichte an, wohl wissend, daß der Mensch oft als nicht definierbar betrachtet worden war.142 Dem fügt Blumenberg, Scheler, Alsberg, Cassirer u. a. aufnehmend, seine eigene Bestimmung an: Der Mensch ist ein Lebewesen, das seine Existenz und seinen »Lebenserfolg« riskiert. Er kann die Gefahr unterzugehen aber mindern, indem er als sich indirekte Wege suchendes Lebewesen (als »animal symbolicum«) auf »Distanz« zur ihn bedrängenden Wirklichkeit geht.143 Dazu dienen die Sprache, die Rhetorik, das Abstandhalten u. v. a. Eine Reihe neuerer Ansätze zur philosophischen Anthropologie seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts zeigt, daß der Mensch auch noch ein Thema der aktuellen Philosophie ist; die philosophische Anthropologie erlebt seitdem eine erstaunliche Renaissance. Insofern erweist sich die Sorge von Harry G. Frankfurt, daß das Problem, »zu verstehen, was wir selbst unserem Wesen nach sind«, aus dem Mittelpunkt des philosophischen Interesses verschwunden und »weitgehend in Vergessenheit geraten« sei,144 als durchaus unbegründet; nicht zuletzt deshalb, weil, wie schon Cassirer vermerkte, die Philosophie vor allem in Zeiten der Krise verstärkt »die Frage nach dem Wesen des Menschen« stellt und stellen muß.145

E. Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur [1944] (Hamburg 1996) 49. 140 Ebd. 50 f. 141 Ebd. 110. 142 Hans Blumenberg: Beschreibung des Menschen (Frankfurt a.M. 2006) 512–516. 143 Ebd. 550, 614. 144 Harry G. Frankfurt: Willensfreiheit und der Begriff der Person. In: Analytische Philosophie des Geistes, hg. von Peter Bieri (Bodenheim 21993) 287. 145 E. Cassirer: Nachlaß-Text, zit. bei E.-W. Orth: Krise, in diesem Band 159. 139

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Metapher

Der Begriffsname sagt, was eine Metapher ist, und er sagt es metaphorisch: μεταφéρειν heißt ›verlegen‹, ›wegtragen‹, ›wegrücken‹ sowie ›anwenden‹, ›übersehen‹, ›übertragen‹. Metaphern sind Übertragungen, und schon die Wahrnehmung einer Metapher ist eine Potenzierung: die Übertragung einer Übertragung. Die Rekursivität des Begriffsnamens ist weder Willkür noch Defekt, sondern ein erster Hinweis auf die Tragweite dessen, worum es geht. Als Hauptmerkmal sowohl der Metapher als auch der Sprache bringt sie deren verweisende Funktion zur Geltung, das Dasein in Bezügen. Mit der Selbstimplikation des Begriffsnamens erinnert die Metapher daran, daß die Sprache über sich hinausweist und sich auf anderes bezieht als auf sich selbst.1 Die Autonomie des metaphorischen Spiels ist mit dieser Geltendmachung der kulturellen Referenz jedoch in keiner Weise eingeschränkt, im Gegenteil. Weder bloß Redeschmuck noch ein versprengtes Stück Metaphysik, ist die Metapher ein Ausdruck, und das heißt sowohl ein Ausdruck von etwas als auch ein Ausdruck für etwas. Die aufschließende Funktion metaphorischer Rede ist ein Effekt dieser Doppelung. Wenn man sich eingestehen muß, wohl niemals abschließend angeben zu können, was die Welt ist, so ist doch die äußerste Konsequenz der gänzlichen Unbestimmtheit oder gar Unbestimmbarkeit vermieden, wenn statt dessen und mit hinlänglicher Glaubwürdigkeit gesagt werden kann, daß sie, wie uns die großen Erzählungen und selbst noch die remixes der Populärkultur versichern, eine Bühne sei, ein Traum oder ein Buch. Im Normalfall und für den Augenblick ist eine solche Auskunft vollkommen ausreichend. Für Metaphorologen und Metaphernhistoriker allerdings, die mit Metaphern nicht bloß umgehen, sondern die Funktionsweise ihrer Pragmatik und Semantik verstehen wollen, bleibt zu prüfen, was alles mit diesem Stattdessen gesagt und bewirkt ist. Die Bestimmung des Metaphorischen als Übertragung verfährt nicht nur metaphorisierend, sondern auch verneinend. Die implizierte These besagt: Metaphern benennen nicht, sie sind keine Namen – vorzugsweise deshalb, weil eine Benennung einstweilen oder überhaupt unmöglich ist. Metaphern sind Provisorien. Anstelle dessen, was nicht, noch nicht oder überhaupt nicht benannt wer-

Vgl. Paul Ricœur: Die lebendige Metapher (München 1986) IV, 254 ff. Ricœurs Überlegungen sind aus der Diskussion eines Satzes von Heidegger hervorgegangen, der Geringschätzung ausdrücken soll: »Das Metaphorische gibt es nur innerhalb der Metaphysik« (Martin Heidegger: Der Satz vom Grund. Gesamtausgabe Bd. 10 [Frankfurt a.M. 1997] 72). Wie Hans Blumenberg beanstandet auch Ricœur das von Heidegger vorausgesetzte Metaphernverständnis als vordergründig und defizitär. 1

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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den kann, haben sie immer schon etwas anderes eingesetzt (eine Figur, ein Bild, ein Zeichen), dessen Applikation unsere Mitarbeit erfordert: die Realisierung der Referenz. Metaphern sind referentiell sowohl in bezug auf die semantischen Räume, die sie erschließen, als auch in bezug auf diejenigen, die sich aufgerufen fühlen müssen, damit das metaphorische Spiel vonstatten gehen und funktionieren kann. Die metaphorische Übertragung ist ein Umweg und in diesem Sinne ein legitimer und sogar obligatorischer Kunstgriff, der eine Bedingung menschlicher Sprache und, allgemeiner noch, eine Bedingung des menschlichen Weltbezuges zur Geltung bringt. Besonders Hans Blumenberg hat diese Elementarbedingung metaphorischer Rede herausgearbeitet und betont: Der menschliche Wirklichkeitsbezug, schreibt er, sei nicht nur gelegentlich und ausnahmsweise, sondern konstitutionell metaphorisch.2 Der Metapherngebrauch in der Sprache ist demnach der explizite Teil eines durch und durch metaphorischen Weltverhältnisses, in dem die Disproportion des Menschen zu seiner Wirklichkeit zutage tritt. Metaphorische Hilfskonstruktionen sind nötig, weil diese Wirklichkeit dem unangepaßten, jedoch in seinem Umraum zum Handeln gezwungenen Wesen die Zeit nicht läßt, die Bedingungen und Folgen seiner Praxis vollständig zu übersehen und abzuwägen. Handlung und Handlungsdruck sind die anthropologischen Bedingungen daseinsumspannender Metaphorizität. Die Metapher ist ein Anthropologoumenon, ist sowohl Ausdruck als auch Mittel der humanen morale par provision. Das moralische Pendant zu dieser anthropologisch disponierten Logik der Zeitlichkeit ist das Ethos der ›Wahl‹: Seine metaphorische Konstitution auferlegt dem Menschen die Situation der Wahl, die, eben weil sie Aufschub nicht duldet, stets vor dem Erreichen der Evidenz und mit dem Risiko der Verfehlung getroffen sein will.

I. Das Prinzip der Sprache Für die Thematisierung des Metaphorischen ergeben sich zwei Möglichkeiten. Man kann das auffällige und entsprechend häufig zitierte tautologische Spiel der Metapher als dilemmatisch beargwöhnen und Auswege suchen (Auswege, die zur Außenbeschreibung des Metaphorischen drängen und seine Trivialisierung betreiben). Man kann es aber auch als nüchterne Bestandsaufnahme desVgl. H. Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. von Anselm Haverkamp (Frankfurt a.M. 2001) 406–431, hier 415, 430 f. Auch diese Wendung, das sei wenigstens beiläufig festgehalten, ist dezidiert heideggerkritisch. Zur Anthropologieverdrossenheit der Heideggerfiliationen und den Erwiderungen Cassirers und Blumenbergs vgl. Philipp Stoellger: Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont (Tübingen 2000) 207 ff.; Oliver Müller: Sorge und Vernunft. Hans Blumenbergs phänomenologische Anthropologie (Paderborn 2005) 119 ff.; Rüdiger Zill: 2

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sen gelten lassen, was die Metapher im wesentlichen ausmacht (und sich auf die Grundzüge der Pragmatik einlassen, die den Einsatz der Metapher bestimmt). Die mit diesen beiden Betrachtungsweisen eröffnete Alternative benennt Optionen der Theorie und umreißt zugleich den historischen Weg, den die Thematisierung der Metapher zwischen früher Neuzeit und später Moderne genommen hat. Es war, vereinfacht gesagt, der Weg von der Ablehnung der Metapher als einer besonders mißbräuchlichen Form der Rede (einer Rede, die wie exemplarisch Hobbes, Berkeley und Locke beanstandet haben, den menschlichen Verstand ›verzaubert‹, ›verschleiert‹ und ›vernebelt‹)3 zur Anerkennung der Metapher als eines unentbehrlichen Instruments der Darstellung, das (wie in der Nachfolge Kants und Nietzsches Max Black, Nelson Goodman und Chaim Perelman argumentieren) Präzisions-, Definitäts- und Übersichtsdefizite kompensiert. Metaphern sind Improvisationsleistungen. Sie bewähren sich in Situationen, in denen es heißt, mit Vorläufigkeiten, Ungewißheiten und Kontingenzen zurechtzukommen. Und eben dies, so schließlich die speziell von Vico und Nietzsche vorbereitete Pointe Blumenbergs, ist die Situation des Menschen. Nachdem der windungsreiche Parcours von der tendenziellen Ablehnung zur tendenziellen Anerkennung der Metapher durchlaufen ist, stehen inzwischen nicht mehr die Anstößigkeiten rhetorischer Mittel in Philosophie und Wissenschaften, die Effekte der Verwirrung, der Verfehlung, der Verführung im Vordergrund des Interesses, sondern schlicht ihre Funktionalität: das, was die Metapher leistet – ihre Tauglichkeit und Belastbarkeit als figuratives Provisorium. Die Rehabilitation der Metapher im philosophischen Denken des 20. Jahrhunderts steht in engem Zusammenhang mit dem ideengeschichtlichen Einschnitt des ›linguistic turn‹ und speziell mit der daraus hervorgegangenen Einsicht, daß die Metapher die Normalität des Sprachgebrauchs – die »Pertinenzkriterien der gewöhnlichen Sprache«4 – zwar einerseits unterläuft, wie schon Aristoteles, Cicero und Quintilian gezeigt haben, daß sie diese Normalität aber andererseits auch fortwährend herstellt und bestätigt, indem sie neue Normalitäten schafft. In seinen epochemachenden Vorlesungen zur Philosophy of Rhetoric, die 1936 Der Fallensteller. Hans Blumenberg als Historiograph der Wahrheit. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 1/3 (2007) 21–38, 28 ff. 3 Ich will diese Bedenken der Metaphernkritik nicht bagatellisieren, sie sind keineswegs trivial. Aus philosophischer Sicht hätte sich die, soweit ich sehe, noch ungeschriebene Geschichte der Metaphernkritik an der seit Francis Bacon virulenten und von der Sprachpolitik der Aufklärung in die Moderne getragenen Erwartung auszurichten, das Provisorium metaphorischer Aufschlüsse, das Kunst und Religion geschaffen hatten, über kurz oder lang beenden und mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnis durch die Definität begrifflicher Auskünfte überbieten zu können. Über die Standardargumente der Metaphernkritik informiert vorläufig William H. Leatherdale: The Role of Analogy, Model, and Metaphor in Science (Amsterdam u. a. 1974) 180 f. Siehe auch Lutz Danneberg: Sinn und Unsinn einer Metapherngeschichte. In: Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, hg. von Hans Erich Bödeker (Göttingen 2002) 259–421, insbes. 318 ff. 4 P. Ricœur: Metapher, a. a.O. [Anm. 1] VI.

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veröffentlicht wurden, hat Ivor Armstrong Richards das neue Interesse an der Metapher und die Aufforderung, das Verständnis der metaphorischen Funktion zu verbessern, mit der ebenso einfachen wie grundlegenden These begründet, »daß die Metapher das allgegenwärtige Prinzip der Sprache ist«.5 Der Vorstoß hat Epoche gemacht, und Richards scheint sich sowohl seiner Fälligkeit als auch seiner Brisanz bewußt gewesen zu sein. Indem er ihn aber als Überwindung einer jahrzehntelangen Vernachlässigung des Metaphernproblems vor allem zu Ende des 19. Jahrhunderts darstellte, verbaute er sich die Möglichkeit, die Vorleistungen aufzunehmen, die bereits erbracht waren – vor allem die Vorleistung, die mit Friedrich Nietzsches Essay Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne bereits verfügbar war. Tatsächlich resümiert die Primordialitätsthese (die These von der Vorgängigkeit des Metaphorischen) exakt den Grundgedanken, den Nietzsche während des Sommersemesters 1874 in seiner Vorlesung über antike Rhetorik entwickelt hatte. Es gebe, so heißt es dort, »gar keine unrhetorische ›Natürlichkeit‹ der Sprache, an die man appeliren könnte: die Sprache ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten […]. Eigentlich ist alles Figuration, was man gewöhnliche Rede nennt.«6 Die notorische Disparität der Metaphernforschung und ihrer unzähligen »Ansätze«7 bestätigt sich exemplarisch darin, daß dieser Gedanke Nietzsches zunächst folgenlos blieb und ein halbes Jahrhundert später zum zweiten Mal gefunden und ausgesprochen werden mußte.

II. Das metaphorische Spiel Dennoch und trotz der Uneinheitlichkeit der Konzepte, Motivationshintergründe und Zugriffsweisen läßt sich ein gemeinsamer Wahrnehmungsschwerpunkt des Interesses ausmachen, der die Metapher zum Schlüsselbegriff im philosophischen Denken und überhaupt in den Diskursen des 20. Jahrhunderts hat werden lassen: das Interesse an der kognitiven Leistung der Metapher und an der Frage, wie diese Leistung zustandekommt. Bereits Nietzsche lenkt die Aufmerksamkeit auf das metaphorische Spiel und unterscheidet, indem er die ganze Bandbreite der Spielmetaphorik ausnutzt, zwischen der Bedenklichkeit

5 I. A. Richards: Die Metapher. In: Theorie der Metapher, hg. von Anselm Haverkamp (Darmstadt 1996) 31–52, zit. 33. 6 F. Nietzsche: Darstellung der antiken Rhetorik. Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 2. 4 (Berlin, New York 1995) 413–502, hier 425, 427. Nietzsche beruft sich auf Jean Paul (vgl. ebd. 442 f.). 7 Orientierung bieten Christian Strub: Kalkulierte Absurditäten. Versuch einer historisch reflektierten sprachanalytischen Metaphorologie (Freiburg i.Br., München 1991); Bernhard Debatin: Die Rationalität der Metapher. Eine sprachphilosophische und kommunikationstheoretische Untersuchung (Berlin, New York 1995); A. Haverkamp: Metapher. Die Ästhetik der Poetik (München 2007).

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illusionärer Effekte und der aufschließenden Wirkung sprachschöpferischer Wort- und Bildfindungen. Aus der Ambivalenz der metaphorischen Funktion gewinnt der Essay Ueber Wahrheit und Lüge seinen Aufbau und seine Struktur. Der erste Teil legt die Täuschungsbereitschaft eines Wesens frei, das dazu neigt, Sprachbilder als Wahrheiten auszugeben. Durch Entindividualisierung seiner Wahrnehmungen bildet es Begriffe, die, indem sie verallgemeinern und von allem Besonderen absehen, Nicht-Gleiches gleichsetzen.8 Der Essay setzt ein mit einer kritischen Genealogie des Begriffs, dessen Entstehung und Dominanz sich der konsequenten Ausblendung seiner metaphorischen Voraussetzungen verdanken. In der Umkehrung – und darin liegt das Faszinosum des Metaphorischen von Nietzsche bis zu Paul de Man und Jacques Derrida9 – markiert die Metapher das vom Begriff im Augenblick seines Hervortretens, also immer schon verdeckte Stadium der Vor- und Unbegrifflichkeit. In der Metapher begegnet der Begriff seiner eigenen, von ihm selbst verleugneten Herkunftswelt, der Bedingung seiner uneinholbaren Metaphorizität, und in einem freudianisch inspirierten Theoriemilieu wie demjenigen des Dekonstruktivismus wird man hinzufügen dürfen: seiner Wahrheit. Damit figuriert die Metapher als manifest gewordene Ideologie- und Philosophiekritik, als die verkörperte Subversion der begriffsbewehrten Vernunft. Nietzsches Metapherntheorie erschöpft sich allerdings keineswegs darin, die Hermeneutik des Verdachts propagandistisch zu verschärfen und gegen die Selbstvergessenheit des philosophischen Begriffsrealismus auszuspielen. Was er Metaphern nennt, sind, mit seinem eigenen Wort, »Rezeptionen« – figurative Elemente sinnlichen Anschauens, denen die Nichtübereinstimmung mit der Welt der Dinge und namentlich dem Ding an sich von vornherein eingeschrieben ist. Spätestens an dieser Stelle berührt sich dieser Metaphernbegriff mit dem Konzept der »Hypotypose«, das Kant in der Kritik der Urteilskraft vorgestellt hatte. Wie die Hypotypose einem per se Unanschaulichen eine sinnliche Anschauung provisorisch »unterlegt«, um auf diese Weise zwar nicht mittels Ähnlichkeit, statt dessen aber, wie Kant sagt, »symbolisch« und »indirekt« anzuzeigen, »was die Idee von ihm für uns sein« kann,10 so ist auch den Metaphern Nietzsches von vornherein die Nicht-Identität mit dem eingeschrieben, was sie bezeichnen. Das

8 Vgl. F. Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli und M. Monrinari, Bd. 1 (München 21988) 880. 9 Paul de Man: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke (Frankfurt a.M. 1993) 231 ff.; Jacques Derrida: Randgänge der Philosophie, hg. von Peter Engelmann (Wien 1988) 229 ff. Auf Derrida, dessen Aufsatz 1971 erstmals erschienen ist, beruft sich Sarah Kofman: Nietzsche et la métaphore (Paris 1972). 10 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, Bd. 5 (Berlin 1913) § 59. Vgl. Rüdiger Campe: Vor Augen stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung. In: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, hg. von Gerhard Neumann (Stuttgart, Weimar 1997); Leander Scholz: Das Symbol als Medium der Einheitsbildung. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 29 (2004) 3–18.

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metaphorische Spiel, die Elementarität dieser Bedingung bestätigt sich hier, ist verweisend, nicht benennend. Auf genau diese Konsequenz spielt Nietzsche an mit seiner Konkretisierung des metaphorischen Spiels als »ästhetisches Verhalten«11: Die metaphorische Übertragung ist referentiell, aber nicht im Sinn einer Abbildung der Welt (die sie als solche, in ihrem »an sich« gar nicht erreicht), sondern im Sinn ihrer menschlichen, menschengemäßen Prägnanzgebung (der sie indirekt Ausdruck verleiht). Damit wirft dieser frühe Essay Nietzsches einen neuen Blick auf die Bilder der Sprache, der dann besonders Blumenberg inspiriert und beschäftigt hat. Metaphern sind Zeugnisse, die Aufschluß geben über die Weltstellung des »bedürftigen«, des orientierungsarmen und bildermachenden Menschen. Mit diesem Motiv nimmt Nietzsche, neben dem HypotyposeKonzept Kants, einen Gedanken auf, den fast zweihundert Jahre zuvor schon Giovanni Battista Vico entwickelt hatte und der so früh schon die kulturphilosophische und ebenso die wissensgeschichtliche Brisanz metaphorischer Bestände hervortreten läßt. Als Zeugnisse und Auskunftsmittel, die uns, so Vico, rückblickend über die »Natur der menschlichen Dinge« unterrichten, stellen die Metaphern den Stoff bereit für eine materiale »Geschichte der menschlichen Ideen« (»Historia de ideis«),12 in der die Wirklichkeit des Menschen immer schon als die seine vor ihn hintritt. Die Metapher, diese Ausgangsintuition Vicos bekräftigt Nietzsche im Schlußteil seines Essays, ist eine kulturelle Tatsache. Nietzsches Akzentuierung des ästhetischen Verhaltens lenkt die Aufmerksamkeit zum einen auf anthropologische, zum anderen auf metapherntheoretische Implikationen, und beides gehört zusammen. Auf die (kritische) Genealogie des Begriffs läßt Nietzsche eine (affirmative) Genealogie der Metapher folgen, die nun ganz unmittelbar die Struktur und den Ablauf des metaphorischen Spiels in den Mittelpunkt stellt. Während, wie der erste Teil argumentiert, der Begriff Ungleiches gleichstellt und Differenzen kaschiert, lebt die Metapher von der Betonung und Offenhaltung der Differenzen, der Diskrepanzen, der Disparitäten. Jene Schwäche und Täuschungsbereitschaft, welche der Begriff zu seinem Vorteil nutzt, weicht dem »freigewordenen Intellekt«, der in der Produktion von Metaphern seine »verwegensten Kunststücke« hervorbringt: »und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, daß er jene Nothbehelfe der

F. Nietzsche: Ueber Wahrheit …, a. a.O. [Anm. 8] 884. Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, hg. von Vittorio Hösle und Christoph Jermann, Teilbd. 1 (Hamburg 1990) 153. Faktisch hat sich bereits damit der dann von Heidegger geschürte Metaphysikverdacht (s. o. Anm. 1) erledigt. Nietzsches Anthropologisierung der Metapher speist sich, wie Vicos Theorie der ›immagini‹, erklärtermaßen aus einem tiefen »Misstrauen gegen den Idealismus« (Ueber Wahrheit …, a. a.O. [Anm. 8] 885), dessen fortwährend und meist unbedacht reproduzierte Paradigmatik sie überwinden möchte. 11 12

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Bedürftigkeit nicht braucht, und daß er jetzt nicht von Begriffen sondern von Intuitionen geleitet wird.«13 Das metaphorische Spiel folgt den Regeln der ars combinatoria. Es ist schöpferisch und sogar, wie Nietzsche hinzufügt, kulturschaffend gerade darin, daß es verbreitete Vorstellungen unterläuft, liebgewordene Glaubenssätze durchkreuzt, eingeschliffene Schlußfolgerungen sabotiert. Die Metapher ist die Subversion des Begriffs und ebenso des Geläufigen. Gleichwohl – oder eben deshalb – ist das metaphorische Spiel keineswegs wahrheitsindifferent. Weit davon entfernt, die Wahrheit abschaffen zu wollen, bestimmt sie deren Begrifflichkeit neu: nicht als etwas, was fertig da ist und nur noch, wie die Erkenntnismetapher der nackten Wahrheit nahelegt, entdeckt, freigelegt und enthüllt werden muß,14 sondern als etwas, »das zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozeß abgiebt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, ein aktives Bestimmen, nicht ein Bewußtwerden von etwas, [das] ›an sich‹ fest und bestimmt wäre«.15 Das nachdrückliche Festhalten am Wahrheitsanspruch ist ein deutliches Signal und zeigt, daß Nietzsche nichts ferner lag, als Begriff und Metapher gegeneinander auszuspielen. Mit einer Hermeneutik des Verdachts – des Verdachts gegen den Begriff – ist seinem Anspruch keineswegs Genüge getan, und nicht von ungefähr läßt der Schlußteil seines Essays den vernünftigen, den »unkünstlerischen« Menschen und den intuitiven, den »unvernünftigen« Menschen einträchtig »neben einander stehen«16. Man sollte sich indes von diesem versöhnlichen Schlußbild nicht täuschen lassen, es ist nur das vorletzte Wort und zweifellos ironisch. Gewiß, die von Nietzsche erschlossene Perspektive führt nicht zur Erübrigung der Begriffe, sondern – und dieser Gedanke folgt Kant und dessen Aktualisierung der Hypotypose – zur philosophischen RehaF. Nietzsche: Ueber Wahrheit …, a. a.O. [Anm. 8] 888. Vgl. R. Konersmann: Kulturelle Tatsachen (Frankfurt a.M. 2006) 380 ff. 15 F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli und M. Monrinari, Bd. 12 (München 21988) 385. Vgl. Anne Tebartz-van Elst: Ästhetik der Metapher. Zum Streit zwischen Philosophie und Rhetorik bei Friedrich Nietzsche (Freiburg i.Br., München 1994) 21 f., 210 ff. Marcel Proust hat sowohl die ästhetische Dimension als auch die Produktivität der Metaphernfindung bestätigt, und auch er spricht von der »Wahrheit der Metapher«: »Die Wahrheit beginnt erst in dem Augenblick, in dem der Schriftsteller zwei verschiedene Gegenstände nimmt, die Verbindung zwischen ihnen herstellt […] und sie einschließt in die zwingenden Glieder eines schönen Stils; oder auch erst, wenn er, wie das Leben es tut, in zwei Empfindungen etwas gemeinsames aufzeigt und so ihre gemeinsame Essenz freilegt, wenn er […] die eine mit der anderen vereint: in einer Metapher.« (Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, übers. von Lucius Keller, Bd. 7 [Frankfurt a.M. 2002] 292). Die »zwingende« Kraft des Stils und der Maßstab des »Lebens« dämmen ein, was sich als Konsequenz der Ästhetisierung bei Proust besonders deutlich abzeichnet: die Autoreferentialität des Metaphorischen. Im Juni 1907 schreibt Proust an Maurice Duplay: »Non, l’image doit avoir sa raison d’être en elle-même« (Correspondance, éd. par Philip Kolb, Bd. 7 [Paris 1970 ff.] 167). 16 F. Nietzsche: Ueber Wahrheit, a. a.O. [Anm. 8] 889; siehe auch Gottfried Gabriel: Begriffsgeschichte vs. Metaphorologie? In: Zeitschrift für Ideengeschichte 2 (2008) 121–125. 13 14

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bilitation und Autonomisierung der Metapher. Aber von hier aus fällt auf die Begriffs- und Begriffsgeschichtsforschung dann doch ein kritischer Blick, der daran erinnert, daß das Verhältnis von Begriffs- und Metaphernforschung wechselseitig asymmetrisch ist. Dem Begriffsforscher demonstriert das metaphorische Spiel, daß, wer die Begriffe erforschen will, sich auf die Erforschung der Begriffe nicht beschränken darf; dem Metaphernforscher führt es vor Augen, daß die Erforschung der Metaphern den Raum des Metaphorischen überschreiten und in analytischen Begriffen erfolgen muß. Weder schließen Begriffs- und Metapherngeschichte einander aus, noch gehen sie problemlos ineinander auf; sie stehen in einem Verhältnis spannungsvoller, für beide Seiten profitabler Ergänzung.

III. Pragmatik der Metapher Es ist interessant zu sehen, daß Richards den Faden genau an der Stelle wieder aufnimmt, an der Nietzsche ihn liegenläßt: bei der Explikation des metaphorischen Spiels. Mit Blick auf die zeitgenössische Kunst und namentlich auf den Surrealismus, der sein poetisches Prinzip in der Begegnung zwischen einer Nähmaschine und einem Regenschirm auf einem Seziertisch, also gleichfalls in einer Art modernisierter ars combinatoria entdeckt hatte,17 präzisiert Richards auf folgenreiche Weise die Funktion des metaphorischen Spiels. Nicht die Summe von »Tenor« und »Vehikel« – die Addierung also des metaphorischen Ausdrucks mit dem, worauf er verweist – generiere die Bedeutung, sondern dasjenige, was sich zwischen diesen beiden ereignet und über den Rahmen dieser Binnenbeziehung immer schon hinausweist. Ob die poetischen Metaphern eines Lautréamont, Proust oder Breton von diesem kritischen Einwand getroffen werden, kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Entscheidend ist der aus der Kritik gewonnene Gedanke, daß nicht die »Ähnlichkeit« ihrer Teile eine Metapher qualifiziert (irgendeine Art der Übereinstimmung oder Adäquation), sondern das, was auf der einen Seite ihre Verwender und Interpreten, und was auf der anderen Seite die Hörer und Leser aus den ihnen dargebotenen Interferenzmöglichkeiten – aus der »Interaktion« (Max Black) und »Reziprozität« (Gérard Genette) – des metaphorischen Spiels machen und entstehen lassen. Auch und gerade die Ähnlichkeit, mit der die Metapher um Akzeptanz wirbt, ist nicht vorgegeben, sondern »entdeckt« und erzeugt. Das aber bedeutet: Metaphern sind keine Automatismen und schöpfen, was sie bedeuten, nicht aus sich selbst – nicht aus ihrer Etymologie, nicht aus ihrer Lexik oder Semantik. Metaphern sind überhaupt nicht primär semantische, son-

17 Vgl. Isidore-Isidore Ducasse, genannt Lautréamont, Comte de: Die Gesänge des Maldoror. Das Gesamtwerk (Reinbek 1988) 223. Zum philosophischen Anspruch des Surrealismus sowie der im Begriffsnamen (»Überrealismus«) ausgesprochenen Reverenz an Nietzsche vgl. R. Konersmann: Artikel ›Surrealismus‹. In: HWPh. Bd. 10 (Basel 1998) 681–687.

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dern pragmatische Phänomene, denn sie fordern, um ihr Potential entfalten zu können, was Michael Polanyi in vergleichbarem Zusammenhang »intelligente Mitwirkung«18 genannt hat. Die vitale Metapher verdankt sich eben jener Unerschöpflichkeit des metaphorischen Spiels, das bei Nietzsche – wenn ich recht sehe, mit Anklängen an Goethe – »hineinlegen« hieß und das sich, wie Nietzsche hinzufügt, durch Qualität und »Gewitztheit« rechtfertigen muß.19 Was Richards, in kritischem Anschluß an diese indirekte Vorgabe Nietzsches, für die nachfolgende Metapherndiskussion geleistet und erreicht hat, ist eine entschieden pragmatische Wendung: die nachhaltige Aufmerksamkeitsverschiebung vom »unerhörten« Ursprung der Bedeutung zur Funktionsweise der Metapher im Kontext, und das heißt: im »Gebrauch«.20 Bereits Richards tritt der Auffassung entgegen, Metaphern seien Bilder. Seine Argumente sind klar: Zum einen bleibe unbestimmt, welches Element des metaphorischen Spiels gemeint sei, wenn Metaphern pauschalisierend als Bilder angesprochen werden, zum anderen lenke die Bezeichnung davon ab, daß Metaphern Sprachereignisse seien: Auch ohne Bilder (ohne Vorstellungsbilder, innere Bilder, Wahrnehmungsbilder…) könnten Wörter »fast alles«.21 Dem ist unbedingt zuzustimmen. Der sprachliche Kontext der Aussage ist es, der das Wort überhaupt erst zur Metapher macht und deren Verweisungspotential freisetzt. Andererseits, so scheint mir, ist die seit der frühen Neuzeit geläufige und bereits für Vico selbstverständliche Auffassung der Metapher als imago, als image oder auch als »Anschauungsform« keineswegs zufällig entstanden. Die Bildlichkeit, die hier gemeint ist, darf allerdings nicht als Abbildlichkeit verstanden werden oder gar als eine Art autonomes Kunstbild oder Gemälde (all dies sind Verkürzungen des Bildbegriffs), sondern als funktionale Entsprechung einer visualisierten, und das heißt an dieser Stelle: einer sprachskeptischen Struktur. Der damit aktualisierte Bildbegriff ist gebrochen und entschieden abbildkritisch. Ich erinnere daran, daß schon Kant diesen Selbsteinwand und seine latente Paradoxie offen darlegt. Das Symbolische ist »untergelegte« Anschauung dort, wo, wie

Michael Polanyi: Implizites Wissen (Frankfurt a.M. 1985) 15. Vgl. F. Nietzsche: Fragmente, a. a.O. [Anm. 15] 175. In den Zahmen Xenien heißt es: »Im Auslegen seid frisch und munter!/ Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter.« (Johann Wolfgang Goethe: Gedichte, hg. von Karl Eibl, Bd. 2 [Frankfurt a.M. 1988] 636). Weder Nietzsche noch Goethe rufen zur Beliebigkeit auf, sondern demonstrieren die Unverzichtbarkeit des Muts zur Interpretation. Von hier aus führt ein direkter Weg zu der für alle wissensgeschichtliche Forschung, vor allem aber für die Erforschung der Metapher maßgeblichen, protophänomenologischen Einsicht Heinrich Wölfflins: daß nämlich »durchaus nicht natürlich« sei, »daß jeder sieht, was da ist.« (H. Wölfflin: Das Erklären von Kunstwerken [Leipzig 41910] 7). 20 Donald Davidson: Wahrheit und Interpretation (Frankfurt a.M. 1986) 363. Im scharfen Gegensatz zu dieser pragmatischen Konsequenz steht die rein semantische Theorie von Ernesto Grassi: Die unerhörte Metapher, hg. von Emilio Hidalgo-Serna (Frankfurt a.M. 1992). 21 Vgl. I. A. Richards: Die Metapher, a. a.O. [Anm. 5] 37 f. Die Vorbehalte gegen die Bilderthese bündelt Umberto Eco: Kritik der Ikonizität. In: ders.: Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, hg. von Michael Franz und Stefan Richter (Leipzig 41999) 54–88. 18 19

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Kant hinzufügt, »keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann«22. Nach diesem Muster der Hypotypose oder, wie der Sachverhalt bei Benjamin heißt, der »unsinnlichen Ähnlichkeit«,23 funktioniert auch diejenige Art Bild, als das wir uns die Metapher denken müssen. Ein Bild ist die Metapher insofern, als sie den Raum der Sprache sprengt, und zwar auf dem Boden der Sprache selbst. Metaphern sind regelförmige Selbstüberbietungen der Sprache, und die Logik, der diese Überbietung folgt, ist die Logik des Bildes. Nicht der Übertritt in die Welt der sichtbaren Objekte ist also gemeint, wenn Metaphern als Bilder spezifiziert werden, sondern die provisorische Überschreitung des Sagbaren in Richtung dessen, was ein Bild leistet und wie es funktioniert. Wie Bilder sehen lassen, ohne zu erklären, so drücken Metaphern aus, ohne zu behaupten. Es ist diese immer schon mitgedachte Leistung und Leistungsgrenze, die Maurice Merleau-Ponty 1945 in der Schlußwendung seines Aufsatzes über Paul Cézanne betont hat: »Nie schauen wir die Idee oder die Freiheit von Angesicht zu Angesicht.«24 Aus metaphorologischer Sicht pflichten wir dem bei und setzen hinzu: Und dabei bleibt es. Das oxymoral gefügte »Sprachbild« bezeichnet eine Figur unähnlicher Bildlichkeit, genauer und schärfer noch: ein sprachliches Stück Nichtsprachlichkeit. Da, wo Sprache bildlich wird, greift sie über sich selbst hinaus, indem sie nicht sagt, was sie sagt, und sagt, was sie nicht sagt. Wenn wir hören, daß das menschliche Leben ein Fluß ist oder ein Weg, dann wissen wir auf der Ebene der Tatsächlichkeit, daß diese Auskunft falsch und vollkommen unsinnig ist. Aber so hören wir den Satz nicht; was uns eingeht und einstweilen auch überzeugt, ist nicht eine Kollision unverträglicher Bestandteile, die uns dann ratlos zurückließe. In der konkreten Sprachsituation lassen wir all dies beiseite und richten die Aufmerksamkeit auf die mit der Kombination aus Abstraktum und Konkretum gestiftete Interferenz, die (um das Beispiel aufzugreifen) auf das, was Leben heißt, und ebenso auf Flüsse und Wege ein bezeichnendes Licht fallen läßt. Wir verstehen das Bild oder lassen uns, wie die Kritik von jeher angemerkt hat, von ihm verführen,25 weil wir das ›Daß‹ des Bildes längst bemerkt haben und wissen, daß

I. Kant: Kritik der Urteilskraft, a. a.O. [Anm. 10] § 59. Walter Benjamin: Über das mimetische Vermögen. In: ders.: Kairos. Schriften zur Philosophie, hg. von R. Konersmann (Frankfurt a.M. 2007) 168–171, bes. 169 f. Bereits in Über die Sprache überhaupt … bestimmt Benjamin die Metapher als »Symbol des Nicht-Mitteilbaren« (ebd. 22). 24 Maurice Merleau-Ponty: Der Zweifel Cézannes. In: ders.: Das Auge und der Geist, hg. von Christian Bermes (Hamburg 2003) 3–27, 27. Siehe auch ders.: Humanismus und Terror (Frankfurt a.M. 1966) 152. Den Sprachbezug des Nichtsprachlichen erschließt Helmuth Plessner: Zur Hermeneutik des nichtsprachlichen Ausdrucks. Gesammelte Schriften, hg. von Günter Dux u. a. Bd. 7 (Frankfurt a.M. 1980) 461–477. Den Zeichencharakter der Metapher betont im Gegenzug Raymond Monelle: Die gegenseitige Metaphorisierung der Klänge in der Musik. In: Zeitschrift für Semiotik 25 (2003) 125–140. Dieser Themenband enthält weitere Versuche über nicht-sprachliche Metaphern in Film, Architektur und Kunst. 25 Alle Metaphernanalyse ist Metaphernkritik – nicht im Sinne eines Kampfes gegen die Metapher, wohl aber im Sinne des Aufweisens zuweilen problematischer Konsequenzen. Ein Musterbeispiel für die Integration von Analyse und Kritik bietet Gaston Bachelard: Die Bil22 23

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das Gesagte für das zu Sagende nur provisorisch und doch unüberbietbar, also wiederum paradox, nämlich ebenso vorläufig wie endgültig einsteht. Nichts anderes ist gemeint, wenn Metaphern – und zumal die philosophisch interessanten Metaphern – als »radikal« (Ernst Cassirer), »emphatisch« (Max Black), »absolut« (Hans Blumenberg) oder »lebendig« (Paul Ricœur) qualifiziert werden. Weil die Metapher und das, was sie (nicht) sagt, sich nicht ausschöpfen und auf die Form einer lexikalischen Auskunft reduzieren läßt, ist die Metapher nicht wörterbuchfähig – jedenfalls dann nicht, wenn von einem Wörterbuch die Angabe dessen erwartet wird, was die Metapher eigentlich, und das heißt unabhängig von Zeit und Ort ihres Auftretens, bedeutet. Der jüngst gemachte Versuch, ein Wörterbuch der philosophischen Metaphern zusammenzustellen,26 hat denn auch auf die Ansprüche der Definition von vornherein verzichtet. Die Zusammenschau der Einzelbeiträge bestätigt, daß, wer die Funktion von Bildfeldern in der Sprache beschreiben will, sie in den Bezügen ihrer syntaktischen, semantischen und historischen Voraussetzungen zur Kenntnis nehmen muß. Die späte Konkretisierung des Metaphernbegriffs als ein Fall von Unbegrifflichkeit, wie sie Hans Blumenberg vorgenommen hat, trägt genau diesen Analysebedingungen Rechnung. Die Blickfelderweiterung auf Phänomene von Unbegrifflichkeit erfordert das Studium der Kontexte, die dem metaphorischen Spiel Gestalt geben – und erschließt damit die kulturphilosophische Dimension des metaphorologischen Interesses. Als zeichenhaft verdichtete Weltauslegungen geben Metaphern Aufschluß über die manifesten Sinnbezüge einer Kultur. Darüber hinaus hält die Blickfelderweiterung auf Unbegrifflichkeit das Bewußtsein lebendig für die Emergenz begrifflicher Formen vor dem Hintergrund des Vorbegrifflichen und Unbegrifflichen, des Nichtwissens und des Nichtverstehens – und das ist, zweitens, die skeptische Dimension des metaphorologischen Interesses. Als Vergegenwärtigungen elementarer Orientierungsbedürfnisse stellen Metaphern den Zeitindex der Begriffe sowie den bereits von Nietzsche genannten Preis des Reduktionismus heraus, mit dem der Allgemeinheitsanspruch des Begriffs erkauft ist. »Der Prozeß der Erkenntnis«, bestätigt Blumenberg, »ist auf Verluste kalkuliert. Zu definieren, Zeit sei das, was man mit einer Uhr mißt, hört sich solide an und ist höchst pragmatisch in Bezug auf Vermeidung von Streitigkeiten. Aber war es das, was wir verdient haben, seit wir zu fragen begonnen haben, was Zeit sei?«27 dung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis (Frankfurt a.M. 1978) 127 ff. Bachelards Kritik (sein Beispiel ist die Metaphorik des Schwamms) erschien erstmals 1938. Ende der siebziger Jahre wurde gleich zweimal der Versuch gemacht, den Neueinsatz der condition postmoderne als Kritik überlieferter Leitmetaphoriken zu inszenieren: Gilles Deleuze und Felix Guattari attackierten die Baummetapher (Gilles Deleuze, Felix Guattari: Rhizome. Introduction [Paris 1976]), Richard Rorty die Spiegelmetapher (Richard Rorty: Philosophy and the Mirror of Nature [Princeton 1979]). 26 Wörterbuch der philosophischen Metaphern, hg. von R. Konersmann (Darmstadt 2008). 27 H. Blumenberg: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit. In: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, a. a.O. [Anm. 2] 193–209, hier 197. Siehe auch H. Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, hg. von A. Haverkamp (Frankfurt a.M. 2007) 32 f., 100.

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Es tut sich hier ein Kreis vornehmlich sprach- und kulturphilosophischer Fragen auf, denen die Metaphorologie sich in Zukunft wird öffnen müssen. Metaphern sind kulturelle Tatsachen. Sie aktivieren, was Max Black related commonplaces genannt hat,28 die Wissens- und Vorstellungszusammenhänge einer kulturellen Gegenwart. Diese Zusammenhänge sind nicht stabil und nicht ein für allemal vorgegeben, sondern stellen Sachverhalte dar, genauer: Interpretationen (Übertragungen), die in der Rückschau wiederum der Interpretation unterliegen. Metaphern als kulturelle Tatsachen zu verstehen heißt, die Kultur als menschengemachtes, hochgradig verdichtetes Ensemble von Handlungs- und Verstehensweisen, von Verhaltens- und Wissensformen zu erschließen, das über die Konstanz und die beständige Wiederkehr einer überschaubaren Zahl von Metaphern Prägnanz gewinnt. Neben Kant ist es vor allem Nietzsche gewesen, der diesen Wirkungszusammenhängen die so lange verweigerte Anerkennung verschafft und sie, mit überwältigender Resonanz im Denken des 20. Jahrhunderts, als philosophische Gegenstände ausgezeichnet hat. Diesem Aufruf wiederum, die aufschließende Funktion der Metapher philosophisch ernst zu nehmen und ihre Wirksamkeit zu ergründen, ist niemand so konsequent gefolgt wie Blumenberg, der die allzu häufig noch getrennt gehaltenen Elemente des Umgangs mit Metaphern, nämlich ihre Theorie und ihre Interpretation, in mehreren, meist großformatigen Monographien exemplarisch zusammengeführt hat. Unter den maßgeblichen Metapherntheoretikern des Jahrhunderts dürfte es Blumenberg gewesen sein, der dem von Nietzsche gezeichneten Bild des hochgelehrten und zugleich »gewitzten Interpreten und Zeichendeuters« am nächsten gekommen ist, der sich nun, nachdem sein Fach über zweieinhalb Jahrtausende hinweg auf die Autorität der Begriffe vertraut hat, unverhofft in die Lage versetzt sieht, »als Zuschauer der europäischen Dinge vor einen geheimnißvollen und ungelesenen Text hingestellt zu sein«.29

28 Vgl. Max Black: Die Metapher. In: Theorie der Metapher, a. a.O. [Anm. 5] 55–79, insbesondere 70 ff. Siehe auch P. Ricœur: Die Metapher und das Problem der Hermeneutik, ebd. 356–375, insbesondere 364 ff. 29 F. Nietzsche: Fragmente, a. a.O. [Anm. 15] 175.

Paul Hoyningen-Huene

Paradigma

I. Einleitung Der Terminus »Paradigma« wurde 1962 vom amerikanischen Wissenschaftshistoriker und -philosophen Thomas S. Kuhn in seinem berühmten Buch The Structure of Scientific Revolutions in die Wissenschaftsphilosophie eingeführt.1 Praktisch alle heutigen Verwendungen des Paradigmenbegriffs in Philosophie und Wissenschaft leiten sich hiervon ab. Das Wort »Paradigma« kommt in Kuhns SSR sehr häufig vor, und zwar ziemlich offensichtlich in verschiedenen, sich überlappenden Bedeutungen. In der bald nach Erscheinen des Buches einsetzenden intensiven Diskussion konzentrierte sich ein guter Teil der Kritik daher auf die Unschärfen des Paradigmenbegriffs. Besonders bekannt wurde eine Arbeit von Margaret Mastermann, die in SSR nicht weniger als 21 verschiedene Bedeutungen des Paradigmenbegriffs zu unterscheiden können glaubte.2 In Reaktion auf diese Kritik unterschied Kuhn Ende der 1960er Jahre eine enge und eine weite Bedeutung von »Paradigma«, die ihm in SSR ineinander geflossen seien. Der Kontext für Kuhns Einführung des Paradigmenbegriffs und dessen Schwanken ist eine Theorie der historischen Entwicklung der naturwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen. Diese Theorie artikuliert ein zyklisches (genauer: spiralförmiges) Phasenmodell für die Wissenschaftsentwicklung. Nach einer Einleitungsphase, »vornormale« Wissenschaft genannt, alterniert die »normale« Wissenschaft mit (typischer Weise kürzeren) Phasen »außerordentlicher« Wissenschaft. Phasen normaler Wissenschaft sind durch nahezu einhellige Akzeptanz von »Paradigmen« charakterisiert; in Phasen außerordentlicher Wissenschaft zerbricht dieser Konsens und die wissenschaftliche Gemeinschaft sucht neue Paradigmen. Zwischen aufeinander folgenden Phasen normaler Wissenschaft, die durch Phasen außerordentlicher Wissenschaft voneinander getrennt sind, finden daher »Paradigmenwechsel« statt. Der von Kuhn ausdrücklich postulierte Geltungsbereich seiner Theorie ist der Bereich naturwissenschaftlicher Grundlagendisziplinen. Dennoch wurden die Termini ›Paradigma‹ und ›Paradigmenwechsel‹ seit Mitte der 1960er Jahre auch in vielen anderen Gebieten verwendet, darunter insbesondere in den So-

1 Th. S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions (Chicago 1962, 21970) (nachfolgend: SSR); dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (Frankfurt a.M. 1967, 21976). 2 M. Mastermann: The Nature of a Paradigm, in: Imre Lakatos, Alan Musgrave (Ed.): Criticism and the Growth of Knowledge (Cambridge 1970) 59–89; dt. in: I. Lakatos, A. Musgrave (Hgg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt (Braunschweig 1974) 59–88.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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zial- und Geisteswissenschaften, und auch in vielen außerwissenschaftlichen Gebieten. Dabei fand häufig eine erneute Ausweitung dieser Begriffe statt, über Kuhns weite Begriffsverwendung hinaus. Eine Diskussion des Terminus ›Paradigma‹ muß daher drei Hauptbedeutungen unterscheiden: einmal den engen Paradigmenbegriff Kuhns (III.), dann den weiten Paradigmenbegriff Kuhns (IV.) und schließlich einen allgemeinen Paradigmenbegriff (V.). Daran schließen sich verschiedene Begriffe von ›Paradigmenwechsel‹ an (VI. und VII.). Zunächst aber ist die Vorgeschichte des Kuhnschen Paradigmenbegriffs zu diskutieren.

II. Die Vorgeschichte des Paradigmenbegriffs Ganz bewußt spreche ich hier von einer Vorgeschichte des Paradigmenbegriffs, obwohl diese Bezeichnung heikle anachronistische Konnotationen hat. Ich möchte mit dieser Bezeichnung hervorheben, daß die verschiedenen Vorkommen des Paradigmenbegriffs vor Kuhn weitgehend wirkungslos geblieben sind; es handelt sich um ziemlich isolierte Ereignisse, denen eine gewisse Zufälligkeit anhaftet. Entsprechend weist die Abfolge dieser Vorkommen fast keine innere Kontinuität auf, so daß diese Abfolge nicht wirklich als eine Geschichte des Paradigmenbegriffs vor Kuhn gelten kann – es fehlt ein durchgängiges Referenzsubjekt der Geschichte.3 Zu nennen ist das Vorkommen eines Paradigmenbegriffs bei Lichtenberg, Cassirer, Schlick, Neurath, Wittgenstein, Bruner / Postman und Toulmin.4 Übereinstimmend wird in der Literatur Georg Christoph Lichtenberg als erster Autor genannt, der den Paradigmenbegriff in einer in unserem Kontext signifikanten Bedeutung verwendet hat.5 Lichtenberg ist der Paradigmenbegriff zunächst in der Bedeutung eines grammatischen Schulbeispiels geläufig (das gleiche gilt für Kuhn: s. u. Abs. 3). In Analogie zu den grammatischen Schulbeispielen postuliert Lichtenberg nun bestimmte wissenschaftliche Leistungen, ja eine ganze disziplinäre Tradition als vorbildgebend – als Paradigma – für die weitere Forschung: »Es wird nicht eher […] um alle Teile der Naturlehre gut zu stehen anfangen, bis man das Verfahren der Astronomen bei Erweiterung ihrer Wissenschaft als das Paradigma ansieht, in allen übrigen Teilen der Naturlehre

3 Zum Begriff des Referenzsubjekts einer Geschichte siehe Hermann Lübbe: Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse (Basel 1977) bes. 75–77. 4 Siehe hierzu vor allem Daniel Goldman Cedarbaum: Paradigms. In: Studies in History and Philosophy of Science 14 (1983) 173–213; weiterhin Hans Blumenberg: Paradigma, grammatisch. In: ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben (Stuttgart 1971) 157–162; Stephen Toulmin: Human Understanding. The Collective Use and Evolution of Concepts (Princeton 1972) 106– 107; I. Bernard Cohen: Revolution in Science (Cambridge, MA 1985) 519. – Das Vorkommen von ›Paradigma‹ bei Cassirer, Schlick, Neurath, Bruner und Postman wird bei diesen Autoren nicht erwähnt. 5 Siehe die in der vorangegangen Fußnote genannten Autoren.

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danach zu deklinieren, und eine Geschichte der Astronomie in nuce als eine Haustafel in den physischen und chemischen Laboratorien anzunageln.«6 Und Lichtenberg war der Meinung, daß diese Betrachtungsweise enorm fruchtbar sei: »Ich glaube unter allen heuristischen Hebezeugen ist keins fruchtbarer als das, was ich Paradigmata genannt habe«.7 Ernst Cassirer spricht 1910 von »Paradigma« im Sinne einer exemplarischen Veranschaulichung (für bestimmte Grund- und Lehrsätze der reinen Mechanik).8 – Moritz Schlick verwendet den Paradigmenbegriff in der Bedeutung von »exemplarisches Beispiel«, und zwar in seiner Allgemeinen Erkenntnislehre von 1918 und in seiner Vorlesung vom Wintersemester 1933/34.9 Lichtenberg war für Schlick kein Unbekannter, wie Schlicks Bezug auf ihn in Kap. 20 seiner Erkenntnislehre belegt. Schlicks Verwendung des Paradigmenbegriffs könnte aber auch durch Cassirers Substanzbegriff und Funktionsbegriff vermittelt sein, das er in Kap. 40 seiner Erkenntnislehre zitiert. – Otto Neurath verwendet 1935 in seiner kritischen Besprechung von Poppers Logik der Forschung ›Paradigma‹ mehrfach etwa im Sinne von »Idealmodell«.10 Ludwig Wittgenstein kannte verschiedene von Lichtenbergs Schriften, und es ist dementsprechend behauptet worden, daß dessen Verwendung des Paradigmenbegriffs die Quelle für Wittgensteins Gebrauch ist.11 In Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen ist ein Paradigma etwas, das in einem Sprachspiel einen Standard für den Sprachgebrauch vorgibt: »etwas, womit verglichen wird.«12 Insbesondere zählen dazu diejenigen Musterbeispiele, auf die hingewiesen werden muß, wenn man den Gebrauch bestimmter Zeichen erlernen will.13 Für Kuhn könnte Wittgenstein die Quelle des Terminus ›Paradigma‹ sein.14 Trotz des unbezweifelbaren Einflusses des späten Wittgenstein auf Kuhns SSR ist dies aber hypothetisch. Nicht hypothetisch dagegen ist, daß Kuhn in SSR eine Arbeit von 1949 ausführlich diskutiert und zitiert,15 die den Terminus ›Paradigma‹ G. Ch. Lichtenberg: Vermischte Schriften, hg. von Ludwig Lichtenberg und Friedrich Kries, Bd. 7 (Göttingen 1804) 203 f.; vgl. Blumenberg, a. a.O. [Anm. 3] 159 f. 7 Ebd. Bd. 9 (Göttingen 1806) 152 f. = Sudelbuch K Nr. 312. Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies (München 1994) Bd. 2, 455. 8 E. Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik [1910] (Darmstadt 51980) 243 (durch Sperrdruck hervorgehoben). 9 M. Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre (Berlin 1918, 21925) Kap. 7, Ende des 1. Absatzes; ders: Die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang [1933/34] (Frankfurt 1986) 45. 10 O. Neurath: Pseudorationalismus der Falsifikation. In: Erkenntnis 5 (1935) 353–365, hier 353, 357, 361. 11 Allan Janik, S. Toulmin: Wittgenstein’s Vienna (New York 1973) 176. 12 L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Schriften Bd. 1 (Frankfurt a.M. 1953, 1969) § 50. 13 A. a.O., § 51; siehe auch § 55 und § 57. 14 Nach Cedarbaum, a. a.O. [Anm. 4] 188 hat Kuhn Wittgensteins Philosophische Untersuchungen 1959 gelesen; zudem war Kuhn in engem Kontakt mit Stanley Cavell, der damals über den späten Wittgenstein promovierte. 15 Kuhn, SSR 75–76, 229 Fn.12. 6

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im Titel enthält (aber auch nur dort): On the Perception of Incongruity: A Paradigm von Jerome S. Bruner und Leo Postman.16 Natürlich könnte Kuhn auch durch diese Arbeit auf das Wort ›Paradigma‹ aufmerksam geworden sein. – Schließlich ist noch eine mit Kuhn fast zeitgleiche Verwendung eines Paradigmenbegriff durch Stephen Toulmin zu nennen. In seinem Buch Foresight and Understanding, das auf Vorlesungen aus dem Jahr 1960 zurückgeht, spricht er mehrfach von Paradigmen im Sinne von typischen Beispielsfällen, die die Grundlage für wissenschaftliche Erklärungen abgeben.17

III. Der enge Paradigmenbegriff Kuhns Kuhns Theorie der historischen Entwicklung der naturwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen beginnt mir der Beobachtung, daß es in vielen dieser Disziplinen über lange Zeiträume hinweg relativ einhellige Konsense der jeweiligen Fachleute gibt. Dies gilt insbesondere im Kontrast zu den Sozial- und Geisteswissenschaften, in denen eher der Dissens innerhalb der einschlägigen wissenschaftlichen Gemeinschaften die Normalsituation ist. Kuhn stellte sich dann die Frage, welches die Kernelemente solcher Konsense sind. Es sind dies nicht etwa bindende Definitionen der Grundbegriffe oder fixe Regeln der Wissenschaftsausübung, wie man vielleicht erwarten könnte, sondern »allgemein anerkannte wissenschaftliche Errungenschaften, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten modellhafte Probleme und Lösungen liefern.«18 Solche konkreten Lösungen konkreter Forschungsprobleme nennt Kuhn »Paradigmen«, und zwar in Anlehnung an die Bedeutung des englischen »paradigm« in der Grammatik. Dort wird mit »paradigm« ein Standardbeispiel etwa für eine Konjugation bezeichnet. So ist »amo, amas, amat, …« ein »paradigm« für die lateinische a-Konjugation; die Bildung der Flexionsformen von Verben der a-Konjugation kann am »paradigm« abgelesen werden. Diese anerkannte Vorbildsfunktion eines konkreten Beispiels ist das tertium comparationis, das grammatische »paradigms« mit den Paradigmen in den Naturwissenschaften verbindet. Denn Paradigmen im engen Sinn sind bei Kuhn konkrete wissenschaftliche Leistungen mit zwei den »paradigms« entsprechenden Eigenschaften. Erstens besteht bei den Fachleuten des Gebiets Übereinstimmung darüber, daß es sich bei diesen Leistungen wirklich um herausragende Problemlösungen handelt. Zweitens bieten diese Leistungen der nachfolgenden Forschung durch ihren

J. S. Bruner, L. Postman: On the Perception of Incongruity: A Paradigm. In: Journal of Personality 18/2 (1949) 206–223. Bruner und Postman arbeiteten in Harvard, wo auch Kuhn bis 1956 war. 17 S. Toulmin: Foresight and Understanding: An Enquiry into the Aims of Science (London 1961), dt.: Voraussicht und Verstehen. Ein Versuch über die Ziele der Wissenschaft (Frankfurt a.M. 1968) 63, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 76, 81, 90, 92, 93, 98, 123. 18 Kuhn, SSR VIII, dt. 10. 16

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Vorbildcharakter Orientierung. Diese Orientierung erfolgt aber nicht durch explizite Anweisungen oder Regeln, sondern implizit, etwa nach der Devise: Suche Probleme, die Analogien zu den paradigmatischen Problemen aufweisen und löse sie in Analogie zu den paradigmatischen Lösungen. Forschung besteht in dieser Perspektive dann in der Ausbeutung des Potentials des in den schon erreichten konkreten Problemlösungen eingelassenen und bis zu einem gewissen Grad impliziten Wissens. Die Perspektive, daß Forschung, also die Erzeugung neuen wissenschaftlichen Wissens, wesentlich als Resultat der normativen Wirkung schon gelöster Probleme zu verstehen ist, hat fundamentale Bedeutung für unser Wissenschaftsverständnis. Für einen nennenswerten Einfluß eines zeit- und fächerübergreifenden wissenschaftlichen Methodenkanons, also die wissenschaftlichen Methode, bleibt nämlich kein Raum mehr. Damit wird das Selbstverständnis der (Natur-)Wissenschaft als methodengeleitet abgewiesen, wie es in der neuzeitlichen Wissenschaft vor allem durch Descartes und Bacon propagiert worden war und seither das in den Wissenschaften selbst wie auch der Philosophie dominierende Wissenschaftsverständnis darstellte. Der Paradigmenbegriff löst damit den Methodenbegriff als konstitutives Element der (Natur-)Wissenschaften ab, was weitere gravierende Konsequenzen hat. An allererster Stelle ist hier die Historisierung der (Natur-)Wissenschaften zu nennen. Im Gegensatz zur Vorstellung des überzeitlichen Charakters der wissenschaftlichen Methode sind Paradigmen von vorneherein als historische Entitäten konzipiert, die im Verlauf der Geschichte kommen und gehen. Damit wird auch der wissenschaftliche Wissensbegriff zumindest bis zu einem gewissen Grad historisiert, und es stellt sich die Frage, als was wissenschaftliche Wissensansprüche dann überhaupt zu verstehen sind. (Ich komme auf diese Frage in Abschnitt VI kurz zurück.) Paradigmen im engen Sinn orientieren die nachfolgende Forschung. Sie tun dies, indem verschiedene ihrer Aspekte für diese Forschung verbindlich sind. Dazu gehören insbesondere die Begriffe, die bei den paradigmatischen Lösungen verwendet werden, die in diese Lösungen eingelassenen ontologischen Grund- bzw. Modellvorstellungen, die zu verwendenden allgemeinen Gesetze bzw. Hypothesen und schließlich die (impliziten) Wertmaßstäbe, gemäß denen es sich bei den Paradigmen tatsächlich um exemplarische Lösungen wissenschaftlicher Probleme handelt. Diese Mehrzahl von Aspekten von Paradigmen im engen Sinn, die für die nachfolgende Forschungstradition relevant sind, leitet nun zum weiten Paradigmenbegriff Kuhns über.

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IV. Der weite Paradigmenbegriff Kuhns Kuhn verwendet den Terminus »Paradigma« in SSR auch zur Bezeichnung »der gesamten Konstellation von Überzeugungen, Werten, Techniken usw., die die Mitglieder einer Gemeinschaft teilen.«19 Ganz offensichtlich umfaßt dies mehr als nur die allgemein anerkannten konkreten Problemlösungen, aber natürlich sind diese in der Gesamtkonstellation enthalten. Nachdem Kuhn von der Kritik auf dieses Schwanken seines Paradigmenbegriffs aufmerksam gemacht worden war, unterschied er Ende der 1960er Jahre zwei Paradigmenbegriffe, die er auch terminologisch kennzeichnete.20 Ein Paradigma im engen Sinne nannte er nun ein »Musterbeispiel« (engl. exemplar), ein Paradigma im weiten Sinn eine »disziplinäre Matrix«, weil es eine Konstellation verschiedener Elemente ist. Zu diesen Elementen der disziplinären Matrix, also der Gesamtheit der Gegenstände des Konsenses in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, zählen zunächst einmal die Paradigmen im engen Sinn, also exemplarische Problemlösungen. Dazu kommen symbolische Verallgemeinerungen (typischerweise allgemeine Gesetze), Werte (zur Beurteilung von einzelnen Theorieanwendungen und auch ganzer Theorien) und Modelle sowie ontologische Grundvorstellungen in dem entsprechenden Forschungsgebiet. Aus dieser Unterscheidung von engem und weitem Paradigmenbegriff ergibt sich unmittelbar ihre Verhältnisbestimmung: Paradigmen im engen Sinn, also Musterbeispiele, sind nach Kuhn »Komponenten«, »Teile« oder »Elemente« von Paradigmen im weiten Sinn, d. h. der disziplinären Matrix, der Gesamtkonstellation. Tatsächlich aber ist diese Verhältnisbestimmung irreführend. Denn die Rede von »Komponenten«, »Teilen« oder »Elementen« impliziert, daß die genannten Entitäten unabhängig voneinander und unabhängig von der Gesamtkonstellation, also selbstständig, existieren. Dies ist aber nicht der Fall. Vielmehr sind symbolische Verallgemeinerungen, Werte, Modelle und ontologische Grundvorstellungen unselbständige Momente der exemplarischen Problemlösungen: von ihnen zwar unterscheidbar, aber nicht abtrennbar.21 Genau dies macht die zentrale Rolle von Paradigmen im engen Sinn aus. Mit dieser Verhältnisbestimmung wird auch verständlich, warum es bei Kuhn, der den Begriff einer Einheit von (unselbständigen) Momenten in der fraglichen Zeit nicht kannte, zu einem unentschiedenen Schwanken zwischen einem engen und einem weiten Paradigmenbegriff hat kommen können. Der enge Paradigmenbegriff im

Th. S. Kuhn: »Postscript – 1969«, in: The Structure of Scientific Revolutions (Chicago 174–210; dt.: »Postskriptum – 1969«, in: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite rev. und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Aufl. (Frankfurt 1976) 186–221, hier 186. 20 A. a.O. 193–203. 21 Vgl. P. Hoyningen-Huene: Die Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns. Rekonstruktion und Grundlagenprobleme (Wiesbaden 1989) Abschnitt 4. 3. e. 19

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Sinn von »Musterbeispiel« verweist zwangläufig auf den weiten Paradigmenbegriff im Sinn der Gesamtkonstellation der gemeinsamen Überzeugungen der Gemeinschaft, weil diese Konstellation in den Musterbeispielen verankert ist. Umgekehrt ist die Einheit der verschiedenen »Komponenten« der disziplinären Matrix nur verständlich, wenn sie als unselbständige Momente der Musterbeispiele gefaßt werden. Es ist bemerkenswert, daß Kuhn seit Mitte der siebziger Jahre den Terminus »disziplinäre Matrix« nicht mehr verwendet. Es ist womöglich die durch diesen Terminus suggerierte Unabhängigkeit der eigentlich zusammengehörigen Momente, die Kuhn zu dieser Abkehr bewogen hat. Denn Kuhn war sich des »ganzheitlichen« Charakters von Paradigmen im weiten Sinn durchaus bewußt.

V. Der allgemeine Paradigmenbegriff Der weite Paradigmenbegriff Kuhns ist nun der Ausgangspunkt für die heute geläufigste Verwendung des Terminus »Paradigma«, sowohl in den Geistes- und Sozialwissenschaften als auch in nicht-wissenschaftlichen Gebieten; ich nenne diesen Begriff den »allgemeinen Paradigmenbegriff«. Es kommt dabei zu einer erneuten Ausweitung seiner Bedeutung, die ihn etwas verwaschen macht. In dieser allgemeinen Bedeutung ist mit »Paradigma« eine grundsätzliche Orientierung gemeint, die sich einer gewissen allgemeinen Anerkennung erfreut und die in verschiedenen konkreten Anwendungsfällen zum Ausdruck kommt. Wie weit die genannte allgemeine Anerkennung reicht und auf welche verschiedenartigen Elemente sie sich bezieht, ist auf einer abstrakten Ebene nicht festgelegt und kann je nach Kontext spezifiziert werden. Insbesondere fehlt beim allgemeinen Paradigmenbegriff der Bezug auf konkrete Einzelfälle als konstitutiven Elementen des Konsenses, also auf Paradigmen im engen Sinn, wie das bei Kuhns weitem Paradigmenbegriff der Fall ist.22 Es besteht also beim allgemeinen Paradigmenbegriff kein begrifflicher Zusammenhang mehr mit dem engen Paradigmenbegriff Kuhns, und entsprechend breit kann er verwendet werden.

Dies ist in Bezug auf das Verhältnis von Kuhns Paradigmenbegriff(en) und Ludwik Flecks Begriff des »Denkstils« relevant; zu letzterem siehe L. Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935] (Frankfurt a.M. 1980). In der Literatur werden diese beiden Begriffe bisweilen als oft miteinander austauschbar betrachtet (siehe z. B. Cedarbaum, a. a.O. [Anm. 4] 194, 197); »Denkstil« sei ein unmittelbarer Vorgänger von »Paradigma« (siehe z. B. Babette Babich: From Fleck’s Denkstil to Kuhn’s paradigm: conceptual schemes and incommensurability. In: International Studies in the Philosophy of Science 17 [2003] 75–92). Richtig ist, daß »Denkstil« und »Paradigma« etliche sehr ähnliche Funktionen in den jeweiligen Theorien haben. Was bei Flecks Denkstil gegenüber Kuhns Paradigmen aber fehlt, ist die explizite Anbindung an konkrete Problemlösungen. Daher steht Flecks »Denkstil« dem allgemeinen Paradigmenbegriff viel näher als den Kuhnschen Paradigmabegriffen. 22

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Überall, wo es so etwas wie eine grundsätzliche Orientierung gibt, die von einer Gruppe von Leuten geteilt wird und die in verschiedenen Situationen zur Anwendung kommt, kann von einem »Paradigma« gesprochen werden. Das kann so weit gehen, daß auch Weltsichten oder Weltanschauungen als Paradigmen bezeichnet werden. Welcher Art der Konsens ist und wie er zustande kommt, ist dabei unerheblich. Der allgemeine Paradigmenbegriff wird daher auch weit herum außerhalb des Wissenschaftsbereichs verwendet. Um nur zwei aus einer unüberblickbaren Zahl ähnlich gelagerter Fälle zu nennen: Es wird beispielsweise von einem »Paradigma der Außenpolitik« oder einem »Paradigma im Marketing« gesprochen. Auch im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften wird der Terminus »Paradigma« zur Bezeichnung grundsätzlicher Forschungsorientierungen verwendet. Oft wird dann von »Forschungsparadigmen«, »Interpretationsparadigmen« »wissenschaftlichen« oder »erkenntnistheoretischen« Paradigmen gesprochen.23 Dabei handelt es sich typischerweise um den allgemeinen Paradigmenbegriff und nicht den weiten Paradigmenbegriff Kuhns, weil als Basis des (typischerweise lokalen) Konsenses exemplarischen Problemlösungen explizit keine konstitutive Rolle zugeteilt wird. Durch welche Elemente die grundsätzliche Forschungsorientierung dann charakterisiert wird, ist durch den allgemeinen Paradigmenbegriff nicht vorgegeben. Verbreitet ist etwa eine Charakterisierung durch den Gegenstandsbereich der entsprechenden Wissenschaft, die typischen Fragen, die hinsichtlich dieser Gegenstände gestellt werden, und die typischen Methoden, die zur Beantwortung dieser Fragen verwendet werden. Paradigmen sind dann für bestimmte Schulen charakteristisch, innerhalb derer es, jedenfalls im Kontrast zu anderen Schulen, einen gewissen Grundkonsens hinsichtlich Gegenständen, Fragestellungen und Methoden gibt.

VI. Paradigmenwechsel bei Kuhn Kuhns Vorstellungen von Paradigmenwechseln sind sehr spezifisch, weil sie sich auf naturwissenschaftliche Grundlagendisziplinen beziehen und in seine Theorie der Wissenschaftsentwicklung eingebettet sind. Paradigmenwechsel sind revolutionäre Einschnitte im Wissenschaftsverlauf, und in ihnen werden Paradigmen im engen Sinn zusammen mit den mit ihnen assoziierten Paradigmen

Diese Verwendungsweisen lassen sich beispielsweise leicht im Internet nachweisen. – Für die Verwendung des Paradigmenbegriffs speziell in der Literaturwissenschaft siehe Kurt Bayertz: Wissenschaftstheorie und Paradigmenbegriff (Stuttgart 1981) 106–118. Vgl. Paradigms and Revolutions. Applications and Appraisals of Thomas Kuhn’s Philosophy of Science, ed. by Gary Gutting (Notre Dame 1980); M. Fischer, P. Hoyningen-Huene (Hgg.): Paradigmen. Facetten einer Begriffskarriere (Frankfurt a.M. 1997), Gary L. Hardcastle: Paradigm. In: Arne Hessenbruch (Ed.): Reader’s Guide to the History of Science (London 2000) 546–548. 23

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im weiten Sinn aufgegeben und durch neue ersetzt. Dieser Vorgang, der Hauptgegenstand von Kuhns Lebenswerk, hat verschiedene gravierende Folgen für den Entwicklungsprozeß der naturwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen und unser Verständnis davon. Kuhn hat einige davon mit seinem Begriff der Inkommensurabilität zusammengefaßt. Vorauszuschicken ist, daß dieser Begriff in der Literatur höchst kontrovers diskutiert wird, nicht zuletzt deshalb, weil auch der Philosoph Paul Feyerabend ebenfalls 1962 einen Begriff der Inkommensurabilität eingeführt hat, der sich von Kuhns Begriff subtil unterscheidet.24 Ich muß mich hier mit einer etwas schematischen Darstellung von Kuhns Begriff der Inkommensurabilität begnügen.25 Der Begriff der Inkommensurabilität stammt aus der Geometrie. Mit ihm wird ein besonderes Verhältnis der Längen zweier Strecken charakterisiert. Zwei Strecken heißen inkommensurabel, wenn es für sie kein gemeinsames Maß gibt, d. h. daß es keine Maßstrecke gibt, so daß die Längen der beiden Strecken als ganzzahlige Vielfache dieser Maßstrecke ausgedrückt werden können. Die Inkommensurabilität wurde in der griechischen Mathematik bei der Untersuchung des Längenverhältnisses von Seiten und Diagonale des Quadrats entdeckt. Übertragen auf das begriffliche Verhältnis von Paradigmen bzw. wissenschaftlichen Theorien bedeutet Inkommensurabilität, daß es kein gemeinsames begriffliches Maß für die beiden Theorien gibt. Das heißt: Bei inkommensurablen Theorien kann die eine Theorie nicht mit den begrifflichen Mitteln der anderen Theorie wiedergegeben werden; die Grundbegriffe der einen Theorie können nicht in die Grundbegriffe der anderen Theorie übersetzt werden. Diese Art der Inkommensurabilität wird daher auch als »semantische Inkommensurabilität« bezeichnet. Sie entsteht bei wissenschaftliche Revolutionen, weil dabei typischerweise Begriffsänderungen einiger Grundbegriffe stattfinden, sei es durch die Einführung gänzlich neuer Begriffe (und Termini), sei es durch die Aufgabe bisher verwendeter Begriffe (und Termini), oder sei es durch Veränderungen der Bedeutung von Begriffen, der sog. Begriffsverschiebung. Letztere können oberflächlich unbemerkt bleiben, weil sie sich nicht in einer Veränderung der entsprechenden Termini niederschlagen. Vielmehr werden die alten Termini weiterhin verwendet; sie beziehen sich aber nunmehr auf mehr oder weniger stark veränderte Begriffe.

Siehe vor allem P. K. Feyerabend: Erklärung, Reduktion und Empirismus. In: ders.: Probleme des Empirismus. […] Ausgewählte Schriften, Bd. 2 (Braunschweig 1981) 73–125. – Zur Diskussion des Verhältnisses von Feyerabend und Kuhn siehe P. Hoyningen-Huene: Paul Feyerabend und Thomas Kuhn. In: Journal for General Philosophy of Science 33 (2002) 61–83; ders.: Three biographies: Kuhn, Feyerabend, and incommensurability. In: Rhetoric and Incommensurability, ed. by Randy Allen Harris (West Lafayette 2005) 150–175. 25 Für Details siehe P. Hoyningen-Huene, a. a.O. [Anm. 21] bes. Abschnitt 6. 3, sowie ders.: Kuhn’s Conception of Incommensurability. In: Studies in History and Philosophy of Science 21 (1990) 481–492. 24

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Paradigmenwechsel im Sinne Kuhns haben aufgrund der für sie charakteristischen semantischen Inkommensurabilität besondere Eigenschaften. Erstens können in der Diskussion zwischen Vertretern verschiedener Paradigmen Kommunikationsprobleme auftreten. Der Grund sind vor allem die oben genannten Begriffsverschiebungen. Wird eine von der einen Partei vorgenommene Begriffsverschiebung von der anderen Partei nicht bemerkt, so ergibt sich leicht die Situation des Aneinandervorbeiredens. Diese Kommunikationsprobleme lassen sich nicht durch die Übersetzung der Sprache der einen Theorie in die der anderen Theorie auflösen; gerade diese Möglichkeit wird von der semantischen Inkommensurabilität ausgeschlossen. Nicht ausgeschlossen dagegen ist das Erlernen der neuen Theoriesprache, was dann die Kommunikation zwischen Vertretern der verschiedenen Paradigmen ermöglicht. Zweitens ist eine typische Begleiterscheinung von semantischer Inkommensurabilität die Verschiebung wissenschaftlicher Problemstellungen. So können bestimmte wissenschaftliche Probleme veralten und gänzlich neuartige Probleme auftauchen. Drittens können sich durch Inkommensurabilität die Standards für akzeptable Lösungen wissenschaftlicher Probleme verändern, was in der Literatur auch als »methodologische Inkommensurabilität« bezeichnet wird. Dies führt dazu, daß die Vertreter konkurrierender Paradigmen hinsichtlich der Bewertung der Leistungen der jeweiligen Paradigmen nicht übereinstimmen. Viertens können sich die Meßverfahren für Observable verändern. Dies ist der Fall, wenn diese Meßverfahren von den jeweiligen Paradigmen abhängen. Fünftens findet sich bei Kuhn die provozierende Behauptung, daß sich mit einer wissenschaftlichen Revolution die Welt ändert. Wie diese Behauptung zu verstehen ist und in welcher Version sie möglicherweise zutrifft, darüber gehen die Meinungen seit Anbeginn der Diskussion weit auseinander.26 Sechstens verhindert Inkommensurabilität, daß die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen als eine Annäherung an die Wahrheit verstanden werden kann. Der Fortschritt der Wissenschaften in instrumenteller Hinsicht, also bezüglich zutreffender Prognosen und der Möglichkeit erfolgreicher Interventionen, wird dadurch keineswegs bestritten (wie das manche Autoren Kuhn unterstellen). Bestritten wird nur, daß dieser Fortschritt als eine Annäherung der Theorienabfolge an »die wahre Theorie« gedeutet werden kann. Siebtens ist schließlich festzuhalten, daß Inkommensurabilität eine Konsequenz nicht hat, die Kuhn (und Feyerabend) weit herum unterstellt worden ist. Inkommensurabilität impliziert nicht, daß Paradigmen bezüglich ihrer Leistungsfähigkeit unvergleichbar sind. Behauptet

Siehe z. B. P. Hoyningen-Huene, a. a.O [Anm. 21] Kap. 3 und Abs. 6.2; ders.: Idealist Elements in Thomas Kuhn’s Philosophy of Science. In: History of Philosophy Quarterly 6 (1989) 393–401; Ian Hacking: Working in a New World: The Taxonomic Solution. In: World Changes. Thomas Kuhn and the Nature of Science, ed. by Paul Horwich (Cambridge 1993) 275–310; Michael Devitt: Incommensurability and the Priority of Metaphysics. In: P. Hoyningen-Huene, Howard Sankey (Ed.): Incommensurability and Related Matters (Dordrecht 2001) 143–157. 26

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wird lediglich, daß der Theorienvergleich inkommensurabler Theorien wesentlich komplexer und subtiler ist als man es in der wissenschaftsphilosophischen Tradition vor Kuhn gesehen hatte.

VII. Paradigmenwechsel allgemein Auch mit Bezug auf den allgemeinen Paradigmenbegriff (s. o. V.) wird von Paradigmenwechseln gesprochen. Um bei den oben verwendeten Beispielen zu bleiben: Ein grundlegender Wechsel in der Orientierung der Außenpolitik oder eine markante Änderung der Marketingstrategie einer Firma kann als »Paradigmenwechsel« bezeichnet werden. Dabei besteht eine mehr oder weniger große Ähnlichkeit mit Paradigmenwechseln in Kuhns Sinn. Bei Paradigmenwechseln im allgemeinen Sinn wird wie bei Kuhn die Grundsätzlichkeit einer mentalen Veränderung hervorgehoben: Es geht nicht um eine kleinere Anpassung von Denk- und Wahrnehmungsmustern an neue Gegebenheiten, sondern um eine tiefgehende Neustrukturierung. Klarerweise lebt diese Verwendung des Begriffs eines Paradigmenwechsel wie bei Kuhn von der Kontrastierung einer großen und grundsätzlichen mentalen Veränderung mit einer kleinen oder nur oberflächlichen. Welche Elemente davon betroffen sind und warum gerade diese die grundsätzlichen sind, ist beim allgemeinen Begriff des Paradigmenwechsels nicht spezifiziert (im Gegensatz zum Kuhnschen Begriff des Paradigmenwechsels). Es ist wohl diese inhaltliche Unbestimmtheit zusammen mit der konnotierten Dramatik, die zur großen Verbreitung des allgemeinen Begriffs des Paradigmenwechsels beigetragen hat.

Eva-Maria Engelen

Schuld

I. Philosophische Begriffsanalysen im 20. Jahrhundert Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts läßt sich ohne Bezugnahme auf das Konzept der Schuld nicht erzählen. Schon allein daher gilt es, diesen Begriff zu analysieren und zu verstehen. Einen weiteren Grund bildet das deutsche Strafrecht, demzufolge nur dann bestraft werden kann, wenn das fragliche Handeln ein schuldhaftes war. Beide Umstände lenken den Blick auf absichtsvolles Handeln, das für einen Schuldvorwurf und damit die Zuschreibung von Schuld ausschlaggebend ist. Dieser Vorstellung liegt aber auch ein bestimmtes Menschenbild zugrunde, das von einem freien, autonom handeln könnenden Wesen ausgeht. Wie dieses Menschenbild aussieht und inwiefern es unser Selbstverständnis ausmacht, läßt sich gerade am Begriff der Schuld zeigen. Es ist nicht einfach, sich dem Schuldbegriff in der philosophischen Literatur des 20. Jahrhunderts so zu nähern, daß die theologischen Grundvoraussetzungen des Schuldbegriffs außer acht gelassen werden.1 Dies soll im folgenden dennoch versucht werden, um die spezifische philosophische Reflexionsebene auf das Phänomen der Schuld und des Gefühls des Schuldigseins herauszuarbeiten. Die Verkürzung wird also bewußt in Kauf genommen. Denn abgesehen davon, daß es das Anliegen dieses Beitrags ist, die spezifische philosophische Reflexionsebene zu bestimmen, hat dieses Vorgehen den Vorteil, daß es erlaubt, auch Schuldzuschreibungen und Schuldgefühle zu analysieren, die von theologischen Voraussetzungen des Schuldbegriffs absehen. Ein solches Vorgehen gestattet es daher, gegenwärtige Debatten, die noch zur Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts gehören, aber ohne theologische Bezüge auskommen, in einen geistesgeschichtlichen Zusammenhang mit philosophischen Reflexionen zum Schuldbegriff setzen zu können, die vorangegangen sind. Wesentliche Beiträge zum Schuldbegriff nach 1945 setzen bei den Überlegungen Martin Heideggers in Sein und Zeit an. Die Analyse dieser Passage soll daher den Ausführungen zu Karl Jaspers und Jean-Paul Sartre vorangestellt werden, ehe ich mich den Analysen von Ruth Leys zu den Umdeutungen von Schuld in Scham durch Giorgio Agamben und materialistischen Emotionstheorien zuwende.

1

Siehe hierzu u. a. Johannes Köhler: Art. ›Schuld‹. III. In: HWPh Bd. 8 (Basel 1992) 1456– 1465, hier 1461–1463. Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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Heidegger antwortet in Sein und Zeit auf die Frage: »wer sagt, wie wir schuldig sind und was Schuld bedeutet?«2 im Rahmen seiner Überlegungen zum Dasein als existenzialer Bedingung der Möglichkeit. Er arbeitet dabei heraus, daß der philosophisch für ihn relevante Sinn von ›schuldig sein‹ sich nicht auf eine Rechtsverletzung oder ein ausgleichendes Verrechnen von Ansprüchen reduzieren läßt. Die Schuld am Anderen ergibt sich vielmehr bereits aus der Gefährdung von dessen Existenz, für deren Nicht-Gefährdung dieser grundsätzlich Forderungen stellen kann. Diese Form der Schuld bezeichnet Heidegger aber als eine sittliche, die für ihn noch nicht die grundlegende Struktur des Schuldigseins aufweist. Denn das Schuldigsein in bezug auf das Dasein ergibt sich daraus, daß dieses sich grundsätzlich als ein Seinkönnen auf Möglichkeiten hin entwirft. Das verweist darauf, daß wir für unser Dasein nie alle Möglichkeiten verwirklichen können. Weil dem so ist, bleiben wir immer hinter den Möglichkeiten des Daseins zurück, so daß der Mensch stets mit einem »Nicht«3 in bezug auf die eigene Existenzmöglichkeit konfrontiert ist: »Das Dasein ist als solches schuldig«.4 Für Heidegger ist das der Preis der Freiheit – des »Freiseins«, wie er schreibt.5 Die für den Schuldbegriff wesentliche Verbindung von Möglichkeit und Freiheit wird bei Heidegger also nicht darin gesehen, daß man grundsätzlich anders handeln kann oder hätte anders handeln können, sondern darin, daß man, indem man etwas verwirklicht, andere Möglichkeiten nicht verwirklichen kann, ihnen nicht entsprechen kann. Freiheit wird damit also wesentlich negativ bestimmt und zwar dadurch, daß Möglichkeiten nicht verwirklicht werden können. Aus dieser Analyse ergibt sich für Heidegger dann der Satz, daß das Dasein als solches schuldig sei. In dieser Hinsicht folgt K. Jaspers Heidegger,6 wenn er schreibt: da er sich frei wisse, anerkenne er sich als schuldig für sein Handeln.7 Heideggers Frage: »wer sagt, wie wir schuldig sind und was Schuld bedeutet?« wird explizit auf ein Ich bezogen und lautet dann bei Jaspers: »was ist meine Schuld?«8 Jaspers’ Antwort, die, wie wir später sehen werden, für die Opfer und nicht für die Täter zum Kern ihres Schuldgefühls wurde, obgleich Jaspers sie vornehmlich hinsichtlich der Schuld der Täter formuliert, lautet: »daß ich noch lebe, ist meine Schuld.« Diesem Schuldbegriff liegt nach Jaspers die metaphysische Schuld zugrunde. Er bestimmt sie als den Mangel absoluter Solidarität mit dem Menschen als 2

M. Heidegger: Sein und Zeit [1927]. Gesamtausgabe Bd. 2 (Frankfurt a.M. 1977) 373. Ebd. 376: »Gleichwohl liegt in der Idee von ›schuldig‹ der Charakter des Nicht.« 4 Ebd. 378 f. 5 Ebd. 378. 6 »Schuld aber ist das Vermeiden von Wirklichkeit. Dann aber ist die tiefere Schuld im Verwerfen der jeweils anderen Möglichkeit.« (K. Jaspers: Philosophie, Bd. 3: Metaphysik [Berlin, Göttingen 31956] 111). 7 Ebd. Bd. 2: Existenzerhellung, 196 f. 8 K. Jaspers: Die Schuldfrage (Heidelberg 1946) 57. 3

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Menschen: »Diese Solidarität ist verletzt, wenn ich dabei bin, wo Unrecht und Verbrechen geschehen. Es genügt nicht, daß ich mein Leben mit Vorsicht wage, um es zu verhindern. Wenn es geschieht, und wenn ich dabei war, und wenn ich überlebe, wo der andere getötet wird, so ist in mir eine Stimme, durch die ich weiß: daß ich noch lebe, ist meine Schuld.«9 Die Schuld liegt nach Jaspers darin, nicht den Tod gesucht zu haben, sein Leben nicht für das der anderen eingesetzt zu haben. Dieses Verständnis von Schuld setzt voraus, daß man sich grundsätzlich als frei weiß und zwar auch als frei, den eigenen Tod zu riskieren, um der Würdelosigkeit zu entgehen. Jaspers setzt damit voraus, daß die eigene Würde nur hätte bewahrt werden können, wenn der eigene Tod in Kauf genommen worden wäre. Er setzt damit den Begriff der Würde dem der Schuld entgegen. Schuldlosigkeit wird so mit Würde gleichgesetzt und Würdelosigkeit mit Schuld. Würde ist eine Haltung in bezug auf sich selbst, die man nur einnehmen kann, wenn man sich dem Anderen gegenüber würdig erweist, indem man sich für dessen Rechte und dessen Leben einsetzt. In einem wörtlichen Verständnis müßte Jaspers daher eigentlich die Würde meta-physisch nennen (und nicht die Schuld), weil man im Ernstfall, um in Würde und in Schuldlosigkeit leben zu können, den eigenen Tod und damit die Vernichtung der eigenen Physis in Kauf nehmen muß. Die Stimme, die verkündet hat, »daß ich noch lebe, ist meine Schuld«, erhob sich später allerdings bei den Opfern und nicht bei den Tätern. Warum sie sich nicht auch bei den Tätern erhob, bleibt unverständlich, daß sie sich bei den Opfern erhob, ist vor dem Hintergrund der Heideggerschen Analyse, an die Jaspers anschließt, hingegen verständlich zu machen. Denn derjenige, der lebt, hat, indem er einiges getan hat, anderes nicht tun können. Die Möglichkeiten, die er zugunsten anderer hätte nutzen können, hat er nicht genutzt, um andere, die zum eigenen Überleben geführt haben, zu verwirklichen. Insofern blieb er hinter den Möglichkeiten des eigenen Daseins zurück, und insofern ist das Dasein als solches schuldig. Mit den Worten von Jaspers ausgedrückt, heißt dies: daß ich noch lebe, ist meine Schuld. Neben der metaphysischen Schuld führt Jaspers die Schuld der Verbrecher, die politische, die moralische und die Kollektivschuld an. Der Schuld, welche sich aus Verbrechen ergibt, liegt klarerweise ein Gesetzesverstoß zugrunde, sei es der gegen die Menschlichkeit, sei es der gegen die Menschenrechte oder andere Rechte. Die politische Schuld ergibt sich aus dem politischen Verhalten der Deutschen, das zur Machtergreifung der Nationalsozialisten geführt hat. Und die moralische Schuld ergibt sich aus dem Nicht-wissen-Wollen, der Selbsttäuschung, der Anpassung an die Verhältnisse des Verbecherstaates, gar der Identifikation damit. Was diesbezüglich die eigene Schuld ist, muß jeder selbst für sich entscheiden, sagt Jaspers.

9

Ebd. 64.

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Die Kollektivschuld verbindet Jaspers schließlich in erster Linie mit der politischen Schuld, weil wir, wie er sagt, die politische Verantwortung für unser Regime zu tragen haben. Er führt darüber hinaus aber auch aus, daß es eine nicht objektivierbare Schuld hinsichtlich des Tuns unserer Mitmenschen gibt, mit denen uns Familienbande oder sonstige Bande verbinden: »Nicht die Haftung des Staatsangehörigen, sondern die Mitbetroffenheit als […] Mensch, der ich mit den anderen […] gleicher Herkunft, gleichen Schicksals bin, wird hier Grund nicht einer greifbaren Schuld, aber eines Analogons von Mitschuld.«10 Und auch dieser Begriff der Kollektivschuld wird nach 1945 keinesfalls nur hinsichtlich der Täterseite verwendet, sondern auch hinsichtlich der Opfer als Überlebende. Während Jaspers Kollektivschuld zumindest auch als eine politische Haftung der Staatsangehörigen auffaßt, wird im Falle der Opfer, wie am Ende dieses Aufsatzes zu sehen sein wird, nur noch auf die gleiche Herkunft und das gleiche Schicksal gezielt, das mit dem Unterschied des Überlebens oder Nicht-Überlebens eben doch kein gleiches gewesen ist. Verbunden wird dieses Bewußtsein der Zusammengehörigkeit mit dem Gedanken, der in dem Satz »daß ich noch lebe, ist meine Schuld« ausgedrückt ist. Jaspers’ Ausführungen lesen sich spröde, fast ein wenig pedantisch. Sie sind in aufzählender Manier geschrieben. Es fehlt ihnen der ontologische Tiefsinn eines Heidegger, die theologische Belesenheit eines Paul Ricœur,11 der auf den unfreien Willen des Menschen und dessen Befangensein im Bösen abhebt, oder der Esprit eines G. Agamben, der, wie wir später sehen werden, an Heidegger anschließt und ihn doch völlig auf den Kopf stellt. Und doch erweisen sich die Analysen von Jaspers als diejenigen, welche die Begriffsgeschichte von ›Schuld‹ im 20. Jahrhundert neben denen Heideggers am meisten beeinflußt haben. Deutlich wird das im Verlauf der später folgenden Erörterungen um den Schuldbegriff bei Primo Levi, Bruno Bettelheim und Imre Kertész werden. Jean-Paul Sartre, der für den Begriff der Schuld in seinem Existentialismus keinen Platz zu haben scheint, schließt in einer antagonistischen Weise an die Ausführungen Heideggers an. Sartre schreibt: »Wirklichkeit ist nur im Handeln […]: der Mensch ist nichts anderes als sein Entwurf, er existiert nur in dem Maße, in dem er sich verwirklicht, er ist also nichts anderes als die Gesamtheit seiner Handlungen, nichts anderes als sein Leben.«12 Der Bereich der Möglich-

10 Ebd. 71. Hannah Arendt merkt in ihrem Brief vom 17. August an Jaspers an, daß ihr Mann Heinrich Blücher und sie mit der Schuldanalyse von Jaspers grundsätzlich einverstanden sind, vermissen aber, daß daraus auch eine Übernahme von Verantwortung für die Opfer seitens der deutschen Öffentlichkeit erfolgen müßte, die mehr als die sogenannte Wiedergutmachung umfassen sollte. H. Arendt/K. Jaspers: Briefwechsel 1926–1969, hg. von Lotte Köhler und Hans Saner (München 31993) 88–93. 11 Paul Ricœur: Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld, Bd. 2 (Freiburg, München 1971). 12 J.-P. Sartre: Der Existentialismus ist ein Humanismus. In: ders.: Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays (Reinbek bei Hamburg 2002) 161.

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keit ist hier für die Bestimmung dessen, was der Mensch ist, sekundär. Während Heidegger das Dasein als ein Seinkönnen auf Möglichkeiten hin entwirft, ist das Dasein für Sartre allein in der Wirklichkeit manifest und der Mensch allein durch sein Handeln definiert und nicht durch ein Handeln, das ein anderes Handeln durch seine Verwirklichung nicht entstehen läßt. Der eigene Lebensentwurf hat in diesem Verständnis nur eine Bedeutung im Sinne des Seienden, des Gelebten. Für den Begriff der Schuld bedeutet das, daß er sich allenfalls auf Getanes anwenden läßt, was auf den ersten Blick sinnvoll erscheint. Wir werden aber sehen, daß auf diese Weise nicht die Frage beantwortet werden kann, wie Opfer Schuldgefühle haben können. Um dafür eine erhellende Erklärung geben zu können, muß der Begriff der Freiheit stärker auf den der Möglichkeit bezogen werden. Und es ist wichtig zu verstehen, warum sich Opfer schuldig fühlen, denn das Konzept der Schuld ist für das Selbstverständnis des Menschen nur dann in seinem vollen Umfang zu verstehen, wenn sowohl die Schuld der Täter in den Blick genommen wird, als auch die Frage, warum sich Opfer von Gewaltverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit schuldig fühlen. Die These, die im folgenden vertreten wird, lautet, daß sie das tun, um sich in einer Gesamtbiographie als intentionale und damit geistige Wesen verstehen zu können.

II. Die Umdeutung von Schuld in Scham Da die Annahme, daß ein Schuldgefühl sich aus der Zuschreibung einer Gesamtbiographie als intentionales und geistiges Wesen ergibt, bisher nicht verfolgt wurde, wird das Schuldgefühl der Opfer neuerdings in Scham umgedeutet. R. Leys hat diesen Wechsel von einer Schuld- zur Schamkultur in einer beeindruckenden Studie aufgezeigt.13 Statt einer solchen Umdeutung zu folgen, wird im folgenden versucht, das Schuld-Konzept in seiner ganzen Komplexität zu verstehen, und das bedeutet auch, das Schuldgefühl der Opfer ernst zu nehmen. Die Umdeutung von einer Schuld- zur Schamkultur mag ihre Gründe in einem sich verselbständigenden Biologismus bzw. Materialismus haben, der auch die emotionale Ausstattung des Menschen mit umfaßt. Die Folgen einer solchen Engführung sind weitreichend und verweisen auf das Selbstverständnis des Menschen als geistiges Wesen. Sie sind aber nicht mit einer vollständigen ›Entgeistigung‹ gleichzusetzen, da auch Emotionen wie Scham mit Intentionalität einhergehen und damit geistige mentale Zustände sind. Intentionalität wird generell als Merkmal des Geistigen verstanden. Die Form der Intentionalität bei Emotionen wie Scham ist allerdings eine andere als die beim intentionalen, absichtsvollen Handeln, das zur Zuschreibung von Schuld oder Schuldgefühlen 13

R. Leys: From Guilt to Shame. Auschwitz and After (Princeton, Oxford 2007).

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führt. Mithin ist auch die Form des Geistigen oder Mentalen jeweils eine andere. Handlungen, aufgrund deren Schuld zugesprochen wird, sind intentional, zielgerichtet und damit absichtsvoll. Diese Zielgerichtetheit ist, darüber herrscht weitgehend Einigkeit, der Sphäre des Geistigen zuzurechnen. Wenn ein Täter sich zur Schuld bekennt, bekennt er sich damit auch dazu, dieser Sphäre anzugehören, er begehrt damit, ein freies, autonom handelndes Wesen zu sein und bekennt sich zu seinen Handlungen. Der Schuldvorwurf ist dementsprechend auch als ein Angebot zu verstehen, sich durch ein Schuldeingeständnis als Handelnder und als ein freies Wesen zu verstehen, dem Autonomie zukommt. Ein solches Wesen tut nicht lediglich etwas aufgrund äußerer Reize oder Abrichtung. Nun zeichnet sich eine Entwicklung ab, in welcher Opfern, die Schuldgefühle hegen, insbesondere Überlebenden von Konzentrationslagern, ein solches Schuldgefühl abgesprochen und in ein Schamgefühl umgedeutet wird. Der Grund für diese Umdeutung ist wohl darin zu sehen, daß schuldvolles Handeln nur dann vorliegt, wenn ihm eine Absicht innewohnt. Da Opfer jedoch entweder zu ihrem Tun gezwungen worden sind oder Umständen unterworfen waren, die sie zu einem bestimmten Handeln veranlaßt haben, soll ihnen keine Schuld zugesprochen werden. Das ist soweit auch unproblematisch. Das Unverständliche, das durch Umdeutung von Schuld in Scham zum Verschwinden gebracht werden soll, ist darin zu sehen, daß sich die Opfer selbst Schuldgefühle zuschreiben. Letzteres gilt es meines Erachtens allerdings zu verstehen, ohne vorschnell Umdeutungen vorzunehmen. Die hier vertretene Annahme lautet, daß sie das tun, weil sie sich einen Gesamtentwurf als geistige Wesen zuschreiben. Wird den Opfern jedoch ihr Schuldgefühl (»survivors guilt«) abgesprochen, werden sie damit der Möglichkeit enthoben, sich einen solchen Gesamtentwurf anzueignen. Die Gründe für eine solche Umdeutung von Schuldgefühl in Schamgefühl sind zwar durchaus nachvollziehbar, denn Schuld setzt eine Handlung voraus, für die man verantwortlich ist und dementsprechend auch verantwortlich gemacht werden kann; sie setzt ein intentionales, das bedeutet, absichtsvolles Handeln voraus. Die Überlebenden waren als Opfer aber nicht die Täter. Somit kann und soll ihnen weder eine Schuld, die auf intentionalen Handlungen beruht, zugesprochen werden, noch sollten sie sie empfinden oder empfunden haben. Konzepte einer metaphysischen Schuld, wie sie Jaspers entwickelt hat, werden weder in der angelsächsischen analytisch geprägten Literatur noch von kontinentalphilosophisch geprägten Autoren wie G. Agamben herangezogen, um Schuldgefühle von Opfern zu analysieren. Da Jaspers’ Konzept wohl weitgehend als eine historischen Umständen geschuldete Überlegung angesehen wird, scheint sie als Analyseinstrument ebensowenig tauglich zu sein wie die ihr vorangegangenen Überlegungen Heideggers. Um Schuldgefühl in Schamgefühl umzudeuten, wird daher entweder unterstellt, die Opfer hätten sich um des Überlebens willen mit den Tätern identifiziert

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und diese Identifikation reiche so weit, daß die Opfer sich auch die Sichtweise und das absichtsvolle Handeln der Täter zuschrieben. Oder es wird unterstellt, die Überlebenden hätten ihr eigenes Schuldgefühl nicht richtig interpretiert. Da das Schuldgefühl der Opfer als eine Pervertierung der Täterschaft angesehen wird, wird weiterhin angenommen, die Opfer hätten keine Schuld, sondern Scham empfunden, die nicht mit einem eigenen Tun einhergehen muß. Es wird mithin davon ausgegangen, daß die Opfer ihr eigenes Empfinden nicht richtig beschrieben hätten, wenn sie von Schuldgefühlen berichten. Zu wollen, anders gehandelt haben zu können, auch wenn man dazu de facto nicht in der Lage war, ohne den eigenen Tod zu bewirken, ist jedoch gleichzusetzen mit dem Versuch, den Gesamtentwurf als Person auf die eigene Lebenszeit als einen durchgängigen Gestaltungsraum auszudehnen. Damit wird versucht, das Ausgeliefertsein an physische Gewalt, Erniedrigung und die Reduktion auf biologische Befindlichkeiten zurückzudrängen und sich wenigstens eingeschränkt als eigenständig handelnde und denkende Person begreifen zu können. Zu unterstellen, die Opfer dürften dieses Schuldgefühl nicht haben, weil es einer Pervertierung der tatsächlichen Geschehnisse gleichkomme, bedeutet mithin, die Opfer ein weiteres Mal auf den Status des Erniedrigten zu reduzieren, der nur noch um das biologische Überleben kämpft und sich keinen Gesamtentwurf des Lebens als potentiell Handelnder zuschreiben kann. Sich selbst als (potentiell) handelndes und damit geistiges Wesen verstehen zu dürfen, wäre mithin den Tätern vorbehalten.

III. Intentionalität, Schuld und Scham Was bisher mit dem Begriff ›Sphäre des Geistigen‹ umschrieben wurde, soll durch die Bestimmung dessen, was ›Intentionalität‹ ist, nun genauer gefaßt werden. Intentionalität gilt seit Franz von Brentanos Bestimmung von mentalen oder psychischen Zuständen als das Merkmal des Geistigen.14 Einigkeit herrscht darüber, daß Intentionalität im Sinne von Absichtlichkeit in den Bereich des Mentalen, d. h. des Geistigen gehört. Ob Intentionalität hingegen das Merkmal des Mentalen ist, ist umstritten. Relevant wird diese Diskussion im vorliegenden Zusammenhang hinsichtlich der Frage, ob die Verschiebung von Schuld zu Scham in den Debatten um das Phänomen der Schuld der Überleben-

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»Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (wohl auch mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter wir nicht eine Realität verstehen), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden.« (F. von Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. 1 [Hamburg 1955] 124 f.).

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den tatsächlich auch eine Verschiebung von mentalen, geistigen Phänomenen hin zu materiellen, biologischen Phänomenen darstellt und damit eine weitere Veränderung im Selbstverständnis des Menschen andeutet. In der Philosophie des Geistes wird ›Intentionalität‹ als Eigenschaft eines mentalen, bewußten Zustandes bestimmt, auf die zurückzuführen ist, daß der Zustand auf etwas gerichtet ist oder von etwas handelt oder etwas anderes als sich selbst repräsentiert. Intentionalität liegt also vor, wenn etwas als etwas wahrgenommen wird, etwas gewünscht oder gefürchtet wird und eine Erinnerung sich auf etwas Vergangenes bezieht. Mit dieser Auffassung geht häufig einher, daß intentionale Zustände uns über etwas in der Welt oder uns selbst informieren und daß es sich irgendwie anfühlt, die Welt und uns selbst in dieser Weise zu repräsentieren.15 Insofern handelt es sich also auch bei der Scham um einen intentionalen Zustand beziehungsweise Prozeß. Denn sie fühlt sich auf eine bestimmte Weise an, bezieht sich auf Vorgänge in der Welt, die so als schamvoll, peinlich, regelverletzend oder moralverletzend wahrgenommen werden, und sie repräsentiert unsere Befindlichkeit sowie die Vorgänge in der Welt in einer bestimmten Weise. Ehe ich auf diesen Punkt weiter eingehen werde, kann festgehalten werden, daß eine Emotion wie die Scham kein rein biologisch fundierter, physisch ablaufender Prozeß ist. Die Formen der Intentionalität und damit des Geistigen oder Mentalen, die jeweils hinsichtlich Schuld und Scham involviert sind, unterscheiden sich jedoch. Bei Intentionalität als zielgerichteter Absicht hat das Subjekt zumindest eine Kontrollmöglichkeit über sein Tun, die es bei der Intentionalität der Emotionen und deren Ausrichtung nicht in derselben Weise hat. Man kann daher schon einmal festhalten, daß der Grad der Freiheit unterschiedlich ist. Die beiden Formen der Intentionalität, das Gerichtetsein auf etwas, das sich in einer bestimmten Weise anfühlt, und das absichtliche Tun unterscheiden sich hinsichtlich möglicher Kontrolle und damit in bezug auf Handlungsmöglichkeiten. Die Rede von absichtlichem Handeln setzt voraus, daß man auch anders hätte handeln können.16 Das ist bei Emotionen (wie der Scham), die nicht kontrolliert auf etwas gerichtet werden, sondern durch bestimmte Situationen und Handlungen hervorgerufen werden, anders. Die Lenkungsmöglichkeit ist geringer als in bezug auf Handlungen. Daher ergibt sich das Moment der Intentionalität auch nicht aus einem absichtsvollen Ausrichten, sondern aus dem Moment des Gerichtetseins eines emotional empfindenden Wesens auf ein Objekt der Scham, des Zorns, der Angst, der Freude usw. als einem Objekt der Scham, des

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Siehe etwa: George Graham, Terence Horgan und John Tienson: Consciousness and Intentionality. In: The Blackwell Companion to Consciousness, ed. by Max Velmans and Susan Schneider (Oxford 2007) 468–484, hier 468. 16 Und selbst, wenn man einwendet, daß auch ein Tun, das das Subjekt nicht vermeiden kann, dem es aber innerlich zustimmt, als ein absichtsvolles zu bezeichnen ist, wäre dieser Fall als von dem zuerst angeführten abgeleitet zu verstehen.

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Zorns, der Angst, der Freude usw. Gemeinsam ist der Verwendung von ›intentional‹ in bezug auf mentale, geistige Zustände und ›intentional‹ im Sinne von ›absichtlich‹ daher die Gerichtetheit der Zustände, und daß sie mit Bewußtsein einhergehen. Ehe ich diese Überlegungen im folgenden fruchtbar mache, um sie für eine genauere Analyse der Schuldgefühle von Opfern heranzuziehen, möchte ich den einfacheren Fall betrachten, nämlich den der Schuld der Täter, welche auf intentionalem Handeln und damit absichtsvollem, zurechenbarem Handeln oder Unterlassen beruht. Dieser Fall läßt sich sehr viel kürzer abhandeln. Auch für ihn gilt jedoch die der gesamten Untersuchung zugrunde liegende Annahme, nach welcher das Konzept der Schuld eng mit der Zuschreibung des Mentalen, Geistigen verbunden ist. Ich wiederhole daher die Annahme, daß der Schuldvorwurf auch als ein Angebot zu verstehen ist, sich als geistiges, bewußt handelndes Wesen zu begreifen.

IV. Schuld der Täter Zuhause hatten wir eine Nachbarin, die nachts gelegentlich schrie. Beruhigen ließ sie sich dann nur von meiner Mutter. Warum sie schrie, wurde nur nach und nach klarer. Sie sah dann Bilder, die sie nicht vergessen konnte, Bilder ihres ersten Mannes und ihrer ältesten Tochter, für deren Schicksal sie verantwortlich war. Und sie glaubte dann, daß aus ihrer Toilette Gas ströme.17 Von ihrem ersten Mann, einem Herrn Kaufmann, hatte sie sich zu Beginn des Krieges auf Drängen ihrer Familie scheiden lassen; er wurde deportiert und ermordet. Herr Kaufmann war jüdischen Glaubens gewesen, sie nicht, und solange sie verheiratet waren, war er zumindest vor der Deportation geschützt gewesen. So wie mir die Geschichte erzählt wurde, mußte die Familie unserer Nachbarin einige Überredungskraft anwenden und vielleicht auch Schreckensszenarien entwerfen, um unsere Nachbarin zu ihrem folgenschweren Schritt zu bewegen. Man hatte ihr einen neuen Mann besorgt und dessen Familie war bereit, die Tochter aus der ersten Ehe, die nach den Rassegesetzen eine Halbjüdin war, zu verstecken. Unserer Nachbarin war offensichtlich klar gewesen, daß ihr Mann in Lebensgefahr geriete, wenn sie den gesetzlichen Schutz der Ehe aufgibt. Und allen Beteiligten war zudem bewußt, daß sich auch die Tochter in höchster Gefahr befand, weshalb diese, mit verheerenden Folgen für ihre Entwicklung, über mehrere Jahre hinweg in einem abgelegenen Zimmer einer Wohnung versteckt wurde. Das bedeutete, daß sie von der Mutter verlassen und verraten wurde, den Vater durch diesen Verrat verlor, keine weitere Schulausbildung erhielt, keine Freundschaften kannte, sich nicht frei bewegen konnte, wenig Tageslicht sah, daß 17

Dies dürfte den seltenen Fall anzeigen, daß sich ein (deutscher, nicht-jüdischer) Täter mit seinem (jüdischen) Opfer identifiziert hat.

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sie viele Jahre ihrer Kindheit und Jugendzeit wie eine Gefangene verbrachte. Zu sagen, sie habe diese Zeit nicht gut überstanden, wäre ein Euphemismus. ›Überstehen‹ legt nahe, daß da schon jemand ist, der etwas überstehen kann, aber wenn ein Kind seiner Entwicklungsmöglichkeiten beraubt wird, gibt es noch nicht unbedingt jemanden, der ›überstehen‹ kann. Wir sprechen dann von ›gestört werden‹. Und gestört und verstört war sie dann für den Rest ihres (Über-)Lebens. So war sie wochenlang nicht mehr zu beruhigen, wenn ihre leibliche Mutter sie nach dem Krieg besuchte. Die Pflegefamilie, die sie versteckt hatte und bei der die Tochter für den Rest ihres Lebens blieb, ohne in der Lage zu sein, eine Tätigkeit auszuüben oder eigenständig zu leben, bat daher schließlich unsere Nachbarin, die leibliche Mutter, ihre Besuche einzustellen. Unsere Nachbarin war schuldig geworden am Tod ihres Mannes und am Schicksal ihrer Tochter. Das sahen wir so und, wie ihr nächtliches Verhalten nahelegt, sie selbst auch. Aber woran zeigt sich im einzelnen, außer an den nächtlichen Schreien, die Schuld und was bedeutet es, wenn die Schuldige sie für sich selbst, in welch versteckter Form auch immer, anerkennt? Um schuldig zu sein, so lautet eine akzeptierte Begriffsbestimmung, muß man etwas getan haben. Unsere Nachbarin hat etwas getan, sie hat sich scheiden lassen und gewußt, was die sich daraus ergebenden Folgen für ihre nächsten Angehörigen, ihren Mann und ihre Tochter, sein würden – oder zumindest sein könnten. Gegen ein Gesetz hat sie damit nicht verstoßen, aber ihr Verhalten entspricht dem, was Heidegger als Fall der sittlichen Schuld beschreibt: Die Schuld am Anderen ergibt sich aus der Gefährdung von dessen Existenz, für deren Nicht-Gefährdung dieser grundsätzlich Forderungen stellen kann. Und genau das liegt in dem beschriebenen Fall vor. Die Nachbarin hat durch den aufgegebenen Schutz der Ehe das Leben ihres Mannes in einer Weise gefährdet, die zu seiner Ermordung führte. In einem strafrechtlichen Sinne konnte sie dafür nicht belangt werden, da sie selbst keine strafrechtlich relevante Handlung begangen hatte. Aber sie selbst fühlte sich schuldig, und der Grund dafür läßt sich in einer Analyse des Begriffs der sittlichen Schuld finden. Nun mag man einwenden, daß der Fall unserer Nachbarin nicht typisch für die deutsche Schuld des 20. Jahrhunderts ist, schon deshalb nicht, weil die Täterin sich zumindest im nachhinein schuldig fühlte. Das Verhalten ihrer Familie ist es, das eine deutsche Schuld vielleicht am signifikantesten zeigt: der bereitwillige Ausschluß eines (Familien-) Zugehörigen,18 der damit rechtlos und der Todesgefahr ausgesetzt wird, ohne daß man zu dem Ausschluß unter Androhung eines besonderen Übels gezwungen wird. Schuldig nennen wir diejenigen, die so 18

Die jüdischen Bürger gehörten bis zum rechtlichen Ausschluß per Gesetz zur deutschen Gesellschaft; das betrifft allerdings zunächst die rechtliche Ebene, und man sollte annehmen, daß es zumindest auch die, von der rechtlichen Ebene zunächst getrennte, Ebene des Zugehörigkeitsgefühls gegeben haben sollte. Daß es sich in diesem Fall sogar um einen Familienangehörigen handelte, der ausgeschlossen und seinem Schicksal überlassen wurde, macht diesen Punkt nur deutlicher.

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gehandelt haben, weil sie absichtlich so gehandelt haben, wie sie es getan haben, und auch anders hätten handeln können. Aber auch hier liegt im eigentlichen Sinne keine strafrechtlich relevante Tat vor. Auch hier benötigen wir ein darüber hinausgehendes Verständnis von Schuld. Diesmal läßt sich die Analyse von Jaspers zur moralischen Schuld heranziehen, um verständlich zu machen, warum wir auch in diesem Fall von einer Schuldzuweisung ausgehen, obgleich keine Gesetzesübertretung vorliegt. Jaspers bezeichnet das Nicht-wissen-Wollen, die Selbsttäuschung, die Anpassung an die Verhältnisse des Verbecherstaates, gar die Identifikation damit als die moralische Schuld. Von dieser hält er zugleich fest, daß jeder selbst entscheiden müsse, ob er schuldig sei. Ein Gutteil der deutschen Nachkriegsgesellschaft hat sich diesem Schuldvorwurf widersetzt, indem er angegeben hat, er habe sich nicht anders verhalten können. Die rechtlichen und gesellschaftlichen Zwänge seien zu stark gewesen, als daß das möglich gewesen wäre. Daß es keinen Handlungsspielraum gegeben habe, ist in zahlreichen Studien hinsichtlich verschiedenster Verhaltensweisen widerlegt worden. Und so war es im Falle unserer Nachbarin auch nicht ein Gesetz, das sie gezwungen hat, sich scheiden zu lassen, vielmehr gab sie dem sozialen Druck der Familie und insbesondere ihrer Eltern nach. Viele waren es auf der Seite der Täter nicht, die eine Schuld bekannten oder empfanden. Um so perverser erscheint es, daß das Schuldgefühl zu einem Topos der Literatur derjenigen wurde, die als Opfer ihre Erfahrungen in Konzentrationslagern nach dem Kriege schilderten. Denn während die Täter die Schuld von sich wiesen, weil sie vorgaben, daß sie unter den gesellschaftlichen Umständen nicht anders hätten handeln können, sprachen die Opfer, die tatsächlich nicht anders hatten handeln können, ohne den sicheren Tod in Kauf zu nehmen, im nachhinein von Schuldgefühlen, die sie nicht losließen. In Was von Auschwitz bleibt stellt G. Agamben fest, daß die Schuld der Überlebenden geradezu ein locus classicus in der Literatur der Überlebenden sei.

V. Empfundene Schuld der Opfer Es liegen einige Veröffentlichungen vor, die dafür plädieren, das Schuldgefühl der Überlebenden von Konzentrationslagern durch das der Scham zu ersetzen. Diese Plädoyers setzen dabei zunächst einmal eine Trennung zwischen Schuld und Scham voraus, die sich in der Literatur der Überlebenden nicht festmachen läßt.19 So treffen etwa weder P. Levi20 noch I. Kertész21 diese Unterscheidung, 19

Argumentation von R. Leys: From Guilt to Shame, a. a.O. [Anm. 13] 6. P. Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten (München 1998). 21 Beispielsweise: Imre Kertész: Kaddisch für ein nicht geborenes Kind (Reinbek bei Hamburg 2002). 20

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um nur zwei der prominenten Literaten anzuführen, die über ihre Erlebnisse und ihr Leiden in den deutschen Konzentrationslagern geschrieben haben.22 R. Leys geht ausführlich darauf ein, daß für viele Jahre als Grund für dieses völlig abwegig erscheinende Schuldgefühl eine Identifikation mit den Tätern angenommen wurde, die eine Überlebensstrategie darstellte. Dies ist eine Theorie, die sich aus der dominierenden Stellung der Psychoanalyse ergeben habe, aber auch in der Literatur ihren Niederschlag findet.23 Im folgenden werde ich nicht näher auf die wissenschaftshistorischen Betrachtungen zu dem Komplex der Identifikation mit dem Täter eingehen, sondern statt dessen dafür argumentieren, das vielfach dokumentierte Schuldgefühl der Überlebenden auch dann ernst zu nehmen, wenn wir es nicht mit einem Identifikationswunsch der Opfer mit den Tätern aus überlebenstaktischen Gründen rechtfertigen können.24 Wir sollten solche Gefühle heute nicht in andere Befindlichkeiten umwandeln, weil sie uns zeitgemäßer erscheinen und uns das Schuldgefühl von Opfern abwegig vorkommt. Die darin liegende Absurdität und Perversion sollten wir vielmehr aushalten, ohne die Berichte und Literatur der Überlebenden zu verfälschen. Und es gibt einen guten Grund, sie auszuhalten. Dieser besteht darin, daß das Schuldgefühl mit der Zuschreibung einer durchgängigen Biographie einhergeht und damit mit der Zuschreibung als Person, als Individuum gelebt zu haben, und letztlich damit, in der selbst zugeschriebenen Sicht ein Akteur im eigenen Leben gewesen zu sein. Diese Selbstzuschreibung ist mit dem Konzept der Schuld ungleich weiter verbunden als mit dem der Scham, die ein Gefühl der Ohnmacht ist und deren zu Grunde liegende Form der Intentionalität eine andere ist als bei der Schuld. Ein Gesichtspunkt, der mich in diesem Zusammenhang besonders interessiert, ist R. Leys Beobachtung, nach welcher die Debatten zum Schuldgefühl der Überlebenden stets im Rahmen intentionalistischer Theoriebildung diskutiert wurden, also der des absichtsvollen Handelns, während in den gegenwärtigen theoretischen Überlegungen zur Scham eine zugrunde liegende positivistische respektive biologistische Sichtweise angenommen wird, nach welcher Emotionen ein Affektprogramm zugrunde liegt, das weniger von einer intentionalen Handlung ausgelöst wird als von den Unzulänglichkeiten einer Person, die von anderen beobachtet wird. Der Fokus wird also vom absichtsvollen, bewußten Handeln eines Menschen auf ihn als lediglich bewußt empfindendes Wesen 22

Ein anderes wäre etwa B. Bettelheim: Erziehung zum Überleben. Zur Psychologie der Extremsituation (München 1992). 23 Vgl. E.-M. Engelen: Eine kurze Geschichte von ›Zorn‹ und ›Scham‹. In: Archiv für Begriffsgeschichte 50 (2008) 41–73, zu Kertész bes. 64–73. 24 Zwar wurde diese Theorie auch durch die Beratung zu Entschädigungszahlungen der deutschen Nachkriegsregierung als theoretisches Konstrukt tradiert, das bedeutet aber nicht, daß die Überlebenden, die es übernahmen, um hinsichtlich Entschädigungszahlungen erfolgreich zu sein, diese Gefühle nicht gehabt hätten.

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gelenkt. – Diese Verschiebung ist eine von den Handlungen einer Person zum empfindenden Selbst und damit eine Verschiebung von Steuerungsmöglichkeit zum bloßen (biologischen) Sein.25 In dieser Verschiebung sieht Leys den Siegeszug eines materialistischen, biologistischen Denkens, dem sich selbst Autoren wie G. Agamben, die das sicherlich nicht im Sinn haben, anschließen: »Aber selbst im Werk Agambens, für den die Evolutionstheorie irrelevant ist, finden wir eine ähnlich materialistische, unintentionalistische Zugangsweise zur Scham. Die allgemein gültige Beschreibung für Scham bezieht Fragen des Handelns, der Intention und der Bedeutung nicht in die Überlegungen mit ein und lenkt den Blick statt dessen auf Fragen der persönlichen Identität und Andersheit. Der Erfolg der gegenwärtigen Schamtheorien kann meines Erachtens durch die Möglichkeit erklärt werden, selbst-erklärte postmoderne und postgeschichtliche Bekenntnisse zu unterstützen und zu verstärken, und dadurch Diskussionen über Intentionen und Bedeutung durch solche zu ersetzen, wer man ist, oder welche von der Mehrheitserfahrung abweichende Erfahrungen man selbst gemacht hat. Diese Entwicklung ist sowohl ein historisches Phänomen als auch ein theoretisches Problem […] In der Verschiebung von Schuld zu Scham ist eine besondere Logik am Werk, eine, nach welcher, jedenfalls wenn man annimmt, daß Emotionen, Scham eingeschlossen, nicht intentional zu verstehen sind, weil man dann dazu verpflichtet wäre, sie in materialistischen Begriffen zu verstehen, daß sie sogar eine Angelegenheit des materiellen Unterschieds sind, so daß es nicht mehr wichtig ist, was man getan hat oder sich vorgestellt hat, was man getan hat, sondern wer man ist. «26 Eingeleitet wurde diese Entwicklung auch durch B. Williams, der aber weniger auf den Gesichtspunkt des intentionalen Handelns als auf den der unmittelbaren Betroffenheit aufmerksam macht, den die Scham im Gegensatz zum distanzierten und eher auf rekonstruktive Betrachtungsweisen der Vergangenheit abzielenden Schuldgefühl auslöst. Was wir sind, sagt Williams, wird viel mehr durch die Scham bestimmt als durch die Schuld.27 Meine Argumentation zielt darauf ab zu zeigen, daß Leys Analyse, was die allgemeine Tendenz zu biologistischen Erklärungen betrifft, zwar auf einer zutreffenden Beobachtung beruht, daß aber die Annahme, Emotionen seien so unintentional, wie sie unterstellt, falsch ist. Die Form der Intentionalität bei Emotionen und insbesondere bei Scham ist jedoch in der Tat eine andere als im Falle von Gefühlen wie Schuld. Daher erhalte ich meine These, daß die Tabuisierung des Schuldbegriffs einer ›Entgeistigung‹ entspricht, einem Verzicht auf eine Form des menschlichen Selbstentwurfs, aufrecht, auch wenn die ›Entgeistigung‹ 25

R. Leys: From Guilt to Shame, a. a.O. [Anm. 13] 11. Ebd. 12 f. (Übers. aus dem Amerikanischen von E.-M. Engelen). 27 Bernard Williams: Scham, Schuld und Notwendigkeit. In: ders.: Scham, Schuld und Notwendigkeit Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral (Berlin 2000) 88–119. 26

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nicht das Ausmaß hat, das Leys unterstellt, weil auch Emotionen intentional zu verstehen sind. Emotionen sind in dem Sinne intentional, als sie auf etwas bezogen sind; das hat schon F. von Brentano festgestellt: Liebe ist auf etwas bezogen, Haß auch. Und auch die Scham, so dürfen wir unterstellen, bezieht sich auf etwas. Diesen Emotionen unterliegt jedoch, anders als dem Schuldgefühl, keine intentionale, also absichtlich vollzogene Handlung. Die Art der Intentionalität ist eine andere. In dem einen Fall haben wir es mit Intentionalität im Sinne absichtsvollen Handelns zu tun und in dem anderen mit einer Gerichtetheit auf etwas oder, wie Brentano betont, auf einen Inhalt, und das ist damit ein mentaler, d. h. geistiger Prozeß. Nun gelten sowohl emotionale Prozesse als intentionale und damit geistige Prozesse, sofern sie sich auf einen Inhalt, einen Gedanken, eine Vorstellung beziehen, als auch intentionale Prozesse, die mit einer Absicht einhergehen. Die Formen der Intentionalität und damit auch des Mentalen oder Geistigen sind jedoch, wie bereits erwähnt, unterschiedlich. Ohne die Unterschiede bereits zu gewichten, sollen sie zunächst einmal herausgearbeitet werden. Eine emotionale Reaktion wird in den psychologischen, philosophischen und biologischen Emotionstheorien als eine unwillkürliche Reaktion auf ein Ereignis oder eine Situation verstanden. Das Moment des Unwillkürlichen ist das natürliche, das biologische Moment. Ob, inwieweit und welche Emotionen angeboren und damit universal sind, weil ihnen ein sogenanntes Affektprogramm zugrunde liegt, das allen Menschen und manchen Primaten gemeinsam ist, soll hier gar nicht ausführlich diskutiert werden. Festgehalten werden soll lediglich, daß beim Menschen selbst dann, wenn man eine unwillkürliche, emotionale Reaktion als natürlich bezeichnet, noch nichts darüber gesagt ist, ob wir es mit einem im wesentlichen mentalen Prozeß zu tun haben. Daß Tiere auch emotionale Reaktionen zeigen und diese auf Vorkommnisse in der Welt bezogen sind, ändert nichts daran. Bei einer Schuldzuschreibung haben wir es mit zwei unterschiedlichen Formen der Intentionalität zu tun: einmal mit der Bezogenheit auf etwas, wie auch bei der Emotion der Scham, und zum anderen mit dem absichtsvollen, also intentionalen Tun. Diese Unterscheidung ist relevant im Hinblick darauf, ob sich ein Mensch nicht nur als geistiges Wesen begreift, sondern auch als autonomes. Denn in einem emotionalen Prozeß wie dem der Scham, der gleichwohl mental, also geistig genannt werden kann, ist das Moment der Autonomie, außer bei der Emotionsregulation, nicht enthalten. Sehen wir uns die Scham nun genauer mit Blick auf die ihr inhärente Intentionalität an. Von Bedeutung ist das für die Behauptung, die Scham sei als Emotion ein Versuch der Materialisierung mentaler Zustände, mit dem die Umdeuter der Schuld von Überlebenden in Scham einer Ideologie auf den Leim gehen, die die Überlebenden bezüglich des Zustandes, in dem sie in den Konzentrationslagern waren, auf das biologische Dasein reduziert.

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Die Scham, das haben wir gesehen, hat tatsächlich andere Voraussetzungen als die Schuld und sie hat auch andere Wirkungen in bezug auf unsere Sicht und unser Verhalten im Umgang mit anderen. Die Scham ist unmittelbarer, sie ist weniger als die Schuld eine Leistung der intellektuellen Einsicht. Aber ist sie damit bereits aus der Sphäre des Mentalen, des Geistigen ausgeschlossen? Nein, denn da Scham auf etwas gerichtet ist und ein Geschehen oder eine Handlung ›Objekt‹ dieser Scham ist, ist sie ein intentionaler Prozeß. Dennoch gibt es eine ausgiebige Diskussion in gegenwärtigen Emotionstheorien, die sich mit der Frage beschäftigt, ob Emotionen, die mit einem sichtbaren Gesichtsausdruck einhergehen, als unintentionale, fest verdrahtete interne Zustände zu verstehen sind oder als bedeutungsvolles Verhalten, das in erster Linie in einem Kommunikationsprozeß die Motive eines Lebewesens vermittelt. Aber diese beiden Bestimmungen schließen einander letztlich nicht aus. Denn ein fest verdrahteter Mechanismus könnte auch eine Kommunikationsfunktion erfüllen. Es könnte sogar so sein, daß er in erster Linie eine Kommunikationsfunktion hat. Der Streitpunkt bezieht sich daher letztlich auf die Intentionalität, und das heißt hier: auf die Kommunikationsabsicht, die mit der Emotion und ihrem Ausdruck einhergeht. Sind Emotionen in erster Linie der Ausdruck eines inneren Zustandes oder begleiten sie in erster Linie Formen der Kommunikation? Ich habe mich an anderen Stellen darum bemüht zu zeigen, inwiefern kognitivistische Ansätze, die mit einem intentionalistischen Ansatz einhergehen, mit einer Theorie angeborener Grundmechanismen zu vereinen sind.28 Der Kerngedanke dabei ist, daß die angeborenen affektiven Reaktionen im Laufe der Erziehung eines Menschen eine Semantisierung erfahren. Der in diesem Zusammenhang vielleicht wichtigste Gesichtspunkt ist, daß die Auslöser für eine affektive Reaktion nicht etwas beliebiges sein können, sondern in einem bedeutungsvollen Zusammenhang mit der ausgelösten Emotion stehen. In der Philosophie wird dies mit dem Konzept des formalen Objekts beschrieben. Ein formales Objekt ist eine Eigenschaft, die eine Emotion ihrem Zielobjekt zuschreibt. Auf dieser Ebene über Emotionen zu sprechen bedeutet, diese bereits nicht mehr als ihrer Natur nach inhärent organisch zu verstehen, sondern als semantisiert und damit auch als intentional.29 Damit entgeht man der Analyse von R. Leys nicht vollständig. Diese Analyse besagt, daß die Betonung des Konzept der Scham zu Ungunsten des Konzepts der Schuld, damit einhergeht, daß Fragen des Menschen als Akteur zu Fragen des empfindenden Subjektes werden, so daß die Vorstellung der Bedeutung der

28

E.-M. Engelen: Emotionen. Überlegungen zur kulturellen, physiologischen und begrifflichen Ausgestaltung von bewusstem, phänomenalem Erleben. In: Natur – Technik – Kultur. Philosophie im interdisziplinären Dialog, hg. von Brigitte Falkenburg (Paderborn 2007) 163–178. 29 Ronald de Sousa: Artikel ›Emotion‹. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2007 Edition), ed. by Edward N. Zalta. Unter http://plato.stanford.edu/archives/sum2007/ entries/emotion/.

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Absichten und Handlungen einer Person durch die Vorstellung des Primats der affektiven Erfahrungen einer Person ersetzt werden.30 Sie identifiziert drei Gesichtspunkte, hinsichtlich derer sich Scham-Theoretiker einig seien: 1. ein Bekenntnis zum Antiintentionalismus: Das träfe sowohl auf sogenannte Affekttheoretiker zu, die Emotionen als Affektprogramme verstünden, die auf einen Reiz hin ausgelöst würden, als auch auf den Ansatz von G. Agamben, für den Scham der Intentionalität und Bedeutung ermangele; 2. ein Bekenntnis zum Materialismus: Die Emotionen sind ohne bedeutungshaften Bezug zu ihrem Auslöser; 3. ein Bekenntnis zum Primat persönlicher Erfahrung. Diese Analyse trifft auf viele Affekttheorien zu, muß es aber nicht, wie ich in aller Kürze zu zeigen versucht habe. Dennoch hat die Leys’ Kritik eine Stoßrichtung, die weitere Beachtung verdient. Was gilt es an der Umdeutung von Schuld in Scham zu kritisieren, wenn die Abkehr von der Schuld und die Hinwendung zur Scham nicht mit einer ausschließlichen Hinwendung zum Materiellen gleichzusetzen ist? Das, was ich hier etwas allgemein als Sphäre des Geistigen oder Bewußten bezeichnet habe, kann man nicht als einen ununterschiedenen Bereich ansehen. Daß Emotionen auch zum Bereich des Mentalen gehören, bedeutet nicht, daß damit letztendlich nicht doch eine Bedeutungsverschiebung im Selbstverständnis des Menschen stattgefunden hat, die es lohnt genauer anzusehen. I. Kertészs’ Scham als Signum der Freiheit ist beispielsweise gerade nicht als Signum der Notwendigkeiten der Biologie zu verstehen, sondern wendet sich geradezu explizit gegen sie. Die Scham ist für ihn ein Moment des Anerkennens eines Gebotes, das sich dem biologischen Instinkt widersetzt und fordert, daß man so nicht hätte handeln dürfen, auch wenn man es um des Überlebens willens getan hat. Die empfundene Scham und eingestandene Schuld sind Ausdruck eines nachträglichen Bedauerns und einer Verzweiflung, nicht als freier Mensch, als autonomes Wesen gehandelt zu haben.31 Dieses Signum der Freiheit rückt Kertész mit gutem Grund außerhalb des Menschenmöglichen in den Bereich des Heiligen, des Vorbildlichen, aber letztendlich Uneinholbaren und nicht Einforderbaren.32 Insofern von keinem Menschen der eigene Tod eingefordert 30

R. Leys: From Guilt to Shame, a. a.O. [Anm. 13] 150. »Ich bin […] noch immer da, obwohl ich nicht weiß, warum, zufällig, wie ich geboren wurde, ich bin genauso nur ein Komplize meines Überlebens wie meiner Geburt, nun gut, ich gebe zu, im Überleben steckt ein wenig mehr Schande als in der Geburt, insbesondere, wenn wir für unser Überleben auch noch alles uns Mögliche getan haben: aber das ist alles, nichts mehr, ich war nicht gewillt, naiv der allgemeinen Überlebensaffektiertheit auf den Leim zu gehen, oh Gott!, irgendwie kann man immer ein bißchen dafür, das ist alles, ich habe überlebt […].« (I. Kertész: Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, a. a.O. [Anm. 20] 38–39.) 32 Ebd. 56: »Das wirklich Irrationale und tatsächlich Unerklärbare ist nicht das Böse, im Gegenteil: es ist das Gute. Gerade deshalb […] interessiert mich schon lange einzig noch das Leben der Heiligen, denn das finde ich interessant und unfaßbar, dafür finde ich keine bloß rationale Erklärung; und Auschwitz hat sich […] unter diesem Gesichtspunkt geradezu als lohnendes Unternehmen erwiesen […]«. Vgl. E.-M. Engelen: Eine kurze Geschichte …, a. a.O. [Anm. 23] 67 f. 31

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werden kann, rückt diese Sicht auf das, was als vorbildlich hätte getan werden sollen, in die Nähe dessen, was bei Jaspers die metaphysische Schuld genannt wird. Hinter der Erzählung von Kertész steht letztlich auch der den Ausführungen Jaspers zugrunde liegende Gedanke, daß es eine Schuld sein kann, noch zu leben und nicht den Tod gesucht zu haben, auch wenn das niemand von einem verlangen kann. Daß dieses Denken voraussetzt, den Menschen als absolut frei zu verstehen, wurde bereits erwähnt. Und so zeigt auch Kertész, daß nur derjenige frei von allen Zwängen ist, der weder die erzwungenen sozialen Konventionen des Konzentrationslagers einhält, noch seinem biologischen Instinkt folgt oder den Geboten der Rationalität. Denn obgleich Logos und Biologie das Überleben vorschreiben, gab es Menschen, die den eigenen Tod in Kauf genommen haben, und die er deshalb frei nennt. Der Überlebende, der sich den Notwendigkeiten der Natur und der Vernunft nicht widersetzt hat, schämt sich, die Normen des Konzentrationslagers eingehalten zu haben, um zu überleben. Und mit dieser Scham kann er letztlich nicht leben. Hier wird auf eine moralische Scham als inneres Gebot verwiesen, die über äußere soziale Zwänge hinausweist: »Moralische Scham ist Begleitung der Schuld und setzt Handlung, Verantwortung, Fremdschädigung voraus. Sozialscham ist darauf nicht angewiesen. Sie bezieht die ›Erscheinung‹, die ›Fahrlässigkeit‹, den eigenen Schaden als Anlaß von Herabsetzung und defizitärer Selbstwertung ein.«33 Damit steht die gesamte Person zur Disposition, sie verliert ihr Selbstwertgefühl und ihren Platz im sozialen Gefüge. Davon bleibt das Ich, wie B. Williams in seinen Überlegungen dargelegt hat, nicht unberührt: »Die Scham verweist mich auf das, was ich bin.«34 Diese moralische Scham ist also eine Schwester der moralischen Schuld. Aber kann man deshalb schon, wie L. L. Langer35 oder G. Agamben, an Stelle von Schuldgefühl der Überlebenden von Scham sprechen? Agamben geht sogar soweit, die Schuldgefühle P. Levis für selbst zugeschriebenes Fehlverhalten im Lager als unreif (»pueril«) abzuwerten und schreibt sie dem Unvermögen der Überlebenden zu, mit ihrer Scham fertig zu werden. Das Schamgefühl mag neben das Schuldgefühl treten, aber das eine kann das andere nicht ersetzen. Denn um sich ein Gesamtbild als Mensch zuschreiben zu können, der sich nicht darauf reduzieren lassen möchte, in Teilen seiner Biographie ausschließlich biologischen oder sozialen Notwendigkeiten gefolgt zu sein, muß die Selbstzuschreibung von Handlungsmöglichkeiten hinzukommen. Wird einem Menschen für eine Zeitspanne seines Lebens diese Selbstzuschreibung 33

Sighard Neckel: Achtungsverlust und Scham. Die soziale Gestalt eines existentiellen Gefühls. In: Zur Philosophie der Gefühle, hg. von Hinrich Fink-Eitel und Georg Lohmann (Frankfurt a.M. 1993) 244–265, hier 250. 34 B. Williams, a. a.O. [Anm. 27] 109. 35 Lawrence L. Langer: Versions of Survival. The Holocaust and the Human Spirit (New York 1982).

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abgesprochen, wird ihm eine durchgängige Biographie als autonomem Wesen verwehrt. Daher haben Überlebende, die ihre Erlebnisse in den Konzentrationslagern literarisch verarbeitet haben, den Handlungsaspekt in ihrem erzwungenen Dasein selbst dann noch mit Nachdruck betont, wenn sie auf sich weder den Begriff der Scham noch den der Schuld anwenden. So kann man es etwa bei Paul Steinberg nachlesen, den P. Levi in Ist das ein Mensch? Henri nennt. Levi beschreibt diesen Henri als einen übermäßig intelligenten Menschen, der aber an dem Tag, an dem sein Bruder in Burna starb, jegliche gefühlsmäßige Bindung zu anderen zerschnitten habe. Levi fährt fort und bekennt, daß es ihn wohl interessiere, wie Henri als freier Mensch lebe, aber daß er ihn nie wieder im Leben sehen wolle.36 Dieser Steinberg hat selbst ein Buch geschrieben, in dem er die Begriffe ›Scham‹ und ›Schuld‹ anders als Kertész und Levi vermeidet. Er beharrt aber genau wie Kertész auf einem Tun und einem bewußten Unterlassen, mit dem er leben muß: »Und dennoch: Es bleibt der kritische Punkt, der mein persönlicher zu sein scheint […]. Das ist der der Würde, der Würde als Mensch. Ich habe mein zweites Leben mit achtzehn begonnen. Abgesehen von den Gebrechen, die ich erwähnt habe und von denen ich weiß, daß sie unheilbar sind, glaube ich ein ehrliches Leben geführt zu haben, für das der Begriff ›ethisch‹ das Leitwort war. Doch nie und nimmer ist es mir möglich, mich von dem Leben davor frei zu machen. Ich habe in der Würdelosigkeit gelebt und lebe noch in ihr. Es ist mir nie gelungen, mein Bild reinzuwaschen. […] Warum ich? Welche Rechtfertigung für diese unglaubliche Aufeinanderfolge von günstigen Zufällen geben, die mich zu diesem unverbrennbaren und unversenkbaren Wesen gemacht haben? […] Vielleicht habe ich ja überlebt, um als letzter Rechenschaft abzulegen, mal aufwallend, mal kaltblütig?«37 Statt des Begriffs Schuld wird hier der der Würdelosigkeit verwendet, aber auch hier wird sie zugeschrieben, weil, wie Jaspers beobachtet hat, die absolute Solidarität mit dem Menschen als Menschen verletzt wurde, indem man dabei war, als Unrecht und Verbrechen geschahen, und man sein Leben nicht einsetzte, um es zu verhindern. Und da man dabei war und überlebt hat, und der andere getötet wurde, sagt einem eine Stimme: »daß ich noch lebe, ist meine Schuld«. In Steinbergs Wortgebrauch hieße das dann: »daß ich noch lebe, ist meine Würdelosigkeit«. G. Agamben würde dieser Analyse allerdings wohl nicht zustimmen. Er tut sogar die von allen Überlebenden gestellte Frage »Warum ich?« als Ausdruck des Schuldgefühls ab. Er nimmt ihn nicht ernst, weil er es auf das Faktum des Überlebens reduziert: »Daß das Schuldgefühl, weil man anstelle eines anderen lebt, die richtige Erklärung für die Scham der Überlebenden darstellt, ist aber gar nicht ausgemacht. […] Die Annahme einer derartigen Schuld, die mit der 36 37

P. Levi: Ist das ein Mensch? (München 1991) 95 f. P. Steinberg: Nachricht aus einer dunklen Welt (München 1998) 163 f.

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Situation des Überlebenden als solchen verbunden ist und nicht mit dem, was er als Individuum getan oder unterlassen hat, erinnert an die allgemeine Tendenz, immer dann, wenn ein ethisches Problem nicht bewältigt werden kann, eine unspezifische kollektive Schuld zu übernehmen.«38 Nehmen wir die Äußerungen eines Kertész, Steinberg oder Levi, dann geht es aber gerade nicht ausschließlich um das Überleben an sich, welches das Gefühl der Schuld oder der Würdelosigkeit hervorruft, sondern darum, was man getan hat, als man überlebte. Daß man nicht hätte anderes handeln können, wenn man überleben wollte, versteht dabei auch Bettelheim durchaus. Sein Ausspruch, daß man sich schuldig fühlen muß, auch wenn man es nicht ist, bezieht sich daher nicht allein auf das Faktum des Überlebens, sondern darauf, daß man hätte anders handeln müssen, wenn man derjenige gewesen wäre, der man hätte sein wollen: ein Heiliger oder Gerechter wie ihn Kertész beschreibt. So heißt es auch bei Bettelheim: »Es geht hier darum, daß der Überlebende als das vernunftbegabte Lebewesen, das er ist, genau weiß, daß er nicht schuldig ist […]; das aber ändert nichts an der Tatsache, daß sich der Überlebende als Person schuldig fühlen muß. […] Man kann das Konzentrationslager nicht überleben, ohne sich schuldig zu fühlen, weil man dieses unglaubliche Glück hatte, während Millionen anderer Menschen […] untergingen.«39 Das Sich-schuldig-fühlen-Müssen Bettelheims bezieht sich also nicht auf eine unspezifische kollektive Schuld, sondern auf den Anspruch, ein intentional handelndes Wesen gewesen zu sein. Letztendlich unterschreibe ich daher einen Satz Agambens, den dieser allerdings auf die Scham als ein Merkmal des Subjektiven bezieht, und beziehe ihn auf die Schuld: »Es gibt keine Substanz des Menschen; der Mensch ist ein potentielles Wesen, und in dem Moment, in dem man glaubt, in der grenzenlosen Zerstörbarkeit seine Substanz erfaßt zu haben, kommt nur etwas zum Vorschein, das ›nichts Menschliches‹ mehr hat«.40 Man kann sich nun fragen, warum es nicht auch gemäß Agamben die Freiheit ist, anders handeln zu können, die den Menschen als potentielles Wesen auszeichnet. Für Agamben ist der Begriff der Freiheit, wie man bei Heidegger und Jaspers sieht, wohl zu sehr mit dem Begriff der Schuld verbunden. Agamben verweist nicht auf das Handeln, sondern auf das Sich-als-sich-selbst-Fühlen in der Scham. Und das ist ein ganz anderer Bezug auf die Möglichkeit des Menschseins als das mögliche Tun, denn Möglichkeit wird letztlich so lediglich als Individualität verstanden, die sich im jeweiligen Fühlen zeigt. Kertész ist hingegen, was das Tun anbelangt, (mit sich selbst) unerbittlich, wenn er schreibt: »Ich bin genauso nur ein Komplize meines Überlebens wie 38 G. Agamben: Die Scham oder Über das Subjekt. In: ders.: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Frankfurt a.M. 2003) 82. 39 B. Bettelheim: Erziehung zum Überleben, a. a.O. [Anm. 22] 311 f. 40 G. Agamben: Die Scham oder Über das Subjekt, a. a.O. [Anm. 38] 118.

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meiner Geburt, nun gut, ich gebe zu, im Überleben steckt ein wenig mehr Schande als in der Geburt, insbesondere, wenn wir für unser Überleben auch noch alles uns Mögliche getan haben: aber das ist alles, nichts mehr, ich war nicht gewillt, naiv der allgemeinen Überlebensaffektiertheit auf den Leim zu gehen, oh Gott!, irgendwie kann man immer ein bißchen dafür, das ist alles, ich habe überlebt […].«41 Gegen die Aufgabe dieses Anspruchs, ein intentional handelndes Wesen gewesen zu sein, wehrt sich Kertész vehement, nicht, weil er nicht versteht, was es damit auf sich hat, sondern gerade weil er es genau versteht und es zu Ende gedacht hat. So beschreibt er den Marsch der Kolonnen vor der Selektion als einen, den wir als das Gehen von Menschen zu verstehen haben: »Schließlich sind auch zwanzig Minuten für sich genommen, eine lange Zeit. Jede Minute hat begonnen, hat gedauert und ist zu Ende gegangen, bevor die nächste begann. […] Jede dieser Minuten hätte eigentlich auch etwas Neues bringen können. […] Jeder hat seine Schritte gemacht, solange er konnte: auch ich, und das nicht nur in der Kolonne […]. Es war nicht mein Schicksal, aber ich habe es durchlebt – und ich begriff nicht, warum es ihnen nicht in den Kopf ging, daß ich nun eben etwas damit anfangen, es irgendwo festmachen, irgendwo anfügen musste […]. Ich und kein anderer hat meine Schritte gemacht, und ich behaupte, mit Anstand. […] Und ich versuchte, ihnen zu erklären: es gehe nicht um Schuld,42 sondern nur darum, daß man etwas einsehen müsse, schlicht und einfach dem Verstand zuliebe, des Anstands wegen, sozusagen. Man könne mir, das sollten sie doch versuchen zu verstehen, man könne mir doch nicht alles nehmen; es gehe nicht, daß mir weder vergönnt sein sollte, Sieger, noch Verlierer zu sein, weder Ursache noch Wirkung, weder zu irren noch recht zu behalten […].«43 In diesen Passagen beharrt jemand darauf, sich als jemand zu betrachten, der handelt, wahrnimmt, fühlt und denkt, selbst wenn dafür kein Raum mehr zu sein scheint. Er beharrt auf sich als Akteur und damit auf sich als Mensch, der mit seinem Tun über unfreiwillige Reaktionen hinausweist. Damit wird auch deutlich, daß das Erleben oder Handeln eines Menschen bereits über das deskriptiv Erfaßte hinausgeht, das lediglich durch eine Reiz-Reaktion oder Abrichtung hervorgerufen wurde. Sehen im Sinne von Wahrnehmen ist etwas anderes als Registrieren, Erinnern etwas anderes als Abspeichern, Handeln etwas anderes als Reagieren, Fühlen etwas anderes als Empfinden und Bewußtsein etwas anderes als nur Wachheit. Der Mensch ist es, der etwas tut, selbst dann noch, wenn er es tun muß, und das ruft hinsichtlich der Erniedrigung, etwas tun zu müssen,

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I. Kertész: Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, a. a.O. [Anm. 20] 38 f. Mit dem Hinweis »es gehe nicht um Schuld« ist in diesem Zusammenhang gemeint, daß es nicht um einen Schuldvorwurf an die Nachbarn von seiten des Ich-Erzählers geht, der aus Auschwitz nach Hause kommt. 43 I. Kertész: Roman eines Schicksallosen (Berlin 1996) 283–285 (Hervorhebung von E.-M. Engelen). 42

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was man nicht glaubt tun zu dürfen, das Gefühl der Scham hervor, hinsichtlich des Tuns aber das der Schuld. Wenn es sich nicht um eine bloße Abrichtung handelt, kann der Mensch auch einem Befehl nur absichtlich folgen, wenn er ihn nicht verweigert, weshalb das bewußte Befolgen eines Befehls selbst dann, wenn man ihn gegen den eigenen Willen ausführt, mit Schuldgefühlen einhergeht. Es bliebe die Frage zu beantworten, warum wir bei den Tätern weitaus weniger Bekenntnisse zu einem Schuldgefühl finden, das der Schuldanalyse Jaspers’ entspricht, als bei den Opfern; warum die Täter sich soviel eher damit begnügt haben, sich als nur ihre Pflicht erfüllende Wesen zu verstehen, und soviel weniger darauf beharrt haben, sich als intentionale, geistige Wesen zu verstehen.

Volker Gerhardt

Selbstbestimmung

I. Schwierigkeiten mit einem jungen Begriff Selbstbestimmung gehört zu den zentralen Kategorien der menschlichen Zivilisation. Es gibt keinen Begriff, der den Ausgangs- und den Endpunkt des individuellen und des gesellschaftlichen Lebens des Menschen umfassender und zugleich deutlicher bezeichnete als er. Das ist zwar noch nicht ins disziplinäre Bewußtsein der akademischen Philosophie gedrungen, wird aber durch den öffentlichen Sprachgebrauch sowie durch die Unverzichtbarkeit des Begriffs in allen angewandten Disziplinen belegt. Von der Jurisprudenz über die Politikwissenschaften bis hin zu den zahlreichen Feldern der Angewandten Ethik hat die Selbstbestimmung den Status einer ersten oder letzten Instanz, bei der die Rechtfertigung menschlichen Tuns ihren Ausgang nehmen und ihr Ende finden kann.1 Wem die eminente Bedeutung der Selbstbestimmung noch nicht aufgefallen ist, könnte dadurch entschuldigt sein, daß der Terminus im Deutschen vergleichsweise neu ist. Angesichts einer zweieinhalbtausendjährigen Tradition sind zweihundert Jahre Wirkungsgeschichte eine kurze Zeit. Und wenn der neue Begriff dadurch belastet erscheint, daß er eine kritische Pointe hat, daß er gegen theologische und scholastische Präferenzen gerichtet werden kann und überdies in dem Geruch steht, zu ›individualistisch‹ oder gar ›autonomistisch‹ zu sein, hat er weiterhin mit der Abneigung jener zu rechnen, die Ethik betreiben, um Stimmung gegen die Selbstbestimmung zu machen.2

1 Ich nenne nur einige Titel aus jüngster Zeit: Wissenschaftszentrum Berlin (Hg.): Selbstbestimmung vor dem Tod (Berlin 2005); Nationaler Ethikrat (Hg.): Wie wir sterben. Selbstbestimmung am Lebensende. Tagungsdokumentation des Nationalen Ethikrates (Berlin 2006); Oliver Tolmein: Keiner stirbt für sich allein. Sterbehilfe, Pflegenotstand und das Recht auf Selbstbestimmung (München 2006); Nationaler Ethikrat: Stellungnahme ›Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende‹ (Berlin 13. Juli 2006). 2 So grenzt sich W. Vossenkuhl gegen nicht genannte Vertreter einer autonomen Ethik ab, um für »begrenzte Autonomie« zu plädieren. Ohne den Widerspruch zu bemerken, fordert er unter dem Anspruch »unserer souveränen Verantwortung« den Respekt vor den »Grenzen unserer moralischen Selbstbestimmung« (Wilhelm Vossenkuhl: Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21. Jahrhundert [München 2006] 69). Da Vossenkuhl mit seiner Forderung nur die Position moralischer Selbstbestimmung wiederholt und dennoch den Eindruck erweckt, er würde sie nach Maßgabe einer weiterreichenden Einsicht begrenzen, macht er Stimmung gegen die Selbstbestimmung. Dafür spricht auch die Quintessenz seiner 2006 geschriebenen Moral »im 21. Jahrhundert«: »Wir bemühen uns, moralisch so autonom wie möglich zu sein, aber eben nicht autonomer.« (Ebd. 69)

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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Volker Gerhardt

Es ist Immanuel Kant, der ›Selbstbestimmung‹ erstmals an einer prominenten Stelle, und zwar in seiner Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten von 1785 verwendet. Schiller nimmt den Begriff begeistert auf. Fichte integriert ihn sogleich in seine Systementwürfe und Hegel macht ihn, trotz seiner stets wachen Abneigung gegen Kant, zum Grundbegriff seiner praktischen Philosophie.3 Die heute primär mit Hegel assoziierte ›Anerkennung‹ gewinnt ihre Bedeutung überhaupt erst in Verbindung mit der sie voraussetzenden, sich in ihr bewährenden und entfaltenden Selbstbestimmung des Einzelnen. Vielleicht war es die ungewohnte Einigkeit zwischen Kant, Fichte und Hegel, die den Terminus der Selbstbestimmung derart selbstverständlich erscheinen ließ, daß er bei ihren Nachfolgern keine besondere Aufmerksamkeit mehr auf sich zog. Man verwendete ihn, gab ihm in der Deutung von Spinozas Ethik eine überragende Stellung, überließ ihn im übrigen aber seiner alltagssprachlichen Entwicklung. So kam es, daß der Begriff erst in der Folge der Entdeckung der ›Selbstbestimmung‹ durch die nationalstaatlichen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts eine gesonderte Beachtung fand.

II. Der kritische Impuls Kant verrät uns nicht, woher er den von ihm eher beiläufig verwendeten Terminus nimmt. Mit Sicherheit war ihm der reflexive Gebrauch des lateinischen Verbums ›determinare‹ vertraut, und vielleicht kannte er die englische Verwendung von ›self-determination‹, die über John Locke Verbreitung gefunden hatte und besonders in Frankreich adaptiert worden war. Wir wissen auch, daß Kant von dem kleinen Buch des Berliner Theologen Johann Joachim Spalding über Die Bestimmung des Menschen Notiz genommen hat. Es war 1748 erschienen, hatte zahlreiche Neuauflagen gefunden und warb in aufgeklärter Weise für die Eigenständigkeit des Menschen in der Übernahme des Auftrags, der jedem Einzelnen in der von Gott geschaffenen Ordnung zukommt. Kant geht davon aus, daß der aufgeklärte Mensch an einen solchen Auftrag zwar glauben kann, der Glaube aber kein hinreichend verläßliches Fundament für eine begrifflich gesicherte Ethik sein kann. Deshalb gründet er die Ethik auf die in logisch-sachhaltigen Schlüssen verfahrende Vernunft des Menschen, in deren Gebrauch jeder nicht nur frei, sondern auch jedem anderen gleich ist. In seiner im Vernunftgebrauch hervortretenden Freiheit und Gleichheit ist der Mensch zugleich zur Allgemeinheit fähig, so daß er seine Ansprüche an sich und andere in die Form allgemeingültiger Gesetze fassen kann. Die Kausalität der eigenen Freiheit erlaubt und erfordert überdies die individuelle Zurechnung der Handlungen, so daß mit der Selbstbestimmung auch die Schuldigkeit für das

3

Vgl. V. Gerhardt: Art. ›Selbstbestimmung‹. In: HWPh Bd. 9 (Basel 1995) 335–346.

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eigene Tun verbunden ist. Heute fassen wir den Zusammenhang von Vernunft und freier Selbstbestimmung unter den Begriff der Verantwortung. Die Gesetze der Vernunft, obgleich in ihnen uralte Erfahrungen der Menschheit und ein vielfältiges Wissen von der Welt zum Ausdruck kommen, haben ihre Instanz allein in der Einsicht des Einzelnen. Aus ihr muß auch der Impuls des Handelns stammen, wenn es das Attribut »vernünftig« tragen soll. Deshalb spricht Kant von der »Autonomie« der ethischen Gesetzgebung, in der der Wille »als selbstgesetzgebend« nicht nur für die Menschheit, sondern für jeden einzelnen Menschen angesehen wird – sofern dieser sich als »vernünftige[s] Wesen« der Allgemeinheit ihrer Einsicht unterstellt. In der Autonomie »bestimmt« sich der Mensch zu seinen eigenen Zwecken. Er setzt sich die Ziele seines Handelns selbst und macht damit deutlich, als wer und als was er zu verstehen ist.4 Was in der logischen ›Bestimmung‹ eines Begriffs oder in der botanischen ›Bestimmung‹ einer Pflanzenart als definitorische Leistung seit langem üblich ist, wendet der Mensch nun auf sich selber an. Dazu aber reicht nicht aus, daß er sich im Feld möglicher Bedeutungen einen Platz zuteilt oder sich im System der Lebewesen genauer beschreibt; vielmehr muß die theoretische Leistung der ›Bestimmung‹ ihre Konsequenz in dem haben, was der Mensch aus sich selber macht. Also ist die ›Selbstbestimmung‹ – unabhängig von der zugrunde liegenden Erkenntnis – ein eminent praktischer Akt. Dieser Akt ist es, der die menschliche Praxis ausmacht, der ihr Sinn verleiht und auf den sie sich in ihren Mitteln und Zwecken bezieht. Die Selbstbestimmung, so kann man die Position Kants zusammenfassen, ist Ausgangsbedingung, Träger und Ziel menschlicher Praxis.

III. Die Bedeutung des Begriffs In der Nomenklatur der kritischen Ethik klingt das aufwendig und voraussetzungsvoll. Gleichwohl ist die Bedeutung des Begriffs überaus einfach: ›Selbstbestimmung‹ heißt, daß der Mensch selbst über die Ziele seines Handelns befindet und sie aus eigenem Antrieb anstreben kann. Sie heißt vor allem, daß jeder Einzelne aus dem Anspruch auf seine Selbstbestimmung lebt. Sie kommt ihm aus der bloßen Tatsache seines eigenen Daseins zu und kann ihm von niemand anderem streitig gemacht werden. Denn jeder andere kann letztlich auch nur auf den ihn leitenden Anspruch verweisen, sein eigenes Leben zu führen. Daß jeder dabei an die Bedingungen seines Lebens gebunden ist, versteht sich von selbst – auch noch für den Akt eines selbstbestimmten Suizids, der nur unter den Bedingungen des Lebens vollzogen werden kann und nur mit Blick auf sie Bedeutung hat.

I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, Bd. 4 (Berlin 1903) 431–433. 4

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Selbstbestimmung wehrt vor allem die Zumutung ab, daß ein Mensch über einen anderen verfügt, ohne dessen Zustimmung einzuholen. Wie selbstverständlich das ist, kann man durch den Hinweis anschaulich machen, daß auch diese Zustimmung von jedem selbst gegeben werden muß. Zwar kann er sich vertreten lassen. Doch auch darüber hat jeder, sofern er die gesundheitlichen Voraussetzungen erfüllt, selber zu entscheiden. Damit dürfte deutlich sein, daß es nicht übertrieben ist, die Selbstbestimmung als Zentralkategorie der menschlichen Zivilisation zu bezeichnen: In ihr findet die Freiheit des Menschen ihren angemessenen Ausdruck; in ihr tritt die Gleichheit der Menschen unabhängig von natürlichen, historischen und gesellschaftlichen Unterschieden hervor; mit ihr zeichnet sich der einzige Träger von Freiheit und Gleichheit, das menschliche Individuum, als prinzipiell unersetzlich aus; sie schließt die Bereitschaft zur Übernahme der Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns ein. Da dieser Zusammenhang nur im Medium von Erkenntnis und individueller Einsicht bewußt werden kann, ist die Selbstbestimmung an die Leistungen der Vernunft gebunden, die spätestens in den vorgetragenen Gründen zum Ausdruck kommen. Diese mögen mit unendlich vielen historischen und sozialen Vorleistungen verbunden sein: Ihren Grund haben die Gründe allein im Selbstbewußtsein des sich selbst bestimmenden Individuums. Darin liegt der letztlich entscheidende (und einzig tragfähige) Grund, von der Würde des Menschen zu sprechen, die in jedem Einzelnen, ob er nun aktuell vernünftig ist oder nicht, gewahrt werden muß. Um auch die Politik an dieses elementare Ziel der Sicherung der Selbstbestimmung zu binden, bedarf es der konstitutionellen Bindung an das Menschenrecht. Was immer der Mensch moralisch und politisch von sich selbst verlangt, setzt die Fähigkeit zur Selbstbestimmung voraus, um in deren Gebrauch ihre Sicherung und Förderung zu betreiben. Jedes praktische Argument, jede ethische und politische Norm ist darauf gegründet, daß niemand zu der von ihm praktizierten Selbstbestimmung in Widerspruch geraten will – oder zumindest soll. Wer Zweifel hegt, der kann versuchsweise auf die Alternative setzen und ein beliebiges Vorhaben – sei es in der Erziehung, der Politik, der Forschung oder der Kunst – auf Fremdbestimmung gründen. Ganz abgesehen davon, daß er keine Zustimmung finden wird: Er wird sein Experiment noch nicht einmal schlüssig denken können.

IV. Anthropologische und politische Dimension Wenn man den alten Begriff der Bestimmung in der Form der logisch-sachhaltigen ›determinatio‹ zum Ausgangspunkt nimmt, ist der Mensch auch in theoretischer Perspektive ein sich selbst bestimmendes Wesen. Er ist ein Wesen, das weder in seiner Natur noch in seinen Lebenszielen auf ein im Voraus ›bestimmtes‹ Verhaltensprogramm ›festgelegt‹ ist; er hat – selbstredend innerhalb der

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Grenzen der von ihm erkannten Realität – sowohl seine Eigenart wie auch seine Handlungsformen und seine Handlungszwecke selbst zu finden. Der Mensch ist, wie Nietzsche sagt, das »noch nicht festgestellte Tier«.5 Heute sprechen wir gern von der ›Offenheit‹ des menschlichen Daseins. Auch wenn überbesorgte Anwälte dominierender Werte lange Zeit stillschweigend das Gegenteil unterstellen,6 werden sie öffentlich nicht bestreiten wollen, daß die ›Plastizität‹ ein wesentliches Merkmal des Menschen ist, ganz gleich, ob wir ihn biologisch, kulturell, ethisch oder religiös zu beschreiben suchen. Die Offenheit setzt auch Kant voraus, wenn er von »Selbstbestimmung« spricht. Doch er sagt entschieden mehr, weil ihm bewußt ist, daß in der Offenheit nicht nur ein anthropologisches Merkmal, sondern zugleich ein originärer Selbstanspruch des Menschen liegt. Jeder braucht, will und schätzt diese Offenheit, Bildbarkeit und Lernfähigkeit an sich selbst und bei seinesgleichen. Spätestens mit der Ausbildung eines eigenen Willens macht jeder von der Plastizität seiner Natur einen eigenen Gebrauch; indem er selber etwas will, füllt er das an sich selbst empfundene Defizit durch eine eigene Leistung aus. Und diese Leistung ist die Selbstbestimmung: die Fähigkeit des Menschen, sich seine eigenen Ziele zu setzen und dafür auch seine eigenen Gründe zu haben. Deshalb überführe ich die altrömische Selbstbeschreibung des Menschen als animal rationale (die ein Refrain auf die Aristotelische Formel vom ζ#ον λóγον $χον ist) wörtlich in die Wendung vom Menschen als Tier, das seine (eigenen) Gründe hat. Das bringt die damit eng verbundene Formel vom ζ#ον πολιτικóν in Erinnerung: Alles, was der Mensch mit seinen eigenen Gründen anstrebt, liegt in der Gemeinschaft mit seinesgleichen, auf deren Verständnis er bereits mit seinen eigenen Gründen rechnet. Nur in tätiger Verbindung mit anderen kann er die Zwecke realisieren, die ihm selber wichtig sind. Das gilt selbst für die sogenannten ›einsamen‹ Leistungen aus dem Eigensinn großer Künstler und Denker, Forscher und Entdecker. In der politischen Gemeinschaft schafft sich der Mensch den Raum, der für seine Gründe offen ist und der es ihm erlaubt, seine Selbstbestimmung in die durch gemeinsame Ziele angeleitete Mitbestimmung einzubringen. So verbindet sich die individuelle ›Autonomie‹ in der gemeinschaftlichen Teilhabe an der politischen Institution, also in der ›Partizipation‹, in der schon Aristoteles das Prinzip der Politik erkannte.7 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Nr. 62. Werke, hg. von Karl Schlechta (München 1955) Bd. 2, 623. 6 Wie etwa Charles Taylor: Quellen des Selbst (Frankfurt a.M. 1994) und in seiner Nachfolge: Hans Joas: Die kulturellen Werte Europas. Eine Einleitung. In: Die kulturellen Werte Europas, hg. von H. Joas und K. Wiegand (Frankfurt a.M. 2005) 11–39. Im übrigen verweise ich auf W. Vossenkuhls (ebenfalls nicht spezifizierte) Abgrenzung gegenüber der »Beliebigkeit« von »Kulturgeschichte«, »Evolution« und »Relativismus« (vgl. Die Möglichkeit des Guten, a. a.O. [Anm. 2] 69). 7 Dazu: V. Gerhardt: Partizipation. Das Prinzip der Politik (München 2007). 5

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V. Späte Aufmerksamkeit Vor dem politischen Hintergrund ist es vielleicht weniger verwunderlich, daß die ›Selbstbestimmung‹ erst mit der Übernahme in den politischen Sprachgebrauch eine nennenswerte terminologische Beachtung gefunden hat. Es war die ›Selbstbestimmung der Völker‹, die sich im Vokabular ethnischer oder nationaler Befreiungsinitiativen einen festen Platz verschaffte und zu einem anerkannten Programmpunkt auf der Agenda der internationalen Politik geworden ist.8 Aus ihr haben Juristen einen völkerrechtlichen terminus technicus gemacht,9 der in Deutschland spät, aber aus einem naheliegenden Grund Beachtung fand, als es um die Frage ging, ob und wie sich nach der Katastrophe des 2. Weltkrieges die ›Selbstbestimmung‹ des zerstörten und zerrütteten deutschen Volkes sichern lasse.10 Nach der Teilung Deutschlands in zwei Staaten lag es nahe, den Kampf um die ›Wiedervereinigung‹ unter Berufung auf das ›Selbstbestimmungsrecht‹ zu führen. Um so erstaunlicher ist es, daß in dem über Jahrzehnte ausgefochtenen öffentlichen Streit der Begriff der Selbstbestimmung keine nennenswerte philosophische Aufmerksamkeit gefunden hat. Es gibt nur zwei, drei Bücher, die den Begriff der Selbstbestimmung im Titel führen und philosophische Aspekte berühren. In einem Fall geht es unter Berufung auf Schiller um eine Erinnerung an die ethisch-moralische Dimension des Begriffs.11 Anders ist es in der Pädagogik, die sich in ihrer Aufmerksamkeit für Schiller, Fichte und den ebenfalls im Geist der Selbstbestimmung wirkenden Pestalozzi einen Sinn für die Besonderheit des Begriffs bewahrt hat. Unter dem Einfluß der Theorien von Georg Herbert Mead, der das »Selbst« zum Thema der Soziologie gemacht hat, und Lawrence Kohlberg, der die »Autonomie« als fortgeschrittene Stufe der Moralentwicklung beschrieben hat, werden wiederholt Konzepte einer Erziehung unter dem Anspruch der »Selbstbestimmung« vorgetragen.12 Ähnlich ist die Lage in der philosophischen Anthropologie. Hier wirkt der Einfluß Herders nach, der ebenfalls Spaldings Bestimmung des Menschen gelesen hatte. Scheler, Plessner, Gehlen,

Karl Renner: Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen mit besonderer Anwendung auf Österreich (Leipzig, Wien 1902). – In diesen Zusammenhang gehört auch die Selbstverständlichkeit, mit der Hans Kelsen in seiner programmatischen Schrift: Vom Wesen und Wert der Demokratie (Tübingen 1920, 21929) den Begriff der Selbstbestimmung zur Bezeichnung der politischen Freiheit des Bürgers verwendet. 9 Hermann Raschhofer: Das Selbstbestimmungsrecht. Sein Ursprung und seine Bedeutung (Bonn 1959). 10 Adolf Grimme, Hans Thierbach: Selbstbestimmung (Wiesbaden 1947). 11 Paul Kluke: Selbstbestimmung. Vom Weg einer Idee durch die Geschichte (Göttingen 1963). 12 Fritz Oser, Wolfgang Althof: Moralische Selbstbestimmung. Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich. Ein Lehrbuch (Stuttgart 1992). 8

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Litt und Rothacker sehen den Menschen dadurch ausgezeichnet, daß er sein eigenes Leben führen und damit sich selbst bestimmen kann.13 Dennoch bleiben sowohl die historische Aufarbeitung wie auch die systematischen Erörterungen aus. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie, dessen Planung seit der Mitte der sechziger Jahre ständig fortgeschrieben wurde, war der Begriff lange Zeit nicht vorgesehen. Auch die in den neunziger Jahren entstandene Enzyklopädie der Philosophie hatte ihn nicht im Programm. Erst das Angebot, den Artikel ›Selbstbestimmung‹ zu schreiben, hat den Herausgeber auf das Defizit aufmerksam gemacht.14 Dennoch war dem Autor 1999, als seine Abhandlung über Selbstbestimmung als Prinzip der Individualität erschien, nicht bewußt, daß er der erste war, der das Thema monographisch behandelte.15

VI. Plötzliche Wende Es liegt mit Sicherheit nicht an dem kleinen Buch, daß der Begriff heute weitverbreitet und in aller Munde ist. Ursächlich ist die Renaissance der Ethik, für die man Ende des 20. Jahrhunderts nur werben, mit der man damals aber nicht rechnen konnte. Sie kam über Nacht mit der Anfang April 2000 vom Genomforscher und Patenthändler Craig Venter verfrüht in Umlauf gebrachten Meldung über die Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Plötzlich war die Furcht vor der Selbstabschaffung des Menschen in der Welt. Die gleichen Personen, die dem geschichtsphilosophischen Abgesang auf den Menschen und seine ethischen Ansprüche beigepflichtet hatten, verlangten augenblicklich nach einer durchgreifenden ethischen Kontrolle der Wissenschaft. Die angebliche Bedrohung durch die Gentechnologie hob die postmoderne Selbstvergessenheit des Menschen schlagartig auf, so, als hätte es sie nie gegeben. Die postmodernen Torheiten der achtziger und neunziger Jahre, die strukturalistisch, systemtheoretisch oder interpretationistisch motivierten Furien des Verschwindens und die absurde Überblendung der Ethik durch eine »Ästhethik« waren vergessen, und das totgesagte Subjekt fragte mit aggressiver Lebendigkeit, wie es sich angesichts der selbsterzeugten Risiken in seiner eigenen Zivilisation überhaupt noch selbst bestimmen könne. So kurios es ist: Nicht der wahrhaft historisch zu nennende Austritt des Menschen ins All, nicht der in jeder Hinsicht befreiende Zusammenbruch des Kommunismus und auch nicht die großen Verheißungen der Kommunikationstechnologien, sondern die eingebil-

Jürgen Habermas: Artikel ›Anthropologie‹ (1958). In: ders.: Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze (Frankfurt a.M. 1973) 89–111. 14 V. Gerhardt: Artikel ›Selbstbestimmung‹. In: Enzyklopädie der Philosophie, hg. von Hans Jörg Sandkühler (Hamburg 1999) Bd. 2, 1432–1437. 15 V. Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität (Stuttgart 1999). Entsprechend: ders.: Individualität. Das Element der Welt (München 2000). 13

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deten Gefahren der Biotechnologie brachten Politik, Publizistik und Wissenschaft dazu, sich auf die originäre Kraft des Menschen zu besinnen. Die Wiedererinnerung an die Humanität erfolgte aus der Verzagtheit vor der eigenen Wirksamkeit.16 Das könnte einen noch im Rückblick deprimieren, wenn nicht das neu gefaßte Vertrauen in die menschlichen Kräfte ein Hoffnungsschimmer wäre. Obgleich es, von Ingenieuren und Architekten abgesehen, kaum noch jemanden gibt, der von prospektiven Zukunftsaufgaben spricht, ist es ein gutes Zeichen, daß wenigstens die moralische Selbstkritik dem Menschen Handlungschancen einräumt. Gesetzt, der Kritiker hat nicht nur die Fehler der anderen im Blick, sondern stellt sich selbst unter einen ethischen Selbstanspruch, gesteht er sich selbst die Kraft zu einem selbstbestimmten Leben zu. Deshalb kann es nicht überraschen, daß die Selbstbestimmung seit der Jahrtausendwende zu den meistgebrauchten Termini in den Diskursen über die Grundlegung und Anwendung humaner Werte gehört. Mit Ausnahme der Kontroversen über den Beginn des menschlichen Lebens,17 scheint der Begriff inzwischen unvermeidlich zu sein: Ob es um den ›informed consent‹ in der medizinischen Beratung oder im Umgang mit Organ- oder Körperspenden, um Informationsfreiheit und elektronischen Datenschutz oder um den besonderen Schutz behinderter Menschen, um die Entscheidung über kosmetisches, pharmazeutisches oder nanotechnologisches ›Enhancement‹ oder um die ›Patientenverfügung‹ zur Abwehr einer Fremdbestimmung über das eigene Lebensende geht: Der Begriff der Selbstbestimmung ist unverzichtbar.

VII. Solide Konditionen der Terminologie Die jähe Karriere des Begriffs könnte, trotz des Vorlaufs von knapp zweihundertfünfzig Jahren, Zurückhaltung begründen. Der auf Abwechslung abonnierte Zeitgeist kann rasch einen Richtungswechsel bringen, der die Zuversicht der V. Gerhardt: Der Mensch wird geboren. Kleine Apologie der Humanität (München 2001). Hier ziehen sich viele auf den Naturalismus der sogenannten »Kernverschmelzung« zurück. Doch obgleich sie aus dem rein physiologischen Geschehen normative Konsequenzen ziehen, die einer Eizelle mit dem in kürzester Zeit vollzogenen chemischen Prozeß den moralischen Status einer Person verleihen, mißachten sie die damit dekretierte grundrechtliche Position des Embryos, indem sie in einem existenziellen Konflikt zwischen der Selbstbestimmung der Mutter und dem Lebensrecht des Embryos faktisch immer zugunsten der Mutter optieren. Für den Embryo bleibt nur der Abort oder die »Fehlgeburt«. Ich kritisiere mitnichten die Option für die Mutter, wohl aber die Zwangsläufigkeit, mit der dem Embryo ein Grundrecht erst zugeschrieben und dann wieder genommen wird. Es wäre besser, auch hier von der Selbstbestimmung der Eltern auszugehen. Sie könnte den naturalistischen Fehlschluß von der »Kernverschmelzung« auf die Person vermeiden, das kulturell verbürgte Kriterium der Geburt in Geltung lassen und das positiv-rechtlich zu garantierende Lebensrecht des Embryos wirksamer schützen. 16 17

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Selbstbestimmung so antiquiert erscheinen läßt wie seinerzeit das Selbst oder das Subjekt. Doch es gibt Indizien, die zumindest dem systematischen Umgang mit dem Begriff eine Perspektive geben. Drei Hinweise, die unterschiedlicher nicht sein könnten, genügen: 1. Kurz nach der ethischen Wende des Jahres 2000 gab es Versuche, die Selbstbestimmung als verzichtbar darzustellen. Dieter Thomä bemühte sich in einfallsreichen Betrachtungen zum Glück in der Moderne, die Selbstbestimmung als den falschen Weg zum Glücklichsein zu entlarven.18 Da sich, wie er richtig sah, das Glück nicht zwingen läßt, machte er in der Selbstbestimmung ein Zuviel an Zwang und Anstrengung aus, das nicht zum gewünschten Erfolg führen könne. Wenn der Mensch die Lust sucht, kann er nicht primär, wie weiland Herbert Marcuse lehrte, auf Leistung setzen. Ein wenig grundsätzlicher als Thomä bemühte sich Martin Seel im Jahr darauf, das Prinzip der Selbstbestimmung durch eine klar formulierte Alternative zu ersetzen: Statt »sich selbst zu bestimmen«, sollte man »sich bestimmen lassen«.19 Treffliche Einsichten in die Natur des Glücks wurden mit den ästhetischen Erwartungen Adornos aufgeladen und der Ethik entgegengesetzt. Doch die gelten nur, solange die Eigenständigkeit eines Menschen nicht durch seinesgleichen bedroht ist; und sie helfen nicht, wenn man nicht umhin kann, selber zu handeln. Es spricht für Martin Seel, daß er diesen Schluß aus eigener Einsicht gezogen hat, nachdem ihn der Nationale Ethikrat gebeten hatte, über das Sich-bestimmen-lassen am Lebensende zu sprechen.20 Wann immer es darum geht, Dispositionen für den Erhalt der eigenen Gesundheit oder für die Versorgung im Fall einer Erkrankung zu treffen, wann immer man verhindern möchte, das andere über einen selbst verfügen, bleibt die Selbstbestimmung ohne Alternative. 2. Selbst wenn jemand sich gar nicht selbst bestimmen wollte: Als Bürger eines rechtsstaatlich geordneten Landes wird er nicht umhin können, es zu tun. Allein die juridischen Bedingungen des grundgesetzlich garantierten Lebensvollzugs verpflichten den Einzelnen zur Wahrnehmung seiner Selbstbestimmung: Jedes Rechtsgeschäft bedarf der Einwilligung, jeder Eingriff in die Privatsphäre muß genehm oder genehmigt sein; jede medizinische Behandlung, erst recht ein operativer Eingriff, ist zustimmungspflichtig. Vom Anspruch des ›informed consent‹ kann sich niemand ausnehmen lassen. Jemand müßte sich den juridischen Verpflichtungen schon bewußt entziehen, wenn er die ihm zugemutete bürgerliche Selbstbestimmung nicht wahrnehmen möchte. Und eben dazu hätte er (wenn er

D. Thomä: Vom Glück in der Moderne (Frankfurt a.M. 2003). M. Seel: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie (Frankfurt a.M. 2002). 20 M. Seel: Bedingungen und Grenzen der Selbstbestimmung. Über die Reichweite der Selbstbestimmung. In: Wie wir sterben. Selbstbestimmung am Lebensende. Tagungsdokumentation des Nationalen Ethikrates, hg. vom Nationalen Ethikrat (Berlin 2006) 131–140. 18 19

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sich nicht in den fortwährenden Zustand der Ohnmacht versetzen will) einen beträchtlichen Aufwand an Selbstbestimmung zu leisten. Eine Gesellschaft, die auf die individuelle Freiheit des Bürgers gegründet ist, kann gar nicht anders, als sich in jeder denkbaren Konfliktsituation auf die Selbstbestimmung zu berufen. Denn Selbstbestimmung ist der Begriff, in dem die Freiheit des Einzelnen praktisch wird. Und wo immer diese Freiheit tangiert ist – oder gar in Frage steht – muß sich das Individuum auf seine Freiheit berufen und ihre Wahrung fordern. Schon indem es das tut, bestimmt es sich selbst. 3. ›Selbstbestimmung‹ ist zwar ein relativ junges Wort, aber die begriffsgeschichtlichen Wurzeln reichen bis in die Antike zurück. Ob wir an die für jede Tugend erforderliche Selbstbeherrschung (ατοκρáτεια), an die von jedem Bürger geforderte Eigenständigkeit des Handelns (ατáρκεια; ατοπιτακτικ"), an die Forderung, ein Politiker müsse vor allem die Fähigkeit haben, ein Selbstherrscher (ατοκρáτυρ) zu sein, oder an die Bedingung der Sorge für sich selbst (&πιμéλεια 'αωτο) denken: In allen Fällen ist das, was heute Selbstbestimmung heißt, vorausgesetzt. Deshalb konnte Pico della Mirandola, als er den Menschen durch Gott auffordern ließ, er möge sich unter allen Geschöpfen dadurch hervortun, daß er sich selbst bestimme (»sibi praefinere«), noch davon ausgehen, in voller Übereinstimmung mit den antiken Denkern zu sein.21 Er konnte nicht wissen, daß Jahrhunderte später eben diese Erwartung als typisch neuzeitlich gelten würde. Die Tatsache jedoch, daß Pico es für denkbar hielt, Gott könnte den Menschen aufgefordert haben, den Schöpfungsauftrag durch Selbstbestimmung zu erfüllen, macht deutlich, wie verfehlt es ist, die Selbstbestimmung für so grenzenlos zu halten, daß man sie Anfang des 21. Jahrhunderts mit großem Aufwand auf die Wirklichkeit zu verpflichten sucht. Die Selbstbestimmung hat ihre Realität im Vollzug des selbstbewußten menschlichen Handelns; sie ist so oder so an die Wirklichkeit gehalten, die der Mensch durch sein Wissen einzubinden sucht. Weil dies so ist, ergibt auch die Warnung vor dem »Fetisch Selbstbestimmung«22 keinen Sinn. Denn was immer an der (einen rationalistischen Topos bemühenden) Warnung verständlich ist, muß sich in ein selbstbestimmtes Handeln umsetzen lassen. Wo etwas nicht als »Fetisch« gelten soll, muß man seinen eigenen Verstand gebrauchen. Verfehlt ist auch die beliebte rhetorische Opposition zwischen »Selbstbestimmung« und »Solidarität«23 – es sei denn, sie ist an jene gerichtet, die man zur Solidarität zwingen möchte.

Dazu: V. Gerhardt, a. a.O. [Anm. 12] 107 ff. Vgl. den Beitrag von Peter Radtke, der im Wortprotokoll der Sitzung des Nationalen Ethikrats vom 31. 3. 2004 dokumentiert ist. 23 Dazu: Anton Losinger, Peter Radtke und Eberhard Schockenhoff: Ergänzende Stellungnahme zu: Nationaler Ethikrat. Stellungnahme ›Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende‹ (Berlin 13. Juli 2006). 21 22

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VIII. Selbstbestimmung und Freiheit Ein theoretischer Vorzug des Konzepts der Selbstbestimmung liegt darin, daß sie es erleichtert, den praktischen Beweis für die Wirklichkeit der Freiheit zu führen. Lassen wir es dahingestellt, ob die Vereinbarkeit von Natur und Freiheit theoretisch einwandfrei erwiesen werden kann. Wenn wir die Freiheit als eine Äußerung des Lebens verstehen, und wenn das Leben sich nicht im Widerspruch zu den Gesetzen strikter Kausalität befindet, ist auch dieser Nachweis zu erbringen. Dann gibt es keinen Grund, die Freiheit in Gegensatz zur physischen Natur zu bringen.24 Doch für die Erörterung der in Ethik, Politik und Recht interessierenden praktischen Realität der Freiheit genügt es zunächst, ihre Bedeutung im gesellschaftlichen Handlungszusammenhang der Individuen aufzuzeigen. Nach Thomas Hobbes liegt Freiheit in der »Abwesenheit äußerlicher Hindernisse bei einer Bewegung«, die sowohl vernünftigen als auch »unvernünftigen und leblosen Dingen« zukommt.25 Beschränken wir uns auf menschliche Handlungen, ist es nötig, das Hindernis der Freiheit genauer zu spezifizieren. Dann können zwar auch physische Gegenstände in der Form von Gitterstäben und Gefängnismauern ein Hindernis der Freiheit sein, aber sie sind es nur insofern, als in ihnen ein Wille zum Ausdruck kommt. Die bloße Tatsache einer Eisenstange oder einer gemauerten Wand macht niemanden unfrei. Zwar kann eine ins Schloß gefallene Tür, ein Gipsverband oder das Elba oder St. Helena umgebende Meer den Bewegungsspielraum empfindlich beschränken. Aber unfrei wird man erst, wenn der Wille eines anderen dahintersteht. Das kommt in Bodins umfassender Definition der Freiheit zum Ausdruck: »Natürliche Freiheit bedeutet für uns, außer Gott keinem lebenden Menschen unterworfen zu sein und von niemand anderem Befehle entgegenzunehmen zu haben als von sich selbst, d. h. von der eigenen Vernunft, die stets im Einklang mit dem Willen Gottes steht.«26 Dieses Moment der Freiheit ist in der Konzeption der Selbstbestimmung immer schon mitgedacht. Denn das Selbst, das sich im eigenen Handeln eine Form und eine Richtung gibt, hat sich ursprünglich gegen seinesgleichen zu behaupten. Es kommt zum eigenen Willen nur in der Abgrenzung vom Wollen anderer. Das schließt bekanntlich nicht aus, daß man einer Meinung ist, übereinstimmend votiert und gemeinsam handelt. Aber die Voraussetzung ist gleichwohl, daß jeder dies aus eigenem Willen tut – einem Willen, den er notfalls gegen die »Fremdbestimmung« durch andere verteidigen kann. Diese Eigenständigkeit gegenüber der Bestimmung durch einen anderen ist in der »Selbstbestimmung«

24 Dazu: V. Gerhardt: Freiheit, die wir meinen. In: Recht, Gerechtigkeit und Freiheit. […] Festschrift für Wolfgang Kersting, hg. von Claus Langbehn (Paderborn 2006) 187–200. 25 Thomas Hobbes: Leviathan. Teil 2, Kap. 21: Of the Liberty of Subject, Political and Private. The English Works, ed. William Molesworth, Bd. 3 (London 1839–45) 196. 26 Jean Bodin: Sechs Bücher über den Staat. Buch 1, Kap. 3 (München 1981) 115.

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auf den Begriff gebracht. Deshalb ist in ihr die Freiheit schon mitgedacht – übrigens auch von jenen, die Freiheit in Abrede stellen. Denn ihren Einspruch gegen die Freiheit könnten sie nicht gelten lassen, wenn sie zu ihm gezwungen worden wären.

IX. Selbstbestimmung und Selbstorganisation Gesetzt, man wollte trotz des hier bestehenden Primats der Praxis die reale Möglichkeit von Freiheit klären, könnte man sich über die Selbstbestimmung einen durchaus neuen Zugang eröffnen. Denn Selbstbestimmung, wenn sie denn möglich ist, muß selbst als ein Vorgang des Lebens begriffen werden. In ihm findet der Mensch zu der Form, die seinem Selbstverständnis entspricht: Er handelt aus eigener Einsicht, die es ihm erlaubt, sein Tun vor sich selbst und gegenüber seinesgleichen mit Gründen zu vertreten. Als Tier, das seine Gründe hat, findet der Mensch zu einer Kultur seines Verhaltens, in der sich seine spezifische Natur erfüllt.27 In Gemeinschaft mit seinesgleichen liegt die Lebensform des Menschen darin, daß er sich aus eigener Einsicht zu dem bestimmt, was ihm möglich und nötig erscheint. Nimmt man die Tatsache ernst, daß der Mensch ein Lebewesen ist, macht man sich verstärkend klar, daß er auch unter den hochentwickelten Konditionen seiner Kultur nicht aufhört, ein Lebewesen zu sein, dann ist seine Selbstbestimmung eine Form der Selbstorganisation, unter der alles Lebendige seine Realität gewinnt. Gesetzt, diese Parallele läßt sich ziehen, erleichtert das den theoretischen Beweis für die Wirklichkeit der Freiheit erheblich. Statt dartun zu müssen, daß die Freiheit eine (ohnehin nur quantentheoretisch gegebene) Lücke im Naturprozeß nutzt, um möglich zu sein, braucht man jetzt lediglich auf die Realität der Selbstorganisation des Lebendigen zu verweisen: Ist sie mit den Konditionen strenger Kausalität vereinbar, kann auch nichts dagegen sprechen, daß die in der Selbstbestimmung praktizierte Freiheit mit der physikalischen Natur zusammenstimmt. Das ist auch deshalb ein beachtliches Ergebnis, weil jeder wissen kann, daß die Freiheit in ihrem Vollzug auf die Durchgängigkeit der Naturgesetze angewiesen ist. Kein Versprechen wäre möglich, wenn sich der Handelnde nicht auf das Netz kausaler Verknüpfungen verlassen könnte. Ohne Kausalität in der Natur und ohne die Kausalität im Vollzug des eigenen Tuns, wäre Verantwortung ein leeres Wort. Ein weiterer Vorzug der Parallele von Selbstbestimmung und Selbstorganisation liegt darin, daß wir den – aus vielerlei Gründen fragwürdigen – Perspekti-

27

Dazu: V. Gerhardt: Partizipation, a. a.O. [Anm. 5] Kap. 4 und 5, 150–229.

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vismus28 vermeiden können. Die Doppelperspektive auf Natur (in der es keine Freiheit geben soll) und auf menschliche Handlungen (in denen sich Freiheit realisiert)29 bietet nur denen eine Lösung, die bereit sind, sich mit dem methodologischen Dualismus von Natur und Kultur abzufinden. Angesichts der Tatsache, daß die Kultur selbst zur Natur gehört, ist das ein hoher – und wie ich finde: ein zu hoher Preis. Man braucht ihn nicht zu entrichten, wenn die Freiheit als Ausdruck des Lebens auf der hochentwickelten Stufe der Selbstorganisation verstanden wird. Dann gehört zur Selbstbewegung eines Individuums auch die wissend vollzogene Anerkennung der Selbstbewegung anderer Individuen. Mit Blick auf sie vollzieht sich die Selbstorganisation im Medium wechselseitig verstandener Gründe in der Form der Selbstbestimmung, die ihren Ausdruck im eigenen Willen und ihre Grenze im Wollen der anderen findet. Dann liegt die »Perspektive« in der auf Zwecke und Gründe gerichteten Handlung, die selbst als Moment einer sich lebendig entfaltenden Natur verstanden werden kann. Nur in ihr fassen wir den Begriff einer rein kausalen, rein mechanisch verstandenen Natur. Deren Begriff verdanken wir dem technischen Umgang mit Dingen und Menschen, einer Technik, die sowohl in der Realisierung ihrer Effekte wie auch in der Produktion ihrer Mittel auf den separierten Konnex von Ursache und Wirkung setzt. Den isolierten Konnex bereits für das Ganze der Natur zu halten, ist der Fehler des Determinismus, wenn er die Unvereinbarkeit von Natur und Freiheit behauptet.

X. Angemessenheit und Urteilskraft Selbstbestimmung ist in Einsicht und Begründung auf das ›Ich‹ sagende Selbst bezogen, das sich tätig realisiert. Die Realisierung kann nur in der Form eines lebendigen Geschehens erfolgen, das in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen steht. Das handelnde Selbst kann sich also nicht von dem Prozeß isolieren, in dem es sich äußert. Es kann sich lediglich von bestimmten Gegebenheiten abgrenzen, um damit implizit für andere zu optieren, denen es sich um so enger anschließt. Außerdem kann es sich in der Selbst- und Fremdeinschätzung täuschen. Es ist dem Irrtum ausgesetzt, wann immer es die Bedingungen, Mittel und Ziele seines Handelns zu erkennen sucht. Gesetzt jedoch, es will in seinen Handlungen erfolgreich sein (und das will es eigentlich immer, auch und gerade dann, wenn es andere zu täuschen versucht), hat es sich an die erkannten Konditionen zu halten. Dazu gehört, daß es auch

V. Gerhardt: Die Perspektive des Perspektivismus. In: Nietzsche-Studien 18 (1989) 260–281. Dazu: Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens (München 2001). Eine nicht-perspektivistische Gegenposition vertritt Julian Nida-Rümelin: Über menschliche Freiheit (Stuttgart 2005). 28 29

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das ganze Instrumentarium seines Tuns – seinen Körper, die Werkzeuge und die in das Handeln einbezogenen Anderen – adäquat zum Einsatz bringen muß, um seine Ziele zu erreichen. Das sich selbst bestimmende Individuum ist in Situationen eingelassen, auf die es sich einstellen muß, wenn es sich in ihnen behaupten oder bewähren will. Ganz gleich, ob es die Situation erhalten, verändern oder möglichst schnell verlassen will: Es muß in Übereinstimmung mit ihr sein, wenn Selbstbestimmung mehr sein soll als ein bloßes Schwanken der Existenz. Zur gleichen Schlußfolgerung gelangt, wer die Selbstbestimmung als humane Bewährung vor Problemen zu beschreiben sucht. Zu einer Problemlösung gehört das Bewußtsein des Problems, eine zutreffende Bewertung der gegebenen Lage und eine realistische Einschätzung der eigenen Kräfte. Zu alledem gehört Urteilskraft. Wer also über Urteilskraft verfügt, hat einen Vorsprung im konkreten Zugang zur Lage, und er hat einen Vorteil in der Ermittlung der Ziele, die er erreichen kann. Das alles besagt: Wenn Selbstbestimmung nicht gleichgültig gegen ihre eigenen Voraussetzungen, Mittel und Zwecke ist, hat sie angemessen zu verfahren. Die »Angemessenheit« die Ludwig Siep im Anschluß an Aristoteles und Hegel in Erinnerung gebracht und vielleicht etwas zu behutsam als »philosophische Metapher« eingeschätzt hat,30 ist als Kriterium der Erkenntnis in Handlungslagen anzusehen. Man muß es als unverzichtbar ansehen, wenn das selbstbestimmte Handeln ein wirkliches Geschehen mit tatsächlich intendierten Folgen sein können soll. Dieses Kriterium wiederum verstärkt die Angewiesenheit auf die Urteilskraft, die man als das Vermögen bezeichnen kann, das Allgemeine im Individuellen und das Individuelle im Allgemeinen zu erfassen. Von der Urteilskraft ist in den letzten Jahrzehnten vornehmlich mit Blick auf die Politik die Rede gewesen. Tatsächlich ist sie dort, wo Einstellungen und Meinungen anderer Akteure zu berücksichtigen sind, besonders gefordert. Aber man muß betonen, daß jedes Handeln, ganz gleich, ob es primär auf Erfolg gerichtet oder auf Verantwortung gegründet ist (oder, wie wir hoffen, beides zu vereinen sucht), der Urteilskraft bedarf. Das selbstbestimmte moralische Handeln hat die angemessene Selbsteinschätzung der Person mit der konkreten Beurteilung gegebener Situationen zu verbinden.

L. Siep: Einleitung zu: Angemessenheit. Zur Rehabilitierung einer philosophischen Metapher, hg. von Barbara Merker [u. a.] (Würzburg 1998). 30

Ulrich Dierse

Sprache

Philosophiehistoriker einigen sich gewöhnlich nicht leicht, welche Merkmale einer Epoche die entscheidenden sein sollen. Im Blick auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts gilt es aber als ausgemacht, daß mit ihm nicht zuletzt deswegen ein neues Zeitalter beginnt, weil das Bewußtsein für den Stellenwert der Sprache im wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Diskurs enorm angestiegen ist. Deshalb spricht man seit 19531 – analog zu der einst von Kant ausgerufenen »kopernikanischen Wende« der Transzendentalphilosophie – von dem»linguistic turn«, den die Philosophie seit dem Beginn des Jahrhunderts genommen habe. Inzwischen hat sich diese Bezeichnung allgemein durchgesetzt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß einige Einschränkungen und Differenzierungen angebracht werden müssen, um den epochalen Vorgang sachgerecht zu bewerten, mindestens die folgenden: 1. Die Hinwendung zur Sprache beginnt schon im späten 18. Jahrhundert und zwar weniger bei den Vertretern der Theorie einer allgemeinen Grammatik als bei denjenigen, die, wie Lichtenberg, Herder und Hamann, den Blick auf die Sprache als konstitutiven Faktor des Denkens lenken. Vielleicht ist dies eine Reaktion auf die lange Zeit dominierende Schulphilosophie, ebenso aber, wie sich vor allem bei den drei genannten Autoren zeigt, eine Antwort auf die aufsteigende Transzendentalphilosophie Kants. Durch Wilhelm von Humboldt ist die Ausarbeitung einer expliziten Sprachphilosophie weiter gefördert worden, so sehr, daß sich noch im 20. Jahrhundert viele Autoren auf Humboldt berufen, allerdings in ganz unterschiedlicher Weise. 2. Trotzdem erfolgt die Hinwendung zur Sprache als auszeichnendem Element, in dem sich jedes Denken bewegen muß, nicht in allen Philosophien des 19. und 20. Jahrhunderts. Wie schon früher die meisten Vertreter des Deutschen Idealismus, dann Auguste Comte und der Positivismus, so zeigen später Dilthey, Husserl, der Neukantianismus und Marxismus eine erstaunliche Abstinenz in der Berücksichtigung der Sprache; sie spielt dort allenfalls eine untergeordnete Rolle. Diese auffällige Vernachlässigung ist ein bisher nicht hinreichend erklärtes Faktum in der Geschichte der Philosophie.2

Gustav Bergmann: Logical Positivism, Language, and the Reconstruction of Metaphysics. In: Rivista critica di storia di filosofia, 8 (1953) 453–481, auch in: ders.: The Metaphysics of Logical Positivism (New York etc. 1954) 30–77, bes. 33–39; vgl. Richard Rorty: Einleitung zu: R. Rorty (Ed.): The Linguistic Turn (Chicago, London 1967) 33; Art. ›Sprachphilosophie II‹. In: HWPh Bd. 9 (Basel 1995) 1524. 2 Vgl. U. Dierse: Verstehen der Geschichte und Vernehmen der Sprache. In: Dilthey und die 1

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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3. Der erwähnte »linguistic turn« beschränkt sich nicht auf die (sprach-)analytische Philosophie, auf die diese Bezeichnung ursprünglich gemünzt war. Fast zur gleichen Zeit wird der Sprache auch in der Dialog- und Existenzphilosophie, in der Hermeneutik und Kulturphilosophie und bei vielen anderen Autoren eine ebenso starke und bisher nicht gekannte Beachtung geschenkt.3 Wie breit das Spektrum der Theorien ist, wird nicht zuletzt an Beiträgen zu einigen Sammelund Kongreßbänden sinnfällig. Auf einem Psychologen-Kongreß zur Sprache im Jahre 1931 redeten sowohl Karl Bühler, Narziß Ach, als auch Ernst Cassirer, Gunther Ipsen, Leo Weisgerber u.a.4 Und an einer Münchener Tagung des Jahres 1959 nahmen so unterschiedliche Autoren wie Romano Guardini, Carl Friedrich von Weizsäcker, Friedrich Georg Jünger, Martin Buber, Martin Heidegger und Walter F. Otto teil.5 4. Die Sprachphilosophie steigt zu einer eigenständigen und gegenüber den anderen philosophischen Fächern gleichberechtigten Disziplin auf, wird oft sogar zur Grundlagendisziplin, erhält jedenfalls einen Rang und einen Stellenwert in den systematischen Lehrbüchern der Philosophie, den sie vorher nicht hatte.6 5. Für die Hinwendung zur Sprache ist aber, wenn ich recht sehe, noch kein plausibler, für alle Strömungen geltender Grund angegeben worden. Vielleicht läßt er sich angesichts der vielen Versuche, die Sprache zu bestimmen, auch gar nicht finden.

I. Der Begriff ›Sprache‹ tritt im 20. Jahrhundert in äußerst divergenten Kontexten auf; schon deshalb muß er differierende Bedeutungen erhalten. Sehr einseitig und nur zur vorläufigen Orientierung lassen sich zwei Tendenzen ausmachen: zum einem die Sprachanalyse, der es um die Form und Funktionsweise der Sprache geht, die sie, wo nötig, verbessern will. Entweder konstruiert sie eine künstliche Sprache oder sie verläßt sich auf die jeweils gesprochene Sprache. hermeneutische Wende in der Philosophie, hg. von Gudrun Kühne-Bertram und Frithjof Rodi (Göttingen 2008) 137–152, bes. 137 f. 3 Inzwischen wurde die Formel »linguistic turn« auf Strömungen außerhalb der Sprachanalyse übertragen, bes. von Cristina Lafont: Sprache und Welterschließung. Zur linguistischen Wende der Hermeneutik Heideggers (Frankfurt a.M. 1994); dies.: The Linguistic Turn in Hermeneutic Philosophy (Cambridge, Mass. 1999). 4 Vgl. Bericht über den XII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Hamburg vom 12.–16. April 1931, hg. von Gustav Kafka (Jena 1932). 5 Vgl. Die Sprache. Fünfte Folge des Jahrbuchs Gestalt und Gedanke (München 1959) und: Worte und Wirklichkeit. Sechste Folge des Jahrbuchs Gestalt und Gedanke (München 1960). 6 Vgl. Systematische Philosophie. Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von P. Hinneberg (Berlin, Leipzig 1907), wo es noch kein Kapitel über Sprachphilosophie gibt, wohl aber in: Handbuch der Philosophie, bearbeitet von Alfred Baeumler u.a., Abt. IV, Teil A: Julius Stenzel: Philosophie der Sprache (München, Berlin 1934).

Sprache

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Die Sprache soll hier der Klarheit der Gedanken dienen. Die andere Richtung achtet mehr auf den Inhalt des Gesprochenen; sie erhofft sich von der Sprache den Aufschluß über das Seiende, den sie auf keine andere Weise erlangen kann. Sie hört deshalb auf die Sprache und verläßt sich auf sie wie vormals auf die Metaphysik oder die Ratio. Jedenfalls würde sie diese ›tiefere‹ Dimension der Sprache nicht leugnen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es bereits eine ausgebildete Sprachwissenschaft, von der die Philosophie aber nicht immer Kenntnis nahm.7 Ihre mächtigste Richtung war die Sprachpsychologie, die – in sich verschieden ausgeprägt – die Bauformen und Entwicklungsgesetze der Sprache auf ihrer psychologischen Grundlage thematisierte.8 Gegen sie macht am Beginn des neuen Jahrhunderts die Sprachphilosophie Benedetto Croces geltend, daß grammatische Einheiten wie Nomen und Verb in der gesprochenen Sprache gar nicht auftreten, sondern »Abstraktionen« sind, die die einzige »linguistische Realität, die der Satz ist, zerstören.« Da die Sprache aber eine »dauernde Schöpfung« ist, wäre die Aufstellung einheitlicher Gesetze der Sprachentwicklung, wie die Sprachpsychologie es versucht, so viel wie die Anlage eines »Friedhofs von mehr oder weniger geschickt einbalsamierten Kadavern.«9 Auf der anderen Seite steht die strukturale Sprachwissenschaft Ferdinand de Saussures. Hier wird die Sprache als ein System von Zeichen (»système de signes«) verstanden und in der Sprache als »langue« (unterschieden vom jeweiligen Sprechen, »parole«) abstrakte Einheiten ausgemacht, die auf zwei Achsen erforscht werden können: diachron (historisch) und synchron. Als »langue« ist die Sprache unabhängig von einem Sprechenden; dieser empfängt sie »passivement«. Während die Rede ein individueller Willensakt ist, ist die Sprache dem Sprechenden äußerlich; er kann sie weder schaffen noch modifizieren.10 Zwar Vgl. Hans Arens: Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart (Freiburg, München 1955) 352. 8 Hermann Paul: Principien der Sprachgeschichte (Halle 1880); Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie, Bd. 1: Die Sprache, 2 Teile (Leipzig 1900); Berthold Delbrück: Grundfragen der Sprachforschung mit Rücksicht auf W. Wundts Sprachpsychologie (Strassburg 1901); mit Einschränkungen auch Anton Marty: Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie, Bd. 1 (Halle 1908). 9 Benedetto Croce: Estetica come scienza dell’ espressione e linguistica generale (Milano etc. 1902); dt.: Aesthetik als Wissenschaft vom Ausdruck und allgemeine Sprachwissenschaft. Gesammelte philosophische Schriften in deutscher Übertragung, I. Reihe, 1. Bd. (Tübingen 1930) 154, 158 f. Croces Sprachphilosophie wurde im 20. Jahrhundert nur noch wenig beachtet. Dies bedauerte schon Otto Vossler: Benedetto Croces Sprachphilosophie [1941]. In: ders.: Die romanische Welt (München 1965) 306–321. Vossler vertritt wie Croce eine idealistische Sprachphilosophie, in der die »innere [geistig-schöpferische] Tätigkeit« der Sprache im Vordergrund steht (Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft [Heidelberg 1904] 50). Vossler ist in der Forschung zunächst durchaus präsent (vgl. G. Ipsen: Sprachphilosophie der Gegenwart [Berlin 1930] 9 f.; H. Arens, a. a.O. [Anm. 7] 375–377), wird aber heute ebenfalls nur noch selten berücksichtigt. 10 F. de Saussure: Cours de linguistique générale (Lausanne, Paris 1916), éd. critique par Tul7

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gibt es eine »interdépendance« zwischen langue und parole, aber in der parole ist nichts Allgemeines (»rien de collectif«). Ihre Manifestationen sind »individuelles et momentanées«.11 Das sprachliche Zeichen hat zwei eng miteinander verbundene, aber deutlich unterscheidbare Seiten, das Bezeichnende und das Bezeichnete (»signifiant et signifié«), wobei das Bezeichnende der Laut und das Bezeichnete nicht die ›Sache‹, sondern die Vorstellung (concept) davon ist.12 Zum immer wieder thematisierten Verhältnis von Sprache und Denken definiert Saussure: Die Artikulation der Sprache zwingt das »chaotische« Denken zur Präzision »en se décomposant«; das Denken paßt sich nicht in die Formen der Sprache ein, sondern hat diese nötig, um sich zu artikulieren.13 Die Zeichen stehen in bestimmten Beziehungen zueinander; sie haben darin einen jeweiligen »Wert« (valeur): Der Wert eines einzelnen Wortes hängt von der »présence simultanée des autres« ab. Somit haben die Wörter keine von ihrer Umgebung unabhängige Bedeutung.14 Und das System der Sprache besteht aus »pures valeurs«, die von nichts anderem als dem »état momentanée de ses termes« bestimmt werden.15 Während Saussures Werk erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine größere Wirkung erzielte, übte zu Beginn des Jahrhunderts kein Werk so großen Einfluß aus wie Fritz Mauthners vehemente Sprachkritik. Mauthner destruiert alle Versuche, von einer Erforschung der Sprache und ihrer Gesetze zu irgendeinem verläßlichen Aufschluß über die Wirklichkeit, der über die Tatsachen des Bewußtseins hinausgeht, zu kommen.16 Es ist, so Mauthner, ein gewaltiger Irrtum, wenn wir glauben, unserer »Welterkenntnis« entspräche »irgend etwas in der Welt selbst, irgend etwas Wirkliches, ein Gedanke, den wir durch das Mittel der Sprache ausdrücken.«17 Mauthner ist sich der Schwierigkeit wohl bewußt, mit den Mitteln der Sprache Sprachkritik zu üben, will aber die Möglichkeiten der Wortkunst verstärkt für die Religion und Poesie einsetzen, weil es in diesen nicht auf eine genaue Weltbeschreibung ankomme. (Und er selbst verwendet deshalb Bilder und Metaphern in großer Zahl.) Aber für die Wissenschaft ist diese Sprache, wie wir sie täglich sprechen, schlechthin ungeeignet, »eben weil die feine Wirklichkeit mit den groben Zangen der Sprache nicht zu fassen ist.«18

lio de Mauro (Paris 1978) 30–32. Die zwischen 1907 und 1911 in Genf gehaltenen Vorlesungen fanden erst in ihrer (von den Herausgebern bearbeiteten) gedruckten Fassung breite Beachtung. Erste dt. Übers.: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (Berlin 1931). 11 Ebd. 37 f. 12 Ebd. 98 f. 13 Ebd. 155 f. 14 Ebd. 158 f.; vgl. ders.: Écrits de linguistique générale, éd. par Simon Bouquet [u.a.] (Paris 2002) 28: »Ein Wort hat keine Bedeutung, sondern einen Wert.« 15 Saussure: Cours, a. a.O. [Anm. 10] 116. 16 F. Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 3 Bde. (Stuttgart 1901–02). 17 Ebd. (3Leipzig 1923) Bd. 3, 636. 18 Ders.: Die Sprache (Frankfurt a.M. o. J., [1905]) 19.

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Als »Volkssprache« mit allen Unschärfen und Unsicherheiten ist sie ein probates Mittel, und als solche übt sie sogar eine »tyrannische« Autorität über das Leben aus;19 aber für eine exakte Beschreibung der Dinge außer uns ist sie untauglich. So ergibt sich das Paradox des Sprachkritikers, daß wir zwar die sprachlich gegebene von der ›eigentlichen‹ Welt unterscheiden, gleichzeitig aber nicht anders als in und mit der Sprache über diese Welt reden können. Zur Bewältigung seines Dilemmas macht Mauthner vage Andeutungen in Richtung auf eine Vermittlung der beiden Ebenen, Sprache und Welt, in einer »Mystik«, ohne dies näher auszuführen. 20 Andere Autoren haben dieses Stichwort aufgegriffen, vor allem Mauthners Freund Gustav Landauer. Auch er kritisiert alle Versuche, in den Begriffsbildungen der Sprache Beschreibungen der Wirklichkeit zu sehen, will aber aus radikaler Skepsis heraus die Kraft gewinnen, die Welt noch »anders« zu erfahren als nur in ihren vordergründigen Erscheinungen. Die »Wortkunst« der Sprache leistet dies, wenn man in ihren Begriffen Metaphern, »Symbole des nicht weiter Auszusprechenden«, erkennt. 21 Mauthners radikale Sprachkritik war von großer Wirkung auf die Zeitgenossen, u.a. auch auf die Dichtung des Expressionismus. Mauthner wurde geradezu zum »Gewährsmann des modernen Krisenbewußtseins« wie auch einer »Mystik-Renaissance um 1900«.22 Er stand aber mit seiner Sprachkritik nicht allein. Schon im 19. Jahrhundert gab es eine heftige Kritik an der Begriffssprache des Idealismus (Otto Friedrich Gruppe),23 und diese Tendenz verstärkte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.24 Berühmt wurde Hugo von Hofmannsthals tiefgehende Sprachskepsis in seinem Brief des Lord Chandos, 25 ebenso wie die von Hugo Ball,26 der 1916 in Zürich den Dadaismus proklamierte. Aber auch die Sprachkritik von Karl Kraus, der angesichts drohender modischer Entstellungen einen respektvollen Umgang mit dem »Lebensgut« Sprache einforderte,27 ist symptomatisch für diese Zeit. Ball will, und das ist nicht nur für ihn kennzeichnend, aus der Überzeugung, daß die Sprache als Mittel der Kommunikation,

Ebd. 24, 86. Vgl. Beiträge zu einer Kritik der Sprache, a. a.O. [Anm. 16] Bd. 3, 617. Vgl. ders.: Gottlose Mystik (Dresden 1925). 21 G. Landauer: Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik (Köln 21923) 45, 51. 22 Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900– 1918 (München 2004) (= Helmut de Boor, Richard Newald: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. IX, 2) 255, 82; vgl. 413, 595. 23 Vgl. Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, hg. von Hermann Joseph Cloeren (Stuttgart-Bad Cannstatt 1971). 24 Vgl. Joachim Kühn: Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk (Berlin, New York 1975) 19–50: Sprachskepsis und Sprachzerstörung am Anfang des 20. Jahrhunderts. 25 H. von Hofmannsthal: Ein Brief. Sämtliche Werke Bd. 21 (Frankfurt a.M. 1991) 45–55. 26 H. Ball: Die Flucht aus der Zeit (München, Leipzig 1927). 27 K. Kraus: Die Sprache. In: Die Fackel [Dez. 1932], auch in: ders.: Die Sprache (München 1954) 436–438. 19 20

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»als soziales Organ […] zerstört« sei, die Kraft zu einem neuen Glauben an die Macht des Wortes gewinnen: »Die vollendete Skepsis ermöglicht auch die vollendete Freiheit.« Denn gerade auf das »Wort und die Benennung« will er ein neues »Maß aller Dinge« gründen.28 »Wir haben«, verkündet er, »das Wort mit Kräften und Energien geladen, die uns den evangelischen Begriff des ›Wortes‹ (logos) als eines magischen Komplexbildes wieder entdecken ließen.«29 Aus einer so einschneidenden Sprachkritik wie der F. Mauthners konnten aber auch andere Schlußfolgerungen gezogen werden. Zunächst konnte man versuchen, das Vertrauen in die Macht der Worte durch den Nachweis wiederzugewinnen, daß sie, als ausgesprochene und das heißt, Realität stiftende Worte mehr Gewicht haben als bloße Lautgebilde, die sich nur zur Übermittlung von Information eignen. »Wer ein Grundwort spricht«, heißt es etwa bei Martin Buber, »tritt in das Wort ein und steht darin.«30 Der jeweilige Sprecher ist niemals ein isolierter Einzelner, sondern befindet sich in »Zwiesprache« mit anderen. Im Dialog ereignet sich nicht die Übermittlung von Nachrichten, auch nicht »Kommunikation«, sondern »Kommunion, also […] Verleiblichung des dialogischen Wortes«.31 Der Mensch verfügt nicht über die Sprache, sie »steckt« nicht in ihm, sondern er »steht in der Sprache und redet aus ihr«.32 Noch deutlicher drückt dies Ferdinand Ebner aus: Die Sprache übermittelt nicht geistige Realitäten, sie setzt sie allererst. Die Sprache »ist etwas, das sich zwischen dem Ich und Du [auch zwischen dem Ich und Gott] zuträgt […]; etwas, das also das Verhältnis des Ichs zum Du einerseits voraussetzt, andrerseits herstellt.«33 Eine solche Philosophie, die in der Sprache das wesentliche Band zwischen Ich und Du sieht, richtet sich, wie bei Hans Ehrenberg, gegen das Begriffsdenken des Idealismus. Dieser habe fälschlicherweise alles Erkennen auf der Urgewißheit des Ich und nicht auf der Lebenswirklichkeit des »Wir« aufbauen wollen. Und gleichzeitig wendet sie sich, wie bei Buber, im Namen ihrer Lebendigkeit gegen jede Normierung und Festlegung der Sprache auf einheitliche Bedeutungen.34 Nach Franz Rosenzweig hat die menschliche Sprache ihren Urgrund im göttlichen Wort, seinen Schöpfungsworten. Wie jedes »Wort des Menschen« »im Wort

H. Ball, a. a.O. [Anm. 26] 114, 89. Ebd. 102, vgl. 39, 101 f., 107. 30 M. Buber: Ich und Du [1923]. Werke Bd. 1: Schriften zur Philosophie (München, Heidelberg 1962) 79. 31 Ders.: Zwiesprache [1930]. Werke Bd. 1, ebd. 177. 32 Ders.: Ich und Du, a. a.O. [Anm. 30] 103. G. Landauer schreibt am 25. 7. 1912 über Bubers Daniel an den Verfasser, er finde darin »das Pathos der Sache in der Gestalt der Sprache, die so gestaltet ist, daß sie zugleich ganz Sprache des Sprechenden und ganz sprechende Sache ist.« G. Landauer. Sein Lebensgang in Briefen, hg. von M. Buber (Frankfurt a.M. 1929) Bd. 1, 411. 33 F. Ebner: Das Wort und die geistigen Realitäten (Innsbruck 1921) 17. 34 M. Buber: Brief an Henri Borel über das Wesen der Sprache [1917]. Werkausgabe Bd. 6: Sprachphilosophische Schriften, hg. von Asher Biemann (Gütersloh 2003) 75; vgl. später: Das Wort, das gesprochen wird [1960]. Werke, a. a.O. Anm. [30] Bd. 1, 131. 28 29

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Gottes« vorgebildet ist, so jedes Ich-Du-Verhältnis im Verhältnis zwischen Gott und Mensch.35 Da der Mensch erst mit der Sprache Mensch wird, ist diese die »Morgengabe des Schöpfers an die Menschheit.« Sie wird sich in der weiteren Offenbarung Gottes vollenden, in der Erlösung zur gemeinsamen Sprache aller Menschen und damit zum »Ideal der vollkommenen Verständigung« werden.36 – Auch für Eugen Rosenstock-Huessy ist alle Sprache des Menschen ein Abbild der »Ursprache« Gottes und diese das fortdauernde Band zwischen ihm und den Menschen. Deshalb ist es nötig, daß sich der Mensch wieder auf seine »Erschaffung aus dem Wort« und nicht aus dem Ich oder der Abstammung von der Natur besinnt, daß er wieder lernt, »jedes Ding beim rechten Namen« zu nennen, so wie Gott den Adam bei seinem Namen gerufen hat. Religion und Sprache sind darin »ein und dasselbe«, daß sie »Verbindlichkeit« schaffen.37 Diese Verbindlichkeit zeigt sich, so macht Rosenstock-Huessy gegen Heidegger geltend, in den alltäglichsten Äußerungen, nicht erst im ursprünglichen Sagen. »Die Wahrheit des Logos bewährt sich darin, daß wir die von uns ausgesprochene Wahrheit gelten lassen. Ob wir dabei nur zuhören oder nachsprechen oder selber sprechen, ist nicht die Hauptsache.«38 Allen diesen Ausführungen ist trotz vieler Unterschiede im Detail gemeinsam, daß sie a) auf den »dialogischen Charakter der Sprache« hinweisen oder diese, wie Buber sagt, »in der schwingenden Sphäre zwischen den Personen« ansiedeln;39 und daß sie deshalb b) die Sprache nicht als Transportmittel beliebiger Inhalte ansehen, sondern als Erscheinen der Wahrheit im Wort, die mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit auftritt, einer Verbindlichkeit, die ihr Vorbild letztlich in Gottes Schöpfungsworten hat, in seiner Ansprache an den Menschen.40 Angesichts dieser Gewißheit bleibt kein Raum für Sprachskepsis. Ein ausgesprochen theologischer Kontext liegt auch Walter Benjamins frühem Versuch zur Bestimmung der Sprache zugrunde. Benjamin leugnet nicht, daß die Sprache zur Mitteilung dienen kann. Aber er läßt keine Dichotomie zwischen Sprache und Erkenntnis der Dinge zu. Vielmehr teilt die Sprache das Wesen der Dinge, soweit es ein geistiges Wesen ist, mit: Alles, »was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, ist seine Sprache. […] Oder: die Sprache eines F. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung [1921] (Frankfurt a.M. 1988) 221 f. Ebd. 122 f.; vgl. 327 f. 37 E. Rosenstock-Huessy: Die Sprache des Menschengeschlechts (Heidelberg 1963–64) Bd. 1, 397, 151, 360 f., 669, 363; vgl. Wilfrid Rohrbach: Das Sprachdenken Eugen RosenstockHuessys (Stuttgart etc. 1973). 38 Ders.: Zurück in das Wagnis der Sprache (Berlin 1957) bes. 28, 32, zit. 41 f. 39 M. Buber: Das Wort, das gesprochen wird [1960]. Werkausgabe Bd. 6, a. a.O. [Anm. 34] 127, vgl. 120 f. Buber richtet sich gegen das einsame Sprechen des späten Heidegger wie auch gegen Hönigswalds Bestimmung des »monadischen« Ursprungs der Sprache, vgl. Richard Hönigswald: Philosophie und Sprache (Basel 1937) 27. Eine Nachfolge findet das dialogische Sprachdenken u.a. bei Karl Löwith: Hegel und die Sprache. Die Neue Rundschau 76 (1965) 278–297, auch in: ders.: Sämtliche Schriften Bd. 1 (Stuttgart 1981) 373–398. 40 Vgl. Buber, ebd. 136. 35 36

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geistigen Wesens ist unmittelbar dasjenige, was an ihm mitteilbar ist. […] Oder genauer: Jede Sprache teilt sich in sich selbst mit, sie ist im reinsten Sinne das ›Medium‹ der Mitteilung.«41 Mit dem Begriff des Mediums gelingt es Benjamin, die Sprache nicht als Organ zur Übermittlung von Inhalten zu sehen (»einen Inhalt der Sprache gibt es nicht«42), sondern als eine gestaltende, d. h. die Dinge benennende Kraft. Benjamin spricht sogar von »Magie«, von »einer magischen Gemeinschaft [der Sprache] mit den Dingen«.43 Allerdings muß er dafür die sprachliche Äußerung auf das Benennen der Dinge durch »Namen« zuspitzen. »Gottes Schöpfung vollendet sich, indem die Dinge ihren Namen vom Menschen erhalten« und diesen Gott mitteilen.44 Und außerdem gibt die Sprache nicht das volle Wesen der Dinge wieder, sondern (nur) deren geistiges Sein, da der Mensch durch den Sündenfall in seinem Erkennen eingeschränkt ist. Er kann nur das »Residuum« von Gottes Wort empfangen, so daß die Sprache das Wesen der Dinge nur in »Übersetzung« mitteilt. Anders ausgedrückt: Die Dinge bedürfen der Vermittlung, des Mediums, der sprachlichen Zeichen; diese geben die Dinge nicht direkt, sondern nur vermittelt wieder. »Die Sprache der Natur ist einer geheimen Losung zu vergleichen, die jeder Posten dem nächsten in seiner eigenen Sprache weitergibt, der Inhalt der Losung aber ist die Sprache des Postens selbst.«45 In diesem Bild kommt zum Ausdruck, daß Benjamin zwar große Hoffnung in die Kraft der Sprache setzt, aber zugleich weiß, daß sie sich erst eschatologisch erfüllt, dann nämlich, wenn sich Gottes Wort »in der letzten Klarheit« offenbart.46 Den Sprachreflexionen der Dialogphilosophie in manchem verwandt, wenn auch wohl nicht von ihnen beeinflußt, ist das Denken von Hans Lipps. In bewußter Abgrenzung von allen Versuchen, eine künstliche Sprache, etwa eine Zeichensprache, zu konstruieren oder die gesprochene Sprache zu verbessern,47 insistiert Lipps darauf, daß die Sprache sich nicht in ihrer Funktion als Mitteilung eines Inhalts erschöpft, sondern ihren Kern darin hat, daß sie gesprochen und gehört bzw. verstanden wird, daß sie somit eine »Verbindlichkeit […] verschafft«. Diese besteht darin, daß man z. B. von einem Gedanken »bewegt« W. Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen [1916]. Gesammelte Schriften Bd. 2 (Frankfurt a.M. 1977) 142. 42 Ebd. 145. 43 Ebd. 143, 147. 44 Ebd. 143 f. Der Unterschied zur Sprache Gottes besteht darin, daß diese durch das Wort erschafft, während der Mensch die Dinge mittels der Namen »erkennt«. »Alle menschliche Sprache ist nur Reflex des Wortes [Gottes] im Namen.« (ebd. 148 f.). 45 Ebd. 157. 46 Ebd. 47 Zur selben Zeit und an derselben Stelle erschien von Heinrich Scholz: Natürliche Sprachen und Kunstsprachen. In: Blätter für deutsche Philosophie 12 (1938/39) 253–281. Scholz sieht die Zeit gekommen, mit einer künstlichen Wissenschaftssprache die Mängel der natürlichen Sprachen zu beseitigen und »das uralte Problem des Verhältnisses von Denken und Sprechen endlich« einer Lösung näher zu bringen (ebd. 281). 41

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wird und sich das »Gedachte nachdenkend und umdenkend« aneignen muß.48 Mit ihrer Verbindlichkeit geht die Sprache über die reine Bezeichnung einer Sache hinaus und bringt mit der »Kraft des Wortes« etwas Unbestimmtes auf den Begriff, gibt eine »Antwort auf die Dinge«, von denen sie »angesprochen« worden ist.49 »Wahr wird oder ist das Wort nicht zufolge irgendeiner Übereinstimmung mit den Dingen, sondern darin, daß es in der Erfüllung seine Kraft erweist.«50 Sprache dient nicht primär der Bezeichnung; vielmehr schafft das Wort im ursprünglichen Sinn und legt Rechenschaft ab.51 »Die Dinge werden interpretiert, nämlich verschieden gebrochen durch die Sprache.«52 Dies meint, so Lipps, Humboldts Feststellung, daß sich in der Sprache eine »eigentümliche Weltansicht« spiegele.53 Aber auch der Appellcharakter der Sprache und die »Maßgeblichkeit der Sprache« zeigen sich darin, daß »Bewegungsgestalt, Spannung und Lässigkeit« in der Sprache zum Ausdruck kommen. So hat die Sprache eine »erschließende, begriffliche Kraft«.54

II. Wie man bei Lipps sieht, beruft sich die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts häufig auf W. von Humboldt. Auch Ernst Cassirer tut dies, kommt dabei aber zu anderen Schlußfolgerungen. Cassirers Zentralbegriff »symbolische Form« – als solche gelten u.a. Mythos, Sprache, Religion, Kunst und Wissenschaft – wird, unter Aufnahme von Humboldts Begriff der energeia, definiert als »Energie des Geistes […], durch welche ein geistiger [nicht sinnlich faßbarer] Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem innerlich zugeeignet wird.« »Symbolisch« heißt diese Form insofern, als in ihr »das Allgemeine sich mit dem Besonderen gleichsam in einer geistigen Mitte begegnet«. Das Zeichen ist kein »bloßer Abdruck« der Wahrnehmungs- und Vorstellungswelt, sondern bildet sie »von innen her«.55 In der Sprache aber durchdringen sich der »seelische Inhalt und sein sinnlicher Ausdruck«, das Lautzeichen, und H. Lipps: Die Verbindlichkeit der Sprache. In: Blätter für deutsche Philosophie Bd. 12 (1938) S. 282–292, auch in: ders.: Die Verbindlichkeit der Sprache (Frankfurt a.M. 21958) 107– 125, zit. 109 f. 49 Ebd. 113. 50 Ebd. 116. 51 Ders.: Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik (Frankfurt a.M. 1938) 74. 52 Ders.: Die menschliche Natur (Frankfurt a.M. 1941) 71. 53 Ders.: Untersuchungen …, a. a.O. [Anm. 51] 81. 54 Ders.: Die menschliche Natur, a. a.O. [Anm. 52] 72 f.; vgl. Käte Meyer-Drawe: Das Wort als Antwort auf die Dinge. Lipps und Merleau-Ponty zur Kreativität der Sprache. In: DiltheyJahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 6 (1989) 127–140. 55 E. Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften [1921/22]. In: ders.: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs (Oxford 1956) 175, 177 f.; vgl. ders.: Philosophie der symbolischen Formen (Berlin 1923–29) Bd. 1, 42 f. 48

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verschmelzen zu einer »grundlegenden Synthese«.56 Im Entwicklungsgang aller Kulturentwicklung57 vom Mythos zum Logos steht die Sprache auf der Grenze zwischen beiden.58 Sie markiert den Übergang von der (mythischen) Nachahmung zur reinen Bedeutung in der Wissenschaft. »Bei all ihrer Gebundenheit und Verflochtenheit in die Welt des Sinnlichen und Imaginativen« zeigt die Sprache »die Tendenz und Kraft zum Logisch-Allgemeinen, durch die sie sich fortschreitend zu einer immer reineren und selbständigen Geistigkeit ihrer Form befreit.«59 (Dem entspricht die Entwicklung der Sprache hin zum Mittel reiner Darstellung.60) Und schließlich verbindet Cassirer dies mit einer generellen Bestimmung der Philosophie und Kultur: Ihre Aufgabe ist es, die »sinnliche Unmittelbarkeit« zu überwinden und sich in der Schöpfung »symbolischer Formen wirksam« zu erweisen.61 Karl Bühler stimmt mit Saussure und Cassirer darin überein, daß die Sprache ein »System von Zeichen« ist, d. h. wie ein »Werkzeug« oder »Organon« zwischen Mensch und Sache vermittelt.62 Aus Zeichen besteht sie insofern, als die Laute für etwas anderes stehen, etwas bedeuten und repräsentieren.63 Auf dieser Grundlage entwickelt Bühler sein bekannt gewordenes »Organonmodell der Sprache«: Danach sind in der Sprache drei Seiten vereinigt, der Sender, der etwas ausdrücken will (Ausdrucksfunktion), der Empfänger, an den appelliert wird (Appellfunktion) und der Gegenstand bzw. Sachverhalt, der dargestellt wird (Darstellungsfunktion der Sprache). Das Sprachzeichen ist »Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom […] kraft seiner Abhängigkeit vom Sender […] und Signal kraft seines Appells an den Hörer.«64 Die drei Funktionen treten unterschiedlich stark in Erscheinung: Die Darstellungsfunktion überwiegt in der Wissenschaft; die Appellfunktion in der Kommandosprache und die Ausdrucksfunktion in der Lyrik.65 Die Sprachforschung untersucht – in Erweiterung des Programms von Saussure – die Sprache unter vier Aspekten: als Sprechakt bzw. Sprechhandlung und als Sprachwerk bzw. Sprachgebilde.66 Als Psychologe und Linguist ist Bühler aber von der »logischen Priorität« der Sprachgebilde überzeugt.67 Philosophie der symbolischen Formen, ebd. Bd. 1, 123. Vgl. ders.: Symbol,Technik, Sprache.Aufsätze aus den Jahren 1927–1933 (Hamburg 1985) 86. 58 Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, 268. 59 Ebd. Bd. 1, 273. 60 Ebd. Bd. 3, 128, 527 f. 61 Ebd. Bd. 1, 50, 127. 62 K. Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache (Jena 1934, Neudr. Stuttgart, New York 1982) XXI. 63 Ebd. 35. 64 Ebd. 28. Eine leicht abgewandelte Terminologie in: K. Bühler: Kritische Untersuchung der neuern Theorien des Satzes. In: Indogermanisches Jahrbuch 6 (1920) 1–20. 65 Sprachtheorie, a. a.O. [Anm. 56] 32. 66 Ebd. 48 f. 67 Das Organonmodell wurde, wie Bühler weiß (ebd. 22 f.), vorgeprägt von Alan H. Gardi56 57

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Konnte Cassirer an Bühlers Begriff der Darstellung anknüpfen, so sah er auch eine Verwandtschaft seines Begriffs der symbolischen Form mit dem Zeichenbegriff des Prager Strukturalismus (›Cercle linguistique de Prague‹).68 Dieser geht jedoch weit über Cassirer hinaus. Vor allem Roman Jakobson begreift die Sprache als Teil eines umfassenden Zeichensystems. Unter Einbeziehung der poetischen Ausdrucksweise erweitert er Bühlers Organonmodell der Sprache zu einem Modell mit sechs Komponenten. Vorherrschend darin ist allerdings die kognitive Funktion.69

III. Versuchten einige Sprachphilosophen, die Sprachskepsis des Jahrhundertbeginns unter Hinweis auf die Macht des Wortes zu überwinden, so unternahm es die analytische Philosophie, die Sprache zu verbessern, nicht zuletzt auch, um über sie zur Klarheit des Denkens beizutragen. Den folgenreichsten Schritt vollzog Ludwig Wittgenstein. In konsequenter Weiterführung von Freges Forderung, die »logischen Unvollkommenheiten der Sprache« auszumerzen,70 verfolgt er eine »Sprachkritik«, die die Sprache logisch konstruieren und über sie eine verläßliche Beziehung zwischen der Sprache und der äußeren Welt herstellen will. Grundlage ist der Satz,71 der, wenn er logisch korrekt formuliert ist, ein »Bild« oder »Modell der Wirklichkeit« bildet,72 d. h. eine »Sachlage« darstellt73 und mit dieser »wesentlich« zusammenhängt, da er ihr »logisches Bild ist.«74 Die logische Form als solche aber wird nicht durch den Satz dargestellt; sie »spiegelt sich in ihm« oder »zeigt« sich.75 Es ist ferner Wittgensteins Ziel, der Sprache als »Ausner: The Theory of Speech and Language (Oxford 1932) bes. 326 f. Es wurde von Karl R. Popper: Die Sprache und das Leib-Seele-Problem [1953]. In: Vermutungen und Widerlegungen (Tübingen 1997) 425–433, bes. 427 f. um eine weitere Funktion, die Erklärungsfunktion, ergänzt und hierarchisch strukturiert. Vgl. Hans Albert: Erkenntnis, Sprache und Wirklichkeit. In: Sprache und Erkenntnis. Festschrift für Gerhard Frey zum 60. Geburtstag, hg. von Bernulf Kanitscheider (Innsbruck 1976) 39–53, bes. 49. 68 E. Cassirer: Structuralism in Modern Linguistics [1945]. Gesammelte Werke. Hamburger Ausg. Bd. 24 (Hamburg 2007) 299–320, bes. 313 f. 69 Roman Jakobson: Closing Statement: Linguistics and Poetics. In: Style in Language, ed. by Thomas A. Sebeok (New York 1960) 350–377, dt. in: Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, hg. von Heinz Blumensath (Köln 1972) 118–147, bes. 121–125; vgl. Elmar Holenstein: Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus (Frankfurt a.M. 1975) 157–161. 70 Gottlob Frege: Schriften zur Logik und Sprachphilosophie, hg. von Gottfried Gabriel (Hamburg 1971) 61; vgl. ders.: Funktion, Begriff, Bedeutung, hg. von Günter Patzig (Göttingen 1962) 92. 71 L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus [1921/22]. Schriften [Bd. 1] (Frankfurt a.M. 1960) 4.001: »Die Gesamtheit der Sätze ist die Sprache.« 72 Ebd. 4.01. 73 Ebd. 4.021. 74 Ebd. 4.03. 75 Ebd. 4.121; umgekehrt gilt auch: »Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden.« (ebd. 4.1212).

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druck der Gedanken« »Grenzen« zu ziehen; sie soll dazu verpflichtet werden, nur »klare« Aussagen zu treffen und alles jenseits dieser Grenzen als »Unsinn« beiseite zu lassen.76 »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.«77 Einerseits formuliert Wittgenstein den radikalen Solipsismus – für das philosophische Ich gilt immer, daß » dieWelt meine Welt« ist78 –, andererseits aber fragt er, ob es eine Ausdrucksweise gebe, mit der man über die Sprache sprechen könne, ob »die Sprache die einzige Sprache« sei.79 Das aber ist unmöglich; denn im Reden über die Sprache sind sie und ihre Grammatik bereits vorausgesetzt: »Ich kann mit der Sprache nicht aus der Sprache heraus.«80 Alles, was über die Beschreibung der empirisch erfaßbaren Tatbestände hinausgeht, ist Philosophie. Sie behandelt die ›eigentlich‹ nicht aussagbaren Themen, und dies »Unaussprechliche«, das sich wie die logische Form einfach »zeigt«, ohne daß man über es etwas sagen kann, »ist das Mystische.«81 Schon in den Tagebüchern notiert Wittgenstein gelegentlich, daß die »Art und Weise, wie die Sprache bezeichnet«, »sich in ihrem Gebrauche« widerspiegele.82 Diese Feststellung wird später maßgeblich. In ausdrücklicher Korrektur an seinen früheren Auffassungen83 will Wittgenstein nicht mehr eine ideale Sprache aufbauen, sondern die faktisch existierenden, gesprochenen Sprachen mit all ihren Unvollkommenheiten akzeptieren. Er vergleicht sie mit einer alten Stadt: »Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten«; sie sind »umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und einförmigen Häusern.«84 Statt der einen idealen Sprache bildet jetzt die »Mannigfaltigkeit der Sprachspiele«85 die Grundlage der Erkenntnis; und zu einem Sprachspiel gehört nicht nur der jeweilige Sprachgebrauch, sondern die ganze zu ihr gehörende »Tätigkeit«; es ist eine »Lebensform«.86 Wittgenstein fragt nach dem »Mechanismus« und »Kalkül« der Sprache und gelangt zu der Überzeugung, daß ihr Begriff »im Begriff der Verständigung« liegt, die einzelnen Sprachen und Sprachspiele durch etwas »Gemeinsames« miteinander verbunden sein müssen.87 Dies ist ihre »Verwandtschaft« oder »Familienähnlichkeit«.88 Er ist sich bewußt, daß er die frühere schwierige Aufgabe, was ein Satz und dann die 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88

Ebd. Vorwort. Ebd. 5.6; vgl. 5.62. Ebd. 5.641. Tagebucheintragung vom 29. 5. 1915. Schriften [1], 143. Philosophische Bemerkungen. Schriften Bd. 2 (Frankfurt a.M. 1964) 54. Tractatus, a. a.O. [Anm. 71] 6.522. Tagebucheintragung vom 11. 9. 1916. Schriften [1], 175. Ders. Philosophische Grammatik. Schriften Bd. 4 (Frankfurt a.M. 1969) 211 f. Ders.: Philosophische Untersuchungen [1945] § 18. Schriften [1], 296. Ebd. § 24. Schriften [1], 301. Ebd. § 23. Schriften [1], 300. Philosophische Grammatik, a. a.O. [Anm. 83] 190, 193. Philosophische Untersuchungen, a. a.O. [Anm. 84] §§ 65, 67. Schriften [1], 324.

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Sprache sei, abschneidet,89 und gibt zu, daß das »Wesen der Sprache verborgen« bleibt, »unter der Oberfläche« liegt,90 kann aber darauf verweisen, daß die einzelnen Sätze, wenn sie sinnvoll sind, so wie sie sind, immer irgendwie »in Ordnung« sind, d. h. Ordnung »auch im vagsten Satze« steckt und eine ideale Sprache also überflüssig ist.91 Das Ziel, die Philosophie von der »Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel der Sprache« zu befreien92 und von ihr zu heilen,93 hat Wittgenstein auch jetzt nicht aufgegeben. Er hält an einer gewissen normativen Sprache fest, mindestens aber daran, daß die Sprache bzw. die Sprachanalyse im Stande sei, philosophische Probleme zu eliminieren, sie als Scheinprobleme zu entlarven: »Eine ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprachlehre.«94 Bei der einfachen Beschreibung der unterschiedlichen Sprachgebräuche entstehen diejenigen Fragen, die die Philosophie (bisher vergeblich) umgewälzt hat, aber trotzdem tradiert, erst gar nicht. »Denn die philosophischen Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert.«95 Der Logische Positivismus konnte die Überlegungen des späten Wittgenstein noch nicht zur Kenntnis nehmen; er führt die Sprachkritik des frühen Wittgenstein weiter. So erhofft sich Friedrich Waismann von der logischen Analyse der Sprache auch praktische Vorteile wie z. B. die Überwindung »aller Vorurteile.« Sah schon Mauthner in der Sprachkritik ein Mittel zur »Selbstbefreiung«, so erwartet Waismann von ihr die Lockerung aller »starren und einengenden Gedankenformen«.96 Demgegenüber geht es Rudolf Carnap primär darum, durch die logische Analyse die innerphilosophischen Probleme zu lösen, d. h. die Sätze der Metaphysik als sinnlose Sätze bzw. »Scheinsätze« zu »enthüllen«. Metaphysische Begriffe wie ›Prinzip‹, ›Gott‹, ›Idee‹, ›das Absolute‹, ›Wesen‹, ›Ich‹ werden bedeutungslos.97 Die neue, nur aus »gehaltvollen« Sätzen bestehende »physikalische Sprache« bezieht sich auf »Sachverhalte«, die in »Protokollsätzen« beschrieben werden und universal und damit intersubjektiv sind.98 Alle

Ebd. § 65. Schriften [1], 324. Ebd. § 92. Schriften [1], 338. 91 Ebd. § 98. Schriften [1], 339; vgl. ebd. § 124. Schriften [1] 345: »Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende nur beschreiben. Denn sie kann ihn auch nicht begründen.« 92 Ebd. § 109. Schriften [1], 342. 93 Vgl. Ebd. § 255. Schriften [1], 393: »Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit.« 94 Ebd. Kap. XI. Schriften [1], 534. 95 Ebd. § 38. Schriften [1], 309. 96 F. Waismann: Was ist logische Analyse? Hg. von Gerd H. Reitzig (Frankfurt a.M. 1973) S. 42. 97 R. Carnap: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. In: Erkenntnis 2 (1931/32) 219–241, zit. 220, 224 ff. 98 Ders.: Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft. In: Erkenntnis 2 (1931/32) 432–465, zit. 433, 437, 441, 448. 89 90

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Sprache, die Anspruch auf wissenschaftliche Gültigkeit erheben will, wird an die Logik gebunden.99 Ebenso scharf begrenzt Alfred J. Ayer das Feld der Philosophie. Deren Aufgabe ist es nicht, sich mit den Eigenschaften der Dinge zu beschäftigen, sondern »nur mit der Art und Weise, wie wir über sie reden.«100 Damit wird alle Philosophie linguistische Philosophie, d. h. sie beschäftigt sich nicht mit Tatsachen, sondern mit deren Definitionen bzw. formalen Konsequenzen daraus. Beanspruchte der frühe Wittgenstein noch, über eine genaue Sprache einen Zugang zur Wirklichkeit zu erlangen, so gibt Ayer der Philosophie nur auf, sich völlig innerhalb der Sprache zu bewegen und sich allenfalls um logisch akzeptable Definitionen (»Gebrauchsdefinitionen«) zu bemühen.101 Ayer bekennt sich also zu einem »Phänomenalismus« ähnlich dem George Berkeleys, allerdings mit dem Unterschied, daß er jeglichen Theismus und alle Metaphysik ablehnt und deren Destruktion gerade zur Aufgabe seines sprachanalytischen Empirismus macht. Später legt Ayer wieder mehr Gewicht auf die natürliche Sprache; er sieht jetzt die Notwendigkeit gewisser Regeln für den richtigen Gebrauch der Sprache. Es geht ihm aber weiterhin nicht um die Kenntnis oder Nichtkenntnis empirischer Fakten, »sondern um mein Wissen oder Nichtwissen, wie meine Sprache zu gebrauchen ist.«102 Nur der Sprache und der logischen Analyse bleibt es aufgegeben, festzustellen, »was wahr beziehungsweise was falsch ist.«103 Die von Charles S. Peirce herkommende Semiotik erweitert die Sprachtheorie um die Dimension der Pragmatik. Sie verzichtet eher auf die Konstruktion einer idealen Sprache und erforscht stattdessen die Regeln der gesprochenen Sprache sowie das Verhalten der Sprecher und Interpreten in dieser Sprache. Sprache wird so von Charles W. Morris als ein System von Zeichen definiert, die eine übereinstimmende Bedeutung für die Angehörigen einer Sprachfamilie haben (»interpersonal« sind) und, weil sie gleichbleibend sind, in verschiedenen Situationen eingesetzt, unter sich aber nur in bestimmter Weise kombiniert werden können.104 Die Besonderheiten des menschlichen Zeichensystems Sprache, auch die der sprachlichen Zeichen gegenüber den nicht-sprachlichen, können bei Morris, nicht zuletzt wegen seiner Herkunft vom Behaviourismus, nicht in den Blick kommen.105 Ders.: Logische Syntax der Sprache (Wien 1934) III f.: »Wissenschaftssprache ist nichts anderes als logische Syntax der Wissenschaftssprache.« 100 A. J. Ayer: Language, Truth and Logic (London, New York 1936); dt. Sprache, Wahrheit und Logik (Stuttgart 1970) 73. 101 Ebd. (dt. Ausg.) 78. 102 Ders.: Basic Propositions [1950]. In: ders.: Philosophical Essays (London 1954) 105–124, dt. in: Sprache und Analysis, hg. von Rüdiger Bubner (Göttingen 1968) 170–186, zit. 184. 103 Ders.: The Central Questions of Philosophy (London 1973), dt. Hauptfragen der Philosophie (München 1976) 45. 104 Ch. W. Morris: Signs, Language, and Behavior (Englewood Cliffs, N. J. 1946); dt. Zeichen, Sprache und Verhalten (Düsseldorf 1973) 114. 105 Vgl. ders.: Foundations of the Theory of Signs (Chicago 1938), dt. Grundlagen der Zei99

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IV. Die Philosophie der normalen Sprache (ordinary language philosophy), die einen Teil der (sprach-)analytischen Philosophie bildet, setzt schon vor Wittgensteins Wende zur Umgangssprache ein, findet sich dann aber z.T. durch diese bestätigt. Gilbert Ryle, der ihr für längere Zeit in Oxford Geltung verschaffte, will zwar nicht auf eine Verbesserung der Sprache verzichten, aber durch Umformulierung der natürlichen Sprache, nicht durch Schaffung einer mehr oder weniger künstlichen Wissenschaftssprache. Wie schon G. E. Moore davon überzeugt war, daß viele Schwierigkeiten in der Philosophie verschwinden würden, wenn man die ihnen zugrundeliegenden Fragen auf ihren sprachlichen Ausdruck hin analysierte,106 so plädiert Ryle dafür, daß die Philosophie sich auf die Form der Aussagen über Tatsachen konzentrieren sollte, weil ihr Sinn oft »verschleiert« und von dem betreffenden Ausdruck der Aussage »nicht zureichend offengelegt« werde.107 Der Maßstab, nach dem eine philosophische Analyse die Sätze der natürlichen Sprache verbessern soll, damit sie logisch konsistent sind, muß zwar vorgegeben sein, Ryle gibt ihn aber nicht an. Die Entscheidung darüber »muß vor der eigentlichen Sprachanalyse gefallen sein.«108 Auch für Peter F. Strawson ist die natürliche Sprache der Ausgangspunkt. Sie folgt zwar keiner exakten Logik; ihre Analyse ist aber trotzdem sinnvoll, weil die Sprache in jeder Sprechsituation die Fähigkeit hat, unbestimmte Bedeutungen eindeutig zu festzulegen, Sachverhalte durch nähere Eingrenzungen zu identifizieren und schließlich Prädikate den Subjekten im Satz zuzuordnen.109 Durch diese Leistung der Sprache wird eine verläßliche Kommunikation möglich: Wir können auf die menschliche Rede vertrauen, da wir in den Sätzen der Sprache (oder vielmehr des Sprechens [speech], denn ohne dies wissen wir nichts über die Sprache) einen hinlänglichen Zugang zur Wahrheit haben,110 die Dinge uns

chentheorie (München 21975) 28: »Die hier vertretene Konzeption läßt sich auf alle Zeichen anwenden.« 106 George Edward Moore: Principia Ethica (Cambridge 1903) VII; vgl. ders.: Wittgenstein’s Lectures in 1930–33. Philosophical Papers (New York 1959) 324. 107 G. Ryle: Systematically misleading expressions [1931]. Collected Papers Bd. 2 (London 1971) 61; dt. in: R. Bubner (Hg.), a. a.O. [Anm. 102] 31–62, zit. 62. 108 Jochem Hennigfeld: Die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts (Berlin, New York 1982) 92. 109 P. F. Strawson: On Referring [1950]. In: ders.: Logico-Linguistic Papers (London 1971) 1–27, zit. 24–27; dt. Bedeuten, in: R. Bubner (Hg.), a. a.O. [Anm. 102] 63–95, bes. 92–94. 110 Ders.: Meaning and Truth [1969]. In: Logico-Linguistic Papers, ebd. 170–189, zit. 189, vgl. ders.: Individuals (London 31971) 9 f.; dt. Einzelding und logisches Subjekt (Stuttgart 1972) 12: »Der einzig sichere Weg in der Philosophie« ist »die Untersuchung des tatsächlichen Sprachgebrauchs.«

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so, wie sie sind, durch die Sprache zugänglich sind, wenn auch Wörter und Sätze gleichsam ihre Einkleidungen bilden.111 Wenn die analytische Philosophie alle Kraft darauf konzentriert, nicht die Fakten, sondern das Sprechen über sie zu untersuchen, so geraten dabei andere philosophische Probleme, vor allem die der praktischen Philosophie, aber auch ästhetische und theologische, leicht aus dem Blickfeld. Der naheliegende Einwand lautet, daß die Analyse des Redens z. B. über Normen nicht ausreicht, deren faktische Geltung zu klären. Allerdings gehen einige Autoren, etwa die der Sprechakttheorie, bereits über die reine Sprachanalyse hinaus, insofern sie zugestehen, daß die Sprache, auch wenn man nur auf ihre beschreibende Funktion sieht, mehr als bloß deskriptiven Charakter hat: sie setzt Fakten, trifft Feststellungen, weckt Zweifel, stellt Fragen, wirft Probleme auf u.v.a. So verfolgt John L. Austins Sprechakttheorie das Ziel, über die bloße Sprachanalyse hinauszugehen, und deshalb sollte die Philosophie der normalen Sprache nicht »das letzte Wort«, wohl aber das »erste Wort« haben.112 Andere Sprechakttheoretiker, wie John R. Searle, haben herausgearbeitet, daß soziale Tatsachen nicht ausreichend begriffen werden, wenn man nicht weiß, wie sprach- bzw. symbolabhängig sie sind.113 Wieder andere, wie W. V. O. Quine, halten es für durchaus ausreichend, von der Alltagssprache, etwa bei der Begründung einer physikalischen Theorie, auszugehen, geben aber zu bedenken, daß die Sprache nicht auf dem einmal eingeführten Stand stehen bleibt, sondern sich weiterentwickelt, so wie es die empirischen Wahrnehmungen der Sinnesqualitäten, die wir in unsere Erfahrung aufnehmen, erfordern.114 Anders als Carnap u.a. es wollten, lassen sich nicht alle Probleme der Philosophie durch Sprachanalyse beseitigen. Der Philosoph vollzieht, wenn er eine Theorie überprüft, einen »semantischen Aufstieg« wie jeder andere kritische Theoretiker: d. h. er mißt sie an einem Maßstab außerhalb der Sprache; mithin bedürfen Erkenntnisse zwar der sprachlichen Fassung, gehen aber nicht darin auf.115 Auch von anderer Seite wurde die alleinige Abstützung an der normalen Sprache in Frage gestellt. Vor allem Noam Chomsky schloß aus seinen Forschungen zur Syntax, Phonologie und Semantik, daß es eine angeborene Sprachkompetenz zur Erzeugung einer allgemeinen Grammatik geben müsse,116 die, anders

111 Ders.: Analysis and Metaphysics (Oxford 1992) 97; dt. Analyse und Metaphysik (München 1994) 131. 112 J. L. Austin: The Meaning of a Word [1940]. In: ders.: Philosophical Papers (London etc. 21970) 190. 113 J. R. Searle: The Construction of Social Reality (New York 1995), dt. Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit (Reinbek bei Hamburg 1997) 72. 114 Willard van Orman Quine: Word and Object (Cambridge, Mass. 1960), dt. Wort und Gegenstand (Stuttgart 1980) 20 f. 115 Ebd. 474 f. 116 Noam Chomsky: Aspects of the Theory of Syntax (Cambridge, Mass. 1965), dt. Aspekte der Syntax-Theorie (Frankfurt a.M. 1969).

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als es Strawson wollte, »über die Regeln und Konventionen einzelner Sprachen hinausgehen«117 und nicht aus biologischen Eigenarten des Menschen allein erklärt werden können.118

V. Martin Heidegger berücksichtigt in seinen frühen Schriften kaum das Problem der Sprache. Mit ihnen begreift er unter dem Einfluß seines Lehrers Edmund Husserl die sprachlichen Zeichen als Ausdrücke von Bedeutungen.119 In Sein und Zeit aber setzt sich Heidegger von Husserl wie auch von E. Cassirer ab120 und zählt die Sprache jetzt neben der »Befindlichkeit« und dem »Verstehen« zu den »Existenzialien« des Menschen (des Daseins). Behandelt wird aber eigentlich nicht die Sprache, sondern ihr »Fundament«, die Rede, die das notwendige Korrelat zum Verstehen ist. »Redend spricht sich das Dasein aus, nicht weil es zunächst als ›Inneres‹ gegen ein Draußen abgekapselt ist, sondern weil es als In-der-Welt-sein versehend schon ›draußen‹ ist.« Und die Sprache ist die »Hinausgesprochenheit der Rede.«121 Die Wahl des Begriffs Rede hat wohl ihren besonderen Grund darin, daß Heidegger in dieser Zeit immer auf den Vollzugssinn anstatt auf den Gegenstandssinn eines Phänomens rekurriert, im Falle der Sprache also auf ein nicht-objektivierendes Sprechen wert legt und mithin den Terminus ›Sprache‹ nur in einem »abgeleiteten« Sinn gelten lassen kann.122 Der Begriff ›Sprache‹ würde eine Vergegenständlichung des ursprünglicheren Redens anzeigen, und Heidegger weiß sich in der Akzentuierung des vollziehenden Sprechens in Übereinstimmung mit den Griechen, die kein eigenes Wort für ›Sprache‹ hatten, sondern »dieses Phänomen ›zunächst‹ als Rede« (λóγος) verstanden und damit den Menschen als »Seiendes, das redet« definierten.123 Nur so kann Heidegger auch seine Analyse des »Geredes« als der Verfallsart der Rede anschließen. In ihr sind »alle ursprünglich echten Seinsbezüge zur Welt, zum Mitdasein, zum In-Sein selbst abgeschnitten.«124 Abgewiesen wird aber hier wie auch später immer wieder eine »Sprachphilosophie«, die über die Spra-

Ders.: Reflections on Language (New York 1975), dt. Reflexionen über die Sprache (Frankfurt a.M. 1977) 98. 118 Ders.: Language and Mind (New York 1968), dt. Sprache und Geist (Frankfurt a.M. 1970) 117. 119 M. Heidegger: Gesamtausgabe [= GA] Bd. 1: Frühe Schriften (Frankfurt a.M. 1978) 295, 299, 304; vgl. Günter Wohlfahrt: Martin Heidegger. In: Klassiker der Sprachphilosophie, hg. von Tilman Borsche, München 1996) 389 f. 120 M. Heidegger: Sein und Zeit [1927]. GA Bd. 2 (Frankfurt a.M. 1977) 216, 220 (§ 34). 121 Ebd. 214–216. 122 GA Bd. 9: Wegmarken (Frankfurt a.M. 1976) 75 f. 123 GA Bd. 2, 219 f.; vgl. Bd. 63: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) (Frankfurt 21995) 21. 124 GA Bd. 2, 226. 117

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che Aussagen wie über einen Gegenstand macht, anstatt »den ›Sachen selbst‹ nachzufragen.«125 Deshalb kann man Heideggers Nachdenken über die Sprache nicht ohne weiteres der Sprachphilosophie zuordnen.126 Die Frage nach der Sprache erhält aber ab 1934 eine neue Brisanz und Wendung im Zusammenhang mit der erneuerten Frage nach dem Wesen des Menschen (wenn auch zunächst nur in Vorlesungen und nicht in publizierten Schriften). War es früher der Mensch bzw. das Dasein, das sprach und redete, so heißt es jetzt, daß die Sprache nicht »in einem abgekapselten Subjekt« vorkomme und »weder etwas Subjektives noch etwas Objektives« sei, sondern eben das, durch das »das Sein im Ganzen«, die »Welt«, für den Menschen zugänglich gemacht werde. Und dies geschieht am ehesten in der »ursprünglichen Sprache« der Dichtung.127 Alle Sprachphilosophie muß aber auch deshalb »hinfällig« werden, weil in ihr nicht die Frage nach dem »Seyn«, sondern die nach dem Seienden den Vorrang hat, und das heißt, nicht die Frage nach der Wahrheit des Seins.128 Die Blickrichtung ist gegenüber Heideggers früherem Denken und gegenüber aller Sprachphilosophie umgekehrt: Der Mensch hat nicht Sprache, er benutzt sie weder als Ausdruck noch zur Formung seines Erkennens und Denkens, auch nicht nur als Verständigungsmittel und schon gar nicht als Werkzeug.129 Er ordnet sich vielmehr der Sprache unter. »Sprache und Mensch bestimmen sich wechselseitig«; beide aber stehen im Dienst des Seyns, das »wesentlicher« ist als sie.130 »Die Sprache entspringt dem Seyn und gehört zu diesem.« Der Mensch ist der Wächter des Seyns.131 Alle üblichen Bestimmungen der Sprache müssen überwunden werden, da sie den Bezug zum Sein nur »verhüllt« ausdrücken; überhaupt sollen definitive »Aussagen« über die Sprache gerade vermieden werden, weil die Sprache nicht als Gegebenes angesehen werden darf. Wie dem Seyn so kommt es auch der Sprache zu, sich zu ereignen (entsprechend dem Untertitel der Beiträge) und nicht festgestellt zu werden.132 Immerhin folgt aber der gewichtige Satz, daß die Sprache, »ob gesprochen oder geschwiegen, die erste und weiteste Vermenschung des Seienden« ist. Dieser Begriff, der an den christologischen Begriff der Inkarnation GA Bd. 2, 221; vgl. Bd. 8: Was heißt Denken? (Frankfurt a.M. 2002) 158; Bd. 9, a. a.O. [Anm. 122] 70: »äußerste Gegenposition« zu R. Carnap. 126 Heideggers Verdikt lautet: Alle Sprachphilosophie stellt nicht die eigentliche Frage; sie »hackt im Leeren herum.« GA Bd. 38: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache [1934] (Frankfurt a.M. 1998) 25. 127 Ebd. 168, 170. Konkretes Beispiel (ebd. 168 f.): »Die Lieblichkeit des Tals und das Drohen des Gebirges, […], das berechnete Rasen der Maschinen und die Härte des geschichtlichen Handelns […] – all das ist Sprache, gewinnt und verliert das Sein nur im Geschehnis der Sprache.« 128 GA Bd. 65: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (Frankfurt a.M. 21994) 499. 129 GA Bd. 8, a. a.O. [Anm. 125] S. 157; vgl. GA Bd. 4: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung [1936/37] (Frankfurt a.M. 1981) 38. 130 Beiträge, a. a.O. [Anm. 128] 499 f. 131 Ebd. 500 f. 132 Ebd. 502. 125

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erinnert, fällt nicht zufällig. Denn in und mit der Sprache wird dokumentiert, daß »die Götter« von der Erde verschwunden sind, zugleich aber in der Erinnerung bewahrt werden und ihre Wiederkunft erwartet wird. Stellvertretend ist es den Menschen aufgegeben, sich um das Sein zu sorgen und es zu hüten. Die Gefahr der »Entmenschung« bleibt allerdings bestehen.133 Erst nach längerem Schweigen tritt Heidegger mit dem Thema Sprache wieder an die Öffentlichkeit. Er will sie (auch mit neuen Publikationen) einsetzen, um »gegen das Rasen der technischen Welt eine Wende vorzubereiten«.134 Die Ansicht, die gewöhnliche Sprache sei die maßgebende, wird scharf zurückgewiesen135 und in eins damit die Auffassung, die Sprache erschöpfe sich darin, Mittel für eine Aussage von etwas zu dienen. Bei ihr ist vielmehr, wie in der Dichtung, auf das Gewicht der Worte zu achten.136 »Die Wörter sind keine Wörter und als diese dergleichen wie Eimer und Fässer, aus denen wir einen vorhandenen Inhalt schöpfen. Die Worte sind Brunnen, denen das Sagen nachgräbt, Brunnen, die je und je neu zu finden und zu graben sind, leicht verschüttbar, aber bisweilen auch unversehens quillend.«137 Damit werden alle Versuche der zeitgenössischen Sprachphilosophie, die Sprache wesentlich als System von Zeichen oder Bedeutungsträgern, gar als Werkzeug zu bestimmen, erneut abgelehnt.138 Auch Humboldts Auffassung der Sprache als energeia genügt Heidegger nicht.139 Die Bezeichnungen »Sprachphilosophie« oder »Philosophie des Wortes« weist er erneut zurück, weil sie suggerieren, die Sprache könne wie ein Objekt gedacht werden.140 Anders als in aller bisherigen Sprachtheorie heißt es jetzt, daß die Sprache spricht und nicht der Mensch. »Der Mensch spricht nur, indem er geschicklich der Sprache entspricht.«141 Er rückt in die »Frage nach der Wahrheit des Seins« ein und bringt sich so in ein »Verhältnis« zum Sein.142 Der Mensch kann nicht über die Sprache verfügen; sie kann nur vernommen werden. »Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und

Ebd. 510. Briefe an E. Heidegger vom 12. 8. 1952 und vom 28. 4. 1954. »Mein liebes Seelchen«. Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfriede 1915–1970 (München 2005) 281, 298. 135 Was heißt Denken? a. a.O. [Anm. 125] 122 f. 136 Ebd. 132 f., 140. 137 Ebd. 135. 138 Ebd. 157; vgl. GA Bd. 9, a. a.O. [Anm. 122] 326: »Die Sprache ist in ihrem Wesen nicht Äußerung eines Organismus, auch nicht Ausdruck eines Lebewesens. Sie läßt sich daher auch nie vom Zeichencharakter her, vielleicht nicht einmal aus dem Bedeutungscharakter wesensgerecht denken. Sprache ist lichtend-verbergende Ankunft des Seins selbst.« 139 Der Weg zur Sprache [1959]. In: GA Bd. 12: Unterwegs zur Sprache (Frankfurt a.M. 1985) 238 f. Ansonsten wird Humboldt wegen manch »tiefdunkler Blicke in das Wesen der Sprache« sehr bewundert. Ebd. 256. 140 Vom Wesen der Sprache [1939]. GA 85 (Frankfurt a.M. 1999) 51, 57. 141 Der Satz vom Grund [1957]. GA Bd. 10 (Frankfurt a.M. 1997) 143. 142 Vom Wesen der Sprache, a. a.O. [Anm. 140] 65, 215. 133 134

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Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung. Ihr Wachen ist das Vollbringen der Offenbarkeit des Seins, insofern sie diese durch ihr Sagen zur Sprache bringen und in der Sprache aufbewahren.«143 So kreist ein großer Teil von Heideggers spätem Denken um die Begriffskomplexe Mensch, Sein und Sprache. Das Sein steht nicht in der Verfügung des Menschen, aber dieser ist der »Hirt des Seins«.144 Zugänglich ist das Sein durch die Sprache. Sie, zumal die dichterische, erschließt dem Menschen die verhüllte und verstellte Welt: »Deshalb nimmt die Dichtung niemals die Sprache als einen vorhandenen Werkstoff auf, sondern die Dichtung selbst ermöglicht erst die Sprache, Dichtung ist die Ursprache eines geschichtlichen Volkes.«145 Aber auch dies genügt Heidegger nicht immer. Am ehesten findet er das Wesen der Sprache in einer Verbindung von Dichten und Denken; es liegt dann nicht in der Aus-sage, sondern im einfachen »Sagen«, dem bloßen Hinweisen, in dem etwas zur Erscheinung gebracht wird, und dies sich zeigt. Dem jeweiligen Sprechen geht das Hören auf die Sprache (als »Vernehmen und Vorstellen«) voraus. Das Sagen schließt das (bedeutungsvolle) Schweigen ein. »Die Sprache spricht, indem sie sagt, d. h. zeigt.«146 Heideggers bohrendes Nachdenken über die Sprache fand zwar keine direkten Nachfolger, ein gewisses Echo aber bei denjenigen Autoren, die sich gegen die Auffassung der Sprache als Zeichen und Instrument wandten.147 – Wenn Karl Jaspers die Sprache als »Offenbarwerden des Seins« bestimmt, so ist diese Definition das Ergebnis einer längeren Explikation, in der die Leistung der Sprache, aus einem bloßen Laut zum Bedeutungsträger zu werden, analysiert wird. Indem Wörter und Sätze etwas bedeuten, einen Sinn haben, distanzieren sie zugleich die bezeichneten Sachen vom Subjekt. Diese sind damit nicht mehr unmittelbar verfügbar; sie werden nur im Wort, »in einer Spaltung«, vermittelt. Andererseits dient die Sprache nicht nur zur Bezeichnung von Sachen, sondern ist auch »Ausdruck von Vollzügen, Erinnerung an sie, Anregung zu ihnen.« Sie legt, mit Humboldt gesprochen, eine geistige Welt zwischen das Subjekt und die Gegenstände.148 Hans-Georg Gadamer hat das Sprachdenken seines Lehrers Heidegger nicht weitergeführt, sondern eine Sprachtheorie im Rahmen der Hermeneutik des

143 Brief über den »Humanismus« [1946/47]. GA 9, a. a.O. [Anm. 122] 313; vgl. Brief an E. Heidegger vom 2. 2. 1945. Briefe, a. a.O. [Anm. 134] 232: »daß zumal die Sprache als die Behausung für ein neues Wohnen erwachsen wird.« Vgl. Unterwegs zur Sprache, a. a.O. [Anm. 139] 156: »Die Sprache ist das Haus des Seins.« Näher ausgeführt ebd. 255: »Haus des Seins ist die Sprache, weil sie als die Sage die Weise des Ereignisses ist.« 144 GA Bd. 9, 342 f. 145 GA Bd. 4, 43. 146 Der Weg zur Sprache, a. a.O. [Anm. 139]. GA 12, 188, 242 f., bes. 243; zu Schweigen vgl. schon GA 65, 78 f. 147 Friedrich Georg Jünger: Sprache und Denken (Frankfurt a.M. 1962) 34 f., 76. 148 K. Jaspers: Von der Wahrheit (München 1947) 396 f., 401 f., 404.

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geschichtlichen Verstehens ausgearbeitet.149 Die Ergebnisse der Anthropologie werden zwar insofern aufgenommen, als nur dem Menschen, nicht dem Tier, Sprache zugeschrieben wird. Der Mensch hat Welt und nicht (wie das Tier) Umwelt. Die Sprache setzt »Distanz des Sprechenden zur Sache« voraus.150 Aber Gadamer geht über die Anthropologie hinaus und leitet die Sprache aus der »Vollzugsform des Gesprächs« ab, »in welchem eine Sache zum Ausdruck kommt, die nicht nur meine und die meines Autors, sondern eine gemeinsame Sache ist,«151 so wie alles Verstehen aus dem Zusammentreffen zweier Pole zur »Horizontverschmelzung« besteht152 und nie nur im Nachvollzug oder Hineinversetzen des Lesers bzw. Hörers in die Seele seines Gegenübers bestehen kann. Vielmehr ist es zugleich »Auslegen«, Leistung sowohl des Interpreten wie des Textes.153 Sprachliche Verfaßtheit der Welt bedeutet, daß nicht die Welt in der Sprache vergegenständlicht wird, sondern daß Welt »immer schon« von Sprache »umschlossen« ist.154 Deshalb ist diese sprachliche Verfaßtheit nicht nur den Geisteswissenschaften eigen, sondern spielt in allem menschlichen Weltverhalten eine Rolle. Sie ist von »universeller ontologischer Bedeutung.« Durch die Sprache erweist sich die Welt als »verständlich«, und aus dieser »universal-ontologischen Struktur« folgt: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.«155 Wir sind an die Sprache gebunden, in der Philosophie wie auch in den Wissenschaften. So führen auch die Dinge mit uns »Gespräche«.156 Maurice Merleau-Ponty dagegen nimmt einige von Heideggers Begrifflichkeiten auf,157 geht aber ebenso auf Edmund Husserls Phänomenologie zurück und erweitert sie um eine Analyse des Leibes, die vor allem dazu dienen soll, die Subjekt-Objekt-Dichotomie, die in jeder Bewußtseins- oder Erkenntnistheorie virulent wird, zu vermeiden. Bereits der späte Husserl158 gebraucht Begriffe wie

H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode Tübingen 1960). Gesammelte Werke Bd. 1 (Tübingen 61999) dort 3. und letzter Teil: »Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache.« 150 Ebd. 447–449; vgl. Bd. 4, 285. Zu »Distanz« bereits M. Buber: Das Wort, das gesprochen wird, a. a.O. [Anm. 34] 133: Der Mensch ist aus einem »Zusammenwirken von Distanz und Beziehung zu verstehen.« 151 Ebd. Bd. 1, 392; vgl. 449. 152 Ebd. Bd. 1, 399, 401. 153 Ebd. Bd. 1, 391 f. 154 Ebd. Bd. 1, 454; vgl. ebd. 453: »In der Sprache stellt sich die Welt dar.« 155 Ebd. Bd. 1, 478. 156 Ebd. Bd. 1, 20; vgl. 81. 157 So werden etwa Heideggers Begriffe »In-der-Welt-sein« und »Weltlichkeit der Welt« ausdrücklich aufgenommen in: M. Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception (Paris 1945) IX, XII; dt. Phänomenologie der Wahrnehmung (Berlin 1965) 11, 14. 158 Beim frühen Husserl wird die Sprache nicht eigens thematisiert, wohl aber der Begriff des Zeichens, Sprechen und Hören sowie die Idee einer reinen Grammatik. E. Husserl: Logische Untersuchungen Bd. 2/I. Husserliana Bd. 19/I (The Hague etc. 1984) 30–32, 39–41, 302 ff. Dies wurde in der Sprachphilosophie verschiedentlich aufgenommen. 149

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»Sprachleib« und »sprachliche Verleiblichung«; ihm geht es dabei aber vor allem darum zu zeigen, daß uns, der menschheitlichen Sprachgemeinschaft, die Welt als ganze gegeben und verständlich ist. »Alles hat seinen Namen bzw. ist nennbar in einem weitesten Sinne, d. h. sprachlich ausdrückbar.«159 MerleauPonty dagegen teilt mit dem frühen Heidegger das Interesse an der lebendigen Rede, an der »Spontaneität« der »gesprochenen Sprache«;160 eine »reine Sprache« ist ein »Hirngespinst«.161 Merleau-Ponty geht aber noch weiter. Die Sprache besteht für ihn nicht aus möglichst adäquaten Zeichen für Tatsachen oder universalen grammatischen Strukturen, sondern sie ist Mittel eines »umfassenden Ausdruckswillens« des jeweils Sprechenden, der darin über die institutionalisierte Sprache hinausgeht.162 Zudem kommt der Sprache und vor allem dem Benennen, ähnlich wie bei H. Lipps u.a., eine »beschließende« Funktion zu (»l’apparition du mot qui la conclut«).163 Die Sprache setzt das Denken nicht voraus, sondern dieses sucht in ihr seine »Vollendung« (achèvement). Der Gedanke drängt zur Formulierung: »Ainsi, la parole, chez celui qui parle, ne traduit pas une pensée déjà faite, mais l’accomplit.«164 »Il y a donc […] une pensée dans la parole.«165 Deshalb kann die Sprache nicht das Zeichen von etwas anderem oder die »Hülle oder Umkleidung des Denkens« (»l’enveloppe et le vêtement de la pensée«) genannt werden, sondern die »äußere Existenz des Sinnes«.166 Zwar sind Wortschatz und Grammatik bereits vorgegeben; aber die primäre Funktion der Sprache besteht darin, Ausdruck (»expression«) zu sein: »Die Sprache ist Geste, ihre Bedeutung ist eine Welt.«167 Worte und Gebärden sind aber nicht wie Zeichen Ausdruck von etwas anderem (es sei denn, daß sie ausdrücken, wie das Subjekt in der Welt Stellung bezieht168), sondern sind der Ausdruck und Sinn selbst. »Die Kommunikation, das Verstehen von Gesten, gründet sich auf die wechselseitige Entsprechung meiner Intentionen und der Gebärden des Anderen […]. Dann ist es, als wohnten seine Intentionen meinem Leibe inne und die meinigen seinem Leibe.«169 Merleau-Ponty spricht deshalb von einem Wun159 E. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Beilage III [1936/39]. Husserliana Bd. 6 (The Hague 1954) 369 f. 160 M. Merleau-Ponty: Signes (Paris 1960) 121; dt. Zeichen (Hamburg 2007) 136. 161 Ders.: La prose du monde (Paris 1969), dt.: Die Prosa der Welt (München 1984) 45. 162 Ebd. (dt.) 61, 109, 118. 163 Ders.: Phénoménologie de la perception, a. a.O. [Anm. 157] 206, dt. 210. Vgl. die Parallele bei Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? [1947]. Gesammelte Werke. Schriften zur Literatur, Bd. 2 (Reinbek bei Hamburg 1986) bes. 26: »Sprechen ist handeln: jedes Ding, das man benennt, ist nicht mehr ganz und gar dasselbe, es hat seine Unschuld verloren […]. Der engagierte Schriftsteller weiß, […], daß Enthüllen Verändern ist und daß man nur enthüllen kann, wenn man verändern will.« 164 Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, ebd. 207, dt. 211. 165 Ebd. 209, dt. 213. 166 Ebd. 212, dt. 216. 167 Ebd. 218, dt. 214. 168 Ebd. 225, dt. 229. 169 Ebd. 215, dt. 219.

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der (»miracle«), das sich in der Sprache vollzieht, weil sie nicht in ihrem physiologischen oder gedanklichem Bestandteil allein besteht, sondern nur beide zusammen Träger der Bedeutung sind und diese an den Anderen kommunizieren (»vers autrui ou vers sa propre pensée à travers son corps et sa parole«).170 Noch stärker als Merleau-Ponty bemüht sich Emmanuel Levinas, die ethische Dimension der Sprache aufzuzeigen. Er benutzt dazu den Terminus ›Sagen‹ (dire), weniger ›Sprache‹. Eine Aussage als etwas, das einmal »gesagt« ist, geht immer zurück auf ein noch nicht fixiertes Sagen, das sich an den Anderen richtet und Verantwortung für ihn übernimmt. Levinas geht es um ein »Dire sans Dit«, um das »Dire comme exposition à l’Autre«. Im »Sagen« vollzieht sich eine Beziehung zum Nächsten; das »Sagen für den Anderen« ist nicht nur ein Antworten auf ihn, sondern bedeutet zugleich ein »Bürgen für den Anderen« (»que dire, c’est répondre d’autrui«).171

VI. Die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts sieht in der Sprache das den Menschen gegenüber dem Tier auszeichnende Moment, geht aber nicht selten über die rein anthropologischen Bestimmungen hinaus. So erkennt Max Scheler im Wort, das im Unterschied zum bloßen Zeichen eine ungeteilte Einheit von Laut und Sinn ist, das »Urphänomen« der Sprache, das auf keine besondere Fähigkeit des Organismus zurückgeführt werden kann.172 Nach Arnold Gehlen dagegen ist die Sprache in »sensomotorischen«, d. h. »vorintellektuellen« Wurzeln, nämlich im Rufen und in Lautgesten verankert. 173 Geht der Mensch aber zum Wort über, so vertritt dieses den Gegenstand und seine Wahrnehmung; diese werden »beliebig reproduzierbar« und entlasten »von der unmittelbaren Gegenwart der Dinge.« Man kann nun über sie verfügen, an ihnen arbeiten und eine »künstliche, selbstentworfene« Sphäre bilden, die zwischen sich und die Welt eine Distanz legt. Erst die Sprache »schafft aus diesem Material entlastete, bewegliche Bilder«, die erinnert werden können und wiederholbar sind; sie gibt weder die äußeren Dinge noch die inneren Vorstellungen exakt wieder, sondern schafft aus beidem »eine Ebene, nämlich ihre eigene.«174

170 Ebd. 226, dt. 230. Vgl. Regula Giuliani-Tagmann: Sprache und Erfahrung in den Schriften von Maurice Merleau-Ponty (Bern etc. 1983). 171 E. Levinas: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence (La Haye 1974) 58–60, 63; dt. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (Freiburg, München 1992) 110–115, 116. 172 M. Scheler: Zur Idee des Menschen [1915]. Gesammelte Werke Bd. 3 (Bern 1955) 180– 183. 173 A. Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (7Bonn 1962) 239. 174 Ebd. 242, 254, 257. Kritisch gegen Gehlen hat Theodor Litt eingewandt, daß das Wesen der Sprache nicht schon in der Physis des Menschen angelegt gefunden werden könnten. Es sei eine neue Leistung des Geistes, nicht nur sinnvoll zu sprechen, sondern auch über die Sprache

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Auch Helmuth Plessner geht es um die Vermittlung zwischen dem Inneren des Menschen und der Außenwelt. Die Sprache des Menschen als eines exzentrischen Lebewesens ist neben der Gestik, Mimik, Haltung etc. nur eine,175 allerdings eine hervorgehobene Weise dieser Vermittlung. Sie ist »eine Expression in zweiter Potenz« insofern, als sie das Innere des Menschen ausdrückt und dies wiederum in (sprachlichen) Ausdrücken leistet.176 Die Kommunikationsformen der Tiere als zentrische Lebewesen sind keine Sprache; denn es fehlt ihnen die »Vermittlung durch Sachen.« Beruht schon das Erfinden von Werkzeugen auf einer »Selbstdistanz des Menschen zu seinem Außen«,177 d. h. auf seiner »Exzentrizität«, so in weit höherem Maß das Sprechen: »Versachlichen kann nur ein sprachmäßiges Lebewesen.«178 Wird die Sprache nur als Zeichen verstanden, gibt es keine Beziehung zwischen Laut und Bedeutung. Versteht man sie aber als Ausdruck von Affekten oder Erregungen, gibt es diese Beziehung durchaus, und eine gewisse »psychische Erregungskomponente« ist immer »mit im Spiel«, wenn etwas zum Ausdruck in Worten drängt.179 Das Besondere an der Verbalisierung ist, daß sie einerseits solche Erregungen nicht völlig erfassen kann, sich immer »der Schatten des Unsagbaren« über sie legt, sie andererseits aber auf Worte angewiesen ist und sich dem »Kontrastmittel der Sprache« erst verdankt.180 Während in den bisher behandelten Sprachphilosophien in der Regel von der Gleichartigkeit der Sprachen ausgegangen wird, nehmen andere Forscher eben die Verschiedenheit der Sprachen zum Anlaß für weitreichende Schlußfolgerungen. Wie kaum ein anderer kann sich Leo Weisgerber auf W. von Humboldt berufen, wenn er die Sprache, zuerst die Muttersprache,181 dann die Sprache einer jeden Sprachgemeinschaft, als »Kraft« und »Energeia« bezeichnet, mit der der Mensch nicht einfach die äußere Welt aufnimmt, sondern sie schafft, umschafft, erschließt und gestaltet, in der die Sprache sich als »konstitutiver Faktor der Geschichte« zeigt.182 Die Sprache erweist ihre Kraft darin, daß sie auf die Welt

und das Denken etc. zu reflektieren und zu sprechen. So komme es in der Sprache zu einer »Selbstaufstufung des Geistes«. Th. Litt: Mensch und Welt (Heidelberg 21961) 283–286, 219. 175 H. Plessner: Die Einheit der Sinne [1923]. Gesammelte Schriften Bd. 3 (Frankfurt a.M. 1980) 211. 176 Ders.: Die Stufen des Organischen und der Mensch (Berlin, New York 1928, 31975) 340. 177 Ders.. Zur Anthropologie der Sprache [1975]. Gesammelte Schriften Bd. 8 (Frankfurt a.M. 1983) 405 f. 178 Ders.: Der Mensch als Lebewesen [1967]. Gesammelte Schriften Bd. 7 (Frankfurt a.M. 1983) 316. 179 Ders.: Die Einheit der Sinne, a. a.O. [Anm. 175] 244 f. 180 Ders.: Der Mensch als Lebewesen, a. a.O. [Anm. 178] 316. 181 L. Weisgerber: Muttersprache und Geistesbildung (Göttingen 1929) 125: Die Muttersprache ermöglicht nicht das Denken, »aber daß wir so denken, wie wir es tun, das kann nur von der Muttersprache aus verstanden werden.« 182 Ders.: Von den Kräften der deutschen Sprache, Bd. 3: Die sprachliche Gestaltung der

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sowohl direkt als auch indirekt (über sprachlich bereits vermittelte Welten) einwirkt, nicht zuletzt auch auf andere Sprachwelten.183 Die These von der sprachlichen Prägung des jeweiligen Weltbilds erhielt einen großen Aufschwung, als man bei der Erforschung amerikanischer Indianersprachen grammatische Besonderheiten (z. B. das Fehlen des Futurs) entdeckte und von da aus auf andere Zeitvorstellungen als in den indoeuropäischen Sprachen schloß.184 Diese ›Relativitätstheorie der Sprache‹, die auf breite Zustimmung und ebenso vehemente Kritik stieß,185 besagt, daß die Sprachen und ihre Besonderheiten auf Weltansichten einwirken können, diese aber nicht direkt aus der sprachlichen Struktur abzuleiten sind. Diese Theorie beieinflußte auch die marxistische Sprachtheorie, in der Fragen der allgemeinen Sprachphilosophie sonst eher am Rande standen,186 wenn auch anerkannt wurde, daß die Sprache nicht ein Phänomen des ideologischen Überbau ist, da sie nicht von einer Klasse, sondern von einem ganzen Volk gesprochen wird.187 Adam Schaff nahm dann die Forschungen von Whorf zum Anlaß, der Sprache, die zwar ein durch und durch gesellschaftliches Phänomen sei, auch schöpferische Möglichkeiten zuzuschreiben.188

VII. Sprachphilosophen zitieren gern den Spruch des Aristoteles, daß der Menschen ein sprechendes bzw. das eine Sprache und einen Logos besitzendes Lebewesen sei. Darüber wird eine andere Aristoteles-Aussage übersehen, die nämlich, daß der Mensch ein politisches Lebewesen sei. Soll man daraus schließen, daß die Sprache deshalb bevorzugt wurde, weil man die Frage nach dem politisch-praktischen Leben des Menschen ausblendete? In dieser Schärfe dürfte das nicht zu

Welt (Düsseldorf 31962) 64 f.; dass. Bd. 4: Die geschichtliche Kraft der deutschen Sprache (Düsseldorf 21959) 14. 183 Ders.: Vier Schauplätze des Wortens der Welt. In: Erkenntnis und Verantwortung. Festschrift für Theodor Litt, hg. von Josef Derbolav und Friedhelm Nicolin (Düsseldorf 1960) 11–24, bes. 28; vgl. Bernhard Sylla: Hermeneutik der langue. Weisgerber, Heidegger und die Sprachphilosophie nach Humboldt (Würzburg 2009); der Problematik der Humboldt-Rezeption ebd. 114–135, bes. 125: »halbierter Humboldt.« 184 Benjamin L. Whorf: Language, Thought, and Reality (New York 1956), dt. Sprache, Denken, Wirklichkeit (Reinbek bei Hamburg 1963) bes. 20. 185 Vgl. Iwar Werlen: Sprache, Mensch und Welt. Geschichte und Bedeutung des Prinzips der sprachlichen Relativität (Darmstadt 1989); H. Gipper: Gibt es sprachliches Relativitätsprinzip? (Stuttgart 1972) 77 f. 186 Ausnahmen: Lev S. Vygotskij (Wygotski): Denken und Sprechen [1934] (Berlin 1964) und Michail Bachtin: Marxism and the Philosophy of Language [russ.] (Leningrad 1929), engl. (Cambridge, Mass. 1986). 187 Jozef Stalin: Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft [1950] (München 1972) 24 f. 188 A. Schaff: Sprache und Erkenntnis und Essays über die Philosophie der Sprache [1964– 68] (Reinbek bei Hamburg 1974) 170.

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bejahen sein. Aber es ist bezeichnend, daß sich unter Sprachphilosophen selbst oft das Bedürfnis meldet, über ihre Disziplin hinauszugehen und im normativen Anspruch der Sprache189 den Ausgangspunkt für weiterreichende Problemlösungen zu sehen (vorausgesetzt, daß die Elemente der Sprache nicht nur als Zeichen für beliebige Inhalte begriffen werden190). Häufig wollen Sprachphilosophen nicht nur auch Sprachphilosophie betreiben, sondern von ihr her vieles andere behandeln, mindestens das Problem der Erkenntnis lösen, dann aber auch Fragen der praktischen Philosophie.191 Viele Sprachanalytiker versuchen ja, durch Restriktion des Sprechens metaphysische Probleme oder wenigstens alle Vorurteile zu beseitigen. Andere sehen in einem vernünftigen Sprechen den einzig sicheren Weg im unsicheren Terrain der Philosophie. Durch exaktes Sprechen und ideales Kommunizieren allein werden aber, wie gerade auch die Vielzahl der Stimmen im 20. Jahrhundert dokumentiert, anstehende Probleme nicht zum Verschwinden gebracht, sondern nur vertagt. Hellsichtig notierte Wittgenstein »Der Trieb zum Mystischen kommt von der Unbefriedigtheit unserer Wünsche durch die Wissenschaft. Wir fühlen, daß selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unser Problem noch gar nicht berührt ist. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.«192 Auch der Diskussion über die Tragweite des sprachlichen Apriori und die Hintergehbarkeit der Sprache193 liegt ja die Einsicht zugrunde, »daß Sprachphilosophie, recht verstanden, Grundlegung der Philosophie ist.«194 So ist es

189 oder der aus der dem Miteinander-Sprechen erwachsenden Kommunikation: vgl. Jürgen Habermas: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: J. Habermas / Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? (Frankfurt a.M. 1971) 101–141, bes. 140. 190 Vgl. Theodor W. Adorno: Thesen über die Sprache des Philosophen. Gesammelte Schriften Bd. 1 (Frankfurt a.M. 1973) 366–371, bes. 366 f.: »[…] und die Worte sind nie bloß Zeichen des unter ihnen Gedachten, sondern in die Worte bricht Geschichte ein, bildet deren Wahrheitscharaktere, der Anteil von Geschichte am Wort bestimmt die Wahl jeden Wortes schlechthin, weil Geschichte und Wahrheit im Worte zusammentreffen.« 191 Ein solcher Impetus liegt u.a. dem Werk von Bruno Liebrucks: Sprache und Bewußtsein, 7 Bde. (Frankfurt a.M. 1964–79) zugrunde. Vgl. z. B. Bd. 1, 3: »Hier wird keine Sprachphilosophie intendiert, sondern eine Philosophie, die von der Sprache herkommt«, weil die Sprache »Ausgangspunkt und Ziel alles menschlichen Verhaltens« ist. 192 L. Wittgenstein: Tagebuch-Eintrag vom 25. 5. 15. Schriften [1], a. a.O. [Anm. 71] 142. 193 Vgl. Karl Otto Apel: Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico. In: Archiv für Begriffsgeschichte 8 (1963) 21–66, bes. 26 f.; Kuno Lorenz / Jürgen Mittelstraß: Die Hintergehbarkeit der Sprache. In: Kant-Studien 58 (1967) 187–208. 194 K. Lorenz / J. Mitelstraß, ebd. 203. Während Apel den Bezug zur natürlichen Sprache für unumgänglich und jedwede Kommunikation in einer Kalkülsprache für unmöglich hält (Sprache als Thema und Medium der transzendentalen Reflexion. In: ders.: Transformation der Philosophie Bd. 2 (Frankfurt a.M. 1973) 311–329, zit. 319, argumentieren Lorenz und Mittelstraß, daß das Sprachvermögen es durchaus erlaube, die Sprachgebräuche kritisch zu untersuchen und insbes. eine Wissenschaftssprache rational zu konstruieren (ebd. 204). Zum Thema vgl. auch: H. Gipper: Das Sprachapriori. Sprache als Voraussetzung menschlichen Denkens und Erkennens

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verständlich, wenn Richard Rorty folgert, in der gegenwärtigen Sprachphilosophie lebe die »Nostalgie von der Philosophie als einer architektonischen und allumfassenden Disziplin« weiter.195 Zwar ist es nach wie vor nicht ausgemacht, warum die Sprache einen so eminenten Stellenwert im 20. Jahrhundert bekommen hat. Aber sicher ist der Verdacht nicht ganz abwegig, daß ›Sprache‹ als ein Substitut für andere Grundbegriffe fungiert. War für Descartes durch das cogito das unbezweifelbare Fundament des Denkens gelegt, so ist es jetzt gelegentlich die Sprache, die, da sie eine syntaktisch-semantische Struktur aufweist, einen verläßlichen Zugang zur Wirklichkeit verschaffen soll, einen Zugang, den kein böser Dämon verderben kann.196 Ohne das Gewicht der Sprachphilosophie im 20. Jahrhundert mindern zu wollen, liegt doch in ihrer Überforderung die Gefahr, daß man durch unbefriedigende Antworten leicht enttäuscht wird, wie immer, wenn man den schlechthinnigen Schlüssel zur Welt gefunden zu haben glaubt. Wohl kaum wird heute noch der Anspruch erhoben, einen einheitlichen Begriff von Sprache zu kreieren. Dagegen spricht schon die Vielfalt der Aspekte in der gegenwärtigen Diskussion.197 Gegenwärtig gibt es aber wenigstens ernsthafte Versuche zur Vermittlung zwischen den sich früher ausschließenden Richtungen, etwa den Vertretern der natürlichen und der idealen Sprache: »Das letztliche Ziel des Sprechens kann nicht sprachliche Richtigkeit sein, sondern […] gelungene Kommunikation.«198

(Stuttgart-Bad Cannstatt 1987); E. Holenstein: Von der Hintergehbarkeit der Sprache (Frankfurt a.M. 1980): »kognitive Unterlagen der Sprache« (Untertitel). 195 R. Rorty: Philosophy and the Mirror of Nature (Princeton, N. J. 1979), dt. Der Spiegel der Natur (Frankfurt a.M. 1981) 292. 196 Hector-Neri Castañeda: Sprache und Erfahrung. Texte zu einer neuen Ontologie (Frankfurt a.M. 1982) 30 f. 197 Wird die Sprache etwa als Information thematisiert, so wird zugleich zugestanden, daß dies nur einen Teilaspekt der Sprache ausmacht. Carl-Friedrich von Weizsäcker: Sprache als Information [1959]. In: ders.: Die Einheit der Natur (München 1971) 39–60. 198 Donald Davidson: Dialektik und Dialog (Frankfurt a.M. 1993) 20.

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I. Wortbedeutung und Vorgeschichte Im klassischen Latein bedeutet ›structura‹ in erster Linie das Gefüge eines Bauwerks, insbesondere die Bauart von Mauern. Stammesverwandt sind die Verben ›struere‹ – mit der Partizipform ›structum‹ – und verstärkt ›construere‹, die ebenfalls generell für ›bauen‹ und speziell für das Aneinanderfügen von Bauelementen stehen. Die gleiche architektonische Metaphorik taucht auch im modernen Sprachgebrauch wieder auf, insbesondere dort, wo ein ›Strukturalismus‹ mit einem ›Konstruktivismus‹ verbunden wird, aber auch in der entgegengesetzten Variante der ›Dekonstruktion‹. Vom Ursprungsbereich des Bauens ist schon bei den Römern der Ausdruck ›structura‹ auf andere Gebiete übertragen und damit verallgemeinert worden. So bezeichnet ›structura‹ in der Rhetorik die Bauform der Rede, in der Poetik die Fügung eines Gedichts, in der Medizin den Knochenbau, in der Natur die Erdschichtung und den Pflanzenbau. Im christlichen Mittelalter kann schließlich ›structura‹ in Entsprechung zu dem als ›constructor‹ aufgefaßten Schöpfergott für das Weltgebäude insgesamt stehen.1 In der Neuzeit behält der Strukturbegriff am Rande noch seine antiken und mittelalterlichen Verwendungsweisen. Zentral wird aber, daß der Term »Struktur« nun allgemein für komplexe Gebilde Verwendung findet, die sich aus mehreren Elementen oder Einzelteilen zusammensetzen. Bedeutsam im Hinblick auf den engeren Gebrauch des Terms im 20. Jahrhundert ist dabei, daß sich eine Verschiebung von einem mechanistischen Strukturkonzept hin zu einem organizistischen abzeichnet. Wie die mechanistische Physik der frühen Neuzeit die Welt insgesamt als eine ›große Maschine‹ auffaßt, deren Teile wie das Räderwerk einer Uhr ineinandergreifen, so wird die Uhr bei Leibniz und Wolff nun auch zum Prototyp einer Struktur. Gleichzeitig rückt ›Struktur‹ damit zu einem methodischen Leitbegriff auf. Da es uns leicht fällt, die Wirkung einer Maschine vorherzusagen, wenn wir deren Struktur kennen, wie Leibniz schreibt, soll sich umgekehrt auch aus Experimenten die innere Struktur von Körpern ableiten lassen, so daß in der Körperwelt Struktur- und Naturerkenntnis zusammenfallen2 – ein Modell, das Leibniz

1 Vgl. K. E. Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, s.v. ›structura‹, (Darmstadt 1983) 2825 f.; Matthias Kroß: Art. ›Struktur I‹. In: HWPh Bd. 10 (Basel 1998) 303 f. 2 Gottfried Wilhelm Leibniz: Methodus physica. Characteristica Emendanda. Societas sive ordo. (1676). Akademie-Ausgabe Bd.VI/3 (Berlin 1981) 456.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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auch auf die Ethik und Politik überträgt, wenn er sich von diesen Wissenschaften die Aufdeckung der unser mitmenschliches Glück bestimmenden Strukturen erhofft.3 Weil jedoch Leibniz eine echte Einheit den Monaden vorbehält, bleiben für ihn die Strukturen wesentlich Aggregate, d. h. Zusammenfügungen von Teileinheiten nach systemischen Gesetzen, ohne eine wirklich innere Verbindung.4 Was in der Folge einem organizistischen Strukturbegriff zum Durchbruch verhilft, ist die primäre Bezugnahme auf höhere Lebewesen mit ihren organisch gegliederten Wahrnehmungs- und Empfindungsapparaten und der inneren, nur innerhalb von Wechselwirkungen bestehenden Differenziertheit von Organen überhaupt. Eindringlich arbeitet Kant die Wesenszüge einer »organischen Struktur« heraus, die »nicht mechanisch, sondern [nur] teleologisch« zu verstehen sei.5 Wieder zieht Kant die Uhr als Prototyp einer mechanischen Erklärung heran, um nun von ihr den lebendigen Organismus »als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen«6 abzuheben. Eine Uhr besteht aus vorfabrizierten Teilen, die zusammen zwar auch ein Ganzes abgeben, bei dem aber einfach ein Teil die Bewegung an einen anderen weitergibt, womit wir es mit rein linearen Kausalketten zu tun haben. Nicht so beim Organismus. Hier bestehen die Teile nicht im voraus, sondern bringen sich wechselseitig hervor. Anders als eine Maschine hat also ein »organisiertes Wesen« nicht »lediglich bewegende Kraft; sondern es besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die es den Materien mitteilt«.7 Die Kausalität ist darum in einem Organismus eine in sich zurücklaufende; er ist als Ganzes und in der Bezogenheit seiner Teile sowohl Ursache als auch Wirkung seiner selbst, 8 und eben das macht die Eigentümlichkeit seiner Struktur aus. Wie Kant hier klar erkennt, ist mit einem solchen Strukturbegriff »eine ganz andere Ordnung der Dinge, als die eines bloßen Mechanismus der Natur«9 erfaßt, auch wenn Kant die damit ins Spiel gebrachte teleologische Erklärungsweise nur als ein heuristisches regulatives Prinzip verstanden wissen will und sein an der mechanistischen Physik orientiertes System der Verstandesbegriffe trotz dieser Neuentdeckung unverändert weiterbestehen läßt, solche organische Strukturen also nicht wirklich mit neuen Kategorien einzufangen vermag – was über Kant hinaus letztlich auch von Goethe und der romantischen Naturphilosophie gilt.

3 G. W. Leibniz: Elementa iuris naturalis (1670/71). Akademie-Ausgabe Bd. VI/1 (Darmstadt 1930) 459. 4 Vgl. G. W. Leibniz: Brief an I. Schrader (1695). Akademieausgabe Bd. I/11 (Berlin 1982) 767; ders.: Summa hypotheseos physicae novae. Akademie-Ausgabe Bd.VI/2 (Belin 1966) 327. 5 Immanuel Kant: Handschriftlicher Nachlaß. Bd. 1. Reflexionen zur Physik und Chemie. Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe Bd. 14 (Berlin 1925) Nr. 45, 366 f. 6 I. Kant: Kritik der Urteilskraft, a. a.O. [Anm. 5], Bd. 5 (Berlin 1913) § 65, 374. 7 Ebd. 8 Ebd. 373. 9 Ebd. § 66, 377.

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Innerhalb der sich im späten 19. Jahrhundert entwickelnden Geisteswissenschaften versucht vor allem Dilthey den Strukturbegriff zu einem methodischen Leitbegriff zu erheben. Dabei soll nun insbesondere die als »Strukturlehre« des Seelenlebens verstandene »beschreibende Psychologie« die »Grundlage der Geisteswissenschaften« abgeben.10 Was bei Hegel »objektiver Geist« hieß und metaphysisch von einer absoluten Vernunft her verstanden werden sollte, wird »auf den Strukturzusammenhang der Lebenseinheiten, der sich in den Gemeinschaften fortsetzt«, 11 zurückgeführt. Einer als »Weltanschauungslehre« verstandenen »Kritik der historischen Vernunft« wird unterstellt, daß sich »regelmäßig dieselbe Struktur« aufweisen lasse, nämlich ein Weltbild, das sowohl die Antworten auf die Sinnfragen der Welt generiere als auch die obersten Regeln der Lebensführung.12

II. Strukturbegriff und Strukturdenken in der Philosophie des 20. Jahrhunderts In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gewinnt der Strukturbegriff unter dem Einfluß Diltheys sowohl in den sich neu formierenden Geisteswissenschaften als auch in der Philosophie eine zentrale Stellung. Seine allgemeine Verbreitung führt allerdings auch dazu, daß der Term weitgehend seine Spezifität verliert und nun für ein Gefüge oder Gebilde jeder Art steht, sofern es als ein gegliedertes Ganzes herausgehoben und analysiert werden kann. In der Philosophie wird »Struktur« zum Ersatzwort für alle Formen von Wesensbestimmtheit und Wesensbestimmung, insbesondere dort, wo diese an neu eingeführte Grundbegriffe geknüpft wird. Exemplarisch läßt sich das bei Heidegger zeigen, wo die »Analyse der Struktur der Seinsfrage«13 die »Struktur der Existenz«14 und hier das »In-der-Welt-sein« als »eine ursprünglich und ständig ganze Struktur«15 mit den »existenzialen Strukturen der Erschlossenheit«16 aufschließen soll – die Beispiele ließen sich vermehren. Aber schon Husserl hatte nach der »eigentümlichen Struktur«17 des Ich und den »Strukturen der SubjektiviWilhelm Dilthey: Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften (1905). Gesammelte Schriften, Bd. 7 (Stuttgart 1968) 17. 11 W. Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), a. a.O. [Anm. 10] 150. 12 W. Dilthey: Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen (1911), a. a.O. [Anm. 10] Bd. 8 (Stuttgart 1968) 82 f. 13 Martin Heidegger: Sein und Zeit (1927) § 4. Gesamtausgabe Bd. 2, Abteilung 1 (Frankfurt a.M. 1977) 19. 14 Ebd. § 4, 17. 15 Ebd. § 39, 240. 16 Ebd. § 34, 221. 17 Edmund Husserl: Erste Philosophie (1923/24). Teil 2. Husserliana. Gesammelte Werke, Bd. 8 (Den Haag 1959) 144 f. 10

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tät«18 und der »allgemeinen Bewußtseins-Struktur«19 gefragt. Bei Nicolai Hartmann geht es in seiner »Metaphysik der Erkenntnis« wesentlich darum, »dem Realen seine objektive Grund-Struktur abzugewinnen«,20 was die Unterscheidung von »Wesensstrukturen« und »Subjektstrukturen« bedingt.21 Auch für den frühen Wittgenstein steht »Struktur« für die von ihm angenommene Abbildbeziehung zwischen einer »Tatsache« und dem »Bild«, das wir uns von ihr machen. Der »Zusammenhang der Elemente des Bildes heiße seine Struktur und ihre Möglichkeit seine Form der Abbildung«.22 Die aufgeführten Beispiele zeigen, daß der Strukturbegriff in den Philosophien des frühen 20. Jahrhunderts eine zwar allseits verwendete Größe ist, die aber vage bleibt und in ihrer Funktion und Bedeutung jeweils kontextuell zu erschließen ist. Der Begriff selbst wird kaum reflektiert und konturiert, bleibt also gewissermaßen trotz oder gerade wegen seiner Omnipräsenz ein weißer Fleck. Ergiebiger sind darum in der hier verfolgten Perspektive Denker, bei denen der Strukturbegriff spezifiziert wird und eine genuine Verstehens- und Deutungsfunktion zugewiesen bekommt. Ein erster Ansatz läßt sich bei Karl Jaspers finden. Ähnlich wie Dilthey spricht Jaspers in seiner »Psychologie der Weltanschauungen« von einer »Struktur der Geistestypen«. Den »anschaulichen Ganzheiten der Weltanschauung« liegt jeweils eine »einheitliche Struktur« zugrunde, die, formelhaft gefaßt, das »Prinzip« dieses Typs genannt werden kann, und, auf ein Schlagwort gebracht, die »Idee« des Typus anzeigt. Geistestypen sind »keine ruhenden Ganzheiten«, ihnen wohnt vielmehr »Kraft« und »Bewegung« inne, und darum sind sie »in der Entfaltung zu zeigen«.23 Den gewichtigsten Beitrag zu einer umfassenden, im eigentlichen Sinn »strukturalen« Philosophie, die zugleich im Verbund mit den strukturalen Einzelwissenschaften steht und auch schon die Prinzipien für eine Auseinandersetzung mit den späteren radikalen Formen des französischen Strukturalismus enthält, hat jedoch Ernst Cassirer mit seiner Philosophie der symbolischen Formen geleistet. Der Strukturalismus Cassirers liegt nicht immer offen zutage, weil er statt »Struktur« mehrheitlich den Ausdruck »Form« und auch »Gestalt« benutzt; an wichtigen Stellen steht auch die verdeutlichende Zusammensetzung »Strukturform«.24 Die generell strukturalistische Ausrichtung wird jedoch sichtbar, wenn Cassirer im Anschluß an Aristoteles die »Form« als »Totalität der Gestaltung« faßt, die als »dynamische Form« das »Werden« bestimmt und ihm seinen Sinn Ebd. 164. E. Husserl: Ideen 1, § 92 (1913). Husserliana, Bd. 3/1 (Den Haag 1976) 211. 20 Nicolai Hartmann: Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (Berlin 1921) 154. 21 Ebd. 163. 22 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus (Frankfurt 1979) 2. 15. 23 Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen (München 61971) 284 f. 24 Vgl. E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen [im folgenden: PsF] Teil 2. Gesammelte Werke, hg. von Birgit Recki [im folgenden: ECW], Bd. 12 (Hamburg 2002) 13; PsF. Teil 3. ECW Bd. 13, 54. 18 19

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gibt.25 Und die besondere holistische und organismische Bedeutung des Strukturbegriffs wird eigens herausgestellt, wenn Cassirer schreibt: »Die Struktur wird nicht erkannt, sondern sie wird zerstört, wenn man sie in ein bloßes Aggregat, in eine ›Und-Verbindung‹ aufzulösen sucht.«26 Bei Cassirer zeigt sich, daß nicht jene die größten strukturalen Denker sind, die das Wort »Struktur« in einem vage bleibenden Sinn am häufigsten verwenden, sondern jene, die die mit dem Strukturbegriff im spezifischen Sinn verbundene Idee am genuinsten und umfassendsten entwickelt haben. Cassirers Philosophie versteht sich generell als eine »›Formenlehre‹ des Geistes«,27 die zu zeigen versucht, wie alle als »symbolische Formen« aufgefaßten Kulturbereiche – vom Mythos über Religion, Kunst, Wissenschaft, bis hin zur Technik und Wirtschaft – einem je besonderen »Formprinzip«28 unterstehen. Aufgabe der Philosophie muß es darum sein, jeden dieser Kulturbereiche »aus der Einheit einer bestimmten ›Strukturform‹ des Geistes verständlich«29 zu machen. Als Pendant zum Strukturbegriff spielt bei Cassirer auch der Begriff der Genese eine zentrale Rolle, weil die »Genesis der Grundformen der geistigen Kultur aus dem mythischen Bewußtsein«30 als der gemeinsamen Matrix aller sich in der Folge ausdifferenzierenden Kulturrichtungen im Mittelpunkt steht. Dabei wird jedoch der Begriff der Genese selbst wiederum in einem strukturalistischen Sinn differenziert und von einer »bloß genetischen« Verfahrensweise abgehoben, der es nur um kausale Herleitungszusammenhänge bestimmter Bewußtseinsphänomene unter Vernachlässigung der jeweiligen Strukturzusammenhänge geht.31 Die von Cassirer der modernen Psychologie zugeschriebene »Einsicht […], daß die genetischen Probleme niemals rein für sich, sondern nur in nächster Verknüpfung und in durchgängiger Korrelation mit den ›Strukturproblemen‹ ihre Lösung finden können«,32 nimmt eine Entwicklung vorweg, die im genetischen Strukturalismus Jean Piagets (siehe unten) ihre ausgeprägteste Form gefunden hat. Mit dem Prinzip, daß es »keine Gestalt ohne einen Prozeß der Gestaltung«33 geben kann, und der ihm entsprechenden Differenzierung zwischen einer forma formata und einer forma formans 34 hat Cassirer die Strukturen an die StruktuE. Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois u. a. [im folgenden: ECN], Bd. 1: Schriften zur Metaphysik (Hamburg 1995) 205. 26 E. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942). Formproblem und Kausalproblem. ECW Bd. 24 (Hamburg 2007) 455. 27 PsF Teil 1. ECW Bd. 11 (Hamburg 2001) VII. 28 Ebd. 9. 29 PsF Teil 2. ECW Bd. 12, a. a.O. [Anm. 24] 13. 30 Ebd. XI. 31 Ebd. XI, 13; PsF Teil 3. ECW Bd. 13, a. a.O. [Anm. 24] 54, 56. 32 PsF Teil 2. ECW Bd. 12, a. a.O. [Anm. 24] XI. 33 ECN Bd. 1, a. a.O. [Anm. 25] 209. 34 Ebd. 18. Vgl. R. L. Fetz: Forma formata – forma formans. Zur historischen Stellung und systematischen Bedeutung von Cassirers Metaphysik des Symbolischen. In: Lebendige Form. 25

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rierungskraft des sich zur Subjektivität entwickelnden Lebens zurückgebunden und sich damit von vornherein über jeden den »Tod des Subjekts« proklamierenden Strukturalismus erhoben. Schon 1910 hatte Cassirer mit Substanzbegriff und Funktionsbegriff35 den Weg von der traditionellen aristotelischen Logik zu den modernen mathematischen und physikalischen Theorien als Ersetzung eines primär an Dingen und Eigenschaften ausgerichteten Kategoriensystems durch Funktionsbegriffe gedeutet, die in unbedingter Korrelation zueinander stehen und so erst durch ihre Verknüpfung die erkannte Wirklichkeit konstituieren. Heinrich Rombach geht in Substanz, System, Struktur36 noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem er innerhalb der modernen Wissenschafts- und Philosophiegeschichte zwei epochale Denkformen unterscheidet, die des mechanistisch verstandenen Systems, innerhalb dessen die Teile immer noch als etwas substanzialistisch Vorliegendes gedacht werden, und die der organismisch konzipierten Struktur, deren Momente überhaupt erst durch ihre Beziehung untereinander und zum Ganzen entstehen.37 In seiner Strukturontologie hat Rombach später die verschiedenen »Strukturale« herauszuarbeiten versucht, die die »Verfassung«, »Dynamik« und »Genese« sowie die »Kombinatorik« einer Struktur charakterisieren.38 Der hermetisch-metaphorische Charakter dieses Versuchs hat jedoch weitgehend seine Rezeption in Philosophie und Wissenschaft verhindert. Innerhalb der Wissenschaftsphilosophie wurde in den siebziger Jahren im Anschluß an Th. S. Kuhns Theorie der »Paradigmenwechsel« und in Absetzung sowohl vom Logischen Empirismus als auch vom Kritischen Rationalismus von J. D. Sneed und W. Stegmüller eine ausdrücklich als »strukturalistisch«39 charakterisierte Auffassung von empirischen, insbesondere physikalischen Theorien entwickelt, die sich inzwischen auf den verschiedensten einzelwissenschaftlichen Gebieten und auch in der Philosophie als formaler Rahmen für die Theorienrekonstruktion vielfach bewährt hat. Dieser Auffassung zufolge werden empirische Theorien nicht als Satzsysteme, sondern als Gebilde gedeutet, deren »Kern« aus logischen und mathematischen Strukturen sowie den Grundbegriffen einer Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers nachgelassenen Manuskripten und Texten, hg. von R. L. Fetz und Sebastian Ullrich (Hamburg 2008) 15–33. 35 E. Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910). ECW (Hamburg 2000) Bd. 6. 36 H. Rombach: Substanz, System, Struktur, 2 Bde. (Freiburg 1965–1966). – Eine ähnliche Abfolge von drei Grundkonzeptionen postuliert auch J. Piaget: Biologie et connaissance. Essai sur les relations entre regulations organiques et les processus cognitifs (Paris 1967) 125–145, 183–189; dtsch.: Biologie und Erkenntnis. Über die Beziehungen zwischen organischen Regulationen und kognitiven Prozessen (Frankfurt 1974) 86–100, 129–134. 37 Vgl. H. Rombach: Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit (Freiburg, München 1971) 165 f. 38 Ebd. 39 Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 2 (Stuttgart 61979) 752.

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Theorie bestehen (sogenannter Non-statement view). Eine Theorie wird als ein geordnetes Paar gesehen, das aus dem Strukturkern als der logischen Komponente und den intendierten Anwendungen als der empirischen Komponente gebildet wird. Neben dem Strukturkern werden ferner Kernerweiterungen angenommen, die auf spezifische Anwendungsbereiche der Theorie abgestimmt sind; hier findet die Hypothesenbildung statt. Generell muß die reelle Bedeutung einer Theorie durch ihre erfolgreiche Anwendung in einem Basisbereich gesichert sein (»Paradigmatische Beispielsmenge«)40. Insgesamt handelt es sich um eine Form des Holismus, die sowohl die »normalwissenschaftliche« als auch die »revolutionäre« Wissenschaftsentwicklung im Sinne Kuhns zu deuten vermag, aber auch in einem tiefen Entsprechungsverhältnis zur individualgeschichtlichen Erkenntnisentwicklung steht, wie sie Piaget mit seinem strukturgenetischen Ansatz nachgezeichnet hat.41

III. Der Strukturalismus in den Wissenschaften Anders als der im klassischen Latein verankerte Terminus ›Struktur‹ ist ›Strukturalismus‹ eine Neuschöpfung des frühen 20. Jahrhunderts. Geprägt wurde der Ausdruck 1929 von dem Linguisten Roman Jakobson.42 Er steht generell für holistische Auffassungen, die bei komplexen Gebilden den Vorrang des Ganzen vor seinen Teilen behaupten. Eine ›Struktur‹ im Sinne des Strukturalismus besteht aus Elementen (die selbst wiederum Substrukturen sein können), die aus ihren internen Beziehungen zueinander und zum Ganzen (mit-)konstituiert sind. Strukturen sind als Transformationssysteme aufzufassen, deren Transformationen internen Regeln unterstellt sind, womit die Selbstregelung ein weiteres konstitutives Moment von Strukturen ist, wie besonders Piaget herausgestellt hat. Dieser allgemeine Strukturbegriff differenziert sich in den Einzelwissenschaften; bestimmend für seine Konturierung werden hier die – atomistischen, mechanistischen, rein funktionalistischen, oder historisierenden – a-holistischen Positionen, denen er entgegengesetzt wird.43

40 Vgl. W. Stegmüller: Theorie und Erfahrung, Bd. 2: Theorienstrukturen und Theoriendynamik (Berlin 21985). 41 Vgl. dazu R. L. Fetz: Histoire des sciences et épistémologie génétique. A propos des thèses de Kuhn et de leur »reconstruction logique« (Non Statement View). In: Archives de Psychologie 49 (1980) 201–214. 42 Vgl. R. Jakobson: Die Linguistik und ihr Verhältnis zu anderen Wissenschaften (1929). In: ders.: Aufsätze zur Linguistik und Poetik (Frankfurt, Berlin, Wien 1979) 150 f. 43 Vgl. Claude Lévi-Strauss: Anthropologie structurale (Paris 1958) 306; dtsch.: Strukturale Anthropologie (Frankfurt 1967) 301 f.; J. Piaget: Le structuralisme (Paris 1968) 5–16; dtsch.: Der Strukturalismus (Olten 1973) 7–18; dazu Jörn Albrecht: Europäischer Strukturalismus (Tübingen 1988) 182–205.

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Paradigmatischen Charakter für den Strukturalismus insgesamt erhielt die Linguistik. Grundgelegt wurde hier die strukturalistische Auffassung durch Ferdinand de Saussures Konzept einer »allgemeinen Linguistik«, das sich gegen die vorherrschende, einseitig historische Erklärung richtete und dieser »diachronischen« Sprachwissenschaft eine »synchronische« entgegensetzte, die die Sprache (langue) selbst vom Sprechen (parole) und den empirisch faßbaren Sprachäußerungen (langage) abhob und zum eigentlichen Gegenstand der Linguistik erklärte.44 Die Sprache wird als ein – relativ unbewußtes – System begriffen, das den einzelnen Sprachelementen aufgrund ihrer Position ihren Wert und ihre Funktion zuweist, so daß diese nicht einfach als eine Sammlung eigenständiger Einheiten definiert werden können. Dabei beruht die Zuordnung ihrer Elemente hauptsächlich auf Abgrenzungen, so daß die negativen und nicht die positiven Eigenschaften die im System bestimmenden sind. Da ein solches System weitgehend unbewußt funktioniert, resultiert für die Wissenschaft die Aufgabe, es durch ein theoretisches Modell ins Bewußtsein zu heben, wobei dieses im Idealfall durch einen logisch-mathematischen Formalismus repräsentiert wird, aber auch durch alltagssprachlich abgestützte Begriffe dargestellt werden kann. Diese Begriffe sind theoriegebunden und können nicht unmittelbar auf konkrete Beobachtungen bezogen werden, womit die Forderung des Positivismus außer Kraft gesetzt wird, nur solche Begriffe zuzulassen, die direkt oder indirekt auf Sinnesdaten beruhen. Entsprechend werden auch die fundamentalen wissenschaftlichen Aussagen nicht auf dem Wege induktiver Verallgemeinerung gewonnen, sondern als Hypothesen konstruiert, in die sich die Fakten eingliedern lassen müssen, damit die Theorie als valide gelten kann.45 Der linguistische Strukturalismus wurde vor allem in den dreißiger Jahren durch den sogenannten Prager Kreis gefördert, dem Roman Jakobson und Nikolai S. Trubetzkoy angehörten, die vor ihrer erzwungenen Übersiedlung nach Prag in Moskau zu den Exponenten des Russischen Formalismus gehört hatten, einer Literaturkonzeption, die in Abkehr von der Ausdrucksästhetik erstmals die formalen Systembedingungen literarischer Texte in den Vordergrund gerückt hatte.46 Bedingt durch die politischen Umstände, flüchtete Jakobson 1941 auf dem gleichen Frachter wie Cassirer in die USA.47 In der ersten Nummer der 1945 von Jakobson gegründeten Zeitschrift Word veröffentlichte Cassirer einen Beitrag über Structuralism in Modern Linguistics, in dem er den Strukturalismus als eine sich mehr und mehr auf allen Wissensgebieten durchsetzende

F. de Saussure: Cours de linguistique générale (Paris 41949); dtsch.: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (Berlin 32001). 45 Vgl. Günther Schiwy: Der französische Strukturalismus. Mode, Methode, Ideologie (Reinbek 1969) 38–45. 46 Vgl. dazu Jan M. Broekman: Strukturalismus. Moskau-Prag-Paris (Freiburg, München 1971). 47 Vgl. Thomas Meyer: Ernst Cassirer (Hamburg 2007) 232. 44

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allgemeine Denkrichtung beschrieb.48 In der gleichen Nummer publizierte auch der von Jakobson und Trubetzkoy zutiefst geprägte Claude Lévi-Strauss einen Beitrag, in dem er die strukturalistische Sprachwissenschaft zum methodischen Paradigma für die anderen Sozialwissenschaften und vor allem für seine eigenen Untersuchungen auf dem Gebiet der Ethnologie und Kulturanthropologie erhob.49 Lévi-Strauss zählt unbestritten zu den bedeutendsten und einflußreichsten Strukturalisten und gilt gemeinhin als der Vater des französischen Strukturalismus.50 Von der Phonologie Trubetzkoys übernahm er die Auffassung des Strukturalismus als eines »systematischen Universalismus«:51 in allen Kulturgebieten soll es letztlich die gleichen invarianten Strukturen geben. Diese Strukturen identifizierte Lévi-Strauss zunächst formal mit jenen der Phonologie und der Saussuresschen Linguistik; darüber hinaus suchte er sie in der Mathematik, speziell in algebraischen Netzstrukturen und Transformationsgruppen, um die von ihm in seinem ersten Werk untersuchten elementaren Verwandschaftsbeziehungen zu formalisieren. Dieses Ideal einer Algebraisierung der grundlegenden Strukturen hat er auch in der Folge nicht aufgegeben. Lévi-Strauss unterstellt, daß es eine unbewußte Tätigkeit des Geistes gibt, die den kulturellen Inhalten aller Art Formen aufzwingt – Formen, die »grundsätzlich die gleichen sind für alle alten und modernen, primitiven und zivilisierten Geistwesen«.52 Folglich muß es in der Forschung darum gehen, »die unbewußte Struktur ausfindig zu machen, die jeder Institution oder jeder Sitte zu Grunde liegt«,53

48 Vgl. E. Cassirer: Structuralism in Modern Linguistics (1945). ECW Bd. 24, a. a.O. [Anm. 26] 299–320, bes. 320. – Zu den Strukturalismen in den verschiedenen Einzelwissenschaften, von der Logik und Mathematik über Physik, Biologie und Psychologie bis hin zur Linguistik und den Sozialwissenschaften vgl. J. Piaget: Le structuralisme, a.a.O [Anm. 43]; dtsch.: Der Strukturalismus, a.a.O [Anm. 43] passim, sowie die entsprechenden Abschnitte im Historischen Wörterbuch der Philosophie: M. Kross [u. a.]: Art. ›Struktur I‹, a. a.O. [Anm. 1] 303–341; F. Mühlhölzer: Art. ›Strukturalismus‹. Ebd. 342–350. 49 C. Lévi-Strauss: L’analyse structurale en linguistique et en anthropologie. Jetzt in: ders.: Anthropologie structurale, a. a.O. [Anm. 43] 37–62; dtsch.: Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie. In: ders.: Strukturale Anthropologie, a. a.O. [Anm. 43] 43–67. 50 Umfassend zum französischen Strukturalismus G. Schiwy: Der französische Strukturalismus, a. a.O. [Anm. 45] und besonders François Dosse: Histoire du structuralisme. Volume 1: Le champ du signe, 1945–1966, vol. 2: Le chant du cygne, 1967 à nous jours (Paris 1991–1992); dtsch.: Geschichte des Strukturalismus, Bd. 1: Das Feld des Zeichens, 1945–1966. Bd. 2: Die Zeichen der Zeit, 1967–1991 (Hamburg 1996–1997). Dazu kritisch: Hans-Dieter Gondek: Die Aktualität des Strukturalismus. In: Philosophische Rundschau 45 (1998) 311–327. Zur Fortschreibung der Strukturalismusdebatte vgl. auch Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus? (Frankfurt 1983). 51 C. Lévi-Strauss: Anthropologie structurale, a. a.O. [Anm. 43] 41; dtsch.: Strukturale Anthropologie, a. a.O. [Anm. 43] 47. 52 Ebd. 28; dtsch. 35. 53 Ebd.

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womit man – wenn man die Analyse nur tief genug treibt – ein universelles Erklärungsprinzip erhält. »Letztlich muß das Modell so gebaut sein, daß es allen festgestellten Tatsachen Rechnung tragen kann.«54 So verschiedene Untersuchungsbereiche wie »das Verwandschaftssystem, die politische Ideologie, die Mythologie, das Ritual, die Kunst, die Höflichkeitscodes und – warum nicht? – die Küche«55 (die Aufzählung benennt die wichtigsten Gebiete, auf denen Lévi-Strauss gearbeitet hat) sollen so auf ihre fundamentalen Gemeinsamkeiten, aber auch auf ihre spezifischen Differenzen hin untersucht werden können. Die behauptete Invarianz des menschlichen Geistes bringt es mit sich, daß es für Lévi-Strauss keine tiefgreifende geschichtliche Entwicklung geben kann. Die Geschichte ist zwar unerläßlich, um die Ausdrucksformen des menschlichen Geistes in ihrer Integralität zu erfassen, aber sobald die der Geschichte zugrunde liegenden Fundamentalstrukturen erfaßt sind, führt dies zu einem eigentlichen Auszug aus der Geschichte.56 Strukturen sind für Lévi-Strauss nicht bloß theoretische Modelle und damit einfach Interpretationsmittel, sondern haben ihren primären Ort in der überzeitlichen Geistnatur des Menschen; es gibt eine »eingeborene Struktur des menschlichen Geistes«.57 Es wäre jedoch falsch, diese im Sinne von transzendentalen Formen oder Wesenheiten aufzufassen. Lévi-Strauss führt nicht mehr die Philosophie des Geistes fort, sondern fundiert die mentalen Strukturen in gehirnphysiologischen Prozessen.58 Letztlich führt dies zur Annahme aufeinander aufbauender homologer Strukturen, die von den organischen Prozessen über unbewußte Psychismen bis zum reflektierten Denken reichen.59 Damit ist der Mensch in strukturaler Identität Natur- und Kulturwesen zugleich. In erklärter Abkehr vom cartesischen Dualismus soll so der Strukturalismus auf der Basis eines wissenschaftskompatiblen Materialismus Physik und Moral, Geist und Welt miteinander versöhnen können.60 Durch diese strikte Homologie geistiger und materieller Strukturen ist dem Menschen jede Sonderstellung genommen, und so erstaunt nicht, daß Lévi-Strauss das Endziel der Humanwissenschaften

Ebd. 306; dtsch. 302. Ebd. 98; dtsch. 100. 56 Vgl. C. Lévi-Strauss: La pensée sauvage (Paris 1976) 347 f.; dtsch.: Das wilde Denken (Frankfurt a.M. 1968) 302. 57 C. Lévi-Strauss: Introduction à l’oeuvre de M. Mauss. In: M. Mauss: Sociologie et anthropologie (Paris 1950) XXXI; dtsch.: Einleitung in das Werk von M. Mauss. In: M. Mauss: Soziologie und Anthropologie. Bd. 1 (München 1974) 25. 58 C. Lévi-Strauss: Mythologiques. Volume 4: L’homme nu (Paris 1971) 561; dtsch.: Mythologica. Bd. 4: Der nackte Mensch 2 (Frankfurt 1976) 735. 59 Vgl. C. Lévi-Strauss: Anthropologie structurale, a. a.O. [Anm. 43] 223; dtsch. : Strukturale Anthropologie, a. a.O. [Anm. 43] 222. 60 Vgl. C. Lévi-Strauss: Le regard éloigné (Paris 1983) 165; dtsch.: Der Blick aus der Ferne (München 1985) 184 f. 54 55

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nicht in einer neuen Form der Konstitution, sondern vielmehr in der Auflösung des Menschen erblickt.61 Eine berühmt gewordene Metapher für diese Auflösung hat der radikalste Vertreter eines philosophischen Strukturalismus, nämlich der frühe Michel Foucault geschaffen, wenn er am Ende von Les mots et les choses die Wette eingeht, der Mensch werde vergehen »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«.62 Foucault hat dann auch in Gesprächen und Interviews die radikalen Formeln für die Rede vom »Tod des Subjekts« geliefert. Was den Menschen möglich macht, sind Strukturen, innerhalb derer er zwar denkt und die er auch beschreiben kann, von denen er aber nicht im eigentlichen Sinn das Subjekt ist und auch kein souveränes Bewußtsein hat.63 Was denkt, ist ein »anonymes System ohne Subjekt«, ohne »Ich«, und damit ist auch der durch das Denken erzeugte »Sinn« »nichts als eine Art Oberflächenwirkung, eine Spiegelung, ein Schaum«.64 Damit wird am Ende »nicht nur das traditionelle Bild, das man sich vom Menschen gemacht hatte«, ausgelöscht, sondern überhaupt »die Idee vom Menschen in der Forschung und im Denken überflüssig«, womit man sich auch des Humanismus als des »am meisten belastenden Erbes« des 19. Jahrhunderts entledigen kann.65 Die gewichtigste Gegenposition gegen einen solchen Strukturalismus ohne Subjekt stellt der genetische Strukturalismus Piagets dar.66 Piaget begründete die genetische Epistemologie, eine Entwicklungstheorie insbesondere des logisch-mathematischen und physikalischen Denkens. Mit den Mitteln der Entwicklungspsychologie schuf er eine den Entwicklungsverlauf vom Kind bis zum wissenschaftsfähigen Erwachsenen erfassende Stufentheorie des Erkennens. Eine Erkenntnisstufe wird durch die ihr zugrunde liegenden Strukturen bestimmt, die die subjekteigenen Erkenntnisformen bilden, an die die Objektwelt assimiliert wird. Was die Entwicklung vorantreibt, ist die Behebung kognitiver Ungleichgewichte, die sogenannte Äquilibration, die eine spezielle Form der von Piaget allgemein den Strukturen zugeschriebenen Selbstregelung bildet.

61 Vgl. C. Lévi-Strauss: La pensée sauvage, a. a.O. [Anm. 56] 326; dtsch.: Das wilde Denken, a. a.O. [Anm. 56] 248. 62 Michel Foucault: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines (Paris 1981) 398; dtsch.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (Frankfurt 1988) 462. Vgl. dazu auch das »Finale« von C. Lévi-Strauss: Mythologiques, vol. 4, a. a.O. [Anm. 58] 621; dtsch.: Mythologica Bd. 4, a. a.O. [Anm. 58] 817. 63 Vgl. C. Lévi-Strauss: Dits et écrits 1 (Paris 1994) 608. 64 M. Foucault: Absage an Sartre. In: La Quinzaine littéraire 5 (1966); dtsch.: alternative 54, 91–94. Abgedruckt in: G. Schiwy: Der französische Strukturalismus, a. a.O. [Anm. 45] 203–206, hier 204. 65 Ebd. 205. 66 Von den Philosophen haben insbesondere Mikel Dufrenne und Paul Ricœur einen solchen Strukturalismus ohne Subjekt zurückgewiesen. Vgl. Mikel Dufrenne: Pour l’Homme (Paris 1968) 37–47, 79–90; P. Ricœur: Le conflit des interprétations. Essais d’herméneutique (Paris 1969) 31–63, 80–97, 233–262; dtsch.: Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen. Bd. 1 (München 1973) 37–79, 101–122, 137–173.

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Neue Erkenntnisstrukturen gehen aus Konstruktionen des Subjekts hervor. Aus der Verinnerlichung sensomotorischer Handlungen entstehen durch reflektierende Abstraktionen Denkoperationen, die am Anfang noch an konkrete Objekte gebunden sind (konkret-operatorisches Denken), auf der Endstufe der Erkenntnisentwicklung hingegen sich im freien Raum des Möglichen bewegen (formal-operatorisches Denken), womit sich die für die Wissenschaft notwendigen Hypothesen bilden lassen.67 Piagets Option für einen genetischen Strukturalismus erklärt sich durch die Abweisung der beiden unzureichenden Extreme eines Genetismus ohne Struktur einerseits und eines Strukturalismus ohne Genese andererseits. Der erstere reduziert die Entwicklung auf Kausalprozesse, die aus dem jeweiligen strukturalen Gesamtzusammenhang gerissen werden. Der letztere gesteht den Strukturen keine eigentliche Entwicklung zu, sondern stilisiert sie zu überzeitlichen, auf allen Ebenen von Natur und Kultur gleichbleibenden Formen; einen solchen Strukturalismus ohne Genese wirft Piaget insbesondere Lévi-Strauss vor.68 Piaget plädiert für eine Filiation von Strukturen, die von den materiellen Strukturen über die organischen und Verhaltensstrukturen bis hin zu den Denkstrukturen reicht. Dabei gilt der Grundsatz: keine Entwicklung ohne vorausliegende Struktur als terminus a quo, aber auch keine Struktur, die nicht der terminus ad quem einer zu ihr führenden Entwicklung wäre.69 Durch die Annahme eines durchgehenden Filiationszusammenhangs der Strukturen situiert sich Piaget jenseits eines cartesischen Dualismus von Materie und Geist, wobei aber gerade der Strukturbegriff als vermittelndes Drittes eine Differenzierung von materiell-organischen und geistigen Strukturen ermöglicht. Eine Reduktion von geistigen Strukturen auf materielle lehnt Piaget trotz des Hervorgehens der ersteren aus den letzteren kategorisch ab; sein Konstruktivismus, der die Entwicklung als ein kreatives Voranschreiten begreift, versteht sich ausdrücklich als ein Antireduktionismus.70 Der Toterklärung des Subjekts durch Lévi-Strauss und Foucault ist Piaget vor allem mit dem Argument begegnet, daß die Entwicklung der Strukturen sowohl im biologischen als auch im psychologischen Bereich nicht ohne die Annahme von Selbstregelungsprozessen denkbar ist. Strukturen gehen konstitutiv immer Strukturierungen voraus, und diese rufen aufgrund der Selbstregelung nach ei-

67 Vgl. J. Piaget: L’épistémologie génétique (Paris 1970); dtsch.: Abriß der genetischen Epistemologie (Olten 1974); dazu R. L. Fetz: Struktur und Genese. Jean Piagets Transformation der Philosophie (Bern 1988). 68 Vgl. J. Piaget: Le structuralisme, a. a.O. [Anm. 43] 90; dtsch.: Der Strukturalismus, a. a.O. [Anm. 43] 102. Dazu die Antwort von C. Lévi-Strauss: Mythologiques. Volume 4, a. a.O. [Anm. 58] 560 f.; dtsch.: Mythologica Bd. 4, a. a.O. [Anm. 58] 734 f. 69 Vgl. J. Piaget: Biologie et connaissance, a. a.O. [Anm. 36] 189–195; dtsch.: Biologie und Erkenntnis, a. a.O. [Anm. 36] 134–139. 70 Vgl. J. Piaget: L’épistémologie génétique, a. a.O. [Anm. 67] 121–123; dtsch.: Abriß der genetischen Epistemologie, a. a.O. [Anm. 67] 143–145.

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nem Funktionszentrum, das in der Entwicklung der höheren Organismen immer mehr Subjektcharakter annimmt. »Mit einem Wort, das Subjekt existiert, weil das ›Sein‹ der Strukturen ganz allgemein in ihrer Strukturierung besteht.«71

IV. Schlußbemerkungen Es kommt nicht von ungefähr, daß der Strukturbegriff im 20. Jahrhundert sowohl in der Philosophie als auch in den Einzelwissenschaften zu einem Schlüsselbegriff avancierte. In ihm vereinigen sich auf eine bisher nicht gekannte Weise philosophische und wissenschaftliche Erkenntnisinteressen. Innerhalb der Philosophie trat der Strukturbegriff die Nachfolge des Form- und allgemeiner des Wesensbegriffs an, streifte dabei aber deren metaphysische Konnotationen zugunsten von methodologischen Leitvorstellungen ab. Einzelwissenschaftliche Forschungsinteressen konnten sich deshalb an ihn knüpfen, weil sein analytisches Potential als Relationengefüge aufgrund der Differenzierung der Struktur von ihren Elementen ungleich größer ist als beim Formbegriff und dem ihm korrespondierenden Materiebegriff. Der Strukturbegriff favorisiert Analysen, bei denen Gestaltzusammenhänge (Synchronie) und nicht Kausalabfolgen (Diachronie) in den Vordergrund rücken, womit er wiederum einem einseitig genetischen und empirischen wissenschaftlichen Verfahren gegenüber das traditionell philosophische Ideal einer ganzheitlich-formalen Betrachtungsweise in sein Recht setzt. Damit ermöglicht er die Transformation philosophischer Fragestellungen in wissenschaftliche, wie insbesondere das Beispiel von Piagets genetischer Epistemologie gezeigt hat. Vor voreiligen oder überzogenen philosophischen Rückschlüssen bleibt dabei ein wissenschaftlicher Strukturalismus so lange gefeit, als er sich als eine offene Methode und nicht als eine geschlossene Doktrin versteht. Und doch besteht der von Philosophen wie Cassirer und Rombach und von einem Wissenschaftler wie Piaget erhobene Anspruch zu Recht, daß eine ganzheitlich-organismische Strukturontologie gegenüber den vorangegangenen Formen einer mechanistisch-atomistischen Systemontologie und, weiter zurück, einer weitgehend relationslosen Substanzontologie ein echtes wissenschaftliches und philosophisches Novum darstellt, das auch ein neues Kooperationsverhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft ermöglicht. Eine solche weiterführende Kooperation wäre in der Tat dringend nötig. Denn es darf nicht übersehen werden, daß zentrale Probleme im Strukturalismus weitgehend ungeklärt geblieben sind. In erster Linie ist hier die Frage nach dem Status von Strukturen zu nennen. Strukturen sind primär theoretische Konstrukte, als solche haben sie ihren Platz in theoretischen Modellen. Die Ambition aller großen Strukturalisten ist es aber, mittels von Strukturen die J. Piaget: Le structuralisme, a. a.O. [Anm. 43] 120, vgl. auch 59; dtsch.: Der Strukturalismus, a. a.O. [Anm. 43] 134, vgl. auch 68. 71

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von ihnen untersuchte Objektwelt zu erklären, und damit werden die als Erklärungsprinzipien des Theoretikers fungierenden Strukturen unversehens als Organisationsformen der Objektwelt selbst zugeschrieben. Dieses, wie Umberto Eco es treffend gekennzeichnet hat, »Oszillieren zwischen strukturalem Modell und strukturalem Objekt«,72 anders gesagt, zwischen dem epistemologischen und dem ontologischen Aspekt von Strukturen, bringt eine Doppeldeutigkeit in den Strukturbegriff hinein, den auch differenzierende Begriffsfassungen wie die von Raymond Boudon getroffene Unterscheidung zwischen einer »intentionellen« und einer »effektiven« Strukturdefinition73 nicht wirklich beheben können, solange das Verhältnis beider unklar bleibt. Unter den genuin philosophischen Problemen, zu denen sich Strukturalisten dezidiert geäußert haben, steht an vorderster Stelle die Frage nach der Existenz oder Nicht-Existenz eines Subjekts. Sie ist ebenso entschieden negativ (LéviStrauss, früher Foucault) wie affirmativ (Piaget) beantwortet worden. Hält man die Strukturen für ein überzeitliches, sich in allen Natur- und Kulturformen gleichbleibendes Es, dann wird die Annahme eines Subjekts in einem konstitutiven Sinn hinfällig; dieses kann dann nur noch ein illusorisches Oberflächenphänomen sein. Gilt hingegen, daß es keine Gestalt ohne Gestaltung, keine Struktur ohne Strukturierung geben kann, wie in frappanter Übereinstimmung Cassirer und Piaget behaupten, dann drängt sich zumindest im Lebendigen die Annahme eines Funktionszentrums, das im Laufe der Entwicklung immer mehr Subjektcharakter annimmt, unweigerlich auf. Diese radikal verschiedenen Argumentationslinien machen jedoch deutlich, daß im Hintergrund der Debatte das philosophische Urproblem der Existenzweise von Strukturen oder allgemein von Idealformen steht, wie es von Platon und Aristoteles über den mittelalterlichen Universalienstreit bis hin zu Kant und darüber hinaus die Philosophie in Atem gehalten hat.74 Wie die Frage nach der Existenz des Subjekts, so wird nun auch die Frage nach der Existenzweise von Strukturen radikal verschieden beantwortet. LéviStrauss’ Annahme überzeitlicher, sich gleichbleibender unpersönlicher Strukturen kann man auf den ersten Blick mit Ricœur als einen »Kantianismus ohne transzendentales Subjekt«75 deuten. Lévi-Strauss selbst allerdings läßt Geist und Natur letztlich in eins fallen und kommt so am Ende zu einem offen deklarier-

72 U. Eco: La struttura assente. Introduzione alla ricerca semiologica (Mailand 1968) 256 f. Zitiert nach Hans Naumann: Einleitung. In: Der moderne Strukturbegriff. Materialen zu seiner Entwicklung, hg. von H. Naumann (Darmstadt 1973) 5. 73 R. Boudon: A quoi sert la notion de structure? Essai sur la signification de la notion de structure dans les sciences humaines (Paris 1968) 36. 74 Die Grundfragen des Strukturalismus wurden schon verschiedentlich zum mittelalterlichen Universalienstreit in Beziehung gesetzt. Vgl. H. Naumann: Einleitung, a. a.O. [Anm. 72] 4 f. 75 P. Ricœur: Le conflit des interprétations, a. a.O. [Anm. 66] 55; dtsch.: Hermeneutik und Strukturalismus, a. a.O. [Anm. 66] 135.

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ten, aber nicht näher definierten Materialismus. Lévi-Strauss gegenüber hat Piaget die Alternative Präformismus oder Konstruktivismus als die fundamentale Option hingestellt, vor die sich am Ende jede Form von Strukturalismus gestellt sieht.76 Für eine konstruktivistische Position sprechen laut Piaget nicht nur fundamentale biologische und entwicklungspsychologische Erkenntnisse, sondern auch ganz allgemein der Umstand, daß seit Gödel, mathematisch gesehen, eine Struktur aller Strukturen als undenkbar erscheint, weil aufgrund der Grenzen einer jeden Formalisierung Antinomien nur auf einer nächsthöheren Ebene behoben werden können, was zu immer neuen Konstruktionen zwingt.77 Piaget hat selbst das Universalienproblem einer neuen Lösung zugeführt, die sich als eine originale Verbindung kantischer und aristotelischer Momente interpretieren läßt. Das als terminus ad quem der Psychogenese aufgefaßte kantische transzendentale Subjekt wird an das natürliche Subjekt und damit an den Organismus zurückgebunden und die Entstehung von Denkoperationen aus der Verinnerlichung von Handlungskoordinationen durch reflektierende Abstraktionen erklärt, womit das universale post rem wieder in einem universale in re verankert wird. Sogar die platonische Annahme eines allen Konstruktionen vorausliegenden überzeitlichen Ideenreiches im Sinne eines Universums idealer Möglichkeiten ist damit nicht ausgeschlossen, auch wenn Piaget Naturalist bleiben will und die Annahme einer Welt des Möglichen vor ihrer effektiven Konstruktion für unnötig hält.78 Hier wird deutlich, daß die Grundfrage eines jeden tiefergreifenden Strukturalismus, die Frage nach der Existenzweise von Strukturen, letztlich nur auf der Ebene einer Metatheorie von grundsätzlich philosophischem Charakter beantwortet werden kann.

76 Vgl. J. Piaget: Le structuralisme, a. a.O. [Anm. 43] 121; dtsch.: Der Strukturalismus, a. a.O. [Anm. 43] 135. 77 Ebd. 60, 123; dtsch.: 69, 137. 78 Vgl. dazu R. L. Fetz: Struktur und Genese, a. a.O. [Anm. 67] 257–270.

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Symbol, Zeichen

I. Einleitung Der Gebrauch der Begriffe ›Symbol‹ und ›Zeichen‹ im 20. Jahrhundert ist nicht einheitlich; er ist vielfältig und zudem in sehr unterschiedlichen Kontexten anzutreffen. Wenn sich in der weiten Streuung der semiotischen, linguistischen, kommunikationstheoretischen, phänomenologischen, psychoanalytischen, kulturtheoretischen und poetologischen Symbol- und Zeichenbegriffe überhaupt ein gemeinsamer Zug erkennen lassen sollte, dann am ehesten im Hinblick auf grundsätzlich erkenntniskritische Erwägungen: Prominent treten relationale und funktionale, sprachlogische, pragmatische und anthropologische Betrachtungen von Symbol und Zeichen in den Vordergrund des Interesses, die im Zusammenhang einer generellen semiotischen Neuorientierung der Wissenschaften stehen. Regelmäßig zurückgewiesen werden Annahmen, die von einer eindeutigen Verbindung von Symbol und Symbolisiertem beziehungsweise Zeichen und Bezeichnetem ausgehen; die Reichweite und Dynamik der Begriffe Zeichen und Symbol wird vielmehr in Zusammenhang gebracht mit einer grundsätzlichen Problematisierung der Referenz und der erkenntniskritischen Einstellung auf die Formen und Grenzen von Darstellbarkeit, die schon in Kants Philosophie ihren Ausgang genommen hatte. Kennzeichnend für die Theoriebildung des 20. Jahrhunderts ist ein Vagieren, man könnte auch sagen: ein semantisches Vagabundieren der Begriffe Symbol und Zeichen selbst: Die Spannweite der für dieses Begriffspaar auffindbaren Bedeutungen reicht vom synonymen Gebrauch (Charles S. Peirce und Ernst Cassirer) über die Ansicht des Symbols als einem theologisch motivierten Sonderfall der Zeichengebung (Walter Benjamin) bis hin zum Ausschluß des Symbols aus der Zeichentheorie (Ferdinand de Saussure). Gemeinsam ist den modernen Modellierungen des Symbol- und Zeichenbegriffs, daß sie eine Kritik einsinniger Repräsentationserwartungen leisten und häufig bei Theoretikern wie Nietzsche, Freud und Saussure ihren Ausgangspunkt nehmen. Gleichwohl ist im 20. Jahrhundert keine verbindliche systematische oder historische Ordnung des Begriffsgebrauchs von Symbol zu Zeichen zu entdecken. Die Konjunkturen des Zeichen- oder des Symbolbegriffs, die Phasen gegenseitiger Anerkennung und Verwerfung, folgen keinem eindeutigen Muster. Wenn im folgenden der Versuch gemacht wird, einige Begriffskonstellationen von Symbol und Zeichen zu beleuchten, so kann dieses Unterfangen nur lückenhaft bleiben. In einem enzyklopädischen Rahmen müßten nicht nur die Positionen einzelner Autoren und Denktraditionen zu den beiden Titelbegriffen Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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betrachtet werden, sondern auch die Ausdifferenzierung der Begriffe in den Einzeldisziplinen; weiterhin müßten die Übereinstimmungen und Abgrenzungen zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Begriffsentwicklungen beleuchtet werden. Allein schon ein Blick auf einige jüngere Hefttitel der inzwischen rund 30 Jahrgänge der Zeitschrift für Semiotik läßt erahnen, wie differenziert und zugleich zerstreut die gegenwärtige Zeichendiskussion sich präsentiert: Aktuelle Überlegungen zur »Medialität und Sozialität sprachlicher Zeichen« versammeln sich ebenso dort wie solche zu »Tränen und Weinen in der griechisch-römischen Antike« (2006), zur »Semiotik der Kleidung« (2005) oder zur »Zeitgenössischen koreanischen Semiotik« (2007) und zu »Fiktionen als Repräsentationen« (2002).1 Während der Umfang dessen zunimmt, was der Semiotik zugetraut wird und wofür sie Kompetenz beansprucht, schwindet die Spezifik der Disziplin. Dazu gesellt sich eine Entwicklung, die sich im 20. Jahrhundert schon abzeichnete und deren Bedeutung noch immer zunimmt: der Anschluß traditionell medizinischer oder naturwissenschaftlicher Forschungsfelder an klassisch geisteswissenschaftliche Diskussionen im Kontext der Symboltheorie. Cassirers Charakterisierung des Menschen als »animal symbolicum« findet beispielsweise in der Hirnforschung und Neurologie neuen Nährboden. Der Göttinger Neurologe Otto Creutzfeld formuliert: »Denn Denken setzt Symbole der Wirklichkeit voraus und kombiniert diese Symbole nach Gesetzen, die dieser Symbolwelt inhärent sind. Weder die Symbole dieser Welt noch die Logik ihrer Kombinationen sind aber durch neurale Strukturen festgelegt.«2 Was über solche und ähnliche einzelwissenschaftlichen Befunde hinausgeht und sie miteinander verbindet, ist die in den neueren Diskussionen erkennbare Aufgabe einer Trennung von Objekt- und Metasprache. Die Theorien der Moderne wenden sich der Beobachtung der Semiose zu, sei es derjenigen der Sprache selbst (Ludwig Wittgenstein), des Materials der alltäglichen und künstlerischen Lebenswelt (Walter Benjamin) oder des symbolischen kulturellen Prozesses von Wahrnehmung und Ausdruck (z. B. Cassirer), und sie zeigen sich einbegriffen in den Prozeß, den sie beschreiben. Die Tätigkeit des Bezeichnens gilt vielen Theoretikern also nicht mehr als eine ausschließlich ideelle Angelegenheit; der Zeichengebrauch und die Symbolisierung werden in den sprachund kulturwissenschaftlich interessierten Diskussionen zunehmend auf die Rolle des Körpers bezogen, wobei die anthropologische Perspektive den Zeichengebrauch zugleich als Verkörperung des Denkens in den Blick nimmt. Als weiterer bedeutender Faktor der Theorieentwicklung des späten 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart ist schließlich zu nennen die Reflexion der Medialität

Zeitschrift für Semiotik (ZfS) (Berlin 1979 ff.). Michael Hagner: Der Geist bei der Arbeit. Historische Untersuchungen zur Hirnforschung (Göttingen 2006). Das Creutzfeld-Zitat bei M. Hagner: »Homo cerebralis?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (22. 03. 2004) 31. 1 2

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und somit auch der Übergänglichkeit (Übertragung, Übersetzung) zwischen den Zeichensystemen. Entscheidend für die Theorieentwicklung des 20. Jahrhunderts sind die politisch-historischen Verwerfungen, die der Faschismus und die Emigration vor allem jüdischer Wissenschaftler für die Entwicklung der Wissenschaften nach sich ziehen. Anstatt gerader Rezeptions- und Einflußlinien weist die Theoriegeschichte Brüche und Lücken auf. Diese Diskontinuität betrifft den Bereich der Zeichen- und Symboltheorie in besonderer Weise: Erst seit den siebziger Jahren entstehen vermehrt Arbeiten, die gezielt Anschluß an die theoretische Diskussion der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts suchen. Aus der immensen Fülle der Beispiele für die Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte sei an zwei Fälle erinnert: Walter Benjamins Schriften wurden erst lange nach seinem Tod im Jahre 1940 wiederentdeckt und ediert. Eine intensive und breit gefächerte Auseinandersetzung mit seinen wesentlichen Schriften aus den zwanziger bis vierziger Jahren setzte erst in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein. Noch extremer gestaltete sich die Aufnahme der Kulturphilosophie Cassirers. Zwar standen dessen Hauptwerke der zwanziger und dreißiger Jahre in Wiederauflagen zur Verfügung; systematisch und kritisch ediert werden Werk und Nachlaß aber erst seit den neunziger Jahren, so daß die Wiederentdeckung des Philosophen, rund achtzig Jahre nach der Publikation der Philosophie der symbolischen Formen, noch immer in ihren Anfängen steht.3 Nicht zu unterschätzen und für die gesamte Entwicklung der modernen Zeichentheorie bis heute wirksam sind die Impulse, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Ferdinand de Saussures Zeichenmodell ausgingen. Die Semiotik der Moderne hat die Differenzierung von Signifikant und Signifikat aufgenommen und schärft geradezu ihr kritisches Vermögen an der Verabschiedung einer intentionalen Konzeption der Signifikation. Hierbei können sich die Theorien des 20. Jahrhunderts zwar weitgehend auf die zeichenkritische Reflexionen von Kant, Friedrich Schlegel, Novalis (d. i.: Friedrich von Hardenberg) und vor allem Friedrich Nietzsche berufen: Sie alle leisteten in unterschiedlichen Kontexten eine Kritik an der Auffassung von Begriff, Symbol, Zeichen als Garanten der Identität des autonomen, subjektzentrierten Denkens und seiner Darstellung. Dennoch findet eine systematische und historische Verabschiedung des instrumentell-ideellen Zeichenbegriffs erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts allgemeine Anerkennung. Paradigmatisch kann ein Zitat von Fichte den intentionalen Begriffsgebrauch noch einmal in Erinnerung rufen; es ist dies die idealistische Sprachgeste par excellence: »Erzeuge ich in mir einen neuen Begriff, so bedeutet freilich das Zeichen, wodurch ich ihn für euch bezeichne (denn für mich selbst bedurfte es überall keines Zeichens), für euch etwas neues, das Wort erhält eine neue E. Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki (Hamburg 1998 ff.); Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John M. Krois u. a. (Hamburg 1995 ff.). 3

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Bedeutung, da Ihr bisher das Bezeichnete gar nicht besessen habet.«4 Die Zeichen sollen die Begriffe lediglich für Dritte zum Ausdruck bringen; das Subjekt komme bei der Bildung der Begriffe jedoch ohne Zeichen aus. Die vielfältigen Motivationen und verzweigten Wege der sprachtheoretischen Verabschiedung idealistischer Konzepte in der Philosophie faßt in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts Richard Rorty mit der vielzitierten Wendung vom »linguistic turn«, der linguistischen Wende, zusammen.5 Zur gleichen Zeit erscheint Jacques Derridas Schrift De la grammatologie,6 die nicht die Sprache schlechthin, sondern die Schrift zur Grundlage der Metaphysikkritik macht. Auch Derrida verbleibt im Raum der Sprache, wenn er auf die sinnliche Eigenart und Eigenständigkeit der Schriftzeichen eingeht und sie nicht mehr auf die Funktion einer Stellvertretung mündlicher Artikulation reduziert. Die sprachtheoretische Verabschiedung von Zeichen und Symbolen als Werkzeugen der Repräsentation, die Verabschiedung also der Idee der Repräsentation in ihren grundlegenden Varianten, ist eine der bedeutendsten Entwicklungen in der Philosophie der Moderne. Von Seiten der Pragmatik, z. B. von Ludwig Wittgenstein, betreffen die Einwände gegen die ideelle Repräsentation vor allem die transzendenten, also nicht aus dem praktischen Sprachgebrauch rührenden Annahmen über die Möglichkeiten und Grenzen der Bedeutung. Wo die philosophische Sprachkritik sich auf die Frage der Entstehung von Bedeutung konzentriert, blendet sie nicht selten diejenigen Prozesse der Semantisierung aus, die sich nicht ausschließlich im Sprachbereich abspielen: zum Beispiel die Rolle von Bildern und Klängen, die Anteile des Körpers an der Arbeit des Gedankens. Das schon von Nietzsche angesprochene anthropologische Fundament des menschlichen Zeichengebrauchs kommt hingegen bei solchen Autoren in den Blick, die die Denkvorgänge als einen Prozeß der Entwicklung von Zeichen und Symbolen und nicht als ein Arrangement von Ideen auffassen. Daß die Zeichen und Symbole auch den Charakter der Wahrnehmung formen und daß sie kulturell codiert sind, darauf insistieren Theoretiker so unterschiedlicher Orientierung wie Ch. S. Peirce, F. de Saussure, S. Freud, L. Wittgenstein, W. Benjamin, M. Heidegger, J. Derrida, H. Blumenberg und E. Cassirer.

II. Ch. S. Peirce, F. de Saussure, J. Derrida Die moderne Semiotik tritt im späten 19. Jahrhundert auf mit Ch. S. Peirces Theorie der Zeichen und Symbole, die er idiosynkratisch Semeiotics nennt.7 Entworfen wird in diesem Modell ein potentiell unendlicher Austauschprozeß Johann Gottlieb Fichte: ›Aus einem Privatschreiben‹ (im Jänner 1800). Sämmtliche Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte (Berlin 1845–46. Repr. Berlin 1965) Bd. 5, 375–396, hier: 383. 5 R. Rorty: The Linguistic Turn in Philosophy. Recent Essays in Philosophical Method (Chicago 1967). 6 J. Derrida: De la grammatologie (Paris 1967). 7 Ch. S. Peirce: Brief an Lady Welby vom 23. Dezember 1908, in: Semiotic and Significs: 4

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zwischen drei Instanzen: dem Zeichen, seinem Objekt und dem Interpretanten. Vielfach rezipiert wurde Peirces Klassifikation dreier Zeichentypen: Index, Ikon und Symbol, die er im Rahmen einer »spekulativen Grammatik« (s. u.) situiert, wobei das Symbol ein allgemeines Zeichen ohne Ähnlichkeitsbeziehung zum Referenten ist und insofern Saussures Begriff des »signifiant« nahesteht. Terminologisch identifiziert Peirce Zeichen und Symbol: »A Symbol is a [sign] whose Representative character consists precisely in its being a rule that will determine its Interpretant. All words, sentences, books, and other conventional signs are Symbols.«8 Jenen Teil der »semeiotics«, in dem die Zeichengenerierung beobachtet wird (»how one kind of sign brings forth another«),9 bezeichnet Peirce in Anlehnung an Kants Philosophie als »spekulative« Rhetorik. Sie ist die Wissenschaft »of the essential conditions under which a sign may determine an interpretant sign of itself and of whatever it signifies, or may, as a sign, bring about a physical result.«10 Neben der Rhetorik gehören die Bereiche der reinen Grammatik (»pure grammar«) und der Kritik (»critic«) zur »semeiotics«. Bedeutsam und einflußreich sind die Konsequenzen der »semeiotics« für den Wahrheitsbegriff. Zeichen gehen für Peirce bei jedem Erkenntnisprozeß aus Zeichen hervor. Nicht die Erkenntnis des Dings an sich steht am Ende des semiotischen und interpretierenden Austauschs, sondern neue Zeichen: Denken ist für Peirce grundsätzlich Zeichengebrauch und -schöpfung. Deshalb erkennt J. Derrida in Peirces Theorie eine Kritik an der Vorstellung eines transzendentalen Signifikanten: »Das sogenannte ›Ding selbst‹ ist immer schon ein ›representamen‹ [sic], das der Einfältigkeit der intuitiven Evidenz entzogen ist. Das ›representamen‹ kann nur funktionieren, indem es einen ›Interpretanten‹ hervorbringt, welcher seinerseits zum Zeichen wird und so ad infinitum. Die Identität des Signifikats mit sich selbst verschiebt sich unaufhörlich.«11 Peirces semiotische Theorie radikalisiert die Philosophie als eine Selbstreflexion der Medien, in denen sich das Denken vollzieht – und sie begrenzt sie zugleich darauf, was das radikale Diktum »We think only in signs«12 deutlich

The Correspondence between Ch. S. Peirce and Victoria Lady Welby, ed. by Charles S. Harwick (Bloomington, Indiana 1977) 85 f. J. M. Krois weist darauf hin, daß Peirce den Begriff »semeiotic« nur in seinen unpublizierten Schriften benutzte. – Für Peirce war im Prinzip jeder Gegenstand, der sich erforschen ließ, »semeiotic«, insofern er in einen physischen, objektiven Zeichenzusammenhang eingebettet war. Siehe: J. M. Krois: More than a linguistic turn in philosophy. The Semiotic Programs of Peirce and Cassirer. In: Sats. Nordic Journal of Philosophy 5, Nr. 2 (2004) 22. 8 Ders.: The Collected Papers, ed. by Charles Hartshorne and Paul Weiss (Cambridge, Mass. 1931–1958), Bd. 2, 292. 9 Ders.: Ideas, Stray or Stolen, about Scientific Writing (1904). The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings, ed. by The Peirce Edition Project (Bloomington, Indiana 1998) Bd. 2, 326–327. 10 Ebd. 11 J. Derrida: Grammatologie (frz. 1967), dt. (Frankfurt a.M. 1983) 86. 12 Ch. S. Peirce: The Collected Papers, a. a.O. [Anm. 8] Bd. 2, 300.

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macht. Die Frage nach einem möglichen – transzendentalen – Sinn, der den Zeichengebrauch erst begründen könnte, läßt Peirces Theorie aber letztlich unangetastet. Peirces Einfluß auf den linguistischen Pragmatismus (Charles W. Morris) und den Strukturalismus sowie auf die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts bis hin zum Wiener Kreis ist kaum zu überschätzen. Ähnlich grundlegend und im europäischen und anglo-amerikanischen Kontext womöglich noch einflußreicher wirkte die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte Sprachtheorie des Linguisten F. de Saussure. Seine allgemeine Linguistik (»linguistique générale«) hat der systematischen Sprachforschung und der allgemeinen Zeichentheorie, hier als »Semiologie«13 bezeichnet, entscheidende Impulse gegeben. Saussure verdankt die Sprachtheorie des 20. Jahrhunderts sowohl die Einsichten in die differentielle Grundlage der Sprachzeichen als auch die strukturale Grundlegung von Synchronie und Diachronie bzw. Syntagma und Paradigma als die Untersuchungsebenen der Sprache.14 Saussure trennt die Sprache als ein eigenständiges System ab von der Objektwelt; Zeichen sind für ihn nicht-motivierte, arbiträre Elemente, die die Eigenständigkeit des Sprachsystems (»langue«)15 bilden. Für den Wert (»valeur«) und die Semantik ist nach Saussure nicht die vorgeblich referentielle Beziehung des Zeichens zum Objekt entscheidend, sondern der Unterschied zu anderen Sprachzeichen im Sprachsystem, die Differenz.16 Das Sprachzeichen, der Signifikant (»signifiant«) bildet eine Einheit aus Lautbild (»image acoustique«) und Vorstellung (»sens«).17 Sprache kann in diachroner Hinsicht, in ihrer historischen Veränderung, und in synchroner, als ein gegenwärtiger Systemzustand, beschrieben werden. Symbole bilden nach Saussure einen sprachlichen Sonderfall, da sie motivierte, »natürliche« Zeichen darstellen;18 folglich weist er den Begriff des Symbols für das Sprachzeichen zurück, während von Peirce wie auch von vielen nachfolgenden Zeichentheoretikern die sprachliche Semiose generell als ein Symbolisierungsprozeß verstanden wird. – Obwohl Saussures Semiologie bis heute grundlegend für strukturalistisch informierte Sprachtheorien geblieben ist,19 haben bestimmte Aspekte seiner Lehre wie der Phonozentrismus, die Ausblendung der materialen Aspekte des Zeichens und der a-historische Begriff der Arbitrarität besonders im Zusammenhang der Dekonstruktion seit den späten sechziger Jahren Kritik erfahren. Derrida ruft gegen Saussure die Schrift als das grundlegende Paradigma des differentiellen Zusammenhangs zwischen Zeichen in Erinnerung und fordert F. de Saussure: Cours de linguistique génerale, éd. par Charles Bally [u. a.] (Geneve 1916), dt.: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (Berlin 21967) 18 f. 14 S. dazu Johannes Fehr: Peirce: Zwischen Linguistik und Semiologie (Berlin 1995). 15 F. de Saussure: Cours de linguistique génerale, a. a.O. [Anm. 13] 11. 16 Ebd. 95 und passim. 17 Ebd. 14. 18 Ebd. 80. 19 S. auch: Umberto Eco: Einführung in die Semiotik (München 1972) 28–31. 13

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eine »Substitution, die keineswegs nur verbal wäre […]«, des Wortes »Semiologie durch Grammatologie.«20 In der Forderung Derridas, das Signifikat nicht als Sinn zu denken, sondern als »Spur«, die durch die Schrift gebahnt wird, gipfelt die metaphysikkritische Auseinandersetzung mit Saussure.21 Derridas Kritik an Saussures dualistischem und phonozentrischem Zeichenkonzept greift Aspekte der metaphysikkritischen Philosophie Martin Heideggers auf, die dieser schon im Kontext von Sein und Zeit (1927)22 explizit auf den Symbolbegriff bezogen, aber im Kontext einer ästhetischen Schrift, nämlich in seiner Abhandlung Der Ursprung des Kunstwerks (1935/36) ausführlicher dargelegt hat. Heidegger wendet sich gegen eine Auslegungstradition, die im Kunstwerk etwas anderes erkennt als es selbst, sei es ein Sinnbild oder Veranschaulichung von Sinngehalten mit symbolisierenden Mitteln. In dieser Tradition gelte das Kunstwerk als »Symbol« und »Allegorie«.23 »Allegorie und Symbol geben die Rahmenvorstellung her, in deren Blickbahn sich seit langem die Kennzeichnung des Kunstwerks bewegt. […] Fast scheint es, das Dinghafte im Kunstwerk sei wie der Unterbau, darein und darüber das Eigentliche und Andere gebaut ist.«24 Gegen diesen Dualismus wendet Heidegger ein, daß im Kunstwerk selbst, in seiner Dinghaftigkeit sich der Vollzug der Wahrheit zu erkennen geben kann. »So wäre denn das Wesen der Kunst dieses: das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden.«25 Wahrheit »geschieht« im Kunstwerk quasi ereignishaft: Das Werk selbst sei nicht bloß die Repäsentation einer anderswo vorfindlichen Wahrheit. An der Weiterentwicklung der Kritik des Symbols als einem Repräsentationsmodus hat unter anderem Paul de Man – vor allem in bezug auf die Literatur – gearbeitet. In Anlehnung an Nietzsche, Heidegger und Derrida überträgt de Man die differenzielle Zusammengehörigkeit von Signifikant und Signifikat auf die Eigendynamik von Texten. Texte bilden vor allem einen selbstreflexiven Bezug aus, repräsentieren keinen vorgängigen Sinn, sind deshalb auch nicht als Effekte eines Autorsubjekts zu verstehen. Sie stellen durch den Gebrauch von Redefiguren, durch ihre »Literarizität« und »Rhetorizität«, den Prozeß der Bedeutungskonstruktion und des gleichzeitigen Bedeutungsentzugs aus. Deshalb verweisen nach de Man Texte auf die Notwendigkeit des immer neuen Lesens, das doch stets ein »Misreading«, eine Fehllektüre bleibt. In diesem Sinne konstituieren Texte keine referentiellen Aussagen über etwas, sondern autoreferentielle »Allegorien des Lesens«.26 J. Derrida: Grammatologie, a. a.O. [Anm. 11] 88. [Hervorh. J. Derrida]. Ebd. 128. 22 M. Heidegger: Sein und Zeit. Gesamtausgabe Bd. 2 (Frankfurt a.M. 1977). 23 Ders.: Der Ursprung des Kunstwerkes. Gesamtausgabe Bd. 5: Holzwege (Frankfurt a.M. 1977) 4. 24 Ebd. 25 Ebd. 21. 26 P. de Man: Allegorien des Lesens (Frankfurt a.M.1988). Zuerst engl.: Allegories of Read20 21

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III. Ludwig Wittgenstein: Sprachspiel als Modell der Wirklichkeit Wittgenstein wendet sich dem Zeichenbegriff im Rahmen einer rationalistisch und pragmatisch orientierten Sprachphilosophie zu. Pragmatisch ist sein Denken insofern, als es die Zeichen hinsichtlich ihres Gebrauchs untersucht. Aus diesem Grunde ist nach Wittgenstein das isoliert aufgefaßte Zeichen bedeutungslos: Für den frühen Wittgenstein des Tractatus logico-philosophicus stellt der deskriptive, logische Urteilssatz das Hauptproblem dar. Erst der spätere Wittgenstein des Blauen Buches (1933/34) und der Philosophischen Untersuchungen wird den – kurz schon in der Philosophischen Grammatik (1913) auftauchenden – Begriff des »Sprachspiels« entfalten,27 um das Denken als einen umfassenden semiotischen Vorgang, als »Tätigkeit des Operierens mit Zeichen«28 zu beschreiben. »Sprachspiele sind die Sprachformen, mit denen ein Kind anfängt, Gebrauch von Wörtern zu machen. […] Wenn wir solche einfachen Sprachformen untersuchen, dann verschwindet der Nebel, der unsern gewöhnlichen Sprachgebrauch einzuhüllen scheint.«29 Die anti-essentialistische und pragmatische Orientierung Wittgensteins impliziert einen Blick auf den kulturellen Kontext, der den Sprachgebrauch formt. Sprachspiele stehen in direkter Verbindung mit einer »Lebensform«: »Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.«30 Das einzelne Zeichen ist »tot«: »Jedes Zeichen scheint allein tot. Was gibt ihm Leben? – Im Gebrauch lebt es. Hat es da den lebenden Atem in sich? – Oder ist sein Gebrauch sein Atem?«31 Dasselbe gilt für das »Urzeichen«32, den Namen, dem Wittgenstein »nur im Zusammenhang des Satzes […]« Bedeutung zumißt.33 Wittgensteins radikale Auflösung der transzendentalen Signifikation, die kein imaginäres, Bedeutung generierendes Zwischenglied zwischen dem Denken und dem Zeichengebrauch mehr zuläßt, macht die Sprache zu einem durch soziale Spielregeln formierten offenen Prozeß: »Sprache überhaupt ist ein offenes System von Sprachspielen; ist Sprachspiel. Jede sprachliche Äußerung ist gesellschaftliches Handeln, und jede praktische Handlung ist sprachlich im semiotischen Sinn.«34 Sprache erscheint bei Wittgenstein stets in einem Doppelsinn: als Wortsprache und als der allgemeine gesellschaftliche, kulturelle Zusammenhang des Zeichengebrauchs, zu dem beispielsweise auch Gesten und Klänge, Bilder und Musik gehören. Der Satz gibt nach Wittgestein ein »Bild

ing. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust (New Haven and London 1979). 27 L. Wittgenstein: Das blaue Buch. Werkausgabe in 8 Bden. (Frankfurt a.M. 1984) Bd. 5, 5. 28 Ebd. 23. 29 Ebd. 36. 30 L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen § 19 (1953). Werkausgabe Bd. 1, 296. 31 Ebd. Bd. 1, 432. 32 Ders.: Tractatus logico-philosophicus [1921]. Werkausgabe Bd. 1; 3. 26. 33 Ders.: Tractatus logico-philosophicus, 3. 3. 34 Chris Bezzel: Wittgenstein (Stuttgart 2007) 17.

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der Wirklichkeit« oder »Modell der Wirklichkeit«;35 er ist zugleich Teil eines semiotischen und strukturierten Entwurfs der Welt und nicht nur eine logische Aussage über sie. Letztlich ist auch der Begriff des Sprachspiels ein Sprachbild: Es illustriert Wittgensteins Versuch, die Pluralität von Weltentwürfen in einer semiotischen Sprachphilosophie zu beschreiben, die zugleich eine Kulturtheorie ohne Anspruch auf Letztbegründung ist.

IV. Sigmund Freud: Symbol des Unbewußten Mit Freuds Symbolbegriff, wie er um 1900 in der Traumdeutung profiliert wird, nimmt ein dynamisches, verzeitlichtes und relationales Denken des Symbols seinen Anfang, das die Dimension des Unbewußten der Theoriebildung zugänglich macht. Freud setzt sich ab von der langen Tradition der Traumbücher, in denen Traumsymbole als dechiffrierbar und einsinnig galten, wobei man von einem festen semantischen Band zwischen dem Traum und seiner Bedeutung ausging. Demgegenüber lenkt Freud die Aufmerksamkeit auf die Autopoetik der Traumarbeit: »Was aber den Traum so unschätzbar für unsere Einsicht macht«, formuliert Freud rückblickend im Abriß der Psychoanalyse (1938), »ist der Umstand, daß das unbewußte Material, wenn es ins Ich eindringt, seine Arbeitsweisen mit sich bringt.«36 In der Traumdeutung beschreibt Freud diese »Traumarbeit«37 als einen Effekt der Dynamik des psychischen Apparats (des Systems Unbewußt – Bewußt bzw. Ich – Es – Überich), als eine durch die Zensur veranlaßte Transformation des Traumgedankens in einen manifesten Trauminhalt. Der im Traum manifest gewordene Inhalt wird von Freud nicht als direkte Abbildung oder Wiedergabe des latenten Gedankens gedeutet, sondern als das Produkt einer »Verdichtung« und »Verschiebung«, das zudem im Hinblick auf die Darstellbarkeit einer weiteren sekundären »Bearbeitung« unterliegt. Erst als Resultat dieses mehrfachen Übersetzungsprozesses kommt der Traumgedanke als manifester Trauminhalt zur Erscheinung. Dabei spielt der Bildbegriff eine tragende Rolle; Bild und Rhetorik formen gewissermaßen die kulturellen und historischen Markierungen im Symbolisierungsprozeß. Die Leistung der Traumarbeit liegt geradezu in der »Umsetzung des Gedankens in visuelle Bilder und in Rede«.38 Die Virulenz der Traumdeutung für eine allgemeinen Zeichen- und Sprachtheorie liegt darin, die konstitutive Dynamik der Verzeitlichung und der Transformation für die Symbolisierung zu zeigen und auf das Feld des Unbewuß-

L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, 4. 01. S. Freud: Abriß der Psychoanalyse (Frankfurt a.M. 1994) 62. 37 Ders.: Die Traumdeutung. Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud, Bd. 2/3 (London 31955) 283 ff. 38 Ebd. 539. 35 36

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ten auszuweiten. Das Symbol erscheint in diesem Zusammenhang nicht als abgeschlossene grammatische oder ontologische Entität. Es ist vielmehr eine passagere Markierung in einem fortlaufenden Übertragungs- oder Übersetzungsprozeß. Der Symbolisierungsprozeß, an dessen Ende die Deutung des Traumgedankens steht, verläuft als ein Übertragungsprozeß zwischen Bild und Sprache: »Traumgedanken und Trauminhalt liegen vor uns wie zwei Darstellungen desselben Inhaltes in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt, der Trauminhalt erscheint uns als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise, deren Zeichen und Fügungsgesetze wir durch die Vergleichung von Original und Übersetzung kennen lernen sollen. Die Traumgedanken sind uns ohne weiteres verständlich, sobald wir sie erfahren haben. Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind. Man würde offenbar in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bilderwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte.«39 Freud akzentuiert mit den Momenten »Verdichtung« und »Verschiebung« nicht-lineare Eigenschaften des Übertragungsprozesses. Diese umwegige Struktur ist nicht beschränkt auf den Kontext der Traumdeutung, sie beansprucht allgemeine Gültigkeit und kehrt in klinischen und metapsychologischen, also kulturwissenschaftlich bedeutsamen Zusammenhängen wieder. Symptomatisierung und Symbolisierung verweisen aufeinander. Das Symptom gibt dabei nicht nur seine etymologische, sondern auch seine strukturelle Verwandtschaft mit dem Symbol zu erkennen.40 Im Anschluß an Freud hat Jacques Lacan den psychoanalytischen Symbolbegriff weiterentwickelt und Sprachlichkeit für den Prozeß der Semiose und für die Struktur des Unbewußten reklamiert: »Das Unbewußte ist wie eine Sprache strukturiert.«41 Die Sprache des Unbewußten entfaltet sich nach Lacan ihrerseits als Triade. Dabei entspricht die Stellung des Symbols, als einem Moment der Trias, der Beziehung zu den beiden anderen triadisch vernetzten Momenten: der Realität und dem Imaginären. Ebd. 283 f. Obwohl Freuds Theorie des Traumsymbols dichte Bezüge zur gegenwärtigen Sprachtheorie und Semiotik, zu Fragen der Intermedialität und Übertragung aufweist und einen genuinen Beitrag zur Entwicklung der Semiotik und Kulturtheorie des 20. Jahrhunderts geleistet hat, taucht sie nur in wenigen begriffsgeschichtlichen Nachschlagewerken auf. Dies ist von der Sache her kaum zu verstehen, mag aber vor allem mit einem generellen Vorbehalt gegenüber der Psychoanalyse zu tun haben. Erwähnt sei hier nur der Einfluß Freuds auf eine hermeneutikkritische Lektürepraxis z. B. bei Paul Ricœur, der seinerseits das Symbol als Beziehung zwischen latentem und manifestem Sinn gefaßt hat. P. Ricoeur: Hermeneutik und Psychoanalyse (München 1974). – Zur Geschichte von Freuds umfänglichen Revisionen des Textes der Traumdeutung von der 1. bis 8. Auflage vgl. Lydia Marinelli, Andreas Mayer: Träume nach Freud (Wien 2002). 41 J. Lacan: Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (Berlin, Weinheim 1996) [frz. 1964] 26. 39 40

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V. Walter Benjamin: Sprachbildlichkeit Neben der Philosophie Nietzsches und Heideggers ist es nicht zuletzt W. Benjamins poetologisch informierte Symbol- und Allegoriediskussion im sogenannten Trauerspielbuch und in seinem Essay über Goethes Wahlverwandtschaften, die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Strategien der poetischen Symbolisierung gelenkt hat. Mit Benjamins Namen verbindet sich, insbesondere für Autoren im Umfeld der Dekonstruktion und des Poststrukturalismus, eine grundsätzliche Kritik am Symbolbegriff und eine Privilegierung der Allegorie. Nach Benjamin kann der vor allem durch die Romantik geprägte Symbolgebrauch die Nähe zum theologischen oder auch mythischen Denken nie ganz abstreifen. Die hypostasierte »Einheit von sinnlichem und unsinnlichem Gegenstand« bestehe im Symboldenken fort und werde durch die daran anknüpfende Ästhetik als Polarität von »Erscheinung und Wesen« verzerrt.42 Gegenstand von Benjamins Kritik ist also das metaphysische bzw. theologische Modell des Symbols. Aus diesem Grund verwirft er im Trauerspielbuch den von ihm als romantisch bezeichneten »Mißbrauch« des Symbols als »›Erscheinung‹ einer ›Idee‹«,43 während das allegorische Verfahren stets einen Hinweis auf die unerlöste Leidensgeschichte der Welt beinhalte und so dem Umstand gerecht werde, daß jeglicher Sinn nicht in oder hinter den Dingen liege, sondern dort immer nur unterlegt werde. Nach Benjamin zielt das Symbol auf unmittelbare Transzendenz und ignoriert den Umstand, daß in einer Welt ohne Heilsversprechen die Zeichen nicht auf Transzendenz, auf Göttliches, sondern nur auf sich selbst verweisen. Differenzierter ist der Symbolbegriff, den Benjamin mit dem Blick auf Goethes Wahlverwandtschaften entfaltet: In diesem Zusammenhang diagnostiziert er für das Symbol einen Bruch im Ausdruckskontinuum; es zeige an sich selbst »Ausdruckslosigkeit«, eine »kritische Gewalt«44 gegen die Annahme einer Vorgängigkeit der Idee vor dem Ausdruck. Mit dem Konzept der Ausdruckslosigkeit formuliert Benjamin nicht zuletzt einen Einspruch gegen eine Auffassung, die das Symbol einem bruchlosen Denken von Bildern zugänglich machen möchte. In anderen Kontexten, zum Beispiel in seinem Buch Berliner Kindheit um 1900,45 im Passagen-Werk und in seinen Studien zu Proust46 wird Benjamins veränderte Einschätzung des Symbolprozesses insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis Bild und Sprache deutlich. In diesen Texten betont Benjamin gerade nicht den mythischen Zug des Symbolbegriffs, sondern argumentiert im W. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Gesammelte Schriften (Frankfurt a.M. 1972–89) Bd. 1, 336. 43 Ebd. 44 Ders.: Goethes Wahlverwandtschaften. Gesammelte Schriften, ebd. Bd. 1, 181. 45 Ders.: Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Gießener Fassung, hg. von Rolf Tiedemann (Frankfurt a.M. 2000). 46 Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 5. – »Zum Bilde Prousts«. Gesammelte Schriften Bd. II,1, 310–324. 42

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Interesse eines Zeichenbegriffs jenseits der Logik der reinen Repräsentation. Er illustriert in der Berliner Kindheit die Transformationsprozesse zwischen untereinander unähnlichen, nämlich graphischen, phonetischen und semantischen Ebenen im Rahmen einer allgemeinen Semiotik. Nach Benjamin ist die kindliche Erfahrung nicht auf das sprachliche Zeichen begrenzt, sondern versucht »die Welt als Ganzes zeichenhaft zu lesen«.47 Da alle Dinge – insofern sie Zeichen sind – aufeinander verweisen können, tragen sie zwar Spuren eines ursprünglichen mimetischen Verhaltens des Menschen, aber sie lösen diese Spur im Medium gewissermaßen auf. Zeichen, insbesondere Sprache und Schrift, stehen daher grundsätzlich im Modus einer »unsinnlichen« oder auch »entstellten Ähnlichkeit«. Sie sind stets Ergebnis von Übersetzungsprozessen.48 Damit wird aber auch der kategoriale Gegensatz von Bild und Schrift hinfällig. Die von der Berliner Kindheit geschilderte Erinnerung ist ein Symbolisierungsprozeß, der aus der gleitenden Übersetzung zwischen Bild, Sprache und Sprachbild resultiert: »Die in der Kindheitserinnerung aufgerufenen Bilder sind keine Verweise auf natürliche Referenten, sondern folgen als Sprachbilder den Gesetzen der Verknüpfung ihrer Zeichen als Entstehen, Gleiten und Verschwinden.«49 Der Aspekt der entstellten Ähnlichkeit kann sich nach Benjamin an der Ding- und Zeichenwelt ebenso zeigen wie an den technischen Medien, z. B. an Photographie, Phonographie, Kinematographie.50 Entsprechend formuliert Benjamin im Passagen-Werk: »Daß zwischen der Welt der modernen Technik und der archaischen Symbolwelt der Mythologie Korrespondenzen spielen, kann nur der gedankenlose Betrachter leugnen.«51 Hier läßt Benjamins eigenständige Zeichentheorie durchaus Bezüge zu anderen Theorien der Symbolisierung wie etwa derjenigen Freuds oder Cassirers erkennen. In der Berliner Kindheit wird der Begriff der »Entstellung« nicht selten im Sinne eines psychoanalytisch informierten Symbolbegriffs gebraucht, da hier wie dort die Dynamik der Verdichtung und Verschiebung als Dynamik der »Entstellung« die Erinnerungs- und Sprachbilder prägt. Die entstellte Übersetzung des Symbolbildes schließt aber bei Benjamin, anders als im Traumbild, auch die Dimensionen der Lautlichkeit bzw. des Klangs, der Medialität überhaupt ein und wird zum Charakteristikum einer allgemeinen Semiose.52 Mit Cassirers

47 Anja Lemke: Gedächtnisräume des Selbst. Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert (Würzburg 22007) 84. 48 W. Benjamin: Über das mimetische Vermögen und Lehre vom Ähnlichen. Ges. Schriften Bd. II,1, 212. Vgl. dazu Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit (Frankfurt a.M. 1997) sowie Stefanie Waldow: Der Mythos der reinen Sprache. Walter Benjamin, Ernst Cassirer, Hans Blumenberg (München 2006) 98 f. 49 A. Lemke, a. a.O. [Anm. 47] 112. 50 Ebd. 123. 51 W. Benjamin: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften, a. a.O. [Anm. 42] Bd. 5, 576. 52 Tilman Lang: Mimetisches oder semiologisches Vermögen? Studien zu Walter Benjamins Begriff der Mimesis (Göttingen 1998).

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Symboltheorie, die Benjamin nicht rezipiert hat, verbindet ihn gleichwohl die Auffassung, die Symbolisierung leiste eine zunehmende Distanzierung der »mythischen Namenssprache«.53 Der Prozeß der Entstellung, der die Kontinuität des mythischen Sinns unterbricht, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Materialität der Zeichen im Symbolprozeß. Cassirer wird diesen Prozeß als Dynamik zwischen »Sinnlichkeit und Sinn« unter einer spezifisch kulturellen Perspektive beschreiben.

VI. Hans Blumenberg, Ernst Cassirer: Metapher und Symbol Zu Beginn seines Aufsatzes Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit erinnert H. Blumenberg an Erich Rothackers Archiv für Begriffsgeschichte als den Ort der Erstpublikation seines Aufsatzes Paradigmen zu einer Metaphorologie von 196054 und stellt in diesem Zusammenhang einen Wandel der »Blickrichtung« auf die Begriffsgeschichte und -kritik von den sechziger bis zu den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts fest: den Wandel von einer »subsidiären Methodik«, die auf die »Konstitution von Begrifflichkeit« bezogen war, zu einer »rückwärtigen Verbindung zur Lebenswelt als dem ständigen – obwohl nicht ständig präsent zu haltenden – Motivierungsrückhalt aller Theorie.«55 Und er fügt den skeptischen Satz an: »Wenn wir schon einsehen müssen, daß wir nicht die Wahrheit von der Wissenschaft erwarten dürfen, so wollen wir doch wenigstens wissen, weshalb wir wissen wollten.«56 Aus dieser lebensweltlich orientierten Frage wird Blumenbergs umfassendes Interesse an einer Kulturphänomenologie des Denkens deutlich.57 Sie steht der kulturphilosophischen Frage E. Cassirers nach dem Verhältnis und der symbolischen Ordnung von Sinnlichkeit und Sinn in der Philosophie der symbolischen Formen nicht fern. Wohl aber erhält Blumenbergs kulturelle Analyse mit der Theorie der »absoluten Metapher« und der »Unbegrifflichkeit« eine deutlich andere Wendung.58 Für Blumenberg

S. Waldow a. a.O. [Anm. 48] bes. 266 ff. H. Blumenberg: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit. In:ders.: Schiffbruch mit Zuschauer (Frankfurt a.M. 1997) 87. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 S. dazu Philipp Stoellger: Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont (Tübingen 2000), sowie ders.: Von Cassirer zu Blumenberg. Zur Fortschreibung der Philosophie symbolischer Formen als Kulturphänomenologie geschichtlicher Lebenswelten. In: »Die Gegensätze schließen einander nicht aus, sondern verweisen aufeinander«. Ernst Cassirers Symboltheorie und die Frage nach Pluralismus und Differenz. Loccumer Protokolle 30 (1998) hg. von Wolfgang Vögele (Loccum 1999) 108–149. 58 Zum positiven Bezug Blumenbergs auf Cassirer vgl. den Aufsatz: Ernst Cassirers gedenkend bei der Entgegennahme des Kuno-Fischer-Preises der Universität Heidelberg. In: ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben (Stuttgart 1981) 163–172. 53 54

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bildet die Metapher – und gerade nicht das »Zeichen« oder das »Symbol« – den privilegierten Untersuchungsgegenstand. Die erkenntniskritisch begründete prinzipielle Unzugänglichkeit der Lebenswelt verweise die Philosophie auf ihre unhintergehbare Metaphernbedürftigkeit. Leitmetaphern in Blumenbergs Werk, wie die der »Lesbarkeit der Welt« (so der Buchtitel), geben der Philosophie zugleich ein anthropologisches und rhetorisches Problem auf. In der »absoluten Metapher«, die sich mit Verweisen auf das »Sein« oder »Gott« Geltung verschafft, sieht Blumenberg schließlich, in der Nachfolge Nietzsches, die sprachliche Uneinholbarkeit der Wirklichkeit als ganzer verkörpert. Die Metaphorologie tendiert deshalb auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit. Sie entsteht nicht etwa nur aus der »Verlegenheit um den Begriff«,59 ist nicht etwa Kapitulation vor der Schwierigkeit, Begriffe »clare et distincte« zu entwickeln. An der Metapher zeigen sich für Blumenberg vielmehr genuin die Wege und Umwege der rhetorischen Konstruktion der Weltzugänge, in denen nicht zuletzt das Verhältnis von Natur und Technik und dessen anthropologisches Fundament zum Ausdruck kommt.60 Blumenbergs »semiotische Aktivität« bleibt der Hermeneutik solcher Metaphern wie der Lesbarkeit der Welt (1981) verhaftet; virulent bleiben daher auch die theoretischen Aporien der Hermeneutik, die darin ihren Grund haben, daß der Verstehensprozeß über die Limitierungen der Sprache nicht hinausgehen und keine Selbsttransparenz erreichen kann. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen61 endlich macht den Symbolisierungsprozeß explizit zur Grundlage der Metaphysikkritik und zum Ausgangspunkt einer umfassenden kulturellen Orientierung der Philosophie. Innerhalb der großen theoretischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts, die die Zeichenprozesse in der Lebenswelt und den Wissenschaften als ein philosophisches Problem fokussieren, nimmt Cassirers Theorie eine eigenständige und relativ spät berücksichtigte Position ein. Michael Foucault hatte bereits in den sechziger Jahren auf Cassirer verwiesen;62 auch ist die Bedeutung der Kulturphilosophie für Soziologen wie Pierre Bourdieu, Anthropologen wie Clifford Geertz, Semiologen wie Nelson Goodman, Symbolphilosophen wie Susanne Langer etc. häufig beschrieben worden. Dennoch hat die semiotisch und konstruktivistisch orientierte Kulturtheorie Cassirers erst seit den achtziger Jahren eine breite und noch anhaltende Diskussion erfahren. Die Ausgangsfrage, die Cassirers Philosophie der symbolischen Formen sich vorlegt, ist die nach dem Verhältnis von »Sinnlichkeit und Sinn«. Cassirer gibt innerhalb der Entwicklung der Philosophie der symbolischen Formen ver-

H. Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, a. a.O. [Anm. 54] 87. Näheres zu Blumenbergs Metapherntheorie bei Ralf Konersmann: Metapher, in diesem Bd. 268 f., 277. 61 E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde [1923–1929] (Darmstadt 81982). 62 M. Foucault: Une histoire restée muette. In: La quinzaine littéraire Nr. 8 (1966) 3–4. 59 60

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schiedene, nämlich anthropologische, zeichentheoretische, erkenntnistheoretische und phänomenologische Antworten auf diese Frage; alle Antworten aber münden in eine gemeinsame Perspektive auf den Prozeß der Symbolisierung. Verworfen wird damit die Annahme eines transzendentalen Signifikanten und die Annahme einer außerhalb des Symbolprozesses zugänglichen Bedeutung. In jeder symbolischen Form, im mythischen Denken wie im wissenschaftlichen Diskurs, verbindet sich nach Cassirer die prägende Spur der materiell-sinnlichen Seite des Symbols mit einem abstrakten, nicht-anschaulichen Bedeutungshorizont. Cassirer gibt auf die Frage nach dem Zusammenhang von Sinnlichkeit und Sinn also keine hermeneutische Antwort. Vielmehr faßt er die Entfaltung der konkreten symbolischen Formen wie Mythos, Sprache, Kunst, Recht etc. zwar als Prozeß zunehmender Abstraktion und Differenzierung, zugleich aber immer als konkrete Veranschaulichung des Vollzugs der Symbolisierung: »Unter ›symbolischer Prägnanz‹ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.«63 »Wie im Sprachlaut der Begriff, so steckt im Leib die Seele: jener ist der Sinn des Wortes, dieser ist der Sinn des Leibes […].«64 Schon im Fühlen ist eine sinnliche Aktivität mit symbolischer Ausdrucksfunktion gegeben, der »symbolische Prägnanz« eignet. Auf allen Stufen der Entwicklung symbolischer Formen ist die Spur der Leiblichkeit ebenso virulent wie der Vorgang der Abstraktion, wenn auch in unterschiedlichen Konstellationen, Intensitäten usf. An Goethes Symbolauffassung und Darstellungstheorie,65 der zufolge Daten nur Bedeutung annehmen können, wenn sie sich in »Reihen« ordnen lassen, also relationale, syntagmatische Strukturen ausprägen, gewinnt Cassirer Kriterien für die phänomenologische Differenzierung der »symbolischen Prägnanz«: Die »phänomenale Beschaffenheit« eines Datums ist stets »schon von der Ordnung abhängig«, in der sie steht. Die »reine Erscheinungsweise« der Farbe zum Beispiel werde »durch eben diese Ordnung [der Farben untereinander, B. N.] bestimmt.«66 Weil die »Wechselbestimmung«67 zwischen Bezugsrahmen und einzelnem Phänomen sich als die Vorstellung einer Bewegung zwischen der differentiellen Ordnung und einem einzelnen Element innerhalb dieser Ordnung zeigt, ist diese Bewegung als Grundlage jeden Symbolisierungsprozesses und jeder Semiose anzusehen. Dies gilt auch für die Wissenschaft mit den ihr eigenen begrifflichen Darstellungsweisen: »Die Grundbegriffe jeder Wissenschaft, die Mittel, mit denen sie ihre Fragen stellt und ihre Lösungen formuliert,

E. Cassirer, a. a.O. [Anm. 61] Bd. 3, 235. Ebd. 117. 65 Vgl. dazu Goethe: Der Versuch als Vermittler zwischen Subjekt und Objekt. Hamburger Ausgabe Bd. 13 (Hamburg 31960) 10–20. 66 E. Cassirer, a. a.O. [Anm. 61] Bd. 3, 234 f. 67 Ebd. 235. 63 64

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erscheinen nicht mehr als passive Abbilder eines gegebenen Seins, sondern als selbstgeschaffene intellektuelle Symbole.«68 Bemerkenswert an dieser Theorie des Symbolischen ist, daß Dualismen wie Leib vs. Seele, Sinnlichkeit vs. Sinn, Abstraktion vs. Konkretion, Subjekt vs. Objekt, Transzendenz vs. Immanenz etc. unterlaufen werden zugunsten einer relationalen und prozessualen Auffassung der Semiose. Cassirer hebt als Grundlage des Symbolisierungsprozesses den Begriff der »symbolischen Prägnanz« hervor. Die symbolische Prägnanz ist differentiell bestimmt, sie ist »reine Beziehung« und in diesem Sinne »absolutes Element«, Ermöglichung der symbolischen Prozesse qua Energie, Ausdruck und Veränderung.69 Mit diesem Begriff sucht Cassirer zugleich die Pluralität der Kultur als ein Zusammenwirken der verschiedenen symbolischen Formen zu begründen.70 Die differentielle Konzeption der symbolischen Prägnanz, die das Symbol auf seine eigene Hervorbringung bezeigt, läßt die klassische Antinomie von (a priori) gegebener Sinnlichkeit und Sinngebungsakt hinter sich.71 Indem er sinnliche, emotionale und körperlichen Bezüge als »Ausdrucksphänomen«72 in den Symbolisierungsprozeß einbezieht, fundiert Cassirer die Kulturphilosophie anthropologisch. Die Übersetzung des Mythos in andere Formen, so hat noch der späte Cassirer betont, impliziert die Freiheit des Menschen (als Gattungswesen), seine Lebenswelt in bestimmten Richtungen zu gestalten.73 Mit der Hinwendung zur Phänomenologie verläßt Cassirer den an Kant orientierten erkenntnistheoretischen Rahmen der Philosophie; mit der Integration einer Semiotik in seine Theorie fundiert er den Symbolisierungsprozeß als Gegenstand kulturphilosophischer Interessen. Cassirers Philosophie antizipiert zahlreiche aktuelle kulturphilosophische Fragen nach dem Gebrauch von Zeichen und Medien und der Rolle des Körpers. Ermöglicht wird dieser Perspektivenreichtum dadurch, daß Cassirer den Prozeß der Symbolisierung nicht auf sprachliche Zeichen im engen Sinne begrenzt hat. Zwar formuliert die Philosophie der symbolischen Formen auch eine Semiotik, aber sie läßt sich, ebensowenig wie Peirces Semiotik, auf die Perspektive eines »linguistic turn« beschränken. »Ausdruck« kann auch mimischer, körperlicher Ausdruck sein und Affekte, mithin die vorsprachliche Gefühlsebene, involvieren. Im Unterschied zu Blumenberg, der die Frage der Lesbarkeit ins Zentrum seiner Metaphorologie gestellt hat, steht für Cassirer die Frage nach den spezifiEbd. Bd. 1, 5. Ebd. Bd. 3, 236. – Zur symbolischen Prägnanz s. B. Naumann: Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe (München 1998) bes. 54–66 und 93–106. 70 Vgl. J. M. Krois: Ernst Cassirers Semiotik der symbolischen Formen. In: Zeitschrift für Semiotik Bd . 6 (1984) 433–444, bes. 440 f. 71 Vgl. S. Waldow: Der Mythos der reinen Sprache, a. a.O. [Anm. 48] 140 f. 72 E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, a. a.O. [Anm. 61] Bd. 3, 68 ff. 73 Ders.: The Myth of the State (zuerst engl. 1946); dt.: Der Mythos des Staates (Frankfurt a.M. 1985). 68 69

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schen Formen des Weltzugangs, also der kulturellen, prägenden Aktivität – und nicht ihre Rezeption – im Vordergrund.74 – Die kritische Frage, was denn aber die prägende Kraft der Symbolisierung motivierte, was denn die geistige Energie der »symbolischen Prägnanz« formiere, wenn das Symbolische doch schon durch sie konstituiert wird – diese Frage, die die Tür zur Metaphysik wieder weit öffnet, kann Cassirers Philosophie ebenso wenig beantworten, wie es die auf ihn folgenden und kurrenten Theorien des Symbols oder Zeichens oder der Medialität können.75 Erst dort, wo die Unterbrechung, das Nicht-Kalkulierbare, der Schock, das Ereignishafte, wo solche offenen Momente die Freisetzung von Energie figurieren, zeichnet sich eine Möglichkeit der Beantwortung jenseits der Metaphysik ab. Damit aber verläßt man den Raum der Theorie von Zeichen und Symbol – und kommt an in der Sphäre, in der solche Momente die Praxis der Darstellung bilden. Dies ist die Sphäre der Künste: Literatur, bildende Kunst, Musik.

Vgl. B. Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (Berlin 2004). 75 S. dazu u. a. Dieter Mersch (Hg.): Die Medien der Künste (München 2003) 9 ff. 74

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I. Als Warren McCulloch, Philosoph, Psychologe und Neurophysiologe, in einem jetzt aus dem Nachlaß veröffentlichten Manuskript aus der Mitte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf die Anfangsjahre der Kybernetik zurückschaute, stellte er fest, daß nach dem Tod der beiden größten Mathematiker, die sich mit der Kybernetik beschäftigt haben, John von Neumann und Norbert Wiener, drei Probleme der Kybernetik ungelöst liegen geblieben waren:1 das Problem unzureichender statistischer Datenreihen, um neben technischen auch soziale Probleme mit den Mitteln der Kybernetik lösen zu können; das Problem der Kopplung nichtlinearer Oszillatoren; und das Problem kontinuierlich nichtlinearer Vorhersage. John von Neumann hatte sich intensiv mit der Kybernetik beschäftigt, für die er nach einer ähnlich konsistenten mathematischen Formulierung suchte wie zuvor zusammen mit Oskar Morgenstern für die Spieltheorie. Dabei interessierte ihn in Diskussionen mit Heinz von Foerster laut McCulloch insbesondere die Frage eines Verständnisses der Selbstorganisation von Sternen, Kristallen und Organismen auf der Grundlage eines Systembegriffs, der von informationaler Geschlossenheit (bei energetischer Offenheit, das versteht sich von selbst) ausgeht. John von Neumann wurde dann jedoch wissenschaftlicher Leiter der 1946 gegründeten US-amerikanischen Kommission für Atomenergie, die die Aufgabe hatte, die Kontrolle der Atomenergie aus militärischen in zivile Hände zu übergeben, und starb 1957, ohne die Zeit gefunden zu haben, seine Absicht einer mathematischen Fundierung der Kybernetik zu verwirklichen. Norbert Wiener beschäftigte sich zwar bis zur Veröffentlichung seines letzten Buches mit nichtlinearen Problemen der Theorie des Zufalls,2 reagierte jedoch ungeduldig auf Nachfragen etwa von Margaret Mead und Gregory Bateson, die ihn drängten, sich der Lösung sozialer Probleme zuzuwenden.3 Ihn interessierte statt dessen, wie er im Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches über die Kybernetik aus dem Jahr 1961 ausführt, die Modellierung nichtlinearer Prozesse mit Hilfe der parallelen Fütterung einer black box und einer an sie gekoppelten So W. S. McCulloch: The Beginning of Cybernetics. In: Cybernetics – Kybernetik. Die Macy-Konferenzen 1946–1953, hg. von Claus Pias, Bd. 2: Essays und Dokumente (Zürich 2004) 345–360, hier 359. 2 Siehe Norbert Wiener: Nonlinear Problems in Random Theory (Cambridge, Mass. 1966). 3 Er sprach vom »Rheumatismus der Kybernetik«, so W. McCulloch: The Beginning of Cybernetics, a. a.O. [Anm. 1] 359; und vgl. die Einführung in Norbert Wiener: Cybernetics, or Control and Communication in the Animal and the Machine (Cambridge, Mass. 21961) 24 f. 1

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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white box mit Zufallsrauschen derart, daß die white box beginnt, sich zum Modell der black box zu organisieren.4 Es ist die These des vorliegenden Artikels, daß die Problematik des Systembegriffs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur dann zu verstehen ist, wenn man sie aus der nur selten expliziten, aber häufig impliziten Auseinandersetzung mit den drei von McCulloch genannten ungelösten Problemen der Kybernetik heraus beschreibt. Aus der Frage, welche statistischen Zeitreihen komplexe Phänomene beschreiben, wird die Frage, wie Systeme zählen und rechnen. Die Frage nach der Kopplung nichtlinearer Oszillatoren wird übersetzt in die Frage der symmetrischen Tauschfähigkeit unter den Werten, die die Zustände eines Systems beschreiben. Und aus der Frage nach der kontinuierlich nichtlinearen Vorhersage wird die Frage nach einer funktionalen Beobachtung, die in der Lage ist, die Zustände eines Systems asymmetrisch zu ordnen und diese Ordnung nach Bedarf auch wieder aufzulösen. Tausch und Ordnung laufen über eine Befähigung des Systems zur Negation, die möglicherweise an dieselbe Erfahrung der Inkommensurabilität und unreduzierbaren Komplexität der Komponenten des Systems rückgekoppelt ist, die auch das Zählen ermöglicht, wenn nicht sogar erzwingt. Wie wird gezählt, wie wird getauscht und wie wird geordnet? Diese drei Fragen beschäftigen jede ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Systembegriff, auch wenn dies nur selten so auf den Punkt gebracht wird. Immerhin hat McCulloch im bereits genannten Text darauf hingewiesen, daß es ihn mehr als vierzig Jahre gekostet hat, in einem bestimmten Fall, dem der Spiralen eines Kiefernzapfens, zählen zu lernen, um verstehen zu können, wie dieser Zapfen wächst.5 Und immerhin hat Gotthard Günther nie damit aufgehört, Probleme des Tauschens und des Ordnens als die zentralen Probleme der Kybernetik zu verstehen und in die Formulierung einer nach Möglichkeit mehrwertigen Systemtheorie mit aufzunehmen, die sich bei ihm aus einer intensiven Auseinandersetzung mit der aristotelischen Philosophie, dem Deutschen Idealismus und der Hegelschen Dialektik speist.6 Aber auch Heinz von Foerster, Niklas Luhmann, Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela und vielen anderen darf man zuschreiben, daß sie nie aufgehört haben, über Modellierungen selbstreferentieller Systeme nachzudenken, die auf diese Art und Weise zum Zählen, Tauschen und Ordnen in der Lage sind. Die Nachbarschaft von Kybernetik und Systemtheorie hat meines Erachtens nicht darin ihre Pointe, daß beide als technokratische Geheimwissenschaften der Steuerung und Kontrolle komplexer Systeme zu Zeiten des Kalten Kriegs

Ebd. X f. W. McCulloch: The Beginning of Cybernetics, a. a.O. [Anm. 1] 348. 6 Siehe zum Einstieg Gotthard Günther: Cognition and Volition. A Contribution to a Cybernetic Theory of Subjectivity. In: ders.: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 2 (Hamburg 1979) 203–240. 4 5

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gerade recht kamen,7 sondern darin, daß die von der Kybernetik verwendeten mathematischen Ideen die Möglichkeit boten, eine der zentralen Fragestellungen des bis dahin überlieferten Systembegriffs zu bearbeiten, nämlich die Fragestellung eines organismischen oder auch ganzheitlichen Systemerhalts unter der Bedingung einer rauschenden Umwelt. Insbesondere Ludwig von Bertalanffy entwickelte seine allgemeine Systemtheorie aus dem Versuch heraus, den Systembegriff aus den biologischen und damit vitalistischen Engführungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu befreien und ihm eine eher physikalische und dann auch mathematische, »allgemein« genannte Grundlage zu geben.8 Im Zuge ihrer Entwicklung von einer Kybernetik erster Ordnung, die um Konzepte der Zielsetzung und Abweichungskontrolle kreist,9 zu einer Kybernetik zweiter Ordnung, die den Beobachter internalisiert und das Selbstreferenzproblem stellt,10 wird es immer schwieriger, die Kybernetik von der Systemtheorie zu unterscheiden, doch ist es hilfreich, den Systembegriff dort, wo er philosophisch und mathematisch interessant wird, für die Formulierung des Selbstreferenzproblems zu reservieren. Davon unberührt wird der Systembegriff auch zur Beschreibung technischer Systeme eingesetzt und dort etwa zur mengentheoretischen Unterscheidung von Elementen und Relationen oder auch zur Beschreibung von Prozessen des Signalaustauschs verwendet.11

7 So jedoch Paul N. Edwards: The Closed World. Computers and the Politics of Discourse in Cold War America (Cambridge, Mass. 1996), und Tiqqun: Kybernetik und Revolte (Berlin 2007). Vgl. auch, tendenziell vorsichtiger, Steve J. Heims: John von Neumann and Norbert Wiener. From Mathematics to the Technologies of Live and Death (Cambridge, Mass. 1982) und N. Katherine Hayles: How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics (Chicago 1999). Stärker um die Rekonstruktion kybernetischer Konzepte bemüht ist Andrew Pickering: Kybernetik und neue Ontologien (Berlin 2007). 8 Siehe Ludwig von Bertalanffy: General Systems Theory. Foundations, Developments, Applications (New York 1969) und vgl. Walter Buckley (Hg.): Modern Systems Research for the Behavioral Scientist (Chicago 1968); Klaus Müller: Allgemeine Systemtheorie. Geschichte, Methodologie und sozialwissenschaftliche Heuristik eines Wissenschaftsprogramms (Opladen 1996). 9 Nachweisen läßt sich der Begriff der Kybernetik schon Mitte des 19. Jahrhunderts, so bei André Marie Ampère und Bronislaw Trentowski zur Bezeichnung einer Wissenschaft vom Regieren. Siehe Milan Zeleny: Cybernetics and General Systems Theory. A Unitary Science? In: Kybernetes 8 (1979) 17–23. 10 So vor allem Heinz von Foerster: Observing Systems (Seaside, Cal. 1981); ders.: Understanding Understanding. Essays on Cybernetics and Cognition (New York 2003). 11 Siehe etwa Lothar Czayka: Systemwissenschaft. Eine kritische Darstellung mit Illustrationsbeispielen aus den Wirtschaftswissenschaften (Pullach bei München 1974); oder Bernd Girod, Rudolf Rabenstein und Alexander Stenger: Einführung in die Systemtheorie. Signale und Systeme in der Elektrotechnik und Informationstechnik (Stuttgart 22002). Die Themen der Beobachtung und Selbstreferenz betonen die Beiträge in Dirk Baecker (Hg.): Schlüsselwerke der Systemtheorie (Wiesbaden 2005).

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II. Seine Faszination bezieht der Systembegriff von Anfang an, d. h. seit seiner Verwendung bei den Griechen zur Beschreibung der Fähigkeit etwa des Blutkreislaufs eines Organismus oder auch der musikalischen Tonleiter, sich selbst zu ordnen,12 aus der Idee, die Elemente und Operationen eines Phänomens nicht aus den substantiellen Eigenschaften dieser Elemente und Operationen, sondern aus den Gesamtsystemeigenschaften heraus zu erklären, zu denen diese Elemente und Operationen in einen Bezug zu setzen sind. Den immer mitlaufenden Verdacht des Mystizismus und Holismus in Kauf nehmend, steht der Systembegriff seit den Griechen im Zentrum jener »Philosophie des Organismus«, von der Alfred North Whitehead gesagt hat, daß sie das eigentliche Thema der Tradition der europäischen Philosophie seit Platon ist.13 Als Organismus wird hierbei ein Prozeß verstanden und beschrieben, in dem Aktuelles in einem Bezug zu einem Potentiellen steht. Die christliche Tradition las dies häufig als Bezug des Flüchtigen auf ein Ewiges oder des Immanenten auf ein Transzendentes, doch kann man sich hierfür auch andere Lesarten vorstellen, etwa als einen Verweis darauf, daß alles, was geschieht, immer Mittel verwendet, die nicht in ihm selber liegen,14 oder als Angewiesenheit jeder Situation auf Strukturen der Generalisierung, die über die Situation hinausgreifen.15 Von Anfang an also ist der Systembegriff auf der Suche nach einem Verständnis von Einheiten oder auch Ganzheiten, die ebenso grundsätzlich wie notwendig als »ergänzungsbedürftig« verstanden werden, um eine Formulierung von Martin Heidegger aufzugreifen.16 Das, was sich in einem System zu einem System zusammenstellt (griech. syn-histamein), greift aus dem System heraus, um innerhalb des Systems eine Ordnung aufrechtzuerhalten oder herzustellen. Verstanden als ein Fließgleichgewicht, so etwa faßt von Bertalanffy die bewährten Intuitionen zusammen, ist ein System in der Lage, Störungen äquifinal im Sinne der Erhaltung bereits erreichter und als unwahrscheinlich verstandener Zustände zu bearbeiten.17 Mit der Kybernetik und ihrer Rezeption der mathemaSiehe Christian Strub: System. In: HWPh Bd. 10 (Darmstadt 1998) 824–856; Peter Fuchs: Die Metapher des Systems. Studien zur allgemein leitenden Frage, wie sich der Tänzer vom Tanz unterscheiden lasse (Weilerswist 2001). 13 So A. N. Whitehead: Process and Reality. An Essay in Cosmology, ed. by David Ray Griffin und Donald W. Sherburne (New York 1979) 39 f. 14 Siehe mit einer entsprechenden Platonlektüre Moth Stygermeer: Während Sokrates schweigt. Der zweite Anfang der Philosophie in Platons Dialog Sophistes (Berlin 2005). 15 So mit dem Begriff »frame of reference« Talcott Parsons: The Social System (New York 1951); und Talcott Parsons und Edward A. Shils (Hg.): Toward a General Theory of Action (Cambridge, Mass. 1951). 16 So Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (Frankfurt a.M. 1983) § 73. 17 Siehe mit dem Akzent auf dem Begriff des »offenen Systems« im Unterschied zu den kontrollierten Systemen der Kybernetik neben L. von Bertalanffy: General Systems Theory, 12

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tischen Kommunikationstheorie Claude E. Shannons wird jedoch eine Mathematik verfügbar, die für diese Ergänzungsbedürftigkeit einen eigenen Begriff hat, denjenigen der Nichtlinearität, und die in der Lage ist, diesen Begriff auf die Beschreibung von Gesamtsystemeigenschaften zurückzubeziehen, die mit Hilfe der Thermodynamik nicht mehr mechanisch verstanden werden müssen, sondern als Zustände gemischter Ordnung und Unordnung verstanden werden können. Der entscheidende Punkt hierbei ist die Verwendung eines probabilistischen Ordnungsbegriffs, der sowohl den Zufall als auch die Entscheidung zu inkorporieren erlaubt, und so erstmals den Systembegriff auf die Spitze der Differenz eines Ereignisses stellt, bei dem alles darauf ankommt, den Unterschied zwischen System und Umwelt zu verstehen und zu verarbeiten. »Zufall« heißt einerseits Unsicherheit und andererseits Material für abweichende Elemente und Operationen. »Entscheidung« heißt Angewiesenheit auf ein auf den Moment angewiesenes, durch nichts vorwegzunehmendes, schließlich dem (internen) Beobachter zuzuweisendes Ereignis.18 Michel Serres hat seine fünfbändige, unter dem Titel Hermès erschienene Aufsatzsammlung zur Theorie der Kommunikation und Information diesen Themen der Nichtlinearität gewidmet.19 Daß die Differenz des Systems zur »Umwelt«, wie man seit dem 19. Jahrhundert mit einem Neologismus sagte, im Mittelpunkt des Systemverständnisses steht, war für die Soziologie Auguste Comtes und die Physiologie Claude Bernards so wichtig wie für die Biologie Jakob von Uexkülls, der noch zwischen »Wirkwelt« und »Merkwelt« unterschied, um die Sensorik und die Motorik eines Organismus voneinander unterscheiden und aufeinander beziehen zu können.20 Die Rezeption der Thermodynamik und ihrer Feldgleichungen im Rahmen einer mathematischen Theorie der Kommunikation bot jedoch erstmals die Möglichkeit, dieser Differenz einen empirischen Ort innerhalb des Systems zuzuweisen und sie nicht nur analytisch aus der Perspektive eines externen Beobachters zur Abgrenzung des Systems von allem anderen zu verwenden.

a. a.O. [Anm. 8] auch Ludwig von Bertalanffy: Organismic Psychology and Systems Theory (Worcester, Mass. 1968). Mit dem Konzept des Fließgleichgewichts (›steady state‹) arbeiten auch Gilles Deleuze und Félix Guattari: Mille Plateaux (Paris 1980). 18 Dies nicht zuletzt auch im Sinne der Quantenmechanik. Siehe jedoch darüber hinaus und allgemein Louis H. Kauffman: Network Synthesis and Varela’s Calculus. In: International Journal of General Systems 4 (1978) 179–187. 19 Siehe M. Serres: Hermès, 5 Bde. (Paris 1968–1980) und die konzeptionelle Summe in ders.: Le parasite (Paris 1980). 20 Siehe zu Claude Bernards und Auguste Comtes Begriff des »milieu«: K. Müller: Allgemeine Systemtheorie, a. a.O. [Anm. 8] 34 f., und für dessen literarische Rezeption im Interesse der Beschreibung einer »lésion organique« Jürgen Ritte: Mythologe der Moderne. Emile Zola. In: Frankfurter Allgemeine Magazin 526 (30. März 1990) 46–56. Und vgl. Jakob von Uexküll: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen (Hamburg 1956).

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Dieser Ort ist die Entscheidung im Umgang mit dem Zufall, die beide, das wird der Konstruktivismus betonen,21 in das System hineinfingiert werden müssen, um in ihm fruchtbar werden zu können. Für Norbert Wiener liegt der Vorteil der von Josiah Willard Gibbs entwickelten statistischen Mechanik in der Auflösung einer komplexen Kontingenz in eine unendliche Sequenz einzelner Kontingenzen.22 Und Claude E. Shannon interessiert sich gerade deswegen so sehr für die Ähnlichkeit seines Informationsmaßes H mit Ludwig Boltzmanns Entropiemaß H, weil er die Ungewißheit einer Information an die Entscheidung (»choice«) zwischen den verschiedenen Möglichkeiten eines (bei ihm) technisch fixierten Auswahlbereiches bindet.23 Damit ist klar, daß die Operationen eines Systems zwischen das Rauschen und den Zufall einerseits und die Entscheidung und die Beschreibung eines dafür passenden Möglichkeitsraums andererseits eingespannt sind. Für alles Weitere muß im Falle des Systembegriff jetzt nur noch darauf geachtet werden, daß er nur Elemente und Operationen beschreibt, die aus Gesamtsystemeigenschaften abgeleitet werden,24 und nicht umgekehrt versucht wird, ein System aus atomistisch und substantiell irgendwie bereits vorliegenden Elementen und Operationen zusammenzusetzen. Die Systemtheorie, so dann auch Niklas Luhmann, hat es mit Prozessen einer »Konstitution von oben« zu tun, nicht einer »Emergenz von unten«.25 Für den Rest dieses Aufsatzes schauen wir uns an, wie diese Klärung der Rolle von Zufall und Entscheidung dazu verwendet werden kann, die mindestens implizit immer mitlaufende Auseinandersetzung des Systembegriffs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den von McCulloch benannten drei ungelösten Problemen der Kybernetik als heimlichen Schwerpunkt der Diskussion um den Systembegriff zu verstehen. Wie also wird gezählt, getauscht und geordnet, wenn es darum geht, Mischungsverhältnisse von Ordnung und Unordnung zu akzeptieren, Zufälle zu entscheiden und daraus ein System zu gewinnen? Um bloße Prozesse der Wechselwirkung, auch so viel ist bekannt, kann es nicht gehen, wenn man sich an das Wort von Gaston Bachelard hält, daß man sich erst dann im Raum der Wissenschaft aufhält, wenn man die Idee des geschlossenen Systems akzeptiert, weil erst diese dazu zwingt, ein Phänomen weder abergläubisch als überdeterminiert noch fatalistisch als unterdeterminiert an-

21 Siehe nur Paul Watzlawick: How Real is Real? Confusion, Disinformation, Communication (New York 1977); ders. (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus (München 31985); ders. und Peter Krieg (Hg.): Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Konstruktivismus (München 1991). 22 So N. Wiener: Cybernetics, a. a.O. [Anm. 3] 46. 23 So Claude E. Shannon: The Mathematical Theory of Communication. In: ders. und Warren Weaver: The Mathematical Theory of Communication (Urbana, Ill. 1963) 29–125, hier 45 ff. 24 So explizit H. von Foerster: Computing in the Semantic Domain. In: Annals of the New York Academy of Sciences 184 (1971) 239–241, hier 240. 25 So N. Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (Frankfurt a.M. 1984) 43.

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zunehmen.26 Nur so wahrt man die Problematik der Einheit des Phänomens im Whiteheadschen Sinne und damit die Voraussetzung für die Fruchtbarkeit einer wissenschaftlichen Fragestellung.

III. Um so wichtiger ist ein Verständnis dieser Geschlossenheit des Systems. Wir halten uns an die von Heinz von Foerster gesetzte Prämisse, die Beschreibung eines Systems an seinen Gesamtsystemeigenschaften zu orientieren und fragen von hier aus nach den Formen, in denen von der Systemtheorie Antworten auf die genannten drei ungelösten Probleme der Kybernetik gegeben worden sind. Die Systemtheorie hält sich damit an das Vorbild der Thermodynamik. Sie behandelt das System nicht bloß als die Addition seiner Elemente und Relationen und auch nicht nur als einen Ordnungsbegriff für die Beschreibungen des Beobachters, sondern sie betrachtet das System als eine intervenierende Variable, ohne deren Operation von Elementen und Relationen und auch von Beschreibungen keine Rede sein könnte. Das muß nicht darauf hinauslaufen, das System als etwas zu verstehen, was mehr ist als die Summe seiner Teile, wie eine allzu oft zitierte aristotelische Formel holistischen Denkens lautet.27 Die Systemtheorie rechnet auch mit der Möglichkeit, daß das Ganze, verstanden als System, weniger ist als die Summe seiner Teile, und dies deswegen, weil die Teile eine höhere reflexive Kraft haben als das Ganze.28 Sie profitieren davon, wenn man so sagen darf, daß sie im Verhältnis zueinander mehr Probleme zu bewältigen haben als das Ganze. Entscheidend ist das Verständnis des Systems als intervenierende Variable. Seit die Systemtheorie mit der Kybernetik in Berührung gekommen ist, sucht sie nach einem Verständnis der Leistung und Funktion dieser intervenierenden Variable. So weit ich sehe, erprobt sie im wesentlichen drei Antworten. Die erste Antwort besteht darin, dem Gesamtsystem eine teleologische Funktion zuzuschreiben, an der sich die Elemente und Relationen des Systems orientieren.29 Die zweite Antwort läuft darauf hinaus, dem Gesamtsystem die Funktion der Auseinandersetzung mit der Umwelt des Systems zuzuschreiben, die als diese

So G. Bachelard: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis (Frankfurt a.M. 1987) 316 f., 146 ff. 27 Aristoteles: Metaphysik 1041b 10. 28 So G. Günther: Cybernetic Ontology and Transjunctional Operations. In: ders.: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 1 (Hamburg 1976) 249–328, hier 319. 29 So vor allem Arturo Rosenblueth, Norbert Wiener und Julian Bigelow: Behavior, Purpose and Teleology. In: Philosophy of Science 10 (1943) 18–24, und noch G. Sommerhoff: The Abstract Characteristics of Living Systems. In: Systems Thinking. Selected Readings, hg. von F. E. Emery (London 1969) 147–202. 26

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Funktion die Elemente und Relationen des Systems entsprechend restringiert.30 Und die dritte Antwort greift auf John von Neumanns Automatentheorie zurück und schreibt dem System eine Transformationsleistung unzuverlässiger Komponenten des Systems in ein zuverlässiges Systemverhalten zu.31 So oder so muß in den Systembegriff eine komplizierte, weil mit der Vorstellung einer einfachen Einheit des Phänomens nicht mehr kompatible Innen/Außen-Relation aufgenommen werden,32 die dazu führt, das System als eine Differenz zu verstehen, die Schließung und Öffnung beziehungsweise Isolation und Reflexion zugleich leistet. Nur so erschließt sich auch der ansonsten rätselhafte Begriff der Nichtlinearität, der Reproduktion und Störung unter den Bedingungen einer aufrechterhaltenen Funktionalität übergreift und letztlich darauf zielt, Systeme zu beschreiben, die auf eine robuste Art und Weise plastisch sind beziehungsweise, wie Niklas Luhmann gerne zu sagen pflegte, in der Lage sind, sich vorübergehend an vorübergehende Lagen anzupassen.33 Eine der griffigsten Möglichkeiten, diesen Sachverhalt der nichtlinearen Reproduktion auf den Punkt zu bringen, besteht im Graph der perturbierten Rekursion, wie ihn Peter Bøgh Andersen gezeichnet hat:34 Umwelt

›› Prozess

Fig. 1: Peter Bøgh Andersens Graph der perturbierten Rekursion

30 So etwa Igor Viktorovich Blauberg, V. N. Sadovsky und E. G. Yudin: Systems Theory. Philosophical and Methodological Problems (Moskau 1977). 31 So unter Rückgriff auf John von Neumann: Probabilistic Logics and the Synthesis of Reliable Organisms from Unreliable Components. In: Automata Studies, ed. by Claude E. Shannon und John McCarthy (Princeton, NJ 1956) 43–98; Neville Moray: Humans and Their Relation to Ill-Defined Systems. In: Adaptive Control of Ill-Defined Systems, ed. by Oliver G. Selfridge, Edwina L. Rissland und Michael A. Arbib (New York 1984) 11–20; Walter L. Bühl: Sozialwissenschaften jenseits des Gleichgewichtspfades. In: Soziale Welt 40 (1989) 97–110; N. Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie (Wien 1996) 51 ff. 32 Siehe auch Archie J. Bahm: Systems Theory. Hocus Pocus or Holistic Science? In: General Systems 14 (1969) 175–177. 33 So zum Beispiel in N. Luhmann: Probleme mit operativer Schließung. In: ders.: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch (Opladen 1995) 12–24, hier 14 f. – Für eine Diskussion des mathematischen Begriffs der Nichtlinearität danke ich Remigius Bunia. 34 Siehe P. Bøgh Andersen: WWW as Self-Organizing System. In: Cybernetics and Human Knowing 5/2 (1998) 5–41; ders.: Dynamic Semiotics. In: Semiotica 139 (2002) 161–210.

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Die Bezeichnung jener Black box, die für die Verschaltung von Rekursion und Perturbation verantwortlich ist, als »Prozeß« ist hier wie so oft ein Verlegenheitsbegriff, der die Stelle besetzt, an der von »Selbstorganisation« als dem entscheidenden Vermögen komplexer Phänomene die Rede sein müßte. Immerhin jedoch können wir aus dem Graph die basale Ungleichung der Systemtheorie ableiten, die das System, S, als Funktion seiner selbst, S, und seiner Umwelt, U, beschreibt:35 S = S (S, U) und daraus die Konsequenz ableitet: S ⫽ S. Diese Paradoxie, die mit jedem auf eine Umweltstörung reagierenden Schritt der Systemreproduktion S als S identifiziert und differiert zugleich, muß aufgelöst werden, wenn das System sich reproduzieren können soll, wobei man sich eine Entparadoxierung nicht nur in der Zeitdimension des Sinns, abhängig vom Zeitpunkt t, St ⫽ St‘, sondern auch in der Sachdimension, abhängig vom Anderssein derselben Sache s, Ss ⫽ Ss’, und in der Sozialdimension, abhängig von der Differenz zwischen ego und alter oder zwischen Ich und Du, Sich ⫽ Sdu, vorstellen kann.36 Vermutlich muß man die Dreiheit der ungelösten Probleme der Kybernetik im Zusammenhang sehen, um sich einem Verständnis dessen zu nähern, was der Systembegriff als Problembegriff in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder neu zu leisten hat. Und vermutlich ist es kein Zufall, daß ausgerechnet ein mit der Dialektik vertrauter Philosoph wie Gotthard Günther über Konzepte einer mehrwertigen Logik nachdenkt, um sich mit der Problematik auseinandersetzen zu können, die der Systembegriff aufwirft.37 Wir müssen Gotthard Günthers Verständnis der Dialektik des Systems38 mit einer erneuSiehe dazu D. Baecker: Die Theorieform des Systems. In: Soziale Systeme 6 (2000) 1–24. Siehe zur Differenz der Sinndimensionen N. Luhmann: Soziale Systeme, a. a.O. [Anm. 25] 101 ff.; und vgl. die Beschreibung der Schrift als différance, »die in ein und derselben Möglichkeit zugleich die Temporalisation, das Verhältnis zum Anderen und die Sprache eröffnet«, bei Jacques Derrida: Grammatologie (Frankfurt a.M. 1974) 105, wobei hier die Sprache für die Sachdimension des Sinns stehen mag. 37 Siehe G. Günther: Beiträge zu einer operationsfähigen Dialektik, 3 Bde. (Hamburg 1976– 1980); und vgl. Elena Esposito: L’operazione di osservazione. Costruttivismo e teoria dei sistemi sociali (Milano 1992); Rudolf Kaehr: Disseminatorik. Zur Logik der »Second Order Cybernetics«. In: Kalkül der Form, hg. von D. Baecker (Frankfurt a.M. 1993) 152–196; Walter L. Bühl: Das Ende der zweiwertigen Soziologie. Zur logischen Struktur der soziologischen Wandlungstheorien. In: Soziale Welt 20 (1969) 162–180; ders.: Luhmanns Flucht in die Paradoxie. In: Die Logik der Systeme. Zur Kritik der systemtheoretischen Soziologie Niklas Luhmanns, hg. von Peter Ulrich Merz-Benz und Gerhard Wagner (Konstanz 2000) 225–256; Nina Ort: Reflexionslogische Semiotik. Zu einer nicht-klassischen und reflexionslogisch erweiterten Semiotik im Ausgang von Gotthard Günther und Charles S. Peirce (Weilerswist 2007). 38 Niemand hat es mißtrauischer formuliert als Adorno: »Das System ist der Geist gewordene Bauch, Wut die Signatur jeglichen Idealismus […].« Statt dessen käme es darauf an, sich an der Negation zu orientieren und in Modellen zu denken, um das Besondere als Kritik am 35 36

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ten Beschäftigung mit den ungelösten Problemen der Kybernetik kombinieren, um nachvollziehen zu können, worin die ungebrochene Faszination des Systembegriffs von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis heute begründet sein kann. Günthers Ideen zu einer kybernetischen Ontologie, so möchte ich zur Diskussion stellen, antworten auf die beiden Probleme der Kopplung nichtlinearer Operatoren und der kontinuierlich nichtlinearen Vorhersage. Welche Idee jedoch antwortet auf das Problem der Statistik? Schauen wir uns zunächst das Problem der Statistik an, um uns dann den beiden anderen Problemen zuzuwenden. Ein weiteres Mal lohnt es sich, auf Warren McCulloch zurückzugreifen. Ich vermute, daß seine jahrelange Auseinandersetzung mit der Frage des Zählens als eine wichtige Spur zur Lösung des Problems der Statistik zu verstehen ist, und stelle die Überlegung zur Diskussion, daß ein Teil der Lösung des Problems in einer Kombination von Automatentheorie, Informationstheorie und Formtheorie zu suchen ist. Zählen, so können wir im Anschluß an George SpencerBrowns Formtheorie sagen, steht in einer komplizierten Beziehung zum Erinnern, indem es bestimmte Einheiten als different und identisch zugleich setzt. Die Erinnerung, so sagt Spencer-Brown, setzt etwas als identisch, das Zählen setzt es als different.39 Systemtheoretisch gesprochen braucht man eine Verschränkung dieser beiden bereits anspruchsvollen Operationen des Erinnerns und Zählens, um aus den unzuverlässigen, weil komplexen, das heißt ebenso inkommensurablen wie uneindeutigen Komponenten eines Systems ein zuverlässiges System zu gewinnen.40 Die Aufnahme mathematischer Konzepte der statistischen Mechanik aus der Thermodynamik in die Informationstheorie kommt dieser Forderung bislang, soweit ich sehe, am nächsten. Denn Shannons Informationsbegriff setzt die beiden Operationen des Zählens und des Bestimmens von Anfang an in einen Bezug der wechselseitigen Verschränkung, wenn er den Informationswert einer Nachricht als Selektion dieser Nachricht aus einem Auswahlbereich möglicher Nachrichten bestimmt.41 Man muß zählen und erinnern, um einen Auswahlbereich technisch zu fixieren oder kontextuell offen zu halten.42 Und man

System zu begreifen. So Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Bd. 6 (Frankfurt a.M. 1973) 34, 38. 39 So in George Spencer-Brown: Laws of Form (New York 1972) 65. 40 Siehe in diesem Sinne N. Luhmann: Soziale Systeme, a. a.O. [Anm. 25] 46 f.; und vgl. mit der Forderung einer Philosophie der Konfusion Michel Serres: Les cinq sens (Paris 1985) 175, 24 f., 81 ff. 41 So in C. E. Shannon: The Mathematical Theory of Communication, a. a.O. [Anm. 23] 31. 42 Am Unterschied zwischen technischer Fixierung und kontextueller Offenheit (»Kontextualisierung«) orientiert sich eine Interpretation der mathematischen Kommunikationstheorie als Sonderfall einer allgemeinen, und dann insbesondere soziologischen Kommunikationstheorie. Siehe hierzu D. Baecker: Kommunikation im Medium der Information. In: ders.: Wozu Sys-

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muß zählen und erinnern, um innerhalb dieses Auswahlbereichs eine bestimmte Nachricht zu identifizieren und als Anhaltspunkt für die Gewinnung einer Information, die ohne den Verweis auf den Auswahlbereich nicht zu haben ist, zu bestimmen. Mit all dem ist gesagt, daß das Problem der Verfügbarkeit statistischer Datenreihen, ohne dessen Lösung die Kybernetik nicht anwendbar ist, vom System selbst gelöst werden muß, wenn ein System die eigene Unwahrscheinlichkeitsschwelle überwinden können soll. Das System ist die Entscheidung der Frage der Zugehörigkeit beziehungsweise Verwendbarkeit bestimmter Komponenten (Elemente, Relationen, Operationen) seiner selbst zur Erhaltung seiner selbst im Rahmen eines Wahrscheinlichkeitskalküls, das es ihm erlaubt, mit der Unzuverlässigkeit seiner Komponenten zu rechnen und aus dieser Rechnung deren Zuverlässigkeit zu gewinnen. Wenn das System nicht zählt, reproduziert es sich nicht.43 Mit all dem ist das Problem selbst allerdings nicht gelöst, sondern nur die Typik des Mechanismus benannt, nach dem man sich nun auf die Suche machen kann, um empirisch zu bestimmen, wie das System macht, was es machen können muß, wenn die systemtheoretisch abgeleiteten Vermutungen stimmen. Deswegen, um es noch einmal zu sagen, ist der Systembegriff kein Begriff der Lösung aller Probleme, sondern ein Begriff der Bestimmung und Schärfung aller Probleme, mit denen es Beobachter im Umgang mit der Komplexität selbstorganisierender Prozesse aktuell zu tun haben.44 Das System zählt, indem es, bildlich gesprochen, davon ausgeht, daß ihm seine Stunde immer schon geschlagen hat. Es gewinnt seine Reproduktion aus der Überwindung nicht nur der Wahrscheinlichkeit, sondern auch der Beobachtung des eigenen Zusammenbruchs,45 indem es jeden einzelnen aktuellen oder

teme? (Berlin 2002) 111–125; ders.: Form und Formen der Kommunikation (Frankfurt a.M. 2005). 43 Siehe in diesem Sinne auch Maren Lehmann: Systemtheorie als Hypothek. In: Zwischen Intention und Funktion. Zur Vermittlung von sozialer Situation und Systemkontext, hg. von Jens Aderhold und Olaf Kranz (Wiesbaden 2007) 293–312; dies.: Negieren lernen. Vom Rechnen mit Individualität. In: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie 13 (2007) 468–479. Überlegungen zu den kognitiven Voraussetzungen und Leistungen des Zählens sind überdies immer noch erstaunlich selten. Eine bemerkenswerte Ausnahme, formuliert als Einwand gegen die einschlägige Beschreibung der Zahl als Abstraktion bei Oswald Spengler, ist Marshall McLuhan: Understanding Media (New York 1964) Kapitel 11, mit Überlegungen zur Zahl und zum Zählen als einer Extension des Tastsinns, mit dessen Hilfe wir in der Lage sind, das Verhältnis von Körpern zueinander zu bestimmen. 44 Und dies seit der Entdeckung des heuristischen Sinns des Begriffs der Komplexität etwa bei W. Weaver: Science and Complexity. In: American Scientist 36 (1948) 536–544; Edgar Morin: Complexity. In: International Social Science Journal 26 (1974) 555–582; und N. Luhmann: Haltlose Komplexität. In: ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 5 (Opladen 1990) 59–76. 45 So auch Terry Winograd und Fernando Flores: Understanding Computers and Cognition. A New Foundation of Design (Norwood, NJ 1986). Denn wahrnehmbar sind in der transparenten Matrix der Welt nur ihre Risse und ihre Ebenen von Brüchen, meint Gregory Bateson: Geist und Natur. Eine notwendige Einheit (Frankfurt a.M. 1982) 23 f.

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potentiellen Zusammenbruch für jene Punktuierung der eigenen Prozesse nutzt, die es überhaupt erlaubt, von Prozessen zu reden.46 Die empirische Evidenz für Überlegungen dieser Art ist nach wie vor knapp, doch bietet etwa die neurophysiologische Forschung von Francisco J. Varela durchaus Anlaß für eine optimistische Einschätzung dieser Suchrichtung.47

IV. Entscheidend ist für die Frage des Zählens, verstanden als Frage der Entfaltung eines eigenen Wahrscheinlichkeitskalküls möglicher Operationen, der Verweis auf die Unentscheidbarkeit jeder einzelnen Operation beziehungsweise jeder einzelnen Komponente des Systems. Ohne diese Unbestimmtheit und möglicherweise sogar selbstgemachte Unbestimmtheit48 könnte das System weder zählen noch rechnen. Deswegen wurde es so wichtig, den Beobachter im Rahmen der so genannten Kybernetik zweiter Ordnung in das System zu internalisieren, das heißt nicht nur von beobachteten, sondern auch von beobachtenden Systemen zu sprechen.49 Denn nur der Beobachter kann und muß das Unbestimmte und von außen Unentscheidbare entscheiden.50 Die Lösung der beiden anderen Probleme setzt die Lösung des ersten Problems voraus beziehungsweise steht mit dieser in einem zirkulären Zusammenhang.51 Die Kopplung nichtlinearer Oszillatoren ebenso wie die kontinuierlich

46 So, unter Verweis auf P. Watzlawick, Janet H. Beavin und Don D. Jackson: Pragmatics of Human Communication. A Study of Interactional Patterns, Pathologies, and Paradoxes (New York 1967); Anthony Wilden: System and Structure. Essays in Communication and Exchange (London 1972) 111 ff. 47 Siehe Francisco J. Varela und Samy Frenk: The Organ of Form. Towards a Theory of Biological Shape. In: Journal of Social Biological Structure 10 (1987) 73–83; Francisco J. Varela, Antonio Coutinho, Bruno Dupire und Nelson N. Vaz: Cognitive Networks. Immune, Neural, and Otherwise. In: Theoretical Immunology. Bd. 2, hg. von Alan S. Perelson (Redwood City, Cal. 1988) 359–375; F. J. Varela: Organism. A Meshwork of Selfless Selves. In: Organism and the Origins of Self, hg. von Alfred J. Tauber (Dordrecht 1991) 79–107; ders.: Ethisches Können (Frankfurt a.M. 1994) 50 ff. Vgl. auch D. Baecker: Rechnen lernen. In: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie 9 (2003) 131–159. 48 So, zugleich auch als Theorieformulierung »letzter Hand«, N. Luhmann: Die Kontrolle von Intransparenz. In: Komplexität managen. Strategien, Konzepte und Fallbeispiele, hg. von Heinrich W. Ahlemeyer und Roswita Königswieser (Wiesbaden 1998) 51–76. 49 So von Foerster: Observing Systems, a. a.O. [Anm. 10], und ders.: Understanding Understanding, a. a.O. [Anm. 10]. 50 So Kauffman: Network Synthesis and Varela’s Calculus, a. a.O. [Anm. 18]; und Heinz von Foerster: KybernEthik (Berlin 1993) 73: »Nur die Fragen, die im Prinzip unentscheidbar sind, können wir entscheiden.« 51 Es sei daran erinnert, daß die Entdeckung der Unausweichlichkeit der Figur der Zirkularität am Anfang dieser wechselseitigen Schärfung der Problemstellungen von Kybernetik und Systemtheorie stand. Die berühmten Konferenzen der Josiah Macy Jr. Foundation standen

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nichtlineare Vorhersage gelingen nur in einem Zusammenhang des Zählens und Rechnens, so wie umgekehrt zum Zählen und Rechnen nur Anlaß ist, wenn nichtlinear gekoppelt und vorhergesagt werden muß. Welchen Beitrag, wenn es schon die Mathematik nicht tut,52 leistet also die Diskussion des Systembegriffs zur Lösung der beiden letzteren Probleme? Wir greifen, wie gesagt, auf Überlegungen von Gotthard Günther zurück, auch wenn diese nicht explizit auf die von Warren McCulloch genannten Probleme reagieren. Wir vertreten die These, daß die Kopplung nichtlinearer Oszillatoren im Medium des Tauschens und die kontinuierlich nichtlineare Vorhersage im Medium des Ordnens möglich sind, wenn ein System Beobachtungen bereitstellt, in denen Kopplung auf Vorhersage und Tausch auf Ordnung bezogen werden kann. Gotthard Günther stellt sich dieses System als Bezugspunkt sogenannter proemieller, allem anderen vorausgehender Relationen vor, die im wesentlichen darin bestehen, aktuelle Zustände des Systems laufend mit potentiellen Zuständen und potentielle Zustände mit aktuellen Zuständen abzugleichen.53 Mit anderen Worten, das System ist sein eigener Unruhezustand.54 In Tauschrelationen vergleicht es laufend die eigenen Zustände mit möglichen anderen Zuständen, jederzeit bereit zum Wechsel. Und in Ordnungsrelationen insistiert es auf asymmetrisierenden Bewertungen, jederzeit bereit zu einer

unter dem Titel »Circular Causal, and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems«, deren Veröffentlichung H. von Foerster dann den Obertitel »Cybernetics« vorschaltete. Siehe jetzt die Wiederveröffentlichung unter dem Titel: Cybernetics – Kybernetik. The Macy-Conferences 1946–1953, hg. von Claus Pias. Bd. 1: Transactions / Protokolle (Zürich 2003). Siehe auch die kanonische Formulierung der Zirkularität bei W. S. McCulloch: A Heterarchy of Values Determined by the Topology of Nervous Nets. In: ders.: Embodiments of Mind (Cambridge, Mass. 21989) 40–45; und vgl. G. Bateson: Epistemologie, Rekursivität, Sprache. Einige Anmerkungen zu (m)einem Weltbild. In: Zeitschrift für systemische Therapie 8 (1990) 165–172. 52 Meine Anfrage (E-mail vom 4. Januar 2008) an Louis H. Kauffman, Mathematiker und gegenwärtig Präsident der Amerikanischen Gesellschaft für Kybernetik, ob die drei von Warren McCulloch genannten Probleme inzwischen eine mathematische Lösung erfahren haben, wird noch bearbeitet. – Siehe zur Auseinandersetzung der Mathematik mit der Problematik des Systembegriffs auch Kunihiko Kaneko: Chaos as a Source of Complexity and Diversity in Evolution. In: Artificial Life 1 (1994) 163–177; Loet Leydesdorff und Daniel Dubois: Anticipation in Social Systems. In: International Journal of Computing Anticipatory Systems 15 (2004) 203–216; Jürgen Jost und Eckehard Olbrich: Luhmanns Gesellschaftstheorie. Anregung und Herausforderung für eine allgemeine Theorie komplexer Systeme. In: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie 13 (2007) 46–57. Und für eine Rückübersetzung in die Philosophie der Logik Christina Weiss: Form und Information. Zur Logik selbstreferentieller Strukturgenese (Würzburg 2006). 53 Siehe G. Günther: Cognition and Volition, a. a.O. [Anm. 6] 225 ff. 54 Das hat das System neuerdings mit Netzwerken gemeinsam, wenn man sich für deren Beschreibung an einen soziologischen Begriff hält, der »failed ties« und »switchings« in den Mittelpunkt des Interesses stellt. Siehe in diesem Sinne Harrison C. White: Identity and Control. A Structural Theory of Action (Princeton, NJ 1992); ders.: Network Switchings and Bayesian Forks. Reconstructing the Social and Behavioral Sciences. In: Social Research 62 (1995) 1035–1063.

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funktionalen Beobachtung, die in ihrem eigenen Horizont einer mitlaufenden Beobachtung funktionaler Äquivalente stehen. In beiden Hinsichten befähigt sich das System auf diese Art und Weise zu einer Konditionierung sowohl der Zustandswechsel als auch der funktionalen Beobachtung, die ihrerseits wieder den Bezügen des Tauschens und der Ordnung unterworfen sind.55 Die Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann stellt für die beiden Sachverhalte des Tauschens und des Ordnens die beiden Begriffe des Sinns und der Funktion zur Verfügung. »Sinn« heißt, daß kein Systemzustand nicht als Systemzustand gedacht wird, von dem aus andere Systemzustände erreicht werden könnten.56 Und »Funktion« heißt, daß kein Systemzustand sich der Rückfrage entziehen kann, zu welcher Lösung welchen Problems er welchen Beitrag leistet.57 Die Formulierung der beiden Begriffe des Sinns und der Funktion in einer negativen Form ist hier mit Bedacht gewählt, weil beide Leistungen des Tauschens und des Ordnens ohne einen Rekurs auf die Fähigkeit der Negation kaum vorstellbar sind. Weder Sinn noch Funktion können in einem System dieser Konzeption negiert werden, auch darauf ist hinzuweisen, doch um so wichtiger ist es, daß die Negation innerhalb des Systems ein freies, nur durch das System selbst zu limitierendes Spiel hat.58 Sie gewinnt dieses Spiel aus der immer mitlaufenden Beobachtung des Risikos der Konstitution der Komponenten, Elemente und Relationen des Systems. Die Beobachtung dieses Risikos hat zur Folge, daß das System seinerseits als eine Funktion gedacht wird, die jederzeit

Die Diskussion dieses Sachverhalts läuft spätestens seit H. von Foerster und G. W. Zopf, jr. (Hg.): Principles of Self-Organization (New York 1961) unter dem Stichwort der Selbstorganisation. Siehe zur Problematik der Konditionierung insbesondere W. Ross Ashby: Principles of the Self-Organizing Dynamic System. In: Journal of General Psychology 37 (1947) 125–128; ders.: Principles of Self-Organization. In: ders.: Mechanisms of Intelligence. Ross Ashby’s Writings on Cybernetics, hg. von Roger Conant (Seaside, Cal. 1981) 51–74; N. Luhmann: Die Kontrolle von Intransparenz, a. a.O. [Anm. 48]. Und vgl. Yves Barel: Le paradoxe et le système, essai sur le fantastique social (Grenoble 21989); und zur Bedingung der Selbstdesorganisation als Voraussetzung der Selbstorganisation H. von Foerster: On Self-Organizing Systems and Their Environments. In: ders.: Observing Systems, a. a.O. [Anm. 10] 1–23. 56 Siehe N. Luhmann: Sinn als Grundbegriff der Soziologie. In: Jürgen Habermas und Niklas Luhmann. Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung? (Frankfurt a.M. 1971) 25–100; N. Luhmann: Soziale Systeme, a. a.O. [Anm. 25] 92 ff.; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft (Frankfurt a.M. 1997) 36 ff., 44 ff. 57 Siehe N. Luhmann: Funktion und Kausalität. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 14 (1962) 617–644; ders.: Funktionale Methode und Systemtheorie. In: Soziale Welt 15 (1964) 1–25; ders.: Soziologische Aufklärung. In: Soziale Welt 18 (1967) 1–25; ders.: Soziale Systeme, a. a.O. [Anm. 25] 30 ff. 58 Siehe zur Rolle der Negation N. Luhmann: Über die Funktion der Negation in sinnkonstituierenden Systemen. In: Positionen der Negativität. Poetik und Hermeneutik, Bd. 6, hg. von Harald Weinrich (München 1975) 201–218; D. Baecker: Was leistet die Negation? In: G. Deleuze. Fluchtlinien der Philosophie, hg. von Friedrich Balke und Joseph Vogl (München 1996) 93–102; Armin Nassehi: Warum Systeme? In: ders.: Geschlossenheit und Offenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft (Frankfurt a.M. 2003) 59–85. Und vgl. J. Derrida: L’Écriture et la Différence (Paris 1967); und G. Deleuze: Logique du sens (Paris 1969). 55

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bereit sein muß, einen Zustand zu negieren, um von ihm aus zu einem möglicherweise stabileren, aussichtsreicheren Zustand zu gelangen. Gotthard Günther hat deswegen die Forderung aufgestellt, für Systembeschreibungen nicht nur Positivsprachen, sondern auch Negativsprachen zu entwickeln und zu berücksichtigen.59 Positivsprachen bestimmen, was sie bestimmen. Sie erfüllen eine kognitive Funktion. Negativsprachen jedoch reflektieren die Beschreibung ihrer Gegenstände am Risiko sowohl des Gegenstands als auch der Beschreibung, ganz zu schweigen vom Beobachter, der die Beschreibung vornimmt. Sie stammen angesichts der Freiheit, zu der die Beobachtung dieses Risikos befähigt, nicht aus der Suche nach der sicheren Erkenntnis, sondern aus einer Art Bekenntnis, einem Entschluß zu einem Willensakt, der jede weitere Nachfrage allenfalls auf jenen »finsteren Grund« verweist, dessen Begriff Günther aus Schellings letzter Fassung des deutschen Systemidealismus gewinnt.60 Will man die Ergebnisse der Auseinandersetzung der Systemtheorie mit den ungelösten Fragen der Kybernetik zusammenfassen, so kann man festhalten, daß das System seine eigene Statistik aus einem Zählen gewinnt, zu dem es sich durch Negationen im Medium der eigenen inkommensurablen Komplexität befähigt. Das Problem der Kopplung nichtlinearer Oszillatoren wird von Sinnfiguren gelöst, die aus oszillierenden Unterscheidungen bestehen, deren Termini in je nach Bedarf und Findigkeit überraschenden und zwingenden Beziehungen zueinander stehen. Und das Problem der kontinuierlich nichtlinearen Vorhersage wird von funktionalen Bewertungen gelöst, die im Kontext der Beobachtung funktionaler Äquivalente stehen, die jede für sich die Frage einer unbekannten Zukunft sowohl aufwerfen als auch zu bearbeiten erlauben.

V. Eine in sich geschlossene Formulierung hat der Systembegriff auch im 20. Jahrhundert nicht erreicht. Nach wie vor liegt seine Leistung in der Ordnung von Beobachtungen und Beschreibungen, die es mit dem Problem komplexer Phänomene aufnehmen, den Beobachter mit Einheit und Vielfalt, Öffnung und Schließung, Bestimmtheit und Unbestimmtheit zugleich zu konfrontieren. Systemtheoretiker sind jederzeit bereit, den Systembegriff auf einen analytischen, von einem Beobachter verwendeten Begriff zurückzunehmen, experimentieren jedoch auch immer wieder mit der Möglichkeit, die an Beobachtungen und Beschreibungen studierte Fähigkeit zum Zählen, Tauschen und Ordnen auch

59 Siehe G. Günther: Martin Heidegger und die Weltgeschichte des Nichts. In: ders.: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 3 (Hamburg 1980) 260–296; ders.: Identität, Gegenidentität und Negativsprache. In: Hegel-Jahrbuch 1979 (Köln 1980) 22–88. 60 Siehe Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit (Stuttgart 1964).

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dem beobachteten Gegenstand zu unterstellen.61 Der Systembegriff oszilliert zwischen der Entdeckung, daß auch dem Gegenstand Selbstreferenz zu unterstellen ist, und der Einsicht, daß alle am Gegenstand entdeckten Fähigkeiten autologisch auch dem Beobachter zu unterstellen sind. Und beides wird im Rahmen der Logik einer »Unterstellung« formuliert, die neben den kognitiven auch die volitiven Aspekte dieses Vorgehens reflektiert. Die Errungenschaft des Systembegriffs im 20. Jahrhundert liegt darin, daß es immer besser gelingt, äußerste Konkretion, eine gleichsam bedingungslose Nähe zum Gegenstand, mit einer bemerkenswerten Abstraktion, einer Ausweitung des Vergleichshorizonts der Begriffe, zu kombinieren, ohne jemals aus den Augen zu verlieren, daß Konkretion und Abstraktion ihrerseits riskante Beobachtungsund Beschreibungsleistungen sind.62 Das 21. Jahrhundert wird diese Bemühungen fortsetzen. Und es wird immer wieder neu versuchen, Systemleistungen sowohl auf die Einheit des Systems zu beziehen als auch eine Begriffsarchitektur zu entfalten, die diese Leistungen im einzelnen zu untersuchen und aufeinander zu beziehen vermag. Das Drama des Systembegriffs, von der Kritik unbemerkt, hat sich in der Auseinandersetzung der Systemtheorie mit jenen mathematischen Intuitionen abgespielt, die zur Formulierung der Informationstheorie, der Kybernetik und auch der Spieltheorie geführt haben.63 Im Zentrum eines sich selbst systematisch mißtrauenden Systembegriffs steht seither ein Wahrscheinlichkeitskalkül, das nicht nur mit dem Rauschen rechnet, sondern auch bereit ist, sich selbst als Rauschen zu diskontieren. In dieses Kalkül zeichnen sich das Wissen um die Notwendigkeit der Entscheidung des Unentscheidbaren und eine bedingungslose Orientierung an einer alles andere als beliebigen, polykontextural strukturierten Vielzahl von Beobachtern und deren Unterscheidungen ein.64

Daher das »Skandalon« des Satzes von Luhmann: Soziale Systeme, a. a.O. [Anm. 25] 30: »Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt. Sie beginnen also nicht mit einem erkenntnistheoretischen Zweifel.« 62 Nicht nur epistemologische, sondern auch ökologische, um nicht zu sagen, gesundheitliche Überlegungen sind bei der Arbeit mit der Systemtheorie daher immer mitzuführen, und dies seit Alfred Korzybski: Science and Sanity. An Introduction to Non-Aristotelian Systems and General Semantics (Lakeville, Conn. 41958), und G. Bateson: Steps to an Ecology of Mind (New York 1972). 63 Siehe zu letzterem nur die Idee eines Spiels mit bestimmt unvollkommener Information im Rahmen einer »theory of partitions« bei John von Neumann und Oskar Morgenstern: Theory of Games and Economic Behavior (Princeton 1972) 60 ff., ganz zu schweigen von deren fast an ein Theorem der Selbstreferenz (mindestens jedoch: der tautologischen Selbstfundierung) gemahnenden Idee, die in Spielen gefundenen »standards of behavior« beziehungsweise »established orders of society« als jene Lösungen von Spielen zu verstehen, die sich bewähren (ebd. 40 f.). Siehe zur Rückführung der Spieltheorie auf eine »theory of constraints«, die selbst gesetzt werden (müssen), auch Jon Elster: Ulysses Unbound. Studies in Rationality, Precommitment, and Constraints (Cambridge 2000). 64 Letzteres liegt dem in diesem Sinne ebenfalls nahezu systematischen Interesse der Soziologie an der Systemtheorie zugrunde. Siehe dazu neben dem Werk von Talcott Parsons und Niklas Luhmann auch Walter L. Bühl: Sozialer Wandel im Ungleichgewicht. Zyklen, Fluktuatio61

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Man darf gespannt sein, ob die Mathematik Anschluß an diese Rezeption mathematischer Ideen in der Systemtheorie finden wird.65 Deutlich ist bislang nur, daß der Rahmen der zweiwertigen Logik für diesen Anschluß der Mathematik unzureichend ist. Doch offen ist, inwieweit eine mehrwertige Logik semantischer Felder66 jene operative und kategoriale Bestimmtheit erreichen kann, die es erlauben würde, den statistischen Feldbegriff der Thermodynamik an den konstruktivistischen Systembegriff der kognitionswissenschaftlichen Forschung aufschließen zu lassen. Entschieden ist jedenfalls nichts.

nen, Katastrophen (Stuttgart 1990); ders.: Verantwortung für soziale Systeme. Grundzüge einer globalen Gesellschaftsethik (Stuttgart 1998); Helmut Willke: Symbolische Systeme. Grundriss einer soziologischen Theorie (Weilerswist 2005). Und zu einem entsprechenden Verständnis von Soziologie: Bruno Latour: A Relativistic Account of Einstein’s Relativity. In: Social Studies of Science 18 (1988) 3–44; ders.: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie (Frankfurt a.M. 2007). Siehe zum Begriff der Polykontexturalität G. Günther: Life as Poly-Contexturality. In: ders.: Beiträge zu einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 2 (Hamburg 1979) 283–306. 65 Es ist vermutlich kein Zufall, daß aktuelle Formulierungen der Systemtheorie als Theorie komplexer Systeme (Santa Fe) nur unter der Bedingung der Vermeidung einer Bearbeitung des Selbstreferenzproblems mit einer mathematischen Modellierung kompatibel sind. Siehe Stuart A. Kauffman: The Origins of Order. Self Organization and Selection in Evolution (Oxford 1993); ders.: At Home in the Universe. The Search for Laws of Self-Organization and Complexity (New York 1995); M. Mitchell Waldrop: Complexity. The Emerging Science at the Edge of Order and Chaos (New York 1992); Murray Gell-Mann: The Quark and the Jaguar. Adventures in the Simple and the Complex (London 1995). Und umgekehrt vermeidet eine an der Theorie rekursiver Funktionen orientierte Selbstreferenzforschung die Frage nach der Systemreferenz, so etwa Douglas R. Hofstadter: Gödel, Escher, Bach. An Eternal Golden Braid (New York 1979), und eine an den Fragen der (Un-)Berechenbarkeit von mathematischen Funktionen orientierte Erforschung von Algorithmen sowohl die Frage der Selbstreferenz als auch die Frage der Systemreferenz, so etwa Gregory Chaitin: Meta Maths. The Quest for Omega (London 2007). 66 Auch im Sinne von Dirk Rustemeyer: Sinnformen. Konstellationen von Sinn, Subjekt, Zeit und Moral (Hamburg 2001); ders.: Oszillationen. Kultursemiotische Perspektiven (Würzburg 2006).

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Verantwortung Verantwortung ist der Nabelstrang zur Schöpfung (P. B.)1

Die Erschütterung, die der Verantwortungsbegriff im 20. Jahrhundert erfuhr, kennt in der Geschichte nicht ihresgleichen. Alle Rahmen sprengend, rückte ›Verantwortung‹ von einem Terminus des Rechts und der Moral auf die Position eines ontologisch-existentialen (für manche: metaphysischen) Grundbegriffs vor, ranggleich mit ›Wahrheit‹ und ›Freiheit‹.2 Im vergangenen Jahrhundert wurde für die verschiedensten Denkweisen der Umstand offensichtlich, daß nicht die Freiheit, sondern die Verantwortung die Seinsweise des Menschen und seine Verortung in der Welt am umfassendsten beschreibt. »Être homme, c’est précisément être responsable«, schrieb Antoine de Saint-Exupéry bereits in den dreißiger Jahren.3 Die Aufwertung des Verantwortungsbegriffs erforderte jedoch einige Anstrengung. Die Verantwortung mußte neu problematisiert werden, wogegen eine im gesunden Menschenverstand wurzelnde Selbstverständlichkeit überaus starken Widerstand leistete. Was Verantwortung ist, scheint vielen Menschen frei von jeglicher Verständnisschwierigkeit.4 So bedurfte es großer Entschiedenheit, vor nunmehr vierzig Jahren laut und vernehmlich zu sagen: »wir wissen nicht, was Verantwortung ist.«5 Die Erfahrungen des Menschen im 20. Jahrhundert zum einen und gewisse Entwicklungen in der Philosophie zum anderen führten dazu, daß das Phänomen

Wahrscheinlich Paula Winkler-Buber, vgl. Martin Buber: Die Frage an den Einzelnen. Werke Bd. 1 (München, Heidelberg 1962) 216. 2 Der vorliegende Text unternimmt den Versuch, dieses Ereignis zu verstehen und das neue Verständnis von Verantwortung soweit darzulegen, wie dies heute, da die Herausbildung des neuen Begriffs noch nicht abgeschlossen scheint, möglich ist. Dieser Text hat nicht die Aufgabe, alle interessanten Ideen, die im 20. Jahrhundert zum Thema Verantwortung formuliert wurden, enzyklopädisch darzustellen und zu systematisieren. 3 A. de Saint-Exupéry: Terre des hommes (Paris 1939) 62. 4 Die überwiegende Mehrzahl der Bücher und Artikel, die im 20. Jahrhundert zum Thema Verantwortung geschrieben wurden, verzichtet auf eine Problematisierung der Verantwortung. Man führt Diskussionen darüber, wer und unter welchen Umständen, wofür und wem gegenüber verantwortlich sei, etc. Man fragt jedoch nicht mehr, was die Verantwortung als solche sei; wohl deshalb, weil dies selbstverständlich erscheint. Auch die maßgeblichen Philosophen entscheiden sich mitunter für ein solches Vorgehen. Hier wirkt die Kraft der Selbstverständlichkeit unproblematischer Begriffe. Man weiß nicht, daß man etwas nicht weiß, m. a. W., man hat noch nicht zu philosophieren begonnen. 5 Georg Picht: Der Begriff der Verantwortung. In: ders.: Wahrheit – Vernunft – Verantwortung. Philosophische Sudien (Stuttgart 1969) 322. Erstdruck in: Kirche und Staat. Festschrift für Herman Kunst, hg. von Kurt Aland und Wilhelm Schneemelcher (Berlin 1967) 189–213. 1

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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der Verantwortung mit bislang ungekannter Intensität erlebt und in bislang ungekannter Radikalität formuliert wurde. Der ›Tod Gottes‹, insbesondere Gottes als einer über die Welt wachenden Vorsehung, den Nietzsche bereits im 19. Jahrhundert verkündete, und das ›Schweigen Gottes‹, das viele Menschen im 20. Jahrhundert erfuhren, förderten das Bewußtsein dafür, daß der Mensch allein Verantwortung für die Welt übernehmen, das heißt: für die Welt verantwortlich sein kann. Doch nicht nur Nietzsches Freiheit »der höheren Geister« erwies sich letztlich als »Wille zur Selbstverantwortlichkeit«.6 Auch die Phänomenologie Husserls war von einem »Willen zur Selbstverantwortung«7 durchdrungen und strebte nach »der größten existenziellen Wandlung […], die der Menschheit als Menschheit aufgegeben ist«,8 um diese »zu einem von Grund aus neuen Menschentum zu wandeln, befähigt zu einer absoluten Selbstverantwortung aufgrund absoluter theoretischer Einsichten«.9 Diesem Denken entsprach in der real erfahrenen Welt ein nie dagewesener Zuwachs an menschlicher Macht und daher auch an Verantwortung, denn Verantwortung wurde als Funktion der Macht erkannt (Hans Jonas). Auf dem Weg der Freiheit voranschreitend und stufenweise alle Beschränkungen hinter sich lassend, verstand der neuzeitliche Mensch lange nicht, daß dieser Freiheit eine Verantwortung zugrunde liegt. »Man [kannte] nur die Freimachung von den Bindungen, nicht aber die Befreiung zur Verantwortung«, schrieb Martin Buber.10 Hatten Freiheit und Wahrheit für Platon noch Verantwortung bedeutet – der Philosoph kehrt in die Höhle zurück, da er versteht, daß er für die anderen verantwortlich ist – so fühlte sich der neuzeitliche Mensch zugleich auch von der Verantwortung befreit. Die Verabsolutierung der Freiheit im 20. Jahrhundert machte deren Einseitigkeit immer eindringlicher sichtbar. So wuchs auch die Zahl jener Philosophen, die sorgsam zwischen Freiheit und Willkür unterschieden. Freiheit war nun nicht mehr einfach Vorbedingung für Verantwortung, sondern vielmehr auf diese angewiesen,11 bzw. anders gesagt,

6 Vgl. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Berlin, New York 1980) Bd. 6, 139; Bd. 13, 66; Bd. 14, 431; vgl. J. Filek: Das Drama der Verantwortung bei Friedrich Nietzsche. In. Archiv für Begriffsgeschichte 43 (2001) 113–147. 7 Vgl. Edmund Husserl: Meditation über die Idee eines individuellen und Gemeinschaftslebens in absoluter Selbstverantwortung [1924]. Gesammelte Werke (=Husserliana), Bd. 8 (Den Haag 1959) 198. 8 E. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften [1936/54]. Husserliana Bd. 6 (Den Haag 1962) 140. 9 Ebd. 329. 10 M. Buber: Zwiesprache. Werke Bd. 1, a. a.O. [Anm. 1] 206. 11 Bereits für Eberhard Grisebach, und erst später für Lévinas, war klar, daß die Verantwortung der Freiheit voranliegt: »Ich sehe mich als Gemeinschaftswesen durch den Anspruch des Du gebunden, noch ehe ich für mich Freiheit zu behaupten vermöchte«. Vgl. Philosophie und Theologie in realer Dialektik. Briefwechsel E. Grisebach – F. Gogarten 1921/22, hg. von Michael Freyer (Rheinstetten 1979) 103.

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Freiheit und Verantwortung standen als zwei Aspekte ein und desselben Phänomens im Raum.12 Der Mensch ging jedoch den Weg falsch verstandener Freiheit weiter, bis er vor einem Abgrund stand. Hatte man den ›Tod Gottes‹ zunächst euphorisch dahingehend verstanden, daß ›alles erlaubt‹ sei, so gelangte man nun langsam zur Einsicht, daß diese Befreiung von Gott keineswegs eine absolute Freiheit bedeutet, sondern eine, die zugleich Verantwortung ist. Im 20. Jahrhundert begannen verschiedene Schulen, die Responsivität des Menschen als seine ontologisch-existentiale Wesenseigenschaft herauszustellen. Der Mensch wurde als angesprochenes und angerufenes Seiendes verstanden. ›Angesprochen werden‹ bedeutete hier, daß die Situation des Menschen in der Welt die Situation eines unvermeidlich antwortenden Seienden ist. Vom ›Antworten auf …‹ war es nur ein kleiner Schritt zur ›Verantwortung für …‹. Gott schwieg, doch es gab Forderungen, die dem Menschen bestimmte Werte nahelegten (Max Scheler, Nicolai Hartmann). Der Mensch war das einzige Seiende, das auf diese Forderungen zu antworten vermochte, indem es den kraftlosen Werten seine determinierende Kraft zur Verfügung stellte. Gott schwieg, doch das Dasein konnte, wenn es zur Stille fand, die Aufforderung vernehmen, die aus seiner eigenen Tiefe drang. Es war nicht damit getan, daß die Antwort eine uneigentliche Seinsweise zu ändern hatte. Vielmehr sollte sie eine uneigentliche Mit-Seins-Weise, also einen uneigentlichen Modus der Fürsorge um das Mitdasein (Martin Heidegger) verändern. Gott schwieg, doch die Ansprache und die Herausforderung drangen aus dem Antlitz des Anderen zum Menschen. Nicht im Bereich des Subjektiv-Objektiven, sondern hier, in der Beziehung Du-Ich, fand man die wahrhaft menschliche Wirklichkeit, die Wirklichkeit des Angesprochenwerdens und Antwortens, die Wirklichkeit der Verantwortung, wie es die Dialogphilosophie von Martin Buber bis Emmanuel Lévinas formulierte. Doch mußte man nicht Dialogphilosoph sein, um den Primat der lebendigen Sprache und des Hörens gegenüber dem Sehen und dem anonymen Urteil anzuerkennen. Hans-Georg Gadamer unternahm den verdienstvollen Versuch, das Urteil als subjektbedingte und an jemanden gerichtete Aussage zu interpretieren. Eine solche Aussage wird nun als Antwort interpretiert, und diese wiederum richtet unsere Aufmerksamkeit unvermeidlicherweise auf die Frage und den Fragenden. Wird der Primat mit solcher Entschiedenheit der Frage zuerkannt, ist eine Neuinterpretation der Aussagenwahrheit unumgänglich.13 Auch

Vgl. Victor E. Frankl: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn (München 1985) 64: »Tatsächlich ist die Freiheit die halbe Wahrheit. Freisein ist der negative Aspekt eines Phänomens, dessen positiver Aspekt Verantwortlichsein heißt. Freiheit schlägt in Willkür um, wenn sie nicht im Sinne der Verantwortlichkeit gelebt wird. Und das ist auch der Grund, warum ich dafür zu plädieren pflege, daß zur Freiheitsstatue an der Ostküste das Pendant errichtet werde, nämlich eine Statue der Verantwortlichkeit an der Westküste«. 13 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Was ist Wahrheit? Kleine Schriften I: Philosophie. Hermeneutik (Tübingen 1967) 46–58. 12

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hier gelangt also die Responsivität des Menschen zum Ausdruck. Ähnliches geschieht in der Diskursethik und dort, wo Bernhard Waldenfels’ Vorschlag umgesetzt wird, die intentionale Phänomenologie durch eine responsive abzulösen. Im Ausgang von den hier angesprochenen Ereignissen in der Welt und in der Philosophie zeigte sich ein Phänomen der Verantwortung, das mithilfe des bislang geläufigen Begriffs von Verantwortung in keiner Weise verständlich ist. Die Philosophie steht daher vor der Aufgabe, einen neuen Verantwortungsbegriff zu konstituieren, denn – wie es Georg Picht eindringlich formulierte – »der Verantwortung fehlt bisher der Begriff.«14 Die sprachliche Qualifizierung ›verantwortlich‹ ist nicht nur vieldeutig, sondern auch in sich widersprüchlich. Beziehen wir uns nämlich auf Verantwortlichkeit als moralisches Phänomen, so ist die Qualifizierung einer Person als ›verantwortlich‹ eine positive Wertung. Denken wir hingegen an das Phänomen der Verantwortung vor rechtlichem Hintergrund, so ist die Aussage, jemand sei ›verantwortlich‹, zumeist eine negative Wertung: Besagte Person ist schuld an einem Übel und hat mit entsprechenden Sanktionen zu rechnen. In beiden Fällen ist jedoch die Qualifizierung ›verantwortlich‹ etwas für den Menschen Kontingentes, was er erwerben kann oder auch nicht; sie ist abhängig von seinem Verhalten und von den Eigenschaften seiner Handlungen. Das Phänomen der Verantwortung ist hier also ein sekundär-oberflächliches. Unter den Akten, durch deren Vollzug die Qualifizierung ›verantwortlich‹ erworben wird, können auch solche ausgemacht werden, die wir als ein Bewußtwerden von Verantwortung, als Verantwortungs-Gefühl oder VerantwortungsÜbernahme bezeichnen. Diese Sphäre ist in höherem Maß primär als die erworbene Eigenschaft, ›verantwortlich‹ zu sein. Bei der Analyse dieser Akte werden wir gewahr, daß sie sich auf Verantwortung richten, wobei diese hier eben nicht als die oben erwähnte erwerbbare Qualifizierung zu verstehen ist. Wenn ich mir meiner Verantwortung bewußt werde, wenn ich mich verantwortlich fühle, so richte ich in diesen Akten meine Aufmerksamkeit nicht auf die erwerbbare Eigenschaft des Verantwortlichseins, sondern auf eine grundlegendere Verantwortung, deren Verbindlichkeit nicht vom Vollzug solcher Akte abhängig ist. Diese hier gefundene Grundverantwortung ist nicht nur von allen Handlungen des Menschen unabhängig, sondern ihr ist es auch zu verdanken, daß ich überhaupt die Qualifizierung ›verantwortlich‹ und ›unverantwortlich‹ erwerben kann. Kurz und paradox: Eben weil ich verantwortlich bin, kann ich die Qualifizierung ›unverantwortlich‹ erwerben und höre auch mit einer solchen Qualifizierung nicht auf, verantwortlich zu sein. Wenn ein Vater unverantwortlich ist (d. h. unverantwortlich handelt oder unverantwortlich passiv bleibt), so hört er deshalb nicht auf, derjenige zu sein, der für sein Kind verantwortlich ist. Was ist nun jene grundlegendere Verantwortung, die nicht von unseren Handlungen verursacht wird, sondern ihnen vorausliegt und sie häufig bedingt? G. Picht: Hier und Jetzt: Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima, Bd. 1 (Stuttgart 1980) 98. 14

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Mit Sicherheit ist sie eine Art Beziehung, die auf rätselhafte Weise den Verantwortlichen an den Gegenstand seiner Verantwortung bindet; eine Beziehung, in welcher das ›Was‹ (oder ›Wen‹) der Verantwortung, wie wir es in den Ausdrücken ›für etwas‹ (oder ›für jemanden‹) finden, in gewissem Maß vom Verantwortlichen abhängig und auf seine Kraft angewiesen ist. Den Versuch, das Geheimnis dieser Beziehung und Bindung aufzuklären, beginnen wir mit einer Strukturanalyse. Vorgegeben wird die Analyseebene durch das Subjekt und Objekt der Verantwortung, auf die wir verweisen, wenn wir auf die Fragen ›Wer?‹ und ›Wofür?‹ antworten. Die vertikale Dimension liegt auf der Achse: Subjekt der Verantwortung – Tribunal der Verantwortung. Auf das Tribunal verweisen wir, wenn wir auf die Frage ›Vor wem?‹ antworten. Verantwortung wird auch als dem Subjekt auferlegte erfahren, wobei ihr Gegenstand dem Verantwortlichen anvertraut ist. Somit können wir auch eine Instanz ausmachen, die Verantwortung auferlegt, ohne mit dem Tribunal identisch sein zu müssen. Das Tribunal wiederum muß nicht identisch mit jener Instanz sein, die Sanktionen durchsetzt (Exekutor). Wir erkennen somit die Verantwortung als Beziehung zwischen drei bis fünf Gliedern. Gegenstand des Streits ist die Existenz übergeordneter Instanzen: dessen, der Verantwortung auferlegt; des Tribunals; dessen, der Sanktionen durchsetzt (Exekutor). Einige sind der Meinung, daß Verantwortung dort fehle, wo kein Tribunal vorhanden ist, vor dem wir uns verantworten müssen.15 Andere meinen, daß das Bewußtsein, sich vor dem Tribunal verantworten zu müssen, die Verantwortung als Verantwortung aufhebe. Der Verantwortliche brauche kein Tribunal, um sich seiner Verantwortung bewußt zu werden, sich verantwortlich zu fühlen, seine Verantwortung anzunehmen und sie zu tragen. Die philosophische Radikalisierung der Verantwortung hebt die aus dem Religiösen oder Rechtlichen stammende Tribunalisierung auf.16 Auch die auf eine zweigliedrige Beziehung reduzierte Verantwortung bedarf nun einer näheren Analyse ihrer konstitutiven Elemente, des Subjekts und des Objekts der Verantwortung. Der diesbezügliche Streit scheint endlos. In der Geschichte des Phänomens wurde so ziemlich alles und jedes als mögliches Subjekt der Verantwortung angesehen, von toten Gegenständen über Tiere, Menschen

Vgl. etwa die Aussage Bubers: »[…] faktisch ist Verantwortung nur, wenn es die Instanz gibt, vor der ich mich verantworte«. M. Buber: Zwiesprache. Werke, a. a.O. [Anm. 1] Bd. 1, 191. 16 Vgl. folgende Aussagen Max Schelers: »Wir müssen es also leugnen, daß in dem Verantwortlichkeitserlebnis überhaupt notwendig eine Relation ›vor jemandem‹ stecke«. M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Gesammelte Werke, Bd. 2 (Bern, München 1980) 479. Darüber hinaus: »Ein Gott darf und soll nicht existieren, um der Verantwortung, der Freiheit, der Aufgabe – um des Sinnes vom Dasein des Menschen willen«. Philosophische Weltanschauung. Gesammelte Werke, Bd. 9 (Bonn 1995) 142. »Jede Annahme eines Wesens, das vor und unabhängig vom Menschen über Zukunft verfügte, jede Annahme von ›Vorsehung‹ oder objektiver Zwecke und Ideen setzender Kraft, ist Diebstahl an der Verantwortung, Freiheit, Autonomie der menschlichen Person«. Gesammelte Werke, Bd. 12 (Bonn 1987) 211. 15

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und Nationen bis hin zu Gott. Ähnlich verhält es sich mit dem Objekt der Verantwortung. Nachdem man vorausgesetzt hatte, daß der einzelne Mensch das eigentliche Subjekt der Verantwortung sei, machte man ihn nicht nur für seine Handlungen, sondern auch für Gedanken und sogar Träume verantwortlich; nicht nur für ihn selbst, sondern auch die umgebende Welt, für alle Ereignisse in dieser Welt, für Vergangenheit und Zukunft, für alles und sogar für Gott. Wesentlich ist auch der Zusammenhang zwischen der Natur des Subjekts und der Natur des Objekts; Entscheidungen hinsichtlich ersterer wirken sich auf letztere aus und umgekehrt. Als man unter dem Einfluß des rechtlichen Verständnisses von Verantwortung den Menschen, insofern er Täter ist, zu ihrem Subjekt erklärte, stand dies im Zusammenhang damit, daß die Handlung des Täters einschließlich ihrer Konsequenzen zum Objekt der Verantwortung erklärt wurde. Diese Auffassung von Subjekt und Objekt als konstitutiven Elementen der Verantwortung schränkte zugleich die Möglichkeiten für das Verständnis der Verantwortung als solcher ein. Verantwortung war hier prinzipiell Verantwortung für die eigene Person, nicht für andere und auch nicht für die Welt. Sie bezog sich prinzipiell auf die Vergangenheit und nicht auf die Zukunft. Es ging ihr um getanes Übel und nicht um etwas Gutes, das vom Subjekt abhängig ist, doch zugleich außer ihm liegt. Diese Verantwortung trug den Makel des Negativen. Sie verlangte nach einem Tribunal, nach Sanktionen in Form von Strafen oder zwangsweiser Wiedergutmachung. Hier kam es auch am häufigsten zur Verwechslung von Verantwortung und Zurechnung (imputatio).17 Doch selbst wenn – nehmen wir dies einmal an – alle Streitigkeiten hinsichtlich der konstitutiven Elemente jener Beziehung, die wir Verantwortung nennen, endgültig beigelegt wären: Hätten wir dann auch bereits geklärt, was die Beziehung selbst, jene bindende Bindung, ausmacht? Würden wir anhand der Antworten auf die Fragen ›Wer?‹, ›Wofür‹ oder ›Vor wem?‹ bereits verstehen, was das ›Für‹ bedeutet? – Nein. Die Radikalisierung des Verantwortungsbegriffs bedeutet unter anderem, daß wir solange nicht verstehen, was der Mensch (d. h. das Subjekt der Verantwortung) und die Welt (d. h. das Objekt der Verantwortung) sind, solange wir nicht verstehen, was Verantwortung ist. Die Radikalisierung des Verantwortungsbegriffs bedeutet darüber hinaus, daß erst die Verantwortung als Bindung den Mensch, d. h. ihr Subjekt, vollständig konstituiert.18 Meine Verantwortung ist früher als ich, so ungewohnt das klingen mag. Vor einer Vermischung der Probleme des Zurechnens und der Verantwortung warnte bereits M. Scheler: »Zurechenbarkeit von Handlungen, resp. ›Zurechnungsfähigkeit‹ eines Menschen, d. h. Fähigkeit, ein Subjekt für zurechenbare Handlungen zu sein, und sittliche ›Verantwortlichkeit‹ sind daher aufs strengste zu scheiden«. Der Formalismus in der Ethik …, a. a.O. [Anm. 15] 478. 18 Vgl. G. Picht: Struktur und Verantwortung der Wissenschaft im 20. Jahrhundert. In: ders.: Der Gott der Philosophen und die Wissenschaft der Neuzeit (Stuttgart 1966). Darüber hinaus: »Nicht das Subjekt setzt sich die Aufgabe, sondern die Aufgabe konstituiert das Subjekt«; vgl. ders.: Der Begriff der Verantwortung, a. a.O. [Anm. 4] 337. Picht geht jedoch noch weiter und 17

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Was also heißt das ›Für‹ in der Formel ›Wofür?‹ (bzw. ›Für wen?‹), hinter der sich der Sinn der Verantwortung, die den Menschen konstituiert, verbirgt? Niemand war diesem Sinn so dicht auf der Spur wie die Dialogphilosophen. Bei ihnen kam es zur Entthronung des ›Ich‹, zur Verwerfung des egologischen Paradigmas, innerhalb dessen die Verantwortung auf das Sich-Verantworten für sich selbst und mitunter auch vor sich selbst reduziert war. Der Primat des ›Du‹ und der Beziehung Du-Ich gegenüber dem ›Ich‹ – das ist eben der Primat der Frage, des Angesprochen-Werdens, der Herausforderung, die aus dem Antlitz des Anderen kommt und meine Antwort erwartet. Buber19 schreibt: »[…] das jeweilige Entbrennen der Antwort auf die unversehens andringende Rede nennen wir die Verantwortung. Für welchen Bereich des uns zugeteilten, anvertrauten Lebens wir zu antworten vermögen, das heißt, zu welchem wir eine Beziehung haben und betätigen, die als – in all unserer Unzulänglichkeit – rechtschaffene Antwort gelten darf, für diesen üben wir Verantwortung.«20 Die Antwort ›auf‹ wird hier zur Verantwortung ›für‹. Der Anspruch, der auf unsere Antwort wartet, verlangt zugleich nach unserer Verantwortung. »Antwort ist Verantwortung«, so der knappe Kommentar Bubers.21 Wirkliches Antworten ist die Übernahme von Verantwortung. Freilich dürfen hier keine Begründungen erwartet werden. Vom Gesichtspunkt der Logik betrachtet, gibt es keinen Übergang von der Antwort ›auf‹ zur Verantwortung ›für‹. Ein solcher Übergang kann nur erlebt werden. Doch jeder, der einmal von einem verirrten Ortsfremden angesprochen wurde, konnte spüren, daß er mit seiner Antwort auf diesen ›Anspruch‹ Verantwortung übernimmt, und zwar nicht nur für das, was er sagt, sondern in gewissem Ausmaß auch für das Schicksal des ihn Ansprechenden. Dabei geht es auch nicht darum, eine Antwortpflicht festzuschreiben. »Antworten wird nicht gesollt; aber es wird gekonnt.«22 Responsiver Charakter des Menschenlebens bedeutet also – und dies keinesfalls nur für Dialogphilosophen – eine unser Wesen bestimmende Verantwortung. Haben wir, an dieser Stelle angekommen, bereits geklärt, was Verantwortung ist, oder setzen wir weiterhin ein solches Verständnis nur voraus? Wenden wir formuliert: »Ursprung aller menschlicher Vernunft ist die Verantwortung«; vgl. ders.: Von der Zeit (Stuttgart 1999) 693. Letztlich hat sogar jegliches Bewußtsein seine Ursache in der Verantwortung: »Verantwortung gehört zur Konstitution des Menschen. Warum? Weil der Mensch ein Lebewesen ist, das nur mit Bewußtsein ex-sistieren kann, und weil Bewußtsein als solches ohne Verantwortung nicht möglich ist«; vgl. ders.: Hier und Jetzt, Bd. 2 (Stuttgart 1981) 325. 19 Dieser Bezug auf Buber ist keineswegs zufällig. Obgleich er keines seiner Bücher und keinen seiner Artikel direkt zum Problem der Verantwortung schrieb, so hatte er doch gute Gründe, am Ende seines langen Lebens zu bekennen: »Es kommt nicht auf ›Seele‹ an, sondern auf Verantwortung. Das ist ein Grundthema meines Werkes überhaupt. M. Buber: Antwort. In: Martin Buber, hg. von Paul Arthur Schilpp und Maurice Friedman (Philosophen des XX. Jahrhunderts) (Stuttgart 1963) 618. 20 M. Buber: Über das Erzieherische. Werke Bd. 1, a. a.O. [Anm. 1] 797. 21 Ders.: Dem Gemeinschaftlichen folgen. Werke Bd. 1, 473. 22 Ders.: Zwiesprache. Werke Bd. 1, 209.

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uns Dietrich Bonhoeffer zu, dessen Philosophieren und Leben auf sokratische Weise eins waren und der für uns ein besonders glaubwürdiger Zeitzeuge ist. Ihm verdanken wir einen weiteren Einblick in das Geheimnis der Verantwortung. Verantwortung ist ihrem Wesen nach Substitution. Ausgangspunkt dieses Gedankens ist der christologische Begriff der Stellvertretung: Christus hat sich stellvertretend für jeden Menschen geopfert. So wie Christus substitutiv für jeden Menschen gelebt hat, so lebt auch jeder Mensch – ob er gläubig ist oder nicht – substitutiv für andere. »Daß Verantwortung auf Stellvertretung beruht, geht am deutlichsten aus jenen Verhältnissen hervor, in denen der Mensch unmittelbar genötigt ist, an der Stelle anderer Menschen zu handeln, also etwa als Vater, als Staatsmann, als Lehrmeister. Der Vater handelt an der Stelle der Kinder, indem er für sie arbeitet, für sie sorgt, eintritt, kämpft, leidet. Er tritt damit real an ihre Stelle.«23 Das Leben jedes Menschen ist ›gebunden‹, und diese ›Bindung‹ ist eben die Substitution: Wir sind unvermeidlich ›an der Stelle‹ anderer; nicht nur ›an der Stelle‹ der Vorfahren, die diese Stelle für uns vorbereitet haben; nicht nur ›an der Stelle‹ der künftig Geborenen, deren Stelle wir vorbereiten; sondern wir sind auch ›an der Stelle‹ der Schwachen, die an uns appellieren und denen wir unsere Kraft zur Verfügung stellen müssen. Unser Leben als ›gebundenes‹ und andere ›substituierendes‹ – das ist die Verantwortung. Nur dann ist dieses Leben auch frei, denn nur dann haben wir uns aus der Gefangenschaft unseres Interessiertseins befreit. Bonhoeffer verabsolutiert jedoch die Verantwortung nicht. Er ist sich bewußt, daß ihre Unendlichkeit zugleich ihre Unbestimmtheit bedeuten und letztlich zu Verantwortungslosigkeit führen müßte. Der Mensch ist nicht ›für alles‹ verantwortlich. Seine Verantwortung ist immer konkret, seinem konkreten Ort in der Wirklichkeit angemessen. Ihre unüberschreitbare Grenze ist die Verantwortung des anderen Menschen. Somit wird in der Verantwortung, die wir als Substitution zu verstehen gelernt haben, das ›Für‹ aus der Formel ›Wofür verantwortlich‹ erklärt, indem wir es auf ein ›Für den anderen‹, ›An Stelle des anderen‹, ›Sich für den Anderen Einsetzen‹, ›Den anderen Ablösen‹ zurückführen. Über zwanzig Jahre nach Bonhoeffers Tod formuliert E. Lévinas sein Konzept der Verantwortung als Substitution. Die primäre Zugangsweise des Menschen zum Sein, das auch für Lévinas in der Beziehung mit dem Anderen besteht, erfährt hier die Bezeichnung »Zugang zum Antlitz«. Die Beziehung mit dem Antlitz ist Verantwortung. Der Andere – seine existentielle Not, sein Ausgeliefertsein an Verletzung und Tod – ruft mich in ›ma dernière essence‹ an, und diese ›essence‹ ist meine Verantwortung.24 Von dieser Verantwortung sprich Lévinas als »wesentlicher, primärer und grundlegender Struktur der Subjektivität«.25 Sie

D. Bonhoeffer: Ethik. Werke Bd. 6 (München 1992) 256 f. Vgl. E. Lévinas: Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité (La Haye 1971) 154. 25 Ders.: Ethik und Unendliches: Gespräche mit Philippe Nemo, dt. Erstausgabe (Graz, Wien 1986) 72. 23 24

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ist es, die als »Last der Verantwortung« überhaupt das Ich und seine Freiheit konstituiert. Der Andere wird hier nämlich nicht mehr als derjenige verstanden, der meine Freiheit begrenzt. Vielmehr konstituiert er sie, indem er mich zur Verantwortung ruft und mir somit ermöglicht, meine Freiheit zu rechtfertigen.26 Die Verantwortung als Beziehung, der das Subjekt seine Konstitution verdankt, ist von entschiedener Asymmetrie und Unumkehrbarkeit geprägt. Ich antworte dem Anderem und bin für ihn verantwortlich – nicht er für mich. Meine Verantwortung ist frei von jeder Kalkulation, die auf eine wie auch immer geartete Gegenseitigkeit abzielen könnte. Das mich anrufende Antlitz ist immer über mir, spricht immer »aus der Höhe« zu mir, und zwar aus der Höhe seiner Schwäche. Das Verantwortlich-Sein ist keine eifrige Aktivität des Subjekts, sondern Passivität. Nicht der Nominativ ist hier der erste Fall, sondern der Akkusativ, nicht das ›Ich‹, sondern das ›Mich‹, denn Mich hat jemand angerufen und dies, noch bevor ich ›Ich‹ sagen konnte. Eben dieser Rücklauf des Ich auf das Mich ist Verantwortung, eine Verantwortung, die jedem Engagement zuvorliegt. Lévinas fragt rhetorisch: »[Die] Passivität des Rücklaufs zu sich, die indes nicht die Entfremdung ist – was kann sie anders sein als die Substitution, das Einstehen für die Anderen?«27 »Substitution« bedeutet hier: die Stelle des Anderen einnehmen, an seine Stelle treten, ihn ablösen, für ihn stehen, antworten. Das unersetzbare Ich ersetzt den Anderen28 und kann nun erst sagen: »Ich bin da.« »In diesem Sinne heißt ›selbst‹ sein, sich den Anderen substituieren (se substituer aux autres)«.29 Die programmatische Emphase und hyperbolische Tendenz der Sprache mag hier abschreckend wirken. Doch Lévinas setzt sie bewußt als Hilfsmittel ein, etwa so, wie sich Descartes auf seinen methodischen Zweifel stützt. Und wenn man die Vorläufer Lévinas’ in der Dialogphilosophie (insbesondere die zu wenig wahrgenommenen wie Grisebach und Bonhoeffer) nicht übersieht, so wirkt sein Denken, insbesondere die Radikalisierung der Verantwortung, bereits wesentlich weniger irritierend. Die genannten Philosophen bemühen sich um die Ausformulierung des neuen Paradigmas – wir nennen es das Paradigma der zweiten Person30 – innerhalb dessen der Verantwortungsbegriff zum Grundbegriff wird. Für das objektivistische Paradigma – wir nennen es das Paradigma der dritten Person – mit seiner charakteristischen Betonung der Beziehung zwischen Subjekt und Seiendem (Objekt) war der Wahrheitsbegriff grundlegend. Für das subjektivistische Paradigma – wir nennen es das Paradigma der ersten Vgl. »[…] ce regard en appelle à ma responsabilité et consacre ma liberté en tant que responsabilité et don de soi, […].« E. Lévinas: Totalité et Infini, a. a.O. [Anm. 24] 183 f. 27 Ders.: Die Substitution. In: ders.: Die Spur des Anderen (Freiburg, München 1983) 317. 28 Vgl. ebd. 319. 29 Ebd. 326. Original: E. Lévinas: La substitution. In: Revue Philosophique de Louvain 66 (1968) 506. 30 Zur Unterscheidung dreier Grundparadigmen in der Geschichte des Denkens vgl. J. Filek: Philosophie als Abwandlung des Seins. In: Phänomenologische Forschungen (2006) 65–83. 26

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Person – mit seiner charakteristischen Betonung der Beziehung des Subjekts auf es selbst, auf das Ich, war der Freiheitsbegriff grundlegend. Vor diesem Hintergrund wird sichtbar, daß für das dialogische Paradigma – also das Paradigma der zweiten Person – mit seiner charakteristischen Betonung der Beziehung des Ich auf den Anderen, auf das Du, der Verantwortungsbegriff zum Grundbegriff wird. Fügen wir hinzu: Erst die Verantwortung macht verständlich, was Wahrheit und Freiheit sind. Nun muß man nicht Anhänger der Dialogphilosophie sein, um die Beziehung, deren phänomenologische Beschreibung Lévinas geben wollte, wahrzunehmen, d. h. ihre absolut grundlegende Bedeutung für das Dasein des Menschen und der Welt zu verstehen. Auch Hans Jonas, trotz seines gänzlich anders gelagerten philosophischen Temperaments, erkannte in der Verantwortung jene Beziehung, die gerade aufgrund der Ungleichheit, insbesondere der ungleichen Macht der Seiten, in der Lage ist, diese zueinanderzubinden. Die für die Verantwortung konstitutive Ungleichheit bewirkt, daß Verantwortung nicht gegenseitig sein kann. Sie ist für Jonas – ebenso wie für Lévinas – eine einseitige Beziehung. Diese Übermacht und dieses ›Darübersein‹ konstitituiert das ›Für-Sein‹. Jonas ist der Meinung: »Daß das ›über‹ zum ›für‹ wird, macht das Wesen der Verantwortung aus.«31 Der Gegenstand der Verantwortung ist von konstitutiver Schwäche und Verletzbarkeit32 geprägt, leidet in der einen oder anderen Form existentielle Not oder ist von solcher Not bedroht und bleibt daher auf das Subjekt der Verantwortung angewiesen. Es ist die Unsicherheit seiner Existenz, seine prekäre Lage, die seinen Ruf legitim machen. Seine Schwäche besitzt die eigentümliche Macht, den Stärkeren – also den, von dem sie abhängig ist – zu binden. Paradoxerweise ist es die Schwäche, die die Stärke der an uns gerichteten Forderungen ausmacht. Daher ist die Verantwortung »Sorge um ein anderes Sein, die bei Bedrohung seiner Verletzlichkeit zur ›Besorgnis‹ wird.«33 Urgegenstand dieser Verantwortung, also das ursprünglichste Muster aller anderen Gegenstände, ist das neugeborene Kind. Sein ›Ist‹ läßt sich nicht als ›bloßes Ist‹ verstehen. Es ist an sich bereits ein »Soll«; in diesem Fall, »daß hier das Sein eines einfach ontisch Daseienden ein Sollen für Andere immanent und ersichtlich beinhaltet«.34 Doch auch der Andere, dem ich begegne und der in seiner Vergänglichkeit, Unsicherheit und Schicksalsangst mir zunächst zu gleichen scheint, bindet meine Verantwortung auf unilaterale Weise. Die Andersheit des Anderen ist für Jonas nicht weniger radikal als für Lévinas, und sie widersteht jedwedem Versuch der Aneignung. »Gerade die Andersheit nimmt von meiner Verantwortung Besitz,

H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (Frankfurt a.M. 1984) 181. 32 Vgl. ebd. 185: »Nur das Lebendige also in seiner Bedürftigkeit und Bedrohtheit […] kann überhaupt Gegenstand von Verantwortung sein.« 33 Ebd. 391. 34 Ebd. 235. 31

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und keine Aneignung ist hier intendiert. Und doch soll dieser von ›Vollkommenheit‹ weit enfernte, in seiner Faktizität ganz kontingente Gegenstand, wahrgenommen gerade in seiner Vergänglichkeit, Bedürftigkeit und Unsicherheit, die Kraft haben, mich durch sein pures Dasein (nicht durch besondere Qualitäten) zu einer Verfügungstellung meiner Person, frei von jedem Aneignungsbegehren, zu bewegen.«35 Jonas dringt zum ursprünglichen und grundlegenden Phänomen der Verantwortung vor, indem er alle sekundären und oberflächlichen Phänomene beiseiteschiebt, als da wären: Vertragsverantwortung im Gegensatz zu natürlicher Verantwortung sowie formale Verantwortung im Gegensatz zu substantieller Verantwortung. Natürliche Verantwortung besitzt a priori bindende Kraft, Vertragsverantwortung besitzt sie hingegen a posteriori. Daher ist letztere nur dort möglich, wo erstere bereits vorliegt.36 Formale Verantwortung ist die automatische Konsequenz dessen, daß ein Subjekt handelnd oder sich einer Handlung entziehend einen Schaden verursacht oder Schuld auf sich geladen hat. Diese Art der Verantwortung führt unweigerlich zu Problemen mit der Zuschreibung (imputatio), gilt jedoch dessen ungeachtet heute als das grundlegende Phänomen. Da sie der Vergangenheit zugewandt ist, setzt sie keine positiven Ziele und weckt keine positive Motivation. Anders verhält es sich mit der substantiellen Verantwortung, die die Aufmerksamkeit nicht auf die vergangene Tat, sondern auf das richtet, was es zu tun gilt. Diese Art der Verantwortung entsteht auch nicht im Ergebnis meines Handelns, sondern verpflichtet mich erst zum Handeln, da sie meine bindende Bindung mit dem Anderen – und im weiteren Sinne auch mit der gesamten Schöpfung und der Natur als solcher – ausmacht. Der Versuch zahlreicher Philosophen des 20. Jahrhunderts, das grundlegende Phänomen der Verantwortung zu beschreiben, führte zu einem eindeutig positiven Verständnis von Verantwortung. Dieses Phänomen lenkt den Menschen auf Dinge und Sachverhalte, die außerhalb seiner selbst liegen, und es verweist ihn auf die Zukunft. Und damit verweist es ihn auf das Sein des An-deren, der in seiner Schwäche auf ihn angewiesen ist und der ihn um Antwort, d. h. um Verantwortung, bittet und deretwegen anruft. Diese Auffassung von Verantwortung stellt sich entschieden dem herkömmlichen Verständnis entgegen. Letzteres faßt die Verantwortung als negatives Phänomen auf, das auf ein bereits verübtes Böses verweist. Es orientiert den Menschen somit an der Vergangenheit und letztlich am Kreislauf seiner Handlungen, in den es ihn einschließt. Diese gegenwärtig Stück für Stück überwundene negative Ver-

Ebd. 166. In einem Absatz, den Jonas speziell für die amerikanische Ausgabe seines Buchs Das Prinzip der Verantwortung schrieb, findet sich die Schlußfolgerung: » if there were no responsibilty ›by nature‹ there could be none ›by contract‹«. H. Jonas: The Imperative of Responsibilty. In Search of an Ethics for the Technological Age (Chicago, London 1984) 95. 35 36

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antwortung wird erst ›nach vollbrachter Tat‹ sichtbar, klagt den Menschen an und verlangt nach Sanktionen. Anders die gegenwärtig aus dem Schatten tretende positive Verantwortung: Sie bindet den Menschen an das äußere Sein, das auf ihn angewiesen ist, und motiviert ihn zum Handeln. Dadurch verleiht sie dem Sein des Menschen eine besondere Würde. (Aus dem Polnischen von Steffen Huber)

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Eine Nach-Lese zu K.-O. Apels problem- und begriffsgeschichtlichen Arbeiten Kein anderer Schlüsselbegriff des 20. Jahrhunderts ist mit dem Jubiläum des Archivs für Begriffsgeschichte so eng verbunden wie der Verstehensbegriff: Band 1 der Reihe enthält den großen programmatischen Artikel von Karl-Otto Apel Das Verstehen,1 der nicht nur im Untertitel (»eine Problemgeschichte als Begriffsgeschichte«), sondern auch zwischen den Zeilen den Anspruch erhob, daß Begriffsgeschichte mehr sein muß als antiquarisches Sammeln von Belegstellen. Zugleich markierte der Aufsatz – ohne daß der Autor es ahnen konnte – eine Zäsur in der Geschichte des hermeneutischen Denkens. Nur fünf Jahre später nämlich erschien Hans-Georg Gadamers großes Buch Wahrheit und Methode2 und löste eine ganz neue, sich über Jahrzehnte erstreckende Diskussion aus, die durch den Begriff ›Hermeneutik‹ gekennzeichnet ist. In Apels Text hatte dieser Begriff keine zentrale Rolle gespielt, und Gadamer war dort nicht einmal erwähnt worden. Bedenkt man, wie intensiv und richtungweisend Apel sich an der Hermeneutik-Diskussion der folgenden Jahrzehnte beteiligt hat, erscheint es als ein philosophiegeschichtlich bedeutsames Faktum, daß dies 1955 noch nicht antizipiert wurde. Von dieser zeitgebundenen Beschränkung abgesehen, haben Apels problemgeschichtliche Zuordnungen nichts von ihrer Plausibilität eingebüßt. Sie werden in den Zwischenüberschriften deutlich markiert: »Die Entstehung des rationalen Verstehensbegriffs und in Abhängigkeit davon des Begriffs der naturwissenschaftlichen ›Erklärung‹.« – »Die Entstehung der hermeneutischen Tradition des Wortes ›Verstehen‹.« – »Das Verstehen als Grundbegriff der Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften.« – »Das Verstehen als Grundbegriff einer Fundamentalontologie.« Es soll im folgenden versucht werden, von diesen Problembereichen aus einige Linien über das Jahr 1955 hinaus – rückwärts und vorwärts – zu ziehen, wobei als bekannt vorausgesetzt werden darf, daß K.-O. Apel zugleich als Interpret und als Protagonist dieser hermeneutischen Bewegung zu betrachten ist. Die Synthese aus Problemgeschichte und Begriffsgeschichte erscheint in seinem Gesamtwerk in dem Sinne intensiviert, daß sich in der Darlegung der Sachthemen die eigene Position wie von selbst artikulierte. K.-O. Apel: Das Verstehen. In: Archiv für Begriffsgeschichte 1 (1955) 142–199. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Tübingen 1960). 1 2

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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Dies soll skizzenhaft in einer Nach-Lese aus Anlaß des Jubiläums des Archivs vergegenwärtigt werden.

I. Der emphatische Verstehensbegriff von Droysen und Dilthey Ein erheblicher Teil der Diskussionen um das Verstehen als Methode der Geisteswissenschaften geht zurück auf das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts, als Droysen und der junge Dilthey angesichts des Triumphes der Naturwissenschaften den Eigenwert historischer Forschung und Erkenntnis zu bestimmen versuchten. Droysen unterschied in seinen Historik-Vorlesungen drei wissenschaftliche Methoden: Erkennen, Erklären und Verstehen, die er den Bereichen der spekulativen, der physikalischen und der historischen Forschung (und damit dem traditionellen Kanon von Logik, Physik und Ethik) zuordnete.3 Die Emphase, mit der er das Verstehen auch anthropologisch als eine zentrale Fähigkeit des Menschen heraushob, verdient, als eine der vermittelnden Brücken-Aussagen zwischen der Hermeneutik der Romantik und den späteren erkenntnistheoretischen Bemühungen Diltheys in Erinnerung gerufen zu werden: »Das Verstehen ist das vollkommenste Erkennen, das uns menschlicherweise möglich ist. [Es ist] der menschlichste Akt des menschlichen Wesens, und alles wahrhaft menschliche Tun ruht im Verständnis, sucht Verständnis, findet Verständnis. Das Verstehen ist das innigste Band zwischen den Menschen und die Basis allen sittlichen Seins.«4 Auch Dilthey spricht in seinen Anfängen emphatisch vom Verstehen, aber mehr noch vom »Nacherleben«: »Dieses Nacherleben ist nichts anderes als ein Sich-Verwandeln in fremden Genius. […] Wunderbare Fähigkeit des Menschen! In sich Gestalten aufleben zu lassen, die ein eigenes Leben in seinem Inneren führen, gleichsam Personen, in welche sein bewußtes Dasein sich teilt.«5 Von hier aus ist es verständlich, daß Droysen – und mit ihm Dilthey – allen Versuchen des westeuropäischen Positivismus, die Geschichtswissenschaft zu einer exakten Gesetzeswissenschaft zu »erheben«, eine schroffe Absage erteilten. Beide haben kurz hintereinander die History of Civilisation in England von Henry Th. Buckle rezensiert und dabei für die Geschichte »ihre eigene Erkenntnisart, ihren eigenen Erkenntnisbereich« verteidigt.6 Es entspricht allerdings der romantisch-positivistischen Doppelnatur Diltheys (als dem Angehörigen einer jüngeren Generation), daß er das Erbe von Klassik und Romantik kritischer aufzuarbeiten versuchte, als Droysen dies tat.

3 Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. von Rudolf Hübner (Darmstadt 1972) 330. 4 Ebd. 26. 5 Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. 18 (Göttingen 1977) 66. 6 J. G. Droysen, a. a.O. [Anm. 3] 396.

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Er setzte sich einerseits mit großem Nachdruck für die Methode der »genialen Anschauung« in Winckelmann, Herder, Goethe, Humboldt etc. ein und nannte es »einen folgenschweren Irrtum, unsere abstrakten Einsichten, die Erkenntnis der Gesetze, für die allein wertvollen zu halten, begreiflich bei einem Mill oder Buckle, aber unter uns durch die Richtung vieler bedeutender deutscher Forschungen von vornherein widerlegt.«7 Aber seine Frontstellung gegen den Positivismus war doch moderater als die Droysens. Die Erkenntnis von Gesetzen der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt war ihm von früh an ein Ideal. »Es gilt, die Gesetze, welche die gesellschaftlichen, intellektuellen, moralischen Erscheinungen beherrschen, zu erkennen. Diese Erkenntnis der Gesetze ist die Quelle aller Macht des Menschen auch gegenüber den geistigen Erscheinungen.«8 So heißt es in der Basler Antrittsrede von 1867. Und noch 1887 sprach er in seiner Poetik von der »hinreißenden Aussicht«, »eine Kausalerklärung aus den erzeugenden Vorgängen [in der dichterischen Phantasie; F. R.] durchzuführen. Die Poetik scheint unter Bedingungen zu stehen, welche vielleicht ihr zuerst die innere Erklärung eines geistig-geschichtlichen Ganzen nach kausaler Methode ermöglichen.«9 Die Ambivalenz seiner Position hat er im Rückblick aus seinem letzten Lebensjahr auf die Formel gebracht: »Daß man sich nichts wollte vormachen lassen, das war die ungeheure Kraft, die in diesem Positivismus lag. Daß er die geistige Welt verstümmelte, um sie in den Rahmen dieser äußeren Welt einzufügen: das war seine Schranke.«10

II. Die Verfestigung des Wissenschaftsdualismus Es lag wohl immer ein defensiver Zug in der deutschen Tradition, sich auf die »weicheren«, ganzheitlichen Zugangsweisen zur Welt des Geistes zu berufen. In der Abhandlung von 1875, dem ersten Entwurf einer Kritik der historischen Vernunft, zitiert Dilthey das Programm des berühmten Sechsten Buches von J. St. Mill’s Logik, »die aus der Technik der Naturwissenschaften entwickelten Methoden auf das Gebiet der Geisteswissenschaften zu übertragen.«11 Wie schon an der früher zitierten Stelle betont er den deutschen Sonderstatus auf diesem Feld: »Gerade Deutschland ist die Heimat derjenigen Arbeiten, welche aus der zartesten und biegsamsten Empfindung des Eigentümlichen dieses Gebietes von Tatsachen entsprangen«; um dann fortzufahren: »Keiner freilich von den deutschen Forschern hat in zureichendem Umfang das logische Problem W. Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. 13 (Göttingen 1970) 200. Ders.: Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770–1800 [1867]. Gesammelte Schriften, Bd. 5 (Stuttgart, Göttingen 21957) 27. 9 Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6 (Stuttgart, Göttingen 1958) 125. 10 Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5, a. a.O. [Anm. 8] 3. 11 Ders.: Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat [1875], ebd. 56. 7 8

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dieser Wissenschaften gestellt.«12 Eine gewisse defensive Animosität lebt vielleicht auch noch im Hintergrund von Diltheys Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894), aus der heute allzu oft nur noch der Satz zitiert wird: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.«13 Die griffige Formel gibt in dieser Zuspitzung ein vielleicht zu eindeutiges Schema eines Gegensatzes, den Dilthey (z. B. im Blick auf die organische Natur) nicht immer so schroff betonte. Aber die so definierte Position bewirkte zweierlei: Einerseits die weitgehende Festschreibung des Wissenschaftsdualismus in Deutschland; andererseits eine Provokation für alle Vertreter eines Exaktheitsideals und der Idee einer einen, unteilbaren Wissenschaft. Der Angriff von Hermann Ebbinghaus auf Diltheys Ideen beschwor zwar noch nicht diese grundsätzliche Kluft, zeigt aber das Ausmaß an Animosität auch auf der anderen Seite.14 Auch da, wo man Diltheys Theorie aus wissenschaftslogischen Gründen kritisierte, blieb die einmal festgelegte Dichotomie im Prinzip erhalten. Dies gilt vor allem für die Einwände der Vertreter der sogenannten südwestdeutschen Schule des Neukantianismus, Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert. In den Schlußsätzen von Windelbands berühmter Rektoratsrede Geschichte und Naturwissenschaft (1894) stehen die »nomothetisch« und »idiographisch« erfaßten Gegenstandswelten friedlich nebeneinander: »Das Gesetz und das Ereignis bleiben als letzte, inkommensurable Größen unserer Weltvorstellung nebeneinander bestehen.«15 Auch Rickert hält sich an die Zweiteilung der Wissenschaften, die er allerdings »generalisierende« Natur- und »individualisierende« Kulturwissenschaften nennt.16 Prinzipiell kritisierte er den logischen Status von Diltheys Verstehensbegriff, dem er die individualisierende Begriffsbildung entgegenhielt. K.-O. Apel hat aber darauf aufmerksam gemacht, daß diese individualisierende Begriffsbildung innerhalb der Kulturwissenschaften keine von den Naturwissenschaften verschiedene Phänomenkonstitution bedeutet. Es sei zu fragen, »ob nicht im Falle des Verstehens nicht nur die Begriffsbildung, sondern auch schon die in die Synthesis der Erfahrung eingehende Sinneswahrnehmung – etwa qua Einfühlung in Ausdrucksdaten – von derjenigen der physikalischen Welterfahrung verschieden ist.«17 Ebd. 57. Ebd. 144. 14 Vgl. H. Ebbinghaus: Über erklärende und beschreibende Psychologie. In: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 9 (1896) 161–205, auch in: Materialien zur Philosophie Wilhelm Diltheys, hg. von F. Rodi und Hans-Ulrich Lessing (Frankfurt a.M. 1984) 45–87. 15 W. Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft. In: ders.: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 2 (Tübingen 1921) 160. 16 H. Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften (Tübingen 51929). 17 K.-O. Apel: Die Erklären : Verstehen-Kontroverse in transzendental-pragmatischer Sicht (Frankfurt a.M. 1979) 38. 12 13

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Wenig angefochten von den Einwänden des südwestdeutschen Neukantianismus etablierte sich im Zusammenhang der Dilthey-Schule das Wort »geisteswissenschaftlich«. Im Gegensatz zum heutigen Sprachgebrauch, in dem das Wort häufig nur noch klassifikatorische oder organisatorische Funktionen hat, enthielt es im Selbstverständnis der Dilthey-Schule einen programmatischen Anspruch; so in der »geisteswissenschaftlichen Pädagogik« (Hermann Nohl, Wilhelm Flitner u. a.) oder in der »geisteswissenschaftlichen Psychologie« Eduard Sprangers. Letzterer hat wie kaum ein anderer Theoretiker der Geisteswissenschaften dazu beigetragen, den oft mißverständlichen Begriffen Diltheys zu größerer Klarheit zu verhelfen, wobei er sich in manchen Punkten Rickert annäherte. Weder er noch Nohl machten einen nennenswerten Gebrauch von dem Wort ›Hermeneutik‹. Dies blieb Georg Misch und seinem Göttinger Kreis (Joseph König, Otto Friedrich Bollnow; in gewissem Sinn auch Hermann Lipps) vorbehalten, deren Terminologie in einer schwer zu analysierenden Wechselbeziehung zu der von Martin Heidegger stand. Es ist bemerkenswert, daß Misch, der eigentliche Sachwalter des Diltheyschen Erbes, sich gegen die Festschreibung des Wissenschaftsdualismus aussprach. In seinem Aufsatz Die Idee der Lebensphilosophie in der Theorie der Geisteswissenschaften (1924) erhob er die Forderung, »die logischen Fundamente so breit anzulegen, daß der uns quälende Gegensatz von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, der sich inzwischen, nach Hegels Logik, eben durch die Verselbständigung der Wissenschaften vom menschlichen Leben neu in der Logik selbst aufgetan hat, nicht mehr die Wissenschaften zerreißt.« Er vermutete, »daß auch dieser Gegensatz […] ein bloß zeitläufiger, also vorübergehender ist, und daß auch hier wieder die Entwicklung der Wissenschaft selbst, die große Veränderung, in der wir gegenwärtig begriffen sind, die Überwindung des Gegensatzes ermöglichen wird als eine Frucht der Umwandlungen in der physikalischen Begriffsbildung selbst.«18 Auch O. F. Bollnow, der von der Physik zur Philosophie übergegangen war, lehnte den Gegensatz Erklären : Verstehen schon aus begriffslogischen Gründen ab.19 Um so nachhaltiger wandten sich diese Philosophen dem Verstehen selbst zu, nicht zuletzt im Rahmen einer philosophischen Anthropologie. Daß in diesem Klima aufblühender verstehender Verfahren der Rekurs auf Dilthey keineswegs obligatorisch war, zeigt das Beispiel von Max Weber. In seiner Abhandlung Knies und das Irrationalitätsproblem (1906) ging er aus Anlaß der Analyse des Begriffs »deutendes Verstehen« kurz auf den Gesamtkomplex ›Hermeneutik‹ ein und schloß Schleiermacher und Boeckh ausdrücklich aus der weiteren Diskussion ebenso aus wie Dilthey, auf dessen Arbeiten er nur

18 G. Misch: Die Idee der Lebensphilosophie in der Theorie der Geisteswissenschaften. In: Materialien …, a. a.O. [Anm. 14] 132–146, zit. 142, 144. 19 Vgl. Otto Friedrich Bollnow im Gespräch, hg. von Hans-Peter Göbbeler und H.-U. Lessing (Freiburg i. Br., München 1983) 57.

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sehr pauschal verwies.20 Jeder aufmerksame Leser konnte von diesen wenigen Anmerkungen aus schließen, daß Fragen der Hermeneutik in einer Verstehenstheorie der Sozialwissenschaften nichts zu tun haben sollten. Diese Weichenstellung hatte dadurch weitreichende Folgen, daß in der amerikanischen Weber-Rezeption, also vor allem bei Talcott Parsons, der Begriff ›Hermeneutik‹ keinen Eingang in die dortige Theorie-Diskussion fand und erst dreißig Jahre später in völlig anderem Kontext (Gadamer – Habermas) rezipiert wurde. Auch Dilthey spielt bei Parsons nur die Rolle einer historischen Hintergrundgestalt.

III. Die Ausnahme: Der fundamentalontologische Verstehensbegriff Auf einem ganz anderen Weg sind der Verstehensbegriff und das Wort ›Hermeneutik‹ nach dem Ersten Weltkrieg zu neuer Aktualität gekommen. Martin Heidegger hat sich in der Phase seiner frühen Freiburger Vorlesungen intensiv mit Dilthey beschäftigt, in dem er eine neue, auf das Verständnis des Lebens selbst gerichtete Tendenz wahrnahm. Mit der ihm eigenen Radikalität und einem fundamentalistischen Affekt gegen eine alles neutralisierende Universitätsphilosophie steigerte er das im Verstehensbegriff liegende Potential subjektiver Betroffenheit. Als Ursprungsdokument dieser neuen Richtung kann heute ein lange als verschollen geglaubtes, fünfzig-seitiges Typoskript gelten, das Heidegger 1922 von Freiburg aus in einer Berufungssache nach Göttingen und Marburg schickte.21 Offiziell berichtete er über ein in Arbeit befindliches (später nie erschienenes) Aristoteles-Buch, gab aber vor allem Einblick in seine sich herausbildende Konzeption eines neuartigen, allem akademischen Objektivismus entgegengesetzten Verstehens. Gegenstand dieses historischen Verstehens sind nicht – abschätzig so genannte – »mannigfaltige Merkwürdigkeiten«, mit denen die verstehende Gegenwart »zu Zwecken der Kenntnisbereicherung abgelenkt« wird, sondern das faktische Leben selbst, das in den zu interpretierenden Texten »aus dem Lebensverhältnis der eigenen Gegenwart neu zum Sprechen zu bringen« ist. Es ist die »bekümmerte Aneignung der Geschichte«, in der es darum geht, »das Verstandene im Sinne der eigensten Situation und für diese ursprünglich zu wiederholen«.22 H.-G. Gadamer schrieb nach Wiederauffinden und neuerlicher Lektüre dieses Textes, auf den er lebenslang immer wieder hingewiesen hatte: »Es ist, als ob ich darin den Leitfaden meines eigenen philosophischen

M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Tübingen 31968) 91, Anm. 2. M. Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), hg. von H.-U. Lessing. In. Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 6 (1989) 235–275. 22 Ebd. 239. 20 21

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Werdegangs wiederfände und meine schließliche Ausarbeitung der philosophischen Hermeneutik wiederholen sollte.«23 In Heideggers eigenwilliger Weiterführung der hermeneutischen Tradition schien der alte, bis zu Droysen zurückreichende Dualismus marginalisiert zu sein; denn es waren ja nicht nur die nomothetisch-generalisierenden Wissenschaften, die für diesen hermeneutischen Ansatz irrelevant erschienen, sondern sogar die traditionellen Geisteswissenschaften in ihrer »objektivistischen« Neutralität. Heidegger sprach schon 1923 abschätzig von dem »Gerede und Getue mit den Geisteswissenschaften und Geistesgeschichte«24 und spielte in Sein und Zeit den als radikaler empfundenen Graf Yorck gegen den allzu ›geisteswissenschaftlich‹ etablierten Dilthey aus.25 Mit erheblicher, z. T. durch die politischen Ereignisse bedingten Verzögerung hat H.-G. Gadamer mit seinem 1960 erschienenen Buch Wahrheit und Methode das allgemeine Interesse noch einmal auf das Thema Hermeneutik gelenkt. So, wie schon Heidegger die wissenschaftslogischen Bedenken der Neukantianer gegen Dilthey als bloße »Trivialisierung« beiseite geschoben hatte und zunächst mit Dilthey, dann in wachsender Distanz zu ihm einen radikal anderen Verstehensbegriff entwickelt hatte, der nicht mehr dichotomisch auf das Erklären bezogen war, hatte auch Gadamer das Verstehen nicht als Methode, sondern als Seinsgeschehen bzw. wirkungsgeschichtliches Geschehen neu definiert. Er ging aus von einem für ihn offenkundigen Widerstand, den das lebensweltliche Verstehen gegen den Versuch leistet, in eine Methode umgedeutet zu werden. »Die folgenden Untersuchungen knüpfen an diesen Widerstand an, der sich innerhalb der modernen Wissenschaft gegen den universalen Anspruch wissenschaftlicher Methodik behauptet. Ihr Anliegen ist, Erfahrung von Wahrheit, die den Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik übersteigt, überall aufzusuchen, wo sie begegnet und auf die ihr eigene Legitimation zu befragen.«26 Nicht um eine Kunstlehre des Verstehens oder eine Methodenlehre der Geisteswissenschaften gehe es bei seinem Ansatz, sondern um den »Versuch einer Verständigung über das, was die Geisteswissenschaften über ihr methodisches Selbstbewußtsein hinaus in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen unserer Welterfahrung verbindet.«27 Damit war die eine Hälfte des deutschen Wissenschaftsdualismus, die Geisteswissenschaften, philosophisch noch radikaler in ihrem Eigenrecht begrün-

H.-G. Gadamer: Heideggers »theologische« Jugendschrift. In: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989) 228–234, zit. 229. 24 Vgl. Joachim W. Storck und Theodore Kisiel (Hg.): Martin Heidegger und die Anfänge der »Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte«. In: Dilthey-Jahrbuch 8 (1992–93) 181–225, zit. 199. 25 Vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit (Tübingen 1927) 397–404 (§ 77). 26 H.-G. Gadamer, a. a.O. [Anm. 2] XIII. 27 Ebd. XV. 23

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det. Andererseits verschob sich der in diesem Dualismus angelegte Gegensatz zwischen wissenschaftlicher Rationalität und subjektivem Engagement so stark auf die Seite des existentiellen Betroffenseins, daß Gestalten wie Schleiermacher und Dilthey als Vertreter einer »traditionellen« Hermeneutik zu bloßen Hintergrundgestalten der nun sich entfaltenden »philosophischen« Hermeneutik verblaßten. Einwände gegen diese existenzphilosophische Radikalisierung der Hermeneutik kamen nicht nur von Vertretern der »traditionellen« Hermeneutik, sondern auch von denen, die den klassischen Methodendualismus im Sinne einer anthropologischen Anerkennung zweier fundamentaler Erkenntnisinteressen fortzuschreiben suchten.

IV. Die neopositivistische Relativierung des Verstehens und der »New Dualism« Noch bevor nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland eine nennenswerte Methodendiskussion um die Eigenständigkeit der Geisteswissenschaften und den Wert des Verstehens wieder in Gang kommen konnte, hatte sich im anglo-amerikanischen Kulturraum eine neue philosophische Front gebildet, die zu einem erheblichen Teil aus den vor Hitler geflohenen Vertretern des logischen Empirismus und Neopositivismus, dem Wiener Kreis angehörend oder ihm nahestehend, bestand. Wenn auch ihre zentralen Forschungsprobleme die Fragen der Hermeneutik eher ignorierten, so lag doch in ihrem Postulat einer »Einheitswissenschaft« die ausdrückliche Ablehnung einer eigenständigen geisteswissenschaftlichen Methode. K.-O. Apel hat in seinen späteren Schriften die weiteren Phasen der Erklären : Verstehen – Kontroverse so eingehend behandelt, daß es sich empfiehlt, einige der Hauptpunkte hier gleichsam nur abzurufen.28 Eine zentrale Bedeutung kommt den Arbeiten von C. G. Hempel zu, der seine logisch-empiristische Theorie der Erklärung auch auf die historischen und Sozialwissenschaften auszudehnen beanspruchte. Berühmt wurde sein »deduktiv-nomologisches« Erklärungsmodell, das er in seinem Aufsatz The Function of General Laws in History (1942) vorführte.29 Im Gegensatz zu der in Deutschland längst gängig gewordenen Dichotomie wurde hier der schon von Mill und Buckle vorgetragene Anspruch wiederholt, daß es nur eine Wissenschaft geben könne und der Autonomie-Anspruch der Geisteswissenschaften auf einem falsch konzipierten Verstehensbegriff fuße. Hempel (und mit ihm andere Neopositivisten) befaßte sich weniger mit dem Begriff des Verstehens als mit dem des Erklärens, von dem aus sich eine bestimmte Konsequenz für das Verstehen ergab. Ausdrücklich thematisiert wurde jedoch das Verstehen in einem Aufsatz S. o. [Anm. 17]. Carl Gustav Hempel: The Function of General Laws in History. In: Aspects of Scientific Explanation (New York 1965). 28 29

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The Operation called Verstehen von Theodore Abel.30 Der auf dem europäischen Kontinent weithin geltende hohe Anspruch des Verstehens wurde hier zurückgewiesen mit dem Argument, das Verstehen sei lediglich jenes vorwissenschaftliche Element in unserem Beobachten von Sachverhalten, das uns zu bestimmten Ahnungen, Vermutungen und Hypothesen veranlasse, sobald wir die Beobachtungen mit unseren eigenen Erfahrungen in Beziehung gesetzt hätten. Es erweitere nicht unser Wissen und könne nur zu Meinungsäußerungen, nicht aber zu exakt fundierten Aussagen führen. Diese basierten auf objektiven Beobachtungsmethoden wie »Experimenten, vergleichenden Untersuchungen, statistischen Analysen von Massendaten etc.«31 Abel nennt als Beispiel eine Korrelation sozialgeschichtlicher Tatsachen, nämlich das Auftreten von Mißernten und den Rückgang der jährlichen Heiratsrate in der betroffenen Landbevölkerung und sagt: »We do not accept the fact that farmers postpone intended marriages when faced with crop failure because we can ›understand‹ the connection. It is acceptable to us because we have found through reliable statistical operations that the correlation between the rate of marriage and the rate of crop production is extremely high. We would continue to accept the fact even if we could not ›understand‹ it. In this instance the operation of Verstehen does no more than relieve us of a sense of apprehension which would undoubtedly haunt us if we were unable to understand the connection.«32 Mit szientistischem Rigorismus wird hier ein uns im Verstehen zugänglicher Zusammenhang bewußt verfremdet – bis hin zu einem natur-ähnlichen Status, für dessen wissenschaftliche Erfassung dann die in den Naturwissenschaften entwickelten Methoden allein eine Erweiterung unseres Wissens garantieren. Es ist dies die »Verstümmelung« der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt, von der Dilthey immer wieder sprach. Sie wird auch in Hempels Aufsatz vorgenommen. Sein »deduktiv-nomologisches« Modell zur Erklärung historischer Sachverhalte wird durch ein völlig unhistorisches Beispiel illustriert, nämlich mit der Erklärung eines durch Kälte geplatzten Autokühlers. So, wie wir dieses Phänomen erklären können durch Erfassung der relevanten Antezedentien und ihrer Subsumption unter ein »covering law«, so müsse auch der Historiker bei seinen Erklärungen verfahren. »There is no difference, in this respect, between history and the natural sciences: both can give an account of their subject-matter only in terms of general concepts, and history can ›grasp the unique individuality‹ of its objects of study no more and no less than can physics or chemistry.«33 Auch Hempel mißt dem Verstehen, das er lediglich als Empathie auffaßt, einen bloß heuristischen Wert bei, etwa, wenn der Historiker versucht, sich an die Stelle

30 Th. Abel: The Operation Called Verstehen. In: Herbert Feigl, May Brodbeck (Ed.): Readings in the Philosophy of Science (New York 1953) 677–687. 31 Th. Abel, ebd. 685. 32 Ebd. 33 C. G. Hempel, a. a.O. [Anm. 29] 233.

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der handelnden Personen zu versetzen und deren Reaktionen an seinen eigenen zu messen. »Much of the appeal of the ›method of understanding‹ seems to be due to the fact that it tends to present the phenomena in question as somehow ›plausible‹ or ›natural‹ to us; this is often done by means of persuasive metaphors.«34 Der auch in England und den USA hervorgerufene Widerspruch gegen die reduktionistische und nicht ohne Polemik vorgetragene Position des »coveringlaw«-Modells wissenschaftlicher Erklärung artikulierte sich auf verschiedene Weise. Zwei namhafte Vertreter dieser Gegenbewegung, William Dray und Peter Winch, rekurierten beide auf Max Webers verstehende Soziologie, Dray mit seinem Begriff der »rationalen Erklärung«, Winch mit der Thematisierung des Sinn-Verstehens.35 K.-O. Apel hat auf das bemerkenswerte Faktum hingewiesen, daß in dieser neuen Phase der Erklären : Verstehen-Kontroverse eine Art Restitution des ursprünglichen Wissenschaftsdualismus des 19. Jahrhunderts stattgefunden hat, dieses Mal freilich in der Heimat des westlichen Positivismus selbst. Es handelte sich hier um eine – »New Dualism« genannte – Richtung, die von der Spätphase Wittgensteins z.T. direkt beeinflußt war. Zu ihr gehört auch P. Winch. Sein Ausgangspunkt war Wittgensteins Begriff des Sprachspiels und der damit verbundene Gedanke, »daß sich nur im Rahmen eines konsistenten Sprachspiels, in dem Sprachgebrauch, Tätigkeiten und Paradigmen der Weltinterpretation miteinander ›verwoben‹ sind, sinnvoll diskutieren lasse.«36 Wissenschaftslogisch hatte dies zur Konsequenz, daß der Anspruch auf eine »Unified Science« des Neopositivismus zurückgewiesen wurde zugunsten eines Nebeneinander zweier in sich konsistenter Sprachspiele. Neben das »covering law«-Modell kausaler Erklärung trat nun gleichberechtigt ein Sprachspiel, »in dem über die menschlichen Handlungen, ihre Sinn-Intentionen, Gründe, Ziele (Zwecke) und ihre […] Regeln, Normen oder Maximen gesprochen wird.«37 Die Erträge dieser Theorien hat schließlich Georg Henrik von Wright in seinem Buch Explanation and Understanding (1971) systematisiert.38 In ihnen wurde – um den Hauptgesichtspunkt für unsere Betrachtung vorwegzunehmen – der Autonomie-Anspruch der hermeneutischen Geisteswissenschaften rehabilitiert. Apel spricht geradezu von einer »neowittgensteinianischen Rekonstruktion von Grundmotiven der traditionellen Hermeneutik und Philosophie der Geisteswissenschaften«.39 Dies soll zumindest durch einen Bezugspunkt hier verdeutlicht werden:

Ebd. 240. W. Dray: Laws and Explanation in History (Oxford 1957); P. Winch: The Idea of a Social Science and Its Relation to Philosophy (London 1958). 36 K.-O. Apel, a. a.O. [Anm. 1] 54. 37 Ebd. 38 G. H. van Wright: Explanation and Understanding (Ithaca 1971). 39 Apel, a. a.O. [Anm. 1] 118. 34 35

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Die Tatsache, daß im sozialwissenschaftlichen Sprachspiel das Vorhandensein von Regeln und von Regel-Verstehen hervorgehoben wird, kann als Rekonstruktion des Diltheyschen Konzeptes des »objektiven Geistes« gedeutet werden. Mit anderen Worten: »Die Funktion des sogenannten ›objektiven Geistes‹ läßt sich als die einer Regelung oder normativen Determination des nicht individualpsychologisch motivierten Handelns der Menschen analysieren.«40 Apel selbst kommt im Zuge der Aufarbeitung dieser letzten Phase der Erklären : Verstehen-Kontroverse zu dem Ergebnis, daß man, über das bloße Nebeneinander der beiden Methoden hinausgehend, von einer komplementären Beziehung sprechen müsse: »Man könnte vermuten, daß diese Komplementarität die legitime Grundlage des sogenannten methodologischen Dualismus von Erklären und Verstehen im Sinne Diltheys bildet.«41 »Kurz: der emphatische Verstehensbegriff der ersten Phase der E : V-Kontroverse wird im Sinne eines methodologisch-relevanten Gegen- bzw. Komplementärbegriffs zur theoretisch-objektivierenden (Natur-)Erklärung rekonstruierbar.«42 Apel hat diese komplementäre Beziehung auf eine anschauliche Formel gebracht: »Niemand kann nur ›verstehen‹, ohne dabei ein Sachwissen im Sinne potentieller ›Erklärung‹ vorauszusetzen. Andererseits kann aber auch kein Naturwissenschaftler etwas ›erklären‹, ohne dabei – als potentieller Geisteswissenschaftler – an einer intersubjektiven Verständigung teilzunehmen.«43 Die beiden Seiten der Dichotomie werden erkenntnisanthropologisch auf zwei grundlegend verschiedene Erkenntnisinteressen zurückgeführt, die ihre Wurzeln einerseits im »leibhaften Engagement unserer Erkenntnis« (Leibapriori) und andererseits in der »Erkenntnis durch Reflexion« (Bewußtseinsapriori) haben. Das erste ist »durch die Notwendigkeit einer technischen Praxis auf Grund der Einsicht in Naturgesetze bestimmt«, das andere »durch die Notwendigkeit sozialer, moralisch relevanter Praxis.«44 Ob mit diesem Friedensangebot der Komplementarität von Erklären und Verstehen der sich durch mehr als 150 Jahre hindurchziehende Streit zur Ruhe kommt, kann aus heutiger Sicht nicht entschieden werden. Unbestritten ist der Wert dieser Debatte für eine immer weiter sich verzweigende Ausdifferenzierung des Begriffs ›Verstehen‹.

Ebd. 119. Ebd. 105. 42 Ebd. 157. 43 Ders.: Die Entfaltung der »sprachanalytischen« Philosophie und das Problem der »Geisteswisenschaften«. In: ders.: Transformation der Philosophie, Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft (Frankfurt a.M. 1973) 54. 44 Ders.: Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht. In: Hermeneutik und Ideologiekritik (Frankfurt a.M. 1971) 26 f. 40 41

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I. Beherrschungswille Positivismus und Sozialismus, die Erben der klassischen Geschichtsphilosophie, kamen im 19. Jahrhundert zumindest darin überein, daß Wissenschaft und Technik weiter wachsen und die Menschheit sich mit ihrer Hilfe künftig von Mangel und Leid befreien werde; beide wollten mit ihren Theorien den Fortschritt zu diesem Ziel beschleunigen. Der erste Teil ihrer Erwartung hat sich im 20. Jahrhundert als richtig erwiesen, der zweite nicht, und damit brach die von ihnen vorausgesetzte Harmonie von geschichtlicher Tendenz und gewünschter Zukunft auseinander. Der Wille, eine bessere Zukunft heraufzuführen, verkehrte sich in Zukunftsangst. 1. Der Entschluß zum Aufbruch in eine neue Zukunft ist besonders signifikant bei F. T. Marinetti, der seit 1909 unter dem Begriff ›Futurismus‹ eine neue Kunst und Kultur proklamierte im starken Selbstgefühl, diese Zukunft auch heraufführen zu können. Er traf einen Nerv der Zeit so sehr, daß bald in allen Genres der Kunst futuristische Manifeste und Werke auftauchten. Marinetti stützte sich ebenso wie jene Gesellschaftsphilosophien auf die technischen Errungenschaften und begrüßte die wissenschaftlich-technische Zivilisation – aber er ändert die Perspektive. Er lehrte den Haß auf die Tradition und feierte die industrielle Produktion als neue Kultur: Man werde Bahnhöfe, Dampfmaschinen, Fabriken, Flugzeuge usw. besingen, ja die Moderne habe eine neue Schönheit hervorgebracht, »die Schönheit der Geschwindigkeit«, die neuen Rennwagen seien schöner als die Nike von Samothrake. Es ging ihm auch nicht mehr um Leidbewältigung, sondern im Gegenteil um Militarismus und Patriotismus, Aufruhr und anarchistische Gewalt, und gerade auch diese sollten besungen werden; ja es gelte »den Krieg zu verherrlichen«, »diese einzige Hygiene der Welt«.1 In Marinettis Futurismus spiegelt sich die auch sonst am Beginn des Jahrhunderts ausgesprochene Auffassung, Kultur und Gesellschaft bedürften einer radikalen Erneuerung, und gerade auch Krieg, ein »Weltkrieg«, könne und werde diese »Menschheitsdämmerung« und den »Völkerfrühling« heraufführen.2 Aber fast alles, was in dieser Weise der Futurismus großartig fand, hat dann das 20. Jahr-

1 Filippo Tommaso Marinetti: Futurisme, in: Le Figaro, Paris 20. Febr. 1909. Umbro Apollino: Der Futurismus. Manifeste und Dokumente einer künstlerischen Revolution 1909–1918 (Köln 1972) 32 ff. 2 Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft (Frankfurt a.M. 1999) 202 ff.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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hundert so sehr beherrscht, daß es nicht mehr besungen und verherrlicht werden konnte. Schon der Kulturpessimismus beleuchtete dieselben Phänomene anders, sie erschienen ihm als Verhängnis des Schicksals. Fast gleichzeitig mit Marinetti, nämlich 1911, begann O. Spengler über die Weltgeschichte zu spekulieren und kam zu dem Resultat, daß Technik, Sozialismus, Imperialismus und Caesarismus die Kennzeichen der Zivilisation sind und damit die Todesstarre der Kultur, den »Untergang des Abendlandes« anzeigen. Spengler präsentierte seine Vision als Prognose von unumstößlicher Gewissheit. Denn der Vergleich aller Hochkulturen mache evident, daß »die Zukunft des Abendlandes nicht ein uferloses Hinauf und Vorwärts in der Richtung unserer augenblicklichen Ideale und mit phantastischen Zeiträumen ist, sondern ein in Hinsicht auf Form und Dauer streng begrenztes und unausweichlich bestimmtes Einzelereignis der Historie vom Umfang weniger Jahrhunderte«.3 Da sich an dieser Zukunft nichts ändern lasse, müsse »man dies Schicksal lieben oder an der Zukunft, am Leben verzweifeln«.4 Spengler hatte sein Buch 1917, also noch vor Ende des Ersten Weltkrieges veröffentlicht, um Preußen nach dem Sieg Handlungsrichtlinien zu geben. Es erregte Aufsehen, nicht weil es den physischen Untergang der abendländischen Menschen, sondern weil es die künftige Auflösung ihrer kulturellen Identität verkündete. Marinetti und Spengler repräsentieren zwei entgegengesetzte Haltungen zum technischen Fortschritt. Während jener die technische Zivilisation ästhetisch verklärte und sie in eine offene Zukunft schreiten sah, diagnostizierte dieser sie als tödliche Krankheit. Aber beide schoben die Zielideen von Positivismus und Sozialismus beiseite, und beide waren vom Sterben der bisherigen Kultur überzeugt: Marinetti wollte es aggressiv mit besiegeln, laut Spengler hatte das Schicksal bereits entschieden. 2. Nur aufgrund von Wissenschaft und Technik war ein Weltkrieg möglich geworden. Konnten sie für das Leben des Einzelnen und der Gesellschaft sinnvoll sein? Laut Max Weber bedrohten sie eher alle Sinnerwartungen: Da der Prozess des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ins Unendliche fortgehe, werde niemand mehr seine Ergebnisse erfahren und deshalb auch nicht mehr wie Abraham alt und lebenssatt sterben, da das meiste vorenthalten bleibe. Indem der Fortschritt der Wissenschaft keine Grenzen hat, könne auch der Einzelne keine Vollendung mehr erwarten.5 Der Weltkrieg und seine Folgen hatten die traditionellen Orientierungen fragwürdig gemacht, und auch deshalb sah sich die Philosophie jetzt auf das faktische Existieren als letzte Ausgangsbasis zu-

Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. 1 (München 1923) 52. Der Band erschien zuerst 1918, sein Vorwort datiert von 1917. 4 Ebd. 51. 5 Max Weber: Wissenschaft als Beruf [1919]. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann (Tübingen 71988) 594 ff. 3

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rückgeworfen. Man rezipierte S. Kierkegaard, der vom weltgeschichtlichen Spekulieren zur Bekümmerung um die eigene zukünftige Seligkeit zurückgerufen hatte. Dennoch sah in der Existenzphilosophie die Zukunft anders aus. Nach M. Heideggers berühmter Analyse der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit von 1927 ist das (menschliche) Dasein »wesenhaft in seinem Sein zukünftig«.6 Und zwar sei im zeitlichen Vollzug des Existierens die Zukunft deshalb vorrangig gegenüber Vergangenheit und Gegenwart, weil das Dasein wesentlich als »Sorge« stets sich-vorweg sei. Allerdings bringt die Zukunft hier nichts gänzlich Neues, sondern bedeutet das Zukommen auf die eigenen Möglichkeiten des Daseins: Das »auf sich Zukommen-lassen ist das ursprüngliche Phänomen der Zukunft.«7 Gegen Spenglers Fatalismus appelliert Heidegger, »eigentlich« zu werden und sich zu den eigensten Existenzmöglichkeiten zu entscheiden. Aber sein Denken bleibt in Spenglers Nähe, denn die Aussichten sind nicht grundsätzlich besser: An die Stelle des Untergangs der Kultur tritt des Daseins »Vorlaufen zum Tode«, und die »faustische« Tatphilosophie, die dem unausweichlichen Schicksal ins Auge blickt, wird durch den Appell an die ernste Entschlossenheit des Daseins ersetzt, im Angesicht des Todes sein Schicksal zu übernehmen. Mit Kierkegaards Existenzdenken war die Chance zur Einsicht gegeben, daß meine Zukunft keineswegs identisch mit der Zukunft von Kollektiven oder gar der Menschheit ist. Aber Heidegger brachte das Verhältnis nicht recht ins klare. Der Inbegriff der Anderen erscheint bei ihm einerseits als »Volk«, mit dem man das »Geschick« teilt, aber andererseits auch unter der Perspektive des anonymen »Man«, von dem man sich distanzieren muß. Wenn es heißt, die Geschichte entspringe aus »der Zukunft des Daseins«,8 so weiß man nicht, ob das je-meinige Dasein wirklich durch seine Entscheidungen auch seinen Kontext, die Geschichte des »Volkes«, konstituiert und durch seinen eigenen Zukunftsbezug eine »eigentliche« Geschichte entwirft oder ob es nur den faktisch unabänderlichen Geschichtsgang des Volkes als sein Schicksal akzeptiert.9 1934 aber wurde Heidegger eindeutig: Nicht ich, sondern wir, die Deutschen, müssen uns entscheiden, »was wir und wer wir werden wollen«: »Das von Früher her Wesende eröffnet sich uns in dem Sein, das wir als unser künftiges unter unseren Befehl stellen – erschließt sich aus dem, wie wir selbst aus unseren vorgreifenden Entscheidungen auf uns zukommen aus unserer Zukunft.« Diese Zukunft ist kein offener Zeitraum, sondern »wie die Gewesenheit – eine Macht.« »Die Gewesenheit ist die Macht der Sendung, die Zukunft ist die Macht des Auftrags.«10

Martin Heidegger: Sein und Zeit [1927] (Tübingen 91960) 385. Ebd. 325. 8 Ebd. 386. 9 Siehe den bedachtsamen Klärungsversuch von Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 3: Die erzählte Zeit (München 1991) 114–129. 10 M. Heidegger: Die gegenwärtige Lage und die künftige Aufgabe der deutschen Philosophie [Vortrag vom 30.11.1934]. Gesamtausgabe I. Abt. Bd. 16 (Frankfurt a.M. 2000) 323 f. Diese 6 7

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J. P. Sartre hingegen hielt 1943 streng den Standpunkt der Existenz bei, die jeweils ihre »eigene Zukunft ist«: Zukunft als Inbegriff der existentiellen Möglichkeiten gehört zur Freiheit, zu der die Existenz verurteilt ist.11 Erst von ihr aus kann von der Zukunft als Zustand der Welt gesprochen werden. Denn ich bin es, der ich »der Welt eigene Möglichkeiten gebe von dem Zustand aus, den ich an ihr erfasse: der Determinismus erscheint auf dem Hintergrund des künftigenden Entwurfs meiner selbst.«12 Es leuchtet ein, daß jedes Zukunftsverhältnis in einem bestimmten, gegenwärtigen Bewußtsein wurzelt. Aber wie sich die Zukunft als existentieller Freiheitsspielraum zum Gang der objektiven Geschichte verhält, das zu klären hat Sartre – gerade auch nach seinem Übergang zum Marxismus – große Schwierigkeiten bereitet. Eindeutiger war hingegen die besorgte Stellungnahme von K. Jaspers von 1931: In der durch Nivellierung und Mechanisierung geprägten Massengesellschaft müsse die Existenzphilosophie zu einem Selbstsein in Freiheit aufrufen.13 Gehorche man dem Verstand, zeige sich das menschliche Streben nach Freiheit nur als kurzer »scheiternder Augenblick zwischen zwei unermeßlichen Schlafzuständen, von denen der erste als Naturdasein war, der zweite als technisches Dasein wird«. Der Gedanke, der Mensch könne den Kosmos erobern und dem Mangel der Ressourcen entfliehen, sei bloße »Utopie« und der Untergang der Menschheit durch eine Katastrophe wahrscheinlicher. Die Suche nach einer Ordnung garantierenden Autorität steuere auf einen »Endzustand« hin, in dem es keine Freiheit mehr geben werde. Nun gelte es, nicht einem der vielen »Propheten« zu gehorchen, sondern die Gefahr als »erweckende Prognose« aufzufassen: »Vor dem Dunkel der Zukunft, ihrem Drohen und ihrem Abgrund, ist um so härter der Appell, [die eigene Freiheit] zu verwirklichen, so lange es Zeit ist«, denn dadurch werde jetzt in der Gegenwart über die »Grundfrage der Zeit« entschieden, ob Freiheit auch noch künftig möglich sein wird.14 Aber auch Jaspers konzipierte keinen institutionellen Rahmen der Freiheitssicherung, beängstigt durch jene »Massengesellschaft«. Gerade sie hat nach J. Ortega y Gasset unsere Zukunftsgewißheit zerstört: »Unser Leben ist, ob wir wollen oder nicht, immer mit etwas Zukünftigem beschäftigt«; »nichts hat Sinn für den Menschen außer in Beziehung auf die Zukunft.«15 Aber der »Aufstand der Massen« hat eine Zeitenwende mit unsicherem Ausgang in Gang gesetzt. »Es gibt keine ›Fülle der Zeit‹ mehr, denn das

Aussagen stimmen ganz mit seiner Rektoratsrede überein, mit ihrem Appell, uns selbst zu wollen: Die Selbstbehauptung der Universität (27.5.1933), ebd. bes. 117. 11 Jean-Paul Sartre: L’être et le néant (Paris1943), dt. Das Sein und das Nichts (Reinbek bei Hamburg 1993) 244 ff.; L’Existentialisme est un humanisme (Paris 1946), dt. Der Existentialismus ist ein Humanismus (Reinbek bei Hamburg 32005) 150, 155. 12 Das Sein und das Nichts, ebd. 250. 13 Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit (Berlin, Leipzig 31932). 14 Ebd. 183, 189 f. 15 José Ortega y Gasset: La rebellion de las masas [1929], dt.: Der Aufstand der Massen (Stuttgart, Berlin o.J.) 189 f.

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setzt eine klare, vorherbestimmte, unzweideutige Zukunft voraus, wie das 19. Jahrhundert sie vor sich sah. Damals glaubte man zu wissen, was morgen geschehen würde. Heute öffnet der Horizont sich wieder gegen neue, unbekannte Fernen, denn man weiß nicht, wer herrschen, wie sich die Macht auf der Erde verteilen wird.«16 Europa sei eine kulturelle Einheit, und »die Europäer können nur leben, wenn sie in eine große gemeinsame Aufgabe hineingestellt sind.« Aber das Problem ist: »Europa glaubt an keine sittlichen Normen mehr.«17 Die neue Zukunftsungewißheit war bei Ortega letztlich nur die Folge eines Verlustes an Sittlichkeit durch die »Massengesellschaft«. 3. Der Kulturpessimismus verbunden mit ökonomischer Krise verlangte nach Weltanschauungen, die eine positive kollektive Zukunftsperspektive boten. In die Lücke trat in Deutschland zum einen die »konservative Revolution«, die den Nationalstaat gestärkt sehen wollte, ja einem zum »Dritten Reich« erstarkten Deutschland die »Sendung« zusprach, Europa ins Gleichgewicht zu bringen (A. Moeller van den Bruck18), sowie ein radikaler Nationalismus und Rassismus. Zum anderen machte die Situation erst recht den Marxismus-Leninismus attraktiv, der an der Verbindung von nachweisbar wissenschaftlich-technischem Fortschritt mit tiefsitzenden moralischen Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit festhielt und jene in deren Dienst stellen wollte. So zeichneten sich in den zwanziger Jahren zwei einflußreiche kollektive Zukunftsvisionen ab:19 Die einen erträumten die Zukunft eines erstarkten Nationalstaates, ja eines utopischen, neuen Reiches, wobei sich der Blick vor allem auf die Zukunft des eigenen Volkes richtete.20 Nach A. Hitler konnte »das deutsche Volk seine Zukunft nur als Weltmacht vertreten«,21 und dabei sollte es den noch weiteren weltgeschichtlichen Auftrag erfüllen, für den Sieg der arischen Rasse zu sorgen, die von der Natur ohnehin zu herrschen bestimmt sei.22 Dem stand die Zukunftsvision von einer kommunistischen Weltgesellschaft gegenüber, in welcher durch wissenschaftlich-technische Naturbeherrschung und durch soziale Neuordnung Leid und Not sowie soziale Ungleichheit getilgt sind. Beidemal wurde die Gegenwart nur als Übergangszeit zu einer besseren Zukunft gedacht, und beidemal war Ebd. 199. Ebd. 201, 206. 18 Arthur Moeller van den Bruck: Das dritte Reich (Hamburg 31931). Eine ähnlich Auffassung vertrat 1934 z. B. auch der Historiker Hermann Stegemann, der eine »Weltwende« ankündigte, mit welcher Europa und Asien verschmelzen würden; Deutschland habe »die tragende Stellung im eurasischen Gesamtraum«: Weltwende. Der Kampf um die Zukunft und Deutschlands Gestaltwandel (Berlin 1934) 347. 19 Eine der Alternativpositionen jenseits der Extreme bot Walther Rathenau: Von kommenden Dingen [1916] (Berlin 1917). Er bot keine Prognose, sondern forderte eine Umkehr der von der »Mechanisierung« geprägten Zivilisation hin zu Verantwortung und brüderlicher Liebe. 20 Jost Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus (Frankfurt a.M. 21995). 21 Adolf Hitler: Mein Kampf [1925/27], 2 Bde. in 1 (München 1941) 754 f., 728. 22 Ebd. 317. 16 17

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das Leben des Einzelnen nur sinnvoll im Hinblick auf die Zukunft des jeweils Ganzen. In beiden Auffassungen mußte diese Zukunft durch Kampf erobert, und das bedeutete: Durch Revolutionen und Kriege mußten die Gegner besiegt werden. Und beide gaben deshalb ihr Ziel nicht als ausgedacht, sondern in Natur und Geschichte verankert aus, so daß es auch als erreichbar geglaubt werden konnte: als Ergebnis der gesamten Menschheitsentwicklung und jetzt basiert im Proletariat auf der einen Seite, als verankert in der Überlegenheit einer Herrenrasse auf der anderen. In beiden Fällen sicherte eine Theorie oder Ideologie die Erreichbarkeit des Zieles dadurch ab, daß sie das Handeln nur eine schon vorgegebene objektive Tendenz oder gar ein Gesetz vollstrecken ließ. Letztlich aber brauchte man starke Machtzentren, die im Namen von Natur oder Geschichte die Zukunft heraufführten, und diese erlangten ihre Macht aufgrund von Ideologien, aber eben auch von Wissenschaft und Technik. Beide Visionen reichten weit über das hinaus, was sich rational planen und bewerkstelligen ließ. Hitler intendierte nicht nur eine deutsche starke »Volksgemeinschaft«, sondern er wollte weitergehend eine »Zeitenwende« und eine »neue, nationalsozialistisch geprägte Weltordnung« heraufführen.23 Auch der Marxismus hatte ein schwer realisierbares Fernziel, hob es aber von der aktuellen Tagespolitik deutlich ab. 1917 stellte W. I. Lenin klar, daß Marx’ Versprechen, in der künftigen Gesellschaft werde jeder gemäß seiner Fähigkeiten und seinen Bedürfnissen arbeiten und leben, nur für die »höhere Stufe« des Kommunismus Geltung habe, die im Sozialismus »durch die strengste Kontrolle […] über das Maß der Arbeit und der Konsumption« vorerst nur vorbereitet werde. Lenin verteidigte Marx’ Kommunismus-Vision wie folgt: »Vom bürgerlichen Standpunkt ist es leicht, eine solche Gesellschaftsstruktur als ›reine Utopie‹ hinzustellen und darüber zu spotten, daß die Sozialisten jedem das Recht zusichern, von der Gesellschaft ohne jegliche Kontrolle über die Arbeitsleistung des einzelnen Bürgers eine beliebige Menge Trüffeln, Autos, Klaviere u. derl. m. zu erhalten.«24 Aber kein Sozialist habe das Erreichen eines solchen Kommunismus je zugesichert; sogar das Wort Kommunismus müsse mit größter Vorsicht gebraucht werden.25 In dieser Weise blieb jene »höhere Phase« eben doch nur eine Utopie und keine wissenschaftliche Prognose. Auch der Zielgedanke des »wissenschaftlichen Sozialismus« verweist jedenfalls in eine sehr ferne, noch unsichere Zukunft, und so hat der wissenschaftliche Sozialismus die Utopie keineswegs abgeschafft, wenngleich ihre Überwindung zu seinem Programm gehörte. – Jene Visionen einer fernen, idealen Zukunft entwarf ein Bewußtsein, dem die Naturwissenschaften zugleich die Endlichkeit des Kosmos und der Menschheit versicherten.

23 Frank-Lothar Kroll: Der Faktor »Zukunft« in Hitlers Geschichtsbild. In: ders. (Hg.): Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag (Paderborn u. a. 1996) 391–409, hier 400. Enrico Syring: Hitler. Seine politische Utopie (Berlin 1994) 237. 24 Wladimir I. Lenin: Staat und Revolution [1917]. Werke Bd. 25 (Berlin 1960) 483 f. 25 Lenin: Referat über die Subbotniks [20.12.1919]. Werke Bd. 30 (Berlin 1960) 275.

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II. Utopiebedarf Der rationalen Zukunftsgestaltung in der wissenschaftlichen Zivilisation dienen Prognose und Planung, wie zuerst in der Medizin, in der man bereits seit der Antike einen Krankheitsverlauf prognostizierte und dann einen Therapieplan entwarf. Durch Prognose und Plan verloren aber im Hinblick auf die künftige Gesellschaft die Utopien keineswegs ihre Funktion, sondern sie erhielten im Gegenteil im 20. Jahrhundert eine noch größere Bedeutung als zuvor, und der Begriff wurde nun oft in positivem, ja emphatischen Sinn gebraucht. Als Organ der Phantasie mußten die Utopien im Zeichen der wissenschaftlichen Vernunft die rationalen Maßnahmen fundieren, ergänzen oder korrigieren. Schon im neuen Brockhaus erscheint »Utopie« mit Recht als ein »Schlüsselbegriff«.26 Die Hauptgründe dürften im einzelnen die folgenden sein.27 1. Wenngleich Prognosen ein wichtiger Aspekt der siegreichen nomologischen Wissenschaften sind, wurde ihre Sicherheit schon in den Naturwissenschaften durch den Indeterminismus der Quantentheorie so sehr problematisch, daß die exakten astronomischen Voraussagen z.T. nur noch als Ausnahmen gelten.28 Allerdings konnte man sich innerhalb der Naturwissenschaften in der Regel auch mit sehr hohen Wahrscheinlichkeiten begnügen, mit denen sich schon der Empirismus David Humes zufrieden gab. Als noch schwieriger aber stellten sich die Prognosen im Gebiet der Menschenwelt heraus. Gerade die Erfahrung mit politischen Systemen, die ihre Welterneuerungspläne auf ein vorgebliches Zukunftswissen stützten, forderte hier eine theoretische Klärung. 1931 reflektierte deshalb K. Jaspers die Verknüpfung von Wissen und Wollen in solcher Prognose: Sie bezeichne nur »eine offene Möglichkeit« und vermittele kein sicheres Wissen. Sie sei »nie nur als Wissen, sondern als dieses Wissen schon sogleich Faktor des wirklichen Geschehens. […] Was ich erwarte, ist daraufhin zu prüfen, daß ich, indem ich es ausspreche, es in einem noch so kleinen Teil, sei es mit herbeiführe, sei es verhindere.« 29 Damit hat Jaspers schon auf das hingewiesen, was dann K. R. Popper ausführte und R. K. Merton auf den Begriff der self-fullfilling bzw. self-destroying prophecy brachte: Prognosen nehmen selbst Einfluß auf die Realität, und die Zukunft ist gerade deshalb schwer prognostizierbar. Da das menschliche Wissen die Welt stets verändert und alle Änderungen in Interdependenz stehen, wird die Gesellschaft insgesamt unberechenbar dynamisch. Weiß man aber nicht mehr, was künftig alles gewußt und hergestellt werden kann, wird es

Brockhaus Enzyklopädie Bd. 28 (Mannheim 2006) 486–491. Siehe zum folgenden auch Karl Acham: Zur Funktion von Utopien. Ein Beitrag zur Analyse von Glückserwartungen. In: Harald Seuter (Hg.): Der Traum vom Paradies. Zwischen Trauer und Entzücken (Wien, Freiburg, Basel 1983) 211–234. 28 Helmut Pulte: Art. ›Voraussage; Vorhersage; Prognose‹. In: HWPh Bd. 11 (Basel 2001) 1143–1166. 29 K. Jaspers: Die geistige Situation, a. a.O. [Anm. 13] 186 f. 26 27

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schwierig, das künftig Mögliche vom Unmöglichen zu unterscheiden, und gerade das gibt den Utopien einen neuen, fruchtbaren Boden. Schon im 19. Jahrhundert wurden sie mit dem Hinweis gerechtfertigt, daß sich utopische Ideen später oft als realitätskonform enthüllten.30 Und hier liegt das geschichtlich Neue: Denn zwar galt schon seit Aristoteles die Wahrheit von Aussagen über zukünftige zufällige Ereignisse als logisches Problem. Aber in der dynamischen Gesellschaft ist es darüberhinaus unsicher geworden, was überhaupt als möglich gelten kann und was nicht. Für den Bereich von Wissenschaft und Technik hat das neue literarische Genre der Science Fiction-Literatur die Funktion übernommen, das heute noch Unmögliche doch als wirklich vor Augen zu stellen. 2. Die bewußte Gestaltung der Zukunft geschieht aufgrund von Plänen, und deren Sinn ist es, wie H. Freyer mit Blick auf die Planwirtschaft des Sowjetsystems31 schrieb, »den zukünftigen geschichtlichen Zustand nicht kommen zu lassen, sondern zu stiften, ihn nicht als die Resultante heterogener Entwicklungen zu erwarten, sondern langfristig festzulegen.« 32 Auch »Plan« wurde zu einer wichtigen Zukunftskategorie, gerade auch in dem der Zukunft zugewandten Marxismus, so daß hier ›Plan‹ und ›Planung‹ sogar zu wichtigen philosophischen Termen avancierten.33Aber auch die rationale Planung ersetzte nicht die Utopie. Denn bezog sie sich auf einen Teilbereich, so blieb die Frage nach dem künftigen Ganzen der Gesellschaft noch offen, die dann mit Utopien beantwortet werden konnte, im Sinne einer gewünschten oder für möglich gehaltenen Zukunft. Wurde aber die Zukunft der gesamten Gesellschaft oder gar der Menschheit geplant, so lagen diesen Plänen bereits Utopien zugrunde, oder diese Pläne waren selbst schon Utopien. Man hat mit Recht z. B. die NS-Pläne, durch Menschenzüchtung die gesunde Herrenrasse zu stärken und einen »neuen deutschen Adel« als »Quell hochgezüchteter Führerbegabungen« zu gewinnen,34 »Utopien« genannt.35 Und H. Himmlers »Generalplan Ost« von 1941, seinem gigantischen Vernichtungs- und Umsiedlungsplan, lag die Utopie eines »Germa-

30 Lucian Hölscher: Art. ›Utopie‹. In: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 6 (Stuttgart 1990) 781 ff.; Ulrich Dierse: Art. ›Utopie‹. In: HWPh Bd. 11 (Basel 2001) 517. 31 Jan Timbergen, Michael Kaser: Art. ›Planung‹. In: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Bd. 5 (Freiburg, Basel, Wien 1972) 53–76. 32 Hans Freyer: Herrschaft und Planung: Zwei Grundbegriffe der politischen Ethik (Hamburg 1933) 21 f. 33 Philosophisches Wörterbuch, hg. von Georg Klaus / Manfred Buhr (Leipzig 61964 u. ö.) Bd. 2, 845–854. Während wir hier dazu zwei recht ausführliche Artikel finden, wurde ihnen im Historischen Wörterbuch der Philosophie kein eigener Platz eingeräumt. – Viele Hinweise zum Begriff in dem kritischen Aufsatz von Hermann Lübbe: Herrschaft und Planung. Die veränderte Rolle der Zukunft in der Gegenwart. In: ders.: Theorie und Entscheidung. Studien zum Primat der praktischen Vernunft (Freiburg 1971) 62–84. 34 R. Walther Darré: Neuadel aus Blut und Boden (München, Berlin 1937) 39 f. 35 Patrick von der Mühlen: Utopien als Gegenaufklärung: Menschenzüchtung und Rassenidyll. In: Soziale Bewegungen. Geschichte und Theorie, Jahrbuch 2: Auf dem Wege nach Utopia (Frankfurt a.M., New York 1985) 77–93.

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nischen Großreiches« zugrunde.36 Wer solche weitreichenden Pläne realisieren und durchsetzen wollte, mußte die Massen für diese Ziele begeistern, und diese Ziele waren Utopien, oder Utopien konnten dafür dienlich sein. Utopien dienten so der Artikulation von Fernzielen und damit der Handlungsmotivation, so daß rationale Planung und Utopie sich nicht ausschlossen, sondern ergänzten. 3. »Wer herrscht, macht den Plan. Und wer plant, der gestaltet die Zukunft«37, heißt es bei H. Freyer, oder umgekehrt: Je weiter sich extensiv und intensiv die Pläne erstrecken, desto größer muß die Macht sein, wenn sie realisiert werden sollen. Jener »Generalsiedlungsplan« von Himmler setzte voraus, daß Deutschland als Sieger und stärkste Weltmacht aus dem Krieg hervorging. Große staatliche Machtzentren, die alles und so auch die Freiheit der eigenen Bürger verplanen, sind Kennzeichen der totalitären Staaten. Deren Planung hat nicht immer auf Kosten der Freiheit nur Wohlstand gebracht. Die Durchsetzung von Stalins Plan, durch Zwangskollektivierung und Entkulakisierung die Wirtschaft neu zu regeln, forderte 1932/33 der Schätzung nach mehr als sechs Millionen Hungertote.38 Bis heute versucht man die ungeheure Zahl der gewollten oder in Kauf genommenen Toten in Erfahrung zu bringen, die aus der Durchsetzung von Weltverbesserungsplänen großer Machtzentren im 20. Jahrhundert resultierten. Auch die Erfahrung totalitärer Systeme war ein neuer Boden für die Utopie. Diese war immer ein Instrument der Kritik, und sie kritisierte die jeweilige Gesellschaft dadurch, daß sie ihr das Bild einer besseren Möglichkeit vor Augen hielt.39 Da die neue soziale Realität aber selbst schon auf utopischen Konzeptionen fußte – mochten diese artikuliert sein oder nicht –, ging die Utopie neue Wege und dachte die negativen Tendenzen zu Ende. Unter dem Eindruck der neuen Regime und der neuen technischen Möglichkeiten für die Manipulation des Menschen stellte sie so eine Zukunft vor Augen, in der der Mensch selbst zum Industrieprodukt wurde; so zuerst unter dem Eindruck des Sowjetsystems bei Jewgeni Iwanowitsch Samjatin: My (Wir) (1920) und dann in den bekannteren Romanen von Aldous Huxley und Georg Orwell. Da hier zwar noch immer eine mögliche Zukunft, aber als realisiertes Grauen vorgestellt wurde, suchte man verstärkt seit der Mitte des 20. Jahrhunderts für diese Literatur nach einer angemessenen Bezeichnung, welche die Kontinuität und den radikalen Bruch mit der Utopiegeschichte markierte, und seitdem spricht man von negativer oder schwarzer Utopie, von Anti-, Konter- oder Gegenutopie, Mätopie, inverted Der »Generalplan Ost«. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, hg. von Mechthild Rössler / Sabine Schleiermacher (Berlin 1993). 37 H. Freyer, a. a.O. [Anm. 32] 3. 38 Stéphane Courtois [u. a.]: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror (München, Zürich 51998) 178 ff. 39 Siehe z. B. Georg Quabbe: Das letzte Reich. Wesen und Wandel der Utopien (Leipzig 1933) 125: »In einer guten Utopie spiegelt sich die Zeit ihrer Abfassung doppelt. Sie gibt gewissermaßen negativ ein Spiegelbild der Nöte dieser Zeit und zeigt positiv die Höhe der moralischen Kultur, sie ist insoweit die Inkarnation des guten Willens ihrer Zeit.« 36

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utopia oder dystopia.40 – Aber noch in der zweiten Jahrhunderthälfte entstanden Utopien im älteren, ursprünglichen Sinn,41 und in fast allen politischen Konzepten ist eine Schicht utopischen Denkens nachweisbar.42 4. Die Utopien übernahmen sodann im 20. Jahrhundert oft die Stelle der Religion. G. Landauer und K. Mannheim43 bestimmten aufgrund des Zusammenhangs von Sozialutopien und Revolutionen den Utopiebegriff nicht mehr von seinem Inhalt, sondern von seiner Wirkung und Funktion her: Utopien lösten die Ordnungen der Gesellschaft auf, sie seien »seinssprengend«. Unter dieser Voraussetzung war der Chiliasmus der Wiedertäufer viel eher eine Utopie als Thomas Morus’ bekannter Staatsroman. Fortan konnten Religionen als Utopien interpretiert werden, und umgekehrt zeigten die Utopien auch religiöse Züge. Die modernen politischen Weltanschauungen knüpften mit ihren Utopien gern an die religiöse Tradition an und ersetzten die Bindung an eine Transzendenz durch eine Zukunftsorientierung; und dies umso leichter, als ein religiöses Vakuum zu füllen war und die jüdisch-christliche Religion ja bereits Erwartungen eines Endreiches einschloß. Die Utopien präsentierten sich jetzt oft als moderne, »auf die Füße gestellte« Religion, indem sie auch und gerade die Hoffnungen auf das nicht Herstellbare, ja die Erfahrungswelt Überschreitende artikulierten. A. Moeller van den Bruck kritisierte das Diktum von Marx, der Mensch stelle sich stets nur Aufgaben, die er auch lösen könne, wie folgt: »Es ist das Wesen aller Utopie, daß sie niemals zur Wirklichkeit wird. Es ist das Wesen aller chiliastischen Hoffnungen, daß sie sich niemals erfüllen. Und es ist das Wesen des tausendjährigen Reiches, daß es immer nur in der Verkündigung lebt, aber niemals den Menschen teilhaftig wird.«44 »Der deutsche Nationalismus ist Streiter für das Endreich.«45 Da hier eine Kontinuität von christlicher Religion und national-konservativer Politik suggeriert wurde, setzte E. Bloch dem eine eigene Ideengeschichte des dritten Reiches mit der Behauptung entgegen, daß nur das kommunistische »Reich der Freiheit« an jene chiliastischen Hoffnungen anschließe und sie erfülle.46 Der Streit um die richtige Utopie wurde so auch

Dieser letztere Begriff, erstmals 1868 von John Stuart Mill gebraucht, hat sich im angelsächsischen Bereich weitgehend durchgesetzt, stärker als Cacotopia, wie 1818 Jeremy Bentham sagte. Supplement to the Oxford English Dictionary, vol. 1 (Oxford 1972) 894; The Oxford Engl. Dict., vol. 2 (Oxford 21961) 11. Vgl. Wolfgang Biesterfeld: Die literarische Utopie (Stuttgart 1974) 3 f., 9. 41 Richard Saage: Politische Utopien in der Neuzeit (Darmstadt 1991) 294–322. 42 Dies ergibt sich aus Karl Acham: Utopie und Gesellschaft. In: Götz Pochat / Brigitte Wagner (Hg.): Utopie. Gesellschaftsformen – Künstlerträume. Kunsthistorisches Jahrbuch Graz 26 (1996) 9–24. 43 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie (Bonn 1929). 44 A. Moeller van den Bruck, a. a.O. [Anm. 18] 33. 45 Ebd. 324. 46 Ernst Bloch: Originalgeschichte des Dritten Reiches [1937], überarbeitet in: ders.: Erbschaft dieser Zeit. Gesamtausgabe Bd. 4 (Frankfurt a.M. 1962) 126–152. Zu weiterer Literatur und Stellungnahmen siehe G. Scholtz: Drittes Reich. Begriffsgeschichte mit Blick auf Blochs 40

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zum Streit um das religiöse Erbe, da es dessen Letztverpflichtung zu übernehmen galt und man durch Traditionsbezug die eigene Utopie als die authentische, geschichtlich fundierte legitimieren wollte. Bei E. Bloch bestand schon 1918 der Geist der Utopie47 in metaphysischer Sehnsucht, die sich in allen Gestalten der Kultur und besonders in der Musik ausdrücke, und ihre Erfüllung wurde von einer künftigen Gesellschaft erwartet. An die Stelle einer konkreten Zukunftsvorstellung und eines bestimmten Begriffs der Utopie trat das Utopische, und dessen Wahrheit war die Wahrhaftigkeit der Wünsche und Sehnsüchte, gerade auch solcher, die sich nicht durch geplantes Handeln realisieren ließen. In einem Rundfunkgespräch von 1964 waren sich E. Bloch und Th. W. Adorno einig, daß die Utopie die Verwandlung der ganzen Gesellschaft bedeute, letztlich auch auf die Tilgung des Todes abziele und – wegen ihrer Transzendenz, wegen ihrer Überschreitung aller Erfahrung – in Bildern nicht dargestellt werden dürfe, analog zum biblischen Gott.48 Schon vorher hatte W. Benjamin den historischen Materialismus als Transformation des Messianismus interpretiert und deshalb die Zukunft insgesamt dem Vorstellen und Begreifen entzogen: So wie den Juden untersagt war, »der Zukunft nachzuforschen«, so bleibe auch uns, die wir der Zukunft zustürmen, nur der Blick auf das Vergangene, als »Eingedenken«.49 Da die damals avancierte Philosophie der Utopie so sehr religiöse Züge annahm, konnte sich einerseits die Theologie an sie anschließen und damit ihre Modernität demonstrieren (Jürgen Moltmann, Johann Baptist Metz), aber andererseits mußten wieder die Grenzen zwischen dem religiösen Heil und den Utopien neu deutlich gemacht werden.50 Schon Martin Buber hatte sich um eine Trennlinie bemüht: »Eschatologie bedeutet Vollendung der Schöpfung, Utopie Entfaltung der im Zusammenleben der Menschen ruhenden Möglichkeiten einer ›rechten‹ Ordnung.«51 In einer Situation der Bereichsvermischung war es nicht erstaunlich, daß manche So-

Originalgeschichte. In: ders.: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften (Frankfurt a.M. 1991) 358–385. 47 E. Bloch: Geist der Utopie (München 1918), bearb. Neuaufl. der 2. Fassung von 1923. Gesamtausgabe Bd. 3 (Frankfurt a.M. 1964). 48 Ders.: Etwas fehlt … Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. In: Bloch: Tendenz – Latenz – Utopie (Frankfurt a.M. 1978) 350–368. Das war das einzig Verbindende ihrer Philosophien, denn Adorno stand Sache und Begriff des Utopischen sehr zurückhaltend gegenüber, wie auch aus einem Gespräch mit Kracauer hervorgeht: Theodor W. Adorno, Siegfried Kracauer Briefwechsel 1923–1966, hg. von Wolfgang Schopf (Frankfurt a.M 2008) 514. 49 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. Gesammelte Schriften Bd. I.2 (Frankfurt a.M. 1972) 704. 50 Wilhelm Kamlah: Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie. Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum futurischen Denken der Neuzeit (Mannheim, Zürich 1969); Ludwig Hödl [u. a.]: Das Heil und die Utopien (Paderborn 1977). 51 Martin Buber: Pfade in Utopia [hebr. Ausg. 1946, dt. 1950]. Werke. Bd. 1: Schriften zur Philosophie (München 1962) 844.

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zialtheoretiker sich schon mit ihren Buchtiteln von allem Utopischen distanzierten.52 Die kritischen Schreckensutopien und die quasi-religiösen Erlösungsutopien – die typischen Utopien des 20. Jahrhunderts – schlossen sich nicht aus, da die radikale Kritik eine Berufungsinstanz brauchte und da ein starkes utopisches Bewußtsein auch heftige Kritik ermöglichte. Schwierig war nur, überschwängliche Utopien in politische Praxis umzusetzen. Sie appellierten, die Gesellschaft zu ›verändern‹, zielten aber auf etwas ab, was sich nicht klar denken und herstellen ließ – die Abschaffung des Todes sollte ja nicht durch wissenschaftlichen Fortschritt erfolgen. Da die Zukunft als Zeit der Erfüllung und Erlösung zwar das Handeln leiten sollte, nicht aber ein Weg zu ihr gezeigt wurde, konnte dies utopische Denken, das sich der Wirklichkeit abstrakt entgegenstellte, zur Resignation oder zur Gewalt führen, wie U. Hommes 1974 unter dem Eindruck des RAF-Terrorismus feststellte.53 Begriff und Sache der Utopie, mit Gewalt und Terror assoziiert, verloren deshalb sogar in der jüngeren Generation ihre Bedeutung für die politische Orientierung und wurden stattdessen zum Gegenstand vielfältiger historischer Forschungen. Als allerdings die DDR zusammenbrach, entstand die Möglichkeit und das Bedürfnis, den Sozialismus als zukünftige Möglichkeit neu und anders zu denken, und dafür gründete man 1990 eine eigene Zeitschrift, die mit ihrem Titel bewußt an den nicht-wissenschaftlichen, vor-marxistischen Sozialismus anknüpft: Utopie Kreativ. Diskussion sozialistischer Perspektiven.54

III. Zukunftsangst Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte nahm der Gebrauch des Wortes Zukunft in den Buchtiteln mit auffälliger Geschwindigkeit zu, ein Zeichen für die wachsende Unsicherheit. Es sind zunächst die Schrecknisse des Zweiten Weltkrieges, die technisch bewerkstelligten Massenvernichtungen, die Atombombe und der Ost-West-Konflikt, die das Zukunftsverhältnis bestimmen, um sodann noch hinter dem Malthus- und Ökologieproblem zurückzutreten. Die frühere Hoffnung auf Zivilisationsfortschritt durch Naturbeherrschung schrumpfte seit Hiroshima selbst bei den Naturwissenschaftlern. Zwar behauptete noch 1959 C. P. Snow, die technisch-naturwissenschaftliche Intelligenz habe die Zukunft im Blut, da die Weltprobleme nur durch wachsende Industrialisierung lösbar wären.55 Aber Helmuth Plessner: Diesseits der Utopie (Düsseldorf 1966); Ralf Dahrendorf: Pfade aus Utopia (München 1967). 53 Ulrich Hommes: Art. ›Utopie‹. In: Handbuch der philos. Grundbegriffe, Bd. 3 (München 1974) 1575 f. 54 Seit 2002 hg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung e.V. durch den Förderkreis Konkrete Utopie e.V. 55 Charles Percy Snow: The Two Cultures and the Scientific Revolution. Rede Lecture 52

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1965 betonte C. Fr. von Weizsäcker, es bedürfe politischer Anstrengungen im Hinblick auf das »utopische Ziel« einer übernationalen rechtlichen Ordnung zur Vermeidung eines »alles zerstörenden Weltkrieges«; ja es wäre sogar das zukünftige Ende des technischen Zeitalters denkbar, »weil das, was über Technik erreichbar ist, erreicht ist«.56 Max Born, pessimistischer, sah für die Menschheit nur eine »düstere Zukunft« voraus, da aus dem naturwissenschaftlichen Fortschritt der »vollständige Zusammenbruch der Ethik« resultiere.57 Die Befürchtungen eines neuen, das Ende der Menschheit heraufführenden Weltkrieges waren schon in den fünfziger Jahren so stark, daß skeptische Literaten ihre Einstellung »Finismus« nannten.58 1. Die entsprechenden Erfahrungen und Befürchtungen haben aber nicht überall sogleich den Glauben an den Fortschritt verabschiedet, und noch immer erschienen Philosophien, welche die gesamte Evolution an ein glückliches Ziel zu bringen forderten. Wer die Gründe für alle Katastrophen im Kapitalismus und ihre künftige Vermeidung im Sozialismus fand, brauchte nur Erfahrungen wie die von Stalins Schauprozessen zu verharmlosen. E. Bloch schrieb sein Prinzip Hoffnung 1938–1947 gegen die Hoffnungslosigkeit in Existenzphilosophie und Gesellschaft und erklärte: »Philosophie wird Gewissen des Morgen, Parteilichkeit für die Zukunft, Wissen der Hoffnung haben, oder sie wird kein Wissen mehr haben.« Solche Philosophie dürfe nicht nur Theorie, sie müsse selbst schon Veränderungspraxis sein: »Zukunft der echten, prozeßhaft offenen Art ist also jeder bloßen Betrachtung verschlossen und fremd. Nur ein auf Verändern der Welt gerichtetes, das Verändernwollen informierendes Denken betrifft die Zukunft (den unabgeschlossenen Entstehungsraum vor uns)«. Dabei ist für Bloch vorausgesetzt: »Marxistische Philosophie ist die der Zukunft«, und zwar in doppeltem Sinn: als richtiges Denken an die Zukunft und als zukünftige Philosophie.59 Eine eigene Ontologie des Noch-nicht-Seins unterbaut die Auffassung, daß der Marxismus in Übereinstimmung mit den Tendenzen des Evolutionsprozesses steht, der über den Menschen zu einem glücklichen Ende führen kann. Die richtige Verbindung von Theorie und Praxis entscheide mit darüber, ob am Ende alles gewonnen werde oder das Nichts stehe. Ein noch größeres Zukunftsvertrauen lehrte durch seine Verbindung von christlicher Theologie und moderner Wissenschaft der Jesuit P. Teilhard de Chardin, der sich auf paläontologi-

(Cambridge 1959), dt.: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz (Stuttgart 1967). 56 Carl Friedrich von Weizsäcker: Gedanken über die Zukunft des technischen Zeitalters [1965]. In: ders.: Gedanken über die Zukunft (Göttingen 31968) 23, 11. 57 Max Born: Erinnerungen und Gedanken eines Physikers. Universitas 23/1 (1968) 270 ff., 276. 58 Lars Clausen: Die Finisten. Mittelweg 36, Jg. 1 (1992) 18–35. Rüdiger Schütt (Hg.): Zwischen den Kriegen. Werner Riegel, Klaus Röhl, Peter Rühmkorf. Briefwechsel mit Kurt Hiller 1953–1971 (München 2009). 59 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Gesamtausgabe Bd. 5 (Frankfurt/M. 1959) 5 f., 8.

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sche Beobachtungen stützte. Die gesamte Evolution zeige eine Richtung hin zur »Hominisation« und damit auch zu Freiheit und Innerlichkeit, und nun sei der Mensch aufgerufen, diese Entwicklung fortzusetzen, hin zu einer alle verbindenden Liebe. Denn seine Intelligenz sei das »einzige Prinzip in der Welt, das fähig ist, die noch verstreuten oder schlummernden Energien der Materie und des Denkens in einem planetaren Maßstab für das Leben zusammenzufassen und zu benutzen: so stellt sich für uns in Zukunft […] das Schema dar, in das wir durch unsere Existenz eingespannt sind.« Krieg und nukleare Bedrohung seien nur Umweg und Ansporn zu Frieden und Einigkeit der Menschheit, während »die falsche Resignation und der falsche Realismus« die Zukunft der Welt wirklich gefährdeten. Am Ende der Welt aber werde der mystische Christus erscheinen und die »universelle Einswerdung vollenden«.60 2. Wer eine solch optimistische Perspektive nicht einzunehmen und solche Hoffnungen nicht zu teilen vermochte, dem bot sich eher ein existentieller Zukunftsverzicht als Form der absurden Askese an. Nach A. Camus kommt es in dieser »Welt ohne Gott« darauf an, »nach dem Maßstab einer Welt ohne Zukunft und ohne Schwäche zu leben.« Sartre widersprechend, bekannte Camus: »es gibt kein Morgen. Das ist von nun an der Grund meiner tiefen Freiheit.« Auch das künstlerische Schaffen müsse von der Nachwelt absehen: »›Für nichts‹ zu arbeiten und zu schaffen, in Ton formen, zu wissen, daß sein Werk keine Zukunft hat […] – das ist die schwierige Weisheit, zu der das absurde Denken die Gründe liefert.«61 Beim späteren Heidegger hingegen, der die Moderne als »Weltnacht« interpretierte, welche zuerst durch die Metaphysik und dann durch Wissenschaft und Naturbeherrschung heraufbeschworen wurde, behält die Zukunft ihre Dominanz, wird aber jetzt ganz dem Verfügungswillen des Menschen entzogen und zur Zeit der Wiederkehr der Götter oder zur »Ankunft des Seins« erklärt. Damit ändert sich – oder endet sogar – die Philosophie, die nun allen Handlungsappell und alles Begreifen-Wollen von sich weist: »Das künftige Denken ist nicht mehr Philosophie, weil es ursprünglicher denkt als die Metaphysik […].«62 Das neue Denken sieht die Zukunft nur in Dichtung offenbart: »Hölderlin ist der Vor-gänger der Dichter in dürftiger Zeit. […] Der Vorgänger geht jedoch nicht in eine Zukunft weg, sondern er kommt aus ihr an, dergestalt daß in der Ankunft seines Wortes allein die Zukunft anwest.«63 Die Ablehnung der herrschsüchtigen Wissenschaft trifft auch noch die Historie, denn – so Heideggers befremdliche These –: »Alle Historie errechnet das Kommende aus ihren durch die Gegenwart bestimmten Bildern vom Vergangenen. Die Historie ist Pierre Teilhard de Chardin: L’Avenir de l’homme (1959), dt.: Die Zukunft des Menschen. Werke Bd. 5 (Olten, Freiburg i.Br. 1963) 193, 199, 403. 61 A. Camus: Le Mythe de Sisyphe [1942], dt.: Der Mythos des Sisyphos (Reinbek bei Hamburg 72005) 120, 76, 147. 62 M. Heidegger: Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den »Humanismus« (Bern 1947) 117, 119. 63 Ders.: Wozu Dichter? [1946]. In: ders.: Holzwege (Frankfurt a.M. 51972) 295. 60

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die ständige Zerstörung der Zukunft und des geschichtlichen Bezuges zur Ankunft des Geschickes.«64 Diese »Eschatologie des Seins«,65 welche Theologie, Philosophie und Dichtung verknüpft, ist eine einzige Warnung, im Hinblick auf die Zukunft rational denken, planen und handeln zu wollen. Mindestens ebenso einflußreich war der Generalangriff auf alles neuzeitliche Geschichts- und Zukunftsdenken durch K. Löwith, der es durch eine Genealogie zu destruieren suchte: »Der klassische Historiker fragt: wie kam es dazu? der moderne: wie wird es weitergehen? Der Grund für diese moderne Sorge um die Zukunft ist der jüdische Prophetismus und die christliche Eschatologie, die beide den klassischen Begriff von historein verkehrt haben.« Löwith beruft sich auf Hermann Cohens Religionsphilosophie und zitiert: »Der Geschichtsbegriff ist eine Schöpfung des Prophetismus […]. Sein Sehertum hat den Begriff der Geschichte erzeugt, als des Seins der Zukunft […]. Die Zeit wird Zukunft […], und Zukunft ist der vornehmliche Inhalt dieses Gedankens der Geschichte«. 66 Zwar verblaßte laut Löwith die Religion, »aber die Sicht auf die Zukunft als solche ist herrschend geblieben. Sie durchdringt alles nachchristliche europäische Denken und alle Sorge um die Geschichte, um ihr Wozu und Wohin.«67 Demnach steht das moderne historische Denken im Banne einer Säkularisation, und der Sinn der ganzen Geschichte und alles Gewesenen erfüllt und enthüllt sich ihm erst in der Zukunft: Grundlage für totalitäre Systeme. War für marxistische Denker die Herleitung ihrer Zukunftsphilosophie aus religiösen Ursprüngen oft ein Dignitätsbeweis und war für sie das Säkularisieren ein »Auf die Füße Stellen«, d. h. Verwirklichen, so vollzog Löwith eine Entlarvung jenes Denkens: Es überspiele die Tatsache, daß ohne Religion die Zukunft dunkel bleiben müsse.68 Der Mensch solle sich im Kontext der Natur, nicht im Rahmen einer fiktiven, der Zukunft zuschreitenden Geschichte verstehen. U. a. H. Freyer bekräftigte diesen Angriff: Der moderne Mensch gebe sich seinen »Ort zwischen Vergangenheit und Zukunft« im Hinblick auf ein Letztziel, von dem ihm alles abzuhängen scheint, und die dafür dienliche Geschichtsphilosophie bedeute, »daß die Geschichte als vollendbar gedacht wird, und mehr: daß sie an ihrer in die Zukunft vorausgeworfenen Vollendung aufgehängt wird.«69 Die Philosophien der historischen Erzählung in Phänomenologie und Analytischer Philosophie haben solcher Kritik Rechnung getragen. Denn stellte sich bei dem Gedanken der einen Weltgeschichte unweigerlich die Frage nach ihrem Fortgang ein, so konnte die Zukunft leichter ausgeblendet werden, wenn Ders.: Der Spruch des Anaximander [1946], ebd. 301. Ebd. 302. 66 Karl Löwith: Meaning in History. The Theological Implications of the Philosophy of History [1949], dt.: Weltgeschichte und Heilsgeschehen (Stuttgart 1953, zit. 41961) 25. 67 Ders.: Vom Sinn der Geschichte [1961]. In: Der Sinn der Geschichte, hg. von Leonhard Reinisch (München 41970) 37 f. 68 Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, a. a.O. [Anm. 66] 19. 69 H. Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters (Stuttgart 1955, zit. 1967) 74. 64 65

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man nur die Vielzahl der erzählten Geschichten gelten ließ (Wilhelm Schapp, Paul Ricœur). A. Danto schloß die Zukunft vom Geschäft der Historie dezidiert aus: Sollte in einigen Fällen auch unser Zukunftswissen gewisser sein als unser Wissen von Vergangenem, so seien uns in der Regel die künftigen Ereignisse unbekannt. Aber diese Dunkelheit der Zukunft sei für die Historie kein theoretisches Problem, da sie sich nur mit dem Vergangenen befasse.70 Diese Tilgung der Zukunftsdimension haben aber gerade die Historiker nicht übernommen. Sie machten plausibel, daß aus der Durcharbeitung der Vergangenheit Zukunftserwartungen resultieren können, daß vor allem aber solche Erwartungen die Vergangenheitszuwendung zumeist motivieren und prägen. Das müssen keine »Endzustände« sein, die laut J. Habermas der Historiker antizipiert,71 sondern es sind in der Regel die konkreten Befürchtungen und Hoffnungen in einer bestimmten Gesellschaft.72 »Zukunftsgedanken führen die Weise, wie wir in die Vergangenheit und Gegenwart blicken«, schrieb auch K. Jaspers.73 Selbst die Denkmalspflege ist nie nur Vergangenheitszuwendung, denn oft lautet ihr Motto »…damit die Vergangenheit eine Zukunft hat« (wie im Bistum Trier). Alle Denkmäler und die vielzitierte »Erinnerungskultur« haben immer einen Zukunftsaspekt. Ein gutes Beispiel bietet die im Jahr 2000 gegründete Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«, die angesichts des nationalsozialistischen Unrechts zur Verantwortung aufruft: Das Vergangene soll auch künftig eine Warnung sein; man will auch künftig den Opfern ein ehrendes Andenken bewahren; man verpflichtet sich, auch künftig die Last der Vergangenheit nicht abschütteln zu wollen. 3. Wenn aus der Einsicht in die Vielfalt der Geschichten allenfalls verschiedene Zukunftserwartungen folgten, so drängte sich die eine Zukunft, die der Menschheit, dadurch ins Bewußtsein, daß man diese wachsend der Gefahr ihres Endes ausgesetzt sah, durch einen Nuklearkrieg oder durch einen ökologischen Kollaps. Die Geschichtsphilosophen und Universalhistoriker konzentrierten sich in dieser Situation mehr und mehr auf die Möglichkeiten der Unglücksverhütung. Für K. Jaspers waren 1949 die schrecklichen Erfahrungen der Vernichtungslager, des Kriegs und der Atombombe das wichtigste Motiv, wieder Geschichtsphilosophie zu treiben – nicht um die Zukunft vorauszusagen, son-

70 Arthur C. Danto: Analytical Philosophy of History (1965), dt.: Analytische Philosophie der Geschichte (Frankfurt a.M. 1974) 235, 117 ff., 156 f. 71 Jürgen Habermas: Zur Logik der Sozialwissenschaften (Frankfurt/M. 1970) 273. 72 Reinhard Wittram: Die Zukunft in den Fragestellungen der Geschichtswissenschaft. In: ders.: Zukunft in der Geschichte (Göttingen 1966) 5–29. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (Frankfurt a.M. 1974) 17–37; Geschichte und Zukunft. Fünf Vorträge, hg. von Heinz Löwe (Berlin 1978); Ernst Schulin: Die Frage nach der Zukunft. In: ders.: Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken (Göttingen 1979) 203–233. Hier auch ein guter Überblick über das Zukunftsdenken. 73 Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (München 1949, zit. 31952) 180.

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dern um für das Handeln Richtlinien zu geben. Denn »die Zukunft des Menschen kommt nicht von selber wie Naturgeschehen.«74 Gegen alle Heils- und Unheilsprognosen gewendet, betonte er die Offenheit der Zukunft, ohne die der Mensch seine Menschlichkeit verlöre: »Des Menschen Würde in seinem Zukunftsdenken ist sowohl das Entwerfen des Möglichen, wie damit in eins das auf Wissen gegründete Nichtwissen, das grundsätzliche: man weiß nicht, was noch werden mag. Das Beschwingende unseres Lebens liegt darin, daß wir die Zukunft nicht wissen, sondern mit herbeiführen und im Ganzen unberechenbar vor uns sehen. Es wäre unser seelischer Tod, wenn wir die Zukunft wüßten.« »All unser Handeln hängt von Zukunftserwartungen ab, von der Vorstellung der Chancen und Verläßlichkeiten […]. Aber wirklich ist allein das Gegenwärtige. Die absolute Gewißheit einer Zukunft vermag des Gegenwärtigen zu berauben […]. Nur durch die Verantwortung für das Gegenwärtige können wir verantwortlich für die Zukunft werden.«75 Die Berechtigung, von der Zukunft der einen Menschheit zu sprechen, gibt bei Jaspers – neben der »Achsenzeit« – die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmende wirtschaftliche Verflechtung mit ihrer »Vereinheitlichung des Erdballs« und schließlich das drohende Ende der gesamten Menschheit. Was als Lösung zur Wahl stehe, sei die Entscheidung zwischen einem »Weltimperium« mit einer Totalplanung, die alle Freiheit auslöscht, und einer »Weltordnung«, die auf Kommunikation und gemeinsamen Beschlüssen beruht, ein universaler Föderalismus. Da man durch Kommunikation diesem Ziel zuarbeiten kann, sei dies keine bloße »Utopie«. Der Gedanke einer endgültigen Ordnung aber müsse aufgegeben werden, denn der »Grundzug der Geschichte […] ist: Sie ist schlechthin Übergang.«76 Unheilsbefürchtungen und Auswegsuche bestimmten auch die Überlegungen von A. Weber und A. J. Toynbee. Laut Weber wird in der »neuen Weltperiode« »ein dauerndes Leben am Abgrund« wahrscheinlich sein. Mit Sicherheit aber werde sich durch die »technokratische Gesamtverapparatung« ein »praktischer Nihilismus« ausbreiten, den die Kultur zu bewältigen habe, durch »Rettung des Daseinssinns«, und dafür müsse an »die letzte, große, das Christentum fortsetzende Stufe eines neugesehenen Menschentums im achtzehnten Jahrhundert« angeknüpft werden.77 Wie für Weber, so war auch für Toynbee noch nicht über die Zukunft entschieden. »Solange die Zukunft Zukunft ist, ist sie ein Bündel alternativer Möglichkeiten.« Aber die drohende Gefahr eines »Massenselbstmords« durch Atomkrieg zwinge zu Planung und Handeln. Die einzige Lösung des Problems bestehe in einem »Weltstaat mit einer demokratisch-parlamentarischen Verfassung«. Und da jeder Versuch, politisch die Weltmacht zu erEbd. 188 f. Ebd. 192 f. Zu dieser Verantwortung mahnt dann vor allem sein Buch: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen (München 1957). 76 K. Jaspers: Vom Ursprung, a. a.O. [Anm. 73] 220, 242, 246, 262, 304. 77 Alfred Weber: Der dritte oder der vierte Mensch. Vom Sinn des geschichtlichen Daseins (München 1953, zit. 1963) 162, 199. 74 75

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reichen, in den Konflikt führe, setzte Toynbee die Hoffnung schließlich auf die Wirtschaft: Ein »geschickter Organisator« könne sie als Hebel für die Etablierung eines gemeinsamen Machtzentrums einsetzen. 78 Diese Geschichtsphilosophen wußten sehr gut, daß es »heute sehr viel komplizierter und gefährlicher ist […], die Vergangenheit als Schlüssel für die Zukunft zu gebrauchen«,79 und deshalb hielten sie Planung für ebenso nötig wie schwierig. 4. Die Futurologie war in dieser Hinsicht zunächst optimistischer. Erstmals 1943 plädierte O. Flechtheim in den USA für eine eigene »Wissenschaft von der Zukunft«, für die er den Ausdruck »futurology« prägte.80 Noch 1964 war R. Jungk überzeugt, diese Futurologie habe als Wissenschaft eine große Zukunft vor sich, es werde bald auch eigene Lehrstühle an den Universitäten geben.81 Dies aber trat nicht ein, und die Gründe erkennt man schon bei Flechtheim. Sein Zukunftsprojekt einer Futurologie82 sollte nämlich drei Hauptteile haben: Planungswissenschaft, Prognose und Ideologiekritik, und sie sollte damit einen dritten, humanistischen Weg jenseits der Machtblöcke beschreiten. In dieser Weise war die Futurologie aber keine wertfreie Wissenschaft, sondern normativen Zielen verpflichtet. Die Zukunftsforschung – so wird inzwischen anerkannt – kann sich gar nicht von moralisch-politischen Einstellungen ganz lösen. Das zeigt sich etwa an den Aktivitäten R. Jungks einerseits, der sich für Umweltpolitik und Friedensforschung engagierte und dafür »prognostische Zellen« gründete und »Zukunftswerkstätten« ins Leben rief, 83 und an H. Kahn andererseits, der für die US-amerikanische Sicherheitspolitik das Hudson Institute gründete und lehrte, dem Atomkrieg ins Auge zu sehen.84 Ergab sich aus Jungks Perspektive das Bild einer beängstigenden Zukunft, so zeichnete Kahn bald ein eher positives Bild der zukünftigen Entwicklung.85 Außerdem erwiesen sich Voraussagen der Futurologen zuweilen als unzutreffend; Flechtheim prognostizierte z. B. einen Wettkampf zwischen kapitalistischen und sozialistischen WirtschaftsplanunArnold J. Toynbee: The Present-Day Experiment in Western Civilization (1961), dt.: Die Zukunft des Westens (München 1964) 13, 81, 87. 79 Ebd. 14 f. 80 Ossip K. Flechtheim: Futurologie – Möglichkeiten und Grenzen (Frankfurt a.M. 1968) 18, 37. 81 Robert Jungk: Anfänge und Zukunft einer neuen Wissenschaft: Futurologie 1985. In: Unsere Welt 1985. Hundert Beiträge, hg, von Robert Jungk und Hans Josef Mundt (München, Wien, Basel 1965) 13–16. 82 O. K. Flechtheim: Futurologie. Der Kampf um die Zukunft (Köln o. J.). 83 Das erste sehr bekannte Buch von R. Jungk: Die Zukunft hat schon begonnen (Stuttgart 1952) wendet sich gegen »Amerikanische Allmacht und Großmacht« (Untertitel) und die Ausbreitung staatlicher Kontrollen. Die späteren Aktivitäten und Publikationen gelten vor allem der atomaren Aufrüstung und Umweltzerstörung. 84 Herman Kahn: Thinking About the Unthinkable (New York 1962). 85 H. Kahn: Things to Come. Thinking About the Seventies and Eighties (New York 1972), dt.: Angriff auf die Zukunft. Die 70er und 80er Jahre: So werden wir leben (Wien, München, Zürich 1972), ders. / William Brown / Leon Martel: The Next 200 Years: a Scenario for America and the World (New York 1976). 78

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gen, aber kein Ende des Kalten Krieges. Deshalb ist man vorsichtiger geworden: Man trifft Voraussagen mit verfeinerten Methoden und aus verschiedenen Perspektiven, hat den Begriff futurology zumeist durch future studies und die eine Zukunft durch die »Zukünfte« ersetzt, bei denen man mögliche, wahrscheinliche und wünschbare unterscheidet.86 Doch eine Reihe bedrohlicher Daten haben die Diskussion trotz wissenschaftstheoretischer Bedenken wachsend intensiviert. Bereits 1948 legten F. Osborn87 und W. Vogt den Finger auf das Malthus-Problem, nämlich auf die Schere zwischen wachsender Erdbevölkerung und Ressourcenerschöpfung, die Vogt zur Aussage veranlaßte: »Die Geschichte unserer Zukunft ist schon geschrieben«.88 Solche Besorgnisse motivierten die anwachsende Literatur, Fred L. Polaks The Image oft the Future (Leyden 1961) ebenso wie Bertrand de Jouvenals L’art de la conjecture (Paris 1964). 1967 fand in Oslo eine erste »Internationale Konferenz für Zukunftsforschung« statt. 1972 erschien ein Kompendium der Zukunftsforschung unter dem Haupttitel Kursbuch ins dritte Jahrtausend, herausgegeben von Alvin Toffler (Originaltitel: The Futurists, 1972) und im Folgejahr ein Tagungsband über die Zukunft der Zukunftsforschung.89 Jedoch wurde in der breiten Öffentlichkeit der Blick durch die nähere Gefahr eines Atomkrieges von jener ferneren Bedrohung abgelenkt. Das änderte sich 1972 mit dem ersten Bericht des Club of Rome, den D. Meadows vorlegte: The Limits of Growth.90 Hier wurde deutlich, daß auf Dauer der Verbrauch und die Zerstörung der natürlichen Ressourcen bei Anwachsen der Erdbevölkerung die größere Gefahr darstellt, da sie sich durch Abrüstung und Frieden nicht beseitigen läßt. Die Zukunft erschien nun nicht mehr als gänzlich offen, da viele Prozesse nicht zu bremsen oder gar umzukehren sind, und deshalb heißt ein Buch von Klaus Scholder Grenzen der Zukunft (Stuttgart 1973). An den Hauswänden las man nun »no future«, und es kostet bis heute Anstrengung, dem sich ausbreitenden Pessimismus entgegenzutreten. J. Maddox versicherte 1973: Unsere Zukunft hat Zukunft. Der jüngste Tag findet nicht statt;91 die neuen Weltuntergangspro-

Rolf Kreibich: Zukunftsforschung. Arbeitsbericht Nr. 23/2006. Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT), Berlin 2006, 3. (Dies gemeinnützige Institut wurde 1981 gegründet.) Auch die Zeitschrift, die das 1989 von Jungk gegründete Netzwerk Zukunft. Gesellschaft für Zukunftsgestaltung herausgibt, heißt Zukünfte. Zeitschrift für Zukunftsgestaltung und vernetztes Denken. 87 Fairfield Osborn: Our Plundered Planet (Boston 1948), dt.: Unsere ausgeplünderte Erde (Zürich 1950). 88 William Vogt: Road to Survival (New York 1948), dt.: Die Erde rächt sich (Frankfurt a.M. 1950) 347. 89 Ansichten einer künftigen Futurologie. Zukunftsforschung in der zweiten Phase, hg. von Dieter Pforte und Olaf Schwencke (München 1973). 90 Dennis Meadows, Donella Meadows, Erich Zahn, Peter Milling: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit (Reinbek bei Hamburg 1973). 91 John Maddox: The Doomsday Syndrome (London 1972), dt.: Unsere Zukunft hat Zukunft. Der Jüngste Tag findet nicht statt (Stuttgart 1973). 86

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phetien verhinderten das nötige Handeln und beförderten nur das Unglück. K. Popper und K. Lorenz stimmten dem zu: Die Zukunft ist offen.92 Aber es besteht Handlungsdruck, um Katastrophen zu verhindern, und deshalb wird eine neue Ethik gefordert: Die Einstellung der Menschen müsse sich ändern, oder der Mensch werde abtreten.93 Deshalb setzte 1979 H. Jonas dem Prinzip Hoffnung von E. Bloch Das Prinzip Verantwortung entgegen, eine »Zukunftsethik«, die eine »Pflicht zur Zukunft«, nämlich die »Pflicht gegenüber den Nachkommen« begründet und einen neuen kategorischen Imperativ formuliert, demzufolge kein Handeln künftiges menschliches Leben gefährden darf.94 Fortan ist »Zukunftsethik« ein anerkannter Teil der Praktischen Philosophie, zumeist eng verknüpft mit dem neuen Bereich »Bioethik«.95 5. Weil die wissenschaftlich-technische Zivilisation wachsend die Umwelt des Einzelnen umgestaltet, greift sie in sein eigenes Zeiterleben ein. Die Folge: Die Zukunft wird zum »Problem des modernen Menschen«.961966 sieht E. Böhler einen wichtigen Grund von Neurosen und Sinnverlust darin, daß der moderne Mensch seinen »persönlichen Zukunftsglauben« in den durch Wissenschaft vermittelten »objektiven Zukunftsglauben« auflöst und »mehr und mehr in der Zukunft auf Kosten der Gegenwart lebt und infolgedessen ›keine Zeit mehr hat‹, weil er hemmungslos vom objektiven Lebensprozeß mitgerissen wird«: ein »Verlust der Gegenwart«.97 1970 vertritt A. Toffler eine ähnliche These: Der Mensch werde durch den beschleunigten Wandel von Wirtschaft und Technik in Dauerstress und Desorientierung versetzt, was Krankheiten und Neurosen verursache. Deshalb gilt ein eigenes Kapitel der Lebensberatung zur »Bewältigung der Zukunft«.98 U. Beck nennt 1986 »die sich schon heute abzeichnende Zukunft« die »Risikogesellschaft« und notiert in ihr als Reaktion auf die ständigen Bedrohungen eine Strategie der »Leugnung aus Angst«, die sich schon deshalb anbiete, weil die Risiken nicht unmittelbar wahrnehmbar sind und nur ein durch Wissenschaft vermitteltes »Schattenreich« bilden; deshalb aber werde der Umgang mit Unsicherheiten zu »einer zivilisatorischen Schlüsselqualifikation«. 99 Nach P. Noack kennen wir eigentlich keine Zukunft mehr, aber solange

Karl R. Popper, Konrad Lorenz: Die Zukunft ist offen. Das Altenberger Gespräch (München, Zürich 1985). 93 Grover Foley: Sind wir am Ende? Amerikanische Zukunftsprognose. Frankfurter Hefte 26 (1971) 741–749. 94 Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (Frankfurt a.M. 1984) 84 ff., 36. 95 Dieter Birnbacher: Verantwortung für zukünftige Generationen (Stuttgart 1988); ders.: Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität (Würzburg 2001). 96 Eugen Böhler: Die Zukunft als Problem des modernen Menschen (Freiburg 1966). 97 Ebd. 95, 89. 98 Alvin Toffler: Future Shock (New York 1970), dt.: Der Zukunftsschock. Strategien für die Welt von morgen (Bern, München, Wien 31971) 293 ff. 99 Ulrich Beck: Die Risikogesellschaft (München 1986) 100 ff. 92

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wir in der Informationsgesellschaft noch nicht ganz entmündigt seien, bestehe Hoffnung.100 H. Lübbe urteilt beruhigender. Die »Innovationsverdichtung« bewirke auch eine »Dynamisierung unserer Lebenswelt«, und mit ihr sei notwendig die »Zunahme des Unerwarteten«, ein »Zukunftsgewißheitsschwund« verbunden.101 Zugleich rücke »die Zukunft der Gegenwart näher, das heißt, die temporale Extension der Gegenwart schrumpft«. Diese »Gegenwartsschrumpfung« zeige sich daran, daß der Zeitraum des Bestands von vertrauter Umgebung, der Geltung von Theorien und Kunststilen, des Gebrauchs bestimmter Maschinen usw. immer kürzer wird. Dafür aber rücke auch die Vergangenheit näher, denn es werde erinnert und gegenwärtig gehalten, was veraltete oder gar nicht veralten kann, weil es unentbehrlich ist. Dazu gehöre die Religion, welche die Unverfügbarkeit der Zukunft zu bewältigen hilft.102 O. Marquard macht das in Anlehnung an J. Ritter zum Programm: Zukunft braucht Herkunft.103 Nach Ritter nämlich trieb »die Dialektik des Fortschritts« eine »Diskontinuität von Herkunft und Zukunft« hervor, die sowohl zu einer »düster fanatischen Reaktion« wie zu einer geschichtslosen Zukunftsgesellschaft führen könne, so daß die Vermittlung von Herkunft und Zukunft auf dem Weg der Bildung zur wichtigen Aufgabe der modernen Gesellschaften werde.104 Also gerade weil in der Moderne Herkunft und Zukunft auseinandertreten, sind sie aufeinander angewiesen. Aber da der Wandel inzwischen alle Sphären der Kultur betrifft, schwindet das Selbstverständliche und produziert ein Bewußtsein von Krisen. Es findet seinen Ausdruck auch darin, daß man sich überall über die jeweilige Zukunft besorgte Gedanken macht: über Die Zukunft der Vergangenheit, d. h. über das Geschichtsbewußtsein105 ebenso wie über die Zukunft der Utopie106 und die Zukunft der Futurologie (s. o.). Diese Futurologie aber – eine ihrer dunkelsten Prognosen – faßt inzwischen unter dem Begriff der »technologischen Singularität« einen künftigen Punkt ins Auge, an dem das exponentielle Wachstum im Bereich der Computer-Technik so explodiert, daß ein Verstehen der Vorgänge und sogar das bisherige menschliche Leben unmöglich werden.

Paul Noack: Eine Geschichte der Zukunft (Bonn 1996) 142. Hermann Lübbe: Zeit-Verhältnisse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts (Graz, Wien, Köln 1983) 35–37. 102 Ders.: Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart (Berlin u. a. 1992) 18 f.; ders.: Gegenwartsschrumpfung. Zeit-Erfahrungen in einer dynamischen Zivilisation. In: Zwischen Anfang und Ende. Nachdenken über Zeit, Hoffnung und Geschichte, hg. von Hermann Fechtrup u. a. (Münster 2000) 71–80. 103 Odo Marquard: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays (Stuttgart 2003); ders.: Zukunft und Herkunft. In: ders.: Skepsis und Zustimmung. Philosophische Studien (Stuttgart 1994) 15–29. 104 Joachim Ritter: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel (Frankfurt a.M. 1969) 331–340, 351–354. 105 Die Zukunft der Vergangenheit. Lebendige Geschichte – klagende Historiker, hg. von Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Freiburg, Basel, Wien 1975). 106 R. Saage (Hg.): Hat die politische Utopie eine Zukunft? (Darmstadt 1992). 100 101

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Wer die Ungewißheit der Zukunft in der Zivilisation akzentuiert, kann inzwischen darauf verweisen, daß der Zusammenbruch des Sowjetsystems und der international agierende islamische Terrorismus von den Futurologen nicht prognostiziert wurden. Wer die Berechtigung solcher Prognosen verteidigen will, kann hingegen auf Naturzerstörung und Bevölkerungswachstum verweisen, die durchaus vorausgesagt wurden, wenn auch nicht präzis. Haben wir kein streitfreies Wissen von der Zukunft der gesamten Zivilisation, so läßt sich aufgrund der Genforschung aber schon so viel über die Zukunft eines Einzelnen in Erfahrung bringen, daß es zur ethischen Frage wird, ob man solches Wissen nicht geheim halten muß. Zugleich ist völlig offen, welchen Einfluß dieses Wissen künftig auf den Menschen insgesamt und auf sein Verhalten haben wird – so daß auch in diesem Fall die Wissenschaft die Zukunft ungewisser macht.107

Das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, hg. von Ludger Honnefelder [u. a.] (Berlin 2003); Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? (Frankfurt a.M. 2001). 107

Namensregister

Abaelardus, Petrus 76 Abel, Theodore 427 Ach, Narziß 328 Adorno, Theodor W. 3, 28–31, 32, 35, 36, 135 f., 145, 182, 183, 208, 239, 352, 397 f., 441 Agamben, Giorgio 291, 294, 296, 301, 303, 306 f., 308 f. Aischines 75 Albert, Hans 27, 36, 337 Alsberg, Paul 252–254, 265 Ampère, André Marie 391 Andersen, Peter Bøgh 396 Antisthenes 75 Apel, Karl-Otto 352, 419, 422, 426, 428 f. Arendt, Hannah 181, 230, 294 Aristipp 75 Aristoteles 75 f., 88, 119, 127, 134 f., 182, 235, 245, 269, 277, 290, 326, 351, 368, 395, 438 Armstrong, David M. 137 f. Aron, Raymond 3 Ashby, W. Ross 402 Assmann, Jan 147 f. Austin, John L. 342 Avenarius, Richard 100 Ayer, Alfred J. 340 Bachelard, Gaston 276 f., 394 f. Bachrach, Peter 225 Bachtin, Michail 351 Bacon, Francis 28, 236, 269, 283 Baecker, Dirk 397 f., 400 Bahm, Archie J. 396 Balász, Bela 240 Ball, Hugo 331 f.

Baratz, Morton S. 225 Barel, Yves 402 Bateson, Gregory 389, 401, 404 Baudrillard, Jean 242 Baumann, Zygmunt 145 Beck, Ulrich 450 Beitz, Charles 126 Bell, Daniel 3 Bellah, Robert 146 Benjamin, Walter 237–239, 243, 276, 333 f., 371–374, 381–383, 441 Benn, Gottfried 152 Bentham, Jeremy 440 Berger, Peter L. 146 Bergson, Henri 196, 198–201 Berkeley, George 269, 340 Berlin, Isaiah 125 Bermes, Christian 204 Bernard, Claude 393 Bertalanffy, Ludwig von 391–393 Bettelheim, Bruno 294, 302, 309 Bieri, Peter 325 Bigelow, Julian 395 Birnbacher, Dieter 450 Black, Max 204, 269, 274, 277 f. Blauberg, Igor V. 396 Bloch, Ernst 2, 80, 440 f., 443, 450 Block, Ned 69 Blumenberg, Hans 80, 202, 205, 254, 265, 267–269, 277 f., 374, 383 f., 386 Bodin, Jean 323 Boeckh, August 423 Boehler, Eugen 450 Bolk, Louis 260 Bollnow, Otto Friedrich 82, 95, 259, 423

Archiv für Begriffsgeschichte · Band 50 · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1916-9

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Namensregister

Boltzmann, Ludwig 394 Bolzano, Bernard 44 Bonhoeffer, Dietrich 414 f. Born, Max 442 Boudon, Raymond 368 Bourdieu, Pierre 384 Brandom, Robert B. 55, 136 Brecht, Bertolt 239 Brentano, Franz von 44, 297, 304 Breton, André 274 Bruner, Jerome S. 280, 282 Brunner, Karl-Michael 131 Buber, Martin 77–79, 81–83, 243, 328, 332 f., 347, 407 f., 411, 413, 441 Buckle, Henry Th. 420, 421, 426 Bühl, Walter L. 396 f., 404 Bühler, Karl 83 f., 152, 328, 336 f. Burckhardt, Jacob 160–163 Butler, Judith 231 f. Campe, Rüdiger 271 Camus, Albert 444 Carnap, Rudolf 48, 87, 92, 339 f., 342 Cassirer, Ernst 26, 157, 159, 168, 171, 178–181, 184, 187, 200, 250, 264 f., 277, 280 f., 328, 335–337, 343, 358–360, 362 f., 367 f., 371–374, 382–387 Castañeda, Hector-Neri 353 Chaitin, Gregory 405 Chisholm, Roderick M. 92, 139 Chomsky, Noam 342 Cicero, Marcus Tullius 79, 117, 128, 173, 269 Clausen, Lars 443 Cohen, Hermann 78, 81, 172, 445 Cohn, Ruth 82 Comte, Auguste 171, 327, 393 Condorcet, Marie-Jean-Antoine Nicolas de Caritat, marquis de 171 Cooley, Charles Horton 105, 113 Coser, Lewis A. 111

Creutzfeld, Otto 372 Croce, Benedetto 329 Czayka, Lothar 391 Dahl, Robert Alan 225 Dahrendorf, Ralf 31, 442 Danto, Arthur C. 446 Darnton, Robert 25 Darwin, Charles 1, 195 Davidson, Donald 49, 257, 353 Delbrück, Berthold 329 Deleuze, Gilles 222 f., 277, 393, 402 Demokrit 74 Derbolav, Josef 82 Derrida, Jacques 56, 246 f., 271, 374– 377, 397, 402 Descartes, René 163, 207, 217, 256, 366 Dieckmann, Herbert 39 Diederichsen, Diederich 146 Dilthey, Wilhelm 44, 46 f., 50 f., 56, 77, 80, 95, 183, 196 f., 201, 249, 258, 327, 357 f., 420–427, 429 Dingler, Hugo 160 Diogenes Laertius 76 Dostojewskij, Fjodor 166 Dray, William 428 Driesch, Hans 152 Droysen, Johann Gustav 420, 425 Dubois, Daniel 401 Dufrenne, Mikel 365 Dummett, Michael 49 Durkheim, Émile 107 Dworkin, Ronald 124 Ebbinghaus, Hermann 422 Ebner, Ferdinand 78, 81, 332 Eco, Umberto 240, 275, 368, 376 Edwards, Paul N. 391 Ehrenberg, Hans 152 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus 261 Eisenberg, Rebecca 127 Eisenstadt, Shumel N. 113

Namensregister

Elias, Norbert 181 Elster, John 404 Engel, Johann Jakob 77 Engelen, Eva-Maria 305 Erikson, Erik H. 142–144 Esposito, Elena 397 Eucken, Rudolf 202 Eudoxos 76 Feigl, Herbert 92, 137 Fellmann, Ferdinand 71 Feuerbach, Ludwig 81, 182 Feyerabend, Paul K. 287 f. Fichte, Johann Gottlieb 7, 79, 314, 318, 373 f. Fink, Eugen 209, 211, 222 Flechtheim, Ossip K. 448 Fleck, Ludwik 285 Flusser, Vilém 242 f. Fodor, Jerry 55 Foerster, Heinz von 389–392, 394 f., 400 f. Foote, Nelson N. 144 Foster, George M. 106 Foucault, Michel 26 f., 84, 207, 231, 241, 365 f., 368, 384 Frank, Manfred 140 Frankl, Victor E. 409 Frankfurt, Harry G. 265 Frege, Gottlob 1, 43–46, 47–49, 55 f., 87, 132–134, 135, 337 Frenk, Samy 400 Freyer, Hans 438 f., 445 Freud, Sigmund 1, 53 f., 157, 174, 193, 303, 314, 374, 379 f. Funke, Gerhard 150 Gadamer, Hans-Georg 51, 80, 346 f., 409, 420, 424 f. Galilei, Galileo 163 Gardiner, Alan H. 83, 336 f. Geach, Peter T. 133 Geertz, Clifford 384

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Gehlen, Arnold 28, 181, 252, 254, 260–262, 264, 318, 349 Gell-Mann, Murray 405 Genette, Gérard 274 Gergen, Kenneth 145 Gerhardt, Volker 225 f., 319 Gibbs, Josiah Willard 394 Giddens, Anthony 142 Gipper, Helmut 352 Girod, Bernd 391 Glaukon 75 Glover, Jonathan 125 Goebbels, Joseph 3 Gödel, Kurt Friedrich 369 Goethe, Johann Wolfgang von 152, 202, 275, 356, 385, 421 Goffman, Ervin 144, 146 Gogarten, Friedrich 78 Goldenweiser, Alexander 106 Gombrich, Ernst H. 66 Goodman, Nelson 59, 63, 65–67, 269, 374 Goody, Jack 240 Graham, George 298 Grassi, Ernesto 275 Gray, John 124 Grice, Herbert P. 138 f. Grice, Paul 54 f. Grisebach, Eberhard 408, 415 Grossmann, Reinhardt 92 Gruppe, Otto Friedrich 77, 331 Guardini, Romano 82, 328 Guattari, Félix 277, 393 Günther, Gotthard 390, 395, 397, 401, 403, 405 Günther, Jacob 146 Gurwitch, Aron 211, 215, Gutberlet, Constantin 152 Haardt, Michael 127 Habermas, Jürgen 31–34, 36, 38, 80, 84, 124, 144, 172, 202, 230, 352, 424, 446, 452

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Namensregister

Hacking, Ian 44 Hajnal, István 240 Haksar, Vinit 124 Hamann, Johann Georg 327 Han, Byung-Chul 225, 232 Hardin, Garrett 127 Hartmann, Nicolai 90–92, 358, 409 Havelock, Eric 240 Hayek, Friedrich A. von 124 Hayles, N. Katherine 391 Hazard, Paul 153 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 7, 15, 33, 77, 79, 82, 105, 179, 190, 196, 212, 236, 241, 314, 326, 357, 390 Heidegger, Martin 4, 7, 12–15, 17, 28, 50, 80, 83, 89–90, 92–94, 96–102, 132, 152, 183, 184, 197, 202, 208, 212 f., 222, 243, 246 f., 249 f., 254 f., 257, 264, 267, 291–295, 300, 328– 333, 343–346, 347 f., 357, 374, 377, 381, 392, 424 f., 433, 444 f. Heider, Fritz 245 f. Heims, Steve J. 391 Heißenbüttel, Helmut 241 Heller, Michael M. 127 Helvétius, Claude Adrien 171 Hempel, Carl Gustav 426–428 Henrich, Dieter 133, 140 f. Herakleides 76 Heraklit 209 Herder, Johann Gottfried 236 f., 260, 318, 327, 421 Herodot 74 Heussi, Karl 167 Himmler, Heinrich 438 Hirzel, Rudolf 73, 81 Hitler, Adolf 128, 426, 435 f. Hobbes, Thomas 88, 129, 225, 269, 323 Högelsberger, Karl Georg 77 Hönigswald, Richard 333 Hofmannsthall, Hugo von 331 Hofstadter, Douglas R. 405

Holenstein, Elmar 353 Homer 74 Hommes, Ulrich 442 Honneth, Axel 145 Horgan, Terence 298 Horkheimer, Max 3, 28–31, 32, 36, 145, 182, 239 Humboldt, Wilhelm von 327, 335, 345 f., 350, 421 Hume, David 118, 120, 134, 137 f., 437 Husserl, Edmund 1, 7–9, 10, 12, 15, 20–22, 44–47, 50, 55, 80, 90 f., 100 f., 118, 160, 165, 167, 169–172, 199, 243, 208–210, 212 f., 216, 289, 327, 343, 347 f., 357 f., 408 Huxley, Aldous 439 Innis, Harold 240 Isokrates 79 Jacobi, Friedrich Heinrich 81 Jakobson, Roman 337, 361–363 James, William 142, 194 Jaspers, Karl 28, 83, 94–96, 291–293, 301, 307, 309, 311, 346, 358, 434, 437, 446 f. Jauch, Josef M. 80 Jean Paul 77, 270 Joas, Hans 142, 145, 317 Joël, Karl 165 f. John Wyclif 77 Jonas, Hans 71, 181, 249, 408, 416 f., 450 Jouvenel, Bertrand de 449 Jünger, Friedrich Georg 328, 346 Jungk, Robert 448 Kaehr, Rudolf 397 Kahn, Herman 448 Kamper, Dietmar 145 Kaneko, Kunihiko 401 Kant, Immanuel 7, 25, 26–28, 34, 36, 79, 81, 90, 117 f., 128, 134, 138, 140,

Namensregister

154 f., 157, 174, 177 f., 186, 191–194, 196, 200, 204, 209, 217, 224, 269, 271–273, 275 f., 278, 314 f., 327, 356, 368, 373, 375, 386 Kaplan, Abraham 225 Kauffman, Stuart A. 400 f., 405 Kebes 75 Kelsen, Hans 318 Kerkhove, Derrick de 240 Kertész, Imre 294, 301, 306–310 Keupp, Heiner 145 Kierkegaard, Søren 81, 83, 93 f., 433 Kittler, Friedrich 242, 244 f. Klages, Ludwig 195, 202 Köhler, Jochen 53 König, Josef 51 König, René 109, 114 Kofman, Sarah 271 Kohlberg, Lawrence 144, 318 Kondylis, Panajotis 41 Korsgaard, Christine M. 141 Korzybski, Alfred 404 Koselleck, Reinhart 2, 153, 446 Kosslyn, Steven 68–71 Kottje, Friedrich 168 f. Kracauer, Siegfried 237, 239, 441 Krappmann, Lothar 144 Kraus, Karl 331 Krauss, Werner 39 Kreckel, Reinhard 147 Kreibich, Rolf 449 Kripke, Saul A. 48, 133 Kriton 75 Kuhn, Thomas S. 279–289, 360 f. Kutschera, Franz von 10 Lacan, Jacques 380 Lambert, Johann Heinrich 154 Landauer, Gustav 331 f., 440 Landgrebe, Ludwig 210 Landmann, Michael 263 f. Langer, Lawrence L. 307 Langer, Susanne 384

457

Lasswell, Harold Dwight 225 Latour, Bruno 405 Lauer, Coelestin 92 Lautréamont, comte de 274 Lavater, Johann Caspar 81 Lazarsfeld, Paul 84 Lehmann, Maren 399 Leibniz, Gottfried Wilhelm 134–136, 236, 287 f., 355 f. Lenin, Wladimir I. 436 Lenk, Hans 27, 36 Lersch, Philipp 191 Lessing, Gotthold Ephraim 77 Levi, Primo 294, 301, 307–309 Levinas, Emmanuel 7, 17–20, 21, 22, 102 f., 214–216, 349, 408 f., 414–416 Lévi-Strauss, Claude 300 f., 361, 363–366, 368 f. Lewis, Oscar 110 Leydesdorff, Loet 401 Leys, Ruth 291, 295, 302 f., 305 f. Lichtenberg, Georg Christoph 280 f., 327 Lieber, Hans-Joachim 34 Lieberth, Arthur 167 Liebrucks, Bruno 352 Lipps, Hans 50 f., 259, 334 f., 348 Litt, Theodor 319, 349 f. Löwith, Karl 333, 445 Locke, John 121 f., 128, 137 f., 217, 269, 314 Lorenz, Konrad 28, 450 Lorenz, Kuno 84, 352 Lorenzen, Paul 84 Losinger, Anton 322 Lotze, Hermann R. 44, 92 Lübbe, Hermann 37 f., 451 Luhmann, Niklas 34–36, 80, 106, 112, 116, 228 f., 245 f., 390, 394, 396–399, 402, 404 Lukes, Steven 225 Lynd, Helen Merrell 144

458

Namensregister

Maalouf, Amin 146 MacIntyre, Alasdair 141 Maddox, John 449 Maine, Henry Sumner 107 Man, Paul de 246, 271, 377 Mannheim, Karl 163–165, 440 Marcel, Gabriel 213 Marcia, James E. 143 Marcuse, Herbert 321 Marinetti, Filippo Tommaso 431 f. Marquard, Odo 260, 451 Marr, David 70 Marty, Anton 329 Marx, Karl 1, 26, 32, 108, 120 f., 156 f., 171, 182, 436, 440 Maturana, Humberto R. 390 Mauthner, Fritz 330, 331 f., 339 Mayr, Ernst 190 McCulloch, Warren 389 f., 394, 398, 401 McLuhan 240–242, 244 Mead, George Herbert 142–144, 318 Mead, Margaret 389 Meadows, Dennis 449 Meinong, Alexius 44 Merleau-Ponty, Maurice 52, 63, 211– 216, 218, 276, 347–349 Merton, Robert K. 437 Metz, Johann Baptist 441 Mill, John Stuart 1, 44, 132, 421, 426, 440 Millikan, Ruth G. 55 Misch, Georg 50 f., 95, 202, 258 f., 423 Mittelstraß, Jürgen 41, 80, 352 Möckel, Christian 203 Moeller van den Bruck, Arthur 435, 440 Mol, Hans 146 Moltmann, Jürgen 441 Mondot, Jean 25 Monelle, Raymond 276 Moore, George Edward 341

Moray, Neville 396 Morgenstern, Oskar 389, 404 Morin, Edgar 399 Morris, Charles W. 340, 376 Morus, Thomas 440 Müller, Klaus 391 Napoléon 162 Natorp, Paul 88, 166 Neal, Patrick 124 Negri, Antonio 127 Neumann, John von 389, 396, 404 Neurath, Otto 280 f. Newton, Isaac 287 Nickel, Sighard 307 Nicolaus Cusanus 77 Nida-Rümelin, Julian 325 Nida-Rümelin, Martine 139 Niethammer, Lutz 147 Nietzsche, Friedrich 26, 79, 102, 145, 156 f., 172, 186, 194 f., 203, 207, 221– 223, 225, 249, 269–275, 278, 317, 371, 373 f., 377, 381, 384, 408 Noack, Paul 451 Nohl, Hermann 423 Novalis 373 Nozick, Robert 122, 124 Nünning, Ansgar 150 Nussbaum, Martha C. 80, 124 Ockham, Guillelmus de 76 Oelmüller, Willi 37 Ong, Walter J. 240 Ortega y Gasset, José 163, 434 f. Orth, Ernst Wolfgang 152 Orwell, George 439 Osborn, Fairfield 449 Otto, Walter F. 328 Paine, Thomas 153 Pannwitz, Rudolf 162 Parfit, Derek 139 f. Parmenides 132, 172

Namensregister

459

Parsons, Talcott 109, 113–116, 228, 240, 392, 424 Patočka, Jan 212 Patzig, Günther 80 Paul, Hermann 329 Peirce, Charles S. 340, 371, 374–376, 386 Perelman, Chaim 269 Pestalozzi, Johann Heinrich 318 Pettit, Philip 124 Phaidon 75 Piaget, Jean 359–361, 363, 365–369 Picht, Georg 407, 410, 412 Pickering, Andrew 391 Pico della Mirandola, Giovanni 322 Platon 74 f., 80 f., 89, 96, 117, 119, 173 f., 300 f., 368, 392, 408, 411 Plessner, Helmuth 112, 150, 159, 169, 181, 215 f., 226 f., 249, 263, 276, 318, 350, 442 Pölitz; Karl Heinrich Ludwig 77 Pogge, Thomas 126 Pol Pot 128 Polak, Fred L. 449 Polanyi, Michael 275 Popitz, Heinrich 227 Popper, Karl Raimund 26 f., 36, 92, 337, 437, 450 Postman, Leo 280, 282 Proust, Marcel 273 f. Pufendorf, Samuel 173 Putnam, Hilary 48

Rawls, John 122–126, 128 Raz, Joseph 124 Reichold, Anne 217 Recki, Birgit 186 Redfield, Robert 109 Renner, Karl 318 Richards, Ivor Armstrong 270, 274 f. Rickert, Heinrich 92, 422 f. Ricœur, Paul 7, 20–23, 140 f., 267, 269, 277 f., 294, 312, 365, 368, 433, 446 Riehl, Alois 155 Riezler, Kurt 162, 168 Rigotti, Francesca 157 Riehl, Alois 155 Ritter, Joachim 451 Röttgers, Kurt 232 f. Rogers, Carl R. 82 Rolf, Thomas 190 Rombach, Heinrich 360, 367 Rorty, Richard 277, 327, 353, 374 Rose, Carol M. 127 Rosenblueth, Arturo 395 Rosenstock-Huessy, Eugen 333 Rosenzweig, Franz 7, 81, 243, 332 f. Rothacker, Erich 4, 150, 164, 202, 262 f., 319, 383 Rousseau, Jean-Jacques 108, 157, 162, 174–178 Russell, Bertrand 47 Rustemeyer, Dirk 405 Ryle, Gilbert 217 f., 341

Quabbe, Georg 439 Quine, Willard Van Orman 48 f., 92, 135 f., 342 Quntilian 269 Quinton, Anthony 138 f.

Sade, Donatien-Alphonse-François de 28 Sadovsky, V. N. 396 Saint-Exupéry, Antoine 407 Samjatin, Jewgeni I. 439 Sampson, Edward E. 143, 146 Sandel, Michael 147 Sartre, Jean-Paul 7, 15–17, 83, 93, 101 f., 140, 181, 212 f., 291, 295, 348, 434, 444

Rabenstein, Rudoolf 391 Radtke, Peter 322 Raschhofer, Karl 318 Rathenau, Walter 435

460

Namensregister

Saussure, Ferdinand de 329 f., 362 f., 371, 373–376 Schaff, Adam 351 Schalk, Fritz 39 Schapp, Wilhelm 446 Scheler, Max 7, 10–12, 17, 92, 159, 165, 168, 181, 210 f., 249–255, 260, 269, 318, 349, 409, 411 f. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 79, 172, 403 Schiller, Friedrich 73, 314, 318 Schlegel, Friedrich 373 Schleiermacher, Friedrich 79–81, 423, 426 Schlick, Moritz 280 f. Schmalenbach, Hermann 112 Schmitt, Carl 28 Schmitz, Hermann 216 Schnädelbach, Herbert 185 Schneiders, Werner 25 Schockenhoff, Eberhard 322 Scholder, Klaus 449 Scholz, Heinrich 334 Scholz, Leander 271 Schopenhauer, Arthur 79, 192–198, 203, 218 Schrey, Heinz-Horst 82, 84 Schütz, Alfred 211 Schulin, Ernst 446 Schulz, Walter 172 Searle, John R. 48, 342 Seel. Martin 321 Sen, Amartya 124 Serres, Michel 393, 398 Shannon, Claude E. 242, 393 f., 398 Shoemaker, Sidney 138 f. Sholem, Gershom 238 f. Siep, Ludwig 286, 326 Simmel, Georg 1, 106, 110–112, 158 f., 178–181, 183, 187, 196, 199–201, 232, 263 Simmias 75 Simon 75

Singer, Peter 125 Slaughter, Anne-Marie 130 Sloterdijk, Peter 158 Smart, John J. C. 138 Sneed, Joseph D. 360 Snow, Charles Percy 442 Sokrates 75 f., 81 Solov’ev, Wladimir Sergeiwitsch 166 Sommerhoff, G. 395 Sonnenfels, Joseph von 77 Spalding, Johann Joachim 314, 318 Spencer, Herbert 107 Spencer-Brown, George 245, 398 Spengler, Oswald 152, 157, 160, 432 f. Spinoza, Baruch de 314 Stalin, Jozef 128, 439, 443 Stallman, Richard M. 127 Stegemann, Hermann 435 Stegmüller, Wolfgang 87, 360 Stein, Edith 210 Steinberg, Paul 308 f. Steinvorth, Ulrich 124, 127, 129 Stenger, Alexander 391 Stenzel, Julius 328 Sternberger, Dolf 1 Straub, Jürgen 148 Straubhaar, Thomas 129 Strauss, Anselm 144 Strauß, Botho 150 Strawson, Peter F. 133, 218, 341–343 Sturma, Dieter 140 Swinburne, Richard G. 139 Szczesny, Gerhard 31 Tarski, Alfred 49 Taureck, Bernhard 225 Taylor, Charles 141 f., 146 f., 317 Teilhard de Chardin, Pierre 443 f. Tegtmeier, Erwin 92 Thomä, Dieter 141, 321 Thomas von Aquin 235 Thukydides 127 Tienson, John 298

Namensregister

Tiqqun 391 Tönnies, Ferdinand 105–109, 114–116 Toffler, Alwin 450 Toulmin, Stephen 280, 282 Toynbee, Arnold J. 164, 447 f. Trentowski, Bronislaw 391 Troeltsch, Ernst 167 Trubetzkoy, Nikolai S. 362 f. Tugendhat, Ernst 45, 80, 87, 133, 138, 141, 186 Tylor, Burnett 185 Uexküll, Jacob von 264, 393 Valéry, Paul 160 Vanaik, Achin 128 Varela, Francisco J. 390, 400 Venter, Craig 319 Vico, Giovnni Battista 269, 272, 275 Virilio, Paul 242 Voegelin, Eric 171 f. Vogt, William 449 Voltaire 171 Vossenkuhl, Wilhelm 313, 317 Vossler, Otto 329 Vygotskij (Wygotski), Lev S. 351 Wagner, Richard 194 Waismann, Friedrich 339 Waldenfels, Bernhard 216–218, 410 Waldrop, M. Mitchell 405 Wallerstein, Immanuel 107 Watt, Ian 240 Watzlawick, Paul 394 Weaver, Warren 242, 399 Weber, Alfred 447 Weber, Max 110 f., 114 f., 223 f., 423 f., 428, 432

461

Weisgerber, Leo 347, 350 Weiss, Christina 401 Weizsäcker, Carl Friedrich von 328, 353, 442 White, Harrison C. 401 Whitehead, Alfred North 392, 395 Whorf, Benjamin L. 351 Wieland, Wolfgang 172 Wiener, Norbert 389, 394 f. Wiggins, David 139 Wilden, Anthony 400 Williams, Bernard 139, 303, 307 Willke, Helmut 405 Willy, Rudolf 152 Winch, Peter 428 Winckelmann, Johann Joachim 421 Windelband, Wilhelm 157, 422 Winograd, Terry 399 Wittgenstein, Ludwig 4, 47–49, 55 f., 80, 134 f., 201, 203, 217, 280 f., 337–340, 341, 352, 358, 372, 374, 378 f., 428 Wittram, Reinhard 446 Wölfflin, Heinrich 275 Wöllner, Johann Christoph von 156 Wolff, Christian 355 Wollheim, Richard 63, 66 Wright, Georg Henrik von 428 Wundt, Max 39 Wundt, Wilhelm 329 Wust, Peter 170 Xenophon 75 Yorck von Wartenburg, Graf Paul 264, 425 Yudin, E. G. 396