Schleiermachers Gottesdiensttheorie: Studien zur Rekonstruktion ihres enzyklopädischen Rahmens im Ausgang von "Kurzer Darstellung" und "Philosophischer Ethik" [Reprint 2010 ed.] 3110157195, 9783110157192, 9783110803020

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Schleiermachers Gottesdiensttheorie: Studien zur Rekonstruktion ihres enzyklopädischen Rahmens im Ausgang von "Kurzer Darstellung" und "Philosophischer Ethik" [Reprint 2010 ed.]
 3110157195, 9783110157192, 9783110803020

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
I. Teil Der Ausdruck „Gottesdiensttheorie“, seine Implikate und deren Entfaltung
§ 1 Der enzyklopädische Rahmen der theologischen Gottesdiensttheorie
1. Das Theologieverständnis Schleiermachers als Rekonstruktions- und Interpretationsrahmen seiner Gottesdiensttheorie
2. Die Entfaltung der theologischen Enzyklopädie
3. Die umfassende theologische Gestalt der Gottesdiensttheorie
4. Konsequenzen für den Umgang mit den Quellen
§ 2 Der Begriff des Gegenstandes der Gottesdiensttheorie
1. Wie kommt die Gottesdiensttheorie als theologische Theorie zum Begriff ihres Gegenstandes?
2. Die Uneindeutigkeit des Gegenstandes der Gottesdiensttheorie zwischen Kultus, Sitte und kirchlichem Gesamtleben
II. Teil Die Rekonstruktion von Schleiermachers theologischer Gottesdiensttheorie in ihrer enzyklopädischen Gestalt
§ 3 Philosophische Theologie des Gottesdienstes als Kultus
1. Schleiermachers Projekt einer Philosophischen Theologie
2. Die Aufgabe einer Philosophischen Theologie des Gottesdienstes als Kultus
3. Die einschlägigen Quellen
4. Die ganze Wirklichkeit des christlichen Lebens
5. Apologetik
6. Polemik
§ 4 Historische Theologie des Gottesdienstes als Kultus
1. Schleiermachers Projekt einer Historischen Theologie
2. Die Aufgabe einer Historischen Theologie des Gottesdienstes als Kultus
3. Die einschlägigen Quellen
4. Exegese
5. Kirchengeschichte
6. Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes der christlichen Kirche
§ 5 Praktische Theologie des Gottesdienstes als Kultus
1. Schleiermachers Projekt einer Praktischen Theologie
2. Die Aufgabe einer Praktischen Theologie des Gottesdienstes als Kultus
3. Praktische Theologie des Gottesdienstes als Kultus
4. Überlegungen zum erhobenen Quellenbefund und zum Status der Praktischen Theologie als einer universitären theologischen Disziplin
Schluß
Verzeichnis der Siglen
Bibliographie

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Ralf Stroh Schleiermachers Gottesdiensttheorie

W DE G

Theologische Bibliothek Töpelmann

Herausgegeben von O. Bayer · W Härle - H.-R Müller

Band 87

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998

Ralf Stroh

Schleiermachers Gottesdiensttheorie Studien zur Rekonstruktion ihres enzyklopädischen Rahmens im Ausgang von „Kurzer Darstellung" und „Philosophischer Ethik"

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt

Die Deutsche Bibliothek — Cataloging-in-Publication Data Stroh, Ralf: Schleiermachers Gottesdiensttheorie : Studien zur Rekonstruktion ihres enzyklopädischen Rahmens im Ausgang von „Kurzer Darstellung" und „Philosophischer Ethik" / Ralf Stroh. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1998 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 87) Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 1995/96 ISBN 3-11-015719-5

© Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1995/96 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Mainz als Dissertation im Fach Systematische Theologie angenommen. Mein Dank gilt zuerst meinem Lehrer Prof. Dr. Eilert Herms, der die Arbeit betreute und das Erstreferat übernahm. Ebenfalls zu Dank verpflichtet bin ich Prof. Dr. Friedrich Beißer für die Übernahme des Korreferates. Ermöglicht wurde mir die Abfassung dieser Untersuchung durch die großzügigen Freiräume, die mir Prof. Dr. Gert Otto sowie nach dessen Emeritierung Prof. Dr. Friedrich Schweitzer am Seminar für Praktische Theologie der Universität Mainz in meiner Tätigkeit als ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter gewährten. Den Abschluß dieser Arbeit vor meinem Eintritt in das Vikariat gestattete ein Stipendium der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, für dessen unkomplizierte und kurzfristige Bewilligung ich besonders Herrn Oberkirchenrat Koke dankbar bin. Die Arbeit war im Herbst 1994 im wesentlichen abgeschlossen und wurde nil Frühjahr 1995 eingereicht. Auf Arbeiten zu Schleiermachers Theologie und Philosophie, die seit dem Herbst 1994 erschienen sind, konnte daher gar nicht oder nur durch Verweis in den Anmerkungen reagiert werden. Für die Aufrahme dieses Werkes in die Reihe der Theologischen Bibliothek Töpelmann danke ich den Herausgebern recht herzlich. Die Mühe, das Manuskript hi eine für den Druck geeignete Form zu überführen, haben mir Kirsten Huxel und Franziska Müller erleichtert. Es gibt Wichtigeres im Leben als die Theologie. Dieser Satz ist eine Banalität. Und zugleich ist es alles andere als selbstverständlich, daß die Theologie diese Einsicht in ihrem Vollzug beherzigt. Einzig im Horizont dieser Bescheidenheit geführt geben jedoch theologische Bemühungen den Blick frei auf dasjenige, was uns zugleich das Nächste und das Fernste ist: das Leben, wie es wirklich gelebt wird. Gerade angesichts unterschiedlicher theologischer Überzeugungen war es für mich ein großes Glück, durch Prof. Dr. Gert Otto seit 1985 eine Förderung erfahren zu dürfen, die diese schlichte Wahrheit nicht aus dem Blick geraten ließ. Thm sei daher dieses Buch dankbar zugeeignet. Tübingen, den 27. Juli 1997

Ralf Stroh

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

V

Einleitung

l

I. Teil Der Ausdruck „Gottesdiensttheorie", seine Implikate und deren Entfaltung § l Der enzyklopädische Rahmen der theologischen Gottesdiensttheorie 1. 2. 2. l.

Das Theologieverständnis Schleiermachers als Rekonstruktions- und Interpretationsrahmen seiner Gottesdiensttheorie

9

2.2 2.3.

Die Entfaltung der theologischen Enzyklopädie Die historisch-kritischen Disziplinen: Philosophische und Historische Theologie Die technische Disziplin: Praktische Theologie Zusammenfassung

17 18 21 27

3.

Die umfassende theologische Gestalt der Gottesdiensttheorie

28

4.

Konsequenzen für den Umgang mit den Quellen

31

§ 2 Der Begriff des Gegenstandes der Gottesdiensttheorie 1. 2.

Wie kommt die Gottesdiensttheorie als theologische Theorie zum Begriff ihres Gegenstandes?

35

Die Uneindeutigkeit des Gegenstandes der Gottesdiensttheorie zwischen Kultus, Sitte und kirchlichem Gesamtleben

38

Inhaltsverzeichnis II. Teil Die Rekonstruktion von Schleiermachers theologischer Gottesdiensttheorie in ihrer enzyklopädischen Gestalt § 3 Philosophische Theologie des Gottesdienstes als Kultus 1.

Schleiermachers Projekt einer Philosophischen Theologie

43

2.

Die Aufgabe einer Philosophischen Theologie des Gottesdienstes als Kultus Die einschlägigen Quellen

55 57

3. 4. 4. l 4.2 4.3 5. 5.1 5.2 5.3 5.3.1

5.3.2 5.3.3 5.3.4 6. 6. l 6.2 6.2. l 6.2.2 6.2.3

Die ganze Wirklichkeit des christlichen Lebens Die scheinbare Ablehnung des philosophisch-ethischen Beschrei-.... bungsrahmens Die faktische Anerkennung des philosophisch-ethischen Beschrei-... bungsrahmens im Vollzug der dogmatischen Lehre Der ethische Schematismus der dogmatischen Lehre Apologetik Die innere Organisation der Apologetik nach der „Kurzen Darstellung" Apologetische Theologie des Gottesdienstes im Horizont von Ästhetik und Religionsphilosophie Apologetische Theologie des Gottesdienstes als Kultus Der Gottesdienst als sittliches Gut Exkurs: Zum Verhältnis von darstellendem Handeln und individuellem Symbolisieren Der Gottesdienst als pflichtgemäßes kultisches Handeln Das Motiv des Gottesdienstes als in der göttlichen Liebe begründete christliche Tugend Zusammenfassung Polemik Die innere Organisation der Polemik nach der „Kurzen Darstellung" Skizze der Polemischen Theologie des Gottesdienstes als Kultus Polemik gegen die häretische und schismatische Verfassung des Kultus Polemik gegen den häretischen und schismatischen Vollzug des Kultus Polemik gegen die indifferente und separatistische Einstellung zum Kultus

57 59 64 87 89 89 95 100 101 110 115 130 140 142 142 145 146 146 147

Inhaltsverzeichnis

IX

§ 4 Historische Theologie des Gottesdienstes als Kultus 1.

Schleiermachers Projekt einer Historischen Theologie

148

2.

Die Aufgabe einer Historischen Theologie des Gottesdienstes als Kultus

152

3.

Die einschlägigen Quellen

155

4. 4. l

Exegese Zum Verhältnis von Frömmigkeit, Philosophischer Theologie und Exegese Die innere Organisation der Exegetischen Theologie nach der „Kurzen Darstellung" Die wissenschaftliche Erhebung des inneren Lebens Jesu als Ziel exegetischer Arbeit Skizze der Exegetischen Theologie des Gottesdienstes als Kultus Kirchengeschichte Die innere Organisation der Kirchengeschichte nach der „Kurzen Darstellung" Kirchengeschichtliche Auffassung des Gottesdienstes als Kultus

155

4.2 4.3 4.4 5. 5.1 5.2 6. 6. l 6.2 6.2. l 6.2.2 6.2.2. l 6.2.2.2

6.2.2.3

Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes der christlichen Kirche Die innere Organisation der Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes der christlichen Kirche nach der „Kurzen Darstellung" Dogmatik Zum Verhältnis von Dogmatik und Philosophischer Theologie Dogmatische Theologie des Gottesdienstes als Kultus Die christliche Tugend als das durch Christus vermittelte Sein Gottes in der Kirche Die christlichen Pflichten als Akte der Darstellung christlicher Tugend A. Das pflichtgemäße Handeln Christi B. Das pflichtgemäße Handeln der Christen Die Wesenszüge der christlichen Kirche als Sozialgestalten der pflichtgemäßen Darstellung christlicher Tugend A. Schleiermachers dogmatische Lehre vom Geschäft Christi und von den Ämtern Christi als Grundlage der dogmatischen Lehre von den Grundzügen der christlichen Kirche B. Die verborgene Kirche als sittliches Gut C. Die sichtbare Kirche und der öffentliche Kultus als sittliche Güter

155 157 158 163 166 166 168 172 172 174 174 177 179 199 199 226 248

248 261 280

X 6.3 6.3. l 6.3.2

Inhaltsverzeichnis Statistik Die innere Organisation der kirchlichen Statistik nach der „Kurzen Darstellung" Skizze der kirchlichen Statistik im Blick auf den evangelischen Kultus

295 295 300

§ 5 Praktische Theologie des Gottesdienstes als Kultus \. 1. l l .2 2. 3. 3. l 3.2 3.3

3.4 4.

Schleiermachers Projekt einer Praktischen Theologie Anknüpfung der technischen Disziplin an die historisch-kritischen Disziplinen Die Entfaltung und die innere Organisation der Praktischen Theologie nach der „Kurzen Darstellung" Die Aufgabe einer Praktischen Theologie des Gottesdienstes als Kultus Praktische Theologie des Gottesdienstes als Kultus Der praktisch-theologische Rekurs auf das Wesen des öffentlichen Kultus Der praktisch-theologische Rekurs auf die im Kultus verfügbaren elementaren künstlerischen Darstellungsmittel Technische Reflexion auf die größtmögliche erbauliche Organisation der im christlichen Gottesdienst vorkommenden Formen Liturgie, Gesang, Gebet und religiöse Rede Besinnung auf die zweckmäßigste Organisation der Einflußnahme auf den Kultus durch das Kirchenregiment

306 306 309 320 3 26 326 331

336 339

Überlegungen zum erhobenen Quellenbefund und zum Status der Praktischen Theologie als einer universitären theologischen Disziplin 343

Schluß

347

Verzeichnis der Siglen

353

Bibliographie

356

Einleitung' Schleiermachers Gottesdiensttheorie gehört zu den monographisch wenig bearbeiteten Themenkomplexen seines Werkes2. Auch die neuerliche Schleiermacher-Renaissance scheint diesem Thema keine sonderlich große Bedeutung beizumessen. Und es darf nicht verwundem, daß die Vielzahl der erscheinenden Schriften zum Thema Gottesdienst und seinem zeitgemäßen Verständnis glaubt, sich die Vertiefung in Schleiermachers Reflexionen ersparen zu können, nachdem Christoph Albrecht seine klassische Untersuchung mit dem Ergebnis schloß: „Schleiermacher hat seine Liturgik unbekümmert um das geschichtliche Gewordensein der Liturgik konstruiert", er ist ein „extremer NurSystematiker"3. Gerade der Verzicht auf eine systematische Rekonstruktion von Schleiermachers Gottesdiensttheorie führt aber dann dazu, daß just derjenige Aspekt seines Gottesdienstverständnisses, der viel und gerne hervorgehoben wird der Gottesdienst als „darstellendes Handeln" -, abstrakt bleibt. Abstrakt, weil und insofern er nicht in Beziehung gesetzt wird zu den Aspekten des reinigenden und des verbreitenden Handelns4 und somit zu den beiden anderen weAlle Literaturhinweise erfolgen nur unter Verwendung von Kurztiteln bzw. Siglen im Falle der häufiger zitierten Schleiermacher-Texte. Die vollständigen bibliographischen Angaben finden sich im Literaturverzeichnis. Ein Verzeichnis der Siglen ist dem Literaturverzeichnis vorangestellt. - In den Zitaten aus Werken Schleiermachers sind bis auf seltene Ausnahmen Sperrungen, Kursivsetzungen und andere Variationen des Druckbildes nicht mit übernommen worden. Zusätze des Verfassers stehen in eckigen Klammern. Singular als Monographie: Christoph Albrecht, Schleiermachers Liturgik. Vgl. hierzu die Rezensionen von Werner Schultz, „Rez. zu Chr. Albrecht" und Peter Cornehl, Liturgik im Übergang, 387ff, sowie die - mit Recht - kritischen Bemerkungen zu Albrechts Arbeit in: Rainer Volp, Liturgik, Bd.2, 82If. A.O.O., 111. - Daß Schleiermacher in der von Albrecht verfaßten „Einführung in die Liturgik" mit keiner Silbe erwähnt wird, ist somit nur konsequent, zumal in dieser Einführung das geschichtslose Konstruieren in der Liturgik als strikt zu vermeidendes Extrem liturgischer Theoriebilduung gekennzeichnet wird (Chr. Albrecht, Einführung in die Liturgik, 6). CS, Beil.B, 150 [§15], wird explizit davon gesprochen, daß die Theorie des darstellenden Handelns die ethische Begründung des Gottesdienstes „fortsezt". Sie knüpft also an die Theorie des wirksamen Handelns und deren Einlassungen zum Gottesdienst an. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß dabei die Theorie des darstellenden Handelns sachlogisch die Theorie des wirksamen Handelns nachträglich fundiert, lassen sich beide doch nur abstrakt voneinander losgelöst behandeln. Auch CS, Beil A, 73, rührt aus, daß sich „die verschiedenen Functionen der Kirche nicht trennen lassen: so ist daher nicht nur in der Familie das Bildungsgeschäft mit dem Darstellungsgeschäfte ver-

2

Einleitung

sentlichen kirchlichen Institutionen, die Schleiermacher - besonders in der „Christlichen Sitte" - thematisiert: das kirchliche Bußwesen und das kirchliche Erziehungs- und Bildungswesen5. Damit ist aber ein wesentlicher Horizont von Schleiermachers Gottesdiensttheorie ausgeblendet: Schleiermachers Ekklesiologie6. Schleiermachers Gottesdienstverständnis ist erst dann erreicht, wenn die Funktion des Gottesdienstes im Verweisungszusammenhang der kirchlichen Institutionen benannt ist7. Da Schleiermachers Ekklesiologie aber ihrem eigenen Verständnis nach die Abbildung und Fortbildung seiner Christologie sein will8, muß notwendig ohne deren Berücksichtigung völlig unverständlich bleiben, was Schleiermacher als Aufgabe des kirchlichen Kultus angibt: die Erbauung des inneren und äußeren Menschen in der Vergegenwärtigung des heilsgeschichtlichen Lebenszeugnisses Jesu9. Dies also ist ein Ziel der vorliegenden Studie: Schleiermachers Gottesdiensttheorie im sachlichen Rahmen seiner Ekklesiologie und Christologie werkimmanent zu rekonstruieren und zu interpretieren. Damit wird nicht behauptet, daß Schleiermachers Gottesdienstverständnis völlig ohne seinen theologie-, philosophic- und allgemein kulturgeschichtlichen Kontext10 - und

bunden, sondern es sind auch im Cultus selbst Momente der Schule. Die hauptsächlichste Bedeutung der religiösen Rede liegt hier". 5 So entsteht z. B die Notwendigkeit der Seelsorge nicht zuletzt „aus der mangelhaften Wirksamkeit des Cultus" (PrTh, 821; vgl. auch PrTh, 836). Der Kultus kann aber nur wirksam werden, wenn in seinen rechten Gebrauch und in die rechte Teilnahme an ihm eingeführt wurde durch den katechetischen Unterricht (PrTh, 835f). 6 „Daß die Kirche im theologischen Denken Schleiermachers eine besondere Rolle spielt, ist auch in der bisherigen Schleiermacherliteratur unbestritten. Die entsprechenden Konsequenzen für die Interpretation seiner Theologie, namentlich seiner Dogmatik, wurden aus dieser Einsicht meines Erachtens bis jetzt noch nicht gezogen" (Erich Schrofner, Theologie als positive Wissenschaft, 64). - Vgl. Wilhelm Grab, Die sichtbare Darstellung der Versöhnung; Ders., Aktion und Kommunikation; Ders., Kirche als Gestaltungsaufgabe. 7 Vgl. ThES, 152.154f. - Vgl. das dementsprechende Resümee, das Christoph Meier als Konsequenz aus den Erfahrungen eines Reformjahrzehnts in Sachen Gottesdienst für die gegenwärtige Gottesdiensttheorie gewinnt: Chr. Meier, Der Gottesdienst zwischen bestätigender und verändernder Wirkung, 19Iff. 8 Vgl. GL 2 §127. 9 Vgl. PrTh, 616-621. - Zuzustimmen ist daher Rainer Volp, Liturgik, Bd.2, 689: „Unseriös wird es, wenn man F. Schleiermachers Pointe der Liturgik im darstellenden Handeln und in der Kunst zwar durchgehen läßt, aber die dafür grundlegenden Topoi der Christologie, der biblischen Anthropologie, der reformatorischen Anliegen und des eschatologischen Vorbehalts vermißt". 10 Vgl. außer den gängigen Biographien - Dilthey, Mulert, Redeker, Kantzenbach - hier vor allem. Emanuel Hirsch, Die Romantik und das Christentum; Ders., Die idealistische Philosophie und das Christentum; Ders., Geschichte Bde.IV-V; Eilert Herms, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher; Hermann Timm, Die heilige Revolution; Kurt Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik.

Einleitung

3

hier vor allem seine pietistischen biographischen Hintergründe" - zu verstehen sei. Eine umfassende Darstellung von Schleiermachers Gottesdienstverständnis kann ganz gewiß nicht an diesen Einflüssen vorbei erfolgen12. Die hier ins Auge gefaßte Aufgabe hat allerdings eine andere Zielrichtung: Es soll dezidiert Schleiermachers theologische Theorie des Gottesdienstes erhoben werden. Es geht also um den theologischen Begriff des Gottesdienstes, in den Schleiermacher die ihn prägenden Einflüsse aufgehoben hat. Die werkimmanente Interpretation will diese theologische Theorie des Gottesdienstes rekonstruieren13. Da Schleiermachers Verständnis theologischer Theoriebildung abhängig ist von seiner These, daß ein geschichtliches Phänomen wie die christliche Kirche nur im Horizont der philosophischen Ethik seine wissenschaftlich angemessene Bearbeitung erfahren kann, ist es ein weiteres Ziel der vorliegenden Arbeit, diesen ethischen Theorierahmen von Schleiermachers theologischer Gottesdiensttheorie offenzulegen14. Als wesentliche Orientierungspunkte der werkimmanenten Rekonstruktion dienen Schleiermachers„Kurze Darstellung" und seine „Philosophische Ethik". Das gewonnene Resultat der Rekonstruktion mag dann sowohl daraufhin untersucht werden, ob und inwiefern hier bestimmte Traditionen ihre begriffliche Formulierung erhielten, als auch im Blick auf die Aufnahme zeitgenössischer Theorieangebote betrachtet werden. Beide Fragerichtungen setzen zu ihrer Bearbeitung die Lösung der hier projektierten werkimmanenten Rekonstruktion voraus, können jedoch von dieser weder ersetzt, noch gar im Rahmen einer solchen Arbeit zusätzlich bewältigt werden15. Auch die Frage nach der 11 Vgl. E.R. Meyer, Schleiermacher und K.G. von Brinkmanns Gang durch die Brüdergemeinde; Christoph Meier-Dörken, Schleiermachers religiöse Erziehung. 12 In der Berücksichtigung dieses Aspektes liegt der Wert der Arbeit von Chr. Albrecht (Schleiermachers Liturgik, vor allem 66ff [Lit.!]). Vgl. auch den von Wolfgang Herbst herausgegebenen Quellenband: Ev. Gottesdienst, vor allem 149ff. Christoph MeierDörken, Die Theologie der frühen Predigten Schleiermachers, 27ff. - Zum Gottesdienstverständnis Kants vgl. Alois Winter, Gebet und Gottesdienst bei Kant. 13 Einen vergleichbaren Ansatz entfaltet der vorzügliche Aufsatz von Eberhard Jüngel, Der Gottesdienst als Fest der Freiheit. 14 Einen ähnlichen Versuch hat K. Dunkmann in seiner Arbeit über „Die theologische Prinzipienlehre Schleiermachers" unternommen. Deren zweiter Teil trägt die Überschrift „Die Begründung der Kurzen Darstellung durch die Ethik". - Eine besondere Eigentümlichkeit der Arbeit Christoph Albrechts, Schleiermachers Liturgik, besteht darin, daß sie eine Darstellung von Schleiermachers ethischer Begründung der Lehre vom Gottesdienst (a.a.O., 15-19) ohne jegliche Bezugnahme auf Schleiermachers philosophisch-ethisches Schrifttum unternimmt. Einschlägige Quellen werden auch in Albrechts Literaturverzeichnis nicht aufgeführt, sodaß vermutet werden muß, daß Albrecht sie überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat. Dieser Verzicht mag darin begründet sein, daß für Albrecht Schleiermachers Ethik identisch ist mit dessen Christlicher Sittenlehre (vgl. a.a.O., 14.26.27). 15 Schon der bloße Hinweis auf äußerlich ähnliche Ergebnisse in der zeitgenössischen Theoriebildung könnte grob in die Irre führen. Hierin ist Heinrich Scholz zuzustimmen: „Die Analogie der Resultate gestattet vielleicht in keinem Zeitalter weniger als in der

4

Einleitung

gegenwärtigen Bedeutung der Schleiermacherschen Gottesdiensttheorie setzt deren Erfassung in ihrer eigenständigen Gestalt voraus. Die vorliegende Studie versteht sich daher als eine unerläßliche Vorarbeit für jede gerechte Würdigung der gegenwärtigen Bedeutung Schleiennachers für die Gottesdiensttheorie. Um diese Aufgabenstellung übersichtlich - und das heißt nicht zuletzt: in einem akzeptablen Umfang - bearbeiten zu können, sind verschiedene Eingrenzungen notwendig. Es soll hier Schleiermachers Gottesdiensttheorie als theologische Theorie rekonstruiert werden. In den Blick gefaßt werden also vornehmlich Einlassungen Schleiermachers zum Thema, die im Zusammenhang seiner akademischen Lehrtätigkeit stehen. Als besonders mißlich empfindet es der Verfasser, nicht auf Schleiermachers eigene Gottesdienstpraxis eingehen zu können. Eine entsprechende Studie ist nicht nur zur Veranschauüchung der Theorie dringend erforderlich16, sondern vor allem um den Nachweis zu fuhren, daß Schleiermachers Gottesdiensttheorie in der Lage ist, Praxis zu orientieren - auch und gerade im nichtakademischen Milieu17. Die vorliegende Arbeit beansprucht nicht, Schleiermachers Gottesdiensttheorie abschließend zu behandeln und all ihre Teilbereiche einer letztgültigen Klärung zuzuführen. Ganz im Gegenteil will sie nur am Beispiel der Gottesdiensttheorie den Anstoß geben zu einer neuen Beschäftigung mit Schleiermachers theologischer Theoriebildung, indem sie einen in seiner materialen Bedeutung bisher erstaunlich wenig beachteten Zugang zu derselben aufzeigt: den enzyklopädischen Zugang18. Es soll der Blick gelenkt werden auf den enromantischen Epoche die Feststellung von direkten Abhängigkeitsverhältnissen. Das gilt auch für die Schleiermacherforschung!" (H. Scholz, Christentum und Wissenschaft, 62 [Anm.l]). Ähnlich bereits Christoph von Sigwart, Schleiermacher's Erkenntnißtheorie, 8f. Eine tiefere Beschäftigung mit anderen Systemen, um mehr als deren äußerliche Ähnlichkeit mit dem Schleiermacherschen aufweisen zu können, sprengte aber den Rahmen der vorliegenden Arbeit. - Einen Überblick ideengeschichtlicher Einordnungsversuche in der bisherigen Sekundärliteratur gibt Ulrich Barth, Christentum und Selbstbewußtsein, 21ff. Vgl. auch den Forschungsüberblick bei Erich Schrofner, Theologie als positive Wissenschaft, 15-57. 16 Zu Schleiermachers pfarramtlicher Tätigkeit an der Dreifaltigkeitskirche in Berlin vgl. jetzt: Andreas Reich, Friedrich Schleiermacher als Pfarrer. Vgl. auch Christoph Albrecht, Schleiermachers Liturgik, 117ff (Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch von 1829). 136ff (Schleiermacher und der Kampf um die Agendenreform unter Friedrich Wilhelm III); Wolfgang Virmond, Liederblätter - ein unbekanntes Periodikum Schleiermachers. 17 Schleiermachers Theorie entstand entgegen landläufigen Vorurteilen nicht als Theorie eines speziell für Akademiker eingerichteten Gottesdienstes. Seine prägenden Erfahrungen als ausübender Liturg machte er in Stolpe - vgl. vor diesem Hintergrund etwa die Äußerungen Schleiermachers in seinen Gutachten: KSP II, 78f - und davor am Charite-Krankenhaus in Berlin - vgl. dazu Kurt Nowak: Schleiermacher als Prediger am Charite-Krankenhaus in Berlin (1796-1802). Beides Adressen, die von sublimem Ästhetizismus nicht erreicht worden wären. 18 Vgl. die Überlegung, die Walter Birnbaum seiner „enzyklopädischen Studie zur praktischen Theologie" zugrundelegt: „Man betrachte die theologischen Auffassungen eines

Einleitung

5

zyklopädischen Rahmen von Schleiermachers Gottesdiensttheorie. Aus dieser Problemstellung ergibt sich, daß in der vorliegenden Arbeit eine Fülle von theologischen Detailfragen unberücksichtigt bleiben müssen, um die sich die Schleiermacher-Forschung schon lange bemüht. Es wird nun nicht behauptet, diese Bemühungen würden in der vorliegenden Arbeit überboten oder gar als obsolet aufgewiesen. Vielmehr wird nur der Versuch unternommen, eine Perspektive zu eröffnen, in welcher diese vielfaltigen Detailfragen und die ihnen gewidmeten Arbeiten der Schleiermacher-Forschung - und zwar nicht nur im Blick auf die Gottesdiensttheorie - einander sinnvoll ergänzen und einander befruchtend zuarbeiten könnten. Der Ansatz dieser vorliegenden Arbeit ist also ein anderer als der in der traditionellen Literatur zu Schleiermachers Theologie bisher verfolgte. Das gilt sowohl im Blick auf die Arbeiten zu den einschlägigen Problemen von Schleiermachers theologischer Theoriebildung als auch bezüglich den meisten Untersuchungen, die sich speziell mit Schleiermachers Gottesdiensttheorie befassen. Aufgrund dieser von den bisherigen Arbeiten der Schleiermacherforschung unterschiedenen Ebene des Frageansatzes legt es sich nahe, auf eine explizite Auseinandersetzung sogar mit klassischen Arbeiten im Rahmen der vorliegenden Untersuchung zu verzichten. Eine solche Auseinandersetzung ist sinnvoll und wünschenswert, nachdem das Ziel dieser vorliegenden Arbeit - die Entfaltung des enzyklopädischen Rahmens von Schleiermachers Gottesdiensttheorie - erreicht ist. Einzige Ausnahme sind hierbei einige Arbeiten von Wilhelm

Autors vom Ganzen her als Ausdruck, Äußerung einer geschlossenen Einheit, füge also nicht Einzelheiten zu einem Ganzen zusammen, sondern umgekehrt fasse man vom Ganzen aus die Einzelheiten" (Walter Birnbaum, Theologische Wandlungen, 4). Vgl. Erich Schrofner, Theologie als positive Wissenschaft, 60f. - Auch Rainer Volp, Liturgik, Bd.2, 797ff., entfaltet seine Darstellung von Schleiermachers Gottesdiensttheorie vor dem Hintergrund von dessen enzyklopädischer Zusammenschau der theologischen Disziplinen. Dabei weicht Volp allerdings programmatisch von Schleiermachers eigenem Aufriß der theologischen Enzyklopädie ab, indem er die Historische Theologie der Philosophischen Theologie - entgegen Schleiermachers erklärtem Willen - voranstellt (a.a.O., 798). Die Durchsichtigkeit der Darstellung von Schleiermachers Gottesdiensttheorie als eines enzyklopädischen Unternehmens leidet bei Volp auch darunter, daß eine Reihe von nichttheologischen Schriften Schleiermachers (Reden, Monologen, Weihnachtsfeier u.a.) in die Darstellung der theologischen Gottesdiensttheorie einbezogen werden, ohne hinsichtlich ihrer enzyklopädischen Funktion gewürdigt werden zu können Die Berücksichtigung dieser Texte wird zweifellos immer einen beträchtlichen Zugewinn für das Verständnis von Schleiermachers Theologie - auch und gerade seiner theologischen Gottesdiensttheorie - bedeuten. Allerdings nur unter der Voraussetzung, daß ihr jeweiliger Gehalt in seiner Theologizität, d.h. in seiner enzyklopädischen Funktion im Gesamt der theologischen Theoriebildung erschlossen ist. - Ein Beispiel für die fruchtbare Einbringung unterschiedlicher Textgattungen zur Rekonstruktion von Schleiermachers früher Theologie hat Christoph Meier-Dörken geliefert (Die Theologie der frühen Predigten Schleiermachers, bes. 264ff.266ff). Hierbei wird allerdings Schleiermachers Theologie zu einem Zeitpunkt rekonstruiert, als sie sich noch nicht enzyklopädisch verstand.

6

Einleitung

Grab, die wenigstens in etwa einen vergleichbaren Zugang zu Schleiermachers theologischer Theoriebildung suchen19. Unverzichtbar ist es allerdings bei einem neuen Zugriff auf die theologische Arbeit Schleiermachers, diesen selbst ausführlich zu Wort kommen zu lassen. Dabei lassen sich auch längere Zitate nicht vermeiden, da ein Referat der Schleiermacherschen Position gerade bei grundlegenden Fragen doch immer wieder an Schleiermachers eigenen Worten zu messen wäre. Aus diesem Grunde sind auch die Anmerkungen mit umfangreichen Zitationen angefüllt, wobei häufig sogar mehrere Textbelege zu ein und demselben Problemkreis wörtlich angeführt werden. Ob und inwiefern es dadurch gelingt, der Gefahr einer jeden Rekonstruktion zu entgehen, unter der Hand zu einer völlig neuen Konstruktion zu werden, muß jede Leserin und jeder Leser selbst entscheiden.

19 Vgl. vor allem W. Grabs Arbeit „Predigt als Mitteilung des Glaubens", sowie den Aufsatz „Kirche als Gestaltungsaufgabe". - Für die freundliche Bereitschaft von Herrn Prof. Dr. Wilhelm Grab, mir im Herbst 1992 einen Vormittag zur Diskussion des Ansatzes meiner Arbeit zu widmen, danke ich auch an dieser Stelle nochmals recht herzlich.

I. Teil

Der Ausdruck „Gottesdiensttheorie", seine Implikate und deren Entfaltung Der erste Hauptteil der vorliegenden Studie widmet sich der Entfaltung der Implikate des Ausdruckes „Gottesdiensttheorie". Soll Schleiermachers Gottesdiensttheorie rekonstruiert werden, so ist zunächst zu fragen, was denn genau im Sinne Schleiermachers die Beschäftigung mit dem Thema Gottesdienst - aber auch jedem anderen Aspekt des christlichen Lebens - zu einer theologischen Theoriebildung macht? Diese Frage behandelt der erste Paragraph dieser Arbeit (§1). Nachdem so gezeigt wurde, welche Leistungen eine jede theologische Theoriebildung formal zu erbringen hat, ist in einem zweiten Paragraphen der Gegenstand der Gottesdiensttheorie vorläufig zu bestimmen. Wenn auch die umfassend konkrete Bestimmung dessen, was Gottesdienst ist, sich erst im Durchlaufen seiner Theorie zeigt, so muß doch in irgendeiner Weise das „Was" dieser Theorie so weit fixiert sein, daß es überhaupt zum Gegenstand theologischer Erfassung werden kann (§2).

§ l Der enzyklopädische Rahmen der theologischen Gottesdiensttheorie 1. Das Theologieverständnis Schleiermachers als Rekonstruktions- und Interpretationsrahmen seiner Gottesdiensttheorie Jede Rekonstruktion von Schleiermachers Gottesdiensttheorie muß einen eigentümlichen Sachverhalt zunächst wahrnehmen und dann auch hinsichtlich seiner Bedeutung sachgemäß erklären: Schleiermacher hat das Thema Gottesdienst an mehr als einer Stelle seines theologischen Werkes ausführlich behandelt. So widmet er ihm bekanntlich breite Ausführungen sowohl in der „Christlichen Sitte" als auch in der ,JPraktischen Theologie". Diese Beobachtung ist unterschiedlich deutbar: Entweder handelt es sich um schlichte Doubletten - es wird also an den verschiedenen Stellen immer wieder das Gleiche gesagt -, oder die einzelnen Stellen tragen sachlich Verschiedenes zur Gottesdiensttheorie bei - sie ergänzen sich also gegenseitig, und Schleiermachers Gottesdiensttheorie ist erst in ihrer Zusammenschau ganz erfaßt. Die erste Möglichkeit muß jeder, der Schleiermacher auch nur oberflächlich kennt, sofort verwerfen: Die Aussagen der „Praktischen Theologie" und der „Christlichen Sitte" sagen nicht schlicht dasselbe zur Gottesdiensttheorie, sondern erfassen diese Aufgabe aus einer jeweils spezifischen Perspektive. Und es ist nicht willkürlich, welche Perspektive von der „Praktischen Theologie" und den anderen theologischen und außertheologischen Disziplinen eingenommen wird. Dies beweisen Schleiermachers vielfältigen Querverweise'. Querverweise zwischen Praktischer Theologie und Christlicher Sittenlehre bzw Dogmatik finden sich etwa: PrTh, 76.187.204.332.336.339.343.352.; CS, Beil.A, 29 [§88]; Beil.B, 150 [§15]; CS, 395.537.544.555f.589 [1824/25]. Hinweise zur binnentheologischen Interdisziplinarität überhaupt als konstitutivem Moment theologischer Theoriebildung finden sich etwa: PrTh, 332; CS, 32.87.88f.96.98f.100.148f.165.166.194.312. 331.368.383.395.400.402.403.429f.735.792; GL2 Bd.I. 79.124f.153.160.161.162.178. 306.312.324f.407; Bd.II. 19.78.127.142.196f.206.212.238.242.251.269.276f.282.295. 301f.314.334.348.359.413.420.428.457; PrTh, 76.170.186; KG, 23.627. Hinweise zu einer externen Interdisziplinarität gibt Schleiermacher unter anderem an folgenden Stellen: PrTh, 24.77.127.128.168.201.328.334.452.455.581.659ff.663.687.713.733.735. 737.786.789.838; GL2 Bd.I. 72.82.155f.159f.179.180.189.194.229.253.256f.445; Bd.II. 117.214.301f.295.411f.452; CS, 112.220.402.403.429flF.452.545; ThES, 30.201f.203. 215f.216f. u.ö.; KD2 §213.§226.u.ö.

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Der enzyklopädische Rahmen der Gottesdiensttheorie

Für die Rekonstruktion von Schleiermachers Gottesdiensttheorie folgt daraus: Schleiermachers Gottesdiensttheorie ist jedenfalls dann als theologische Theorie nicht vollständig erfaßt, wenn man sie reduziert auf die Aussagen der „Christlichen Sitte", der „Praktischen Theologie" oder irgend einer anderen theologischen Teildisziplin2. Die Wahrnehmung, daß sich Schleiermachers Aussagen zum Gottesdienst gegenseitig ergänzen und erst zusammen als seine Gottesdiensttheorie angesprochen werden dürfen, fuhrt auf weitere Überlegungen: Die bloße Addition der verschiedenen vorliegenden Aussagen gewährleistet noch nicht, daß ihre Summe die vollständige Gottesdiensttheorie präsentiert. Die bloße Addition der verschiedenen Aussagen sagt auch noch nichts darüber aus, wie sich die verschiedenen Aussagezusammenhänge denn genau zueinander verhalten. Stehen sie alle auf einer Stufe, oder besteht zwischen ihnen ein näher zu bestimmendes Argumentationsgefalle? Beide Fragen lassen sich erst beantworten, wenn der Sachzusammenhang der diversen Aussagen untereinander systematisch bestimmt ist. Insofern die Gottesdiensttheorie als theologische Theoriebildung gewürdigt werden soll, ist der Rekurs auf Schleiermachers Auffassung vom Wesen theologischer Theoriebildung notwendig. Erst dieser Rekurs gestattet eine Entscheidung darüber, wann im Sinne Schleiermachers eine theologische Theorie als vollständig anzusehen ist und wie sich ihre Aussagen zueinander verhalten. Das gilt auch für die Rekonstruktion von Schleiermachers Gottesdiensttheorie. Schleiermacher hat seine Auffassung vom Wesen der theologischen Theoriebildung in seiner „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums" vorgetragen3. Grundlegend für alles weitere ist die Charakterisierung der Theologie Allein schon deshalb disqualifiziert sich jede ausschließlich vom Aspekt des darstellenden Handelns dominierte Präsentation der Schleiermacherschen Gottesdiensttheorie als abstrakt. Die zwei Auflagen dieser Schrift von 1811 und 1830 faßte Heinrich Scholz 1910 in einer kritischen Ausgabe zusammen. Die Vorrede von Scholz ist immer noch lesenswert trotz der berechtigten Kritik von Hermann Süskind, Christentum und Geschichte bei Schleiermacher, 48 [Anm. 1], und Matthias Riemer, Bildung und Christentum, 345 (Anm.214).347 (Anm.225). Vgl. auch: K. Dunkmann, Die theologische Prinzipienlehre Schleiermachers. (In diesem Werk findet sich auch ein Vergleich der beiden Auflagen der „Kurzen Darstellung": a.a.O., 48-62.) H.-J. Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung" als theologisches Reformprogramm; Ders., Theologie und Philosophie. Einführung in Probleme der Schleiermacher-Interpretation; M. Riemer, a.a.O., 237ff. Die KD beschränkt sich auf knappe Leitsätze - 1830 um sparsame Erläuterungen ergänzt -, die von Schleiermacher in der Vorlesung entfaltet wurden. Walter Sachs hat vor kurzem die Nachschrift einer solchen Vorlesung von David Friedrich Strauß im Schleiermacher-Archiv veröffentlicht (im folgenden als ThES zitiert). Vgl. auch: Hermann Peiter, Heterodoxe Bemerkungen zur Befreiung Schleiermachers aus seiner liberalen Wirkungsgeschichte. Zu Schleiermachers einschlägigen Vorlesungen vgl. auch: Carl Clemen, Schleiermachers Vorlesung über theologische Enzyklopädie. - Ein Überblick über die Wirkungsgeschichte der „Kurzen Darstellung" in der Theologie des 19.Jahrhunderts findet sich in: A. Eckert, Einführung, 23-51. Vgl. auch den Überblick

Das Theologieverständnis Schleiermachers

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als „positive Wissenschaft" im Paragraphen § l dieser Schrift4. Eine positive Wissenschaft ist „ein solcher Inbegriff wissenschaftlicher Elemente, welche ihre Zusammengehörigkeit nicht haben, als ob sie einen vermöge der Idee der Wissenschaft notwendigen Bestandteil der wissenschaftlichen Organisation bildeten, sondern nur, sofern sie zur Lösung einer praktischen Aufgabe erforderlich sind"5. Die positive - also vorgegebene, vor-"gesetzte" - Aufgabe der Theologie ist „die Erhaltung des christlichen Glaubens in der Gemeinschaft"*. Es geht in der Theologie nicht primär um die beschreibende Erfassung, „Darstellung", der christlichen Gemeinschaft, sondern um deren immer wieder neue „Hervorbringung"7. Mit dieser Aufgabenstellung wird aber sofort der Titel „Theologie" für diese Bemühungen problematisch: „Ist nun die practische Aufgabe der Theologie Alles, was in Beziehung auf die christliche Kirche geschehen soll, - ist dann der Name Theologie passend? Wenn die den Staat zum Zwekke habenden Wissenschaften Staatswissenschaften heißen, so sollten genauer die theologischen Wissenschaften kirchliche Wissenschaften genannt werden. Aus dem Namen Theologie läßt sich nicht entwickeln, was sie ist, er hat viele Verirrung angerichtet"8.

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über die zeitgenössischen Entwürfe christlich theologischer Enzyklopädik in Ferd. Friedr. Zyro, Versuch einer Revision der christlich theologischen Enzyklopädik, 691 ff.:, die „enzyklopädische Studie zur praktischen Theologie" von Walter Birnbaum, Theologische Wandlungen (Vgl. hierzu die polemische Rezension von Rudolf Bohren, Praktische Theologie im Mondschein der Spätromantik); sowie Werner Jetter, Populäre oder elementare Theologie?. - Eine allgemeine Studie zur Sprach- und Bedeutungsgeschichte des Begriffes „Enzyklopädie" hat J. Henningsen vorgelegt: Enzyklopädie. Gert Hummel hat für die TRE, Bd. 9 einen Artikel „Enzyklopädie, theologisch" verfaßt. Vgl. Erich Schrofner, Theologie als positive Wissenschaft (bes. 66ff.); Volker Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie, Bd.I [=Text] 156ff [=Abschnitt 4.2., Praktische Theologie und die Qualifikation der Theologie zur „positiven" Wissenschaft], Bd.II [=Anmerkungen], 153ff. KD2 § l. - Den kirchlichen Charakter von Schleiermachers Theologieprogramm hat besonders Hermann Süskind prägnant herausgearbeitet: Christentum und Geschichte bei Schleiermacher, 34ff. Vgl. auch Erich Schrofner, Theologie als positive Wissenschaft (bes. 60-78). ThES, 1. Ebd.; vgl. KG, 1.626. CS, 16, heißt es: „Hier [im Bereich der theologischen Wissenschaften; R. S.] sehen wir also das wissenschaftliche nicht rein für sich aus dem wissenschaftlichen Streben, sondern aus dem unwissenschaftlichen [Streben; R.S.] sich entwikkeln, und das dominirende Motiv ist die Verbreitung des Christenthums". ThES, If. Die Theologie beschäftigt sich auch nicht mit Christus als solchem, sondern mit dessen Wirksamkeit auf die und in der Kirche: „das einzige was uns auf alle Weise interessiert, ist nur dieses daß wir die Wirksamkeit Christi so viel als möglich bis in ihre ersten Anfänge möchten zurükkverfolgen können" (LJ, 136). - Gelegentlich der Frage „Wie unterscheiden wir nun die scholastische Theologie und Philosophie?" (KG, 470) antwortet Schleiermacher: „Vorläufig nehmen wir zur Theologie das, was aufs kirchliche zurükkgeht, zur Philosophie, wo das nicht der Fall ist, wenn die Gegenstände auch noch so theologisch sind" (ebd.). Vgl. Mariin E. Miller, Der Übergang, 228.

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Der enzyklopädische Rahmen der Gottesdiensttheorie

Die Theologie setzt das Bestehen frommer Gemeinschaften immer schon voraus*. Sie ist notwendig etwas Sekundäres, aber etwas als Sekundäres Notwendiges, vom christlichen Glauben selbst Gefordertes10. Wieso und inwiefern? Frömmigkeit ist immer schon - wie jeder Wesenszug des Menschen - auf ihre gemeinschaftliche Wahrnehmung hin angelegt1'. Sie wirkt notwendig gemeinschaftsbildend. Nun ist nach Schleiermacher der Begriff einer Gemeinschaft der „einer Gesammtheit von Einzelnen, welche in einem Bewußtseyn der Ähnlichkeit in einem bestimmten Punkt (hier Glauben) sich verbunden finden, und sich zugleich in einem Zustand der Mittheilung befinden"12. Von einer Gemeinschaft kann nur gesprochen werden, wo ein gemeinschaftlicher Bezugspunkt gegeben ist13 und wo der gemeinschaftliche Bezug auf diesen Punkt Gegenstand gegenseitiger Mitteilung ist und also ein gemeinschaftliches Leben begründet14. In kleinen Gemeinschaften ist sowohl die Vergewisserung über die Identität der gemeinschaftlichen Bezugnahme als auch die Verständlichkeit der gegenseitigen Mitteilungen relativ unproblematisch und durch die gemeinsamen Sozialisationserfahrungen gewährleistet15. Beides wird entscheidend erschwert, je umfangreicher und komplexer die Gemeinschaften werden. Dann versteht es sich nicht mehr von selbst, was genau denn die einheitsstiftende Instanz der Gemeinschaft ist, und es ist sehr wohl möglich, daß hierüber konkurrierende und miteinander unverträgliche Annahmen bestehen. Und es versteht sich ebenfalls nicht mehr von selbst, daß auch angesichts der unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen ohne weiteres eine gemeinsame Ebene des gegenseitigen Austausches gegeben ist16. Soll in dieser Situation weiterhin das ursprüngliche, die Gemeinschaft konstituierende Interesse an einer bestimmten Sache die Gemeinschaft vereinen und nicht die willkürlichen Entscheidungen Einzelner, so muß die Sache in ihrem geschichtlichen Gegebensein in den Blick gefaßt werden. Und sollen die 9 10 11 12 13

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Vgl. auch: ThES, 27f.32. PrTh, 7: „Die theologischen Wissenschaften sind nur solche in Beziehung auf die Kirche und können nur aus dieser verstanden werden". Vgl. auch Schleiermachers Verständnis dogmatischer Sätze: GL2 §16. Vgl. GL §6; ThES, 2. ThES, 3. Eine Fan-Gemeinde eint die Bewunderung ihres Idols; einen Sportverein eint das gemeinsame Interesse an einem Sport mit gewissen mehr oder weniger explizierten und gemeinsam anerkannten Regeln; eine Religionsgemeinschaft eint die gemeinsame Orientierung durch eine bestimmte im Frömmigkeitsgefühl enthaltene Selbst-, Welt- und Gottesgewißheit. Eine Fan-Gemeinde lebt im Austausch von Neuigkeiten über ihr Idol und im gemeinsamen Genuß von dessen Leistungen; ein Sportverein lebt in der gemeinschaftlichen Ausübung eines Sports (aktive Mitglieder) oder der Bereitstellung der dazu nötigen Mittel (passive Mitglieder); eine Religionsgemeinschaft lebt in der gemeinschaftlichen Frömmigkeitspraxis. KD2 §2; ThES, 9. Vgl. CS, 398ff; KG, 600; PrTh, 529f.

Das Theologieverständnis Schleiermachers

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legitimen je individuellen Interessen der Mitglieder an einer ihren jeweiligen Lebensumständen gemäßen Mitteilung und Artikulation des gemeinsamen Interesses gewahrt werden, so bedarf es der Konzentration auf die geschichtlichen Lebensumstände der Mitglieder in all ihrer Vielfalt. Komplexe Gemeinschaften sind folglich als wirkliche Gemeinschaften nur lebensfähig bei Gegebensein von geschichtlichem Bewußtsem. Dieses leitet und orientiert die Gemeinschaften. Nun ist es nach Schleiermacher aber so, daß nicht alle Mitglieder in gleicher Weise über das zur Leitung befähigende geschichtliche Bewußtsein verfügen17. Damit können auch nicht alle Mitglieder in gleicher Weise an der Leitung der Gemeinschaft beteiligt werden, sondern nur wenige18. All dieses gilt auch von der Leitung der christlichen Gemeinschaft: „Die Kirchenleitung ist also die Thätigkeit der Wenigen, welche im Besiz des geschichtlichen Bewußtseyns sind, um die Identität und die Mittheilung des Glaubens zu erhalten"19. Die Theologie hat nun die Aufgabe, diesem geschichtlichen Bewußtsein auf wissenschaftlicher Grundlage zuzuarbeiten. Sie ist das kirchliche Institut, „diejenigen wissenschaftlichen Kenntnisse mitzutheilen, die nicht jeder Christ als solcher schon hat"20 und auf die eine komplexe kirchliche Gemeinschaft nicht verzichten kann: „Die christliche Theologie ist sonach der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d.h. ein christliches Kirchenregiment, nicht möglich ist"21. Da die christliche Frömmigkeit ab ovo - nämlich von ihrem Stifter her daraufhin angelegt ist, sich nicht nur im Kreise der christlichen Familie zu artikulieren, sondern sich über die ganze Menschheit zu verbreiten und gestaltend wirksam zu werden - und zwar als Kirche -, ist die christliche Frömmigkeit mimer schon daraufhin angelegt, sich eine Theologie anzubilden. Diese ist also zwar etwas Sekundäres, aber eben als Sekundäres etwas Notwendiges22. 17 ThES, 3. 18 Ebd. Zum Gegensatz von Klerus und Laien bei Schleiermacher vgl. die glänzende Dissertation von Wolfgang Steck, Grund und Grenze des Amtes in der Evangelischen Kirche. 19 ThES, 3; vgl. PrTh, 529f.680. 20 CS, 401 [Vorl. 1824/25]; vgl. PrTh, 559. 21 KD2 §5; vgl. ThES, 8ff.; PrTh, 17. - Vgl. Eberhard Jüngel, Was ist die theologische Aufgabe evangelischer Kirchenleitung?; Trutz Rendtorff/Eduard Lohse, Kirchenleitung und wissenschaftliche Theologie; Martin Fischer, Theologie und Kirchenleitung. Zum derzeitigen Diskussionsstand hinsichtlich der Grundsätze für die theologische Theoriebildung und Ausbildung vgl. auch: Grundlagen der theologischen Ausbildung und Fortbildung im Gespräch. 22 Schleiermachers Feststellung, KD2 §5.Erläuterung, der christliche Glaube an und für sich bedürfe des theologischen Apparates nicht (vgl. auch PrTh, 778: „Das Christenthum sezt keine Wissenschaft voraus, ist den Unmündigen offenbart und ein gleichma-

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Der enzyklopädische Rahmen der Gottesdiensttheorie

Und obwohl die Theologie etwas Notwendiges ist, wird sie doch nicht jedem Christen zugemutet, da sie bestimmte intellektuelle Talente erfordert, über die nicht jeder Christ als solcher verfügt und über die nicht zu verfugen auch kein Schade ist, da die Theologie eben doch etwas Sekundäres ist23. Die Professionalisierung der Kirchenleitung, an der mitzuwirken jeder Christ immer aufgerufen und berechtigt ist24, in Form eines Kirchenregimentes, an dem teilzunehmen abhängig ist von bestimmten nachzuweisenden Qualifikationen, die nicht jedem Christen erschwinglich sind, ist aber nur erträglich unter bestimmten Bedingungen: Das professionelle, durch die Theologie belehrte, Kirchenregiment hat die Aufgabe, den gegenseitigen Einfluß der Kirchenmitglieder aufeinander - deren kirchenleitende Tätigkeit25 - so zu regulieren, daß vorkommende entgegengesetzte Tendenzen aufgehoben und in eine zusammenstimmende Kirchenleitung aller - sowohl derer im Kirchenregiment als auch aller übrigen - überfuhrt werden26 . Das Kirchenregiment ist die Repräsentation des allen Christen gemeinsamen Interesses, das in Christo Gesetzte in der Kirche zu realisieren27. Faktisch existiert immer ein solches den Gesamtwillen repräsentierendes Organ, aber es kommt darauf an, es ausdrücklich zu institutionalisieren und somit einer gemeinschaftlichen Kontrolle zugänglich zu machen. „Denken wir aber die Gemeinde ganz ohne einen solchen sie repräsentirenden Ausschuß: so wird dann ein wiederherstellendes Handeln [ein die Gemeinschaftsaktivitäten auf Kurs haltendes und gegebenenfalls wieder auf Kurs bringendes Handeln; R. S.] nur von einzelnen zerstreuten Punkten ausgehen können, die indeß, sobald sie sich gegenseitig erkennen, auch zusammenwirken und sich gegenseitig unterstüzen werden, so daß sie der That nach doch der leitende Ausschuß werden, wenngleich sie es der Form nach nicht sind"28. Ein solcher öffentlich eingesetzter Ausschuß ist dann aber stets daraufhin zu überprüfen, ob er aus

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chendes Princip"), darf also nicht so mißverstanden werden, als ginge Schleiermacher davon aus, das geschichtliche Auftreten der Theologie sei etwas kontingentes und es könne sie auch nicht geben. In diesem Sinne müßte dann etwa die Darstellung von Wilhelm Grab ergänzt werden: W.Gräb, Kirche als Gestaltungsaufgabe, 156f. Vgl. Wilhelm Grabs Kritik (Kirche als Gestaltungsaufgabe, 165 [Anm.23]) an Henning Luthers Schleiermacher-Rezeption („Praktische Theologie als Kunst für alle") Vgl. auch Schleiermacher selbst PrTh, 786: „Auch wo die Laien im Kirchenregiment sind, bedarf doch nur der Klerus der praktischen Theologie". ThES, 8. Schleiermacher verwendet die Ausdrücke Kirchenregiment und Kirchenleitung häufig promiscue, obwohl genaugenommen das Kirchenregiment die zusammenstimmende Kirchenleitung aufgrund von einsichtigem Handeln meint, während Kirchenleitung jedes Handeln im Rahmen der Kirche ist - so widersprüchlich es auch sein mag (ThES, 8). Aus dem Zusammenhang läßt sich aber doch stets das Gemeinte identifizieren. Ich verfahre im weiteren ebenso und unterscheide die Begrifflichkeit nicht streng. ThES, 8. ThES, 8f. Vgl. etwa: CS, 122ff. CS, 127.

Das Theologieverständnis Schleiermachers

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qualifizierten Personen zusammengesetzt ist29. Besteht die begründete Vermutung, daß dies nicht der Fall ist, hat jeder Christ die Pflicht, öffentlich Kritik zu üben. Die protestantische Kirche macht daher notwendig die Voraussetzung uneingeschränkter Öffentlichkeit30, „und wir können nur für recht halten, daß jeder einzelne sich aus einer Kirche flüchte, in welcher das Princip der Oeffentlichkeit durchaus gehemmt ist, weil in einer solchen, da kein Mittel mehr sein könnte, rükkschreitende Bewegungen aufzuheben, alle Irrthümer permanent wären"31. Das professionalisierte Kirchenregiment ist also hinsichtlich seiner sittlichen Legitimität davon abhängig, daß es wirklich von der Gesamtheit als Repräsentant des gemeinsamen Willens anerkannt ist und daß die Gesamtheit darauf vertrauen darf, daß ihre professionellen Repräsentanten über die nötigen Talente - die nötige Professionalität verfügen, um diesen gemeinsamen Willen zu realisieren. „Ist nur der Stand der Wissenden und das Kirchenregiment richtig organisirt: so wird überhaupt von dieser Seite ein verkehrter Versuch [die christliche Kirche in die Irre zu fuhren; R.S.] nicht leicht Raum gewinnen können"32. Mit diesen Überlegungen ist zugleich die Argumentation vorbereitet zur Unterscheidung der Theologie von einer das Christentum zum Gegenstande habenden und ihm distanziert gegenüber stehenden Religionswissenschaft: Die christliche Frömmigkeit ist - wie eine jede andere Frömmigkeit auch - immer schon daraufhin angelegt, sich in immer umfangreichere und komplexere Gemeinschaften zu entfalten. Damit ist sie zugleich immer schon daraufhin angelegt, eine den damit gegebenen Aufgaben der Steuerung der gemeinschaftlichen Aktivitäten angemessene Organisationsstruktur inklusive eines professionalisierten Kirchenregimentes zu entwickeln33. Die professionelle Wahr29 Ebd. 30 CS, 188; vgl. a.a.O., 187.189.216.396f.434.u.ö; ThES, 212f. 31 CS, 188. 32 CS, 203. Vgl. PrTh, 653f. - Daß Schleiermacher einen Idealzustand beschreibt, war ihm selbst sehr wohl bewußt (vgl. KSP II, 119), aber es geht an dieser Stelle um einen theoretischen Leitbegriff kirchlicher Organisation. Vgl. H. Scholz, Einleitung, XXVHIf.; Erich Schrofner, Theologie als positive Wissenschaft, 78ff. 33 CS, 128: „Wenn sich also in einer Gemeinschaft keine Organisation zeigt: so ist ein reinigendes Handeln nothwendig". A.a.O., 160: „Nun gehört es, wie wir gesehen haben, zum vollkommenen Zustande der Gemeinde, daß die Einwirkung des ganzen auf die einzelnen organisirt sei; es ist also ganz der sittlichen Entwikkelung der Kirche gemäß, daß sich aus dem fließenden Gegensaze ein festerer gebildet hat, ein Gegensaz zwischen solchen, welche die Wirksamkeit des ganzen repräsentiren, und solchen, auf welche die Wirksamkeit sich richtet, ein Gegensaz zwischen Klerus und Laien". Vgl. a.a.O., 365f. Vgl. die Ausführungen Schleiermachers in seiner Praktischen Theologie, welche die Sicherheit der leitenden Tätigkeit in der Gemeinde und im Kirchenregiment von einer zuverlässig funktionierenden Organisation des Gemeindelebens wie des Verhältnisses zwischen Gemeinde und Kirchenregiment abhängig machen, z.B.: PrTh, 422.462.466. 481.483.521ff.657.724. Den Gegensatz zwischen Klerus und Laien weist bereits die Güterlehre der Philosophischen Ethik als Wesenszug einer jeden frommen Gemeinschaft als Kirche nach: PhE, 361. Der Klerus - das Kirchenregiment - muß allerdings

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Der enzyklopädische Rahmen der Gottesdiensttheorie

nehmung des gemeinschaftlichen Willens aller ist aber nur möglich bei Gegebensein einer auf diese Aufgaben bezogenen Elaboriertheit des geschichtlichen Bewußtseins. Die Theologie wird als die Institution zur Bereitstellung dieses Niveaus des geschichtlichen Bewußtseins verstanden. Vor dem Hintergrund dieses Praxisinteresses ist die Theologie als eine positive Wissenschaft verstanden und als solche strikt zu unterscheiden von jeder Art einer das Christentum distanziert zum Gegenstande habenden Religionswissenschaft: „Dieselben Kenntnisse, wenn sie ohne Beziehung auf das Kirchenreginient erworben und besessen werden, hören auf, theologische zu sein, und fallen jede der Wissenschaft anheim, der sie ihrem Inhalte nach angehören"34. Schleiermacher bestreitet nicht die Möglichkeit, das Recht und die Notwendigkeit einer aus der distanzierten - und somit nichttheologischen Außenperspektive erfolgenden Beschäftigung mit dem Faktum christliche Frömmigkeit. Frömmigkeit gehört zum Wesen des Personseins35, realisiert sich notwendig in vielfältiger geschichtlicher Gestalt36 und kann daher nur um den Preis der Abstraktheit aus der wissenschaftlichen Erfassung der conditio humana ausgespart werden. Die systematische Beschreibung von Frömmigkeit aus der Außenperspektive ist zum Beispiel die Aufgabe der Religionsphilosophie37 . Auch das Christentum kann und muß von außen beschreibbar sein, und zwar sachgemäß und vollständig beschreibbar. Es gibt keine zu beschreibenden Aspekte der christlichen Frömmigkeit, die nur der Theologie, nicht aber der allgemeinen Religionswissenschaft - oder welcher sich mit dem Christentum befassenden Wissenschaft auch immer - zugänglich wären. Die Theologie ist keine esoterische Wissenschaft38. Was sie von der Religionswissenschaft unterscheidet, ist nicht der Gegenstand, sondern das Interesse, das sie an diesem Gegenstand nimmt. Es ist also für Schleiermacher völlig ausgeschlossen, daß Theologie und Religionswissenschaft jemals als Disziplinen miteinander

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nicht notwendig professionalisiert sein auf der „Basis eines besonderen bürgerlichen Standes" (KD2 §13; vgl. ThES, 15). KD2 §6; vgl. ThES, 10. Vgl. GL2 §§3 ff. CS, 76 [Vorl. 1824/25]: „Stellen wir uns zunächst auf den Standpunkt der rationalen Sittenlehre: so ist deutlich, daß diese nicht umhin kann zu fordern, daß der Mensch einer Religionsgemeinschaft angehöre, und zwar so, daß er es vor der Vernunft zu rechtfertigen wisse. Erkennt sie aber die religiöse Gemeinschaft als sittlich an, so offenbar auch die derselben angemessene Darstellung des ganzen Lebens." Siehe auch:TnES,33; GL2 §6. ,,(...)die Gesamtheit aller durch die eigentümliche Verschiedenheit ihrer Basen voneinander gesonderten Kirchengemeinschaften nach ihren Verwandschaften und Abstufungen als ein geschlossenes den Begriff erschöpfendes Ganze darzustellen, wäre das Geschäft eines besonderen Zweiges der wissenschaftlichen Geschichtskunde, welche man ausschließend mit dem Namen Religionsphilosophie bezeichnen sollte" (GL2 §2.2, 1.13). - Vgl. Hermann Süskind, Christentum und Geschichte bei Schleiermacher, 55ff. PrTh, 713: „Betrachten wir aber das Wissenschaftliche in der Theologie für sich: so constituirt es nicht einmal ein besonderes Gebiet, sondern es ist das philosophische und philologische in seinem kritischen Charakter".

Die Entfaltung der theologischen Enzyklopädie

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darum konkurrieren könnten, wessen Darstellung des Christentums sachgemäßer und „objektiver" sei39. Hat der Religionswissenschaftler wichtige und neue Erkenntnisse über das Christentum zutage gefördert, wird der Theologe dies dankbar anerkennen - und sie zur Erhaltung und Fortentwicklung der christlichen Kirche gebrauchen40. Und wenn es denn stimmt, daß eine jede fromme Gemeinschaft ab einem gewissen Umfang und einer gewissen Komplexitätsstufe notwendig sich eine Theologie anbildet, die der sachgemäßen Wahrnehmung der Interessen dieser Gemeinschaft dient, dann wäre dem religionswissenschaftlichen Betrachter das Fehlen von Theologie ein sicheres Indiz für die Primitivität des beobachteten Frömmigkeitsphänomens4'.

2. Die Entfaltung der theologischen Enzyklopädie In dieser Grundorientierung der Theologie an der positiven Aufgabe der Erhaltung und Verbreitung der christlichen Frömmigkeit in der Kirche ist dann aber auch unmittelbar ihre Gestaltung und ihr Gehalt vorgegeben42. Sie muß über historische Kenntnisse verfügen und zum anderen diejenigen Kunstregeln, technischen Anweisungen, bereitstellen, die zum Hervorbringen des in ihr intendierten Werkes unverzichtbar sind43. Grundlegend für den Aufbau der

39 Vgl. etwa KD2 §193: „Das kirchliche Interesse und das wissenschaftliche können bei der Beschäftigung mit der Kirchengeschichte nicht in Widerspruch miteinander geraten". Vgl. auch ThES, 230ff. 40 Es ist nicht so, daß die Erkenntnisse der Religionswissenschaft prinzipiell „objektiv" seien, während die Lehren der Theologie prinzipiell unter Ideologieverdacht stünden. Etwaige Entgleisungen der Theologie haben denn auch sofort negative Auswirkungen auf die Gestaltung der christlich-kirchlichen Praxis zur Folge gehabt. Zum Verhältnis Kirche - Wissenschaft vgl. PrTh, 678ff. 41 Vgl. KG, 96 [Anm.]: „Hellenische Wissenschaft mußte unter die Christen kommen, wenn das Christenthum nicht sollte eine plebeje Religion bleiben und verkommen[...]Es entstand nun erst Theologie, d.h. wissenschaftliche Behandlung des Christenthums". Vgl. auch: KG, 126.127f. - Jenseits der Stufe der Primitivität ist die Entwicklung theologischer Kompetenz und deren Institutionalisierung Pflicht der christlichen Kirche. Die Vernachlässigung dieser Pflicht führt zu mangelhaften Resultaten: einer chaotischen Kirchenleitung. Als Beispiel führt Schleiermacher die kirchliche Situation in England an. ThES, 11.174. 42 Vgl. Erich Schrofner, Theologie als positive Wissenschaft, 70ff; Emanuel Hirsch, Geschichte Bd. V, 348ff. 43 ThES, 9: „Aus was für Elementen darf also die Theologie bestehen? Die wissenschaftlichen Kenntnisse müssen historisch seyn, was schon in dem Ausdruck Kenntniß liegt. Das andre Element muß technisch seyn, zu dem Hervorbringen eines Werkes gehören, und wir sehen hieraus schon im Allgemeinen die Gestaltung des theologischen Studiums".

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Der enzyklopädische Rahmen der Gottesdiensttheorie

Theologie ist die Verbindung von historischen Elementen, die ein Sein darstellen, und technischen Elementen, die ein Sein hervorbringen44.

2. l Die historisch-kritischen Disziplinen: Philosophische und Historische Theologie Das Sein, das durch die historischen Elemente der Theologie dargestellt werden soll, ist die kirchliche Gemeinschaft der evangelischen Christen. Dabei muß die historische Beschreibung zwei Aspekte abdecken, die sich aus Schleiermachers Frömmigkeitsbegriff ergeben. Der Ort der Frömmigkeit ist das Gefühl - das unmittelbare Selbstbewußtsein45 -, und alle Aussagen christlicher Lehre haben an diesem ihren Maßstab46. Zugleich realisiert sich die Frömmigkeit aber als geschichtliche Erscheinung nicht auf der Ebene des verborgenen Gefühls, sondern nur als leibhafte Ausgestaltung frommen Lebens: Sie muß sichtbare Kirche werden47. Und Frömmigkeit entzündet sich immer auch nur an dieser leibhaften Ausgestaltung frommen Lebens. Die vorbildliche - weil urbildliche - Ausgestaltung frommen Lebens wird in der Bibel anschaulich am Lebenszeugnis Jesu von Nazareth48. Daraus folgt für die historische Theologie: „Ehre Form ist also als Analyse des Selbstbewußtseins reflectiv und wegen des Rückganges auf Bibel und auf Thatsachen in der Kirche historisch"49. Die historische Seite der Theologie zerfallt also in „reflektive" Elemente und in historische Elemente im engeren Sinne50. Daß auch die „Reflektion" 44 Vgl. die resümierende Zusammenschau beider Aspekte bei Henning Luther, Schleiermachers Verständnis des Verhältnisses von Theorie und Praxis, 55: „Das Praxisinteresse der theoretischen Disziplinen (mithin auch der dogmatischen) ist das praktischhermeneutische Interesse an Verständigung; das Praxisinteresse der praktischen Theologie ist das praktische Interesse an verändernder Tätigkeit zur Fortschreitung und Vervollkommnung der Kirche. Das hermeneutische Interesse ist unmittelbar bezogen auf das praktisch-verändernde". 45 GL 2 §3 46 Vgl. etwa: CS, Beil.A, 6 (§17). 47 GL2 §6; CS, Beil.C, 168. Dies ist die Ursache dafür, daß Religionswissenschaft und Theologie prinzipiell gleichgestellt sind hinsichtlich der Art und Weise, wie ihnen die christliche Frömmigkeit gegeben ist. Und religionswissenschaftliche wie theologische Aussagen sind dann gleichermaßen darauf angewiesen, daß sich ihre Sachhaltigkeit am Orte des christlich-frommen Selbstbewußtseins bewährt. 48 Das ist der unaufgebbare Rechtsgrund aller „Bibelfrömmigkeit". 49 CS, Beil.C, 166. Vgl. ebd.: „Nothwendigkeit, die Darstellung des Einzelnen [= Analyse des Selbstbewußtseins; R.S.] durch etwas zu bewähren, damit sie nicht scheine von der Modification des christlichen Bewußtseins durch die Persönlichkeit ausgegangen zu sein". Vgl. auch: CS, Beil.C, 168; ThES, 6f. 50 Die theologischen Kenntnisse, die der Tätigkeit vorangehen, sondern sich in zwei Hälften: „nämlich die eigentlich geschichtlichen, und die die Principien für das geschichtliche enthalten. Alles was dazu gehört den Begriff der christlichen Kirche auf

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zur historischen Theologie zu rechnen ist, folgt notwendig aus Schleiermachers Theorie endlich-menschlicher Vemünftigkeit. Die geschichtlich gegebene conditio humana ist „die einzige hiesige Art zu sein der Vernunft"5'. Es ist nicht die zeitlose, sich immer selbst gleiche Vernunft, die sich selbst analysiert, sondern die Vernunft gibt es nur als die Gemeinschaft der geschichtlichen Selbstauslegung konkreter Individuen. Wissenschaftlich vorgebildet werden diese beiden historischen Elemente der Theologie in den geschichtlichen und ethischen Disziplinen der Profanwissenschaft52. In der „Kurzen Darstellung" treten diese beiden im weiteren Sinne historischen Elemente der Theologie als Philosophische und Historische Theologie auf53. Beide Disziplinen folgen dabei dem kritischen Verfahren, wie es Schleiermacher in einer Einleitung zur Philosophischen Ethik im Blick auf Sittenlehre und Geschichtskunde beschrieben hat: „Das untersuchende oder kritische [Verfahren; R. S.] ist die weltweisheitliche Beziehung des Beschaulichen und Erfahrungsmäßigen auf einander. Es liegt außer der realen Wissenschaft, es fehlt ihm an der Gemeingültigkeit und an der festen Gestaltung von dieser; denn es ist mimer in einem höheren Grade als die Darlegung eines realen Wissens das Werk des Eigentümlichsten in dem Menschen. Diese sittliche Kritik der Geschichte sollte daher immer außerhalb der Geschichtskunde sowol als außerhalb der Sittenlehre gehalten werden, weil sie als beigemischtes Element leicht beide verderben kann. Ihr

solche Weise festzustellen daß die geschichtlichen Momente können geschäzt werden, und die Frage, was das bessere sei, beantwortet, bildet die erste Klasse, die Kenntnisse welche die Principien enthalten. Deswegen nun weil sie diese enthalten und den eigentlich historischen in Beziehung auf Form und Inhalt entgegengesezt sind, und alles was Princip sein soll in das Gebiet der Philosophie gehört, habe ich diese in der Encyklopädie mit dem Namen der philosophischen Theologie belegt" (PrTh, 22). 51 SW HI/2, 473. 52 KD 2 §6;ThES, 10. 53 Bereits 1806 hat Schleiermacher in seiner Kirchengeschichtsvorlesung die historische Ansicht als das Ineinanderfügen empirischer und spekulativer Elemente beschrieben, wie sie von der zu beschreibenden „Sache" - der Geschichte - selbst gefordert werden: „Ihr Wesen ist das Aufgehen der Zeit in der Idee. Also in ihr aller Gegensaz zwischen Empirie und Speculation aufgehoben, und volle Beruhigung überall nur in der historischen Ansicht" (KG, 624).Vgl. ThES, 69 [Erläuterung zu KD2 §65]: „Unter historischer Anschauung ist aber nicht blos der pragmatische Zusammenhang, daher die causale Verbindung zu verstehen, sondern das Wesentliche ist der Entwicklungswerth der einzelnen Momente, d.h. wie sie sich verhalten zu dem richtig erkannten Wesen des Christenthums".Vgl. auch KG, 625: die historische Ansicht bewährt sich auch im Blick auf die Kirchengeschichte „als die Einheit zwischen Speculation und Empirie". - Schleiermachers Projekt einer Philosophischen Theologie ist mißverstanden, wenn man sie nicht in der angegebenen Weise als historische Disziplin interpretiert. Birkners Darstellung tendiert dazu, diesen Sachverhalt zu verdecken; vgl. „Theologie und Philosophie", 31f. Ebenso Erich Schrofner, Theologie als positive Wissenschaft, 80. - Zu Schleiermachers Geschichtsbegriffvgl. Hermann Süskind, Christentum und Geschichte bei Schleiermacher; W. Grab, Humanität und Christentumsgeschichte.

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Hauptgeschäft ist die Nachweisung der Bedeutung einzelner Theile der Geschichte in Bezug auf das Handeln der Vernunft überhaupt, das Bestreben das in der Erfahrung gegebene Sittliche zu begreifen, dem aber vorangehen muß ein anderes, welches im Gegebenen selbst unterscheidet von dem auf sittliche Weise Gewordenen das noch beigemischte Fürsichhandeln der Natur"54. Die Theologie ist hiernach eine historisch-kritische Wissenschaft, weil sie sich in der Kooperation von Philosophischer und Historischer Theologie auf das Christentum und dessen Umwelt als gegebenes historisches Phänomen richtet, um es in seinem geschichtlichen Gegebensein zu begreifen. Die Philosophische Theologie legt dabei in der „weltweisheitlichen Beziehung des Beschaulichen und Erfahrungsmäßigen auf einander" die Betonung auf das spekulativ-beschauliche Element und gibt so die Bestimmung des „Wesens des Christentums"55. Dagegen wendet sich die Historische Theologie mehr dem empirisch-erfahrungsmäßigen Element zu. Aus der Kombination von Philosophischer und Historischer Theologie und der von diesen mit unterschiedlichen Schwerpunkten vorgenommenen Kombination von spekulativen und empirischen Wissenselementen ergibt sich die sachgemäße Darstellung aller theologisch relevanten Kenntnisse im Blick auf das christliche Gesamtleben als eines geschichtlichen Phänomens. Die Darstellung aller Kenntnisse, über die die Theologie verfugen kann, muß notwendig in der Kombination dieser beiden Wissenselemente - Spekulation, Empirie - bestehen56.

54 PhE, 549f [§109], Vgl. PhE, 505f [§§92ff].252 [§§57f].253 [§64].365 [§231], DO, 378ff. - Vgl. Hermann Süskind, Christentum und Geschichte bei Schleiermacher, 59ff.69ff; Hans-Joachim Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 34ff. 55 KD2 §24. - Nach Emanuel Hirsch, Geschichte Bd. V, 320, hat Schleiermacher diesen Ausdruck von Spalding übernommen. Zuerst verwendet hat Schleiermacher diesen Ausdruck nach Hermann Mulert in seiner Neujahrspredigt von 1807 (Hermann Mulert, Wann kam der Ausdruck „Das Wesen des Christentums" auf?", 117). - Vgl. auch: Franz Courth, Das Wesen des Christentums in der Liberalen Theologie, 11-21.35-217. 56 Hermann Süskind, Christentum und Geschichte bei Schleiermacher, 71, hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß Schleiermacher in der zitierten Passage den Wert der kritischen Disziplinen in nicht nachvollziehbarer Weise herabmindert: „Von hier aus bleibt es unverständlich, warum die kritischen Disziplinen irgendwie an Objektivität ihrer Methode und Resultate hinter den realen Wissenschaften, der Ethik und Geschichte, sollten zurückstehen müssen. Ja noch mehr: viel eher müßte aus dem ganzen Ansatz Schleiermachers das umgekehrte Resultat gefolgert werden. Wenn Spekulation und Empirie ihre Wahrheit haben nur in ihrer wechselseitigen Beziehung aufeinander, und wenn es gerade das Wesen und die Aufgabe der „wissenschaftlichen Kritik" und also der kritischen Disziplinen ist, diese Beziehung herzustellen, so haben offenbar diese kritischen Disziplinen nicht bloß keinen, geringeren, sondern einen höheren Grad von wissenschaftlicher Gültigkeit als die realen, und also müßten vielmehr die kritischen Disziplinen dazu dienen, ihrerseits erst die Ergebnisse der Spekulation und der Empirie, der Ethik und der Geschichte, zu verifizieren".

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2.2 Die technische Disziplin: Praktische Theologie Die Erhaltung der christlichen Frömmigkeit in der Gemeinschaft setzt aber nun nicht nur die historischen Einsichten in das Sein dieser Gemeinschaft voraus das Sein ihres Wesens und dessen geschichtlicher Ausdrucksgestalten -, sondern auch Einsichten hinsichtlich der Technik, diese Gemeinschaft immer wieder neu hervorzubringen. Diese Einsichten zu entfalten ist Sache der Praktischen Theologie": „Das Resultat des bisherigen Verlaufs wird als das gegebene angesehen, und unter den Begriff der Kirchenleitung subsumirt, so daß immer die Regel zur Lösung der [damit gestellten; R.S.] Aufgaben die Hauptsache sind in der praktischen Theologie"58. Die Regeln der Praktischen Theologie beziehen sich auf die Erhaltung der christlichen Frömmigkeit in der Gemeinschaft. Dasjenige, was erhalten werden soll - und immer wieder neu gestiftet -, ist die christliche Gesinnung. Da ,4eibliche Mittel" zur Erreichung von „geistigen Wirkungen" ein bloßer Schein sind, gehören alle Regeln der Praktischen Theologie in den Bereich der Seelenleitung59. Die Praktische Theologie ist „Methodologie der Kirchenleitung"60. Dabei beschränkt sich die in der Praktischen Theologie zu entwickelnde Methodologie der Kirchenleitung nicht auf die eigentliche Amtsführung des Geistlichen, sondern thematisch wird alles Handeln in der Kirche und für die Kirche, „wofür sich Regeln darstellen lassen"*1. „Der Zwekk der praktischen Theologie ist also kein anderer als alle Thätigkeit in Zusammenhang zu bringen und zur Klarheit und Besonnenheit zu erheben"62. Sie entspricht damit dem Begriff einer Kunstlehre, denn „Kunstlehre nennen wir jede Anleitung, bestimmte Tätigkeiten richtig zu ordnen, um ein Aufgegebenes zu erwirken"63. 57 Die Praktische Theologie ist die Theorie „über das Fortbestehen der evangelischen Kirche als einer solchen, sofern dieses von absichtlichen freien Handlungen ausgeht" (PrTh, 62). Sie entwirft „die Technik zur Erhaltung und Vervollkommnung der Kirche" (PrTh, 25). Technik ist die „Anweisung wie etwas zu Stande gebracht werden soll, um so mehr als es nicht auf eine mechanische Weise zusammengebracht werden kann und dabei keine absolute Willkühr stattfindet, welches beides außerhalb der Technik liegt" (PrTh, 25). Der Titel „Praktische" Theologie ist nicht mißzuverstehen: Praktische Theologie ist nicht Praxis, sondern die Theorie der Praxis (PrTh, 12). 58 ThES, 251. 59 ThES, 252. Weil Kirchenleitung Seelenleitung ist, deshalb bezieht sich auch die Historische Theologie wesentlich auf den Bereich der Bildungs- und Sittengeschichte; vgl. KD2 §69; ThES, 76.245f. 60 ThES, 252. 61 PrTh, 27. 62 PrTh, 28. 63 DO, 13. Vgl. PrTh, 787: „Beide Haupttheile [der Praktischen Theologie; R.S.] sind zusammentreffend unter dem Begriff der Kunst, wiewohl Kirchenregiment nur Kunst ist wie Staatskunst und Erziehungskunst. Kirchendienst aber wie die schönen Künste". Vgl. auch: PrTh, 35f; KD2 §265.§132.

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Auch das von der Praktischen Theologie verfolgte Verfahren hat Schleiermacher in jener bereits im vorangegangenen Abschnitt zitierten Einleitung zur Philosophischen Ethik beschrieben. Es ist das technische Verfahren: „Das regelgebende oder technische Verfahren ist die praktische Beziehung des Beschaulichen und Erfahrungsmäßigen auf einander, und liegt außer der Wissenschaft überhaupt auf der Seite der Kunst. Sein Gegenstand ist jede sittlich bestimmte einzelne Einigung von Vernunft und Natur, wie sie sich in dem ihr zugehörigen Naturgebiet entwickelt im Streit der Vernunft und der ihr schon geeinigten Natur gegen die noch widerstrebende Natur, und es mittelt aus durch vergleichende Beobachtung zum Behuf des handelnden Eintretens in ein solches Gebiet, unter welchen Umständen und Bedingungen der Widerstand am leichtesten oder schwersten gehoben wird, und die Vernunft sich der Natur am vollständigsten und leichtesten bemächtigt. Beispiele: Erziehungskunst, Staatskunst u.a.m. Diesen lediglich durch das Interesse am Gegenstande bedingten und zusammengehaltenen nicht sowol Wissenschaften als Anweisungen eignet die Form der Vorschriften, welche in mancher Beziehung einen mehr kategorischen, in mancher einen mehr hypothetischen Charakter haben können"64. 64 PhE, 550 [§109]. Vgl. PhE, 505f [§§94ff].252 [§§59ff]. Zum Begriff der Technik vgl. noch: PrTh, 25.28.29.31.32.36f; KD2 §§132ff. - Die mit weitem Abstand beste und ausführlichste Darstellung von Schleiermachers Technikverständnis findet sich bei Johannes Schurr, Schleiermachers Theorie der Erziehung, vgl. bes. 50-61. Schurr bietet unter anderem eine glänzende und instruktive (zahlreiche erhellende Zitate!) Orientierung über die antike Begriffsgeschichte des Ausdrucks Technik (Lit.!) und ihre Rezeption durch Schleiermacher (a.a.O., 488ff [Anm. l Iff]). Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist es leider nicht möglich, Schleiermachers - im Vergleich zu seinen theologischen Schriften und Vorlesungen weitaus eingehendere - Entfaltung seines Technik-Verständnisses, die er im Rahmen seiner Pädagogik-Vorlesung von 1826 gegeben hat, zu behandeln. Probleme tauchen hier vor allem dadurch auf, daß zunächst einmal zu klären wäre, wie sich das dort entfaltete technische Dreieck (vgl. Schurr, a.a.O., 51-58) zur theologischen Enzyklopädie verhält. Dabei fließt in Schleiermachers Praktische Theologie von diesem Dreieck offensichtlich vorzüglich nur der technisch-methodische Theorieaspekt ein, während die eidetische und die teleologische Theorieseite des dort entfalteten Technikverständnisses im Rahmen der theologischen Enzyklopädie von den beiden historisch-kritischen Diszplinen wahrgenommen werden. Vgl. Schurr,a.a.O., 90ff: „Die Selbsttätigkeit des Menschen und die sich daran anschließenden Haupttypen pädagogischer Einwirkung des „Erregens" und ,,Leitens" als Gegenstände der dritten Theorie des Technisch-Methodischen" (So die Überschrift dieses Abschnittes im Inhaltsverzeichnis, 7). „Erregen" und „Leiten" scheinen hier den beiden in der Praktischen Theologie thematischen Hauptaktivitäten der Kirchenleitung, „Erbauen" und „Regieren" (KD2 §279), zu entsprechen. Hauptthemen der methodisch-technischen Theorieseite der Pädagogik sind weiterhin die Theorie der verhütenden, der gegenwirkenden und der unterstützenden Tätigkeiten (Vgl. Schurr, a.a.O., 386-480). Auch dies stimmt genau mit der Aufgabe der Praktischen Theologie überein, was „gut erscheint, fruchtbar machen, das Entgegengesetzte aber unwirksam machen und umändern wollen" (KD2 §259). Auf alle Fälle wäre es überaus bemerkenswert, wenn die Pädagogik ohne historisch-kritische Grundlagen sollte auskommen können. Diese müssen also in irgendeiner Weise in die Pädagogik integriert worden sein. Und es spricht einiges dafür,

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Wenn und insofern auch die Praktische Theologie dem hier entfalteten Begriff des technischen Verfahrens entsprechen soll, muß auch für sie gelten, daß sie ein Inbegriff von Anweisungen bzw. Kunstregeln ist, die zum einen eher kategorischen, zum anderen eher hypothetischen Charakter besitzen. Wenn das so ist, dann müßte aber auch die Praktische Theologie in zwei Teile untergliedert werden, die analog sind zur Untergliederung der historisch-kritischen Theologie in Philosophische Theologie und Historische Theologie. Wobei auch hier beide Teile aufeinander verweisen müßten als jeweils notwendiges Komplement des anderen Teils65. Analog zur Philosophischen Theologie müßte ein Teilbereich der Praktischen Theologie „mehr kategorischen Charakter" haben und also solche Anweisungen bzw. Kunstregeln formulieren, die unter allen Umständen zu befolgen sind66. Ein anderer Teilbereich der Praktischen Theologie müßte dagegen „mehr hypothetischen Charakter" haben und also solche Anweisungen und Kunstregeln darstellen, deren Gültigkeit von den je gegebenen geschichtlichen Umständen abhängig ist, unter denen die kate-

daß dies genau an den bezeichneten Stellen - eidetische und teleologische Theorieseite geschehen ist. Vgl. Schurrs Ausführungen zu Beginn der Entfaltung der methodischtechnischen Erziehungstheorie Schleiermachers, a.a.O., 382: „Bisher bemühte sich die Grundlegung lediglich um die theoretischen Voraussetzungen einer solchen Theorie, die jetzt, da sie in ihren notwendigen Prämissen durchsichtig gemacht werden konnte, eigens zu entfalten ist". (Vgl. auch a.a.O., 480.) Solche Überlegungen können natürlich eine eingehende Untersuchung nicht ersetzen, die allerdings die Grenzen der vorliegenden Studie sprengen würde. - Vgl. außerdem von theologischer Seite die Beiträge von Volker Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie, Bd.I [=Text], 36ff; Bd.II [=Anmerkungen], 61ff.; H.-J. Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 34ff; Ders., Theologie und Philosophie, 31; H. Luther, Schleiermachers Verständnis des Verhältnisses von Theorie und Praxis, 26.53f; R. Volp, Praktische Theologie, 59ff; H. Ort, Techne und Episteme, 33ff; D. Rossler, Grundriß der Praktischen Theologie, 31. - Wenig ergiebig ist der Aufsatz von Volker Drehsen, Praktische Theologie als Kunstlehre. - Vgl. außerdem die Ausführungen zu Schleiermachers Verständnis von Kunst/ bei Mariin E. Miller, Der Übergang, 72fF.128.131.149f.156.165; Thomas Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, 158ff. 65 Im Blick auf das zu Beginn dieses Abschnittes 2.2 gegebene Zitat aus ThES, 251, ließe sich sagen, daß im technischen Verfahren einmal eher das „Resultat des bisherigen Verlaufs" hervortreten kann, aber auch andererseits unter Umständen der Begriff der Kirchenleitung, unter den subsumiert wird, dominieren mag. 66 Die Unterscheidung von eher kategorischen und eher hypothetischen Regeln fehlt noch in der früheren Fassung der Philosophischen Ethik von 1816, deren Formulierung vielmehr die Möglichkeit kategorischer Regeln für das technische Verfahren rundweg auszuschließen scheint: „§95. Dies ist das Geschäft der verschiedenen technischen Disciplinen, welche von dem Empirischen abhängig zwischen der Ethik und der Geschichte schweben" (PhE, 506). Vgl. auch PhE, 252 [§59], wo das Wesen der Technik in der Berücksichtigung der besonderen Gegensätze und der besonderen Naturbedingungen des einzelnen Handelnden gesehen wird. Anders dagegen KD2 §133 und schon andeutungsweise die erste Auflage der „Kurzen Darstellung", 39 [§27] (=Scholz, 53). Auch die Dialektik Schleiermachers wäre als Gegenbeispiel einer technischen Disziplin zu nennen, die nicht nur über hypothetische Regeln verfugt; vgl. etwa DO, 13.30.

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gorischen Regeln anzuwenden sind67. Dieser Bereich wäre somit parallel zur Historischen Theologie konzipiert. Ist diese Interpretation zutreffend, dann gibt Schleiermachers theologische Enzyklopädie möglicherweise in ihrer Dreiteilung nur ungenau die ihr zugrundeliegende Zweiteilung in ein kritisches und ein technisches Verfahren wieder, da diese Zweiteilung ihrerseits nochmals unterteilt werden muß in eine eher kategoriale und eine eher empirische Kenntnisbüdung der historisch-kritischen Theologie sowie einen mehr kategorischen und einen mehr hypothetischen Regeln gewidmeten DarsteUungsteil der Praktischen Theologie. Schleiermacher selbst hat allerdings seine in der Einleitung zur Philosophischen Ethik vorgenommene interne Ausdifferenzierung der technischen Verfahrensregeln an keiner Stelle explizit auf die Praktische Theologie übertragen68. Sachlich ist aber zunächst nicht einzusehen, wie und mit welchen Gründen die Praktische Theologie auf diese wichtige Unterscheidung von kategorischen und hypothetischen Regeln soll verzichten können69. Aus Schleiermachers zitierten Äußerungen zum kritischen Verfahren, das der Genese von Kenntnissen dient, und dem technischen Verfahren, das zur Formulierung von Kunstregeln herangezogen wird, geht zweifelsfrei hervor: zwischen Kenntnissen und Kunstregeln besteht hinsichtlich ihrer Elemente kein wesentlicher Unterschied. Es handelt sich in beiden Fällen um ein Wissen im Bück auf einen Sachverhalt. Im Falle der Theologie ist dieser Sachverhalt das Ganze des christlichen Gesamtlebens als geschichtliches Phänomen. Ein sachlicher Unterschied besteht zwischen Kenntnissen und Kunstregeln nur insofern, als die in ihnen vorliegende Kombination von spekulativen und empirischen Wissenselementen jeweils mit einer anderen Zielsetzung erfolgt. Die von der Philosophischen und der Historischen Theologie erarbeiteten Kenntnisse bieten ein Wissen um das christliche Gesamtleben als ein gegebenes geschichtliches Phänomen, als ein Hervorgebrachtes. Die von der Praktischen Theologie zusammengestellten Kunstregeln dagegen fixieren ein Wissen um das christliche Gesamtleben als ein Aufgegebenes; als ein im geschichtlichen Prozeß Hervor-

67 Vgl. auch DO, 425ff.435f. 68 Wilhelm Grab, der ebenfalls die von uns aus der Einleitung zur Philosophischen Ethik zitierte Textpassage zur Erläuterung des in der Praktischen Theologie nach Schleiermacher verfolgten technischen Verfahrens heranzieht, zitiert diesen Abschnitt nicht vollständig und erwähnt auch die dort vorgenommene Aufteilung in eher kategorische und eher hypothetische Anweisungen mit keiner Silbe (W. Grab, Kirche als Gestaltungsaufgabe, 163f). Zumindest referiert wird diese Differenzierung der technischen Regeln bei H.-J. Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 35. 69 Zumindest angedeutet ist diese Unterscheidung in der I.Auflage der „Kurzen Darstellung", wo es in §2 der Schlußbetrachtung zur Praktischen Theologie heißt. „Das Allgemeine der Praktischen Theologie wird der am klarsten sehen, der sich die philosophische Theologie am meisten angeeignet hat; das Besondere und der Ausführung Nächste wird jeder um so sicherer finden, je geschichtlicher er in der Gegenwart lebt" (KD l.Aufl., S.91 [§2] (=Scholz, 130).

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gebrachtes70, insofern dieses immer auch noch ein im geschichtlichen Prozeß weiter Hervorzubringendes darstellt. Präziser wäre es folglich, analog zur gängigen Redeweise vom historisch-kritischen Verfahren, von einem historisch-technischen Verfahren zu reden, das die Arbeitsweise der Praktischen Theologie charakterisiert. Der von Schleiermacher gewählte Ausdruck „Kunst-regeln" verdunkelt systematisch, daß es sich auch bei ihnen um ein Wissen handelt, das sich hinsichtlich seines Gehaltes in nichts von den „Kenntnissen" der Philosophischen und der Historischen Theologie unterscheidet71 . Der Ausdruck „Kunstregeln" erhält bei Schleiermacher seine Bedeutung nicht dadurch, daß die Sätze der Praktischen Theologie keinen eigenen propositionalen Gehalt besäßen72, sondern dieser Ausdruck hebt darauf ab, daß das durchaus gehaltvolle Wissen, welches die Praktische Theologie bereitstellt, noch nicht die hinreichende Bedingung zur Hervorbringung desjenigen Werkes ist, auf das dieses Wissen abzielt73. Diese Überlegungen erhellen den zunächst erstaunlichen Sachverhalt, daß Schleiermacher zwar der Praktischen Theologie die Aufgabe zuweist, die Regeln darzustellen für alles, „was ein Handeln in der Kirche und für die Kirche ist"74, sich aber in der Praktischen Theologie völlig über die Genese dieser Re70 Vgl. PrTh, 735: ,,(...)die Technik des Kirchendienstes darf sich doch nicht an das anschließen was sein soll, sondern an das was ist". 71 Vgl. das Urteil von Johannes Schurr, Schleiermachers Theorie der Erziehung, 493f, hinsichtlich der Rezeption Schleiermachers in der Pädagogik: „Die meisten Interpreten der Pädagogik als Kunstlehre ließen sich täuschen, indem sie deren technischen Charakter allein ins Auge faßten, ohne den übergeordneten dialektischen Zusammenhang, wonach jede Kunstlehre als wissenschaftliche Theorie notwendig einer Deduktion bedarf, miteinzubeziehen". 72 So Wilhelm Grab, Kirche als Gestaltungsaufgabe, 164f. 73 Vgl. KD2 §§132f: Dort heißt es im Blick auf die Hermeneutik: „Kunst, schon in einem engeren Sinne, nennen wir jede zusammengesetzte Hervorbringung, wobei wir uns allgemeiner Regeln bewußt sind, deren Anwendung im einzelnen nicht wieder auf Regeln gebracht werden kann (...) Die Regeln können nur eine Kunstlehre bilden, wenn sie aus der Natur des ganzen Verfahrens genommen sind, und also auch das ganze Verfahren umfassen. §133. Eine solche Kunstlehre ist nur vorhanden, sofern die Vorschriften ein auf unmittelbar aus der Natur des Denkens und der Sprache klaren Grundsätzen beruhendes System bilden". Eine Kunstlehre, der es an propositionalem Gehalt ermangelt, ist keine. 74 PrTh, 27. (Vgl. PrTh, 62: Die Praktische Theologie soll „die Theorie sein über das Fortbestehen der evangelischen Kirche als einer solchen, sofern dieses von absichtlichen freien Handlungen ausgeht".) - Diese Definition steht allerdings in der Gefahr, der Praktischen Theologie ein völlig konturenloses Arbeitsfeld zuzuweisen, wenn nicht mitberücksichtigt wird, daß „Handeln in der Kirche und für die Kirche" nur als kirchenleitendes Handeln zur Aufgabe der Praktischen Theologie wird. Nur diese Näherbestimmung des Bereiches, für den die Praktische Theologie Regeln darzustellen hat, entspricht der Grundfragestellung der Theologie (Vgl. Wilhelm Grab, Kirche als Gestaltungsaufgabe). Und sie wird von Schleiermacher stetig in diesem Sinne auch auf die Praktische Theologie bezogen. Die technische Disziplin der Praktischen Theologie lehrt „für jede einzelne Kirche die Handhabung des kirchlichen Gegensazes" (PhE, 366 [§231]); sie ist ein Inbegriff von Regeln für die Belange der Leitung der christlichen

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geln ausschweigt: Dieses Regelwissen ist immer schon vorausgesetzt als im Wissen um das christliche Leben in seinem jeweiligen Gewordensein enthalten. Nur weil die Regeln des christlichen Lebens bereits im Kontext von dessen historisch-kritischer Nachkonstruktion75 generiert werden, stellt ihre konstruktive76 Inanspruchnahme im Rahmen des technischen Verfahrens kein äußerliches Verfügen über den zu regelnden Bereich dar. Klar erkennbar ist, daß nach Schleiermacher einem oberflächlichen Mechanismus nur gesteuert werden kann, wenn die Vorschriften der Praktischen Theologie unter Rekurs auf die „Natur der Sache" gewonnen werden77. Die von der Praktischen Theologie zu erhebenden Regeln müssen eingebettet sein in ein Regelsystem, das auf der Natur des christlichen Glaubenslebens und seinen klaren Grundsätzen beruht78. Nur unter dieser Voraussetzung des Begründetseins der technischen Regeln im Wesen des von ihnen zu regelnden Praxisbereiches läßt sich das von Schleiermacher ins Auge gefaßte technische Verfahren von einem technizistischen Verfügen über einen Gegenstand nach diesem selbst fremden Prinzipien unterscheiden79. Technik ist für Schleiermacher nicht Ausdruck einer unkontrollierten Verfügungsgewalt über einen Gegenstand oder einen ganzen Praxisbereich, sondern hat vielmehr einen Dienstcharakter80. Wenn Schleiermacher das technische Verfahren alternativ als ein „regelgebendes" Verfahren bezeichnet81 und der Praktischen Theologie die Aufgabe zuweist, die Regeln des Handelns in der Kirche und für die Kirche darzustellen82, so hat man dies mißverstanden, wenn man der Praktischen Theologie damit auch die Aufgabe der Regelgenese meint zuweisen zu müssen83 . Das Eigentümliche des technischen Verfahrens besteht nicht darin, daß

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Kirche, wobei diese nicht den Geistlichen allein übertragen werden darf. Die Ungleichheit, die den kirchenleitenden Tätigkeiten in Kirchendienst und Kirchenregiment zugrunde liegt, ist nämlich jeweils eine andere, sodaß nicht notwendig ein qualifizierter Pastor auch zur leitenden Tätigkeit im Kirchenregiment taugt: ,4m Kirchendienste wird die Ungleichheit bestimmt durch die Fertigkeit in der Rede; im Kirchenregiment durch die Fertigkeit in der praktischen Handhabung, bei übrigens gleicher christlicher Frömmigkeit" (PrTh, 823; vgl. PrTh, 727f). Zum nicht selbstständig konstruktiven, sondern nachkonstruierenden Charakter der kritischen Disziplinen vgl. KD2 §§255f. Auf katholischer Seite hat unlängst Leo Karrer die Praktische Theologie als eine kritisch-konstruktive Disziplin entworfen (Praktische Theologie - ein Januskopf?, 324ff.)· ThES, 30; vgl. ThES, 253f.; KD2 §133. Formulierung in Anlehnung an KD2 §133. Unter dieser Bedingung garantieren dann gerade die technischen Disziplinen, wie Henning Luther feststellt, „daß jede besondere konkrete Praxis auf die allgemeine Theorie bezogen und derart im umfassenden Rahmen des geschichtlichen Prozesses der Vernunfrtätigkeit verstanden werden kann" (H. Luther, Schleiermachers Verständnis des Verhältnisses von Theorie und Praxis, 21). Vgl. Johannes Schurr, Schleiermachers Theorie der Erziehung, 58.488ff. PrTh, 31; KD2 §274. PhE, 550 [§109]. PrTh, 27. So Wilhelm Grab, Kirche als Gestaltungsaufgabe, 164.

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in ihm Regeln generiert werden, sondern darin, welchen Gebrauch es von diesen bereits anderwärtig erstellten Regeln macht. Die Praktische Theologie stellt durch Subsumtion des gegebenen Zustandes unter den Begriff der Kirchenleitung Regehi zusammen, um konstruktiv in den geschichtlichen Prozeß der christlichen Glaubenspraxis einzugreifen. Da sowohl der gegebene Zustand als auch der Begriff der Kirchenleitung bereits im Verlauf des historisch-kritischen Verfahrens erhoben worden sind, ist auch das Resultat des technischen Verfahrens immer schon in nuce in den historisch-kritischen Disziplinen vorgegeben. Das technische Verfahren ist eine Auswahl aus den bereits vorgegebenen Regehi geschichtlicher Praxis der christlichen Frömmigkeit unter dem Gesichtspunkt der Kirchenleitung. Die Praktische Theologie ist also in einem von der Philosophischen und der Historischen Theologie unterschiedenen und zugleich genauestens darauf bezogenen Sinne Theorie der Praxis: nämlich als die gedankliche Antizipation zukünftiger Praxis auf der Grundlage der gedanklich durchdrungenen gegenwärtigen Praxis.

2.3 Zusammenfassung Philosophische, Historische und Praktische Theologie94 ergaben sich notwendig aus der Fassung der Theologie als einer positiven Wissenschaft: einer Wissenschaft, die das Handeln der christlichen Kirche im Sinne einer zusammenstimmenden Kirchenleitung orientieren soll. „Faßt man nun diese Elemente zusammen, so lassen sich wohl keine weiteren Theile der christlichen Theologie als positiver Wissenschaft finden. Habe ich die Principien wonach ich den gegenwärtigen Zustand beurtheile, habe ich den gegenwärtigen Zustand selbst nebst seiner Genesis begriffen, und habe ich die Regehi für die Geschäftsführung: so bin ich mit Allem ausgerüstet, was zur Kirchenleitung gehört. Jede theologische Disciplin also muß in einen dieser 3 Theile gehören, und daß dieß geschieht, dieß ist die Probe für unsre Eintheilung"85. Alle theologische Theoriebildung erschöpft sich in diesen drei Arbeitsbereichen und jeder theologische Satz muß einer dieser drei möglichen Satzarten zuzuordnen sein. Gleichzeitig vermag aber auch nur ein Satzzusammenhang, der alle drei Elemente in sich enthält, das Forschungsinteresse zu befriedigen86. Eine theologische Theoriebildung ist erst dann konkret, wenn sie wirklich einen Aussagezusammenhang darstellt, der zur zusammen84 Emanuel Hirsch, Geschichte Bd.V, 350 [Anm. 1], sieht in dieser Dreigliederung eine Nachbildung derjenigen Trias, die Fichte 1800 im „geschlossenen Handelsstaat" für die Staatslehre entwickelt hat. 85 ThES, 26;vgl. a.a.O., 31f.;KD 2 §31. 86 Vgl. KD 2 §§15ff.

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stimmenden Kirchenleitung befähigt; was nur im Verweisungszusammenhang aller drei Elemente - Philosophische, Historische und Praktische Theologie möglich ist. Dabei dienen sich alle drei Aspekte gegenseitig zur Voraussetzung und zur Bewährung87.

3. Die umfassende theologische Gestalt der Gottesdiensttheorie Was folgt nun für die Rekonstruktion und Interpretation von Schleiermachers Gottesdiensttheorie aus Schleiermachers Auffassung vom Wesen der theologischen Theoriebüdung? Die Theorie des christlichen Gottesdienstes ist als theologische Theoriebildung erst dann vollständig entfaltet, wenn sie durch alle Teilbereiche der theologischen Theoriebildung bearbeitet wurde. Schleiermachers Gottesdienst87 ThES, 26ff; KD2 §§27 ff. Wichtig ist, daß alle theologische Bemühung sich immer ihrer Abzweckung auf eine zusammenstimmende Kirchenleitung bewußt bleibt. Eine zusammenstimmende Kirchenleitung ist nun zwar in komplexen Situationen auf Dauer nicht möglich ohne eine zusammenstimmende Theologie der mit dem Kirchenregiment Betrauten. Das heißt aber gerade noch nicht, daß eine zusammenstimmende Theologie als solche - bloß als intern stimmige - schon ausreichend sei. Die Theologie muß sich vielmehr dadurch legitimieren, daß sie wirklich eine Ausdrucksgestalt des - nicht bloß theologischen, sondern - allgemeinen christlichen Bewußtseins ist. Die Wesensbestimmung des Christentums, die bewertende Beschreibung der Geschichte der christlichen Gemeinschaft und die Formulierung der zeitgemäßen Handlungsziele sowie der Regeln zu ihrer Realisation müssen unterstellen, für alle evangelischen Christen potentiell zustimmungsfähig zu sein (Vgl. Eberhard Jüngel, Was ist die theologische Aufgabe evangelischer Kirchenleitung?, 195). Schleiermacher beschreibt das Gemeinte am Beispiel der Philosophischen Theologie: „Wenn das Wesen der philosophischen Theologie darin besteht, das Wesentliche der christlichen Religion und Gemeinschaft im Gegensaz zu ändern zur Darstellung zu bringen, - so kann die Geschichte diesen Aufstellungen zur Bewährung dienen, wenn die Betrachtung gewisser Zustände als Fortschritte oder Rückschritte gemäß der philosophischen Theologie zusammenstimmt mit dem allgemeinen christlichen Bewußtsein"(ThES, 26). Man darf ergänzen: Wenn nicht, so ist die Wesensbestimmung der Philosophischen Theologie als fehlerhaft anzusehen und entsprechend zu revidieren. Die Legitimation der Aussagen der Philosophischen Theologie erfolgt nicht abstrakt, sondern im Vollzug der Anwendung des formulierten Maßstabes als Beurteilungskriterium vorliegender geschichtlicher Entwicklungen. Das Gefühl muß dem theoretischen Verdikt zustimmen - oder präziser: es überhaupt begründen. Das wird deutlich ausgesprochen im Paragraphen §257 der „Kurzen Darstellung", wo davon die Rede ist, daß „die philosophische Theologie die Gefühle der Lust und Unlust an dem jedesmaligen Zustand der Kirche zum klaren Bewußtsein bringt". Vgl. auch: KG, 635; KD2 §209; ThES, 200f. - In eben diesem Sinne versteht Schleiermacher die Durchsetzung der athanasianischen Lehre gegenüber der dem christlichen Gemeingefühl widerstreitenden arianischen (ThES, 168; KG, 225f). - Es sei nur noch kurz darauf hingewiesen, daß die Instanz „allgemein christliches Bewußtsein" natürlich hochgradig problematisch ist. Auf jeden Fall versteht Schleiermacher darunter nicht das statistische Mittel der Frömmigkeit aller Kirchenmitglieder einer bestimmten Zeit (vgl. KD2 §235).

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theorie ist daher am Leitfaden seiner „Kurzen Darstellung" erst dann sachgemäß rekonstruiert, wenn alle einschlägigen Passagen in seinem theologischen Werk als einander ergänzende Elemente derjenigen Gesamtbemühung dargestellt und interpretiert werden, die Schleiermacher in der „Kurzen Darstellung" als theologische Wissenschaft exponiert. Damit ist aber auch sofort klar, daß in dieser Perspektive - also gemessen an seinem eigenen Maßstab der „Kurzen Darstellung" - Schleiermachers Gottesdiensttheorie nur Fragment geblieben ist, da er bekanntlich nicht alle in der „Kurzen Darstellung" projektierten Disziplinen bearbeitet hat88 - schon gar nicht im Blick auf den christlichen Gottesdienst. Es ist aber nach allem Vorhergehenden ebenfalls sofort einleuchtend, wie die von Schleiermacher selbst nicht ausgeführten Theorieteile zum Gottesdienst in seinem Sinne zu ergänzen sind: nämlich im Rekurs auf die von ihm in der „Kurzen Darstellung" vorgelegte Beschreibung der vollständigen Form der theologischen Theoriebildung. Die sachgemäße Rekonstruktion von Schleiermachers Gottesdiensttheorie hat daher so zu verfahren, daß die materialen Aussagen Schleiermachers in den formalen Rahmen seiner Enzyklopädie eingeordnet werden - wobei fehlende enzyklopädische Teile im Sinne Schleiermachers am Leitfaden der „Kurzen Darstellung" zu ergänzen sind - und von dieser her interpretiert werden müssen. Es dürfte einleuchten, daß diese methodische Regel Gültigkeit besitzt nicht nur für die Rekonstruktion und Interpretation von Schleiermachers Gottesdiensttheorie, sondern prinzipiell auf alle Handlungsfelder christlicher Frömmigkeit in analoger Weise anzuwenden ist - also etwa im Blick auf Schleiermachers Taufverständnis, Abendmahlstheorie, Seelsorgeverständnis etc. - Die hier entfaltete, den weiteren Fortgang der Studie bestimmende methodische Regel ist meines Wissens in der bisherigen Schleiermacher-Forschung nirgends befolgt worden. Die bisherige Diskussion beschränkte sich fast ausschließlich auf die Bestimmung des Verhältnisses der theologischen Disziplinen in Schleiermachers „Kurzer Darstellung", ohne den naheliegenden Schritt zu tun, die „Kurze Darstellung" dann auch als Rekonstruktionsrahmen einer materialen Theorie im Sinne Schleiermachers heranzuziehen. Das Paradebeispiel ist hier Wilhelm Grabs Aufsatz „Kirche als Gestaltungsaufgabe", der sich im Anschluß an Martin Doeme mit der „Kurzen Darstellung" beschäftigt, und seine Habilitationsschrift „Predigt als Mitteilung des Glaubens", die eine Fülle von ausgezeichneten Beobachtungen und Reflexionen bietet, aber lediglich ansatzweise den Versuch unternimmt, die einzelnen herangezogenen Stellen aus Schleiermachers theologischem System im Blick auf ihren enzyklopädischen Zusammenhang in diesem theologischen System zu verhandeln89. Angesichts dieser 88 Ein Verzeichnis der von Schleiermacher angekündigten Vorlesungen liegt von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond bearbeitet vor in: Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, 293ff. 89 Wilhelm Grab, Predigt als Mitteilung des Glaubens, 190-193.

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Der enzyklopädische Rahmen der Gottesdiensttheorie

Forschungslage erscheint es mir angebracht, zugunsten der stringenteren Durchführung des hier neu eingeführten Rekonstruktionsrahmens auf eine ausführliche Beschäftigung mit den Einzelbeobachtungen der traditionellen Schleiermacher-Rezeption zu verzichten. Dies erscheint mir aufgrund der methodologischen Unvergleichbarkeit des vorliegenden, an Schleiermachers „Kurzer Darstellung" orientierten Rekonstruktionsversuches mit dem üblichen Ansatz, Schleiermacher auch in seiner theologischen Argumentation im wesentlichen lediglich von seiner philosophischen Ethik oder seiner Dialektik her systematisieren zu wollen, zulässig. Damit ergibt sich folgender formaler Aufriß für Schleiermachers Gottesdiensttheorie: - Philosophische Theologie: Wesensbestimmung des christlichen Gottesdienstes durch Wesensanalyse dessen, was in der christlichen Frömmigkeit, dem allgemeinen christlichen Bewußtsein, gegeben ist. - Historische Theologie: Beschreibend-wertende Erfassung der gegebenen historischen Gestalten christlichen Gottesdienstes vom Urchristentum bis zur Gegenwart im Lichte des philosophisch-theologischen Begriffes vom Wesen des christlichen Gottesdienstes90. - Praktische Theologie: Zusammenstellung der Kunstregeln zur sachgemäßen Ausübung des christlichen Gottesdienstes in bestimmt gegebenen historischen Kontexten. Die Rekonstruktion von Schleiermachers Gottesdiensttheorie wird strikt anhand dieses enzyklopädischen Leitfadens durchgeführt werden müssen und zugleich in ihm ihr Darstellungsraster haben. Wie erwähnt, hat Schleiermacher nicht alle enzyklopädischen Teilgebiete bearbeitet. Da fehlende Teile nur tentativ rekonstruiert werden können, führt dies dazu, daß die vorliegende Arbeit in ihren einzelnen Teilen notwendig einen sehr uneinheitlichen materialen Ertrag erbringen wird. Neben Kapiteln mit weit ausgreifenden materialen Darstellungen werden Kapitel zu stehen kommen, die wenig mehr bieten als die jeweilige Aufgabenstellung einer theologischen Teildisziplin im Kontext 90 Es muß wohl nicht eigens erwähnt werden, daß vorzüglich im Blick auf diesen Abschnitt nur die Rahmentheorie der Historischen Theologie über den christlichen Gottesdienst im Sinne Schleiermachers entfaltet werden kann. Vollendet und ausgefüllt wäre die Historische Theologie des Gottesdienstes erst mit der Kenntnis und dem Verständnis aller geschichtlich vorkommenden und vorgekommenen Gestalten des Gottesdienstes: „Geht man in die Idee, so scheint der Cultus nur vollständig in einer Darstellung welche die Modalitäten des religiösen Bewußtseins umfassend erschöpft. So ist er ein unendliches Ganzes, das nur in der ganzen Geschichte der christlichen Kirche sich allmählig entwikkelt. Dieses Ganze aber liegt über die Grenzen der Theorie hinaus; man kann es nicht machen, man sieht es nur werden" (PrTh, 750f; vgl. PrTh, 126).

Konsequenzen für den Umgang mit den Quellen

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der umfassenden enzyklopädischen Aufgabe der Gottesdiensttheorie. Dieser Nachteil wird aber bewußt in Kauf genommen. Jedes Überspielen dieses Sachverhaltes - etwa durch das Zusammenfassen der Darstellungen nur fragmentarisch rekonstruierbarer theologischer Teildisziplinen in einem einzigen Kapitel - würde den Ertrag unserer Rekonstruktionsarbeit aufs nachhaltigste beeinträchtigen. Es soll ja gerade der enzyklopädische Rahmen von Schleiermachers Gottesdiensttheorie offengelegt werden. Etwaige Leerstellen in diesem Rahmen dürfen also auf keinen Fall kaschiert werden, sondern müssen als solche erkennbar bleiben.

4. Konsequenzen für den Umgang mit den Quellen Es ist nun zum einen nochmals darauf hinzuweisen, daß dieser Aufriß von Schleiermachers Gottesdiensttheorie selbst bereits das Ergebnis einer interpretierenden Rekonstruktion ist. Er findet sich so nirgends in Schleiermachers Äußerungen zur Sache. Zum anderen bedeutet die Orientierung an diesem Aufriß, daß die zahlreichen Einlassungen Schleiermachers zum Gottesdienst in der „Christlichen Sitte", der „Praktischen Theologie" und anderswo jeweils sehr genau auf ihren Status hin betrachtet werden müssen. Es ist jeweils zu fragen, ob etwa eine Aussage der „Christlichen Sitte" wirklich den Status einer bistorisch-bewertenden Aussage über die gegenwärtig - zur Zeit Schleiermachers - gültige kirchliche Lehre vom Gottesdienst besitzt oder ob ihr nicht vielmehr der Status einer philosophischen Wesensanalyse zukommt, die in der „Christlichen Sitte" quasi als Lehnsatz herangezogen wird, um die gegenwärtige Lehre vom Gottesdienst beschreibend-wertend darstellen zu können. Die „Christliche Sitte" ist überhaupt ein Musterbeispiel dafür, wie Schleiermacher selbst in seinen Vorlesungen Theologie nach dem Prinzip der „Kurzen Darstellung" betrieb: Jedes neue Thema wird zunächst betrachtet im Bück auf die „Natur der Sache" und/oder auf Christi urbildliches Beispiel (soweit vorhanden): Philosophische Theologie/Exegetische Theologie. Darauf wendet sich der Blick der Kirchengeschichte zu: Historische Theologie im engeren Sinne. Das dort erhobene Material wird bewertet: Dogmatik. Die Fixierung der aufgrund dieser Bewertung nun zu ergreifenden Maßnahmen wird dann abschließend als nicht zur „Christlichen Sitte" gehörig explizit der entsprechenden theologisch-technischen Disziplin zugewiesen: Praktische Theologie. Auch die „Praktische Theologie" kann als Beispiel herangezogen werden. Besonders eindrücklich ist hier die Entwicklung von Schleiermachers Gedan-

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Der enzyklopädische Rahmen der Gottesdiensttheorie

ken zu unserem Thema vom 8. Februar 1815 : „Uebersicht der in der Liturgik bisher abgehandelten Materien". Ausgehend vom Begriff der Liturgik (= Einordnung in den theologischen Theorierahmen) wird die ,4dee des Gottesdienstes überhaupt" (= Philosophische Theologie) als „Fest" eingehend erläutert. Die Besonderheiten des christlichen Gottesdienstes werden erhoben im Blick auf „das persönliche Verhältniß Christi und der Apostel"92 (= Historische Theologie, Exegetische Theologie). Darauf wird der geschichtliche Verlauf des Christentums in der Perspektive auf den Kultus betrachtet (= Historische Theologie, Kirchengeschichte im engeren Sinne). Es schließen sich dogmatische Betrachtungen an93 (= Historische Theologie, Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes). Schleiermacher beendet seine Überlegungen mit der Verhandlung spezieller Handlungsanweisungen94 (= Praktische Theologie): „Die sacramentlichen Handlungen und das kirchliche bei Trauungen und Begräbnissen"95. Es wäre daher schlechthin naiv, etwa die Einlassungen zum Thema Gottesdienst, die sich in der „Praktischen Theologie" finden, umstandslos als praktisch-theologische Theoriebildung anzusehen - bloß weil sie in einer praktischtheologischen Vorlesung auftauchen. Praktisch-theologisch sind dann dort vielmehr nur genau diejenigen Aussagen, die in Zusammenhang mit der Formulierung von Kunstregeln stehen, während die sie vorbereitenden Erwägungen den Status von Lehnsätzen aus anderen Disziplinen innehaben. Das heißt dann aber: Die Rekonstruktion von Schleiermachers Gottesdiensttheorie am Leitfaden seiner „Kurzen Darstellung" ist folglich nicht dann bereits erreicht, wenn die einschlägigen Einlassungen der „Christlichen Sitte", der „Praktischen Theologie" usw. zusammengefaßt und als solche den gleichnamigen theologischen Teildisziplinen zugeordnet werden. Es könnte aus dem Vorangegangenen der Eindruck entstanden sein, als würde hier in unnatürlicher und willkürlicher Weise in den Gedankengang Schleiermachers eingegriffen, wenn etwa beabsichtigt ist, die Überlegungen Schleiermachers zum Gottesdienst, die sich in der „Praktischen Theologie" finden, in eine Vielzahl theologischer Satzarten aufzuspalten und nur einen Teil davon als genuin praktisch-theologische Sätze anzusehen. Man könnte fragen: wenn Schleiermacher dies gewollt hat, wenn Schleiermachers Gottesdiensttheorie von ihm selbst so angelegt wurde, warum hat er sie nicht auch selbst so ausgeführt? Schleiermacher hatte nie den Anspruch, mit seinen verschiedentlichen Äußerungen zum Thema Gottesdienst im Rahmen der „Glaubenslehre", der 91 92 93 94 95

PrTh, 838ff. PrTh, 841. PrTh, 841f. Vgl. CS, 537. PrTh, 844.

Konsequenzen für den Umgang mit den Quellen

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„Christlichen Sitte", der „Praktischen Theologie" und anderswo eine umfassende Gottesdiensttheorie zu ersetzen. Der Rahmen, in welchem sich die Äußerungen finden, ist - bei den genannten Beispielen - der Rahmen einer Entfaltung des je spezifischen Beitrages, den die jeweiligen Disziplinen zur Lösung der theologischen Gesamtaufgabe - Instandsetzung zu einer zusammenstimmenden Kirchenleitung - beisteuern. Weil und insofern der Gottesdienst in diese Aufgabe mit hineingehört, muß er dann auch in allen Disziplinen thematisch werden. Nun gilt aber, daß ein Satz erst im Verweisungszusammenhang aller möglichen theologischen Satzarten ein theologischer Satz ist. Auch ein Satz der Praktischen Theologie über den Gottesdienst ist erst im Zusammenhang mit anderen theologischen Satzarten ein praktisch-theologischer: „Daher ist, die Grundzüge aller theologischen Disziplinen inne zu haben, die Bedingung, unter welcher auch nur eine einzelne derselben in theologischem Sinn und Geist kann behandelt werden"96. Es ist daher ganz dem entsprechend, wenn die „Praktische Theologie" nicht nur praktisch-theologische Sätze über den Gottesdienst enthält. Es ist ebenso ganz dem entsprechend, wenn der unterschiedliche Status dieser Sätze in einer Rekonstruktion wie dem vorliegenden Versuch offengelegt wird. Und es ist dies nichts anderes als die Wahrnehmung von Schleiermachers Selbstverständnis, daß auch der Praktische Theologe Exeget und Dogmatiker - kurz: ein „kompletter" Theologe sein muß97. Aus eben diesem Grunde liegt auch von Schleiermacher mehr Material vor, als man zunächst erwartet, da er zwar viele Disziplinen der Theologie nicht in Vorlesungen behandelt hat, aber eben deren jeweilige Reflexionsaufgabe im Rahmen anderer Disziplinen zumindest schemenhaft angedeutet hat. Die ge96 KD2 §16. Vgl. ThES, 16: „Wollte sich nämlich einer von Vorn herein ganz auf einen einzelnen Theil beschränken, so wäre das Ganze nirgends. Nicht einmal in allen zusammen, denn das Ganze ist der Zusammenhang, und der wäre nicht vorhanden, sondern in jedem ein isolirter Theil. Zudem würde dann jeder Theil seinen theologischen Charakter verlieren. Jeder Einzelne würde sich um nichts andres als um sein eignes Gebiet bekümmern, es fände dann kein Zusammenwirken, keine Kirchenleitung, und somit keine theologische Wissenschaft mehr statt. Daraus entsteht nun eine Folge, daß nämlich, wenn die Theologie bestehen soll, auf irgendeine Weise das Ganze in Jedem seyn muß. Alle diejenigen, die sich mit einem einzelnen Theil so beschäftigen, daß sie das Ganze nicht haben, - die sind immer auch schon auf dem Wege, dieses Einzelne auf nicht theologische Weise zu treiben". 97 ThES, 28: „Werden wir nun nicht ebenso sagen müssen, daß die praktische Theologie die 2 ändern enthält auf technische Weise, und daß die philosophische Theologie beyde ändern in sich schließt, aber nur implicite, weil sie die Principien enthält? Dieß ist nun eben das Wesen der Theologie als eines Ganzen, daß kein Theil derselben absolut ausser dem anderen ist". Findet sich in diesem kompletten Theologen auch die Frömmigkeit in ausgeprägter Gestalt, so realisiert sich darin die „Idee eines Kirchenfürsten". Vgl. W. Grab, Humanität, 68; D. Rössler, Vocatio interna; A. Faure, Über die „Idee eines Kirchenfürsten".

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Der enzyklopädische Rahmen der Gottesdiensttheorie

ordnete Entfaltung von Schleiermachers Beiträgen zu den verschiedenen Aspekten des Gottesdienstes soll im zweiten Hauptteil erfolgen. Dabei werden wir uns an die in Schleiermachers „Kurzer Darstellung" vorgegebene Struktur der theologischen Theoriebildung halten, sodaß die Gliederung der „Kurzen Darstellung" zugleich unserer Studie ihrer weitere Gliederung vorgibt.

§ 2 Der Begriff des Gegenstandes der Gottesdiensttheorie 1. Wie kommt die Gottesdiensttheorie als theologische Theorie zum Begriff ihres Gegenstandes? Wie wir im vorstehenden Kapitel gesehen haben, ist die Theologie als positive Wissenschaft immer schon bei ihrem Gegenstand: der christlichen Frömmigkeit im Rahmen der Kirche. Theologie ist nichts anderes als die interessierte Selbstwahmehmung von gemeinschaftlicher Frömmigkeit in komplexen und höherentwickelten Gesellschaften. Von diesem Standpunkt aus ist Theologie identisch mit Ekklesiologie1. Wenn nun gefragt wird, wie kommt die Gottesdiensttheorie als theologische Theorie zum Begriff ihres Gegenstandes, so kann dies nur in Form einer Analyse dessen geschehen, was durch die Ausrichtung an der christlichen Frömmigkeit im Rahmen der Kirche immer schon mitgesetzt ist. Alle möglichen theologischen Themen haben ihre Legitimation im Kirchenbegriff als dessen Implikate2. Da der so geforderte theologische Begriff der Kirche seinerseits erst nach Abschluß der theologischen Theoriebildung zur Verfügung steht, können alle ekklesiologischen Seitenstücke nur einen tentativen Charakter haben, indem sie einen noch nicht endgültig bewährten Kirchenbegriff hypothetisch zugrunde legen. Die Ausdifferenzierung von eigenständigen Teilbereichen der Ekklesiologie muß sich in ihrem Vollzug hin auf die wissenschaftliche Konkretion des theologischen Kirchenbegriffs bewähren. Sie kann noch nicht von vornherein als bewährt angesehen werden, da ja die bewährende Instanz - der theologische Begriff der Kirche - noch aussteht. Wie Wissen überhaupt3, so ist auch alles theologische Wissen nur vorläufig. Wie kann aber dann eine begründete Ausdifferenzierung des theologischen Stoffes aus dem Ganzen der Ekklesiologie erfolgen, die mehr ist als bloße Willkür? Dies kann so erfolgen, daß als Legitimationsinstanz der christliche sensus communis herangezogen wird. Aber nicht in der Weise, daß er hin-

Wenn und insofern Ekklesiologie auch die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Kirche mitbeinhaltet. Das genau ist aber wohl ThES, l f., mit im Blick. Analog dazu zeigte sich ja im vorstehenden Paragraphen die sachliche Notwendigkeit aller theologischen Reflexionsperspektiven und Methoden im Rekurs auf die Aufgabe der zusammenstimmenden Kirchenleitung. Vgl. PhE, 517-542.

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Der Begriff des Gegenstandes der Gottesdiensttheorie

sichtlich seiner historisch-kontingenten Urteilsbildung als Legitimationsinstanz fungiert, sondern so, daß die Reflexion auf die Bedingungen seiner Möglichkeit die grundlegenden Elemente des Kirchenbegriffes und damit des zu bearbeitenden theologischen Stoffes herausdestilliert: „Es wird nur die Kenntniß von demjenigen, was in der christlichen Kirche ist vorausgesezt, nicht als Element der Theologie, sondern so wie es sich im Bewußtseyn jedes gebildeten Christen findet. Also wird nur vorausgesezt, was nothwendig vorauszusezen ist, daß jeder das Bewußtseyn der christlichen Kirche in sich trage"4. Auch die Notwendigkeit einer eigenständigen Behandlung des Themas Gottesdienst muß sich dadurch erweisen, daß sich die unter diesem Titel intendierte Sache in der Analyse des Phänomens Kirche als wesentlich eigenständiges Element eben dieses Phänomens ergibt. Die Gottesdiensttheorie kommt folglich zu ihrem Gegenstand so und nur so, daß sie ihn sich von der Ekklesiologie - verstanden als mitbeinhaltend auch die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des gegebenen Faktums christlicher Frömmigkeit im Rahmen der Kirche - vorgeben läßt. Das bedeutet nicht, daß der Gottesdienst überhaupt erst von der Theologie konstituiert würde - die christliche Praxis liegt immer der Theologie schon voraus5. Aber wie die Elemente der christlichen Frömmigkeitspraxis zu bestimmen sind - sowohl hinsichtlich ihres Gehaltes als auch hinsichtlich ihres Zusammenhanges -, kann nicht umstandslos aus der Praxis selbst abgelesen werden, sondern ist ein Ergebnis theoretischer Arbeit6. Die Gottesdiensttheorie versichert sich somit ihres Gegenstandes im Kontext der Philosophischen Theologie7. Denn unsere Bestimmung der Aufgabe der Philosophischen Theologie innerhalb der Gottesdiensttheorie lautete ja:

ThES, 32. Vgl. CS, 6: „Wenn verschiedene Meinungen ausgeglichen werden sollen über die christliche Lehre selbst, und jemand nicht anerkennen will, daß etwas zur christlichen Lehre gehöre: so muß man ihm zeigen, daß er mit demselben zugleich sein Interesse an der christlichen Kirche aufgeben müsse, daß mit demselben die Voraussezung selbst stehe oder falle(...)Jene erste Art der Entwikkelung einzelner christlicher Lehrsäze aus der Voraussezung ist ein analytisches Verfahren". Vgl. auch: CS, 9.62. 118fl21. Vgl. Wolfgang H. Pleger, Schleiermachers Philosophie, 5f. - Vgl. das treffende Diktum von Hans-Dieter Bastian: „Was immer von Schleiermacher und anderen Konzeptionen gelernt werden soll, solange theologisches Denken vorzüglich mit dem theologisch Gedachten verglichen wird, kann Praktische Theologie als Wissenschaft schwerlich beginnen" (H.-D. Bastian, Praktische Theologie und Theorie, 85). Vgl. CS, 546. - Das ist gegen H.-D. Bastian festzuhalten, der als Konsequenz aus der in der letzten Anmerkung zitierten Einsicht fordert, methodisch die Herrschaft theologischer Systeme außer Geltung zu setzen, weil nur so Theologie als Theologie den Schwierigkeiten der Praxis gerecht werden könne (ebd.). Die enzyklopädische Entfaltung der Gottesdiensttheorie Schleiermachers darf also gerade nicht mit der Historischen Theologie beginnen, wie es bei Rainer Volp, Liturgik, Bd. 2, 798, programmatisch geschieht.

Wie kommt die Gottesdiensttheorie zum Begriff ihres Gegenstandes?

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„Wesensbestimmung des christlichen Gottesdienstes durch Wesensanalyse dessen, was in der christlichen Frömmigkeit, dem allgemeinen christlichen Bewußtsein, gegeben ist"8. Der Gegenstand der Gottesdiensttheorie ergibt sich also aus der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit der geschichtlich gegebenen christlichen Frömmigkeit als Kirche, wobei „Gottesdienst" als Titel für eine der dazu notwendigen Bedingungen herangezogen wird. Unter dieser Voraussetzung kann das so Beschriebene nicht mehr für ein geschichtlich kontingentes Element christlicher Frömmigkeit gelten, sondern gehört zu deren Wesenszügen, dessen Fehlen stante pede das Aufhören der christlichen Kirche signalisierte. Als notwendige Bedingung der Möglichkeit christlicher Kirche geht das so unter dem Titel „Gottesdienst" Befaßte dann aber auch nicht in den entsprechenden geschichtlichen Gestalten auf, sondern bezeichnet einzig eine unabweisbare Aufgabe, die der geschichtlichen Situation gemäß wahrzunehmen ist - evtl. auch in Formen, die von den uns Bekannten stark abweichen9. Es ist hier auf einen interessanten Aspekt hinzuweisen: Schleiermachers Theologie nimmt ihren Ausgangspunkt bei dem Faktum christliche Frömmigkeit als Kirche, das als solches Faktum der Theologie immer schon voraushegt10. Die Theologie als Philosophische Theologie besinnt sich auf die Bedingungen der Möglichkeit dieses Faktums und beschreibt dazu die wesentlichen Momente christlicher Frömmigkeit im Rahmen der Kirche unter Aufnahme der vorwissenschaftlichen traditionell-christlichen Terminologie. Die Aufnahme dieser Terminologie ist notwendig, wenn anders die Theologie wirklich den christlichen Alltag orientieren soll und nicht nur den akademischen Diskurs. Insofern aber die vorwissenschaftliche Terminologie in Bezug gesetzt wird zu den Wesenszügen der christlichen Kirche, die in der philosophisch-theologischen Reflexion zu explizitem Bewußtsein gebracht sind, wird die Theologie instandgesetzt mehr zu bieten als eine Orientierung im status quo: nämlich eine Orientierung über diesen hinaus im Vollzug immanenter Kritik. Die Theologie ist bei Schleiermacher nicht nur Abbild der Praxis, sondern immer auch zugleich Vorbild, indem sie auf das „Urbild" - das Wesen - dieser Praxis reflektiert".

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Vgl. oben Paragraph §1, Abschnitt 3. In ähnlicher Weise hat Schleiermacher bekanntlich in seiner „Kurzen Darstellung" die Predigt für ein historisch kontingentes Faktum erklärt, das weit davon entfernt sei, zu den Wesenszügen der christlichen Kirche gerechnet werden zu können. Unabweisbar ist allerdings die von der Predigt aufgrund bestimmter kulturgeschichtlicher Gegebenheiten wahrgenommene Aufgabe der sprachlichen Kommunikation von Frömmigkeit. Diese Aufgabe kann nur bei Strafe der Selbstauflösung der Kirche vernachlässigt werden. Vgl. PrTh, 823. 10 Vgl. ThES, 32 u.ö. 11 Vgl. Erich Schrofner, Theologie als positive Wissenschaft, 78ff.

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Der Begriff des Gegenstandes der Gottesdiensttheorie

2. Die Uneindeutigkeit des Gegenstandes der Gottesdiensttheorie zwischen Kultus, Sitte und kirchlichem Gesamtleben Wir hatten gesagt: Alle möglichen materialen Seitenstücke der Ekklesiologie ergeben sich aus der Analyse der Wesenszüge der christlichen Kirche. Und wir hatten darauf hingewiesen, daß die Bezeichnung jener Wesenszüge geschieht unter Aufnahme vorwissenschaftlicher traditionell-christlicher Terminologie. Die Theologie bringt somit das christliche Selbstverständnis so auf den diesem eigenen Begriff, daß sie dieses gewissermaßen besser versteht, als dieses sich selbst bisher verstanden hatte. Dieses Vorgehen steht zum einen in der Gefahr, daß die Theorie aufgrund ihres traditionellen Vokabulars als im schlechten Sinne restaurativ, dem status quo verhaftet und somit diesen unkritisch fortschreibend, mißdeutet wird12. Dieses Vorgehen steht zum anderen in der Gefahr, daß Uneindeutigkeiten der Alltagssprache auf die Ebene der Theorie importiert werden. Dies gilt nun besonders im Blick auf den Ausdruck „Gottesdienst". Denn die traditionelle christliche Sprache verwendet den Ausdruck Gottesdienst offenkundig zur Bezeichnung von verschiedenen Sachverhalten. Der Ausdruck bezeichnet nämlich zum einen das kultische Handeln, kann aber auch als Titel für das christliche Leben insgesamt - die alltägliche Lebenspraxis des einzelnen Frommen - fungieren13. Schleiermacher hat in seiner „Kurzen Darstellung" die Doppeldeutigkeit des Ausdruckes Gottesdienst vermieden und für beide Sachverhalte unterschiedliche Bezeichnungen gewählt: Kultus und Sitte14. Kultus und Sitte werden zusammengefaßt unter dem Oberbegriff des kirchlichen Lebens. Schleiermacher hat aber auch der engen Verknüpfung beider, die im vorwissenschaftlichen christlichen Bewußtsein ihren Ausdruck in der Doppeldeutigkeit des Titels Gottesdienst findet, Rechnung getragen und beide auf das engste aneinander gebunden wissen wollen15. 12 Der typische Gestus einer solchen Mißdeutung: Unter Hinweis auf ein traditionelles Vokabular wird die damit zum Ausdruck gebrachte Theorie als hinter dem neuzeitlichen Wirklichkeitsbewußtsein zurückbleibend denunziert - „Das kann man doch heute so nicht mehr sagen!". Vgl. ThES, 209. - Ein Beispiel aus diesem Jahrhundert ist etwa der Umgang der nachdialektischen Praktischen Theologie mit Eduard Thurneysens Lehre von der Seelsorge. Rudolf Bohren hat diesen Umgang mit einem „Hexenprozeß" verglichen (Prophetic und Seelsorge, 60). 13 Vgl. zu diesen beiden Gottesdiensten und ihrem Verhältnis. Eberhard Jüngel, Der evangelisch verstandene Gottesdienst; ders., Der Gottesdienst als Fest der Freiheit, 270f. 14 Im Kontext der Historischen Theologie erläutert KD2 §168: „Auf der Seite des kirchlichen Lebens sondern sich wiederum am leichtesten die Entwicklung des Kultus, d.h. der öffentlichen Mitteilungsweise religiöser Lebensmomente, und die Entwicklung der Sitte, d.h. des gemeinsamen Gepräges, welches der Einfluß des christlichen Prinzips den verschiedenen Gebieten des Handelns aufdrückt". 15 KD2 § 170: „Beide aber, Sitte und Kultus, sind in ihrer Fortbildung auch so sehr aneinander gebunden, daß, wenn sie in dem Maß von Bewegung oder Ruhe zu sehr voneinander abweichen, entweder der Kultus das Ansehen gewinnt, in leere Gebräuche oder

Kultus, Sitte, kirchliches Gesamtleben

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In der Christlichen Sittenlehre dagegen nimmt Schleiermacher die alltagssprachliche Doppeldeutigkeit16 auch in die theologische Sprache auf und versucht, sie durch Näherbestimmungen zu entschärfen: Gottesdienst im engeren Sinne und Gottesdienst im weiteren Sinne17. Das Aufeinanderverwiesensein von Gottesdienst im engeren und Gottesdienst im weiteren Sinne wird zwar noch eigens betont18, versteht sich aber letztlich immer schon von selbst, fallen doch beide unter den Oberbegriff Gottesdienst bzw. darstellendes Handeln19. Es kann hier noch nicht entschieden werden, ob diese terminologische Entscheidung der Christlichen Sittenlehre zweckmäßig war oder nicht. Klar ist auf jeden Fall, daß Schleiermacher der Überzeugung Ausdruck geben wollte, daß Gottesdienst nicht reduziert werden darf auf Kultus, sondern als eine schlechthin das ganze Leben umfassende Bewegung gedeutet werden muß: „Gottesdienst ist also der Inbegriff aller Handlungen, durch welche wir uns als Organe Gottes vermöge des göttlichen Geistes darstellen"20. Insofern die Sphäre dieser Darstellung als Organ Gottes das kirchliche Leben in der Welt ist, kann man den Ausdruck Gottesdienst auch als Oberbegriff der „Kurzen Darstellung" für Kultus und Sitte supplieren. Dieser kurze Überblick läßt schon erahnen: Die Aufnahme des alltagssprachlich doppeldeutigen Ausdruckes Gottesdienst in seiner Doppeldeutigkeit in die theologische Sprache erschwert die genaue Bestimmung des Gegenstandes der Gottesdiensttheorie Schleiermachers. Es stehen hierfür immerhin drei nicht identische Sachverhalte zur Auswahl: 1. Der Kultus / Gottesdienst im engeren Sinne. 2. Die Sitte / Gottesdienst im weiteren Sinne. 3. Das kirchliche Gesamtleben / Gottesdienst als Oberbegriff21.

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Aberglauben ausgeartet zu sein, während das christliche Leben sich in der Sitte bewährt, oder umgekehrt ruht auf der herrschenden Sitte der Schein, daß sie während die christliche Frömmigkeit sich durch den Kultus erhält, nur das Ergebnis fremder Motive darstelle". Vgl. KD, l.Aufl., 48 (§16) [=Scholz, 65]; CS, 536f.598 [1826/27]. CS, 525 CS, 530f.534ff: Der Gottesdienst im engeren Sinne ist der Kultus; der Gottesdienst im weiteren Sinne die Alltagspraxis der Christen zur Ehre Gottes im Anschluß an l.Kor 10,31 (CS.530). CS, 536f. Darstellendes Handeln als Wesen des Gottesdienstes u.a.: CS,51f; CS,Beil.A,17f [§53]. 23f[§68];CS,Beil.B,149[§10], CS, 525f. Damit ist auch das wirksame Handeln noch vom darstellenden umschlossen, wenn es diesem auch nicht wesentlich ist, d.h. wenn auch ein darstellendes Handeln ohne diejenige Wirksamkeit denkbar ist, der das wirksame Handeln seinen Namen verdankt. Der von Schleiermacher in der „Kurzen Darstellung" verwendete Ausdruck „kirchliches Gesamtleben" ist irreführend, da er beim heutigen Leser fast immer auf die institutionalisierte Frömmigkeitspraxis reduziert wird. Das ist aber von Schleiermacher nicht intendiert. Sachgemäßer wäre wohl der Ausdruck „christliches Gesamtleben".

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Der Begriff des Gegenstandes der Gottesdiensttheorie

Ob und inwiefern zwischen diesen unterschiedenen Sachverhalten eine Beziehung besteht, muß die philosophisch-theologische Wesensanalyse des Phänomens Kirche ergeben.

. Teil Die Rekonstruktion von Schleiermacherstheologischer Gottesdiensttheorie in ihrer enzyklopädischen Gestalt Halten wir zunächst das Ergebnis des ersten Hauptteiles unserer Arbeit fest: Methodisch ist Schleiermachers Gottesdiensttheorie als theologische Theorie am Leitfaden der „Kurzen Darstellung" zu rekonstruieren. Sachlich bezieht sich unsere Rekonstruktion von Schleiermachers Gottesdiensttheorie auf die theologische Deutung des Kultus im Gesamt des kirchlichen Lebens. Der zweite Teil unserer Arbeit gliedert sich somit notwendig in die drei Paragraphen: - § 3. Philosophische Theologie des Kultus. - § 4. Historische Theologie des Kultus. - § 5. Praktische Theologie des Kultus.

§ 3 Philosophische Theologie des Gottesdienstes als Kultus 1. Schleiermachers Projekt einer Philosophischen Theologie Schleiermachers Projekt einer Philosophischen Theologie1 verdankt sich nicht nur einer bestimmten wissenschaftstheoretischen Auffassung, sondern muß als Signum einer gewandelten kulturgeschichtlichen Situation verstanden werden. Vgl. Hermann Süskind, Christentum und Geschichte bei Schleiermacher, 30-54 (Der Begriff der Philosophischen Theologie nach der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums). Martin Rössler, Schleiermachers Programm der Philosophischen Theologie. - Wie sich Philosophie und Theologie in Schleiermachers Werk zueinander verhalten, ist bis heute eine nicht abschließend geklärte Frage. (Vgl. Erdmann Schott, Erwägungen zu Schleiermachers Programm einer philosophischen Theologie; H.-J. Birkner, Theologie und Philosophie. Einführung in Probleme der Schleiermacher-Interpretation; Volker Weymann, Glaube als Lebensvollzug, 207ff; Falk Wagner, Gefühl und Gottesbewußtsein, 47ff., Ders., Vernünftige Theologie und Theologie der Vernunft, 189ff.; Erich Schrofner, Theologie als positive Wissenschaft, 15ff.21ff.47ff 195ff; Ulrich Barth, Christentum und Selbstbewußtsein, 12ff.) Das liegt nicht zuletzt an der Uneindeutigkeit, in der Schleiermacher selbst sich hierzu geäußert hat. Finden sich doch bei ihm eine Fülle von einander scheinbar widersprechenden Aussagen zu diesem Thema, die drei Typen der Schleiermacher-Interpretation motiviert haben, wie H.-J. Birkner konstatierte: „Man wird hinsichtlich der genannten Fragestellung drei Haupttypen der Interpretation unterscheiden können je nachdem, ob das Verhältnis der Theologie zur Philosophie in Schleiermachers Werk als ein solches der Unabhängigkeit, der Abhängigkeit oder der Vermittlung bestimmt wird" (a.a.O., 13). Birkners eigener Vorschlag läuft auf „die Unterscheidung von systembezogener und nicht-systembezogener Erörterung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie" (a.a.O., 21) bei Schleiermacher hinaus. Es seien die Aussagen Schleiermachers daraufhin zu prüfen, ob in ihnen der Ausdruck Philosophie die zu seiner Zeit gängigen Theorieangebote einer wissenschaftlichen Weltdeutung bezeichne oder aber eine Disziplin in Schleiermachers eigener Systematik der Wissenschaften thematisiere. Im Blick auf die zuletzt genannte Verwendung des Ausdruckes Philosophie sei im Falle Schleiermachers „nicht mit Konfrontations- und Alternatiworstellungen von Philosophie und Theologie" zu operieren (a.a.O., 43), sondern vielmehr deren funktionales Verhältnis in Schleiermachers Wissenschaftssystematik offenzulegen. - Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, Schleiermachers Wissenschaftssystem zu entfalten. Wir beschränken uns daher zunächst darauf, den Status der Philosophischen Theologie im Rahmen der theologischen Disziplinen zu bestimmen und Schleiermachers Wissenschaftssystem nur heranzuziehen, wo es unvermeidlich ist. Vgl. hierzu: Eilert Herms, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher. - Zur Philosophie Schleiermachers vgl. Gunter Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers; Wolfgang H. Pleger, Schleiermachers Philosophie. Eine der wenigen philosophiegeschichtlichen Darstellungen, die Schleiermacher eine eingehendere Würdigung widmen, ist: K.-Chr. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus.

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Philosophische Theologie des Gottesdienstes

Die traditionelle Selbstverständlichkeit des Christentums als der gesellschaftlich dominierenden Orientierungsgröße und vor allem die traditionelle Selbstverständlichkeit der kirchlichen Institutionalisierung der christlichen Frömmigkeit hatte sich geschichtlich überlebt. Das Christentum in seiner kirchlichen Gestalt wurde immer stärker als eine geschichtliche Erscheinung wie jede andere verstanden. Damit wurde es zu einer kontingenten Größe. Dem hatte nun auch jede Theorie des Christentums - sowohl religionsphilosophischer wie theologischer Prägung - Rechnung zu tragen. Schleiermachers Theologie ist das Resultat der angestrengten Bemühung um die Erfassung derjenigen Aufgaben, die der christlichen Frömmigkeit mit ihrer Geschichtlichkeit aufgegeben sind. Dabei fuhrt die Reflexion auf die augenscheinliche Verflüssigung dessen, was christliche Frömmigkeit ist, bei Schleiermacher zu einem überraschenden Ergebnis. Die Geschichtlichkeit der christlichen Frömmigkeit erfordert nach Schleiermacher nämlich ihre Institutionalisierung und ihre Einordnung in das Gesamtgefuge geschichtlich-sittlicher Institutionen. Diese Pointe seiner Reflexion auf die Geschichtlichkeit christlicher Frömmigkeit unterscheidet Schleiermachers Theologie markant von anderen theologischen und religionsphilosophischen Konzeptionen seiner Zeit2. Und bereits kurz nach seinem Tode ist eine geistige Situation eingetreten, in der man Schleiermachers Beharren auf dem auch - wenn auch nicht nur - auf institutionelle Verfaßtheit abzielenden Wesen der christlichen Frömmigkeit verständnislos gegenübersteht: „Jetzt legt sich eine Trennung desjenigen Christentums, das sich auf die Emanzipation beruft, von dem institutionell gebundenen Christentum der Tradition nahe, die Schleiermacher gerade zu vermeiden gesucht hat"3. „Weil das neue protestantische Verständnis des Christentums keine institutionenspezifischen Züge hat, kann es auch eine Weite erlangen, die den Rahmen der Institution und ihrer Lehre hinter sich läßt"4. „Solche Versöhnung von Christentum und Humanität, Freiheit und Frömmigkeit hat jedoch keine eigene und ausdrückliche Gestalt, wie sie dem an der Institution Kirche ausgewiesenen Christentum eigen ist"5. Die damit umrissene Position dürfte auch die die Gegenwart dominierende Auffassung wiedergeben. Sie steht damit sogar in der Tradition Schleiermachers - aber eben nur des halben Schleiermacher. Dieser verortet die Frömmigkeit bekanntlich im Gefühl und gesteht demgegenüber der kirchlichen Lehre wie der kirchlichen Sitte einen nur sekundären Rang zu. Schleiermacher tritt damit einer umstandslosen Identifikation der christlichen Frömmigkeit mit einem fixen Bestand von Lehraussagen, Verhaltensformen und Or2 3 4 5

Dessen war sich Schleiermacher selbst sehr wohl bewußt; vgl. etwa: KD2 §22; ThES, 22. Trutz Rendtorff, Kirche und freier Protestantismus, 93. A.a.O., 84. A.a.O., 83.

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ganisationsgestalten entgegen6. Dies bedeutet aber - die andere Hälfte - für Schleiermacher keinesfalls den Verzicht auf „feste und ausdrückliche" Gestalt. Der sittliche Charakter von gelebter Frömmigkeit ist vielmehr überhaupt nur gegeben als Gestalt, weil eben dies die sittliche Realisationsform des Geistigen in der Natur ist7. Für die Frömmigkeit bedeutet dies. „Das fromme Selbstbewußtsein wird wie jedes wesentliche Element der menschlichen Natur in seiner Entwicklung notwendig auch Gemeinschaft, und zwar einerseits ungleichmäßig fließende, andrerseits bestimmt begrenzte, d.h. Kirche"8. Die kirchliche Gestalt der Frömmigkeit muß aber ihrem Gehalt auch angemessen sein. Der Nachweis dieser Gemäßheit ist unter den angezeigten neuzeitlichen Bedingungen aber ungleich schwerer zu erbringen als in früheren Zeiten. In einer Zeit, in der die christliche Frömmigkeit ihre fraglose Akzeptanz als letzte und unüberbietbare Erschließungsinstanz der conditio humana eingebüßt hat, muß sie zunächst selbst ihre sittliche Legitimität nachweisen9. Schleiermacher hat dieser Notwendigkeit so Rechnung getragen, daß er die Frömmigkeit als einen - präziser: den - konstitutrven Aspekt des Menschseins, als eine anthropologische Konstante entfaltete. Methodisch vollzog sich diese Entfaltung als Analyse der geschichtlichen Selbsterfahrung menschlichen Bewußtseins10. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen reagiert Schleiermacher also auf den neuzeitlichen Legitimationsdruck nicht so, daß er die Sittlichkeit der Frömmigkeit umstandslos aus „der" Philosophie entlehnt. Die vernünftige Selbstbeobachtung, in der sie, die Vernunft, sich selbst unabweisbar als bloß geschichtlich-endliches Bewußtsein erschlossen ist, ist der Ort der diskursiven Entfaltung jener Legitimität, die der Frömmigkeit immer schon unabhängig von aller philosophischen Bemühung zukommt, aber nur durch philosophische Bemühung einsichtig gemacht werden kann". Die philosophisch reflektierte Selbstbeobachtung erweist die Frömmigkeit samt deren institutioneller Verfassung als Kirche als eines derjenigen Resultate „von der Wirksamkeit der Vernunft in der menschlichen Leiblichkeit", die nicht in Zweifel gezogen werden können, „außer in so fern die Vernunft selbst und ihre Thätigkeit irgendwie geläugnet würde"12.

6 7 8 9 10 11

Vgl. GL2 §3. Vgl. PhE, 533. 546. GL2 §6. Vgl. KD 2 §§21ff. Vgl. GL2 §§3-5. „Der Glaube aber als im alten ursprünglichen Sinne in einer Zeit, wo die kirchliche Lehre noch nicht bestand, geht nicht von der Erkenntniß aus, sondern erzeugt die Erkenntniß; insofern hatte auch Anselm Recht, daß das credere das intelligere begründe" (KG, 494). - Vgl. Dietrich Korsch, Das doppelte Absolute, 51 ff.

12 SWIII.2,495.

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Frömmigkeit gehört wesentlich zur conditio humana, und insofern ist sie vernunftgemäß. Was genau leistet aber nun eine Philosophische Theologie, wenn Schleiermacher die Sittlichkeit der Frömmigkeit nicht umstandslos aus der Philosophie entlehnt? Das Adjektiv „philosophisch" will nicht etwa besagen, daß durch die Philosophische Theologie eine wissenschaftlich fundierte Weltdeutung - eine bestimmte, inhaltlich festgelegte „Philosophie" - zur Grundlage der Theologie gemacht werden soll, sondern zeigt an, daß es in ihr um die Prinzipien13, die Grundbegriffe14, kurz: die Idee des Christentums15 geht, derer sich die Theologie zur Erfassung der christlichen Frömmigkeit bedient, ohne zu unterstellen, diese sei auf wissenschaftlichem Wege im Sinne eines reinen Vemunftraisonnements generierbar16: „Die Benennung rechtfertigt sich teils aus dem Zusammenhang der Aufgabe mit der Ethik, teils aus der Beschaffenheit ihres Inhaltes, indem sie es grossenteils mit Begriffsbestimmungen zu tun hat"17. Auch der Rekurs auf die Ethik meint keine Aufnahme außertheologischer Inhalte in die Theologie. Mit Ethik wird nur der Bereich der theologischen Begriffsbestimmung benannt: der Bereich menschlichen Handelns. Die Theologie ist eine Handlungswissenschaft: Sie bezieht sich auf das sachgemäße kirchenleitende Handeln der christlichen Gemeinschaft und ihrer Mitglieder: „Der allgemeine Begriff der Kirche nun muß vorzüglich, wenn es dergleichen wirklich geben soll, aus der Ethik entnommen werden, da auf jeden Fall die Kirche eine Gemeinschaft ist, welche nur durch freie menschliche Handlungen entsteht und nur durch solche fortbestehen kann"18. Die christliche Kirche ist ein geschichtlich-sittliches Phänomen und das Verständnis ihres Wesens also nur möglich unter Rekurs auf diejenigen Verstehenskategorien, die alle möglichen 13 14 15 16

ThES, 24.26. ThES, 27. ThES, 27; KD2 §27. Die Deduktion der christlichen Frömmigkeit aus einem allgemeinen Frömmigkeitsbegriff auf wissenschaftlichem Wege unmöglich und nicht Aufgabe der Philosophischen Theologie: ThES, 23f.33ff.45f.48ff.; GL2 §11.5, I.82f. - Die Orientierung der Philosophischen Theologie an den Prinzipien, Grundbegriffen des Christlichen: ThES, 24.26. 27.28.29. 30.31 u.ö. 17 KD2 §24; vgl. PrTh, 22. 18 GL2 §2.2, 1.12.(Vgl. ThES, 33.216.) Die handschriftliche Anmerkung Schleiermachers zu dieser Stelle (ebd.) zeugt von seinem Bewußtsein, mit dieser ethischen Betrachtung der Kirche Neuland zu betreten. Der Gedanke, daß alle sittlichen Gemeinschaften nichts sind als Gemeinschaften gemeinschaftlichen Handelns, ist fundamental geworden für Schleiermachers Kulturtheorie und somit auch für sein Verständnis der Kirche: vgl. SW HI/2, 379f.392.412; CS, 322.389.425.446.484.499; GL2 §126.2, 11.278; SW 1/5, 613; ThES, 51; PrTh, 523.530f. Diese Überlegungen sind nicht beschränkt auf menschliche Gemeinschaften, sondern ziehen nur eine Konsequenz aus Schleiermachers Auffassung von der Grundverfassung von lebendigen Wesen überhaupt: „Die lebendigen Wesen, die Vegetation mit eingerechnet, entstehen nur aus Thätigkeiten und bestehen in Thätigkeiten, welche sich immer auf dieselbe Weise entwikkeln"(SW III.2, 412).

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geschichtlichen Phänomene erschließen. Schleiermacher hat die Philosophische Ethik genau als eine solche Wissenschaft von den Prinzipien der Geschichte19 entworfen. Die Philosophische Sittenlehre enthält „die Vernunftanfange", in denen „die Vernunfterscheinungen, deren ganzer Verlauf die Geschichte im weitesten Umfang bildet, gegründet sind"20. Sie ist das „Maaß der Geschichte"21. Soll nun das empirische Faktum Christentum verstanden werden können, so muß es sich in irgendeiner Weise durch die Philosophische Ethik begreifen lassen22 . Dies ist ein für die Theologie als Wissenschaft schlechthin existentielles Desiderat: Denn „wo in der Geschichte vorkommt, was aus der Sittenlehre nicht kann verstanden werden oder umgekehrt, da ist entweder kein wissenschaftliches Ganze gesezt, oder die Wissenschaft umfaßt nicht ihren Gegenstand"23. Die Sittlichkeit des Christentums erweist sich, wenn und insofern „als auch das Wesen der Frömmigkeit und der frommen Gemeinschaften im Zusammenhang mit den übrigen Tätigkeiten des menschlichen Geistes"24 verstehbar ist und sich das Christentum als ein besonderer Fall solcher Frömmigkeit ausweisen läßt: „Die Vernunft muß Anerkennung Christi billigen, sonst wäre jede solche ursprünglich unsittlich"25. Die hier geforderte Legitimation der christlichen Frömmigkeit als eines Phänomens im Kontext der sittlichen Welt weist Schleiermacher einer Unterdisziplin der Philosophischen Theologie zu: der Apologetik26. Die allgemeine Apologetik verteidigt den Anspruch der christlichen Frömmigkeit, als eine eigentümliche Ausgestaltung der anthropologischen Konstante Frömmigkeit zu gelten27. Die spezielle Apologetik verteidigt den Anspruch des Protestantismus, eine legitime eigentümliche Ausgestaltung der christlichen Frömmigkeit zu sein28. 19 Vgl. KD2 §35; CS, 28f. Vgl. H.-J. Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 36ff. 20 PhE, 536; vgl. a.a.O., 549. 21 CS,Beil.C, 167 22 Vgl. CS, Beil.C, 164f; a.a.O., 29. 23 PhE,538 24 KD 2 §21. 25 CS, Beil.C, 164; vgl. ThES, 33: „Ist nun die fromme Gemeinschaft etwas Wahrhaftes, so muß sie sich nachweisen lassen in dem Complexus freyer Thätigkeiten, die der Natur des Menschen entsprechen". Vgl. auch ThES, 42: „Wenn der Mensch sich auch in das Christenthum hineingelebt hätte, und es würde ihm später gezeigt, das Christenthum sey eine krankhafte Erscheinung, so müßte er es ja wieder aufgeben" Vgl. ThES, 232f 26 KD2 §39; ThES, 41ff. 27 ThES, 42: „Der Ausdruck Apologetik ist hergenommen von dem geschichtlichen Sprachgebrauch, als Verteidigung". Es ist das Bestreben der allgemeinen Apologetik, „dem Christenthum sein gutes Recht zu suchen". Vgl. C. Clemen, Schleiermachers Vorlesung über theologische Enzyklopädie, 233f. 28 ThES, 42f, gibt einige interessante Hinweise auf den zeitlich begrenzten Charakter der Apologetik. Diese ist ihrem Charakter als Verteidigung nach nur notwendig, wenn und

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Was genau besagt nun diese logische Überordnung der philosophisch-ethischen Fragestellung über die schlichte Beschreibung des Phänomens Christentum?29 Man weiß nichts von einer Sache, wenn man nur von ihr etwas weiß. Man weiß nichts vom Christentum, wenn man nur vom Christentum etwas weiß. Alles Erkennen setzt eine gewisse Distanz von seinem Erkenntnisobjekt voraus, um dieses in seiner konkreten Einbindung in seine Umwelt wahrnehmen zu können30. Die „logische Überordnung", die von Schleiermacher gefordert wird, ist also eine Ebene der Wahrnehmung, in der das Phänomen Christentum dadurch konkret anschaulich wird, daß es sowohl gegen andere Frömmigkeitsphänomene als auch gegen andere Erscheinungen der sittlichen Umwelt abgehoben wird 3 '. Der mißverständliche Ausdruck „logische" Überordnung ist also nicht im Sinne einer höheren Abstraktheit zu nehmen, sondern intendiert ganz im Gegenteil die Konkretheit einer umfassenden Schau auf das geschichtlich gegebene Gesamtphänomen: „Das Christenthum wird also nicht aus dem höheren Begriff abgeleitet, sondern es wird historisch vorausgesezt, und bekommt durch jene Ableitung nur seinen bestimmten Ort in dem Complexus aller frommen Gemeinschaften"32. Die Philosophische Ethik ist nun diejenige Wissenschaft, die das begriffliche Instrumentarium bereitstellt für die eingeforderte umfassendere Schau auf das geschichtlich gegebene Gesamtleben. Sie ist somit der nächste kategoriale Rahmen für die Theologie insgesamt und im besonderen für die Philosophische Theologie, die es mit der Wesensbestimmung des geschichtlich-sittlichen

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insofern sich die christliche Frömmigkeit - bzw. ihre protestantische Ausformung noch den Ansprüchen anderer religiöser Gemeinschaften gegenübergestellt findet. Sollte sich dereinst allerdings die Überzeugung von der Unüberbietbarkeit der christlichen Frömmigkeit weltweit durchgesetzt haben, so entfallt die Notwendigkeit einer Verteidigung und die Apologetik wird integriert in die Dogmatik als deren Anknüpfungspunkt an die Religionsphilosophie (vgl. ThES, 48f.52; KD2 §43). „Das Christenthum ausserhalb aller socialen Beziehung gedacht [mit anderen religiösen Gemeinschaften; R.S.], so würden die Untersuchungen über sein Wesen eine andre Gestalt, die einer blosen Einleitung in die Dogmatik bekommen"(ThES, 42). Vgl. GL, l.Aufl., §6, KD, l.Aufl., S.12(§4) [Scholz=S.14]; ThES, 36. - Vgl. Hermann Süskind, Christentum und Geschichte bei Schleiermacher, 39ff. Vgl. etwa ThES, 50: „Warum soll aber das eigenthümliche Wesen des Christenthums in Beziehung gesezt werden zu dem Wesen andrer frommer Gemeinschaften? Eben deßwegen, weil wir es mit Individuellem zu thun haben, welches sich nicht bestimmen laßt als mit Beziehung auf ein andres Individuelles". KD 2 §21. ThES, 36. - Vor dem Hintergrund dieser Aussage darf die Behauptung Erich Schrofners (Theologie als positive Wissenschaft, 80), die Philosophische Theologie dürfe nach Schleiermacher ihren Ausgang nicht wie die Historische Theologie bei der Kirche als einer vorgegebenen Größe beginnen, als widerlegt gelten (Schrofners weitere Argumentation an dieser Stelle relativiert zudem bereits seine steile These; a.a.O., 80f). Unsere Interpretation der Philosophischen Theologie als einer historischen Disziplin erhält also hier ihre Bewährung. - Vgl. auch Hermann Süskind, Christentum und Geschichte bei Schleiermacher, 44f.

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Phänomens christliche Frömmigkeit zu tun hat31. Es dürfte klar sein, daß der Ausdruck „Philosophische Ethik" dabei einstweilen nur eine Leerstelle bezeichnet, ohne deren jeweilige materiale Ausfüllung schon mit zu beinhalten. Schleiermacher kommt es zunächst nur darauf an, daß die Notwendigkeit einer durch diesen Ausdruck betitelten Reflexionsebene - Reflexion immer im Sinne konkret-geschichtlicher Selbstbesinnung - einsichtig wird. Auf der Reflexionsebene „Philosophische Ethik" sind verschiedene materiale Entfaltungen möglich, woraus auch verschiedene Bestimmungen der christlichen Frömmigkeit entstehen werden, die miteinander hinsichtlich ihrer Sachgemäßheit konkurrieren müssen. Einzige Bedingung für diese philosophisch-ethischen Prinzipien von sehen der Frömmigkeit ist, daß sie bestimmt Geistiges und Sinnliches unterscheiden, weil nur diese Grundunterscheidung den Gegensatz zwischen gut und böse zuläßt und die Begriffe von Gott und Welt auseinander zu halten erlaubt34. Wobei diese Bedingung nicht auf einem voraufklärerischen Macht33 Der Ansatzpunkt bei einer religionspsychologischen Rahmentheorie - und somit der Psychologie als nächstem Bezugspunkt - ist ausgeschlossen, weil die Theologie zunächst und zuerst eine Funktion der kirchlichen Gemeinschaft ist. ThES, 21, erläutert den Ansatz von KD2 §22 so: „§22. Geht nun aus von dem Begriff der frommen Gemeinschaft, nicht von der Frömmigkeit in der einzelnen Seele, weil nur auf jene die Theologie sich bezieht". Im selben Jahr (1831) dieser Vorlesungsmitteilung wird der Ethik von Schleiermacher auch im Rahmen seiner ersten Akademierede „Über den Begriff der Kunst" gegenüber der Seelenlehre ein Prae eingeräumt: „Was wir hier unter Ethik verstehen ist wichtiger und umfassender, als was wir die Lehre von der Seele zu nennen gewohnt sind" (ÄL, 154). Das widerstreitet nicht der grundlegenden Funktion, die der Psychologie in Schleiermachers Wissenschaftssystem eingeräumt ist (vgl. Eilert Herms, Die Bedeutung der „Psychologie"). Die Psychologie wird aber von Schleiermacher nur über die Ethik herangezogen, wie ja der Rekurs auf die „Seelenlehre" beweist, der sich GL2 §3.3, 1.18, findet - in den „Lehnsätzen aus der Ethik". Daß es im Sinne Schleiermachers ist, die Seelenlehre/Psychologie einstweilen zugunsten der Ethik zurückzustellen, erhellt aus Schleiermachers Vorlesungserläuterung zum Paragraphen §6 der KD2, wo die Seelenlehre als eine der Theologie zuarbeitende Disziplin Erwähnung findet (vgl. auch: KD2 §213; ThES, 203): „Es sind hier geschichtliche und ethische Disziplinen angeführt. Es ist die Seelenlehre mit angeführt, und man kann zweyfeln, ob diese mit unter die ethischen Disciplinen zu zählen ist. In Beziehung auf die Theologie erscheint sie allerdings in einer ethischen Beziehung, und wirklich ist sie entweder eine naturwissenschaftliche oder eine ethische Disciplin, jenachdem man die Seele als ein gegebenes oder als ein zu behandelndes betrachtet" (ThES, 10). Allerdings setzen Philosophische Ethik wie Theologie implizit zumindest das Gegebensein genuin psychologischer Einsichten voraus; vgl. auch: CS, 7.112.114.115.194.220.452. Die Nichtersetzbarkeit der Seelenlehre durch die Ethik wird auch explizit in der eben bereits zitierten Akademierede eingeräumt: ÄL, 154f. (Vgl. W. Grab, Humanität und Christentumsgeschichte, 34.) Um die Qualität der psychologischen Einsichten ist es allerdings dürftig bestellt: „Jedoch muß soviel hier nur beiläufig zu äußern vergönnt sein, daß die Seelenlehre für sich betrachtet sich noch gar nicht in einem solchen Zustande befindet der Sittenlehre nützlich sein zu können" (KdS, 237; vgl. CS, 112). Daher gibt es eine Reihe von Fehlern der ethischen Entwürfe, die „in demjenigen Begriff der menschlichen Natur liegen, welcher dabei als Bezeichnung des Umfanges und als Grund der Einteilung angenommen ist" (KdS, 255). 34 GL2 §28.1,1.155. Vgl. auch ThES, 230f.

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anspruch der kirchlichen Lehre beruht, sondern ganz im Gegenteil als aufklärerische Geste gegenüber ideologisch motivierten Restriktionen und Verkürzungen in der Selbstwahrnehmung der conditio humana verstanden werden muß. Nur in dieser Erfassung des ganzen Menschen erreicht die Philosophie ihr Ziel. Philosophische Systeme, die dieser Forderung nicht entsprechen, disqualifizieren sich für Schleiermacher von vornherein als „antiphilosophisch"35. Das heißt dann aber: „wenn es gar keine antireligiösen und antimonotheistischen Philosophien giebt, so ist kein Grund warum man ein solches philosophisches System nicht gebrauchen sollte"36. Es bleibt also jedem unbenommen, „sich jeder Form der Spekulation anzuschließen, welche nur einen Gegenstand zuläßt, auf welchen sich das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl beziehen kann"37. Da es sich in der Philosophischen Theologie um die Wesensbestimmung eines geschichtlichen Phänomens der sozialen Welt handelt, ist die Wesensbestimmung erst dann konkret, wenn sie in sich auch diejenigen Aspekte enthält, wodurch dessen geschichtliche Identität gewährleistet werden kann38. „Wesensbestimmung des Christentums" besagt nicht die Bestimmung der wahren, zeitlos gültigen christlichen Lehre, sondern die Bestimmung der Bedingungen der Möglichkeit, unter denen die christliche Frömmigkeit in der Zeit und unter den Vorzeichen ihrer Verflüssigung weiterhin als wahr und somit gültig erkannt werden kann. Die Wesensbestimmung des Christentums, wie sie die Philosophische Theologie zu erarbeiten hat, muß die wesentliche Form - die zu seinem Wesen gehörige institutionelle Gestalt - des Christentums offenlegen: „Was dazugehört, aus dieser Grundlage das Wesen des Christenthums und die Form seiner Gemeinschaft darzustellen, das ist die philosophische Theologie"39. Die zum Wesen des Christentums gehörige - in ihm mitgesetzte - institutionelle Gestalt ist aber nicht als solche schon von Bedeutung - das wäre Jaw and order"-Mentalität im schlechten Sinne -, sondern aufgrund ihrer Funktion

35 ThES, 204. 36 ThES, 204. 37 GL2 §50.2, 1.258; vgl. KD2 §§213f; ThES, 203ff. Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie in Schleiermachers „Kurzer Darstellung" vgl. noch: KD2 §§65ff.§180. §213.§§252ff.; ThES, 68ff.l68ff. 203ff.246ff. 38 Vgl. etwa GL2 §126.2,11.278; ThES, 58f. 39 ThES, 23; vgl. a.a.O., 33: Aufgabe der Philosophischen Theologie ist es, „das Wesen des Christenthums als dasjenige wonach es eine eigentümliche Gestaltung der Religion ist, zur Darstellung zu bringen, und die dadurch mitbestimmte Form der christlichen Gemeinschaft". Vgl. auch den einleitenden Paragraphen zur kirchlichen Statistik, KD2 §232: „In dem Gesamtzustand einer kirchlichen Gemeinschaft unterscheiden wir die innere Beschaffenheit und die äußeren Verhältnisse, und in der ersten wieder den Gehalt, der sich darin nachweisen läßt, und die Form, in welcher sie besteht". Siehe auch: ThES, 221; KG, 12f. - Vgl. zu diesem Aspekt der Schleiermacherschen Ekklesiologie: Wilhelm Grab, Die sichtbare Darstellung der Versöhnung.

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5]

für die in dieser Institution lebendige Gesinnung40. Diese ist daher der Kern der philosophisch-theologischen Wesensbestimmung des Christentums, „denn das ist es, worauf die ganze Position beruht, daß, was wir den Begriff oder das Wesen des Christenthums nennen, nicht bloß eine abstracte Vorstellung ist, sondern eine der geschichtlichen Erscheinung innewohnende Kraft"41. Als Wesensbegriff eines geschichtlich-sittlichen Phänomens bezieht sich der Wesensbegriff des Christenthums folglich zentral auf die in diesem gegebene qualitativ einzigartige Willensbestimmtheit42. Die Wesensbestimmung des Christentums, wie sie die Philosophische Theologie zu entfalten hat, umfaßt damit drei gleichursprüngliche Aspekte, die in einem spezifischen Begründungsgefälle zueinander stehen: die Beschreibung der freien menschlichen Handlungen, durch welche die christliche Kirche am Leben erhalten wird und immer wieder neu entsteht; die geschichtlichen Institutionen, denen diese Handlungsvollzüge die Identität ihrer geschichtlichen Erscheinungsform verdanken; sowie die sowohl Handlungsvollzüge als auch Institutionen begründende Gesinnung. Diese Aufgabenstellung an die Philosophische Theologie hinsichtlich der von ihr zu erbringenden Konkretheit der Wesensbestimmtheit des Christentums entspricht genau den Anforderungen, die Schleiermacher bereits in seinen „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre"43 ausgearbeitet hat für die sachgemäße Beschreibung des sittlichen Lebens und die er seitdem unverändert beibehalten hat. Es bestätigt sich damit zugleich unsere Interpretation der

40 Gesinnung ist der kräftige, geistige Orientierungsrahmen, der das Handeln motivierende und auf sein Ziel ausrichtende Wille; vgl. CS, 306ff. „Denn unter Gesinnung verstehen wir im allgemeinen immer eine feste und entschiedene Richtung des Willens, verbunden natürlich mit Billigung dessen, was ihr entspricht, und Mißbilligung dessen, was ihr entgegengesezt ist"(CS, 307). Der Ausdruck „Gesinnung" bezeichnet die Instanz der Handlungsorientierung in ganz formaler Weise, ohne die materialen Gehalte der jeweiligen Gesinnung zu bewerten: „Die Gesinnung ist, oder ist nicht; Schlechte Gesinnung ist eigentlich ein sich widersprechender Ausdruck" (CS, 307[Vorl. 18267 27]). Eine „schlechte" Gesinnung wäre höchstens die Bezeichnung für eine mehr oder weniger große Orientierungslosigkeit des Willens. - Ähnlich formal ist die Einführung des Gewissensbegriffes durch Schleiermacher; vgl. CS, 222. 41 ThES, 37. Vgl. KD2 §160. §169; ThES, 153f.l60. 42 „Qualitativ einzigartig" nicht im moralistisch-wertenden, sondern im ein Individuelles beschreibenden Sinne. Dieses „qualitativ einzigartige", dieses Individuelle der Willensbestimmtheit, ist für geschichliche Phänomene identitätsstiftend und Grundlage von deren Sittlichkeit, d.h. ihrem Status als Handlungsvollzügen im Gegensatz zu bloß naturhaften Prozessen: „Wird nicht mit demselben Geist angeknüpft, in welchem gestiftet wird, so entsteht Mechanismus, und es ist keine Sicherheit mehr über die Sittlichkeit des Handelns" (PhE, 465). „Das ist für sich klar, denn alles gemeinsame Leben kann nur fortbestehen durch dieselbe Thätigkeit, durch welche es entstanden ist, also nur dadurch, daß die einzelnen dabei bleiben es zu wollen" (CS, Beil.D, 185[VorU831]); vgl. ThES, 51; KD2 §45; GL2 §126.2,11.278. 43 Zitiert als KdS.

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Theologie als einer Handlungswissenschaft: einer Wissenschaft, die Handeln orientieren soll44. Schleiermachers spekulative Metaethik45 beansprucht für sich, konkretes Abbild der formalen Gestalt von Handeln zu sein. Ein Aussagezusammenhang über Handeln ist dann konkret, wenn er alle wesentlichen Struktunnomente von Handeln zur Sprache bringt. Die Binnendifferenzierung der Philosophischen Ethik ergibt sich aus der arbeitsteiligen Thematisierung aller wesentlichen Struktunnomente von Handeln durch ihnen eigens zugeordnete Disziplinen46. Die drei wesentlichen Struktunnomente von Handeln - jedes Handelns ! - sind: - der der Handlung zugrundeliegende Handlungsimpuls; - der durch diesen Impuls motivierte Handlungsvollzug; - das Handlungsresultat. Die diesen Strukturmomenten gewidmeten Disziplinen der Philosophischen Ethik sind47: - Tugendlehre: System der sittlichen Kräfte. - Pflichtenlehre: System der sittlichen Bewegungen. - Güterlehre: System der sittlichen Formen. Schleiermachers Aufgabenstellung an die Philosophische Theologie deckt diese drei Aspekte klar erkennbar sämtlich ab, ohne hier explizit auf die Philosophische (Meta)Ethik Bezug zu nehmen. Die sachliche Übereinstimmung mit Schleiermachers Philosophischer Ethik geht aber noch weiter: Zur konkreten Beschreibung des Handelns gehört nämlich auch die begreifende Wahrnehmung der sittlichen Ambivalenz jedweden geschichtlich-sittlichen Phänomens. Diese Ambivalenz wird ausgedrückt im 44 Dies gilt auch und gerade für die Philosophische Theologie, wie KD2 §38 beweist: „Als theologische Disziplin muß der philosophischen Theologie ihre Form bestimmt werden durch ihre Beziehung auf die Kirchenleitung". Vgl. ThES, 41. 45 D.h. die Theorie der Ethik, in welcher unter anderem auch die von einer jeden möglichen Ethik zu thematisierenden Aspekte menschlichen Handelns beschrieben werden. Zu dieser Metaethik zähle ich mindestens die KdS sowie Schleiermachers Akademievorträge! zur Ethik - und auch die PhE ist wohl mehrheitlich noch Metaethik, sodaß als Schleierhiachers Ethik im engeren Sinne - die sich über ihre Perspektivität klare Beschreibupg der dem menschlichen Handeln vorgegebenen gesetzmäßigen Wirklichkeit seiner selbst - nur die gemeinsame Darstellung der ganzen Wirklichkeit des christlichen Lebens durch Christliche Sittenlehre und Glaubenslehre (GL2 §26.2, 1.147) anzusehen ist. 46 Vgl. zu den Einzelheiten: Emanuel Hirsch, Geschichte Bd.IV, 542-559; Eilert Herms, Reich Gottes und menschliches Handeln, Ders., Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, 214f£; Michael Moxter, Güterbegriff und Handlungstheorie, 55ff.l77ff. 47 Vgl. PhE, 553(§116).

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Gegensatz von gut und böse48. Da auch unsittliche - „böse" - Phänomene dem Verstehen erschlossen werden müssen, ergibt sich durch Angliederung entsprechender Bemühungen folgendes Schema der philosophisch-ethisch orientierten Beschreibung der sittlichen Lebenswelt, das sich aus sechs Aspekten zusammensetzt49:

Motiv d. H. Vollzug d. H. Resultate d. H.

sittlich/gut Tugendlehre Pflichtenlehre Güterlehre

unsittlich/böse Lasterlehre Pflichtwidrigkeitenlehre Ubellehre

Der ganz formale Charakter dieses Schemas erlaubt seine Anwendung auf jedem Gebiet der sittlichen Sphäre. Ja, er erlaubt es nicht nur, sondern er gebietet sogar seine Anwendung, wenn anders ein Phänomen der Sittlichkeit - ganz gleich in welchem Gebiet - konkret beschrieben werden soll. Dies muß notwendig auch von der Beschreibung derjenigen sittlichen Sphäre gelten, die die Theologie thematisiert: die gelebte Frömmigkeit im Rahmen der christlichen Kirche50.

48 „Der Gegensaz von gut und böse bedeutet nichts anderes, als in jedem einzelnen sittlichen Gebiet das Gegeneinanderstellen dessen, was darin als Ineinandersein von Vernunft und Natur, und was als Außereinander von beiden gesezt"(PhE, 544 [§91]; vgl a.a.O., 501f; KD2 §35. §40; ThES, 39f.44f; SW III.2, 415). 49 Eigenständig entfaltet hat Schleiermacher philosophisch lediglich die „sittliche" Hälfte. Diese wird aber so dargeboten, daß die negative Möglichkeit stets mit im Blick ist. Dieses Vorgehen ist nicht willkürlich. Vielmehr folgt die Beschränkung auf die drei sittlichen Aspekte notwendig aus Schleiermachers Bestimmung der Philosophischen Ethik als einer spekulativen Wissenschaft. Der Gegensatz von gut und böse entsteht nämlich erst bei der Applikation der Begriffe, der Leitnormen der Philosophischen Ethik auf das empirisch Geschichtliche durch das kritische Verfahren. PhE, 633f, erläutert in diesem Sinne das eben gegebene Zitat von §91 (PhE, 544): „Da die Sittenlehre solche sich zwischen jenem Ausgangs- und jenem Endpunkte bewegende Wirksamkeit der Vernunft auf die Natur beschreibt, so fällt der Gegensaz von gut und böse außer ihr. Dieser hat seinen Ort in der allgemein Geforderten und allgemein die Sittenlehre begleitenden Beziehung des empirisch Geschichtlichen auf das Ethische". Vgl. in diesem Sinne auch: PhE, 660; ThES, 39f. - Vgl. Emanuel Hirsch, Geschichte Bd.IV, 549. - Die sittliche Ambivalenz, das vernünftige und das unvernünftige Leben, wird bereits in dem von Schleiermacher übersetzten Dialog „Gorgias" des Platon in den Mittelpunkt der ethischen Fragestellung gerückt, wenn Sokrates/Platon zwischen Künsten und Scheinkünsten, der Orientierung am Guten oder am Angenehmen unterscheidet. Schleiermacher, Platons Werke II/l, 120ff.l31ff. 50 Wenn Schleiermacher in CS, 77-81, anders argumentiert, so wird dies noch eigens zu verhandeln sein. - Daß der spezifische Gehalt des christlichen Gefühls nicht dazu fuhren kann, den ethischen Schematismus zu sprengen, hat unter anderem auch Thomas Lehnerer gesehen: „Christliches Gefühl motiviert die Tätigkeiten der Gläubigen zwar in ganz bestimmter Weise, alteriert dabei aber niemals die Struktur menschlichen Handelns überhaupt" (Th. Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, 380).

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Und ganz richtig macht es Schleiermacher zum Beipiel zu einer Grundeinsicht der Philosophischen Theologie, daß sie mit der sittlichen Ambivalenz der gelebten Frömmigkeit in der christlichen Kirche rechnen muß: „Krankheitszustände gibt es in geschichtlichen Individuen nicht minder, als in organischen; von untergeordneten Differenzen in der Entwicklung kann hier nicht die Rede sein"51. Diese „Krankheitszustände" auf dem Gebiet der christlichen Frömmigkeit zuverlässig und so schnell als möglich zu identifizieren, ist von größtem Interesse für die Kirchenleitung. Die entsprechenden begrifflichen Instrumente bereitzustellen, ist wiederum Aufgabe der Philosophischen Theologie52. Schleiermacher weist diese Aufgabe einer weiteren Unterdisziplin der Philosophischen Theologie zu: Es ist „zum Behuf der innern Kirchenleitung nothwendig, zu erkennen, was weiter ausgebildet, und was ausgemerzt werden muß, und die Erkenntniß des Leztren ist Geschäft der Polemik"53. Deren Aufgabe ist die Bewußtmachung der in der „Gemeinschaft entstandenen krankhaften Abweichungen"54. Ohne daß Schleiermacher dies eigens hervorhebt, darf man doch ohne weiteres davon ausgehen, daß sich die „krankhaften Abweichungen" auf alle wesentlichen Aspekte des christlichen Lebens erstrecken können. Gegenstand der Polemik kann sowohl die christliche Gesinnung - Tugend -, das christliche Handeln - Pflicht -, als auch die Verfassung der christlichen Institutionen - Güter - sein. Die Polemik ist immer eine auf die christliche Gemeinschaft gerichtete. „Gegen Unchristen giebt es gar keine Polemik"55. Die Polemik behaftet all diejenigen, die als Christen gelten wollen, bei diesem ihren eigenen Anspruch und mißt sie an dem allen Christen gemeinsamen Maßstab des durch Christus bestimmten frommen Selbstbewußtseins56. KD2 §35; vgl. ThES, 39f. ThES, 39f ThES,44. KD2 §40. ThES, 45, weist der Praktischen Theologie die Aufgabe zu, die Regeln für die Institutionalisierung einer kirchlichen Öffentlichkeit zu bestimmen, in deren Rahmen eine sachliche Diskussion über bloß vermutete oder wirklich vorliegende Entgleisungen des Kirchenlebens möglich ist. 55 ThES, 46. Es gibt auch keine Polemik gegen Katholiken: ThES, 46. ThES, 47: „Die protestantische Kirche kann jezt durch ihre Existenz auf die katholische Kirche wirken, indem die Katholiken sich mit uns vergleichen können, und hieraus kann sich Privatinteresse bilden; aber die Kirche selbst hat nicht mehr gegen die Katholiken zu thun, ausser wenn sie angegriffen wird." Vgl. CS, 582. 56 Weil die Wesensbestimmung des Christentums nichts anderes ist als die Beschreibung der nur im christlich frommen Selbstbewußtsein gegebenen Bestimmtheit der Gesinnung sowie der darin grundgelegten Handlungsvollzüge wie Institutionen, ist eine nach außen gerichtete Polemik ganz sinnlos. Eine Polemik des Atheisten müßte ihren Ausgang nehmen von der von diesem selbst in Anspruch genommenen Lebensorientierung und ihm Verstöße gegen diese zum Vorwurf machen - also sich als immanente Kritik vollziehen. 51 52 53 54

Die Aufgabe einer Philosophischen Theologie des Gottesdienstes

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Fassen wir kurz die Aufgaben der beiden Teile der Philosophischen Theologie zusammen: Apologetik: „Die Apologetik hat es zu thun mit der Darlegung des eigenthümlichen Wesens des Christenthums im Verhältniß zu ändern Glaubensweisen"57. Polemik: „Die Polemik hat es zu thun mit der Abschätzung der einzelnen Momente in der Geschichte des Christenthums in Beziehung auf ihren negativen oder positiven Werth"58. Auch die Philosophische Theologie des Gottesdienstes muß diese beiden Unterdisziplinen ausfüllen. Es muß eine Apologetik, eine Verteidigung, des Gottesdienstes geben und eine Polemik, einen Angriff im Hinblick auf seine unsachgemäßen Vollzugsgestalten - wenn und insofern ihn die Philosophische Theologie in Gestalt der Apologetik als zum Wesen einer jeden Frömmigkeit notwendig hinzugehörig erweist.

2. Die Aufgabe einer Philosophischen Theologie des Gottesdienstes als Kultus Was genau aber ist nun die Aufgabe einer Philosophischen Theologie des Gottesdienstes als Kultus in ihren beiden Gestalten der Apologetik und Polemik? Halten wir zunächst fest: In der Philosophischen Theologie geht es um die Wesensbestimmung des Christentums sowohl im Blick auf dessen wesentlichen Gehalt als auch im Blick auf die in diesem Gehalt mitgesetzte wesentliche Organisationsgestalt von christlicher Frömmigkeit als Kirche. Die apologetische Wesensbestimmung des Christentums verortet59 dieses in einem sich aus der Analyse von Selbstbewußtsein60 ergebenden Möglichkeitsrahmen6' von Frömmigkeit. Dieses Schema ist grundlegend für alle apologetischen Argumentationsvorgänge. Stets wird die christliche Frömmigkeit in ihrem Anspruch auf sittliche Anerkennung verteidigt durch Subsumtion des Gehaltes wie der Gestalt christlicher Frömmigkeit in eine Beschreibung des Mögh'chkeitsrahmens sittlicher Realisation endlich-menschlicher Personalität, wie sie der Selbstreflexion endlich-menschlicher Personalität erschlossen ist. Das heißt nun für die Apologetik ein doppeltes: Die Apologetik ist auf der einen Seite sowohl umfangsgleich mit der Dogmatik - da jedes Moment christ57 ThES,47. 58 ThES, 47. Die Polemik setzt also die Apologetik voraus, denn „diese Beurtheilung kann ich nur anstellen auf die Erkenntniß von dem Wesen des Christenthums hin" (ebd.). 59 GL2 §§11-14. 60 GL 2 §§3-6. 61 GL2§§7-10.

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lieber Frömmigkeit, sei es ein Vorstellungsgehalt oder die christliche Sitte, infragegestellt werden kann und somit der apologetischen Rechtfertigung bedarf -, wie sie auch mindestens umfangsgleich ist mit der Philosophischen Ethik - da ja die apologetische Rechtfertigung der Momente der christlichen Frömmigkeit sich auf ein sittliches Phänomen bezieht, dessen sachgemäße Erfassung auf jeden Fall mindestens den Begriffsapparat der Philosophischen Ethik in Anschlag bringen muß, um es konkret in den Blick zu bekommen. Damit ist klar: Die Apologetik des christlichen Gottesdienstes als Kultus kann sich von der dogmatischen Entfaltung des Gottesdienstes als Kultus jedenfalls nicht dadurch unterscheiden, daß hier etwa ein anderer Gegenstand thematisch wäre62. Und auch die Differenz zur philosophisch-ethischen Behandlung kann nicht im Gegenstand begründet sein63. Philosophisch-ethische, apologetische und dogmatische Theorie des Kultus haben immer ein und dasselbe im Blick. Dabei hebt die philosophisch-ethische Deskription die Universalität des Kultus - sein Gesetztsein in den Wesenszügen der Gattung Mensch - hervor. Die dogmatische Behandlung dagegen hebt die Individualität des christlichen Kultus - sein Bezogensein auf das Individuum Jesus von Nazareth als den Erlöser - in zeitgebundener Deutung für den binnenkirchlichen Diskurs hervor, während die apologetische Entfaltung des christlichen Kultus dessen Universalität wie Individualität kritisch aufeinander bezieht. Die Apologetik des Gottesdienstes als Kultus hat somit folgende Aufgabe: Sie verortet den christlichen Kultus in einem Möglichkeitsrahmen der geschichtlich-sittlichen Realisation von Frömmigkeit, wie er sich aus der Analyse von Selbstbewußtsein als der Grundlage von Sittlichkeit ergeben hat. Damit ist auch sofort die Grundlage geschaffen für die Polemik des Gottesdienstes als Kultus. Diese richtet sich nämlich auf all jene Erscheinungsformen des christlichen Kultus, in denen dieser seinen ihm zugewiesenen eigentümlichen Ort nicht sachgemäß - diesem Ort entsprechend - oder aber nicht mit dem nötigen Engagement ausfüllt64. 62 Die Identität des Gegenstandes aller theologischen Disziplinen ist ja auch Ausgangspunkt der „Kurzen Darstellung", welche die Differenz der diversen theologischen Disziplinen begründet sieht in der Differenz der jeweiligen Hinsichtnahme auf den einen Gegenstand: christliche Frömmigkeit in der Kirche. 63 So formuliert Schleiermacher etwa in der Einleitung zur Christlichen Sittenlehre programmatisch zum Verhältnis von Philosophischer Ethik und Christlicher Sittenlehre: „Der Gegenstand beider ist ganz derselbe. Muß es auch dem Umfange nach sein. Wenn die Offenbarung mehr enthält: so ist entweder die Nothwendigkeit der Offenbarung durch die Vernunft nachgewiesen, und dann enthält doch diese alles implicite; oder nicht, und dann ist die Offenbarung unbegründet. Wenn die Vernunft mehr enthält, ist das Offenbarungsprincip unzulänglich" (CS, Beil. A, 4 [§4]). 64 Vgl. KD2 §54: „Krankhafte Erscheinungen eines geschichtlichen Organismus (vgl. §35) können teils in zurücktretender Lebenskraft gegründet sein, teils darin, daß sich beigemischtes Fremdartige in demselben für sich organisiert". Auch dieser die „Polemik" einleitende Paragraph läßt sich als ethischer Lehnsatz enthüllen, ist es doch eine allgemein ethisch-psychologische Wahrheit: „Schon bei der Tugend im allgemeinen, noch

Die einschlägigen Quellen

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3. Die einschlägigen Quellen Wenn wir uns nun nach den einschlägigen Quellen umsehen, aus denen sich eine Philosophische Theologie des Gottesdienstes als Kultus im Sinne Schleiermachers soll erheben lassen, so folgt aus den Erläuterungen des vorstehenden Abschnittes (§3.2), daß wir uns hierzu in zwei Richtungen orientieren müssen. Dies ergibt sich zwingend aus der Stellung der Philosophischen Theologie - als Apologetik und Polemik - zwischen Philosophischer Ethik und Dogmatik. Die Hauptquellen zur Rekonstruktion von Schleiermachers Philosophischer Theologie des Gottesdienstes als Kultus sind daher seine Philosophische Ethik und seine - Glaubenslehre und Christliche Sittenlehre umgreifende - Dogmatik. Beide Aussagezusammenhänge ergänzen sich gegenseitig und tun dies notwendigerweise: Denn jede der beiden Reflexionsebenen gibt für sich alleine nur eine abstrakte Darstellung des Gottesdienstes als Kultus. Darüberhinaus ist natürlich auch hier die „Kurze Darstellung" mit ihren Ausführungen zum Aufbau und Inhalt der Apologetik und der Polemik zu berücksichtigen. Das hier vorerst mehr thetisch behauptete als erwiesene Verhältnis zwischen Philosophischer Ethik und Dogmatik stellt eine Weiterentwicklung der Gedanken H.-J. Birkners dar65. Die sachliche Richtigkeit wie die das Denken Schleiermachers erschließende Kraft dieser Hypothese muß sich in ihrer Anwendung auf die Quellen beweisen.

4. Die ganze Wirklichkeit des christlichen Lebens Wie wir uns bereits klargemacht haben, erfaßt die Wesensbestimmung des Christentums gemäß der „Kurzen Darstellung" die christliche Motivation, das christliche Handeln und die christlichen Institutionen. Sie steht damit auf der Höhe des von Schleiermacher innerhalb seiner Philosophischen Ethik gewonnenen Problembewußtseins hinsichtlich der vom geschichtlichen Bewußtsein zu erbringenden Leistungen. Versuchen wir nun der Philosophischen Gottesdiensttheorie ihren Ort innerhalb dieser Fragerichtungen zuzuweisen, so wird man zunächst davon ausgehen, daß die Theorie des Gottesdienstes ihren Platz innerhalb der christlichen Institutionenlehre - der „Güterlehre" - haben müsse. Diese Zuordnung wird auch ganz sachgemäß sein, wenn man den Gottesdienst als Kultus der frommen Gemeinschaft versteht. Geht doch dieses Vermehr aber wenn wir uns die Tugenden vereinzeln wollen, müssen wir auf zweierlei achten, auf die Stärke und Tüchtigkeit der bestimmten Thätigkeitsform, und auf die Unfehlbarkeit und Ausschließlichkeit ihres Zusammenhanges mit einem sittlichen Antriebe" (SW III.2, 435). 65 Vgl. die Anmerkung zu Beginn des Abschnittes l von §3.

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ständnis in Schleiermachers Definition der Güter auf als „Erzeugnisse eines gemeinschaftlichen und zwar sittlichen Handelns, in denen sich ein sittliches vollendet darstellt und fortdauernd erzeugt"66. Problematisch wird diese Zuordnung aber genau dann, wenn man mit der christlichen Tradition - besonders in ihrer protestantischen Ausformung - zunächst und zuerst auch die alltägliche Lebenspraxis des einzelnen Frommen als dessen Gottesdienst interpretiert67. Hier ist nicht eine Institution im Blick, sondern die je individuelle Realisation der allen Frommen gemeinsamen Gewißheit am Orte des handelnden Subjekts. Dieser Gottesdienst wäre dem Schleiermacherschen PflichtbegrirT unterzuordnen: „Die Pflichtenlehre drückt die Handlungsweisen im Verhältniß des Einzelnen zum Ganzen aus; ihr Gegenstand ist also das am meisten Einzelne"68. Aber auch die Tugendlehre darf nicht unbeachtet bleiben, da sowohl der Gottesdienst als Gut wie als Pflicht dessen eingedenk sein müssen, daß alle Güter und Pflichten bezogen sind auf die in ihnen wirksame Tugend. Die drei ethischen Hinsichtnahmen sind dabei nicht als Ausdifferenzierung unterschiedlicher Sachebenen zu mißverstehen, sondern unterscheiden die drei Aspekte eines untrennbaren Zusammenhanges in ihrem Beieinandersein69. Damit muß die Gottesdiensttheorie notwendig auch Auskunft geben über das gottesdienstliche Handeln des Einzelnen wie auch über die im Gottesdienst als Kultus präsente Gesinnung. Der so entfaltete Theorierahmen darf somit 'm seiner Komplexität beanspruchen, der traditionellen Auffassung vom Gottesdienst als alltägliche Lebenspraxis des Frommen eine theoretische Deutung zu geben, die strikt bezogen ist auf den Gottesdienst als Kultus - und umgekehrt. Diese Deutung kann aber nur artikuliert werden in dem oben angegebenen ethischen Beschreibungsrahmen des Wesens des Christentums. Wir müssen daher diesen entfalten und die Aspekte der gottesdienstlichen Gesinnung, des gottesdienstlichen Handelns und des gottesdienstlichen Kultus darin verorten. Das heißt, wir müssen die ganze Wirklichkeit des christlichen Lebens ins Auge fassen, um darin den Gottesdienst in seinen drei Hinsichten aufzufinden. Dabei wird das apologetische Verfahren so aussehen, daß wir das Ganze des christlichen Lebens als individuelle Gestalt von Frömmigkeit in einen Möglichkeitsrahmen, der von der Ethik formuliert wird, einordnen70. Die Apologetik des Gottesdienstes als Kultus vollzieht sich dann so, daß sie diesen als individuelle Realisation eines universalen Wesenszuges gelebter Frömmigkeit legitimiert. Zunächst aber müssen wir uns der Erfassung der konkreten sittlichen Gestalt des christlichen Lebens zuwenden.

66 KdS, 180; vgl. SW III.2, 457.458. 67 Vgl. zum Verhältnis beider Gottesdienste: Eberhard Jüngel, Der evangelisch verstandene Gottesdienst. 68 PhE,555. 69 Vgl. PhE, 5561; SW III.2, 379f. 70 Vgl. oben Paragraph §3, Abschnitt 2.

Die ganze Wirklichkeit des christlichen Lebens

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Die lehrmäßige Beschreibung der ganzen Wirklichkeit des christlichen Lebens hat Schleiermacher in der Dogmatik als dem Inbegriff von Glaubens- und Sittenlehre zu geben versucht71. Die Dogmatik ist zwar die zeitbedingte Deutung der dem christlichen Selbstbewußtsem erschlossenen Lebenswirklichkeit, aber wie wir bereits wissen, muß sie sich ihre Prinzipien von der Philosophischen Theologie vorgeben lassen und darf nicht hinter das dort erreichte Problembewußtsein zurückfallen. Wir wollen daher versuchen, diese in der Philosophischen Theologie zu formulierenden Prinzipien aus der von Schleiermacher in seiner Glaubenslehre vorgelegten dogmatischen Beschreibung der ganzen Wirklichkeit des christlichen Lebens zu abstrahieren.

4. l Die scheinbare Ablehnung des philosophisch-ethischen B eschreibungsrahmens Die Identifikation dieser Prinzipien wird allerdings dreifach erschwert. Denn erstens hat Schleiermacher sein System der christlichen Lehre innerhalb der Glaubenslehre überaus kunstvoll der traditionellen heilsgeschichtlichen Darstellungsweise angeglichen72. Zweitens fuhrt die Aufspaltung in Glaubens- und Sittenlehre zu besonderen Problemen, den beiden gemeinsam zugrundeliegenden theoretischen Rahmen der Ethik offenzulegen. Bis zum heutigen Tage wird fast ausschließlich die Sittenlehre der Philosophischen Ethik gegenübergestellt73. Korrekterweise müssen aber Glaubens- und Sittenlehre gemeinsam als Anwendung der in der Philosophischen Ethik entfalteten Prinzipien zur Erfassung der Wirklichkeit des Christentums verstanden und interpretiert werden. Die Reduktion der Gegenüberstellung auf die Christliche Sittenlehre muß hier notwendig verzerrend wirken. Drittens wird von Schleiermacher selbst prima vista eindeutig eine Orientierung an dem Beschreibungsraster der Philosophischen Ethik als der Wirklichkeit des christlichen Lebens unangemessen verworfen74. Während die beiden erstgenannten Probleme nur besondere Schwierigkeiten der Rekonstruktion 71 GL2 §26.2, 1.147; PrTh, 806. Vgl. auch GL2 §126.2, II.276f: „Soll nun das sich selbst Gleiche in der christlichen Kirche an und für sich betrachtet werden, sofern es sich doch gewissermaßen als ein Mannigfaltiges ansehen läßt, so ist dieses niedergelegt in den beiden Disziplinen der christlichen Glaubenslehre und der christlichen Sittenlehre". 72 Vgl. Gerhard Ebeling, Schleiermachers Lehre von den göttlichen Eigenschaften, 327ff. 73 Man befindet sich dabei in guter Gesellschaft, denn Schleiermacher selbst verfuhr in seiner Selbstinterpretation genauso, wie wir gleich sehen werden. Die Notwendigkeit, Glaubens- und Sittenlehre gemeinsam der Philosophischen Ethik gegenüberzustellen und damit Schleiermachers eigene Intention hinsichtlich beider Disziplinen der Dogmatik wiederzugeben, hat bereits Hermann Peiter gesehen: Theologische Ideologiekritik, 67-74. 74 Vgl. CS, 77-81, CS, Beil.C, 168f.

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des philosophisch-ethischen Prinzipienrahmens benennen, wird mit dem dritten Problem infragegestellt, daß es hier überhaupt etwas zu rekonstruieren gibt. Das muß nun kurz erwogen werden. Die Ablehnung der handlungstheoretischen Trias der Philosophischen Ethik erfolgt explizit im Blick auf die Gliederung der Christlichen Sittenlehre. Dabei ist zunächst zu beachten, daß die Ablehnung der Vorlesung 1822/23 ihren Ausgangspunkt nicht in bezug auf Schleiermachers eigene Konzeption der Philosophischen Ethik nimmt. Schleiermachers Ablehnung ist vielmehr vorerst nur orientiert an den geschichtlich gegebenen Systemen der philosophischen Sittenlehre und faßt diese seinem Interpretationsraster75 gemäß in Tugend-, Pflichten- und Güterlehren zusammen76. Schleiermacher gesteht ein, daß auch die Christliche Sittenlehre sich prinzipiell in diesen Formen würde darstellen lassen77. Es wird aber sofort auf die Perspektivität dieser Darstellungsweisen des Ethischen abgehoben und auf die Notwendigkeit hingewiesen, daß jede dieser Formen der beiden anderen zu ihrer Konkretion bedarf78 - eine Einsicht, die uns auf das von Schleiermacher bereits früh erreichte eigene ethische Reflexionsniveau erhebt79. Damit ist aber noch nicht einleuchtend zu machen, warum eine Darstellung der christlichen Sittlichkeit auf die Bearbeitung dieser drei Reflexionsebenen sollte verzichten müssen bzw. überhaupt können. Hier behauptet nun Schleiermacher, daß aus christlicher Perspektive die Beschreibung der Tugend und die Beschreibung des Reiches Gottes nicht zu trennen wären, weshalb eine Ausdifferenzierung der entsprechenden Disziplinen im Rahmen einer Beschreibung der christlichen Sittlichkeit unzulässig sei80. Nun ist aber gar nicht einzusehen, warum auf christlichem Gebiet als Einspruchsinstanz gelten soll, was in der Philosophischen Ethik gleichfalls statthat, dort allerdings zur gegenseitigen Konkretion der verschiedenen Darstellungsformen positiv wahrgenommen wird81. Die Ablehnung einer Pflichtenlehre als Rahmentheorie der Christlichen Sittenlehre begründet Schleiermacher damit, daß der Pflichtenlehre „wesentlich die Imperativische Form" eigne82. Von dieser Imperativischen Form zeigt

75 76 77 78 79 80

Begründet und entfaltet in KdS. CS, 77. CS, 78. Ebd. Vgl. KdS, 68ff.l26ff. CS, 79. Im Jahre 1827 urteilt Schleiermacher in seiner Akademierede „Ueber den Begriff des Höchsten Gutes" (I.Abhandlung) dagegen über die Vermengung von Tugend und Höchstem Gut folgendermaßen: „Die Tugend das höchste Gut zu nennen oder die Glükkseligkeit, [ist] eine Verwirrung die ich in der Kritik der Sittenlehre nachgewiesen und gerügt habe" (SW III.2, 459). 81 CS, 78:, Jede dieser drei Formen giebt uns also wesentlich, was die übrigen auch geben, aber keine giebt es in der nur den anderen eigenthümlichen Gestalt; dem Inhalte nach vollkommen gleich ergänzen sie sich untereinander als Gesichtspunkte". 82 CS, 78.

Die ganze Wirklichkeit des christlichen Lebens

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Schleiermacher im weiteren Verlauf63, daß sie grundsätzlich von Problemen belastet ist, die ihre Überführung in einen beschreibenden Gestus notwendig machen - und zwar bereits auf dem Gebiet der Philosophischen Ethik, nicht erst dem der Christlichen Sittenlehre. Diese Transformation der imperativischen Pflichtenlehre in eine beschreibende hat Schleiermacher in seiner eigenen ethischen Konzeption konsequent zu vollziehen gesucht. Die Ablehnung, die die Pflichtenlehre hier erfahrt, kann also letztlich doch nicht prinzipiell gemeint sein, sondern sich nur auf ihre bisher defizitären Formen beziehen. Daß Schleiermachers eigenes Verständnis der Pflichtenlehre - aber auch (!) das imperativische - sehr wohl mit dem Anliegen der Christlichen Sittenlehre vereinbar war, zeigt sich völlig eindeutig in dem Sachverhalt, daß er selbst in der „Kurzen Darstellung" die Christliche Sittenlehre der Philosophischen Ethik so zuordnet, daß sie „überwiegend nur aus der Pflichtenlehre der philosophischen Ethik schöpfen kann"84. Damit zeigt sich: Eine vergleichbare Struktur der Christlichen Sittenlehre und der Philosophischen Ethik wird nicht als prinzipiell unzulässig bewertet werden können, sondern allerhöchstens den üblichen Anwendungsproblemen gegenüberstehen, die sich stets beim Übergang von der Metaebene auf die Ebene der konkreten Anwendung einer Theorie ergeben. Der biblische Befund läßt die Anwendung einer Pflichtenlehre am wenigsten schwierig erscheinen85. Eine christliche Tugendlehre ist nicht deswegen problematisch, weil ihr im Rahmen einer Beschreibung christlicher Sittlichkeit keine Funktion zugewiesen werden könnte86, sondern weil das Schleiermacher zur Verfügung stehende 83 CS, 78ff. 84 KD2 §226; vgl. CS, Beil.C, 168f. Zum Paragraphen §226 der „Kurzen Darstellung" führt ThES, 216, aus: „Es ist hier näher gesagt, die christliche SittenLehre schöpfe ihre Terminologie besonders aus dem Theile der philosophischen Ethik, welche die Pflichtenlehre heiße. Der Grund warum die christliche SittenLehre nur kann unter der Form der PflichtenLehre behandelt werden, ist hier nicht angegeben, die Sache ist aber die, daß die ersten christlichen Aussagen im NT durchaus diese Form an sich tragen, keineswegs als ob es fehlte an Elementen für die Tugendlehre im NT, denn es giebt eine Menge von sittlichen Eigenschaften die aufgeführt werden. Aber diese TugendNamen sind ganz aus dem populären Gebiete und unbestimmt, wogegen nun ethische Sentenzen, die Vorschriften enthalten, immer schon eine (große [Einfügung im Original, R.S.]) Bestimmtheit von selbst haben, und namentlich das Gnomische in den LebensKreisen der Apostel auf eine vorzügliche Weise behandelt war. Auch die ganzen Gesezesformen im jüdischen Leben woran sich die christliche SittenLehre anschloß, waren solche entolai. Damit soll aber nicht behauptet werden, daß dieß die einzige Art wäre die christliche SittenLehre zu behandeln, doch wird sie sich immer bewähren beym Zurückgehen auf den Kanon, da die NTlichen Stellen die Form der PflichtenLehre haben, also durch Anwendung der philosophischen SittenLehre wissenschaftlich gefaßt werden müssen". Auch CS, Beil.C, 168, problematisiert die Tugendlehre als Rahmentheorie der Christlichen Sittenlehre einzig wegen des „unbestimmten Sprachgebrauchs in der Schrift". Vgl. auch: CS, Beil.B, 128; CS, 308f. 85 Vgl. die vorige Anmerkung. 86 Auch die Beschreibung christlichen Handelns muß ja notwendig den Aspekt des Handlungsimpulses, des Motivs, beschreiben, so sie Konkretheit beansprucht.

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Sprachspiel „Tugendlehre" entweder zu unbestimmt ist oder aber mit Ausdrücken gespielt wird, die vom christlichen Gehalt ablenken könnten, insofern sie scheinbar nicht auf die in der Schrift vorliegende christliche Wirklichkeitssicht appliziert werden können87. Schleiermacher bestreitet also nicht die sachliche Notwendigkeit einer christlichen Tugendlehre, sondern nur ihre Durchführbarkeit in der traditionellen philosophischen Begrifflichkeit - denn darunter litte der „kirchliche Wert" der Aussagen über Gebühr88. Es müssen die termini technici der Theologie so gewählt werden, daß durch ihren Gebrauch der Status der Frömmigkeit als einer philosophisch nicht andemonstrierbaren Größe möglichst rein erhalten bleibt89. Das wissenschaftliche Niveau - der „wissenschaftliche Wert"90 - der Aussagen darf gleichwohl keineswegs vernachlässigt werden91. Aus diesem Grund ist ja der biblische Sprachgebrauch nicht umstandslos verwendbar. Er ist zu „unbestimmt"92. Die Güterlehre wird aus der Christlichen Sittenlehre ausgeschieden, weil es dieser speziell um „den Cyklus von Handlungen"93 - den Handlungsvollzug geht, die Handlungsresultate dagegen andernorts im Mittelpunkt stehen. Auch diese Argumentation zeigt übrigens wieder die enge Verwandtschaft der Christlichen Sittenlehre mit der philosophischen Pflichtenlehre und der von dieser zu bearbeitenden Thematik. Damit sollte klar sein, daß auch eine konkrete, das Ganze der Wirklichkeit des christlichen Lebens in den Blick fassende Einheit aus Glaubens- und Sittenlehre die in der Philosophischen Ethik namhaft gemachte handlungstheoretische Trias durchbuchstabieren kann. Hierbei kommt der Christlichen Sittenlehre schwerpunktmäßig die Aufgabe einer Pflichtenlehre zu94. Wie läßt sich angesichts dieser Lage Schleiermachers Entscheidung verstehen, die Darstellung der Christlichen Sittenlehre pointiert von dem ethischen Schematismus abzuheben? Man wird hier unter Umständen mit denselben Gründen zu rechnen haben, die Schleiermacher dazu bewegen haben, seine Glaubenslehre in Anlehnung an die traditionelle heilsgeschichtliche Darstellungsweise zu

87 88 89 90 91 92 93 94

Vgl. CS, 604. Zum „kirchlichen Wert" dogmatischer Aussagen: GL2 §17. Vgl. CS, 29f. GL 2 §17. Vgl. CS, 619[Vorl. 1826/27]. Vgl. das wenige Anmerkungen zuvor angeführte Zitat aus ThES, 216. CS, 23. Poul Henning Joergensen, Die Ethik Schleiermachers, 197, referiert die These Gösta Björklunds (Schleiermachers Kyrkobegrepp, 290f), zwischen Dogmatik und Philosophischer Ethik Schleiermachers bestehe eine formelle Gleichheit: Danach hätten die drei Formen für dogmatische Sätze, die Schleiermacher seiner Glaubenslehre zugrunde legt, nämlich die Beschreibung 1. des frommen Selbstbewußtseins, 2. der Eigenschaften Gottes und 3. der Beschaffenheit der Welt, eine starke Gleichheit mit dem, „was entsprechend 1. von der Güterlehre, 2. Tugend- und 3. Pflichtenlehre gesagt" werde.

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entfalten95. Im Blick auf die Christliche Sittenlehre hatte sich zwar keine vergleichbar traditionsstiftende Darstellungsweise herauskristallisiert, aber dieses Vakuum durch eine zu enge Anlehnung seiner eigenen Konzeption an die bekannten philosophischen Formeln aufzufüllen, hätte - selbst wenn die Anlehnung nur terminologisch erfolgt wäre - doch zu Mißverständnissen führen müssen. Schleiermacher mag mit Blick auf die kirchlich-theologische Akzeptanz und Brauchbarkeit seiner Christlichen Sittenlehre versucht haben, diese vom ethischen Schematismus losgelöst zu präsentieren96. Stellt man in Rechnung, daß die Christliche Sittenlehre als Teil der Dogmatik die zu einer bestimmten Zeit geltende kirchliche Lehre zu formulieren hat, sie sich also nicht umstandslos von den Verstehensvoraussetzungen ihrer Zeitgenossenschaft dispensieren darf, wird man Schleiermachers Entscheidung respektieren müssen - und hinsichtlich der Rekonstruktion seiner ursprünglichen Einsicht ihm hierin nicht folgen dürfen97.

95 Vgl. Gerhard Ebeling, Schleiermachers Lehre von den göttlichen Eigenschaften, 327ff. 96 Vgl. KD2 §229; ThES, 214.218. 97 Allerdings ist doch auch die Möglichkeit nicht ganz von der Hand zu weisen, daß Schleiermachers Bemühung um kirchlich-theologische Akzeptanz und Brauchbarkeit ihm den Blick verstellte hinsichtlich des sachgemäßen Verhältnisses zwischen Philosophischer Ethik - dem Inbegriff von Tugend-, Pflichten- und Güterlehre - als des umfassenden Beschreibungsrahmens sittlicher Phänomene und der Christlichen Sittenlehre als einer Beschreibung eines bestimmten Teils christlicher Sittlichkeit. Wie läßt sich sonst erklären, daß Schleiermacher regelmäßig in der Einleitung zur Christlichen Sittenlehre diese der kompletten Philosophischen Ethik mit ihren drei Unterdisziplinen gegenüberstellt und als inkompatibel mit dieser Trias befindet? Schleiermacher unterlag hier vielleicht der in der von ihm vorgenommenen Entschränkung der Ethik zu einer alle geschichtlichen Strukturmomente umfassenden Theorie angelegten Verwechslungsgefahr mit einer viel bescheideneren Aufgabenstellung an die Ethik, wie sie auch die Christliche Sittenlehre kennzeichnet: innerhalb der geschichtlich-sittlichen Welt sich den Handlungsvollzügen zu widmen und diese darzustellen in ihrer Regelmäßigkeit. Vgl. dazu CS, Beil.C, 160: „Sittenlehre (auch mos und ethos geht auf dasselbe hinaus) ist nur Darstellung dessen, was in der Regel in einem bestimmten Umfange geschieht oder zu geschehen pflegt und zwar deßhalb, weil Unterlassung oder entgegengesezte Handlungsweise Mißbilligung erfahrt". In diesem Sinne ist die Sittenlehre die Darstellung - „Beschreibung" - des gewöhnlich in der christlichen Kirche stattfindenden Handelns. Das wird nicht ohne Berücksichtigung der diesem Handeln zugrundeliegenden Motive und der in diesem Handeln angestrebten Resultate erfolgen können aber diese beiden Aspekte treten gewissermaßen nur in Form von Lehnsätzen auf. Die ausführliche Darstellung der kirchlichen Institutionen, die die Christliche Sittenlehre gibt, steht somit notwendigerweise quer zu der Darstellung der Handlungsweisen des einzelnen Christen.

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4.2 Die faktische Anerkennung des philosophisch-ethischen Beschreibungsrahmens im Vollzug der dogmatischen Lehre Es ist für die sachgemäße Rekonstruktion der Schleiermacherschen Gottesdiensttheorie notwendig, diese in ihrer am meisten stringenten Fassung zu entfalten. Das heißt, wir müssen Schleiermachers zeitbedingte Inkonsistenzen hier zwar konstatieren, aber dann doch auf der Höhe seiner ursprünglichen Einsicht in die von einer ethischen Beschreibung zu erbringenden Leistungen weiter verfahren. Wir werden daher im folgenden seinen Ansatz ernst nehmen, im Rahmen seiner Dogmatik - dem Inbegriff von Glaubens- und Sittenlehre die lehrmäßige Beschreibung der ganzen Wirklichkeit des christlichen Lebens vorzutragen. Diese Beschreibungsleistung muß notwendig dem Problembewußtsein gerecht werden, das in der Philosophischen Ethik im Blick auf die sachgemäße Erfassung geschichtlich-sittlicher Phänomene zur Entfaltung der drei ethischen Reflexionsperspektiven führte. Und sie muß als eine Anwendung dieses spekulativ-ethischen Rasters auf die konkret-geschichtliche Sittlichkeit deren sittliche Ambivalenz im kritischen Verfahren offenlegen, sodaß die Beschreibung der ganzen Wirklichkeit des christlichen Lebens - insofern sie dessen Sittlichkeit zu erfassen hat - notwendig mindestens die bereits früher genannten Teilbereiche Tugend-TLasterlehre, Pflichten-TPflichtwidrigkeitslehre, sowie Güter-/Übellehre enthalten muß. Die Ambivalenz jedweden Handelns hinsichtlich seiner ethischen Qualität - in der Philosophischen Ethik ausgedrückt durch den Gegensatz gut/böse - kommt in der christlichen Sphäre zum Ausdruck durch die Alternative Gnade/Sünde. Die wissenschaftliche Entfaltung dieses prinzipiellen Rahmens erfolgt in der Philosophischen Theologie. Die sittlich positive Seite dieses Rahmens ist die Grundlage der Apologetik, die sittlich negative Seite bildet den Ausgangspunkt der Polemik. Das hier propagierte Vorgehen darf beanspruchen, letztlich auch Schleiermachers eigenen Intentionen hinsichtlich einer Gottesdiensttheorie klareren Ausdruck zu verschaffen. Die von ihm in der Christlichen Sittenlehre gegebene Darstellung des Gottesdienstes vermischt auf äußerst nachteilige Weise die Beschreibung des gottesdienstlichen Handelns des einzelnen Frommen mit der Entwicklung des gottesdienstlichen Kultus. Diese Vermischung wäre vermieden worden, beide Aspekte hätten in differenzierter Weise in ihrem Beieinandersein dargestellt werden können, wenn Schleiermacher sie auf die philosophisch-ethische Unterscheidung von Pflichten und Gütern bezogen hätte. Schleiermachers Christliche Sittenlehre verdankt ihre Struktur bekanntlich den verschiedenen Handlungsformen, die aus den prinzipiell möglichen Bestimmtheiten des christlich-frommen· Selbstbewußtseins abgeleitet worden sind98. Diese Handlungsformen - reinigendes/verbreitendes, darstellendes Handeln 98 Sie folgt damit in ihrer Grundlegung dem typischen Argumentationsschema der Apologetik; vgl. oben §3.2.

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sind die der jeweiligen Bestimmtheit des christlich-frommen Selbstbewußtseins gemäßen Realisationsweisen der Frömmigkeit. Ihre Beschreibung darf als die von Schleiermacher geforderte Transformation der imperativischen Pflichtenlehre in eine bloß darstellende verstanden werden. Schleiermacher unterstellt nun, daß mit dieser Beschreibung zugleich die Beschreibung der Institution Gottesdienst als Kultus vorgetragen werde. Man erwartet daher, daß die Theorie des gottesdienstlichen Kultus - die Beschreibung seiner wesentlichen Elemente und Aspekte - im Rahmen der Theorie des darstellenden Handelns, das ja nichts anderes sein soll als Gottesdienst, konkret entfaltet wird. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr bleibt die Darstellung der Gottesdiensttheorie des Kultus innerhalb der Theorie des darstellenden Handelns abstrakt. Es finden sich nämlich wesentliche Teile der Gottesdiensttheorie des Kultus in denjenigen Abschnitten, die das reinigende und verbreitende Handeln zum Gegenstand haben. So wird etwa in der Theorie des reinigenden Handelns die Frage abgehandelt, wie die Teilnahme am Gottesdienst zu regehi sei". Ebenfalls in diesem Abschnitt erfahrt man, welchen Einfluß die persönliche Frömmigkeit desjenigen auf den Kultus hat, der ihn leitet100. Und nicht zuletzt wird dort auch die normative Funktion der Schrift für den Kultus erörtert101. Auch die wesentliche Funktion des häuslichen Gottesdienstes wird in diesem Abschnitt klar102. Im Rahmen der Theorie des verbreitenden Handelns wird dann etwa als erne wesentliche Aufgabe des evangelischen Kultus die Einflußnahme auf die Verstandestätigkeit und somit die Belehrung entfaltet103 . In diesem Zusammenhang wird die Predigt charakterisiert als Belehrung in ihrer vollständig organisierten Form104. All dies sind Hinweise, die die landläufige Rezeption von Schleiermachers Kultusverständnis allein vom darstellenden Handeln her als problematisch erscheinen lassen. Selbst dann, wenn der Kultus überwiegend Darstellung sein sollte, wird er doch wesentlich enger an das wirksame Handeln anzuknüpfen sein als bisher üblich. Damit werden aber auch all jene Kritiken in Schleiermachers eigener Gottesdiensttheorie positiv aufgehoben, die im Kultus als ausschließlich darstellender Tätigkeit eine ganz abstrakte Mißachtung der tatsächlichen Frömmigkeitslage der Gottesdienstteilnehmer sahen. Die Thematisierung des Kultus in den Kapiteln des wirksamen Handelns zeigt nur allzu deutlich, daß auch nach Schleiermachers eigener Auffassung die sachgemäße Theorie des Gottesdienstes berücksichtigen muß, daß Unterschiede bestehen zwischen dem Aspekt der je individuellen Motivation zum gottesdienstlichen Handeln, der je individuellen Verlaufsgestalt des gottesdienstlichen Handelns und der überindivi99 100 101 102 103 104

CS, 104f Vgl. CS, Beil.B, 109f. CS, 151-172. Vgl. CS, Beil. B, 109f. CS, 169f. CS, 225.228-230. Vgl. CS, Beil. B, 116fl§10], CS, 393ff. Vgl. CS, Beil. B, 109. CS, 396.

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duellen Institutionalisierung des gottesdienstlichen Handelns im Kultus der Gemeinschaft105. Die Rekonstruktion der Gottesdiensttheorie Schleiermachers im Horizont von Tugend-, Pflichten- und Güterlehre nimmt also dessen eigenes Problembewußtsein auf. In dieser Differenziertheit gewinnt die Gottesdiensttheorie Schleiermachers dann aber auch die angemessene Konkretheit, um der historischen Betrachtung zu ermöglichen, verschiedene in der Geschichte gegebene institutionelle Ausgestaltungen des Gottesdienstes daraufhin zu überprüfen und zu bewerten, ob und inwiefern sich in ihnen die individuelle Frömmigkeit gemeinschaftlich darstellt und ob und inwiefern sich in dieser Darstellung die gemeinschaftliche Frömmigkeit wiederum je individuell fortdauernd erzeugt. In dieser Differenziertheit gewinnt die Gottesdiensttheorie dann aber auch die angemessene Konkretheit, um der praktischen Theologie die Zusammenstellung von Kunstregeln zu ermöglichen, die der historischen Situation gemäß Person und Institution miteinander fruchtbar vermitteln. Auch wenn Schleiermacher die äußere Gestalt seiner Dogmatik jenem triadischen Schema nicht angepaßt hat, so dürfen wir doch bis auf weiteres erwarten, daß die Dogmatik sich als Beschreibung des geschichtlichen christlichen Lebens im Horizont der ethischen Formeln bewegt, und daß ihr Gehalt das ganze ethische Gebiet abdeckt. Anderenfalls würde die Dogmatik ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht, nämlich die ganze Wirklichkeit des christlichen Lebens lehrmäßig abzubilden. Allerdings dürfen wir nicht erwarten, die einzelnen Reflexionselemente in reiner Form aufzufinden. Es müßten sich aber doch Themenblöcke finden - am besten natürlich solche, die schon selbst als bestimmt abgegrenzte Aussagezusammenhänge kenntlich gemacht sind -, die einschlägige Fragestellungen behandeln: die Motivationsstruktur christlichen Handelns (analog zur Tugendlehre), die Verlaufsgestalt christlichen Handelns (analog zur Pflichtenlehre) sowie die Resultate christlicher Gemeinschaftsaktivität (analog zur Güterlehre). Ganz ausgezeichnet wäre es, wenn außerdem Textblöcke zu den entsprechenden sittlichen Entgleisungen zu identifizieren wären: die Motivationsstruktur unchristlichen Handelns (analog zur Lasterlehre), die Verlaufsgestalt unchristlichen Handelns (analog zur Pflichtwidrigkeitslehre) sowie die Resultate unchristlicher Gemeinschaftsaktivität (analog zur Übellehre). Es kann nun in unserem Zusammenhang nicht Ziel dieser Fragestellung sein, die materialen Einlassungen zu diesen Themen zu referieren - diese sind genuin dogmatische Lehre. Vielmehr geht es hier nur darum, die grundlegende Bedeutung des philosophisch-ethischen Beschreibungsrasters für die Darstellung der ganzen Wirklichkeit des christlichen Lebens nachzuzeichnen106. Dies 105 Vgl. CS, 570f.584. - Vgl. Wilhelm Grab, Predigt als Mitteilung des Glaubens, 171ff; Emanuel Hirsch, Predigerfibel, 23f. 106 Zum Aufbau der Glaubenslehre vgl. Emanuel Hirsch, Geschichte Bd. V, 324f; Gerhard Ebeling, Schleiermachers Lehre von den göttlichen Eigenschaften, 327ff; Volker

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genau ist die Aufgabe der Philosophischen Theologie: Selbstexplikation des christlichen Glaubenslebens gemäß den begrifflichen Standards der Philosophischen Ethik107.

a) Christlich-dogmatische Übellehre Zumindest einen der gesuchten Themenblöcke hat Schleiermacher unübersehbar kenntlich gemacht. Der zweite Abschnitt der Sündenlehre der Glaubenslehre („Von der Beschaffenheit der Welt in Beziehung auf die Sünde") wird eingeleitet von dem Paragraphen §75: „Ist die Sünde in dem Menschen gesetzt: so findet er auch in der Welt als seinem Ort beharrlich wirkende Ursachen von Lebenshemmungen, d.h. Übel; und dieser Abschnitt bildet daher das Lehrstück vom Übel"108. Dieser in sich abgeschlossene Textblock scheint also die analoge Funktion zur philosophischen Übellehre zu erfüllen. Es handelt sich um Resultate unsittlichen - „sündigen" - Handelns, die systematisch erörtert werden. Es wird in diesem Abschnitt auch die Forderung erfüllt, den jeweils thematischen Handlungsaspekt stets mit den ihm beigeordneten in Beziehung zu setzen109. So lautet der Paragraph §76: „Alles Übel ist als Strafe der Sünde anzusehen, unmittelbar jedoch nur das gesellige, das natürliche hingegen nur mittelbar"110. Damit wird die Brücke zur Frage nach der unsittlichen Motivation geschlagen, die dem unsittlichen Resultat - dem „Übel" - zugrunde liegt: die Frage nach der Sünde als der „beharrlich wirkenden Ursache von Lebenshemmungen"1''. Paragraph §77 lautet: „Erfahrungsmäßig läßt sich aber die Abhängigkeit des Übels von der Sünde nur nachweisen, wenn man ein gemeinsames Leben in seiner Vollständigkeit ins Auge faßt; keineswegs aber darf man des Einzelnen Übel auf seine Sünde als auf ihre Ursache beziehen""2. Das Übel erweist sich als Folge pflichtwidrigen Handelns in einer allen Handelnden gemeinsamen Welt"3. Da somit alle drei Aspekte des Handelns - seine Motivation (Sünde), seine Verlaufsgestalt (sündiges Handeln in der allen gemeinsamen Welt), seine Folgeträchtigkeit (übles Resultat: Lebenshemmung) - aus der Perspektive des üblen Resultates in den Blick gefaßt worden sind, schließt damit dieser Ab-

107 108 109 110 111 112 113

Weymann, Glaube als Lebensvollzug, 104ff.; Erich Schrofner, Theologie als positive Wissenschaft, lloff.; Eilert Herms, Schleiermachers Eschatologie, 97ff. Vgl. KD2§24. GL2 §75,1.411. Vgl. GL2 §75. l, 1.412. GL2 §76,1.414. Vgl. auch GL2 §75.2, 1.413: „Nun setzen freilich die geselligen Übel ebenfalls die Sünde voraus, so daß was in dem einen von der Sünde ausgeht für den ändern - oder auch wohl für jenen selbst - zum Übel wird". GL2 §77,1.418. Vgl. auch: §76.2,1.416. §77.1,1.418.

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schnitt zur Übellehre. Der Paragraph §78 wird explizit als Zusatz gekennzeichnet"4. Es bewährt sich hier auch unsere Behauptung, die sittlich negativen Seiten des ethischen Beschreibungsschemas fungierten als Grundlage der Polemik. Schleiermacher nennt nämlich in dem bereits erwähnten Zusatz als „die beiden folgerichtigen praktischen Ausgänge unseres Bewußtseins" vom Übel"5 die Richtung gegen die Sünde als Ursache des Übels „und zugleich entsteht, weil jede Beschränkung der Selbsttätigkeit eine noch nicht vorhandene Herrschaft über die Natur anzeigt, die Aufgabe, diese geltend zu machen""6. Die Kirche wird also aufgefordert, sowohl ihre gesinnungsbildende Funktion besser wahrzunehmen, als auch ihrer Aufgabe der ethischen Orientierung der Naturbeherrschung nachdrücklicher nachzukommen.

b) Christlich-dogmatische Güterlehre Wie steht es aber mit einem Textblock, der das sittliche Pendant zur Übellehre, eine christliche Güterlehre, entfaltet? Es müßte dies ein Textblock sein, der die Resultate des durch den Glauben an Jesus von Nazareth als den Erlöser orientierten Lebens der Christen thematisiert. Einen solchen in sich zusammenhängenden Aussagezusammenhang gibt es tatsächlich: Der zweite Abschnitt der

114 Man könnte einwenden, daß es in dieser christlichen Übellehre um einen mit der Güterlehre nicht zu parallelisierenden Sachverhalt gehe, da die Güterlehre von Schleiermacher wesentlich als Institutionenlehre konzipiert worden sei, während die hier dargebotene Übellehre nicht von üblen Institutionen, sondern von üblen Erfahrungen „Lebenshemmungen" - handle. Dazu ist folgendes zu sagen: Auch die philosophische Güterlehre entfaltet ihre Institutionenlehre nicht um der Institutionen willen und von diesen her, sondern die Institutionen sind dadurch ein wesentliches Moment der ethischen Theoriebildung, „daß sich sittliche Thätigkeiten und Zustände in ihnen erzeugen" (SW III.2, 458). Das Wesen des Gutes ist Lebensbeförderung, und es erreicht dies durch eine besonders qualifizierte Institutionalisierung gemeinschaftlicher Zusammenarbeit. Der Gehalt der Übellehre der Glaubenslehre ist nun dazu genau parallel, indem sie nämlich alle menschliche Lebenshemmung begründet sieht in einem unqualifizierten - „sündigen" - Gesamtleben. Wenn Schleiermacher davon spricht, daß sich die Übel entweder beziehen auf die mangelhafte Förderung der Entwicklung des Menschen oder aber auf Einschränkungen der Bildsamkeit der Welt durch den Menschen (GL2 §75.2, I.413f), so ist dies mehr als deutlich ein Hinweis auf die symbolisierenden und organisierenden Tätigkeiten, wie sie in der philosophischen Güterlehre entfaltet werden und zur Begründung der Schleiermacherschen Gesellschaftstheorie dienen (ygl. E. Herms, Reich Gottes und menschliches Handeln). Grundlage der geselligen Übel ist also ein schlecht verwaltetes Gemeinschaftsleben. 115 GL2 §78.2,1.422. 116 Ebd. Die beiden Tätigkeitsformen verweisen zudem auf die beiden in der Christlichen Sittenlehre beschriebenen Weisen des wirksamen Handelns, des reinigenden und des verbreitenden.

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Gnadenlehre trägt die Überschrift: „Von der Beschaffenheit der Welt bezüglich auf die Erlösung" und beginnt mit dem Paragraphen § 113: „Alles was durch die Erlösung in der Welt gesetzt wird, ist zusammengefaßt in der Gemeinschaft der Gläubigen, in welcher sich alle Wiedergeborenen immer schon finden; und dieser Abschnitt enthält also die Lehre von der christlichen Kirche""7. Die Parallelität dieses Abschnittes zu dem der christlichen Übellehre gewidmeten sowie die sittliche Ambivalenz, der sich beide verdanken, kommt beim direkten Vergleich der jeweiligen Überschriften anschaulich zur Geltung: Übellehre: „Von der Beschaffenheit der Welt in Beziehung auf die Sünde". Güterlehre: „Von der Beschaffenheit der Welt bezüglich auf die Erlösung". Das Verhältnis zur Übellehre wird sogar explizit vorgeführt. Dabei werden auch Aussagen gemacht, die sich auf die vorausgesetzte sittliche Verlaufsgestalt des christlichen Handelns beziehen, also im weitesten Sinne den Aspekt des pflichtgemäßen Handelns mitberücksichtigen in seinem Verhältnis zu den Resultaten dieses Handelns: „so folgt, daß nur der mit der christlichen Kirche geeinigte Teil der Welt uns nun der Ort der gewordenen Vollkommenheit oder des Guten und bezüglich auf das ruhende Selbstbewußtsein der Ort der Seligkeit wird [= Güterlehre; R.S.], nicht vermöge der ursprünglichen Vollkommenheit der menschlichen Natur der Dinge, sondern wiewohl allerdings hiedurch bedingt, doch nur vermöge der in Christo hinzugekommenen und sich durch ihn mitteilenden unsündlichen Vollkommenheit und Seligkeit [deren Mitteilung im wirksamen und darstellenden Handeln der Christen folglich Pflicht ist: Pflichtenlehre; R.S.]; womit dann zusammenhängt, daß die Welt, sofern sie außer dieser Gemeinschaft Christi liegt, uns immer wieder ohnerachtet jener ursprünglichen Vollkommenheit der Ort des Übels und der Sünde ist [= Übellehre; R.S.]"1 . Die Kirche ist dasjenige Gut oder besser: der Inbegriff derjenigen Güter, durch welche sich die in Christo in die Welt hinzugekommene und sich durch ihn mitteilende unsündliche Vollkommenheit und Seligkeit darstellt und auf diese Weise immer wieder erneuert1". Im einzelnen verhandelt Schleiermacher die Ekklesiologie in drei Teilstücken. Dabei erläutert das erste Teilstück die Voraussetzungen, unter denen Kirche als gemeinsames christliches Leben möglich ist: Lehre von der Erwählung120 und Pneumatologie121. Das zweite Teilstück erläutert die wesentlichen Momente, unter denen Kirche als gemeinsames christliches Leben in der Welt 117 118 119 120 «21

GL2§113,11.207. GL2§113.3,11.209. Vgl. Mariin E. Miller, Der Übergang, 159ff. GL2 §§117-120. GL2 §§121-125.

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wirklich ist122. Und das dritte Teilstück beschreibt die Zielperspektive gemeinsamen christlichen Lebens im jenseits der Welt: Eschatologie121. Im Zentrum der Ekklesiologie als Beschreibung der Kirche als eines Gutes der geschichtlich-sittlichen Welt steht also der zweite Teil der Ekklesiologie.

c) Christlich-dogmatische Tugendlehre Das Verhältnis des zweiten Abschnittes der Gnadenlehre zu deren ersten Abschnitt entwickelt der Paragraph §90. In diesem Paragraphen wird der erste Teil der Gnadenlehre deren zweitem Teil so zugeordnet, daß beide ein und denselben Sachverhalt beschreiben, „so daß beides ganz zusammenzufallen scheint"124, allerdings aus je eigentümlicher Perspektive. Die Ekklesiologie verhandelt die Bedeutung des christlichen Gesamtlebens für die Welt vermittelst seiner Organisation. Der erste Teil der Gnadenlehre - Christologie und Lehre von der Wiedergeburt - dagegen verhandelt die Konstitution der einen jeden Christen in seinem Leben bestmimenden Gesinnung. Beide Darstellungsweisen lassen sich ordnen und scheiden, „wenn auch wechselseitige Beziehungen dabei unvermeidlich sind"125. Christologie und Lehre von der Wiedergeburt bekommen klar erkennbar hier eine Funktion, die sich philosophisch-ethisch am ehesten als Tugendlehre charakterisieren ließe. Dabei beschreibt die Christologie die Konstitution der christlichen Tugend im Blick auf ihre externe Voraussetzung, während die Lehre von der Wiedergeburt die interne Wirkung in der Seele des Einzelnen entfaltet. Der erste Abschnitt der Gnadenlehre ist mit dem Titel versehen „Von dem Zustande des Christen, sofern er sich der göttlichen Gnade bewußt ist"126. Es geht hi diesem Aussagezusammenhang um die Motivation des christlichen Handelns, um die diesem Handeln zugrundeliegende Gesinnung. Der einleitende Paragraph §91 lautet: „Wir haben die Gemeinschaft mit Gott nur in einer solchen Lebensgemeinschaft mit dem Erlöser, worin seine schlechthin unsündliche Vollkommenheit und Seligkeit die freie aus sich herausgehende Tätigkeit darstellt, die Erlösungsbedürftigkeit des Begnadigten aber die freie in sich aufnehmende Empfänglichkeit"127. Die christliche Tugend oder Gesinnung - das Bewußtsein der göttlichen Gnade - wird in diesem Abschnitt also hinsichtlich ihrer beiden wesentlichen Aspekte verhandelt: Sie ist bezüglich ihres Gehaltes nicht durch sich selbst gesetzt, sondern passiv konstituiert: „durch die freie aus sich herausgehende Tä122 123 124 125 126 127

GL 2 §§ 126-156. GL2 §§157-163. GL2 §90.l, 11.27. GL2 §90.l, 11.28. GL2 §§91-112. GL2 §91,11.29.

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tigkeit" des Erlösers; und sie ist formal gekennzeichnet als „lebendige Empfänglichkeit": „Denn keine Veränderung in einem Lebendigen ist ohne eigene Tätigkeit, ohne welche daher, auf vollkommen leidentliche Weise, auch keine Einwirkung eines anderen wirklich kann aufgenommen werden(...)Aller wirkliche Lebenszusammenhang mit Christo, bei welchem er irgend als Erlöser gesetzt sein kann, hängt also daran, daß lebendige Empfänglichkeit für seine Einwirkung schon und daß sie noch vorhanden sei"128. Damit ist aber noch nicht ausreichend klar, daß es sich um die Gesinnung eines sozialen Wesens handelt. Daß und wie die christliche Gesinnung auch das Grundmotiv gemeinsamen Lebens sein kann, entwickelt Schleiermacher in der Pneumatologie129 zu Beginn der Ekklesiologie seiner Glaubenslehre.

d) Christlich-dogmatische Lasterlehre Auch zu diesem Lehrstück gibt es ein negatives Gegenüber, wie ja auch in dem kritischen Bezug des philosophisch-ethischen Rasters auf die sittliche Welt die Tugendlehre durch die Lasterlehre komplettiert und konkretisiert wird. In christlicher Terminologie wird das Laster als Sünde angesprochen. Der abgeschlossenen Textblock, der die Sünde als defizitären Ausgangspunkt defizitären Handelns notiert, steht unter der Überschrift: „Die Sünde als Zustand des Menschen"130. Der einleitende Paragraph §66 lautet: „Wir haben das Bewußtsein der Sünde sooft das in einem Gemütszustand mitgesetzte oder irgendwie hinzutretende Gottesbewußtsein unser Selbstbewußtsein als Unlust bestimmt, und begreifen deshalb die Sünde als einen positiven Widerstreit des Fleisches gegen den Geist"131. Auch die Sündenlehre geht also davon aus, daß der Gehalt des Sündenbewußtseins passiv konstituiert ist132: „sooft das in einem Gemütszustand mitgesetzte oder irgendwie hinzutretende Gottesbewußtsein unser Selbstbewußtsein als Unlust bestimmt". Und diese Passivität meint im christlichen Kontext nicht 128 GL2 §91.1, II.29f; vgl. GL2 §88.4, II.22f; CS, 512f[1824/25]. Das damit Gemeinte wird sofort anschaulich, wenn man sich daran erinnert, daß ja der bloße „Totaleindruck" Christi bei seinen Zeitgenossen nicht notwendig zum Glauben führte. Ganz im Gegenteil war der Eindruck, den sie von Jesus erhielten, bei nicht wenig einflußreichen Personen Anlaß zu einem denkbar unfreundlichen Verhalten ihm gegenüber: Sie ließen ihn kreuzigen. 129 GL2 §§121-125. 130 GL2 §§66-74. 131 GL2 §66,1.355. 132 Dies ist ein Wesenszug jeglicher Gesinnungsbildung, sei es in ethisch positiver oder ethisch negativer Hinsicht: „Die Thätigkeit als solche muß immer aus einem Affectionszustand hervorgehen, und dieser muß rein intelligent sein, wenn die Thätigkeit es sein soll, weil sonst aus jenem sinnliche und natürliche Elemente sich emschleichen würden" (PhE, 669).

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das Ausgeliefertsein der sittlichen Selbstwahrnehmung an die Standards irgendwelcher innerweltlichen Instanzen - etwa kultureller oder gesellschaftlicher Normvorgaben133 -, sondern als unverfügbarer Maßstab fungiert das Gottesbewußtsein in seiner christlich fundierten monotheistisch-teleologischen Ausprägung134. Formal ist Sünde die gestörte „lebendige Empfänglichkeit" gegenüber der Gnade: Dies äußert sich in einem alle Lebensvollzüge dominierenden Herrschen innerweltlicher Interessen. Da die innerweltliche Perspektive aber im Lichte des christlich fundierten monotheistisch-teleologischen Gottesbewußtseins als nicht ausreichend zur Deutung und aktiven Ausgestaltung der Erfahrungswirklichkeit erwiesen ist, müssen notwendig alle aus diesem beschränkten, nicht umfassend konkreten Deutungsrahmen abgeleiteten innerweltlichen Interessen abstrakt bleiben.

e) Zwischenbilanz Der bisherige Verlauf hat ergeben, daß die Philosophische Ethik mit der in ihr entwickelten Ausdifferenzierung wesentlicher Handlungsaspekte geeignet ist, die jeweilige Abgrenzung wie die gegenseitige Zuordnung größerer Teile der Schleiermacherschen Glaubenslehre verständlich zu machen als in der Orientierung an der sittlichen Wirklichkeit des christlichen Glaubens begründet. Wenn nun auch die Glaubenslehre in ihrer Darstellung der dem Christen erschlossenen Gewißheit über die wahre Verfassung der Wirklichkeit135 immer auch berücksichtigen wird, was aus dieser Einsicht für die praktische Gestaltung des christlichen Lebens folgen muß - nämlich nichts anderes sein zu wollen als Abbild und Fortsetzung der Tätigkeiten Christi136 -, so ist doch dieses „pflichtgemäße" Handeln des Einzelnen das genuine Thema der Christlichen Sittenlehre, wie wir gesehen haben137. Und ebenso wie die Glaubenslehre die Gesinnung der Christen wie deren organisiertes Gesamtleben als begründet in der Offenbarung Jesu von Nazareth als des Erlösers entfaltet, so beschreibt die 133 Ein so geartetes sittliches Empfinden wäre charakteristisch für die religiöse Stufe des Fetischismus oder des Polytheismus. 134 In dieser Perspektive gilt dann: „der Saz, daß alle außerchristlichen Tugenden nichts sind als glänzende Laster, läßt sich in aller Strenge durchführen, denn sie beziehen sich alle mehr oder weniger auf ein beschränktes Gebiet, wie z.B. das nationale, und gehören also dem sinnlichen an, der , wie sie dem gegenübersteht" (CS, 306). 135 ThES, 218: „Die christliche Glaubenslehre stellt zusammen, was in der christlichen Kirche oder einer protestantischen Gemeinschaft für wahr gehalten wird, und die christliche Sittenlehre das, was in denselben für gut gehalten wird". 136 Vgl. etwa: GL2 §127.3, II.282f. 137 In der Glaubenslehre kämen hier in Frage vor allem die Lehre von der Heiligung in den Paragraphen §§110-112 (parallel zur Pflichtenlehre) und die Lehre von der wirklichen Sünde in den Paragraphen §§73-74 (parallel zur Pflichtwidrigkeitslehre).

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Christliche Sittenlehre die Handlungen des Christen im Rekurs auf das Lebenszeugnis Jesu: „Die christliche Sittenlehre ist Beschreibung der christlichen Handlungsweise, sofern sie auf den Erlöser zurückgeht, und eben als solche Beschreibung ist sie Gebot für alle, die in der christlichen Kirche sind, für welche eben nichts anderes Gebot ist, als was sich aus der absoluten Gemeinschaft mit Gott, wie sie in Christo, dem Erlöser, ist, entwickeln läßt"138.

f) Christlich-dogmatische Pflichtenlehre Dieser methodische Grundansatz - die Beschreibung der christlichen Handlungsweisen, die sich aus der „absoluten Gemeinschaft mit Gott" vermittelt durch Christum ergeben - entspricht genau dem Ansatz der Pflichtenlehre, den Schleiermacher andernorts dargestellt hat139. In der Philosophischen Ethik entwickelt die Pflichtenlehre das Einssein der Vernunft und der Natur - in christlicher Perspektive unüberbietbar geschichtlich anschaulich erschlossen am Lebenszeugnis Jesu - „als die Mannigfaltigkeit von Pflichten, sofern es verschiedene Verfahrensarten giebt, wie die Thätigkeit der Vernunft zugleich eine bestimmte auf das Besondere gerichtete, und zugleich eine allgemeine auf das Ganze gerichtete sein kann"140. Dabei werden diese Tätigkeitsformen abgeleitet aus der Struktur des Bewußtseins: „Die Pflichtenlehre kann nicht die Totalität der Bewegung aufzeichnen, sondern nur das System des Bewußtseins, worin diese aufgehen. Sonst wäre sie Geschichte"141. Genau diese Aspekte sind aber auch die Konstruktionsprinzipien der Christlichen Sittenlehre. Die Christliche Sittenlehre beansprucht hinsichtlich ihrer Gestaltung, das Abbild des religiösen Gemütszustandes zu sein, insofern er impetus, Motiv zu einem „Cyklus von Handlungen" ist142. „Sie wird nichts sein können, als eine Beschreibung derjenigen Handlungsweise, welche aus der Herrschaft des christlich bestimmten religiösen Selbstbewußtseins entsteht"143. Und sie wird dabei notwendig auch die Wirkungen dieser Handlungsweisen in der sittlichen Welt mit zu berücksichtigen haben. Diese Wirkungen werden 138 CS, 34; vgl.a.a.O.,lf.7f.l2f.23.32f.41f.43.54.57.59.67f.69f.73.75.76[Vorl. 1824/25].87. 90.149. 291f.296 [1826/27]. 139 Vgl. etwa SW III.2, 380: „Die Entwikklung des Pflichtbegriffs muß also ein System von Handlungsweisen enthalten, welche nur aus der sittlichen Kraft und der Richtung auf die gesamte sittliche Aufgabe begriffen werden können; eine Entwikklung dieses Begriffs kann es aber wiederum nur geben, sofern in den sittlichen Handlungen die Beziehung auf die Gesamtheit der sittlichen Aufgabe und auf das Begründetsein in der Gesamtheit der Tugenden sich als eine verschiedene zeigt". 140 PhE, 551[§112]. 14) PhE,459[§l]. 142 CS, 23. 143 CS, 32f; vgl. CS, Beil.C, 170.

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als Wirkungen in der sittlichen Welt - immer bestimmte Interaktionsgestalten sein. Die in der Christlichen Sittenlehre angelegte Lehre vom kirchlichen Buß/Erziehungs- und Kultuswesen bildet folglich den Anknüpfungspunkt der Christlichen Sittenlehre als Pflichtenlehre an die Güterlehre. Die Ausführungen der Christlichen Sittenlehre bestimmen als die beiden wesentlichen Handlungsweisen, die in der eigentümlichen Motivationsstruktur des Bewußtseins der Frommen impliziert sind, das wirksame und das darstellende Handeln. Diese Bestimmung ist das Ergebnis der Frage, wie denn das christliche Selbstbewußtsein Impuls werde und wie es in Handlungen übergehe144 - also die Anknüpfung der Pflichtenlehre an die Tugendlehre: Es gilt, „daß alle Pflichtübung als solche(...)nichts anderes ist, als Darstellung der Gesinnung"145. Dabei erweist die aufmerksame Selbstbeobachtung das christliche Selbstbewußtsein als intern differenziert, insofern als es auf der einen Seite einen „Zustand der Seeligkeit"146 darstellt, auf der anderen Seite aber gilt: „Die ganze Vorstellung also vom eigentümlichen des religiösen Bewußtseins im Christenthume ist wesentlich bedingt durch das Gesetztsein der Sünde als des unvermeidlichen allgemeinen menschlichen Zustandes außerhalb der Gemeinschaft mit Christo"147. Auch die Christliche Sittenlehre als Pflichtenlehre rechnet mithin mit der Ambivalenz allen Handelns, der Alternative von gut/böse, Gnade/Sünde. Es wird in ihr daher auch darum gehen müssen, pflichtwidriges Handeln dem kontrollierten Einfluß der christlichen Sittlichkeit zugänglich zu machen'48. Da diese Einflußnahme eine nicht bloß äußerliche sein, sondern das Übel an der Wurzel packen soll, muß es eine Einflußnahme auf die Gesinnung sein. Dies ist Thema der Theorie des „wirksamen Handelns"149. Indem das wirksame Handeln die Gesinnung bildet, wird aber nicht nur eine Veränderung der Handlungsorientierung bewirkt, sondern zugleich eine Veränderung des Gebrauchs der menschlichen Talente und Fertigkeiten initiiert. Da diese Talente und Fertigkeiten als ausführende Organe des menschlichen Willens aber entscheidenden Einfluß daraufhaben, ob und inwiefern die Durchsetzung der Handlungsabsichten gelingt, kann man daher auch formulieren: Das wirksame Handeln 144 CS, 35ff. 145 CS, Beil.C, 170; vgl. a.a.O., 163: Die Christliche Sittenlehre verhandelt „also das innere Motiv im Verhältnis zu den äußeren Anforderungen". Sie stellt somit eine notwendige Komplettierung der Beschreibung der ganzen Wirklichkeit des christlichen Lebens dar, „denn die sittliche Kraft stellt für sich allein noch nicht das sittliche dar, sondern muß in Wechselwirkung gedacht werden mit den Aufforderungen von außen" (KdS, 188; vgl. SWIII.2, 387). 146 CS, 30. 147 CS, 36; vgl. a.a.O., 33f. 148 Dies ist auch schon in der Pflichtenlehre der Philosophischen Ethik vorgebildet, wenn sie davon ausgeht, daß „alles sittliche Handeln zugleich rectificirend sein muß" (PhE, 480). 149 CS, 97-501.

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strebt danach, „dem Geiste Organismus zu geben"150. Dabei ist der Charakter des wirksamen Handelns entweder „reinigend"151 oder „verbreitend"152, wobei sich das reinigende Handeln entweder auf den Geist oder das Fleisch bezieht und das verbreitende Handeln sich entweder nur als Gesinnungsbildung oder aber auch als Talentbildung vollzieht. Pflichtgemäßes Handeln liegt nur dann vor, wenn ihm ein sittliches Motiv zugrunde liegt. Aus der Perspektive des Christentums ist die unüberbietbare Sittlichkeit aber beschlossen in der Gemeinschaft mit Gott, wie sie durch Christus vermittelt wird; wobei gilt: „daß die Gemeinschaft mit Gott nur deßhalb durch Christum begründet werden muß, weil sie anders nicht erreicht werden kann. Denn könnte sie auf andere Weise erreicht werden: so wäre das Christenthum nur etwas zufälliges"153. Die mangelhafte Gemeinschaft mit Gott ist als Sünde die Grundlage pflichtwidrigen Handelns. Das pflichtgemäße verbreitende Handeln folgt dem Impuls, „die den Moment noch nicht erfüllende aber angesprochene Gemeinschaft mit Gott zu realisiren"154. Der Haupttypus dieses Handelns ist „Erziehung"155. Der Ausgangspunkt der Ableitung dieses Handlungstyps - das christlichfromme Selbstbewußtsein - erlaubt nun hier nicht, „Erziehung" umstandslos mit einer irgendwie schulisch vorgestellten Institution zu identifizieren. Erziehung als der Haupttypus des verbreitenden Handelns ist hier vielmehr zunächst nur ein Handlungsvollzug einzelner Personen aufgrund einer ihnen eigentümlichen Bestimmtheit des christlich-frommen Selbstbewußtseins. Es geht um die erzieherische Tätigkeit, die der Einzelne auf sich selbst und seine ihn umgebende Gemeinschaft zwanglos ausübt, ohne dieser Tätigkeit eine institutionalisierte Form zu geben und sie etwa beruflich auszuüben. Zur Sprache gebracht ist hier nichts anderes als die Tatsache, daß jeder Mensch sich selbst und seiner Umwelt im geselligen Umgang zum Auslöser von Bildungsprozessen werden kann, immer auch wird und dieses bewußt in seinem Handeln berücksichtigen kann 156 . Das pflichtgemäße reinigende Handeln geht auf die Wiederherstellung des rechten Gottesverhältnisses „der Gemeinde und der einzelnen, wenn es irgend

150 CS, Beil.D, 187. 151 CS, 97-290. 152 CS, 291-501. In seiner Kirchengeschichtsvorlesung von 1806 unterscheidet Schleiermacher ein negatives oder polemisches und ein positives Handeln: KG, 627. Das wirksame Handeln gliedert sich also in der Terminologie der Philosophischen Ethik in „Rectification und Production" (PhE, 460[§7]; vgl. a.a.O., 480). 153 CS,40. 154 CS,43. 155 CS, 53. 156 In der neueren pädagogischen Diskussion wird dieser Sachverhalt als „funktionale" Erziehung bezeichnet.

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wo unterbrochen ist oder aufgelöst"157. Die Haupttypen dieses Handelns sind „Strafe Zucht Büßung"158. Auch hier geht es nicht um die Institution des kirchlichen Bußwesens oder das Institut der Kirchenzucht159, sondern zunächst nur um die ganz alltäglichen Lebensvollzüge einzelner Personen, die sich eines religiösen Rückschrittes bewußt werden - bei sich selbst oder anderen - und nun Gegenmaßnahmen ergreifen, um ihr derart beunruhigtes Gewissen wieder zu befrieden. Auch der scharfe Tadel an Mißständen im gesellschaftlichen Umfeld und ein gezieltes Handeln, diesen Mißständen entgegenzuwirken, haben hier ihren Ort. So führt Schleiermacher das Vorgehen der Reformatoren stets als Paradebeispiel reinigenden Handelns auf öffentliche Mißstände an160. Entscheidend dafür, daß es sich bei all diesen Handlungen um religiös motivierte Bußakte handelt, ist aber letztlich nicht das Eingeständnis und die Kritik äußerlicher moralischer Verfehlungen, sondern die Einsicht, daß all dies die Epiphänomene einer grundlegenden sittlichen Fehlorientierung sind. Buße ist zunächst und zuerst die Selbsterkenntnis der Person in ihrem Sündersein, d.h. in ihrem gestörten Gottesverhältnis161. Dasjenige Handeln, dem das Bewußtsein der - relativen - Seligkeit zugrunde liegt, das somit Ausdruck der durch Christum vermittelten Gemeinschaft mit Gott und folglich ein - relativ - vollkommenes Handeln ist, bestimmt Schleiermacher als „darstellendes Handeln"162. Der Haupttypus dieses Handelns ist der „Gottesdienst"163: „Gottesdienst ist also der Inbegriff aller Handlungen, durch welche wir uns als Organe Gottes vermöge des göttlichen Geistes darstellen"164. 157 CS, 53. 158 CS, 54. Auf christlich-religiösem Gebiet fallt das Strafen allerdings als Möglichkeit des reinigenden Handelns aus, da es zur Korrektur der Gesinnung untauglich ist: CS, 165.234; CS, Beil.B, 118[§13]; ThES, 173. 159 Vgl. PrTh, 59If. 160 Vgl. auch PhE, 480, wo das entsprechende staatsbürgerliche reinigende Handeln philosophisch-ethisch als Pflicht zur „Rectification" unsittlicher Zustände in der „Repräsentation der bürgerlichen Gesellschaft" thematisch wird. 161 Vgl. GL2§11.3,1.78. 162 CS, 502-705. - Vgl. Michael Moxter, Güterbegriff und Handlungstheorie, 58ff. Zur Problematik der Darstellung des subjektiven Bewußtseins in Schleiermachers Philosophischer Ethik vgl. Christel Keller-Wentorf, Schleiermachers Denken, 483ff. - Über die derzeitige Diskussion der Darstellungsthematik informiert - allerdings ohne jeglichen Bezug auf Schleiermacher! - der von Christiaan L. Hart Nibbrig herausgegebene Sammelband „Was heißt 'Darstellen'?". Vgl. auch Wladimir Weidle, Gestalt und Sprache des Kunstwerks, 41 ff. 163 CS, 525. - Vgl. Dietrich Rössler, Unterbrechungen des Lebens. 164 CS, 525f; vgl. CS, Beil. A, 23f. [§68]; CS, Beil.B, 149 [§10]; CS, Beil.C, 169f Die ersten Spuren eines so gearteten Gottesdienstverständnisses hatte Schleiermacher bereits bei Platon entdecken können. Vgl. Schleiermachers Übersetzung des „Eutyphron", Platons Werke, 1/2, 77ff, und Schleiermachers Anmerkung dazu, a.a.O., 402 [Arim. zu Seite 78, Z. 15], Vgl. auch: „Gorgias", a.a.O., II/l, 132f. - Auf die Bedeutung Platons für eine Arbeit zu Schleiermachers Gottesdiensttheorie bin ich durch einen freund-

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Den allgemeinen Satz, „daß jede der menschlichen Natur wesentliche Form, jede Form, die sich ethisch begreifen läßt, Organ des göttlichen Geistes werden muß, damit die ganze menschliche Natur, wie sie als ein Werk Gottes anzusehen ist, unverstümmelt sein Organ werde"165, kann man dann mit gutem Recht als Formel für die Vollendungsgestalt des Gottesdienstes nehmen. Der Gottesdienst in dieser vollendeten Form setzt somit notwendig alles verbreitende Handeln als abgeschlossen voraus, und zwar sowohl hinsichtlich der Gesinnungs- als auch der Talent-TNaturbildung166. Es ist offensichtlich: Das darstellende Handeln, wie es von Schleiermacher hier als Gottesdienst entfaltet wird, ist zunächst und zuerst die auf keinen bestimmten sittlichen Ort einschränkbare, sondern ubiquitäre Selbsthingabe der Person an den ihr erschlossenen göttlichen Willen, um diesem als Organ zu dienen. Es gibt für dieses Handeln weder eine besondere Zeit noch einen besonderen Ort, es „hat überall seinen Plaz"167, sofern reinigendes und verbrei-

lichen Hinweis von Prof. Volp, Mainz, aufmerksam gemacht worden. Vgl. Rainer Volp, Liturgik, Bd.2, 802: „Der Begriff 'Darstellung" bei Schleiermacher, Gegenstand der Anschauung und Anlaß zur Divination (Abduktion!), ist die Übersetzung von Platons 'mimesis', die Darstellung von Regeln, die in der Erinnerung etwas vom Urbild an sich trägt".- Vgl. hierzu auch Christiaan L. Hart Nibbrig, Zum Drum und Dran einer Fragestellung, llf.; Massimo Cacciari, Der Spiegel Platons, 109ff; Johannes Bauer, Schleiermacher als patriotischer Prediger, 290ff, Wladimir Weidle, Gestalt und Sprache des Kunstwerks, 41 ff. 165 CS, Beil.D, 191 [Vorl.1831]. - Diese Vollendungsgestalt menschlicher Tätigkeit entspricht der von Schleiermacher als vorbildlich eingestuften Auffassung des Höchsten Gutes, wie sie sich bei Platon findet: „Denn so dachte er sich die Gottähnlichkeit des Menschen als das höchste Gut, daß so wie alles Seiende ein Abbild ist und eine Darstellung des göttlichen Wesens, so auch der Mensch zuerst zwar innerlich sich selbst, dann aber auch äußerlich was von der Welt seiner Gewalt übergeben ist, den Ideen gemäß gestalten solle, und so überall das sittliche darstellen" (KdS, 176). 166 Vgl. CS, 441: „Daß die Vernunft immer mehr Organ werde für den göttlichen Geist, ist die Aufgabe für den Prozeß der Verbreitung der christlichen Gesinnung; daß aber die gesammte Natur immer mehr Organ werde für die vom göttlichen Geist ergriffene Vernunft, ist die Aufgabe für den Talent- und Naturbildungsprozeß". Vgl. auch: a.a.O., 306f.442ff. 167 CS, 508. Vgl. CS, 530, wo Schleiermacher darauf hinweist, „daß das darstellende Handeln nicht ausschließend ein eigenes Gebiet für sich bildet, sondern daß es zugleich das ganze Gebiet des wirksamen Handelns in sich schließt. Wozu auch die Bibel Anleitung giebt, wenn sie es, um es in der größten Allgemeinheit auszudrükken, sogar auf das unbedeutendste im Naturbildungsprozesse ausdehnt. Denn Paulus sagt, ihr esset nun, oder ihr trinket, oder was ihr thut, so thut es alles zur Ehre Gottes. Zu Gottes Ehre handeln ist aber nichts anderes, als so handeln, daß man sich dabei als Organ Gottes darstellt. Der Apostel will also, daß der Charakter des darstellenden Handelns sich schlechthin in allem auspräge, auch an dem sinnlichsten Material, welches einen Gegenstand des verbreitenden Prozesses ausmacht". Vgl. CS, 606 [1824/25]. Vgl. auch CS, 535: „Die ganze Sittlichkeit des wirksamen Handelns in seinen beiden Zweigen, in sofern es seiner Form nach als vollendet anzusehen ist, ist zugleich das darstellende Handeln in diesem Sinne [= Gottesdienst im weiteren Sinne; R.S.]". In seinem „Leben Jesu" beschreibt Schleiermacher das vollendete sittliche Handeln in der Willenseinheit

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tendes Handeln als abgeschlossen erscheinen. Dieser Zustand ist das „Ewige Leben"16e, die unüberbietbare Vollendungsgestalt des sittlichen Zustandes169. Der Gottesdienst umfaßt somit auch das wirksame Handeln in seinen beiden Modi, insofern dieses Handeln ebenfalls als im Dienste des göttlichen Willens stehend angesehen werden muß. Es unterscheidet sich vom wirksamen Handeln aber dadurch, daß im darstellenden Handeln die Person sich selbst in ihrer Handlungssituation so als Organ des göttlichen Willens präsent ist, daß diesem göttlichen Willen nichts mehr entgegensteht, also auch keinerlei wirksames Handeln mehr angezeigt ist. Als relative Seligkeit beruht diese Einschätzung auf einer Täuschung und auf partieller Bewußtlosigkeit hinsichtlich der noch mächtigen Sünde170. In der Bewußtlosigkeit verschwindet im allgemeinen „der Unterschied zwischen Wahrheit und Schein"171. Die von Schleiermacher hier zur Sprache gebrachte „selige" Bewußtlosigkeit172 ist das Verschwinden des Unterschiedes zwischen dem faktischen Noch-Mächtigsein der Sünde und deren verheißener Überwindung. Was so als Bewußtlosigkeit angesehen wird, muß aber auf der anderen Seite vom christlichen Standpunkt aus gleichwohl auch als höhere und konkretere Bewußtheit gedeutet werden. Denn es ist ja gerade das Bewußtsein von der Verheißung der nicht endgültigen Mächtigkeit der Sünde in der Welt und die Gewißheit von dem schon Überwundensein der Sünde in Christus173, wodurch die christliche Frömmigkeit ihrer selbst als der unüberbietbaren Wahrheit im Blick auf die Verfassung dieser Welt nine ist174. Das so beschriebene darstellende Handeln ist allerdings kein Spezifikum der christlichen Frömmigkeit, sondern ist ein notwendig in jedem religiös motivierten Handeln aufweisbares Merkmal. Und insofern alles Handeln letztlich religiös motiviert ist, ist es ein Wesenszug eines jeden Handelns. Alles Handeln erstrebt die Realisation von Zielen. Diese Ziele können abstrakt175 oder kon-

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mit dem Göttlichen im Menschen am Beispiel Jesu, aber auch am Beispiel des Künstlers oder des wahrheitsliebenden Diskutanten: LJ, 13 Off. CS, 508.600f.602. Ebd. Vgl. CS, 504ff.507. CS, 403. In der Terminologie des „Leben Jesu" könnte man auch sagen: „Unschuld" (LJ, 105£). Schleiermacher definiert „Unschuld" als einen bewußtlosen Zustand, aber: „es ist ein komparativer Begriff, die Vergleichung eines unentwikkelten Bewußtseins mit einem entwickelten. Die Unschuld ist nicht nur der Schuld entgegengesezt, sondern eben so der Tugend und dem Verdienst entgegengesezt. Es ist also der Zustand eines unentwikkelten Bewußtseins, aber in welchem nichts von der sittlichen Forderung differentes gesezt ist" (LJ, 106). Vgl. GL2 §93.4,11.41. Vgl. H.Falcke, Theologie, 16ff. Das darstellende Handeln ist in gewisser Weise also zu charakterisieren als das Handeln im Modus des „als ob": als ob die Welt ihr Ziel schon erreicht hätte. D.h. nicht gewählt im Blick auf das der Person erschlossene Letztziel ihrer selbst und der Welt als ihrer Handlungssituation: Herrschaft des Fleisches.

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kret176 sein. Seligkeit liegt immer dann vor, wenn eine Person sich als stetig und ohne Hemmung von dem ihr erschlossenen Bestimmungsgrund ihrer Existenz orientiert inne ist177. Da nun der einer Person erschlossene Bestimmungsgrund ihrer Existenz dieser Person nicht notwendig als der sich im Antlitz des Gekreuzigten offenbarende Gott präsent ist, gibt es auch eine Seligkeit jenseits und unabhängig vom Christentum. Und da immer dann, wenn Seligkeit vorliegt, diese sich in einem darstellenden Handeln realisiert, gibt es auch einen Gottesdienst jenseits und unabhängig vom Christentum. Gottesdienst ist all jenes Handeln, das sich orientiert an der der Person erschlossenen Bestimmung ihrer selbst und ihrer Welt als ihrer Handlungssituation, und das als solches Handeln eine aus der Perspektive des Handelnden unüberbietbare Vollendung erreicht hat, weil es gemäß ist dem einer Person als unüberbietbar erschlossenen göttlichen Willen178. Weil das so ist, deshalb kann ein Handeln, das vom Akteur selbst als Gottesdienst ausgelegt wird, von einem Beobachter als Götzendienst beurteilt werden179. Die Vollendungsgestalt eines solchen Seligkeit180 darstellenden Handelns als Gottesdienst181 ist Christen das geschichtlich anschauliche Lebenszeugnis Jesu: „Das Sein Gottes in dem Erlöser ist als seine innerste Grundkraft gesetzt, von welcher alle Tätigkeit ausgeht, und welche alle Momente zusammenhält; alles Menschliche aber bildet nur den Organismus für diese Grundkraft, und verhält sich zu derselben beides als ihr aufnehmendes und als ihr darstellendes

176 D.h. gewählt im Blick auf die der Person erschlossene Bestimmung ihrer selbst und ihrer Welt als ihrer Handlungssituation: Herrschaft des Geistes. 177 GL2 §5.4, 1.38. Diese Bestimmung ist gänzlich formal. Deutet die Person diesen Bestimmungsgrund etwa als die Gesetze der Ökonomie, so wird sie selig sein, wenn sie sich in all ihren Lebensmomenten ohne Umstände auf diese ökonomischen Gesetzmäßigkeiten beziehen kann, um sich von diesen orientieren zu lassen. Der Christ ist selig, wenn er sich in all seinen Lebensmomenten orientieren kann an der im Lebenszeugnis Jesu erschlossenen Gewißheit, daß Gott die Welt mit sich versöhnen will. Daß sich bereits aufgrund der internen Verfassung der funktionsäquivalenten Alternativdeutungen etwa des Christentums und der Ökonomie - und nicht erst aufgrund von externen Hindernissen - das stete Sich-Aufdrängen dieser Orientierungsangebote als erschwert oder gar unmöglich erweisen kann, ist dann die „Theodizee" einer Weltanschauung mit dem Ende ihres Scheiterns. 178 Deutet eine Person etwa den Bestimmungsgrund ihrer Existenz im Blick auf die Gesetze der Ökonomie - der homo oekonomicus -, so wird sie selig sein, wenn sie in all ihrem Handeln und Erleben sich dieser ökonomischen Gesetze stetig als orientierender Instanz gewiß ist. Und ihr Handeln wird dieser Gewißheit in allen Lebensvollzügen realisierend Rechnung tragen. Die möglichst effiziente Gestaltung aller Lebensmomente bis in die intimsten Sphären zwischenmenschlicher Beziehungen ist der Gottesdienst des homo oekonomicus. 179 Das wäre etwa die Beurteilung des homo oekonomicus durch den homo christianus. 180 D.h. die stete Kräftigkeit/Tugend des Gottesbewußtseins/der Gesinnung. 181 D.h. die völlige Selbsthingabe als Organ des göttlichen Willens vermöge des göttlichen Geistes.

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System, so wie in uns alle anderen Kräfte sich zur Intelligenz verhalten sollen"182. Auch wenn wir mit der Vollendungsgestalt des menschlichen Handelns an der Grenze des in philosophisch-ethischer Systematik Aussagbaren angelangt sind, insofern hier Tugend- und Pflichtenlehre in die Lehre vom Höchsten Gut als dem Inbegriff aller Tugenden und allen pflichtgemäßen Handelns übergehen, ist doch auch der Handlungstyp Gottesdienst in der Christlichen Sittenlehre (=Pflichtenlehre) nicht als die uns allen bekannte Institution des gemeinschaftlichen Kultus abgeleitet181, sondern das gottesdienstliche Handeln des Einzelnen beschrieben. In diesem Sinne verstanden gehören zu dieser Sphäre alle Lebensmomente, in denen eine Person ausdrücklich ihr Tun und Lassen, ihre ganze Existenz, als bestimmt durch den ihr erschlossenen göttlichen Willen von diesem in Dienst nehmen läßt und sich auch noch diesem Indienstnehmenlassen als nicht ihrer eigenen Leistung gewiß ist. Das setzt aber voraus, daß es Momente gibt, in denen Menschen sich auf die letzten Ziele ihres Handelns und die letzten Voraussetzungen ihres Handelns besinnen und beides als nicht von ihnen selbst gesetzt zum Ausdruck bringen - sowohl vor sich selbst als auch vor ihrem geselligen Umfeld. Seine Vollendungsgestalt hat dieses Handeln des seiner selbst als Organ Gottes präsenten Subjektes erreicht, wenn es nicht nur punktuell als zwischenzeitliche Lebensbilanzierung statthat, sondern alle Lebensvollzüge begleitet, d.h. mit der Verabschiedung aller menschlichen Autonomie und der das ganze Leben durchdringenden Gewißheit, daß Gott Gott ist, der allem menschlichen Handeln Sinn und Ziel gibt. Die stete Leichtigkeit dieses Gottesbezuges in allen Lebensmomenten wird bereits in den subjektivitätstheoretischen Erwägungen der Einleitung zur Glaubenslehre als Seligkeit bestimmt184.

g) Christlich-dogmatische Pflichtwidrigkeitslehre Schleiermacher gibt in der Christlichen Sittenlehre zwar keine umfassende Präsentation der diesen Formen des pflichtgemäßen Handelns gegenüberstehenden unsittlichen Fehlformen, aber es finden sich doch eine Reihe von Hinweisen. Wenn wir mit dem darstellenden Handeln beginnen, so ist die pflichtwidrige Entgleisung der Götzendienst. Das sind all jene Momente, in denen die Person die Ziele wie die Grundlage ihres Handelns einer Instanz zuschreibt, die faktisch nicht ihr Gott sein kann, weil sie zur Welt gehört. Unsittliches Handeln gründet somit immer in einem Selbstmißverständnis der Person, die in ihrer 182 GL2 §96.3,11.57. 183 Vgl. auch: GL2 §87.2,11.16. 184 GL2 §5.4,1.38.

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expliziten Selbstdeutung zurückfällt hinter das auf der Ebene des unmittelbaren Selbstbewußtseins faktisch implizierte Erschlossensein des „Woher der schlechthinnigen Abhängigkeit" als einer auf jeden Fall nicht innerweltlichen Instanz. Die Resultate einer solchen Selbstmißdeutung haben im Zusammenhang der Übellehre ihre Darstellung erfahren. Die Welt wird zum Ort des Übels, weil die Orientierung aller Erfahrung und allen Handelns an einer innerweltlichen Instanz notwendig scheitern muß. Weil diese Instanz selbst zum Bereich der innerweltlichen Wechselwirkung gehört, kann sie nicht das „Woher" dieser Wechselwirkung sein und angemessen zum Ausdruck bringen. Das unsittliche Gegenüber zum darstellenden Handeln kann man vielleicht am besten als „verstellendes" Handeln bezeichnen. Pflichtwidrige Entgleisungen auf dem Gebiet des wirksamen Handelns liegen immer dann vor, wenn die Gesinnungsbildung so vorangetrieben wird, daß sie zum Götzendienst fuhrt. Wenn etwa das vorgelebte Beispiel der Eltern in ihren Kindern - unter Aufnahme der anthropologischen Konstanten „Eitelkeit" und „Neid" - die Überzeugung reifen läßt, daß der Wert eines Menschen abhängig sei vom gesellschaftlichen Renommee, so wäre dies ein die Sünde verbreitendes Handeln: die Tätigkeit des Verführers. Die Beeinflußung dahin, daß es besser sei, den eigenen Gerechtigkeitssinn zu ignorieren und sich nicht einzumischen, wenn man etwa mit Mißständen konfrontiert wird - womit man den Götzendienst durch Unterlassung sanktioniert -, wäre dagegen eine „Reinigung" der Gesinnung vom Einfluß der auf der Ebene des unmittelbaren Selbstbewußtseins gewissen Verheißung der Gnade: die Tätigkeit des Versuchers185. Die unsittlichen Gegenüber zu verbreitendem und reinigendem Handeln sind wohl recht treffend mit den Bezeichnungen „verführendes" und „versuchendes" Handeln charakterisiert186.

h) Proto-Ethik und Post-Ethik: Schöpfüngs- / Urstandslehre, Christologie / Erwählungslehre und Eschatologie Die dogmatische Lehre von der ganzen Wirklichkeit des christlichen Lebens konkretisiert auch zwei Aspekte, die in jeder Beschreibung der sittlich-geschichtlichen Welt implizit mitgesetzt sind, ohne von dieser selber - zumindest nicht auf ein und derselben Beschreibungsebene - ausdrücklich gemacht wer185 Vgl. Mt 4, 1-11 (vgj. CS, 605). 186 Die hier angedeutete Differenzierung zwischen „Verführung" und „Versuchung" ist bereits in Schleiermachers Definition der Versuchung angelegt, die aber noch beides umfaßt; vgl. CS, 604. Dort wird unter Versuchung verstanden: „eine Reizung des Menschen von außen, wodurch etwas in ihm entwickelt werden kann, was einen Mangel an Herrschaft des Geistes über das Fleisch manifestirt und wodurch die Herrschaft des Fleisches nachher verstärkt wird". Vgl. zur Versuchungsthematik auch: GL2 §111.4, II.196ff.

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den zu können. Jede ethische Beschreibung geschieht nach Schleiennacher unter dem folgenden Vorbehalt: „Es giebt also ein Einssein von Vernunft und Natur, welches in der Ethik nirgend ausgedrückt, sondern immer vorausgesezt wird; und ein anderes, welches nirgend ausgedrückt, sondern auf welches überall hingewiesen wird"187. Inklusive der ethischen Perspektive ergeben sich so die drei Themen: die Voraussetzungen geschichtlich-sittlichen Lebens; die wesentlichen Momente geschichtlich-sittlichen Lebens; die Zielbestimmung geschichtlich-sittlichen Lebens. Theoretisch werden damit Aspekte ausdifferenziert, die die komplexe Selbsterfahrung geschichtlich-sittlichen Lebens konstituieren, folglich immer beieinander sind, auch wenn nur ein Teil davon in unserem alltäglichen Erfahren bewußt wird. Die Verhandlung der von jeder christlich-dogmatischen Erfassung der Wirklichkeit des menschlichen Lebens vorausgesetzten Bedingungen der Möglichkeit eben dieser Wirklichkeit gibt der erste Teil der Glaubenslehre in den Paragraphen §§32-61: „Entwicklung des frommen Selbstbewußtseins, wie es in jeder christlichfiOmmen Gemütserregung mimer schon vorausgesetzt wird, aber auch immer schon enthalten ist"189. Das in Schöpfungs- und Urstandslehre Beschriebene ist nun aber aus christlicher Perspektive noch nicht ausreichend, um die Existenz der christlichen Kirche als geschichtlich-sittliches Phänomen zu erklären. Der erste Teil der Dogmatik fuhrt zunächst nur bis zur Einsicht in die Voraussetzungen einer geschichtlich-sittlichen Sphäre überhaupt. Das damit erreichte Einssein von 187 PhE, 542[§82]; vgl. a.a.O., 546f.[§§99ff.].599[§64]. Auch die Physik kann nach Schleiermacher nicht an einem absoluten Nullpunkt anfangen, sondern setzt ein „Resultat" von Prozessen voraus, die ihr immer schon vorgegeben sind; vgl. SW III.2, 412. 188 Es ist hier nicht an ein zeitliches Verhältnis zu denken; vgl. GL2 §57.2,1.309f. 189 GL2 11.171. Insofern dieser Teil die Implikate des christlich-frommen Selbstbewußtseins überhaupt entwickelt, kann er nicht nur als erster Teil der Glaubenslehre angesehen werden, sondern bildet den ersten Teil der ganzen Dogmatik - er steht also sowohl vor Glaubenslehre wie Sittenlehre und muß auch als deren Grundlage mitgedacht werden (vgl. GL2 §58.2, 1.312). Zum Bewußtsein der Christlichen Sittenlehre von ihrem Ort zwischen protoethischer und postethischer Beschreibung vgl. CS, 43.318.320f. [1826/27].531f. Die Deutung des ersten Teils der Glaubenslehre in dem von uns vorgeschlagenen proto-ethischen Sinne bewährt sich an vielen Stellen. Vgl. aber besonders GL2 29.1, I.lolf. sowie die Lehrstücke des dritten Abschnittes - „Von der ursprünglichen Vollkommenheit der Welt" (§59) und „Von der ursprünglichen Vollkommenheit des Menschen" (§§60-61) - mit PhE, 542[§84]: Die von jeder Ethik vorausgesetzte Grundverfassung von Wirklichkeit „ist das Sein der Vernunft in dem menschlichen Organismus, und das Wissen desselben ist also eine vor der Ethik gegebene Anschauung der menschlichen Natur als solcher, so daß jedes wirkliche Einssein der leidenden Natur und der handelnden Vernunft auf dieses Ursprüngliche zurückgeführt wird". Auf den proto-ethischen Charakter des Lehrstücks „Von der ursprünglichen Vollkommenheit der Welt" hat bereits H.Falcke hingewiesen: Theologie, 15.

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Vernunft und Natur weiß der christliche Glaube aber als noch nicht ausreichend zur steten Kräftigkeit des Gottesbewußtseins190, weshalb dem christlichen Glauben diese ganze Sphäre noch als allererst zu ethisierende Natur gilt191. Diese Ethisierung der menschlichen Vernunft/Natur vollzieht sich für den christlichen Glauben in der Person Jesu Christi. In ihm war die göttliche Vernunft personbildende Kraft192 - und nur in ihm193 Daher gelangt in christlicher Perspektive auch erst in dem von ihm gestifteten Gesamtleben die Schöpfung der menschlichen Natur zu ihrer Vollendung194. Es ist aus diesem Grunde ganz sachgemäß, wenn die christliche Tradition mit dem Auftreten Christi eine neue Zeitrechnung beginnen läßt195. Schöpfungs- und Urstandslehre müssen also noch ergänzt werden um die Christologie, soll die geschichtlich-sittliche Wirklichkeit der christlichen Kirche hinsichtlich ihrer Voraussetzungen klargemacht werden196. Wenn auch mit dem Auftreten Christi ein neues Zeitalter der Sittlichkeit begann, so kann man doch nur in stark eingeschränktem Maße sagen, daß dieses neue Zeitalter unmittelbar das der christlichen Kirche ist. Denn die die Tätigkeit Christi aufnehmende und fortsetzende Tätigkeit der Kirche kennt nicht nur den Erfolg, sondern - wie auch Jesus selbst schon - auch und gerade den Mißerfolg ihres Bemühens197. Soll nun nicht ausgerechnet das Gelingen oder Mißlingen der Verkündigung Jesu bzw. der Kirche dem absoluten Zufall überlassen bleiben - und somit gerade diese Tätigkeit aus der Sphäre der Sittlichkeit überhaupt herausfallen -, so müssen hierfür Gründe aufweisbar sein, die aus der Verfassung der Handlungssituation - ihrer Gesetze und Regeln theoretisch erhoben werden können. Die damit geforderte Konkretisierung von Schöpfungs- und Urstandslehre auf die Handlungssituation der erlösenden

190 Vgl. GL2 §94.2, II.45f. 191 Dieser Sachverhalt kommt nachdrücklich im Schleiermachers Pneumatologie zur Geltung, wenn er den christlichen Gemeingeist deutlich vom allgemeinen Gattungsbewußtsein unterscheidet, weil letzteres erst unter der Herrschaft des göttlichen Geistes zur Stiftung positiv sittlicher Gemeinschaft befähigt wird, während es unabhängig vom göttlichen Geist „nur als Schranke dient für die persönliche und erweiterte Selbstsucht" (GL2 §121.3, 11.253). Die ethisierende Wirkung der Tätigkeit Christi ist also erst der Nebeneffekt seiner das Gottesbewußtsein erlösenden Tätigkeit. Ein Effekt, der aber anders gar nicht hätte erreicht werden können. Weil Christus wesentlich das Gottesverhältnis der Person revolutioniert, deshalb revolutioniert er zugleich das Verhältnis der Personen zueinander - und nicht umgekehrt (ebd.). 192 GL2§§93ff. 193 Vgl. GL 2 § 123.3,11.263. 194 GL2§89.§106. 195 Vgl. GL 2 § 164.2,11.443. 196 Dabei gilt von der Christologie, daß sie ebenfalls - wie Schöpfungs- und Urstandslehre - Glaubenslehre und Christlicher Sittenlehre gemeinsam zugrunde liegt (vgl. CS, 38f.63), wenn es auch eine jeweils spezifische Aufnahme dieser Fragestellung in der Glaubenslehre und der Sittenlehre gibt. 197 GL2§114.1,II.212.

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Tätigkeit Christi bzw. der Kirche gibt traditionell die Erwählungslehre198. Diese bietet die Entfaltung der christlichen Gewißheit, daß das menschliche Leben nicht göttlicher Willkür unterliegt, sondern einer planvollen Weltregierung gewiß sein darf". Die Beschreibung des ideologisch vom geschichtlich-sittlichen Prozeß angestrebten Zustandes geben die von Schleiermacher unter Vorbehalt200 der Ekklesiologie eingefügten Paragraphen „Von der Vollendung der Kirche"201. Diese eschatologische Thematik wird explizit als jenseits der geschichtlichsittlich beschreibbaren gegenwärtigen Wirklichkeit markiert: ,,Da die Kirche in dem Verlauf des menschlichen Erdenlebens nicht zur Vollendung gelangen kann: so hat die Darstellung ihres vollendeten Zustandes unmittelbar nur den Nutzen eines Vorbildes, welchem wir uns nähern sollen"202. Die Thematik der Lehre von der Vollendung der Kirche ist also nicht unmittelbar in dem Gebiet unserer täglichen Erfahrung gegeben203. Die Lehre von der Vollendung der Kirche entwirft den erfahrungs- und handlungsleitenden Begriff von Kirche. Die Darstellung des eschatologischen Zustandes der Kirche soll als Probe dafür fungieren, ob in der Beschreibung des Bestehens der Kirche in der Welt das Wesen des Reiches Gottes - die unumschränkte Herrschaft des Heiligen Geistes - richtig und unverfälscht von innerweltlichen Störungen aufgefaßt wurde204. Für diesen eschatologischen Zustand hat auch die Philosophische Ethik keinen anderen Ausdruck mehr zur Verfügung als „seliges Leben"205. Damit wird noch einmal hervorgehoben, daß alle geschichtlich-sittliche Beschreibung von Seligkeit als Motiv, als darstellendes Handeln und als Kultus zwar einzig von jenem eschatologischen Zielpunkt her ihren Sinn erhält, der so beschriebene Sachverhalt aber eben in sich selbst letztlich - noch - nur relative Seligkeit ist, darstellt und organisiert. Auch das darstellende Handeln des einzelnen Frommen wie der gemeinsame Kultus sind nicht Realisationen des Eschaton in der Welt, sondern Darstellungen der verheißenen Seligkeit206. Eine Seligkeit, die 198 199 200 201 202 203 204 205 206

GL2 §§117-120. Vgl. GL2§164.§168. GL2§114,11.21 Iff. GL2 §§157-163, II.408ff. GL2 §157, 11.408; vgl. PhE, 543[§88]. Als „Vorbild" ist dieser Zustand allerdings präsent und insofern auch ein Teil der zu beschreibenden geschichtlich-sittlichen Wirklichkeit. Vgl. LJ, 361; CS, 536. Vgl. hierzu E. Herms, Schleiermachers Eschatologie. Das behauptet Schleiermacher nur von dem Gegenstand der Lehre von dem Bestehen der Kirche in der Welt: GL2 §114.1,11.211. GL2 §114.1,11.213. PhE, 543[§89]. Vgl. auch PhE, 202: „Wiefern der Mensch im Ewigen ist, ist auch die Seligkeit in ihm, wiefern er und die Welt im Werden sind, ist sie nicht in ihm". CS, 507: „Das Handeln unter diesem Charakter also bezeichnet eben die Seite des Bewußtseins, vermöge deren noch etwas anderes darauf folgen muß; es wäre folglich selbst nur das Zeichen, daß das Selbstbewußtsein unter der Form der Seligkeit nur ein

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der Handelnde nicht aus sich heraussetzt, sondern in die er durch einen lebenslangen Prozeß als ein Handelnder hineingezogen wird. Die Eschatologie der Glaubenslehre muß zudem auch deshalb als die Ethik übersteigende Theoriebildung angesehen werden, weil die in ihr thematische Vollendung sich nicht auf die sittliche Wirklichkeit reduzieren läßt, sondern darüber hinaus den physisch-leiblichen Rahmen der Sittlichkeit betrifft207.

i) Zusammenfassung Die Anwendung des ethischen Schematismus auf die Beschreibung der ganzen Wirklichkeit des christlichen Lebens führt zu folgendem Ergebnis: Zunächst und zuerst ist festzuhalten, daß auch die Beschreibung der ganzen Wirklichkeit des christlichen Lebens genau den Anforderungen genügen muß, die einer jeden Beschreibung geschichtlich-sittlicher Phänomene gestellt sind, wenn sie Konkretheit beansprucht. Das heißt: Weil und insofern es in der Beschreibung der ganzen Wirklichkeit des christlichen Lebens um die Beschreibung eines geschichtlich-sittlichen Phänomens geht, der ethische Schematismus aber just alle konstitutiven Wesenszüge geschichtlich-sittlicher Phänomene thematisiert, deshalb werden in allen diesen vom ethischen Schematismus vorgegebenen Themen zugleich die konstitutiven Wesenszüge des christlichen Lebens zur Sprache gebracht. Es gibt also unter den zu verhandelnden Themen keine, die unter Umständen208 auch ausfallen könnten. Sollte wirklich die Situation eintreten, daß für eines der Themen des ethischen Schematismus kein Gegenstand im christlichen Leben mehr angegeben werden könnte, so hätte dieses aufgehört als ein geschichtlich-sittliches Phänomen zu existieren. Solange es aber als geschichtlich-sittliches Phänomen anzusprechen ist, ist jede

vorangehendes sei". In einer Predigt über Rom 15,1-3, spricht Schleiermacher am Neujahrstage 1833 deutlich aus, daß der Gottesdienst alles andere ist als die selbstgefällige Feier einer erreichten Vollkommenheit: „O es giebt freilich eine selige Ruhe des Gemüths, und wir wissen es, wenn wir zurücksehen auf die Vergangenheit, wie wesentlich wie nothwendig es ist, daß wir uns da aller Thätigkeit entschlagen; aber diese Ruhe ist sie ein Wohlgefallen an sich selbst? Sie ist das Bestreben eines frommen Gemüthes Gott und den Erlöser tiefer in sich einzuziehen und aufzunehmen, etwas zu werden was man noch nicht ist, aber nie ein Ruhen in sich selbst als einem Gegenstande des Wohlgefallens" (SW II.3, 442). Diese Auffassung ist im prägnanten Sinne protestantisch; vgl. PrTh, 842. 207 GL2 §114.2,11.214: Denn es „würden doch immer zu dieser Vollendung Naturveränderungen vorausgesetzt, welche außerhalb des Gebietes der königlichen Herrschaft Christi liegen und zu der göttlichen Weltregierung gehören, über deren leibliche Seite, und davon wäre doch die Rede, wir hier nichts auszusagen haben". 208 Etwa irgendwelchen besonderen kulturgeschichtlichen Bedingungen, unter denen sich das christliche Leben vollzieht („neuzeitliches Wirklichkeitsverständnis", „Säkularisierung", „Individualisierung", usw.).

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Beschreibung abstrakt, die es nicht hinsichtlich aller seiner es als geschichtlichsittliches Phänomen konstituierenden Momente erfaßt. Es ist keine konkrete Beschreibung des christlichen Lebens anders möglich als so, daß dessen Motivation, dessen Vollzugsgestalt und dessen Resultate beschrieben werden. Was nun die Motivation anbetrifft, die dem christlichen Leben zugrunde liegt, so geht Schleiermacher davon aus, daß sie passiv konstituiert ist: Die alles Handeln der Person orientierende Gesinnung ist nicht das Ergebnis einer von dieser Person selbst gewählten Option209. Die passive Konstitution der Gesinnung als einer christlichen beschreibt Schleiermacher im Blick auf deren externe Ursache in der Christologie, im Blick auf deren innerseelische Wirklichkeit in der Lehre von der Wiedergeburt und der Pneumatologie semer Glaubenslehre210. Die Gesinnung einer Person entscheidet auch über die Art und Weise, welchen Charakter das Selbst- und Weltbewußtsein der Person im Horizont ihres Gottesbewußtseins jeweils erhält. Das In-der-Welt-Sein des Christen kann den Charakter der Lust/Unlust oder der Seligkeit besitzen. Auch die Entscheidung hierüber wird nicht vom Christen selbst getroffen, sondern ist das Resultat der Affektion seiner Gesinnung durch die ihm jeweils vorgegebene Handlungssituation. Diesen Sachverhalt beschreibt Schleiermacher am ausführlichsten in der Einleitung zur Christlichen Sittenlehre21'. Der Christ ist aber nicht nur iustus, sondern immer auch noch peccator. Er unterliegt noch immer der Prätention der Welt, die Instanz der Letztorientierung zu sein. Die solcherart sündigen - weil nicht in der Orientierung am Gottesbewußtsein gewonnenen - Handlungsmotive beschreibt die Sündenlehre der Glaubenslehre bis zum Lehrstück von der Erbsünde212. Die christlichen Handlungsvollzüge beschreibt Schleiermacher dann als die sachgemäße Umsetzung der in einem Moment jeweils die Gesinnung affizierenden Einflüsse in Handeln213. Insofern die Gesinnung des Christen nichts anderes ist als die aufgenommene Gesinnung Christi, kann man das sachgemäße bzw. pflichtgemäße Handeln des Christen auch charakterisieren als Abbild bzw. Fortsetzung des Handelns Christi214. In der Glaubenslehre wird dieses Thema verhandelt in der Lehre von der Heiligung215: „In der Lebensgemein209 CS, Beil.C, 169: „So werden wir Recht haben zu sagen, daß auch den sittlichen Willensbestimmungen ein Gefühl zum Grunde liegt". Vgl. CS, 309.430[Vorl. 1826/27], 210 GL2 §§91-109. 2» 1 CS, 42-51; CS, Beil.A, §§43-63. 212 GL2 §§66-72. Das Lehrstück von der wirklichen Sünde (§§73-74) behandelt nicht mehr primär die sündige Motivation als vielmehr das sündige Handeln. Dabei ist das Verhältnis zwischen peccatum originis und peccatum actuale dieses, daß „die Erbsünde die alle wirklichen Sünden jedes Einzelnen mitbedingende und vor aller Tat hergehende Beschaffenheit des handelnden Subjektes anzeigt" (GL2 §69.Zusatz, I.368f). 213 Vgl. Mariin E. Miller, Der Übergang, 157. 214 Vgl. GL2 §127.3,11.283; CS, 34.74f. 215 GL2§§110-112.

Die ganze Wirklichkeit des christlichen Lebens

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schaft mit Christo werden die natürlichen Kräfte der Wiedergeborenen ihm zum Gebrauch angeeignet, woraus sich ein seiner Vollkommenheit und Seligkeit verwandtes Leben bildet, welches der Stand der Heiligung heißt"216. Ganz in den Mittelpunkt stellt dieses Thema dann die Christliche Sittenlehre: „Die christliche Sittenlehre ist Beschreibung der christlichen Handlungsweise, sofern sie auf den Erlöser zurükkgeht"217. Aus den drei prinzipiell möglichen Affektionszuständen der christlichen Gesinnung - Lust/Unlust, Seligkeit - folgen dabei nach Schleiermacher drei prinzipiell mögliche Handlungsformen: verbreitendes/reinigendes und darstellendes Handeln. Diesen drei in christlicher Perspektive - aber als formale Handlungsmodi auch in nichtchristlichen Kontexten auffindbaren - pflichtgemäßen Handlungsvollzügen hatten wir dann unsererseits - Schleiermacher ergänzend - die drei pflichtwidrigen - weil weltlich orientierten - Handlungsvollzüge des verführenden/versuchenden und verstellenden Handelns gegenübergestellt. Die überindividuelle Institutionalisierung dieser Handlungsvollzüge als christliches Gesamtleben in der Welt beschreibt Schleiermacher in der Ekklesiologie der Glaubenslehre218. Die Christliche Sittenlehre thematisiert diesen Aspekt in ihrer - über die gesamte Christliche Sittenlehre verstreuten - Lehre vom christlichen Erziehungs- und Bußwesen, sowie der Lehre vom Kultus. Auch hier hatten wir Schleiermacher zu ergänzen versucht, indem wir als die üblen Resultate pflichtwidrigen Handelns Verfuhrung/Versuchung und Götzendienst nannten.

4.3 Der ethische Schematismus der dogmatischen Lehre Wir können nun die Darstellung der dogmatischen Lehre von der ganzen Wirklichkeit des christlichen Lebens am philosophisch-ethischen Raster orientiert anschaulich machen:

Protoethischer Teil: Schöpfungs- und Urstandslehre als christliche Ausdeutung der Bedingungen der Möglichkeit menschlich-sittlichen Lebens. Erwählungslehre und Christologie als christliche Ausdeutung der Bedingungen der Möglichkeit christlichsittlichen Lebens in der Welt.

216 GL2 §110. Vgl. GL2 §112.5, 11.205: Dort wird als Ziel der Heiligung angegeben: „ein in seinem ganzen Zusammenhang die Kraft und Reinheit der Gesinnung darstellender Wandel". 217 CS, 34. Vgl. Mariin E. Miller, Der Übergang, 158. 218 GL2 §§113-163.

Philosophische Theologie des Gottesdienstes

Ethischer Teil: Unter dem Einfluß der Gnade

Unter dem Einfluß der Sünde

Die christlichen Tugenden in der Welt: Lust (an der Gnade) / Unlust (an der Sünde)

Die weltlichen Laster: - Lust (an der Sünde) / Unlust (an der Gnade) - (Un)Seligkeit (stetes Orientiertsein durch die Sünde)219

(CS) Seligkeit (stetes Orientiertsein durch die Gnade) Motiv 2

(GL )

(CS)

Lehre von der Wiedergeburt220 / Pneumatologie 2 (GL §§ 107-109; §§121-125) Das christliche Handeln in der Welt: verbreitendes / reinigendes Handeln darstellendes Handeln

Sündenlehre (GL2 §§ 66-72)

Das weltliche Handeln: verführendes / versuchendes Handeln verstellendes Handeln

Vollzug

(GL2)

(CS)

Lehre von der Heiligung (GL2§§ 110-112) Die Welt als Ort der Erlösung durch: - Erziehungs- / Bußwesen - Kultuswesen

Lehre von der wirklichen Sünde (GL2 §§ 73-74) Die Welt als Ort des Übels durch: - Verführung / Versuchung - Götzendienst

Resultat im Gesamtlebe Ekklesiologie der Welt Vom Bestehen der Kirche in der Welt (GL2) (GL2§§ 126-156)

Übellehre (GL2 §§ 75-78)

Postethischer Teil: Eschatologie als christliche Ausdeutung der Zielbestimmtheit der Wirklichkeit des christlichen Handelns als ein dem Handeln immanentes Transzendiert-werden hin auf die Ewigkeit seines Ursprunges. 219 Wie entfaltet wird die Stetigkeit der Orientierung durch die Sünde vom Sünder als Seligkeit erlebt - nur aus der Perspektive der Gnade wird dieser Zustand als faktische Unseligkeit entdeckt. 220 GL2 §100. l, 11.91, nennt dies das „Lehrstück von der Begnadigung".

Apologetik

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Es ist nun im Blick auf unsere Themenstellung wichtig, sich dessen bewußt zu sein, daß wir an diesem Punkt vorerst nur den Begriff des Kultus aufgestellt finden. Dieser Begriff darf nicht mit den geschichtlich aufweisbaren Kulten verwechselt werden. So wie der ethische Begriff einer frommen Gemeinschaft keine einzige geschichtlich vorfindliche individuelle fromme Gemeinschaft hinsichtlich ihrer Individualität beschreibt, sondern den Möglichkeitsrahmen frommer Gemeinschaft expliziert, so gibt auch der hier als Kultus auf den Begriff gebrachte Sachverhalt nicht die Beschreibung individueller geschichtlich vorfindlicher Kulte, sondern den Möglichkeitsrahmen von Kultus - als ethischen Begriff - bzw. den Möglichkeitsrahmen des christlichen Kultus - als apologetisch-dogmatischen Begriff. Dies müssen wir im folgenden Abschnitt näher erläutern.

5. Apologetik 5. l Die innere Organisation der Apologetik nach der „Kurzen Darstellung" Die Apologetik ist eine Disziplin, die unter der Voraussetzung des religiösweltanschaulichen Pluralismus gefordert ist und der Verständigung des christlichen Glaubens mit anderen Weltanschauungssystemen dient221, nicht zuletzt einer Verständigung mit dem Weltanschauungssystem des weltanschaulichen Neutralismus222. Die grundlegenden Kategorien zu dieser Verständigung werden auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Apologetik gewonnen durch die Aufstellung der einander wechselseitig fordernden Begriffe des Natürlichen und des Positiven221. Diese Wechselbegriffe liegen den apologetischen Entfaltungen aller wesentlichen Elemente der christlich-frommen Gemeinschaft zugrunde, wobei die Art ihrer Anwendung genau dem von uns bereits früher genannten Schema der apologetischen Argumentation224 gemäß ist: Aus der Natur des menschlichen Geistes wird ein jedes Element der christlich-frommen Gemeinschaft hinsichtlich seiner Universalität als etwas Natürliches entwickelt, das aber stets nur in geschichtlicher Individualität gegeben ist: „daß es überall ein Bestimmtes ist, ist das Positive"225. 221 ThES, 42.52. Vgl. C. Clemen, Schleiermachers Vorlesung über theologische Enzyklopädie, 233f. 222 Der Vollzug solch apologetischer Verständigung mit Nichtchristen ist nicht auf den Wissenschaftsbetrieb der Theologie beschränkt, sondern tritt potentiell in allen Lebenssphären auf, in denen sich Christen bewegen. Schleiermacher selbst hat mit seinen „Reden" ein Beispiel solcher Apologetik auf der Ebene der literarischen Verständigung mit der geistigen Elite seiner Zeit gegeben. 223 KD2 §43; ThES, 48ff. 224 Vgl. oben: §3.2. 225 ThES, 50.

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Die weitere Entwicklung der Organisation der Apologetik vollzieht Schleiermacher dann so, daß er die Individualität des Christentums im Blick auf seine geschichtliche Erscheinungsweise und deren wesentlichen Momente untersucht226. Diese Untersuchung fuhrt zur Entfaltung folgender Begriffe: Die Individualität einer frommen Gemeinschaft als einer geschichtlich-sittlichen Erscheinung ist nach Schleiermacher gestiftet in einem bestimmten historischen Kontext: „Offenbarung", „Wunder", „Eingebung" thematisieren den Aspekt der Stiftung227, „Weissagung" und „Vorbild" die Anknüpfung an den geschichtlichen Zusammenhang228. Die Identität einer frommen Gemeinschaft als einer geschichtlich-sittlichen Erscheinung ist nach Schleiermacher abhängig von dem steten Bezug auf die Stiftungssituation in allen Lebensvollzügen des kirchlichen Lebens, d.h. sowohl im Vorstellungsleben der Christen als auch in ihrer sittlichen Praxis: „Kanon" und „Sakrament" - allgemeine Apologetik -229 bzw. „Konfession" und „Ritus" - spezielle Apologetik des Protestantismus -230 nehmen hierauf Bezug. Zum Verständnis einer jeden frommen Gemeinschaft gehört schließlich auch die Bestimmung ihres Außenverhältnisses zu den anderen ethisch notwendigen Gemeinschaften231 sowie die Bestimmung der spezifischen Ausgestaltung des Verhältnisses der einzelnen Frommen untereinander232: Die Begriffe „Hierarchie" und „Kirchengewalt" stehen für diese Themen233. Wie verhält sich diese - an den Wesenszügen der christhch-frommen Gemeinschaft als einer geschichtlich-sittlichen Erscheinung abgelesene - Gestal226 KD2 §§45-49; ThES, 51-60. 227 KD 2 §45;ThES,51f. 228 KD2 §46; ThES, 52ff. Es lassen sich gute Gründe dafür angeben, daß Karl Barths Vorbehalte gegenüber Schleiermacher weniger in einer prinzipiellen Differenz des Grundanliegens zu suchen sind als vielmehr in dem Sachverhalt, daß Schleiermacher den „Offenbarungspositivismus" in seiner geschichtlichen Konkretion emst nehmen wollte. Dies hat Barth vielleicht gefühlt - was seine gelegentlichen ehrenden Seitenblicke auf Schleiermacher andeuten mögen -, ganz gewiß aber nicht begriffen. 229 KD2 §47; ThES, 54f. Vgl. auch PhE, 198f. 230 KD2 §50; ThES, 57ff. Zur Konfessionsthematik siehe: M. Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften; Wolfgang Sommer, Die Stellung Semlers und Schleiermachers zu den reformatorischen Bekenntnisschriften. 231 Die Theorie der ethisch notwendigen Gemeinschaften entfaltet Schleiermacher in der Güterlehre seiner Philosophischen Ethik; vgl. etwa: PhE, 320ff. Diese wird programmatisch aufgenommen mit Blick auf die Außenverhältnisse der christlichen Frömmigkeit in Schleiermachers Vorlesungen zur Praktischen Theologie: PrTh, 491-520.662703. 232 Vgl. PrTh, 569-662. 233 KD2 §48; ThES, 55ff. Die materiale Behandlung beider Themen bestimmt weite Teile von Schleiermachers Christlicher Sittenlehre. In der Tradition Schleiermachers stehend hat - vor allem in Anlehnung an Schleiermachers Güterlehre - Eilert Herms diese Fragestellungen behandelt. Vergleiche hierzu dessen beide Aufsatzbände „Erfahrbare Kirche" und „Gesellschaft gestalten".

Apologetik

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tung der Apologetik zu dem von uns rekonstruierten ethischen Schematismus der dogmatischen Lehre von der ganzen Wirklichkeit des christlichen Lebens? Eindeutig ist die Anlehnung der unter den Begriffen Hierarchie und Kirchengewalt zu verhandelnden Fragestellung an die Problematik der Güterlehre: die Einordnung der christlich-frommen Gemeinschaft in das Gefüge der „ändern ethisch nothwendigen Gemeinschaften"234. Ebenso eindeutig ist die Nähe der Offenbarungsthematik und der ihr zugeordneten Aspekte zu der Frage der Tugendlehre nach den Kräften, die einer Handlung zugrunde hegen, und wie die geschichtliche Konstitution dieser Kräfte gedacht werden muß. Nicht so eindeutig verhält es sich mit den Ausdrücken Kanon/Sakrament bzw. Konfession/Ritus, die einer umstandslosen Zuordnung zur noch offenen Pflichtenlehre widerstreben. Schauen wir uns daher dieses Problemfeld genauer an. Der Zusammenhang, in welchem Schleiermacher diese Begriffe einfuhrt, ist die Frage, ob und inwiefern im geschichtlichen Verlauf das christliche Leben eine einheitliche Prägung besitzt. Da das vernünftige Leben von Schleiermacher aufgefaßt wird als Duplizität von Symbolisieren und Organisieren - Vorstellen und Handeln im engeren Sinne -, muß auch die einheitliche Prägung des vernünftigen christlichen Lebens sich jener Zweiteilung gemäß differenzieren: „Zwischen Kanon und Sacrament ist der Unterschied, daß das Sacrament die Identität der Gemeinschaft, der Kanon die der Auffassungsweise des Glaubens darthun soll"235. Wie wir bereits wissen, hegt das Wesen einer Gemeinschaft nicht zuletzt in der Gemeinschaftlichkeit ihres Handelns236, sodaß auch die unter dem Titel Sakrament verhandelte Fragestellung nach der Identität der Gemeinschaft hier aufgefaßt werden muß als die Frage nach der das kirchliche Leben prägenden gemeinsamen kirchlichen Sitte, nicht aber als pointierte Lehre von Taufe und Abendmahl237. Ebenso verhält es sich mit dem Ritus als Begriff der speziellen Apologetik. Auch in diesem Fall ist die Thematik das Eigentümliche der ganzen protestantischen Sitte, nicht nur ihr Kultus im enge-

234 ThES, 55. 235 ThES, 54; vgl. KD2 §47: Kanon und Sakrament „beziehen sich ihrem Begriff nach auf die Stetigkeit des Wesentlichen im Christentume, der erste, wie sie sich in der Produktion der Vorstellung, der andere, wie sie sich in der Überlieferung der Gemeinschaft ausspricht". Vgl. PhE, 198. 236 Vgl. GL2 §2.2; vgl. oben: §3.1. 237 Diese Möglichkeit scheidet schon allein deswegen aus, weil es hier - in der Apologetik - gar nicht um so spezifisch christliche Lehren gehen kann; ThES, 54f; KD2 §47. Die Aufnahme des Sakramentsbegriffes im „Brouillon zur Ethik" erfolgt ebenfalls in ganz allgemeiner Weise: PhE, 198: „Man sieht, wie wenig Mysterien [von Schleiermacher kurz zuvor als antikes Synonym für Sakrament definiert; R.S.] bestimmt sind esoterisch zu bleiben. Sie müssen durchschaut sein von allen einer Kirche organisch Angehörigen. Sie müssen ohne Rückhalt dargeboten werden den ändern Kirchen; denn von ihrer Anschauung hängt ja die Gemeinschaft der Kirche ab". Zu Schleiermachers Sakramentsverständnis siehe auch: GL2 §143.

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ren Sinne238. Der Ritus fungiert hier ebenfalls als besonders markanter Ausdruck für die Veränderungen der protestantischen Sitte gegenüber der katholischen239. Die Bewertung dessen, was rite ist und was nicht, und wie eine als rite zu bezeichnende Sittlichkeit konstituiert ist, steht hier im Mittelpunkt: Das pflichtgemäße christliche Leben240. Die Wahrscheinlichkeit dieser Interpretation wird erhöht durch Schleiermachers Aussagen über die grundsätzliche Zweiteilung einer Beschreibung der christlich-frommen Gemeinschaft in den Paragraphen §§166ff der „Kurzen Darstellung". Auch dort kommt der christliche Ritus als Teil der christlichen Sitte in den Blick. Schleiermacher strukturiert zunächst die Vielfalt der christlichen Lebensphänomene im Rekurs auf die im christlichen Prinzip selbst vorfindliche Differenzierung, nämlich „seine verschiedenen Functionen"241. Das christliche Prinzip affiziert gleichermaßen die Vorstellungs- wie die Handlungsweise der Frommen242. Das heißt: „Die Bildung der Lehre, oder das sich zur Klarheit bringende fromme Selbstbewußtsein, und die Gestaltung des gemeinsamen Lebens, oder der sich in jedem durch alle und in allen durch jeden befriedigende Gemeinschaftstrieb sind die beiden sich am leichtesten sondernden Funktionen in der Entwicklung des Christentums"243. 238 Vgl. PrTh, 788: „Die Kirche ist also ohne eigentlichen Zwekk das gemeinsame religiöse Leben, lebendiges Verhältniß des Einzelnen und Ganzen in Einströmung und Ausströmung(...)Also ist auch der Cultus Hauptsache und das andere nur Nebensache, Vorbereitung oder Ausbesserung für jenes gemeinsame Leben(...)Cultus [ist] gemeinsames religiöses Leben". 239 Dies erhellt aus folgender Beobachtung. Der Ausdruck Ritus wird von Schleiermacher in der speziellen Apologetik des Protestantismus mit folgender Begründung an die Stelle des terminus technicus Sakrament gerückt. „Die Anfänge der Reformation waren in vielen Stücken eine Änderung des Gebräuchlichen" (ThES, 59). Diese Änderungen des Gebräuchlichen waren zwar bekanntermaßen auch Änderungen im kultischen Betrieb, aber doch nicht nur und nicht zuerst. Vielmehr war zentral die im Rechtfertigungsglauben erschlossene neue Sittlichkeit - Tugend -, die alle Bereiche des profanen wie kirchlichen Lebens ergriff. Diese zeigte sich dann natürlich auch in einer diesem Rechtfertigungsglauben gemäßen Umorientierung des Kultus, aber eben auch in einer gewandelten Beichtpraxis, einer Neubewertung des klösterlichen Lebens, des Zölibats und einer Vielzahl anderer Gebräuche des kirchlichen Lebens. Vgl. PrTh, 606: „Alle Corruptionen der Kirche welche die Reformation aufheben wollte hatten im Cultus ihre Repräsentation gefunden, und sollten sie ausgeschieden werden, mußte auch der Cultus geändert werden". 240 Vgl. CS, Beil.A, §107. 241 ThES, 153. 242 Vgl. CS, 114ff. Dort werden die vorausgesetzten Einsichten als aus der Psychologie entlehnt gekennzeichnet: Der göttliche Geist manifestiert seinen Einfluß auf den Menschen zunächst in seinem Einfluß auf Verstand und Willen. 243 KD2 §166. Vgl. ThES, 157: „Am wesentlichsten trennten sich die Bildung der Lehre in der christlichen Kirche und die Gestaltung des gemeinsamen Lebens in derselben. Der Zusammenhang liegt in dem schon von vorn herein gesagten über die Natur des christlichen Princips, daß sich nämlich die christliche Frömmigkeit überwiegend in Gedanken ausspricht, aber zugleich ein Gemeinschaft bildendes ist. Durch diese individuelle

Apologetik

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Die geschichtliche Identität dieses sich zur Klarheit bringenden frommen Selbstbewußtseins ist die Identität der lehrmäßigen Ausrichtung an der gültigen Konfession, deren Gültigkeit ihrerseits abhängig ist von der Sachgemäßheit ihrer Auslegung des Kanons244. Die kirchliche Lehre erhält ihre identitätsstiftende Wirkung durch ihren steten Rekurs auf die in Konfession und Kanon bewahrten Deutungen und Zeugnisse des christlichen Prinzips in seiner Reinheit im Lebenszeugnis Jesu, und sie unterscheidet sich von anderen Funktionen der Kirche dadurch, daß sie dabei wissenschaftlich verfahrt245. Die geschichtliche Identität der Gestaltung des gemeinsamen Lebens ist weniger leicht zu bestimmen. Hier macht sich die Mannigfaltigkeit der Lebensumstände bemerkbar, denn die politischen Verhältnisse und der gesamte gesellige Zustand fließen in die jeweiligen Gemeinschaftsformen der Christen individualisierend ein, zumal das christliche Leben sich nicht auf das Gebiet der sichtbaren Kirche beschränken läßt. Eindeutig identifizieren läßt sich die Stetigkeit der christlichen Frömmigkeit hier am ehesten noch in „der öffentlichen Mitteilungsweise religiöser Lebensmomente"246, d.h. dem Kultus247. Dagegen umfaßt die Sitte248 das ganze Leben. Wenn auch das christliche Prinzip hier ebenfalls in eigentümlicher Weise Einfluß genommen hat, so läßt sich dieser Einfluß doch ungleich schwerer nachweisen als auf dem speziellen Gebiet des Kultus. Daher dient der protestantische Kultus als hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis der Identität der protestantischen Sittlichkeit im Alltag: Der Kultus soll nämlich zum Ausdruck bringen, was auch dem Alltagsleben Orientierung verschafft249. Auch der christliche Kultus erhält seine identitätsstiftende Wirkung durch seinen steten Rekurs auf die religiösen Lebensmomente christlicher Art, die in

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Natur des christlichen Princips ist die Eintheilung gegeben, wie sie seit ausführlicherer Bearbeitung der KirchenGeschichte allgemein gilt". ,JDabey kommt es aber nicht darauf an, was in der Confession enthalten ist, als ob sie überall und immer dasselbe ist, sondern nur auf die Tendenz zur Einheit kommt es an" (ThES, 59). Vgl. auch ThES, 185; PrTh, 625ff. (besonders 634f.640.641). Vgl. C. Clemen, Schleiermachers Vorlesung über theologische Enzyklopädie, 245. KD2§167;ThES, 157f. KD2§168. „Der Cultus nämlich ist die Art, das religiöse Bewußtseyn in Circulation zu sezen" (ThES, 159). „Sitte ist eine in einer Gesellschaft geltende Art und Weise, etwas zu verrichten, es sey was es sey" (ThES, 159). Vgl. auch: CS, Beil.B, 142 [§35]; PhE, 536[§60].367[§240]. Im Zusatz des Paragraphen §269 der „Kurzen Darstellung" erläutert Schleiermacher die in Anordnung von Kultus und Sitte unterschiedenen Aspekte der leitenden Gestaltung der kirchlichen Gemeinschaft wie folgt: „Beides unterscheidet sich zwar sehr bestimmt in der Erscheinung, ist aber der Formel nach allerdings nur ein unvollkommner Gegensatz. Denn der Kultus selbst besteht nur als geordnete Sitte; und da es den Anordnungen an aller äußeren Sanktion fehlt, so beruht ihre Giltigkeit auch nur auf der Wirksamkeit vermittelst der Vorstellung". - „Der Kultus verhält sich zu der Sitte, wie das beschränktere Gebiet der Kunst im engeren Sinne zu dem unbestimmteren des geselligen Lebens überhaupt" (KD2 §168.Zusatz). Vgl. KG, 12.

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ihm zur Mitteilung gelangen, und er unterscheidet sich von anderen Funktionen der Kirche dadurch, daß er dabei künstlerisch verfahrt250. Die christliche Sitte erhält ihre identitätsstiftende Wirkung ebenfalls durch ihren steten Rekurs auf den Einfluß des christlichen Prinzips auf alle verschiedenen Gebiete des Handelns und sie unterscheidet sich von anderen Funktionen der Kirche dadurch, daß sie dabei technisch verfahrt25'. Kanon und Sakrament bzw. Konfession und Ritus kennzeichnen das Identische der christlich-frommen Lebensvollzüge im geschichtlichen Wandel, weil in ihnen exemplarisch das Bezogensein aller christlich-frommen Lebensvollzüge - sowohl der verstandesmäßigen als auch der willensmäßigen - auf den geschichtlichen Ursprung der sie tragenden Gewißheit anschaulich wird. Besonders deutlich kommt dies in den Ausdrücken Konfession und Ritus zum Ausdruck: Alle Verstandestätigkeit der Christen strebt danach, Konfession der ihr gewissen Verfassung der Wirklichkeit als geschöpflicher Wirklichkeit mit einem bestimmten Schöpfungsziel zu sein, und dieser Einsicht wollen die Christen in ihrem Handeln rite entsprechen. Indem Kanon und Sakrament bzw. Konfession und Ritus die geschichtliche Identität des Christentums zum einen anschaulich werden lassen, zum anderen aber als diese anschaulichen Orientierungspunkte und Kraftquellen eben diese christliche Lebensweise immer wieder neu zu einem dem Geist des Kanon sowie der Konfession gemäßen sakramental gemeinschaftlichen Handeln motivieren, entsprechen sie genau dem Begriff ethischer Güter. Das heißt, daß sie dem pflichtgemäßen christlichen Handeln die notwendige Orientierung verschaffen. Eine Orientierungsleistung erbringen aber auch die kirchliche Hierarchie und die Kirchengewalt: Der Vollzug des kirchlichen Handelns ist als pflichtgemäßer Vollzug nur möglich in geordneter Weise, d.h. nur reformatorisch, nie aber revolutionär252. Die apologetischen Themen verteilen sich daher wie folgt auf den ethischen Schematismus: 250 KD2 §§168f; ThES, 159.160. „In dem Maaß als eine Religionseinheit sich als Kirche ausbildet, bildet sie sich auch ein Kunstsystem an" (PhE, 360). 251 Im Gegensatz zu den Ausdrücken „wissenschaftlich" und „künstlerisch", die Schleiermachers eigene Charakterisierung der Handlungsweisen in Lehre und Kultus wiedergeben, ist der Ausdruck „technisch" hier nicht unmittelbar dem Text zu entnehmen. Er scheint zunächst auch nicht ganz angemessen, wenn man davon ausgeht, daß der zu charakterisierende Gegenstand die Sphäre „des geselligen Lebens", d.h. der zwanglosen Freizeitbetätigung, sei. Dieses genau aber erscheint mir fraglich. Schleiermacher denkt hier doch wohl an alle möglichen Handlungsfelder jenseits des Kultus und die Sphäre des geselligen Lebens ist schlicht und ergreifend die Gesellschaft - die Sphäre der geschäftlichen Betätigung mit eingeschlossen. Und das charakteristische Merkmal des Handelns auf diesem Gebiet ist das Handeln nach den Maximen der Zweck-MittelRationalität: der Techne. 252 Die gleichmäßige Verteilung dieser Themen auf die Problematik des pflichtgemäßen Handelns des einzelnen Kirchengliedes wie der Frage nach der sachgemäßen Gestalt der kirchlichen Institution wird offenkundig, wenn man sich vor Augen stellt, daß diese Themen sowohl die Christliche Sittenlehre als auch die Ekklesiologie der Glaubenslehre dominieren.

Apologetik

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Ethischer Schematismus

Themen der Apologetik

Motiviert durch

Offenbarung, Wunder, Eingebung (KD2 §45) Weissagung, Vorbild (KD2 §46)

Vollzug pflichtgemäß orientiert an

Kanon, Sakrament (KD2 §47) Konfession, Ritus (KD2 §50) Hierarchie, Kirchengewalt (KD2 §48)

Resultat im frommen Gesamtleben

Kanon, Sakrament (KD2 §47) Konfession, Ritus (KD2 §50) Hierarchie, Kirchengewalt (KD2 §48)

5.2 Apologetische Theologie des Gottesdienstes im Horizont von Ästhetik und Religionsphilosophie Ausführliche Bestimmungen der apologetischen Grundbegriffe finden sich naturgemäß in der „Kurzen Darstellung" nicht. Daß der Ausdruck Ritus erst im Zusammenhang der speziellen Apologetik des Protestantismus hervortritt, könnte so ausgelegt werden, als würde das Phänomen Kultus letztlich doch bloß als ein geschichtlich kontingentes Faktum verstanden, das sich bei der einen frommen Gemeinschaft findet und bei anderen eben nicht. Dies liefe aber dem von Schleiermacher behaupteten Explikationskontext aller wesentlichen Elemente einer frommen Gemeinschaft im Horizont der Wechselbegriffe des Natürlichen und des Positiven strikt zuwider. Wenn der Ritus des Protestantismus zu den Wesensmerkmalen von dessen geschichtlicher Gestalt gehört, so kann dies nur dann der Fall sein, wenn dieses Positive die Realisationsgestalt eines Natürlichen darstellt. In der von uns gegebenen Interpretation wird der protestantische Ritus von Schleiermacher verstanden als die markanteste Präsentation des spezifisch protestantischen kirchlichen Lebens in der gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit253. Es ist dies der herausragende Ort für die öffentliche Mitteilung der den Lebensstil des christlichen Protestantismus prägenden religiösen Gewißheit254. Die öffentliche Mitteilung religiöser Überzeu255 Vgl. auch folgende Notiz aus PrTh, 839: „Der Gottesdienst gehört in's öffentliche Leben, ist öffentliche Beschäftigung mit den göttlichen Dingen. - (Verschiedene Relation des häuslichen und öffentlichen Lebens in verschiedenen Zeiten und Völkern)". 254 KD2 §168. Bereits an dieser Stelle deutet sich die Funktion des protestantischen Ritus für die gesamtgesellschaftliche Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit des Protestantismus an.

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gungen gehört nun aber zu den notwendigen Bedingungen einer jeden frommen Gemeinschaft255. Dieser Sachverhalt wird von Schleiermacher dann auch in der Güterlehre seiner Philosophischen Ethik - dort wird die Kirche als eine der notwendigen ethischen Formen geltend gemacht - unter dem Stichwort Kultus abgehandelt. Der der Frömmigkeit als subjektivem Erkennen sachgemäße Mitteilungsmodus ist dabei - wie wir bereits sahen - der der Kunst256. Aus alledem folgt: „Die höchste Tendenz der Kirche ist die Bildung eines Kunstschazes, an welchem sich das Gefühl eines jeden bildet, und in welchem jeder seine ausgezeichneten Gefühle niederlegt und die freien Darstellungen seiner Gefühlsweise, so wie sich auch jeder, dessen darstellende Production mit seinem Gefühl nicht Schritt hält, Darstellungen aneignen kann"257. Der Kunstschatz, der von der Kirche gebildet werden soll, kann als Darstellung des religiösen Gefühls nur Vollständigkeit gewinnen, wenn „beide Kunstformen da sind, die, welche bleibende, und die, welche vergehende Werke erzeugen"258. Die Aufgabe derjenigen Kunstform, welche „vergehende Werke" erzeugt, erfüllt im kirchlichen Kontext der Kultus259. Kultus ist der Inbegriff für all jene künstlerischen Präsentationen von Frömmigkeit, die nichts anderes als vergängliche Formen religiöser Selbstdarstellung sein können, da sie sich als das notwendig zeitlich begrenzte Zusammentreten Einzelner, „um das gemeinsame Leben auszusprechen und zu nähren"260, vollziehen. Mit diesen Überlegungen tritt eine Reflexionsebene neben die der Apologetik vorgeordnete Religionsphilosophie, die bisher noch nicht explizit im Blick war: die Ästhetik261. Bis hierher konnte man den Eindruck gewinnen, als sei

255 Es ist das Wesen einer jeden frommen Gemeinschaft, öffentliches Forum für die Kommunikation einer bestimmten Tradition religiöser Überzeugungen zu sein. 256 PhE, 362; KJD2 §§168f; ThES, 159.160., u.ö.. „Der Gehalt des religiösen Lebens ist nun abzunehmen aus der Reaction des Gefühls, wo das innere mit hervortretender Activität dem ganzen entgegentritt. Die Aeußerung des Gefühls ist Kunst im höchsten Sinn. Nur theilt sie sich in die eigentliche Kunst, die mehr auf der physischen, und in die sociale, die mehr auf der ethischen Seite liegt. Also christliche Kunstgeschichte oder Geschichte des Cultus und christliche Sittengeschichte" (KG, 628). 257 PhE, 362[§213]; vgl. CS, 561. In der Terminologie der Akademieabhandlungen wird die Kirche in dieser künstlerischen Tätigkeit als das „Himmelreich" charakterisiert: „Denn das Himmelreich ist nur als Eine alle einzelnen gleichsam in einander auflösende Gemeinschaft des tiefsten Selbstbewußtseins mittelst geistiger Selbstdarstellung in ernsten Kunstwerken gesezt" (SW III.2, 494). Vgl. zum Ausdruck „Himmelreich" auch noch SW III.2, 466. - Vgl. Mariin E. Miller, Der Übergang, 70ff.75ff.78ff. 82ff.228ff. 258 PhE, 362[§214].

259 PhE, 362[§215]. Vgl. W. Steck, Der evangelische Geistliche, 759f. 260 PhE, 362 [§215].

261 Die Ästhetik ist aber mit größter Deutlichkeit in den philosophisch-theologischen Grundlagendiskussionen der „Christlichen Sitte" und der „Praktischen Theologie" vor-

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der einzige Anknüpfungspunkt der Apologetik - bzw. der Philosophischen Theologie überhaupt - an Ethik und Psychologie die Religionsphilosophie. Ethik/Psychologie entfalten die Wesensmerkmale endlich-vernünftiger Personalität bis zu dem Punkte, an welchem der Aspekt Frömmigkeit in seinem notwendigen Zusammenhang mit der Existenz frommer Gemeinschaften aufgewiesen ist. Die Religionsphilosophie übernimmt an dieser Stelle die kritische Aufgabe, „die individuelle Differenz der einzelnen Kirche in comparativer Anschauung zu fixiren"262. Sie steckt den Möglichkeitsrahmen ab, innerhalb dessen Frömmigkeit als Lebensform stattfinden kann, und subsumiert die geschichtlich gegebenen frommen Gemeinschaften diesem Raster263. Die Apologetik bezieht sich nun so nachdrücklich auf die Religionsphilosophie, daß sie dieser sogar ihre zentralen Kategorien verdankt264. Und so wird auch der Begriff Ritus bzw. Kultus apologetisch gewonnen im Rekurs auf religionsphilosophische Reflexionen auf die Bedingungen der geschichtlichen Identität einer frommen Gemeinschaft265 im geschichtlichen Wandel. Es liegt dabei auch noch im Bereich der religionsphilosophisch zu artikulierenden Einsichten, daß die Kirche als eine Institution begriffen wird, deren wesentliche Funktion die Bildung des Gefühls ist und daß sie dieser ihrer Bildungsaufgabe unter den spezifischen Voraussetzungen des Gefühls und seiner Bildungsfahigkeit nur so sachgemäß gerecht werden kann, daß sie die Produktion eines „Kunstschazes" institutionalisiert, an dem sich das Gefühl zu bilden vermag266. Die Kirche zu verstehen als Bildungsinstitution des Gefühls267 ist nichts anderes als die

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ausgesetzt. Vgl. CS, 545. Vgl. W. Steck, a.a.O., 746ff. (Subjektivität und Methode - die Kunst der religiösen Berufspraxis). PhE, 365[§231]; vgl. GL2 §2.2. ThES, 50. ThES, 50ff. Dadurch sind die Reflexionen als religionsphilosophische und nicht allgemein ethische qualifiziert. PhE, 362[§213], Kunst ist „Bildung der Persönlichkeit durch und für die Vernunft" (PhE, 205). In der „Christlichen Sitte" verwendet Schleiermacher einen nicht geringen Raum zur Entfaltung der Kirche als „Schule" (CS, Beil.A, 73f; CS, Beil.B, 142 [§35]; CS, 337[Vorl.l826/27].388[Vorl. 1824/25]. 389ff.438[Vorl.l826/27].470[Vorl. 1824/25]). Deren gesinnungsbildende Aufgabe wird als Einfluß auf den Verstand wahrgenommen in der Sphäre der Sprache (CS, 393.470) durch „Belehrung" (CS, 395) in den Institutionen der Predigt (CS, 395f), der Katechese (CS, 400), der Theologie (CS, 400f.) und weiterer Einrichtungen des kirchlichen Bildungswesens - wobei niemals der Verstand als solcher Adressat ist, sondern über diesen die Gesinnung der Person, ihr Herz, erreicht werden soll -, der Einfluß auf den Willen erfolgt in der Sphäre der Sitte (CS, 390.438f.456.463f.484) durch „gutes Beispiel" (CS, 391; CS, Beil.A, §85) und Willensleitung (CS, 439) im Kontext der religiösen Geselligkeit im kirchlichen Leben (CS, 397f.439) „Was zulezt die Verbreitung der christlichen Gesinnung als Empfindungsweise betrifft: so führt diese am bestimmtesten auf das Gebiet des darstellenden Handelns zurükk, auf die organische Belebung des Gefühls durch die Darstellung in den christlichen Versammlungen und auf die freie durch die Darstellung im geselligen Leben" (CS, 439[Vorl. 1826/27]). Wenn Schleiermacher etwa in der „Praktischen Theo-

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Treue zur alten kirchlichen Aufgabe der cura animarum und deren subjektivitätstheoretische Apologie, wie zugleich die Polemik einer schulmeisterlichen Kirche, von deren Bildungsinteresse oft nur soviel gesagt werden kann, daß es zumindest nicht dem menschlichen Herzen gilt. Genau diese religionsphilosophisch einsehbare und formulierbare Aufgabe der Kirche nötigt nun aber zur Ergänzung der Religionsphilosophie durch die Ästhetik. Dies wird am anschaulichsten in der Güterlehre der Ethik 1812/13, wo Schleiermacher auf den Paragraphen, der die Aufgabe der Religionsphilosophie als kritischer Disziplin notiert268, den Paragraphen §232 folgen läßt: „Es ist Sache der kritischen Disziplin, welche wir jezt Aesthetik nennen, den Cyclus der Künste zu deduciren und das Wesen der verschiedenen Kunstformen darzustellen"269. So wie die Religionsphilosophie den Möglichkeitsrahmen von Frömmigkeit entfaltet, so bestimmt die Ästhetik den Möglichkeitsrahmen - gegeben in ihrem Bezug auf Ethik und Psychologie - der Künste und deren Verweisungszusammenhang270. Wie die Religionsphilosophie ist die Ästhetik dabei der Ethik und der Psychologie nachgeordnet271, weshalb sie auch prinzipiell niemals Ethik und Psychologie als kategorialen Rahmen der Theologie ersetzen kann272. Die ästhetischen Kategorien sind vielmehr ihrerseits notwendig ethisch und psychologisch fundiert273. Sie ziehen jedoch deren Implikationen auf einen be-

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Ipgie" (PiTh, 735) auf das Bestimmteste die Idee der Kirche als einer Lehr- oder Übungsanstalt verwirft, so betrifft dies doch nur den Gedanken einer Lehr- oder Übungsanstalt, die etwas anderes als das menschliche Herz belehren und üben will. Hinsichtlich des Zweckes des Gottesdienstes formuliert Schleiermacher: „Streit zwischen Belehrung und Erbauung. Wo Belehrung allein möglich ist, ist noch kein Cultus, dagegen Erbauung auch, wo Belehrung nicht annehmbar ist. Also die Belehrung nur um der Erbauung willen" (PrTh, 824. Vgl. a.a.O., 828). Im Blick auf die Bildung des Herzens wird aber genau dessen Bildung im Sinne der gemeinschaftlichen Erhaltung und Fortbildung - „Erbauung" in der Sprache des letzten Zitates (vgl. PrTh, 616-620) des religiösen Prinzips als unhintergehbare Aufgabe der Seelsorge und alles übrigen genannt (PrTh, 735). Vgl. Johannes Bauer, Schleiermacher als patriotischer Prediger, 250ff; Rainer Volp, Liturgik, Bd.2, 809ff. - Zu Schleiermachers Bildungsverständnis siehe: Gerhard Ebeling, Frömmigkeit und Bildung; Matthias Riemer, Bildung und Christentum; Ursula Frost, Einigung des geistigen Lebens; Dietrich Korsch, Bildung und Glaube, 203-209. PhE, 365[§231]. PhE, 366. Zu Schleiermachers Ästhetik siehe. Thomas Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers. Vgl. auch die Überlegungen bei Mariin E. Miller, Der Übergang, 72ff. Vgl. auch ÄLe, 154. ÄLe, 5f.8.40.42.46.52.154f. 178. Vgl. in diesem Sinne auch folgende Bemerkung Schleiermachers aus der Einleitung zur „Praktischen Theologie": „Gleich vorn herein Berufung auf die theologische Moral und die dort fixirte Idee des Cultus. Wie jede Kunst ihr Princip in der Ethik haben muß" (PrTh, 733). Als kritische Disziplin setzt sie immer schon einen kategorialen Rahmen voraus, der von ihr dann „kritisch" auf die Empirie bezogen wird. Dies wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, daß Schleiermacher seine Ästhetik dezidiert als Produktionsästhetik entwickelt hat (Vgl. ÄOd, 4f). Als Theorie des

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stimmten Handlungsbereich menschlicher Existenz aus, der auch für die theologische Theoriebildung von entscheidender Bedeutung ist: die Mitteilung von Gefühl als unmittelbarem Selbstbewußtsein. Die Komplementarität von Religionsphilosophie und Ästhetik im Blick auf die apologetische - bzw. allgemein philosophisch-theologische - Fragestellung nach dem Wesen des Christentums ist nun so zu fassen, daß im Horizont der religionsphilosophischen Bestimmung des Wesens des Christentums als einer spezifischen Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewußtseins eine durch die Ästhetik belehrte Entscheidung über die sachgemäßen Formen der Mitteilung jenes religiösen Gefühls getroffen werden kann und nichtsachgemäße Formen mit Gründen abgewiesen werden können274. Diese Komplementarität275 erstreckt sich dann aber notwendig auf alle Bereiche des kirchlichen Lebens, wenn anders alle kirchlichen Lebensvollzüge dadurch charakterisiert sind, der Bildung eines Kunstschatzes zu dienen, „an welchem sich das Gefühl eines jeden bildet, und in welchem jeder seine ausgezeichneten Gefühle niederlegt und die freien Darstellungen seiner Gefühlsweise"276. Kirche insgesamt ist ein ästhetisches Phänomen277, nicht nur in der Institution Gottesdienst, sondern auch in den Institutionen des kirchlichen Büß- und Erziehungswesens; nicht nur im darstellenden, sondern auch im reinigenden und im verbreitenden Handeln. Kirche ist künstlerische Tätigkeit278, deren einzelnen Elemente - das

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künstlerischen Produzierens muß sie dann selbstverständlich auch all jene Themen enthalten, die zur Beschreibung jeglichen Handelns - also auch der künstlerischen Tätigkeit - herangezogen werden müssen: Handlungsmotiv, Handlungsvollzug und Handlungsresultat. Und sie kann diese Themen sachgemäß nur vermittelst der Kategorien der Ethik abhandeln. Vgl. KdS, 285ff. „Was sich nicht aus dem religiösen Bewußtsein in Bezug auf ein Allen gemeinschaftliches Gebiet entwikkeln läßt, kann nicht Element des Cultus sein" (PrTh, 736). Allerdings gilt auch: „Das Dogma ist freilich unentbehrlich, aber nur das ist wahre Entwikklung, wirklich dogmatische Einheit, dem auf dem Gebiet der Kunst und der Sitte etwas bestimmtes entspricht. Alles andere ist nur unter der Botmäßigkeit der Wissenschaft erzeugt und verwerflich" (KG, 630). Vgl. auch die umfangreichen Argumentationsgänge in „Christlicher Sitte" (CS, 537ff.) und „Praktischer Theologie" (PrTh, 83ff788ff). Die Komplementarität von Religionsphilosophie und Ästhetik wird von Schleiermacher im Blick auf die Wesensbestimmung des Kultus prägnant formuliert PrTh, 788: „Wenn nun Cultus gemeinsames religiöses Leben ist und aus Kunstelementen besteht: so muß sein Begriff durch die beiden Begriffe Kunst und Religion bestimmt werden". PrTh, 789: „Cultus aus Kunst und Religion zu bestimmen. Kunst die Form, Religion der Stoff'. Vgl. auch: PrTh, 838ff. PhE, 362[§213]. In seiner Kirchengeschichtsvorlesung von 1806 ordnet Schleiermacher explizit die ästhetische Betrachtung der äußeren Organisation der Kirche der politischen Betrachtung über: KG, 628f; vgl. auch: KD2 §149; KG, 204. Dagegen anders: KD2 §176; ThES, 164f. Vgl. PrTh, 787f.788. - Sie wird damit auch dem in ihr thematischen Gegenstand gemäß: Gott. Dieser wird von Schleiermacher in seiner „Glaubenslehre" des öfteren als „Künstler" angesprochen, um sein Schöpfersein angemessen zum Ausdruck zu bringen. (Vgl. hierzu etwa: GL2 §55.2,1.297. §165.1,11.445. §168.1, II.452f).

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kirchliche Kultuswesen, aber auch (!) das kirchliche Büß- und Erziehungswesen - in ihrer künstlerischen Intention279 auf die Produktion eines allen gemeinsamen „Kunstschazes" gerichtet sind: Damit ist aber auch aus dieser Perspektive der Ästhetik die Thematisierung des Gottesdienstes bzw. des darstellenden Handelns nur im Kontext des gesamten kirchlichen Lebens möglich280.

5.3 Apologetische Theologie des Gottesdienstes als Kultus Die Apologetik des protestantischen Gottesdienstes als Kultus bestimmt nach allem bisher Gesagten dessen Wesen im Rekurs auf den ethischen Schematismus so, daß sie drei Hinsichten umfaßt. Das Wesen des Gottesdienstes wird bestimmt im Hinblick: (A) auf dessen ästhetisch wahrzunehmende Funktion im Zusammenhang der gesellschaftlichen Institutionen. Dies geschieht sachgemäß im Horizont einer Theorie des Gottesdienstes als ethischem Gut28'. (B) auf dessen ästhetisch sachgemäße Vollzugsgestalt. Dies geschieht im Horizont einer Theorie des Gottesdienstes als pflichtgemäßem kultischen Handeln des Einzelnen282. (C) auf dessen eigentümliche Motivation. Dies geschieht im Horizont einer Theorie des tugendhaften Gottesdienstes als motiviert in der göttlichen Liebe2". Die apologetische Wesensbestimmung des Gottesdienstes mit dessen Behandlung als einem sittlichen Gut zu beginnen, rechtfertigt sich aus Schleiermachers Einsicht, daß nur auf der Grundlage der Güterlehre eine konkrete 279 Daß auch das kirchliche Büß- und Erziehungswesen künstlerischen Charakter besitzen, erhellt völlig aus der These Schleiermachers, daß der gesamte Kirchendienst geleitet ist im Selbstverständnis seiner Praxis vom Begriff der schönen Künste (PrTh, 787). Im „Broullion zur Ethik" (1805/06) wird in letzter Konsequenz auch die Vollendungsgestalt des Lebens in allen Lebensbezügen ästhetisch zugespitzt: „Das Leben in der Seligkeit kann nun nicht anders aufgefaßt werden als unter der Form der Oscillation des Lebens als Auffassen und Darstellen, also als Erkennen und Kunst. Der Mensch ist selig und die Sittlichkeit in ihm vollendet, inwiefern alles in ihm Erkenntniß und Kunst ist. (Erkenntniß umfaßt hier sowol Wissen als Gefühl, wie beides unzertrennlich mit einander verknüpft ist; das Hervortreten des einen über das andere ist schon Relativität des Gefühls)" (PhE, 202). 280 Vgl. hierzu auch Rudolf Bohren, Daß Gott schön werde, 164ff.; Albrecht Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik, 73ff.171ff.184f, Rainer Volp, Kunst als Gestaltungskompetenz, 259ff; Ders., Liturgik, Bd.2, 814ff; E. Herms, Die Sprache der Bilder und die Kirche des Wortes, 242ff. 281 In die Apologetik aufgenommen unter den Themen Hierarchie und Kirchengewalt; vgl. oben Paragraph §3, Abschnitt 5.1. 282 In die Apologetik aufgenommen unter den Themen Kanon, Sakrament, Konfession und Ritus; vgl. oben a.a.O. 283 In die Apologetik aufgenommen unter dem Thema Offenbarung und deren Nebenthemen als geschichtlichen Realisationsgestalten der göttlichen Liebe; vgl. a.a.O.

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Bestimmung von Pflichten und Tugenden möglich ist284. Nur der Ausgang bei den alle Akteure gleichermaßen betreffenden Resultaten gesellschaftlicher Praxis kann gewährleisten, daß Pflichten und Tugenden des Individuums als die Handlungsvollzüge und Motive eines sozialen Wesens erfaßt werden und nicht etwa solipsistisch unterbestimmt bleiben2". Das Individuum wird also sowohl hinsichtlich seiner Verantwortung der Sozietät gegenüber begriffen, als auch die Sozietät in ihrer Verantwortung dem Individuum gegenüber erkennbar.

5.3.1 Der Gottesdienst als sittliches Gut Wir hatten gesehen, daß Schleiermacher die Aufgabe der Kirche so faßt, daß sie als eine Gemeinschaft zur Kommunikation gemeinsamer Frömmigkeit in den Blick kommt. Aus den Bedingungen, denen die Mitteilbarkeit von Frömmigkeit als individueller Gewißheit unterliegt, ergab sich dabei als der sachgemäße Kommunikationsmodus der der künstlerischen Selbstdarstellung. Diese künstlerische Selbstdarstellung ließ sich zusammenfassen unter dem Oberbegriff Kultus bzw. Ritus oder Gottesdienst. Die in diesen Ausdrücken enthaltene Tendenz der religiösen Selbstdarstellung auf Öffentlichkeit und Gemeinschaft findet ihre Berechtigung darin, daß ihrem Gehalt nach die darzustellende individuelle Gewißheit als Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit die schlechthinnige Abhängigkeit nicht nur des, der oder der (Plural) jeweils sich Darstellenden umfaßt, sondern ihrem eigenen Anspruch nach die schlechthinnige Abhängigkeit alles In-der-Welt-Seienden zum Ausdruck bringen will: „Und so scheint, genauer betrachtet, auch dieses beides in der That zusammenzugehören, daß das Einzelwesen sich dieses schlechthinnigen in sich bewußt wird, und daß es auch allen ohne Unterschied zumuthet durch die Offenbarung des Zeitlichwerdens dieses schlechthinnigen in ihm mit aufgeregt zu werden"286. Alle religiöse Selbstdarstellung intendiert also, ihre weltumspannende Gültigkeit dadurch bestätigt zu sehen, daß ihre Rezipienten sich ihr anschließen und mit darstellen. Diese Intention wird allerdings dadurch problematisch, daß die Rezeptions- wie Produktionsbedingungen, unter denen die künstlerische Selbstdarstellung erfolgt, abhängig sind von den kulturellen Gegebenheiten. 284 Vgl. hierzu Schleiermachers Akademievortrag „Ueber den Begriff des Höchsten Gutes" (I.Abhandlung), SW III.2, 446ff.; sowie PhE, 509ff.556[§122]. 285 Schleiermacher spricht an einer Stelle sogar davon, daß die wissenschaftliche Ethik in der Güterlehre ihre „objektivste Darstellung" erfahre, die für sich allein schon hinreichend sei zur Darstellung der sittlichen Welt, sodaß Tugend- und Pflichtenlehre „nur gleichsam als Rechnungsprobe" von wissenschaftlicher Bedeutung wären (SW III.2, 388). Vgl. Michael Moxter, Güterbegriff und Handlungstheorie, 177ff. 286 SW III.2, 493; vgl. CS, 514f.

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Das heißt, der universal gültige Gehalt der religiösen Selbstdarstellung läßt sich nur in individuellen Ausdrucksgestalten mit beschränkter Reichweite darstellen: „und so bleibt, wenn die Kunst in allen ihren Zweigen wesentlich volksthümlich ist, auch die Religion, die sich nur durch die Kunst ausdrükkt und mittheilt, mehr oder weniger hiedurch bedingt"287. Dieser Sachverhalt hat nun seinerseits beachtliche Konsequenzen für die Ekklesiologie. Zwar ist es auf der einen Seite notwendig so, daß jede Frömmigkeit - und also auch die christliche - daraufhin angelegt ist, sich allgemein über die ganze Menschheit zu verbreiten288. Und zugleich gilt auf der anderen Seite, daß sie in diesem ökumenischen Prozeß als Institution prinzipiell niemals den Rahmen einer Volkskirche - d.h. einer Kirche für eine bestimmte Gemeinschaft in einer bestimmten, geschichtlich kontingent gewordenen Situation überschreiten kann. Während die Frömmigkeit notwendig ihre Universalität behauptet, kann sie sich doch als Kirche ebenso notwendig nur in verschiedenen individuellen Gestalten institutionalisieren289. Der ekklesiologisch zu bestimmende Sachverhalt ist also nicht einfach eine weltumspannende Einheitskirche, sondern der Begriff der Kirche als Gemeinschaft von Volkskirchen290. Der sachlich gebotene Referenzrahmen für Kirche ist folglich stets der jener Gesellschaft, in welcher sich Kirche konkret immer schon vorfindet291. Das begriffliche Instrumentarium, das nötig ist, um die gesellschaftliche Funktion von Kirche einsehen zu können, stellt die Güterlehre - auch: Theorie des Höchsten Gutes292 - bereit. 287 SW III.2, 491. Vgl. auch: CS, Beil.B, 155 [§30]. 288 PhE, 493f. Vgl. CS, Beil.A, 85f [§220], CS, Beil.B, 133 [§15f]; KG, 24. 289 Vgl. CS, 135ff; CS, Beil.A, 50f [§148]. Dabei gilt allerdings, „daß wir keinem individuellen Principe ein Recht einräumen können, welches vermöge der besonderen Gemeinschaft der Darstellung, die aus ihm entsteht, die absolute Gemeinschaft aller Christen aufheben will. Denn diese dürfen wir niemals antasten lassen; sie ist unmittelbar ausgesprochen, in der Lehre von der Allgemeinheit der Erlösung durch Christum und in der Lehre von der Identität des göttlichen Geistes in allen Gläubigen. Auf diesen beiden Lehren beruht die Fähigkeit aller Christen zur Gemeinschaft unter einander, und die absolute Gemeinschaft aller Christen zugeben ist nichts anderes, als die ethische Seite des Dogma von der Einheit der Kirche" (CS, 574; vgl. CS, 585ff). 290 Aus demselben Grunde ist auch das Projekt eines „Weltstaates" zum Scheitern verurteilt. Sinnvolles Ziel kosmopolitischen Handelns kann daher nur eine vernünftig gestaltete Gemeinschaft von Staaten sein; vgl. SW III.2, 483.492.493; CS, 655-660. Vgl. auch PhE, 466: „Die Gemeinschaft der Völker kann kein äußerlich bestimmter Rechtszustand sein, weil sie nicht unter eine Einheit subsumirt sind, die selbst äußerlich Person ist". Vgl. Mariin E. Miller, 62f. 291 Hier ist allerdings stets zu berücksichtigen: „aber solche Volks- und Landeskirchen sind nur die Form, unter welcher allein nach göttlicher Ordnung eine größere Gemeinschaft möglich ist, und sie involvieren keinesweges eine Aufhebung der Gemeinschaft mit anderen Christen, welche vielmehr nach wie vor stattfindet, sobald die natürlichen Bedingungen dazu gegeben sind"(GL2 §151.1,11.393; vgl. GL2 §152.1, II.396f. 292 Die wichtigsten Texte hierzu finden sich: SW III.2, 446ff.469ff.; PhE, 258ff.561ff. Vgl. Michael Moxter, Güterbegriff und Handlungstheorie; Hermann Peiter, Motiv oder

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Die Thematik der Theorie des Höchsten Gutes skizziert Schleiermacher wie folgt: „Die Gesammtwirkung der Intelligenz auf dieser Erde vermittelst der menschlichen Organisation ist es, die wir uns auseinanderzulegen haben, als wäre sie so vollendet, daß sie sich mit denselben Zügen nur immer wieder zu erneuern brauchte"293. Die Güterlehre beschreibt die umfassende, d.h. sämtliche Bedingungen endlich-menschlichen Vernunftlebens berücksichtigende Form menschlicher Gemeinschaft. Vollendet ist menschliche Gemeinschaft genau dann, wenn ihre Organisation die immer neue Ausbildung von Tugend und pflichtgemäßem Handeln in all ihren konstitutiven Teilmomenten befördert. Nur unter dieser Voraussetzung ist die Regeneration und Weiterentwicklung - auch das Umlenken von Fehlentwicklungen - einer Gemeinschaft möglich. In Schleiermachers Sinne ist eine Gesellschaft human und vernünftig eingerichtet, wenn sie einem jeden einzelnen ihrer Mitglieder Bildungserlebnisse ermöglicht294, die zur Ausbildung und Festigung einer Gewißheit über die Bestimmung seiner selbst geeignet sind, und wenn sie einen dieser Gewißheit entsprechenden Lebensvollzug erlaubt295. Gemeinschaft ist vollendet sittlich, wenn sie ihre Mitglieder immer wieder neu zu sittlicher, ihrer Individualität gemäßer Gemeinschaftsaktivität motiviert und instandsetzt296. Aus der Analyse der Bedingungen menschlich-endlichen Vemunftlebens ergeben sich die Weisen, wie die sittliche Aufgabe bearbeitet werden kann297: Alle Vemünftigkeit hat entweder einen mehr universellen290 oder einen mehr individuellen299 Charakter. Da alle Vernunfttätigkeit sich vollzieht unter

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Effekt; Mariin E. Miller, Der Übergang, 54ff; H.-J. Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 39ff.; Emanuel Hirsch, Geschichte Bd. IV, 550ff.; Paul Hensel, Die neue Güterlehre. SWIII.2, 471. Sie kann diese Erlebnisse „ermöglichen" nur in dem Sinne, daß sie geeignete gesellschaftliche Räume schafft, in denen solche Bildungserlebnisse mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit stattfinden können. Sie kann aber natürlich keine Garantie dafür übernehmen, daß diese Erlebnisse dann auch tatsächlich eintreten. Die Auffassung, daß eine Gesellschaft genau dann gut und vernünftig eingerichtet ist, wenn sie sich um die Sicherung derjenigen Rahmenbedingungen bemüht, die für die Ausbildung persönlicher Gewißheiten unverzichtbar sind, dürfte angesichts der vielbeobachtbaren „Orientierungskrise" zu einem nicht sehr schmeichelhaften Urteil über die derzeitige Einrichtung unseres Gemeinwesens führen. Schleiermachers Ideal menschlicher Gemeinschaft deutet deren Vollendungsgestalt also in keiner Weise als den Zustand einer selbstzufriedenen Untätigkeit, die im Betrachten des Erreichten aufgeht. Ein solcher Zustand wäre kein sittliches Leben mehr, es wäre der Tod; vgl. SW III.2, 459. Vgl. H. Falcke, Theologie, 15. - Bezogen auf die christliche Gemeinschaft gilt daher: „alle äußeren Güter in Beziehung auf das Reich Gottes müssen nicht allein Gemeingut sein sondern es muß auch gemeinsame Angelegenheit sein, einen jeden in solchem Zustande zu erhalten daß er seine Kräfte für die Entwikkelung des Reiches Gottes gewähren kann" (LJ, 360). Vgl. SW III.2, 475ff.

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den „Bedingungen dieses Weltkörpers"300, kann sie entweder mehr dessen vernunftgemäße Organisation301 oder mehr ihre eigene symbolische Selbsterfassung in dem irdischen Sein, „in welches sie als menschliche Seele gesezt ist"302, betreiben. Die Kreuzung dieser vier gleichursprünglichen Aspekte menschlich-endlicher Vernunfttätigkeit ergibt vier Bereiche, in denen sich menschlich-endliches Leben vernünftig realisiert und die sämtlich abgedeckt sein müssen, sollen keine krankhaften - unvernünftigen - Zustände auftreten. Dabei sind diese vier Bereiche von Schleiermacher stets als Interaktionsbereiche gedacht, da endlich-menschliche Vernünftigkeit sich mimer schon als Resultat von Interaktion vorfindet und nur durch Interaktion reproduziert. Endlich-menschliche Vernünftigkeit entsteht nur im Rahmen von Familie303: „Diese ist mithin der Ort nicht nur der Erneuerung jenes ursprünglichen Actes des Eintretens der Vernunft in das irdische Leben, welcher sich nun durch Erzeugung und Geburt wiederholt, und also der Tradition des Lebens selbst, sondern auch des von der früheren Generation schon sittlich bewirkten und gewonnenen"304. Wir haben bereits gesehen, daß von Schleiermacher als die obere Grenze in sich abgeschlossener und gestaltbarer Interaktionsbereiche das Volk angesehen wird305. Zwischen Familie - in undifferenzierter Form - und Volk - in vollständig ausdifferenzierter Form - finden sich nun in irgendeiner d.h. möglicherweise auch defizitärer - Weise folgende vier Interaktionsbereiehe306:

298 Ausgedrückt etwa in den Sätzen: „Jeder hätte an meiner Stelle so gehandelt". „Jeder denkt dies so wie ich". 299 „Dies habe nur ich so tun können". „Dies empfinde nur ich auf diese Weise". 300 SW III.2, 471. Dabei sind diese „Bedingungen" nicht als die Vernunft beschrankende aufzufassen, sondern stellen die Bedingungen dafür bereit, daß sich Vernunft überhaupt entschränken und ausbreiten kann - aber eben im Rahmen ihrer natürlichen Möglichkeiten. Vernunft gibt es nach Schleiermacher nie „überhaupt" und „an sich", sondern stets nur in individueller, raumzeitlicher Realisation. Man kann gewissermaßen auf „die" Vernunft mit Fingern zeigen, was deshalb aber auch für „die" Unvernunft gilt. Deshalb lassen sich nach Schleiermachers Konzeption auch sittliche Entgleisungen nicht als „Schicksalsschlag" oder „nationale Katastrophen" interpretieren, sondern sind hinsichtlich ihrer konkreten Ursachen in der geschichtlich-sittlichen Welt bestimmten verantwortlichen Instanzen - seien es natürliche oder moralische Personen - zuzuweisen, so schwierig und komplex das im Einzelfall auch immer sein mag. Was überhaupt als geschichtliches Ereignis in Frage kommt, ist stets Resultat vernünftigen oder unvernünftigen Handelns einzelner identifizierbarer Personen oder Gruppen. 301 Im Sinne vernünftiger Naturbeherrschung. Den Zusammenhang seines Konzepts des organisierenden Handelns mit /Werkzeug stellt Schleiermacher her: PhE, 562[Anm.l]. 302 SW III.2, 477. 303 Vgl. SW III.2, 463f. - Vgl. Mariin E. Miller, Der Übergang, 61f; H.-J. Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 127ff. 304 Ebd. 305 Vgl. SW III.2, 465.482f. - Vgl. Mariin E. Miller, Der Übergang, 62ff. 306 Vgl. Mariin E. Miller, Der Übergang, 65ff.

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Universell

Individuell

Organisieren

Recht

Gastfreiheit

Symbolisieren

Wissen

Religion

Der Bereich der vernunftgemäßen gemeinsamen Naturbeherrschung ist charakterisiert als ein geregelter Rechtszustand307. Der Bereich der vernunftgemäßen individuellen Naturbeherrschung ist gekennzeichnet als Sphäre der „freien Geselligkeit" und „Gastfreiheit"308. Hier geht es um „die Darstellung des eigenthümlichen, und zwar ursprünglich des eigenthümlichen der anbildenden Thätigkeit, wie es überall in dem Innern des Hauswesens zu Tage hegt, für die gemeinsame Vernunft"309.

307 SW III. 2, 482: „Nun ist jede naturbildende Thätigkeit, sofern sie an die Persönlichkeit anreiht, Erweiterung, und das Resultat Besiz; theilweise Aufhebung des Besizes für die Gemeinschaftlichkeit des Bildungsprozesses ist Verkehr, und gegenseitige Bedingtheit beider, der Erwerbung und der Gemeinschaft durcheinander, ist der Rechtszustand. In der Einheit des höchsten Gutes ist also notwendig zu sezen ein über die ganze Erde verbreiteter Rechtszustand". Aus den bereits bekannten Gründen ist dies aber nur möglich in Form von mehr oder weniger umfangreichen vertraglichen Regelungen zwischen eigenständigen Staaten mit ihren jeweils eigenen Gesetzen und bürgerlichen Ordnungen; vgl. SW III.2, 483.492. Der unmittelbare Zweck des Staates ist kein anderer, „als die Kräfte einer bestimmten Masse von Menschen zum Behuf der Naturbeherrschung zu vereinigen" (CS, 327). Die Sphäre des universellen Organisierens darf nicht verkürzt werden auf das politische Handeln. Die Thematisierung unter dem Oberbegriff „Recht" muß vielmehr so verstanden werden, daß in Gestalt des Rechtes und des Rechtsstaates die hier verortete Aufgabe der Naturbeherrschung ihre für alles andere grundlegende Bearbeitung in der Beherrschung der sozialen Natur des Menschen erhält. - Vgl. H.-J. Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 41f. 308 SW III.2, 483ff. 309 SW III.2, 485. Die Ausdrücke „freie Geselligkeit" bzw. „Gastfreiheit" könnten mißverstanden und mit dem gleich zu beschreibenden Bereich des individuellen Symbolisierens verwechselt werden. „Freundschaft" bzw. „freie Geselligkeit" meinen hier nur einen Zustand, in welchem die Privatsphäre in ihrer äußerlichen Gestaltung der Öffentlichkeit in Grenzen zugänglich ist. Es ist die Mitteilung des persönlichen Lebensstils. Nicht gemeint ist dagegen, daß hier die Kommunikation persönlicher Erfahrung und persönlicher Lebensdeutung ihren ethischen Ort hätten. Diese charakterisiert die individuell symbolisierende Interaktion - auch wenn diese für gewöhnlich ihren natürlichen Ort im intimen Raum der gegenseitigen freundschaftlichen Aufgeschlossenheit hat (vgl CS, 672fl1826/27]; PrTh, 333; PhE, 127). Schleiermacher hebt die Differenz zwischen beiden Sphären wie ihre Verbindung in seiner Praktischen Theologie mit allergrößter Deutlichkeit hervor: „Das gesellige Verhältniß ist freilich das äußerlichste im Leben; andererseits aber müssen wir gestehen, daß es die natürliche freie sittliche Geselligkeit der Menschen ist, aus der das kirchliche Verhältniß entsteht und sich darin erhält, und ist damit nicht gleichgültig anzusehen" (PrTh, 519).

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Der Bereich der vernunftgemäßen universellen Selbsterfassung der Vernunft ist die Sphäre der Wissenschaft in der „Gemeinschaft des Denkens und Sprechens"310. Auch in dieser Sphäre ist die Tendenz auf weltumspannende Uniformität - hier in Gestalt einer wissenschaftlichen Einheitssprache - zum Scheitern verurteilt: „und bald wird eingesehen daß sich das Wissen in jeder Sprache als ein besonderes entwikkelt"3". Der Bereich der vernunftgemäßen individuellen symbolischen Selbsterfassung der Vernunft ist die Sphäre individueller Selbstthematisierung und Selbstdeutung, kulminierend in der Sphäre der Religion312, „die sich nur durch die Kunst ausdrükkt und mittheilt"313. Dieses Angewiesensein auf künstlerischen Ausdruck individualisiert nun eine jede - tendenziell weltumspannende Frömmigkeit in verschiedene Kirchen, wie wir bereits sahen314. Dabei steht die Sphäre der Frömmigkeit - das individuelle Symbolisieren nach Schleiermacher den drei übrigen Sphären in eigentümlicher Weise gegenüber315: Recht, Freundschaft und Wissenschaft sind ursprünglich immer schon individualisiert, sodaß sie nie anders weltumspannende Bedeutung gewinnen können als so, daß sie eine weltumspannende Gemeinschaft der Sprachen, der Staaten und der Freundeskreise anstreben, dagegen die eine Weltsprache, der eine Weltstaat und die „eine unbegrenzte Gemeinschaft der Anschauung nur als eine leere Möglichkeit gesezt"316 werden kann. Dagegen besteht zwischen Religionen kein solches Verhältnis der gegenseitigen Ergänzung, sondern notwendig ein Konkurrenzverhältnis, in welchem jede alle anderen zu überbieten 310 SW III.2, 488. Wissenschaft ist nach diesem Verständnis nie etwas anderes als Selbstreflexion von endlichen Menschen auf die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Humanität. 311 SW III.2, 492. Die Stelle lautet weiter: „Zu dem wesentlichen Erkennen verhält sich jedes von diesen nur wie der gebrochene Strahl zu dem Licht an sich; aber das zeitlose wesentliche Erkennen erscheint nur wirklich in dieser Mannigfaltigkeit des gebrochenen. Darum ist und bleibt das Wesentliche in dieser Seite des höchsten Gutes die möglichst vollständige Entwikklung des Wissens in jeder Sprache". Vgl. auch a.a.O., 493f; DO, 13ff.374ff.; PrTh, 681.684. 312 Was im Blick auf das „Rechtsgebiet" gesagt wurde, gilt auch hier: Die Sphäre des individuellen Symbolisierens hat zwar ihren Höhepunkt im religiösen Gespräch (CS, 672[ 1824/25]), darf aber nicht darauf reduziert werden: „denn das Gebiet der freien geselligen Darstellung ist gar nicht denkbar, wenn nicht alle übrigen Lebensmomente eben sowohl zur Darstellung kommen, als die religiösen. Was kann auch anderes daraus hervorgehen, als immer zunehmende Dürftigkeit der Mittheilung, als immer mehr Ueberhand nehmende Tendenz zu mikrologischer Selbstbetrachtung, zu mikrologischer Zerlegung einzelner Empfindungsmomente, wodurch der Mensch immer unfähiger wird geistig die ganze Welt in sich aufzunehmen, weil er dabei immer so in der Schwebe bleibt zwischen dem unendlich kleinen, sich selbst, und dem unendlich grossen, Gott, daß er die unendliche Vielheit, die Welt, ganz übersieht" (CS, 673[1824/25]; vgl. CS, 702[1824/25]). 313 SWIII.2,491. 314 Vgl. auch: CS, 566ff. 315 Vgl. Mariin E. Miller, Der Übergang, 75ff. 316 SWIII.2, 492.

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behauptet, „wenn sie sich dann auch, was ihre Darstellungsmittel betrifft, wieder auf mancherlei Weise theilen muß; so daß hier offenbar ein umgekehrtes Verhältnis wie dort [den drei anderen Tätigkeitsfeldern der Vernunft; R.S.] stattfindet, indem hier nur die Zusammenfassung von allem unter einem als das feststehende gelten kann, und dieser alle Theilung definitiv nur untergeordnet sein darf317. Schleiermachers Theorie des Höchsten Gutes hat für die Theologie ihre Pointe darin, daß sie die These des Absolutheitsanspruches von Frömmigkeit verknüpft mit dem Konzept einer pluralistischen Ekklesiologie318: ,,Das Wesentliche ist, daß jeder die besondere Form des Christentums, der er angehört, nur als eine vergängliche aber sein eigenes zeitliches Dasein mit in sich schließende Gestaltung der einen unvergänglichen Kirche liebe, eine Beschränkung, welche von Gleichgültigkeit sehr weit entfernt ist, indem sie ja davon ausgeht, daß jeder nur durch seine besondere Gemeinschaft mit der ganzen Kirche in Verbindung steht"319. Schleiermachers Lehre vom Höchsten Gut weist damit der Kirche einen wesentlichen Ort in einem jeden vernunftgemäß organisierten Gemeinwesen zu320. Die Kirche ist derjenige Ort in einer Gemeinschaft, an welchem der Einzelne Kompetenz im Umgang mit der ihm eigenen Gewißheit über Herkunft und Ziel seiner selbst und seiner Welt erwerben kann321. Und sie ist dieser Ort genau deshalb, weil in ihr die Mitteilung religiöser Gewißheit im Mittelpunkt steht. Und zwar so sehr steht dieser Aspekt im Mittelpunkt, daß die Mitteilung 317 S W III. 2, 494. 318 CS, Beil. A, 85 [§220], sieht das Streben der Kirche nach weltumspannender Ausdehnung begrenzt „in der von der Natur selbst aufgegebenen Pluralität der Kirchen vermittelst der nach Maßgabe der Entfernung sich vermehrenden Schwierigkeit, die individuelle Form aufzufassen und in reeller Communication zu stehen überhaupt". Vgl. hierzu auch: CS, 567.584ff.; KG,22. 25f.635. KG, 45.46f, notiert als ein Merkmal der Reformation die Bestreitung der vom römischen Katholizismus behaupteten Notwendigkeit der äußeren Einheit der Kirche. 319 GL2 §152.2,11.397. 320 Der Ausdruck „Kirche" fungiert hier als Klassenbegriff. Ob in einem Gemeinwesen lediglich eine oder mehrere Kirchen gefunden werden, ist einstweilen gleichgültig. Wichtig ist an dieser Stelle nur die Einsicht in die Notwendigkeit, daß ein komplexes Gemeinwesen überhaupt über Agenturen des individuellen Symbolisierens verfügen müsse, um seinen Mitgliedern die volle Entfaltung ihrer Humanität zu ermöglichen. Kultiviert ein Gemeinwesen das individuelle Symbolisieren ihrer Mitglieder nicht, so ist es entweder noch oder schon wieder auf der Stufe der Primitivität. 321 Bildungserlebisse im Blick auf die individuelle Gewißheit - das „Herz" der Person finden natürlich in allen gesellschaftlichen Bereichen statt, und sie werden unter Umständen auch in allen gesellschaftlichen Bereichen thematisch. Das heißt aber zunächst nur, daß das individuelle Symbolisieren einen den Menschen in seiner Ganzheit betreffenden Sachverhalt zur Sprache bringt und daß es dabei nie isoliert vorkommt, sondern alle Vernunfttätigkeit stets beisammen ist. Behauptet wird allerdings, daß ein eigenständiges Bearbeiten dieser Bildungserlebnisse des ganzen Menschen und das Bereitstellen eines eigenen gesellschaftlichen Raumes, in welchem diese Bildungserlebnisse begleitend unterstützt werden können, sachlich geboten ist.

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religiöser Gewißheit nicht um eines anderen Zweckes willen betrieben, sondern um ihrer selbst willen und als eine vollständige angestrebt wird322. Die Mitteilung religiöser Gewißheit soll diese in all ihrer Vielfalt darstellen. Damit ist als die Kirche kennzeichnende Tätigkeit der Kultus erkennbar323. Dieser intendiert die „vollständige Darstellung des religiösen Bewußtseins"324. Der künstlerische Charakter der Mitteilung des religiösen Bewußtseins erfordert nun aber auch, daß die einzelnen zu dieser Fähigkeit überhaupt befähigt werden und vorbereitet. Dies ist die wesentliche Aufgabe des kirchlichen Erziehungswesens - insbesondere in Religionsunterricht und Katechese325-, das seinen ursprünglichen Ort in der Familie hat. Die Familie ist derjenige Ort, an dem der religiöse Sinn des Jugendlichen geweckt werden soll durch die lebendige Gegenwart seiner Äußerungen in den Mitgliedern der häuslichen Gemeinschaft326. Durch die Sozialisation im frommen Umfeld soll das religiöse Prinzip in seiner Bedeutung für alle Lebensbereiche anschaulich werden. Dem Religionsunterricht kommt hierbei nur sekundierende Funktion zu bzw. korrigierende in Form von „Polemik gegen das irreligiöse Familienleben"327. Der Religionsunterricht tritt also ein in den Raum zwischen der Erregung des religiösen Gefühls und dessen künstlerischer Darstellung, durch welche das religiöse Gefühl in der Gemeinschaft der religiös Darstellenden zu einem gebildeten religiösen Gefühl328 wird. Das heißt, die Gestaltung des Religionsunterrichtes hat im Blick auf die Konstruktion des Kultus zu erfolgen329, sodaß dieser mit Gewinn besucht werden kann: 322 323 324 325 326 327 328

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PrTh, 735. Kultus als „Kern" der Kirche etwa: PrTh, 735. PrTh, 754; vgl. a.a.O.,750f. PrTh, 776ff.819ff. Mit W. Grab, Der eigene Zugang zum Christentum, 218, kann man formulieren, daß es im Religionsunterricht, wie er im Neuprotestantismus verstanden wird, um „die Gestaltungsproduktivität der Schüler/innen" geht. Vgl. PrTh, 776.777.819.328f.347ff.; PhE, 657. PrTh, 776. Hier ist allerdings strengstens darauf zu achten, daß die „Pietät" nicht verletzt werde. Vgl. auch PrTh, 329.404f PrTh, 840: „Die allgemeine Affection wird vorausgesetzt und nur im Cultus näher bestimmt". Diese allgemeine Auffassung von der Aufgabe des Religionsunterrichtes ist kein Spezifikum Schleiermachers, sondern schon lange allgemein üblich. Man vergleiche etwa Mosheims „Kurze Anweisung", 192. Mosheim nimmt auch einen vieldiskutierten anderen Aspekt der Schleiermacherschen Theologie vorweg, wenn er im Blick auf die Predigthörer schreibt: „Man setzet also dabey schon Leute voraus, welche die ersten Gründe der Religion schon inne haben"(ebd.). Allerdings bezieht sich das „Innehaben" der Religion bei Mosheim auf den Verstand - die Kenntnis der christlichen Grundüberzeugungen -, während Schleiermacher sich auf das christlich bestimmte Gefühl der Predigthörer bezieht. In der Tradition Schleiermachers stehend, hat jüngst erst wieder W. Grab auf den Sachverhalt hingewiesen, daß der Religionsunterricht - bei Grab allerdings speziell der schulische - kein Ort zur direkten Produktion des Glaubens ist: W. Grab, a.a.O., 217f. Vgl. hierzu auch PrTh, 348.349. Überspitzt könnte man in Anlehnung an Paragraph §5 der „Kurzen Darstellung" als Bestimmung des kirchlichen Religionsunterrichtes formulieren: Der kirchliche Religionsunterricht ist sonach der Inbegriff derjenigen Kenntnisse und Regeln, ohne deren

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„Sehen wir nun auf die Konstruktion des Cultus, so ergiebt sich folgendes. Erstlich der Unterricht soll den Complexus religiöser Vorstellungen, aus welchem die liturgischen und rhetorischen Elemente des Cultus genommen sind, zweitens er soll Schriftbekanntschaft bewirken, nicht nur weil Rede und Liturgie biblisch ist, sondern auch in Bezug auf den eigenen freien Gebrauch, wozu die Kirche sie in der Confirmation berechtigt. Drittens er soll sie in die religiöse Poesie einfuhren und zum Gebrauch derselben befähigen"330. Auch die Seelsorge wird von ihrem funktionalen Zusammenhang mit dem Kultus - aber auch dem Religionsunterricht - her bestimmt. Sie wird notwendig entweder, wenn und insofern die Einrichtung des Kultus unsachgemäß ist und also aufgrund seiner Unerbaulichkeit die Bildung des religiösen Gefühls mangelhaft ausfällt331. Oder aber ihre Notwendigkeit entsteht „als Ergänzung des zu früh abgebrochenen katechetischen Geschäftes"332. Aber auch hier ist es letztlich wieder der Kultus, auf den die Seelsorge in ihrer Notwendigkeit bezogen wird, nur daß die mangelhafte Wirkung des Kultus nun nicht auf dessen fehlerhafter Gestaltung beruht, sondern in der mangelhaften Befähigung des Einzelnen zu dessen heilsamen Gebrauch begründet ist333. Da Schleiermacher diesen drei wesentlichen kirchlichen Institutionen nur noch die kirchliche Sitte, als welche wir den protestantischen Lebensstil in den anderen drei gesellschaftlichen Sphären ansprechen dürfen, nebenordnet, ergibt sich als Resultat der apologetischen Betrachtung des Gottesdienstes aus der Perspektive der Güterlehre:

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Besitz und Gebrauch eine erbauliche Teilnahme am christlichen Kultus nicht möglich ist. Vgl. PrTh, 350: „Das Wesen des Religionsunterrichtes besteht demnach darin, daß der einzelne soll fähig gemacht werden an dem Cultus Antheil zu nehmen". PrTh, 820; vgl. PrTh, 184ff. Auch wenn Schleiermacher hier den christlich-protestantischen Kultus im Auge hat und den christlichen Religionsunterricht von diesem her entwirft, dürfte doch klar sein, daß das funktionale Verhältnis zwischen Kultus als künstlerischer Mitteilung von Frömmigkeit und Religionsunterricht als Instanz der Befähigung zur Teilnahme an dieser künstlerischen Mitteilung - wobei beide eine im Leben bereits entzündete Frömmigkeit voraussetzen - konfessionsunabhängig ist Ist religiöse Mitteilung wesentlich daraufhin angelegt, künstlerisch vollzogen zu werden, so besteht auch wesentlich die Notwendigkeit zur Initiation in diesen künstlerischen Prozeß. PrTh, 821.443f. PrTh, 821; vgl. PrTh, 430. Schleiermachers Auffassung ist hier also ganz klar die, daß unter Umständen die mangelhafte Akzeptanz des kirchlichen Gottesdienstes ihre Ursache nicht primär in diesem hat, sondern in der mangelhaften Bildung seiner Verächter - allerdings ist auch diese Verachtung noch ein Zeichen nachlässiger kirchlicher Bildungsarbeit, jedoch dann in den Familien und dem kirchlichen Religionsunterricht; vgl. PrTh, 184ff. - Auch hier dürfte klar erkennbar der funktionale Zusammenhang konfessionsunabhängig im Wesen der religiösen Sphäre angelegt sein und also zur apologetischen Argumentation gerechnet werden. - Die hier entfaltete Einsicht Schleiermachers wurde unlängst von Christoph Meier als Einsicht aus den Erfahrungen eines Reformjahrzehnts in Sachen Gottesdienstreform wieder neu entdeckt und luzide entfaltet: Chr. Meier, Der Gottesdienst zwischen bestätigender und verändernder Wirkung, 19Iff.

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Der Kultus ist apologetisch gerechtfertigt als das zentrale kirchliche Institut, in welchem die Kirchen bzw. die verschiedenen Weltanschauungsgemeinschaften ihre gesellschaftliche Funktion wahrnehmen. Der Ausfall dieses Instituts hat für die Gesellschaft zur Folge, daß in ihr kein Austausch über die in ihr wirksamen religiösen Gewißheiten mehr stattfindet. Das aber heißt, daß das Zusammenleben in ihr geprägt wird von nationalstaatlichen, privaten oder szientifischen Interessen, nicht aber vom Interesse des ganzen Menschen, wie es auf der Ebene des unmittelbaren Selbstbewußtseins erschlossen ist. Der Ausfall dieses Instituts hat für die Gesellschaft damit zur Folge, daß selbst bei stetig steigendem Wohlstand, äußerer Rechtssicherheit und wissenschaftlichem Fortschritt die Gesellschaft innerlich verarmt: Es fehlt ihr an Herzensbildung334. Für die christliche Kirche bedeutet die so bestimmte Funktion des Kultus, daß sie diesen nur bei Strafe ihrer Selbstaufgabe aus dem Zentrum ihrer Aufmerksamkeit rücken darf335.

Exkurs Zum Verhältnis von darstellendem Handeln und individuellem Symbolisieren Wenn in der hier vorgetragenen Rekonstruktion von Schleiermachers apologetischer Theologie Kirche und Kultus in Aufnahme von Schleiermachers Güterlehre und der darin entfalteten Theorie des individuellen Symbolisierens entwickelt worden sind, stellt sich sofort die Frage nach dem Verhältnis des individuellen Symbolisierens zum darstellenden Handeln, in dessen Zusammenhang ja bekanntlich die Christliche Sittenlehre ihre Lehre von der Kirche und vom Kultus entfaltet. Schleiermacher selbst hat sich hierzu an keiner Stelle geäußert336. Gleichwohl lassen sich aus dem vorliegenden Material doch ei334 Vgl. SW II.3, 9. Vgl. CS, 640: Der Wert eines gegebenen Zustandes der Gesellschaft liegt nur in dem, „was er in dem inneren des Menschen selbst hervorbringt". 335 Damit ist nicht die Notwendigkeit einer zeitgemäßen, „populären" Gestaltung des Kultus verabschiedet. Verabschiedet ist allerdings jeder Versuch, in den Mittelpunkt kirchlicher Tätigkeit etwas anderes zu stellen als die individuelle Herzensbildung mittels religiöser Kommunikation. 336 Daraus ist allerdings nicht der Schluß zu ziehen, das Verhältnis sei völlig eindeutig im Sinne einer Identität von darstellendem Handeln und individuellem Symbolisieren zu bestimmen. Diesen Eindruck vermitteln aber für gewöhnlich die einschlägigen Einlassungen der Sekundärliteratur (Vgl. etwa Eberhard Jüngel, Der Gottesdienst als Fest der Freiheit, 269). Exemplarisch sei hier auf die Arbeit von W. Grab verwiesen (Predigt als Mitteilung des Glaubens): Im Anschluß an ein Kapitel, das sich mit dem systematischen Horizont von Schleiermachers Theorie religiöser Mitteilung beschäftigt - auch und gerade mit Blick auf die Theorie des individuellen Symbolisierens - formuliert Grab im Zusammenhang der Präsentation von Schleiermachers Verständnis der Predigt als darstellendem Handeln: „Wie sehr Schleiermacher in der am Begriff des individuellen Symbolisierens aufgewiesenen Kommunikationsstruktur den konstitutiven

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nige Gesichtspunkte erheben, wie das Verhältnis im Sinne Schleiermachers zu bestimmen ist. In seiner Philosophischen Ethik entwickelt Schleiermacher im Rahmen der Güterlehre den ethischen Begriff der Kirche. Dabei ordnet er die Kirche dem Bereich des individuellen Symbolisierens zu. Wenn auch damit zu rechnen ist, daß dem als Kirche - als Institution des individuellen Symbolisierens - bezeichneten Teilbereich des sittlichen Gesamtlebens eine gegenüber den Teilbereichen des Rechts - allgemeines Organisieren -, der freien Geselligkeit - individuelles Organisieren - und der Wissenschaft - allgemeines Symbolisieren - ausgezeichnete, und vor allem: eine universale Funktion zugesprochen wird, so ist es doch eben immer nur ein Teilbereich der sittlichen Sphäre, der von der Kirche institutionalisiert wird: eben der des individuellen Symbolisierens. Aufgabe des in der Kirche institutionalisierten individuellen Symbolisierens ist die explizite Thematisierung des individuellen Gottesverhältnisses der Person. Dabei kommt hi Schleiermachers Sicht dieses individuelle Gottesverhältnis so in den Blick, daß es für die Person nur erschlossen ist im Kontext prägender Erfahrungen. Individuelles Symbolisieren ist nur möglich im Horizont von Traditionen337, und zwar als deren Thematisierung338. Will man den so gefaßten Begriff des individuellen Symbolisierens mit dem Begriff des darstellenden Handelns vergleichen, so muß zunächst folgendes beachtet werden: In der Christlichen Sittenlehre wird das christliche Leben von Schleiermacher so in den Blick gefaßt, daß es sich nicht auf den gesellschaftlichen Teilbereich der Kirche reduzieren läßt. Es geht in der Christlichen Sittenlehre ja gerade um die Frage nach demjenigen Lebensvollzug, der in all seinen Vorgang kirchlicher Gemeinschaftsbildung, sozusagen die Struktur des Grundgeschehens von der Kirche, erfaßt sah, wird expliziert jedoch insbesondere in seiner in der „Christlichen Sittenlehre" entwickelten Theorie des darstellenden Handelns. In ihr findet die ethische, handlungsorientierte Lehre von der Kirche, ihrer Predigt und ihrem Gottesdienst, den zentralen Ort(...)Indem er die eigentümliche Struktur religiöser Gemeinschaftsbildung bereits im kulturanthropologischen Kontext entfaltet, gewinnt er dort diejenigen Kategorien, denen das kirchliche Handeln auch angesichts seiner spezifischen Inhaltsbestimmtheit keineswegs entnommen ist, an denen es sich um der allgemeinen Kommunikabilität seines Inhalts willen vielmehr gerade zu orientieren hat" (W. Grab, Predigt als Mitteilung des Glaubens, 203f). Gerade wenn man von der Richtigkeit des letzten Satzes überzeugt ist, muß doch erstaunen, daß Schleiermacher in seiner Christlichen Sittenlehre nicht die Kategorie des individuellen Symbolisierens ins Zentrum seiner handlungsorientierten „Lehre von der Kirche, ihrer Predigt und ihrem Gottesdienst" stellt, sondern die Kategorie des Darstellens. Es sprechen gute Gründe gegen die umstandslose Identifizierung beider Kategorien, wie hier im folgenden gezeigt werden soll. 337 Tradition im weiten Sinne des von außen an die Person Herangetragenen. In diesem Sinne umfaßt sie also auch relativ formlose und unstrukturierte Mitteilungen und Überlieferungen von Lebensstilen. 338 Individuelles Symbolisieren ist immer Ausdrucksgestalt eines „Seiner-selbst-Inne-seinals...", wobei der Gehalt dieses „als" der angeeignete Gehalt einer Tradition ist, eines äußerlich begegnenden Lebensstils.

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Vollzügen dem christlichen Glauben gemäß ist. Explizit und ausführlich beschäftigt sich Schleiermacher mit der dem Glauben gemäßen Praxis des Christen in Wissenschaft, Politik und Geselligkeit. Für unsere Fragestellung ist hier bedeutsam, daß diese Bereiche dabei auch als zum darstellenden Handeln zugehörig verhandelt werden und nicht etwa nur dem wirksamen Handeln zugewiesen werden. Das wirksame Handeln hat seine Funktion darin, einem alle Lebensbereiche erfassenden Darstellen der christlichen Frömmigkeit zuzuarbeiten. Man könnte nun versucht sein, diese Beobachtung damit zu erklären, daß Schleiermacher seine Unterscheidungen stets so zu treffen pflege, daß die unterschiedenen Sachverhalte nie unabhängig voneinander gedacht werden. Daher sei es ganz sachgemäß, auch Politik, Wissenschaft und Geselligkeit unter dem Gesichtspunkt des darstellenden Handelns zu betrachten. „Eigentlich" aber hätte das darstellende Handeln der Christen seine eigentümliche Funktion nur in dem von der Philosophischen Ethik ausdifferenzierten Bereich des individuellen Symbolisierens - der ja ebenfalls nur abstrakt von den anderen Teilbereichen der Güterlehre losgelöst werden könne. Für diese Interpretation spricht scheinbar auch, daß Schleiermacher ein darstellendes Handeln im weiteren Sinne von einem darstellenden Handeln im engeren Sinne unterscheidet, wobei zuweilen der Eindruck entstehen kann, als wäre das darstellende Handeln im engeren Sinne das „eigentliche" darstellende Handeln. Die Irrigkeit einer solchen Interpretation wird aber deutlich, wenn man sich ihre Konsequenzen vor Augen führt. Denn diese Interpretation läuft darauf hinaus, im individuellen Symbolisieren die „eigentliche" Praxis des Glaubens zu identifizieren, demgegenüber das Handeln der Christen in den übrigen Teilbereichen der Sittlichkeit nur in einem abgeleiteten Sinne als Praxis des Glaubens verstanden wird. Diese Konsequenz steht aber in striktem Widerspruch zu der sonstigen Lehre Schleiermachers. Die Praxis des Glaubens wird von diesen nämlich durchgängig als die Ganzhingabe der Person in all ihren Lebensvollzügen beschrieben, ohne dabei Teilbereiche des Handelns mit einer besonderen Dignität auszuzeichnen. Das Darstellen der christlichen Gesinnung als das Wesen aller christlichen Praxis - dem das wirksame Handeln funktional zugeordnet ist - umfaßt also alle Lebensbereiche der christlichen Existenz. Unbeschadet dieser Einsicht und auf ihr aufbauend lassen sich dann allerdings verschiedene Aspekte des darstellenden Handelns unterscheiden. Diese Unterscheidungen werden gewonnen, indem die in der Güterlehre entfaltete Ausdifferenzierung der sittlichen Sphäre auf die alle Lebensvollzüge des Christen umfassende Selbstdarstellung des christlichen Glaubens in Wort und Werk bezogen wird339. Im Rahmen dieser Bezugnahme füllt das darstellende 539 Analog ist das Schema der Güterlehre natürlich auf alles wirksame Handeln der Christen zu beziehen, das sich ja ebenfalls an allen Lebensvollzügen der Person entzünden kann.

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Handeln im engeren Sinne die Funktionsposition des individuellen Symbolisierens aus340. Daß erst mit dem darstellenden Handeln im engeren Sinne in der Christlichen Sittenlehre der Sache nach die Thematik des individuellen Symbolisierens aufgegriffen ist, wie sie in der Philosophischen Ethik zur Entfaltung des Kirchenbegriffes dient, wird auch dadurch nahegelegt, daß Schleiermacher gerade im Zusammenhang des darstellenden Handelns im engeren Sinne „den Umfang der Gemeinschaft des darstellenden Handelns"341, den Begriff der christlichen Gemeinde342, bestimmt: Eine christliche Gemeinde besteht „aus denen, die habituell zur religiösen Darstellung [verstehe: zum gemeinsamen Kultus; R. S.] zusammenkommen"343. Schleiermacher beansprucht zwar schon zu Beginn seiner Einlassungen zum christlich-darstellenden Handeln überhaupt, daß hier der Ort sei, „die Nothwendigkeit einer Anstalt, wie die Kirche ist"344, einzusehen; faktisch entfaltet Schleiermacher aber erst in den Überlegungen zum darstellenden Handeln im engeren Sinne/zum Gottesdienst im engeren Sinne345 die Ausdifferenzierung der Kirche als eines Teils des öffentlichen Lebens: nämlich als Kultusgemeinde346 . Hier in der Gemeinschaft des darstellenden Handelns im engeren Sinne - als Gemeinschaft des individuellen Symbolisierens - wird der Glaube identifizierbar als Element der sittlichen Welt347. Und indem hier der Glaube sich selbst thematisiert, werden auch hier die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Praxis des Glaubens in den übrigen Gebieten der sittlichen Sphäre als Darstellung christlicher Gesinnung zu identifizieren. Daß christliches Leben mehr ist als der privatistische Vollzug des Kultus, wird nur klar, weil und insofern es eben auch dieses ist: Kultus348. Dem entspricht auch der Befund in Schleiermachers „Kurzer Darstellung". Das christliche Prinzip wird dort durchgängig beschrieben als eines, das allen verschiedenen Gebieten des Handelns ein gemeinsames Gepräge gibt. Explizit 340 Wobei ihm funktional auch ein wirksames individuelles Symbolisieren zugeordnet sein muß: nämlich ein das individuelle Symbolisieren des christlichen Glaubens von allen hierzu ungeeigneten Elementen reinigendes und/oder auf bisher nur oberflächlich oder gar nicht symbolisierte Aspekte des christlichen Glaubenslebens verbreitendes individuelles Symbolisieren. 341 CS, 566. 342 Ebd. 343 Ebd. ; vgl. CS, Beil.B, 154f. [§28]. 344 CS, 516. 345 CS, 537ff. 346 CS, 566ff.571ff. 347 CS, 415 [1826/27]: „Wenn wir die Verbindung der Christen in ihrer ganzen Erscheinung betrachten: so ist das wesentlichste darin, dasjenige, woran wir sie am meisten ergreifen können, offenbar der öffentliche Gottesdienst". CS, 513: „Das darstellende Handeln ist das In die Erscheinung treten der Gemeinschaft selbst, also auch dasjenige, wodurch die Gemeinschaft erst ein Object des Bewußtseins werden kann". 348 Vgl. Wilhelm Grab, Predigt als Mitteilung des Glaubens, 206f.

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thematisiert wird dieses identitätsstiftende Zentrum des „kirchlichen" Lebens im Kultus349. Der Kultus ist somit diejenige Institution des kirchlichen Lebens, wodurch dieses als eine eigenständige Größe in der sittlichen Welt erkennbar wird. Nur durch ihn wird das christliche Leben im Alltag als christliches identifizierbar und als so identifiziertes auf die Gemäßheit mit seinem Ursprung und Wesen hin befragbar. Gerade weil das kirchliche Leben sich nicht im Kultus erschöpft, sondern das christliche Prinzip alle Handlungsvollzüge prägend gestaltet, dient der Kultus der verantwortlichen Praxis des Glaubens in der Welt. Denn er legt öffentlich Rechenschaft ab über dasjenige, was den Christen auch in Politik, Wissenschaft und Geselligkeit orientiert - nämlich die je gegenwärtige Erschlossenheit der in Kanon und Bekenntnis fixierten Tradition der Offenbarung des dreieinigen Gottes im Lebenszeugnis Jesu350. So entspricht das kirchliche Leben gerade durch den Kultus den Erfordernissen einer multikulturellen Gesellschaft: nämlich der Profilierung seiner selbst als eines eigentümlichen Lebensstils im Neben- und Miteinander der verschiedenen Lebensstile. Und es ergibt sich für die Theorie des darstellenden Handelns im engeren Sinne - des Kultus - eben dasselbe, was auch die apologetische Güterlehre in ihrer Theorie des individuellen Symbolisierens von der Kirche zu sagen wußte. Wenn Schleiermacher somit die Identifizierbarkeit der Kirche als einer eigenständigen Größe der sittlichen Welt an ihr darstellendes Handeln im engeren Sinne, an das individuelle Symbolisieren im Kultus bindet, so muß gleichwohl doch ernstgenommen werden, daß nach Schleiermacher das darstellende Handeln überhaupt, nicht nur das Darstellen im engeren Sinne, Gemeinschaft hier: christliche Kirche - stiftet. Auch an der Selbstdarstellung der Christen in Wissenschaft, Politik und Geselligkeit vermag sich eine Gemeinschaft der Frömmigkeit zu entzünden, die allerdings zu ihrem vollen Selbstbewußtsein dann erst im Kultus gelangt. Das darstellende Handeln überhaupt ist der Kontext, in welchem eine religiöse Herzensgemeinschaft offenbar wird, Kirche im verborgenen entsteht und besteht. Das darstellende Handeln im engeren Sinne, das individuelle Symbolisieren, der Kultus, ist der Kontext, in welchem diese religiöse Herzensgemeinschaft ausdrücklich, somit zu einer soziologischen Größe und auf Dauer gestellt wird. Halten wir fest: Das Verhältnis zwischen darstellendem Handeln und individuellem Symbolisieren ist keines der Identität. Vielmehr steht die Theorie des darstellenden Handelns - und die des diesem funktional zugeordneten wirksa349 KD2 §168; vgl. KD2 §269.279; ThES, 159f. 350 Es ist nicht ausgeschlossen, daß die öffentliche Rechenschaft über die das Leben einer Religionsgemeinschaft prägende Gewißheit auch in Form von literarischen Veröffentlichungen vollzogen werden kann - also ein literarischer Kultus institutionalisiert wird. Diese Möglichkeit scheidet aber für das Christentum als Zentrum religiöser Mitteilung insofern aus, als es sich begründet weiß in der „viva vox evangelii", dem lebendigen Wort der Evangeliumsverkündigung.

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men Handelns - quer zu den Distinktionen der Güterlehre. Es gibt ein darstellendes Handeln - und ein wirksames - in allen Teilbereichen der sittlichen Sphäre. Dasjenige darstellende Handeln, das in den Teilbereich des individuellen Symbolisierens fallt, bezeichnet Schleiermacher in der Christlichen Sittenlehre als darstellendes Handeln im engeren Sinne bzw. Gottesdienst im engeren Sinne: als Kultus.

5.3.2 Der Gottesdienst als pflichtgemäßes kultisches Handeln Schleiermachers ethische Konzeption hat unter anderem ihre Eigentümlichkeit darin, daß in ihr jenseits des Gebietes der Pflicht keine sittlichen Handlungen gedacht werden können. Nur das pflichtgemäße Handeln ist sittlich15'. Der von Schleiermacher beabsichtigte Effekt für die Ethik - und damit auch für die Orientierung in der sittlichen Praxis des Alltags - ist dabei der, daß auch jene Bereiche des menschlichen Handelns, die üblicherweise dem sittlich indifferenten Bereich des Erlaubten zugerechnet werden352, als konstitutive Elemente der sittlichen Welt begriffen werden können353. Durch die Integration des sogenannten Erlaubten in die Sphäre der Pflicht werden alle Versuche, den Bereich menschlicher Intimität und Privatheit eventuell zugunsten der angeblich „höheren" Interessen der Allgemeinheit - etwa des Staates oder „der" Menschheit - oder angeblich unabweisbaren Sachzwängen - etwa der Ökonomie - aufzuopfern, als pflichtwidrig erkennbar354. Vor diesem Hintergrund ist klar, daß auch der Gottesdienst als kultisches Handeln nicht sittlich indifferent sein kann. Es ist weder ein beliebiger Handlungsvollzug, sondern immer entweder geboten oder verboten; noch entzieht

351 Vgl. hierzu die einschlägigen Akademieabhandlungen: Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs, in: SW III.2, 379ff. Ueber den Begriff des Erlaubten, in: SW III.2, 418ff. H. Peiter sieht in Schleiermachers Kritik an dem ethischen Begriff des Erlaubten „Luthers Kritik an den 'Opera...nee bona nee mala, sed media seu naturalia' (WA 39/1, 85, 9f.) wieder aufgenommen" (H. Peiter, Antinomismus, 1024). 352 In diese Sphäre fallen dann etwa so intime menschliche Lebensbereiche wie die Kunst, die Freundschaft, die Ehe, etc. Vgl. KdS, 270ff. 353 PhE, 482 [Zusatz 1827]. „Muß das Individuelle erlaubt sein, so ist es auch geboten". Vgl. PhE, 480f. 354 Die Schleiermachersche Zuordnung der Sphäre menschlicher Privatheit und Intimität in den Bereich der Pflicht ist also alles andere als eine rigoristische Aufhebung von Individualität zugunsten eines Fetischismus sittlicher Uniformität. Ganz im Gegenteil konterkarieren alle auf den ersten Blick „liberalen" und „individualistischen" Konzeptionen der Sittlichkeit ihr ureigenes Interesse, wenn sie jene Sphäre aus dem Gegenstandsbereich allgemeiner sittlicher Urteilsbildung und Kritik herausnehmen. Damit wird dieser Bereich der vermeintlich verdinglichenden Diskursivität entzogen, nur um ihn faktisch dem puren Machtkampf zu überlassen.

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er sich aufgrund seines intimen Gehaltes der sittlichen Beurteilung, sondern sein Vollzug erfolgt immer entweder pflichtgemäß oder aber pflichtwidrig355. Welche Kriterien werden nun von Schleiermacher in der Philosophischen Ethik bereitgestellt, um über Gebotensein oder Verbotensein, Pflichtgemäßheit oder Pflichtwidrigkeit einer Handlung zu entscheiden? Wir hatten bereits daraufhingewiesen, daß die Pflichtenlehre die systematische Entfaltung jener Handlungsweisen zur Aufgabe hat, in welchen sich die Richtung auf das Höchste Gut - die sittliche Gesamtaufgabe - realisiert. Damit ist der Pflichtenlehre in Form der Theorie des Höchsten Gutes immer schon vorgegeben, welche Handlungsziele pflichtgemäß und welche pflichtwidrig sind. Es kann folglich hier nicht mehr darum gehen, etwa das darstellende Handeln grundsätzlich als pflichtgemäß beweisen zu müssen. Die Theorie des pflichtgemäßen kultischen - religiös darstellenden - Handelns hat vielmehr den sachgemäßen - und deshalb pflichtgemäßen - Vollzug des darstellenden Handelns zum Thema, wie er zwischen seligem Handlungsimpuls und beendeter künstlerischer Darstellung - als Teil des Höchsten Gutes - zum Problem wird. Rekapitulieren wir kurz: Die Ausrichtung einer Person auf die ihr gewisse sittliche Gesamtaufgabe ihr Lebensziel - ist die „Gesinnung". Die Kräftigkeit der Person, diesem Lebensziel auch wirklich und tätig entgegenzutreten, ist ihre „Tugend"356. Das Vermögen, zwischen Tugend und Laster - und somit zwischen pflichtgemäßem und pflichtwidrigem Handelns - zu unterscheiden, ist das „Gewissen"357. Die stete Kräftigkeit - Tugend - der Person in der Realisation des durch die Gesinnung ausgerichteten sittlichen Willens hatten wir bereits oben als ihre „Seligkeit" markiert. Aue diese Begriffe verbleiben aber zunächst auf der Stufe des bloß Formalen. Sie geben das Beziehungsgefüge an, das zwischen einigen Aspekten der Sittlichkeit besteht. Mehr als die Formulierung der allgemeinen Gesetze des Handelns - gleichgültig welche Ausrichtung das Handeln auch haben möge hat die Philosophische Ethik in Schleiermachers Konzeption allerdings auch gar nicht zu leisten, sodaß es berechtigt ist, sie als Metaethik zu klassifizieren. Die Vernunft, die in dieser Metaethik als das die Gesinnung ausrichtende und die Kräftigkeit der Tugend begründende Agens erscheint, ist nur eine gänzlich formale Größe. Allerdings ist von dieser formalen Größe zumindest soviel 355 Allerdings kommt - hier wie sonst - als Subjekt dieser ethischen Beurteilung in den meisten Fällen nur der einzelne Akteur selbst in Betracht, da nur er in ausreichendem Maße der Tugend- oder Lasterhaftigkeit seines Handlungsmotivs sowie der Gemäßheit oder Ungemäßheit seines Handelns mit seiner Handlungsintention inne ist. Vgl. SW III.2, 388f.444; CS,59.65 [1826/27], 111.134.143.146.150.194.208.249.278.362.363. 364.381.419.422.496.499.635f.667f. [1826/27]. 356 „Gesinnung ist nichts als die Richtung des Willens, Tugend dagegen ist ein gewisses Quantum in der Realisation des Willens; wo also Gesinnung stark ist, da kann Tugend noch schwach sein" (CS, 308). 357 CS, 222.430. - Vgl. Emanuel Hirsch, Geschichte Bd.IV, 547ff.

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gewiß, daß zu ihrer materialen Ausfüllung nur inhaltlich bestimmte Orientierungsinstanzen m Frage kommen können358. Und es ist ebenfalls noch eine metaethisch formulierbare Einsicht, daß die Begegnungsgestalt dieser produktiven Orientierungskistanz und der Ort ihrer Aneignung die Tradition geschichtlicher Selbsterfahrung ist. Konkrete Orientierung in der sittlichen Praxis des Alltags gibt es nur im Kontext geschichtlicher Tradition und ihrer Kritik. Gewißheit über Verfassung und Ziel der conditio humana gibt es somit nur als tradierte Gewißheit - oder eben tradierte Ungewißheit im Falle des Traditionsabbruches. Daher kann die geschichtliche Selbstthematisierung dieser Gewißheit auch in ihrer wissenschaftlichen Form niemals mehr beanspruchen, als eben die begriffliche Fixierung einer bestmimten Tradition zu sein359 - und zwar einer im strikten Sinne religiösen Tradition, da es die Frömmigkeit ist, in welcher die menschliche Handlungssituation der Person umfassend erschlossen ist360. Dabei kommt als tradierende Instanz für Schleiermacher nur eine Gemeinschaft in Frage: Kirche361. 358 Durch die Bestimmung der Vernunft als derjenigen Größe, welche alle sittlichen Handlungen produktiv aus sich heraussetzt - die also als ein „Aus-sein" auf ein material bestimmtes Ziel gedacht ist -, unterscheidet Schleiermacher seine eigene ethische Konzeption von all jenen „negativen" ethischen Systemen, in denen die Vernunft eine limitierende, quasi schutzpolizeiliche Funktion ausübt; vgl. SW III.2, 443. - Vgl. Eilert Herms, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, 222f. 359 Der vollständige Titel von Schleiermachers Glaubenslehre trägt dem Rechnung, ebenso wie der vollständige Titel, den der Herausgeber Schleiermachers Christlicher Sittenlehre gab. Im Blick auf diesen Sachverhalt legt sich erneut unsere Interpretation nahe, Schleiermachers Philosophische Ethik als Metaethik anzusehen und Schleiermachers eigentliche Ethik in seiner Dogmatik - dem Gesamt von Glaubens- und Sittenlehre - zu suchen, da nur in dieser die systematische Darstellung einer konkreten und geschichtsmächtigen Gestalt menschlich-endlicher Vernünftigkeit gegeben wird. H. Falcke, Theologie, 17, sieht Schleiermachers konkrete Ethik in dessen Christologie und Sotenologie fundiert und formuliert: „Aber nicht der Begriff der Frömmigkeit, wie er in Dialektik und Ethik entwickelt wird, sondern nur die Frömmigkeit in ihrer wirklichen geschichtlichen Erscheinung kann den Gewißheitsgrund für den in der Ethik konzipierten Prozeß abgeben. Die philosophische Ethik verweist hier also sachlich auf die Glaubenslehre und die christliche Sittenlehre". 360 Vgl. GL2 §§3-5. 361 Vgl. CS, Beil. A, 74 [§203], wo sich Schleiermacher mit der Verbreitung von Gesinnung als der entscheidenden Orientierungsinstanz menschlich-sittlichen Handelns beschäftigt und dazu ausführt: „Alles verbreitende Handeln ist Handeln der Kirche. Weil nämlich keines anders als gemeinschaftlich denkbar ist. Wenn also ein einzelner auf den anderen [gesinnungs]bildend wirkt, thut er es immer als Organ der Kirche, sei es nun unmittelbar, oder in der Familie, oder in einem frei gebildeten Kreise. Dasselbe gilt auch von dem, was wir als das [gesinnungs]bildende Handeln des Menschen auf sich selbst denken. Denn das wirksame in jedem wirklichen Handeln ist nicht das höhere Princip als solches allein, sondern schon als Eins geworden mit der Natur, indem es nur durch Organe wirken kann. Alles so gewordene ist aber gemeinschaftlich geworden und gehört der Kirche an. Der Mensch wirkt als in der Kirche seiend und als Organ derselben auf sich selbst als außer der Kirche seiend. Denkt man sich also jemals die Bildung der Gesinnung vollendet: so ist alles als Gesinnung gebildete Kir-

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Ein weiteres Indiz für die These, daß nach Schleiermacher die Sittlichkeit der Person in ihrer Frömmigkeit begründet sei, findet sich in einer Bemerkung Schleiermachers, daß die ursprüngliche, das Leben als sittliches konstituierende Ausrichtung auf die „ganze ungetheilte sittliche Aufgabe" den Charakter einer „Bekehrung" habe362 - wobei dieser Ausdruck doch wohl nicht nur um seiner Anschaulichkeit willen gewählt wurde, sondern auch hu vollen Bewußtsein seiner religiösen Konnotation363. Bevor wir versuchen, den Gottesdienst als kultisches Handeln im Horizont des im christlichen Sinne Pflichtgemäßen und Pflichtwidrigen zu behandeln, wollen wir uns der metaethischen Rahmentheorie des pflichtgemäßen und pflichtwidrigen Handelns zuwenden. Im pflichtgemäßen Handeln realisiert die Tugend das in der Ausrichtung der Gesinnung angestrebte Höchste Gut, die sittliche Gesamtaufgabe364: , Jener Ausdrukk, Handle in jedem Augenblikk mit der ganzen zusammengefaßten sittlichen Kraft und die ganze ungetheilte sittliche Aufgabe anstrebend, stellt den einen das ganze sittliche Leben bedingenden Entschluß dar, unter welchem alle einzelne pflichtgemäße Handlungen schon so begriffen sind, daß kein neuer Entschluß gefaßt zu werden braucht, wenn immer das rechte geschehen soll, daß aber durch jede pflichtwidrige Handhing dieses gewiß gebrochen wird"365. Die Realisation des Höchsten Gutes - die sittliche Gesamtaufgabe - ist aber Aufgabe der ganzen Menschheit und nicht von einer einzelnen Person zu leisten366. Es entsteht somit die Aufforderung „einer gegenseitigen Verständigung über die Theilung der Aufgabe und das Zusammenwirken zu ihrer Lösung"367. Insofern die Pflichtenlehre den systematischen Zusammenhang der Handlungsvollzüge beschreibt, wie er vom sittlich tugendhaften Bewußtsein ausgehend sich auf die Verwirklichung des Höchsten Gutes richtet, ist die Pflichtenlehre von allen ethischen Disziplinen der Geschichte am nächsten368, wenn anders Geschichte das konkrete Handeln der Menschen ist.

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ehe". Auch hier darf man den Ausdruck„Kirche" als Klassenbegriff nehmen, dem alle Institutionen der Gesinnungsbildung zugehören. PhE, 406 [Zusatz 1827]. Umgekehrt wird in der Glaubenslehre der Ausdruck „Bekehrung" ausdrücklich in seiner ethischen Bedeutung herangezogen „als veränderte Lebensform" (GL2 §107) in der Folge einer gänzlich neuen Ausrichtung sittlichen Wollens: GL2 §§107-108, H.lSOff. Vgl. PhE, 459f. SW III.2, 383. SW III.2, 389. Ebd. Die darin implizierte allgemeine Pflichtformel lautet: , Jeder einzelne bewirke jedesmal mit seiner ganzen sittlichen Kraft das möglich größte zur Lösung der sittlichen Gesammtaufgabe in der Gemeinschaft mit allen" (SW III.2, 391). Vgl. PhE, 554 [§119]: „In der Lehre vom höchsten Gut ist die Sittenlehre am meisten der Weltweisheit zugewendet, in der Tugendlehre am meisten der Naturwissenschaft, in der Pflichtenlehre am meisten der Geschichte". A.a.O., 555: „Die Pflichtenlehre drückt die Handlungsweisen im Verhältniß des Einzelnen zum Ganzen aus; ihr Ge-

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Die Mitwirkung des Einzelnen an der Lösung der sittlichen Gesamtaufgabe kann nun entweder einen mehr universellen369 oder aber einen mehr individuellen370 Charakter besitzen371. Die „Bekehrung" des Einzelnen, seine Ausrichtung auf ein alle seine Lebensvollzüge orientierendes Ziel, schließt in sich die „Aneignung" der Aufgabe, der Realisierung dieses Zieles tatkräftig entgegenzustreben. Da nun das ihm erschlossene Ziel seiner Existenz im Höchsten Gut eine überindividuelle Ausdeutung erfahrt, ist die sittliche Tätigkeit auch immer eine Gemeinschaft stiftende Aktivität372. Die Kreuzung dieser Momente in ihrer ethisch positiv qualifizierten Ausfüllung ergibt die vier möglichen Charaktere des pflichtgemäßen Handelns373:

Universell

Individuell

Aufgabe aneignen

Beruf

Gewissen

Gemeinschaft stiften

Recht

Liebe

Die hier ausdifferenzierten Aspekte eines jeden Handlungsvollzuges müssen sämtlich in einem Handeln in ethisch positiv qualifizierter Weise ausgefüllt sein, soll dieses als pflichtgemäß gelten können. Das heißt: Pflichtgemäß ist ein

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genstand ist also das am meisten Einzelne, und die beschauliche Betrachtung könnte nicht tiefer hinabsteigen; daher ist sie am meisten der Geschichte zugewendet". Der die letzte Bearbeitung der Pflichtenlehre einleitende Paragraph ist von Schleiermacher explizit deren Abgrenzung von der Geschichte gewidmet worden; PhE, 459. Vgl. auch: PhE, 510. „Ein in allen gleichzusezendes Handeln" (SW III.2, 392). „Ein für jeden eigenthümliches von allen aber anzuerkennendes Handeln" (SW III.2, 393). Diese Alternative ist uns bereits aus der Güterlehre vertraut. Die entsprechenden Pflichtformeln lauten: „Handle jedesmal gemäß deiner Identität mit ändern nur so, daß du zugleich auf die dir angemessene eigenthümliche Weise handelst" (SW III.2, 393). „Handle nie als ein von den ändern unterschiedener, ohne daß deine Uebereinstimmung mit ihnen in demselben Handeln mitgesezt sei" (SW III.2, 393). SW III.2, 394 ,,Der ursprüngliche sittliche Wille des einzelnen für sich betrachtet schließt in sich die Aneignung der ganzen sittlichen Aufgabe. Indem aber der einzelne die Gesammtheit der handelnden Subjecte, mit denen er sich in Verbindung findet, anerkennt: so stiftet er mit ihnen die Gemeinschaft. Dieses beides nun. Aneignen und Gemeinschaftstiften, ist in der ursprünglichen Pflichtformel als Eines gesezt". Die entsprechenden Pflichtformeln lauten: „Eigne nie anders an, als indem du zugleich in Gemeinschaft trittst" (SW III.2, 394). „Tritt immer in Gemeinschaft, indem du dir auch aneignest" (ebd.). Vgl. SW III.2, 395; PhE, 412. Pflichtwidriges Handeln füllt die verschiedenen Momente in ethisch negativer Weise aus: ohne Beruf, gewissenlos, unrechtlich, lieblos.

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Handeln immer nur dann, wenn es sich der Lösung eines bestimmten Teiles der sittlichen Gesamtaufgabe widmet. Der für diesen Aspekt des pflichtgemäßen Handelns gewählte Ausdruck „Beruf deutet an, daß die Aufforderung zu einem bestmimten pflichtgemäßen Handeln von außen erfolgt374. Man wird zu einer bestimmten Aufgabe „berufen" in dem Sinne, daß man entweder aufgrund seiner einschlägigen Erfahrungen oder Fertigkeiten von der Öffentlichkeit an eine bestimmte Funktionsposition delegiert wird375 oder aber aufgrund einer bestimmten natürlichen oder sozialen Gegebenheit vor eine in dieser enthaltene Aufgabe gestellt wird. Der Beruf wird nur dann pflichtgemäß - das heißt: sittlich und nicht bloß mechanisch - ausgeübt, wenn man ihn gewissenhaft ausübt. Gewissenhaft ist ein Handeln, wenn in ihm die handelnde Person die sittliche Aufgabe wirklich zu ihrer eigenen macht, besser: als ihre eigene erkennt und anerkennt: Die Aufgabe entspricht einer inneren Neigung376. Das gewissenhafte Handeln im Beruf ist nur dann ein pflichtgemäßes, wenn es Gemeinschaft stiftet. Das heißt: Wer in seinem Beruf einen bestimmten Teil der sittlichen Gesamtaufgabe gewissenhaft bearbeitet, muß an dieser Tätigkeit alle anderen Mitglieder der Gemeinschaft im Rahmen des Rechts Anteil haben lassen377. Das gewissenhafte Handeln im Beruf in der Gemeinschaft Gleichberechtigter ist nur dann ein pflichtgemäßes - das heißt: sittliche und nicht anonyme Gemeinschaft stiftend -, wenn die Gemeinschaft, in welcher es sich vollzieht, immer mehr den Charakter der gegenseitigen Vertrautheit mit der Individualität aller anderen gewinnt: Es soll eine Gemeinschaft der Liebe sein378. Wie verhalten sich nun diese formalen Bestimmungen des pflichtgemäßen Handelns zu den - ebenfalls noch formalen - Bestimmungen der verschiedenen Teilbereiche der sittlichen Aufgabe, die in der Güterlehre entfaltet wurden, besonders zu jenem dem religiös kultischen Handeln gewidmeten Teil des individuellen Symbolisierens?

374 Vgl. GL2§111.4,11.197; §112.4, II.203f. 375 Vgl. H. Falcke, Theologie, 21. 376 PhE, 48Iff. Gewissenlos ist ein Handeln immer dann, wenn es vom Einzelnen vollzogen wird, ohne daß dieser sich der Zugehörigkeit dieses Handelns zur sittlichen Gesamtaufgabe gewiß ist. - Es ist leicht zu sehen, daß auch diese Bestimmung noch gänzlich formal ist, da sie abhängt von der materialen Bestimmtheit der sittlichen Gesamtaufgabe. - Zur Kritik von Schleiermachers Umformung der Gewissensproblematik vgl. Emanuel Hirsch, Geschichte Bd. IV, 541'ff. 377 So ist es etwa pflichtwidrig, wenn die in einer Gemeinschaft erreichten Leistungen auf dem Feld der politischen Verwaltung des Gemeinwesens oder der medizinischen Versorgung nicht allen gleichberechtigt offenstehen, vgl. PhE, 465ff.483. 378 Die entsprechende Pflichtformel „Knüpfe individuelle Gemeinschaft an, geht aus der allgemeinen hervor unter Voraussezung der Offenbarungsfähigkeit" (PhE, 484). Vgl. auch SW III.2, 395f: „Gehe keine Gemeinschaft der Liebe ein, als nur indem du dir das Gebiet des Gewissens frei behältst und in Zusammenstimmung mit deinem Beruf.

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Ein naheliegendes Mißverständnis wäre es, wollte man das Schema der Pflichtenlehre mit dem Schema der Güterlehre identifizieren379. Diese Möglichkeit scheidet aber deswegen aus, weil Schleiermacher die Aspekte des pflichtgemäßen Handelns so bestimmt, daß sie „indifferent" sind zu den verschiedenen Bereichen der Güterlehre180. In den verschiedenen Teilbereichen des Höchsten Gutes realisiert sich nicht jeweils nur ein bestimmter Aspekt des pflichtgemäßen Handelns, sondern immer dieses in seiner ganzen Vollkommenheit381. Damit ist klar, daß das religiös kultische Handeln nicht bereits dann pflichtgemäß vollzogen wird, wenn es ein Handeln in/aus „Liebe" ist. Vielmehr muß es als dieses Handeln in/aus Liebe zugleich ein Handeln sein, zu dem man konkret aufgefordert ist - es muß „Beruf' sein -; es muß ein Handeln sein, zu dem man sich selbst veranlaßt fühlt - es muß im „Gewissen" angestrebt sein -; und es muß ein Handeln sein, dessen Vollzugsgestalt die Anteilnahme aller Mitglieder der Gemeinschaft zuläßt - es muß das „Recht" aller anerkennen und befördern, diesem Handeln beizutreten382. Pflichtwidrig dagegen ist das religiös kultische Handeln, wenn es ohne Veranlassung geschieht und dadurch die - an seiner Stelle gebotene - Bearbeitung eines anderen Teilbereiches der sittlichen Aufgabe unterbleibt383. Pflichtwidrig ist dieses Handeln auch, wenn es ohne innere Neigung vollzogen wird384. Das ist der Sinn der traditionellen Lehre, daß der unwürdige Genuß des Abendmahls dem Genießenden zum Gericht gereiche385. Ohne innere Anteilnahme ist nämlich keine wirksame Vergegenwärtigung des Lebenszeugnisses Jesu möglich386. Pflichtwidrig ist es ebenfalls, das religiöse Darstellen so einzurichten, daß berechtigt Interessierte davon ausgeschlossen sind387. Und schließlich ist es pflichtwidrig, im religiösen Darstellen nur allgemeine Formeln zu verwenden, hinter denen das individuelle religiöse Empfinden des Darstellenden verborgen bleibt388. 379 Etwa so. daß die Sphäre des Rechts, wie sie in der Güterlehre thematisch ist, dem gleichnamigen Aspekt des pflichtgemäßen Handelns zugeordnet würde; die Sphäre der Frömmigkeit derjenigen des pflichtgemäßen Handelns in/aus Liebe; usw. 380 Vgl. in diesem Sinne etwa einschlägige Aussagen zur Rechtspflicht. PhE, 467 468f. zur Berufspflicht: 475f; zur Gewissenspflicht: 482f. 381 Vgl. SW III.2, 380. 382 Entsprechend diesen formalen Einlassungen ließe sich auch das pflichtgemäße Handeln in den anderen Teilbereichen der sittlichen Welt formulieren. 383 Ein brennendes Haus ist zu löschen - auch am Sonntagvormittag. 384 Religiöse Darstellung ohne inneren Trieb ist Heuchelei (vgl. CS, 559) - das gilt unbeschadet der Tatsache, daß das Fehlen dieser Neigung natürlich ein Zeichen der Sünde ist. 385 Vgl. GL2 §142. 386 GL2 §142.1,11.361. 387 Sei es durch Exklusivität welcher Art auch immer. 388 Selbst bei aufrichtiger Überzeugung, daß in jenen Formeln das eigene Empfinden enthalten sei, muß auf diese Weise das Ziel des individuellen Symbolisierens - die Selbstoffenbarung von Individualität - notwendig verfehlt werden. Pflichtwidrig sind

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Sehen wir nun auf denjenigen Teilbereich der sittlichen Gesamtaufgabe, der im religiös kultischen Handeln „angeeignet" wird - die Selbstthematisierung von Frömmigkeit -, und auf die Eigenart dieses Handelns, religiöse Gemeinschaft zu stiften, so stimmen diese beiden Funktionen des religiös kultischen Handelns überein mit den nach Schleiermacher die Entwicklung des Christentums als geschichtlichem Phänomen prägenden Funktionen: „Die Bildung der Lehre, oder das sich zur Klarheit bringende fromme Selbstbewußtsein, und die Gestaltung des gemeinsamen Lebens, oder der sich in jedem durch alle und in allen durch jeden befriedigende Gemeinschaftstrieb sind die beiden sich am leichtesten sondernden Funktionen in der Entwicklung des Christentums"389. Als identische Handlungsvollzüge der Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft in diesen beiden Funktionen hatten wir bereits weiter oben Kanon/Sakrament bzw. Konfession/Ritus notiert. Wie wir nun wissen, ist aber dieses Handeln nur pflichtgemäß, wenn es zugleich individuelle Züge aufweist. Die Gehalte des Kanons bzw. der Konfession müssen also in je eigentümlicher Weise angeeignet sein und das Sakrament bzw. der Ritus390 je individuell verwaltet werden391. Im gemeinsamen öffentlichen Kultus geschieht dies in geordneter Weise, indem die hauptsächliche Spontaneität im Einverständnis aller dazu Urteilsberechtigten einer dazu besonders intellektuell-handwerklich - nicht geistlich! qualifizierten Person übertragen wird. Diese funktionale Ausdifferenzierung von Klerus und Laien ist für den geordneten öffentlichen Kultus konstitutiv392. Das pflichtgemäße Handeln des Klerus im Kultus vollzieht sich in der Oszillation zwischen den beiden Aspekten, die wir eben aufzeigten: der Selbstthematisierung christlicher Frömmigkeit und der Stiftung religiöser Gemeinschaft393. In seiner Praktischen Theologie bezeichnet Schleiermacher das

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somit auch alle Formen falschverstandener Kondeszendens; vgl. PrTh, 212f. - Diese Einlassungen zur Pflichtwidrigkeit des religiös kultischen Handelns des Einzelnen bilden die Grundlage der entsprechenden Polemik. KD2 §166. Schleiermachers „Leben Jesu" teilt entsprechend auch die „innere Seite" des öffentlichen Lebens Jesu in a) „Selbstmittheilung unter der Form der Lehrthätigkeit" (LJ, 244ff.) und b) „Selbstmittheilung Christi in der gemeinschaftstiftenden Thätigkeit" (LJ, 362ff). Das gilt übrigens auch für den Ritus im oben entfalteten weiten Sinne als „rites" pflichtgemäßes - Handeln, da dieses ja ebenfalls nicht die äußerliche Anpassung an die Gepflogenheiten einer Gemeinschaft meint, sondern die sittliche Realisation von Individualität im sozialen Kontext fordert. Vgl. zum Verhältnis des Individuellen und Universellen im kultischen Handeln vor allem den Abschnitt „Das darstellende Handeln als universelles und individuelles", in: CS,Beil.A,52ff[§§153ffJ. Vgl. PrTh, 135.139f.734.751. Vgl. PrTh, 212: „Der Cultus muß eine Beziehung auf den Typus der christlichen Frömmigkeit haben, der sich an bestimmte Punkte der Erlösung anschließt. Die zweite Aufgabe aber ist das Verhältniß des Cultus zum geschichlichen Leben der Gemeine".

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pflichtgemäße Handeln, das beide Aspekte berücksichtigt und beide als miteinander vermittelt zum Ausdruck bringt, als das „dialogische" Verfahren394. Ergeht die Aufforderung395 zur religiösen Besinnung, so richtet sich diese stets auf die Klärung und Mitteilung des frommen Selbstbewußtseins in seiner jeweiligen Bestimmtheit. Im Falle des christlich-frommen Selbstbewußtseins gründet diese Bestimmtheit in der Begegnung mit dem Lebenszeugnis Jesu, wie es im Kanon vorliegt, und der Gewißheit, in ihm des Erlösers ansichtig geworden zu sein, dessen heilsgeschichtliche Bedeutung im jeweiligen Bekenntnis der frommen Gemeinschaft seine traditionsstiftende Auslegung „Klärung" - erfahren hat. Die Aneignung dieser Größen ist daher Pflicht, weshalb es kein pflichtgemäßes kultisches Handeln geben kann, das sich nicht zumindest implizit - im Horizont von Schrift und Konfession bewegt396. Fiele dieser Aspekt weg, so würde das kultische Handeln seine eigene Aufgabe verfehlen, nämlich die Klärung und Mitteilung des christlich-fromm bestimmten Selbstbewußtseins. Pflichtgemäß ist die Aneignung der Aufgabe, die in Kanon und Bekenntnis ihre klassische Bearbeitung erfahrt, aber nur, wenn sie aus Neigung und mit individueller Anteilnahme erfolgt397. Es ist folglich nicht ausreichend, auf das Lebenszeugnis Jesu und seine heilsgeschichtliche Bedeutung nur so zu rekurrieren, daß dessen Status als Erlöser überhaupt eine Klärung erfahrt, sondern geklärt werden muß seine Bedeutung als je mein Erlöser398. Die fromme Gemeinschaft, die pflichtgemäß zu stiften ist, bezieht sich in diesem Fall zunächst auf die Gemeinschaft des sich religiös Besinnenden mit sich selbst399. Der Moment, in welchem sich der religiös Besinnende findet, 394 PrTh, 248.304. Vgl. PrTh, 277f, wo es im Blick auf die „Composition" der religiösen Rede heißt: „Im ganzen Proceß der Composition von Anfang an muß das begleitende Gefühl sein daß der Geistliche in der Gemeinschaftlichkeit des religiösen Lebens versirt und daß er in einer schriftmäßigen Composition ist. Wenn dies Bewußtsein lebendig ist, muß auch die Gedankenerzeugung ihren richtigen Gang gehen; sobald eins von beiden fehlt, muß eine Unsicherheit entstehen. Entsteht ein Bedenken über die Schriftmäßigkeit der Composition: so ist es ein Zweifel an der Wahrheit derselben und muß den Proceß hemmen; ist ein Bedenken darüber, daß das concipirte nicht im gemeinschaftlichen religiösen Gebiet liegt, so ist es ein Zweifel an der Fruchtbarkeit und Nüzlichkeit der Composition. Tritt dieses beides nicht ein, so muß jede Conception ihren glükklichen Fortgang haben". 395 Vgl. etwa: CS, 516f. 396 Vgl. CS, Beil.A, 56f [§§164.167]. CS, Beil.A, 57 [§169], sieht in dem notwendigen Bezogensein allen kultischen Handelns auf einen kanonischen „Cyklus" eine allgemeine - nicht nur für das Christentum gültige - Wahrheit. 397 Vgl. CS, Beil.A, 54ff [§161ff]. 398 Auch hier wäre die Aufgabe des kultischen Handelns in jedem anderen Falle verfehlt. Es muß notwendig geklärt werden, was es bedeutet, daß mir im christlich-frommen Selbstbewußtsein Jesus als mein Erlöser präsent ist. Vgl. CS, 551: „Wenn der Ausdrukk des einzelnen für sich oder im Hausgottesdienste ein bloßes Zurükkgehen ist auf kirchlich feststehendes, so wird das unmittelbare, das lebendige ganz herausfallen". Vgl. auch den weiteren Argumentationsgang dieser Stelle. 399 Vgl. CS, 509ff.554.557f; CS, Beil.B, 147[§6]; SW II1.2, 486; PhE, 215.216.

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soll mit seinem Gehalt bezogen werden auf die Totalität seiner Lebensmomente. Alle Lebensmomente der Person haben in bezug auf die religiöse Besinnung gleiches Recht, in dieser mitrepräsentiert zu sein, wenn sie durch ihr Bewußtwerden darauf Anspruch erheben400. Dieses „Recht" wird aber am besten dadurch gewahrt, daß die religiöse Besinnung sich nicht als ungesteuertes Assoziieren vollzieht, sondern als klares, regelmäßiges Fortschreiten der Gedanken401. Das pflichtwidrige Abgleiten in bloß regelmäßigen Mechanismus402 ist dadurch abzuwenden, daß allen Lebensmomenten, die die religiöse Besinnung in ihrem Fortgang abschreitet, die volle, ungeteilte Aufmerksamkeit zuteil wird403 und der Besinnende sie sich in eigener Sprache verständlich vor Augen stellt. Beziehen wir jetzt das kultische Handeln im Gottesdienst auf das Schema der Pflichtenlehre, so zeigt sich etwa folgendes Ergebnis:

Universell

Individuell

Klärung des frommen Selbstbewußtseins

Schriftbezug des Kultus

Authentizität des Kultus

Fromme Gemeinschaft stiften

Gemeindebezug des Kultus

Popularität des Kultus

400 So ist jede religiös kultische Besinnung des Einzelnen pflichtwidrig, die sich nur auf einen willkürlich eingeschränkten Bereich der eigenen Lebenserfahrung bezieht und auf dessen Kosten andere Lebensmomente der religiösen Besinnung systematisch entzieht. - Damit wird nicht das Recht bestritten, sich aufgrund jeweiliger Gefühlsbestimmtheit ganz bestimmten Aspekten des eigenen Lebens zuzuwenden, denn dies ist als in der jeweiligen Gefiihlsbestimmtheit grundgelegt - ganz pflichtmäßig. Pflichtwidrig ist allerdings die Auswahl immer dann, wenn sie nicht vom frommen Gefühl selbst getroffen wird, sondern von anderen Instanzen - etwa dem verinnerlichten guten Ton der Gesellschaft, der darüber entscheidet, welche Themen jeweils kommod sind, oder von politischen Behörden, die ihre Interessen im Kultus gewahrt sehen möchten. 401 Vgl. CS, 552: „Der unwillkürliche Ausdrukk für sich ist immer nur etwas einzelnes und abgerissenes. Wird er aber etwas größeres und zusammengeseztes: so kann er auch nur bestehen, wenn er auf eine besonnene Weise geordnet wird". Vgl. auch: CS, 549. 402 „Litanei". 403 Exemplarisch ist hier Karl Philipp Moritz' „Anton Reiser", in welchem oft nebensächlich erscheinenden Ereignissen im Leben des Protagonisten ebensolche Aufmerksamkeit gewidmet wird wie den „großen" Tagen. Tragen doch die individuellen Gehalte jener ebenso wie die Gehalte dieser in gleicher Unableitbarkeit zur Konstitution der gefühlsmäßigen Bestimmtheit der Person in ihrem jeweiligen So-sein bei. Vgl. hierzu die diversen „Vorreden" von Moritz.

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Ergeht die Aufforderung zur religiösen Darstellung und Besinnung404, so kann sich diese Tätigkeit nur auf die bereits oben genannten Größen Kanon und Bekenntnis richten. Der pflichtmäßige Kultus umfaßt somit notwendig Schriftbezug und Bekenntnis. Der konstitutive Bezug des Kultus auf die Bibel impliziert jedoch nicht, daß notwendig im Kultus an besonderer Stelle eine Schriftlesung stattfinden müsse, „sondern daß sie [dieBibel; R. S.] in denselben unvermerkt verwebt ist"405. Es gilt offenbar somit schon für den Kultus, was Schleiermacher explizit erst im Zusammenhang der „Casualreden" konstatiert: ,J)er Text ist in der Handlung"*06. In ihrer Willkürlichkeit ist die Praxis der besonderen Schriftlesung eher störend als dem Kultus förderlich407. Die Klärung des in der Begegnung mit dem tradierten Lebenszeugnis Jesu konstituierten christlich-frommen Selbstbewußtseins der Gemeinde und die je individuelle Aneignung der Auslegungstradition, in welcher sich die Gemeinde immer schon findet, sind gleichfalls konstitutive Elemente des pflichtgemäßen Kultus. Da das Christentum zu jenen Religionen gehört, deren Gottesbewußtsein am adäquatesten in sprachlicher Form abgebildet wird408 - weshalb im Christentum Kanon und Bekenntnis eine solche herausragende Bedeutung erlangen konnten409 -, kann auch die individuelle Klärung dieses Gottesbewußtseins wesentlich nur in dessen je individueller Überfuhrung in sprachlichen Ausdruck bestehen410. Als Ausdrucksgestalt des frommen Gefühls reicht Sprache aber als bloß literarisch-worthafte Fixierung nicht hin, um ihrem Gegenstand adäquat zu sein. Vielmehr ist die sprachliche Mitteilung und Klärung des frommen Gefühls nur sachgemäß als lebendige Rede, weil die Frömmigkeit, über die distanziert geredet oder geschrieben wird, immer schon wieder ein Abstraktum ist. Frömmigkeit ist mitteilbar und anschaulich nur im lebendigen Vollzug ihrer selbst - als sprachliche Selbstthematisierung also nur präsent im Gesamt des mimisch-gestischen Totaleindrucks des Redenden4". Damit ist sie aber auch unablösbar verbunden mit der Instanz ihrer mimisch-gestischen Darstellung. Sie kann daher nicht als solche übertragen werden, sondern ihre Darstellung kann nur der erregende Auslöser zur Selbstthematisierung der Frömmigkeit 404 Vgl. CS, 547: „Je mehr die Veranlassung zum Gottesdienste im Gesammtleben einzelner oder im häuslichen Leben liegt: desto mehr ist er ein gemeinsamer; je mehr er rein subjectiv ist: desto mehr ist er ursprünglich ein einsamer". 405 PrTh, 186. 406 PrTh, 325. 407 PrTh, 136f. 408 Vgl. etwa KD2 §2; ThES, 2; CS, 527f. 409 N.B.: nicht als Buchstabe, sondern als geistiges Sprachereignis! 410 Um dazu die einzelnen Glaubenden instand zu setzen, hat Kirche daher immer auch die Funktion einer religiösen Sprachschule: CS, Beil.B, 142 [§35]. 4l l „In so fern nun das religiöse Bewußtsein in mir Gedanke ist, und ich mir im Denken meiner bewußt bin: so kann ich es nur mittheilen durch die Rede; ist es als Gefühl in mir: so kann und muß ich es durch Bewegung und Geberde ausdrükken. Das klare und einfache liegt in der Rede; aber, um es so zu sagen, das anstekkende in der Mittheilung ist die Bewegung" (PrTh, 81).

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anderer Subjekte werden412. Daß die exponierteste individuelle Klärung und Aneignung christlicher Frömmigkeit durch die Gemeinde im Modus der lebendigen Rede dabei zu jener Form drängte, die wir als Predigt kennen, ist allerdings kontingent411. Zur individuellen Aneignung und Klärung im Modus der Sprache zählen außerdem noch freie Gebete, aber auch der Choralgesang, wenn die Auswahl der Lieder so erfolgt, daß sie der Stimmungslage und dem Verständnisvermögen der Gemeinde entsprechen414. EHe Identität der immer wieder neu zu stiftenden frommen Gemeinschaft als einer christlichen kann nur gewährleistet werden im zuverlässigen Rekurs auf ihre ursprüngliche Stiftungssituation. Schleiermacher sieht diese Pflicht im Sakrament aufgenommen415. Von der Integration der Sakramente in den Kultus hat dasselbe zu gelten wie im Falle des Schriftbezuges, der ja nicht notwendig die Schriftlesung erforderte: Auch die Sakramente sind „unvermerkt" im Kultus gegenwärtig zu halten, wenn sie nicht von selbst auf natürliche Weise in ihm heraustreten. Kanon und Sakrament verhalten sich zueinander wie die beiden universellen Funktionen des pflichtgemäßen kultischen Handelns in der Klärung des frommen Selbstbewußtseins und Neustiftung frommer Gemeinschaft: „Zwischen Kanon und Sakrament ist der Unterschied, daß das Sakrament die Identität der Gemeinschaft, der Kanon die der Auffassungsweise des Glaubens darthun soll"416. Pflichtgemäß wird der Gemeindegottesdienst vollzogen, wenn er die fromme Erbauung417 aller an ihm Teilnehmenden im religiösen Darstellungsund Klärungsprozeß ermöglicht. Schleiermacher thematisiert diesen Aspekt des Gottesdienstes zumeist unter dem Titel „Popularität"418. Die Popularität des Kultus ist seine Ausrichtung auf die jeweils gegebenen individuellen Verhältnisse. Dazu gehört nicht nur die Rücksichtnahme auf die religiöse Empfänglichkeit der Mehrheit durch die entsprechende Wahl und Verwendung der Darstellungsmittel, sondern vor allem auch die geregelte Einrichtung des Gottesdienstvollzuges419, denn die lebendige Wirkung des Gottesdienstes ist nicht zuletzt abhängig von der Vertrautheit mit seiner Form - Liturgie - und von sei412 413 414 415 416 417 418 419

Vgl. PhE, 596ff[§61]. Vgl. KD2 §284; ThES, 30.253. Vgl. PrTh, 168ff. Vgl. KD2 §47. In der Glaubenslehre verhandelt Schleiermacher Taufe und Abendmahl ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der „Anknüpfung und Erhaltung der Lebensgemeinschaft mit Christo" (GL2 §127,11.278). ThES, 54. Diese Zielsetzung des Kultus hat Schleiermacher nach dem Urteil von Christoph Meier-Dörken bereits in frühen Jahren von J.J. Spalding übernommen (Die Theologie der frühen Predigten Schleiermachers, 22). Vgl. PrTh, 74f.l23. Vgl. auch das CS, 430f. [1826/27] über die „Freundlichkeit" Gesagte. Vgl. CS, 541ff.

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ner regelmäßigen und zuverlässigen Wiederkehr420. Die Liturgie - die regional gewachsene und landeskirchlich überlieferte Form des Ritus - als die bestimmte Tradition der sakramentlichen Gemeinschaft, in der sich eine Gemeinde findet, verhält sich also zum Sakrament wie das Bekenntnis zum Kanon421 . Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, daß die Teilnehmer des Gottesdienstes ihre Stellung in der gottesdienstlichen Gemeinschaft gemäß ihren individuellen Fähigkeiten und Neigungen einnehmen. Es kann nämlich anderenfalls „der einzelne irrig oder unsittlich handeln, indem er sich in einem gegebenen Moment productiv giebt, wo er nur receptiv sein sollte, und umgekehrt"422. Damit ist klar, daß die zu stiftende Gemeinschaft im religiösen Darstellen pflichtgemäß nur erzeugt werden kann vermittelst auf der einen Seite der liebevollen Mitteilung der je individuellen religiösen Gestimmtheit und der Fähigkeit, diese mitzuteilen, und auf der anderen Seite vermittelst der freundlichen Aufmerksamkeit auf eben diese Mitteilungen und Talente der anderen423. Es realisiert sich darin das Prinzip der Gemeinschaftlichkeit des darstellenden Handelns: „die brüderliche Liebe"424. Da die pflichtgemäße Popularität des Kultus gerade um seiner Erbaulichkeit für möglichst alle an ihm Teilhabenden angezeigt ist, muß geklärt werden: „wodurch ist etwas erbaulich?"425. Antwort Schleiermachers: Erbauung ist nichts anderes als die „erhöhte religiöse Stimmung, religiöse Erregung des Gemüths. Alles was die religiöse Stimmung steigert ist erbaulich"426. Das Wesen der christlichen Frömmigkeit hegt darin, daß sie zuverlässig gesteigert wird immer dann, wenn die Aufmerksamkeit des Herzens auf die Erscheinung und das geschichtliche Dasein des Erlösers gerichtet ist427. Alle anderen Gegenstände der Erfahrung sind aus christlicher Perspektive nur bedingt und in unzuverlässiger Weise dazu geeignet, die religiöse Stimmung zu erhöhen. Dann aber gut notwendig: 420 Vgl. CS, 547ff.592ff. [1826/27]. Vgl. CS, Beil.A, 26 [§107]: „Das gemeinsame darstellende Handeln ist nothwendig durch Formen und Normen bestimmt. Denn es könnte sonst nicht als ein gemeinsames entstehen, so daß die einzelnen übereinstimmende und doch lebendige Organe wären, weil nämlich neben der inneren Einheit auch ein veränderliches nothwendig mitgesezt wird. Sie bilden zusammen die Symbole und das Rituale der Kirche". Das gilt nicht nur für den öffentlichen Gemeindegottesdienst, sondern in gleichem Maße „im häuslichen und im ganz einsamen" (a.a.O., [§108]). 421 Damit erhält unsere oben vorgenommene Zuordnung der apologetischen Grundbegriffe Kanon/Sakrament bzw. Konfession/Ritus zum Themenbereich der Pflichtenlehre ihre Bewährung. 422 CS, 553. - Ein solch „irriges" Handeln verstieße entweder gegen die „Berufspflicht", indem ohne öffentliche Legitimation, oder gegen die „Gewissenspflicht", indem ohne innere Neigung gehandelt würde. 423 Vgl. CS, 430 [1826/27]. 424 CS, Beil.B, 147 [§7]; vgl. auch: CS, Beil.A, 26ff [§§80ff]; CS, 430 [1826/27], 425 PrTh, 616ff. 426 PrTh, 619. 427 Ebd.

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„Was eine erbauliche Kraft nur erlangt auf eine zufällige Weise, das können wir nicht als organisches Glied des Cultus ansehen, sondern es ist auf eine unrechte Weise das geworden was es ist, und müssen wir es zu dem rechnen was eliminirt werden müßte"428. Die Art und Weise, in der im Kultus auf dieses einzig zuverlässig die christliche Frömmigkeit steigernde geschichtliche Faktum des heilsgeschichtlichen Lebenszeugnisses Jesu rekurriert wird, kann dann aber von Gemeinde zu Gemeinde individuell verschieden, in christlicher Freiheit die geschichtlichen Umstände der religiösen Gemeinschaft berücksichtigend, erfolgen: „das ist die Freiheit in Grenzen die dem evangelischen Charakter angemessen sind"429. Aus Schleiermachers Perspektive steht und fallt die pflichtgemäße Popularität des evangelischen Kultus, die um seiner Erbaulichkeit willen geboten ist, mit dem Bezug des Kultus auf das Lebenszeugnis Jesu. Was ist nun der Ertrag dieser Betrachtung des kultischen Handelns aus der Perspektive der Pflichtenlehre? Das Raster der Pflichtenlehre ermöglicht sowohl den mehr aktiv als auch den mehr rezeptiv beteiligten Personen, sich über die Pflichtgemäßheit ihres Handelns zu orientieren. Dabei erfolgt diese Orientierung nicht durch die Vorgabe materialer Richtlinien, sondern eher in Form eines Fragenkatalogs klärungsbedürftiger Aspekte des kultischen Handelns430. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß der Einzelne von der je individuellen Beantwortung dieser Fragen nicht dispensiert werden kann. Über Pflichtmäßigkeit oder Pflichtwidrigkeit einer Handlung entscheidet dann nicht mehr die Pflichtenlehre - die Theorie ethischer Urteilsfindung im Blick auf die Pflichtgemäßheit sittlicher Vollzüge -, sondern der Vollzug des ethischen Urteils durch den Urteilenden selbst431. Unter Voraussetzung des Angezeigtseins kultischen Handelns durch Aufforderung und Neigung sind die Fragerichtungen des ethischen Urteils dabei: 1. Richtet sich meine Tätigkeit tatsächlich auf Mitteilung und Klärung des christlich-frommen Selbstbewußtseins?432 2. Übe ich meine Tätigkeit nicht nur mechanisch aus, sondern so, daß ich mich dieser Aufgabe unter Bezug auf meine ganze Person in ihrer derzeitigen Bestimmtheit widme?433

428 429 430 431

PrTh, 620. PrTh, 621. Daran knüpft dann später die Praktische Theologie an. Diese Verantwortung wird dann auch die Praktische Theologie mit ihren Kunstregeln und Cautelen niemandem abnehmen können. 432 Ist der von mir geleitete Gottesdienst geprägt von der Mitteilung und Klärung des Lebenszeugnisses Jesu und dessen heilsgeschichtlicher Bedeutung? / Erfolgt meine Teilnahme am Gottesdienst im Blick auf die Mitteilung und Klärung von Jesu Lebenszeugnis und dessen heilsgeschichtlicher Bedeutung?

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3. Wird durch meine Tätigkeit die christlich-fromme Gemeinschaft in ihrer Identität aufgenommen und neu gestiftet?434 4. Ist mein Handeln allen Beteiligten als Mitteilung und stellvertretende Klärung meiner frommen Individualität verständlich, und nehme ich alle anderen in ihrer frommen Individualität wahr?435 Es ist leicht einsehbar, daß fast alle diese Fragen sich wesentlich immer auch auf die ästhetische und technische Umsetzung der Aufgabenstellung des darstellenden Handelns im Kultus beziehen. Dies ist sowohl in Einklang mit Schleiermachers Selbstverständnis der Pflichtenlehre - einer eng mit technischen Fragen verknüpften Disziplin436 - als auch in Übereinstimmung mit der beobachteten steten Bezugnahme von Christlicher Sittenlehre - als Pflichtenlehre - und Praktischer Theologie - als technischer Disziplin - aufeinander in Fragen des darstellenden Handelns. In beiden theologischen Disziplinen wird zudem - wie bereits erwähnt - der ästhetischen Reflexion breiter Raum gegeben. Die nähere Ausarbeitung dieses Ergebnisses muß einschlägigen Untersuchungen überlassen bleiben. Klar dürfte allerdings zumindest soviel geworden sein, daß eine Theorie des darstellenden Handelns im Kultus, sofern sie das Darstellen als sittlichen Handlungsprozeß begreifen will und nicht nur dessen institutionelle Ausformung im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zum Gegenstand ihrer Betrachtung macht, nicht ohne Rekurs auf Schleiermachers Pflichtenlehre auskommt. Die übliche Beschränkung auf Schleiermachers Güterlehre ist grob verkürzend, da dort nur die gesamtgesellschaftliche Aufgabe der religiösen Darstellung formuliert wird, deren pflichtgemäße Umsetzung selbst aus systemischen Gründen an diesem Ort aber lediglich in Form von „Lehnsätzen" aus der Pflichtenlehre angerissen werden kann. Gerade die praktisch-theologische Rezeption von Schleiermachers Theorie des darstellenden 433 Für den Liturgus ist z.B. die gehäufte Feier von Gottesdiensten an einem Tage guten Gewissens nicht möglich, da darunter notwendig die Lebendigkeit des Kultus leidet und der Vollzug zum toten Mechanismus gerät; vgl. CS, 598 [1826/27]. Entsprechendes gilt aber auch für die Gottesdienstbesucher. - Bei dieser Frage ist es offensichtlich, daß ihre Beantwortung von der je individuellen Lebendigkeit des frommen Selbstbewußtseins abhängig ist. 434 Entspricht der von mir geleitete Gottesdienst in Liturgie und individueller Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte dem Willen des Stifters der christlich-frommen Gemeinschaft? / Trage ich durch mein Verhalten im öffentlichen Kultus zur Stiftung des Gefühls frommer Gemeinschaft bei? 435 Die „populäre" Einrichtung des Kultus durch den Liturgus unmfaßt beides, denn um die Mitteilung und stellvertretende Klärung seiner frommen Individualität den Anwesenden verständlich einrichten zu können, muß er mit deren individueller religiösen Empfänglichkeit und deren intellektuellen Fähigkeiten vertraut sein. 436 PhE, 555 [§120]: „Die Lehre vom höchsten Gut ist die am meisten in sich ruhende und abgeschlossene Betrachtung, die Tugendlehre regt am meisten das kritische, die Pflichtenlehre das technische Verfahren an". Vgl. aber PhE, 637: „Pflichtenlehre steht am nächsten dem kritischen Verfahren, also dem Zurückgehen der Wissenschaft ins Leben".

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Handelns täte gut daran, seine Einsicht ernst zu nehmen, daß der Anknüpfungspunkt aller technischen Disziplinen - und somit auch der der Praktischen Theologie - an die Ethik in der Pflichtenlehre liegt.

5.3.3 Das Motiv des Gottesdienstes als in der göttlichen Liebe begründete christliche Tugend Schleiermacher geht - wie wir nun schon wissen - davon aus, daß das sachgemäße Verständnis eines geschichtlich-sittlichen Phänomens dessen Thematisierung unter den Gesichtspunkten des Handlungsresultates, des Handlungsvollzuges und des Handlungsmotivs erfordert. Wir werden daher auch das religiös-kultische Handeln nur dann umfassend begreifen können, wenn wir die ihm zugrundeliegende Motivation in den Blick fassen. Die sittliche Ambivalenz von Handlungsmotiven wird durch die Begriffe Tugend und Laster zur Sprache gebracht. In bezug auf die traditionelle Fassung des Tugendbegriffes437 stellt Schleiermacher fest: „Alle Erklärungen der Tugend nun stimmen zuerst darin überein, daß das Wort etwas ganz innerliches bedeutet, eine Beschaffenheit der Seele, eine Bestimmtheit der Gesinnung. Ferner auch darin, daß diese Bestimmtheit die sittliche ist, von jedem auf dasjenige bezogen, was ihm den Inhalt der ethischen Idee ausmacht"438. Als Gegenbegriff zur Tugend ist das Laster die Bezeichnung einer Bestimmtheit der Gesinnung durch etwas, was dem Inhalt der ethischen Idee zuwiderläuft439. Nun wären aber Tugend und Laster in ihrer Bezogenheit auf „etwas ganz innerliches" gründlich mißverstanden, wenn man sie nicht interpretiert als das Innerliche einer geschichtlich- sittlichen Erscheinung. Wobei dieses Innerliche semer geschichtlich-sittlichen Realisation nicht indifferent gegenübersteht, als wäre diese letztlich in ihrem jeweiligen sittlichen Charakter kontingent440, sondern vielmehr genau diejenige Kraft bezeichnet, die jene sittliche Erscheinung überhaupt erst als ein sittliches Phänomen - im Unterschied zu etwas bloß 437 Die wichtigsten Quellen für Schleiermachers Tugendverständnis sind vor allem dessen Akademievortrag: „Ueber die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffes", in: SW III.2, 350ff.; der Abschnitt zur Tugendlehre aus der Ethik 1812/13: PhE, 375ff.; die darauf bezogenen Bemerkungen aus dem Jahre 1832 in PhE, 660ff, der Abschnitt zum Tugendbegriff in: KdS, 148ff.; außerdem die „Einleitung" zur Christlichen Sittenlehre. Weitere wichtige Textstellen sind: SW III.2, 448ff.; CS, 308.601ff. 438 KdS, 149; vgl. SW III.2, 358.448.449. 439 Vgl. SW III.2, 360: „Nur dasjenige Zusammensein beider [gemeint sind das „höhere" und das „niedere" im Menschen; R.S.] ist die Tugend, worin das höhere gebietet und das niedere gehorcht, das umgekehrte aber ist das Gegenteil". Vgl. auch: KdS, 151f. 440 Vgl. KdS, 150.

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Naturhaftem - ins Leben ruft 441 . Die stete Kräftigkeit der Tugend in der Hervorbringung sittlicher Handlungen und sittlicher Güter ist verkörpert in der Figur des „Weisen": „Bezeichnet nun der Tugendbegriff die Kraft und Gesinnung, und zwar ganz, durch welche die richtigen Taten oder Werke hervorgebracht werden: so ist er also der allgemeinste sittliche Begriff, entsprechend dem Ideal des Weisen. Denn der Weise ist derjenige, 'm welchem die sittliche Kraft und Gesinnung ununterbrochen und ausschließend wirksam ist, und welcher alles hervorbringt, was durch sie kann gewirkt werden, anderes aber nicht"442. In Aufnahme religiöser Terminologie wird dieses Ideal vernunftgemäßen weil vernunftgesteuerten - Daseins in der Philosophischen Ethik das „selige Leben" genannt443. „Seligkeit" ist dabei nichts anderes als die stete Kräftigkeit der einer Person erschlossenen Gewißheit über Verfassung und Ziel ihrer Existenz - also das stete Kräftigsein der Frömmigkeit einer Person in all ihren Lebensvollzügen444. Das Leben des Weisen ist folglich das Leben des Frommen445. Mit seiner Identifikation des weisen Lebens mit dem religiös orientierten Dasein weiß sich Schleiermacher in einer langen Tradition ethischer Theoriebildung stehend. So fuhrt er seinen Akademievortrag zur Tugendlehre abschließend aus: „Und dieses fuhrt mich auf noch eine ähnliche lezte Betrachtung. Wie nämlich nicht nur der christlichen Sittenlehre Grundsaz ist Aehnlichkeit mit Gott, sondern auch die Alten schon gesagt, das Ziel des Menschen sei Verähnlichung mit Gott nach Vermögen: so muß, wenn unsere aufgestellten Tugenden 14i SW III.2, 359: Die Tugend ist „die sittliche Lebensquelle". 442 KdS, 149. Vgl. PhE,380 [§!]: „Die Weisheit ist diejenige Qualität, durch welche alles Handeln des Menschen einen idealen Gehalt bekommt". Vgl. auch: PhE, 230.663. 443 PhE, 543 [§89] 444 Vgl. GL2 §5.4, 1.38. An anderer Stelle nannten wir dies bereits den „Gottesdienst im weiteren Sinne". 445 Eine Definition der frommen Persönlichkeit gibt Schleiermacher GL2 §106.1, 11.148. Zur Identität von Weisheit und Frömmigkeit vgl. auch: SW III.2, 377. „Wenn man aber bedenkt, wie der Glaube doch das innerste des Bewußtseins ist, und die lebendige Quelle der guten Werke: so kann man wol nicht zweifeln, daß der Glaube der religiöse Ausdrukk ist für dasselbe was wir in der Wissenschaft, mit einem Ausdrukk jedoch welcher der religiösen Sprache zu anmaßend ist, Weisheit nennen". Vgl. auch: PhE, 231: „Glaube ist die Weisheit aus dem religiösen Standpunkt, wo das Gefühl mit dem Gegensaz gegen das Wissen dominirt". In einem Zusatz aus dem Jahre 1827 zur Tugendlehre von 1812/13 finden sich folgende Bemerkungen: „Allgemeiner Ausdruck für Weisheit des Gefühls ist Frömmigkeit(...)Allgemeiner Ausdruck für Weisheit des Denkens ist Vernünftigkeit" (PhE, 382 [Zusatz 1827]). - Umgekehrt gilt dann die alttestamentliche Einsicht: „Die Toren sprechen in ihrem Herzen: „Es ist kein Gott". Sie taugen nichts; ihr Treiben ist ein Greuel; da ist keiner, der Gutes tut" (Ps 14,1). Vgl. hiermit Schleiermachers Anmerkung PhE, 379 [Zusatz 1827]: „Wo der Keim der Handlung keinen Idealgehalt hat und das einzelne Gewollte im Widerspruch steht mit dem im ganzen Gewollten, da ist Thorheit".

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der Inbegriff der menschlichen Vollkommenheit sind, jener Saz sich auch dadurch bewähren, daß in dieser die Aehnlichkeit mit Gott muß dargestellt sein. Und dies findet sich auch, wenn man nur das nach Vermögen nicht versäumt, vollkommen"446. Wie sieht nun die Bestimmung der Tugend im einzelnen aus? Da die Tugend die sittliche Lebensquelle ist, bezieht sich ihr Kräftigsein notwendig auf die beiden von Schleiermacher vorausgesetzten grundlegenden Lebensfunktionen: Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit des Lebewesens447. Als Funktionen des menschlichen und also bewußten Lebens sind sie näher zu bestimmen als bewußtes „Insichaufhehmen" und bewußtes „Aussichhinstellen" bzw. als Erkennen und Darstellen448. Es gibt somit eine „vorstellende" und eine „darstellende" Tugend449. Man kann diesen Einlassungen Schleiermachers entnehmen, daß das „Darstellen", da er es dem Gebiet des Handelns zuweist, nicht umstandslos mit dem „individuellen Symbolisieren" verrechnet werden darf, das in der Güterlehre ja dezidiert auf der Seite der Erkenntnisfunktion eingeordnet wird. Das individuelle Symbolisieren meint das erkenntnismäßige Fixieren der jeweiligen individuellen Bestimmtheit der Person in symbolischer Form. Das Darstellen setzt das Symbolisieren - Erkennen - voraus und erstrebt „das bewußte aus sich heraus in die Welt hinüberbilden" der symbolisierten Individualität. Darstellen ist immer effektive „Mitteilung" an die Umwelt. Eine weitere Differenzierung ist diese: Die Tugend als sittliche Lebensquelle realisiert sich stets in raum-zeitlichen Kontexten, die ihr immer auch Widerstand leisten450. Man kann folglich unterscheiden den „Idealgehalt" des

446 SW III.2, 377. Vgl. Mariin E. Miller, Der Übergang, 85f. - Zur Thematik der „Verähnlichung mit Gott" in der Religionsphilosophie des Platon vgl.: U. Barth, Gott ähnlich werden. 447 SWIII.2, 361. 448 So lautet der Gegensatz in PhE, 378 [§18]. („Darstellen" meint hier die Sphäre des Handelns im engeren Sinne überhaupt im Gegensatz zum Erkennen.) SW III.2, 362, differenziert nur leicht abweichend in der Terminologie: „das bewußte Insichhineinbilden" und „das bewußte aus sich heraus in die Welt hinüberbilden", und führt dazu aus: „Das erste von beiden nennen wir auch das Erkennen oder Vorstellen/...), das andere aber das Handeln, sei es nun mehr wirksam oder darstellend" (ebd.). („Darstellen" meint hier also einen Teilbereich des Handelns im engeren Sinne. Allerdings wird der Darstellungsbegriff dann sofort entschränkt zur Bezeichnung allen Handelns im engeren Sinne, wenn Schleiermacher in der Folge die Tugend differenziert „in eine vorstellende und darstellende" (ebd.). Die Begrifflichkeit bleibt auch im weiteren Verlauf flüssig.) - Bemerkenswert ist die Aufspaltung des Handelns im philosophisch-ethischen Kontext in die beiden Aspekte „wirksam" und „darstellend", die ja die wesentliche Zweiteilung der Christlichen Sittenlehre motiviert. 449 SW III.2, 362. 450 Vgl. CS,Beil.A, 71 [§196].

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Strebens, die „Gesinnung"45', und die „Zeitform" des Strebens, die „Fertigkeit"452. Tugend gibt es also immer als „Gesinnung" und als „Fertigkeit"453. Die Idee der Überwindung der Widerstände des sinnlich-natürlichen Lebens gegenüber dem vernünftig-sittlichen Wollen ist die Idee der „Erlösung"454. In der Erlösung ist die Einigung .der Natur mit dem Geist als vollendet gedacht, was das Bewußtsein der Seligkeit hervorruß. In der Seligkeit gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Gesinnung und Fertigkeit455. Die Kreuzung der beiden Lebensfunktionen mit Gesinnungs- und Fertigkeitsaspekt ergibt folgendes Tugendschema456:

Gesinnung

Fertigkeit

Erkennen

Weisheit

Besonnenheit

Handeln

Liebe

Beharrlichkeit

Der Idealgehalt des Erkennens ist die Tugend der „Weisheit"457: „Die Weisheit ist diejenige Qualität, durch welche alles Handeln einen idealen Gehalt bekommt"458. In der Weisheit sind dem Handelnden die Ziele seines Handelns unverstellt durch begrenzte Interessen erschlossen. 451 PhE, 378 [§17]. 452 Ebd., vgl. PhE, 206f.394ff.668ff. - SW III.2, 360f., differenziert „belebende" und „bekämpfende" Tugend. Auch hier ist in der „belebenden" Tugend der „Idealgehalt" des Strebens gedacht, der ohne die „bekämpfende" Tugend „nicht ans Licht kommen könnte", während die „bekämpfende" immer vom Idealgehalt des Strebens „belebt" werden muß. (Zur ethischen Ausdeutung der „kämpfenden" Kirche vgl. LJ, 330f.344.) - Die Christliche Sittenlehre differenziert stets zwischen „Gesinnung" und „Talent" (CS, Beil.A, 65f [§187]; CS, Beil.B, 130 [§7]; CS, 306ff), wobei sie das durch den Ausdruck „Tugend" Bezeichnete dem Talent zurechnet (CS, 308f.) als die jeweils erreichte Kräftigkeit der christlichen Gesinnung. 453 Die ethische Zweipoligkeit von „Gesinnung" - Idealgehalt des Handelns - und „Fertigkeit" - Zeitgehalt des Handelns - orientiert Schleiermacher auch in seiner Interpretation der Zweinaturenlehre, wie sie am anschaulichsten in seinem „Leben Jesu" vorgetragen wird (LJ, lOOff.). 454 CS, Beil.A, 71 [§197]; vgl. GL2 §11.2,1.76ff. 455 Vgl. PhE, 202.395 [§26]. 456 Vgl. SW III.2, 363; PhE, 379 [§20].661ff. Zum Verhältnis dieses Schemas zur christlichen Trias von „Glaube-Liebe-Hoffnung" vgl.: PhE, 230f.380 [§26].662f; SW III.2, 377f Vgl. auch: KG, 500. 457 Schleiermacher differenziert hier in „Weisheit des Gefühls" (PhE, 38Iff.; SW III.2, 365) und „Weisheit des Wissens" (PhE, 383ff; SW III.2, 363f). 458 PhE, 380[§1].

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Der Idealgehalt des Handelns ist die Tugend der „Liebe". Dieser Ausdruck ist hier ganz am Platze, da nach Schleiermacher Handeln nichts anderes ist als Gemeinschaft stiften. Es stiftet Gemeinschaft des Handelnden mit der Welt, in der und auf die er handelt. Sittlich ist dieses Handeln, wenn der Handelnde die in ihm gegebene Individualisierung der Vernunft seiner Umgebung mitteilt und einstiftet. Genau diesen Aspekt sieht Schleiermacher in unserer Sprache aber vorzüglich in dem Ausdruck ,.Liebe" wiedergegeben: „wenn doch auch ihr die Liebe nur ist die Gemeinschaft des guten mit sich selbst oder mit dem weder guten noch bösen, um es gut zu machen"459. Die jeweils erreichte Fähigkeit, im Erkennen störende Einflüsse zu überwinden, ist die Tugend der „Besonnenheit"460: „Unter der Besonnenheit also verstehen wir die den Widerstand des niedem Vermögens überwindende Verwirklichung und vollkommene Einbildung alles dessen in das Bewußtsein, wozu der lebendige Keim in der belebenden Thätigkeit des höheren lag"4*'. Die entsprechende Fertigkeit auf der Seite des Handelns ist die Tugend der „Beharrlichkeit"462, die sich nicht entmutigen lassende Treue463 in der Zuwendung zur Welt464. Vor dem Hintergrund dieser Bestimmungen wird verständlich, wieso Schleiermacher der Meinung sein konnte, die Ethik beschreibe das sittliche Leben als „Verähnlichung mit Gott nach Vermögen"465. Denn Weisheit und Liebe werden nicht nur in der christlichen Tradition als die wesentlichen Eigenschaften Gottes aufgestellt466. 459 SW III.2, 375. Vgl. GL2 §165.1, 11.445: Liebe ist „die Richtung, sich mit anderem vereinigen und in anderem sein zu wollen". Die Formen der Liebe sind „Selbstdarstellung und Offenbarung", „erziehende Liebe", und „sowol Offenbarung des Geistes in der Gestaltung der Welt, als auch Erziehung der Welt zur Einheit des Daseins mit dem Menschen" (ebd.). 460 PhE, 397ff. Auch die Besonnenheit teilt sich in Besonnenheit des Erkennens und Besonnenheit des Gefühls; vgl. PhE, 397 [Rb. 1827], 461 SWIII.2, 370. 462 PhE, 401ff. 463 Vgl. CS, 535[1826/27]. 464 Vgl. die dogmatische Aufnahme dieses Gedankens GL1 §104.4, II.127f: In Christi „durch die Beharrlichkeit hervorgerufenen Leiden bis zum Tode erscheint uns die sich selbst schlechthin verleugnende Liebe; und in dieser vergegenwärtigt sich uns in der vollständigsten Anschaulichkeit die Art und Weise, wie Gott in ihm war, um die Welt mit sich zu versöhnen". 465 SWIII.2, 377. 466 Vgl. Fr. Beißer, Schleiermachers Lehre von Gott, 221-234; W. Schultz, Protestantismus, 79-91; Mariin E. Miller, Der Übergang, 169-185 (bes. 177f); Franz Christ, Menschlich von Gott reden, 217ff. - Es versteht sich von selbst, daß in bezug auf Gott von Beharrlichkeit und Besonnenheit nicht im eigentlichen Sinne die Rede sein kann, da es in allen Bestimmungen Gottes diesem wesentlich ist, nicht irgendwelchen äußerlichen Beschränkungen zu unterliegen, die nicht in ihm selbst begründet sind. Vgl. Schleiermachers eigene Gotteslehre: GL2 §§164-169, II.441ff. Ganz entsprechend der oben gegebenen Bestimmung der Liebe als Selbstmitteilung lautet der einleitende Paragraph zum Lehrstück „Von der göttlichen Liebe": „Die göttliche Liebe als die Eigen-

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Im Zusammenhang unserer Themenstellung wird aber auch zugleich deutlich, daß die Theorie des „Darstellenden Handelns" nicht ohne Rekurs auf Schleiennachers philosophische Tugendlehre rekonstruiert werden kann. Das Wesen des Darstellens erschließt sich nicht hinreichend über den Begriff des individuellen Symbolisierens, wie er in der philosophischen Güterlehre entfaltet wird. Der ideale Gehalt des Darstellens und sein Motiv ist Liebe4*7. Deren ethische Bestimmung erfolgt aber - wie gezeigt - in der Tugendlehre. Wir haben bereits früher Schleiermachers berühmte Definition des Gottesdienstes zitiert: „Gottesdienst ist also der Inbegriff aller Handlungen, durch welche wir uns als Organe Gottes vermöge des göttlichen Geistes darstellen"468. Verstehen wir nun das Darstellen als Handeln im engeren Sinne überhaupt im Gegensatz zum Erkennen, so ist dies der Gottesdienst im weiteren Sinne. Es geht dabei darum, in einer der Einsicht in das Vonwoher und Wohin meines Daseins in der Welt angemessenen Weise und gemäß der unverstellten Einsicht in die Verfassung meiner raum-zeitlichen Handlungssituation und der jeweilischaft, vermöge deren das göttliche Wesen sich mitteilt, wird in dem Werk der Erlösung erkannt" (GL2 §166, 11.446; vgl. LJ, 297f). Die dem theologischen Denken mit dem „Sein Gottes in anderem" - nämlich in Christus und in der Kirche - gestellte Aufgabe, dieses Sein Gottes in anderem zu bestimmen in seinem Verhältnis sowohl zu dem Sein Gottes an und für sich als auch zu dem Sein Gottes in bezug auf die Welt überhaupt, ist das zentrale Thema der Trinitätslehre (GL2 §172.1,11.469) - eine dogmatisch nur annäherungsweise zu lösende Aufgabe (a.a.O., 469f). Auch Schleiermachers Auffassung des Erlösers erfolgt im Horizont von Weisheit und Liebe. Die Wirksamkeit der Selbstmitteilung Christi setzte die Kenntnis der Menschen voraus, auf die gewirkt werden soll: „Nun müssen wir sagen, daß auch das Urtheil seiner Jünger über ihn dieses gewesen ist, daß ihm in dieser Beziehung eine vollkommne Menschenkenntniß einwohnte, daß er eine richtige Schäzung der Menschen gehabt habe auch im einzelnen, und das ist alles Geschick dessen er zu seiner Wirksamkeit bedurfte. Wie hat sich das Geschick in ihm entwikkeln können auf eine rein menschliche Weise? Es giebt kein anderes wahres Fundament der Menschenkenntniß als nur die reine Liebe und das reine Selbstbewußtsein; die eine ist das eingehen wollen in die Menschen, und wenn wir das reine Selbstbewußtsein nehmen wie es in dem Erlöser war, so ist es index sui et falsi, und war das woraus sich das entgegengesezte in ändern kund gab" (LJ, 135). Vgl. auch: GL2 §97.3,11.70. - In Gottes Liebe - und nicht in einem kruden Heilsegoismus gründet damit auch die Sachgemäßheit der lutherischen Wesensbestimmung des Glaubens als eines aneignenden Glaubens: „Die Notwendigkeit existenzieller Aneignung resultiert letztlich nicht aus der Intention derjenigen Instanz, welche aneignet, sondern aus der Eigenbestimmtheit dessen, was angeeignet wird. Der intendierte Gegenstand des Glaubens ist nichts anderes als der sich zueigen machende und angeeignet werden wollende Christus selbst. Eben diese spezifische Inhaltsbestimmtheit ist der Grund dafür, warum der christliche Glaube seinem Wesen nach aneignender Glaube ist" (U. Barth, Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, 287; vgl. Emanuel Hirsch, Geschichte Bd. V, 343). 467 Das wird auch in der Christlichen Sittenlehre an den einschlägigen Stellen immer hervorgehoben: CS, Beil.A, 26ff [§§80ff]; CS, Beil.B, 147 [§7]; CS, 513f.614.619 [1826/ 27J.649.676 [1831]; vgl. auch: SW III.2, 375, 468 CS, 525f.

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gen Entwicklungsstufe meiner Talente den mir erschlossenen göttlichen Willen zu realisieren. Das Motiv dieses Handelns ist die Liebe als das Gemeinschaft haben wollen mit der Welt, um diese dem göttlichen Willen gemäß zu gestalten. Alle Naturbeherrschung - auch die Versittlichung der menschlichen Natur: Erziehung ist nur sittlich, insofern sich in dieser die Liebe zu Gott gegenständlichen Ausdruck verschafft: „Die Liebe zur Natur ist nur sittlich als Liebe zu Gott, die Liebe zu Gott ist nur wahr als Liebe zur Natur"469. Der Gottesdienst im weiteren Sinne vollzieht sich dabei entweder als die Stiftung einer dem göttlichen Willen gemäßen Gemeinschaft „mit dem niederen menschlichen Vermögen in sich selbst" - und ist als solche „erziehende" Liebe470 - oder als die dem göttlichen Willen gemäße Beherrschung der äußeren Natur471. Da wir von uns aus keine Gemeinschaft mit Gott stiften können, kann die Liebe ihm gegenüber nur bestehen in einem In-Gemeinschaft-bleiben-wollen. Während Gottes Liebe den Charakter der „Fürsorge" besitzt, kennzeichnet die menschliche Liebe zu Gott der Aspekt der „Ehrfurcht"472. Die ehrfürchtige Liebe Gott gegenüber gibt es als „Gehorsam" und als „Scheu"473: „Gehorsam ist die Willigkeit aus Gefühl für die überwiegende Vernunftmacht, also nicht äußerlich, sondern Gesinnung,(...)Scheu ist Abneigung etwas gegen den Willen des übergeordneten Theils an sich zu haben, aber nicht als in Bezug auf ein gegebenes Gebot, sondern als Ahndung, also als eigene Construction, die aber nur Nachbildung ist"474. Dabei ist aus sachlogischen Gründen Gehorsam das Ursprüngliche und die scheue Nachbildung des göttlichen Willens erst möglich auf der Stufe der religiösen Mündigkeit. Diese wird aber als eine spezifische Ausfonnung des Gottesverhältnisses nicht in einem Akt der Gemeinde konstituiert - in der Konfirmation etwa -, sondern ebenfalls von Gott gesetzt475. Die Leistung der Ge469 470 471 472 473

PhE, 387 [Zusatz 1827]. SWIII.2, 375. Ebd. PhE, 388f [Zusatz 1827]. Vgl. PhE, 664. PhE, 389 [Zusatz 1827]. Vgl. PhE,666. Vor dem Hintergrund dieser Aussagen Schleiermachers erscheint die Behauptung W. Schultzes, Protestantismus, 80f, Schleiermacher sei verborgen geblieben, daß „echte Liebe eigentlich nie ohne (...) Ehr-furcht ist", als verfehlt. 474 Ebd. 475 PhE, 388f [Zusatz 1827]: „Das Sezen der Mündigkeit geht nicht von den Kindern aus, und so überall, sondern von den Eltern. Eben so im Verhältniß zu Gott ist die Mündigkeit da, wenn nur der Geist als geoffenbart angesehen wird, das äußere Gesez ganz dem Menschen anheimgestellt". Man darf danach wohl auch die unterschiedliche Stellung zum Gesetz in Christentum und Judentum beurteilen; vgl. LJ, 301; CSP, 41ff.; CS, 92 [1826/27]. - Zur religiösen Mündigkeit vgl. auch: CS, 92.222.229.230.239.240. 356.361f.387ff; KG, 24f; LJ, 301.

Apologetik

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ineinschaft erschöpft sich in der öffentlichen Anerkennung der durch Gott gesetzten Mündigkeit: Von der Seite Gottes aus hat die Liebe ebenfalls zwei Aspekte: Im Blick auf die bestehende Ungleichheit zwischen Schöpfer und Geschöpf - vor allem hinsichtlich des jeweiligen Willens - hat sie den Charakter der Reitenden" Liebe. Im Blick auf die gesetzte religiöse Mündigkeit des Geschöpfes - und somit auch hinsichtlich der zunehmenden Willenseinheit - hat sie den Charakter der „freilassenden" Liebe476. Insofern nach christlicher Auffassung in Christus zum ersten Male die Einheit des menschlichen Willens mit dem göttlichen Willen geschichtliche Realität wurde, kann man ihn als den ersten wirklich Freigelassenen der Schöpfung bezeichnen. Es leuchtet auch sofort ein, daß aus ethischer Perspektive der Streit um die Bedeutung des Gesetzes im Zusammenhang der Verkündigung Christi als die folgerichtige Konsequenz dieses Sachverhalts erscheinen muß. Der Gottesdienst im Alltag der Welt war nun nicht mehr die an einer heteronomen Sittlichkeit orientierte Lebenspraxis von Unmündigen, sondern die vernünftige, selbstverantwortliche Wahrnehmung des göttlichen Willens durch religiös mündige Subjekte477. Erst auf dieser Stufe erreicht die „Verähnlichung mit Gott nach Vermögen" ihren Höhepunkt478. Interpretieren wir den Darstellungsbegriff in Schleiermachers berühmter Definition als den Gottesdienst im engeren Sinne, also als die kultische Mitteilung von Frömmigkeit, so ergibt sich folgendes: Der Gottesdienst im engeren Sinne ist primär nicht daraufhin angelegt, Gemeinschaft mit dem niederen menschlichen Vermögen zu stiften, sondern ist zunächst und zuerst derjenige Akt, in welchem die Vernunft am Orte des Individuums479 in Gemeinschaft tritt „mit sich selbst in ändern - welches aber nur möglich ist durch Selbstdarstellung und Offenbarung, so wie diese keinen anderen Zwekk haben kann, als jene Gemeinschaft"480. 476 PhE, 388 [Zusatz 1827], Den Christen erschlossen im Lebenszeugnis Christi. Christi erlösende Tätigkeit ist wesentlich eine freimachende: „das Freimachen war die Tendenz seines ganzen Lebens" (LJ, 347). Vgl. GL2 §100.2, 11.91: ,,(...)so ist es auch mit der schöpferischen Tätigkeit Christi, welche es ganz und gar mit dem Gebiet der Freiheit zu tun hat. Denn seine aufnehmende Tätigkeit ist eine schöpferische, was sie aber hervorbringt, ist durchaus Freies". 477 Vgl. Rom 12, 1-2. 478 Vgl. LJ, 309.360f. Das durch Christus gestiftete Gesamtleben kann daher theologisch von Schleiermacher auch bestimmt werden „als die nun erst vollendete Schöpfung der menschlichen Natur" (GL2 §89,11.23). Vgl. KG, 568. 479 Vernunft realisiert sich nur als personale; vgl. SW III.2, 481. 480 SW III.2, 375. Vgl. CS, 508ff. Dort CS, 513f: „Das darstellende Handeln ist das In die Erscheinung treten der Gemeinschaft selbst, also auch dasjenige, wodurch die Gemeinschaft erst ein Object des Bewußtseins werden kann(...)Ist aber das darstellende Handeln das In die Erscheinung treten der Gemeinschaft selbst: so kann sein Princip in sofern auch nichts anderes sein, als die Liebe, nämlich die Liebe derer zu einander, welche durch die Identität des Geistes einander gleich sind".

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Das Motiv dieses Handelns ist die Liebe als das Gemeinschaft haben wollen mit sich selbst. Die wollende Instanz dabei ist „das höhere geistige des Menschen"481 . Wir haben bereits früher daraufhingewiesen, daß es nach Schleiermacher die eine und in allen selbige Vernunft für uns nur als endlich-menschliche gibt, stets in individualisierten, personalen Realisationen482. Damit erschließt sich aber notwendig die Fülle der Vernunft nie am Orte des Individuums allein, sondern stets nur in der Anschauung des lebendigen Gesamtlebens der Menschheit481. Die Liebe der Vernunft zu sich selbst ist es somit, die die personale Liebe als eine nach außen auf andere Personen gerichtete motiviert484 . Das Wesen der Person - ihre Vemunftbegabtheit - ist der Grund dafür, daß die Person stets nur im Zusammensein mit anderen Personen ganz bei sich zu sein vermag485. Darin gründet auch die Unsittlichkeit eines jeden Sichselbst-Isolierens486: Es ist unvernünftig, dem Wesen personaler Vernunft zuwider. Nun ist es aber nach Schleiermacher das Gottesbewußtsein, das den entwicklungsmäßigen Höhepunkt des menschlichen Selbstbewußtseins bildet487. Das heißt, die von der Vernunft angestrebte Gemeinschaft mit sich selbst realisiert sich sachgemäß nur in Form einer personalen Gemeinschaft in Beziehung auf das Gottesbewußtsein: als Kirche488. Alle anderen Formen menschlicher Gemeinschaft bleiben hinter dieser zurück: Die innigste Gemeinschaft, die zwischen Personen möglich ist, ist die hinsichtlich der Art und Weise, in der ihnen ihre gemeinsame schlechthinnige Abhängigkeit im Gefühl erschlossen ist. Und in dieser Gemeinschaft in bezug auf das Gottesbewußtsein findet die 481 SWIII.2, 375. 482 Vgl. SW III.2, 479f: „Gehört es nämlich zur Vollkommenheit der menschlichen Gattung als solcher, daß jedes organische Einzelwesen auch qualitativ durch seine Mischungs- und Gestaltungsverhältnisse von den anderen verschieden sein müsse: so ist auch die Vernunft in jedem schon vor aller sittlichen Thätigkeit mit diesem eigenthümlichen geeinigt; mithin muß auch die nachfolgende Thätigkeit das Gepräge dieser Eigenthümlichkeit an sich tragen. Demohnerachtet aber bleibt die Vernunft selbst in allen eine und dieselbige und auch diese Selbigkeit muß sich in allen Thätigkeiten offenbaren". Vgl. CS, 51 Of. 483 Ebenso zeigen sich auch die Mängel der erreichten endlich-menschlichen Vernunftrealisation nie hinreichend in der Betrachtung einzelner Personen, sondern stets nur in deren Einbindung in das unsittliche Gesamtleben. Das widerspricht nicht der oben vorgetragenen Auffassung, daß die Veantwortung für die sittliche Gestaltung der geschichtlichen Welt stets bei den einzelnen Handelnden liege. 484 Vgl. CS, 517f. 485 „Selbstliebe" der Person ist daher nur sittlich, „inwiefern man sich Vernunft und Natur noch nicht geeinigt denkt" (PhE, 379 [Zusatz 1827]). Das heißt, die Selbstliebe der Person gehört in das Gebiet dessen, was wir den Gottesdienst im weiteren Sinne genannt haben - hier als die erziehende Liebe: die Versittlichung der eigenen menschlichen Natur - und ist insofern dann auch Pflicht. Vgl. PhE, 664. 486 Vgl. CS, 186.187.191.194.196.210.397ff.418.444.445ff.448.449.452.472. 640; ÄL, 40; u.ö. 487 Vgl. GL2 §5,1.30ff. 488 Vgl. GL2 §6,1.41ff.

Apologetik

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Liebe der göttlichen Vernunft zu sich selbst ihre Erfüllung „als das Sichselbsterkennen des Geistes"489. Insofern das Sichselbsterkennen des göttlichen Geistes am Orte der Gemeinschaft der frommen Subjekte dessen Mitteilung an dieselben voraussetzt also einen Akt der Liebe im oben angegebenen Sinne -, so ist der unmittelbare religiöse Ausdruck für das Wesen Gottes, daß er die Liebe sei490. Das Werk der göttlichen Liebe als der Selbstmitteilung des göttlichen Wesens ist die Erlösung. Im Blick auf den Einzelnen ist damit die Versittlichung der menschlichen Natur zum Ausdruck gebracht, indem diese in Dienst genommen wird vom vernunftgeleiteten Willen, der seinerseits von der Herrschaft des Sinnlichen erlöst ist. Die Person handelt nun als mündiges Subjekt, das weder unter der Macht der Sinnlichkeit sich beugt noch bloß aus Furcht vor Strafe dem Gesetz folgt, sondern aus eigenem - ihm geschenkten - Antrieb das Sittliche anstrebt. Im Blick auf die Gemeinschaft der Erlösten ist das Werk der göttlichen Liebe die Kirche491. Sehen wir nun speziell auf die christliche Kirche, so ist dies diejenige Gemeinschaft von frommen Subjekten, die ihre Frömmigkeit beziehen „auf die durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung"492. Das heißt, nur in bezug auf das Lebenszeugnis Jesu ist Christen Gott als die Liebe gewiß: „abgesehen von der Erlösung und nur in diesem Sinn genommen, bleibt die göttliche Liebe immer etwas Zweifelhaftes"493. Damit ist klar, daß die sachgemäße Thematisierung der göttlichen Liebe im kultischen Handeln sich vollziehen muß im Rekurs auf das Lebenszeugnis 489 GL2 §149.2, 11.389. Der Paragraph beschäftigt sich mit dem Gegensatz zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche. Der nähere Zusammenhang lautet: „Hiermit hängt nun genau zusammen, daß auch die unsichtbare Kirche wesentlich überall eine ist, die sichtbare hingegen immer im Auseinandergehen und Sich-Trennen begriffen. Denn da das innerste Bewußtsein und die innersten Antriebe nichts anderes sind, als die Gegenwart und die lebendigen Regungen des Geistes selbst, so ist die Gemeinschaft derselben nichts anders als das Sichselbsterkennen des Geistes, und diese muß sich also so weit erstrecken, als der Geist derselbige ist, das heißt über die ganze Christenheit. Da sie aber nur eine unsichtbare ist, so fehlt ihr alles, was ihr eine bestimmte Form geben könnte, und sie ist überall und immer nur das unmittelbare Verhältnis aller Begeisteten, die, wie sie sich treffen, in ihrem innersten Sinn zugleich alle ihresgleichen in dieselbe Gemeinschaft einschließen, das heißt: es ist das gemeinsame Streben aller überall durch das Äußere hindurch denselben Geist zu erkennen und an sich zu ziehen"(ebd.). Vgl. GL2 §135.3, 11.315: Dort sieht Schleiermacher das „Selbsterkennen des H. Geistes in uns" an als abhängig von der größtmöglichen Öffentlichkeit: „Daher ist es nur einer ganz oberflächlichen Ansicht vom Christentum möglich, die christliche Gemeinschaft auf das häusliche Leben und auf stille Privatverhältnisse ohne Öffentlichkeit zurückzuführen". Vgl. auch: GL2 §123.3, II.263f. 490 SW III.2, 377; GL2 §167, II.449ff. Präziser wäre noch die Aussage: „Gott liebt" (KG, 529f). 491 GL 2 §113, II.207ff. 492 GL 2 §ll,I.74ff. 493 GL2 §166.1, 11.446; vgl. GL2 §86.2, II.13f. - Zwei der vielen Stellen, an denen Schleiermacher sich als ein früher Vertreter der „Dialektischen Theologie" erweist.

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Jesu, in dem sich die göttliche Liebe offenbart. Es bewährt sich damit auch unsere Zuordnung der Offenbarungsthematik zum Bereich der apologetischen Wesensbestimmung der in der christlichen Kirche geschichtlich wirksamen Kraft. Diese ist konstituiert durch Offenbarung als dem Akt der Selbstmitteilung des göttlichen Wesens494. Vor diesem Hintergrund ist das darstellende Handeln als Gottesdienst im engeren Sinne nichts anderes als die Selbstthematisierung des sich in der Offenbarung an den Menschen mitteilenden göttlichen Wesens. Das Motiv des Gottesdienstes ist somit erst in zweiter Linie die Liebe des Menschen zu Gott als vielmehr zunächst und zuerst die Liebe Gottes zur Welt als dem Ort seiner Gemeinschaft mit sich selbst in uns. Insofern gilt, daß ,, " der „Ausdruck eines unmittelbaren Zusammenhangs mit dem höchsten Wesen"495 ist, kann man den Gottesdienst im engeren Sinne als die irdische Realisation des Himmelreiches ansprechen496.

5.3.4 Zusammenfa ssung Wenn wir die apologetische Wesensbestimmung des Gottesdienstes als Kultus im Horizont von Güter-, Pflichten- und Tugendlehre zusammenfassen, erhalten wir folgendes Ergebnis: 1.) Als sittliches Gut ist der christliche Gottesdienst als Kultus der gesellschaftliche Ort der Selbstthematisierung und ästhetischen Bildung des christlich-frommen Selbstbewußtseins. Er ist der Mittelpunkt des kirchlichen Lebens, in welchem dieses seiner Funktion der Herzensbildung nachkommt. 2.) Pflichtgemäß vollzieht sich der Gottesdienst als Kultus als liturgisch geregelte, allgemein verständliche religiöse Gemeinschaft zum Zwecke der erbaulichen individuellen Mitteilung und Klärung des in Kanon und Bekenntnis hinsichtlich seines zentralen Bezugspunktes wie Gehaltes in klassischer Weise fixierten christlich-frommen Selbstbewußtseins. 3.) Motiviert ist der Gottesdienst - im Kultus wie im Alltag - in der göttlichen Liebe als das Gemeinschaft haben wollen Gottes mit sich selbst in uns. Wh" haben unserer Rekonstruktion von Schleiermachers Philosophischer Theologie des Gottesdienstes das Raster seiner Philosophischen Ethik zugrunde gelegt. Wh- taten dies, obwohl Schleiermacher selbst in seinen theologischen Einlassungen sich stets darum bemühte, in seiner Darstellung auch for-

494 Vgl. ThES, 51: „Alle Religionen die einen bildlichen Kreis ausfüllen, behaupten geoffenbart zu seyn, d.h. sie behaupten eine göttliche Abkunft ihres eigenthümlichen GottesBewußtseyns". 495 LJ, 502. 496 Vgl. auch: SW III.2, 494.

Apologetik

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mal an die traditionelle kirchliche Lehre anzuknüpfen497. Die Entscheidung Schleiermachers, die Darstellung seiner theologischen Lehre vom Ganzen des christlichen Lebens nicht in dem von der Philosophischen Ethik vorgegebenen Rahmen zu geben, sondern - unter steter Berücksichtigung des dort erreichten Problembewußtseins - sich näher an die traditionelle Form der kirchlichen Lehre anzulehnen, hatte natürlich entscheidende strategische Vorteile. Auf diese Weise gelang es ihm, seinen revolutionären Neuansatz in allen klassischen Lehrgebieten in die Diskussion einzuspeisen, was wohl nicht gelungen wäre, hätte er mit dem Gehalt zugleich auch die Form der theologischen Darstellung noch mehr revolutioniert, als er es ohnehin schon tat. Ob und inwiefern Schleiermacher hier die Lehren aus dem diesbezüglichen Mißerfolg seiner „Gnmdlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" gezogen hat, mag offen bleiben. Welcher Vorteil ist aber unserer Rekonstruktion daraus entstanden, als wir auf Schleiermachers „ursprüngliche Einsicht" in die sachgemäße Darstellung der sittlichen Welt, wie er sie in seiner Philosophischen Ethik entwickelt hat, über seine theologische Darstellung hinaus zurückgegriffen haben? Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist ebenderselbe, der für Schleiermachers ethisches Raster überhaupt angerührt werden kann: Es wird auf die Weise dieser Darstellung vermieden, ein komplexes sittliches Gefüge - hier: „Gottesdienst" - auf einen seiner sittlichen Teilaspekte zu reduzieren. Der Gottesdienst ist nicht voll erfaßt, wenn man ihn reduziert auf seine Funktion im christlichen Gesamtleben - wenn er auch nur mit diesem Aspekt voll erfaßt werden kann. Der Gottesdienst ist unterbestimmt, wenn er nur als pflichtgemäßes Handeln in den Blick kommt - wenn er auch nur unter Berücksichtigung dieser Perspektive voll bestimmt werden kann. Der Gottesdienst ist auch nicht auf seine Motivation zu reduzieren - wenn er auch nur mit der Reflexion auf dieselbe als ethisches Phänomen voll getroffen werden kann. Voll erfaßt ist der Gottesdienst als ethisches Phänomen, wenn sowohl sein Motiv als auch das diesem Motiv entspringende Handeln und dessen Resultat im Gesamtgefüge des gesellschaftlichen Lebens je für sich thematisiert worden sind und sich dadurch gegenseitig konkretisieren. Ob und inwiefern bestimmte Einseitigkeiten der Rezeption von Schleiermachers Gottesdiensttheorie - oder bestimmte Verkürzungen der Gottesdiensttheorie überhaupt - in der Mißachtung dieser grundlegenden Einsicht von Schleiermachers Philosophischer Ethik ihre Ursache haben, hegt jenseits der Fragestellung der vorhegenden Studie. 497 Wie sehr Schleiermachers Argumentation in seiner Glaubenslehre an der theologischdogmatischen Diskussionslage seiner Zeit bzw. der kirchlich-dogmatischen Tradition ausgerichtet war und nicht nur etwa der inneren Logik seines dogmatischen Ansatzes strikt folgt, zeigen die von Ulrich Barth herausgegebenen Marginalien Schleiermachers zur ersten Auflage seiner Glaubenslehre sowie die ebenfalls in dem von Barth herausgegebenen dritten Teilband zur ersten Auflage der Glaubenslehre befindliche Sammlung von Texten, mit denen Schleiermacher in seiner Glaubenslehre das Gespräch geführt hat (Schleiermacher, KGA 1.7,3).

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6. Polemik 6. l Die innere Organisation der Polemik nach der „Kurzen Darstellung" Wie die Apologetik so hat auch die Polemik ihre Grundbegriffe formal vorgegeben in den wesentlichen Momenten geschichtlich-sittlichen Gemeinschaftslebens, wie sie in der Ethik wissenschaftlich fixiert sind. Der spezifisch christliche Gehalt dieser Begriffe wird jedoch erst in ihrer kritischen Anwendung auf die christliche Gemeinschaft ermittelt498. Dieses Bezogensein der formalen Grundbegriffe auf ihre materiale Füllung im kritischen Verfahren - und umgekehrt - hatte Schleiermacher im Abschnitt zur Apologetik vermittelst der Wechselbegriffe des Natürlichen und des Positiven dargestellt. Prinzipiell sind im Blick auf geschichtlich- sittliche Phänomene zwei Krankheitsformen denkbar: „Zurücktreten der Lebenskraft und beygemischtes Fremdartiges. Jenes ist ein quantitativer, dieses ein qualitativer Fehler"499. Als Maßstab fungiert hierbei allerdings nicht ein geschichtlich gegebener Zustand der Kirche, sondern der Begriff von deren Wesen500. Die Lebenskraft der Frömmigkeit kann geschwächt sein entweder in bezug auf das eigentümlich christliche Gefühl selbst oder in bezug auf dessen Trieb zur Gemeinschaftsbildung501. Diese beiden unsittlichen Zustände werden von Schleiermacher als „Indifferentismus" und „Separatismus" namhaft gemacht502. Die Verunreinigung der Frömmigkeit kann erfolgen entweder in der Lehre oder in der Verfassung. Dabei nennt Schleiermacher das Eindringen fremder Elemente in die lehrmäßige Darstellung des christlich-frommen Selbstbewußtseins ,,Häresie". Ist die Organisation des kirchlich-christlichen Lebens an etwas anderem orientiert als an der Mitteilung des christlich-frommen Selbstbewußtseins, so entsteht ein „Schisma"503.

498 KD2 §59; ThES, 65. 499 ThES, 62f. Vgl. KD2 §54. 500 ThES, 63: „Der Normalzustand der Kirche ist eine Fiction wie der NormalgesundheitsZustand im Menschen, da man keinen in jeder Beziehung ganz gesunden Menschen finden wird. So ist der Normalzustand der Kirche im geschichtlichen Verlauf der Kirche nicht zu finden, sondern blos ein Princip der Beurtheilung für die geschichtlichen Bewegungen, je nachdem sie Annährung oder Rückschritt sind; wenn leztrer nachgewiesen werden kann, so ist Material für Polemik vorhanden". 501 KD2 §55; ThES, 63. 502 KD2 §§56f; ThES, 63f. Zum Indifferentismus vgl. auch: CS, 580ff. 503 KD2 §58; ThES, 64f. Vgl. GL2 §149.3,11.391: „Nicht nur aber gibt es keine andere unser Verhältnis in der Kirche störende Einwirkung dessen, was in uns noch Welt ist, als die, welche den Geist betrüben, den zur Wahrheit führenden als Irrtum, und als Spaltung den bindenden und einigenden; sondern beides hängt auch so genau zusammen, daß eines nur an dem ändern erkannt werden kann. Manches kann als eine Störung der Gemeinschaft erscheinen, ist aber keine, wenn es nicht auch eine Abweichung von der

Polemik

143

Die Polemik richtet sich also gegen Indifferentismus, Separatismus, Häresie und Schisma. Schematisiert hat die Polemik folgende Bestandteile:

Mangelnde Lebenskraft (Quantitativer Mangel)

Mangelnde Reinheit der Frömmigkeit (Qualitativer Mangel)

Inbezugauf die Frömmigkeit

Indifferentismus

Häresie

In bezug auf die fromme Gemeinschaft

Separatismus

Schisma

Schleiermachers Präsentation der polemischen Grundbegriffe überrascht zunächst dadurch, daß sie diese nicht explizit im Gegenüber zu den apologetischen Grundbegriffen entwickelt - gewissermaßen als deren Negativfolie504. Implizit lassen sich aber sehr wohl Verbindungen aufzeigen. So wird als ein mögliches Verfahren der Polemik das Aufweisen inhaltlicher Mängel genannt505 . Dies kann sich sinnvoll nur auf Häresie und Schisma beziehen506. Diese erweisen sich darin als Häresie und Schisma, daß sie dem Wesen des Christentums theoretisch und praktisch zuwiderlaufen, die Identität der christlichen Kirche in ihrer geschichtlichen Erscheinung also auflösen. Nun sind aber in der Apologetik Kanon/Sakrament bzw. Konfession/Ritus als charakteristische Merkmale christlicher bzw. protestantischer Identität in der Geschichte behauptet worden. Und Schleiermacher hatte in der ersten Auflage seiner ,^Kurzen Darstellung" Häresie und Schisma ganz folgerichtig als Widerspruch gegen Kanon und Sakrament bzw. Konfession und Ritus notiert507. Wenn dies in der zweiten Auflage unterbleibt, so mag dies damit zu erklären sein, daß für Schleiermacher Kanon und Sakrament bzw. Konfession und Ritus nicht umstandslos mit geschichtlich vorhegenden Dokumenten oder Verhaltensweisen identisch sind508 und daß er entsprechenden Mißverständnissen wehren wollte509. Der Maßstab zur Ermittlung kirchlicher Krankheitszustände ist nicht

504

505 506 507 508 509

Wahrheit ist; und so auch ist nichts, was ein Irrtum oder eine Sünde zu sein scheint, eine solche, wenn es nicht zugleich auch die Gemeinschaft stört". Die I.Auflage der „Kurzen Darstellung" hatte zumindest den Vollzug der Polemik noch explizit auf Kanon/Sakrament bzw. Konfession/Ritus als Instanzen der Orientierung verwiesen (KD, l.Aufl., §8 [=Scholz, 26]), aber dieser Querverweis wurde in der 2. Auflage getilgt. KD2 §60. ThES, 66, spricht auch ausdrücklich von Fremdartigem, das hier zu bestimmen sei. a.a.O Vgl. ThES, 103f. Bereits die I.Auflage der „Kurzen Darstellung" hatte den Kanon nur als „Idee" konzipiert: §§lf[=Scholz, 43].

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Philosophische Theologie des Gottesdienstes

irgendwo im Verlauf der Kirchengeschichte zu finden, sondern ist eine begriffliche „Fiction". Häresie und Schisma offenbaren sich daher nicht unmittelbar im Widerspruch gegen Kanon und Sakrament bzw. Konfession und Ritus, sondern im Widerspruch gegen die in diesen realisierte „Tendenz"510 zur lehrund verfassungsmäßigen Einheit und sind insofern die geschichtliche Identität der Kirche auflösend. Häresie und Schisma verstoßen gegen den Geist traditioneller kirchlicher Lehre und Verfassung, wobei unter Umständen sogar der Wortlaut und der äußere Rahmen desselben unangetastet bleiben können. Der Aufweis von Häresie und Schisma vollzieht sich somit als ein analytisches Verfahren, es legt die identitätszerstörenden Konsequenzen von Häresie und Schisma offen. Diese Verfahrensweise beschreibt Schleiermacher in der „Christlichen Sittenlehre" so: „Denn wenn verschiedene Meinungen ausgeglichen werden sollen über die christliche Lehre selbst, und jemand nicht anerkennen will, daß etwas zur christlichen Lehre gehört: so muß man ihm zeigen, daß er mit demselben zugleich sein Interesse an der Kirche aufgeben müsse, daß mit demselben die Voraussezung selbst stehe oder falle"5''. Es leuchtet von selbst ein, daß Indifferentismus und Separatismus ein anderes Vorgehen erfordern512. Das Interesse an der christlichen Frömmigkeit und an der christlich-frommen Gemeinschaft entzündet sich nicht unmittelbar an Kanon und Sakrament bzw. Konfession und Ritus, sondern an dem in diesen Formen ausgedrückten Gehalt. Nicht Bibel oder Abendmahl als solche, Confessio Augustana oder evangelischer Gottesdienst als solche sind das Interessante am Christentum bzw. am Protestantismus, sondern der, der sich dort mitteilt: offenbart. Die Polemik im Bück auf Indifferentismus und Separatismus wird sich daher vollziehen als Aufweis menschlicher Verstocktheit gegenüber der Offenbarung513 und als Aufweis des Getriebenseins von Motiven, die nicht ui der offenbarten göttlichen Liebe ihren Ursprung haben. Das, was in der Apologetik unter den Stichworten Hierarchie und Kirchengewalt abgehandelt wird, findet in der Polemik seinen Platz im Zusammenhang des Häretischen und vor allem des Schismatischen514. Man könnte die Resul510 Vgl. ThES, 59. 511 CS, 6. Zur Anwendung dieses Verfahrens vgl.: CS, 62.118f.121.159.173. 512 Vgl. CS, 6, wo es unmittelbar im Anschluß an die eben zitierte Stelle heißt: „Wenn dagegen erst das Interesse an der Kirche erzeugt werden soll: so kann man nicht auf dieselbe Weise verfahren, sondern dann gilt es, etwas in dem Menschen zu erwekken, was noch nicht in ihm ist". Vgl. auch: CS, 18ff. 513 Gänzliches Desinteresse an der Frömmigkeit überhaupt ist für Schleiermacher nur als Aufhebung des menschlichen Wesens denkbar. In unserem Zusammenhang ist aber auch ein gänzliches Desinteresse an der christlichen Frömmigkeit ausgeschlossen, da die Polemik als interne Selbstkritik des kirchlichen Lebens christliche Frömmigkeit immer schon - wie rudimentär auch immer - unterstellt. 514 So polemisiert Schleiermacher etwa gegen die unsachgemäße Verquickung politischer und religiöser Strukturen in England oder gegen eine interne Organisation der Christ-

Polemik

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täte häretischen und schismatischen Handelns im frommen Gesamtleben vielleicht am ehesten als kirchliche Anarchie - im Blick auf die kirchliche Binnenstruktur515 - und kirchliche Ohnmacht - im Bück auf das Ausgeliefert sein der kirchlichen Gemeinschaft an externe Machtansprüche516 - bezeichnen. Wenn auch weniger deutlich als die Apologetik, so deckt die polemische Blickrichtung doch alle wesentlichen Momente kirchlich-christlichen Lebens ab: Sie erfaßt Mängel hinsichtlich der christlichen Motivation ebenso wie Devianzen der christlichen Handlungsvollzüge und deren defizitärer Resultate. Eingezeichnet in den ethischen Schematismus ergibt sich daraus folgendes Büd: Ethischer Schematismus [des defizitären christlichen Lebens]

Themen der Polemik

Motiviert durch

Indifferentismus (KD2 §56) Separatismus (KD2 §57)

Vollzug

Häretisch/Schismatisch (KD2 §58)

Resultat im frommen Gesamtleben

Häresie/Schisma (KD2 §58) [Anarchie/Kirchliche Ohnmacht]

6.2 Skizze der Polemischen Theologie des Gottesdienstes als Kultus Die Polemik des protestantischen Gottesdienstes als Kultus wird sich - wie die Apologetik - in drei Hinsichten zu vollziehen haben: (A) Als Polemik im Blick auf das Verfehlen seiner wesentlichen Funktion im Zusammenhang der gesellschaftlichen Institutionen: An die Stelle der Konzentration auf das christlich-fromme Selbstbewußtsein und die Stiftung christlich-frommer Gemeinschaft treten Häresie und Schisma. (B) Als Polemik im Blick auf seine unsachgemäße Vollzugsgestalt im Widerspruch zu Kanon und Sakrament bzw. Konfession und Ritus. (C) Als Polemik im Blick auf seine geschwächte Motivation: An die Stelle brennender Liebe zur Offenbarung treten Indifferentismus und Separatismus. liehen Kirche gemäß der Idee des jüdischen Priesterstandes; ThES, 67 (vgl. etwa: KG, 223). 515 Etwa ein unsachgemäßes Verhältnis zwischen Klerus und Laien. 516 Etwa die erwähnten englischen Zustände. Schleiermacher hatte selbst mehrmals Gelegenheit, politische Übergriffe in die kirchliche Interessensphäre mutig zu beanstanden.

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Da die Thematik der einzelnen Hinsichtnahmen bereits im Zusammenhang der Apologetik entfaltet wurde, können wir uns hier auf einen knappen Aufriß beschränken.

6.2. l Polemik gegen die häretische und schismatische Verfassung des Kultus Die Organisation des Kultus kann zum Gegenstand der Polemik517 werden entweder, wenn in ihm systematisch andere Themen als das christlich-fromme Selbstbewußtsein in den Vordergrund gestellt werden - Häresie -, oder aber, wenn die Organisation des Kultus sich an anderen Gesichtspunkten als den funktionalen Bedürfnissen der gemeinschaftlichen Mitteilung und Klärung des christlich-frommen Selbstbewußtseins orientiert - Schisma. Zwar muß grundsätzlich das Gesamt des gesellschaftlichen Lebens zum Bezugspunkt religiöser Mitteilung werden können, aber eben als Thema des christlich-frommen Selbstbewußtseins51 . Wenn und insofern sich dieses ausspricht, dann ist Kultus - anderenfalls eine politische Veranstaltung5", ein wissenschaftliches Seminar, ein geselliges Beisammensein oder eben ein nichtchristlicher Kultus. Der christliche Kultus hat hier die Tendenz zum Götzendienst, indem er anderes als den im Lebenszeugnis Jesu offenbarten Gott zum Zentrum der religiösen Mitteilung macht. Gegenstand der Polemik wird der Kultus auf der anderen Seite, wenn seine Gestaltung aus politischen, wissenschaftlichen oder geselligen Gesichtspunkten heraus erfolgt520. Auch hier verliert der christliche Kultus notwendig seinen eigentümlichen Charakter, weil seine Form seinem Inhalt nicht mehr gemäß ist521. Speziell an diesem Punkt ist deutlich, wie bedeutend die Rolle der Ästhetik auch für die Polemik ist.

6.2.2 Polemik gegen den häretischen und schismatischen Vollzug des Kultus Der Vollzug des Kultus durch den Einzelnen kann zum Gegenstand der Polemik werden, wenn dessen Handlungen im Kultus nicht die Tendenz zur Stif-

517 5t8 519 520

Vgl. CS, 560ff. Vgl. PrTh, 85.87.96ff.246. u.ö. Vgl. PrTh, 155.209ff. Vgl. etwa. KSPII, 70f, sowie die in den beiden letzten Anmerkungen genannten Stellen aus der Praktischen Theologie. 521 Hier wäre heute etwa zu untersuchen, ob und inwiefern der christliche Kultus im Medium des Fernsehens oder des Hörfunks seinem Wesen treu zu bleiben vermag, wenn sich seine Gestaltung vor allem orientiert an der Medienwirksamkeit der jeweiligen kultischen Vollzüge.

Polemik

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tung einer gemeinsamen Vorstellungs- und Darstellungswelt der christlichen Frömmigkeit der zum Kultus versammelten Gemeinde haben522: „Eine Abstraction vom christlichen in der Darstellung zu Gunsten einer allgemein religiösen Darstellung aus Gleichgültigkeit gegen das christliche Princip ist unsittlich"521.

6.2.3 Polemik gegen die indifferente und separatistische Einstellung zum Kultus Die Einstellung des Einzelnen zum Kultus kann zum Gegenstand der Polemik werden, wenn diese durch Lieblosigkeit und nicht durch Liebe bestimmt ist. Wir hatten das Wesen des Kultus im Bück auf sein Motiv dahingehend fixiert, daß der Kultus motiviert sei in der im Lebenszeugnis Jesu offenbarten göttlichen Liebe als das Gemeinschaft-haben-wollen Gottes mit sich selbst in uns. Indüferentismus524 und Separatismus525 dem Kultus gegenüber können nun füglich keine andere Ursache haben als die mangelhafte Ergriffenheit von dieser im Lebenszeugnis Jesu offenbarten göttlichen Liebe526. Die Polemik kann folglich hier gar nicht anders verfahren als so, daß sie eben genau dieses Lebenszeugnis Jesu im Vertrauen auf dessen Selbstevidenz immer wieder neu öffentlich in sachgemäßer Form präsentiert527. Die einzig sachgemäße Polemik der indifferenten und separatistischen Einstellung zum Kultus besteht deshalb in dessen Vollzug in der möglichst größten Treue zu seinem Thema: der Selbstmitteilung der göttlichen Liebe526 522 523 524 525 526

Vgl. CS, 56If. CS, 588. Vgl. CS, 580. Vgl. CS, 578f. In seiner Vorlesung über die Geschichte der christlichen Kirche erwähnt Schleiermacher Hugo von Rouen als einen der vorzüglichsten Männer „aus dem lezten Viertel des elften bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts" (KG, 492). Dieser hatte gelehrt: „Die Seele nach dem Bilde Gottes giebt auch eine Analogie für die Trinität: Selbstbewußtsein (Vater) zeugt Selbsterirmerung (Sohn) und aus beiden entsteht Selbstliebe (Geist)" (ebd.). Schleiermacher referiert weiter: „Man vereinigte sich darüber, daß der Geist die Selbstliebe des göttlichen Wesens ist, darnach wäre die Sünde wider den heiligen Geist die Sünde wider die Selbstliebe des göttlichen Wesens" (KG, 493). Moniert wird von Schleiermacher an Hugo die Verwirrung zwischen Theologie und Philosophie, innerer Erfahrung und Spekulation. - Hugo war in seiner Ausdeutung der Trinitätslehre kein Einzelfall. Auch Abälard hat sich in vergleichbarer Weise geäußert (KG, 496). „Aehnliche Bestimmungen finden sich vielmals in dieser Zeit, indem man in der Trinität unterschied Können, Wissen und Wollen" (ebd.). Vgl. auch KG, 506f. 527 Vgl. GL2 §100.3, II.93ff.; §118.1,11.227. 528 Alle anderen Verfahrensweisen können es bei dem jeweils Desinteressierten stets nur dahin bringen, dem Kultus doch noch eine Chance zu geben und noch einmal hinzugehen. Dann aber muß der Kultus selbst dafür einstehen, den Besuch zu lohnen.

§ 4 Historische Theologie des Gottesdienstes als Kultus l. Schleiermachers Projekt einer Historischen Theologie* Schleiermachers Theologieprogramm ist die formale Entfaltung der im Interesse an einer zusammenstimmenden Leitung der christlichen Kirche geforderten Kenntnisse und Fertigkeiten2. Das zentrale Desiderat im Blick auf die geforderten Kenntnisse ist die Ausbildung geschichtlichen Bewußtseins3. Die steuernde Einflußnahme auf die weitere Entwicklung eines geschichtlich-sittlichen Phänomens, wie es die protestantische Kirche ist, setzt voraus, daß dieses zunächst in seinem geschichtlichen Gegebensein in den Blick gefaßt wird. Da nach Schleiermacher geschichtlich-sittliche Phänomene dadurch charakterisiert sind, daß sie Realisationsweisen von geschichtsmächtigen Ideen sind4, umfaßt die sachgemäße historische Anschauung auf der einen Seite die Bestimmung der geschichtsmächtigen Idee, die einer Erscheinung zugrunde liegt - ihr Wesen -, und auf der anderen Seite die empirische Auffassung der Realisationen dieses Wesens im geschichtlichen Verlauf. Diese beiden Aufgaben werden in der Theologie im Zusammenspiel von Philosophischer und Historischer Theologie bearbeitet5, sodaß die historische Anschauung des Christentums Historische Theologie und Philosophische Theologie umfaßt6. Die Philosophische Theologie beschrieb das zentrale Motiv christlichen Handelns und christlicher Gemeinschaft als das gläubige Bezogensein auf die 1

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Vgl. zu dieser Thematik: H. Jursch, Schleiermacher als Kirchenhistoriker; W. Grab, Humanität und Christentumsgeschichte. - Zum theologiegeschichtlichen Kontext vgl. Wilhelm Maurer, Das Prinzip des Organischen in der evangelischen Kirchengeschichtsschreibung des 19.Jahrhunderts, 266ff, sowie die Skizze von Gustav Adolf Benrath, Evangelische und katholische Kirchenhistorie im Zeichen der Aufklärung und der Romantik. KD2 §5. ThES, 3. Vgl. Schleiermachers Bemerkung zu §102 der „Kurzen Darstellung", ThES, 102: „die Theologie ist nichts anderes als eine historisch kritische Wissenschaft". Vgl. KG, 624; ThES, 144ff. Vgl. KD2 §65; ThES, 69f - ThES, 69, Z.39, scheint ein Druckfehler oder ein Versehen des Nachschreibers vorzuliegen, und es ist wohl „philosophische" durch „historische" zu ersetzen, sodaß es heißt: „So ist also eine richtige historische [im Text: philosophische; R.S.] Behandlung des Christenthums nur möglich unter Voraussezung einer vollkommenen philosophischen Theologie". Vgl. oben §1.2.

Schleiermachers Projekt einer Historischen Theologie

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im Lebenszeugnis Jesu offenbarte göttliche Liebe7. Alle christlichen Lebensvollzüge wollen nichts anderes sein als die Anknüpfung und Fortsetzung der Tätigkeit Jesu. Am reinsten und unmittelbarsten wird dies anschaulich in den Berichten über das urchristliche Leben8. Zu diesem Zeitpunkt waren das christliche Gemeinschaftsleben und die Selbstthematisierung des christlichen Glaubens noch so sehr unter dem unmittelbaren Einfluß des Totaleindruckes von Jesu Person, daß eine Vermischung mit anderen Einflüssen noch weitgehend unterblieb9. Die wissenschaftliche Erhebung jener „reinsten" Form der christlichen Frömmigkeit erfolgt in demjenigen Teil der Historischen Theologie, der der „Kenntnis des Urchristentums" gewidmet ist10. Schleiermacher nennt diesen Teil dann in Anpassung an den traditionellen Sprachgebrauch auch die „Exegetische Theologie"1'. Da hier das Wesen des Christentums am reinsten zur Anschauung gelangt, ist es vorzüglich dieser Teil der Historischen Theologie, der als Bezugspunkt des kritischen, den Begriff des Wesens des Christentums bestimmenden Verfahrens der Philosophischen Theologie in Frage kommt12. Daher sind es auch genau diese beiden Disziplinen der Philosophischen und der Exegetischen Theologie, in welchen jeder Theologe eine umfassende Virtuosität entwickeln muß, ohne sich auf die Einsichten anderer verlassen zu dürfen13. Damit ist der historischen Anschauung der Geschichte des Christentums auch ihr Maßstab gegeben. In der Anwendung dieses Maßstabes vollzieht sich dann die weitere Historische Theologie als die beschreibend-wertende Erfassung der gegebenen historischen Gestalten christlicher Frömmigkeit und christlicher Gemeinschaft in ihrem geschichtlichen Zusam-

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GL2 §11, I.74ff. §14, I.94ff. Vgl. auch: GL2 §112.3, 11.202; §112.5, II.204ff.; §124.2, 11.267. Eine besonders eindrückliche Beschreibung des Wesens dieses gläubigen Bezogenseins auf die im Lebenszeugnis Jesu offenbarte göttliche Liebe gibt Schleiermacher in seinem „Leben Jesu", LJ, 307: „Offenbar ist, daß die Ueberzeugung, Gewißheit, welche in mit liegt, nicht als eine theoretische kann angesehen werden eben wegen der zugleich praktischen Richtung des Worts: es ist die Gewißheit, welche unmittelbar dem Selbstbewußtsein einwohnt und unter der Form desselben sich ausspricht, und darin liegt immer eine wesentliche Beziehung auf das Handeln: es ist immer eine Gewißheit, die die Basis alles Handelns sofern es sich auf das Verhältniß zu Gott und den göttlichen Willen ganz im allgemeinen bezieht". KD2§83.§87;ThES, 85ff.87f.91ff. Vgl. GL2 §150.1, 11.391.- Damit wird das Urchristentum nicht als „goldenes Zeitalter" des Christentums bewertet. Es ist zwar der „reinste" Ausdruck der christlichen Frömmigkeit, aber zugleich auch der „unvollkommenste" Zeitpunkt der christlichen Kirchengeschichte (ThES, 85f), da das Christentum hier allererst am Beginn seiner weltumspannenden Tätigkeit steht. KD2 §84; ThES, 85ff. KD2 §88; ThES, 92ff. KD2 §89; ThES, 94.128 („Aufgabe, aus den ersten Äusserungen des Christenthums seinen Begriff finden"). 246. KD2 §89; ThES, 94.

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Historische Theologie des Gottesdienstes

menhang mit der gegenwärtigen Handlungssituation der christlichen Kirche zum Zwecke „der Hervorbringung einer Zukunft aus der Gegenwart"14. Den Zeitraum zwischen jenem Anfang der Christentumsgeschichte und ihrem je gegenwärtigen Zustand deckt die Historische Theologie im engeren Sinne ab, die die Kenntnis des eigentlich geschichtlichen Verlaufs ermittelt15. Die Kenntnis des je gegenwärtigen Zustandes der christlichen Kirchengemeinschaft, deren sachgemäße Leitung die Theologie orientieren soll, bildet den Abschluß der Historischen Theologie16. Diese AusdifFerenzierung der drei Teile der Historischen Theologie als die drei wesentlichen Momente eines geschichtlichen Phänomens betreffend - Anfangspunkt, Verlaufsgestalt, Endpunkt17 -, wird von Schleiermacher noch ergänzt dadurch, daß jeder dieser drei Disziplinen erne bestimmte Hmsichtnahme auf das geschichtliche Phänomen eigentümlich ist, sodaß letzten Endes die je eigentümliche Perspektive das charakteristische Merkmal der drei Disziplinen ist, unabhängig vom jeweils betrachteten Zeitraum18. Das Teüungsprinzip, das der Aufteilung der Historischen Theologie in ihre drei Unterdisziplinen zugrunde liegt, ist also nicht unmittelbar ein empirisches, chronisches, wie schon Schleiermachers Zeitgenossen irrtümlich annahmen19 Die Exegetische Theologie faßt die christliche Frömmigkeit auf „als Ein untrennbares werdendes Sein und Tun"20. Sie betrachtet die „ursprünglichen Äußerungen"21, die „Identität des bewegenden Princips"22, den „Tmpnls"23 y der gleichmäßig allen geschichtlichen Realisationsweisen der christlichen Frömmigkeit zugrunde hegt, seien es eher kultische, eher lehrmäßige oder aber auch das eigentümliche Gepräge der christlichen Sittlichkeit im Alltagsleben. Die Kenntnis des je gegenwärtigen Zustandes erfaßt die geschichtliche Gestalt der christlichen Frömmigkeit „als ein Zusammengesetztes aus unendlich vielen einzelnen Momenten"24. Hier wird der geschichtliche Verlauf in der Betrachtung stillgestellt und das Phänomen in seiner Breite analysiert25. 14 ThES, 84. „Das nüzliche und wesentliche der Geschichte ist daher, diejenigen Momente, die durch die Geschichte fortlaufen, bis jezt zu erkennen und in der Vergangenheit einen lebendigen Spiegel zu haben für die Gegenwart, in der man die Zukunft erblikken kann, um desto besser auf sie zu wirken" (KG, 622). 15 KD2 §82; ThES, 85. 16 KD 2 §81;ThES, 84f. 17 ThES, 78f. 18 ThES, 143f.l81. 19 Vgl. Ferd. Friedr. Zyro, Versuch einer Revision der christlich theologischen Enzyklopädik, 698f. 20 KD2§150. 21 ThES, 143f. 22 ThES, 144. 23 Ebd. 24 KD2§150. 25 ThES, 144: „Man kann den geschichtlichen Verlauf in jedem Moment hemmen, und dann bekommen wir den Moment in der ganzen Breite seines Gegenstandes, und dieß

Schleiermachers Projekt einer Historischen Theologie

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Von der Historischen Theologie im engeren Sinne - der Kirchengeschichte sagt Schleiermacher nun, sie sei „die ächtgeschichtliche Behandlung"26 als das Ineinanderweben der beiden anderen Betrachtungsweisen27. An diese ideale geschichtliche Betrachtung gibt es aber nur Approximationen28. Und so ist das geschichtliche Bewußtsein, das die Theologen ausbilden sollen, immer nur annäherungsweise ihrem geschichtlichen Gegenstand gemäß29. Orientiert man sich an der Ableitung der drei Disziplinen der Historischen Theologie aus den wesentlichen Momenten eines geschichtlichen Phänomens Anfangspunkt, Vollzugsgestalt, Endpunkt - so ließen diese sich auch wiederum mit dem ethischen Schematismus in Verbindung bringen. Die Exegetische Theologie entspräche der Tugendlehre als Thematisierung des zugrundehegenden Impulses, die Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes der Güterlehre als Thematisierung des Verweisungszusammenhanges der einzelnen Momente und die Kirchengeschichte der Pflichtenlehre, deren Nähe zur Geschichte wir bereits erwähnt hatten. Die Historische Theologie deckt somit in ihren drei Unterdisziplinen sowohl den gesamten Verlauf der Christentumsgeschichte ab, als von ihr auch die ganze Breite dessen erfaßt wird, was zu den vielfältigen Erscheinungsformen christlicher Frömmigkeit überhaupt gezählt werden kann. So wie die Philosophische Theologie den begrifflichen Rahmen zum Verständnis eines jeden möglichen Aspektes des christlichen Lebens bereitstellt, so bietet die Historische Theologie die Darstellung eines jeden verwirklichten Aspektes möglichen christlichen Lebens. In Anlehnung an Schleiermachers berühmte Verhältnisbestimmung von Sittenlehre und Geschichtskunde30 kann man formulieren: Die Historische Theologie ist das Bilderbuch der Philosophischen Theologie und die Philosophische Theologie das Formelbuch der Historischen Theologie. Damit ist aber auch klar, daß es außer philosophisch-theologischen und historisch-theologischen Kenntnissen nichts weiter Wissenswertes 'm der Theologie in bezug auf das Christentum als historisches Phänomen geben kann. Alle Kenntnisse, über die die Theologie verfügen muß, betreffen entweder die geschichtliche Existenz des Christentums und gehören insofern der Historischen Theologie an, oder sie betreffen den transzendentalen Möglichkeitsraum christlichen Lebens und gehören insofern der Philosophischen Theologie an.

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ist dann diejenige Behandlung, wie sie im 3ten Abschnitt vorkommt, eine solche kann man von einem jeden Moment machen". Vgl. ThES, 181. ThES, 144. KD2§150. ThES, 144 ThES, 144: „Nun aber ist ein Seyn oder Thun nur dann geschichtlich dargestellt, wenn dieses Beydes dargestellt ist; denn ich habe die Thatsachen nur wenn ich den Impuls habe, und ich habe auch das Ganze nicht klar ausser wenn die Differenz der Zustände in Betracht kommt. Also ist beydes ein historisches Element, die historische Darstellung aber eine Zusammenfassung von beyden". PhE, 549[§108].

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Historische Theologie des Gottesdienstes

Die Praktische Theologie ordnet dagegen jene Kenntnisse zu einem Regelwissen, das notwendig ist, um das in einer bestimmten geschichtlichen Situation wünschbare Mögliche in Wirkliches zu überfuhren3'. Es ist vor diesem Hintergrund völlig konsequent, wenn Schleiermacher die Dogmatik der Historischen Theologie zuordnet als „die Wissenschaft von dem Zusammenhange der in einer christlichen Kirchengesellschaft zu einer gegebenen Zeit geltenden Lehre"32. In der Dogmatik spricht das fromme Selbstbewußtsein sich nicht über den Inbegriff der Möglichkeiten aus, wie es als christliches bestimmt sein kann, sondern es artikuliert seme je gegebene Bestimmtheit als christlich-frommes Selbstbewußtsein im Rahmen der ihm zu Gebote stehenden Instrumente präziser wissenschaftlicher Sprache33.

2. Die Aufgabe einer Historischen Theologie des Gottesdienstes als Kultus Im ersten Hauptteil dieser Arbeit hatten wir die umfassende theologische Gestalt der Gottesdiensttheorie entfaltet und der Historischen Theologie dabei die Aufgabe der beschreibend-bewertenden Erfassung der gegebenen historischen Gestalten christlichen Gottesdienstes vom Urchristentum bis zur Gegenwart im Lichte des philosophisch-theologischen Begriffes vom Wesen des christlichen Gottesdienstes zugewiesen. Nachdem wir nun Schleiermachers Projekt einer Historischen Theologie kursorisch vorgetragen haben, müssen wir diese Einlassung präzisieren. Die Exegetische Theologie betrachtet die christliche Frömmigkeit und das christliche Gemeinschaftsleben in seiner Einheit, ohne einzelne Momente darin zu isolieren. Damit scheint eine eigenständige Thematisierung des Gottesdienstes als Kultus im Rahmen der Exegetischen Theologie ausgeschlossen zu sein. Das wäre aber ebenso kurzschlüssig wie die Reduktion der philosophisch-theologischen Wesensbestimmung des Kultus auf dessen Thematisierung im Horizont der Güterlehre, ohne das Wesen des gottesdienstlichen Handelns oder dessen wesentliche Motivation zu berücksichtigen. 31 Vgl. PrTh, 17: „Der praktischen Theologie werden alle die Kunstregeln angehören die sich auf die leitende Thätigkeit beziehen, und der übrigen theologischen Wissenschaft die Kenntnisse". - Vgl. W. Grab, Kirche als Gestaltungsaufgabe, 160ff. 32 GL2 §19; 1.119. Vgl. KD2 §97; ThES, 99f. Vgl. auch ThES, 243: „Die wissenschaftliche GlaubensLehre soll ja aber nicht das Princip selbst darstellen, sondern wie sich dieses zu verschiedenen Zeiten verschieden geäussert hat". 33 Vgl. H. Pachali, Historische Dogmatik, 104f: „Hier sehen wir zunächst, daß „historisch" in Schleiermachers Anwendung auf die Dogmatik nicht nur „geschichtlich beschränkt" bedeuten kann, sondern auch „geschichtlich notwendig" bedeuten muß. Die Dogmatik soll eben dem Prinzip und dem Charakter ihrer Periode gemäß sein. Es ist für sie kein Tadel, wenn sie nicht zugleich zur Dogmatik für eine andere Periode sich eignet, sondern vielmehr ganz das Rechte, wenn es so mit ihr steht!"

Die Aufgabe einer Historischen Theologie des Kultus

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Die Exegetische Theologie betrachtet den eigentümlichen Geist des Christentums in seiner Beweglichkeit34. Und es ist genau die gesammelte Aufmerksamkeit auf diesen eigentümlichen Geist in seiner ungeteilten Einheit und dessen Selbstmitteilung als das die Christen in all ihren Lebensvollzügen bestimmende Movens, was den Gottesdienst als Kultus bestimmt. Da nun nach Schleiermacher der eigentümlich christliche Geist in seiner reinsten Realisation gerade in der Exegetischen Theologie erfaßt wird, ist es somit auch genau die in dieser zu erbringende Leistung, von welcher vor allem die heutige Reinheit des christlichen Gottesdienstes als Kultus abhängt. Die Kirchengeschichte betrachtet den eigentümlichen Geist des Christentums in der Vielzahl seiner einzelnen Momente35, wobei als die beiden Hauptaspekte der des christlichen Vorstellungslebens und der des christlichen Gemeinschaftslebens hervortreten36. Somit wird auch die Aufgabe der Kirchengeschichte im Blick auf unsere Fragestellung eine doppelte sein: Die Kirchengeschichte muß zum einen die Geschichte der Vorstellungen verfolgen, welche die Christen vom Gottesdienst als Kultus entwickelten, und sie muß zum anderen die Geschichte des gemeinschaftlichen Vollzugs des Gottesdienstes als Kultus nachzeichnen. Die Kenntnis des gegenwärtigen kirchlichen Zustandes im Blick auf den Gottesdienst als Kultus ist unmittelbar verknüpft mit der hierauf bezogenen kirchenleitenden Tätigkeit. Aus diesem Grund hat die Darstellung der je gegenwärtigen christlichen Vorstellungsweise dogmatischen Charakter. Dargelegt wird die christliche Lehre, „die der Darstellende selbst anerkennt"37, denn nur so ist diese auch wirklich zur Orientierung selbstverantwortlicher kirchenleitender Tätigkeit geeignet. Dogmatische Theologie meint also nicht das Studium von Dogmatiken, um diese als wissenschaftliche Leistungen anderer würdigen zu können. Die Lektüre von Dogmatiken hat vielmehr nur dann Sinn, wenn die dort vorgetragenen Einsichten als vorbildlich klare Entfaltungen eigener Überzeugungen identifiziert werden können oder aber so zum Widerspruch reizen, daß die eigene Überzeugung sich in dieser Negation konstruktiv profiliert. Damit verliert die Dogmatische Theologie aber auch den ihr anhaftenden autoritären Charakter, als ginge es in ihr um die Aufgabe individueller Glaubensüberzeugung zugunsten heteronom gesetzter kirchlicher Lehre. Dagegen gilt für Schleiermacher: „die Uebereinstimmung ist mimer nur eine bewirkte, keine ursprüngliche, der eigentliche Zusammenhang aber ist gar nicht hi irgendeiner positiven Lehre sondern nur in der Methode, d.h. in dem jedesmaligen Produciren der christlichen Lehren38 aus ihrem eigentlichen

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KD 2 §150. KD2§150. KD2§90.§166;ThES, 94.157. ThES, 184; vgl. KD2 §196; ThES, 184ff. Plural!

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Historische Theologie des Gottesdienstes

christlichen Ursprung"19. Daher wird auch die Dogmatische Theologie des Gottesdienstes als Kultus nicht entfaltet werden können als die offizielle Auffassung, die man kennt, sondern sie muß diejenige Vorstellung präsentieren, die der in der kirchenleitenden Tätigkeit im Kultus Befindliche selbst in seinem Handeln anerkennt. Auch in der kirchlichen Statistik, dem anderen Bereich der Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes, geht es um etwas, das anerkannt werden muß. Faktisch anerkannt werden muß nämlich von jeder verantwortlichen kirchenleitenden Tätigkeit der gesellschaftliche Zustand der Kirche im jeweiligen Moment des Handelns40. Die Statistik hat es bei Schleiermacher nicht nut der Übersetzung der gelebten Frömmigkeit in eine Reihe von Zahlenkolonnen oder Graphiken zu tun. Die Statistik erfaßt vielmehr alle Aspekte der gelebten Frömmigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt - auch die nicht mathematisierbaren41. Sie bestimmt die Kirche sowohl in ihrer inneren Beschaffenheit - und zwar zum einen hinsichtlich der je erreichten inneren religiösen Bildungsstufe, zum anderen hinsichtlich ihrer äußeren Verfassung als Organisation - als auch ihre äußeren Verhältnisse zu anderen christlichen Konfessionen, zu nichtchristlichen Religionsgemeinschaften und zu den übrigen gesellschaftlichen Organisationen, wie denen der Wissenschaft und des Staates. Die Statistik stellt den gegenwärtigen Zustand des Christentums fest42. Und dabei muß auch sie sich im Rahmen der ethischen Hinsichtnahmen bewegen, will sie das statistisch Erfaßte begreifen. Wenn sich daher heute vor allem die Praktische Theologie hier verantwortlich fühlt43, so ist dies auf der einen Seite ein Beleg dafür, daß dieser Teil der Historischen Theologie am unmittelbarsten mit der kirchenleitenden Tätigkeit zusammenhängt44. Allerdings ist auf der anderen Seite im Blick auf diese heutige Praxis zu fragen, ob die Praktische Theologie in ihrem Umgang mit diesem Material wirklich den Ansprüchen Schleiermachers genügt, der das geschichtliche Bewußtsein der erfaßten statistischen Werte unablösbar an virtuose Beherrschung der Philosophischen und der Exegetischen Theologie bindet45. 39 ThES, 185; vgl. auch: ThES, 99. 40 KD2 §95; ThES, 98. 41 Die Reduktion der Statistik auf rein quantifizierende Verfahren ist erst im Verlauf der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts erfolgt; vgl. Volker Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie, Bd.H[=Anmerlcungen], 393. 42 Der Ausdruck Statistik entstammt der Staatskunde: „die Statistik ist eine stillstehende betrachtung der Staatskräfte eines landes für eine gegebne epoche" (Art. Statistik im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm, Zehnter Band II.Abtl. I.Teil, Sp.951). 43 Gegenwärtig ist dieses Erbe Schleiermachers wohl vor allem in W. Grabs Versuch einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht (Predigt als Mitteilung des Glaubens) und R. Volps Liturgik (Liturgik: die Kunst, Gott zu feiern) präsent. 44 Vgl. auch: Volker Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie, Bd.I[=Text], 36f.465ff.; Walter Birnbaum, Theologische Wandlungen, 233. 45 Vgl. Volker Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie, Bd.I [=Text], 469ff.; Siegfried Karg, Befragte Kirche - fragende Kirche, 112ff.

Die einschlägigen Quellen

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3. Die einschlägigen Quellen Die Quellenlage im Blick auf die Rekonstruktion von Schleiermachers Historischer Theologie des Gottesdienstes als Kultus ist spärlich. Wir werden uns daher auf grob skizzenhafte Einlassungen beschränken müssen. Für die Exegetische Theologie steht hier vor allem Schleiermachers „Leben Jesu" zur Verfügung, aber auch die „Christliche Sitte" bietet eine Vielzahl exegetischer Einsichten. Einschlägig ist auch der Abschnitt zum apostolischen Zeitalter in Schleiermachers „Geschichte der christlichen Kirche"4*. Die Historische Theologie im engeren Sinne - die Kirchengeschichte - kann im Blick auf unsere Fragestellung außer aus der bereits erwähnten kirchengeschichtlichen Vorlesung Schleiermachers wiederum auch aus den gelegentlichen historischen Exkursen seiner „Christlichen Sitte" erhoben werden, aber auch die „Praktische Theologie" enthält einige hierher gehörige Passagen. Eine intensive Auswertung bzw. überhaupt eine Erhebung des Materials sowohl zur Exegetischen Theologie als auch zur Kirchengeschichte kann im Rahmen dieser Arbeit auch nicht annäherungsweise erreicht werden. Seine Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes der christlichen Kirche hat Schleiermacher im Blick auf deren lehrmäßige Verfassung in seiner „Glaubenslehre" und seiner „Christlichen Sitte" dokumentiert. Quellen zur kirchlichen Statistik liegen nicht vor. Wir müssen hier auf das in der „Kurzen Darstellung" und der Nachschrift von Strauß Gegebene zurückgreifen und dieses durch hierher gehörige Informationen der „Christlichen Sitte" und der „Praktischen Theologie" ergänzen.

4. Exegese 4. l Zum Verhältnis von Frömmigkeit, Philosophischer Theologie und Exegese Wenn die Exegese sich um die Erhebung der „normalen" christlichen Frömmigkeit bemüht, die alle christlichen Lebensvollzüge normiert, wieso ist sie dann von Schleiermacher nicht allen theologischen Disziplinen - auch der Philosophischen Theologie - als die theologische Grundlagendisziplin schlechthin vorgeordnet? Wieso wird sie statt dessen der Philosophischen Theologie nachgeordnet? Die Theologie setzt immer schon die christliche Frömmigkeit, das Interesse am Christentum voraus. Sie folgt selbst einem Impuls der christlichen Fröm46 KG, 53-92.

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Historische Theologie des Gottesdienstes

migkeit, nämlich dem der Frömmigkeit innewohnenden Trieb zur Gemeinschaftsbildung, reflektiert die damit gestellten Aufgaben und erarbeitet Vorschläge zu deren theoretischer wie praktischer Lösung. Die gemeinsame Gestaltung der christlichen Gemeinschaft erfordert nämlich genau dann die Ausbildung einer Institution Theologie, wenn die traditionale Selbstdeutung der einzelnen Mitglieder als Christinnen und Christen nicht mehr ausreicht, um sich über die Wege und Ziele ihres christlichen Handelns zu verständigen. Wenn nun Schleiermacher die Idee des Kanons in Anschlag bringt, um den sachgemäßen Maßstab zur Klärung aller Differenzen zu bezeichnen, so ist dies bereits ein Ergebnis der theologischen Theoriebildung der Philosophischen Theologie47. Diese reflektiert nämlich auf die Bedingungen der Möglichkeit des Faktums christliche Frömmigkeit als Kirche. Daß die Bestimmung des Wesens des Christentums im Rekurs auf den Kanon vorzunehmen ist und was genau denn die Idee des Kanon ist, ergibt sich nicht in der Exegetischen Theologie, sondern wird von dieser immer schon vorausgesetzt48. Deshalb kann auch die Exegetische Theologie nicht die Grundlagendisziplin der Theologie sein. Die Exegetische Theologie setzt nämlich immer schon die Einsicht voraus, daß eine zusammenstimmende Kirchenlertung nur so möglich ist, daß im Rekurs auf die normale christliche Frömmigkeit - fixiert im Begriff des Kanon - die alle Christinnen und Christen verbindende Gewißheit von der durch Jesus von Nazareth vollbrachten Erlösung49 hinsichtlich ihres zentralen Gehaltes immer mehr von fremden Einflüssen befreit zur Darstellung gelange. Es ist folglich gar nicht so, als ob in der Exegetischen Theologie überhaupt erst der Maßstab für die Sachgemäßheit christlichen Handelns und aller theologischen Aussagen begründet wurde. Dieser Maßstab hegt im christhch-frommen Selbstbewußtsein vielmehr immer schon vor: Der christliche Glaube weiß sich vor aller wissenschaftlichen Bemühung immer schon auf Jesus von Nazareth verwiesen50. Der Begriff dieses Verwiesenseins wird aber in der Philosophischen Theologie erhoben5'. Und in diesem Zusammenhang behauptet die Philosophische Theologie, daß von all den vielen Begegnungsgestalten des von Christo bewirkten christlichen Lebens, die sämtlich zum Quellpunkt neuer 47 48 49 50

ThES, 246f. Vgl. KD2 §252. GL2§11.§14. Vgl. GL2 §14.1, 1.95: „Der in Rede stehende Glaube aber ist eine rein tatsächliche Gewißheit, aber die einer vollkommen innerlichen Tatsache. Sie kann nämlich nicht eher in einem Einzelnen sein, bis in ihm durch einen Eindruck, den er von Christo empfangt, ein Anfang, wenn auch nur ein unendlich kleiner, eine reale Ahndung, gesetzt ist von der Aufhebung des Zustandes der Erlösungsbedürftigkeit. Der Ausdruck Glaube an Christum ist hier aber, so wie dort [gemeint ist §4.4; R.S.] Glaube an Gott, die Bezeichnung des Zustandes als Wirkung auf Christum als Ursache". - Vgl. auch Emanuel Hirschs Ausführungen zu Schleiermachers „Weihnachtsfeier" in: Geschichte Bd. IV, 567f. Hirschs Kritik an diesem Verfahren Schleiermachers findet sich a.a.O., 574. 51 Vgl. KD2 §252: „Denn alle leitenden Begriffe werden in den Untersuchungen, welche die philosophische Theologie bilden, definitiv bestimmt".

Exegese

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christlicher Frömmigkeit werden können und oft auch tatsächlich werden, es sachnotwendig eine besondere Begegnungsgestalt geben müsse, die sich vor allen anderen durch ihre Reinheit auszeichne, und formuliert so die Idee des Kanon, deren materialen Gehalt die Exegetische Theologie zu ermitteln hat.

4.2 Die innere Organisation der Exegetischen Theologie nach der „Kurzen Darstellung" Die der Exegetischen Theologie von der Philosophischen Theologie gestellte Aufgabe52 ist es, aus der christlichen Überlieferung das „Normale zu eruiren"". Insofern dieses „Normale" dem Begriff des Kanonischen zugrunde liegt, ist dessen genauere Bestimmung „die höchste exegetisch-theologische Aufgabe für die höhere Kritik"54. Die niedere Kritik55 ist die Ermittlung der ursprünglichen Schreibung des kanonischen Zeugnisses56. Die Auslegung der so erhobenen Textgestalt des Kanon erfordert die Kenntnis der „Grundsprachen des Kanon"57. Diese vermittelt die neutestamentliche Sprachkunde bzw. Grammatik58. Kritik und Grammatik arbeiten der Hermeneutik oder Auslegungskunst zu59. Darüber hinaus enthält die Exegetische Theologie noch „den geschichtlichen Apparat zur Erklärung des NTs"60. Es versteht sich von selbst, daß sich Hermeneutik, Grammatik und Kritik gegenseitig befruchten 61 . Man kann das Aufgezählte die Elemente der Exegetischen Theologie nennen62. Aus diesen Elementen ergibt sich die innere Organisation der Exegeti52 KD2 §§103-109; ThES, 102-109. Daß es sich um eine Aufgabenstellung handelt, die von der Philosophischen Theologie vorgegeben ist, erhellt aus den Bemerkungen Schleiermachers, die auf die „Natur der Sache" (KD2 §103), die Bestimmung des Kanon in der Philosophischen Theologie (ThES, 103) sowie die Aufstellung der „wesentlichen Elemente des Kanon rein aus der Idee" (ThES, 104) gehen. 53 ThES, 103 54 KD2 §110; vgl. ThES, 103f.l09f. Vgl. zu dieser Thematik auch Schleiermachers „Einleitung ins neue Testament", hg. von Wolde, SW 1.8, 32-75. 55 KD2 §§116-122; ThES, 113-117. 56 KD 2 §118. 57 ThES, 119. 58 KD2 §§125-131; ThES, 119-125. 59 KD2 §§132-139; ThES, 125-132. 60 ThES, 132.132-137; KD2 §§140-144. 61 KD2 §138; ThES, 130f. 62 In Anlehnung an das ThES, 153, im Blick auf die Kirchengeschichte Gesagte. Daß der Aussagezusammenhang der „Kurzen Darstellung" zur Kirchengeschichte (KD2 §§150159; ThES, 143-153), der die Elemente der eigentlich geschichtlichen Betrachtung angibt (ThES, 143; vgl. ThES, 153), auch die wesentlichen Elemente der Exegetischen Theologie enthält, erhellt völlig aus dem Sachverhalt, daß er dieselben Themen verhandelt - oft sogar fast wortwörtlich -, die die Einleitung zum „Leben Jesu" bestimmen (vgl. LJ, 1-44).

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Historische Theologie des Gottesdienstes

sehen Theologie durch Rekurs auf deren spezifische Aufgabenstellung in Beziehung auf die Kirchenleitung63. Diese erfordert aber von einem jeden Theologen die selbstverantwortliche Auslegung der ihm vorliegenden Zeugnisse der normalen Gestalt christlicher Frömmigkeit64. Damit steht die Hermeneutik im Mittelpunkt der Exegetischen Theologie65, und es ist folgerichtig auch genau dieser Teil der Exegetischen Theologie, im Blick auf welchen Schleiermacher seine Forderung nach einer von jedem Theologen zu erbringenden Virtuosität erhebt66. Da die geforderte Virtuosität in der Auslegungskunst im Interesse an einer verantwortlichen Kirchenleitung erfolgt, beweist sich diese Virtuosität gerade nicht in dem Streben nach besonderer Originalität67. Die Virtuosität in der Hermeneutik soll nicht immer wieder neue Auslegungen befördern - es sei denn, sie sind sachlich begründet durch bessere Einsicht -, sondern die Authentizität der Auslegung auch dann gewährleisten, wenn sie der traditionellen Auslegung - aus Einsicht in deren sachliche Richtigkeit - folgt.

4.3 Die wissenschaftliche Erhebung des inneren Lebens Jesu als Ziel exegetischer Arbeit Da das Lebenszeugnis Christi die Idee des Christentums rein enthielt, ist also dieses die in der Exegese zu rekonstruierende und auszulegende Größe66. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, daß Christus den Jüngern seinen göttlichen Geist verspricht69, da bei allen Äußerungen der Jünger stets geprüft werden muß, ob in ihnen nicht noch Eigenes der Jünger mit den Wirkungen des göttlichen Geistes vermischt ist70; d.h. daß der in Christus wirksame Geist doch zunächst und zuerst in dessen Lebenszeugnis aufgesucht werden muß, um die Jüngerschaft seiner Jünger überhaupt feststellen zu können71. Die Exegetische Theologie ist somit wesentlich eine biographische Wissenschaft. Sie erhebt diejenige Biographie, deren weltgeschichtliche Wirkung die Kirchengeschichte darstellt:

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Vgl. ThES, 153. ThES, 131. KD 2 §138. KD2§139;ThES, 131f. Vgl. ThES, 132. Vgl. Mariin E. Miller, Der Übergang, 93ff. ThES, 103. Vgl. CS, 63f. 377f. [1824/25]. Obwohl das Lebenszeugnis Jesu nur vermittelt durch seine Jünger auf uns gekommen ist, hält Schleiermacher es doch für prinzipiell möglich, unter Anwendung des kritischen Verfahrens aus diesen sekundären Quellen das ursprüngliche Zeugnis Jesu soweit zu rekonstruieren, als es für die exegetische Aufgabe unerläßlich ist. Vgl. auch: KD2 §158; ThES, 151f

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„Das ganze Christenthum ist ausgegangen von der Person Christi, und eigentlich muß also alles Verständniß des Christenthums seyn das Verständniß dieses Zusammenhangs der späteren Entwicklung mit der Persönlichkeit Christi, und man kann nicht einig seyn über das Christenthum ohne einig zu seyn über die Person Christi. Darinn liegt eine absolute Dignität der Persönlichkeit, die aber ausschließend Christi zukommt. Das Christenthum fangt mit einer absoluten Persönlichkeit an"72. All diese Einlassungen Schleiermachers sprechen dafür, sein „Leben Jesu" als die zentrale Quelle zur Erhebung seiner Exegetischen Theologie ansehen zu dürfen73. Die Aufgabe einer Lebensbeschreibung ist die Vermittlung der Menschenkenntnis historischer Personen, d.h. die in einem Menschen wirksamen Kräfte sind so zu erfassen, daß man alle seine Lebensvollzüge von diesen her verstehen kann74. Die solcherart gewonnene intime Kenntnis einer Person verleiht dann gewissermaßen prophetische Fähigkeiten75 des Vorhersehens der Verhaltensweise dieser Person unter gewissen gegebenen Umständen. Menschenkenntnis heißt für Schleiermacher, einen Menschen „berechnen"76, „seine Handlungsweise konstruiren"77 zu können78. Der Vorbildcharakter, die Normativität des Lebenszeugnisses Christi ist nun ganz davon abhängig, daß wir seiner so inne sind, daß wir sein Handeln „berechnen" können: „Wir können ihn nicht zum Vorbild nehmen, wenn wir uns nicht seine Handlungsweise konstruiren könnten, es muß daher die Anwendung des Calculus auch für das Leben Jesu seine Wahrheit haben, weil sonst sein praktisches Wirken auf uns unzureichend sein würde"79. Damit ist nicht gemeint, daß die Christen etwa über Christus verfügten und über ihm stünden. Die Fähigkeit, Christi Handeln konstruieren zu können, ist vielmehr eine Wirkung Christi selbst80, und sie wird - wie jede Menschenkenntnis - stets nur annäherungsweise erreicht.

72 ThES, 244f. 73 Vgl. D. Lange, Historischer Jesus; E. Schrofner, Erlösung in Geschichte. Zum Leben Jesu Schleiermachers; W. Sachs, Einleitung zur Nachschrift von Strauß, ThES, XXVIII ff; Mariin E. Miller, Der Übergang, 9Iff. 74 LJ, 6f.7f.8f. Vgl. ThES, 148: Menschenkenntnis ist „das Talent, Motive pp festzuhalten" 75 LJ, 8. 76 LJ, 9. 77 LJ, 10. 78 „Die Untersuchung der Frage, inwiefern dies im allgemeinen im Widerspruch stehe mit dem uns allen einwohnenden Bewußtsein der Freiheit, würde uns hier zu weit führen; wir wissen aber alle. Die Klarheit, mit welcher ein andrer mich auffaßt und erkennt, thut meiner Freiheit keinen Eintrag; wir freuen uns über die Klarheit dessen, der uns richtig kalculirt, und bleiben doch frei" (LJ, 9). 79 LJ, 10; vgl. LJ, 15f.l8.33.u.ö; vgl. GL2 §97.3,11.72. 80 LJ, 17; vgl. GL2 §88.2, II.20f.

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Die Möglichkeit, Christus in der heutigen Zeit zum Vorbild zu nehmen oder: den vor 2000 Jahren gelebt habenden Jesus heute noch sinnvoll als Christus anerkennen zu können -, wird allerdings stark in Frage gestellt durch den Sachverhalt der Unablösbarkeit eines Menschen aus dem Zusammenhang mit seinem Zeitalter und seinem kulturellen Hintergrund. Dieser Zusammenhang ist so unauflöslich, daß wir die Person außerhalb dieses Kontextes gar nicht als dieselbe denken können81. Das gilt auch von jeder geschichtlichen Auffassung des Lebens Jesu. Wird von dessen historischem Hintergrund abgesehen, so „sezen wir unsre eigene Phantasie an seine Stelle, und dann hört das Vorbildliche am gewissesten auf82. Inwiefern ist aber überhaupt ein Vorbildcharakter Jesu für unser heutiges Handeln denkbar, wenn er als er selbst von uns nur in seiner Zeit vorgestellt werden kann, nicht aber in den bedrängenden Problemkonstellationen unserer Gegenwart? Nur so, daß der Sachverhalt, in bezug aufweichen er als Vorbild fungieren können soll, als ein in allen möglichen geschichtlichen Kontexten selbiger gedacht wird83. Genau das ist aber der Fall, da ja die Frömmigkeit von Schleiermacher als ein „unmittelbares Existenzialverhältnis"84 interpretiert wird, in welchem die Person sich selbst in ihrer und ihrer Welt Endlichkeit erschlossen ist als „schlechthin abhängig". Diese „schlechthinnige Abhängigkeit" ist prinzipiell in allen möglichen Kulturen und zu allen möglichen geschichtlichen Zeiten für alle möglichen Menschen dieselbe. Insofern nun in Jesu frommem Selbstbewußtsein dieses unmittelbare Existenziarverhältnis in unüberbietbarer Gefühlsklarheit präsent war und zugleich in dieser Klarheit stetig über das Weltbewußtsein dominierte, kann er für alle Menschen zum Vorbild unüberbietbarer Frömmigkeit - zum Christus - werden. Dieses Vorbild kann er jedoch nur sein, indem er Menschen in die Gemeinschaft der Klarheit und Stetigkeit seiner Frömmigkeit aufnimmt und ihnen auf diese Weise Klarheit und Stetigkeit auch in ihrer undelegierbar eigenen Frömmigkeit ermöglicht und verwirklicht85. Man erwählt sich Jesus nicht zum Vorbild - zum Christus -, sondern er offenbart sich als solches86 und erlöst somit von allen falschen Vorbildern87. Der Vorbildcharakter Christi erweist sich nach alledem dann 81 U, 15f.;vgl. KSP 1,431. 82 LJ, 16. 83 Vgl. LJ, 13: Christus „konnte das, was er in unserm Glauben ist, nur sein, insofern er einen solchen Typus von Gotteserkenntniß feststellte, der sich über alles menschliche und alles dem Raum und der Zeit nach verbreiten kann, und überall Anerkennung finden". 84 Sendschreiben, SW 1.2, 586. 85 Wie diese Mitteilung des klaren und stetigen Gottesbewußtseins Christi an andere Menschen gedacht werden muß, ist von Schleiermacher allerdings nur unzureichend erörtert worden. 86 Nicht der Glaube macht Jesum zum Erlöser, sondern daß er der Erlöser ist, motiviert zum Glauben an ihn (vgl. GL2 §88.2,11.20). 87 Wie alle Gewißheiten ist auch diese passiv konstituiert. Man kann sich nicht entschliessen, von etwas überzeugt zu sein. Man kann sich höchsten dazu entschließen, das Pak-

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nicht darin, daß wir ihn in unsere Zeit herüberphantasieren und fragen, was und wie hätte er unter unseren Umständen im Einzelfall gehandelt. Vielmehr ist er darin immer schon zum Vorbild geworden, daß wir in der Betrachtung seines 2000 Jahre zurückliegenden Lebens und Sterbens so von der Klarheit und Stetigkeit seiner Frömmigkeit, seiner Gesinnung, ergriffen worden sind, daß unsere eigene Frömmigkeit ebenfalls klar und stetig werden kann88. Dadurch orientiert er uns notwendig auch im Einzelfall. Aber eben so, wie jede Lebensorientierung den Einzelfall orientiert: als Horizont der je eigenen Entscheidung, nicht als kasuistische Handlungsanweisung. Ein Vorbild erweist darin seine sittliche Autorität, daß es zu wahrer Sittlichkeit befreit89, die stets und immer eine undelegierbare ist. Das genau unterscheidet es von einem autoritären Götzen90. Weil das so ist, weil das Entscheidende für die christliche Frömmigkeit die Wirksamkeit der Selbstmitteilung der Gesinnung Christi ist, deshalb ist es auch genau diese Phase seiner Lebensgeschichte, in welcher er in das öffentliche Leben wirksam eintrat, die für die exegetische Aufgabe von zentraler Bedeutung ist. Daß nur spärliches Material über die Herkunft und Jugend Christi den „Vorhof' des eigentlichen Gegenstandes: das öffentliche Leben Jesu91 vorliegt, kann somit verschmerzt werden92. Die näheren Lebensumstände sind nur insofern exegetisch bedeutsam, als sie der Ausgangspunkt zur Rekon-

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tum einer bestimmten Überzeugung anzuerkennen oder es wider besseres Wissen zu bestreiten. LJ, 16: „Da aber das Vorbildliche ganz und gar von der Gesinnung ausgeht, und diese sich in der allseitigsten und umfassendsten Maxime ausprägt, worin das Einzelne der Verhältnisse verschwindet, so müssen wir sagen, daß wir jener sinnlichen Anschaulichkeit seines Verhaltens unter ganz ändern Umständen gar nicht bedürfen, sondern es kommt darauf an, seine Gesinnung unter jenen Verhältnissen auf uns zu übertragen, ohne unsre Verhältnisse auf ihn zu übertragen". Vgl. GL2 §122.3, II.257f. Vgl. LJ, 301; vgl. GL2 §104.3, II.124f. Das Christusprinzip ist kein „Führerprinzip". SW 1.2, 36. Gegen Ende des Abschnittes, der das Leben Jesu vor seinem öffentlichen Auftreten behandelt, formuliert Schleiermacher: „Wenn wir uns nun fragen: dürfen wir es als einen großen Mangel ansehen, daß wir über diese ganze vorbereitende Lebensperiode Christi gar keine weitere bestimmte Nachricht haben? so glaube ich werden wir uns darüber leicht trösten können, indem der allgemeine Typus dazu angegeben ist; den können wir uns aus dem was wir haben entwickeln. Ob wir nun wüßten, wie sich sein Leben in dieser Zeit verhalten hat in Betreff der Lokalität und in Bezug auf die bestimmten Menschen, mit welchen er in einem solchen Verhältniß gewesen ist, so wäre es nur eine Bereicherung unsrer geschichtlich empirischen Erkenntniß von seinem Leben, aber für die innere Entwikkelung ist's kein wesentlicher Verlust; das, was auf uns wirksam ist, ist eben nur seine Wirksamkeit. Für den Geschichtsforscher als solchen hätte es allerdings ein Interesse, aber betrachten wir die Sache aus dem theologischen Standpunkt, insofern dieser doch ganz auf die kirchliche Wirksamkeit gerichtet ist, so ist dieser Verlust gar nicht in Anschlag zu bringen: das einzige was uns auf alle Weise interessiert, ist nur dieses daß wir die Wirksamkeit Christi so viel als möglich bis in ihre ersten Anfänge möchten zurükkverfolgen können" (LJ, 136; vgl. LJ, 45; SW 1.2, 7f).

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struktion seines inneren Lebens, seiner Gesinnung, sind93. Lebensbeschreibung, Biographie Jesu hat also den präzisen Sinn der Beschreibung des in ihm Lebendigen, ist graphos vom bios94. Damit ist aber auch sofort klar, warum Schleiermachers „Leben Jesu" so gar nichts Erbauliches an sich hat, sondern über weite Strecken sprödeste Dogmatik bietet95. Es ist wesentlich die systematische Rekonstruktion des Gottesbewußtseins Christi, wie er es seinen Jüngern mitgeteilt hat96. So überrascht es auch ebenfalls nicht mehr, daß sich Schleiermachers „Leben Jesu" konsequent an den Bestimmungen orientiert, die die „Lehnsätze aus der Apologetik" in der Glaubenslehre dem Wesen des Christentums gegeben hatten. Die Exegese erhebt die wissenschaftlich verwertbaren Belege für die Sachhaltigkeit der dort aufgestellten Bestimmungen des geschichtlichen Ursprunges der christlichen Frömmigkeit. Die Exegese untersucht, ob die christliche Frömmigkeit zu Recht Anspruch auf den von ihr unterstellten ursächlichen Zusammenhang mit Jesus von Nazareth erhebt. Sie fragt: Sind die geschichtlichen Zeugnisse so, daß tatsächlich der Fall sein kann, was der christliche Glaube von der geschichtlichen Person Jesus von Nazareth behauptet97? Oder erweist die geschichtliche Forschung den vom Glauben behaupteten Jesus als eine Fiktion, sodaß der unterstellte Zusammenhang gar nicht bestehen kann98 ? Da93 Vgl. hierzu die Anm.l Schleiermachers zu GL2 §98.2, 11.81. - Vgl. auch die Funktion, die Schleiermacher der Porträtmalerei zuweist: „Die Portraitmalerei soll den Menschen nicht in einem einzigen Moment einer vorübergehenden Erregung darstellen; das hält man immer für maniriert. Sondern der Mensch soll in seinem inneren Wesen ergriffen sein, wie es zugrundeliegt, wenn es auch vielleicht nie so erscheint" (ÄOd, 107). 94 Vgl. LJ, 4f.6f. - Das gilt nicht nur für die Zielsetzung eines „Leben Jesu", sondern entspricht der inneren Logik einer jeden Lebensbeschreibung im von Schleiermacher projektierten Sinne größtmöglicher Menschenkenntnis: der Konstruktion, Berechnung der in einem Menschen wirksamen Handlungsantriebe. Auch eine Lebensbeschreibung etwa eines Politikers hätte im Sinne Schleiermachers dann die äußeren Umstände seiner politischen Arbeit so in den Blick zu fassen, daß sie zum Ausgangspunkt der Rekonstruktion derjenigen politischen - und diesen zugrundeliegenden - Maximen werden, denen er in seinen Handlungen folgte. 95 Vgl. LJ, 510: „Der Theolog aber hat die Aufgabe, alles auf den größten Grad von Klarheit und Sicherheit der Vorstellung zu bringen als es möglich ist. Das ist der Gesichtspunkt, von dem ich bei der Behandlung des Lebens Jesu ausgegangen bin". Die Präsentation der Selbstmitteilung Jesu unter der Form der Lehre erfolgt ganz im dogmatischen Raster: einerseits als Lehre Christi von seiner Person (LJ, 262-273; vgl. GL2 §§93-99); andererseits als Lehre Christi von seinem Beruf (LJ, 273-362; vgl. GL2 §§100-105). 96 Deren Zeugnis verweist somit auf die Lehre Jesu und darf nicht im Sinne einer eigenständigen Lehre der Jünger von Christo mißverstanden werden. Jesus und Christus sind ein und dasselbe. LJ, 250f.298f. LJ, 307: Es ist zurückzugehen „auf ihn selbst, so wie er sich in seiner Lehre von sich selbst zu erkennen giebt". Vgl. auch: GL2 §103.2,11.112. 97 LJ, 18-24. 98 Da der christliche Glaube ganz auf der Person Jesus beruht, müßten wir in diesem Falle sagen: „Es haben besondre Umstände obgewaltet, daß aus diesem, welches eigentlich nichts wäre, eine solche Erscheinung wie die christliche Kirche geworden ist, und müßten uns bescheiden daß das zu den Führungen Gottes mit dem menschlichen Geschlechte gehört, daß auf einen wohlgemeinten Irrthum ein so großer Theil der

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bei vollzieht sich die exegetische Beschreibung des Lebens Jesu zwischen den beiden am christlichen Glauben vorkommenden Ketzereien" des Nazoräischen/Ebionitischen100 und des Doketischen101.

4.4. Skizze der Exegetischen Theologie des Gottesdienstes als Kultus Was genau leistet nun die Exegetische Theologie des Gottesdienstes als Kultus für dessen theologische Theoriebildung? Inwiefern entfaltet die Exegetische Theologie das ,formale" auch des Gottesdienstes als Kultus? Insofern es in der Exegese um die systematische Rekonstruktion des inneren Lebens Jesu - dessen Gottesbewußtsein - geht, verhält sie sich zu allen möglichen kirchlichen Handlungsfeldem gleich. Es ist das innere Leben Jesu stets in seiner ganzen Vollkommenheit, das alles christliche Handeln orientiert, sei es in Seelsorge, Unterricht oder Kultus. Aus den bereits genannten Gründen ist es auch unmöglich, bestimmte Handlungen Jesu umstandslos als Vorbild für unser heutiges Handeln im Kultus zu übernehmen. Das gilt sogar für „das einzelne moralische in seinen Aeußerungen"102. menschlichen Bildung gebaut worden sei, und die Aufgabe wäre, auf die möglichst leise Weise den Irrthum wieder aufzuheben und zur Wahrheit zurükkzukehren, d.h. die religiöse Gemeinschaft, welche die Kirche ist, mit allem Wahren, was sie in sich schließt, so festzustellen, daß die Vorstellung von der Person Christi etwas gleichgiltiges wäre, und das Richtige an die Stelle des vorigen Falschen träte" (LJ, 23f). 99 Vgl. GL2 §22: „Die natürlichen Ketzereien am Christentum sind die doketische und nazoräische, die manichäische und pelagianische". - Die Wendung „am Christentum" ist außerordentlich treffend gewählt, denn diese Ketzereien können zwar nicht im christlich-frommen Selbstbewußtsein selbst vorkommen, sie kommen aber in dessen Deutung - „am Christentum" - vor, weil sie dessen naheliegendsten Mißverständnisse zum Ausdruck bringen. 100 LJ, 24-31. 101 LJ, 31-35. - Diese exegetische Erhebung der Sachhaltigkeit des vom Glauben als seine Ursache Unterstellten innerhalb der Grenzen des Nazoräischen und des Doketischen auf die Weise einer Lebensbeschreibung Jesu müßte eigentlich stets ergänzt werden von einer von jedem Theologen zu erbringenden Erhebung der Sachhaltigkeit der vom Glauben unterstellten Verfassung derjenigen Instanz, an welcher Christus seine Wirkung entfaltet: also einer Art „Selberlebensbeschreibung"(Jean Paul) des Christen. Dabei erweist sich die vom Glauben unterstellte Verfassung des Menschen als möglich, wenn allgemein einsichtig gemacht werden kann, daß wir Manichäismus und Pelagianismus als die Grenzen der Person als einer endlich-menschlichen erfahren. 102 LJ, 361. Im Blick auf Jesu Lehre vom Reich Gottes führt Schleiermacher dort aus: „so muß ich gestehen daß ich grade den wenigsten Werth lege auf das was man oft hat besonders hervorheben wollen, nemlich das einzelne moralische in seinen Aeußerungen; nemlich dieses ist auf der einen Seite überwiegend immer nur das Polemische gegen den Gegensaz, und das ist immer nur das Indirekte der Mittheilung, um unter gegebenen Umständen einen Impuls zu geben aber was wir nie in eine eigentliche Darstellung der Lehre aufnehmen können, weil es aus derselben herausgehend sich auf ein fremdes bezieht" (ebd.). Vgl. auch den weiteren Verlauf der Argumentation an dieser Stelle (!),

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Eine besondere Schwierigkeit, aus dem Lebenszeugnis Jesu etwas in bezug auf die Normalität der Gestaltung der christlichen Gemeinschaft ablesen zu wollen, liegt darin, daß der exegetische Befund daraufhindeutet, daß während des Lebens Christi eine organisierte Gemeinschaft seiner Jünger noch gar nicht bestand103. Zunächst und zuerst bestand nur eine Gemeinschaft aller einzelnen mit ihm, und erst dadurch vermittelt auch eine Gemeinschaft der Jünger untereinander. Neben der Verkündigung Jesu reduziert sich sein gemeinschaftsstiftendes Handeln auf die bloße Vorbereitung einer vollständig organisierten Gemeinschaft104. Die Theologie hat nun genau dies zu untersuchen, ob die später entstandene Organisation der Kirche dem Willen Christi gemäß ist. Schleiermachers Formulierung dieser Frage ist ein luzider Beleg für die von uns behauptete Aufgabenstellung der Lebensbeschreibung Jesu im theologischen Kontext. Es geht nicht um das Aufsuchen konkreter Handlungsanweisungen Christi, sondern um die klare Auffassung von dessen Willen105: „Ist die Organisation der christlichen Gemeinde, welche nachher entstand, das geworden was er selbst wollte, oder würde er selbst unter jenen Umständen etwas andres hervorgebracht haben?"106 Hier ist Schleiermacher der Auffassung, daß die im Umkreis der Synagoge entstehende Gemeinschaft der Christen tatsächlich die Intention Christi aufnimmt107. Denn auch er selbst strebte eine Form der religiösen Gemeinschaft an, die die nationalen Eigentümlichkeiten - „Gesetz" - respektierend in der unmittelbaren Gemeinschaft mit Gott durch die geistige Herrschaft Christi diesen als Mittelpunkt und Seele dieser Gemeinschaft feiert108. Der zentrale Gedanke ist also der, daß die Frömmigkeit der Gemeinschaft in nichts anderem gründet und ausgedrückt wird als in ihrer Bezugnahme auf die Person Christi, während „das Rituale, Gesezliche, Ceremoniale, alles als ein rein Nationales anzusehen"109 ist. Die Selbstdarstellung der christlichen Frömmigkeit

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sowie LJ, 377f. ThES, 169, nennt biblizistische Simplifikationen der Lehre „krankhaft" LJ, 362f.383.u.ö. Vgl. ThES, 143; KG.17; GL2 §115.2,11.216. Dabei lassen sich zwei Momente unterscheiden. „1) die Bildung und das Festhalten eines enger um ihn versammelten Kreises, von welchen hernach die Mittheilung seines Daseins und seines Lebens in die zu stiftende Gemeinschaft vorzüglich ausgehen sollte, der apostolische Kreis; 2) daß er schon während seines Lebens auf seinen Namen taufen ließ und also einen Uebergang bildete dadurch von der verkündigenden und aneignenden Taufe zu einer Verpflichtung, daß ich so sage, auf die von ihm zu stiftende Gemeinschaft" (LJ, 363; vgl. LJ, 381). Vgl. PrTh, 59: „Was hat Christus gewollt?" LJ, 384. Aus dem Zusammenhang geht klar hervor, daß es hier nicht um das oben abgewiesene Herüberphantasieren Christi in einen anderen geschichtlichen Kontext geht und die Frage, wie er im einzelnen dort gehandelt hätte, sondern um die Frage des Fundiertseins des Entstandenen in der Zielrichtung, der Grundorientierung seines eigenen Handelns. Vgl. KG, 54ff. LJ, 385ff. Vgl. KG, 628f. LJ, 386; vgl. auch: LJ, 299f; CS, 540.592[1826/27].

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ist nur verständlich, insofern sie sich der gegebenen religiösen Traditionen bedient; aber immer ist es die christliche Frömmigkeit, die verständlich mitgeteilt werden soll110. D.h., es werden alle kulturell bedingten Ausdrucksgestalten und Institutionen der christlichen Frömmigkeit herabgestuft auf ihren funktionalen Wert für die Darstellung derselben in wechselnden geschichtlichen Kontexten. Sie besitzen keinen Wert in sich selbst, sondern werden vom christlich-frommen Selbstbewußtsein bewertet: „Christus spricht, Des Menschen Sohn ist ein Herr auch über den Sabbat, also muß auch der göttliche Geist in der Gemeinde, der allein Christi Stelle vertritt, ein Herr sein auch über den Sabbat; also darf auch, und das ist die protestantische Regel, aus nichts bestehendem in dem Gottesdienste ein nöthigendes Gesez gemacht werden und alles bestehende muß immer der christlichen Freiheit der Gemeinde untergeordnet bleiben, damit jedem Mißverhältnisse zwischen dem Typus des Gottesdienstes und dem Gesammtzustande der Gesellschaft könne vorgebeugt werden"1'' Damit unterstützt der exegetische Befund - die Konstruktion des inneren Lebens Jesu - aber genau die Einsichten, die die Philosophische Theologie von Kirche und Kultus als sittlichen Gutem entwickelt hatte. Im Zentrum der Verkündigung Jesu steht exegetisch ermittelt die Verkündigung des Reiches Gottes und die Stiftung einer darauf bezogenen Gemeinschaft"2. Diese fromme Gemeinschaft achtet und respektiert das Gesetz - die politische Verfassung -, bedient sich der kulturellen Ausdrucksmittel und ist geeint in der religiösen Darstellung ihres Bezuges auf die Person Christi als des Grundes ihrer Gemeinschaft mit Gott. Es wird damit exegetisch verbindlich ausgeschlossen, daß der Gottesdienst als Kultus anderes als Christum treiben dürfe 1 ' J . Besonders eindrücklich sind aber die Passagen von Schleiermachers „Leben Jesu", die als exegetische Bestätigung der philosophisch-theologischen Reflexionen auf das Motiv des christlichen Handelns auch - aber nicht nur - im Kultus gelesen werden dürfen"4. Es steht für Schleiermacher exegetisch fest, „daß Christus sich selbst als den Gegenstand der göttlichen Liebe und einer schlechthin ursprünglichen Manifestation Gottes darstellt, welche an ihm erfolge, indem er sagt, daß der Vater den Sohn liebt und ihm zeigt was er thut, d.h. er macht sich ihm bekannt in seiner Handlungsweise in der allgemeinen Weltordnung, so daß also alles, was Christus als seine Eigenthümlichkeit her-

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Vgl. CS, 62 If. CS, 599[1826/27]. LJ, 142.250ff.262.307.u.ö. Vgl. LJ, 304f. Vgl. etwa LJ, 296ff.306f.

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nach ausspricht, nur dargestellt wird als das Resultat einer göttlichen Einwirkung auf ihn, einer Selbstmanifestation Gottes in ihm für andere"115.

5. Kirchengeschichte 5. l Die innere Organisation der Kirchengeschichte nach der„Kurzen Darstellung" Die Elemente der Kirchengeschichte116 sind dieselben, die für eine jede lebendige und abgeschlossene geschichtliche Auffassung vonnöten sind. Schleiermacher entfaltet von den bereits bei der Exegetischen Theologie angeführten Anforderungen zwar vorzüglich nur Kritik"7 und Hermeneutik1 ; es versteht sich aber von selbst, daß auch die übrigen an jener Stelle aufgezählten Aufgaben bzw. ihre funktionsäquivalenten Analoga - Grammatik, geschichtliche Hilfswissenschaften"9 - hier ebenfalls unverzichtbar sind. Auch in der Kirchengeschichte steht dabei - wie in der Exegese - die hermeneutische Aufgabe im Mittelpunkt120. Die „Construction der KirchenGeschichte im weiteren Sinne"121 erfolgt nun im Blick auf die spezifische Leistung der Kirchengeschichte für die Befähigung zur Kirchenleitung122. Hierbei gilt: „Die Kirchengeschichtliche Betrachtung hat eine Beziehung auf die Kirchenleitung dadurch, daß indem ich die Vergangenheit betrachte, ich finden muß, was wirklich ein Produkt des christlichen Princips ist, und das Krankhafte, also das Beizubehaltende und das Auszuscheidende"123. Die unendliche Fülle des geschichtlichen Materials wird aber erst übersehbar, wenn es sachgemäß geteilt wird124. Eine Einteilung nach der Breite son115 LJ, 297. Vgl. LJ, 298: Es geht aus alledem hervor, „daß er die ganze Gotteserkenntniß eigentlich auf ursprüngliche Weise zusammenfaßt in der Darstellung dieses Verhältnisses, daß Gott ihn als Gegenstand seiner Liebe aus Liebe in die Welt gesandt habe". I I « KD2 §§150-159, ThES, 143-153. 117 KD2 §158; ThES, 151f. 118 KD2 §159; ThES, 152f. Beide Disziplinen kommen in der „Kurzen Darstellung" an dieser Stelle eher implizit als explizit vor. Die Nachschrift von Strauß weist aber zumindest die in der „Kurzen Darstellung" §158 benannte Aufgabe explizit als Sache der Kritik aus. Das Thema von §159 ist die Aufgabe, „eine Reihe äussrer Zustände als Bild des Innern zu erkennen" (ThES, 152). Damit ist die charakteristische Aufgabenstellung der Hermeneutik benannt. 119 Vgl. KD2 §184; ThES, 172. 120 KD2 §159. 121 ThES, 152. 122 KD2§§160-183;ThES, 153-172. 123 ThES, 153, vgl. KD2 §160; KG, 627. 124 ThES, 154; vgl. KD2 §§71-80.

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dert die verschiedenen Funktionen des christlichen Prinzips voneinander125 und stellt jede für sich tabellarisch126 bzw. in verschiedenen Rubriken127 dar, wobei von Zeit zu Zeit immer wieder ein alle Funktionen zusammenfassendes Bild gegeben werden muß12*. Die Einteilung der Länge nach orientiert sich an den weltgeschichtlichen Epochenpunkten und Perioden129. Als Grundlage der kirchengeschichtlichen Behandlung des Christentums dient die Einteilung der Breite nach: das Schema der Tabelle130. Nach welchen Gesichtspunkten vollzieht nun Schleiermacher die Einteilung der Breite nach? Wie die Exegese ihren Gegenstand - den Kanon - nicht umstandslos mit der Bibel identifizieren kann, sondern sich am philosophischtheologisch gewonnenen Begriff des Kanon orientiert; ebenso darf die Kirchengeschichte sich die Aufteilung ihres Gegenstandes nicht umstandslos in den bisherigen Gepflogenheiten der Kirchengeschichtsschreibung vorgegeben sein lassen. Auch die Disziplin der Kirchengeschichte erhält den Begriff des von ihr Darzustellenden von der Philosophischen Theologie. Dies wird offenkundig, wenn Schleiermacher in der Erläuterung zu dem hier einschlägigen §166 der „Kurzen Darstellung" auf die „Natur des christlichen Princips" rekurriert131. Die Besinnung der Philosophischen Theologie auf die Natur der aller Theologie immer schon vorausliegenden christlichen Frömmigkeit führt zu der Einsicht, daß sich die christliche Frömmigkeit zum einen „überwiegend in Gedanken ausspricht, aber zugleich wesentlich ein Gemeinschaft bildendes" Prinzip ist132. Als Hauptrubriken der geschichtlichen Auffassung der Kirchengeschichte ergeben sich somit „Geschichte der christlichen Gesellschaft" und „Geschichte der Lehre"133. Diese beiden wesentlichen Hinsichten der geschichtlichen Auffassung des Christentums lassen sich ihrerseits untergliedern in Dogmengeschichte und Geschichte der Sittenlehre einerseits134 (Geschichte der Lehre) und Geschichte des Kultus und Geschichte der Sitte andererseits135 (Geschichte der christlichen Gesellschaft)'36. 125 126 127 128 129 130

ThES, 153.154.155. ThES, 154.155. ThES, 155. KD2§§162ff.;ThES, 154ff. KD2 §165 (vgl. KD2 §§71ff.); ThES, 156f. (vgl. ThES, 77-84). ThES, 155.

131 ThES, 157. Philosophisch-theologischen Status haben fast sämtliche Paragraphen des Zusammenhanges von §§160-183 sowie deren Erläuterungen ThES, 153-172. 132 ThES, 157. Vgl. KG, 627. Dort differenziert Schleiermacher in bezug auf die Elemente des kirchengeschichtlichen Materials: „Die Anschauung einmal der Einwohnung des Gefühls selbst, und dann des gemeinschaftlichen Lebens desselben". 133 134 135 13«

ThES, 157.159. KD2§183;ThES, 159.171f. KD2 §§168ff; ThES, 159ff; vgl. KD2 §269. Vgl zu diesem Schematismus der Kirchengeschichte auch: KG, 627f.l Iff.

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Die sich aus der Beziehung auf die Kirchenleitung ergebende Pointe dieser Konstruktion der kirchengeschichtlichen „Rubriken" durch Schleiermacher besteht darin, daß sie primär nicht als Vorgaben zu verstehen sind für die wissenschaftliche Darstellung des kirchengeschichtlichen Stoffes, sondern der geschichtlichen Auffassung desselben Regeln geben: „Die Differenzen [verstehe: der Rubriken; R. S.] sind hier lediglich gestellt für die geschichtliche Auffassung; der geschichtlichen Darstellung haben wir hier keine Geseze zu geben"137. In kirchlichen Kontexten sachgemäß handeln zu können setzt voraus, daß der jeweilige „Funktionsbereich" dieses Handelns zutreffend identifiziert und hinsichtlich der ihm eigentümlichen historischen Genese im Kontext der sonstigen Funktionsbereiche christlicher Frömmigkeit geschichtlich aufgefaßt wird. Die „Kurze Darstellung" entfaltet hier - wie auch sonst - die formale Gestalt des theologischen Studiums138, nicht aber unmittelbar die des theologischen Lehrbetriebes. Sie fragt, welche Überlegungen sind in jeder Situation kirchenleitenden Handelns jenseits traditionaler Selbstverständlichkeit christlicher Frömmigkeit implizit immer schon mit im Spiel, wenn Kirchenleitung verantwortlich ausgeübt werden soll. Das ist der klare Sinn des §5 der „Kurzen Darstellung". Es ist prinzipiell keine Situation kirchenleitenden Handelns denkbar, in der nicht im verinnerlichten Horizont aller Kenntnisse und Kunstregeln, die die „Kurze Darstellung" entwickelt, gehandelt werden müßte - zwar nicht immer notwendig mit umfassender Virtuosität, aber doch notwendig stets mit dem entsprechenden Grundwissen bzw. basalen handwerklichem Können -, soll sachgemäß gehandelt werden. Dieser Horizont muß nicht notwendig in jeder Situation explizit sein - das wäre eine grauenhafte Überforderung -, aber er muß notwendig expliziert werden können, sobald Probleme auftreten139. Für die Belange der Darstellung des kirchengeschichtlichen Stoffes ist nach Schleiermacher aus protestantischer Sicht am besten geeignet eine solche Form, die sich an der Geschichte der kirchlichen Verfassung - einem Teil der christlichen Sitte also140 - entlangbewegt141.

5.2 Kirchengeschichtliche Auffassung des Gottesdienstes als Kultus Die kirchengeschichtliche Auffassung des Gottesdienstes als Kultus erhält ihre Funktion durch ihren Bezug auf die Aufgabe der leitenden Tätigkeit im Kultus. Es ist immer eine bestimmte je geschichtlich vorgegebene Situation kultischen 137 138 139 140 141

ThES, 159. Vgl. auch: KG, 11. Vgl. KD 2 § 185; ThES, 172ff. KD2§174;ThES, 162f. KD2§176;ThES, 164f.

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Handelns, in welcher das geschichtliche Bewußtsein von deren historischem Gewordensein wie gegenwärtigen kirchlich-gesellschaftlichem Kontext gefordert ist. Da die jeweiligen geschichtlichen Kontexte des kultischen Handelns ihre je eigenen Probleme besitzen, muß notwendig auch die Perspektive142 der geschichtlichen Auffassung von Fall zu Fall differieren, sodaß jede Periode sich eine eigentümliche kirchengeschichtliche Auffassung des Gottesdienstes als Kultus verschaffen muß. Es ist nicht möglich, die Perspektive einer anderen Zeit umstandslos zu übernehmen141. Schleiermacher selbst erfuhr die kirchlich-theologische Situation seiner Zeit als geprägt durch die Gegensätze von Rationalismus und Supranaturalismus bzw. Neologie und Orthodoxie144 auf der einen Seite und evangelischer und römisch-katholischer Frömmigkeit auf der anderen Seite145. Ausgedehnte Argumentationen der „Glaubenslehre" wie der „Christlichen Sitte" bieten eine Darlegung der christlichen Lehre, die sich in der Auseinandersetzung mit den beiden Extremen des Rationalismus und des Supranaturalismus profiliert. Sein „Sendschreiben an Lücke" zeugt davon, wie sehr er das innerkirchliche Leben durch die Kämpfe beider Parteien belastet sah146. Es ist daher nicht erstaunlich, daß auch auf Schleiermachers kirchengeschichtliche Auffassung des Gottesdienstes als Kultus die Auseinandersetzung mit Rationalismus und Supranaturalismus und deren jeweiliger Deutung des christlichen Kultus ihre Wirkung geübt hat. Die Entfaltung seiner Gottesdiensttheorie in seiner Christlichen Sittenlehre und seiner Praktischen Theologie ist darüber hinaus stets geprägt durch historische Exkurse im Blick auf die verschiedenen reformatorischen Gegenentwürfe zur römisch-katholischen Messe. Als Quelle zur Erhebung von Schleiermachers kirchengeschichtlicher Auffassung des Gottesdienstes als Kultus fällt seine „Geschichte der christlichen Kirche" fast völlig aus. Der rote Faden von deren Darstellung ist die innere Logik der lehrmäßigen Entwicklung der christlichen Frömmigkeit - ergänzt und umrahmt von der Beschreibung der Entwicklung der kirchlichen Verfassung, vor allem im Blick auf die Außenbeziehungen der Kirche zum Staat147. 142 Die „Frage", auf welche die geschichtliche Auffassung des Kultus die Antwort geben soll. 143 Allerdings mag sich die Beschäftigung mit anderen Perspektiven - anderen Fragestellungen - als sinnvoll erweisen, um der je eigenen die Augen zu öffnen auf vernachlässigte Aspekte. Nur unter dieser Voraussetzung hat überhaupt eine Arbeit wie die vorliegende eine theologische Berechtigung. 144 KG, 612; vgl. KG, 7; ThES, 186.215. Vgl. D. Lange, Neugestaltung, 87fT.; Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. V 145 Zur dezidiert antirömischen Position der Glaubenslehre vgl. GL2 §23; KD2 §212; der Praktischen Theologie vgl. KD2 §273; PrTh, 22.38.52.54f.57f.60fif.63. 146 Vgl. auch ThES, 248f. 147 Belegt sei dies durch Schleiermachers Einleitung in die Darstellung der dritten Periode der Kirchengeschichte („Vom Tode Karls des Großen bis zur Reformation"): „Wenn wir den dogmatischen Cyclus nach der Eintheilung in Theologie, Christologie und Anthropologie unterscheiden: so bleiben höchstens noch übrig die Eschatologie und die

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Die Nachzeichnung der Entwicklung der Lehre steht so sehr im Mittelpunkt, daß selbst eine Blütezeit der Beredsamkeit nicht zum Anlaß wird, die Bedeur tung dieses Sachverhaltes für den christlichen Kultus zu beleuchten, sondern nur die Betrachtung einer weiteren Facette der Dogmengeschichte einleitet: „Aber aus der Beredsamkeit entstanden eine Menge von Elementen, die einen höchst nachtheiligen Einfluß auf die Entwikklung der Lehre hatten"148. Der Mittelpunkt des kirchlichen Lebens, der Kultus, kommt in Schleiermachers „Geschichte der christlichen Kirche" so gut wie nicht vor. Neben einigen Bemerkungen zur reformatorischen Gottesdienstreform149 sind erwähnenswert lediglich noch die Ausführungen zur Person des liturgiegeschichthch bedeutsamen Gregor des Großen150. Der Ausfall einer eingehenderen Behandlung des christlichen Kultus im Zusammenhang der Darstellung der Geschichte der christlichen Kirche verwundert natürlich bei Schleiermacher um so mehr, als er - wie wir sahen - das ganze kirchliche Leben auf den Kultus zentriert bzw. vom Kultus her zentriert sein läßt. Muß dies als ein Widerspruch gedeutet werden? Wenn wir uns darauf besinnen, daß der Kultus die zentrale Ausdrucksgestalt christlicher Frömmigkeit ist, so muß alle leitende Tätigkeit im Kultus davon bestimmt sein, die christliche Frömmigkeit möglichst rein zur Geltung zu bringen. Das heißt: Sie muß sich in Auswahl und Heranziehung der kulturell gegebenen Darstellungsmittel leiten lassen von der ihr jeweils erschlossenen Einsicht in das Wesen der christlichen Frömmigkeit. Daraus folgt dann aber notwendig: Eine geschichtliche Auffassung des Kultus, eine gerechte Bewertung seiner vielfältigen Erscheinungsformen, ist nur so möglich, daß diese vor dem Hintergrund des religiösen Bewußtseins und der je erreichten ästhetischen Kompetenz ihrer Zeit betrachtet werden. Das gilt nicht nur für den Kultus, sondern in gleicher Weise für alle anderen Ausdrucksgestalten christlicher Frömmigkeit auch. Weil Schleiermacher der Auffassung ist, daß die Geschichte der christlichen Kirche

Lehre von den Gnadenmitteln. Ja die erstere auch nicht einmal, denn seitdem die Origenisten verdammt waren, blieb nichts übrig als die Lehre von den Höllenstrafen, und da die Lehre von der Taufe auch schon durch die donatistischen Streitigkeiten entwikkelt und bestimmt war, in der lezteren nur die Lehre vom Abendmahl und vom Begriff der Sacramente, worüber in dogmatischer Hinsicht Streit entstehen konnte und mußte. Das meiste zu entwikkelnde wird sein das Verhältniß der Kirche in ihrer äußerlichen Beziehung; auch hier ist der Gang schon vorgezeichnet, wir werden nur besonders fördernde Punkte und Reactionen hervorzuheben haben" (KG, 391; vgl. auch: KG, 39f). 148 KG, 270. 149 KG, 583ff. 150 Die Darstellung von dessen Bedeutung für den Gottesdienst umfaßt eine halbe Seite, sowie eine Anmerkung (KG, 350.351[Anm.]). - Das Stichwort „Gottesdienst" oder „Kultus" fehlt im Register des Bandes überhaupt. Stellen innerhalb der Vorlesung, an denen eine irgendgeartete - oft nur anekdotische - Beziehung zum Kultus besteht, sind: KG, 44.54f.56ff.59f.86ff.l08.198f.202f.350.351[Anm.]. 352.367.373.388.398.399ff. 438.439.467.513.554.577.583ff.590.591.598.609.

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primär gelesen werden muß als die immer konkreter werdende Entfaltung des in der christlichen Frömmigkeit wesentlich Angelegten, deshalb ist er berechtigt, die Geschichte der christlichen Kirche zunächst und zuerst als die Geschichte des Streites um die sachgemäße Selbstauslegung christlicher Frömmigkeit zu verhandeln: „Es gjebt Differenzen, die im Christenthum nicht zu vermeiden sind, und es giebt andere, die mit dem Typus des Christenthums streiten. Als die eigentliche geschichtliche Haupttendenz muß die angesehen werden, daß das Bewußtsein der Differenzen und das Bestreben ihrer Ausgleichung dahin führen müsse, jeder ihre Rolle anzuweisen: daß also die zur Ruhe kommen, welche nebeneinander bestehen können, aber auch die aus dem Christenthum entfernt werden, welche mit dem Typus des Christenthums streiten"151. Der dogmatische Grundzug, der Schleiermachers „Geschichte der christlichen Kirche" wie sein „Leben Jesu" auszeichnet, rührt also daher, daß das zu beschreibende Leben hier wie dort zunächst und zuerst ein Innerliches ist, das darauf aus ist, seiner selbst innezuwerden, das so Erschlossene authentisch zu präsentieren und seine Umwelt ihm gemäß zu gestalten. Damit bleibt unbestritten, daß Schleiermacher in seiner „Geschichte der christlichen Kirche" nur einen Teilbereich dessen abgedeckt hat, was in ihr zu verhandeln ist; aber es ist derjenige Teilbereich, über den sich alle anderen in ihrer geschichtlichen Bedeutung allererst erschließen: der sie nicht nur als bloß äußerliche Veränderungen, sondern als Realisationsgestalten eines geschichtlich wachsenden Bewußtseins der christlichen Frömmigkeit von sich selbst verstehen läßt 152 . Material zur Erhebung von Schleiermachers geschichtlicher Auffassung des Kultus ist daher an anderer Stelle zu suchen. Daß hier vor allem Schleiermachers „Christliche Sitte" und seine „Praktische Theologie" einschlägig sind, zeigt, wie sehr Schleiermacher die kirchengeschichtliche Fragestellung auf die Kirchenleitung zugespitzt hat. Denn es sind vorzüglich diese beiden Vorlesungen, in welchen Schleiermacher das Praktisch-Werden der christlichen Frömmigkeit untersucht und in welchen Schleiermacher das sachgemäße Handeln in der kirchlichen Gegenwart auf das Engste verknüpft mit der Kenntnis von deren Gewordensein. Die materiale Ausfüllung dieses enzyklopädischen Ortes im Sinne Schleiermachers ist aufgrund des vorliegenden Quellenmaterials im Rahmen der vorhegenden Arbeit nicht zu leisten.

151 KG, 22. 152 Daß Schleiermacher damit rechnet, daß äußere Umstände die Reifung des geschichtlichen Bewußtseins der christlichen Frömmigkeit von sich selbst und eine damit verbundene sachgemäßere Praxis entscheidend behindern oder befördern können, zeigen seine Ausführungen etwa zur Reformation (KG, 576ff).

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6. Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes der christlichen Kirche 6. l Die innere Organisation der Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes der christlichen Kirche nach der „Kurzen Darstellung" Auch die Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes der christlichen Kirche erfordert das vollständige Gegebensein aller Elemente einer abgeschlossenen geschichtlichen Auffassung: historische Kritik153, Hermeneutik154, Grammatik/Sprachkunde und die geschichtlichen Hilfswissenschaften. Die Grundeinteilung dieser Disziplin in Dogmatik und Statistik entspricht vordergründig derjenigen der Kirchengeschichte, denn auch die Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes der christlichen Kirche unterscheidet die Darstellung der Lehre von derjenigen „des geselligen Zustande"IS5. Während jedoch die kirchengeschichtliche Darstellung eines zusammenhängenden Bildes der christlichen Kirche zu einem bestimmten Zeitpunkt dabei auf besondere, dafür geeignete Momente beschränkt bleiben darf, muß jeder gegenwärtig kirchenleitend Tätige sich ein umfassendes Bild von seiner derzeitigen Handlungssituation erstellen, so ungünstig dazu auch die Bedingungen sein mögen156 - und diese Aufgabe bearbeitet der dritte Abschnitt der Historischen Theologie. Der Unterschied zwischen Dogmatik und Statistik läßt sich genauer dann so angeben, daß die Statistik die bloße Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes umfaßt - auch die Kenntnis der darin vertretenen theologischen Lehren -, während die Dogmatik den jeweiligen Entwicklungsstand der kirchlichen Lehre beurteilt. Nicht primär der Gegenstand trennt Dogmatik von der Statistik, sondern der Aspekt der Beurteilung des Vorgefundenen unterscheidet die Dogmatik von der Statistik, welche bloß darstellt157. Die normative Funktion158 der Dogmatik rückt diese dabei eng an die Disziplinen der Philosophischen159 und der Exegetischen160 Theologie161. Nur unter dieser Voraussetzung läßt sich überhaupt verstehen, warum die kirchliche Statistik der Dogmatik in der Abfolge der einzelnen Schritte der theologischen Theoriebildung nachgeordnet ist. Denn üblicherweise geht die Erhebung eines Zustandes dessen Beurteilung notwendig voraus. Daß die Dogmatik gleichwohl der kirchlichen Statistik vorangeht, muß dann darin sei153 154 155 156 157 158 159 160 161

Vgl. KD2§§101f.;ThES, lOlf. Vgl. ThES, 201f. ThES, 181; vgl. KD2 §§195.94ff.; ThES, 97-102. ThES, 181. ThES, 213.220f. Vgl. KD2 §198; ThES, 189. - Vgl. aber auch: ThES, 206. Vgl. KD2 §§213ff. Vgl. KD2 §§209f.;ThES, 199f. Vgl. auch oben Abschnitt 4.1. - Zum Verhältnis von Dogmatik und Philosophischer Theologie s. unten Abschnitt 6.2.1.

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Grund haben, daß die Erhebung des gegenwärtigen Zustandes der Kirche niemals nur unter Heranziehung eines bloß formalen Orientierungsrahmens Philosophische Theologie - vonstatten geht, sondern stets geleitet wird von den dogmatischen, material gefüllten Überzeugungen des kirchlichen Statistikers, die folglich zuvor einer Selbstverständigung zugeführt werden müssen. Die Beurteilung des vor diesem orientierenden dogmatischen Horizont sich abzeichnenden, in der kirchlichen Statistik erfaßten kirchlichen Lebens unter dem alle theologische Theoriebildung leitenden Gesichtspunkt der Kirchenleitung und die Beurteilung der Folgen der verschiedenen Möglichkeiten einer auf diese Situation gerichteten Einflußnahme durch die kirchenleitenden Organe nimmt dann einen großen Raum in Schleiermachers Vorlesungen zur Praktischen Theologie ein. Dies wird offenkundig, wenn man etwa die Theorie des Kkchenregünents in Schleiermachers Praktischer Theologie betrachtet, die Punkt für Punkt die inneren und äußeren Verhältnisse der evangelischen Kirche am Leitfaden des Aufbaus der kirchlichen Statistik abschreitet: zunächst die inneren Verhältnisse der Kirche im Blick auf die Form des Kirchenregimentes162 und seine Materien163 und dann die äußeren Verhältnisse der Kirche164. Wobei der jeweilige Befund wiederum im Horizont der dogmatischen Theoriebildung seine Beurteilung erfahrt, woraufhin die Möglichkeiten einer Einflußnahme inklusive ihrer jeweiligen Vor- und Nachteile diskutiert werden - womit die eigentliche Thematik der Praktischen Theologie benannt ist, für die alles andere nur die unerläßliche Vorarbeit war. Die Unterteilung der Dogmatik in Glaubenslehre und Sittenlehre haben wir bereits an anderer Stelle erwähnt, sodaß hier nurmehr die interne Gliederung der Statistik kurz umrissen werden muß. Wie alle anderen Disziplinen der Historischen Theologie erhält auch die Statistik den Begriff ihres Aufgabenfeldes von der Philosophischen Theologie vorgegeben. Denn die grundlegende Unterscheidung der statistischen Aufgabe, den Gesamtzustand einer kirchlichen Gesellschaft einerseits zu erheben im Blick auf deren innere Beschaffenheit und andererseits im Blick auf deren äußere Verhältnisse165, nimmt Bezug auf den §48 der „Kurzen Darstellung"166. Im Zusammenhang der Philosophischen Theologie werden dort die Begriffe Hierarchie und Kirchengewalt als Titel für denjenigen Teil der philosophisch-theologischen Wesensbestimmung des Christentums eingeführt, der sich mit dem Begriff der Organisation des Innen- und Außenverhältnisses der christlichen Gemeinschaft beschäftigt. Quer zu der Unterscheidung von Innen- und Außenverhältnis steht die Betrachtung von deren jeweiligem Gehalt einerseits und jeweiliger Form anderer162 163 164 165 166

PrTh, 534ff. PrTh, 565ff PrTh, 662ff. KD2 §232, ThES, 221. Vgl. ThES, 55ff.

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seits167. Gehalt und Form haben den ihnen zugebilligten Spielraum innerhalb dessen, was die Philosophische Theologie als IndifTerentismus/Separatismus bzw. Häresie/Schisma zum Gegenstand der Polemik macht168. Das Interesse an einer sachgemäßen Kirchenleitung verbietet es, die innerhalb der Kirchengemeinschaften zu beobachtende Vielfalt durch die Erhebung von „bloßen Durchschnittsangaben"169 im schlechten Sinne „statistisch" einzuebnen und zu ,,tote[n] Notizen" zu machen170, dem „Produkt eines unkritischen Sammelgeistes"171. Auf der anderen Seite gilt es, das kirchliche Interesse auch hier in wissenschaftliche Bahnen zu lenken: „Ist das religiöse Interesse von wissenschaftlichem Geist entblößt: so wird die Beschäftigung statt ein treues Resultat zu geben, nur der Subjektivität der Person oder ihrer Partei dienen"172.

6.2 Dogmatik173 6.2. l Zum Verhältnis von Dogmatik und Philosophischer Theologie Wir hatten an anderer Stelle174 Schleiermachers Projekt einer Philosophischen Theologie dahingehend entfaltet, daß deren Aufgabe die „Wesensbestimmung des Christentums" sei. Nur auf der Grundlage der philosophisch-theologisch explizierten „Idee" des Christentums sei nach Schleiermacher der Vollzug der Historischen Theologie in wissenschaftlicher Redlichkeit möglich. Von der Dogmatik sagt Schleiermacher, sie normiere „den volksmäßigen Ausdruck"175. Philosophische Theologie wie Dogmatik haben orientierende, normierende Funktion und nehmen diese Aufgabe wahr unter Heranziehung der Philosophie bzw. Ethik176. Worauf genau beziehen sich aber nun die Orientierungsleistung der Philosophischen Theologie und diejenige der Dogmatik? Was die Philosophische Theologie anbetrifft, so erhalten wir hierüber Auskunft in dem diese Disziplin einführenden §24 der „Kurzen Darstellung": 167 168 169 170 171 172 173 174 175 176

KD2 §232; ThES, 221. ThES, 223; vgl. KD" §§56ff; ThES, 63ff. KD2§235. KD2 §237; vgl. KD2 §246; ThES, 238f. ThES, 239; vgl. KD2 §247. Vgl. Volker Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie, Bd.I[=Text], 36ff; Bd. II [=Anmerkungen], 392ff. KD2 §248; vgl. ThES, 239f. Vgl. H.-J. Birkner, Beobachtungen zu Schleiermachers Programm der Dogmatik. Vgl. oben §1, Abschnitt 2. KD2 §198; ThES, 189; GL2 §19.3,1.121. Außer den für die Philosophische Theologie bereits angeführten Stellen vgl. hinsichtlich der dogmatischen Bezugnahme auf die Philosophie noch: KD2 §§213f.§226; ThES, 203ff.215; GL2 §28.

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„Eine solche Disziplin ist aber als Einheit noch nicht aufgestellt oder anerkannt, weil das Bedürfnis derselben, so wie sie hier gefaßt ist, erst aus der Aufgabe, die theologischen Wissenschaften zu organisieren, entsteht"177. Die Orientierungsleistung der Philosophischen Theologie besteht im Blick auf die „Aufgabe, die theologischen Wissenschaften zu organisieren". Bereits häufiger haben wir darauf hingewiesen, daß die Aufgabenstellungen der verschiedenen Disziplinen der Historischen Theologie diesen von der Philosophischen Theologie vorgegeben werden. Dieser Sachverhalt läßt sich nun so verstehen, daß er nicht einen Nebeneffekt der philosophisch-theologischen Wesensbestimmung des Christentums darstellt, sondern vielmehr überhaupt als deren einziger Zweck angesehen werden muß178. Die Philosophische Theologie nimmt ihren Ausgangspunkt in einer Situation, in welcher die christliche Frömmigkeit kontrovers ausgelegt wird und somit Bedarf an theologischer Theoriebildung entsteht. Soll diese theologische Theoriebildung nicht schon von vornherein dazu ungeeignet sein, einen vernünftigen Umgang mit der Vielfalt christlicher Frömmigkeit zu befördern, so muß die sie orientierende Metatheorie größtmögliche Formalität besitzen. Das genau aber versucht Schleiermacher mit seiner Philosophischen Theologie zu gewährleisten. Denn deren Wesensbestimmung des Christentums179 ist nichts anderes als eine „Formel"180 ohne jegliche Näherbestimmung181. Was diese Formel leistet, ist dieses, daß die Analyse ihrer Implikate angibt, in bezug worauf überhaupt etwas in der christlichen Gemeinschaft strittig sein kann und wie bei der Klärung strittiger Positionen zu verfahren ist. So wurden etwa die apologetischen Grundbegriffe Kanon und Sakrament im Zusammenhang ihrer philosophischtheologischen Einführung explizit von jeder dogmatischen Näherbestimmung freigehalten182, weil diese Begriffe in der Apologetik nur als Titel zur Bezeichnung einer formalen Bedingung der Möglichkeit des ge-schichtlichen Faktums christliche Frömmigkeit als Kirche fungieren. 177 KD2 §24.

l 78 Man kann als zentrale Aufgabe der Philosophischen Theologie die Erstellung einer formalen theologischen Enzyklopädie ansehen, wie sie in Schleiermachers „Kurzer Darstellung" vorliegt. 179 GL 2 §11. 180 KD2 §44; ThES, 50f. 18l Vgl. ThES, 200. Dort argumentiert Schleiermacher hinsichtlich der traditionellen Unterscheidung von Fundamentalartikeln und Artikeln so, daß es eigentlich nur einen Fundamentalartikel gebe, der aber nicht mehr dogmatischen Status habe: „Die ursprüngliche Erklärung der FundamentalArtikel war, es seyen solche die nicht ignorirt oder bezweyfelt werden können ohne Verlust der Seligkeit. Dieß kann von keinem dogmatischen Saz in seiner dogmatischen Form gelten, welche für die Masse immer unzugänglich ist(...)Entweder es giebt nur einen FundamentalArtikel, der aber gar nicht die Gestalt eines Dogmas hat, oder eine solche Erklärung ist gar nicht zulässig Denn der Glaube an Christum ist der FundamentalArtikel, aber so unbestimmt ist er kein dogmatischer Saz, als FundamentalArtikel muß er aber in dieser Unbestimmtheit gelassen werden" (ebd.). 182 KD2 §47; ThES, 54f.

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Die Philosophische Theologie trägt somit nichts zum Wissen um die christliche Frömmigkeit bei als die Angabe dessen, in bezug worauf man etwas vom Christentum wissen muß, um dasjenige von ihm zu wissen, wodurch christliches kirchenleitendes Handeln seiner selbst bewußt vollzogen werden kann. Es ist somit irrig, das Verhältnis von Philosophischer Theologie und Dogmatik so zu beschreiben, als handle es sich einmal um die Deduktion von der Wesensschau zum Gegebenen und zum anderen um die Induktion von der gegebenen Vielfalt zum wesentlichen Kern, wobei sich beide Denkbewegungen in einem unendlichen Prozeß einander annäherten"3. Statt dessen ist zu sagen: Philosophische Theologie und Dogmatik wollen gar nicht zur materialen Deckung gelangen. Die philosophisch-theologische Wesensbestimmung hätte selbst unter günstigsten Umständen keine andere Aufgabe zu erfüllen als die einer bloßen „Einleitung in die Dogmatik"184. Und nur unter dieser Voraussetzung macht die Philosophische Theologie die Dogmatik nicht überflüssigI8S. Die Philosophische Theologie artikuliert den Möglichkeitsrahmen christlicher Frömmigkeit186 und somit die Themenbereiche für die Näherbestimmung der christlichen Frömmigkeit durch die Dogmatik vor dem Hintergrund der Geschichte der Selbstauslegung christlicher Frömmigkeit. Die vorzügliche Aufgabe der Dogmatik ist es, zu entscheiden, ob und inwiefern ein im Zusammenhang der christlichen Frömmigkeitspraxis stehendes Phänomen als christliches interpretiert werden darf oder aber den Möglichkeitsrahmen christlicher Frömmigkeit sprengt und als abwegig identifiziert werden muß: „Die dogmatische Theologie hat für die Leitung der Kirche zunächst den Nutzen, zu zeigen, wie mannigfaltig und bis aufweichen Punkt das Prinzip der laufenden Periode sich nach allen Seiten entwickelt hat, und wie sich dazu die der Zukunft anheimfallenden Keime verbesserter Gestaltungen verhalten. Zu-

183 So etwa D. Lange, Neugestaltung, 94f. 184 ThES, 42. Vgl. ThES, 43: „Daß nun aber die Apologetik nicht blos die Einleitung zur Dogmatik bildet sondern eine eigne Disciplin, dies hat seinen Grund lediglich in dem historischen Umstand, daß das Christenthum von Anfang an ist angegriffen worden. Sonst wäre die Apologetik nur der Anknüpfungspunkt der Dogmatik an die ReligionsPhilosophie". - Das Irrige an einer Auffassung wie der Langes konnte aber erst aufgrund der Edition der Strauß'schen Nachschrift recht ans Licht treten. 185 Vgl. K. Dunkmann, Die theologische Prinzipienlehre Schleiermachers, 36: „Wir stehen also doch vor der Erkenntnis, daß diese Dogmatik mindestens überflüssige Arbeit tut, wenn sie neben der philosophischen Theologie noch etwas für sich sein will". 186 Eine entsprechende philosophisch-theologische Argumentation hinsichtlich des Möglichkeitsrahmens des christlichen Gottesdienstes findet sich CS, 541-544. Das dort verhandelte Problem des Verhältnisses zwischen Aktiven und Passiven im Kultus wird ausgeleuchtet in den Extremen des Gottesdienstes der Quäker und dem römisch-katholischen Meßgottesdienst. Abschließend hält Schleiermacher fest: „Daraus werden wir aber gleich folgern können, daß was zwischen beiden Extremen liegt, eine christliche Form ist, nur daß jeder obliegen wird, sich von dem Extreme, dem sie am nächsten liegt, immer mehr zu entfernen" (CS, 544; vgl. CS, 556.559).

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gleich gibt sie der Ausübung die Norm für den volksmäßigen Ausdruck, um die Rückkehr alter Verwirrungen zu verhüten und neuen zuvorzukommen"187. In der Dogmatik geht es um die Ausbildung theologischer Urteilskraft"8 im Blick auf die je gegenwärtige Lage der christlichen Gemeinschaft189. Eine historische Disziplin ist sie dadurch, daß sie die je gegenwärtige Lage der christlichen Frömmigkeit nicht am formalen Möglichkeitsbegriff christlicher Frömmigkeit der Philosophischen Theologie bemißt, sondern an dem jeweils erreichten Konkretionsgrad der geschichtlichen Selbstauslegung christlicher Frömmigkeit - „bis auf welchen Punkt das Prinzip der laufenden Periode sich nach allen Seiten entwickelt hat" -, dessen Stand sie daher zu erheben190 und zuordnen 191 hat 192 .

6.2.2 Dogmatische Theologie des Gottesdienstes als Kultus Als wir oben am Leitfaden des ethischen Schematismus die Grundlagen der philosophisch-theologischen Theoriebildung des Gottesdienstes als Kultus zu rekonstruieren suchten, folgten wir in der Anordnung der ethischen Aspekte Güter, Pflichten, Tugenden - Schleiermachers Auszeichnung der Güterlehre als der „objektivsten" Darstellung der sittlichen Welt193. Auch konnten Gottesdienst wie Kirche insgesamt dadurch schneller in ihrem Gegenüber zu anderen gesellschaftlichen bzw. kirchlichen Institutionen profiliert werden, als das bei einer umgekehrten Anordnung möglich gewesen wäre. Wenn wir uns nun der Rekonstruktion von Schleiermachers dogmatischer Bestimmung des Kultus im Ganzen des christlichen Lebens zuwenden, legt sich dagegen der Einsatz mit 187 KD 2 §198. 188 Vgl. KD2§219. 189 Vgl. die Fragestellung von CS, 597[1826/27]: „Es kommt also darauf an, zu beurtheilen, ob das Abnehmen des Wochengottesdienstes unter uns einen sittlichen Grund hat oder nicht". 190 KD2§201. 191 KD2§200.§213.§214.§217. 192 Im §20 seiner Glaubenslehre gibt Schleiermacher zwei Möglichkeiten an, eine Dogmatik zu erstellen. Davon ist die erste: „Man kann von der allgemeinen Auffassung des christlichen Bewußtseins aus einen Grundriß entwerfen, auf wie vielerlei Arten es sich nach der Natur der menschlichen Seele und des menschlichen Lebens äußern kann, und diesen aus dem vorhandenen Lehrmaterial auszufüllen suchen, wobei es denn nur darauf ankäme, gewiß zu sein, daß man nur Zusammenstimmendes aufgenommen hat" (GL2 §20.1,1 126). Der erste Halbsatz gibt die Aufgabe der Philosophischen Theologie an - „Einleitung" in die Dogmatik -, während der zweite Teil des Satzes die eigentlich dogmatische Aufgabenstellung formuliert. - Dieser Möglichkeit gegenüber steht die Methode des Zusammentragens gegenwärtig vertretener Lehren und deren nachträgliche Ordnung (ebd.). Schleiermacher selbst votiert für eine Verbindung beider Vorgehensweisen. 193 SW III.2, 353.

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der Frage nach der Motivation kultischen Handelns nahe. Für diese Vorgehensweise spricht der Fortgang von Schleiermachers eigener Argumentation in seiner Christlichen Sittenlehre als einer dogmatischen Disziplin. Auch diese beginnt ihre Überlegungen mit Reflexionen auf das allem christlichen Handeln zugrundeliegende christlich bestimmte fromme Selbstbewußtsein. Soll in der Dogmatik die christliche Frömmigkeit den ihr geschichtlich erschlossenen Gehalt ihrer selbst aussprechen, so gehört zu diesem Gehalt notwendig immer auch eine Gewißheit über die sachgemäße Gestalt gläubigen Lebensvollzuges - sei es als Handeln des Einzelnen oder als Gestaltung des gemeinsamen Lebens -, aber als Maßstab fungiert hier doch immer der diese Gestalten christlichen Lebens aus sich heraussetzende christliche Glaube, das Motiv christlichen Handelns. Da die Dogmatik zunächst und zuerst der Selbstverständigung des christlichen Glaubens innerhalb der christlichen Kirche zuarbeitet, es also nicht um die Verteidigung des Lebensrechtes seiner Praxisgestalten im Gegenüber zu anderen gesellschaftlichen Größen überhaupt geht eine Aufgabe der Philosophischen Theologie -, sondern um die binnenkirchliche Verständigung über deren sachgemäße lebenspraktische Wahrnehmung194, kann diese dogmatische Selbstverständigung des christlichen Glaubens auch sofort mit der - immer umstrittenen - Auslegung seines - immer unumstrittenen - Lebensprinzips einsetzen. Auf diesem Wege wird auch am deutlichsten hervortreten, daß die theologische Deutung der geschichtlichen Welt und ihrer Voraussetzungen sich nicht in der formalen Ausdifferenzierung von deren wesentlichen Aspekten erschöpft, wie dies die Philosophische Ethik tut, sondern im von ihr ausgelegten christlich-frommen Selbstbewußtsein auch der die geschichtliche Welt begründenden, erhaltenden und auf ihr Ziel hinführenden Kraft inne ist195. Darum ist für Schleiermacher Theologie - auch und gerade als positive Wissenschaft - wesentlich Gnadenlehre, und zwar im Sinne einer Lehre vom dreieinigen Gott. Nach Schleiermachers Auffassung ist es 194 Diese konkreten Ausgestaltungen christlichen Lebens können und müssen dann auch gegenüber dem gesellschaftlichen Umfeld der Kirche mit Gründen vertreten werden. 195 Vgl. GL2 §126.1, II.274f. - Es ist immerhin auffällig, daß Schleiermacher seine Akademievorträge zur Philosophischen Ethik nicht mit der Lehre vom Höchsten Gut beginnen läßt, obwohl er diese doch bereits in seinen früheren Manuskripten zur Philosophischen Ethik in den Mittelpunkt des ethischen Diskurses stellte. Diese Hochschätzung der Güterlehre entspricht völlig ihrer Bewertung als der „objektivsten" Darstellung der sittlichen Welt (vgl. SW III.2, 353), die Schleiermacher in seinen Akademievorträgen ausspricht. Allerdings wird diese Hochschätzung mißverstanden, wenn man sie nicht darauf bezieht, daß die Güterlehre hier vorzüglich deswegen im philosophisch-ethischen Diskurs eine Auszeichnung erfahrt, weil sie sich auf die „objektiven" Resultate des sittlichen Prozesses bezieht, die also dem ethischen Diskurs am leichtesten einen gemeinsamen Orientierungspunkt zur Verfügung stellen. Wenn Schleiermacher gleichwohl seine Vorträge mit der Erörterung des Tugendbegriffes beginnen läßt, so kommt darin zum Ausdruck, daß die Lehre vom Höchsten Gut die geschichtlich-sittliche Welt auch als Resultat nur unter der Voraussetzung begreift, daß in ihr immer schon das sittliche Movens mit vorausgesetzt wird, wie es die Tugendlehre zu entfalten sucht.

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nämlich die Lehre von der Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur - sowohl durch die Persönlichkeit Christi"6 als auch durch den darauf bezogenen Gemeingeist der Kirche197 -, „mit welchem die gesamte Auffassung des Christentums in unserer kirchlichen Lehre steht und fallt"198. Denn in dieser Vereinigung ist die alle Geschichte begründende Macht anschaulich geworden. Das Christentum ist in der kirchlichen Lehre auszulegen als das geschichtliche Selbstbewußtsein des Menschen vom Wesen der Geschichte als gnädiger Selbstmitteilung Gottes. Und er ist davon überzeugt, daß es genau diese Aufgabenstellung der Gnadenlehre und keine andere ist, deren Lösung sich die Trinitätslehre - so sie sich selbst recht versteht widmet199. Sei es also mit den methodischen Mitteln seiner Glaubenslehre oder orientiert an den traditionellen Formeln der kirchlichen Trinitätslehre: nach Schleiermacher ist das sachgemäße Verständnis des Christentums und somit auch das sachgemäße Handeln in diesem unaufhörlich gebunden an die Bearbeitung ,jener Hauptangelpunkte der kirchlichen Lehre, Sein Gottes in Christo und in der christlichen Kirche"200. Es spricht also alles dafür, die dogmatische Bestimmung des Kultus im Ganzen des christlichen Lebens mit der Frage nach der im darstellenden Handeln ausdrücklich werdenden Einigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur zu beginnen (6.2.2.1), um danach die Realisationsgestalten dieser Einigung zu beschreiben im Lebensvollzug (6.2.2.2) sowie in den Institutionen gemeinsamen Lebens (6.2.2.3).

6.2.2. l Die christliche Tugend als das durch Christus vermittelte Sein Gottes in der Kirche Ausgehend von Schleiermachers Selbstkommentierung seiner Entfaltung der Theologie als positiver Wissenschaft legten wir unserer Rekonstruktion von Schleiermachers Gottesdiensttheorie dessen Philosophische Ethik zugrunde. Allerdings wurde bei dieser Gelegenheit bereits darauf hingewiesen, daß die Philosophische Ethik ihrerseits auf Erkenntnisse angewiesen ist, deren Gewinnung und Entfaltung anderen - der Ethik vorgeordneten - Disziplinen obliegt201 . Dies wird besonders in der jetzt zu verhandelnden Fragestellung deut196 GL2§94. 197 GL 2 §123. 198 GL2 §170.1, 11.458. - Vgl. Wilfried Brandt, Der Heilige Geist und die Kirche bei Schleiermacher, 226-265. 199 A.a.O, 458ff. 200 GL2 §170.3, 11.461; vgl. auch: SW 1.2, 519f [Dort unter Bezugnahme auf „Ap.Gesch.27" - gemeint ist wohl eher Kap. 17]. 201 Es kann in der hier vorliegenden Arbeit nicht entschieden werden, ob dabei der Psychologie oder der Dialektik größeres Gewicht zukommt. Schleiermachers steter Rekurs auf Einsichten der Psychologie deutet allerdings an, daß die Erhebung von deren Be-

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lieh, denn das Problem der Einigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur ist für Schleiermacher zunächst und zuerst eines, das nur subjektivitätstheoretisch erhellt werden kann202. Die damit geforderten Verstehensleistungen wurden von Schleiermacher in den „Lehnsätzen aus der Ethik"203 explizit als solche bezeichnet, die in der Ethik „als ein Geliehenes aus der Seelenlehre anzusehen" sind204. Es versteht sich von selbst, daß die Psychologie ebenso wie die Ethik im theologischen Kontext nur so herangezogen werden wird, daß sie den begrifflichen Rahmen bereitstellt für das Verständnis des menschlichen Herzens als des personalen Mittelpunktes und Quellpunktes aller menschlichen Lebensvollzüge. Im Zusammenhang unserer Fragestellung müssen wir uns darauf beschränken, diese Hinweise Schleiermachers auf die Psychologie zu notieren, das genauere Studium von Schleiermachers Psychologie dann aber anderen Arbeiten zu überlassen205. Schleiermachers dogmatische Ausdeutung der Einigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur umfaßt zwei Aspekte. Zum einen die Einigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in Christo als einer personbildenden200 und zum anderen die dadurch vermittelte Einigung „des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in der Form des das Gesamtleben der Gläubigen beseelenden Gemeingeistes"207. Zwischen den beiden Aspekten Sein Gottes in Christo und Sein Gottes in der Kirche als dem Gesamtleben der Gläubigen besteht ein Ursache-WirkungsVerhälmis, insofern der das Gesamtleben der Gläubigen beseelende Gemeingeist die „Wirkung in unserm Selbstbewußtsein" ist von einer „Beziehung zwischen dem höchsten Wesen und der menschlichen Natur"208, für welche Beziehung Christus die Ursache ist209 - sei es durch seine Selbstmitteilung an die Jünger oder durch deren und deren Nachfolger Predigt von Christo210. Wobei

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deutung für Schleiermachers Wissenschaftssystem einer eingehenderen Bearbeitung bedarf als bisher üblich (vgl. E.Herms, Die Bedeutung der „Psychologie"). Die enge Verbindung zwischen Dogmatik und Dialektik läßt - neben den einschlägigen Stellen der Glaubenslehre - vor allem Schleiermachers Abhandlung „Ueber den Gegensaz zwischen der sabellianischen und der athanasianischen Vorstellung von der Trinität" (SW 1.2, 485-574) erkennen: explizit etwa SW 1.487.491.493.498. Vgl. außer den klassischen Paragraphen GL2 §§3-5 noch die einschlägigen Andeutungen GL2 §10. Zusatz, 1.72; §93.3, II.38f; §94.2, II.45f; §100.2, II.91f; §123.1, 11.259; §172.1,11.470; §172.3, II.471f. GL2 §§3-6. GL2 §3.3.,1.18. Vgl. F.Siegmund-Schultze, Schleiermachers Psychologie. Vgl. GL 2 § 123.3,11.263. GL 2 §123. GL2 §123. l, 11.259. Vgl. GL 2 §14.1,I.95;§§91f.;CS, 32.40 u.ö.. GL2 §123.3, 11.264: „Die das neue Leben konstituierende göttliche Wirksamkeit in den Einzelnen ist endlich auch deshalb Gemeingeist, weil sie teils ohne alle Berücksichtigung besonderer persönlicher Eigenschaften in jedem ist, sofern er der Gemeinschaft

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die Wirkung Christi nicht in einzelnen Momenten, sondern in dem Gesamtverlauf seines Lebens2" gründet212. Denn der christliche Glaube ist sich nicht einer punktuellen Einigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in Christo gewiß, sondern einer stetigen213. Nur so vollendet sich in ihm wirklich „der Begriff des Menschen als Subjekt des Gottesbewußtseins"214: „Er mußte also in allen Momenten auch seiner Entwicklungsperiode frei sein von allem, wodurch das Entstehen der Sünde in dem einzelnen Menschen bedingt ist"215. Soll er der Erlöser - und nicht selbst ebenfalls ein Erlöster - sein, so muß die Sündlosigkeit Christi nicht äußerlich in besonders glücklichen Lebensumständen, sondern wesentlich in ihm selbst begründet sein2". Stete Sündlosigkeit heißt somit zugleich stete Kräftigkeit des Gottesbewußtseins. Das genau aber bezeichnet fiir Schleiermacher „Sein Gottes in Christo": „Der Ausdruck „Sein Gottes in irgend einem ändern" kann immer nur das Verhältnis der Allgegenwart217 Gottes zu diesem ändern ausdrücken"218. Dies gilt zunächst aber von der Welt als ganzer und nicht von einzelnen Dingen in der Welt. Ein Sein Gottes in einzelnen Sachverhalten kann es nur so geben, daß diese Sachverhalte mit Bewußtsein ausgestattet sind, sodaß sie die Welt - das gesamte endliche Sein - auf die Weise lebendiger Empfänglichkeit in sich zu repräsentieren vermögen. Zu dem so Repräsentierten muß dann aber notwendig auch die endliche Verfassung des Bewußtseins gehören219. Weshalb auch bloßes Bewußtsein noch nicht ausreicht, um ein Sein Gottes in diesem einzelnen Ding zu ermöglichen, sondern vernünftiges Selbstbewußtsein erforderlich ist - in Schleiermachers Sprachgebrauch: Intelligenz220.

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angehört, durch deren Wirksamkeit auch seine Wiedergeburt bedingt war und aus welcher durch die Predigt im weitesten Sinne des Wortes dieses neue Leben in ihn ebenso übergegangen ist, wie es sich in den Jüngern gestaltet hat durch die Kraft des sich mitteilenden Lebens Christi, teils auch, weil sie den Einzelnen nur für die Gemeinschaft in Besitz nimmt und ihn selbst nur dazu bildet, damit sie und so wie sie am besten durch ihn für das Ganze wirken kann". Vgl. auch: GL2 §124.1, 11.265: Die Mitgliedschaft in dem durch die Beziehung mit Gott geprägten Gesamtleben ist „zugleich das Hineingestelltsein in den Wirkungskreis dieses einzigen Urhebers". GL2 §93.1,11.34; vgl. GL2 §10.Zusatz, 1.72. Weshalb auch jedes Zeugnis von Christo diesen nur dann sachgemäß als Christus abbildet, wenn es das, was es von ihm berichtet, berichtet im Horizont von dessen ganzem - Geburt, Leben und Sterben umfassenden und durch die Auferstehungserfahrung in seiner Dignität bewährten - Lebensweg. Vgl. GL2 §99.Zusatz, II.87f; §101.4, II. 103. LJ, 285; GL2 §13.1,1.89;§K.Zusatz, I.103f.;§93. GL2 §93.3, 11.38 GL2 §93.4,11.40. GL2§94.1,II44;§98. Vgl. SW 1.2, 501.522. GL2 §94.2, 11.45. Vgl. GL2 §10.Zusatz, 1.74: „Eine Kundmachung Gottes, die an und in uns wirksam sein soll, kann nur Gott in seinem Verhältnis zu uns aussagen". Vgl. GL2 §100.2,11.91; SW 1.2, 501f. Ebd. - Vgl. GL2 §96.3, II.57;§101.2,11.99; CS, 312[1826/27].443ff.

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Die in der Ausdifferenzierung von Selbstbewußtsein und gegenständlichem Bewußtsein und der damit vorbereiteten Ausdifferenzierung von Gottesbewußtsein und Weltbewußtsein begründete Frömmigkeit als anthropologischer Konstante ist aber noch nicht identisch mit dem Sein Gottes in uns221. Da Gottes Sein nur als reine Tätigkeit aufgefaßt werden kann, das menschliche Gottesbewußtsein - außer demjenigen Christi - aber meist vom sinnlichen Bewußtsein überwältigt wird222: „so ist auch jenes getrübte und unvollkommne Gottesbewußtsein an und für sich kein Sein Gottes in der menschlichen Natur, sondern nur sofern wir Christum mit hinzubringen und es auf ihn beziehen"221. Christus ist der einzige einzelne andere, in welchem es ein Sein Gottes in anderem gibt224. Fassen wir zusammen: Sein Gottes in einem einzelnen anderen ist nach Schleiermacher nur möglich unter der Voraussetzung von Selbstbewußtsein und nur wirklich als stets kräftiges und vollkommen reines Gottesbewußtsein. Beide Bedingungen sieht der christliche Glaube nur in der Person Jesu erfüllt. Diese exklusive Beschränkung des Seins Gottes in einem einzelnen anderen auf die Person Jesu stellt zugleich die Frage, wie denn dann das in allen christlichen Bekenntnissen ausgesagte Sein Gottes in der Kirche möglich sein soll, wenn diese Aussage einen von der Allgegenwart Gottes in der Welt unterschiedenen Sinn haben soll. Und wenn zugleich gilt, daß es ein Sein Gottes in distinkten Größen innerhalb des Weltzusammenhanges nur soll geben können, sofern diese distinkten Größen mit Selbstbewußtsein begabt sind und sich in diesem Selbstbewußtsein das Gottesbewußtsein als ein stets kräftiges und vollkommen reines vollzieht. Dies ist nur möglich, wenn der Ausdruck Selbstbewußtsein nicht beschränkt ist auf das ihrer selbst Innesein von einzelnen natürlichen Personen, sondern auch moralischen Personen in nichtmetaphorischer Weise Selbstbewußtsein zugesprochen werden kann. Genau damit aber rechnet Schleiermacher. Und zwar nicht als einer Möglichkeit, die zu dem Selbstbewußtsein natürlicher Personen nur unter gewissen Umständen noch hinzutritt, prinzipiell aber auch fehlen könnte. Vielmehr gehört zum voll ausgebildeten Selbstbewußtsein der natürlichen Person die Gewißheit, als Individuum mimer schon in geistiger Gemeinschaft zu stehen mit anderen selbstbewußten Individuen. Die Person erfährt sich immer schon als im geistigen Austausch mit anderen Personen existierend, was nur möglich ist unter der Voraussetzung eines ihnen gemeinsamen geistigen Bandes: des Gattungsbewußtseins225. GL2 §94.2,11.46. Ebd. Ebd. vgl. GL2 §96.3, II.57;§ 166.2; CS, 35f. Ebd. vgl. auch in Schleiermachers Darstellung der sabellianischen Trinitätslehre: SW 1.2, 565. 225 Eine moralische Person hat also Selbstbewußtsein nicht losgelöst von den sie konstituierenden Individuen, sondern nur durch diese und in diesen: nämlich in deren Gat221 222 223 224

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Wie nun aber das Selbstbewußtsein der Person als individuelles Selbstbewußtsein allererst die Möglichkeitsbedingung für ein Sein Gottes in der einzelnen Person ist und noch nicht dessen Wirklichkeit, so ist auch das Selbstbewußtsein der Person als überindividuelles Gattungsbewußtsein allererst die Möglichkeitsbedingung für ein Sein Gottes in der Gattung und noch nicht dessen Wirklichkeit. Die auf der Grundlage des Gattungsbewußtseins mögliche Ausbildung eines gemeinsamen Gottesbewußtseins ist nämlich als bloß mögliche noch nicht die Wirklichkeit der steten Kräftigkeit und vollkommenen Reinheit desselben und folglich auch noch kein Sein Gottes in der Gattung226. Die Wirklichkeit der steten Kräftigkeit und vollkommenen Reinheit gemeinsamen Gottesbewußtseins bei gleichzeitiger Unkräftigkeit und Unreinheit des individuellen Gottesbewußtseins wird von Schleiermacher dann so gedacht, daß der Gehalt des gemeinsamen Gottesbewußtseins in seiner Vollkommenheit nicht vom defizitären individuellen Gottesbewußtsein her begründet wird, sondern vielmehr umgekehrt das individuelle Gottesbewußtsein seinen Gehalt vom gemeinsamen Gottesbewußtsein her empfangt und nur in seiner Aneignung desselben einstweilen noch unvollkommen ist227. In der hier beschriebenen Verfassung des Gottesbewußtseins ist nun zum einen klar erkennbar die zentrale Funktion grundgelegt, die den religiösen Versammlungen, dem Kultus, in einer religiösen Gemeinschaft für die Ausbildung des religiösen Bewußtseins zukommt, als auch in aller Deutlichkeit zur Sprache gebracht wird, daß das Motiv zur Teilnahme am Kultus gerade nicht ein in besonderer Weise seiner selbst gewisses Gottesbewußtsein ist. Ganz im Gegenteil ist es ja vorzüglich die Gewißheit, hierzu als Einzelner nicht in der Lage zu sein, die den Einzelnen in die Gemeinschaft drängt. Fromm sein heißt, in allen Belangen seiner Endlichkeit vermittels des Gefühls der schlechthinnigen Abhängigkeit innezusein. Das gilt auch für das fromme Motiv zum Besuch der religiösen Versammlungen. Die Wirklichkeit der steten Kräftigkeit und vollkommenen Reinheit gemeinsamen Gottesbewußtseins gibt es also nur in der gemeinschaftlichen, gleichwohl je individuell zu vollziehenden Aneignung einer allen in gleicher Weise vorgegebenen Wirklichkeit steter Kräftigkeit und vollkommener Reinheit intungsbewußtsein. - Vgl. auch Wilfried Brandt, Der Heilige Geist und die Kirche bei Schleiermacher, 298-302. 226 Vgl. GL2§121.3, II.253f. 227 Vgl. GL2 §123.3,11.263: Es gilt, daß wie „überhaupt jeder nur in der Gemeinschaft und durch sie zu dem neuen Leben gelangt, so hat auch jeder seinen Anteil an dem H.Geist nicht in seinem persönlichen Bewußtsein für sich betrachtet, sondern nur, sofern er sich seines Seins in diesem Ganzen bewußt ist, d.h. als Gemeinbewußtsein". GL2 §100.1, 11.90: „Da nun das Einzelleben eines jeden in dem Bewußtsein der Sünde und der Unvollkommenheit verläuft: so können wir uns in der Gemeinschaft des Erlösers nur finden, sofern wir uns unseres Einzellebens nicht bewußt sind, sondern wie er uns die Impulse gibt, wir das, wovon in ihm alles ausgeht, auch als die Quelle unserer Tätigkeit finden, gleichsam ale einen Gemeinbesitz". Vgl. auch: GL2 §101.2, 11.99; §124.2, II.267f; §125.1, II.270ff; CS, 319f[ 1826/27].

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dividuellen Gottesbewußtseins, das als individuelles Gottesbewußtsein einer Person immer zugleich auch Gattungsbewußtsein sein muß und insofern einer geistigen Mitteilung seines überindividuellen Gehaltes fähig ist228. Das Sein Gottes im Gesamtleben der Gläubigen - der Kirche - ist also das Sein Gottes im gemeinsamen Selbstbewußtsein - dem Gemeingeist - der moralischen Person Kirche229, insofern der Gemeingeist dieser Gemeinschaft der aneignende Glaube an Jesus Christus ist, der durch die stete Kräftigkeit und vollkommene Reinheit seines Gottesbewußtseins - dem Sein Gottes in ihm zum Erlöser geworden ist: „Der Heilige Geist ist die Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in der Form des das Gesamtleben der Gläubigen beseelenden Gemeingeistes"230. ,,Die von dem Heiligen Geist beseelte christliche Kirche ist in ihrer Reinheit und Vollständigkeit das vollkommene Abbild des Erlösers, und jeder einzelne Wiedergeborene ist ein ergänzender Bestandteil dieser Gemeinschaft"23'. Als was teilt sich aber das göttliche Wesen mit, wenn es sich der menschlichen Natur in Christo und dadurch vermittelt dem Gemeingeist der christlichen Kirche mitteilt? Berücksichtigt man, daß auch das vor- und außerchristliche Gottesbewußtsein Gott als allmächtigen und ewigen Schöpfer kennt - als das Woher der schlechthinnigen Abhängigkeit -, sich aber erst in Christus und der christlichen Kirche die Gotteserkenntnis vollendet, so muß sich das göttliche Wesen in Christus und der christlichen Kirche so mitteilen, daß es jene Bestimmungen zwar aufnimmt, sie aber zugleich konkretisiert. Dies ist auch tatsächlich der Fall, wenn Schleiermacher in das Zentrum der dogmatischen Gotteslehre den Satz stellt: „Gott ist die Liebe"232. Dieser Satz nimmt alle Bestimmungen des göttlichen Wesens bestätigend auf, die die Analyse des allgemein menschlichen Gottesbewußtseins präsentiert hat - und erweist sie zugleich als einen „Schatten des Glaubens, den auch die Teufel haben können"233. Denn die Mitte des göttlichen Wesens offenbart sich erst in dem Akt der Einigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen 228 Es ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich, die hochkomplexen subjektivitätstheoretischen Hintergründe von Schleiermachers Pneumatologie zu entfalten oder gar zu problematisieren (vgl. hierzu: U. Barth, Christentum und Selbstbewußtsein). Wir müssen uns damit begnügen, in unserer Rekonstruktion von Schleiermachers Gottesdiensttheorie deren höchst diffizilen Theorielasten überhaupt einmal in ihrem Zusammenhang offenzulegen. 229 Der Ausdruck moralische Person wird in bezug auf die Kirche verwendet etwa: GL2 §125.1, 11.270; CS, Beil.A, 85[§220.2]; PrTh, 10. Zum Ausdruck „moralische Person" vgl. auch: CS, Beil.A, 84[§217]. 230 GL 2 §123. 231 GL 2 §125. 232 GL 2 §167. 233 GL 2 §167.2, 11.450.

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Natur in Christo. In der Vollendung der Schöpfung des Menschen als des Subjektes des Gottesbewußtseins214, die sich in der steten Kräftigkeit und vollkommenen Reinheit des Gottesbewußtseins Christi vollzogen hat, offenbart sich Gott als der, der liebt: „Denn Liebe ist doch die Richtung, sich mit anderem vereinigen und in anderem sein zu wollen; ist daher der Angelpunkt der Weltregierung, die Erlösung und die Stiftung des Reiches Gottes, wobei es auf Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur ankommt, so kann die dabei zum Grunde liegende Gesinnung nur als Liebe vorgestellt werden"235. Alles Wissen um das göttliche Wesen ist solange abstrakt, als die Bestimmungen desselben, die sich aus der Analyse des allgemeinen Gottesbewußtseins ergeben haben, nicht gewußt werden als Bestimmungen im Dienste des göttlichen Willens zur Gemeinschaft mit seiner Schöpfung. Die christliche Aussage, daß Gott die Liebe ist, schreibt diesem keineswegs eine gewisse großväterliche Nachsicht mit den grausamen Verirrungen seiner Schöpfung zu. Daß Gott die Liebe ist, heißt in christlicher Perspektive, daß er sich nicht von seiner Schöpfung abwendet, sondern sich beharrlich in dieser als der Allmächtige, Ewige, Heilige und Gerechte präsentiert - und als solcher anerkannt werden will. Von der so verstandenen göttlichen Liebe her verliert dann auch die auf diese Bestimmung folgende Aussage „Die göttliche Weisheit ist der Grund, vermöge dessen die Welt als Schauplatz der Erlösung auch die schlechthinnige Offenbarung des höchsten Wesens ist, mithin gutii236 jeglichen Zynismus. Gott ist die Liebe und die Welt ist gut, weil und insofern er trotz und angesichts der alltäglichen menschlichen Greuel in der Welt diese nicht sich selbst überläßt, sondern im Lebenszeugnis Jesu und der kirchlichen Verkündigung von diesem Lebenszeugnis sich selbst als den Herrn dieser Welt erkennen läßt237. Damit läßt sich die zentrale dogmatische Aussage der Gotteslehre: „Gott ist die Liebe" als christliche Auslegung des ersten Gebotes lesen238 . Und zwar so, daß erst im Christentum Anspruch wie Zuspruch dieses Gebotes in voller Klarheit heraustreten239. Damit ist aber auch klar, was in dieser Einigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in derselben als Quelle aller menschlichen Tätigkeit geGL2 §93.3, 11.38. GL2 §165. l, II.445. GL 2 §169. Vgl. GL 2 § 104.4,11.127. CS, Beil. A, 88[Rb.]: „Die Aufgabe der ganzen Menschheit ist in dem ersten göttlichen Gebote enthalten, vom Christenthume anerkannt" - Vgl. vor diesem Hintergrund auch GL2 §166.2,11.448: „Da nun aber Gott auch diejenigen, welche sich noch, wie man es richtig verstanden von dem ganzen außerchristlichen Gebiete sagen kann, in dem Schwanken zwischen Abgötterei und Gottlosigkeit bewegen, nicht grade insofern lieben kann, als sie ihn nicht lieben: so kommen wir auch hier darauf zurück, daß er sie nur liebt, sofern er sie in Christo sieht, wie auch sie nicht eher, als wenn sie selbst in Christo sind, zur Erkenntnis der göttlichen Liebe kommen". 239 Vgl CS, Beil.A, 88f{Rb.].

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setzt ist: die stete Gewißheit, daß Gott Gott ist und der Mensch nur Geschöpf Gottes und daß alles menschliche Handeln als von dieser Gewißheit getragen derselben auch gemäß sein muß. Die Kraft, die im Menschen tätig ist, wenn es ein Sein Gottes in ihm gibt, ist somit zugleich die Kraft, in allen Lebensvollzügen sich für jene Handlungsmöglichkeiten zu entscheiden, die Gott die Ehre geben, indem sie ausdrücklich erkennen lassen, daß es die Handlungen eines Geschöpfes in einer geschöpflichen Handlungssituation sind, die sich einem transzendenten Ursprung verdankt. Die Mitteilung dieser Kraft überwindet nun genau deshalb die Sünde, weil Sünde nichts anderes ist als die mangelnde Unterscheidungsfähigkeit im Blick auf das, was als Handeln Ausdruck der geschöpflichen Verfassung dieser Handlungssituation ist und was nicht. Mit dem Ausdruck Sünde wird also jene Situation beschrieben, in welcher dem Geschöpf der Blick auf seinen Schöpfer verstellt ist und es nur sich selbst sieht und folglich im Handeln auch nur sich selbst ausdrücklich werden läßt240. Die stete Gewißheit des angesprochenen Unterschiedes und ein dem gemäßes Handeln ist zugleich die Erfüllung des göttlichen Willens. Denn genau dies will Gott von seiner Schöpfung: daß sie in all ihren Lebensvollzügen um sich selbst als Schöpfung weiß und auf ihn als ihren Schöpfer verweist241. Wenn aber in einem so beschaffenen Lebensvollzug schon die Erfüllung des göttlichen Willens liegt, so bedarf es zu dessen Erfüllung keines weiteren als jener steten Kräftigkeit der grundlegenden Gewißheit des Unterschiedes zwischen Schöpfer und Geschöpf. Wenn nun genau in dieser Befähigung zur steten Kräftigkeit des Unterscheidungsvermögens zwischen Schöpfer und Geschöpf das Wesen der Einigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur besteht und damit zugleich die vollkommene Frömmigkeit erreicht ist, so ist deutlich, daß es in der Frömmigkeit an keiner Stelle um irgendein empirisches Wissen im Blick auf die Welt gehen kann - vor allem nicht im Sinne irgendeiner empirischen Allwissenheit über die Ereignisse und Verhältnisse dieser Welt242. Auch alles empirische Wissen gehört ja noch in die Sphäre des Geschöpflichen, von dem die Frömmigkeit so Gebrauch macht, daß es zugleich als Hinweis auf den Schöpfer fungiert. Dementsprechend ist auch in der Frömmigkeit noch nicht eine bestimmte empirische Verfassung des menschlichen Zusammenlebens gefordert. Gefordert ist allerdings, daß, gleichgültig welche Verfassung sich ein Gemeinwesen gibt, in dieser Verfassung nicht der Charakter des Gemeinwesens als geschöpflicher Wirklichkeit negiert wird243.

240 Vgl. GL2 §104.3, 11.123. Wir nannten ein solches sündiges Handeln darum oben „verstellendes" Handeln, weil in ihm sowohl das Verstelltsein des Blickes des Geschöpfes auf den Schöpfer zum Ausdruck kommt, als auch den Betrachtern eines solches Handelns der Blick auf den Schöpfer verstellt wird. 241 Vgl. GL2§104. 242 Vgl. GL2 §93.3, .39 ; §93.2,11.35. 243 Vgl. CS, 471f[1824/25].

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Dies gilt notwendig auch für die Verfassung, die den religiösen Versammlungen, dem Kultus, gegeben wird. Wenn sich in der Selbstmitteilung des göttlichen Wesens an die menschliche Natur in Christo dieses Wesen als Liebe zu erkennen gibt im Sinne des Gemeinschaft-haben-wollens des Schöpfers mit seiner Schöpfung, so gehört es notwendig zu dieser Liebe, daß sie sich nicht in Christo abschließt, sondern von diesem aus weiter mitteilt. Mitteilen kann sie sich aber - wie erwähnt - nur an selbstbewußte Instanzen. Daraus folgt für das Sein des liebenden Gottes in Christo: „Dieses nun ist die göttliche Liebe in Christo, welche der menschlichen Natur einmal für immer oder in jedem Moment, gleichviel wie man es ausdrücke, die Richtung auf die Wahrnehmung der geistigen Zustände der Menschen gab"244. Der Ansatzpunkt der durch Christus offenbarten hebenden Tätigkeit des Schöpfers am Menschen ist deren geistiger Zustand, ihr Herz: ihre Selbstauslegung im „Schwanken zwischen Abgötterei und Gottlosigkeit". Wie teilt sich nun aber die in Christo personifizierte göttliche Liebe dem menschlichen Herzen mit? Das „bloße Anschauen" Christi reicht dazu nicht aus, denn dann müßte in den Anschauenden mehr als Empfänglichkeit vorausgesetzt werden245. Das Einssein des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in Christo muß also mit einer aus sich herausgehenden Tätigkeit verbunden gedacht werden246. Die damit angebahnte Thematik ist offenkundig die des Handlungsvollzuges, nicht mehr die des Handlungsmotivs. Darauf müssen wir später (Abschnitt 6.2.2.2) eingehen. Halten wir zunächst das Ergebnis der bisherigen Untersuchung zur Einigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in Christo fest: Die Einigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in Christo hat ihren Anknüpfungspunkt in Christi Selbstbewußtsein. Dieses entwickelte mit sich zugleich die stete Kräftigkeit und vollkommene Reinheit des Gottesbewußtseins. In dieser passiv konstituierten - Stichwort „lebendige Empfänglichkeit" - steten Kräftigkeit und vollkommenen Reinheit des Gottesbewußtsein offenbart sich das Wesen Gottes als die Liebe - Stichwort „Gemeinschafthaben-wollen" - des Schöpfers zu seiner Schöpfung. Zugleich bewirkt die stete Kräftigkeit und vollkommene Reinheit des Gottesbewußtseins Christi die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen opus Dei und opus hominis und dazu, das im Gottesbewußtsein erschlossene richtige Verhältnis zwischen beiden in allem menschlichen Tun ausdrücklich werden zu lassen.

244 GL2 §97.3,11.70. 245 GL2 §92.l, II.32. 246 Ebd.

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Bevor wir uns der Frage der sachgemäßen Ausdrucksgestalten des Gottesbewußtseins Christi und der Gläubigen zuwenden, müssen wir noch erörtern, welches Verhältnis zwischen dem Sein Gottes in Christo und dem im Gesamtleben der Gläubigen besteht. Ist das Sein Gottes in den Gläubigen identisch mit dem Sein Gottes in Christo oder bestehen Unterschiede? Sollte letzteres der Fall sein, so ist auch mit einer unterschiedlichen Ausdrucksgestalt des Seins Gottes in Christo und den Gläubigen zu rechnen - selbst dann, wenn als Motiv des Handelns in beiden Fällen nur die Wirksamkeit der hebenden Selbstmitteilung Gottes hi Frage kommt. Nun besteht der entscheidende Unterschied zwischen Christus und den Gläubigen darin, daß in jenem das Sein Gottes vom Anfang seines Lebens an die Entwicklung seiner Persönlichkeit bestimmte247, während das Sein Gottes in den Gläubigen durch Christus vermittelt worden ist an bereits unter außerchristlichen Einflüssen entwickelte Persönlichkeiten248. Während also die Selbstauslegung Christi sich durchgängig im Horizont der Gewißheit seiner Gottessohnschaft, d.h. des vom Schöpfer gehebten Geschöpfes249, vollzog250, muß sich die Selbstauslegung der Gläubigen im Horizont der durch Christus vermittelten Gewißheit ihrer Gotteskindschaft25' durchsetzen gegen ihre vorchristlichen Selbstauslegungen im Horizont der Gewißheiten ihrer ideologisierten sinnlichen Welterfahrung252. Dabei geschieht diese Durchsetzung nicht als eine Widerlegung der sinnlichen Gewißheiten als solcher, sondern aufgehoben wird deren Prätention, unabhängig vom christlich bestimmten Gottesbewußtsein hinreichend zu sein zur Selbstauslegung des Geschöpfes. Weil nun der Prozeß der geschichtlichen Durchsetzung der geistlichen Selbstauslegung gegenüber der sinnlichen in den Gläubigen nicht gleichmäßig voranschreitet, deshalb werden in ihnen neben den geistlichen Motiven immer auch noch sinnliche wirksam sein253. Diesem Sachverhalt trägt Schleiermacher dadurch Rechnung, daß er die im zweiten Teil der Glaubenslehre zu beschreibenden Tatsachen des christhch-frommen Selbstbewußtseins unterteilt in das Bewußtsein der Sünde und das der Gnade. Die daraus von Schleiermacher gezogene Folgerung für die Beurteilung der Lauterkeit der Handlungsmotivation der einzelnen Gläubigen im Gegenüber zu derjenigen Christi läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Betrachten wir den Erlöser in der Reife seines menschlichen Lebens: so war die Gesamtheit seiner Kräfte ein zureichender Organismus für die Impulse, 247 Vgl. GL2§93;§104;§106.1,II.148;§123.3, II.263f; u.ö. 248 Vgl. GL2 §106.1, II.147f.;§107.1, II.150f.;§123.3, II.262ff. - Dies gilt auch stets noch für die religiöse Sozialisation in einem christlich dominierten Umfeld. 249 Der Ausdruck „Sohn" bezeichnet im NT nicht die Gottheit in dem Erlöser, sondern die mit der Gottheit vereinigte Menschheit (vgl. SW 1.2, 496.520.53 If.538). 250 D.h., ohne jeglichen Zweifel und Kampf: GL2 §93.4, II.40f.;§98.1, II.77ff. 251 Vgl. GL 2 §109;§124;§149.1,II,387. 252 Vgl. GL2 §100.2, II.93;§101.2,11.99. 253 Vgl. GL2 §148.1,11.385.

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welche von dem in ihm gesetzten Sein Gottes ausgingen. Der einzelne Wiedergeborene kann in dieser Hinsicht auch nicht einmal als ein Abbild desselben angesehen werden, weil der Zustand differentiierter Sündhaftigkeit, worin die göttliche Gnade ihn fand, eine Gleichheit in dem Verhalten seiner psychischen Vermögen zu den Impulsen des Geistes nicht zuläßt"254. In dem einzelnen Gläubigen gibt es schlichtweg keine „Gleichheit in dem Verhalten seiner psychischen Vermögen zu den Impulsen des Geistes". Den Impulsen des Geistes stehen im einzelnen Gläubigen immer auch noch die Impulse „differentiierter Sündhaftigkeit" entgegen2": „Es gehört wesentlich zum Christen, sich auch dessen bewußt zu sein, daß das christliche Bewußtsein in ihm noch nicht der schlechthin herrschende Impuls ist"256. Der damit angezeigte Unterschied in der Präsenz des Seins Gottes in Christo und in den Gläubigen - auf der einen Seite die personbildende und also kampflos, zweifellos dominierende Präsenz, auf der anderen Seite die personumbildende und also in der erst beginnenden Dominanz immer noch angefochtene Präsenz des Seins Gottes in dem einzelnen Gläubigen - zieht notwendig eine ganz unterschiedliche Ausrichtung aller Lebensvollzüge nach sich. Die charakteristische Ausrichtung aller Lebensvollzüge Christi war die auf das Sich-selbst-Darstellen als einen im Horizont der steten Kräftigkeit und vollkommenen Reinheit des Gottesbewußtseins Sich-Auslegenden und entsprechend Handelnden. Die stete Kräftigkeit und vollkommene Reinheit des Gottesbewußtseins Christi führte dazu, daß es eine Erfahrung von Sünde für ihn nur gab als Sympathie mit dem Mangel an Seligkeit in anderen257. Diese Erfahrung mußte er notwendig machen, weil die stete Kräftigkeit des Gottesbewußtseins, die Realisationsweise der göttlichen Liebe als das Gemeinschafthaben-wollen des Schöpfers mit seiner Schöpfung, in ihm die wache Aufmerksamkeit auf die Selbstauslegung der Menschen und ihrer daraus folgenden Art 254 GL2 §125. l, 11.270. GL2 §88.3,11.21, ist die Rede davon, daß keinem Einzelnen in dem von Christo gestifteten Gesamtleben eine unsündliche Vollkommenheit zuzuerkennen sei, „und wir keiner Versammlung von Einzelnen, wie gut sie auch ausgewählt sein möchten, um einander zu ergänzen, auch nur das Recht zugestehen, Lehrsätze, also Regeln des Glaubens oder des Lebens, mit irgendeinem Anspruch auf Untrüglichkeit oder beharrliche Gültigkeit aufzustellen(...)Denn betrachtet man die Masse im ganzen, so zeigt sie einen so reichen und zu gewissen Zeiten sich noch besonders verstärkenden und gewaltig hervorbrechenden Anteil an der allgemeinen Sündlichkeit, daß man zweifeln muß, ob deren hier weniger sei als anderwärts, und ob es also nicht besser gewesen sein würde für die Gestaltung der menschlichen Dinge, daß das Christentum nicht ein so weit verbreitetes geschichtliches Motiv geworden wäre". 255 Vgl. auch: GL2 §149.1, H.387f. 256 CS, 34. Vgl. ebda: „Die christliche Kirche ist der Ort, wo das christlich religiöse Bewußtsein dominirender Impuls immer erst wird, und in sofern noch nicht ist, wo also immer noch etwas übrig bleibt von unvollkommener oder gänzlich mangelnder Gemeinschaft mit Gott durch Christum". 257 Vgl. CS, 39.299; GL2 §100.1, II.91;§104.1,11.120; §104.2,11.121.

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der Naturbeherrschung erzeugte. Dieser wachen Aufmerksamkeit präsentierte sich die Selbstauslegung der Menschen als sündig und dementsprechend die Naturbeherrschung als gottlos. Gleichzeitig kennzeichnete die Zeit Jesu aber auch die lebendige Empfänglichkeit für einen diese Situation der Sünde umwandelnden Impuls258. Nun ist Schleiennacher der Auffassung, daß dieser umwandelnde Impuls, insofern er als ein die Herzen, die zentrale Instanz der menschlichen Selbstauslegung, umwandelndes Geschehen gedacht werden muß, ein geistiger Impuls sein muß259. Und für Schleiermacher ist keine andere geistige Einwirkung denkbar „als die Selbstdarstellung in Wort und Werk"260. Die Wirksamkeit Christi ist daher „von ihrem Ursprung an unter dieser geschichtlichen Naturform zu denken"26 '. Damit ist aber zu dieser Wirksamkeit Christi nichts anderes erforderlich als das, was er sowieso infolge der steten Kräftigkeit des Gottesbewußtseins in ihm immer schon tat: sich selbst Darstellen als einen im Horizont der steten Kräftigkeit und vollkommenen Reinheit des Gottesbewußtseins SichAuslegenden und entsprechend Handelnden. Nur vor dem Hintergrund dieser sein ganzes Leben durchziehenden Gottinnigkeit - der impliziten Selbstpräsentation als Gottes Sohn - konnte überhaupt seine Lehre - seine explizite Selbstauslegung als Gottes Sohn - als authentisch aufgenommen werden262: „Christus, der absolute Anfang der christlichen Kirche, hat diese nur durch darstellendes Handeln zu stiften angefangen. Er stellte sich dem Johannes dar, so daß dieser in ihm den geweissagten Messias erkannte. Daß ein Orakel dabei erfüllt wurde, war nicht das die Gemeinschaft zwischen beiden stiftende, Christi Selbstdarstellung war es. Eben so hat er seine ersten Jünger zuerst angezogen nicht durch das Zeugnis des Johannes, sondern durch den Eindrukk, den er, ursprünglich ohne irgend ein wirksames Handeln von seiner Seite, auf sie machte. Und das ist überall und immer die erste Grundlage dieser Gemeinschaft, Jesum erkennen als den Sohn Gottes, was ursprünglich nie etwas anderes ist, als ein Rückwärtsschließen vom äußeren auf sein inneres, also nicht hervorgebracht durch ein wirksames, sondern durch sein darstellendes Handeln, an welchem sich erst sein wirksames entwikkelte"263.

258 Vgl. CS, 298[1826/27].302ff.315f[1826/27].369f.372.511Sll824/25]; GL2 §13.1, 1.89; §108.6,11.168ff. 259 Vgl. GL2 §105.1, II.137f.;§105.3,11.143. 260 GL2 §101.4, 11.104. Vgl. GL2 §105.1, 11.138: Christi „ursprüngliches Wirken war rein geistig, und nur ebenso durch seine leibliche Erscheinung vermittelt, wie auch jetzt noch seine geistige Gegenwart vermittelt ist durch das geschriebene Wort und das darin niedergelegte Bild seines Wesens und Wirkens, deshalb aber auch sein leitender Einfluß auch jetzt nicht etwa ein nur mittelbarer und abgeleiteter ist". Vgl. auch: GL2 §103.4,11.115f. 261 Ebd. Vgl. GL2 §100.2, II.91f. 262 Vgl. GL 2 § 103.2,11.113. 263 CS, 51Of[1824/25]. Vgl. CS, 415[1826/27]; GL2 §103.4, II.115f.;§128.2,11.286.

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Christi Handlungsmotivation war somit wesentlich das Streben nach der Selbstdarstellung seiner ursprünglichen Gottessohnschaft. Wie sich dieses Streben realisierte, müssen wir später sehen (Abschnitt 6.2.2.2). Wie verhält sich aber zu dieser grundlegenden Handlungsmotivation Christi die des immer noch angefochtenen Gläubigen? Dieser Thematik hat Schleiermacher in seinen Vorlesungen zur Christlichen Sittenlehre breite Ausruhrungen gewidmet, und auch die Glaubenslehre bietet - wie wir gesehen haben - hierzu reichhaltiges Material. Wie wir bereits wissen, ist es für Schleiermacher die Frömmigkeit, welche allen Lebensvollzügen einer Person ihre besondere Ausrichtung gibt. Fromm sein heißt, einen Gott haben264. Und einen Gott haben heißt, alle Erfahrungen als von einer bestimmten Größe her gedeutet zu erfahren, welche Größe eben dadurch zum Gott der Person wird. Diese orientierende Instanz kann die Person sich nicht selbst geben, sondern sie ist diesbezüglich auf externe Angebote angewiesen. Was der Person zum Gott wird, hängt davon ab, was ihr von ihrer Umwelt als Gott angetragen, vorgelebt wird. Dem christlich-frommen Selbstbewußtsein wird sein Gott angetragen, vorgelebt in der Tradition der Selbstdarstellung Christi als Gottes Sohn, wodurch ihm vermittelst des Heiligen Geistes Gott als der seine Schöpfung liebende Schöpfer offenbar wird. Insofern alle Erfahrungen der Person von dieser Offenbarung Gottes als des seine Schöpfung liebenden Schöpfers ihre zureichende Deutung erfahren, ist die Person selig265. Da die Offenbarung ihre volle Wirksamkeit in der Selbstauslegung der Person aber nur in einem Prozeß der geschichtlichen Durchdringung aller Lebensbereiche und Erfahrungen der Person entfalten kann, ist sie zwar potentiell266 das alle Lebensvollzüge der Person bestimmende Deutungsangebot, aber doch nur so, daß diese Lebensvollzüge aktuell immer erst noch von ihm durchdrungen werden sollen. Die Gewähr dafür, daß die aktuelle Lebensdeutung auch tatsächlich der potentiellen Lebensdeutung - im Horizont der Offenbarung des seine Schöpfung liebenden Schöpfers - gemäß ist, kann nur so gegeben werden, daß sie ihren Maßstab und ihre Wahrheit hat im Offenbarungsgeschehen selbst: „Der Christ ist sich dominirend bewußt, daß das Aufgenommen sein des göttüchen Princips in seine Natur nur ein relatives ist, welches nur Wahrheit bekommen kann durch die symbolische und historische Beziehung auf eine absolute Einheit beider, welche in Christo ist"267. Abgesehen und unabhängig vom Blick auf die Selbstdarstellung Christi als einen, in dem die potentielle Selbstdeutung - das Sich-als-immer-schon-Gedeu264 Vgl. CS, Beil.A, 14[§43], CS, 31f.35. 265 CS, Beil.A, 15[§45]; CS, 36, u.ö. 266 Die Unterscheidung zwischen einer zeitlichen Bestimmtheit des Daseins und einer der Potenz nach findet sich etwa: CS, Beil.A, 18[§53]. 267 CS, Beil.A, 15[§44].

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tet-erfahren im Horizont der Gewißheit von der Liebe des Schöpfers zu seiner Schöpfung - mit der aktuellen Selbstdeutung eine absolute Einheit bildete, ist auch dem Christen immer noch höchst zweifelhaft, ob und inwiefern all seine Erfahrungen wirklich ihre letztgültige Ausdeutung im Rekurs auf den Schöpfergott erfahren werden. Dieser Zweifel kann aber überwunden werden im Blick auf die Selbstdarstellung Christi, und zwar genau dann, wenn Christi Selbstdarstellung sich vermittelst des Heiligen Geistes erschließt als absolute Einheit von aktueller und potentieller Selbstauslegung, welche absolute Einheit sein ganzes Leben umfaßte bis in sein Sterben hinein und durch die Auferstehungserfahrung als diese absolute Einheit bestätigt wurde. In dieser gläubigen Bezugnahme auf das Lebenszeugnis Jesu ist aber dem Christen auch die alle seine Erfahrungen orientierende Instanz Gott als der seine Schöpfung liebende Schöpfer zuverlässig gewiß, und diese Gewißheit äußert sich als eine alle Lebenserfahrungen begleitende „Heiterkeit" des Christen266. Aus dieser Beschreibung ergibt sich notwendig, daß die Ausrichtung aller Lebensvollzüge der Christen sich von derjenigen Christi deutlich unterscheiden muß. Die grundlegende Ausrichtung aller Lebensvollzüge der Christen kann nämlich nicht in der Selbstdarstellung einer sich selbst im Horizont der steten Kräftigkeit und vollkommenen Reinheit ihres eigenen Gottesbewußtseins auslegenden Persönlichkeit bestehen. Eine solche Selbstdarstellung konnte nur Christus sittlich - wahrhaft - wollen. Die grundlegende Ausrichtung aller Lebensvollzüge der Christen besteht dagegen in der Selbstdarstellung einer sich selbst im Horizont der Gewißheit von der steten Kräftigkeit und vollkommenen Reinheit des Gottesbewußtseins Christi auslegenden Persönlichkeit. Das Motiv christlichen Handelns ist nicht die unmittelbare Gemeinschaft mit Gott in ihrem Selbstbewußtsein, sondern diejenige Gemeinschaft mit Gott, die durch die Gemeinschaft mit Christo, dem Erlöser, bedingt ist269. Alle Selbstdarstellung der Christen wird sofort unwahr, wenn sie diese Differenz zwischen ihnen und Christus nicht ausdrücklich werden läßt270. Die zur Darstellung gelangende christliche Handlungsmotivation, die christliche Tugend, ist eine solche, die sich selbst als ein Gut, als das Resultat eines sittlichen Handelns, weiß. Sie weiß sich selbst nämlich als Resultat von sittlichem Handeln der Selbstdarstellung Christi und der Verkündigung der Kirche271, beide in ihrer Erschlossenheit durch den Heiligen Geist - und zwar als ein solches, das auf das immer wieder neue sittliche Hervorbringen dieses sittlichen Resultates aus ist, womit die christliche Tugend die beiden wesentlichen Aspekte eines

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CS, 612; vgl. CS, 41f; CS, Beil.A, 16[§47]. CS, 32f. u.ö. Vgl. GL 2 § 104.3, II. 123f. Vgl. CS, 35f.79.

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Gutes - sich einem sittlichen Handeln zu verdanken272 und eben dieses sittliche Handeln immer wieder neu zu befördern - abdeckt273. Dieser Strebecharakter, dieses Nicht-in-sich-beruhen-Können der christlichen Tugend, kommt dann zu seiner vollen dogmatischen Ausdeutung, wenn Schleiermacher ausführt, „daß die beiden Begriffe, Seeligkeit und Impuls, nur so zu vereinigen sind, daß wir uns die Seeligkeit des Christen nicht als seiend denken, sondern als werdend"274. Die Seligkeit als höchstes Gut des Christen ist zugleich dessen alle Lebensvollzüge fundierende und aus sich heraussetzende Tugend. Und insofern die Seligkeit das Sein Gottes im Menschen bezeichnet, kann man von diesem sagen, Gottes Sein im Menschen ist Werden. Die Umwandlung des bloß potentiellen - aber als solchen gewissen Durchdrungenseins aller Lebensvollzüge der Person von der in Christo erfahrenen Liebe des Schöpfers zu seiner Schöpfung in ein aktuelles ist kein geradliniger Prozeß, sondern eine „fortschreitende Einigung im Schwanken; also spaltet sich die Seeligkeit in Lust und Unlust"275. Der Christ ist sich - bis zum ihm gewissen Beweis des Gegenteils - gewiß, daß alle seine im Horizont des Lebenszeugnisses Christi gemachten Erfahrungen die jeseinige Handlungssituation - inklusive seiner selbst - als gute Schöpfung des liebenden Schöpfers offenbaren werden276. Der damit gesetzte Trieb, in dieser Handlungssituation eben dieser Gewißheit auch zu ausdrücklicher Gestalt zu verhelfen, realisiert sich zum einen im Blick auf alle personalen Koaktanten - auch im Blick auf die Person als Koaktant ihrer selbst im Gewissen (con-scientia) - als „Gesinnungsbildung" und im Blick auf alle nichtpersonalen Elemente der Handlungssituation - auch im Blick auf die Einflußnahme der Person auf sich selbst als leibhaftes Wesen - als „Naturbeherrschung" gemäß der Einsicht in die geschöpfliche Verfassung der Handlungssituation277. In beiderlei Hinsicht 272 Seligkeit als „Gabe" Christi: GL2 §101.2,11.99. 273 Die traditionellen ethischen Schulen verwendeten nach Schleiermacher den Begriff des Gutes so, daß sie „insgesammt dadurch das durch die sittliche Thätigkeit hervorgebrachte, in so fern es dieselbe auch in sich schloß und fort entwickelte, bezeichnen wollten" (SW III.2, 457; vgl. auch: CS, 445f). 274 CS, 38; vgl. CS, 39. 275 CS, Beil.A, 16[§48], vgl. CS, 39f. 276 Zu dem weder zynischen noch naiven Sinn dieser Aussage vgl. oben. 277 CS, 442-449. In diesem christlichen Streben vollendet sich, „daß dem Menschen, wo er auf einer höheren Bildungsstufe steht, kein Theil der Natur mehr absolut gleichgültig ist" (CS, 448). Vgl. auch CS, 441[1831]: „Daß die Vernunft immer mehr Organ werde für den göttlichen Geist, ist die Aufgabe für den Prozeß der Verbreitung der christlichen Gesinnung; daß aber die gesammte Natur immer mehr Organ werde für die vom göttlichen Geiste ergriffene Vernunft, ist die Aufgabe für den Talent- und Naturbildungsprozeß. Die Vernunft ist um so vollkommener ausgebildet, je mehr sie über die gesammte Natur schon herrschend geworden ist, und je vollkommener sie ausgebildet ist, ein desto vollkommeneres Organ des göttlichen Geistes kann sie sein. Das Christenthum muß also fordern, daß der Gesinnungsbildung die Bildung des gesammten psychischen und physischen Organismus zur Seite gehe. Aber in Beziehung auf den lezteren kann es nichts fordern und anordnen, als was die Vernunft fordern und anord-

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kann der Trieb entweder als ungehemmt erfahren werden, die Erfahrung von „Lust", oder aber auf Hemmungen stoßen, die Erfahrung von „Unlust"278. Mit den Charakteren (relativer, zwischen potentieller und vollkommen aktualisierter Selbstauslegung im Horizont des Offenbarungszeugnisses schwankender) Seligkeit, Lust und Unlust sind alle möglichen Bestimmtheiten des christlichfrommen Selbstbewußtseins in seiner zeitlichen Wirklichkeit gegeben. Denn zwischen derjenigen Begegnung des Sünders mit dem Lebenszeugnis Christi, in welcher ihm dieses Zeugnis durch den Heiligen Geist als die Offenbarung des liebenden Schöpfers gewiß geworden ist, womit für den einzelnen Gläubigen eine bewußte Gemeinschaft mit diesem hebenden Schöpfer gestiftet worden ist - die Wiedergeburt in das beginnende selige Leben -, und der vollkommenen Aktualisierung dieser Gemeinschaft in allen Lebensvollzügen - die Seligkeit des ewigen Lebens -, lassen sich gar keine Empfindungen des christlichfrommen Selbstbewußtseins denken als jene drei. Warum gibt es den Glauben des Christen nur als Seligkeit, Lust und Unlust, und welches Verhältnis besteht zwischen diesen Empfindungen und den in ihnen motivierten Handlungsvollzügen? Der christliche Glaube wird konstituiert in der Selbsterschließung des Christuszeugnisses als unüberbietbar konkreter Offenbarung des wahren Wesens Gottes als des seine Schöpfung hebenden Schöpfers. In der Gewißheit von der Wahrheit dieses Christuszeugnisses ist dem Gläubigen unmittelbar auch er selbst als Gegenstand der Liebe des Schöpfers zu seiner Schöpfung gewiß. Diese Gewißheit ist nun genau deshalb eine selige Gewißheit, weil in ihr dem Gläubigen sein Gottesverhältnis erschlossen ist als eines, das nicht von ihm selbst konstituiert wird und also auch nicht durch seine eigenen Leistungen - deren Unzulänglichkeit in dieser Hinsicht er nur zu genau kennt - aufrechterhalten werden muß, sondern im Christuszeugnis wird der Gläubige seines Gottesverhältnisses deshalb als eines stetigen inne, weil es von der Liebe des Schöpfers zu seiner Schöpfung immer schon konstituiert ist: „So ist der Glaube seligmachend, und zwar so, daß diese Seligkeit durch nichts anderes Hinzukommendes vermehrt werden kann, d.h. allein seligmachend. Denn durch das, wodurch die Seligkeit vermehrt werden kann, müßte sie auch entstehen können"279. Weil nun der christliche Glaube dessen gewiß ist, daß die Seligkeit - die Gemeinschaft mit Gott als die stete Verbindung mit dem hebenden Schöpfer nen müßte[!], so daß sie also hier nur zu bejahen hätte, wenn[!] eine vollkommene und unbestrittene rationelle Sittenlehre gegeben wäre". 278 Vgl. CS, Beil.A, 16[§48].18fT§§54f]; CS, 39-45. 279 GL2 §109.4, Il.lSlf. - Schleiermacher formuliert hier en passant die entscheidende Regel für alle seelsorgerliche Tätigkeit. Vgl. auch PrTh, 43: „Sobald wir annehmen, der Glaube soll durch die Predigt kommen: so kann er durch dasselbige wodurch er gekommen ist auch gestärkt werden". PrTh, 102: „Es kann das Gottesbewußtsein nicht anders belebt werden als durch das wodurch es ursprünglich entstehen müßte".

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nur im glaubenden Bezug auf Christus begründet werden kann280, deshalb werden ihm alle Momente, in denen dieser gläubige Bezug auf Christus gestört wird, zu Momenten der Unlust. Dabei ist klar: Es ist nur der Glaube, der die Irritation des gläubigen Bezuges auf Christus als Unlust empfindet, weil nur er Christus als den Erlöser weiß. Der Glaube aber muß diese Situation notwendig als Unlust empfinden. Damit ist zum Ausdruck gebracht, daß nicht irgendein Zurücktreten des Bezogenseins auf Christus bereits als Unlust empfunden wird. Das Zurücktreten Christi im Weltbewußtsein ist als solches noch kein Anlaß zur Unlust281. Unlust wird vielmehr erst - und dann notwendig - empfunden, wenn sich der gläubigen Bezugnahme auf Christus - auf der Ebene der Beziehung des Weltbewußtseins auf das Gottesbewußtsein also - etwas in den Weg stellt262. Genau dieses ist es, was der Glaube unerträglich findet, weil damit die Seligkeit selbst in Gefahr gerät: „Das Gefühl endet also in die Tendenz, diese Resistenz aufzuheben, im Triebe Eifer, Unwille, im Handeln selbst Streit"293. Die Empfindung der Unlust geht somit in ein Handeln aus, welches auf dem Gebiet des Glaubens gegen alle diejenigen Instanzen streitet, welche die gläubige Bezugnahme auf Christus als Grund aller Seligkeit ersetzen oder diesem zur Seite treten wollen. Schleiermacher nennt dieses Handeln wiederherstellend bzw. reinigend284. Wiederherstellend, weil in diesem Handeln „das soll wiederhergestellt werden, was mit dem Anfange des christlich sittlichen Lebens im allgemeinen gesezt ist, dieses daß der Geist das Fleisch als seinen Organismus beherrscht, wenngleich die Renitenz des Fleisches im einzelnen noch niemals überwunden war"285. Reinigend, weil in diesem Handeln der Glaube seinen Bezug auf Christus von allen störenden Elementen befreit. Wiederhergestellt und bereinigt wird das christliche Gottesverhältnis als eines in Christus seligen. Nun kann gemäß der von Schleiermacher angegebenen Regel - „durch das, wodurch die Seligkeit vermehrt werden kann, müßte sie auch entstehen können" - die Wiederherstellung des „aufgehobenen Normalzustands"286 der Seligkeit nur durch dasjenige erfolgen, wodurch die Seligkeit entsteht. Die Seligkeit entsteht in der gläubigen Bezugnahme auf Christus, dessen Selbstdarstellung und deren Verkündigung durch die Kirche. Folglich kann auch das reini280 CS, 32.35.38.40.112f.473f[1824/25];GL2 §11; u.ö. 281 Ein Arzt hat bei einer Operation dieser seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken, und er handelt pflichtvergessen, wenn er sich von religiösen Gedanken dabei ablenken läßt. 282 Wenn der eben erwähnte Arzt etwa sein Gottesverhältnis abhängig macht vom Gelingen oder Mißlingen seiner beruflichen Tätigkeit und über seiner Arbeit die gläubige Bezugnahme auf Christus als Grund seines bewußten Gottesverhältnisses vergißt. 283 CS, Beil.A, 19[§54]. 284 Nicht von ungefähr ist das Handeln der Reformatoren von Schleiermacher immer wieder zum Paradebeispiel des reinigenden bzw. wiederherstellenden Handelns erklärt worden. 285 CS, 45; vgl. CS, 292[1824/25]. 286 CS, 44.

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gende Handeln nur dann seiner Motivation treu bleiben, wenn es sich darauf beschränkt, Christi Selbstdarstellung in Erinnerung zu rufen287. Ganz konsequent verabschiedet daher Schleiermacher alle äußerlichen Bußübungen als ungeeignet und irreführend. Das reinigende/wiederherstellende Handeln auf dem christlich-religiösen Gebiet ist für Schleiermacher nichts anderes als die jemeinen Glauben darstellende Verkündigung Christi als des Erlösers im Streit mit konkurrierenden Instanzen und im Vertrauen auf die Überzeugungskraft der christlichen Verkündigung. Es ist also ein christlich-darstellendes Handeln, das ausgelöst wird durch eine äußere Veranlassung: nämlich die Darstellung einer konkurrierenden nichtchristlichen religiös-weltanschaulichen Gewißheit. Weil es das Ziel der reinigenden Darstellung ist, vermittelst der ihr eigenen Überzeugungskraft das „normale" Verhältnis zwischen Geist und Fleisch, Gottesbewußtsein und Weltbewußtsein, opus Dei und opus hominum wiederherzustellen, deshalb rechnet Schleiermacher es zum wirksamen Handeln. Daß aber gleichwohl auch das Wesen dieses wirksamen Handelns notwendig Darstellung sein muß, geht klar hervor aus Schleiermachers Auffassung, daß die „geschichtliche Naturform" aller geistigen Wirksamkeit „die Selbstdarstellung in Wort und Werk" sei288. Das Urbild des reinigenden/wiederherstellenden Handelns als wirksamer Selbstdarstellung der Seligkeit ist der Aufruf Christi zur Buße: Dieser Aufruf Christi zur Buße ist nämlich unablöslich verknüpft mit der Selbstdarstellung Christi im Horizont seiner Verkündigung des Reiches Gottes als in ihm beginnend289. Nun macht das christlich-fromme Selbstbewußtsein aber nicht nur die Erfahrung der Konkurrenz des Geistes mit dem Fleisch, des Gottesbewußtseins mit dem Weltbewußtsein, sondern ebenso die Erfahrung der Empfänglichkeit des Fleisches für den Geist, des Weltbewußtseins für die Dominanz des Gottesbewußtseins. Die damit gesetzte Möglichkeit, das durch Christum vermittelte Gottesverhältnis und die damit erlangte Seligkeit immer mehr zu konkretisieren, wird vom Christen als Lust erfahren: „Das Gefühl geht also in ein Handeln aus, dessen Tendenz ist, diese mögliche Verbindung [zwischen dem göttlichen Geist und der Natur; R.S.] in eine wirkliche zu verwandeln, im Triebe Sehnsucht Verlangen, im wirklichen Handeln Vereinigung des vorher getrennten"290. Das Sein Gottes im Menschen ist das Streben, alle Aspekte der menschlichen Handlungssituation - in ihrer aktuellen Gegenwart sowohl als auch in ihrer erinnerten Vergangenheit oder ihrer erwarteten Zukunft291 - in ihrer ihm je gegenwärtigen Erschlossenheit als vom Schöpfer geliebter Schöpfung zu vergegenwärtigen und ihre demgemäße Ausgestaltung zu betreiben. Dieser 287 288 289 290 291

Vgl. PrTh, 636f. GL 2 § 101.4,11.104. Vgl. CS, 292[1824/25]. CS, Beil.A, 19[§55]. CS, Beil.A, 19[§55].

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Verbreitungswille des göttlichen Geistes richtet sich zunächst auf die allgemein menschliche Vernunft und ist somit die Richtung auf die Gesinnungsbildung. Sie ist dabei das produktive Gegenüber zu der entsprechenden negativen reinigenden Einflußnahme auf die Gesinnung. Auch diese positiv verbreitende Einflußnahme kann auf der geistigen Ebene nur vermittels der „geschichtlichen Naturform" von „Selbstdarstellung in Wort und Werk" wirksam sein. Und da das zu verbreitende die selige Gottesgemeinschaft ist, muß sie der in dieser Hinsicht von Schleiermacher formulierten Regel entsprechen, sodaß das von der Lust ausgehende verbreitende Streben seine sachgemäße Realisation nur in der Verkündigung der Selbstdarstellung Christi in Wort und Werk finden kann. Indem nun in dieser Darstellung eine Veränderung - nämlich als Verbreitung der christlichen Gesinnung - angestrebt wird, geht das Streben der Lust ebenfalls auf ein wirksames Handeln. Aber wie im Falle des reinigenden/wiederherstellenden wirksamen Handelns ist auch dieses verbreitende wirksame Handeln von seiner Motivation her - nämlich dem Willen, qua Überzeugung gesinnungsbüdend zu wirken - nur insofern gedeckt, als es seinem Wesen nach Darstellung ist. Es gilt somit für das reinigende wie das verbreitende wirksame Handeln der Christen analog dasselbe, was von der sich in demselben fortsetzenden Erlösungstätigkeit Christi bereits gesagt wurde: Es liegt auch dem christlichen Leben in Buße und Erziehung keine andere Motivation zugrunde als diejenige, die alle christlichen Lebensvollzüge sowieso immer schon bestimmt: sich selbst darzustellen als im Horizont der steten Kräftigkeit und vollkommenen Reinheit des Gottesbewußtseins Christi Sich-Auslegende und entsprechend Handelnde. Und der Charakter der Wirksamkeit ist diesem darstellenden Handeln nur insofern wesentlich, als es sich in Konkurrenz mit der Darstellung anders bestimmten Gottesbewußtseins bzw. einer Situation der Empfänglichkeit einstweilen bloß vage bestimmten Gottesbewußtseins für seine christliche Bestimmung durch ihm dargebotene Darstellungen bereits christlich bestimmten Gottesbewußtsein vollzieht. Der Anstoß zu dem Wollen der reinigenden bzw. verbreitenden Wirksamkeit der Selbstdarstellung der christlichen Gesinnung ist also ein äußerer292. Wenn dieser äußere Anstoß fehlt, fehlt zugleich zwar auch das Wollen der reinigenden bzw. verbreitenden Wirksamkeit der Selbstdarstellung der christlichen Gesinnung, was aber immer noch da ist, ist der durch das Sein Gottes im Menschen liegende innere Anstoß zum Wollen der Selbstdarstellung der christlichen Gesinnung. Es ist dem Lebenszeugnis Christi und der Verkündigung der Kirche zwar wesentlich, unter den gegebenen äußeren Umständen erlösend und versöhnend zu wirken, beide gehen aber darin nicht auf. Ihre 292 „An der Verbreitung nach dem Geseze der Continuität muß jeder teilnehmen. Sie knüpft sich von selbst an das darstellende Handeln an. Nur muß jeder in sein Bewußtsein aufnehmen, daß solche um ihn sind, in denen an seiner Darstellung die christliche Gesinnung erwekkt werden soll, und das soll ihm ein neues Motiv werden, nach immer höherer Reinheit zu streben" (CS, 382[1824/25]).

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erlösende und versöhnende Wirksamkeit hängt vielmehr ihrerseits wesentlich davon ab, daß sich in ihnen die Liebe des Schöpfers zu seiner Schöpfung darstellt. Nur unter der Voraussetzung der Überzeugung, daß in der Selbstdarstellung Christi und der Verkündigung der Kirche die unüberbietbar konkrete Offenbarung des Wesens Gottes - als der alle menschlichen Lebensvollzüge orientierenden Letztinstanz - präsent ist, kann überhaupt das Wollen der Einflußnahme auf die nichtchristliche oder nur vage religiös bestimmte Gesinnung anderer - oder seiner selbst - ein sittliches Wollen sein. Denn nur unter der Voraussetzung dieser Überzeugung geht die gewollte Wirksamkeit aus von der geglaubten besseren Herzenseinsicht. Fehlt dagegen in der Begegnung mit der Selbstdarstellung nichtchristlicher oder nur vage religiös bestimmter Gesinnung die Überzeugung von der diesen gegenüber höheren Kraft der christlichen Gesinnung und besteht zugleich noch Unsicherheit im Blick auf die eigenen Fähigkeiten, gesinnungsbildend wirksam zu sein, so ist jedes Wollen einer Einflußnahme auf jene Begegnungsgestalten anders bestimmter Gesinnung unsittlich, weil ungewiß ist, ob dieselben durch die Wirksamkeit jemeiner christlichen Gesinnung überhaupt eine Förderung erfahren können293 : „Offenbar nun wäre nichts gewonnen, weder für das kirchliche noch für das persönliche Interesse, wenn eine Ueberzeugung zwar vernichtet, aber keine neue erwekkt würde; wir müssen also je weniger sich etwas positives darüber [über das Proselytenmachen; R. S.] feststellen läßt, desto mehr daraufdringen, daß die höchste Vorsicht beobachtet werde und jeder sich die Cautel stelle, nur in dem Maaße eine Ueberzeugung zu zerstören, als er das Gefühl hat, eine bessere Ueberzeugung begründen zu können"294. Halten wir fest: Das die Lebensvollzüge aller Christen bestimmende Motiv ist das Sich-selbst-Darstellen als im Horizont der steten Kräftigkeit und vollkommenen Reinheit des Gottesbewußtseins Christi Sich-Auslegende und entsprechend Handelnde. Nur weil und insofern dieses das Motiv allen christlichen Handelns ist, kommt es dann unter gegebenen Umständen - nämlich dem Gegebensein einer Hemmung dieses Motivs bzw. einer Förderung dieses Motivs in Form der Erschließung einer weiteren Auslegungssphäre/Handlungssphäre für den göttlichen Geist - zu einer Spezifizierung dieses Motivs

293 Vgl. CS, 430fI1826/27].433[1826/27].435[1826/27]. - CS, 381, stellt die Ausführungen zur Mission zusammenfassend fest: ,,(...)und wir können keine Formel aufstellen, vermöge deren einer an der Mission Theil zu nehmen verbunden wäre oder von ihr ausgeschlossen, sondern es hängt alles dabei ab von dem besonderen Triebe des Geistes und von der Stärke der Ueberzeugung, und ist also rein dem Gewissen eines jeden anheim zu stellen". 294 CS, 411. Auch die Einflußnahme auf sich selbst ist nur insofern sittlich, als sie sich als ausgehend von der höheren Kraft des göttlichen Geistes gewiß ist: , Jeder ist also auch nur in sofern fähig zu einer richtigen Selbstbestimmung, als dieselbe ihm von einem Impulse des göttlichen Geistes ausgehen kann" (CS, 485 [1826/27]; vgl. auch den weiteren Fortgang der Stelle, CS, 485f, sowie CS, 487 [1826/27].)

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zum Motiv eines reinigenden wirksamen bzw. verbreitenden wirksamen darstellenden Handelns. Unabhängig von der zeitlichen Ausdehnung des wirksamen Handelns, das unter Umständen über weite Strecken des Lebens im Vordergrund stehen kann, ist Schleiermacher - so unsere Interpretation bis hierher zutreffend ist der Auffassung, daß das darstellende Handeln der Normalfall christlichen Handelns ist. Es normiert nämlich das es zeitlich oft weit zurückdrängende wirksame Handeln, indem es diesem sein Ziel vorgibt. Und es ist diese Norm nicht nur im Sinne einer erst zu verwirklichenden, sondern als einer immer schon im christlich-frommen Selbstbewußtsein als wirklich mitgesetzten, die es - durch das wirksame Handeln - zu konkretisieren gilt als Äußerlichwerden eines Innerlichen. Die aber immer auch schon konkretisiert ist, weil nur an der konkreten Äußerung christlich-frommen Selbstbewußtseins - der „Selbstdarstellung hi Wort und Werk" - christlich-frommes Selbstbewußtsein sich entzünden kann; in traditioneller Sprache: weil der Glaube aus der Predigt kommt295. Wenn wir uns in den beiden folgenden Abschnitten mit den sachgemäßen Realisationsgestalten der Einigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur im Lebensvollzug des Gläubigen sowie in den Institutionen gemeinsamen christlichen Lebens zuwenden, so wird deren Sachgemäßheit speziell in der Institution des Kultus vorzüglich daran bemessen werden können, ob und inwiefern sie - auch in ihrem Wirken-wollen - dem ursprünglichen Willen entsprechen, Darstellung der in ihnen wirksamen göttlichen Liebe zu sein.

6.2.2.2 Die christlichen Pflichten als Akte der Darstellung christlicher Tugend A. Das pflichtgemäße Handeln Christi Das pflichtgemäße Handeln ist stets Darstellung der Gesinnung296. Insofern die christliche Gesinnung der Glaube als die existenzielle Aneignung des Lebenszeugnisses Jesu von seiner Gesinnung - dem in ihm wirksamen Sein Gottes - ist, ist Handeln in christlicher Perspektive nur pflichtgemäß als Darstellung der angeeigneten - besser: übereigneten - Gesinnung Jesu Christi. Die christliche Gesinnung wird damit auf das engste mit der Gesinnung Christi verknüpft und zugleich auf das genaueste von ihr unterschieden. Denn während die Gesinnung Christi ehe ursprüngliche war, ist die Gesinnung der Christen stets und immer eine angeeignete bzw. übereignete, nämlich diejenige 295 Vgl. GL2 §124.2, II.267f. 296 CS, Beil.C, 170.

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Christi297. Diese Einsicht impliziert, daß auch im Blick auf die Darstellung jener Gesinnung sowohl eine enge Verknüpfung zwischen dem Handeln Christi und dem der Christen bestehen wird, als zwischen beiden auch charakteristische Unterschiede auftreten werden. Christi Handeln ist das urbildliche pflichtgemäße Handeln298, das Handeln der Christen ist dessen Abbildung und Fortbildung299. Weil nun aber die Gesinnung der Christen der angeeigneten/übereigneten Gesinnung Christi nur adäquat ist als Gemeingeist im Gesamtleben der Gläubigen - der Kirche -, deshalb kann die Darstellung dieses Gemeingeistes in Abbildung und Fortbildung der urbildUchen Tätigkeit Christi diesem Urbild300 nur als eine gemeinschaftliche301 Tätigkeit adäquat302 sein. Alles christliche Handeln ist somit nur insofern pflichtgemäß, als es sich seiner Gemäßheit mit dem Gemeingeist der Kirche gewiß ist303. Der hier angesprochene Unterschied zwischen Christo und den Gläubigen wird auch deutlich markiert in der Glaubenslehre Schleiermachers. Denn während die Lehren von der Person Christi und seinem Geschäft nur formal unterschieden werden, ihrem Inhalte nach aber ganz dasselbe sein sollen304, ist diese Identität im Blick auf die einzelnen Gläubigen nicht gegeben. Die Lehre von den Wirkungen des Erlösers in den Einzelnen und die von dem damit initiierten „Geschäft" der Gläubigen sind nicht nur formal zu unterscheiden. Die Lehre vom „Geschäft" der Christen ist die Lehre von der Kirche und als solche nicht identisch mit der Lehre von den Wirkungen des Erlösers in den Einzelnen. Wobei hier nur der Aspekt des vom Erlöser in den Einzelnen freigesetzten pflichtgemäßen Handelns im Vorder-

297 Die erlösende Tätigkeit Christi ist die „Stiftung eines neuen, ihm und uns gemeinsamen, in ihm ursprünglichen, in uns aber neuen und von ihm ausgehenden Lebens" (GL 2 § 100.3,11.94). 298 CS, Beil.C, 167: Alle Handlungen Christi „sind recht verstanden Urbilder". 299 GL2 § 127.3, II.282ff. 300 Die Urbildlichkeit des Handelns Christi ist strikt von irgendeiner äußerlichen Vorbildlichkeit Christi zu unterscheiden. Während das Vorbild der Nachahmung immer äußerlich bleibt, ist die Urbildlichkeit des Handelns Christi vom Gläubigen angeeignet als „Christus in uns", als Prinzip eigener Tätigkeit (GL2 §101.4,11.104). 301 GL 2 §121;CS, 319f[ 1826/27]. 302 CS 320[ 1826/27]: „Christus bestellt seine Jünger zur Verkündigung seines Reiches und bindet sie zugleich an eine Gemeinschaft; denn den heiligen Geist, der seine Stelle vertreten sollte, stellt er überall nur dar als einen gemeinschaftlichen, in der Totalität wirksamen. Freilich sollte er auch in den einzelnen wirksam sein; aber nur so, daß die Fortsezung des Handelns Christi um nichts weniger in der Totalität gegründet wäre und ein Handeln des einzelnen als solchen nicht als ein dem Handeln Christi adäquates gedacht würde". - Vgl. auch GL2 §125. 303 Da der Gemeingeist der Kirche nicht identisch ist mit der am lautesten in die Öffentlichkeit drängenden kirchlichen Meinung, wird dadurch Kritik an der sichtbaren Kirche nicht ausgeschlossen, sondern unter Umständen vom Gemeingeist der verborgenen Kirche geradezu gefordert. 304 GL2 §92.2,11.33.

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grund steht. Die vom Erlöser gestiftete Gesinnung war bereits im vorigen Abschnitt thematisiert worden. Wir werden daher nun zunächst betrachten müssen, was der Erlöser tut305. Daran anschließend werden wir verhandeln, wie Schleiermacher das christliche Handeln des Einzelnen von diesem Urbild - als das in den Gläubigen tätige Prinzip - her entwickelt. Und zwar zunächst ganz allgemein im Blick auf das Ganze des christlichen Lebens und dann zugespitzt auf das pflichtgemäße Handeln der Gemeindeglieder im Kultus. Als die Tugend bzw. Gesinnung Christi hatten wir das ursprüngliche Sein Gottes in ihm identifiziert. Wenn wir nun fragen, worin Christi pflichtgemäßes - das seiner Tugend bzw. Gesinnung gemäße - Handeln besteht, so kann dies in nichts anderem bestehen als in der Fortsetzung der schöpferischen und erhaltenden Tätigkeit Gottes, insofern diese auf das Gebiet der menschlichen Freiheit bezogen ist306. Als schöpferische und erhaltende Mitteilung der steten Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins ist seine Tätigkeit erlösend307. Als schöpferische und erhaltende Mitteilung der vollkommenen Reinheit seines Gottesbewußtseins ist seine Tätigkeit versöhnend308. Damit ist scheinbar der christologische Bezugspunkt der Lehre vom pflichtgemäßen christlichen Handeln erreicht. Aber ist dies auch tatsächlich der Fall? Die kirchliche Lehre expliziert die die Menschen von der Sünde erlösende und mit Gott versöhnende Tätigkeit Christi durch die Lehre von den drei Ämtern Christi: dem prophetischen, hohepriesterlichen und dem königlichen Amt309. Diese kirchliche Lehre wird von Schleiermacher aufgenommen und umgeformt. Dabei ordnet Schleiermacher das prophetische Amt Christi den beiden anderen Ämtern Christi gegenüber und begründet dies in starker Nähe zu der in der Christlichen Sittenlehre vorgetragenen Auffassung vom eigenen Status des darstellenden Handelns im Gegenüber zum wirksamen Handeln. Königliches und hohepriesterliches Amt werden dabei „als die beiden gestaltenden Tätigkeiten" dem pro305 Vgl. Mariin E. Miller, Der Übergang, 140ff. 306 GL2 §100.2,11.91: „Geht nun alle Tätigkeit in Christo von dem Sein Gottes in ihm aus; und kennen wir keine andere göttliche Tätigkeit als die schöpferische, in welcher dann die erhaltende, oder umgekehrt die erhaltende, in welcher die schöpferische mit eingeschlossen ist: so werden wir auch die Wirksamkeit Christi so anzusehen haben. Wie wir aber auch die menschliche Seele nicht von der Schöpfung ausschließen, ohnerachtet die Schöpfung des frei Handelnden und das Freibleiben des im Zusammenhang mit einem größeren Ganzen Geschaffenen weniger zu begreifen gefordert werden kann, als nur in unserm Selbstbewußtsein aufzufassen: so ist es auch mit der schöpferischen Tätigkeit Christi, welche es ganz und gar mit dem Gebiet der Freiheit zu tun hat". Vgl. GL2 §103.2,11.110. 307 GL 2 §100. 308 GL 2 §101. 309 GL2 §102. Eine ausdrückliche Inbezugsetzung der Ämterlehre zur erlösenden und versöhnenden Tätigkeit fehlt. Schleiermacher überläßt es der Leserin und dem Leser, beides aufeinander zu beziehen (GL2 §102.3,11.107).

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phetischen Amt als der „unmittelbar geistig anregenden" Tätigkeit310 bzw. „Selbstdarstellung"3" kontrastiert. Hiermit scheint auch zunächst übereinzustimmen, daß Schleiermacher die wesentlichen Institutionen der Kirche in der Glaubenslehre vor dem Hintergrund der Ämterlehre expliziert312. Wenn Schleiermacher dann „Predigt oder Verkündigung" als Inbegriff der das prophetische Amt Christi fortführenden Tätigkeit bezeichnet313, so scheint das prophetische Amt vollends dem darstellenden Handeln zu entsprechen; und die beiden gestaltenden Ämter scheinen dann ebenfalls zwanglos auf verbreitendes - Anknüpfung und Erhaltung der Lebensgemeinschaft mit Christo: Fortsetzung des hohepriesterlichen Amtes314 - und reinigendes - gegenseitiger Einfluß des Ganzen auf den Einzelnen und der Einzelnen auf das Ganze: Fortsetzung des königlichen Amtes315 - Handeln bezogen werden zu können. Wie sich aber die drei Ämter Christi zu den Handlungsmodi des darstellenden und des reinigenden bzw. verbreitenden wirksamen Handelns genau verhalten, wird von Schleiermacher nicht erörtert. Die Irrigkeit der zunächst naheliegenden Deutung wird aber klar, wenn man in Rechnung stellt, daß die drei Ämter ihre Entsprechung nicht im Handeln der einzelnen Gläubigen finden, sondern nur im gemeinsamen Handeln aller Gläubigen, im Handeln der Kirche. Und es ist ja auch tatsächlich diese Hinsicht, in welcher Schleiermacher die Ämterlehre in der Glaubenslehre für die Ekklesiologie fruchtbar macht316. Es wird von Schleiermacher genau berücksichtigt, daß außer der Person Jesu keine andere einzelne Person diese drei Ämter ausfüllen und fortsetzen kann, sondern nur die Gemeinschaft der Christen als Kirche. Daraus folgt, daß auch der zunächst sich naheliegende Bezug der Ämterlehre auf die in der Christlichen Sittenlehre entwickelten Handlungsmodi nicht unmittelbar möglich ist. Wenn man bedenkt, daß die Ämterlehre auch in der Christologie entwickelt wird im Blick auf die Funktion, die Christus für das von ihm begründete Gemeinwesen hat, so kann sie auch nicht einmal umstandslos als dogmatische Entfaltung von Christi pflichtgemäßem Handeln gelten. Vielmehr entwickelt die Ämterlehre primär die ethische Hinsichtnahme auf das Leben Christi als einem sittlichen Gut317. Im Rahmen von dieser Darstellung des Lebens Jesu als einem sittlichen Gut werden dann allerdings auch eine Fülle von Aussagen gemacht, die sein Leben als einen pflichtgemäßen - seiner Tugend 310 GL 2 § 102.3, II. 107. 311 Dieser Ausdruck fällt etwa: GL2 §101.4, 11.104; §104.1, 11.120; §108.5, 11.165 und öfter. 312 GL2§127.3, II.282ff. 313 GL2 §120.2,11.241; vgl. auch: GL2 §108.5,11.165. 314 GL 2 §127. 315 Ebd. 316 GL2 §127.3, II.282ff. 317 Auch in der Ethik gehört die Ämterlehre ja in den Zusammenhang der Güterlehre. Die sachgemäße Ausfüllung von Funktionspositionen/Ämtern ist dann allerdings Aufgabe pflichtgemäßen Handelns.

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gemäßen - Handlungszusammenhang beschreiben318. Der christologische Bezugspunkt für die Lehre vom pflichtgemäßen Handeln der Christen, d.h. das urbildliche pflichtgemäße Handeln Christi, ist also weniger in der Lehre vom Geschäft Christi und seinen Ämtern zu suchen als vielmehr in den Einlassungen zu den christologischen Fundamenten der in der Christlichen Sittenlehre entfalteten Lehre vom christlichen Handeln. Und diese Aussagen lassen sich auf die christologischen Passagen der Handlungstheorie der Christlichen Sittenlehre - die Heranziehung von Christi Handeln als Urtypus des darstellenden bzw. wirksamen Handelns - ohne weiteres beziehen319. Bevor wir dies skizzenhaft weiter ausführen, müssen wir uns aber noch darüber Klarheit verschaffen, wie denn das Verhältnis zwischen Christlicher Sittenlehre und Pflichtenlehre zu deuten ist. Unsere Interpretation im Rahmen der Rekonstruktion von Schleiermachers Philosophischer Theologie ging ja davon aus, daß Schleiermachers Philosophische Ethik den kategorialen Rahmen zum Verständnis des christlichen Lebens bereitstellt und als solcher von der Theologie herangezogen werden muß. Da wir Schleiermachers Christliche Sittenlehre als Lehre vom pflichtgemäßen christlichen Handeln ansehen, fallt nun aber sofort ins Auge, daß Schleiermachers Christliche Sittenlehre in ihrer grundlegenden Distinktion zwischen darstellendem und wirksamem Handeln sich gar nicht dem kategorialen Raster der Pflichtenlehre unterzuordnen scheint. Wir müssen also entscheiden, ob in Schleiermachers Christlicher Sittenlehre eine alternative und mit der philosophischen Pflichtenlehre inkompatible Pflichtenlehre vorliegt oder aber Schleiermacher im Rahmen seiner Christlichen Sittenlehre eine Konkretion der philosophischen Theoriebildung vornimmt. Philosophischer Pflichtenlehre wie Schleiermachers Christlicher Sittenlehre hegt die Auffassung zugrunde, daß alles Handeln nur dann pflichtgemäß ist, wenn es die unter gegebenen Umständen sachgemäße Realisation der Gesinnung der Person betreibt320. Diese gänzlich formale Bestimmung füllt die Christliche Sittenlehre, indem sie das christliche pflichtgemäße Handeln als die unter gegebenen Umständen sachgemäße Realisation der christlichen Gesinnung entfaltet321. Pflichtgemäßes Handeln setzt immer Pflichtgefühl - Gesinnung - voraus322. Pflichtgemäßes christliches Handeln setzt immer christliche Gesinnung voraus. Die vollkommen adäquate Realisation der Gesinnung der Person - ihrer Gewißheit über Ursprung und Ziel ihrer selbst und ihrer Hand318 In unserem Zusammenhang sind hier vor allem die Einlassungen Schleiermachers zum prophetischen Amt Christi von größter Bedeutung. 319 Schleiermacher bemerkt ausdrücklich zur Konzeption der Christlichen Sittenlehre mit Blick auf Pflichtenlehre und Lehre vom höchsten Gut: „Vereinigt können beide werden, wenn in allen Säzen auf beide Bezug genommen wird" (CS, Beil.C, 169). 320 Vgl. CS, Beil.C, 170. 321 Vgl. CS, Beil.C, 169 in Verbindung mit CS, Beil. A, 15 [§§44fJ. 322 CS, Beil.C, 169; PhE, 233f.459.464.

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lungssituation - ist die Realisation der ihr erschlossenen Idee des höchsten Gutes, dessen Realisation zugleich die geschichtliche Welt aufhebt, da diese ihre Bestimmung erreicht hat, in das ewige Leben jenseits aller Geschichte323. Da die Gesinnung der Person immer schon geprägt ist von der sittlichen Verfassung ihrer Umwelt - den geschichtlichen Bedingungen, unter denen sich der Gehalt der Tugend bestimmt, d.h. der jeweiligen Gestalt des höchsten Gutes - ist das Handeln nur dann pflichtgemäß, wenn es die unter gegebenen Umständen sachgemäße Wahrnehmung der Sittlichkeit ihrer Umwelt, d.h. der jeweiligen Gestalt des höchsten Gutes, ist324. Es wird mit dieser Aussage keine Alternative zur vorherigen aufgestellt. Es ist nicht so, daß es pflichtgemäßes Handeln gäbe entweder als Ausdrucksgestalt der Gesinnung der Person oder aber als Ausdrucksgestalt der sittlichen Verfassung ihrer Umwelt. Pflichtgemäßes Handeln gibt es vielmehr nur als die unter gegebenen Umständen - die jeweilige Realisationsgestalt des höchsten Gutes - sachgemäße Realisation der Gesinnung - jeweilige Gestalt der Tugend - der Person. Ein Handeln, das in sich nicht das Bewußtsein vom Gewordensein des ihm zugrundeliegenden Strebens in bestimmten geschichtlichen Kontexten aufbewahrt, ist ebenso pflichtwidrig325 wie ein Handeln, dessen Streben auf etwas anderes gerichtet ist als auf die Realisation einer solchen Verfassung des höchsten Gutes - der Verfassung des menschlichen Zusammenlebens -, die an dessen Leistungsfähigkeit zur Tradierung von Tugend orientiert ist. In christlicher Perspektive ist folglich ein Handeln dann und nur dann pflichtgemäß, wenn es sich vollzieht a) im Bewußtsein um das geschichtliche Gewordensein der ihm zugrundeliegenden christlichen Gesinnung im Kontext der christlichen Tradition als einer Schule der Herzensbildung und b) im Aussein auf die Realisation einer solchen Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens, welche orientiert ist an der Aufrechterhaltung der durch menschliches Handeln zu gewährleistenden Bedingungen für eine auch weiterhin erfolgende Tradition christlicher Gesinnung im Rahmen einer Schule der Herzensbildung, wie sie die Kirche programmatisch zu sein beansprucht. Nun macht Schleiermacher in seiner philosophischen Pflichtenlehre 1814/17 folgende erstaunliche Aussage als Folgerung aus dem zuletzt Referierten: , Jedes pflichtmäßige Handeln ist als solches unvollkommen, weil es zwischen zwei Gestaltungen der Tugend und des höchsten Gutes mitten inne steht. [Erläuterung:] Weil nemlich das zweite durch das Handeln Werdende 323 Auf diesen eschatologisehen Aspekt der Geschichtsauffassung auch und gerade der Philosophischen Ethik Schleiermachers hatten wir bereits oben hingewiesen. 324 Vgl. PhE, 459 [§2]: „Die Pflichtenlehre steht so zwischen den beiden anderen [gemeint sind Tugendlehre und Lehre vom höchsten Gut], daß das pflichtgemäße Handeln die Tugend voraussezt und das höchste Gut bedingt, aber eben so auch umgekehrt, das höchste Gut voraussezt und die Tugend bedingt". 325 Vgl. PhE, 231 ff.

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etwas vorher nicht Gewesenes ist. - Die Unvollkommenheit aber muß im terminus a quo als solchem nicht im terminus ad quem liegen"326. Aus welchen Gründen behauptet Schleiermacher die Unvollkommenheit eines jeden pflichtgemäßen Handelns als solchen? Das Urteil der Unvollkommenheit gründet jedenfalls nicht darin, daß die Beurteilung eines sittlichen Phänomens bloß aus der Perspektive der Pflicht unvollkommen, weil abstrakt, sei. Dies ist zwar auch tatsächlich Schleiermachers Auflassung, wie wir wissen, kann aber nicht der Sinn der vorliegenden Aussage sein. Hier wird explizit die sittliche Qualität des pflichtgemäßen Handelns als unvollkommen gekennzeichnet und nicht die Konkretheit einer Aussage über pflichtmäßiges Handeln als mangelhaft markiert. Es wird sogar ausdrücklich hervorgehoben, daß es gerade das pflichtmäßige Handeln sei, dem der Charakter der Unvollkommenheit zugesprochen werden müsse. Die Unvollkommenheit gründet ausdrücklich nicht in etwaigen pflichtwidrigen Anteilen im ansonsten pflichtgemäßen Handeln. Und es wird betontermaßen darauf abgehoben, daß das pflichtgemäße Handeln als solches unvollkommen sei, nicht obwohl, sondern ganz im Gegenteil gerade weil es sittlich positiv qualifizierte Folgen hat: weil es etwas in der sittlichen Welt bisher sitthcherweise noch nicht so realisiertes ins Leben befördert, deshalb ist nach Schleiermacher jedes pflichtgemäße Handeln als solches unvollkommen. Seine Unvollkommenheit ist auch nicht abhängig von einer etwaigen Unkräftigkeit oder Untauglichkeit des pflichtgemäßen Handelns zur Realisierung des angetrebten Zieles. Nicht weil es hierzu unkräftig oder untauglich wäre, ist es unvollkommen, sondern gerade weil es überhaupt sachgemäßer - eben: pflichtgemäßer - Ausdruck eines zielgerichteten Strebens ist, eignet ihm der Charakter der Unvollkommenheit. Das pflichtgemäße Handeln ist als solches unvollkommen, weil und insofern in ihm offenkundig wird, daß der terminus a quo dieses Handelns noch nicht sein terminus ad quem ist, daß die Handlungssituation, der es aus eigenem Antrieb pflichtgemäß entspricht327, noch nicht ihre Bestimmung erreicht hat. Gerade die sittlich positive Folgeträchtigkeit des pflichtgemäßen Handelns für die Gestaltungen der Tugend und des höchsten Gutes ist Indiz seiner eigenen Unvollkommenheit. Es ist selbst nicht Realisation vollkommener Sittlichkeit und des höchsten Gutes, sondern Realisationsgestalt des Strebens nach der bestimmungsgemäßen Vollendung der sittlichen Welt328. Pflicht ist Ausdruck des Interesses an der bestimmungsgemäßen Vollendung der sittlichen Welt. Pflichtgemäßes Handeln ist die tätige Wahrnehmung dieses Interesses und somit zugleich Ausdruck des Unerfülltseins dieses Interesses. Pflichtwidriges Handeln ist nur möglich unter der Voraussetzung des Gegebenseins jenes Interesses - weil Pflicht durch jenes 326 PhE, 459[§3]; vgl. dazu CS, Beil.C, 169f. 327 Darin liegt seine Vollkommenheit: „die Vollkommenheit des pflichtgemäßen Handelns besteht im Zusammentreffen der innern Anregung mit der äußern Aufforderung" (PhE, 464[§22]. Vgl. PhE, 411[§32]). 328 Vgl. auch PhE, 636 [zu§112.]

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Interesse überhaupt erst konstituiert ist, also auch erst unter jener Voraussetzung gegen sie verstoßen werden kann - als dysfunktionales Handeln im Blick auf die bestimmungsgemäße Vollendung der sittlichen Welt. Wenn unsere Interpretation zutreffend ist, dann sind diese Überlegungen zum Eingang von Schleiermachers philosophischer Pflichtenlehre weithin im Einklang mit denjenigen zu Beginn der Christlichen Sittenlehre. Dort wird die Thematik der Christlichen Sittenlehre wie folgt bestimmt: ,JJie Formel unserer ethischen Aufgabe ist die Frage, Was muß werden aus dem religiösen Selbstbewußtsein und durch dasselbe, weil das religiöse Selbstbewußtsein ist?"329. Die Christliche Sittenlehre setzt voraus, daß die fromme Existenz bestimmt ist von dem Interesse an dem Gegenstande des religiösen Gebietes130 und in diesem Interesse immer auch eine bestimmte Zielrichtung des Handelns der frommen Existenz impliziert ist: „Was muß werden aus dem religiösen Selbstbewußtsein und durch dasselbe, weil das religiöse Selbstbewußtsein ist?". Das christliche Handeln erstrebt die vollständige Realisation derjenigen Gemeinschaft mit Gott, die in der Begegnung mit dem Lebenszeugnis Jesu offenbart worden ist331. Und auch hier ist das pflichtgemäße christliche Handeln abhängig von der sachgemäßen Realisation der Gesinnung unter gegebenen Umständen: ,,Die Sittlichkeit des Entschlusses hängt also ab von diesen beiden Momenten, von der Auffassung des allgemeinen Zusammenhanges aller gebotenen Handlungen, und von dem Coefficienten, der die einzelnen Handlungen motiviert, welches beides zusammengenommen nichts anderes ist, als was wir oben den Ort eines jeden im Reiche Gottes genannt haben, durch welchen die Totalität für jeden eine andere wird und der es motiviert, daß sich jeder unter scheinbar gleichen Umständen doch verschieden bestimmt"332. Wie verhält es sich aber mit der Beurteilung des pflichtgemäßen christlichen Handelns? Konstatiert auch die Christliche Sittenlehre - analog zur philosophischen Pflichtenlehre - eine notwendige Unvollkommenheit des christlichen pflichtgemäßen Handelns als solchen? Auch die Christliche Sittenlehre entfaltet die sittliche Welt als einen Werdeprozeß. Wie die Philosophische Ethik die sittliche Welt als die immer erst noch zu versittlichende Welt interpretiert, so auch die Christliche Sittenlehre. Allerdings mit einem bedeutenden Unterschied, wenn man die Philosophische Ethik nicht als Metaethik interpretiert: Versteht man Schleiermachers Ethik nämlich als Metaethik, so präsentiert diese unter dem Titel Vernunft nur den gänzlich formalen Platzhalter für die den Versittlichungsprozeß initiierende und in Gang haltende Kraft. Liest man dagegen die Philosophische Ethik als inhaltlich ge329 330 331 332

CS, 23. CS, 22. CS,40f. CS, 80; vgl. CS, 68[Anm.].81.105.154.420.439.447.

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füllte Ethik und nicht als Metaethik, so ist unter dem Titel der Vernunft der Motor der Versittlichung bereits selbst thematisch geworden333. Es ist dies der Glaube an die Unendlichkeit der Vernunft an und für sich334. Die Christliche Sittenlehre dagegen bestimmt als den in der handelnden Person tätigen Motor des Versittlichungsprozesses den göttlichen Geist335. Dabei geht sie wie die philosophische Pflichtenlehre davon aus, daß der durch den göttlichen Geist motivierte Prozeß der Versittlichung realisiert wird im Vollzug von einem solchen pflichtgemäßen Handeln, das den Charakter einer Reinigung/ Wiederherstellung bzw. der Verbreitung besitzt336 - oder in der Terminologie der philosophischen Pflichtenlehre: „Rectification" bzw. „Production" ist. Nur durch reinigendes und verbreitendes Handeln ist eine Annäherung an die Vollendungsgestalt der sittlichen Welt - des Reiches Gottes - möglich337, ohne doch mit diesem Ziel identisch zu sein338. Und auch die Christliche Sittenlehre geht davon aus, daß die Unvollkommenheit in diesem sittlichen Prozeß auf der Seite des terminus a quo zu verbuchen ist, nämlich als „Bewußtlosigkeit"339. Und zwar eine Bewußtlosigkeit im Hinblick auf sittlich defizitäre Aspekte des sittlichen Prozesses bzw. im Hinblick auf weiter auszubildende Prozeßgestalten der sittlichen Welt340. Betrachtet man allein die Theorie des wirksamen Handelns - die Theorie desjenigen Handelns, das als reinigendes bzw. verbreitendes Handeln mitten inne steht zwischen zwei Gestaltungen der christlichen Tugend bzw. des christlichen höchsten Gutes - der Christlichen Sittenlehre, so geht auch diese Theorie von der Unvollkommenheit des in ihr thematischen wirksamen Handelns aus341. Wie steht es aber mit dem darstellenden Handeln, wie es die Christliche Sittenlehre entfaltet? Der terminus a quo, von welchem dieses Handeln ausgeht, erstrebt keinen von ihm unterschiedenen terminus ad quem342. Folglich trifft für dieses Handeln genau jener Grund nicht zu, der in der philosophischen 333 Daß Schleiermacher mit der Möglichkeit einer solchen inhaltlich gefüllten Ethik aus der Perspektive einer philosophischen Weltanschauung rechnet - und als wirklich realisierte kennt -, zeigt CS, 499f [1826/27]. Dort wird aber ebenso deutlich hervorgehoben, daß er selbst eine inhaltlich gefüllte Ethik nicht als bloß an der Vernunft orientierter, sondern nur als vernünftig begründbare Ausrichtung am Lebenszeugnis Jesu zu geben vermag: eben als Christliche Sittenlehre. 334 CS, 500 [1826/27]. 335 CS, 83ff 336 CS, 44f. 337 CS, 506. 338 CS, 502: ,,(...)daß vielmehr im gewissen Sinne das reinigende und das verbreitende Handeln nur den Weg bezeichnen könnten, um zum eigentlichen Ziele, zur vollkommenen Herrschaft des Geistes über das Fleisch zu gelangen, nicht dieses Ziel selbst". 339 CS, 505f. 340 Ebd. 341 Es spricht jedenfalls nichts dagegen PhE, 459 [§3], auch auf das wirksame Handeln der Christlichen Sittenlehre zu beziehen. 342 CS, 50f.

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Pflichtenlehre dazu führte, ein jedes pflichtmäßige Handeln als unvollkommen zu markieren343. Die Theorie des darstellenden Handelns ist somit die Theorie eines vollkommenen, weil eine vollkommene Gestaltung der Tugend bzw. des höchsten Gutes repräsentierenden - eben: darstellenden - Handelns. Eben diese Theorie des darstellenden Handelns wird in der Christlichen Sittenlehre aber so traktiert, daß es sich bei ihr erkennbar nicht um eine eigentümliche Theoriebildung der Christlichen Sittenlehre handelt, sondern vielmehr mit ihr einem sachlogischen Implikat des Handlungsbegriffes entsprochen wird344. Was die Christliche Sittenlehre in der Theorie des darstellenden Handelns über die philosophische Pflichtenlehre von (vermutlich) 1814/17, auf die wir uns zuletzt vorzüglich bezogen hatten, hinaus vorträgt, muß daher als eine Konkretisierung angesehen werden, die sich immer noch auf der Ebene der Metaethik345 vollzieht und keine eigentümliche Theorieleistung der Christlichen Sittenlehre bedeutet, sondern in dieser nur ihre Anwendung findet. Und zu dieser Konkretisierung sind bereits in der philosophischen Pflichtenlehre von 1814/17 die entscheidenden Weichen gestellt. Das setzt voraus, daß auch dort faktisch mit einem Handeln gerechnet werden muß, das nicht als zwischen zwei Gestaltungen der Tugend und des höchsten Gutes mitteninne stehend vollzogen wird, sondern eine bereits erreichte Herrschaft der Vernunft über die Vernunft repräsentiert und nicht nur auf eine allererst angestrebte verweist. Das ist auch tatsächlich der Fall. Denn die Voraussetzungen, in welchen die Christliche Sittenlehre das darstellende Handeln sachlogisch impliziert sieht, sind auch in der philosophischen Pflichtenlehre erfüllt. Auch die philosophische Pflichtenlehre bestimmt das pflichtgemäße Handeln in „Rectification und Production" als zielstrebiges Handeln, das in der Hervorbringung von Resultaten seinen Abschluß findet, also prinzipiell nicht unendlich ist346. Damit gilt aber auch für die philosophische Pflichtenlehre notwendig in bezug auf das rektifizierende und produzierende wirksame Handeln ebendasselbe, was die Christliche Sittenlehre mit Blick auf die Negation eines von reinigendem und verbreitendem wirksamen Handeln verschiedenen Handlungsimpulses bzw. Handelns zu beachten gibt: 343 Man muß bei diesem Urteil der philosophischen Pflichtenlehre stets im Auge behalten, daß mit ihm keine grundsätzliche sittliche Disqualifikation des pflichtgemäßen Handelns intendiert ist, sondern einzig die schlichte Feststellung gemacht wird, daß die sittliche Welt, in der ein solches folgeträchtiges pflichtgemäßes Handeln statthat, nicht vollkommen ist. Es ist die sittliche Dignitat der sittlichen Welt, sich ihrer sittlichen Unvollkommenheit bewußt sein zu können. 344 CS, 47ff.532f.534[1826/27].584[1824/25].591[1826/27]; CS, Beil.A, 17f[§53].18[Rb.]. 345 Genauer: der Psychologie. Vgl. CS, 534 [1826/27], wo es zu einer das darstellende Handeln betreffenden Frage heißt: „Aber das ist auch gar nichts speciell christliches, sondern es geht hervor aus dem rein psychologisch allgemeinen, was dabei zum Grunde liegt." 346 Das gilt selbst dann, wenn dieser Abschluß nur als „Fiktion" (vgl. CS, 501 [1826/27]) vor Augen steht, ohne bereits erreicht zu sein.

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„Wollten wir nun sagen, Es giebt keinen Moment, in dem wir uns der Unterordnung einer niederen Kraft unter die höhere wirklich bewußt sind: wohl, so sind alle Momente entweder Lust oder Unlust der aufgezeigten Art. Wäre nun das Selbstbewußtsein bestimmt als Lust: wie sollte jemals das daraus entstandene verbreitende Handeln aufhören, wenn nicht ein Moment der Befriedigung einträte? Es müßte ins unendliche fortgehen. Andererseits, denken wir uns das Selbstbewußtsein bestimmt als Unlust: wie hätte es so sollen bestimmt werden, wie hätte also ein wiederherstellendes Handeln anfangen sollen, wenn nicht ein Moment der Einigung der niedem Kraft mit der höheren, der relativen Befriedigung wäre gegeben gewesen? Es bleibt uns also nur übrig zu sagen, daß zwischen den Momenten der Lust und der Unlust Momente der Befriedigung nothwendig eintreten, daß aber in diesen nicht absolute Seeligkeit gesezt sein kann, sondern nur relative, die Impuls sein, und in Handeln ausgehen muß347. In welches Handeln aber? Offenbar nur in ein solches, welches sich wesentlich und unmittelbar auf gar keinen Theil des Lebens bezieht und auch gar nicht dazu bestimmt ist, eine Veränderung irgend einer Art hervorzubringenii34*. Das hier beschriebene sittliche Phänomen wird von Schleiermacher direkt im Anschluß an unser Zitat explizit als ein nicht auf den religiösen Lebensbereich beschränkbares, sondern in allen Handlungsbereichen auftretendes Phänomen bestimmt. Nun ist in unserem Zitat zu beachten, daß die Bemerkung, es gehe um ein Handeln, das „sich wesentlich und unmittelbar auf gar keinen Theil des Lebens" beziehe, mißverständlich, wenn nicht gar auch im Sinne Schleiermachers falsch ist. Aus allen einschlägigen Äußerungen Schleiermachers in seiner philosophischen Pflichtenlehre wie in der Christlichen Sittenlehre geht klar hervor, daß nach Schleiermacher alles Handeln notwendig in bestimmten geschichtlichen Kontexten - und das heißt auch: in einem bestimmten Teilbereich des gesellschaftlichen Lebens mit seinen spezifischen Aufgabenstellungen - statthat349. Das hier thematische Handlungsphänomen muß folglich ebenfalls mit dem vollen Bewußtsein seiner geschichtlichen Situiertheit hi einem bestimmten Teilbereich der sittlichen Welt ausgestattet sein. Was kann aber dann mit der Aussage gemeint sein, daß es „sich wesentlich und unmittelbar auf gar keinen Theil des Lebens" beziehe? Hier legt es sich nahe, die im Text folgende Parataxe als erläuternde Beifügung zu interpretieren. Es geht dann um ein Handeln, das sich insofern „wesentlich und unmittelbar auf gar keinen Theil des Lebens" bezieht, als es nicht dazu bestimmt ist, in der Situation seines Handelns „eine Veränderung irgend einer Art hervorzubrin-

347 Wenn anders dieser Zustand ein sittlicher sein soll. 348 CS, 47f (Hervorh. i.O.) 349 Nicht zuletzt aus der Berücksichtigung dieses Sachverhaltes leitet Schleiermacher den Überlegenheitsanspruch seiner philosophischen Pflichtenlehre gegenüber den abstrakten Pflichtformeln seiner Vorgänger ab.

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gen"350. Daß auch ein solches sittliches Phänomen nur als Handeln angesprochen werden darf, wenn es folgeträchtig ist, steht für Schleiennacher außer Frage. Die Folgeträchtigkeit eines solchen Handelns wird daher auch sofort in den Blick gefaßt. Es ist aber im Gegensatz zum wirksamen Handeln, das als Folge seines Vollzuges die Veränderung eines bestimmten Verhältnisses zwischen Vernunft und Natur intendiert hin auf ein sittlich höher qualifiziertes Verhältnis, hier als Folge des Handlungsvollzuges nichts anderes angestrebt als die ausdrückliche Darstellung eines bereits erreichten sittlichen Verhältnisses zwischen Vernunft und Natur. Und im Blick auf dieses Verhältnis gilt: Es gibt keinen Wunsch, hier „eine Veränderung irgend einer Art hervorzubringen"351, weil der Zustand dieses Verhältnisses vom Handelnden als bestimmungsgemäß erlebt wird. Die Rahmentheorie der Philosophischen Ethik verweist die Erreichung des bestimmungsgemäßen Ziels sittlichen Lebens ins Jenseits der geschichtlichen Welt152. Es gab also für Schleiermacher Gründe, ein Handeln, das bloßer Ausdruck der Gewißheit des Handelnden vom bestimmungsgemäßen sittlichen Leben seiner selbst ist, nicht mehr innerhalb der philosophischen Pflichtenlehre abzuhandeln, da diese als Teil der Philosophischen Ethik nur auf das Begreifen des sittlichen Lebens in seinem geschichtlichen Wandel seiner Verlaufsgestalt hin auf sein Telos - abzielt353. Auf der anderen Seite ist auch in der Philosophischen Ethik berücksichtigt, daß die im Eschaton erreichte Bestimmungsgestalt sittlichen Lebens nur deshalb überhaupt im Vollzug geschichtlich-sittlichen Lebens vorbereitet sein kann, weil sie implizit in

350 Ebd. 351 Dieses Handeln kann dabei eine Vielzahl von Auswirkungen für die äußeren Umstände des Handelns haben, ohne seinen darstellenden Charakter zu verlieren, da dieser ja nicht von den äußeren Umständen des Handelns definiert ist, sondern von der inneren, sittlichen Bestimmtheit des Handelnden in bestimmten geschichtlichen Kontexten. So wird etwa das Handeln eines Ingenieurs in erheblichem Maße folgeträchtig sein für seine äußere Handlungssituation. Gleichwohl ist dieses Handeln ein darstellendes, wenn und insofern es Ausdruck ist einer bestimmten situationsadäquaten Indienstnahme seiner natürlichen und seiner ausgebildeten Talente durch seine - vom Geist geleitete, also ethisch orientierte - Vernunft. Ist dem Ingenieur dagegen eine situationsadäquate Indienstnahme seiner natürlichen und ausgebildeten Talente durch seine - vom Geist geleitete, also ethisch orientierte - Vernunft nicht möglich, so ist ein wirksames Handeln angezeigt: berufliche Fortbildung. In diesem Beispiel ist interessanterweise gerade das darstellende Handeln durch ausgeprägte Folgen für die äußere Handlungssituation gekennzeichnet, während das wirksame Handeln sich als einstweiliger bewußter Verzicht auf ein äußerlich folgenreiches Handelns vollzieht, da die äußerlichen Folgen dieses Handelns unkalkulierbar wären. Das Beispiel zeigt zudem überdeutlich, daß darstellendes Handeln und individuelles Symbolisieren nicht deckungsgleich sind. 352 PhE, 543f[§§88f]. 353 Vgl. PhE, 543 [§89]. „Reine Vernunft also und seliges Leben kommen in der Sittenlehre nirgend unmittelbar vor, sondern nur natürliche Vernunft und irdisches widerstrebendes Leben."

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diesem als steuernde Kraft immer schon gegeben ist354. Ohne Orientierung an einer bestimmten Gewißheit über die Bestimmungsgestalt sittlichen Lebens fallt jede Tat aus dem Bereich der positiv qualifizierten Sittlichkeit heraus und verbleibt auf der Stufe der Sinnlichkeit, des überwiegenden Bestimmtseins durch die Triebe355. Im Modus des Aus-seins-Auf ist somit das Eschaton immer schon in allen sittlichen Lebensvollzügen wirksam356 - und zwar notwendig vor allem wirksamen Handeln, da dieses in jenem ja seinen Orientierungspunkt hat. Wenn nun jenes Immer-schon-der-Bestirnmungsgestalt-des-sittlichen-Lebens-Inne-Sein ein sittliches Phänomen sein soll, so muß es notwendig Handlungsimpuls werden. Die jeweilige Realisationsgestalt dieses auf das Eschaton gerichteten - und dieses ausdrückenden - Handlungsimpulses ist dabei abhängig von den jeweiligen Handlungsumständen. Und diese sind unter Umständen eben so beschaffen, daß sie zur „Rectification und Production" auffordern. Damit sind aber klar erkennbar „Rectification und Production" Epiphänomene eines Handelns, welches Ausdruck der mimer schon gegebenen Gewißheit über die Bestimmungsgestalt sittlichen Lebens ist. Bestimmt man nun mit Schleiermacher den Bereich der geschichtlich-sittlichen Welt als den Bereich zwischen dem beginnenden Streben nach dem bestimmungsgemäßen sittlichen Leben und der Erfüllung dieses Strebens, so muß man vor dem Hintergrund der vorgetragenen philosophischen Überlegungen davon ausgehen, daß die geschichtlich-sittliche Welt fundiert und getragen ist von einem sittlichen Leben, das nicht mehr geschichtlichen Charakter besitzt - im angegebenen Sinne des Aus-seins-auf-ein-Ausstehendes -, sondern eschatisch ist; und das als sittliches Leben notwendig immer Handeln sein muß, das heißt: sich vonziehend als situationsadäquate Realisationsgestalt der inneren Gewißheit von der Bestimmungsgestalt sittlichen Lebens. Und genau ein solches Handeln wird von Schleiermacher als vollkommenes pflichtgemäßes Handeln markiert allerdings ohne ausdrückliche Charakterisierung dieses vollkommenen pflichtgemäßen Handelns als eines darstellenden Handelns: „Die allgemeine Wollung muß in verschiedenen Momenten verschieden sein, und die Vollkommenheit des pflichtmäßigen Handelns besteht im Zusammentreffen der innern Anregung mit der äußern Aufforderung"357. Wann immer ein solches Zusammentreffen erlebt wird, erlebt die Person ihr Handeln als bestimmungsgemäß358. Es ist ein zeitloses, weil zeitlos gültiges

354 Vgl. etwa PhE, 462 [§18]: „Das gesamte sittliche Sein kann durch den Pflichtbegriff nur ausgedrückt werden, sofern in jeder pflichtmäßigen Handlung die ganze Idee der Sittlichkeit enthalten ist." 355 PhE, 463 [§21]: „In jedem [pflichtgemäßen Handeln] nemlich eine allgemeine Richtung auf die ganze Idee. Ohne diese wäre die bestimmte That keine sittliche." 356 PhE, 463f [§21]: „Das allgemeine Wollen muß in jedem pflichtmäßigen Handeln ein Lebendiges sein, der wirkliche Grundtrieb, die ursprüngliche Bewegung, die nur modificirt wird durch die Richtung gebende Aufforderung". 357 PhE, 464 [§22].

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Handeln in einer bestimmten Situation. Es ist ein Handeln in einer bestimmten Situation, weil es andernfalls kein Handeln wäre. Und es ist ein zeitlos gültiges Handeln in einer bestimmten Situation, weil in ihm innere Anregung und äußere Aufforderung zusammentreffen, sodaß von diesen beiden Seiten aus keinerlei Indikation gegeben ist, durch ein wirksames Handeln die innere Anregung mit der äußeren Aufforderung zu vermitteln und umgekehrt, ohne welche Vermittlung die sittlichen Voraussetzungen eines situationsadäquaten d.h. gültigen - Handelns nicht gegeben sind. Das freiwillige Tun des in einer Situation sachlich gebotenen Handelns ist ein zeitlos gültiges Handeln. Auch „Rectification und Production" können das freiwillige Tun des in einer Situation sachlich gebotenen Handelns sein - und insofern sind sie vollkommenes Handeln -; das sachlich gebotene Handeln ist aber in diesem Fall auf die Überwindung einer mit der Bestimmungsgestalt sittlichen Lebens konkurrierenden Gestalt des sittlichen Lebens - mithin immer auch auf sich selbst als Teil dieser Gestalt sittlichen Lebens - gerichtet und insofern ein unvollkommenes Handeln359. Als Ergebnis dieser Überlegungen sei festgehalten: Auch Schleiermachers philosophische Pflichtenlehre muß aus sachlogischen Gründen die Notwendigkeit eines Handelns einräumen, das zwischen den Phasen wirksamen Handelns - „Rectification und Production" - explizit hervortritt als Darstellung der erreichten Qualifikation der sittlichen Welt und ebenfalls aus sachlogischen Gründen implizit in aller wirksamen Tätigkeit, die auf die Veränderung der erreichten Qualifikation der sittlichen Welt gerichtet ist, mitgesetzt ist360. Die nicht ausdrückliche Thematisierung dieses nichtwirksamen darstellenden Handelns innerhalb der philosophischen Pflichtenlehre deuteten wir dahingehend, daß das nichtwirksame darstellende Handeln aufgrund seines eschatischen Charakters den genuinen Themenbereich der Philosophischen Ethik überschreitet und daher unerörtert bleibt361. Diese Deutung mag nun zwar Schleiermachers Schweigen an dieser systematisch wichtigen Stelle erklären, kann dieses Schweigen aber nicht als sachgemäß oder gar geboten erweisen. Was das Verhältnis von philosophischer Pflichtenlehre zu Christlicher Sittenlehre anbetrifft, so ist folgendes zu resümieren: Die Christliche Sittenlehre bietet - insofern sie eine Lehre des pflichtgemäßen christlichen Handelns entfaltet - in ihrer grundlegenden Ausdifferenziening des wirksamen und des darstellenden Handelns keine alternative Konzeption zur philosophischen Pflichtenlehre an. Vielmehr ist diese Ausdifferenzierung der Sache nach auch in der 358 In christlicher Terminologie: Der Mensch handelt aus Lust und Liebe zum Gesetz dem Gesetz gemäß und ohne dieses zu fluchten. 359 Aber diese Unvollkommenheit gibt es nur am im erläuterten Sinne vollkommenen Handeln. Es ist hier nicht der Ort, diese Figur der philosophischen Beschreibung der Ambivalenz des sittlich Handelnden mit der theologischen Figur des „simul iustus et peccator" zu vergleichen. Darum sei auf diese Fragestellung hier nur hingewiesen. 360 Vgl. Mariin E. Miller, Der Übergang, 71. 361 Vgl. Mariin E. Miller, Der Übergang, 228ff.

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philosophischen Pflichtenlehre vorbereitet. Sie ist als eine Ergänzung zur Aufteilung der Pflicht in Rechts-, Berufs-, Gewissens- und Liebespflicht anzusehen, und zwar so, daß dieses Pflichtraster sowohl im wirksamen als auch im darstellenden Handeln zur Anwendung gelangen muß. Bevor wir diese Thematik verlassen, müssen wir uns noch darüber Klarheit verschaffen, aus welchem Grund die Ausdifferenzierung des wirksamen und des darstellenden Handelns in der Christlichen Sittenlehre eine solch dominante Stellung einnimmt, während sie in der philosophischen Pflichtenlehre obwohl dort der Sache nach ebenfalls vorhanden - fast völlig in den Hintergrund tritt. Schleiermachers Christliche Sittenlehre kann als theologische Disziplin nur dadurch wissenschaftlichen Status erhalten, daß sie auf die Einsichten derjenigen Disziplinen im System der Wissenschaften rekurriert, die das in ihr thematische Gebiet bearbeiten362. Deswegen kann die Entwicklung der Lehre vom pflichtgemäßen christlichen Handeln nicht vorbei an der philosophischen Pflichtenlehre erfolgen. Als positive Wissenschaft folgt die Theologie in der Gewichtung dieser entlehnten Einsichten aber nicht mehr unmittelbar der Gewichtung dieser Einsichten in den jeweiligen Disziplinen, denen sie ihre Elemente verdankt163, sondern orientiert sich an dem ihr eigentümlichen Praxisinteresse. Auch die Christliche Sittenlehre muß in ihrer Rezeption der Einsichten der philosophischen Pflichtenlehre so verfahren, daß sie ihr Augenmerk besonders auf diejenigen Aspekte richtet, die ihrem Interesse dienlich sind, auch wenn sie im Kontext der philosophischen Pflichtenlehre nicht im Zentrum von deren Interesse stehen. Aus welchem Interesse folgt nun die Zentralstellung des darstellenden Handelns in der Christlichen Sittenlehre? Die Theologie insgesamt zielt auf die Bereitstellung derjenigen Kenntnisse und Fertigkeiten, ohne deren Besitz und Gebrauch keine zusammenstimmende Kirchenleitung möglich ist364. Zu diesen erforderlichen Kenntnissen gehört unter anderem die Kenntnis des je gegenwärtigen Selbstverständnisses christlichen Lebens inklusive seiner pflichtgemäßen Vollzugsgestalt. Dieser Aufgabe ist die Christliche Sittenlehre gewidmet. Deren leitende Fragestellung lautete bekanntlich: „Was muß werden aus dem religiösen Selbstbewußtsein und durch dasselbe, weil das religiöse Selbstbewußtsein ist?"365. Alle Prozeßgestalten christlichen Lebens sollen vor dem Hintergrund ihres Fundiertseins im 362 Vgl. ThES, 10: „Abgesehen von der Beziehung auf das KirchenRegiment fallt jedes theologische Element irgendeiner ändern Wissenschaft anheim." 363 Vgl. etwa KD2 §124, wo es zur neutestamentlichen Kritik und der auf sie zu verwendenden theologischen Arbeit heißt: „Es ist aber nicht leicht zu denken, daß ein Philologe ohne Interesse am Christenthum seine Kunst daran wenden sollte, sie für das Neue Testament zu lösen, da dieses an sprachlicher Wichtigkeit hinter ändern Schriften weit zurücksteht." 364 KD 2 §5 365 CS, 23.

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und Getragenseins vom religiösen Selbstbewußtsein entwickelt werden. Formal stellt sich diese Frage auch der philosophischen Pflichtenlehre: Was muß werden aus dem unmittelbaren Selbstbewußtsein der mit der Natur geeinigten Vernunft und durch dasselbe, weil das unmittelbare Selbstbewußtsein der mit der Natur geeinigten Vernunft ist? Aber hier ist die mit der Natur geeinigte Vernunft nur eine formale Größe, die sich in der Reflexion als notwendiges Steuerelement der sittlichen Welt erwiesen hat. Die Philosophische Ethik muß fordern, daß es in der sittlichen Welt vernünftig zugeht und dieselbe sich qua Vernunft auch tatsächlich immer mehr versittlicht. Sie ist aber nicht in der Lage, einen Punkt anzugeben, an dem sich ein solches Handeln vollzieht, das in dieser Hinsicht Gewißheit zu stiften vermag. Daher tritt das Moment der Darstellung in ihr notwendig zurück. Es gibt für sie kein Handeln, das sich als bestimmungsgemäßes pflichtgemäßes Handeln darstellt. Was es für die Philosophie gibt, sind stetig wechselnde Realisationsgestalten des Geeinigtseins von Vernunft und Natur. Ob und inwiefern diese Gestalten sich auf eine letzte unüberbietbare Realisation dieses Geeintseins zubewegen und diese auch tatsächlich erreichen, bleibt offen. Dem damit angebahnten ethischen Skeptizismus366 entgeht die Philosophie - nimmt man sie als Weltanschauung - nur ,4m Glauben an die Unendlichkeit der Vernunft an und für sich"367. Der Philosoph ist im Glauben - d.h. auf die Weise des unmittelbaren Selbstbewußtseins - dessen gewiß, daß es in der sittlichen Welt vernünftig zugeht, ohne doch einen geschichtlich gegebenen Gewißheitsgrund dieser Überzeugung angeben zu können. Auch der christliche Glaube ist der Bestimmungsgestalt der sittlichen Welt und deren Erreichung nur auf die Weise des unmittelbaren Selbstbewußtseins gewiß. Aber diese Gewißheit entzündet sich im Unterschied zum philosophischen Glauben an die „Unendlichkeit der Vernunft an und für sich" nicht an einer abstrakten Größe, sondern an dem geschichtlichen Faktum eines unüberbietbar vemunftorientierten - weil durch den göttlichen Geist orientierten Lebens368. Nur im Blick auf dieses Faktum ist aus christlicher Perspektive die Gewißheit zu gewinnen, daß alles menschliche Tun nicht letztlich der Sinnlosigkeit anheimfallt, sondern alle menschliche Unvollkommenheit - auch und gerade in der Kirche - einer solchen letzten Vervollkommnung entgegen geführt werden wird, die nicht nur ein komparatives „mehr" an Sittlichkeit ge366 Vgl .CS, 499f[ 1826/27]. 367 CS, 500 [l826/27]. 368 Vgl. CS, 371: „Nämlich indem sich in dem inneren Leben der Kirche die Herrschaft des heiligen Geistes manifestirt, durch die Darstellung aber dieses Leben Erscheinung wird: so wird dadurch der Geist selbst erscheinend und wahrnehmbar, und kann die Receptivität derer, die außerhalb der Kirche sind, wekken, so daß nun auch sie ihrerseits darstellen, daß sie den wahren Gegenstand ihres Verlangens gefunden haben. Und so war es ja auch in dem Leben Christi; die reine Darstellung seiner selbst machte ihm diejenigen sichtbar, auf welche er sein eigentlich verbreitendes Handeln richten konnte." - Nicht zuletzt deshalb bestreitet Schleiermacher vehement jede Trennung des kerygmatischen Christus vom geschichtlichen Jesus.

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genüber dem vorhergehenden „weniger" bedeutet, sondern schlechthin vollkommen ist369: „Wir sagen also, daß die Wirksamkeit des göttlichen Geistes in der Kirche an das göttliche Wort gebunden ist und auf dasselbe basirt, und hier ist nun der Begriff des Quantum gänzlich aufgehoben, denn das göttliche Wort in der Schrift ist uns nur das geschichtlich fixute göttliche Wort in Christo, der den Geist hat . So ist also ein unendliches in die unmittelbare Wirksamkeit aufgenommen, und deshalb kann der Prozeß der Annäherung in der -wechselseitigen Bedingtheit der Factoren doch angesehen -werden als über die Unvollkommenheit erhaben, weil er in der absoluten Unendlichkeit des göttlichen Wortes gegründet ist, das immer durch die Totalität auf den einzelnen und umgekehrt durch diesen auf jene wirkt"370. Die skeptische Position tritt sofort auch in der christlichen Kirche auf, wenn diese den Bezug auf ihr Proprium vernachlässigt371. In der Philosophischen Ethik - erst recht, wenn man sie als Metaethik versteht - gibt es nichts anderes darzustellen als die Resultate der formalen Reflexionsleistung. Diese geben an, welchen formalen Kriterien ein Handeln genügen muß, um vernünftig und in diesem Sinne pflichtgemäß zu sein. Sie geben dagegen nicht an, woher die handelnde Person denn Lust und Liebe zu einem solchen Handeln erhalten kann, in welchem sie treu zu den ihr in der Selbstbesinnung auf ihr unmittelbares Selbstbewußtsein erschlossenen Krite369 Vgl. Mariin E. Miller, Der Übergang, 79f.153.231. 370 CS, 500 [1826/27]. (Hervorh. i.O.) - Eine Anwendung dieser grundlegenden Einsicht auf den Gottesdienst als Kultus findet sich CS, 169f: „Aber andererseits ist das darstellende Handeln doch nie lediglich auf den Moment beschränkt, sondern es ist immer zugleich die Darstellung der christlichen Kirche an sich, und jede einzelne Gemeinschaft erscheint darin auch als ein Theil des unsichtbaren ganzen. Und das gilt nicht nur vom Räume, sondern auch von der Zeit; jedes darstellende Handeln giebt nicht nur den gegenwärtigen Moment des ganzen an und für sich, sondern auch in seinem Zusammenhange mit den früheren, zurükkgehend bis auf das Urchristenthum, die normale Zeit der Kirche. So aber immer gleichsam auf das absolute sich stüzend und den Geist der normalen Zeit wiedergebend, hat es die Tendenz, die Gemeinschaft weiter zu fördern, und das ist eben das Element, welches wir in der Kirchensprache das erbauliche des Gottesdienstes nennen. Liegt aber das in dem Wesen des darstellenden Handelns; so hat es auch an sich selbst das Remedium gegen die Gefahr, durch die Theilnahme derer, die eines wiederherstellenden Handelns bedürfen, verunreinigt zu werden, und in dem Maaße, als es so gestaltet ist, daß es den Charakter des normalen, des schriftmäßigen, in sich trägt, muß es über jede Besorgniß, durch den einzelnen herabgezogen zu werden, erhaben sein". 371 Vgl. GL2 §101.3, 11.100: „Denn nicht nur abgesehen vom Christentum erneuert sich immer wieder der Streit, ob die Übel in der Welt wirklich abnehmen oder nur ihre Gestalt verändern, in summa aber höchstens alles beim Alten bleibt: sondern auch in der christlichen Kirche selbst kehrt, je weniger der Mitgenuß der ungetrübten Seligkeit Christi Erfahrungstatsache ist, sondern nur auf jene allgemeine Hoffnung zurückgegangen wird, um desto stärker derselbe Zweifel wieder; und ganz gegen die eigene Zusicherung Christi wird die Seligkeit erst auf das Leben hinter der Zeit verwiesen, und dadurch doch für unabhängig von der allmählichen Verbesserung erklärt."

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rien vernünftigen Lebens zu stehen vermag angesichts der schreienden alltäglichen Unvernunft. Dargestellt wird hier folglich entweder eine ethische Skepsis als Grundton allen Handelns oder aber der alles Handeln autoritär regierende Appell: Handle vernünftig! Du kannst, denn du sollst! Die Christliche Sittenlehre nimmt alle Ergebnisse der philosophischen Selbstbesinnung bestätigend auf - soweit sie diese nicht überhaupt selbst erst im Dienste des theologischen Interesses an der Philosophie philosophisch entwickelt hat, wenn entsprechende philosophische Erkenntnisse fehlten oder defizitär waren. Das gilt selbst für die Verkündigung Jesu. Dieser hat ja bekanntlich das Gesetz - verstanden nicht als „der Juden Sachsenspiegel", sondern als Explikation der sittlichen Implikate des im unmittelbaren Selbstbewußtsein erschlossenen Wkklichkeitsverständnisses - nicht aufgehoben, sondern in seiner unbedingten Gültigkeit als sittliche Orientierungsgröße im Dienste des Lebens bestätigt. Was mit Jesus selbst hinzutrat, war keine weitere Ergänzung des kategorialen Gehaltes des Gesetzes. In dieser Hinsicht war die Entwicklung der sittlichen Selbsterkenntnis der Menschheit ausreichend: Die Zeit war erfüllt372. Vielmehr entzündete sich an seinem Zeugnis eines völlig mit dem göttlichen Willen konformen, weil von diesem geleiteten Lebens auch für andere die Lust und die Liebe, ein dem im unmittelbaren Selbstbewußtsein erschlossenen Wirklichkeitsverständnis entsprechendes Leben zu führen373 372 Vgl. CS, 302.315f [1826/27]. u. ö. 373 Vgl. CS, 316 [1826/27]: „Sagt man nun. Ja, aber die Kirche behauptet, die menschliche Vernunft sei durch die Sünde durchaus verderbt: so antworten wir, Das ist wahr, aber nur so, daß der Mensch nicht im Stande ist, vermöge seiner Vernunft etwas dem göttlichen Willen entsprechendes zu thun, nicht so, als ob die Empfänglichkeit absolut aufgehoben wäre; denn damit wäre der Mensch als Werk Gottes absolut verschwunden und rein ein Werk des Satans geworden, wogegen sich die Kirche zu allen Zeiten nicht weniger scharf erklärt, als sie behauptet, die Erlösung sei durchaus ein Werk der göttlichen Gnade. Um also nicht in Streit zu kommen mit der Kirchenlehre, darf man nur den Begriff der Empfänglichkeit recht rein halten. Sie wohnt dem ein, der zur gehört, die dem göttlichen Geiste entgegengesezt ist, und der selbstthätig nichts produciren kann, was dem göttlichen Willen entspricht, aber auch nimmer das Organ des göttlichen Willens werden könnte, wenn er nicht diejenige Empfänglichkeit in sich hätte, ohne welche die Einwirkung Christi und dann des Geistes niemals könnte aufgeregt werden." CS, 584(1824/25]: „der göttliche Geist ist ein rein inneres, er ist nichts als Kraft und bringt nicht zugleich ein besonderes äußeres mit". Vgl. auch: CS, 372. Das christliche Wirklichkeitsverständnis unterscheidet sich von demjenigen der anderen Religionen der höchsten Stufe (vgl. GL2 §§7-10) - hierzu wäre auch die Vernunftreligion der Philosophen zu rechnen - primär nicht durch seinen kategorialen Gehalt, sondern durch sein Wissen um die Kraftquelle des Strebens nach einer dementsprechenden Lebensführung. Das Sein des Christen in der Wirklichkeit ist nicht ästhetisch, sondern ideologisch (GL2 §9. §11). Im Verlauf einer vermittels des Lebenszeugnisses Christi ermöglichten Lebensführung gemäß dem gemeinsamen Wirklichkeitsverständnis aller Menschen erhält das allen Menschen grundlegend gemeinsame Wirklichkeitsverständnis dann aber in der Tradition christlicher Lebenserfahrung eine Konkretion, die es von anderen Weltanschauungen unterscheidet. In diesem Sinne ist es sachgemäß und notwendig, ein spezifisch christliches Wirklichkeitsverständnis zu behaupten und dieses zur Grundlage der Theologie zu machen und sich hier nicht auf

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ungeachtet aller äußeren Widerstände. Darum unterscheidet sich die christliche Frömmigkeit auch von all jenen monotheistischen Religionen, deren Stifter Moses und Mohammed - vorzüglich Stifter einer neuen Lehre oder eines neuen Gesetzes waren, ohne daß diese Stiftungen mit dem Lebenszeugnis ihrer Stifter auch zugleich die Verheißung ihrer Lebbarkeit und Erfüllbarkeit mit sich führten374. Daher kann aus christlicher Perspektive auch nur Jesu Lebenszeugnis als Urbild bestimmungsgemäßen Handelns gelten: nämlich als dasjenige gelebte Beispiel bestimmungsgemäßer sittlicher Existenz, das nicht Nachahmung des individuellen Lebensvollzuges Jesu verlangt, sondern im Glauben an ihn in allen Lebenslagen ein zuversichtliches Streben nach einem je individuellen bestimmungsgemäßen Lebensvollzug ermöglicht375. Und eben aus diesem Grund hat das christliche Handeln in allen denkbaren Handlungssituationen einen konkreten Bezugspunkt, von dem her und auf den hin auch alles wirksame Handeln des Christen orientiert ist. Es ist die Darstellung des Glaubens an Christum als einer alles Handeln begleitenden und fundierenden Gewißheit176, das Reich Gottes als bestimmungsgemäße Realisationsgestalt sittlichen Lebens sei hier und jetzt im Anbrechen, das Ziel geschichtlich-sittlichen Lebens sei im geschichtlich-sittlichen Leben selbst immer schon wirksam als dessen Kraftquelle377. Weil dieses der Grundgehalt christlichen Glaubens ist, kann sich die Beschreibung des diesem entsprechenden Handlungsvollzuges auch nicht darauf beschränken, Handeln nur unter dem Aspekt des „Mitten-inne- Seins" zwischen unterschiedlichen, gleich vergänglichen Realisa-

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die Ergebnisse der Reflexion auf die alle Menschen verbindende Erschlossenheit der gemeinsamen Wirklichkeit im unmittelbaren Selbstbewußtsein zu beschränken. Der Ausgang aller theologischen Argumentation vom im Bekenntnis formulierten christlichen Wirklichkeitsverständnis - und nicht von demjenigen der Soziologie, der Psychologie, der Pädagogik etc. - bedeutet nicht die arrogante Behauptung, daß die Theologie eine hermetische Wissenschaft sei mit einem von dem aller anderen - kategoriale Einsichten voraussetzenden - Disziplinen grundlegend abweichenden Wirklichkeitsbezug, sondern die schlichte Feststellung, daß die Theologie auf den Erfahrungsschatz von annähernd 2000 Jahren Selbstbesinnung auf die im unmittelbaren Selbstbewußtsein erschlossene Wirklichkeit zurückgreifen kann. Ein Erfahrungsschatz, der nicht zuletzt deshalb so wertvoll ist, weil er auch und gerade die Geschichte der Schwierigkeiten und Gefahren des Strebens nach einem dem im unmittelbaren Selbstbewußtsein erschlossenen Wirklichkeitsverständnis gemäßen Leben aufbewahrt. GL2 §11.4, 1.80: „Daher ist nun auch im Christentum das Verhältnis des Stifters zu den Gliedern der Gemeinschaft ein ganz anderes als in jenen. Denn jene werden vorgestellt als aus dem Haufen gleicher oder wenig verschiedener Menschen gleichsam willkürlich herausgehoben, und was sie als göttliche Lehre oder Ordnung empfingen, nicht minder für sich empfangend als für andere." Vgl. CS, 297f[1824/25]. Vgl. GL2 §14.1,1.94f; LJ, 307. Auch hier liegt letztlich die Anwendung einer grundlegenden psychologisch/metaethischen Einsicht in der Selbstauslegung christlicher Existenz vor: vgl. CS, Beil. A, 18 [§ 53]: „Der Mensch hat offenbar die Fähigkeit, auch im unmittelbaren Bewußtsein, im Gefühle, von der zeitlichen Bestimmtheit seines Daseins zu abstrahiren und sich desselben in seiner ewigen Natur, der Potenz nach, bewußt zu werden."

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tionsgestalten sittlichen Lebens zu thematisieren, sondern es muß den eschatischen Charakter alles auf Christus bezogenen und von diesem belebten Handelns ins Zentrum der Christlichen Sittenlehre rücken. Die Christliche Sittenlehre darf sich an diesem Punkt also gerade nicht der Selbstbeschränkung der Philosophischen Ethik auf den Bereich des geschichtlich-sittlichen Lebens als solchen unterwerfen 7 . Wenden wir uns nun Christi Handeln als Urtypus des pflichtgemäßen darstellenden Handelns zu. Nach unseren bisherigen Überlegungen ist dieses pflichtgemäße darstellende Handeln ein eschatisches Handeln, das die Berufs-, die Gewissens-, die Rechts- und die Liebespflicht erfüllt. Als Urtypus des pflichtgemäßen darstellenden Handelns der Christen scheint ihm jedoch genau derjenige Aspekt zu fehlen, der in Schleiermachers Perspektive die Dignität der Christlichen Sittenlehre - bzw. des Selbstverständnisses der christlich Handelnden überhaupt - gegenüber allen anderen ethischen Orientierungsangeboten ausmachte: sich selbst orientiert und belebt zu wissen von einem geschichtlich gegebenen vollkommenen Lebenszeugnis eschatischen Handelns. Wenn aber Jesu Lebenszeugnis nur dadurch zum Urtypus christlichen Handelns werden kann, daß es in allen seinen Aspekten ein vollkommen menschliches Lebenszeugnis war, dann muß auch das Handeln Jesu orientiert sein von einer Gewißheit, die sich an den ihm zugänglichen Traditionsgestalten sittlichen Lebens entzündete. Denn dies ist die Figur darstellenden Handelns: durch Wort und Tat in bestimmten Handlungssituationen Darstellung einer bestimmten je eigenen Handlungsgewißheit als entstanden in bestimmten historischen Traditionszusammenhängen für bestimmte andere zu sein. Als Urtypus eines eschatischen - seines Bezuges auf das im Anbruch befindliche Reich Gottes vollkommen gewissen - Handelns kann aber die das Handeln Jesu leitende Gewißheit nicht umstandslos aus den ihm vorgegebenen Traditionen abgeleitet sein, auch wenn er sie nur an diesen gewonnen haben kann. Jesu Lebenszeugnis muß also auf der einen Seite in einer Tradition eschatischen Handelns stehen und zugleich besteht auf der anderen Seite aus christlicher Perspektive die Nötigung, ihn als Urtypus eschatischen Handelns verstehen zu müssen. Wie dies beides zugleich möglich ist, dafür gibt es in den Ein-

378 An einigen Stellen sind bei Schleiermacher deutliche Ansätze zu einer Überwindung dieser philosophischen Selbstbeschränkung gegeben. So etwa CS, 76 [1824/25]: „Stellen wir uns zunächst auf den Standpunkt der rationalen Sittenlehre: so ist deutlich, daß diese nicht umhin kann zu fordern, daß der Mensch einer Religionsgemeinschaft angehöre, und zwar so, daß er es vor der Vernunft zu rechtfertigen wisse. Erkennt sie aber die religiöse Gemeinschaft als sittlich an, dann offenbar auch die derselben angemessene Darstellung des ganzen Lebens". (Vgl. hierzu CS, 75). Die Philosophische Ethik fordert hier offenkundig einen sich in allen Lebensbereichen durchhaltenden, sozial vermittelten Lebensstil, in welchem sich die religiöse Gewißheit der Person angemessen darstellt.

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lassungen Schleiermachers zum Charakter der handlungsleitenden Überzeugung einige Hinweise379. Nach Schleiermachers dort vorgetragener Auffassung ist es unmöglich, daß die absolute Gewißheit in die Erscheinung heraustritt380. Diese Relativierung wird explizit nur auf die verobjektivierende - und als solche für das Bewußtsein notwendige - Erfassung der Überzeugung bezogen: „Wir gehen immer davon aus, daß die Ueberzeugung von einem höchsten Wesen etwas der menschlichen Natur wesentliches, also eine allen Menschen gemeinsame und in gewissem Sinne absolute ist"3". Die Überzeugung selbst ist eine absolute, ihre bewußtseinsmäßige symbolische Erfassung dagegen nicht382. Damit wird auch sofort klar, worauf sich in diesem Gebiete der Zweifel an einer Überzeugung sinnvoll nur richten kann: „Da wird sich dann auch jeder als möglich vorstellen, daß Zweifel entstehen, freilich nicht in Beziehung auf die Sache selbst, wohl aber in Beziehung auf ihre Erscheinung im Bewußtsein"383. Die Überzeugung selbst, das bestimmte Erschlossensein der Wirklichkeit im unmittelbaren Selbstbewußtsein, ist infallibel. Als so unbezweifelbare Instanz ist sie die Bedingung der Möglichkeit eines Zweifels an ihren sie verobjektivierenden Ausdrucksgestalten. Es legt sich nun nahe, das Urtypische an Jesu Lebenszeugnis darin zu sehen, daß er sich in all seinen Lebensvollzügen der steten Differenz der unbezweifelbaren bestimmten Erschlossenheit der Wirklichkeit in ihrer schlechthinnigen Abhängigkeit von ihrem „woher" von den diese Überzeugung mehr oder weniger sachgemäß verobjektivierenden Ausdrucksgestalten inne war. Er nahm die ihm vorgegebene religiöse Tradition so auf, daß diese stets relativiert wurde auf ihre Funktion, jenem im unmittelbaren Selbstbewußtsein der Person erschlossenen Leben zu dienen, ohne doch mit diesem identisch sein zu können. Auch die ihm vorgegebene religiöse Tradition war Darstellung jenes inneren Lebens der Person, das als ein seiner Bestimmung gemäßes Leben immer eschatischen Charakter hat, aber es war zugleich stets auch dadurch eine Verstellung dieses Lebens, als es sich selbst nicht in ausreichendem Maße relativierte und statt dessen in seiner kontingenten Ausdrucksgestalt mit jener inneren Überzeugung identifizierte. Die strikte Trennung dieser beiden Aspekte in allen Lebensmomenten Christi und die damit ermöglichte Absolutheit - weil unverstellt von unberechtigterweise Absolutheit prätendierenden Objektivationen - seiner Gewißheit, 379 380 38« 382

CS, 212ff[1826/27].190ff. CS, 190. Ebd. Ebd.: „Und darin liegt auch gar kein Widerspruch; denn es giebt immer verschiedene Weisen, diese Ueberzeugung im Bewußtsein zu haben und darzustellen, also verschiedene Formen, in denen sie in die Erscheinung tritt, sowol auf dem religiösen als auf dem speculativen Gebiete". Vgl. auch: Psychologie, 196ff.212f. 383 CS, 190f Vgl. auch: CS, Beil.D, 191 [1831]: „Der wissenschaftliche Streit kann die innere Thatsache der Offenbarung niemandem rauben, der sie hat; er kann höchstens die Vorstellung, die jemand davon hat, gefährden".

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daß das Reich Gottes in ihm lebendig ist, unterscheidet das Lebenszeugnis Jesu von der ihm vorangehenden religiösen Tradition. Und auch die auf ihn folgende religiöse Tradition ist vor entsprechenden verabsolutierenden Mißdeutungen der Objektivationen ihres religiösen Selbstbewußtseins nur sicher durch den Rekurs aufsein Lebenszeugnis384. In diesem Lebenszeugnis offenbart sich die Wahrheit, die frei macht von allen falschen Verabsolutierungen der Werke menschlicher Selbstauslegung; die zu jenem seligen - weil bestimmungsgemäßen - Leben befreit, dessen Möglichkeitsrahmen im unmittelbaren Selbstbewußtsein erschlossen ist und dessen Wirklichkeit Christen im Lebenszeugnis Jesu urbildlich inne werden. In diesem Sinne interpretiert Schleiermacher auch folgerichtig Jesu messianisches Selbstverständnis3". Es wird darin nämlich nicht einfach die politische Interpretation des Messias durch eine geistige ersetzt386, sondern in der „Unmittelbarkeit des Bewußtseins"387 hatte Jesus den Kern der Messiasidee auch von deren politischer Interpretation! - gegenwärtig und bezog diesen Kerngehalt auf sich: „Also werden wir immer feststellen können: in demselben Maß als sich sein eigenthümliches Selbstbewußtsein in ihm entwikkelte, entwikkelte sich auch dieses in ihm, daß er der Zielpunkt der ganzen jüdischen Anordnung war und also auch der worauf alle diejenigen Ahnungen und Aussprüche hinzeigen, welche die Vollendung dieses göttlichen Rathschlusses mit dem jüdischen Volke darstellen sollten, also daß sein Selbstbewußtsein des Sohnes Gottes und sein Selbstbewußtsein des Gegenstandes der alttestamentlichen Verheißungen als eins und dasselbe angesehen werden muß. Es war das in ihm weder ein Resultat, das sich nur nach mancherlei Schwankungen fixirt hätte, noch muß man diese Ueberzeugung, daß er der Gegenstand der messianischen Weissagungen sei, als eine besondre göttliche Offenbarung ansehen, sondern es ist nur dasselbige eigenthümliche Selbstbewußtsein, nur in Beziehung auf die jüdische Geschichte und Nationalität"388. Auch in der Jesus vorangehenden religiösen Tradition gab es die Darstellung der im unmittelbaren Selbstbewußtsein der Person erschlossenen Idee eines vollendeten sittlichen Lebensvollzuges. Diese Idee wurde aber in einer sie selbst verstellenden Weise entfaltet. Damit wurde die Idee mit ihren geschichtlichen Explikationsversuchen verquickt und ebenso zweifelhaft wie diese389. Diese Situation fand nun im Lebenszeugnis Jesu nicht dadurch ihre Lösung, daß ihm „eine besondre göttliche Offenbarung" hinsichtlich der mes384 385 386 387 388 389

CS, 213 [1826/27]. Vgl. LJ, 138ff. LJ, 140 [Anm. b]. LJ, 141. LJ, 14If. Eine prinzipiell mit dem ethischen Skeptizismus in der philosophischen Ethik analoge Erscheinung.

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sianischen Idee zuteil geworden wäre, er somit nur eine die alte Lehre überbietende neue Lehre vorgetragen hätte, sondern vielmehr gerade dadurch, daß er alle einschlägige Lehre relativierte auf den im unmittelbaren Selbstbewußtsein der Person unbezweifelbar erschlossenen Kerngehalt aller dieser Lehren390. Damit wurde aber notwendig Jesus zum Urtypus allen eschatischen darstellenden Handelns, nämlich eines darstellenden Handelns, welches den im unmittelbaren Selbstbewußtsein der Person erschlossenen eschatischen Charakter aller Wirklichkeit - das Reich Gottes - nicht durch geschichtliche Ausdeutungen verstellt, sondern auf die Weise einer sich selbst auf ihren Gegenstand hin relativierenden geschichtlichen Selbstmitteilung in Wort und Tat ausspricht und verkündigt591: „Es ist nun aus allem gesagten hervorgegangen, daß wir nur als einen allmähligen Uebergang denken können die Entwikkelung dieses ihm eigenthümlichen Selbstbewußtseins und die Mittheilung desselben, und wenn wir das messianische Element hinzunehmen, so müssen wir beides auf dieses beziehen: in seine Entwikkelung gehörte auch dieses Sichtbarmachen der Entwikkelung der messianischen Weissagungen in Bezug auf sich; und das Aussprechen seiner selbst in dieser Beziehung, das mußte also werden seine Verkündigung vom Reiche Gottes"392. Jesu Handeln war zwar in allen menschlichen Lebensbereichen Darstellung seiner eschatischen Gewißheit, es wird aber in seiner Pflichtgemäßheit erst dann vollständig beschrieben, wenn man es orientiert am Raster der philosophischen Pflichtenlehre auffaßt393. Denn erst, wenn man den eigentümlichen Berufsbereich Jesu erfaßt, den er gewissenhaft ausfüllt und an welcher gewissenhaften Berufserfiillung sich durch sein Handeln eine Gemeinschaft der in all ihrer durch die Liebe aufgefaßten Individualität prinzipiell zur Gemeinschaft

390 Mit dieser methodischen Maßnahme ist durch Christi Beispiel in der Christlichen Sittenlehre ein Niveau erreicht, das etwa die Bemühung Fichtes auf dem Gebiet der philosophischen Pflichtenlehre überbietet: Dessen Grundfehler war es nach Schleiermacher, das lebendige Gefühl der Sittlichkeit mit dem Buchstaben zu vermischen. „In diesen Fehler können wir bei der christlichen Sittenlehre gar nicht gerathen, denn da soll jeder, durch den Besiz des Geistes, des lebendigen Princips der Gemeinschaft, vom Buchstaben befreit, dem Geiste folgen" (CS, 323; vgl. CS, Beil.B, 132 [N.B. zu §12]). 391 Vgl. Mariin E. Miller, Der Übergang, 121. 392 LJ, 142. 393 Für unsere Interpretation, die besagt, daß sich die Ausdifferenzierung von darstellendem Handeln und wirksamem Handeln, wie sie die Christliche Sittenlehre vorträgt, und die Ausdifferenzierung des Pflichtrasters in Berufs-, Gewissens-, Rechts- und Liebespflicht durch die philosophische Pflichtenlehre ergänzen, spricht auch die von Schleiermacher CS, 81-83 problematisierte Vollständigkeit des Schematismus der Christlichen Sittenlehre, der einer weiteren internen Ausdifferenzierung und Näherbestimmung bedürftig sei. Wobei diese Näherbestimmung der Sache nach den Überlegungen der philosophischen Pflichtenlehre entspricht.

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miteinander gleich Berechtigten - und gleich Verpflichteten - anknüpfte394, erhält die Auffassung seines Lebenszeugnisses ihre volle Konkretion. Christi Beruf war die Stiftung des Reiches Gottes395, die Stiftung einer Gemeinschaft also in bezug auf das allen Menschen im unmittelbaren Selbstbewußtsein erschlossene Bestimmungsziel geschichtlich-sittlichen Lebens. Damit ist der „Sitz im Leben" von Christi eschatischem darstellenden Handeln das darstellende Handeln als individuelles Symbolisieren: explizite Selbstdarstellung in Wort und Tat396. Es kann im Rahmen unserer Untersuchung nicht im einzelnen erhoben werden, in welchem Sinne Christi Handeln dabei auch in urtypischer Weise dem Pflichtraster der philosophischen Pflichtenlehre entsprochen hat397. Wir müssen uns hier auf dasjenige beschränken, was Christi Handeln als Urtypus des pflichtgemäßen christlich-kultischen Handelns betrifft. Hier ist zunächst zu notieren, daß für das Feld des kultisch-darstellenden Handelns Jesu Lebenszeugnis nur an einer Stelle der Christlichen Sittenlehre und auch nur als resümierende Zusammenfassung - besonders pointiert herangezogen wird. Das könnte erstaunen, deutet aber doch wohl eher darauf hin, daß das darstellende Handeln, welches die Christliche Sittenlehre als Grundmodus christlich- sittlichen Handelns aufzeigt, das als solches in Jesu Lebenszeugnis sein Urbild erhalten hat, eben nicht auf einen Teilbereich der sittlichen Welt eingeschränkt werden kann. Das darstellende Handeln ist vielmehr ein Modus des Handelns, der eine das Handeln der Person in allen Lebensbereichen charakterisierende Prägung zum Ausdruck bringt - auch im Bereich kultischen Handelns, aber nicht nur dort. Und dieser Einsicht entspricht die Bezugnahme auf Jesu Lebenszeugnis in dieser Hinsicht durch die Christliche Sittenlehre. Die Stelle lautet: „Christus spricht, Des Menschen Sohn ist ein Herr auch über den Sabbat; also muß auch der göttliche Geist in der Gemeinde, der allein Christi Stelle vertritt, ein Herr sein auch über den Sabbat; also darf auch, und das ist die protestantische Regel, aus nichts bestehendem in dem Gottesdienste ein nöthigendes Gesez gemacht werden und alles bestehende muß immer der christli394 All dies läßt sich zusammenfassend benennen als die ethische Erfassung des Ortes Jesu im Reich Gottes. 395 CS, 291f.;vgl. CS, 74f u.ö. 396 Vgl. GL2 §§100-105 (Lehrstück: Von dem Geschäft Christi); LJ, 244-424 (innere Seite des öffentlichen Lebens Jesu bis zu seiner Gefangennehmung [=Selbstmitteüung Christi unter der Form der Lehrtätigkeit; Selbstmitteilung Christi in der gemeinschaftstiftenden Tätigkeit]). 397 Daß die einschlägige Terminologie der philosophischen Pflichtenlehre von Schleiermacher auch in der Beschreibung von Christi erlösendem und versöhnendem Handeln herangezogen wird, ist deutlich. So etwa in der Rede vom „Beruf Christi" oder der Aufnahme des in der philosophischen Pflichtenlehre grundlegenden Begriffes des „geschichtlichen Anknüpfens" (CS, 213. u.ö.). Daß Christi Handeln nach Schleiermacher der Liebespflicht ebenso entsprach wie der Gewissenspflicht, unterliegt wohl keinem Zweifel.

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eben Freiheit der Gemeinde untergeordnet bleiben, damit jedem Mißverhältnisse zwischen dem Typus des Gottesdienstes und dem Gesammtzustande der Gesellschaft könne vorgebeugt werden"39*. Wie für das eschatisch darstellende Handeln überhaupt, so gilt auch hier für das kultische Handeln: Es ist nur dann sachgemäße Darstellung des eschatischen Grundzuges der geschichtlich- sittlichen Welt, wenn und insofern es alle seine Realisationsgestalten relativiert hin auf deren im unmittelbaren Selbstbewußtsein der Person erschlossenen eschatischen Kern. Dieser wird verstellt, sobald man aus seinen menschlichen Objektivationen „ein nöthigendes Gesez" macht. Das eschatisch darstellende Handeln hat auch im Kultus den Maßstab seiner Sachgemäßheit nicht an einem zu ihm nötigenden Gesetz, sondern an dem zu ihm befreiten, zur Darstellung seiner eschatischen Gewißheit drängenden unmittelbaren Selbstbewußtsein. In jedem anderen Falle, in jeder Orientierung an einem anderen Maßstab, wird das darstellende Handeln stante pede zu einem das Eschaton verstellenden Handeln399. Die in Christi Lebenszeugnis begründete christliche Freiheit, die auch das kultische Handeln der Christen und somit den zentralen Bezug auf Christus selbst belebt, wird besonders spürbar in Schleiermachers Einlassungen zum Herrengebet, die sich in seiner Praktischen Theologie und an anderen Stellen finden400. Dieses Gebet ist von einem unerschöpflichen Gehalt, weshalb jeder Christ „mit ganzer Seele dabei sein" und es mit seiner Individualität füllen kann401. Es ist ein urbildliches Gebet, das mehr als symbolische Dignität besitzt402, folglich in seinem Wortlaut rein und unverändert tradiert werden soll. Aber selbst dieses Gebet Christi ist in all seiner symbolischen Dignität zu relativieren hin auf seinen lebendigen Kerngehalt. Besteht begründeter Anlaß zu der Vermutung, daß der häufigere Gebrauch des Herrengebetes das Mechanische und Gedankenleere befördert und seinen lebendigen Kern verstellt: so muß man es „unterlassen und nicht eher wieder entführen als bis jenem abgeholfen ist"403. 398 CS, 599 [l826/27]. 399 Im Anschluß an CS, 180f könnte man diese Alternative auch mit den Ausdrücken offenbarendes und verdunkelndes Handeln bezeichnen. 400 PrTh, 200.761; GL2 §§146f; SW 1.2, 125ff; KSP II, 80ff. 40t PrTh, 200. 402 Ebd. 403 Ebd. Vgl. PrTh, 761. Vgl. auch KSP II, 80: „Der dritte Bestandteil der öffentlichen Religionsübungen ist das Gebet, in Beziehung auf welches ebenfalls große Mißbräuche statt finden. Unter diesen ist wohl oben an zu stellen die übermäßige ganz sinnlose Wiederholung des Gebetes Christi. Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, ob es überhaupt mitgetheilt worden, um als ein wörtlich feststehendes, immer gleich zusammengefügtes Ganze gebraucht zu werden, oder vielmehr nur überhaupt um die Natur des christlichen Gebetes und die großen Gegenstände desselben anschaulich zu machen; wiewohl sich sehr vieles gegen jene und für diese Meinung sagen ließe. Auf jeden Fall aber muß es jedem Christen, ja überhaupt jedem Freunde des Gebetes höchlich zuwider sein, daß unsere kirchlichen Einrichtungen recht absichtlich darauf auszugehen schei-

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Einen dem entsprechenden Befund geben auch die Aussagen Schleiermachers zum prophetischen Amt Christi in seiner Glaubenslehre - der umfangreichsten zusammenhängenden Textmasse, die als Beschreibung des urbildlichen darstellenden Handelns Christi gelten darf*04. Christus bediente sich der im Judentum geordneten Lehrfreiheit so, daß er dieselbe „in dem möglichst größten Umfang zu gebrauchen" wußte405, d.h. ohne eine Vermischung derselben mit anderen Geschäften oder eine seine Authentizität beeinträchtigende Zugehörigkeit zu einer der verschiedenen jüdischen Sekten406. Mit Blick auf die Quelle der Verkündigung Christi liegt das Urbildliche seiner prophetischen Tätigkeit, seiner Selbstdarstellung in Wort und Tat, darin, daß diese Quelle die von geschichtlichen Lehrtraditionen unverstellte, dieselben vielmehr nur zur Darstellung ihrer selbst in Dienst nehmende „rein ursprüngliche Offenbarung Gottes in ihm"407 war, also seine im unmittelbaren Selbstbewußtsein erschlossene Gottessohnschaft. Mit Blick auf den Inhalt der Verkündigung beschreibt Schleiermacher das Urbildliche in Christi prophetischer Tätigkeit im Gegenüber zu allen anderen Propheten folgendermaßen: „Nämlich wie dem Propheten oblag, dem Impuls, der ihm als ein göttlicher geworden war, vollkommen durch seine Rede Genüge zu leisten und den ganzen Inhalt desselben wiederzugeben, welches immer eine bestimmte und beschränkte Aufgabe war: ebenso war die Selbstbestimmung Christi zum Lehren die Aufgabe, dem kräftigen, das heißt zugleich auch schöpferischen Gottesbewußtsein, wie es sich in seinem geistigen Organ ausprägte, vollkommen zu genügen, und es in seinem Leben so wiederzugeben, daß dadurch auch das Aufgenommenwerden der Menschen in seine Gemeinschaft bewirkt wurde. Denn einen ändern Maßstab des Erfolgs, und also auch der Vollkommenheit der Lehre kann man hier nicht anlegen"408. Das Urbildliche in der darstellenden Tätigkeit Christi liegt in der Verabschiedung eines jeglichen Selbstwirkenwollens. Alle Wirksamkeit wird dem in ihm wirksamen schöpferischen Gottesbewußtsein überlassen, das folglich möglichst treu und vollständig darzustellen ist. Der „Erfolg" des darstellenden Handelns Christi ist kein Werk desselben - dann wäre es ein wirksames Handeln -, sondern das Werk des sich in demselben offenbarenden Schöpfers409.

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nen, es zu einer gedankenlos abgesprochenen Formel herabzuwürdigen. Denn dies ist die ganz natürliche Folge seines gegenwärtigen Gebrauches". GL2 §103. Wobei hier natürlich die oben bereits erwähnten Einschränkungen berücksichtigt werden müssen. GL 2 § 103.2,11.109. Ebd. GL 2 § 103.2,11.110. GL2 §103.2,11.111. Daß der „Erfolg" dieser prophetischen Tätigkeit Christi nicht ein Werk desselben sein kann, erhellt völlig aus Schleiermachers Aussagen im Zusammenhang der Erwählungslehre: GL2 §§ Hoff.

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Und die Vollkommenheit dieses urbildlichen darstellenden Handelns Christi bewährt sich darin, daß es „den ganzen Inhalt" des göttlichen Impulses vollständig wiedergibt, was nur als eine das ganze Leben bis zum Sterben umfassende Selbstdarstellung möglich ist. Diese Überlegungen orientieren offenkundig auch Schleiermachers Auffassung vom darstellenden Handeln im Kultus der christlichen Kirche, wie sie in der Praktischen Theologie aufgenommen wird. Auch das darstellende Handeln im Kultus der christlichen Kirche hat den Maßstab seiner Vollkommenheit in der Vollständigkeit der Wiedergabe des religiösen Gefühlsgehaltes, was nun aber nicht vermittels des Totaleindruckes einer einzelnen Person geleistet werden kann - selbst nicht durch einen bis in deren Sterben hinein reichenden Totaleindruck -, sondern nur gelingen kann in der geschichtlichen Selbstdarstellung der christlichen Kirche - bis ans Ende aller Geschichte der christlichen Kirche: „Geht man in die Idee, so scheint der Cultus nur vollständig in eher Darstellung welche die Modalitäten des religiösen Bewußtseins umfassend erschöpft. So ist er ein unendliches Ganzes, das nur in der ganzen Geschichte der christlichen Kirche sich allmählig entwikkelt. Dieses ganze aber liegt über die Grenzen der Theorie hinaus; man sieht es nur werden"410. Es wird hier auch deutlich, weshalb Schleiermachers Gottesdiensttheorie so überaus zurückhaltend ist in der Beschreibung sowohl der geschichtlichen Gestalt von Jesu urbildlichem darstellenden Handeln als auch der geschichtlichen Gestalt des kirchlichen Kultus. Die Theorie würde sich nämlich dann selbst im Wege stehen. Das Urbildliche in Jesu Lebenszeugnis geht nicht auf in dessen geschichtlicher Gestalt, sondern hegt in der Jesu ganzes Lebenszeugnis durchziehenden Relativierung dieser geschichtlichen Gestalt hin auf ihren eschatischen Kern. Auch Jesus konnte denselben nicht „machen", in seiner Selbstauslegung und Selbstdarstellung produzieren, sondern auch er sah seine geistige Entwicklung nur werden als etwas, das er gehorsam zu vollständiger Darstellung zu bringen suchte in allen seinen Lebensvollzügen. Genauso können auch die Gottesdiensttheorie und der christliche Kultus das religiöse Bewußtsein nicht „machen", sondern nur gehorsam im Dienste von dessen Werdegestalten stehen, indem sie die Modalitäten des religiösen Bewußtseins vollständig zu erfassen und treu darzustellen suchen. Es ist gerade auch eine besondere Stärke von Schleiermachers Gottesdiensttheorie, daß auch sie selbst stets um die Relativierung ihrer selbst wie die Relativierung des in ihr thematischen Handelns hin auf das im darstellenden Handeln sich offenbarende eschatische Leben bemüht ist. Genau darin steht sie in der Tradition von Christi urbildlichem pflichtgemäßen darstellenden Handeln. Denn dieses ist ja die ent410 PrTh, 750f. Vgl. PrTh, 754: „Soll aber der Cultus vollständige Darstellung des religiösen Bewußtseins sein: so muß dieses auch dargestellt werden in seiner freien Einwirkung auf alle Theile des Lebens".

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scheidende Pointe der bisher vorgetragenen Überlegungen zum urbildlichen darstellenden Handeln Christi: daß es im darstellenden Handeln um die Selbstrelativierung der darstellenden Person hin auf das sich in ihr darstellende eschatische Leben geht. Nur so ist dieses Handeln pflichtgemäß, denn nur so ist es die getreue Darstellung der in der Person kräftigen Tugend. Und all dieses geschieht ohne jede Vergleichgültigung der darstellenden Person41'.

B. Das pflichtgemäße Handeln der Christen Auch für das pflichtgemäße Handeln der Christen im Kultus gilt nach allem bisherigen als ein Maßstab, der von Schleiermacher durchgehend in den Vordergrund gerückt wird, daß prinzipiell kein christliches Handeln pflichtgemäß ist, das sich nicht selbst relativiert - nota bene: nicht vergleichgültigt! - hin auf das im urbildlichen Lebenszeugnis Jesu sich offenbarende eschatische Leben 412 . Dieses absolute Erhabensein Christi über alle Christen beinhaltet eine wesentliche Gleichheit aller Christen untereinander413. Zusammen mit der Einsicht, daß die Abbildung und Fortbildung des urbildlichen Lebenszeugnisses Jesu keinem einzelnen allein möglich ist, sondern die gemeinschaftliche Aufgabe aller Christen ist, folgt daraus die typisch protestantische Auffassung des pflichtgemäßen christlichen Lebens als eines Kirche konstituierenden Gemeinschaftslebens414. Dieses Gemeinschaftsleben vollzieht sich notwendig in der „Duplicität von Spontaneität und Receptivität": „ein Sich selbst anderen mittheilen und ein Das christliche Leben und Dasein anderer, ihr Verhältnis zum göttlichen Geiste, in sich aufnehmen"415. Als Aspekt eines lebendigen 411 So verweist Jesus in seinem Lebenszeugnis stets auf den himmlischen Vater, aber es ist eben sein Lebenszeugnis, welches auf den himmlischen Vater verweist. 412 Vgl. CS, Beil.A, 15 [§44]: „Das eigenthümliche in dem Leben des Christen, sein Grundzustand, ist Gemeinschaft mit Gott durch Christum. Der Christ ist sich dominirend bewußt, daß das Aufgenommensein des göttlichen Princips in seine Natur nur ein relatives ist, welches nur Wahrheit bekommen kann durch die symbolische und historische Beziehung auf eine absolute Einheit beider, welche in Christo ist". Vgl. auch: GL2 §11.§14. 413 Vgl. CS, 518ff.541f.570.574; CS, Beil.A, §§76f u.ö. 414 CS, 519: „Nun aber müssen wir hier gleich wieder darauf merken, daß diese Construction der christlichen Kirche aus dem Bewußtsein der wesentlichen Gleichheit aller Christen, deren Formel man hier kurz so fassen könnte, daß der Geist in jedem einzelnen sich zugleich auch des Besizes aller anderen will bewußt werden und daß er von jedem aus das Bewußtsein, dieses einzelne Organ zu besizen, auf alle anderen übertragen will, denn auf diesem gegenseitigen In sich aufnehmen des Bewußtseins beruht die ganze Aufgabe des darstellenden Handelns - daß diese Construction der christlichen Kirche auch schon die eigenthümlich protestantische ist. Denn die katholische Kirche nimmt eine ursprüngliche Ungleichheit in ihre Construction auf, nämlich den Gegensaz zwischen Priestern und Laien". - Vgl. Wolfgang Steck, Grund und Grenze des Amtes in der Evangelischen Kirche. 415 CS, 521. Vgl. CS, 159f.365ff.366[1824/25].432[1826/27].542.

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Prozesses befinden sich Rezeptivität und Spontaneität niemals in einem absoluten, sondern immer nur in einem relativen, durch ordnendes Handeln herzustellenden Gleichgewicht funktionaler Ungleichheiten416. Diese Überlegungen sind natürlich zentral für das Verständnis des protestantischen Gottesdienstes als Kultus - besonders im Gegenüber zum katholischen Meßgottesdienst417. Denn für Schleiermacher entspricht eigentlich nur der protestantische Kultus dem Begriff des darstellenden Handelns, wie er am urbildlichen darstellenden Handeln Jesu gebildet worden ist. Denn nur im protestantischen Kultus ist das Organisationsprinzip der funktionalen Ungleichheit im Kultus - wie in allen kirchlichen Bereichen - gebildet aus der Selbstrelativierung aller am Kultus beteiligten wesentlich Gleichen hin auf das im urbildlichen Lebenszeugnis Jesu offenbare eschatische Leben. Die mit der aktiven Darstellung im Kultus betrauten Personen stellen nämlich gerade nicht eine ihnen eigene höhere Glaubensstufe dar, einen character indelebilis etwa, sondern sie stellen allen am Kultus beteiligten Personen - auch sich selbst - dasjenige Lebenszeugnis vor Augen, das ihnen innerlich als Urbild eschatischen Lebens gewiß ist418. Das in diesem Urbild offenbare eschatische Leben ist nach protestantischer Auffassung dann auch die Kraft, der im Kultus - wie im darstellenden Handeln überhaupt - alle Wirksamkeit zu überlassen ist419. Nur weil das so ist, weil der Liturg eine Funktion, ein Amt im Dienste dieser Kraft wahrnimmt, nicht aber selbst für die Wirksamkeit seines Tuns bürgen muß, sondern nur für die nach menschlichem Ermessen sachgemäße Wahrnehmung des Amtes der Evangeliumsverkündigung verantwortlich ist, nur deshalb ist das ministerium verbi divini ein Menschen mögliches Unterfangen420. Was im übrigen natürlich nicht 416 CS, 542: „Denn wo eine solche Duplicität ist, da kann nun nicht in einem gegebenen Momente ein absolutes Gleichgewicht bestehen, sondern es kann immer nur hergestellt werden durch einen Wechsel von partieller Unterordnung und darin liegt der Grund, daß der Gleichheit subordmirt eine Ungleichheit vorhanden ist". 417 CS, 542ff. 418 Vgl. auch: CS, 431f [1826/27]. 419 Vgl. CS, Beil.D, 184 [1831]: „Was wesentlich in der evangelischen Kirche organisirt ist, ist die freie Wirksamkeit des durch das Wort, dessen Fülle niemals von uns erschöpft ist und das wir an jedem Punkte immer noch reiner aufTassen müssen. Was also außer jener Wirksamkeit in der Kirche organisirt wird, dafür muß immer die Rectification vorbehalten bleiben. D.h. außer der freien Wirksamkeit des göttlichen Geistes durch die Schrift darf nichts als absolut feststehend, sondern alles nur als provisorische Annahme und so angesehen werden, daß es einer beständigen Revivion unterworfen bleibt. Darum sind alle Feststellungen in der evangelischen Kirche, die nicht die Methode ihrer Verbesserung von Anfang an in sich tragen, unevangelisch". Vgl. auch: CS, Beil.D, 184 [§68], CS, 159.164.169f.204f. 420 Vgl. CS, 164: „Wir müssen aber sagen, daß es eine Schwäche ist, sich durch den persönlichen Zustand dessen, der im Cultus fungirt, stören zu lassen, und wie unsere evangelische Kirche den Saz aufstellt, daß die Wirksamkeit des göttlichen Wortes nicht aufgehoben werde durch die Unvollkommenheit derer, die es administriren: so müssen wir auf das bestimmteste fordern, daß die Gemeinde abstrahiren lerne von dem Gefühle, welches ihr der sittliche Zustand des einzelnen lehrenden einflößt. Doch auch darauf müssen wir halten, daß der lehrende, sobald auch sein Erkenntnißvermögen

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nur für das Amt der öffentlichen Evangeliumsverkündigung gilt, sondern in gleicher Weise für den einem jeden Christen übertragenen Dienst am göttlichen Wort. Die Differenz zwischen beiden liegt einzig in ihrem Organisationsniveau421. Welche Gesichtspunkte werden nun von Schleiermacher dogmatisch für das pflichtgemäße kultische Handeln geltend gemacht? Hier ist zunächst daraufhinzuweisen, daß auch die dogmatische Besinnung auf den Gottesdienst den Bedingungen aller dogmatischen Arbeit unterliegt: nämlich die zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Konfession gültige communis opinio wissenschaftlich fixieren zu müssen. Dabei profiliert sich die dogmatische Besinnung stets im Gegenüber zu den mit ihr konkurrierenden Explikationsversuchen und Orientierungsangeboten, die den Protestanten im alltäglichen Leben begegnen und somit ihre Selbstdeutung mit beeinflussen. In Schleiermachers Glaubenslehre erfolgt deren Profilierung vorzüglich in der Auseinandersetzung mit den auf dem Gebiet der Glaubenslehre am meisten öffentlich als Konkurrenten in Erscheinung getretenen Strömungen des Rationalismus und des Supranaturalismus. Diese sind zwar auch in der Christlichen Sittenlehre mit im Blick422, treten jedoch hinter zwei anderen kritischen Bezugspunkten zurück: dem römischen Katholizismus sowie den christlichen Kleingruppen und Sektierern423. Denn es sind eben diese beiden Gruppen, die am pointiertesten mit einem mit dem Protestantismus konkurrierenden christlich-religiösen Lebensstil in der Öffentlichkeit hervortreten. Vor allem der römische Katholizismus wird von Schleiermacher durchgängig in die Diskussion der Christlichen Sittenlehre aus der Perspektive des Protestantismus einbezogen. Dieser Befund legt es nahe, die Einholung der programmatischen §§23f der Glaubenslehre - die notwendige Profilierung der protestantischen Dogmatik im gegenüber zur römisch-katholischen - vorzüglich in der Christlichen Sittenlehre realisiert zu sehen, während die Glaubenslehre selbst in ihrer durchgängigen Auseinandersetzung mit Rationalismus und Supranaturalismus weit stärker dem Gegenüber zu den in §22 konstruierten natürlichen Ketzereien verpflichtet ist. Dabei müssen die Bezugspunkte dieser kritischen Profilierung der protestantischen Auffassung selbstverständlich ebenfalls zunächst einmal in ihrem Wesen verstanden, d.h. dem psychologisch/ethisch fundierten durch seine Unlauterkeit befangen gehalten ist, also eine Neigung in ihm ist, das göttliche Wort selbst zu alteriren, als lehrender nicht mehr ftmgiren darf'. 421 CS, 158: „Denn wo Kraft des Geistes über die Natur ist und sich äußert, da ist diese Aeußerung rein als solche darstellendes Handeln, und wo diese Darstellung, dieses Heraustreten des religiösen Lebens in die Erscheinung organisirt ist, da ist es Cultus". Vgl. auch CS, 431 [1826/27]: „Diese Ansicht vom christlichen Lehramt, daß es nur die organisirte Steigerung ist von der allgemeinen verbreitenden Thätigkeit in der Kirche, nicht etwas davon specifisch verschiedenes, ist eine rein evangelische". 422 Vgl. etwa CS, 303f.312ff. 423 Exemplarisch werden hier stets die Quäker genannt.

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religions-philosophischen Schematismus eingeordnet werden. Dies ist auch tatsächlich der Fall. Und es bestätigt sich zugleich unsere These, daß es gerade die Christliche Sittenlehre ist, die sich im Gegenüber zum römisch-katholischen Christentum profiliert. Denn in weit stärkerem Maße als in der Glaubenslehre wird in der Christlichen Sittenlehre die Grenzziehung des sittlich-religiösen Möglichkeitsrahmens so vorgenommen, daß der römische Katholizismus als Realisation eines Grenzpunktes gedeutet wird424. Am deutlichsten in Anlehnung an das Argumentationsmuster der philosophischen Pflichtenlehre entfaltet Schleiennacher das darstellende Handeln in dem vom Herausgeber Jonas als Beilage A zur Christlichen Sittenlehre abgedruckten Manuskript aus dem Jahre 1809425. Der dort mit der Abhandlung des darstellenden Handelns beschäftigte erste Teil der Christlichen Sittenlehre umfaßt drei Abschnitte426. Der erste Abschnitt ist „Das darstellende Handeln" betitelt427, der zweite Abschnitt verhandelt „Das darstellende Handeln als repräsentatives und correctives"428. Der abschließende dritte Abschnitt ist überschrieben: „Das darstellende Handeln als universelles und individuelles"429. Die mit der Näherbestimmung des darstellenden Handelns beschäftigten Abschnitte sind Differenzierungen gewidmet, die bereits im Gefühl selbst vorliegen430 und die uns bereits aus Schleiermachers philosophischer Pflichtenlehre vertraut sind. Offensichtlich ist dies bei der Differenzierung des individuellen vom universellen Handlungsaspekt431. Weniger offenkundig ist die sachliche Übereinstimmung bei der Unterscheidung des repräsentativen und des korrektiven Momentes432. Die hier gemeinte Differenz wird von Schleiermacher auch als die zwischen einem erhaltenden und einem fortbringenden433 Hand424 Diesem Grenzpunkt steht das Quäkertum gegenüber: vgl. CS, Beil.A, §§105f; Beil.B, §17; CS, 542ff. 425 Wie die vielfältigen Randbemerkungen belegen - von Jonas größtenteils auf 1820 datiert -, orientiert sich Schleiermacher auch in späteren Jahren noch an diesen frühen Unterlagen. 426 Später ordnet Schleiermacher das wirksame Handeln dem darstellenden Handeln im Aufbau der Christlichen Sittenlehre vor. 427 CS, Beil.A, §§64-98. 428 §§99-152. 429 §§153-176. CS, Beil. A, §63 erläutert die Differenz des universellen und des individuellen als den Unterschied eines in der Form gebundenen [§58: „ein unter allgemeinen Formeln befaßbares Handeln"] von einem freien [§59. „ein besonderes in der Eigenthümlichkeit des einzelnen gegründetes Handeln"] Darstellen. 430 CS, Beil.A, §§49ff.57ff.l00.155 431 Vgl. PhE, 462[§17].412[§37]. 432 „Correctiv" ist kein Synonym für „reinigend" bzw. „wiederherstellend". Das korrektive Handlungsmoment will Schleiermacher ausdrücklich nicht verwechselt wissen mit der auch dem darstellenden Handeln immer noch eigenen Wirksamkeit: CS, Beil. A, 34 [Rb zu §100]. Schleiermacher selbst verwischt aber im weiteren Verlauf immer wieder die Grenzen zwischen dem korrektiv-darstellenden Handeln und dem wirksamen 433 CS, Beil.A, §63; vgl. auch §§57f.49f.

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lungsaspekt angesprochen. Damit nimmt sie deutlich Bezug auf die Unterscheidung der philosophischen Pflichtenlehre zwischen einem Handeln, das Gemeinschaft aneignet, und einem solchen, in welchem Gemeinschaft gestiftet wird434; zwischen einem anknüpfenden und einem produzierenden435/ erzeugenden436 Handeln. Und wie in der philosophischen Pflichtenlehre so wird auch in der Christlichen Sittenlehre beansprucht, in der Besinnung auf diese beiden Differenzierungen das pflichtgemäße Handeln vollständig abzubilden sei es im Bereich der Darstellung oder dem der Wirksamkeit437. Im Unterschied zur philosophischen Pflichtenlehre werden allerdings die beiden Differenzierungen nicht mehr ausdrücklich gekreuzt, was ja in der philosophischen Pflichtenlehre zur Aufstellung des Pflichtrasters rührte (Berufs-, Rechts-, Gewissens- und Liebespflicht). Der Sache nach ist aber all dies auch in der Lehre vom darstellenden Handeln, wie sie die Christliche Sittenlehre bietet, mit im Blick. Dies ist nun genauer zu betrachten. Die Lehre vom darstellenden Handeln wird im Manuskript von 1809 im einzelnen wie folgt entwickelt: Die Dreiteilung der Lehre vom darstellenden Handeln in die oben genannten Abschnitte ist motiviert in der allgemeinen Einleitung zur Christlichen Sittenlehre. Diese entfaltet die Gegensätze von darstellendem und wirksamem Handeln439. Diesem Gegensatz sind untergeordnet der Gegensatz des Gemeingefühls und des persönlichen Gefühls439 sowie der Gegensatz des universellen und des individuellen Gefühls440. Diese Gegensätze dienen zum Gerüst der Darstellung eines jeden der beiden Haupthandlungsarten (darstellendes - wirksames Handeln)441. Die drei Abschnitte der Lehre vom darstellenden Handeln folgen dieser Planung ganz getreulich: I.Abschnitt: Das darstellende Handeln (im Gegenüber zum wirksamen)442: §§64-98.

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Vgl. PhE, 462 [§16]. PhE,407f[§§6fl]. PhE, 464f[§25]. CS, Beil. A, §63: „Die ganze Darstellung [der Christlichen Sittenlehre] zerfällt uns also in drei Hauptstücke, Das darstellende Handeln, das reinigende und verbreitende. Jedes von diesen ist theils erhaltend theils fortbringend, und jedes von diesen theils unter der Form gebunden, theils frei". CS, Beil.A, §§43-56. CS, Beil.A, §§49f.§§57f. - Auch das persönliche Gefühl, das hier gemeint ist, ist das ihrer Sozialetat Innesein der Person. „Persönlich" ist hierbei, daß unter Umständen der Einzelne ein richtigeres Gefühl vom Wesen der Gemeinschaft haben kann als das öffentlich artikulierte Gemeingefühl (vgl. §58). Auch das persönliche Gefühl ist also ein Gemeingefühl. CS, Beil.A, §51.§§59f. CS, Beil.A, §61. CS, Beil.A, §61: „Jedes darstellende Handeln muß zugleich ein wirksames Element haben als Minimum und umgekehrt".

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2.Abschnitt: Das darstellende Handeln als „repräsentatives" und „correctives"443: §§99-152. 3.Abschnitt: das darstellende Handeln als „universelles" und „individuelles"444: §§153-176. Der erste Abschnitt führt zunächst ein die Unterscheidung des Gehaltes der religiösen Darstellung445 von ihrer Sozialgestalt446. Der Gehalt der Darstellung ist „Seeligkeit"447, „alles unmittelbare Bewußtsein der höheren Lebenspotenz, abgesehen von ihrer besonderen Bestimmtheit"446. Das äußere Handeln, worin sich dieser Gehalt, dieses Bewußtsein, manifestiert und ausspricht449, ist Gottesdienst450. Der Gottesdienst im engeren Sinne ist die Darstellung des unmittelbaren Bewußtseins der höheren Lebenspotenz abgesehen von ihrer besonderen Bestimmtheit, also „in wiefern im höheren Gefühle das religiöse dominirt"45'. Der Gottesdienst im weiteren Sinne ist die Darstellung des unmittelbaren Bewußtseins der höheren Lebenspotenz, so wie sie sich in einer bestimmten Situation der sittlichen Welt zur Geltung bringt, also „in wiefern das gesellige dominirt"452. Dieser Gottesdienst im weiteren Sinne ist das leidenschaftslose453 Wirken in der sittlichen Welt454. Da alles Handeln notwendig immer Handeln in bestimmten Situationen ist und ebenso notwendig alles dem religiösen Handeln zugrundeliegende religiöse Gefühl immer einen von der bestimmten Situation nur veranlaßten, nicht aber in derselben aufgehenden Gehalt hat, sind Gottesdienst im engeren Sinne und Gottesdienst im weiteren Sinne Grenzbegriffe, die nie in rein realisiert werden können45s . Die Seligkeit als die innere Seite des äußerlich als Gottesdienst hervortretenden Handelns erstrebt diese Darstellung aber nur, weil sie auf Gemeinschaft

443 Ebd: „Auch im Gemeingefühl ein Minimum von persönlichem, und eben so im Handeln von da aus". 444 Ebd.: „das Individualismen ist etwas nirgend ganz fehlendes und nirgend ganz vollendetes". 445 CS, Beil.A, §§64-68; vgl. CS, Beil.B, 146[§§l-5]. 440 CS, Beil.A, §§69-85; vgl. CS, Beil.B, 147fl§§6f]. 447 CS, Beil.A, §45; vgl. CS, Beil.B, 146[§1].147[§4]. 448 CS, Beil.A, §64; vgl. a.a.O., §53. 449 CS, Beil A, §64. 450 CS, Beil.A, §68. 451 CS, Beil.A, §68; vgl. CS, Beil.B, 150[§13). 452 CS, Beil.A, §68. 453 CS, Beil.A, §67. 454 Vgl. CS, Beil.B, 150 [§13]. - Das eigentliche wirksame Handeln unterscheidet sich von diesem Gottesdienste im weiteren Sinne dadurch, daß es leidenschaftlich ist: durch Lust bzw. Unlust motiviert. Vgl. CS, 530f. 455 Vgl. PrTh, 740: „Das Bewußtsein der Gottheit selbst aber kann nicht unmittelbar dargestellt werden, sondern nur an einer wirklichen That oder einem wirklichen Gedanken der sein Object im Endlichen haben muß".

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aus ist456. Und zwar erstrebt sie eine Gemeinschaft des Handelnden sowohl mit sich selbst als zeitliches Wesen457 als auch mit den anderen Exemplaren seiner Gattung458. Der eigentümlich christliche Gehalt des frommen Selbstbewußtseins gibt nun diesem Streben nach Gemeinschaft im darstellenden Handeln „eine demokratische Tendenz"459. Das Prinzip dieses Gemeinschaftsstrebens, dieser Liebe, ist also die Brüderlichkeit, „die brüderliche Liebe"460. Die so angestrebte Gemeinschaft realisiert sich in verschiedenen Stufen zwischen der lokalen Gemeinschaft der an einem Ort und in einer eigentümlichen Bestimmtheit des Gefühls Geeinten - primitiv die Familie - bis hin zu der äußerlich nicht mehr darstellbaren allgemeinen religiösen Gemeinschaft461. Auch diese beiden Sozialgestalten der Darstellung sind in der Realität nie rein gegebene Grenzpunkte462. Im Manuskript von 1822 bezeichnet Schleiermacher die Vollkommenheit des darstellenden Handelns hinsichtlich seines Darstellungsaspektes als Andacht463. Die Vollkommenheit des Gemeinschaftsstrebens ist religiöser Eifer464. Der erste Abschnitt der dogmatischen Lehre vom darstellenden Handeln steckt somit den Rahmen desselben wie folgt ab: Es vollzieht sich hinsichtlich seines Darstellungsgehaltes zwischen den Extremen einer völligen Gottinnigkeit, die von allen aktuellen Bestimmungen des unmittelbaren Selbstbewußt456 CS, Beil. A, §69: „Alles reine Darstellen als Selbstoffenbarung geht auf Gemeinschaft aus". 457 Vgl. CS,Beil.B, 147[§6.a].149[§9.b]. 458 Ebd. 459 CS, Beil.A, §77. Vgl. die dazugehörige Randbemerkung Schleiermachers: „Diese Gleichheit ist eigentümlich christlich und beruht auf dem Erhabensein Christi über alle, wobei alle andre Ungleichheit verschwindet und nur secundär aus der Gleichheit entstehen kann". 460 CS, Beil. A, §80; vgl. CS, Beil.B, 147f [§§7f], 461 CS, Beil.A, §81. - Vgl. a.a.O., §79 [Rb]: „Zwischen die primitive Gemeinschaft, die unvollständig ist, weil nicht alle Differenzen darin heraustreten, und die absolute, die nicht mehr darstellbar ist, treten also nothwendig größere aber doch bestimmt abgeschlossene Gemeinschaften, welche, wenn sie nicht zufällig sein sollen, auf einer gemeinschaftlichen Eigentümlichkeit beruhen müssen". Vgl. auch: CS, Beil.B, 154 [§28]: „Die Gemeinschaftlichkeit der Darstellung hat zwei fixe Punkte, den absoluten und den durch die Möglichkeit eines gleichzeitigen localen Zusammenwirkens gedrängten". 462 Denn ebensowenig wie die die ganze Menschheit umfassende absolute Gemeinschaft gibt es in reiner Form die lokale Gemeinschaft. Diese ist sogar nicht einmal im einzelnen Darstellenden gegeben, da auch dessen zeitliche Gemeinschaft mit sich selbst und dem Strom seiner religiösen Erfahrungen ein Grenzbegriff ist. 463 CS, Beil.B, 157 [§36]: „Vollkommenheit des einzelnen im Acte der Darstellung ist Andacht und läßt verschiedene Mischung in Receptivität und Spontaneität zu". - Vgl. CS, 583f.646; Psychologie, 211. 464 CS, Beil.B, 156 [§35]: „Vollkommenheit des einzelnen in Bezug auf seine Gemeinschaft ist religiöser Eifer, und läßt verschiedene Grade zu". Vgl. CS, Beil. A, §82; CS, 580.583.

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seins absieht und als solche einen ob seiner absoluten Vergeistigung völlig unanschaulichen - weil von allen aktuellen Bestimmungen seines Weltbezuges völlig abstrahierenden - Kultus aus sich heraussetzt und dem leidenschaftslosen Wirken in der Welt, dessen Gottesbezug - obwohl vorhanden - nur noch implizit mitgesetzt ist. Hinsichtlich seines Gemeinschaftsaspektes vollzieht es sich zwischen den Extremen einer separatistischen Beschränkung auf die individuelle Bestimmtheit des Darstellenden und seiner lokalen Gemeinschaft - falscher Religionseifer465 - und einem den Eigentümlichkeiten christlicher Frömmigkeit gegenüber indifferenten Erstreben der absoluten und unanschaulichen allgemeinen religiösen Gemeinschaft - religiöse Gleichgültigkeit466. Im Schema467: Andacht Religiöser Eifer Lokale Gemeinschaft Absolute Gemeinschaft

Kultus Gottesdienst i. e. S.

Sitte Gottesdienst i. w. S.

Der zweite Abschnitt konkretisiert diese Rahmenbestimmung durch die Interpretation des Gegensatzes repräsentatives Handeln - korrektives Handeln468. Dieser Gegensatz bezieht sich dabei auf den Gemeinschaftsaspekt des darstellenden Handelns, wie klar aus dem ersten Lehrsatz dieses Abschnittes hervorgeht: „Dieser Gegensaz wird constituirt durch die mit dem Uebergange des Gefühles in Handeln gesezte Beziehung auf eine Gemeinschaft"469. Schleiermacher nimmt hier den Gedanken der philosophischen Pflichtenlehre auf, daß eine Gemeinschaft nur dadurch geschichtlich besteht, daß sie vom Einzelnen sowohl angeeignet als auch von demselben immer wieder neu gestiftet wird. Der mißverständliche Ausdruck „correctiv" meint nun nicht einen dem darstellenden Handeln beigemischten wirksamen Aspekt470, sondern den Sachverhalt, daß die Gemeinschaft nur durch das geschichtliche Handeln der Einzelnen, die von der Idee der Gemeinschaft beseelt sind - diese also letztlich auch unpersönlichen Gefühl repräsentieren -, am Leben erhalten wird. Der repräsentative, an die bestehende Gemeinschaft anknüpfende Handlungsaspekt besteht darin, daß das Handeln den Normen und Formen der Ge465 CS, Beil.A, §82. 466 CS, Beil. A, §81. 467 Das Schema und das bisherige Referat beschränkt sich auf die innere Sphäre der Kirche. Schleiermacher entwirft auch den Rahmen einer äußeren Sphäre des allgemein geselligen Darstellens (CS, Beil. A, §§93-98). Auf dessen eigene Abhandlung wird hier verzichtet. 468 CS, Beil.A, §§99-125. - Auch hier stehen am Schluß Überlegungen zur äußeren Sphäre: §§126-152. 469 CS, Beil A, §99. 470 Dies wird von Schleiermacher ausdrücklich ausgeschlossen: CS, Beil.A, §100 [Rb],

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Historische Theologie des Gottesdienstes

meinschaft gemäß ist. In der religiösen Sphäre sind dies die Symbole und das Rituale der Kirche471. Nur im Bezogensein auf die Symbole und das Rituale der Kirche hat der Einzelne Anteil und Wirksamkeit in ihr472. Und nur weil er in diesem Bezogensein auf die Normen und Formen lebendig handelt, bleibt auch die Gemeinschaft lebendig473. Dieses lebendige Bezogensein auf die Normen und Formen der Gemeinschaft vollzieht sich zentral als deren Auslegung. Es ist die Voraussetzung eines jeden korrektiven Handelns, sich durch Auslegung der Normen und Formen der Gemeinschaft die in diesen immer nur annäherungsweise formulierte Idee der Gemeinschaft zu lebendigem Bewußtsein zu bringen. Das setzt voraus, daß jene Nonnen und Formen deutungsoffen sind, sie müssen „von einer unbestimmten Auslegung sein"474. Ohne die Freiheit der Auslegung ihrer Nonnen und Formen, ihrer Symbole und ihrer Rituale gibt es keine lebendige Kirche475. Die Kirche feiert jedes Jahr Weihnachten, Ostern und Pfingsten - und sie predigt jedes Jahr immer wieder neu davon, wenn sie denn lebendig ist476. Nur aufgrund unterschiedlicher Auslegung der gemeinsamen Grundlagen entstehen auf sittlichem Wege Kirchenspaltungen - und müssen dann aber auch sittlich anerkannt werden477. Der Gegensatz repräsentativ-korrektiv wird im Verlauf der Christlichen Sittenlehre auch gefaßt als der Gegensatz zwischen einem Handeln, wodurch der Einzelne der Kirche Ehre macht, d.h. als ein Organ derselben handelt (repräsentativ), und einem Handeln, wodurch der Einzelne der Kirche ein gutes Beispiel gibt, also den Gemeingeist in seiner Lebensführung für alle anderen exemplarisch

471 CS, Beil. A, §107: „Das gemeinsame darstellende Handeln ist nothwendig durch Formen und Normen bestimmt. Denn es könnte sonst nicht als ein gemeinsames entstehen, so daß die einzelnen übereinstimmende und doch lebendige Organe wären, weil nämlich neben der inneren Einheit auch ein veränderliches nothwendig mitgesezt wird. Sie bilden die Symbole und das Rituale der Kirche". Hierzu gibt Schleiermacher folgende Randbemerkung: „Es gehört aber hierher als Vorrath für alles repräsentative Darstellen die allgemeine kirchlich religiöse Sprache mit allem mimisch daran hangenden. Ja auch die Vervollkommnung der religiösen Vorstellungen, in sofern diese selbst nur Ausdrukk sind der unmittelbaren religiösen Erregung". Vgl. auch: a.a.O., §161. 472 CS,Beil.A, §§104.108f. 473 CS, Beil.A, §102: „Im correctiven bestimmt er [=der Einzelne] nur einen neuen geschichtlichen Moment durch die lebendige Idee des ganzen selbst". Der Satz würde noch deutlicher, wenn anstelle des „nur" ein „nun" zu lesen wäre. Vielleicht handelt es sich um eine irrtümliche Lesart der Schleiermacherschen Handschrift durch Jonas oder einen Druckfehler. 474 CS, Beil. A, §112. Vgl. auch: §214 inklusive der dazugehörigen Randbemerkung. 475 Ebd. Vgl. CS, Beil.A, §115. 476 Vgl. GL2 §126.1, 11.274: „Wenn die Gemeinschaft der Gläubigen als ein geschichtlicher Körper im menschlichen Geschlecht in stetiger Wirksamkeit dasein und fortbestehen soll: so muß sie beides in sich vereinigen, ein sich selbst Gleiches, vermöge dessen sie im Wechsel dieselbe bleibt, und ein Veränderliches, worin sich jenes kundgibt." 477 CS,Beil.A, §§120-125.

Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes

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zur Geltung bringt (^korrektiv)478. In diesen Formeln ist zum einen der zentrale Gehalt der Repräsentation zum Ausdruck gebracht. Zum anderen hebt die Näherbestünmung des korrektiven Handelns durch den terminus technicus „gutes Beispiel" den primär darstellenden Charakter desselben bei gleichzeitiger Möglichkeit zu intensiver Wirksamkeit hervor. Tragen wir die Gegensätze repräsentativ - korrektiv in das bisher entfaltete Schema ein, so ergibt sich folgendes Bild: Andacht Kultus Religiöser Eifer Gottesdienst i. e. S. Lokale repräsentativ Gemeinschaft Absolute

korrektiv repräsentativ

Gemeinschaft

korrektiv

Sitte Gottesdienst i. w. S.

Die Differenzierung zwischen repräsentativem und korrektivem Handlungsaspekt tritt in jeweils eigentümlicher Verhältnisbestimmung in allen religiösen Gemeinschaftskreisen auf, denen der Einzelne angehört479. In ihren Extremen geben beide Aspekte die Grenzpunkte lebendiger Gemeinschaft an: den Übertritt in das tote Formelwesen und den leeren Aktionismus480. Der die dogmatische Lehre vom darstellenden Handeln abschließende dritte Abschnitt vervollständigt die bisherige Beschreibung desselben durch den Gegensatz des universellen und individuellen Aspektes im darstellenden Handeln48 '. Dieser Gegensatz steht quer zu dem vorigen, wie der erste Leitsatz dieses Abschnittes ausführt: „Dieser Gegensaz liegt auch auf dem religiösen Gebiete außer dem vorigen; sowol repräsentatives als correctives Handeln können beides universell und individuell sein"482. Daß der Gegensatz universell-individuell sich auf den Darstellungs-/Andachtsaspekt und nicht auf den Gemeinschaftsaspekt bezieht, geht ebenfalls klar aus Schleiermachers Manu-

478 Vgl. CS, Beil.A, §85.§206.§213 [Rb]; CS, 391f.439 [1826/27]. - Das ursprüngliche christlich-repräsentative Handeln ist es, Gott Ehre zu machen, indem man als sein Organ handelt: CS, 530.596 [1826/27]. 479 Hierbei gilt, was Schleiermacher für die äußere Sphäre folgendermaßen bestimmt hat, CS, Beil.A, §§146f: „Jeder einzelne ist mit seinem Handeln beiderlei Art in verschiedenen geselligen Kreisen, und hat also mit Recht mehrerlei Sitte. Fälschlich wird dies häufig für eine Art von Falschheit gehalten, vielmehr kann die Einheit des Charakters sehr gut durch alles dieses durchsehen. §147. Die Sitte eines solchen Kreises auf einen anderen übertragen wollen, ist falsche Richtung des correctiven Handelns". 480 CS, Beil.A, §135. 481 CS, Beil.A, §§153-169.§§170-176:äußere Sphäre. 482 CS, Beil.A, §153.

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Historische Theologie des Gottesdienstes

skript hervor: „Auch dieser Gegensaz ist schon gegründet in der natürlichen Richtung des Gefühls auf Darstellung"483. Auch dieser Gegensatz nimmt eine uns bereits aus der philosophischen Pflichtenlehre bekannte Einsicht auf. Alles menschliche Fühlen und von demselben motivierte Handeln ist eingebettet in den universellen Möglichkeitsrahmen der menschlichen Gattung. Zugleich gehört es zur Dignität dieser menschlichen Gattung, daß jedes Exemplar derselben eigentümlich - eben: individuell - bestimmt ist484. Ohne den universellen Aspekt gäbe es keine Möglichkeit der Darstellung und ohne den individuellen Aspekt keine Notwendigkeit einer Mitteilung qua Darstellung485. Da die universellen Aspekte dem Menschen immer schon als Gattungswesen eignen, sind diese Aspekte auch in all seinem Fühlen und Handeln - so er die organischen Voraussetzungen dazu entwickelt hat - immer schon mit dargestellt. Anders verhält es sich mit den individuellen Eigentümlichkeiten eines jeden Menschen. Das sich-selbst-in-seiner-Individualität-Inne-sein versteht sich nach Schleiermacher niemals von selbst, sondern ist stets das Ergebnis einer Bildungsgeschichte486. Und dies gilt nicht nur im Blick auf die individuellen körperlichen und geistigen Talente der Person, sondern gerade auch von ihrer individuellen Gefühlswelt: „Das ganze Wesen eines Menschen wird nur allmählig individuell durchgebildet, und das Gefühl ist also nur individuell in dem Maaße als es die durchgebildete Seite afficirt"487. Der universelle Aspekt ist somit dasjenige an der Darstellung, was sich quasi von selbst versteht und mehr oder weniger unwillkürlich vollzogen wird. Dies sind im allgemeinen alle sinnlichen Darstellungsmittel. Der individuelle Aspekt ist dagegen dasjenige an der Darstellung, was auf besonnener, künstlerischer Selbstmitteilung beruht488. Dies sind im allgemeinen alle geistigen, auf der Sprache beruhenden Darstellungsaspekte489. Das unterschiedliche Vermögen zu künstlerischer Produktivität ist die sittliche Grundlage des Unterschiedes von Klerus und Laien490 - wobei die Zugehörigkeit zur jeweiligen Gruppe von Darstellungssphäre zu Darstellungssphäre differieren kann 49 '. 483 484 485 486

487 488 489 490 491

CS, Beil. A, §155. CS, Beil. A, §156. CS, Beil. A, §155. Vgl. PhE, 414 [Zusatz 1827 zu §6f.]: „Die persönliche Eigenthümlichkeit entwickelt sich lange nach dem Ich und im ungleichen Maaßstab. So lange sie sich wenig entwickelt, dauern Zustände, in denen der Einzelne fast überall durch die Sitte fast mechanisch bestimmt ist, mit gutem Gewissen fort und werden pflichtmäßig wieder erzeugt". Vgl. PhE, 318f [§253]. CS, Beil. A, §158. CS, Beil.A, §§160ff. Vgl. CS, 537-541. CS, Beil. A, §162. Hier ist darauf zu achten, daß nach Schleiermacher das Vermögen zu sittlicher künstlerischer Produktion noch nicht gegeben ist, wenn die Person einzig über individuelle

Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes

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Die Grenzpunkte im Kultus sind hier für Schleiermacher das Vaterunser als Muster aller universellen Formeln492 auf der kunstlosen Seite und die religiöse Rede als Höhepunkt künstlerisch durchgebildeter Darstellung auf der individuellen Seite493. Die Verwendung universeller Formeln, ohne mit ihnen zugleich etwas Individuelles mitzuteilen, ist „Superstition", „opus operatum, leerer Schein von Handlungen, wenn gar kein Gefühl zum Grunde liegt"494. Das vorgeblich bloß Individuelle ohne Bezug auf universelle Aspekte ist „fantastisch", „partieller Wahnsinn", „excentrisch, schwärmerisch"495. Vor diesem Hintergrund formuliert Schleiermacher die folgenden beiden Gesetze: „Das Gesez der universellen Darstellungen [d.h. der Ausdrucksgestalten traditioneller christlicher Frömmigkeit; R. S.] ist also, Sie müssen das Anschließen jedes individuellen Keims möglich machen und dazu auffordern. Die Aufforderung geschieht durch die Unbestimmbarkeit, Ergänzbarkeit der Darstellung selbst. Amn. Dies ist das richtige Princip, woraus das entsteht, was man dem protestantischen Cultus als Leere und Kälte vorwirft. Mit Recht trifft der Vorwurf nur das einseitige Ueberwiegen des universellen oder den Mißverstand der Maxime"496. „Das Gesez der individuellen Darstellungen [d.h. der Ausdrucksgestalten christlicher Frömmigkeit in ihrer unhintergehbaren Individualität; R.S.] ist, daß sie nur das verarbeiten, was auch in den universellen enthalten ist. Denn eben dadurch offenbaren sie ihre Identität mit jenem Gliede und sichern sich ihre natürliche Wirksamkeit als Erregungsmittel, welche nicht von einem rein besonderen, als für sich unverständlich, ausgehen kann.

492 493 494

495 496

Talente im Darstellungsvermögen verfügt, ohne zugleich von einem individuell durchgebildeten Gefühl beseelt zu sein. Wer nur über rhetorische Talente verfügt, aber kein individuell entwickeltes religiöses Gefühl besitzt, dessen religiöser Rede fehlt der wahre Gehalt (vgl. CS, Beil.A, §174; PrTh, 45). Man müßte eigentlich hier noch weiter zurückgehen auf die sogenannten Stoßgebete, um den Aspekt des Unwillkürlichen, kunstlosen am Universellen in seiner primitiven Form zu fassen. Dabei muß die religiöse Rede allerdings nicht nur sprachlich künstlerisch durchgebildet sein, sondern der Totaleindruck des Redenden muß der einer durchgebildeten Individualität sein. CS, Beil. A, §163. - Der Unterschied zum toten Formelwesen der Repräsentation ohne gleichzeitige Korrektion besteht darin, daß in jenem das Gemeinschaftsleben zum Mechanismus herabsinkt, während im opus operatum die Darstellung ohne lebendigen religiösen Gehalt ist. CS, Beil. A, §164. - Der entsprechende Zug auf der Gemeinschaftsseite ist der Separatismus, der falsche religiöse Eifer. CS, Beil. A, 56 [§165]. (Variation des Druckbildes i.O.)

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Anm Dies ist das richtige Princip des katholischen Cultus. Der Vorwurf des sinnlichen und besonderen Ueberfiilltseins trifft mit Recht, wenn diese Darstellungen die universellen ganz ausschließen, oder wenn auch die, welche ihrem Wesen nach universell sein müssen, diesen Charakter annehmen [daraus erzeugt sich dann die Superstition]497, und eben dadurch die Entwikkelung der Individualität hindern498. Das Idolisiren der Kirche findet sich auch hier"499. In Anlehnung an das von Schleiermacher zur geselligen Darstellung Ausgeführte500 läßt sich sagen: Das Zentrum der religiösen Darstellung ist die Durchdringung des universell Menschlichen mit der künstlerisch durchgebildeten Individualität. Teils, indem sich in der Darstellung des universell Menschlichen die Einzelnen so zu ihrer potentiellen Individualität hinaufarbeiten, daß das universell Menschliche nur noch als zusammenhaltende Form erscheint; teils, indem eine Mannigfaltigkeit von ursprünglich individuellen Gestaltungen des Menschlichen zur Darstellung des universell Menschlichen vereinigt wird501. Die Integration des Gegensatzes universell-individuell in das bisherige Schema ergibt nun das folgende Bild502: 497 Einfügung im Original. 498 N.B.: Individualität entwickelt sich nach Schleiermacher in der Auseinandersetzung mit und der individuellen Aneignung von je individuellen Traditionen. In der Auseinandersetzung mit fremder Individualität als solcher ist nichts anzueignen und also auch die eigene Individualität nicht zu bilden, wenn anders die eigene Individualität in etwas anderem als Nachahmung fremder Individualität bestehen soll. Dies ist eine gerade für die Seelsorge der Kirche nicht hoch genug zu bewertende Einsicht - Vgl. auch: CS, 297. 297f [1824/25]; CS, Beil.B, 128 [§3]; PrTh, 97. 499 CS, Beil.A, 56f [§167].(Variation des Druckbildes i.O.) 500 CS, Beil.A, §176. 501 Vgl. auch PhE, 472[§§23ff].479[§14]. 502 Der von Schleiermacher der Lehre vom darstellenden Handeln zugrundegelegte Schematismus besitzt auch Gültigkeit für die Theorie des wirksamen Handelns. Dies wird zunächst dadurch verdeckt, daß Schleiermachers Manuskript in der Lehre vom verbreitenden Handeln nicht ebenfalls durch Überschriften in drei der Lehre vom darstellenden Handeln entsprechende Teile untergliedert ist. Der Sache nach ist der Gedankengang aber dem in der Lehre vom darstellenden Handeln analog. Es wird in der Gegenüberstellung der Gegensätze darstellendes und wirksames Handeln der Gegenstandsbereich des wirksamen Handelns abgesteckt: Gesinnungsbildung (verbreitendes Handeln) bzw. Gesinnungsreinigung (reinigendes Handeln). Dieses Handeln vollzieht sich in gestuften Gemeinschaftsformen „zwischen der ursprünglich gegebenen einzelnen Persönlichkeit und der nicht mehr darzustellenden absoluten Gemeinschaft aller" (CS, Beil.A, §219). In diese Beschreibung des Gehaltes und der Sozialgestalt des verbreitenden Handelns wird dann das aus der philosophischen Pflichtenlehre und der Lehre vom darstellenden Handeln bekannte Raster eingefügt. Die Gesinnungsbildung vollzieht sich extensiv=repräsentativ bzw. intensiv=korrektiv (CS, Beil.A, §205). Diese Unterscheidung wird gekreuzt von der Differenzierung eines allgemeinen=universellen von einem besonderen=individuellen Gehalt der Gesinnungsbildung (CS, Beil.A, §215 in expliziter Anknüpfung an §§59f). Daß auch das reinigende Handeln analog konstruiert wird, deutet etwa CS, 109ff, an.

Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes Kultus Gottesdienst i. e. S. universell individuell

Andacht Religiöser Eifer Lokale Gemeinschaft Absolute Gemeinschaft

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Sitte Gottesdienst i. w. S universell individuell

repräsentativ korrektiv repräsentativ korrektiv

Das anhand des Manuskriptes von 1809 gegebene Schema wird von Schleiermacher auch in der von Jonas wiedergegebenen Vorlesung aus dem Winter 1822/23 beibehalten. Die Einleitung zur Lehre vom darstellenden Handeln503 entfaltet das darstellende Handeln im Gegenüber zum wirksamen so, daß zunächst der Gehalt der Darstellung - Seligkeit/Ewiges Leben - hervorgehoben wird504. Danach wird die soziale Einbindung der Darstellung - Prinzip der brüderlichen Liebe - behandelt zwischen den Eckpunkten der christlichen Kleingruppe und der Gattung als ganzer505. Im Anschluß daran wird die Ausdifferenzierung der religiösen Darstellung in den religiösen Gottesdienst im engeren Sinne und den im weiteren Sinne vorgenommen506. Dabei wird bereits dargelegt, daß als Darstellungsmittel nichts anderes - aber das vollständig - zur Verfügung steht, als was in der sinnlichen Natur des Menschen zum Organ der menschlichen Intelligenz werden kann507. Dies wird später aufgegriffen in der Lehre vom Gottesdienst im engeren Sinne, um dessen Charakter als die kunstvolle Verbindung der universellen, in der menschlichen Natur angelegten Gefühls- und Ausdrucksmöglichkeiten mit ihrer je individuellen Ausbildung offenzulegen508. Und auch hier begründet Schleiermacher die Sittlichkeit der Unterscheidung zwischen Klerus und Laien mit der unterschiedlichen Fähigkeit zu künstlerischer Tätigkeit, wobei auch hier diese Differenz zunächst keine standesmäßige Differenz markiert, sondern von Darstellungssphäre zu Darstellungssphäre variieren kann. Auf diese Differenz zwischen relativ kunstloser/unwillkürlicher universeller Darstellung durch die Laien und kunstvoller/besonnener individueller Darstellung durch den Klerus wird sodann die Differenz zwischen Gemeingefühl und persönlichem Gefühl, der Repräsentation und der Korrektion, bezogen509. Hier ist besonders darauf zu achten, daß diese Unterscheidung nicht ebenfalls personifiziert werden sollte in Klerus und 503 504 505 506 507 508 509

CS, 502-516. CS, 502-509. CS, 509-516. CS, 516-537. CS, 527f. CS, 537-541.545-556. CS, 557-566.

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Historische Theologie des Gottesdienstes

Laien, denn sonst nähert sich die Gemeinschaft der römisch-katholischen Form510 und die Sittlichkeit, weil Kontrolliertheit der Differenz zwischen Klerus und Laien am Maßstab der Idee der Gemeinschaft - „brüderliche Liebe" -, wird problematisch5". Spannungen zwischen repräsentativem Aspekt und korrektivem Aspekt sind sittlich so zu lösen, daß die allen Christen gemeinsamen religiösen Normen und Formen als deutungsoffen erkannt werden und in einer sachgebundenen, von kirchlichen Festlegungen freien Auslegung individuelle Unterschiede in der christlichen Frömmigkeit offengelegt werden, die zu einer sittlichen Aufspaltung des Christentums in verschiedene Kirchen und somit zu verschiedenen Kultusgemeinschaften führt 512 . Die Einleitung zur Lehre vom darstellenden Handeln mit ihrer Aufnahme des Gedankens der Seligkeit als Motiv zum darstellenden Handeln und der brüderlichen Liebe als Motiv für die Gemeinschaftlichkeit desselben markiert das Eingebundensein der Theorie des darstellenden Handelns in einen sie umfassenden Theorierahmen. Sie entspricht damit der Einleitung der philosophischen Pflichtenlehre. Ist es dort die „Anschauung des Lebens als Mannigfaltigkeit von Actionen"513, welcher die philosophische Pflichtenlehre ihre Organisation verdankt, so ist es in der Christlichen Sittenlehre das Leben in seiner christlichen Prägung, das immer schon begrifflich erfaßt sein muß, bevor die Christliche Sittenlehre dieses Leben beschreiben kann: „Das Gerüst der Darstellung muß ausgehen von dem mannigfaltigen, welches sich hi der Anschauung des christlichen Gefühls als Princip der Handlungen nachweisen läßt. Das christliche ist als ein besonderes zu subsumiren unter das höhere überhaupt, dieses unter das Gefühl überhaupt, und dieses abzuleiten aus der Natur des Lebens, dessen unmittelbares Bewußtsein es ist"514. Philosophische Pflichtenlehre wie Christliche Sittenlehre sind also nachgeordnet einer auf das Leben bezogenen Anschauung. Diese Thematik verhandelt bei Schleiermacher die Psychologie515. Diese Voraussetzungshaftigkeit der Theorie des darstellenden Handelns hinsichtlich des pflichtgemäßen Vollzuges wird dann etwa deutlich bei der in der Einleitung zur Theorie des darstellenden Handelns angeschnittenen Frage nach den Darstellungsmitteln des Gottesdienstes516. Die Problematik, wie und inwiefern denn Seligkeit/Ewiges Leben von Menschen soll dargestellt werden können, wird nicht einmal andeutungsweise weiter verfolgt. Lapidar heißt es:

510 511 512 513 514 515 516

CS, 384ff.;vgl. CS, Beil.A,§162. CS, 562f. CS, 566-584. PhE, 412 [§35], CS, Beil. A, §42 [Allgemeine Einleitung]. Vgl. E.Herms, Die Bedeutung der „Psychologie". CS, 527f.; CS, Beil.B, 149 [§11].

Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes

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„Das christliche darstellende Handeln als solches hat nun gar keine anderen DarstellungsmitteL, als die, die dem vernünftigen Menschen als solchem zu Gebote stehen, und da der Geist an sich das vernünftige ist: so kann er auch nur ein äußerliches werden durch die sinnliche Natur des Menschen. In dieser müssen die Darstellungsmittel liegen, aber nur so, wie wir dieselben schon als für die allgemein menschliche Intelligenz durchgebildete Organe voraussezen müssen"5'7. Diese Problematik ist kein Thema der Christlichen Sittenlehre, sondern wird von dieser vorausgesetzt518. Und tatsächlich findet sich die einzige ausführliche theologische Diskussion dieses Themas durch Schleiermacher in der der Christlichen Sittenlehre wie der Glaubenslehre gleichermaßen voranstehenden Lehre von der ursprünglichen Vollkommenheit der Welt, die ihren Ort in der Urstandslehre hat 519 . Gleiches gilt für die enorme Voraussetzungshaftigkeit des Gedankens der brüderlichen Liebe und der Differenzierung des Gemeingefühles vom persönlichen Gefühl. Auch dieser fundamentale Sachverhalt erhält seine theologische Entfaltung vorzüglich in der Urstandslehre, und zwar im Lehrstück von der ursprünglichen Vollkommenheit des Menschen520. Die Aufgabe der Christlichen Sittenlehre im Blick auf die Theorie des darstellenden Handelns im engeren Sinne besteht darin, „den Gottesdienst ethisch zu begründen"521. Nach unseren bisherigen Beobachtungen kann damit nicht gemeint sein, daß der Gottesdienst in der Christlichen Sittenlehre überhaupt erst ethisch zu begründen sei, sondern nur dieses, daß er in der Christlichen Sittenlehre hinsichtlich seines pflichtgemäßen Vollzuges ethisch zu begründen sei. Es geht in der Christlichen Sittenlehre weder zentral um die ethische Reflexion auf die Konstitution des christlich-frommen Selbstbewußtseins als unter der Gnade befindlichem Gefühl, noch steht der Gottesdienst als wesentliches Moment der christlichen Kirche im Mittelpunkt der Überlegungen - beide Themen

517 CS, 527. Vgl. CS, 540. 518 Vgl. CS, 545 519 Deren Lehrsatz lautet GL2 §59: Jeder Moment, in welchem wir uns dem uns äußerlich gegebenen Sein gegenüberstellen, enthält teils die Voraussetzung, daß die Welt dem menschlichen Geist eine Fülle von Reizmitteln darbiete zur Entwicklung der Zustände, an denen sich das Gottesbewußtsein verwirklichen kann, teils die, daß sie sich in mannigfaltigen Abstufungen von ihm behandeln lasse, um ihm* als Organ und als Darstellungsmittel zu dienen". 520 Vgl. den Lehrsatz GL2 §60: „Die Richtung auf das Gottesbewußtsein schließt als innerer Trieb das Bewußtsein des Vermögens in sich, mittelst des menschlichen Organismus zu denjenigen Zuständen des Selbstbewußtseins zu gelangen, an welchen sich das Gottesbewußtsein verwirklichen kann; und der davon unzertrennliche Trieb, das Gottesbewußtsein zu äußern, schließt ebenso den Zusammenhang des Gattungsbewußtseins mit dem persönlichen Selbstbewußtsein in sich, und beides zusammen ist die ursprüngliche Vollkommenheit des Menschen". 521 CS, 537; vgl. CS, Beil.B, 150 [§15].

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Historische Theologie des Gottesdienstes

haben ihren Ort in der Glaubenslehre gefunden. In der Christlichen Sittenlehre geht es um den pflichtgemäßen Umgang des Einzelnen mit seiner Frömmigkeit in ihrer Sozialgestalt als Kirche, wobei Kirche das Christentum meint in all seinen zwischen einsamer Andacht und absoluter, weltumspannender Gemeinschaft sich realisierenden Gestaltungen. Nach der anderen Seite hat die in der Christlichen Sittenlehre zu erbringende Reflexion auf den pflichtgemäßen Vollzug des darstellenden Handelns im engeren Sinne ihre Grenze erreicht, wenn sie die Prinzipien für die Anordnung des Technischen im Gottesdienst fixiert hat. Dies ist die Grenze zur Praktischen Theologie hin522. In ihrer Reflexion auf den pflichtgemäßen Umgang mit den im Kultus zur Anwendung gelangenden Kunstelementen523 liefert sie die Grundlagen zur Entfaltung der Praktischen Theologie als Ästhetik. Hier zeigt sich erneut, daß Schleiermachers Hinweis auf die enge Anbindung der technischen Disziplinen - zu denen sowohl die Praktische Theologie als auch die Ästhetik524 gehört - an die philosophische Pflichtenlehre und somit an die an diese anknüpfende Christliche Sttenlehre nicht nur en passant erfolgt ist, sondern ein nicht zu vernachlässigender Fingerzeig auf die von Schleiermacher in seiner eigenen theologischen Arbeit genauenstens befolgte Wissenschaftssystematik ist. In seiner philosophischen Pflichtenlehre entwickelt Schleiermacher die inhaltliche Näherbestimmung der im Pflichtraster ausdifferenzierten Aspekte so, daß er den vier Hinsichten Rechts-, Berufs-, Gewissens- und Liebespflicht jeweils eigene Kapitel widmet, in denen ein Aspekt in seiner Verknüpfung mit allen anderen abgehandelt wird. In seiner Vorlesungstätigkeit ist er dabei ausweislich seiner eigenen Notizen schwerpunktmäßig stets auf die universelle Seite mit Berufs- und Rechtspflicht eingegangen, während die individuelle Seite mit Gewissens- und Liebespflicht nur sporadisch ausgeführt wurde. Dies ist insofern verständlich, als die individuelle Seite auch bei der allgemeinen Seite ebenfalls immer schon eine Berücksichtigung findet, zum anderen aber die Näherbestimmung dieser Seite insofern immer abstrakt bleiben muß, als sich Individualität nicht konstruieren läßt525. Die Erwägungen in dieser Hinsicht

522 CS, 555£; vgl. CS, Beil.A, §88; CS, Beil.B, 150 [§15]. 523 CS, 545ff. 524 Wenn CS, 545, Psychologie und Ästhetik als der Christlichen Sittenlehre vorangestellte Disziplinen bezeichnet werden, so kann hier nicht die Ästhetik als technische Disziplin gemeint sein, sondern nur die der Religionsphilosophie parallele kritische Disziplin einer Philosophie der Kunst. Vgl. PhE, 366 [§232]. 525 Vgl. die einschlägige Aussage aus der Christlichen Sittenlehre, CS, 572: „Das individuelle kann nie vollständig in Begriffe aufgelöst werden; man kann es nur in der Anschauung vernehmen. Darum kann es aber auch nie a priori konstruirt werden, sondern es wird immer nur anerkannt." Vgl. PhE, 481.

Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes

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verbleiben folglich auf der Stufe einer allgmeinen ethischen Legitimierung der individuellen Sphäre, ohne diese positiv zu füllen526. Nun ist es aber das Charakteristikum der Christlichen Sittenlehre, daß sie die Entfaltung einer gegebenen individuellen Ausformung von Sittlichkeit ist. Auch hier wird also zwar die Entwicklung der Argumentation erfolgen in primärer Orientierung an der allgemeinen Seite des Pflichtenrasters, aber ihre Bezugnahme auf das mitzusetzende Individuelle wird doch wesentlich materialreicher sein können und müssen - eben aufgrund des bereits geschichtlichen Gesetztseins dieses Individuellen als christliche Sitte - als in der philosophischen Pflichtenlehre. Darüber hinaus liegt es im Wesen der Christlichen Sittenlehre als einer theologischen Disziplin, daß sie notwendig ihr Augenmerk auf den pflichtgemäßen Vollzug der professionellen Einbringung von Individualität in das kirchenleitende Handeln zu richten hat. Diese professionelle Einbringung von Individualität erfolgt im evangelischen Christentum vorzüglich im Zusammenhang des Darstellungsaspektes des kirchlichen Handelns - des Kultus -, wohingegen im Bück auf den Gemeinschaftsaspekt des kirchlichen Handelns kein Unterschied bestehen soll zwischen Klerus und Laien. Während die philosophische Pflichtenlehre vor allem Rechts- und Berufspflicht gegeneinander austariert527, hat die Christliche Sittenlehre vor allem den Aspekt der Berufspflicht mit dem der Gewissenspflicht miteinander zu verknüpfen. Wobei darauf zu achten ist, daß hier die Berufspflicht das Priestertum aller Gläubigen ist, dessen öffentliche Wahrnehmung abhängig zu machen ist von dem guten Gewissen des Einzelnen. Nicht unter dem Stichwort der Berufspflicht wird hier also der Aspekt der Professionalisierung thematisiert, sondern unter dem der Gewissenspflicht. Wer aufgrund seiner durchgebildeten Individualität guten Gewissens öffentlich hervortreten kann, erfüllt seine allen Christen auferlegte Berufspflicht, indem er das ministerium verbi drvini professionell ausübt. Damit ergibt sich aber eine weitere, auf den ersten Blick vielleicht überraschende Auffassung Schleiermachers. Wir sahen: Die Unterscheidung zwischen Klerus und Laien wird von Schleiermacher abgeleitet aus dem Unterschied des individuellen, d.h. die durchgebildete Individualität kunstvoll ausdrückenden, vom universellen, d.h. den die allgemein menschlichen Züge des frommen Gefühls unwillkürlich ausdrückenden Darstellungsaspekt. Damit ist eine Ausdifferenzierung des Kultus in zwei Typen vorbereitet. Ein Kultus, der weitgehend von universellen und somit kunstlosen Darstellungen geprägt ist, 526 Vgl. etwa PhE, 482 [Zusatz 1827]: „Muß das Individuelle erlaubt sein, so ist es auch geboten Da aber das Individuelle nicht im Bewußtsein aufzustellen ist und als innerer Impuls vorauszusezen, so kann das Gebot nur negativ sein gegen Nachahmung und gegen Affectation in Bezug auf das durch das Universelle nicht Bestimmte." 527 Vgl. die analogen Argumentationsgänge beider Abschnitte in Schleiermachers philosophischer Pflichtenlehre: PhE, 465ff.473ff.

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Historische Theologie des Gottesdienstes

entspricht dem Typus des Privat- oder Hausgottesdienstes528. In diesem fungieren tendenziell alle Teilnehmer als Laien und die Spontaneität - also das „klerikale" Element - beschränkt sich weitgehend auf das Auswählen und Verlesen von Stellen aus der Schrift, Gesangbuchversen und anderer erbaulicher Literatur. Ein Kultus, der zentral die Individualität der Beteiligten durch die Darstellung eines oder mehrerer zu dieser Repräsentationsaufgabe Beauftragten kunstvoll zur Darstellung bringt, entspricht dem Typus des öffentlichen Kultus. In diesem können all jene Teilnehmer als Klerus fungieren, deren gutes Gewissen dies unter den gegebenen Ordnungsregeln zuläßt. Halten wir fest: Für Schleiermacher ist es gerade der öffentliche Kultus, in welchem die Individualität christlicher Frömmigkeit ihr vorzügliches Forum besitzt. Für Schleiermacher ist es gerade nicht der private Gottesdienst, der zum Hort von Individualität bestimmt ist. Als tendenziell kunstlose Darstellung ist er gar nicht in der Lage, Individualität adäquat zur Darstellung zu bringen. Individualität kann nur im Medium der Kunst anschaulich werden. Diese Aufgabe wahrzunehmen ist Sache des öffentliche Kultus. Der öffentliche Kultus ist nach Schleiermacher die bewußte, künstlerisch durchgebildete Ausdrucksgestalt des religiösen Gefühls; der private bzw. häusliche Kultus dagegen besteht in dem eher unbewußten, kunstlosen Ausdrücklichwerden des religiösen Gefühls529. Dabei unterscheidet sich der private Kultus nicht dadurch vom öffentlichen, daß es ihm überhaupt an Kunstelementen fehlte - wäre dies der Fall, so läge überhaupt keine Darstellung von Innerlichkeit vor -, sondern daß deren Verknüpfung tendenziell kunstloser geschieht als im öffentlichen Kultus530. Diese Herleitung des Unterschiedes von privatem und öffentlichem Kultus überzeugt aber noch nicht. Denn es ist gar nicht einzusehen, warum der private Kultus eines ästhetisch gebildeten Christen nicht auf einer höheren künstlerischen Stufe soll stehen können als die öffentliche Religionsausübung von künstlerisch ungebildeten Menschen. In diesem Sinne hat aber Schleiermacher seine Gegenüberstellung gar nicht gemeint. Daher präzisiert er diese Unterscheidung531. Der private Kultus ist deswegen tendentiell kunstloser als der öffentliche, weil für Schleiermacher Kunst überhaupt erst als ein Phänomen des öffentlichen - d.h. gemeinsamen Lebens konstituiert wird. Die künstlerische und also willkürliche, bewußte Durchbildung des immer unwillkürlichen Gefühls ist für den Einzelnen an sich etwas leeres; etwas, für das jegliches Motiv fehlt532. Erst das Darstellen-Wol528 529 530 531 532

CS, 546f. CS, 546f. CS, 546 CS,547ff. CS, 548, heißt es im Blick auf das religiöse Gefühl: „Die Bestimmtheit des Selbstbewußtseins ist also das unwillkührliche, und das unwillkührliche hier das ursprüngliche; folglich auch die unwillkührliche Aeußerung. Im Einzelleben kann eigentlich nichts anderes vorkommen, als dieses, und der Vorsaz, sich für eine bestimmte Zeit in eine starke religiöse Erregung hineinzustimmen, ist für den einzelnen an sich betrachtet

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len auf dem öffentlichen Forum setzt das Wollen dieser Darstellung als einer künstlerisch durchgebildeten - und zwar notwendig: „Sollte nämlich im öffentlichen Gottesdienste die unwillkührUche Darstellung herrschen: so könnte er gar nicht zu Stande kommen. Denn im unwillkührlichen ist der einzelne Mensch ganz abhängig von der momentanen Stärke des Gefühls, und alles gemeinsame bleibt dabei zufällig"533. Daher also ist auch der private Kultus eines künstlerischen Menschen immer kunstloser als der von diesem mitgetragene öffentliche Kultus: denn erst der öffentliche Kultus erfordert und motiviert das bewußt künstlerische Handeln in seiner ganzen Fülle534. Die Darstellung im öffentlichen Kultus dient dabei auch immer wieder der Steigerung der religiösen Gefühle in den Einzelnen und motiviert somit den privaten Kultus. Dagegen ist im privaten Kultus auch immer schon die Tendenz vorhanden zu einer kunstvolleren Darstellung des frommen Gefühls, als dies in ihm selbst möglich ist. Der private Kultus motiviert somit immer wieder den öffentlichen Kultus535. Der öffentliche Kultus ist nach allem bisherigen pflichtwidrig, wenn er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden Darstellungsmittel berücksichtigt und auf der Höhe des ihm jeweils geistig wie materiell erschwinglichen künstlerischen Niveaus zur Anwendung bringt im Dienste des christlich-frommen Gefühls. Kommt er dieser Pflicht nicht nach, so verwandelt er sich unter der Hand in den privaten Kultus. Die öffentliche Zurschaustellung dessen, was wesentlich privaten Charakter hat, kann aber auch hier nur als obszön beurteilt werden. Der kunstlose öffentliche Kultus ist eine Obszönität, eine Schamlosigkeit. Dieser Ausdruck bringt vielleicht besser als Schleiermachers Etikett „toter Mechanismus" die Unsittlichkeit der Sache zur Geltung. Aus dem Gesagten erhellt bereits, daß für Schleiermacher Individualität gerade nicht durch Privatheit definiert ist, sondern eine wesentlich in den Bereich der Öffentlichkeit gehörige Kategorie bezeichnet. Die öffentliche Mitteilung von Individualität gehört zur Gewissenspflicht, wie Schleiermacher in seiner philosophischen Pflichtenlehre andeutet536. Die Einschließung der frommen Individualität in die

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etwas leeres. Aber freilich auch nur für den einzelnen rein an sich betrachtet, so daß unsere Behauptung allerdings nicht absolut zu nehmen ist, weil eben kein Mensch absolut isolirt und ohne allen Zusammenhang mit dem ganzen zu denken ist". Vgl. CS, Beil.C, 169: „Die Seeligkeit als solche würde, wenn man beim einzelnen stehen bleibt, gar kein Handeln bestimmen. Aber im Verhältniß zu anderen gedacht, das darstellende". CS, 549. Damit ist natürlich gefordert, daß die Gestaltung des öffentlichen Kultus auch wirklich unter Inanspruchnahme der künstlerischen Talente aller Beteiligten geschieht und dieselben nicht ignoriert werden. CS, 549f. PhE, 483 [§4]. Vgl. auch die folgende Aussage zur Rechtspflicht, PhE, 414f [§9]: „Wer in eine universelle Gemeinschaft nicht mit seiner ganzen Individualität hineintritt, tritt eigentlich nicht selbst hinein, und es giebt also nur ein Hineintreten und Darinsein mit

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Privatheit des häuslichen Kultus ist somit pflichtwidrig. Es ist dies eine falsche Scham, eine falsche Prüderie. Ob und inwiefern ein Handeln im öffentlichen Kultus obszönen Charakter hat, ist der je individuellen Gewissensentscheidung zur Beurteilung zu überlassen537. Dasselbe gilt für die Einschätzung, ob der Einzelne seine fromme Individualität aufgrund falscher Scham der Öffentlichkeit vorenthält oder nicht538. Gehen die Gewissensentscheidungen an diesen Punkten evident auseinander, so bedeutet dies keine Erlaubnis, den Kultus überhaupt - wahlweise den öffentlichen oder den privaten Kultus - aufzugeben, sondern die Pflicht, beide in entsprechend differenzierten Kultusgemeinschaften zu vollziehen539. Die pflichtgemäße - weil mit gutem Gewissen vollzogene - Verweigerung der Teilnahme am öffentlichen Kultus wird sofort zur Pflichtwidrigkeit, wenn mit ihr nicht einhergeht der Versuch einer Verbesserung des traditionellen Kultus oder - so dies nicht möglich ist - die Stiftung eines alternativen öffentlichen Kultus. Und zwar nicht als Konkurrenz zum traditionellen Kultus, sondern als eine diesen ergänzende öffentliche Präsentation der Vielfalt individueller Frömmigkeit. Und in dieser öffentlichen Präsenz kann er in seiner individuellen Lebendigkeit auf den traditionellen Kultus als gutes Beispiel und somit korrektiv wirken, was ausgeschlossen wäre, verbliebe die sich in ihm ausdrückende individuelle Frömmigkeit rein in der privaten Sphäre verschlossen540. Daß der öffentliche Kultus das gemeinsame Forum zur Darstellung christlicher Frömmigkeit in ihrer Individualität und Lebendigkeit sein könne, wird häufig mit dem Argument bestritten, daß gerade die individuelle Verschiedenheit der beteiligten Personen verhindere, daß alle just zu einem Zeitpunkt zur lebendigen Darstellung ihrer christlichen Frömmigkeit motiviert seien541. Ein lebendiger öffentlicher Kultus sei ein hölzernes Eisen. Auf dieses Argument geht Schleiermacher ausdrücklich ein. Ausgangspunkt sind auch hier Einsichten, die der Ethik vorausliegen und teilweise in das Gebiet der Naturphilosophie gehö-

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Liebe. Jedes von dieser Seite Todte ist ein Pflichtwidriges. Die Gemeinschaft kann nur sein eine Art und Weise zu sein der Individualität." Die Gemeinschaft ist der angewachsene Spielraum für die Individualität (PhE, 415 [§13]). So ist etwa Schleiermachers Urteil über die in Frankreich und Italien übliche Praxis, den Predigern zu applaudieren, sei unsittlich und verwerflich (CS, 551), Ausdruck seiner individuellen Gewissensentscheidung - Italiener und Franzosen können dabei ein sehr gutes Gewissen haben (vgl. in diesem Sinne PrTh, 319). Es wäre also unsittlich, etwa Schleiermacher eine Anpassung an die eben erwähnte italienische und französische Sitte abzufordern. Im eben angesprochenen Fall also die Pflicht, den französischen und italienischen Stil des Kultus neben dem von Schleiermacher entfalteten deutschen bürgerlichen bestehen zulassen. Vgl. PrTh, 617ff. Vgl. CS,Beil.A,§§113ff. CS, 548

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ren542. Nun gehört es zur Natur des Menschen, daß er ein Gattungswesen ist, folglich immer auch am Leben der Gattung teilhat und also immer auch hinsichtlich seines individuellen Lebensrhythmus' geprägt ist vom gemeinschaftlichen Leben - „und je mehr sein ganzes Dasein in dieses eingetaucht ist, desto mehr bildet sich auch ein gemeinsames Maaß für alle"543. Der Rhythmus zwischen Arbeit und Freizeit, wirksamem und darstellendem Handeln, ergibt sich in einer Gesellschaft aus dem Grad der Naturbeherrschung, den diese Gesellschaft erreicht hat544. Da dieses Niveau weltweit von Gesellschaft zu Gesellschaft in nicht unerheblichem Maße voneinander abweicht, erstaunt es Schleiermacher sehr, „die christliche Bestimmung dieses Verhältnisses [zwischen Arbeitstagen und Sonntag; R.S.] so allgemein verbreitet zu finden"545. Daß unter günstigen Umständen neben den Sonntag noch weitere kirchliche Feiertage treten, ist dagegen leicht verständlich - „und wo sich diese anfangs in weniger begünstigte Gegenden fortgepflanzt hatten, da hat man sie später wieder beschränkt"54*. Der Rhythmus zwischen Arbeitstagen und dem Kultus gewidmeten Tagen ist also nach Schleiermacher nicht festzumachen an religiösen Traditionen, sondern am gesellschaftlichen Niveau der Naturbeherrschung. Das Beharren auf einem bestimmten Rhythmus, der von der erreichten Naturbeherrschung nicht gedeckt ist, ist ebenso unsittlich wie die Verwandlung des ganzen Lebens in mühselige Arbeit. Wenn daher weltweit fast durchgängig ein siebentägiger Rhythmus sich durchgesetzt hat, so muß vermutet werden, daß hier ein natürlicher Biorhythmus zugrunde liegt. Eine religionsgeschichtliche Begründung wird von Schleiermacher jedenfalls dezidiert abgewiesen: „Es ist ein merkwürdiges Phänomen, daß in der Christenheit dieser Typus überall ist durchgesezt worden auch bei den verschiedensten Verhältnissen, obgleich wir sagen müssen, daß in dem christlichen Bewußtsein der Sonntagsfeier nicht das göttliche Gebot zum Grunde liegt, auf welchem die jüdische Sabbatsfeier ruht; denn wenn das wäre: so hätte der Tag nicht können geändert werden, was überdies nicht durch einen Beschluß, durch eine förmliche Versezung, sondern ganz allmählig geschah. Niemand nun wird behaupten, daß in der Zahl sieben eine eigenthümliche geheime Kraft liege; aber es muß darin ein allgemein anzuerkennendes Durchschnittsverhältniß enthalten sein, von dem einem jeden sein Bewußtsein sagen muß, daß dabei auf der einen 542 CS, 548. Schleiermacher markiert hier den Punkt, an welchem eine Erforschung der „Naturseite" des Gottesdienstes anzusetzen hätte, wie sie M. Josuttis jüngst auszuarbeiten suchte (M.Josuttis, Der Weg in das Leben). Zur naturphilosophischen Grundlagenproblematik der Kirche überhaupt heißt es PhE, 273 [§69]: „Die Kirche ist die Eigenthümlichkeit der Erregtheit und der Darstellung, weil nemlich die höchste Stufe des Gefühls das religiöse ist und auch der Gipfel aller Kunst auch die religiöse. Ihre Naturbedingung ist am schwersten zu bestimmen." 543 Ebd. 544 Vgl. auch CS, 590ff [1826/27]. 545 CS, 592 [1826/279]. 546 Ebd

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Seite dem wirksamen, auf der anderen dem darstellenden Handeln sein volles Recht widerfährt"547. Pflichtgemäß ist die Anordnung des Rhythmus zwischen Werktagen und Sonntag immer dann, wenn sie die vom guten Gewissen getragene Ausübung christlicher Freiheit auch gegenüber dem Sabbat - gemäß Mt 12,8 - ist: „Christus spricht, Des Menschen Sohn ist ein Herr auch über den Sabbat"548. Invariabel ist hier nur der Gehalt der sonntäglichen kultischen Feier: die vergegenwärtigende Erinnerung an die Geschichtspunkte der Erlösung durch Christum549. Schleiermachers Antwort auf den oben erhobenen Einwand gegen die Möglichkeit eines lebendigen öffentlichen Kultus ist also in sich differenziert. Prinzipiell ist mit der Möglichkeit eines gemeinsamen Lebensrhythmus aller einer Gemeinschaft Angehörigen zu rechnen, somit auch eine lebendiger öffentlicher Kultus denkbar und keinesweges ein hölzernes Eisen. Die Gründe hierfür liegen auf naturphilosophisch zu bearbeitendem Gebiet. Zugleich muß aber eingeräumt werden, daß der Lebensrhythmus einer Gemeinschaft variabel ist und folglich das Bedürfnis nach einem öffentlichen Kultus „an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten ein sehr verschiedenes sein kann"550. Die Einrichtung des pflichtgemäßen Rhythmus ist dann allerdings kein Naturvorgang mehr, sondern vollzieht sich in der pflichtgemäßen Institutionalisierung einer - in der Terminologie der philosophischen Pflichtenlehre - „Lebensordnung" der Gemeinschaft"'. Damit ist der Verbindungspunkt erreicht zwischen der Lehre vom pflichtgemäßen kultischen Handeln und dem Kultus als sittlichem Gut.

6.2.2.3 Die Wesenszüge der christlichen Kirche als Sozialgestalten der pflichtgemäßen Darstellung christlicher Tugend A. Schleiermachers dogmatische Lehre vom Geschäft Christi und von den Ämtern Christi als Grundlage der dogmatischen Lehre von den Grundzügen der christlichen Kirche Als dogmatische Güterlehre hatten wir Schleiermachers in seiner Glaubenslehre vorgelegte Ekklesiologie identifiziert. Deren einleitender Lehrsatz lautet:

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CS, 594 [l826/27]. CS, 598 [1826/27], vgl. PrTh, 98. CS, 592f[ 1826/27], CS, 596 [l 826/27]. Vgl. PhE, 464[§22].478[§13].410[§25]. Vgl. zum Gedanken, daß das darstellende Handeln im Kultus organisiert sein müsse: CS, Beil.D, 184 [1831]; CS, 158ff.365.366.395f. 431f.439.u.ö., GL2 §113.2, H.208f.

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„Alles was durch die Erlösung in der Welt gesetzt wird, ist zusammengefaßt in der Gemeinschaft der Gläubigen, in welcher sich alle Wiedergeborne immer schon finden; und dieser Abschnitt enthält also die Lehre von der christlichen Kirche"552. Wie uns aus der Beschäftigung mit Schleiermachers Einleitung zur Lehre vom darstellenden Handeln vertraut ist, existiert die Gemeinschaft der Gläubigen nur in der Mannigfaltigkeit aller zwischen primitiver, lokaler christlicher Kleingruppe und absoluter, weltumspannender allgemein religiöser Gemeinschaft möglichen Sozialgestalten553. Bezüglich der Form dieser jeweiligen Realisationen der Gemeinschaft der Gläubigen ist aber darin nur soviel mitgesetzt, daß es immer eine Zeugnisgemeinschaft vom Glauben an Jesus als den Christus ist, die sich jeweils realisiert554. Klar erkennbar greift Schleiermacher in diesem Zusammenhang der Glaubenslehre den Gedanken der philosophischen Pflichtenlehre von der Gleichursprünglichkeit des Gemeinschaft Aneignens und des Gemeinschaft Stiftens auf, der in der Lehre der Christlichen Sittenlehre vom darstellenden Handeln dann als Differenzierung des repräsentativen vom korrektiven Aspekt der Gemeinschaftlichkeit des Handelns behandelt worden war: „Und wie keine erlösende Wirksamkeit auf Einzelne stattfinden konnte, ohne daß eine Gemeinschaft entstand: so kann auch die Gemeinschaft aus nichts anderem bestehen, als aus allen Momenten, welche dem Stand der Heiligung aller Begnadigten angehören"555. Das Gemeinschaft Stiften, die erlösende Wirkung auf Einzelne, ist das korrektive Handeln im Sinne des guten Beispiels, des öffentlichen Auftretens, das eine anziehende Wirksamkeit ausübt. Die Präsentation des aktuellen Standes der Heiligung aller Begnadigten ist das repräsentative Handeln im Sinne einer Darstellung des Eigentümlichen der christlichen Gemeinschaft im Gegenüber zu den anderen Gemeinschaften in der Welt: ein Handeln, in welchem der Einzelne als Organ der Kirche derselben Ehre macht556. Wobei die konkrete religiöse Gemeinschaft, die repräsentiert bzw. durch gutes Beispiel intensiviert wird, von Fall zu Fall anders bestimmt sein wird. Der Kirche Ehre machen kann sein ein dezidiertes Auftreten als Repräsentant einer Lokalgemeinde, aber auch die an keine bestimmte Organisation gebundenen freien Tätigkeiten christlicher Nächstenhebe kommen hier in Frage, in denen der Einzelne dem 552 GL 2 §113. 553 Vgl. GL2 §113.1, 11.207: „Es muß zwar schon hier einleuchten, daß diese Gemeinschaft in engerem und auch in weiterem Sinn genommen werden kann. Denn finden sich die Wiedergeborenen schon darin: so gehörten sie ihr also schon, ehe sie wiedergeboren waren, aber offenbar in einem anderen Sinn als die schon eigentlich Gläubigen." 554 GL 2 §113.1,II.207f.;vgl. auch: GL 2 §115. 555 GL 2 § 113.2,11.209. 556 Vgl. die christologische Grundlegung dieser beiden Aspekte GL2 §113.2, II.208f.

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Christentum Ehre macht, d.h. ganz allgemein als Organ der christlichen Nächstenliebe tätig ist. Der Gehalt dieser frommen Gemeinschaft ist die durch Christum mitgeteilte Seligkeit557. Diese ist aber als Modus des frommen Selbstbewußtseins kein unmittelbarer Gegenstand der äußeren Wahrnehmung558. Damit wird sofort die Identifizierbarkeit der frommen Gemeinschaft ihrem Wesen nach in der Welt problematisch. Denn die Erkenntnis der Kirche als Organ/Repräsentantin des Gemeingefuhls aller Christen tritt in Konkurrenz zu denjenigen Deutungen der christlichen Kirche, die diese auf das äußerlich Wahrnehmbare reduzieren559 - heute etwa auf die Kirchensteuer, das Betreiben von Kindergärten, Krankenhäusern und Altenheimen und daneben eben auch den Kultus, der aber immer mehr aus der öffentlichen Aufmerksamkeit verschwindet. Aus alledem folgt, daß die Kirche - in all ihren Realisationsgestalten - wesentlich nicht nur Glaubensgemeinschaft ist als Zeugnisgemeinschaft vom Glauben, sondern in all ihren Realisationsgestalten wesentlich immer auch nur als geglaubte Gemeinschaft, als Gegenstand des Glaubens, existiert560, d.h. als verborgene Kirche. Als in diesem Sinne im Glauben als existent erkannte verborgene Gemeinschaft des Glaubens wird sie zum Ausgangspunkt der Ekklesiologie, der Beschreibung der Organisationsgestalt der von der christlichen Tugend motivierten pflichtgemäßen einzelnen christlichen Tätigkeiten56'. Was sich in der Kirche sichtbar organisiert und im Glauben hinsichtlich seines Wesens erfaßt wird, die Kirche als zum „Ort der Seligkeit" gewordener Teil der Welt562, ist das Aufeinanderwirken und Miteinandenvirken der Gläubigen in der einander ergänzenden Auffassung und mitteilenden Darstellung des Lebenszeugnisses Christi563, wobei aber in der Welt immer auch noch fremde Einflüsse wirksam sind. Daraus folgt: „Alles nun, was als ein Lebenselement der Kirche dargestellt werden kann, muß sich auch hieraus entwickeln lassen"564.

GL2§113.3, II.209f. GL2 §113.4,11.210. Ebd. GL2 §113.4, 11.210: ,,(...)und mit dem lebendigen Glauben an Christum zugleich entsteht immer auch der an das wirkliche Vorhandensein des Reiches Gottes in der Gemeinschaft der Gläubigen(...)". Vgl. GL2 §125.2,11.273. 561 GL2 §113.4, 11.211: „Denn die Menschwerdung Christi entspricht für die menschliche Natur dem, was die Wiedergeburt ist für den Einzelnen; und wie die Heiligung die fortschreitende Aneignung der einzelnen Funktionen ist und je länger je mehr aufhört, aus fragmentarischen Einzelheiten zu bestehen, alles vielmehr immer mehr ineinandergreift und sich gegenseitig unterstützt: so organisiert sich auch hier aus den einzelnen erlösenden Tätigkeiten immer mehr die zusammenwirkende und aufeinanderwirkende Gemeinschaft". 562 GL2§113.3,11.209. 563 GL 2 §115. 564 GL2 §115. l, 11.216. 557 558 559 560

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Die Grundzüge des Lebens der Kirche verhandeln laut Zusatz zum §125565 erst die §§126-156: „Von dem Bestehen der Kirche in ihrem Zusammensein mit der Welt". Das erste Hauptstück zur Ekklesiologie - „Von dem Entstehen der Kirche"566 - verhandelt in Erwählungslehre und Pneumatologie die Problematik der Teilhabe des Einzelnen an der in der Kirche dargestellten Seligkeit (Erwählungslehre567) und der Gemeinschaftlichkeit der Darstellung (Pneumatologie566) bzw. der Teilhabe an den gleichursprünglichen, nie voneinander zu trennenden Aspekten „Glaube und Gemeinschaft des Glaubens"569. Dieser Teil entspricht somit sachlich den Überlegungen, die Schleiennacher seiner Lehre vom pflichtgemäßen darstellenden Handeln voranstellt570. Während dort aber damit der Rahmen zur Entwicklung des pflichtgemäßen Handelns erstellt wurde, dienen diese Erwägungen hier zur Fundierung der Lehre von der sachgemäßen Institutionalisierung dieses Handelns. Es wird hierin deutlich, daß auch die dogmatische Güterlehre fundiert ist in der Ethik vorgeordneten Disziplinen, sowie ihren eigentümlichen Ort in der Ethik hu Gegenüber zu Tugend- und Pflichtenlehre auszumitteln hat. Dies entspricht Schleiermachers Vorgehen in der philosophischen Güterlehre: Die Bezugnahme auf die der Ethik systematisch vorgeordneten Disziplinen erfolgt dort sachlich - nicht explizit - vorwiegend in der „Einleitung" zur Güterlehre57' sowie der ,Allgemeinen Übersicht"572 bzw. dem Abschnitt zu den „Grundzügen der Güterlehre"573. Die Bezugnahme auf Tugend- und Pflichtenlehre erfolgt sachlich - ebenfalls nicht explizit - vor allem im Abschnitt „Einzelne Ausführung"574 bzw. dem elementarischen Teil575 der Güterlehre. 565 GL2 § 125.Zusatz, 11.273. 566 GL2 §§115-125. 567 Vgl. den Lehrsatz von GL2 §119: „Die Erwählung derer, die gerechtfertigt werden, ist eine göttliche Vorherbestimmung zur Seligkeit in Christo". 568 Vgl. den die Pneumatologie eröffnenden Lehrsatz von GL2 §121: „Alle im Stande der Heiligung Lebenden sind sich eines innern Antriebes, im gemeinsamen Mit- und gegenseitigen Aufeinandenvirken immer mehr eines zu werden, als des Gemeingeistes des von von Christo gestifteten neuen Gesamtlebens bewußt". 569 So GL2 §148.1, 11.385. Diese Differenzierung tritt allein im 2.Band etwa an folgenden Stellen auf: GL2 11.341.388.390.394.395.399.417f. 433.434.455.458f. Die zwischen diesen beiden Aspekten vermittelnde Instanz ist der öffentliche Gottesdienst: GL2 §139.1, 11.341. Die Unterscheidung beider Aspekte und somit die Möglichkeit ihrer unterschiedlichen Gewichtung bildet die Grundlage von Schleiermachers Theorie des Gegensatzes zwischen Protestantismus und römischem Katholizismus; vgl. GL2 §24.3/4, I.140f. Diese Unterscheidung wird dann natürlich auch zur Grundlage der Theorie vom unterschiedlichen Charakter des evangelischen und des römisch-katholischen Kultus. 570 Diese Parallelität tritt auch im Zusatz zum ersten Hauptstück im Anschluß an §125 hervor. 571 PhE, 258fif.561ff. 572 PhE, 263flf. 573 PhE, 570flf. 574 PhE, 275ff. 575 PhE, 605ff.

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Daß hier Themen der Pflichtenlehre als notwendige Bezugspunkte der Güterlehre herangezogen werden, macht Schleiermacher deutlich, wenn er der Darstellung der vollkommenen ethischen Formen, d.h. der Güter, mit folgender Begründung einen Teil mit einzelnen Ausführungen voranstellt: „§75. Die Darstellung des Einzelnen auf die großen Formen Staat, Kirche, wissenschaftlichen und allgemein geselligen Verband zu beschränken würde Ideale geben, ohne daß man das lebendige Werden anschaute. §76. Eben so wenig aber darf die Darstellung alle Zustände des Werdens und alle einzelnen Gestaltungen jener großen Formen erschöpfen, weil sie sonst das Geschichtliche mit enthielte. Sie muß nur das Princip der Mannigfaltigkeit mit auffassen und muß das Uebrige den kritischen Disciplinen überlassen"576. §75 markiert die Nähe des in der Güterlehre abzuhandelnden Stoffes zur Thematik der Tugendlehre, das Prinzip des lebendigen sittlichen Werdeprozesses577. §76 dagegen knüpft die Verbindung der Güterlehre zur Pflichtenlehre, der einzelnen Vollzugsgestalten des sittlichen Werdeprozesses578. Wir haben bereits erwähnt, daß nach Schleiermacher die Pflichtenlehre von allen ethischen Disziplinen am meisten der Geschichte zugewendet ist579. Die genuine Thematik der Güterlehre wird somit erst im letzten Abschnitt derselben erreicht, der den vollkommenen sittlichen Formen gewidmet ist580. Es ergibt sich somit der erstaunliche Befund, daß der von Schleiermacher scheinbar am eingehendsten behandelte Teil der Philosophischen Ethik, die Güterlehre, weitaus fragmentarischer vorliegt, als gemeinhin angenommen. Was als Schleiermachers Güterlehre vorliegt, ist im großen und ganzen deren Rahmentheorie, d.h. eine allgemeine Einleitung in dieselbe. Das zentrale Thema der Güterlehre erreicht Schleiermacher im wesentlichen nur in der Lehre von den vollkommenen ethischen Formen, dem dritten Teil der Lehre vom höchsten Gut aus der Ethik von 1812/13581. Der uns interessierende Abschnitt „Von der Kirche" hat dabei einen Umfang von nur knapp sieben Seiten582. Dieser Befund entspricht nun genau dem dogmatischen Pendant zur philosophischen Güterlehre. Auch hier konstatierten wir ja den Sachverhalt, daß die Lehre von den Grundzügen der Kirche nur einen Teil der Ekklesiolo576 PhE,274. 577 Vgl. PhE, 551 [§111]: Die Tugendlehre verhandelt „die Mannigfaltigkeit von Tugenden, sofern es verschiedene Arten geben kann, wie die Vernunft als Kraft der Natur einwohnt". 578 PhE, 551 [§112]: Die Pflichtenlehre verhandelt „die Mannigfaltigkeit von Pflichten, sofern es verschiedene Verfahrungsarten giebt, wie die Tätigkeit der Vernunft zugleich eine bestimmte auf das Besondere gerichtete, und zugleich eine allgemeine auf das Ganze gerichtete sein kann". 579 PhE, 554 [§119]. 580 PhE, 320ff. Der entsprechende Abschnitt ist in der letzten Bearbeitung der Güterlehre zwar angekündigt (PhE, 570 [§22]), aber nicht ausgeführt worden. 581 PhE, 320-371. 582 PhE, 359-366.

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gie ausmacht583. Auch in der dogmatischen Theoriebildung benötigt die Güterlehre eine umfangreiche „Einleitung"584, welche ihre Voraussetzungen abklärt und sie gegenüber der dogmatischen Tugend- und Pflichtenlehre profiliert. Dieser Befund unterstützt eine unserer bereits häufiger vorgebrachten Grundthesen, daß die Rekonstruktion von Schleiennachers Gottesdiensttheorie - wie seiner Theorie des Christentums überhaupt - keineswegs hinreichend erfolgt ist, wenn man sie nur von der Güterlehre her entwickelt hat. Das christliche Leben und der von diesem Leben getragene Gottesdienst ist nur vollständig zu entfalten unter Berücksichtigung aller ethischen Hinsichtnahmen. Der fragmentarische Charakter der vorliegenden Ausarbeitung der philosophischen Güterlehre durch Schleiermacher führt nun dazu, daß diese nur bedingt zur Orientierung für die Rekonstruktion der dogmatischen Lehre von der Kirche und ihrem Kultus als sittlichen Gutem geeignet ist. Die Leistung der vorliegenden Ausarbeitung beschränkt sich doch fast völlig auf die Ausdifferenzierung der Funktion des Gutes Kirche in einem sittlichen Gemeinwesen*85. In dieser Hinsicht war die philosophische Güterlehre von uns auch in der Philosophischen Theologie herangezogen worden. Was nun aber die interne Ausgestaltung dieses sittlichen Gutes Kirche anbetrifft, so gibt die philosophische Güterlehre hierauf keine befriedigenden Auskünfte mehr. Wir müssen uns daher darauf konzentrieren, die internen Grundzüge der Kirche im Blick auf die Gottesdiensttheorie weitgehend aus der Glaubenslehre selbst sowie den dogmatischen Partien der Praktischen Theologie zu erheben. Die Anknüpfung der Ekklesiologie der Glaubenslehre an Schleiermachers Lehre vom höchsten Gut erfolgt mit der Hervorhebung einer an jener Stelle nur angedeuteten Pointe. Wir hatten im Zusammenhang der Philosophischen Theologie darauf hingewiesen, daß Schleiermacher in seiner Lehre vom höchsten Gut die Kirche in eigentümlicher Weise von den anderen drei Teilen des höchsten Gutes - dem Staat, der Wissenschaft und der freien Geselligkeit - abhebt. Während diese drei ethischen Formen eine bloß beschränkte Gemeinschaft zur Grundlage haben und auch eine bloß beschränkte Gemeinschaft immer wieder neu aus sich herauszusetzen vermögen, wurde die Kirche dahingehend bestimmt, eine universale unbeschränkte Gemeinschaft zum Inhalt zu haben, auch wenn diese umfassende Gemeinschaft nur in der Fülle mehr oder weniger lokaler Gemeinschaften realisierbar sei. Nur die Gemeinschaft der Frömmigkeit ist eine universale, alle Menschen gleichermaßen einschließende Gemeinschaft. Unausgesprochen bleibt an dieser Stelle, daß konsequenterweise dann die Theorie des 583 GL2§126-156. 584 GL2 §115-125. 585 In diesem Sinne wird sie auch in der Praktischen Theologie von Schleiermacher in Anschlag gebracht: PrTh, 491-520.662-703.

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höchsten Gutes, als die umfassende Theorie der sittlichen Sozialgestalt menschlich-endlichen Lebens, überhaupt nur im Horizont der Theorie der Kirche - der Theorie der frommen Gemeinschaft, der Gemeinschaft des frommen Selbstbewußtseins - konstruiert werden kann. Denn alle anderen Güter sind aufgrund ihres wesentlich beschränkten Umfanges nicht in der Lage, die Theorie einer weltumspannenden Sphäre der Sittlichkeit zu orientieren586. Genau diese Konsequenz wird von Schleiermacher in der Glaubenslehre zu Beginn der Lehre von dem Bestehen der Kirche in ihrem Zusammensein mit der Welt ohne jegliche Scheu klar ausgesprochen. Alle sittliche Gemeinschaft unabhängig von der Gemeinschaft des frommen Selbstbewußtseins und nur orientiert am Weltbewußtsein sei „doch in der Tat nur ein Aggregat von einzelnen einander mannigfaltig entgegenstrebenden und nur zufällig und auf vorübergehende Weise sich verbindenden Elementen"587. Alle Gemeinschaft unabhängig von der durch den Heiligen Geist vermittelten Gemeinschaft des frommen Selbstbewußtseins bezeichnet Schleiermacher als „Welt"588, d.h. „als das Formlose und Verworrene"589. Die Welt gewinnt Form und Ordnung nur durch die von der Gemeinschaft des unmittelbaren Selbstbewußtseins ausgehende Tätigkeit in ihr. Die Kirchentheorie - wenn man durch diesen Ausdruck das philosophische Pendant zur dogmatischen Disziplin der Ekklesiologie markieren und zugleich von dieser unterscheiden will - bildet somit das systematische Zentrum der Lehre vom höchsten Gut, wenn unsere Interpretation der Aussagen von §126.1 der Glaubenslehre als Anknüpfung an die Implikate der philosophischen Güterlehre zutreffend ist590. Dieser Interpretation widerspricht nur scheinbar folgender Paragraph aus Schleiermachers Lehre von der Kirche als vollkommener ethischer Form: 586 Wird hiergegen eingewendet, die neuzeitliche Mobilität und die neuzeitliche Reichweite der elektronischen Medien verlange eine Revision dieser These Schleiermachers, so möge man bedenken, daß es Schleiermacher um das Phänomen eines verantwortbaren Handelns auf globalem Niveau geht. Daß faktisch heute etwa das Selbstverständnis der Ökonomen und des dementsprechenden Handelns im wirtschaftlichen Bereich für sich beansprucht, Ausdruck einer weltumspannenden Gemeinschaft zu sein und eine solche immer wieder neu zu stiften, bedeutet noch nicht, daß dieser Anspruch ethisch gedeckt ist. Es wäre ja immerhin möglich, daß hinter der Vorspiegelung einer weltumspannenden Gemeinschaft des ökonomischen Handelns eine dieser als Bedingung ihrer Möglichkeit - wenn diese Möglichkeit überhaupt denkbar sein sollte - zugrundeliegende Gemeinschaft auf der Ebene des unmittelbaren Selbstbewußtseins systematisch verdeckt wird. 587 GL2 §126.1,11.275. Vgl. GL (l.Aufl.),§145.1,11.211: „Auch ist offenbar, daß die Welt in Bezug auf ihren Gegensaz gegen das Reich Gottes keinen Gemeingeist hat, der ihr eine solche Einheit geben könnte; sondern in allen eigentlichen oder uneigentlichen Einzelwesen ist irgend ein persönliches Interesse das ursprünglich bewegende und nur in der Opposition gegen den Geist treffen diese sonst weit auseinander gehenden Interessen zusammen". 588 Ebd. 589 GL2 §126. l, 11.274. 590 Vgl. auch Mariin E. Miller, Der Übergang, 230.

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„Es giebt auch eine Ansicht, welche die Kirche als die absolute ethische Gemeinschaft sezt und ihr Staat und Wissen unterordnet. Eine solche kann ihre geschichtliche Bewährung nur in einer Zeit finden, wo die Tendenz zur Völkergemeinschaft, welche mit von der Religion ausgeht, ein großes Uebergewicht hat über die zur Beschränkung auf die Nationalität"591. Dieser Paragraph zur „überschäzenden Ansicht" von der Kirche folgt auf einen Paragraphen, der eine „negative Ansicht" von der Kirche präsentiert592. §211 will also offenkundig hierzu eine „positive" Gegenansicht bieten, und das „überschäzende" kann nur darin liegen, daß die Erfüllung der Aufgaben des Staates und der Wissenschaft der Kirche zugemutet werden und somit jene in ihrer undelegierbaren Eigenständigkeit verkannt werden. Als schlechthin abwegig verwirft Schleiermacher diese „überschäzende Ansicht" jedenfalls nicht, da er ja die Bedingungen für ihre „geschichtliche Bewährung" genau angibt und diese sogar noch gerade von der kulturgeschichtlichen Entwicklung der Religion abhängig macht593. Die dogmatische Ausarbeitung der Grundzüge der christlichen Kirche entfaltet nun genau die Ansicht der Kirche in einer solchen geschichtlichen Situation - der des christlichen Glaubens -, in welcher die Tendenz der Religion auf eine weltumspannende Gemeinschaft tatsächlich ihre geschichtliche Bewährung findet. Das Fundament dieser geschichtlichen Bewährung ist das diese weltumspannende Gemeinschaft stiftende Lebenszeugnis Christi594. Wir werden die Lehre von den Grundzügen der christlichen Kirche als sittlichem Gut folglich zunächst mit einer Skizze dieser ehe weltumspannende religiöse Gemeinschaft stiftenden Tätigkeit Christi, seines „Geschäftes", beginnen müssen und haben danach die Grundzüge des Lebens der christlichen Kirche als die Abbildung und Fortbildung dieses Geschäftes zu fixieren. Schleiermachers im vorigen Abschnitt referierte dogmatische These, daß nur im Ausgang von der Gemeinschaft des christlich-frommen Selbstbewußtseins, der christlichen Kirche, die Ausbildung einer weltumspannenden Sphäre sittlicher Gemeinschaft möglich sei, ist ihrerseits die Aufnahme von Überlegungen, die Schleiermacher bereits zu Beginn der Gnadenlehre vorträgt595. Danach besteht die Funktion Christi in der Stiftung eines neuen göttlich gewirkten Gesamtlebens596, „welches dem Gesamtleben der Sünde und der darin entwickelten Unseligkeit entgegenwirkt"597. Erst in der Stiftung dieses neuen 591 592 593 594 595 596

PhE, 361f[§211], PhE, 361 [§210]. Vgl. die Aufnahme dieses Gedankens in GL2 §121.3, II.253f. GL 2 §121.3, II.253f. GL2 §§87ff. Vgl. Adele Weirich, Die Kirche in der Glaubenslehre F. Schleiermachers, lOlff., Emanuel Hirsch, Geschichte Bd. V, 332ff. 597 GL2 §87.

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Historische Theologie des Gottesdienstes

Gesamtlebens ist die Schöpfung der menschlichen Natur vollendet598. Dieses neue Gesamtleben wird nun nicht gestiftet auf die Weise einer durch Christus vermittelten absoluten Neuschöpfung der menschlichen Natur und ihrer Möglichkeiten, sondern auf die Weise der in ihm, Christus, realisierten Ausschöpfung der gegebenen menschlichen Natur und ihrer Möglichkeiten, d.h. ihrer Vollendung, und durch die erregende und mitteilende Wirksamkeit dieser höheren Vollkommenheit Christi auf alle anderen Menschen im Rahmen der Möglichkeiten geschichtlicher Wirksamkeit599: „So steht er [Christus; R. S.] auch mit seiner ganzen Wirksamkeit unter dem Gesetz der geschichtlichen Entwicklung, und sie vollendet sich durch die allmähliche Verbreitung von seinem Erscheinungspunkt aus über das Ganze"600. Eben diese „Wirksamkeit unter dem Gesetz der geschichtlichen Entwicklung" ist nun das Thema der Lehre vom Geschäft Christi. Insofern Christus verstanden wird als Schöpfüngsmittler, durch welchen die Schöpfung der menschlichen Natur vollendet wird, steht er in dieser Tätigkeit, seinem Geschäft, unter eben denselben Bedingungen, unter denen die Reflexion auf das fromme Selbstbewußtsein schon Schöpfung601 und Erhaltung602 stehen sah603. Besonders klar tritt dies hervor, wenn man die Lehre vom Geschäft Christi - in den §§100f - mit der Lehre von der Erhaltung vergleicht. Die Lehre vom Geschäft Christi entfaltet das Verständnis von dessen geschichtlicher Wirksamkeit im Horizont der Grenzpunkte ihres magischen und empirischen Mißverständnisses, zwischen welchen das mystische Verständnis der Tätigkeit Christi die sachlich zutreffende Mitte hält604. Auch die Lehre von der Erhaltung war ausgemittelt worden zwischen den Extremen eines magischen605 Verständnisses der göttlichen Wirksamkeit und einem vom frommen Selbstbewußtsein abstrahierenden, rein im objektiven Bewußtsein aufgehenden Weltverständnis, das der empirischen Sicht auf die Tätigkeit Jesu entspricht606 . Wir werden erwarten dürfen, daß auch die Lehre von den Grundzügen der Kirche sich in diesem Rahmen bewegen wird607. Die schöpferische und erhaltende göttliche Wirksamkeit ist in all ihren Realisationsgestalten - auch in der Tätigkeit Christi und in dem diese Tätigkeit abund fortbildenden Handeln der Christenheit - der bloß äußeren Wahrnehmung, die Schleiermacher in der Glaubenslehre als empirisch bezeichnet, unzugängGL2 §89. GL2 §89.2, II.24f. GL2 §89.2,11.25. GL2§§40ff. GL2 §§46-49. Vgl. GL2 §100.2, II.92f. Vgl Mariin E. Miller, Der Übergang, 110ff.l43f. Der Ausdruck magisch fällt GL2 §47.2,1.239. Der Bezug auf die Lehre vom Geschäft Christi wird ausdrücklich hergestellt etwa GL2 §47.1,1.236. 607 Vgl. GL2 §47. l, 1.237.

598 599 600 601 602 603 604 605 606

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lieh. Das bloß äußerlich Wahrgenommene ist auch nicht hinreichend, um mehr als eine bloß allgemeine Hoflhung hinsichtlich des guten Ausganges der Weltläufte zu stiften608. Ebenfalls unzureichend ist die magische Auffassung, nach welcher die schöpferische und erhaltende göttliche Wirksamkeit sich jenseits und unabhängig vom Naturzusammenhang vollziehen soll609. Damit wird diese Tätigkeit nämlich dem Gebiet der Erfahrung überhaupt entnommen. Die „Mitte" zwischen diesen beiden Extremen hält die mystische Auffassung610. In dieser ist die Auffassung der schöpferischen und erhaltenden göttlichen Wirksamkeit eine Sache der inneren Erfahrung611. Während die empirische Auffassung vom Charakter der Innerlichkeit der frommen Erfahrung des Glaubens abstrahiert und die magische Auffassung zugunsten der Innerlichkeit des Glaubens dessen Status als Erfahrung aufhebt, sind diese beiden Aspekte von der mystischen Auflassung als gleichursprünglich anerkannt612. Die Lehre vom Geschäft und den Ämtern Christi entfaltet ihr Thema daher so, daß sie es als ein Relationengefuge beschreibt: als die äußerlich vermittelte Relation, die zwischen dem inneren Leben der Christen und dem inneren Leben Christi besteht613. Der zentrale Charakter dieser Relation wird durch die termini technici „Selbstoifenbarung"6M und „Selbstdarstellung in Wort und Werk"615 bezeichnet. Diese Thematik wird bekanntlich von Schleiermacher im Zusammenhang seiner philosophischen Güterlehre erörtert. Wie wir gesehen haben, geschah dies aber vorzüglich in der Entfaltung des Rahmens der Güterlehre und in der Lehre von deren Elementen, nicht in dieser selbst. Als genuines Thema der Güterlehre kommt die Thematik der Selbstdarstellung bzw. der Selbstoffenbarung erst in den Bück, wenn man ihre Sozialgestalt, ihre Institutionen, betrachtet. Genau in dieser Hinsicht wird Christi Selbstdarstellung und Selbstoflfenbarung auch von Schleiermacher zum Thema der Lehre vom Geschäft Christi und seinen Ämtern gemacht. Es geht in ihr nicht um die einzelnen Akte der Selbstdarstellung Christi, ihren pflichtgemäßen Vollzug616, sondern um die Relation, die in allen diesen Akten gleichmäßig zwischen dem inneren Leben Christi und dem der einzelnen Christen und aller ihm begegnenden Einzelnen besteht617.

608 609 610 611 612 613 614 615 616 617

GL2 §101.3, Il.lOOf. Vgl. auch CS, 499ff [1826/27], Ebd. Ebd. GL2 §100.3,11.93. Wir hatten bereits darauf hingewiesen, daß die ontologischen Bedingungen der Möglichkeit einer solchen inneren Erfahrung in den Lehren von der ursprünglichen Vollkommenheit der Welt und des Menschen thematisiert werden. GL2 §§59-61. GL2 §100.3, II.93f. - Vgl. Mariin E. Miller, Der Übergang, 145ff. GL2 §100.2,11.92. GL2 §101.4, II. 104. Das ist die Aufgabe der christologischen Grundlegung der Christlichen Sittenlehre. GL2 §100.2, II.92f.

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Weil das so ist, weil die Lehre vom Geschäft Christi wesentlich immer schon daraufhin angelegt ist, dieses Geschäft als ein institutionalisiertes Relationengefüge zu beschreiben und nicht als die Beschreibung einzelner (heils)geschichtlicher Taten, deshalb ist Schleiermachers Rekurs auf die traditionelle Lehre von den Ämtern Christi mehr als nur eine Konzession an die dogmatische Tradition618. Auf das Konto der Tradition geht primär nur die Benennung der Ämter Christi mit den aus der jüdischen Theokratie entlehnten Titeln: prophetisches, hohepriesterliches und königliches Amt. Das durch diese Titel Bezeichnete muß aber auch in der christlichen Theologie seine Erörterung finden. Denn es muß auch der christliche Glaube sich eine gedankliche Rechenschaft ablegen über das Amt Christi in dem von ihm begründeten Gesamtleben, durch welches die Gottesherrschaft in diesem Gesamtleben dargestellt und zusammengehalten wird - gerade wenn dasselbe einen nicht theokratischen Charakter besitzen soll. Da nun dieses neue nichttheokratisch verfaßte Gesamtleben in einem bestimmten geschichtlichen Kontext - nämlich dem der jüdischen Theokratie - entstand, ist es ganz sachgemäß und sogar ethisch gefordert619, diesen Zusammenhang eingehend zu berücksichtigen. Dies geschieht durch die Aufnahme der traditionellen Ausdrücke für diejenigen Ämter, durch welche unter dem jüdischen Volk die Gottesherrschaft dargestellt und zusammengehalten ward620. Dabei geht es natürlich nicht um die Beschreibung von geschichtlichen Realisationsgestalten dieser Ämter, sondern um die Erfassung von deren idealem Gehalt621. Wobei gilt, daß jedes dieser drei Ämter seinen idealen Gehalt nur in der Gemeinschaft mit den beiden anderen Ämtern zu entfalten vermag622. Der ideale Gehalt des königlichen Amtes623 zielt auf die Funktion Christi als Stifter und Ordner einer Gemeinschaft. Bleibt diese Funktion unbeachtet, dann fallt Christus als Stifter und Ordner einer weltumspannenden religiösen Gemeinschaft aus; es entsteht notwendig ein unchristlicher und unsittlicher Separatismus624. Der ideale Gehalt des hohepriesterlichen Amtes zielt auf die Funktion Christi als Stifter und Ordner einer religiösen Gemeinschaft. Ohne die Wahrnehmung dieser Funktion bliebe das Christentum eine profane Gemeinschaft ohne religiösen Gehalt625. Der ideale Gehalt des prophetischen 618 So könnte man GL2 §102. l, II. 105f, mißverstehen. 619 Vgl. KD2 §46; ThES, 52ff. Die dort einschlägigen Themen nimmt vor allem GL2 §103 auf. 620 GL2 §102.1, II. 105. 621 GL2 §102.2, 11.106. - In ebendieser Weise wurde von Schleiermacher ja bereits der traditionelle Titel des Messias auf die Person Christi bezogen. 622 GL2 §102.3, II. 107f. 623 Vgl. Wilfried Brandt, Der Heilige Geist und die Kirche bei Schleiermacher, 188ff. 624 Ebd. 625 Ebd. In Anlehnung an Schleiermachers Terminologie in der Lehre vom Geschäft Christi könnte man in diesem Falle auch von einer bloß empirischen Gemeinschaft sprechen.

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Amtes zielt auf die Art und Weise, wie durch Christus diese religiöse Gemeinschaft gestiftet und geordnet wird: durch seine unmittelbar geistig anregende Selbstmitteilung, weil dies die „geschichtliche Naturform"626 für alle geistige Erregung ist. Ohne dieses Amt wäre das Zustandekommen des Reiches Gottes Sache bloßer Magie627. Daß diese drei Ämter notwendig in Christus vereinigt gedacht werden müssen, kann nicht allgemein bewiesen werden, sondern ist nur dem christlichen Glauben, jener mystischen inneren Erfahrung, gewiß diesem aber ist es als ein notwendiges Implikat seiner selbst gewiß. Auch wenn Schleiermacher die Gleichursprünglichkeit dieser drei Ämter stets hervorhebt, stellt er doch das prophetische Amt ebenso durchgängig dem königlichen und dem hohepriesterlichen Amt in eigentümlicher Weise gegenüber. Diese letzteren bezeichnet Schleiermacher als „die beiden gestaltenden Tätigkeiten"628, von denen er die unmittelbar geistig anregende Tätigkeit des prophetischen Amtes unterscheidet629. Das Wesentliche der prophetischen Tätigkeit ist „immer Anregung durch Lehre und Ermahnung"630, wobei die Betonung auf „Anregung" liegt. Dies gilt auch für die alttestamentliche Prophetie. Der eigentümlich anregende Gegenstand von Christi prophetischer Selbstdarstellung nun war er selbst als derjenige, der die Menschen als der Hohepriester zur seligen Gemeinschaft mit Gott erhebt und die fromme Gemeinschaft dieser mit Gott Versöhnten als der König regiert: „So daß alles, was zu seinem hohepriesterlichen und königlichen Amt gehört, in seiner Lehre ebenfalls vorkommen muß, indem er seine Bestimmung verkündigt, die Menschen zur Gemeinschaft mit Gott zu erheben und geistig zu regieren"631. Daß in Christi prophetischer Selbstdarstellung der seine Schöpfung liebende Schöpfer und dessen gnädiger Wille zur Versöhnung mit seiner Schöpfung offenbar wird, versteht sich nicht von selbst, sondern muß im Rahmen dieses Lebenszeugnisses auch explizit ausgesprochen werden. Entsprechendes gilt für die Art und Weise, wie er in seinem Lebenszeugnis zur geistigen Orientierung der Gemeinschaft der Gläubigen wird. Auch dieses sein königliches Amt muß im Vollzug des prophetischen Amtes explizit offengelegt werden. Diese Explikationsleistung ist deshalb unerläßlich, weil es sich sowohl im Falle des hohepriesterlichen als auch des königlichen Amtes um rein innerliche Amtsbezirke handelt612. SowohJ das hohepriesterliche als auch das königliche Amt er626 627 628 629 630 631 632

GL 2 § 101.4,11.104. GL2 §102.3, 11.107. Ebd. Ebd. GL2 §103. l, 11.108. GL2 §103.2,11.112. Vgl. etwa die folgende Aussage zum hohepriesterlichen Wert des tätigen Gehorsams Christi: „Der hohepriesterliche Wert desselben aber bezieht sich auf seine Vereinigung mit uns, sofern nämlich sein reiner Wille, den göttlichen Willen zu erfüllen, kraft der zwischen ihm und uns bestehenden Lebensgemeinschaft auch in uns wirksam ist, und

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schließen sich hinsichtlich ihres Wesens nur über das, was Christus im Vollzug seines prophetischen Amtes hierüber ausführt. Dem gemäß ist die Reihenfolge der Paragraphen zur Ämterlehre gegliedert. Beginnend mit der Lehre vom prophetischen Amt Christi633, folgen die Lehre vom hohepriesterlichen634 und dem königlichen Amt635. Dem entspricht auch später die Reihenfolge der Lehrsätze zu den Wesenszügen der christlichen Kirche, die ja von der Ämterlehre her entwickelt werden. Wir dürfen daher erwarten, daß auch dort die Lehre von der Heiligen Schrift und die vom Dienst am göttlichen Wort - die Parallelen zum prophetischen Amt Christi - das Gegebensein dieser Institutionen entwickeln werden als notwendigen Horizont für ein rechtes Verständnis der in den Lehren von Taufe und Abendmahl - den Parallelen zum hohepriesterlichen Amt - und den Lehren vom Amt der Schlüssel und dem Gebet im Namen Jesu - den Parallelen zum königlichen Amt - thematischen Institutionen der Christenheit. Fragen wir nach dem „Sitz im Leben" des prophetischen Lehramtes, so erhalten wir zur Antwort, daß Christus die im Judentum gegebenen Freiräume zur Lehre so wahrnahm, daß er zu jeder sich bietenden Gelegenheit Zeugnis gab von sich selbst. „Sitz im Leben" dieses Amtes war also kein besonderer Bereich seines Lebenszeugnisses, sondern alles öffentliche Handeln Christi: ,JJas Lehramt Christi heißt daher auch nur die Selbstbestimmung dazu, sich dieser Freiheit in dem möglichst größten Umfang zu gebrauchen636; so daß es für ihn zu irgendeinem bestimmten Lehrakt keiner ändern Veranlassung bedurfte, als nur der Anwesenheit Lehrbegieriger einzeln oder in Menge, und daß alle seine Gesprächsrührung auch belehrend war, so wie sie es der jedesmaligen Art und den Umständen nach sein konnte"637. Wir werden auch diesbezüglich erwarten dürfen, daß sich die hieraus abgeleiteten kirchlichen Institutionen analog verhalten werden. Das heißt, daß auch der „Sitz im Leben" des Umgangs mit der Hl. Schrift und des Dienstes am göttlichen Wort nicht einschränkbar ist auf bestimmte Teilbereiche des christ-

633 634 635 636 637

wir also an seiner Vollkommenheit teilhaben, wenn auch nicht in der Ausführung, doch im Antrieb: so daß unsere Vereinigung mit ihm, wenngleich sie sich in der Erscheinung nur anders entwickelt, doch als absolut und ewig von Gott anerkannt, und ebenso in unserm Glauben gesetzt wird" (GL2 §104.3, 11.124). Zum königlichen Amt vgl. etwa GL2 §105.1,11.138. Danach gilt, daß Christi „königliche Macht nicht unmittelbar über die Dinge dieser Welt schaltet und sie ordnet, wornach also nur das Innere der Menschen jedes für sich und in ihrer Beziehung zueinander als deren unmittelbares Gebiet übrigbleibt". GL 2 §103. GL2§104. GL 2 §105. 3.Aufl. cj: bedienen [Vgl. die Anm. zur Stelle in der von Redeker herausgegebenen Neuauflage der zweiten Auflage der Glaubenslehre]. GL2 §103.2,11.109.

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liehen Lebens, sondern dieses in seiner Ganzheit umfaßt, so wie es „der jedesmaligen Art und den Umständen nach" sein kann638. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß die fromme Gemeinschaft als Reich Gottes ihrem Wesen nach ebensowenig unmittelbar in der äußeren Wahrnehmung gegeben sein kann wie die heilsgeschichtliche Bedeutung des Lebenszeugnisses Christi. Beider Wesen ist nur als Gegenstand der inneren Erfahrung des Glaubens präsent, wenn sich dieser Glaube auch nur entzündet an bestimmten geschichtlichen Gegebenheiten, eben dem geschichtlichen Handeln des Menschen Jesus von Nazareth und dem geschichtlichen Handeln der Kirche. Das im Glauben erschlossene Wesen der Kirche muß dabei immer ihr geschichtliches Handeln orientieren, wenn dieses ihrem Wesen entsprechen soll. Wir werden daher zunächst von der verborgenen Kirche handeln, um damit den Gehalt dessen zu fixieren, was im Glauben der sichtbaren Kirche als deren gemeinsames religiöses Leben ausdrücklich werden soll, wenn das auch niemals in unmittelbarer Weise geschehen kann.

B. Die verborgene Kirche als sittliches Gut In seiner dogmatischen Lehre von den wesentlichen und unveränderlichen Grundzügen der Kirche639 beschreibt Schleiermacher die wesentlichen „Institutionen"640 derselben, die in ihrem Wesen begründeten, auf Dauer gestellten „Haupttätigkeiten"641. Deren geschichtliche Realisationsgestalten, die jeweiligen „Beschaffenheiten der Gemeinschaft"642, sind allerdings abhängig vom geschichtlichen Kontext und einstweilen immer nur inadäquate und uneindeutige Erscheinungsformen lebendigen christlichen Glaubens. Diesen Sachverhalt erörtert Schleiermacher dann in der zweiten Hälfte des Hauptstückes „Von dem Bestehen der Kirche in ihrem Zusammensein mit der Welt": „Das Wandelbare, was der Kirche zukommt vermöge ihres Zusammenseins mit der Welt"643. Die nun hier abzuhandelnde Institutionenlehre der christlichen Kirche beschreibt also an keiner Stelle diese Institutionen unmittelbar hinsichtlich ihrer äußerlich wahrnehmbaren Gestalt, sondern stets nur den inneren idealen Gehalt644 ihres Weltbezuges64S. Ist dieser erfaßt, kann er als Orientierungsrahmen dienen, um jeweils zu entscheiden, ob ein uns begegnendes 638 639 640 641 642 643 644 645

Vgl. GL2 §133.2, II.310f. Vgl. Adele Weirich, Die Kirche in der Glaubenslehre F. Schleiermachers, 112ff. GL 2 § 127.2,11.280. GL 2 § 126.2,11.278. Ebd. GL2 §§148-156 GL2 §127.1,11.279. Auch hier ist der Weltbezug konstitutiv!

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Historische Theologie des Gottesdienstes

geschichtliches Phänomen diese idealen Gehalte in individueller Weise repräsentiert und also als Kirche gelten muß; oder aber, ob es diese idealen Gehalte durch etwas anderes ersetzt und sich somit von der Einheit und Selbigkeit der christlichen Kirche fortbewegt646. Der die Institutionenlehre einleitende Paragraph lautet: „Die christliche Gemeinschaft ist ohnerachtet des von ihrem Zusammensein mit der Welt unzertrennlichen Wandelbaren doch immer und überall sich selbst gleich, insofern erstlich das Zeugnis von Christo in ihr immer dasselbige ist, und dies findet sich in der heiligen Schrift und im Dienst am göttlichen Wort; zweitens insofern die Anknüpfung und Erhaltung der Lebensgemeinschaft mit Christo auf denselben Anordnungen Christi beruht, und diese sind die Taufe und das Abendmahl; endlich insofern der gegenseitige Einfluß des Ganzen auf den Einzelnen und der Einzelnen auf das Ganze immer gleich geordnet ist, und dieser zeigt sich im Amt der Schlüssel und im Gebet im Namen Jesuias Hauptstudium ist immer das eigene religiöse Leben und die religiöse Weltbetrachtung. Dem zur Seite das Studium der Kunstwerke").775. - Auch die theoretischen Disziplinen der Theologie verfahren prinzipiell dem analog, was ihren Ansatz anbetrifft. Sie informieren die Studentinnen und Studenten nicht über die Sache der Theologie als etwas, das ihnen unbekannt wäre, sondern verhelfen zu einem systematischen Durchdringen der je eigenen Erfahrungen mit der christlichen Frömmigkeit. 45 Vgl. den berühmten einschlägigen Brief an Wilhelm von Humboldt vom 22. Mai 1810 in: Briefe 4, 180. Dort führt Schleiermacher aus, daß ihm „eine besondre Professur der praktischen Theologie nicht einmal wünschenwert [scheine; R.S.], und weit besser, daß dies von denen, die sich mit den theoretischen Disciplinen beschäftigen, beiläufig geschieht".

Schleiermachers Projekt einer Praktischen Theologie

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Diese private Einlassung Schleiermachers darf allerdings nicht dahingehend gedeutet werden, als könne die Theologie nach Schleiermacher letztlich doch auf die von der Praktischen Theologie zu erbringende Leistung verzichten. Viel wahrscheinlicher ist es, daß Schleiermacher nur allzu deutlich diejenige Praxis vor Augen stand, in welcher die Praktische Theologie als eine Disziplin ausgeübt wird, welche die Ergebnisse der anderen theologischen - aber auch der nichttheologischen - Disziplinen popularisierend im Blick auf das Pfarramt anwendungsreif zu präsentieren sucht. Wenn aber nach Schleiermacher die Richtigkeit und Sachgemäßheit der praktisch-theologisch zu formulierenden Kunstregeln einer zusammenstimmenden Kirchenleitung davon abhängig zu machen ist, daß sie auf der Grundlage eines Wissens um die „Natur der Sache" und ihrer aktuellen Befindlichkeit erstellt werden, dann läßt sich leicht verstehen, daß hierzu eine Praktische Theologie, die diesen Horizont systematisch ausblendet oder zumindest popularisierend verengt, nicht in der Lage sein kann und statt dessen eher kontraproduktiv wirken muß. Denn die zur Konstruktion zukünftiger Praxis anleitenden Regeln sind dann nicht aus der historisch-kritisch gebildeten Einsicht in die Sache selbst gewonnen, sondern ein Produkt der Phantasie. In einer solchen Situation könnten dann provisorisch tatsächlich die Anliegen der Praktischen Theologie und damit die Interessen aller an einer zusammenstimmenden Kirchenleitung interessierten Christen und Christinnen besser, weil sachgemäßer, in den theoretischen Disziplinen gewahrt bleiben. Prinzipiell müßte aber auch in diesem Fall die technische Zusammenstellung der Regehi aus dem Repertoire der historisch-theologischen und philosophisch-theologischen Regelkenntnisse zum Zwecke ihrer Überführung in Kunstregeln von diesem Repertoire selbst kategorial unterschieden werden. Dies wäre provisorisch möglich durch die Integration solcher Momente in den Lehrbetrieb, die sich auf die gedanklich antizipierende Anwendung der nachkonstruierten Regehi in konstruktiver Absicht richten oder auf das exemplarische Studium klassischer Fälle und Unfälle der Anwendung der nachkonstruierten Regehi46. Der dem technischen Verfahren von der Natur der Sache, wie er im Zusammenspiel von Philosophischer und Historischer Theologie expliziert wurde, vorgegebene Rahmen zum Zwecke der Ordnung und Klassifikation der Regehi für die christlich-kirchlichen Tätigkeiten entspricht nun nach Schleiermacher den verschiedenen Gestaltungsbereichen „des ursprünglichen Gegensatzes zwischen den Hervorragenden und der Masse"47. Kirchenleitung ist die Ge46 Das findet faktisch auch immer schon statt, wie nicht zuletzt Schleiermachers eigene Lehrpraxis in den historisch-kritischen Disziplinen belegt. Dies spricht aber nicht gegen die Institutionalisierung dieser Tätigkeit in einer eigenen technischen Disziplin, wie ja auch die Philosophische Theologie nach Schleiermacher eine eigene Disziplin ausmacht, obwohl er selbst sie nur provisorisch im Zusammenhang seiner Dogmatik entfaltet hat. 47 KD2§267.

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Praktische Theologie des Gottesdienstes

staltung dieses Gegensatzes, wobei als terminus technicus für die hierbei einschlägige Methode von Schleiermacher der Begriff des „Umlaufs" gebraucht wird48. Der Begriff des Umlaufs bezeichnet den Zustand „einer lebendigen Circulation", in welcher sich alle Glieder der christlichen Gemeinschaft untereinander befinden, um entweder ihr Bedürfnis nach Intensivierung ihres religiösen Bewußtseins zu artikulieren oder aber ihre religiöse Bestimmtheit anderen produktiv mitzuteilen49. Der Gehalt der kirchenleitenden Einflußnahme auf die „Circulation der Frömmigkeit" ist dabei entweder eher „erbaulich" - im Blick auf die religiösen Vorstellungen - oder aber eher „regierend" - im Blick auf die Einflußnahme auf das sittliche Leben50: „In der Übereinstimmung mit allem Bisherigen werden wir sonach in der christlichen Kirchenleitung vornehmlich zu betrachten haben die Gestaltung des Gegensatzes behufs der Wirksamkeit vermittelst der religiösen Vorstellungen, und die behufs des Einflusses auf das Leben, oder die leitende Tätigkeit im Kultus und die in der Anordnung der Sitte"5'. Damit wird zur Rahmung der Praktischen Theologie an Überlegungen angeknüpft, die explizit bereits im Zusammenhang der Kirchengeschichte im engeren Sinne vorgetragen wurden52, sachlich aber darüber hinaus bis in die Philosophische Theologie zurückgreifen. Der kleinste organische Teil, der Gegenstand einer erbauenden bzw. regierenden kirchenleitenden Tätigkeit werden kann, ist die „Gemeinde"53. Die leitende Tätigkeit in diesem Bereich ist der „Kirchendienst"54. Die organische Verbindung der Gemeinden ist die „Kirche"55. Die leitende Tätigkeit mit der Richtung auf die Kirche ist das ,TKirchenregiment''56. Die Unterscheidung von Kirchendienst und Kirchenregiment wird von Schleiermacher zum obersten Teilungsgrund der Praktischen Theologie erklärt57, wobei in beiden Teilen die erbauende und die regierende Tätigkeit ihre besondere Bearbeitung erfahren. Im Rahmen des Kirchendienstes führt die Berücksichtigung der erbauenden und der regierenden Tätigkeit zur Ausdifferenzierung des Handlungsfeldes des erbaulichen „Kultus", d.h. des Zusammentreten der Gemeinde „zur Erweckung und Belebung des frommen Bewußtseins" auf der einen Seite58; auf der anderen Seite steht die regierende Tätigkeit mit den beiden Gebieten der 48 KD2§268. Vgl. KD2 §169; PrTh 50. 49 PrTh, 49f. - Vgl. Christian Möller, Die Erbauung der Gemeinde aus der „lebendigen Circulation des religiösen Interesses" bei Friedrich Schleiermacher. 50 Vgl. KD2 §279. 51 KD2§269. 52 KD2§168ff. 53 KD l.Aufl., 75 [§17](=Scholz, 104); vgl. KD2 §271; PrTh, 32f. 54 KD2§274. 55 KD 2 §271. 56 KD2§274. 57 KD2§274 58 KD2§279.

Schleiermachers Projekt einer Praktischen Theologie

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„Seelsorge"59 - „Katechetik"60 und „Seelsorge im engeren Sinne"4' - und der „anordnenden Tätigkeit"62. Im Kirchenregiment unterscheidet Schleiermacher zwischen dem gebundenen Element, „nämlich der Gestaltung des Gegensatzes für den gegebenen Komplexus, und dem ungebundenen, nämlich der freien Einwirkung auf das Ganze"63. Dabei wirkt die „organisierte Kirchenmacht" vorzüglich „ordnend oder beschränkend", während die ungebundene „freie Geistesmacht" eher „aufregend und warnend" tätig ist64. Praktisch-theologischer Reflexion bedürfen im Blick auf die organisierte Kirchenmacht die Regeln für die Gestaltung des Gegensatzes von Klerus und Laien65 sowie die kirchliche Gesetzgebung im Blick auf Kultus und Sitte66. Die freie Geistesmacht bedarf zu ihrer besonnenen Wahrnehmung besonders der Regeln für die Ausübung der Tätigkeit im akademischen Lehramt67 sowie der Tätigkeit als theologischer Schriftsteller**. Klar erkennbar sind es nicht die hier thematischen Gegenstände, die das Proprium der Praktischen Theologie ausmachen. Die Entfaltung und Gliederung der Praktischen Theologie bietet mit ihrer Ausdifferenzierung von Hervorragenden und Masse, Kultus und Sitte, Einzelgemeinde und Gesamtkirche und der Thematik der freien Geistesmacht sachlich keinen Gesichtspunkt, der so nicht auch in die Gliederung der Kirchengeschichte oder der kirchlichen Statistik eingehen könnte69. Praktisch-theologisch sind diese Themen nur insofern, als sie nun hinsichtlich der Methodenfrage der Kirchenleitung als Seelenleitung in den Blick kommen. Die Praktische Theologie ist bei Schleiermacher nicht durch ihre Themen definiert. Das belegen auch die Vorlesungsnachschriften zur Praktischen Theologie mit ihrer Entfaltung der eigentumlich praktisch-theologischen Fragestellung. Weder der Gegensatz von Klerus und Laien noch die Theorien des Kultus, der Katechese oder der Seelsorge; weder das Verhältnis von Einzelgemeinde und Landeskirche noch die Frage nach der Funktion von Kirche und Religion im Gesamtgefüge der Gesellschaft sind genuin praktisch-theologische Themen. Vielmehr tauchen all diese Fragen in sämtlichen theologischen Disziplinen als Problem auf70. Genuin praktisch-theologisch ist, daß nach den einschlägigen Kunstregeln zur sachgemäßen Gestaltung der jeweiligen kirchenlei59 60 öl 62 63 64 65 66 67 68 69 70

KD2§290. KD2§291. KD2§299. KD2 §290.§303. KD2§312. KD2§313. KD2§315 KD2§317f KD2§328. KD2 §328.332ff. Vgl. KD2 §§166ff.; §§232ff. Vgl etwa PrTh, 25f.

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Praktische Theologie des Gottesdienstes

tenden Praxis in diesen Praxisfeldem gefragt wird. In der Praktischen Theologie geht es um Gestaltungskompetenz zur Erhaltung und Vervollkommnung der Kirche in all ihren Praxisfeldern.

2. Die Aufgabe einer Praktischen Theologie des Gottesdienstes als Kultus Im ersten Hauptteil dieser Arbeit hatten wir die Aufgabenstellung einer praktisch-theologischen Gottesdiensttheorie bereits skizziert: Zusammenstellung der Kunstregeln zur sachgemäßen Ausübung des christlichen Gottesdienstes in bestimmt gegebenen historischen Kontexten. Die Praktische Theologie steuert nach Schleiermacher also denjenigen Teilbeitrag zur Gottesdiensttheorie bei, der sich mit dem sachgemäßen „Wie" des gottesdienstlichen Handelns beschäftigt. Was der Gottesdienst ist, warum er und von wem er gefeiert wird, ist für die Beantwortung der praktisch-theologischen Fragestellung von entscheidender Bedeutung, wird aber gerade nicht von der Praktischen Theologie selbst beantwortet, sondern ist Thema anderer theologischer Teildisziplinen. Da Schleiermachers Gottesdiensttheorie bisher vorwiegend von den Fachvertretern der Praktischen Theologie71 dargestellt worden ist und da diese Darstellung fast durchgehend ohne eine systematische Rekonstruktion des enzyklopädischen Verweisungszusammenhanges unter den verschiedenen Einlassungen Schleiermachers zur Gottesdiensttheorie erfolgte72, mußte notwendig ein irreführender Eindruck entstehen hinsichtlich der Theorielast, die nach dieser landläufigen Deutung der Praktischen Theologie und ihrem Beitrag zur Gottesdiensttheorie in Schleiermachers theologischer Konzeption aufgebürdet wird. Dieser Eindruck soll nun korrigiert werden. Dabei ist zu beachten: Mit dieser Korrektur ist keineswegs eine Ermäßigung des theoretischen Anspruches an die theologische Lehre vom Gottesdienst beabsichtigt. Ganz im Gegenteil, versuchten doch die bisherigen Abschnitte zu den Beiträgen der historisch-kritischen Teildisziplinen zur theologischen Lehre vom Kultus, die überaus komplexe Gestalt und den höchst diffizilen Gehalt dieser Lehre offenzulegen. Bevor wir uns der „Kurzen Darstellung" mit ihrer Aufgabenstellung an die Praktische Theologie für die Lehre vom christlichen Kultus zuwenden, wollen wir kurz diejenigen Stellen in der Christlichen Sittenlehre betrachten, welche aus dieser die Fragestellung der Praktischen Theologie im Blick auf die Gottesdiensttheorie ausgrenzen. Wir stellen diese Betrachtungen voran, um an 71 Abgesehen von Eberhard Jüngel, Der Gottesdienst als Fest der Freiheit. 72 Mit der Ausnahme: Rainer Volp, Liturgik, Bd.2, 797ff. Zu den Vorbehalten gegenüber Volps Vorgehen, Schleiermachers enzyklopädisches Raster umzustellen, vgl. die einschlägige Anmerkung in der Einleitung zur vorliegenden Arbeit. Zumindest ansatzweise wird Schleiermachers Gottesdiensttheorie enzyklopädisch rekonstruiert bei Eberhard Jüngel, a.a.O.; Wilhelm Grab, Predigt als Mitteilung des Glaubens, 190-193.

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Schleiermachers eigenen Vorlesungsmitteilungen den Blick dafür zu schärfen, daß es in der Praktischen Theologie nur um einen Teilaspekt der Lehre vom christlichen Kultus geht. Aufgrund des gänzlich formalen Charakters der „Kurzen Darstellung" bestünde ansonsten die Gefahr, das traditionelle Vorverständnis von der Praktischen Theologie als einer das Ganze des Gottesdienstes abdeckenden theologischen „Supertheorie" in die Formeln der „Kurzen Darstellung" hineinzulesen und in ihnen dann bestätigt zu sehen. In der Lehre der Christlichen Sittenlehre vom darstellenden Handeln, wie sie in der Beilage B (1822) der Ausgabe von Ludwig Jonas niedergelegt ist73, sind sowohl der Gehalt des darstellenden Handelns - Gottesdienst - 74 , als auch die Frage der Darstellungsmittel75 als Themen der Christlichen Sittenlehre bereits erörtert, bevor Schleiermacher die Aufgabe der Praktischen Theologie für die Lehre vom christlichen Kultus aus den einschlägigen Überlegungen der Christlichen Sittenlehre ausgrenzt: , Aües, was zur Technik des Gottesdienstes gehört, wird hier übergangen. [...] Dies ist die Aufgabe für die Praktische Theologie"76. Worauf genau sich die Technik des Gottesdienstes bezieht, hat Schleiermacher in dem als Beilage A (1809) abgedruckten Manuskript erläutert. Auch hier ist die Bestimmung des Gehaltes des darstellenden Handelns sowie dessen Zusammengesetztsein aus Kunstelementen bereits von der Christlichen Sittenlehre entfaltet worden, bevor die Aufgabe der Praktischen Theologie expliziert wird: „Den Cultus aus den verschiedenen Kunstelementen zu einem ganzen zusammensezen, ist die Aufgabe der praktischen Theologie. Nämlich wenn man dies recht im großen ansieht. Sie muß natürlich auch von der Sittenlehre ausgehen"77. Die Technik, welche die Praktische Theologie in der Gottesdiensttheorie zu entwerfen hat, betrifft offenkundig die Auswahl aus vorgegebenen und von anderen theologischen Teildisziplinen bereits näher bestimmten Kunstelementen als Darstellungsmittehi im Blick auf deren Gemäßheit zu einem vorgegebenen und von anderen theologischen Teildisziplinen bereits näher bestimmten Darstellungsgehalt. Diesem Befund entspricht auch eine Vorlesungsnachschrift aus dem Jahre 1824/25 zur Christlichen Sittenlehre: „Daß die Elemente der Darstellung, welche den verschiedenen Partialkirchen gemein sind, immer auf solche Weise behandelt werden, daß das Bewußtsein der bestehenden Gegensäze nicht verschwinde, ist Sache der praktischen Theologie"78. 73 74 75 76 77 78

CS,Beil.B, 146ff[§§lff.]. CS, Beil.B, 149 [§10]. CS, Beil.B, 149 [§11]. CS, Beil.B, 150 [§15]. CS, Beil.A, 29 [§88]. CS, 589 [l824/25].

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Da es sich beim christlichen Kultus nicht um ein statisches Gebilde handelt, sondern um ein kunstvoll gestaltetes Handlungsgefüge, betreffen die technischen Regehi auch nicht die Anordnung von Darstellungsmitteln und Kunstelementen an sich, sondern den handelnden Umgang mit ihnen79. Anachronistisch läßt sich sagen: Aufgabe der Praktischen Theologie im Blick auf die Gottesdiensttheorie ist die Zusammenstellung von Interaktionsregeln religiös-kultischer Kommunikation. Nachdem hierzu in der Christlichen Sittenlehre der Möglichkeitsrahmen zwischen dem Gottesdienst der Quäker und dem römisch-katholischen Meßgottesdienst abgesteckt wurde80, wird die nähere Anordnung der in diesem Rahmen stattfindenden Interaktion als eine technische Frage an die Praktische Theologie gewiesen". Über die Richtigkeit und die Vollkommenheit des anzuordnenden Verhältnisses zwischen den am Kultus beteiligten Personen läßt sich jedoch keine bestimmte Handlungsformel angeben82. Das, was richtig und vollkommen ist, muß sich je und je „offenbaren in der Zusammenstimmung und Befriedigung des persönlichen und des Gemeingefühls"83. Aus diesen in der Christlichen Sittenlehre nebenher eingestreuten Bemerkungen Schleiermachers geht zumindest soviel hervor, daß die Praktische Theologie tatsächlich keinen materialen Beitrag im Blick auf das Wissen um den christlichen Kultus in seinem Gegebensein leistet. Dieses Wissen wird immer schon vorausgesetzt. Aufgabe der Praktischen Theologie ist es, eine praktisch-theologische Urteilsbildung zu kultivieren, die auf der Grundlage dieses Wissens aus der Perspektive der Aufgabe der Kirchenleitung die verschiedenen gegebenen Möglichkeiten kultischen Handelns gegeneinander abzuwägen und hinsichtlich ihrer jeweiligen Dienlichkeit zur Erbauung der Gemeinde zu gewichten vermag. Gehen wir nun über zur „Kurzen Darstellung". Deren die Thematik des Kultus von der Seite des Kirchendienstes aufgreifender §280 lautet: „Die erbauende Wirksamkeit im christlichen Kultus beruht überwiegend auf der Mitteilung des zum Gedanken gewordenen frommen Selbstbewußtsems, und es kann eine Theorie darüber nur geben, sofern diese Mitteilung als Kunst kann angesehen werden"84. Damit ist zunächst allerdings nur die Bedingung der Möglichkeit einer auf den Kultus bezogenen Kunstlehre bezeichnet, und es könnte scheinen, als müsse die Praktische Theologie sich nun doch selbständig um eine materiale Theorie religiöser Mitteilung bemühen. Dies ist aber aus folgendem Grund unwahrscheinlich. Die Aufgabenstellung an die Praktische Theologie, eine 79 80 81 82 83 84

CS, 555f. CS, 541ff. CS, 544. CS, 556. Ebd. Vgl. CS, 577. KD2§280.

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Kunstlehre zu entwickeln, könnte gar nicht erfolgen, wenn nicht bereits vorgängig durch die historisch-kritische Nachkonstruktion des christlich-kirchlichen Lebens dessen fundamentale ästhetische Komponente auch material eingesehen worden wäre. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Kunstlehre der religiösen Darstellung ist ja gerade die Reaktion auf die philosophisch-theologische Einsicht in das immer schon ästhetisch verfaßte christliche Leben85 und soll den sachgemäßen Umgang mit dieser ästhetischen Grundverfassung regeln unter Berücksichtigung der je gegebenen religions- und allgemein kulturgeschichtlichen Möglichkeiten, wie sie die Historische Theologie erfaßt hat. Diese Überlegung wird zudem auch von der den Paragraphen erläuternden Bemerkung untermauert. Denn die versteckte, erst hier gegebene präzise Angabe der Aufgabe der praktisch-theologischen Theoriebildung im Blick auf den Kultus bestätigt unsere bisherige Deutung: „Die Theorie muß beides zugleich umfassen, in welchem Grade Kunst hier gefordert wird oder zugelassen, und durch welche Verfahrungsweisen die Absicht zu erreichen ist"86. Ziel der Praktischen Theologie ist also mit Blick auf die Aufgabe der Kirchenleitung die Auswahl der geeigneten Darstellungsgehalte aus der gegebenen christlichen Vorstellungswelt sowie die Besinnung auf die situationsadäquate Form der Mitteilung derselben87. Die Form der sprachlichen Mitteilung im christlichen Kultus ist zusammengesetzt aus prosaischen oder poetischen Elementen - gemeint sind damit an dieser Stelle vor allem Choralgesang und Gebete. Und auch hierbei ist die Aufgabe der Praktischen Theologie die Orientierung einer situationsadäquaten Gestaltung bzw. „Auswahl aus dem Vorhandenen"88. Daß das praktisch-theologische Interesse sich bei all diesen Fragen letztlich auf die realistische Einschätzung der Wirksamkeit kirchenleitender Handlungsoptionen richtet, streicht Schleiennacher explizit anläßlich der Frage heraus, wie Einförmigkeit und Abwechslung des Kultus zu gestalten seien89. Die in der Historischen Theologie gewonnene Einsicht in die ge85 Vgl. oben §3, Abschnitt 5.2. 86 Ebd. Vgl. KD l.Aufl., 85 [§5] (=Scholz, 108): Die Theorie des Kultus „hat teils den religiösen Stil in jeder Kunst zu bestimmen, teils die Art, wie aus ihnen insgesamt das religiöse Kunstwerk, der Kultus, zu bilden ist". 87 KD2§281. 88 KD2 §282. - Wie Schleiermacher selbst hierbei im Blick auf den Choralgesang verfuhr, zeigt der Beitrag von Wolfgang Virmond im Sammelband „Schleiermacher in Context": Liederblätter, 275ff. 89 KD2 §283 (vgl. im Blick auf die Wirksamkeit der religiösen Rede: KD2 §284 ). - Bei dieser Gelegenheit tritt auch schön hervor, warum die technische Fragestellung von der historisch-kritischen im Blick auf den Kultus nicht mitbearbeitet werden kann. Die historisch-kritische Fragestellung entfaltet die Einsicht in das Wesen des Kultus, seine sachgemäße Vollzugsgestalt und spricht das Urteil über den je gegenwärtigen Kultus. Diese Einsichten sind aber unter den Bedingungen einer geschichtlichen Handlungssituation nicht immer unmittelbar und unverkürzt an den Handlungsprozeß vermittelbar. Daher muß immer noch im Vollzuge des technischen Verfahrens zusätzlich geklärt

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schichtliche Bedingtheit der gegenwärtigen Gestalt christlicher Kultuspraxis erlaubt dann auch die freie Relativierung der herrschenden Gestalt der religiösen Rede als Predigt90. Auch in bezug auf die religiöse Rede ist immer wieder neu die praktisch-theologische Urteilsbidung über ihren je situationsadäquaten Gehalt wie ihre je gebotene Form erforderlich, um ihre höchstmögliche Wirksamkeit zu garantieren. Dazu ist eine auf die kontingente Form der Predigt zugeschnittene Homiletik allerdings nicht ausreichend91. Entsprechende Theoriebildungen sind im Rahmen der Gottesdiensttheorie des Kirchendienstes erforderlich für Liturgie92, das gestisch-mimische Verhalten im Kultus91 sowie die innenarchitektonische Gestaltung des Kultusortes94. Die Verwaltung der Sakramente im Gottesdienst selbst ist für Schleiermacher kein Gegenstand der praktisch-theologischen Theoriebildung, weil hier bestimmte Vorschriften gelten, die auch das Einzelne der Sakramentsverwaltung bereits festlegen95. Praktisch-theologisch relevant ist hierbei allerdings die Frage, unter welchen Umständen die gestaltungsoffenen Teile des Gottesdienstes bzw. die Gestaltung der Bildung zum Gottesdienst durch die Katechetik der erbaulichen Wirksamkeit der Sakramente zuzuarbeiten vermögen - unter Umständen eben auch durch den Verzicht auf eine allsonntägliche Abendmahlsfeier96. Im Zusammenhang der Theorie des Kirchenregimentes ist vorzüglich zu bedenken die Aufgabe, die Individualität der Gottesdienstgestalten der einzel-

90 9t

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werden, „inwiefern, rein aus dem Interesse des Kultus, der besseren Einsicht die Rücksicht auf das Bestehende aufgeopfert werden muß, oder umgekehrt" (KD2 §283). Das Ergebnis des technischen Verfahrens kann also unter Umständen die Regel sein, unmittelbar auf ein völlig mit den nachkonstruierten Regeln des christlich-kirchlichen Lebens konformes Handeln zu verzichten, um diesem Leben mittelbar umso besser zu diesen. KD2§§284f. Vgl. zu den Einzelheiten Wilhelm Grab, Predigt als Mitteilung des Glaubens. Zur Entwicklung von Schleiermachers Predigtverständnis im Kontext seiner ersten Predigttätigkeit vgl. Christoph Meier-Dörken, Die Theologie der frühen Predigten Schleiermachers. Vor dem Hintergrund aller bisherigen Überlegungen - deren sachliche Richtigkeit vorausgesetzt - erstaunt die Feststellung von Friedrich Wintzer, Aufgabe und Funktion der Gemeindepredigt, 106: „Die Frage nach den Wirkungen der Predigt ist allerdings von Schleiermacher nicht genügend kritisch gestellt worden". Wenn unsere Interpretation zutreffend ist, dann hat Schleiermacher mit der Praktischen Theologie ausdrücklich eine eigene theologische Disziplin mit der Frage nach der größtmöglichen sachgemäßen Wirksamkeit kirchenleitenden Handelns - auch im Rahmen der Predigt - betraut. Das Wintzersche „nicht genügend kritisch" kann sich dann nicht mehr auf diese Frage selbst beziehen, sondern nur noch auf deren evtl. unkritische Beantwortung in der Praktischen Theologie. Das Ergebnis von Christoph Meier-Dörkens Arbeit über die Theologie der frühen Predigten Schleiermachers (a.a.O., 278) ist der Nachweis, daß es Schleiermacher bereits in der Zeit seiner frühen Predigttätigkeit - aus gegebenem Anlaß also - gelungen ist, eine Wirkungstheorie der kirchlichen Predigt zu explizieren. KD2§287. KD2§288. Vgl. PrTh, 108-112.309-321. KD2§289. PrTh, 65. Vgl. PrTh, 140-143.

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nen Gemeinden durch kirchliche Gesetzgebung mit dem überregionalen Zusammenhang der Gemeinden zu vermitteln97. Auch hierbei ist das technische Verfahren gekennzeichnet durch das Abwägen verschiedener Handlungsoptionen hinsichtlich ihrer wahrscheinlichen Folgen für das kirchliche Gesamtleben98. Damit ergeben sich für die Praktische Theologie folgende Arbeitsschritte in der Entfaltung ihres Beitrages zur enzyklopädischen Gottesdiensttheorie: - Anbindung ihrer technischen Theoriebildung an die Erträge der historischkritischen Theoriebüdung im Blick auf das Wesen des öffentlichen Gottesdienstes99 . - Entfaltung der zum Zwecke der erbaulichen Wirksamkeit des Kultus je verfügbaren elementaren künstlerischen Darstellungsmittel100. - Auf dieser Grundlage: Reflexion auf die größtmögliche erbauliche Organisation der im christlichen Gottesdienst vorkommenden Formen Liturgie, Gesang, Gebet und religiöse Rede101. - Die Einzeldarstellung der Reflexionen auf die Teilformen des Gottesdienstes liegt jenseits der Grenze unserer Fragestellung nach Schleiermachers praktisch-theologischer Theorie des Gottesdienstes und unterbleibt daher. Eine solche Darstellung müßte dann in den einzelnen Teilbereichen denselben Gesichtspunkten folgen, die auch die Reflexion auf die Organisation des Gottesdienstes im ganzen leiten. - Besinnung auf die zweckmäßigste Organisation der Einflußnahme auf den Kultus durch das Kirchenregiment102. Beim Abschreiten dieser Wegmarken müssen wir immer dessen eingedenk sein, daß das technische Verfahren nicht zu neuen Einsichten über den Kultus führen kann, sondern charakterisiert ist durch die Subsumtion des gegebenen Zustandes christlich-kirchlicher Kultuspraxis und -deutung als das Resultat geschichtlicher Entwicklung unter den Begriff der Kirchenleitung mit dem Ziel, aus den so erschlossenen Handlungsoptionen die zweckdienlichste auszuwähKD2§318. Ebd. Vgl. PrTh, 68-82. Vgl. PrTh, 83-125. - Der Unterschied zu den einschlägigen Reflexionen der historischkritischen Disziplinen hinsichtlich der Darstellungsmittel des frommen Bewußtseins besteht darin, daß in der technischen Reflexion nun ausdrücklich nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit für die Erbauung im Kultus aus dem historisch-kritisch vorgegebenen Repertoire an Darstellungsmitteln ausgewählt wird. Genau unter diesem Gesichtspunkt beschränkt etwa Schleiermacher - wohl zu Unrecht - die Thematik der Architektur des Kultortes im Zusammenhang der Gottesdiensttheorie auf innenarchitektonische Fragen (vgl. KD2 §289). Die äußere Architektur sei hier „Nebensache" (ebd.). Praktisch-theologisch relevant dürfte die Frage der äußeren Architektur der Kirche allerdings auch und gerade unter ästhetischen Gesichtspunkten werden, wenn es um die Frage geht, welche Wirkung das Kirchengebäude auf seine Beschauer hat. D.h., ob es unter Umständen das christliche Selbstverständnis derer, die sich in diesem Haus versammeln, für die Außenstehenden verstellt. Vgl. PrTh, 115f. 101 Vgl. PrTh, 126-321. 102 Vgl. PrTh, 605-621.

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len. Die Praktische Theologie leistet keinen materialen Beitrag zum Wissen um den Kultus, sondern ordnet das gegebene Wissen im Interesse einer besonnenen Praxis gottesdienstlichen Handelns. Sie wird damit nicht zu einer bloßen Anwendungswisssenschaft, da sie zum einen gar nicht alles theologische Wissen unmittelbar zur Anwendung bringt und darüber hinaus das von ihr im Blick auf die unmittelbare Kirchenleitung zusammengestellte theologische Wissen als solches allererst durch die praktisch-theologische Urteilskraft vermittelt werden muß, um praktisch zu werden. Wenn man allerdings unter einer Anwendungswissenschaft das versteht, daß eine Disziplin auch auf anderwärts erarbeitetes Wissens angewiesen ist, dann ist die Praktische Theologie selbstverständlich eine Anwendungswissenschaft - welche wäre denn in diesem Sinne keine?

3. Praktische Theologie des Gottesdienstes als Kultus 3. l Der praktisch-theologische Rekurs auf das Wesen des öffentlichen Kultus Die praktisch-theologische Gottesdiensttheorie beginnt mit Überlegungen, die in vielerlei Hinsicht mit dem Ansatz der Glaubenslehre parallel laufen. Wie Schleiennacher in der Glaubenslehre den Begriff der Dogmatik gewinnt, indem ihre Aufgabe zum einen im Kontext der christlichen Kirche bestimmt wird, dann aber auch im Gegenüber zur spekulativ-philosophischen Religionstheorie profiliert wird, so entfaltet Schleiennacher hier in der Praktischen Theologie den Begriff des Gottesdienstes, indem der Kultus sowohl in seiner innerchristlichen Funktion als auch in seinem Verhältnis zum allgemeinen Leben der Gesellschaft erschlossen wird103. Beide Fragen sind bereits im Zusammenhang der Philosophischen Theologie erörtert worden, und ihre Beantwortung wird im praktisch-theologischen Zusammenhang nun zugespitzt auf die Frage nach den prinzipiellen Grenzen der Gestaltungsfreiheit im Kultus. Der Gottesdienst ist eine Unterbrechung des bürgerlich-geschäftlichen Lebens und steht somit zu diesem in einem relativen Gegensatz104. Unterbrechungen des geschäftlichen Lebens sind Feste, und der Gottesdienst gehört somit in eine Reihe mit den anderen festlichen Aktivitäten des gesellschaftlichen Lebens105. Der Gehalt des Festes ist jeweils die Darstellung des Wesens 103 „Was ist nun unser öffentlicher Gottesdienst im Verhältniß zum gesammten Leben? und was im Verhältniß des einzelnen zum Christenthum?" (PrTh, 69f.). 104 PrTh, 70. 105 Ebd. - Explizit genannt wird hier zum Vergleich nur das Volksfest, es lassen sich aber mühelos für alle gesellschaftlichen Bereiche Beispiele angeben: akademische Feierstunden, politische Gedenktage...

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der jeweilig feiernden Gemeinschaft. Der Gehalt des Gottesdienstes ist also die Darstellung des christlich bestimmten religiösen Bewußtseins. Darstellungsgestalt des Festes und also auch des Gottesdienstes ist die Kunst: „Das Heraustreten des festlichen kann nur geschehen durch Kunst; wo etwas gemeinschaftliches sein soll, muß ein Maaß und eine Ordnung sein, und das gehört der Kunst an"106. Das Gelingen der festlichen Darstellung bemißt sich daran, ob durch dieselbe das ihr zugrundeliegende gemeinsame Gefühl gesteigert wird107. Der Unterschied dieser Zielsetzung des darstellenden Handelns zur Wirksamkeit der geschäftigen Tätigkeit liegt nun genau darin, daß das in der wesentlich darstellenden Tätigkeit sich Ausdruck verschaffende gemeinsame Gefühl durch dieses Handeln nicht überwunden werden soll hin auf einen anderen Gefühlszustand, sondern als ein fundamentales, dauerhaft die Innerlichkeit der Person prägendes Grundgefühl dargestellt werden soll. Das Gefühl, das einer auf verändernde Einwirkung zielenden Tätigkeit zugrunde liegt, ist das des sich selbst nicht Genügens oder der Mangelhaftigkeh eines anderen, auf den oder das Einfluß genommen wird. Im Gegensatz hierzu liegt dem darstellenden Handeln ein Gefühl zugrunde, das in sich selbst bereits das Ziel seiner Aktivität erreicht hat und sich in dieser Verfassung mitteilen und bewahren will. Das soll an einer der zunächst vielleicht irritierendsten Passagen von Schleiermachers Praktischer Theologie näher erläutert werden: „Das gesunde ist immer daß das innere ein äußeres werden will. Die ganze belebende Kraft beruht darauf, daß das belebende Princip als vorhanden vorausgesezt wird. Der öffentliche Gottesdienst ist eigentlich nur für die Menschen die religiös sind; ebenso wie die geselligen Vereinigungen nur für Menschen die schon fröhlich sind. So wie ein Mensch der nicht fröhlich ist auch nicht gern in solche Vereinigungen geht: so wollen Menschen die nicht religiös sind auch nicht in den öffentlichen Gottesdienst gehen"108. Wer traurig ist, stellt diese Traurigkeit notwendigerweise auch in irgendeiner Form nach außen dar - selbst wenn er das zu unterdrücken sucht. Er tut dies aber nicht, um das Gefühl der Traurigkeit in dieser Darstellung zu bewahren, sondern um es seiner Aufhebung zugänglich zu machen. Das Gefühl der Traurigkeit ist als Motiv des Handelns in seiner Darstellung nicht bereits bei dem Ziel dieses Handelns angekommen. Wer traurig ist, will, daß diese Traurigkeit aufhört und bedarf der individuellen, freundschaftlichen Zuwendung. Erst recht, wer traurig ist und traurig bleiben will. Traurigkeit ist das Gefühl 106 PrTh, 73. 107 PrTh, 71: „Was soll durch solche Vereinigung erreicht werden? Wir können die Frage rein empirisch aufstellen, Wann erscheint sie als gelungen und wann mißlungen? Wenn die Menschen dadurch ein erhöhetes Bewußtsein gewonnen haben in der Beziehung die bei dem Ganzen vorherrschend ist: dann erscheint die Sache als recht gelungen; ist aber nur eine Langeweile, verringertes Bewußtsein, oder Erschöpfung die Folge, dann erscheint sie als mißlungen". 108 PrTh, 72f.

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des Ungenügens, auch und gerade des Ungenügens der derzeitigen Verfassung der Gemeinschaft, in der sich der Traurige findet. Es fehlt somit jede Veranlassung, diese in ihrer derzeitigen Erschlossenheit zu feiern. Das gilt auch für alle Fälle der tiefergehenden Trauer und des existentiellen Zweifels. Daher gehört die Seelsorge nach Schleiermacher in der christlichen Gemeinschaft zum wirksamen Handeln. Das Faktum der christlichen Trauerfeiern stellt diesen Befund nur scheinbar auf den Kopf In ihnen wird die Trauer nämlich nicht dargestellt als etwas, das als menschliches Grundgefühl bleiben soll, sondern als ein Epiphänomen, das das zentrale christliche Lebensgefühl - nach Schleiermacher: Heiterkeit - zu verstellen droht und daher auf dieses hin durchsichtig zu machen ist. In der Trauerfeier wird nicht die Trauer dargestellt oder gar der Tod gefeiert als das die Gemeinschaft ursprünglich Verbindende. Sondern die Trauer und der Tod werden relativiert hin auf das, was das gemeinsame Leben auch in der Trauer und im Angesicht des Todes trägt und dieses auch weiterhin zu leisten verspricht109. Das aber setzt voraus, daß dieses gemeinsame und die Gemeinsamkeit des Lebens fundierende Lebensgefühl auch bereits erschlossen ist, um überhaupt auf es referieren zu können. Das heißt, das wirksame Handeln der Seelsorge begründet nicht dieses Lebensgefühl, das die Trauer und den Zweifel zu relativieren imstande ist. Vielmehr ist sie nur die notwendige Voraussetzung dafür, daß das durch menschliche Aktivität verursachte Verstelltsein jenes Trauer und Zweifel relativierenden Grundgefühls zurückgenommen werden kann - wo immer und wann immer Gott sich dieses menschlichen Handelns bedienen will. In unserem Beispiel der „geselligen Vereinigungen": Wer nicht fröhlich ist und also auch nicht festlich gestimmt ist, auf den kann die Fröhlichkeit individueller Zuwendung dann ansteckend wirken, wenn sie ihm ermöglicht, seine Traurigkeit auf eine in ihm bereits gesetzte, ihm gewisse und nicht bloß eingeredete Grundfröhlichkeit im Blick auf die ihn umgebende Gemeinschaft hin zu relativieren. Dazu ist es oft bereits ausreichend, daß in ihm die bestimmte Erwartung geweckt wird, die Teilnahme an der gemeinsamen Darstellung der Freude werde diese Relativierung seiner Traurigkeit befördern. Und zwar nun nicht dadurch, daß die Darstellung der Freude der anderen gezielt auf die Überwindung seiner Traurigkeit gerichtet würde - denn das müßte notwendig als unwahr und aufgesetzt empfunden werden. Sondern gerade dadurch, daß die Freude an der Gemeinschaft ganz bei sich selbst ist und sich nur darstellt,

109 Vgl. PrTh, 87ff. 104ff. - Das gilt auch für die Feier des Volkstrauertages in seiner politischen Bedeutung. Sie ist verfehlt, wenn die Besinnung auf die gegenwärtigen und vergangenen Kriege sich erschöpft in der rein negativen Maxime „Nie wieder Krieg!". Es muß vielmehr positiv gezeigt werden, welche friedlichen Potentiale menschlicher Zusammenarbeit und Konfliktbewältigung durch kriegerische Aktivitäten verstellt werden: „Nie wieder Krieg!, sondern... . Das ist möglich, weil wir immer schon dessen gewiß sind, daß...".

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muß sie in dieser ihrer Authentizität auf den Traurigen ansteckend, weil in ihm etwas dafür Empfangliches berührend, wirken. Fassen wir all diese Überlegungen zusammen, so ergibt sich als eine Grenzziehung der Gestaltungsfreiheit im darstellenden Handeln des Kultus: Die Darstellung des religiösen Gefühles im Kultus ist Fest dann und nur dann, wenn sie dieses Gefühl gleichursprünglich als Ausgangs- und Zielpunkt der Darstellung ausdrücklich werden läßt. Die Instrumentalisierung der religiösen Darstellung hebt unmittelbar ihren Festcharakter auf. In der Reinheit des Willens, das religiöse Bewußtsein um seiner selbst willen bloß darzustellen, gründet die Tugend des darstellenden Handelns im Kultus. Das „Ansteckende" an der Darstellung des Gefühles liegt nach Schleiermacher m dem leibhaften Totaleindruck des Darstellenden. Der propositionale Redegehalt der Bezugnahme auf das Lebensgefühl des Darstellenden allem würde beim Rezipienten bloß ein kognitives Wissen um die sprachliche Selbstdeutung des Darstellenden von seinem Gefühlszustand hervorbringen, das gar nicht diejenige Ebene erreichte, auf der diese Darstellung existentiell als Artikulation eines menschlichen Grundgefühles erfaßt werden könnte"0. Als bloß ungestaltetes Ausdrucksphänomen auf der anderen Seite wäre allerdings der mitgeteilte Gefühlsgehalt so diffus, daß die vermittels der Darstellung jeweils erregend wirksam werdenden Momente unkalkulierbar blieben und möglicherweise der Darstellungsabsicht strikt zuwiderliefen. Die Darstellung ist also zur Unterstützung ihrer möglichst adäquaten Rezeption darauf angewiesen, daß der gestaltete Totaleindruck des Darstellenden im Rezipienten auch immer schon durch die wortsprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten des Darstellenden mitgestaltet wird 1 ''. Allerdings muß bei der religiösen Darstellung - wie bei jeder anderen auch immer mitberücksichtigt werden, daß die Wirksamkeit des Kultus für verschiedene Einzelne verschieden sein muß, weil die Darstellung in ihnen auf jeweils individuell verschiedene Rezeptionsbedingungen stößt"2. Diese Rezeptionsbedingungen können zwar nicht bis in ihre letzten Vereinzelungen hinein berücksichtigt werden. Sind sie allerdings von allgemeinerer Natur, so entsteht die Aufgabe, das Wissen hierum in die Einrichtung des Kultus einfließen zu lassen: „Dieses ist der eigentliche Begriff des Ausdrukkes Popularität, was keineswegs eine Eigenschaft der Predigt allein ist, sondern des Cultus im allgemeinen""3. 110 111 112 113

PrTh, 81. Ebd. PrTh, 73f. PrTh, 74. Vgl. PrTh, 123: „Volksmäßigkeit in Beziehung auf die religiöse Sprache ist also die Kenntniß desjenigen Sprachgebietes in welchem er [der Pfarrer/die Pfarrerin; R.S.] in der Identität mit der Gemeine versiren kann. Dieses richtig zu kennen und keine fremden Elemente zu gebrauchen ist die wahre Popularität".

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Dabei ist zu beachten: Popularität ist hier nicht bestimmt als die Akkomodation des darzustellenden religiösen Gefühlsgehaltes an irgendeinen bei den Rezipienten vermuteten Gefühlsgehalt"4. Popularität heißt hier nur: die Berücksichtigung der Rezeptionsbedingungen der religiösen Darstellung für deren situationsadäquate Gestaltung bei weiterhin unverkürztem religiösen Darstellungsgehalt. Damit ist bereits ein weiterer Grundsatz für alle Gestaltung des darstellenden Handelns im Kultus erreicht. Die Kunst soll immer nur die Form sein, unter welcher die religiöse Bestimmtheit des Gefühls sich mitteilt"5. Alle Besinnung auf die Gestaltung des Kultus steht immer im Dienste des darzustellenden Gefühls"6. Die zweite von Schleiermacher vorgenommene Grenzziehung betrifft somit das sogenannte „Epideiktische""7. Positiv gewendet ist dies das Gebot der „Simplicität" und der „Keuschheit"" : „alles was da ist muß reines Darstellungsmittel sein""9. Damit ist zugleich wieder der Bogen geschlagen zur ersten Grenzziehung: die Abweisung einer Instrumentalisierung der religiösen Darstellung. Beides zusammenfassend formuliert Schleiermacher: „Das künstlerische ist auf unserem Gebiet durchaus nicht als ; es soll nicht im einzelnen darauf ankommen seine persönliche Meisterschaft zu zeigen, es soll aber auch nicht ein Mittel zu einem anderweitigen Zwekk sein: es ist nichts anderes als der natürliche Ausdrukk, der nach Maaßgabe des Verhältnisses zwischen dem der darstellt und denen für die dargestellt wird wird, verschiedenartig gesteigert sein kann. Also innerhalb dieses religiösen Kunstgebietes liegt nur der religiöse Stil und die religiösen Formen"120. Die vor diesem Hintergrund anzustellende vergleichende Beurteilung der verschiedenen Handlungsoptionen im Blick auf das darstellende Handeln im Kultus richtet sich also auf die beiden Fragen: - Welche der jeweils gegebenen Handlungsoptionen vermischt am wenigsten die religiöse Darstellung mit anderen Zwecken? - Welche der jeweils gegebenen Handlungsoptionen gestaltet die Darstellung des unverkürzten religiösen Darstellungsgehaltes dem Rezeptionsvermögen der Gemeinde am angemessensten?

114 PrTh, 74: „Nehmen wir nun eine geringere Empfänglichkeit an für das religiöse Princip: so sezen wir einen unvollkommenen Zustand der Gemeine voraus; dazu haben wir a priori kein Recht; aber gesezt auch wir wollten die ungünstige Voraussezung machen: so muß diese geheilt werden außerhalb des Cultus, und das fallt in die Theorie der religiösen Vorbildung, Katechetik". 115 PrTh, 79. 116 Ebd. 117 PrTh, 79f.: „Der eigentümliche Charakter davon ist daß die Meisterschaft in der Behandlung der Elemente dabei die Hauptsache ist". Vgl. auch PrTh, 82.87. 118 PrTh, 92. 119 Ebd. 120 PrTh, 82.

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Es ist auffällig und ein weiteres Indiz für die These, daß es sich bei all den bisher vorgetragenen Überlegungen um Erträge der Philosophischen Theologie handelt, daß Schleiermacher bisher noch völlig darauf verzichtet hat, eine Näherbestimmung des religiösen Gehaltes, der im Kultus zur Darstellung gelangen soll, zu geben. Dies gilt auch noch für die nun vorzunehmende Erörterung der zum Zwecke der erbaulichen Wirksamkeit des Kultus je verfügbaren elementaren künstlerischen Darstellungsmittel12'.

3.2 Der praktisch-theologische Rekurs auf die im Kultus verfugbaren elementaren künstlerischen Darstellungsmittel Auch die hier darzustellenden Überlegungen Schleiermachers sind primär philosophisch-theologischen Gehalts. Es handelt sich gewissermaßen um Lehnsätze, die von der Praktischen Theologie herangezogen werden, um eine an der Natur der Sache orientierte Grenzziehung für die freie Gestaltung des Kultus vermittels der verfugbaren elementaren künstlerischen Darstellungsmittel vorzunehmen. Im einzelnen vollzieht sich dieses durch die Anwendung der im voranstehenden Abschnitt entfalteten Fragerichtungen auf die elementaren, hu Kultus verfügbaren Darstellungsmittel. Schleiermacher setzt ein mit dem Darstellungsmittel der Sprache und unterscheidet zunächst die gesprochene Rede von der gesungenen Poesie122. In bezug hierauf stellt sich die Frage: Gibt es in beiden Bereichen Elemente - zugespitzt: Worte bzw. Intervalle123 -, die durch den Charakter des religiösen Darstellungsgehaltes als Darstellungsmittel ausgeschlossen sind? Gemäß den im voranstehenden Abschnitt ermittelten Grenzziehungen sind im Blick auf die musikalische Darbietung der Sprache auf der einen Seite solche Elemente von der Darstellung ausgeschlossen, die epideiktischen Einschlag haben124. Auf der anderen Seite ist es unzulässig, die durchaus unpassende gesungene Darbietung der Rede mit raumakustischen Gründen zu verteidigen. Wo solche Gründe vorliegen, „müßte die Localität abgeändert werden"125, um die reine Beziehung der Darstellung auf die von ihrem Gehalt geforderte Form zu erhalten. Die Frage nach der Grenzziehung der Wortwahl zur epideiktischen Seite hin126 wird dahingehend beantwortet, daß eine gesuchte Ausdrucksweise un121 Vgl. die Formulierung Schleiermachers PrTh, 94: „Da können wir nicht anders als nur gleich uns in das Gebiet des christlichen hieneinzustellen, was wir hier zunächst als eine besondere Form und Gestaltung des religiösen im allgemeinen ansehen". 122 PrTh, 83. 123 PrTh, 84. 124 PrTh, 84. 125 PrTh, 83. 126 PrTh, 84.

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zulässig sei. Es folgt die Frage, ob es künstlerische Elemente - damit sind wissenschaftliche Terminologie und Geschäftsterminologie bereits ausgeschlossen127 - der Sprache gibt, die in nichtreligiösen Darstellungskontexten vorkommen dürfen, aber aus dem religiösen Gebiet auszuschließen sind128. Hier ist die Grenze prinzipiell geschlossen zur Seite des „komischen und parodischen"129. Das „religiöse als Darstellung kann es nur zu thun haben mit den menschlichen Dingen in ihrer Beziehung auf Gott; alles komische und parodische aber betrachtet die Einzelheit an und für sich, hat das verkehrte zu seinem Gegenstande (...) dasselbe was für sich betrachtet komisch werden kann, ist in Beziehung auf Gott immer ein Gegenstand des Mitleids"130. Was nur dargestellt wird, um einen Gegensatz hervorzurufen, ist das Niedrige. Dieses ist ebenfalls auszuschließen131. Alle anderen sprachlichen Elemente, d.h. hier Worte, sind zulässig, und die Frage muß sich auf ihre Komposition richten: „In wie fern giebt es eine eigenthümliche religiöse Composition oder Stil in der Kunst?"132 Die Komposition beruht allgemein auf dem Gegensatz von Einheit und Vielheit und der Vermittlung derselben: ,Jedes Kunstwerk hat sein Wesen in einer gewissen Einheit, sein Dasein und seine Erscheinung in einer Vielheit; eins ist nicht ohne das andere. Die Art und Weise wie eins sich zum anderen verhält, ist das wodurch sich die verschiedenen Gattungen unterscheiden"133. Epideiktisch ist es, wenn die Einheit der Vielfalt untergeordnet ist. Diese Form muß daher in der religiösen Komposition vermieden werden - und zwar nicht nur, weil das Epideiktische hier wieder nur vom Darstellungsgehalt ablenken würde. Vielmehr ist bereits aus sachlichen Gründen die Unterordnung der Einheit unter die Vielheit von vornherein durchaus dem Darstellungsgehalt der religiösen Darstellung unangemessen: „Indem die religiöse Darstellung alle menschlichen Verhältnisse nur behandeln kann in Beziehung auf Gott, liegt überall die Beziehung auf die absolute Einheit zum Grunde, und die ist wesentlich hier das dominirende, so daß die Vielheit sich hier durchaus nur als Darstellungsmittel verhält. Das unmittelbar darzustellende können nur sein religiöse Zustände; diese sind eine Mannigfaltigkeit; aber jeder einzelne religiöse Zustand kann nicht eigentlich ein in sich abgeschlossener Gegenstand der Darstellung sein, weil er das entgegengesezte hervorruft: er ist in seiner Einzelheit nur Darstellungsmittel. Das Verhältnis des natürlichen zu dem göttlichen kann sich nie manifesteren in einer einzelnen Function des Menschen, sondern nur in der Totalität; alles einzelne muß auf 127 128 129 130 131 132 133

PrTh, 84f. Vgl. PrTh, 96 103. PrTh, 85. PrTh, 85. PrTh, 85. Vgl. PrTh, 87.239.246. PrTh, 86. PrTh, 86. PrTh, 86. Vgl. PrTh, 222.

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diese zurükkgeführt werden, und ist an sich nichts für die religiöse Darstellung"134. Nun ist das im religiösen Gefühl präsente Absolute kein darstellbarer Gegenstand, sondern erscheint selbst nur am Gegenständlichen. Da es aber das Absolute ist, das am Gegenständlichen erscheint, kann es sich dem religiösen Gefühl prinzipiell in allen einzelnen Gegenständen imponieren. Es läßt sich also nicht denken, daß bestimmte Gegenstände aus der religiösen Darstellung ausgeschlossen werden könnten - wenn und insofern sie in dieser Darstellung auf das Absolute bezogen dargestellt werden135. Das dargestellte religiöse Gefühl muß jedoch sich an einen Bereich anknüpfen, der in der gemeinsamen Erfahrung des Darstellenden und seiner Rezipienten liegt136. Der spezifisch christliche Anknüpfungspunkt, von dem aus dann auch alle anderen Erfahrungsgebiete erschlossen sind, ist der „historisch symbolische Cyklus" der christlichen Geschichte137. Die Darstellung dieses eigentümlich christlichen Anknüpfungspunktes erfolgt im Rekurs auf die Schrift138. Nur so ist gewährleistet, daß die Darstellung in das Gebiet der gemeinsamen religiösen Erfahrung gehört und ihr Gehalt von den Rezipienten auch in ihren eigenen Erfahrungshorizont mit der Schrift eingeordnet werden kann. Ohne diese vermittelnde Instanz besteht immer die Gefahr, daß die Darstellung des christlich bestimmten Bewußtseins sich an einen letztlich unübertragbaren rein persönlichen Erfahrungsmoment anbindet und somit notwendig bereits aus diesem Grund als Mitteilungsversuch scheitern muß. Schleiermacher greift diese Problematik auch noch mit etwas geändertem Blickwinkel auf139. Es gibt in der Sprache den Gegensatz von Poesie und Prosa140. Die Poesie ist dadurch charakterisiert, daß die in ihr verwendeten Worte einen Vorstellungsgehalt besitzen, bei dem das Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem zu letzterem tendiert. Die Poesie nähert sich dem Bild141. Dagegen dominiert im Vorstellungsgehalt der prosaischen Worte das Allgemeine. Die Prosa nähert sich der Formel142. Soll das wortsprachlich 134 PrTh, 87. Vgl. PrTh, 90f. 135 PrTh, 88f. Vgl. PrTh, 94ff. 136 PrTh, 97: „Das religiöse ist überall ein erfahrenes, ist für jeden sofern er es in sich selber erfahrt; das gemeinsame Gebiet ist das der gemeinsamen Erfahrung, und was so persönlich gefärbt ist daß es nicht in die gemeinsame Erfahrung aufgenommen werden kann, das kann auch nicht mitgetheilt und dargestellt werden. Das ist die Grenze der Darstellung in Beziehung auf das mystische im religiösen; da hat jeder auf ausgezeichnete Weise religiös angeregte Mensch seine persönliche Bestimmtheit, die keiner öffentlichen Mittheilung fähig ist, wo durch die Form des Gesprächs manches Hinderniß aufgehoben werden kann". 137 PrTh, 97f. 138 PrTh, 99. 139 PrTh, 116ff. 140 PrTh, 116. 141 PrTh, 118. 142 PrTh, 118.

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darstellende Handeln im Kultus die besondere religiöse Bestimmtheit des Darstellenden so wiedergeben, daß sie sich an die Gemeinde mitteilen kann, so müssen Poesie/Bild und Prosa/Formel einander im Kultus ergänzen. Dabei wird dies in den verschiedenen wortsprachlichen Teilen des Kultus mit unterschiedlicher Gewichtung geschehen. Hier gut nun: „Den einen Endpunkt bildet was Confessionsformular ist und am meisten bei dem Sacrament vorkommt. Diese sind die lebendige Erhaltung des Moments aus dem die Kirchengemeinschaften entstanden sind; da ist das meiste verweilend bei dem strengen Begriff. Der entgegengesezte Punkt ist die Predigt, die religiöse Rede: in dieser soll das unmittelbar religiöse Bewußtsein des redenden zur Anschauung gebracht werden; der Begriff ist nur Darstellungsmittel, und es wird hier die Lebendigkeit und Anschaulichkeit dadurch begünstigt daß der Begriff mehr nach der Seite des Bildes hin liegt"143. Die Verständlichkeit sowohl der religiösen Formeln als auch der religiösen Bilder für die Gemeinde setzt aber bei dieser eine gewisse religiöse Bildung voraus. Diese kann innerhalb des Kultus nur vorausgesetzt und von da aus weiter befördert werden, weil hierzu - zur Zeit Schleiermachers! - zwei Umstände günstig sind: 1.) Die Popularität der Bibel und 2.) der Zusammenhang der Volksschule mit der Kirche144. Diese „günstigen Umstände" sind heute nicht mehr gegeben. Wenn Schleiermacher aber eine irgendgeartete religiöse Bildung im Kultus immer schon voraussetzen muß, um das von ihm vertretene Konzept darstellenden Handelns im Gottesdienst durchführen zu können, dann ist erkennbar, daß eine heutige Rezeption von Schleiermachers Gottesdiensttheorie jedenfalls entscheidend zu kurz greift, wenn sie nicht die notwendigen flankierenden Maßnahmen mit reflektiert145. Was nun die religiöse Behandlung nicht-historischer, sondern physisch-naturhafter Erfahrungsgegenstände im christlichen Geiste betrifft, so ist dieser Bereich nicht in einer mit dem der sittlichen Welt vergleichbaren Weise durch den historisch symbolischen Zyklus in seiner Thematisierung präformiert. Die auf den Erfahrungsbereich der physischen Natur bezogene Darstellung christlicher Frömmigkeit kann daher aus den hier zur Verfügung stehenden allgemein menschlichen Darstellungsmitteln unter der Bedingung frei wählen, daß 143 PrTh, 124f. Vgl. PrTh, 119f.l89f. 144 PrTh, 122: „Die Sprache der deutschen Bibel und der religiösen Volksbücher die wirklich solche sind, ist das Fundament der religiösen Sprache, weil die Voraussezung gilt, daß diese Sprache dem Volk verständlich sei. Für die religiöse Volkssprache ist die Sprache unserer lutherischen Bibel die eigentliche Fundgrube. Innerhalb der biblischen Sprache giebt es eine große Auswahl; einiges neigt sich zum dogmatischen hin, unendlich viel liegt auf der Seite der bildlichen Darstellung. Auch braucht man nicht buchstäblich an eine Stelle sich zu halten, sondern ein Spruch ist wie eine Saite: so bald man daran schlägt, tönt es wieder; und so knüpft sich ein ganzer Zusammenhang daran". 145 Vgl. Christoph Meier, Der Gottesdienst zwischen bestätigender und verändernder Wirkung.

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sie nicht auf solche Elemente zurückgreift, die bereits in einer anderen Religionsform zu typischen Mustern religiöser Verhältnisbestimmung von Gott und physischer Natur geformt worden sind146. Das nämlich müßte notwendig zu Mißverständnissen führen, da ja auch hierbei immer der christliche Frörnmigkeitstypus Ausdruck erhalten soll, genau dieser christliche Charakter aber durch die Verwendung bereits in anderen Religionen standardisierter religiöser Ausdrucksformen verdunkelt würde. Auch die Untersuchung der nicht wortsprachlichen Darstellungsmittel hinsichtlich ihrer Verwendung im Kultus zieht die bereits bekannten Grenzen, a) Keine epideiktische Übersteigerung des Vortragsstiles: Die mimisch-gestische Begleitung der Rede - hierunter fällt auch die Modulation der Stimme - ist auf die natürliche Begleitung der Rede beschränkt147. Keine Verunreinigung mit fremden Darstellungsgehalten oder -absiebten: Ausgeschlossen werden alle leidenschaftlichen Darstellungen als vom Gebiet der Frömmigkeit abführend148, b) Die Musik darf ebenfalls nicht als Selbstzweck erscheinen, sondern hat dem religiösen Gesang zu dienen149. Dazu ist die Orgel vorzüglich geeignet. Ein zusammengesetztes Instrumentalensemble dagegen streift schon wieder an das Epideiktische. c) Die Architektur des Versammlungsortes muß auf der einen Seite so geartet sein, daß in ihm nichts die Anwesenden an das Geschäftsleben erinnert150. Ein übermäßiger Aufwand an architektonischer Virtuosität verstößt gegen den „Kanon der Simplicität"151. Die künstlerische Ausgestaltung des Gottesdienstraumes durch Bilder und Skulpturen darf nicht die Aufmerksamkeit vom aktuellen darstellenden Handeln im Gottesdienst ablenken 152 . Vertretbar ist allenfalls eine begleitende Unterstützung der Sammlung auf die religiöse Darstellung - allerdings nur als provisorische Lösung153.

146 147 148 149 150 151 152 153

PrTh, 99. PrTh, 109. PrTh, Ulf. PrTh, 112: „Das Orgelspiel am Ende des Gottesdienstes ist eigentlich kein Theil des Cultus mehr, sondern eine freiwillige Zugabe, daher denn die Organisten auch oft Märsche spielen." PrTh, 113. PrTh, 114. PrTh, 114f. PrTh, 115: „Es ist ein Zeichen größerer Vollkommenheit, wenn sie [Bilder, Skulpturen etc.; R.S.] unnüz sind; das zeigt daß das religiöse Interesse stark genug ist um durch den Cultus selbst festgehalten zu werden und daß keine sinnlichen Hülfsmittel mehr nothwendig sind; und es ist ein Zustand wonach man streben muß, daß diese Bildwerke von dieser Seite überflüssig werden."

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3.3 Technische Reflexion auf die größtmögliche erbauliche Organisation der im christlichen Gottesdienst vorkommenden Formen Liturgie, Gesang, Gebet und religiöse Rede Der praktisch-theologischen Besinnung auf den Organismus des Kultus154 wird zugrunde gelegt die bisher entwickelte historisch-kritische - vor allem: philosophisch-theologische und dogmatische - Theorie desselben. Der Organismus des Kultus wird nach der Seite seiner inneren Notwendigkeit - einer Notwendigkeit, die diejenige der Freiheit ist - entfaltet155. Ausgangspunkt und dominierendes Thema ist die Frage: „Was ist denn eigentlich das Ganze was wir zu betrachten haben, und wodurch ist es ein ganzes?"156 Abgehandelt wird zunächst das grundlegende Sachwissen, das von der Praktischen Theologie vorausgesetzt wird. Der Kultus ist „das Heraustreten des gemeinsamen Lebens in die Erscheinung"157. Dieses gemeinsame Leben ist räumlich begrenzt durch den Frömmigkeitsstil der evangelischen Kirche158 und zeitlich geordnet durch den Zyklus des Kirchenjahres mit dem Gegensatz der großen Kirchenfeste und der „gewöhnlichen kirchlichen Versammlungen"159. In diesem Gegensatz spiegelt sich die unterschiedliche Gewichtung des jeweiligen Bedingtseins des Gottesdienstes hinsichtlich seiner speziellen Thematik durch die äußeren Rahmenvorgaben des Kirchenjahres. Ist er hiervon relativ unbedingt, so präsentieren sich in der gottesdienstlichen Darstellung die jeweils lokalen und aktuellen Einflüsse auf das religiöse Leben der Gemeinde. Auch der unbedingte Gottesdienst ist also insofern bedingt und niemals rein dezisionistisch160. Die speziell auf den sonntäglichen Kultus und seine Organisation fokussierte Betrachtung verbleibt ebenfalls zunächst noch auf der philosophischtheologischen und dogmatischen Theorieebene und strebt die Vermittlung von basalem Sachwissen an: „Zuerst müssen wir den christlichen Cultus rein betrachten als gemeinsame Darstellung zu welcher sich die gläubigen Christen vereinigen. Was ganz aus dieser Betrachtung herausfallt, gehört nicht in den Cultus"161.

154 Vgl. PrTh, 126-156. 155 PrTh, 126: „Indem wir unsere organische Betrachtung des Cultus anstellen, müssen wir ihn als ein Ganzes betrachten in welchem alle Theile nach einer innern Nothwendigkeit, die hier freilich nur die der Freiheit sein kann, zusammengehören". 15« PrTh, 126. 157 PrTh, 126. Vgl. PrTh, 76. 158 PrTh, 126f. 159 PrTh, 127. 160 PrTh, 128ff. 161 PrTh, 130.

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Die Organisation des sonntäglichen Kultus folgt mit innerer Notwendigkeit aus der Bewegung, die - zugleich den Gegensatz zwischen Klerus und Laien vermittelnd - die Gemeinde aus dem alltäglichen Leben in die religiöse Selbstdarstellung mit ihrer künstlerischen Mitte der religiösen Rede und wieder zurück in den Alltag fuhrt 162 : Gesang - Gebet - Gesang - religiöse Rede - Gesang - Gebet - Gesang. Die sich auf dieser Grundlage entwickelnden Überlegungen Schleiermachers werden nun genau dadurch zu einer praktisch-theologischen Theoriebildung fortgeführt, daß sie diese Entfaltung basalen Grundwissens nicht mit anderen solchen Gottesdiensttheorien hinsichtlich der inneren Folgerichtigkeit ihrer Gedankengänge vergleichen. Sondern diesem Basiswissen wird vielmehr jetzt die faktische kirchliche Praxis der Organisation des Kultus kontrastiert und im Horizont des grundgelegten historisch-kritischen Wissens von Schleiermacher hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile diskutiert. Und zwar wird hier vorzüglich diejenige Praxis abgehandelt, die sich nicht theoriekonform vollzieht. Es werden diejenigen kirchlichen Praktiken und Üblichkeiten thematisch, die aus der historisch-kritischen Nachkonstruktion der inneren Logik des Gottesdienstes herausfallen163. Das Kriterium zur Beurteilung solch irritierender Phänomene ist immer ihre Zuträglichkeit oder Abträglichkeit zur Erbauung der Gemeinde im Gottesdienst164. Im Falle der Schriftlesung und der Perikopenreihen165 fallt dieses Urteil negativ aus166. Allerdings kann Schleiermacher aus der geschichtlichen Betrachtung heraus das Aufkommen dieser Praxis in einer Situation erkennen, in welcher diese Praxis durchaus der Erbauung förderlich gewesen sein mag167 - wenn auch nur begrenzt und als Provisorium. In gleicher Weise erfolgt auch die Beurteilung des Umgangs mit den Sakramenten im Gottesdienst168. Besonders interessant sind hierbei die Erwägungen zum Abendmahl. Dogmatisch steht es im Zentrum des Kultus169. Die Beurteilung des gegenwärtigen kirchlichen Zustandes läßt es allerdings geraten 162 PrTh, 130ff.l39f. 163 Vgl. die Anknüpfung des Themas „Schriftlesung im Gottesdienst", PrTh, 136: „Wenn wir nun was wir hier aufgestellt haben rein aus der Construction in Beziehung auf den sonntäglichen Cultus, vergleichen mit dem was besteht: so finden wir den Unterschied zwischen vollständigem und unvollständigem Gottesdienst; sehen wir aber, wie der Hauptgottesdienst sich in Vergleich mit dem anderen construirt: so finden wir auch in dem ändern unsere Elemente, in dem Hauptgottesdienst aber noch ein anderes, eine Vorlesung aus der Schrift. Es fragt sich, ob wir diese als einen wesentlichen Bestandtheil des Cultus ansehen können?" 164 Vgl. PrTh, 136ff. 165 Vgl. auch PrTh, 146ff. 166 PrTh, 136ff. 167 PrTh, 137ff. 168 PrTh, 140ff. 169 PrTh, 142: „Die Communion ist das tiefste Versenken in die Gemeinschaft mit Christo und erfordert eine vollkommene Ablösung vom gewöhnlichen Leben". - Vgl. GL2 §§139ff.

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erscheinen, gerade um der Gewährleistung der erbaulichen Wirksamkeit des Abendmahles willen, diese dogmatische Einsicht nicht umstandslos in die Organisation des kirchlichen Gottesdienstes einfließen zu lassen170. Das Abendmahl selbst würde - in der gegenwärtigen Lage - hierunter leiden und zu einer mechanischen Gewohnheit werden. Die Einsichten der historisch-kritischen Theoriebildung dürfen also in ihrem eigenen Interesse nur auf dem Umweg über eine die wahrscheinlichen Wirkungen kirchlichen Handelns auf die Erbauung der Gemeinde antizipierende Urteilsbildung praktisch werden, sollen sie nicht unter Umständen kontraproduktiv wirken. Auch die Diskussion des kirchlichen Jahreszyklus und der Gestaltung des Gegensatzes des bedingten und des unbedingten Aspektes im Kultus171 sowie der außerordentlichen und von der Einbindung des kirchlichen Lebens in das Ganze des gesellschaftlichen Lebens mitbedingten Feste172 bildet sich ihr Urteil am jeweiligen Ertrag der Praxis für die Erbauung der Gemeinde. Diese Urteilsbildung ist prinzipiell dogmatisch nicht festgelegt oder gar vorwegzunehmen, wie die verschiedenen Ansichten über die gebotene Radikalität oder Dezenz in der Reform der römisch-katholischen Messe durch die Reformatoren zeigen: „Diese Ansichten sind verschieden, sind aber nicht freie Urtheile über die Sache selber, sondern für sich bedingt durch das verschiedene Gefühl darüber was sich an einem bestimmten Ort und unter gewissen Umständen ausüben läßt ohne Schaden"173. Es ist charakteristisch für Schleiermachers Argumentation in der Praktischen Theologie, daß er stets mit Bedacht den Gesichtspunkt der Schadensbegrenzung hervorhebt. Aus der Einsicht in die innere Logik des christlichen Lebens läßt sich mit einiger Gewißheit immer zumindest etwas darüber angeben, was diesem wesentlich fremd ist und also auf keinen Fall in dasselbe durch das kirchenleitende Handeln integriert werden darf. Diese möglichen Schaden verhüten sollenden Cautelen sind der primäre Ertrag praktisch-theologischer Arbeit. Produktive Anweisungen kann sie über die historisch-kritische Entfaltung der christlichen Wirklichkeitssicht und der darin je erschlossenen Gesetzmäßigkeiten hinaus nicht geben. Die Praktische Theologie ist nicht die christlich-kirchliche Praxis, sondern sie begleitet sie. Und sie kann diese Praxis in dieser Begleitung auch nicht „machen"174, sondern nur - über das innere We170 171 172 173 174

PiTh, 142f. PrTh, 143ff. PrTh, 153ff. PrTh, 149. Vgl. zur Einsicht Schleiermachers in die Begrenztheit theologischer Gottesdiensttheorie, PrTh, 750f: „Geht man in die Idee, so scheint der Cultus nur vollständig in einer Darstellung welche die Modalitäten des religiösen Bewußtseins umfassend erschöpft. So ist er ein unendliches Ganzes, das nur in der ganzen Geschichte der christlichen Kirche sich allmählig entwikkelt. Dieses Ganze aber liegt über die Grenzen der Theorie hinaus; man kann es nicht machen, man sieht es nur werden".

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sen und die Gesetzmäßigkeiten dieser Praxis belehrt und aus Schaden klug geworden - vor möglichen Mißgriffen bewahren helfen. Die Praktische Theologie kann vor allem keine positiven und allgemeinen Handlungsregeln aus etwas ableiten wollen, was für die Zukunft als bessere Gestaltung christlichkirchlichen Lebens gewünscht wird. Es sei denn, dieser Wunsch deckt sich mit den historisch-kritischen Einsichten in die innere Teleologje des christlichen Gesamtlebens. Die Praktische Theologie überprüft die voraussehbaren Folgen der je gegebenen kirchlichen Handlungsoptionen auf ihre Gemäßheit mit der je gegebenen historisch-kritischen Einsicht in das Wesen der christlichen Kirche. Eine eventuelle Vertiefung der Einsicht in das Wesen des Christentums und damit auch eine tiefere Einsicht in die sachgemäße Gestaltung der christlichen Kirche in der Zukunft kann von der Praktischen Theologie in ihrer Theoriebildung nicht vorweggenommen werden: „In technischer Beziehung ist diese Betrachtung null"175, wie sich Schleiermacher mit unüberbietbarer Knappheit im Blick auf die praktisch-theologische Theorie des Gottesdienstes ausdrückt: „Es gäbe keine Geschichte des Christenthums wenn das christliche Leben und Bewußtsein in jedem Jahre dasselbe wäre wie in einem ändern; es wäre stationär geworden, und das ist gegen die Erfahrung. Stellen wir uns auf den Standpunkt, daß der christliche Cultus mit der christlichen Geschichte geht: so müssen wir sagen, daß wenn es im geschichtlichen Ganzen Perioden und Epochen giebt, sich dieses auch im Cultus abspiegelt, und so ist der Jahrescyklus des Cultus in der einen Periode nicht identisch mit dem in der ändern. Wir helfen eine solche Periode machen, aber ohne Bewußtsein, ohne zu wissen ob wir im Anfange oder am Ende uns befinden; und denken wir und im Uebergang: so kann um so weniger ein Bewußtsein davon stattfinden. In technischer Beziehung ist diese Betrachtung null, der Cultus soll immer eine Darstellung des christlichen Lebens sein wie es wirklich ist; wenn wir diesen Kanon verlassen wollen: so wäre unser Cultus immer etwas rein willkührliches phantastisches, wovon sich nicht viel erwarten ließe"176.

3.4 Besinnung auf die zweckmäßigste Organisation der Einflußnahme auf den Kultus durch das Kirchenregiment „Unstreitig ist dies der wichtigste Theil des Kirchenregimentes, indem der öffentliche Gottesdienst der Träger des gemeinsamen religiösen Lebens ist und die persönlich religiösen Verhältnisse durch ihn gehalten werden, in ihm ihre Nahrung finden"177.

175 PlTh, 156. 176 PrTh, 156. 177 PrTh, 605.

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Mit aller Konsequenz macht Schleiermacher die historisch-kritische Einsicht in die zentrale Stellung des Kultus im christlichen Gesamtleben zur Richtschnur des Handelns im Kirchenregiment. Die Problematik dieser Richtschnur ist allerdings, daß sie - wie alles kirchenleitende Handeln - sich auf ein im geschichtlichen Wandel stehendes Phänomen bezieht. Die kirchliche Gesetzgebung muß also in irgendeiner Weise dieser Geschichtlichkeit Rechnung tragen. Hier dient Schleiermacher zunächst die unterschiedliche Form der kirchengesetzgeberischen Maßnahmen auf lutherischer und auf reformierter Seite im Blick auf die Reform der römisch-katholischen Messe zum Exempel dafür, daß sich dogmatisch oft verschiedene Handlungsoptionen begründen lassen, um eine Aufgabe der Kirchenleitung ihrer Lösung entgegenzufuhren. Sofern auf beiden Seiten Fehler vorkamen, hatten diese ihre Grundlage nämlich nicht in einer unsachgemäßen Umsetzung der richtigen Einsicht in das Wesen des Kultus vermittels einer falschen Technik, sondern gründeten bereits in einem falschen Verständnis der inneren Logik religiös-geschichtlichen Lebens179. Die Lehre, die Schleiermacher hieraus für die kirchliche Gesetzgebung im Blick auf den Kultus zieht, ist, daß nach Maßgabe der gegebenen Lage die zunehmende Indifferenz von dogmatischen und kultischen Einseitigkeiten befördert werden soll179. Die kirchliche Gesetzgebung hat also den Rahmen dafür zu schaffen, daß religiöse Einseitigkeiten - die sehr wohl einen richtigen und wichtigen Punkt hervorheben mögen! - relativiert werden und nicht durch ihre Einseitigkeit die freie Entwicklung des religiösen Lebens nach allen Seiten hin behindern. Daß es hierzu - auch und gerade im Blick auf den Kultus - einer gesetzgebenden Tätigkeit durch das Kirchenregiment bedarf, hat darin seine Ursache, daß ansonsten der Fortschritt des kirchlichen Lebens immer nur in einzelnen Gemeinden je für sich geschähe, woraus ein immer weiteres Auseinandergehen der verschiedenen Gemeinden in der kirchlichen Praxis folgte180. In dieser gemeindeverbindenden Aufgabe der kirchlichen Gesetzgebung - Stiftung und Institutionalisierung einer allgemeinen kirchlichen Öffentlichkeit - ist es auch angelegt, daß sie keine Gesetze von außerhalb in die Gemeinden hineinträgt, sondern für alle erkennbar dasjenige Richtige und für alle Wichtige sanktioniert, das sich auf freie Weise in einzelnen Gemeinden entwickelt hat 181 . Dabei geht es nicht darum, Uniformität zu stiften. Die Gestaltung des Kultus muß den individuellen Gegebenheiten in der Gemeinde angemessen sein und sie ausdrücken. Hieran hat die kirchenregimentliche Gesetzgebung für den Gottesdienst ihre unüberschreitbare Schranke182. Aber die Individualität des Kultus muß immer auch noch erkennbar sein als Phänomen eines gemeindeübergreifenden religiösen Lebens. Diese Erkennbarkeit positiv zu erhalten, ist 178 179 180 181 182

PrTh, 606f. PrTh, 607. PrTh, 609. PrTh, 609f. PrTh, 61 Of.

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Aufgabe des Einflusses des Kirchenregimentes auf die Organisation des Kultus. Dabei bezieht sich diese Aufgabe nicht nur - wie zunächst zu vermuten auf die Gestaltung der Liturgie als das gottesdienstliche Element, das die Einheit der Kirche repräsentiert: „Es ist ein bloßer Schein, als ob man die Einheit der Kirche sicher gestellt habe, wenn das Kirchenregiment die Liturgie allenthalben gleichförmig und in gleicher Weise erhält oder diese gar verstärkt. Es muß auch dafür gesorgt werden daß die freie Darstellung des Geistlichen in Uebereinstimmung mit der Liturgie sei, denn steht diese mit ihr in Widerspruch, so stellt dies eben die Zerrissenheit der Kirche recht klar dar, indem dadurch deutlich wird daß die Einheit der Kirche mit der Eigenthümlichkeit der einzelnen Gemeine in Widerspruch ist. Das Kirchenregiment muß hier das Gleichgewicht erhalten weiter aber nichts thun, denn durch die Erneuerung eines alten Buchstabens kann die Einheit der Kirche nicht befördert werden, wenn die Gemeine denselben sich nicht aneignet"183. Alle diese bisher entwickelten Einsichten sind nun allerdings klar erkennbar noch keine genuin praktisch-theologische Theorieleistung, sondern entstammen sämtlich der philosophisch-theologischen Wesensbestimmung des Kultus und der Kirche bzw. der historischen Betrachtung der Deutung und des praktischen Umgangs mit dem Kultus in der Kirchengeschichte bis zur Gegenwart. Diese historisch-kritischen Kenntnisse sind nurmehr unter dem Gesichtspunkt der kirchenleitenden Aufgabe im Blick auf den Kultus geordnet worden. Praktisch-theologisches Terrain ist erst erreicht, wenn Schleiermacher mit geprägter Terminologie die Aufgabe der Kirchenleitung formuliert, „in Ordnung und Maaß"184, also mit den Mitteln der Kunst I8S , die Geschicke des christlichen Gesamtlebens so zu leiten, daß sie zur Ruhe kommen. Mit dieser Bemerkung bricht aber dann offenkundig die Erörterung ab. Was folgt, ist scheinbar eine vom Heraugeber hier angefügte weitere, aus einem anderen Jahr stammende Verhandlung des eben abgeschrittenen Problemfeldes der reformatorischen Umgestaltung des Kultus186. Diese bringt zu dem bisher entwickelten historisch-kritischen Erkenntnisstand nichts weiteres hinzu. Der zweite Teil der Ausführungen Schleiermachers zum Einfluß des Kirchenregimentes auf den öffentlichen Kultus ist „dem Materiellen" der Sache 183 184 185 186

PrTh, 611. PrTh, 613. Vgl. PrTh, 73. PrTh, 613-615. - Die Entscheidung des Herausgebers Frerichs, die vorhandenen Nachschriften zu Schleiermachers praktisch-theologischen Vorlesungen ohne äußerlich erkennbare Unterscheidung ineinander zu arbeiten, ist bereits oft beklagt worden, wirkt sich aber gerade bei einer Untersuchung wie der unseren verhängnisvoll aus. Geht es doch darum, die tatsächliche Argumentation Schleiermachers in seinen Vorlesungen daraufhin zu analysieren, wie in ihr die verschiedenen theologischen Reflexionshinsichten von Schleiermacher aneinander geknüpft werden und einander ergänzen. Die handschriftlichen Notizen Schleiermachers können dieses Manko nicht voll ersetzen.

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gewidmet. Hier wird verhandelt, welchen Einfluß das Kirchenregiment mit seinen Gesetzen auf das Material des darstellenden Handelns im Kultus nehmen soll187. Auch an dieser Stelle knüpft Schleiermacher an die reformatorische Kultusreform an. Der evangelische Grundsatz lautet: „daß nichts was irgend ein Element des Cultus im engern und weitem Sinne ist, durch die bloße äußere Handlung einen religiösen Werth hat"188. Positiv gewendet: „Es muß jedes Element des Cultus um kein opus operatum zu sein erbaulich sein"189. Die prinzipielle Bestimmung dessen, was in evangelisch-christlicher Perspektive erbaulich genannt wird, ist der Praktischen Theologie bereits vorgegeben: Erbaulich ist die Erscheinung und das Dasein Christi. Christentum liegt per definitionem dort vor, wo die Vergegenwärtigung des Lebenszeugnisses Jesu die religiöse Stimmung steigert190. Diese zentrale Bedeutung des Lebenszeugnisses Jesu für Schleiermachers Theorie des Christentums tritt in Schleiermachers Praktischer Theologie notwendig weit zurück und wird folglich auch oft übersehen. Schleiennacher hatte aber gar keine Veranlassung dazu, sich in weitausschweifenden christologischen Gedankengängen zu ergehen, da die Klärung der hierauf bezogenen Vorstellungen - auch und gerade in ihrer Bedeutsamkeit für das darstellende Handeln im christlichen Kultus - kein Thema der Praktischen Theologie ist. Im Zusammenhang der Praktischen Theologie reicht die Feststellung des bloßen „daß" der singulären Erbaulichkeit der Vergegenwärtigung des Lebenszeugnisses Jesu als Anknüpfungspunkt völlig aus 191 . Damit ist aber historisch-kritisch nurmehr der formale - seinerseits der strittigen Näherbestimmung bedürftige - Rahmen dessen vorgegeben, was kirchenrechtlich über das Material des Kultus bestimmt werden kann: „Das aber läßt Verschiedenheit des Unheils zu. So wie wir dies Princip aufstellen in der evangelischen Kirche, kann das Legendenwesen und die Heiligenverehrung nichts erbauliches sein, aber andre Fragen [z.B. die Sitte des Kreuzschiagens etc.; R.S.] werden wir so allgemein nicht entscheiden können"192. Dieselbe Argumentationsfigur findet sich wenig später noch mehrmals: „Es wird etwas erbaulich durch einen innem Zusammenhang mit dem innem Fundament des christlichen Glaubens und Sinnes. Diese Antwort muß freilich verschieden in der Anwendung bestmimt werden können"193. „ (...) läßt sich ein Princip aufstellen, daß im evangelischen Cultus nichts beizubehalten sei was nicht seine legitime Entstehung nachweisen könnte (...) 187 188 189 190 191

PrTh, 615-621. PrTh, 616. Ebd. PrTh, 619. Zudem war es zu Schleiermachers Zeiten unter Theologiestudenten noch nicht üblich, sich auf die Praktische Theologie zu spezialisieren, so daß seine Hörerinnen und Hörer Schleiermachers praktisch-theologische Vorlesungen niemals losgelöst von deren zentralen dogmatischen Grundlagen auffaßten. 192 PrTh, 619. 193 PrTh, 620.

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Wie sehr verschiedener Ansichten aber dies Princip fähig ist, ist auch leicht einzusehen, und werden wir kaum anders glauben können als es werde ein Wechsel von Verfahrensarten in der protestantischen Kirche natürlich sein"194. Der wesentliche Ertrag der Praktischen Theologie für die technische Frage des Einflusses des Kirchenregimentes auf den öffentlichen Kultus über die historisch-kritischen Grundlagen hinaus besteht in der Einsicht, daß es hierzu notwendigerweise eines Methodenpluralismus bedarf in den Grenzen des historisch-kritisch abgesteckten Rahmens - „das ist die Freiheit in Grenzen die dem evangelischen Charakter angemessen sind"195. Eine wichtige Aufgabe ist es, den Eindruck des Anarchischen zu vermeiden, der als Gefahr den Methodenpluralismus begleitet196. Dieser Gefahr wird am besten dadurch gesteuert, daß die Vielfalt der Verfahren als auf ein gemeinsames Prinzip bezogen durchsichtig gemacht werden kann: „Dies ist nur hervorzubringen durch die größtmögliche Freiheit der Lehre und der Betrachtung dessen, worauf die Principien dieser Gegenstände ruhen müssen. Je mehr Freiheit hier herrscht desto constanter sind die Bewegungen und desto gemäßigter; je mehr die Freiheit beschränkt ist desto langsamer ist die Bewegung, aber desto heftiger ist auch ihr Ausbruch und am wenigsten für die Kirche sich ziemend"197.

4. Überlegungen zum erhobenen Quellenbefund und zum Status der Praktischen Theologie als einer universitären theologischen Disziplin Dieses den vorigen Abschnitt beschließende Resümee, das Schleiermacher in seiner Praktischen Theologie als technischer Disziplin im Blick auf den von dieser zur Gottesdiensttheorie - hier speziell des kircb.enregimentlicb.en Einflusses auf die Organisation des öffentlichen Kultus - geleisteten Beitrag zieht, ist vielleicht auf den ersten Blick völlig überraschend: Der zentrale Beitrag des technischen Verfahrens im Blick auf die kirchenregimentliche Einflußnahme auf den öffentlichen Gottesdienst richtet sich auf die Institutionalisierung einer größtmöglichen Öffentlichkeit für das historisch-kritische Verfahren und seine Resultate - „größtmögliche Freiheit der Lehre und der Betrachtung dessen, worauf die Principien dieser Gegenstände ruhen müssen". Ein zweiter Blick zeigt aber, daß dieses scheinbar Schleiermachers eigenes enzklopädisches Theologieprogramm sprengende Ergebnis von vornherein genauestens in dieses als konstitutives Moment integriert worden war und dieses keineswegs ad 194 195 196 197

PrTh, 621. PrTh, 621. PrTh, 621. PrTh, 621.

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absurdum oder zumindest zur Aufhebung der Praktischen Theologie als eigenständigem Teil der theologischen Theoriebildung fuhrt. Wie wir gesehen haben, unterstellt Schleiermacher, daß es auf ethischem Gebiet keine Differenz zwischen Zweck und Mittel geben dürfe. Damit ist aber unmittelbar gesetzt, daß sich auch die Resultate des technischen Verfahrens und die Ergebnisse des historisch-kritischen Verfahrens nicht wie Mittel und Zweck zueinander verhalten können. Die Praktische Theologie kann somit keine bloße Anwendungswissenschaft für ein ihr äußerliches historisch-kritisches theologisches Wissen sein, das seinerseits in keiner wesentlichen inneren Beziehung zu den vom technischen Verfahren zusammengestellten Kunstregeln wäre. Die ernüchternde Bilanz unseres Durchgangs durch die den Gottesdienst betreffenden Abschnitte von Schleiermachers Praktischer Theologie, die regelmäßig den Gehalt dieser Aussagen als historisch-kritische Theoriebildung auswies, war also von vornherein programmiert. Die Praktische Theologie hat die in den theoretischen Disziplinen erhobenen historisch-kritischen Kenntnisse dem Begriff der Kirchenleitung zu subsumieren und entsprechend zu ordnen. Als in dieser Weise auf die Orientierung zukünftiger Praxis der Kirchenleitung hin geordnete Kenntnisse besitzen sie nun aber unmittelbar schon den Status von Kunstregeln. Eine Kompositionslehre enthält auch nichts anderes als Kenntnisse über die innere Logik von Harmonie und Rhythmus, wie sie sich aus dem Studium gegebener musikalischer Kunstwerke erschließen lassen. Und sie wird dadurch zu einer Kunstlehre, daß sie diese Kenntnisse auf die Bedürfnisse des Kompositionsaktes hin ordnet - Lehre - und zugleich doch in der Ordnung und Präsentation von musikalischen Regeln noch nicht deren stilsichere Anwendung sicherzustellen vermag - Kunstlehre. Diese Stilsicherheit der Anwendung muß in praxi eingeübt werden und kann nur provisorisch und bedingt gedanklich antizipiert werden. Wie steht es aber mit dem Phänomen, daß auch das Ergebnis der Suche nach Abschnitten, die sich mit der Einübung in die antizipierende Abschätzung der Folgen verschiedener möglicher Einflußnahmen auf den Kultus beschäftigen, so dürftig ausfiel? Bis auf das klassische Beispiel der reformatorischen Umwandlung der römisch-katholischen Messe ergab unsere Suche eine fast völlige Fehlanzeige. Der Grund mag darin zu finden sein, daß die Alternative zu dieser Lücke für Schleiermacher gewesen wäre: eine Art von praktischtheologischer Kasuistik, um die praktisch-theologische Urteilsbildung zu schärfen. Statt dessen wählte Schleiermacher den Weg, die universitäre Praktische Theologie darauf zu beschränken, die einschlägigen Gesichtspunkte aus der historisch-kritischen Theoriebildung für die verschiedenen Gebiete der Kirchenleitung zusammenzustellen. Die Frage ihrer situationsadäquaten Fruchtbarmachung für die zukünftige Praxis hat er dann der vor jedem wissenschaftlichen Studium mimer schon vorauszusetzenden „Allgemeinbildung" bzw. der besonnenen Durchdringung der je eigenen kirchenleitenden Praxis im Anschluß an das Studium überlassen. Offenkundig ist diese Entscheidung zum

Überlegungen zur Praktischen Theologie als einer Universitäten Disziplin

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Beispiel an vielen Stellen seiner praktisch-theologischen Theorie der religiösen Rede: „Was die Theorie eigentlich leisten kann, haben wir im allgemeinen gesehen; sie kann nie die Virtuosität hervorbringen, nur die Anlage die ein jeder dazu hat leiten, mehr kritisch und durch Cautelen wirken. Das positive was sie thun kann, ist daß sie die verschiedenen Verfahrungsarten und die Momente die in einer jeden liegen auseinandersezt, damit sich jeder daraus aneignen kann was sich für ihn am meisten schikkt. Die Wirksamkeit einer solchen Theorie ist sehr verschieden je nachdem das Talent ist was dazu gehört (...) Der Sprache bedienen wir uns alle und sie versirt hier auf einem Gebiet wo keine Virtuosität erforderlich ist, und das wodurch die Composition selber ein seinen Zwekk erreichendes wohlgeordnetes Ganze wird, ist das was allen die auf dem wissenschaftlichen Gebiet versiren gemeinsam sein muß, nämlich nur das Herr sein über die Combination seiner Gedanken. Jeder der überhaupt in das kirchliche Leben auf selbständige Weise einzugreifen den wahren Beruf hat, hat alles in sich was ihn zum tüchtigen religiösen Redner machen kann"196. Von hierher fällt dann auch noch einmal ein neues Licht auf den bereits zitierten Brief an Wilhelm von Humboldt, in welchem Schleiermacher der Einrichtung einer eigenen Professur für Praktische Theologie sehr reserviert gegenübersteht. Man wird auch fragen müssen, ob Schleiermacher in seiner „Kurzen Darstellung" mit der Ausdifferenzierung einer eigenen Disziplin „Praktische Theologie" wirklich eine eigenständige Universitätsdisziplin inauguriert hat oder nicht vielmehr eine unverzichtbare theologische Reflexionshinsicht grundlegen wollte, die universitär prinzipiell gar nicht institutionalisierbar ist, weil das in ihr verfolgte technische Verfahren so individuell auf den jeweiligen Fall zugeschnitten ist, wie es sich im universitären Rahmen gar nicht vorwegnehmen läßt. In das technische Verfahren „allgemein" kann man dann nur noch so einfuhren, daß man in das historisch-kritische Verfahren einführt, denn im Blick auf gegebene Praxis gibt es keinen Unterschied zwischen technischem Interesse und historisch-kritischem Verfahren"9. Weshalb wohl Schleiermacher selbst in seiner Praktischen Theologie auch nur die historischkritischen Gesichtspunkte kirchenleitender Praxis summarisch zusammentrug und ordnete. Das historisch-kritische Verfahren läßt sich ohne Probleme universitär institutionalisieren, weil die geschichtlichen Verstehensprobleme im Blick auf die gegebene christliche Kirche allen Studentinnen und Studenten 198 PrTh, 202f. Vgl. 260f.278f.300.307. - Vgl. auch die entsprechenden Aussagen in der Pädagogikvorlesung von 1826: Pädagogische Schriften I, 8f. 199 So empfahl Schleiermacher zur Schärfung der produktiven praktisch-theologischen Urteilskraft im Blick auf die religiöse Rede die „Homiletische Kritik", wenn auch nur unter ausdrücklichem Vorbehalt (PrTh, 260.279.286f). Vgl. SW 1.5, 463ff. Die Technik selbst läßt sich dagegen nur kultivieren in der Teilnahme an der Praxis. Das historisch-kritische Verfahren läßt sich ja ebenfalls nur verinnerlichen in seiner Anwendung auf bestimmte gegebene geschichtliche Phänomene.

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Praktische Theologie des Gottesdienstes

cum grano salis in gleicher Weise aufgegeben sind. Das historisch-kritische Verfahren kann daher in seinem gemeinsamen universitären Vollzug je individuell verschieden verinnerlicht werden. Das gilt für das technische Verfahren nicht. Da das Studium charakterisiert ist durch seine Distanz zur konkreten Praxis der Kirchenleitung und vor allem: da es von dem in dieser Praxis bestehenden Entscheidungsdruck entlastet ist, kann das technische Verfahren nicht in einer mit dem historisch-kritischen Verfahren vergleichbaren Weise universitär eingeübt werden. Das ist prinzipiell unmöglich. Denn während ohne weiteres an ein und demselben geschichtlichen Phänomen Generationen von Theologen ihre historisch-kritische Urteilskraft schärfen können, kann in einer Entscheidungssituation geschichtlicher Praxis immer nur einmal und von einer Person entschieden werden. Auf diese Situation des Entscheidungsdruckes kann universitär das antizipierende Bedenken möglicher Folgen eigenen Handelns in zukünftigen Situationen oder das Studium exemplarischer Fälle kirchlicher Praxis und ihrer Folgen nur bedingt vorbereiten200. Damit ist Schleiermachers Programm einer Praktischen Theologie nicht obsolet geworden. Ganz im Gegenteil! Die Praktische Theologie muß allerdings jetzt in dem Sinne als „Krone des theologischen Studiums" verstanden werden, daß im technischen Verfahren die theologische Kompetenz des einzelnen Handelnden ihre Feuerprobe bestehen muß. Das heißt, ob unter dem undelegierbaren Entscheidungsdruck nun letztlich doch mechanisch - der Tradition gemäß und das Vorbild anderer oder der eigenen Phantasie nachahmend - gehandelt wird, oder aber, ob auch unter Druck diejenige theoretische Distanz zur Handlungssituation aufgebaut werden kann, ohne die besonnenes Handeln nicht möglich ist. Nur im letzteren Falle wäre Praktische Theologie „Theorie der Praxis". Damit wird die Grenze unserer methodischen Beschränkung auf die universitären Quellen von Schleiermachers Gottesdiensttheorie offenkundig. Was Schleiermacher als Praktischer Theologe zur Gottesdiensttheorie beizutragen wußte, muß auch und gerade aus seiner praktischen Anteilnahme an den Streitigkeiten seiner Zeit, aber auch aus den Dokumenten seiner eigenen pfarramtlichen Praxis erhoben werden. Daran, wie er dort handelt, wie er argumentiert, wie er Vor- und Nachteile verschiedener Gestaltungsmöglichkeiten kultischer Praxis im Blick auf die von ihnen ausgehende oder zu erwartende Erbauung der Gemeinde - oder aber ihre Behinderung - gegeneinander abwägt, ließe sich wohl ein Einblick gewinnen in Schleiermachers eigenes technisches Verfahren. Das aber liegt jenseits der Grenzen der vorliegenden Studie.

200 Diese Möglichkeit müßte dann allerdings auch universitär angeboten werden (Stichwort: universitär begleitete Praktika!).

Schluß Der Ausgangspunkt unserer Untersuchungen war die Frage nach der umfassenden theologischen Theoriegestalt von Schleiermachers Gottesdiensttheorie. Motiviert war diese Fragestellung durch die Beobachtung, daß Schleiermacher sich als Theologe an verschiedenen Stellen zum Thema Gottesdienst eingehend geäußert hat. Dabei hat er oft selbst explizit auf die unterschiedliche Funktion dieser jeweiligen Einlassungen innerhalb seiner Konzeption der gesamten theologischen Theoriebildung hingewiesen. Eine überzeugende Darstellung und Deutung des systematischen Zusammenhanges dieser verschiedenen Aussagen zum Thema Gottesdienst innerhalb jenes von Schleiermacher offenkundig vorausgesetzten gesamttheologischen Theorierahmens hat die Schleiermacher-Forschung bisher allerdings nicht vorgelegt. Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit wiesen wir zunächst Schleiermachers theologische Enzyklopädie, wie er sie in seiner ,.Kurzen Darstellung" präsentiert hat, als den formalen Rahmen zur Rekonstruktion seiner umfassenden und vollständigen Gottesdiensttheorie auf. Dieses Ergebnis dürfte insofern in der Schleiermacher-Forschung wenig spektakulär sein, als es lediglich die schlichte Forderung formuliert, Schleiermachers „Kurze Darstellung" sei genau als das zu nehmen, was sie ihrem eigenen Selbstverständnis nach sein will: die Entfaltung des formalen Rahmens einer jeden materialen theologischen Theoriebildung, wie sie Schleiermacher versteht. Im zweiten Teil unserer Studien hatten wir dann versucht, die einschlägigen theologischen Aussagen Schleiermachers zum Thema Gottesdienst in ihren enzyklopädischen Rahmen einzuordnen und fehlende Teile im Sinne Schleiermachers auszufüllen. Dabei waren wir stets darum bemüht, uns auch hier so eng als möglich an Schleiermacher anzulehnen und begnügten uns daher in diesen Passagen im wesentlichen damit, die Implikationen von solchen nicht direkt auf den Gottesdienst bezogenen Aussagen Schleiermachers für seine zu rekonstruierende Gottesdiensttheorie deutlich zu machen. Ob und inwiefern diese materiale Rekonstruktion gelungen ist, wird im einzelnen unvermeidlich strittig sein - zumal es sich bei der vorliegenden Arbeit um einen allerersten Versuch in dieser Richtung handelt. Was ist nun der Ertrag unserer Untersuchung? Gemäß dem Titel der vorliegenden Arbeit - „Schleiermachers Gottesdiensttheorie" - muß dieses Resümee zwei Gesichtspunkte berücksichtigen: erstens, welchen Ertrag hat unsere Arbeit für eine tiefere Einsicht in die Theologie

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Schluß

Schleiermachers erbracht, und zweitens, welcher Erkenntniszugewinn ergab sich aus unserer Arbeit für eine heutige Theologie des Gottesdienstes? 1. Schleiermachers Theologie steht seit jeher unter einem doppelten Verdacht: Auf der einen Seite wird ihr unterstellt, sie verwandle die Theologie unter der Hand in Philosophie und verrate eben damit das Interesse der christlichen Frömmigkeit an die Allmachtsphantasien einer über ihre eigenen Grenzen unaufgeklärten Vernunft. Auf der anderen Seite wird der Verdacht erhoben, Schleiermachers Programm der Theologie als einer positiven Wissenschaft unterwerfe die vernünftige Besinnung auf die je gegenwärtige Gestalt christlicher Frömmigkeit und ihrer Voraussetzungen dem totalitären Verdikt einer unkritisch übernommenen und überlebten kirchlichen Traditionsgestalt und verrate auf diese Weise das ureigene Interesse der lebendigen christlichen Frömmigkeit - nun eben an die Alknachtsphantasien einer über ihre eigenen Grenzen unaufgeklärten Gestalt kirchlicher Tradition. Für wie gegen beide Verdächtigungen werden eine Reihe von programmatischen Äußerungen Schleiermachers angeführt. Es ist aber noch sehr die Frage, ob der Streit über die sachgemäße Deutung der theologischen Leistung Schleiermachers, wie er sich zwischen diesen beiden Extremen abspielt, überhaupt auf der programmatischen Ebene allein entschieden werden kann. Vielmehr sprechen gerade die programmatischen Aussagen Schleiermachers zum Status der Theologie als einer positiven Wissenschaft dafür, das, was Schleiermacher unter Theologie verstand und als solche praktizierte, dadurch zu rekonstruieren, daß man seine Theologie nicht nur auf ihr Programm reduziert, sondern auch und gerade die materiale theologische Arbeit Schleiermachers gemäß diesem Programm zu rekonstruieren sucht. Ob und inwiefern Schleiermacher die lebendige christliche Frömmigkeit tatsächlich an die Allmachtsphantasien einer verblendeten Vernunft oder einer totalitären kirchlichen Tradition verrät oder aber ganz im Gegenteil Vernunft und kirchliche Tradition als von der christlichen Frömmigkeit selbst geforderte Aspekte ihrer Lebendigkeit aufzeigt und sie als solche bewußt und kontrolliert in Anspruch nimmt, das zeigt sich erst, wenn man Schleiermachers materiale Beschreibung der ganzen Wirklichkeit des christlich-frommen Lebens in den Blick faßt - also in der Rekonstruktion der materialen Durchführung seines theologischen Programms durch Schleiermacher selbst. Gerade in der Rekonstruktion von Schleiermachers materialer Beschreibung der ganzen Wirklichkeit des christlichen Lebens wird anschaulich, wie in seiner Theologie das Interesse der christlichen Frömmigkeit gerade dadurch ernst genommen wird, daß sie sich in ihrer Selbstexplikation des begrifflichen Rahmens der Philosophischen Ethik bedient. Denn nur so wird jene Trennschärfe und Differenziertheit in der Selbstbeschreibung christlicher Frömmigkeit ermöglicht, ohne welche dieselbe sich in vielerlei Hinsicht selbst verborgen bleiben muß. Die Inanspruchnahme des begrifflichen Rahmens der Philosophi-

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sehen Ethik dient also genau der differenzierteren Wahrnehmung der christlichen Frömmigkeit selbst, indem sie deren implizite Struktur erhellt. Diese Auffassung wird zwar auch von einer bestimmten Richtung der Schleiermacher-Forschung vertreten und ist insofern nicht neu. Allerdings wird diese Auffassung von unserer Arbeit nicht nur durch den Blick auf Schleiermachers theologisches Programm - gewissermaßen als Indizienbeweis - gestützt, sondern durch die Rekonstruktion eines exemplarischen Teilbereiches wurde erstmals im enzyklopädischen Rahmen versucht, diese Auffassung an der faktischen Gestalt der materialen theologischen Theoriebildung Schleiermachers zu bewähren. Besondere Bedeutung kommt auch unseren Beobachtungen hinsichtlich Schleiermachers Programm der Praktischen Theologie zu. Erst die Rekonstruktion der Gottesdiensttheorie Schleiennachers in ihrem enzyklopädischen Rahmen machte nämlich unübersehbar, wie schwierig die genaue Funktion der Praktischen Theologie in Schleiermachers theologischer Enzyklopädie zu bestimmen ist. Sie scheint jedenfalls nicht ohne weiteres das zu sein, als was sie die landläufige praktisch-theologische Schleiermacher-Rezeption präsentiert. Die Fragen, die die Praktische Theologie heute gerade unter Berufung auf Schleiermacher als ihre ureigensten Aufgaben ansieht - etwa die intensive Berücksichtigung nichttheologischer Wissenschaften wie der Psychologie, der Soziologie usw.; die Reflexion auf die ästhetische Dimension christlicher Frömmigkeitspraxis; die Besinnung auf die gesellschaftliche Funktion von Religion und Kirche, heute vielleicht besonders virulent in der Frage des konfessionellen Religionsunterrichtes; - all diese Fragen haben auch ihren Ort in Schleiermachers theologischer Konzeption, aber sie haben diesen Ort für Schleiermacher nicht, zumindest nicht ausschließlich, in der Praktischen Theologie. All diese im Rahmen der theologischen Theoriebildung zu erwerbenden Kenntnisse müssen als Kenntnisse immer schon gegeben sein, wenn nach Schleiermacher das Geschäft der Praktischen Theologie anhebt. Das Problem ist also nicht, daß diese heutzutage besonders in der Praktischen Theologie verhandelten Fragen nach Schleiermacher obsolet seien - ganz im Gegenteil! Sondern die Frage lautet, welche Aufgabe von Schleiermacher nun statt dessen der Praktischen Theologie zugewiesen wird, wenn sie keinerlei neue Kenntnisse erarbeitet, die nicht in den anderen theologischen Disziplinen bereits vorliegen. Diese Frage konnte im Rahmen der vorhegenden Arbeit anläßlich der Aussagen Schleiermachers zum Gottesdienst, die sich in der Praktischen Theologie finden und fast sämtlich nur Wiederholungen von Einsichten sind, die bereits in anderen theologischen Disziplinen gewonnen worden waren, nur in aller Deutlichkeit gestellt, nicht aber befriedigend gelöst werden. Als eine mögliche Antwort ergab sich provisorisch die Ausgliederung der Praktischen Theologie - NB: wie sie Schleiermacher konzipiert! - aus dem universitären Curriculum und ihre Institutionalisierung als eine die zweite Ausbildungsphase begleitende Disziplin, in deren Zuständigkeit die kon-

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trollierte Einübung der zur Kirchenleitung erforderlichen handwerklichen Fertigkeiten unter Berücksichtigung der je vor Ort gegebenen Bedingungen und der jeweiligen Talente der Kandidatin bzw. des Kandidaten fällt. 2. Wir haben uns in der vorliegenden Arbeit stets darum bemüht, unsere Rekonstruktion von Schleiermachers theologischer Theoriebildung im Blick auf den evangelischen Kultus für sich selbst sprechen zu lassen. Dies erschien angesichts der Fülle wie der Komplexität des darzustellenden Materials, das dazu noch überaus mühevoll erhoben werden mußte, als ratsam Eine beständige Orientierung an der gegenwärtigen Diskussion oder auch nur eine durchgängige Problematisierung der rekonstruierten Position hätte die Durchsichtigkeit dieser erstmaligen Rekonstruktion der Schleiermacherschen Gottesdiensttheorie in ihrer enzyklopädischen Gestalt wohl mehr als zumutbar leiden lassen. Wenn nun nach dem Ertrag unserer Rekonstruktion für die gegenwärtigen Bemühungen um eine theologische Theorie des evangelischen Gottesdienstes gefragt wird, läßt sich in einem Schlußteil die gegenwärtige Diskussion auch nicht annähernd repräsentativ wiedergeben. Wir wollen daher unserem bisherigen Vorgehen treu bleiben und statt dessen wieder Schleiermachers Gottesdiensttheorie selbst und zwar diesmal als ein „Fragmal" an die gegenwärtigen Positionen zu Wort kommen lassen. Die Rekonstruktion von Schleiermachers Gottesdiensttheorie am Leitfaden der „Kurzen Darstellung" präsentierte eine theologische Theoriebildung im Blick auf den evangelischen Kultus, die in eindrucksvoller Weise das Zusammenspiel und den je eigentümlichen Beitrag der verschiedenen theologischen Fragerichtungen und Disziplinen zur theologischen Durchdringung eines Praxisfeldes christlich-evangelischer Frömmigkeit vorführte. Schleiermachers ausgefeilte binnentheologische Interdisziplinarität und Arbeitsteilung wie auch das prononcierte Gespräch mit den nichttheologischen Wissenschaften hatte allerdings zu ihrer Voraussetzung die klare Angabe der Aufgabe, welche die Theologie zu bearbeiten hat. Jede Aufgabenteilung setzt die genaue Bestimmung der Gesamtaufgabe voraus. Nur so wird gewährleistet, daß die verschiedenen Bemühungen aufeinander abgestimmt sind, einander befruchten und nicht etwa kontraproduktiv wirken. Im Blick auf die gegenwärtigen Beiträge zur Gottesdiensttheorie ergibt sich hier die Frage, ob und inwiefern dieselben Auskunft darüber geben, was überhaupt die eigentümliche Aufgabe theologischer Theoriebildung in bezug auf diesen Gegenstand ist, welchen je spezifischen Beitrag zur Bearbeitung dieser Aufgabe die verschiedenen theologischen Disziplinen jeweils leisten und welcher Teilaufgabe sie selbst gewidmet sind. Schleiermachers Gottesdiensttheorie zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, daß sie ihren Gegenstand einzeichnet in eine Gesamtschau des christlichen Lebens und seiner gesamtgesellschaftlichen Kontexte. Wie der enzyklopädische Rahmen der Gottesdiensttheorie die einzelnen theologischen Disziplinen

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davor bewahrt, die ganze Theorielast der Gottesdiensttheorie allein tragen zu sollen und doch nicht zu können, so bewahrt diese Gesamtschau auf die ganze Wirklichkeit des christlichen Lebens den Gottesdienst vor überspannten Erwartungen, indem sie ihn in seiner eigentümlichen Funktion aufweist. Diese Funktion ist für Schleiermacher zwar gewiß die zentrale Funktion im christlichen Gemeinschaftsleben, aber sie ist ihrerseits darauf angewiesen, daß in dieser christlichen Gemeinschaft auch andere Funktionen effektiv wahrgenommen werden, die dem Gottesdienst zugeordnet sind. Im Blick auf die gegenwärtigen Beiträge zur Gottesdiensttheorie ergibt sich somit die Frage, ob und inwiefern dieselben eine Auskunft über die Stellung des Gottesdienstes im Gesamt des christlichen Lebens, der christlichen Gemeinschaft und der Gesamtgesellschaft geben. Wird 'm diesen Beiträgen klar, welche Aufgabe der Gottesdienst für das christliche Leben, die christliche Gemeinschaft und die Gesamtgesellschaft hat und welche Bedingungen außerhalb des Gottesdienstes erfüllt sein müssen, damit dieser überhaupt seiner Aufgabe gerecht werden kann? Wenn dieser Kontext nicht mitberücksichtigt wird, ist die Frustration hochfliegender liturgischer Reformpläne oft schon vorprogrammiert. Schleiermacher hat in seiner theologisch-enzyklopädischen Konzeption der Praktischen Theologie den Status einer technischen Disziplin zugeschrieben. Als eine solche technische Disziplin wird sie in einer eigentümlichen Weise von den historisch-kritischen Disziplinen abgehoben, deren Aufgabe die systematische Entfaltung aller derjenigen Kenntnisse ist, ohne deren Besitz und Gebrauch keine zusammenstimmende Kurchenleitung möglich ist. Die technische Disziplin der Praktischen Theologie hat es dagegen - in eher erläuterungsbedürftigen Weise - mit der Erhebung und Bereitstellung aller derjenigen Fertigkeiten zu tun, ohne deren Besitz und Gebrauch - selbst bei dem Gegebensein aller erforderlichen historischen Kenntnisse - keine zusammenstimmende Kirchenleitung möglich ist. Wie wir gesehen haben, wird durch diese Entscheidung Schleiermachers in keiner Weise die Weite des theologischen Problembewußtseins und die Fülle der sozialethischen, soziologischen und psychologischen Kenntnisse, die sich die gegenwärtige praktisch-theologische Theoriebildung erarbeitet hat, der Sache nach ekklesiologisch enggeführt oder technizistisch verkürzt. Der Sache nach ist diese Fülle wie jene Weite in seiner theologischen Enzyklopädie ebenso enthalten, nur kommt sie in ihr an einem anderen Ort zu stehen. Darüber hinaus wird aber in Schleiermachers enzyklopädischer Konzeption in Gestalt der Praktischen Theologie als einer dezidiert technischen Disziplin der Tatsache Rechnung getragen, daß alle historische Kenntnis nicht automatisch die ihr adäquate Praxis aus sich herauszusetzen vermag. Historische Kenntnisse und die Fertigkeit, sie in sachgemäßer Praxis in Anwendung zu bringen, sind etwas voneinander strikt zu unterscheidendes. Die sachgemäße und situationsadäquate Anwendung von Kenntnissen ist eine Kunst. Wenn Schleiermachers Darstellung dieser Kunst auch im Rahmen seiner materialen theologischen Theoriebildung hinsichtlich des evangelischen

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Gottesdienstes nicht ganz befriedigt, so gebührt ihm doch die Ehre, diesen Aspekt in die theologische Enzyklopädie und somit in die theologische Gottesdiensttheorie zumindest als Problemanzeige integriert zu haben. Im Blick auf die gegenwärtigen Bemühungen um eine leistungsfähige Gottesdiensttheorie ergibt sich daher die Frage, ob und inwiefern dieselben berücksichtigen, daß alle historisch-kritischen Kenntnisse um den Gottesdienst als Kultus nur durch ein von diesen Kenntnissen zu unterscheidendes ästhetisch sicheres Urteil und ein ebenso von ihnen zu differenzierendes kunstvolles Handeln in sachgemäßer Weise praktisch werden können. Und es ist vor allem zu fragen, an welchem Ort und in welcher Form den zukünftig mit der Kirchenleitung betrauten Personen in einer ihrer Individualität wie der Individualität ihrer Handlungssituation Rechnung tragenden Weise dieses unverzichtbare ästhetisch sichere Urteil und das kunstvolle liturgische Handeln nach den Vorstellungen der gegenwärtigen Gottesdiensttheorien vermittelt werden soll wenn sie denn hierzu überhaupt Vorstellungen enthalten. All diese Fragen machen deutlich, warum Schleiermachers Gottesdiensttheorie auch heute noch von Interesse ist. Sie ist es nicht als ein Theorieangebot, das unsere heutigen Praxisprobleme unmittelbar lösen könnte. Sie ist es aber sehr wohl als ein Theorieangebot, das uns dabei helfen kann, unsere heutigen Praxisprobleme allererst einmal mit der nötigen theologischen DüTerenziertheit in den Blick zu bekommen. Wer Schleiermachers Gottesdiensttheorie in ihrer enzyklopädischen Gestalt und in der Fülle ihres theologischen Gehaltes auf sich wirken läßt, der wird nicht versucht sein, Schleiermachers eigene liturgische Praxis in unserer heutigen Zeit Wiederaufleben zu lassen. Schleiermacher war in seiner liturgischen Praxis ein Kind seiner Zeit. Aber er war es in reflektierter Weise. Und der Nachvollzug dieser Reflektiertheit, dieses Problembewußtseins, mag uns dabei helfen, in ebenso reflektierter Weise in unserer heutigen liturgischen Praxis Kinder und nicht Sklaven unserer Zeit zu sein.

Verzeichnis der Siglen Verzeichnis der zur Zitation der Werke Schleiermachers verwendeten Siglen: ÄLe

Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32). Hrsg. von Thomas Lehnerer, Hamburg 1984.

ÄOd

Friedrich Schleiermachers Ästhetik. Im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Literatur-Archiv-Gesellschaft zu Berlin nach den bisher unveröffentlichten Urschriften zum ersten Male herausgegeben von Rudolf Odebrecht, Berlin; Leipzig 1931.

Briefe

Aus Schleiermachers Leben. In Briefen. l.-4.Bd., hrsg. von Ludwig Jonas und Wilhelm Dilthey, Berlin 1858-1863.

CS

Die christliche Sitte nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt von Dr. Friedrich Schleiermacher. Aus Schleiermacher's handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen herausgegeben von Ludwig Jonas, Berlin 1843 (SW 1.12).

CSP

Christliche Sittenlehre: Einleitung (Wintersemester 1826/27). Nach größtenteils unveröffentlichten Hörernachschriften hrsg. u. eingeleitet von Hermann Peiter. Mit e. Nachwort von Martin Honecker, Stuttgart; Berlin; Köln; Mainz, 1983.

DO

Dialektik. Im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf Grund bisher unveröffentlichten Materials herausgegeben von Rudolf Odebrecht, Darmstadt 1976 (Unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1942).

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Verzeichnis der Siglen

Gedanken

Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn; in: Friedrich Schleiermacher, Pädagogische Schriften 2. Pädagogische Abhandlungen und Zeugnisse. Unter Mitwirkung von Theodor Schulze herausgegeben von Erich Weniger, Frankfurt; Berlin; Wien, 1984,81-139.

GL2

Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt von Friedrich Schleiermacher. Aufgrund der zweiten Auflage und kritischer Prüfung des Textes neu hrsg. und mit Einleitung, Erläuterungen und Register versehen von Martin Redeker, 2 Bde. 7.Auflage, Berlin 1960.

Glaubenslehre, 1.Auflage Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22). Herausgegeben von Hermann Peiter, Teilbände l und 2. Berlin; New York 1980 (KGAI.7,1-2). HF

Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiennachers. Herausgegeben und eingeleitet von Manfred Frank, Frankfurt 1977.

HK

Hermeneutik. Nach den Handschriften neu herausgegeben und eingeleitet von Heinz Kimmerle, Heidelberg 1959.

KD2

Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Kritische Ausgabe, hrsg. von Heinrich Scholz, 3.Aufl., Leipzig 1910; Neudruck, Darmstadt 1982 .

KdS

Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre; in: SW .1, Berlin 1846, 1-344.

KG

Geschichte der christlichen Kirche. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen herausgegeben von E. BonneU, Berlin 1840, SW 1.11.

Verzeichnis der Siglen

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KSP

Kleine Schriften und Predigten. 3Bde., hrsg. v. Hayo Gerdes und Emanuel Hirsch, Berhn 1969/70.

LJ

Das Leben Jesu. Vorlesungen an der Universität zu Berhn im Jahr 1832 gehalten von Dr. Friedrich Schleiermacher. Aus Schleiermacher's handschriftlichem Nachlasse und Nachschriften seiner Zuhörer herausgegeben von K. A. Rütenik, Berhn 1864, SW 1.6.

Pädagogische Schriften

Friedrich Schleiermacher, Pädagogische Schriften 1. Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826. Unter Mitwirkung von Theodor Schulze herausgegeben von Erich Weniger, Frankfurt; Berhn; Wien, 1984, 1405.

PhE

Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, nach den Handschriften Schleiermachers neu herausgegeben und eingeleitet von Otto Braun. 2. Aufl. 1927; in: Fr. D. E. Schleiermacher, Werke, Auswahl in vier Bänden, hrsg. von Otto Braun und Joh. Bauer, Leipzig 1927/28, Zweiter Band, herausgegeben von Otto Braun.

PrTh

Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt von Dr. Friedrich Schleiermacher. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen herausgegeben von Jacob Frerichs, Berhn 1850 (SW 1.13).

Psychologie

Psychologie. Aus Schleiermacher's handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hrsg. von L. George, Berhn 1862 (SW III.6).

ThES

Theologische Enzyklopädie (1831/32). Nachschrift David Friedrich Strauß. Hrsg. von Walter Sachs. Mit einem Vorwort von Hans-Joachim Birkner. Berhn; New York 1987 (Schi.-A, Bd.4).

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Bibliographie

Bibliographie Schleiermacher Werkausgaben —

— — —

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Hans-Joachim Birkner und Gerhard Ebeling, Hermann Fischer, Heinz Kimmerle, Kurt Victor Selge. Berlin; New York 1980ff. Friedrich Schleiermacher's sämmtliche Werke. Berlin 1834-1864. (l.Abtl: Zur Theologie; 2.Abtl.: Predigten; 3.AbtL Zur Philosophie.) Fr. D. E. Schleiermacher, Werke. Auswahl in vier Bänden, hrsg. von Otto Braun und Joh. Bauer. 2.Aufl., Leipzig 1927/28. Kleine Schriften und Predigten. 3Bde., hrsg. v. Hayo Gerdes und Emanuel Hirsch, Berlin 1969/70 (abgekürzt: KSP). Verwendete Briefausgabe



Aus Schleiermachers Leben. In Briefen. l.-4.Bd., hrsg. von Ludwig Jonas und Wilhelm Dilthey, Berlin 1858-1863 (abgekürzt: Briefe).

Verwendete Quellen Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32). Hrsg. von Thomas Lehnerer, Hamburg 1984 (abgekürzt: ÄLe). Friedrich Schleiermachers Ästhetik. Im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Literatur-Archiv-Gesellschaft zu Berlin nach den bisher unveröffentlichten Urschriften zum ersten Male herausgegeben von Rudolf Odebrecht, Berlin; Leipzig 1931 (abgekürzt: ÄOd). Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen. Bearbeitet von Andreas Amdt und Wolfgang Virmond, Berlin; New York 1992 (Schi-Archiv Bd. 11). Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der ev. Kirche im Zusammenhange dargestellt, neu hg. von Martin Redeker, 7.=2.Auflage, Berlin 1960 (abgekürzt: GL2). Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22). Herausgegeben von Hermann

Bibliographie

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Peiter, Teilbände l und 2. Berlin; New York 1980 (KGA 1.7,1-2) (abgekürzt: Glaubenslehre, I.Auflage). Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22). Teilband 3: Marginalien und Anhang unter Verwendung vorbereitender Arbeiten von Hayo Gerdes und Hermann Peiter herausgegeben von Ulrich Barth, Berlin; New York 1984 (KGA 1.7,3). Die christliche Sitte nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt von Dr. Friedrich Schleiermacher. Aus Schleiermacher's handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen herausgegeben von Ludwig Jonas, Berlin 1843 (SW 1.12) (abgekürzt: CS). Christliche Sittenlehre: Einleitung (Wintersemester 1826/27). Nach größtenteils unveröffentlichten Höremachschriften hrsg. u. eingeleitet von Hermann Peiter. Mit e. Nachwort von Martin Honecker, Stuttgart; Berlin; Köln; Mainz, 1983 (abgekürzt: CSP). Dialektik. Im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf Grund bisher unveröffentlichten Materials herausgegeben von Rudolf Odebrecht, Darmstadt 1976 (Unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1942) (abgekürzt: DO). Einleitung ins neue Testament. Aus Schleiermacher's handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, mit einer Vorrede von Dr. Friedrich Lücke, herausgegeben von G. Wolde, Berlin 1845, SW 1.8. Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, nach den Handschriften Schleiermachers neu herausgegeben und eingeleitet von Otto Braun. 2. Aufl. 1927; in: Fr. D. E. Schleiermacher, Werke, Auswahl in vier Bänden, hrsg. von Otto Braun und Joh. Bauer, 2.Aufl., Leipzig 1927/28, Zweiter Band, herausgegeben von Otto Braun (abgekürzt: PhE). Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn; in: Friedrich Schleiermacher, Pädagogische Schriften 2. Pädagogische Abhandlungen und Zeugnisse. Unter Mitwirkung von Theodor Schulze herausgegeben von Erich Weniger, Frankfurt; Berlin; Wien, 1984, 81139 (abgekürzt: Gedanken). Geschichte der christlichen Kirche. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen herausgegeben von E. Bonnell, Berlin 1840, SW 1.11 (abgekürzt: KG). Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre; in: SW III. l, Berlin 1846, 1-344 (abgekürzt: KdS). Hermeneutik. Nach den Handschriften neu herausgegeben und eingeleitet von Heinz Kimmerle, Heidelberg 1959 (abgekürzt. HK).

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Bibliographie



Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers. Herausgegeben und eingeleitet von Manfred Frank, Frankfurt 1977 (abgekürzt: HF).



Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Kritische Ausgabe, Hrsg. von Heinrich Scholz, 3.Aufl., Leipzig 1910; Neudruck, Dannstadt 1982 (abgekürzt: KD2).



Das Leben Jesu. Vorlesungen an der Universität zu Berlin im Jahr 1832 gehalten von Dr. Friedrich Schleiermacher. Aus Schleiermacher's handschriftlichem Nachlasse und Nachschriften seiner Zuhörer herausgegeben von K. A. Rütenik, Berlin 1864, SW 1.6 (abgekürzt: LJ).



Friedrich Schleiermacher, Pädagogische Schriften 1. Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826. Unter Mitwirkung von Theodor Schulze herausgegeben von Erich Weniger, Frankfurt; 'Berlin; Wien, 1984, 1-405. (abgekürzt: Pädagogische Schriften).



Platons Werke von F. Schleiermacher, zweite verbesserte Auflage, Berlin 1817.



Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt von Dr. Friedrich Schleiermacher. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen herausgegeben von Jacob Frerichs, Berlin 1850 (SW 1.13) (abgekürzt: PrTh).



Psychologie. Aus Schleiermacher's handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hrsg. von L. George, Berlin 1862 (SW III.6).



Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften. Herausgegeben von Hans-Friedrich Traulsen. Unter Mitwirkung von Martin Ohst, Berlin; New York 1990 (KGA1.10). Theologische Enzyklopädie (1831/32). Nachschrift David Friedrich Strauß. Hrsg. von Walter Sachs. Mit einem Vorwort von Hans-Joachim Birkner. Berlin; New York 1987 (Schi.-A, Bd.4) (abgekürzt: ThES).



Sonstige Quellen Mosheim, Johann Lorenz von, Kurze Anweisung, die Gottesgelahrtheit vernünftig zu erlernen, in akademischen Vorlesungen vorgetragen. Nach dessen Tode übersehen und zum Drucke befördert durch Christian Ernst von Windheim. Zwote und vermehrte Auflage, Helmstädt 1763.

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