Person und Staat in Schillers Dramenfragmenten: Zur literarischen Rekonstruktion eines problematischen Verhältnisses [Reprint 2010 ed.] 3484150939, 9783484150935

Schillers Dramenfragmente bieten ein weitgehend unbekanntes Spektrum der Verarbeitung eines füuuml;r Schiller zentralen

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Person und Staat in Schillers Dramenfragmenten: Zur literarischen Rekonstruktion eines problematischen Verhältnisses [Reprint 2010 ed.]
 3484150939, 9783484150935

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HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE JOACHIM

HERAUSGEGEBEN VON HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MÜLLER

BAND 93

FRANK

SUPPANZ

Person und Staat in Schillers Dramenfragmenten Zur literarischen Rekonstruktion eines problematischen Verhältnisses

W MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 2000

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Suppanz, Frank: Person und Staat in Schillers Dramenfragmenten: zur literarischen Rekonstruktion eines problematischen Verhältnisses / Frank Suppanz. - Tübingen: Niemeyer, 2000 (Hermaea; N.F., Bd. 93) ISBN 3-484-15093-9

ISSN 0440-7164

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung

außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Buchbinder: Geiger, Ammerbuch

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungen und Zeichen

J. Einleitung

.

II. Die Person als Verkörperung des Staates und die Auflösung der Tragödie

25

A.»Die Maltheser«: die ideale Autorität als Opfer des Gesetzes — die Demontage eines tragischen Protagonisten 1. Die historische Belagerung Maltas 1565 2. Schillers idealistische Interpretation der Malteserordensgeschichte 3. Der Malteserstoff als Drama

4. Die Ausarbeitung des Fragments 2) Die Struktur der »Maltheser«: Gliederung des Fragments b) Sohnesopfer oder Selbstopfer: das Grundproblem des Entwurfs .. ER c) Schillers ursprüngliche Intention: die innere Beglaubigung von Autorität im privaten Sohnesopfer des Ordensmeisters . . . Verkommenheit und Verrat der Ritter als äußere d) Rechtfertigung von La Valettes Autorität Die neue öffentliche Funktion der Privathandlung Die zusätzliche öffentliche Beglaubigung von Autorität: La Valettes Bereitschaft zum Selbstopfer La Valettes Selbstopfer als neues Hauptmotiv Die idealisierte Freundesliebe als Parallelmotiv zu La Valettes idealer Autorität Die Aufhebung der privaten Vaterrolle i in La Valettes. Ordensvaterrolle Der Ordensvater als schöne Seele und das Fortbestehen.

des Autoritätsproblems

46

k) Die Perspektivenvielzahl als Problem . . . .... . l} Die neue Perspektive: die eigentlichen Opfer als Prüfinstanz der Protagonistenhandlung . . . .. . m) Die Aufwertung des Sohnesopfers zum zentralen Umstimmungsmotiv . 2. 22 22m. n) Die Aufgabe des Selbstopferungsmotivs en

74 74

5. Die Aufhebung der Tragik als Problematik des Entwurfs . .. 6. Die gesetzesrepräsentierende Funktion des Chors in den »Malthesern« 7. »Die Maltheser« als Differenzierung von ' Schillers Staatstheorie .Themistokles«: Der abtrünnige Feldherr als Patriot und die Auflösung der tragischen Handlung ı. Themistokles’ Verbannung und Freitod als idealistisches Märtyrerdrama rn 2. Die Voraussetzung der idealen Staatsgesinnung: der ideale Staat . »Die Maltheser< und »Themistokles« die Schwierigkeit, eine Person als Repräsentationsfigur des Staats zu inszenieren III. Das Gesetzesdrama und die Autonomie

106

der Person: von der

Schauertragödie zum Kriminalstück

109

A. Dramaturgische und inhaltliche Ansprüche in Schillers Gesetzesdramatik

ı. Die analytische Form 2. Das Nemesismotiv 3. Karl Heinrich Gros’ ‚Ueber die Idee der Alten vom v

.

Schicksal: der Zusammenhang von Schuldfähigkeit und Schicksal in der antiken Dichtung 4. Schillers Version der analytischen Nemesistragödie: das Gesetz als Schicksal

VI

118

122

B. »Die Braut in Trauer«: das analytische Nemesisdrama und die Auflösung der Schauerdramaturgie ı. Der Einfluß der Schauerliteratur auf die »Braut in Trauer« . 2. »Die Braut in Trauer als Fortsetzung der ‚Räuber« 3. >Die Braut in Trauer< als analytisches Drama: die Funktion der Geistererscheinungen im Aufklärungsvorgang . un

4. Die Leistung des Modells »Braut in Trauerc Individualisierung der Nemesis, Aufdeckung von Identität als Furchtmotiv

143

C. Die »PolizeyDie Räuber«, Trauerspielfassung, IV,ı4, NA 3, 210,1-5)

Was hier noch eine subjektive Interpretation der Dramenfigur Karl Moor ist, würde sich in der »Braut in Trauer als objektive Macht er-

weisen, die direkt in das persönliche Leben Karl Moors eingreift. Weitere, auf Schauermotivik vorausweisende Elemente sind in Akt V,ı die

Alpträume und Angstvisionen des Rache fürchtenden Franz Moor, der sich von Geistern und Teufeln verfolgt sieht,” oder in der zweiten Szene des alten Moors Satz vom »Geist der Rache«,“ der ihm wegen seiner Verfehlungen gegen Karl einen einsamen Tod bereiten wird. Dem

Zweck,

die Immoralität der »Räuber« zu überwinden, dient in

der »Braut in Trauer« das Thema des entdeckten Verbrechens und das Motiv einer Rache der Nemesis in seinen verschiedenen Varianten. Das fünf Druckseiten kurze Fragment besteht aus vier Teilen (NA ı2z, 7,1-

22; 7,23 — 8,2; 8,3-30; 9,I — 11,30). Die beiden letzten Teile tragen jeweils den Titel »Die Braut in Trauer mit dem Zusatz »Zweiter Theil der Räuber«.“ Diese beiden Einheiten sind im Gegensatz zu den ersten zwei Abschnitten der Gattung des Schauerdramas verpflichtet, in der eine Verbindung zwischen Schauerelementen und analytischer Handlungsführung angestrebt wird. Der Plan einer Fortsetzung geht über die in Akt V,9 der Trauerspielfassung vorgetragene Andeutung Karl Moors hinweg, er wolle sich von

einem

armen

kinderreichen

Offizier überführen

lassen,

um

diesem die ausgesetzte Belohnung zu verschaffen.“ In der ersten, eine halbe Druckseite umfassenden Einheit des Fragments wird das Motiv der Entsühnung,

das in der Trauerspielfassung

von Karl den Gefährten Schweizer und Kosinsky auferlegt wird, auf Karl Moor selbst übertragen: Durch Flucht ins Ausland und gute Taten scheint Karl eine neue Existenz aufgebaut zu haben. Zwanzig Jahre eines friedlichen Lebens geben ihm das Gefühl, der Vergangenheit endgültig entronnen zu sein. Diese Sicherheit, als Hybris aufgefaßt, stellt

den Ausgangspunkt der dramaturgischen Überlegungen und den Einsatz der Nemesishandlung dar: % NA 3, 219,20 — 221,34. @NA 3, 224,24. NA

ı2, 8,3: »Die Braut in Trauer. Zweither Theil der Räuber«; NA

ı2, 9,1-3: »Die

Braut in Trauer oder Zweiter Theil der Räuber. Eine Tragödie [in fünf Aktenk. ANA 3, 236,8-12.

134

Karl Moor hält den Himmel für versöhnt, er ist endlich in eine gewiße Sicherheit eingewiegt worden, ein zwanzigjähriges Glück läßt ihn keinen Umschlag mehr fürchten. Er hat in dieser Zeit Gutes gestiftet, er hat Unglückliche getröstet, er hat eine wohltätige Rolle gespielt. Er lebt in einem fremden Land, und sieht in die frühe Zeit nur wie in einen schweren Traum zurück. Nichts ist ihm in dieser ganzen Zwischenzeit aus der vorigen Epoche mehr erschienen. [Darüber spricht er mit seinem Freund Schweitzer und reizt die Nemesis. Schweitzer hat unterdeßen schon Ursache gehabt, eine Peripethie zu fürch-

ten und läßt daher ein Wort der Warnung fallen, welches aber nicht geachtet wird. (...}] (NA 12, 7,1-17.22) Der angekündigte Glücksumschlag wird im Text des ersten Fragmentabschnitts nicht mehr ausgeführt. Im letzten Satz wird lediglich der Plan Karl Moors zur Verheiratung seiner Tochter vermerkt, der vermutlich den Ausgangspunkt des Glücksumschlages bilden sollte.” In der noch kürzeren zweiten Einheit NA ı2, 7,23 — 8,2 wird der erste Ansatz lediglich dahingehend verändert, daß Karl selbst als Bräu-

tigam auftreten soll.” Die beiden letzten Entwürfe (NA ız, 8,3-30; 9,1 — 11,30) bringen mit

der Einführung der Schauermotivik eine entscheidende Konzeptionsänderung. Mit ihr wird das Motiv einer späten Rache an Karl Moor in die Dramenstruktur des entdeckten Verbrechens überführt. Nach der gängigen Forschungsposition wird »Die Braut in Trauer als der reinste Entwurf eines Schicksalsdramas in Schillers Werk bezeichnet.”' Die Einführung der Schauermotivik in Schillers Variante modifiziert das Genre des Schicksalsdramas aber entscheidend: Statt einer objektiven Gerechtigkeit, die in das individuelle Leben der Beteiligten eingreift, sind die Geister der Verstorbenen, die die Handlung vorantreiben, Personen mit Eigeninteressen, also subjektive Instanzen,

auch wenn sie aus einer transzendenten Sphäre heraus handeln. Insofern konnte Schauerdramatik das Problem einer objektiven Nemesishandlung, wie es sich im ersten Entwurf der »Braut in Trauer« andeutete, beheben. Dennoch wird mit der Schauermotivik keine realistische

Handlungssituierung

angestrebt.

Daher ist Krafts Feststellung zuzu-

stimmen, daß in der »Braut in Trauer« Gerechtigkeit »ohne Rücksicht

auf geschichtliche

Vermittlungen

konstruiert«

NA 12, 7,20ff. "NA 12, 7,23-26. ”' So z. B. Oehme 1987 b, S. 64 und Kraft in NA

wird.”

Diese

ı2, 369,30 — 370,5 (Komm.

Konse-

zu NA

7,13). "NA

12, 370,5.

135

ız,

quenz mußte Schiller aber von Anfang an klar jekt eines Schauerdramas dennoch in Angriff erhoffte Gewinn dieses Experiments in einem Vor dem Hintergrund der Aristotelesrezeption

sein. Wenn er das Pronahm, dann mußte der anderen Bereich liegen. konnte der Versuch zu

einem solchen Drama lohnend erscheinen. Dazu gehört, daß schon in

der »Braut in Trauer« das Modell der Schauerliteratur Walpoles nicht die endgültige Norm der Ausarbeitung blieb.

3.

>Die Braut in Trauer als analytisches Drama: die Funktion der

Geistererscheinungen im Aufklärungsvorgang In den letzten beiden Einheiten der »Braut in Trauer ist die Aufdekkung von Tarnidentitäten lebender Personen und die Identifizierung von Geistern verstorbener Personen das wesentliche Mittel der Aufklärung der verborgenen Verbrechen. Damit ist eine stringente analytische Formung des Dramas in Aussicht gestellt und die Möglichkeit eröffnet, zu den schrecklichen Vorgängen der »Räuber« die angemessene

Aufhebung des ungesühnten Unrechts zu gestalten. Herbert Kraft hat darauf hingewiesen, daß, nach dem Modell der Schauerliteratur, in den

»Räubern« die Vorgeschichte dessen dargestellt ist, was in einem Schauer-

roman oder Schicksalsdrama zur Aufdeckung kommen würde. »Die Braut in Trauer< würde im Rahmen dieses Modells ein vollständiges Stück darstellen, so wie »Die Burg von Otranto« ein vollständiger Roman ist: »Die Räuber« sind, strukturell betrachtet, die nicht gespielte Exposition zur geplanten Ausweitung in einem durchaus anders ge-

arteten Sujet, das in der weiteren Ausarbeitung dieses Plans an Dominanz gewinnt: es ist dies das Sajet des entdeckten Verbrechens (... )«.” Wenn zur »Braut in Trauer« die Vorgeschichte schon bekannt ist, weil sie in den »Räubern< dargestellt wurde, dann ist ein wesentliches Merkmal

des Genres aufgehoben: Die Spannung der Schauerliteratur ergibt sich neben den mysteriösen Vorgängen aus der Enthüllungserwartung bezüglich des verborgenen schrecklichen Sachverhalts. Diese Konsequenz führt zu veränderten Darstellungsmaximen, die auf den wenigen Fragmentseiten in Ansätzen reflektiert werden. Mit dem Untertitel der beiden letzten Fragmentteile, »Zweiter Theil der Räuber«, wird das Publikum über die Vorgeschichte der betreffenden Personen informiert. Zugleich wird die eindeutige Zuordnung der Personen aus der »Braut in Trauer« zu den Figuren der »Räuber« zurückNA

136

12, 362,11-14.

genommen. Während die ersten beiden Entwürfe mit der Namensnennung »Karl Moor« beginnen (NA ı2, 7,1.23), ist im dritten Entwurf das Pseudonym nachgetragen: Karl Moor [, unerkannt unter dem Nahmen: Graf Julian].

(NA ı2, 8,4)

Im letzten Entwurf wird nur das Pseudonym im Personenverzeichnis genannt (NA 12, 9,4). In dieser Einheit werden zusätzlich die gattungstypischen Motive eingeführt, die auf eine verborgene Vergangenheit hinweisen: Graf Julian will seine Tochter Mathilda vermählen. Der Bräutigam ist aus einer Familie, gegen die der Graf etwas schweres gut zu machen hat {...), oder er hat sonst ein dringendes Interesse, diese Heirath zu schließen. Mathilda liebt ihren Bräutigam zwar nicht, aber sie hat auch nichts gegen ihn, ihr Herz ist ohne Leidenschaft und sie unterwirft sich gern dem Wunsch ihres Vaters (...), der in dieser Heirach eine, ihr nicht begreifliche, Befriedigung findet. (NA 12, 9,16-26)

Die Verbergung der Identitäten ist im letzten Entwurf ausgeweitet, indem Karl Moors Gefährte Schweizer (dort so geschrieben) aus den »Räubern« als Jäger eingeführt wird. Sein Verhältnis zu Graf Julian erklärt sich in der »Braut in Trauer« nicht aus seiner Stellung im Grafenhaus, sondern aus ebenfalls unbekannten vergangenen Beziehungen

zum Grafen: Unter Julians Hausgesinde ist ein geheimsten Gedanken weiß (...), Der Jäger ist voll Herzhaftigkeit, oberste Aufsicht über alle Diener Rathgeber als der Knecht seiner

Jäger auf den er sehr viel hält, der um seine und an seine Person höchst attaschiert ist. ein treflicher Schütz und hat gleichsam die des Grafen. Er ist mehr der Aufseher und jungen Herrschaft. (NA 12, 9,27-37}

Trotz der Verbergung von Identitäten dürfte es einem Publikum, das die »Räuber«

kennt,

nicht schwerfallen,

Karl Moor

und Schweizer

zu

identifizieren. Der Gewinn der Verbergung ist der Effekt, daß beim Publikum Furcht vor einer Aufdeckung der Identität erzeugt wird. Ein ähnliches Verfahren hat Schiller in den »Kindern des Hauses angewandt. Die fortschreitende Tendenz zu dieser Verschleierung in den letzten beiden Entwürfen der »Braut in Trauer« ist daher keine Abkehr vom Konzept einer Fortsetzung der »Räuber«, wie Oehme meint.’* Viel” Oehme, 1987 b, $. 63f.: »Der Zusammenhang mit der »Räuber