Der Ausdruck von Wahrheit und Freiheit: Ethischer Entwurf zur schöpferischen Selbstgestaltung [Reprint 2010 ed.] 3110164973, 9783110164978

Book by Guth, Rupert

211 60 72MB

German Pages 206 [204] Year 1999

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Der Ausdruck von Wahrheit und Freiheit: Ethischer Entwurf zur schöpferischen Selbstgestaltung [Reprint 2010 ed.]
 3110164973, 9783110164978

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
1. Moraltheologie und die (post-)moderne Signatur der Gegenwart
1.1. Überlegungen zur Rekonstruktion einer zeitgemäßen Ethik
1.2. Ansätze für eine fundamentalethische Neuorientierung
2. Moral theologie als Konvergenzethik
2.1. Das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis
2.2. Die Frage nach Glück und Eudämonie
2.3. Kritik der ethischen Tradition
3. Person und Subjekt im Kontext des guten Lebens
3.1. Das zugrundeliegende Subjektkonzept
3.2. Die Eudämoniefrage in der Perspektive des Subjekts
3.3. Diskurs über die sittliche Wahrheit
4. Entwurf zu einer Ethik der inneren Handlung
4.1. Sittliche Praxis als Praxis der inneren Handlung
4.2. Handlung und Gedanke - Überlegungen zum Konzept einer Präventivethik
5. Theologische Ethik im Diskurs mit der Ästhetik
5.1. Die Kunst der Lebensführung im Blickfeld der ethischen Reflexion
5.2. Das Konzept einer integrativen praktischen Vernunft
5.3. Die handlungstheoretische Rehabilitation der Phantasie
5.4. Entwurf zu einer Ästhetik der Existenz
6. Theologische Integration
6.1. Präsenz der Theologie in einer eudämonistischen Handlungstheorie
6.2. Die individualethische Relevanz des christlichen Glaubens
6.3. Das ethico-ästhetische Subjekt als neues Subjekt der Glaubenspraxis
6.4. Christliche Existenz als Experiment
6.5. Ausblick auf Möglichkeiten eines neuen ethico-ästhetischen Seins im Glauben
7. Literaturverzeichnis

Citation preview

Rupert Guth Der Ausdruck von Wahrheit und Freiheit

1749

1999

Theologische Bibliothek Töpelmann

Herausgegeben von O. Bayer · W. Härle · H.-P. MüUer

Band 98

W DE

G Walter de Gruyter · Berlin · New York

1999

Rupert Guth

Der Ausdruck von Wahrheit und Freiheit Ethischer Entwurf zur schöpferischen Selbstgestaltung

w DE

G Walter de Gruyter · Berlin · New York

1999

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaften und Verkehr in Wien

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Binheitsaufnahme

Guth, Rupert: Der Ausdruck von Wahrheit und Freiheit : ethischer Entwurf zur schöpferischen Selbstgestaltung / Rupert Guth. — Berlin ; New York : deGruyter, 1999 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 98) Zugl.: Bamberg, Univ., Habil.-Schr. ISBN 3-11-016497-3

© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Das Paradies seufzt im Tiefsten des Bewußtseins, während das Gedächnis weint. Daher kommt es, daß wir über den metaphysischen Sinn der Tränen nachdenken und über das Leben wie über ein sich entfaltendes Sehnen.

CIORAN

Vorwort Die Arbeit ist die gekürzte Fassung einer Habilitationsschrift, die von der Fakultät Katholische Theologie der Otto-Friedrich Universität zu Bamberg angenommen wurde. Die Umstände erlaubten eine Selbstständigkeit in der Erstellung, so daß im besonderen niemand für eine Anregung zu danken ist. Alles in allem ist der institutionelle Rahmen Dekor geblieben. Herausgebern und Verlag danke ich für die Aufnahme dieser Schrift in die „Theologische Bibliothek Töpelmann".

Salzburg, Ostern 1999

Inhaltsverzeichnis Vorwort Einleitung

VII l

1.

Moraltheologie und die (post-)modeme Signatur der Gegenwart 1.1. Überlegungen zur Rekonstruktion einer zeitgemäßen Ethik 1.2. Ansätze für eine fundamentalethische Neuorientierung

3 3 11

2. 2.1. 2.2. 2.3.

Moraltheologie als Konvergenzethik Das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis Die Frage nach Glück und Eudämonie Kritik der ethischen Tradition

20 20 31 38

3. 3.1. 3.2. 3.3.

Person und Subjekt im Kontext des guten Lebens Das zugrundeliegende Subjektkonzept Die Eudämoniefrage in der Perspektive des Subjekts Diskurs über die sittliche Wahrheit

45 45 56 64

4. Entwurf zu einer Ethik der inneren Handlung 4.1. Sittliche Praxis als Praxis der inneren Handlung 4.2. Handlung und Gedanke - Überlegungen zum Konzept einer Präventivethik 5. Theologische Ethik im Diskurs mit der Ästhetik 5.1. Die Kunst der Lebensführung im Blickfeld der ethischen Reflexion 5.2. Das Konzept einer integrativen praktischen Vernunft 5.3. Die handlungstheoretische Rehabilitation der Phantasie 5.4. Entwurf zu einer Ästhetik der Existenz 6. Theologische Integration 6.1. Präsenz der Theologie in einer eudämonistischen Handlungstheorie

83 83 88 99 99 105 112 121 130 130

X

Inhaltsverzeichnis

6.2. Die individualethische Relevanz des christlichen Glaubens 6.3. Das ethico-ästhetische Subjekt als neues Subjekt der Glaubenspraxis 6.4. Christliche Existenz als Experiment 6.5. Ausblick auf Möglichkeiten eines neuen ethico-ästhetischen Seins im Glauben

150 160

7.

188

Literaturverzeichnis....

136

169

Einleitung Die ethisch-theologische Reflexion ermöglicht heute wieder ein nahes Verhältnis zur Frage nach dem guten und gelungenen Leben wie nach Erfüllung und Glück. Darüber hinaus bezeugen in seltener Übereinstimmung theologische, philosophische wie empirisch-humanwissenschaftliche Ansätze die Aktualität der Glucksfrage. Aufgrund eines allseits existierenden Pluralismus, der Unübersichtlichkeit und Orientierungslosigkeit begünstigt, in der Folge beim Individuum einen Leerraum schafft und eine zersetzende Langeweile hervorruft, wird dem Anspruch von ethischen wie auch theologischen Konzepten zunehmend mit Gleichgültigkeit und Unverständnis, Mißtrauen und Verachtung begegnet. In bislang ungeahnter Gleichförmigkeit und Gleichzeitigkeit, bedingt durch eine globale Vernetzung der Lebenswelt, entsteht zunehmend das Bedürfnis, sich zu unterscheiden und abzuheben, die Individualität absolut zu setzen; so kummulieren sich unter dem Begriff der „Selbstverwirklichung" massenhaft Programme, die Lösungen versprechen, vorwiegend von sozialempirischer Perspektive vorgetragen; gemäß einer bestimmenden Oberflächlichkeit bietet sich die Psychologie als der verheißungsvolle Ausweg an. In diesem Zusammenhang gerät die Suche nach dem persönlichen Glück zum Symptom für die geistige und gesellschaftliche Situation; die freilich bei genauerem Zusehen diffus und ungewiß bleiben muß, auf ein Scheitern hinauslaufen dürfte. Die Frage nach dem Glück wird zum Symptom für das, wenn auch verdeckte, Unbehagen und das wesentlich Unheilbare der menschlichen Existenz. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich die Notwendigkeit ab, neuerdings den Begriff der Seele als Synonym für das menschliche Wesen aufzugreifen. Gelingen und Scheitern, Glück und Unglück wären auf diesen Kontext hin zu sichten und zu prüfen, wobei unverhofft die theologischen Argumente wieder an Stellenwert gewinnen könnten. Die, wenn auch begrenzte, Erfahrung des Glücks wird sowohl zur Hoffnung als auch zum Experiment, deutet einen Weg aus dem Leidenszustand an, wie es aufgefaßt werden kann als Erlösung im Augenblick aufgrund der Gnade. Die Komplexität der Seele bedingt das Wagnis und auch das Paradox, pendelt zwischen dem Nichts und dem Sein. O. Paz, der von einer Krise der Idee der Liebe im Zusammenhang mit dem Verschwinden der Seele gesprochen hat1, fordert zu einer neuen Vision von l

Paz, O., Die doppelte Flamme. Liebe und Erotik, Frankfurt/M.: Suhricamp 1995, S. 204.

2

Einführung

Mann und Frau, die „das Bewußtsein der Singularität und der Identität einer jeden Person wiedergibt", auf. Um eine solche zeitgerechte Vision des menschlichen Wesens zu erheben und zu verwirklichen, denkt Paz vor allem an den Einsatz der schöpferischen Vorstellungskraft (oder Phantasie), die zuerst das Geheimnis, das jeder Mensch darstellt, wiederentdecken müßte; um die Liebe zu retten oder neu zu erfinden, müßte demnach der Mensch neu erfunden werden.2 Eine ethisch-praktische Reflexion, die Bezug nimmt auf die angedeutete Problematik der Notwendigkeit eines neuen menschlichen Bewußtseins wie auch der Frage nach dem Glück folgt, müßte ihr Interesse auf die schöpferischen Potenzen des Menschen lenken, wobei sich als Idee die kreative und souveräne Persönlichkeit ergibt. Modellhaft wird das ethico-ästhetische Subjekt als neues Subjekt der Glaubensrealisation entworfen und diskutiert. Ausgehend von der Seele als Zentrum des Menschen stellt sich die Aufgabe, eine explizite Theorie der inneren Handlung zu entwickeln, mit der Ausweitung des Handlungsbegriffs auf die Bewußtseins- und Gedankenwelt als Vorentwurf zur manifesten äußeren Tat. Theologische Ethik weitet, so gesehen, ihr Selbstverständnis auf eine Form der prospektiven Ethik aus mit der Übernahme prophylaktischer Gestaltungsverantwortung. Der Versuch wie das Konzept des ethico-ästhetischen Subjekts bewegen sich zwischen letzten Gründen und Extremen, deren Bewältigung von Risiken umgeben ist und um die Mehrdeutigkeit des Handelns weiß; der schöpferische Schwerpunkt trägt der Unabgeschlossenheit und den Handlungsaporien Rechnung, die der menschlichen Existenz wesentlich entsprechen.

2

Paz,O.,S.205f.

1. Moraltheologie und die (post-)moderne Signatur der Gegenwart 1.1. Überlegungen zur Rekonstruktion einer zeitgemäßen Ethik Für die gesamte soziokulturelle wie ökologische Situation der Gegenwart scheint eine größtenteils irritierende Pluralität von „Lesearten" der inneren und äußeren Welt bezeichnend zu sein.1 Der grundlegende Umschichtungsprozeß spät- oder postmoderner Gesellschaften zeigt mit der Erosion traditioneller Theorie- und Sinnbezügen ein höchst differentes Spektrum an Deutungs- und Interpretationsmustern, die im unvermittelten Nebeneinander kaum Kompatibilität oder Konsensfähigkeit hinsichtlich ihres Wahrheitsanspruchs beweisen. Dem objektiv-gesellschaftlichen Pluralismus an Konzepten entspricht eine ebensolche Vielzahl und Divergenz an Einschätzungen und Versionen, die das zeitgenössische Subjekt betreffen. Das diffuse Bild reicht vom tendenziell pathologischen „Verfallsprodukt" bis hin zum Spürbarwerden einer neuen Sensibilität und Aufmerksamkeit als Voraussetzung für persönliche Emanzipation, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Die objektive wie subjektive Vielfalt der postmodernen Situation findet ihren spezifischen Ausdruck in einer größtenteils „theoretischen" wie auch „lebens-praktischen Verunsicherung", die sich in zentraler Ambivalenz zwischen Risiken und Chancen bewegt, zwischen dem Bedauern über den Verlust von Klarheit und Stabilität bisheriger Sicherheitskoordinaten und Lebenskonzepte einerseits, wie dem gleichzeitigen Aufbrechen neuer, ungeahnter Lebensmöglichkeiten und Lebensperspektiven andererseits, in denen sich verstärkt individuell-subjektive Autonomieansprüche artikulieren.2 Allseitige Freisetzungsund Individualisierungsprozesse, die Auflösung stabiler sozialer Netzwerke und gewohnter Strukturen, umfassend erweiterte Mobilität und Kommunikationsmöglichkeiten eröffnen heute unerwartete Möglichkeiten freier Entfaltung, bedingen gleichzeitig eine höhere Qualität an Eigenverantwortung und notwendiger Eigenentscheidung. Grundlegend verändert erscheint die Organisation der sozialen Bezüge. Das „Soziale" ist nicht mehr schicksalhaft vorgegeben, traditionelle Lebenskon1 2

Keupp, H., Riskante Chancen. Das Subjekt im gesellschaftlichen Wandel, in: Universitas 9 (1990), S. 838ff. Keupp, H., Chancen, S. 8411T.

4

Moraltheologie und die (post)moderne Signatur der Gegenwart

texte und Netzwerke, gesellschaftliche Zwangszusammenhänge können jederzeit verlassen werden 3. In einer neuen, bislang kaum gekannten Weise, ist das Subjekt in seiner Handlungs- und Entscheidungskompetenz gefordert, zunehmend zur Konstruktion seiner individuellen und sozialen Lebenswelt gerufen. Gegenüber der Einpassung in vorhandene soziale Strukturen steht die Option, Fähigkeiten zu entwickeln, diese für sich selbst zu schaffen. Die einzelne Persönlichkeit wird im zunehmenden Maß und notwendigerweise zum „Baumeister" des Sozialen, des sozialen Geflechts. Sie ist unabdingbar gefordert, mehr und mehr Initiator, Manager und Regisseur des eigenen Beziehungsnetzes zu sein4. In diesem Zusammenhang verdient die ethische Frage besondere Aufmerksamkeit. In Analogie zur soziokulturellen Offenheit und Vielfältigkeit ist mit einer freien und weitgehend offenen Diskurssituation zu rechnen, in welcher der Einzelne versucht, sich gegenüber den Wandlungen seiner Lebensbezüge neu der tragenden Gründe seines Handelns zu vergewissern.5 Die Qualität des ethischen Diskurses zeigt sich dabei heute entscheidend verändert. „Angesichts der ungeheuer folgewirksamen wissenschaftlich-technischen, ökonomischen, politischen und sozialstrukturellen Umbrüche, in der sich der Mensch heute gestellt sieht, reduziert sich für ihn die ethische Frage nicht mehr länger nur auf die Frage nach seinem jeweiligen Dürfen, sondern sie weitet sich wesentlich zur Frage nach seinem eigentlichen humanen Wollen".6 Derartige Veränderungen der bisher leitenden moralischen Grundorientierung vermitteln ein gesteigertes Emanzipationsinteresse des individuellen Subjekts, bringen verstärkt ethische Selbsterweiterungsansprüche zum Ausdruck, symbolisieren ein neues Verhältnis zu sich selbst In ihnen deutet sich ein spürbares Motivationsdefizit an gegenwärtigen Ethikkonzepten an, mit neuer, virulenter Dringlichkeit wird die Frage nach dem Sinn moralischen Handelns, die Frage: „Warum überhaupt moralisch sein"7 präsent. Sie begünstigen heute zumindest latent mit dem Wiederenvachen des Eudämonieproblems die Möglichkeit für das Entstehen eines neuen „kulturellen Modells", das in seinem wesentlichen Kern mit der Wendung nach innen die eigene Person und ihre gelebten Beziehungen zu anderen als primäre Faktoren der Selbstverwirklichung ansieht, das eigene Lebenskunstwerk zur möglichen Option werden läßt8. Dies scheinen wesentliche Fragen einer Gestaltung von „Moral" in der Postmoderne zu sein, die sich an die Ethik - gleich welcher Provenienz - rich3 4 5 6 7 8

Keupp, H., Chancen, S. 845f. Hunold, G. W., Ethik in einer sich verändernden Welt, in: ThQ (1986), S. 3. Hunold, G. W., Ethik, ebda. Hunold, G. W., Ethik, S. 2. Krämer, H., Antike und moderne Ethik?, in: ZThK 80 (1983), S. 190. Keupp, H., Chancen, S. 849f. Vgl. dazu auch Zoll, R. u.a., Nicht so wie unsere Eltern! Ein neues kulturelles Modell, Opladen, 1989. Yankelovich, D., New Tules - searching for self-fulfillment in a world turned abside down, New York, 1981.

Überlegungen zur Rekonstruktion einer zeitgemäßen Ethik

5

ten und nach begründeter und durchdachter Auskunft suchen. Damit wird auch die Moraltheologie9 in ihrem Selbstverständnis als praxisreflektierende und praxisermöglichende/leitende Wissenschaft herausgefordert, ihre Argumentation neu zu bedenken oder sich neu zu besinnen und über ihren spezifisch eigenen Diskursbeitrag Rechenschaft zu geben. Gerade im Anspruch ihrer eigenen Sinnvermittlung - der Option des christlichen Glaubens - ist sie aufgerufen, sich auf die veränderten Bedingungen heutigen menschlichen Fragens und Suchens einzulassen, gewandelten Einsichten und Erfahrungen ihre Aufmerksamkeit zu schenken.10 Überblickt man unter diesem Gesichtspunkt die gegenwärtige Forschungssituation wie die entsprechenden Publikationsinteressen, so steht ein zeitorientierter und zukunftsweisender Entwurf im Grunde aus. Eingeleitet und beeinflußt durch das II. Vatikanische Konzil hat die katholische Moraltheologie in den vergangenen Jahren ihre fundamentalethische Neubesinnung versucht. Unter dem Stichwort .Autonome Moral" wurde ein Argumentationsmodell vorgeschlagen, welches einerseits die traditionelle Naturrechts- und Seinslehre vertiefen und weiterfuhren sollte, zum anderen eine prinzipielle Öffnung der Moraltheologie vorsah für zentrale Anliegen des neuzeitlich-säkularen Selbstverständnisses der Ethik. Der Ansatz vollzog zwar programmatisch die „Wende zum Subjekt", rezipierte mit der Autonomie des Sittlichen wesentliche Ansprüche und Kemgehalte des neuzeitlichen Freiheitsbewußtseins - Authentizität des Sittlichen, originäre Zuständigkeit der praktischen Vernunft für seine Erkenntnis wie die Unbedingtheit seines Anspruchs11 - blieb aber aus heutiger Sicht hinter seinen ursprünglichen Erwartungen zurück. Das vorgestellte Paradigma des ethischen Subjekts hat in der weiteren Auseinandersetzung keine konsequente Verwirklichung oder zeitgemäße Ausdeutung mehr erfahren. Eher im Gegenteil. Die vorwiegend wissenschaftstheoretisch und methodologisch orientierte Grundlagendebatte brachte in den vergangenen Jahren eine konstruktive Vertiefung und Weiterentwicklung der Moraltheologie in ihrem Selbstverständnis als Normwissenschaft. Unter dem 9 Der Begriff „Moraltheologie" wird im folgenden meist synonym mit dem der „Theologischen Ethik" gebraucht, wenn auch mit einer spezifischen Einschränkung. Während der Terminus „Mora/theologie" die Assoziation eines unbedingten Sollens, im Sinne einer deontologischen Ethik, nahelegt, kann der Begriff der Theologischen Ethik eher mit dem der Strebensethik in Verbindung gebracht werden. Im Sinne des Konzepts einer mehrdimensionalen ethischen Systems sind beide zwar verschiedene, aber einander ergänzende und miteinander korrelierende Typen einer christlichen Ethik. Vgl. in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen Moralität und Sittlichkeit im Bereich der praktischen Philosophie und hier den Sprachgebrauch (moralisch/ethisch) etwa bei J. Habermas in der Zuordung von Sollens- und Strebensethik in: „Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktisschen Vernunft", in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 100-118. 10 Hunold, G. W., Ethik, S. 3. 11 Auer, A., Zur Rezeption der Autonomie-Vorstellung durch die katholisch-theologische Ethik, in: ThQ 161 (1981), S. 8.

6

Moraltheologie und die (post)moderne Signatur der Gegenwart

Postulat einer universellen Kommunikationsfähigkeit und Plausibilität moralischer Aussagen wurden unterschiedliche Modelle ethischer Rationalität vorgeschlagen und diskutiert. Mit der Auseinandersetzung zwischen Teleologie und Deontologie oder der Diskussion um das „Proprium christlicher Ethik" verlagerte sich der normative Diskurs vorrangig auf die Objektgebundenheit des sittlichen Sollens und damit auch auf den Außenaspekt moralischen Handelns.12 Subjektive Handlungskompetenz mit ausdrücklicher Bezugnahme auf den individuell-persönlichen Lebensentwurf, der gelingenden glücklichen Lebensführung, als tragende Basis subjektiv vollzogener Urteils- und Entscheidungsprozesse bleibt demgegenüber defizitär. Im Anspruch einer objektiv fundierten und statischen Sittenordnung verflüchtigt sich der eigentliche Bezugsgrund allen Handelns, die Subjektivität des Menschen und ihre sittlichkeitsbestimmende Dimension, was schließlich zu einer wiederholten Reduktion wie punktuellen Vereinseitigung des Sittlichen selbst führt.13 Eine demgegenüber kritische Reflexion über die eigentlichen Grundlagen sittlichen Handelns hat inzwischen auf breiter Basis eingesetzt; in Erwartung einer möglichen Korrektur der sich abzeichnenden Entwicklung einer Normen- wie Pflichtenethik wurde mehrfach die Forderung nach einer erneuerten Form traditioneller lügend- und haltungsethischer Ansätze geäußert; nach wie vor handelt es sich um ein Postulat, dessen Plausibilität trotz mancher versuchten Wiedererwärmung14 der klassischen Tugendethik noch nicht überzeugend erwiesen ist Es wäre längst notwendig gewesen, im Kontext des methodologischen und argumentativen Aufweises einer „Fundamentalmoral" vertieft nach der Ermöglichung und Konstituierung des ethischen Subjekts zu fragen, danach, wie sich die sittlich individuelle Persönlichkeit in ihrer Identität konstituiert, wie sie sich lebenspraktisch bewähren kann, wie sie, was letztlich entscheidend ist, die Fähigkeit zur moralischen Autonomie, zur Selbstverpflichtung überhaupt haben kann15. Der ethische Diskurs ist weitgehend noch nicht mit der Analyse und systematischen Aufarbeitung des ethisch-subjektiven Lebensvollzug befaßt, hat die gute und glückende Lebensgestaltung insgesamt noch nicht in den Blick genommen. Die Kritik richtet sich dabei auf mehrere Ebenen. Sie bezieht sich einerseits auf die - bisher sicherlich notwendige und konstruktiv geleistete Grundlagenarbeit hinsichtlich Begründungsmodus und Begründungsstruktur moralischer Urteile. Ohne diese prinzipiell in Frage zu stellen, so dürfte dennoch Wesentliches im Hinblick auf eine Vertiefung und Radikalisierung der 12

Demmer, K., Komplexe Fragen erfordern komplexe Antworten, in: Herd. Korr.4 (1989), S. 179. Guth, R., Handlung und Gedanke, in: Studia Moralia, 2 (1991), S. l 13 Hunold, G. W., Ethik, S. 6f. 14 So beispielsweise Nientied, K., Taugen Tugenden?, in: Herd. Korr. l (1988), S. 1-3. Gleixner, H., Tugenden wieder gefragt? in: ZkTh (1986), S. 255-265. Mieth, D., Die neuen Tugenden, Düsseldorf: Patmos, 1984. 15 Mieth, D., Brauchen wir Gott für die Moral?, in: ThPh 29 (1982), S. 218.

Überlegungen zur Rekonstruktion einer zeitgemäßen Ethik

7

Autonomiethese, des Moralprinzips, anstehen, im Sinne der Ermöglichung einer zeitgemäßen, mehrschichtig verfahrenden, universell-kommunikativen Ethik, was moral theoretische Norm wie rationale (Letzt)begründung betrifft.16 Darüber hinaus oder damit in Zusammenhang scheint eine zureichende Interpretation des sittlich-autonomen Subjekts als Zentrum, Träger und Ermöglicher jener „autonomen Moral" bislang nicht gelungen zu sein, wie sie im Modellentwurf von Auer Ende der sechziger Jahre vorgeschlagen wurde. Die konsequente Verwirklichung und Ausgestaltung bleibt im Bereich des Desiderats, oftmals umgeben mit dem Ausdruck von Ratlosigkeit und Verlegenheit. Es hat - bilanzierend- im Grunde noch kein Nachdenkprozeß eingesetzt über die eigentliche Möglichkeit von „theologischer" Ethik heute, über die unabdingbare Konstitution einer mehrseitig operierenden Ethik und in diesem Zusammenhang über die genuine theologische Kompetenz für heutiges ethisches Denken17. Dagegen finden sich aktuelle Hinweise in verschiedenen moraltheologischen Stellungnahmen wie auch kirchenamtlichen Dokumenten, welche zumindest latent eine Rückkehr zu einem - als längst überwunden gedachten - Denken, legalistisch-neuscholastischer Provenienz, vermuten lassen, wenn auch die geschichtlichen Voraussetzung nicht mehr gegeben sein mögen. Fundamentalistische Gegenbewegungen, deren Intransingenz und Rigorosität als Flucht vor der heutigen Postmoderne gedeutet werden kann, mit ihrem sich immer mehr radikalisierenden Pluralismus von Denkweisen und Verfahrensformen18. Ein Rückfall hinter bereits erzielte theologische wie ethischtheologische Klarstellungen ist hier nicht zu übersehen, wirklich bezeichnend für die Situation ist nach wie vor die thematische Auseinandersetzung um die Problematik des Gewissens. Mit dem Einblick in die Diskussionslage der Moraltheologie nach dem Il.Vatikanischen Konzil entstehen grundlegende Fragen nach den tieferen Ursachen und Wurzeln derartiger Entwicklung. Diesbezüglich mehren sich heute die Anzeichen, und es dürfte offensichtlich werden, daß die ursprüngliche Rezeption der „Autonomie-Vorstellung" durch die katholische Ethik zu wenig differenziert und in den eigentlichen - auch geistesgeschichtlichen - Voraussetzungen zu wenig reflektiert oder vertieft ausgefallen ist, sodaß im Grund keine adäquate Stellungnahme angesichts des heutigen Kontextes von Moderne und Postmoderne vorgelegt werden kann. Rezipiert wurde ursprünglich zwar eine „allgemeine" Vorstellung von „Autonomie",19 als überfälliger, kontrovers formulierter Neuansatz zu der ei16

Vgl. die konstruktiven, längst überfälligen Hinweise auf die Weiterführung des „Modells einer autonomen Moral" bei Hirschi, H., Moralbegründung und christlicher Sinnhorizont, Freiburg-Wien: Herder, 1992, S. 190ff. 17 H. Hirschi beschränkt bereits im Anschluß an verschiedene Beiträge aus der gegenwärtigen praktischen Philosophie, die genuine „theologische" Ethik auf den Bereich der Motivation und Nonnverwirküchung, Hirschi, H., Moralbegründung, S. 157ff., 191ff. 18 Türck, H. J., Fundamentalismus, in: StdZ (1991), S. 91f. 19 Auer, A., Autonomievorstellung, S. 7.

8

Moraltheologie und die (post)moderne Signatur der Gegenwart

genen scholastischen Tradition, doch zeigt sich, daß die theologische und innerethische Beurteilung des Autonomieprinzips oder des Programms einer „autonomen Moral" - trotz gewisser Modifikationen - auch heute noch weitgehend aus der eigenen rezeptionsgeschichtlichen metaphysisch-schöpfungstheologischen Gebundenheit erfolgt.20 Das primäre Interesse der Moraltheologie an den Methodenfragen formalethischer Argumentation, als übernommene und für wesentlich erachtete Grundlagenproblematik, welche zwar notwendigerweise zu berücksichtigen und zu differenzieren ist, schließlich aber, mit allzu starker Konzentration des Selbstverständnisses darauf, vereinseitigend vor inhaltlich-konkreter Aussage wie produktiver Weiterarbeit am Autonomiekonzept selbst dispensiert, mag hierfür bezeichnend sein. Im Verlauf des Rezeptionsprozesses ist es der Moraltheologie nicht gelungen, eine spezifisch eigene - vor allem aber zeitgemäße - Interpretation des Subjektparadigmas zu entwickeln. Insbesondere wäre in bezug auf das Verhältnis von Vernunftbegriff und darauf basierender Autonomiedeutung eine aktuelle Explikation des Verständnisses von „praktischer Vernunft" weiterführend und erhellend gewesen. Mit Bedacht auf die postmodeme Differenz möglicher Vernunftvarianten und möglicher Subjektvorstellungen hätte eine deutliche Distanznahme erfolgen müssen von einem verkürzten, rein kognitivinstrumentellen Vernunftkonzept und einer ausschließlich funktionalistischen Bewältigung von Welt und Umwelt. In diesem Zusammenhang wären neue ethische und auch theologisch bedeutsame Fragestellungen unabdingbar gefordert. Nachdem die Moraltheologie verspätet, erst im nachhinein, und wie sich heute zeigt, verkürzt die Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff der Neuzeit aufgegriffen hat, läuft sie Gefahr, in ihrer Situationsanalyse und Wahrnehmung ihrer Aufgabenstellung neuerlich den Anspruch der Gegenwart zu verkennen. Allerdings zeichnet sich hier - auf Ebene des ethisch-praktischen Diskurses der katholischen Theologie - der Tendenz nach nur eine Folgeerscheinung ab, welche ihre tatsächlichen Ursachen im II. Vatikanischen Konzil haben dürfte, womit dieses selbst in mancher Hinsicht grundsätzlich zu hinterfragen wäre.21 Im kritischen Rückblick auf eine nunmehr 25 jährige Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte muß heute festgestellt werden, daß das Konzil selbst keinen Zugang zu einer umfassenden Diagnose der Moderne gefunden hat, die Wahrnehmung der im eigentlichen Sinne zeitgenössischen Situation und der mit ihr verbundenen geistig-moralischen Krise zu wenig vertieft ausgefallen 20 21

Erhellend in diesem Zusammenhang die kritische Analyse von A. Auers ursp. moraltheologischen Konzept bei Hirschi, H., Moralbegründung, passim. Die Einschätzung des Il.Vatikanums deckt sich im folgenden mit der Beurteilung durch L. Honnefeider, wie sie sich in einem Gespräch mit der „Herder Korrespondenz" anläßlich des 25jährigen Konzilsabschlußes, wiederfindet. Vgl. Honnefelder, L.,"Ich sehe mehr Anpassung an den Zeitgeist, als sich die Urheber eingestehen", in: Herd. Korr. l (1991), S. 25f.

Überlegungen zur Rekonstruktion einer zeitgemäßen Ethik

9

ist, so daß heute im Grunde keine entscheidende Antwort auf den gestiegenen Säkularisierungsdruck gefunden werden kann; im Gegenteil, ersichtlich wird, daß die ursprüngliche Aufbruchsbewegung mit dem Bemühen um größere Universalität und glaubwürdigere Authentizität des christlichen Selbstverständnisses wesentlich an Bedeutung verloren hat. Die Argumentation in den einschlägigen Konzilstexten dokumentiert geradezu einen starken, emphatischen Vernunftbegriff, wie er sich in der Rezeption von Scholastik und Aufklärung wiederfindet, demzufolge Vernunft totalisierend die Erkenntnis der einen Wahrheit und Zugriff auf das Ganze ermöglicht, ohne daß sich die Ausführungen grundsätzlich der Erosion und Ambivalenz von Aufklärung und Moderne bewußt werden, die das Vernunftkonzept und das darauf aufbauende Menschenbild seitdem geprägt haben. Das Konzil hat in seiner Zeitdiagnose zu wenig in Rechnung gestellt, daß die in der Aufklärung noch unterstellte Einheit mit dem Übergang in die Moderne diffus und brüchig geworden ist. „An die Stelle der e i n e n Vernunft und ihrer umfassenden Wahrheit sind plurale ausdifferenzierte Wahrheits- und Geltungsansprüche getreten, die eine Geschichte hat sich - verstärkt durch Kontextualisierung und Dekonstruktivismus - in Geschichten aufgelöst... an die Stelle der e i n e n Lebenswelt sind plurale Welten mit unterschiedlichen Wertmustern getreten"22. Die mangelnde Geistesgegenwart in der Wahrnehmung jener problematischen Bedingungen der Moderne wie das Festhalten an einem sich bereits in der Krise befindlichen Deutungskontext begünstigt den späteren Weg zu einem gesellschaftlichperipheren Sonderdasein in Form von kirchlicher Gettobildung, um sich auf diese Weise der postmodernen Partikularisierung anzupassen, womit allerdings die nach dem Konzil betonte Universalität des christlichen Glaubens verloren geht, und die Tendenz zu einer fortschreitenden Historisierung des Christentums begünstigt wird. Restaurative Bewegungen wie Versuche einzelner Gruppen, geistige oder geistliche, vorkonziliare Positionen zu erneuern und als Wahrheit fundamentalistisch auszugeben sind in diesem Zusammenhang ebenso zu nennen wie die Tendenz in manchen theologischen Fragestellungen, „den schwierigen diskursiven Ausweis der Wahrheit durch Lehramtspostivismus zu ersetzen und der Wahrheit durch iuridische Sanktionen zum Durchbruch zu verhelfen".23 Ein demgegenüber kritischer Ansatz könnte in einer vertieften Besinnung auf die zeitgenössische Situation mit der unübersichtlichen Vielfalt an divergierenden Wissensformen, Lebensstilen und sittlichen Grundüberzeugungen einen günstigen Moment erkennen und eine gebotene Chance für das Christentum, seine wahren Möglichkeiten, die ihm heute vorgegeben sind, aufzuspüren und neu zu überdenken. Es wäre eine produktive Herausforderung, das spezifisch Eigene vorrangig im Bereich der unausweichlichen Frage nach der Motivation entdecken zu 22 23

ebda., S. 25. ebda., S. 26.

10

Moraltheologie und die (post)moderne Signatur der Gegenwart

können, welche grundlegend und tiefergehend ist, als jede Begründung universalisierbarer Normen und Prinzipien, welche sich heute mit neuer Dringlichkeit stellt und nach plausibler Erklärung verlangt. In dieser Hinsicht wäre der eigene Sinngehalt und Anspruch einzubringen in die Bedingungen der postmodemen Welt mit dem Ziel, auf einen möglichen Konsens hinzuarbeiten. Sollte es auf diese Weise der sittlichen Vernunft tatsächlich gelingen, den Konsens neu zu benennen, der dazu dient, Einheit in der Pluralität zu stiften, die diffus gewordene Universalität wieder zu gewinnen, so wäre sie im Wesentlichen auf die Verbindlichkeit und Plausibilität gehaltvoller Modelle des guten Lebens angewiesen als neu zu entwickelnde Ethosformen, konkretisiert in überzeugenden Gestalten des geglückten Menschseins. Das institutionalisierte, sich in Auflösung befindliche Ethos der katholischen Kirche kann nicht - und dies müßte der nachkonziliäre Katholizismus wie die entsprechende ethische Reflexion heute zur Kenntnis nehmen - durch ein autoritär vermitteltes Normensystem ersetzt werden, sondern ist nur von den einzelnen Personen her aufzubauen, „die den sittlichen Anspruch des Evangeliums im Gewissen erfahren und sich zu einem neuen ethosbildenden Entwurf gelingenden Lebens gedrängt sehen". Entgegen der - nach wie vor bestehenden Tendenz, zur iuridischen Sanktion in der katholischen Kirche - wäre die von Aufklärung und Moderne proklamierte, an sich aber ureigene Idee des Christentums zu verwirklichen oder vielleicht erst wieder neu zu entdecken, daß sich sittliches Handeln nur autonom, d.h. als Selbstbestimmung in Freiheit und durch Vernunft, vollziehen kann, nur ein Ethos vorstellbar ist, in dem sich der sittliche Anspruch über die praktische Vernunft im individuellen Gewissen vermittelt, durch welches der Einzelne einen authentischen und unverrechenbaren Bezug zur Wahrheit findet

Ansätze für eine fundamentalethische Neuorientierung

11

1. 2. Ansätze für eine fundamentalethische Neuorientierung Die katholische Moraltheologie ist hineingenommen in das aktuelle Gespräch der Zeit. In Analogie zum gesellschaftlichen Pluralismus der Postmoderne hat sie mit einem innerethisch gewonnen Pluralismus zu rechnen, der eine Vielfalt an Meinungen, Positionen und ethischen Urteilen zuläßt; gegebenenfalls wäre dieser Pluralismus mit der Möglichkeit zum Dissens zu begünstigen (oder zurückzugewinnen), wenn er Gefahr läuft, fundamentalistisch vereinnahmt zu werden. Die Korrektur oder Aufdeckung von Differenzen wäre dem wissenschaftlichen Diskurs katholischer Theologie zu überantworten. Dies ist zu bedenken, wenn es darum gehen soll, die Skizze eines Arbeitsprogramms fUr eine Ethik der Zukunft zu erstellen. Die Moraltheologie steht heute hinsichtlich ihrer Zeitdiagnose und Aufgabenstellung vor einer neuen Herausforderung. Sie wird sich in produktiver Aufarbeitung der durch das II. Vatikanische Konzil aufgebrochenen und unbeantwortet gebliebenen Fragestellungen grundlegend neu zu orientieren haben. Die Diagnose und Analyse der zeitgenössischen Situation setzt heute eine Verständigung über „Ethik" im eigentlichen voraus,24 eine Vergewisserung darüber, von welcher Grundoption aus eine theologische Ethik in der gegenwärtigen spät- oder postmodernen Lebens- und Handlungswirklichkeit und ihren spezifischen Bedingungen überhaupt noch ihren Ort oder ihren identifizierbaren Bezug finden kann. In dieser Hinsicht schlägt die Untersuchung in ihrem zentralen Diskursanliegen für die Moraltheologie vor, diese Frage ihrer heute zuschreibbaren Relevanz im Kontext einer situationsgemäßen Vergewisserung des „Subjektparadigmas" zu versuchen. Die Überlegungen zur Möglichkeit einer zukünftigen christlichen Ethik raten mit der Korrektur der konziliaren Vorgaben und ihrer bisherigen innerethischen Reflexion zur konzessionslosen Wende zum Subjekt, um einen qualitativen Standpunkt aufzuweisen, von wo aus die ethische - wie genuin theologische - Argumentation ihren spezifischen Gültigkeitsbereich im gesamtethischen Spektrum gewinnen kann. Die Überlegungen zur subjekttheoretischen Grundlegung der Ethik stehen in Auseinandersetzung mit der aktuellen subjektphilosophischen Debatte. Der Überblick zeigt dabei einen sehr kontroversen Diskussionsstand verschiedener subjekttheoretischer Positionen, die zudem mit radikal skeptizistischen Ansätzen systemtheoretischer, behavioristischer oder einheitswissenschaftlicher Subjektkritik konfrontiert sind.25 Derartige Konzepte wären im Hinblick auf eine zeitgemäße Theorie praktischer Subjektivität metakritisch zu bewerten, wobei sich das Interesse vor allem auf die verschiedenen Versionen vom Verlust des Subjekts und die damit verbundene Identitätskrise am Ende der Mo24 25

Vgl. die Problematik bei Ulrich, H. G., Konjuntur oder Aufbruch?, in: EK 4 (1988), S. 199f. Vgl. dazu Krämer, H., Integrative Ethik, Frankfurt/M: Suhrkamp, 1992, S. 213ff.

12

Moraltheologie und die (post)moderne Signatur der Gegenwart

derne richtet. Jenen proklamierten Subjektverlust in Europa, der indikatorisch neben einer sozial-politischen eine technische wie eine intellektuelle Destruktion umschließt und dessen tiefreichende Gründe heute, nach Abklingen der postmodernistischen Begeisterung in Theorien zu suchen sind, die einst avantgardistisch, den Subjektverlust selbst thematisch aufzuschließen suchten; hingewiesen wurde in diesem Zusammenhang etwa auf den Zerfall der Subjektheorie, angefangen bei Heideggers „subjektfreiem Dasein" in der Existenzanalytik von 1927, über Horckheimers und Adornos „sprachlose Aufklärung" von 1944, bis hin zu Habermas „Kommune ohne Bewußtsein" von 198l.26 Die gegenwärtige subjektphilosophische Diskussion zeigt sich, wie erwähnt, kontrovers, wobei die These vom Ende des Subjekts als autonomer Entscheidungsinstanz vor allem in verschiedenen Varianten nicht-egologischer Bewußtseinstheorien konkretisiert scheint, die entweder das Subjekt in objektive Strukturen, Systemen und Ereignisfolgen oder in einer unendlichen Pluralität von Teilsubjekten diffundieren lassen und dadurch als Fiktion enthüllen (Baudrillard, Deleuze, Barthes, Derrida, u.a.), oder aber es als durch unterschiedliche Systeme, vorwiegend semiotischer Art, bestimmt und konditioniert ausweisen und dadurch seine Autonomie und Effizienz annullieren (Lacan, Systemtheorien).27 Gegenüber diesen Formen radikaler Subjektkritik wurde die ethische Argumentationssituation durch konzeptionelle Neuorientierungen verändert, die in einer wesentlich postteleologischen Perspektive auf eine systematische Neuformulierung der Theorie praktischer Subjektivität drängen. Unter diesen gegenläufigen Ansätzen ist vor allem auf Krämers Konzept eines „vervollständigten, nicht-restriktiven und nicht-reduktionistischen" Typs ethischer Theorie hinzuweisen. Der mehrdimensionale Entwurf zielt auf eine Integration von sollens- und strebensethischen Aspekten, basierend auf einer anthropologischen und subjekttheoretischen Metatheorie; gegenüber der Dominanz kommunikationstheoretischer und intersubjektivistischer Ansätze in der Philosophie der Gegenwart ist es ein erklärtes Ziel, mit der Rehabilitierung der Fragen des praktischen Selbstverhältnisses die Ethik phänomenologisch zu fundieren und näher an die komlexe Lebenswirklichkeit heranzuführen.28 Die idealtypischen Differenzierung von Sollens- und Strebensethik in einer postteleologischen Moderne verbindet sich mit der Annahme einer zunehmenden Pluralisierung von Sittlichkeit und Ethosformen, die in gleicher Weise Legitimität beanspruchen.29

26 27 28

29

Ebeling, H., Das Subjekt in der Moderne. Rekonstruktion der Philosophie im Zeitalter der Zerstörung, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt, 1993, S. l Off. Krämer, H., Integrative Ethik, S. 214ff. ebda., S. 9; passim; vgl. Krämer, H., Replik: Die Integrative Ethik in der Diskussion, in: Endreß, M. (Hrsg), Grundlegung einer integrativen Ethik, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995. S. 205-249. Krämer, H., Integrative Ethik. S. 213.88.

Ansätze für eine fundamentalethische Neuorientierung

13

Krämers Entwurf einer „Integrativen Ethik" steht dabei in Affinität zu aktuellen soziologischen Gegenwartsdiagnosen; unter dem intersziplinären Aspekt einer Kooperation von Sozialwissenschaften und Praktischer Philosophie ist seine sozialtheoretische Grundlegung in sinndimensionaler Perspektive, differenziert in eine Raum-, Zeit-, Sozial- und Sachdimension rekonstruierbar.30 Auf dieses Argumentationspotential hat der ethisch-theologische Diskurs zurückzukommen, vor allem auch im Hinblick auf eine notwendig kritische Sichtung des kontraktualistischen Konzepts der neukantianischen Diskursethik. Für die Gegenwartsphilosophie paradigmatisch wäre noch im Kontrast zur radikalen Subjektkritik kommunikationstheoretischer oder intersubjektivistischer Konzepte auf einen zweiten Ansatz zur Rekonstruktion des Subjektbegriffs zu verweisen. Im Gegensatz zur obstruktiven Entscheidung gegen die Subjekttheorie und damit auch gegen die Möglichkeit von Ethik wurde hier der Vorschlag gemacht, das Subjekt der Moderne als das „Unersetzbarsein des bewußten Seins" zu rekonstruieren, was nicht bedeuten würde, an der faktisch erfahrbaren Auflösung vorbeizusehen, sondern, im Gegenteil, die Prozesse der Vernichtung deutlich zu machen: „Das Subjekt in der Moderne ist frei von der Bornierung auf eine Vernunft, die den Tod nicht sieht oder für gering erklärt", es „konstituiert sich dagegen aus der Einheit der Vernunft und des Todes"31. Waren das Existenzsubjekt als „Dasein" wie das Sprachsubjekt als „kommunikative Vernunft" eine beabsichtigte Destruktion der Subjektheorie und in diesem Punkt sehr späte Antworten auf das im hohen Maß defizitäre Bewußtseinssubjekt der Tradition, so seien gerade darin „Widerstandspotentiale virulent, die der Resurrektion des Subjekts dienstbar gemacht werden können. Besonders Heideggers Rekurs auf das „Existentielle", Horckheimers und Adornos Rekurs auf das „Natürliche" und Habermasv Rekurs auf das Jllokutionäre" erschließen uns am Ende Potenzen der Selbstbehauptung der Vernunft, die der Rückkehr zum Subjekt dienlich bleiben"32. Eine Rückkehr, die nach einer postmodernen Zwischenphase zunächst anknüpfen müßte an das erste Hervortreten des Subjekts in der klassischen Bewußtseinstheorie seit Descartes und Hobbes, bis zu Fichte und Hegel, mit den Motiven von Selbstgewißheit, Selbsterhaltung und Selbstsetzung, als jene maßgeblichen Topoi einer Konstruktion von Subjektivität; dann aber 30

31

32

Endreß, M., Zur sozialtheoretischen Grundlegung einer integrativen Ethik, in: ders. (Hrsg.), Grundlegung einer integrativen Ethik, Frankfurt/M.; Suhrkamp, 1995, S. 155204; Endreß im Anschluß an N. Luhmanns systemtheoretisches Konzept einer Differenzierung von sog. Sinn- resp. Weltdimensionen sowie an die „Aufschichtung der Lebenswelt" in der Sozialphänomenologie von A. Schütz. Ebeling, H., Subjekt, S. 20f. Vgl. ders., Neue Subjektivität. Die Selbstbehauptung der Vernunft, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1990; ders.. Das Subjekt in der Moderne, in: ders. (Hrsg.), Subjektivität und Selbsterhaltung? Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1996, S. 344f. ebda.

14

Moraltheologie und die (post)moderne Signatur der Gegenwart

einer Vermittlung bedürfte mit den Präsubjekten der Existenz und der Sprache, um so nach dem Durchgang durch die Paradigmen von der Existenz als „Dasei n "(Heidegger) und der Sprache als „kommunikative Vernunft" (Intersubjektiviät der Sprachpragmatik, Habermas) das Subjekt des bewußten Seins zu restituieren; was bedeuten würde, das Subjekt der klassischen Bewußtseinstheorie nicht zu negieren, die wesentlichen existentialanalytischen Ergebnisse (Tod) des Präsubjekts der Existenz zu bewahren und die Intersubjektivitätsgehalt des Präsubjekts der sprachlich sedimentierten Vernunft weiter zu verfolgen33. Über diese für die aktuelle subjektphilosophische Debatte relevanten Theoriezusammenhänge hinausgehend, ist als wesentliches Ergebnis eines Überblicks jedoch festzuhalten, daß die Subjekttheorie nach wie vor in mehrfacher Hinsicht ein hochkontroverse Unternehmen darstellt: kontrovers ist dabei einmal, „wie materialistische Versuche, ein objektivistisches Selbstverständnis zu etablieren, zu bewerten sind, ob sie eine ernsthafte philosophische Herausforderung darstellen, oder nicht"34. Meinungsverschiedenheit herrscht weiters darüber, „ob bei der Entwicklung einer Subjektkonzeption von einem Primat der Theorie oder aber von einem Primat der Praxis auszugehen ist"; offen ist auch, „wie weit das Problem des menschlichen Selbstverständnisses von klassischen Vorstellungsmodellen wie einer von Aristoteles und Locke her interpretierten Persontheorie anzugehen ist, oder wie weit für dessen Klärung umgekehrt Überlegungen der philosophischen Anthropologie und der Existenzphilosophie unseres Jahrhunderts ausschlaggebend sind"; schließlich ist kontrovers, „ob bei der Beantwortung der für die Weltstellung des Subjekts zentralen Sinnfrage der Rekurs auf allgemeine Sinnmomente möglich ist, oder ob wir in diesem Fall nur auf existenziell-subjektive Bewertungsmaßstäbe rekurrieren können".35 Im Vergleich zu dieser Diskussionssituation im Bereich der gegenwärtigen Praktischen Philosophie, die das Bemühen um eine systematische Erneuerung der Subjekt- und Selbstbestimmungstheorie wiedergibt, stehen essentielle Antworten von Seiten der katholischen Theologie und Kirche auf die unbestrittene Faktizität der spätmodernen Verfallsgeschichte des Subjekts im großen und ganzen aus. Es ist bislang keine konsistente Theorie der Subjektivität im Bereich theologischen Denkens gelungen; die Vorstellung und Fokusierung eines Subjekts unter postteleologischen Vorzeichen als Prinzip und Instanz eigenmächtigen, selbstbestimmten Handelns läßt auf sich warten.36 33 34 35 36

ebda., S. 20f; 24. Ollig, H.-L., Kontroverse Subjektheorie, in: Endreß, M. (Hrsg.), Grundlegung, S. 73-97, hier 96. ebda. Vgl. etwa die Ansätze bei Wils, J.-P., Sittlichkeit und Subjektivität Zur Ortsbestimmung der Ethik im Strukturalismus, in der Subjektivitätsphilosophie und bei Schleiermacher, Freiburg: Herder, 1987; ders., Verletzte Natur. Ethische Prolegommena, Frankfurt/M.: Lang, 1991. Wils kommt über etwas glücklose Zusammenstellungen nicht hinaus; in

Ansätze für eine fundamentalethische Neuorientierung

15

Mit dem Stichwort einer postteleologischen Formalität hat die Ethik der Einsicht Rechnung zu tragen, daß vermeintlich universale und allgemeinverbindliche Grundlegungen der Tradition im Zeichen des modernen Pluralismus und der damit verbundenen Ausdifferenzierung zu bloßen Typen herabgesetzt werden, was heißt, daß sie nur noch eingeschränkte, gruppen- oder epochenspezifische Geltung besitzen und nicht mehr als universal verbindlich anzuerkennen und zu befolgen sind.37 Die systematische Antwort auf diese soziologische Ausgangssituation am Ende der Moderne müßte die ethische Reflexion auf ihre wechselseitigen interdisziplinären Diskurs mit den Sozialwissenschaften verweisen. So wäre etwa die vorgeschlagene sozialtheoretische Situierung in der sinndimensionalen Differenzierung von räumlicher, zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht im Rahmen der Metatheorie der Ethik unverzichtbar. Die Vergewisserung dieser Sinnbezüge würde sich sowohl in Hinblick auf grundlegende Orientierungsfragen als auch auf leitende Orientierungsmuster naheliegen, darüber hinaus würde sie den historischen Wandel der Theoriebildung im Rahmen der Ethik eröffnen: „Während sich frühere Ethiken in sozialer Hinsicht wesentlich auf anwesende Zeitgenossen, in räumlicher Hinsicht auf den Nahbereich, in zeitlicher Hinsicht auf den lediglich weiteren Gegenwartshorizont und in sachlicher Hinsicht auf Selbst- und/oder Sozialverhältnisse konzentrierten, kommt eine zeitgenössische Ethik nicht umhin, ihren Reflexionshorizont - handlungsfolgenbezogen - auf die Gattung, den Fernhorizont, weitreichende Zukunftskonstellationen und Naturverhältnisse auszudehnen'98. Gegenüber diesen Anfragen und Desideraten, die insbesondere im Rahmen einer Anthropologie im praktischer Hinsicht auf eine systematische Lösung drängen, zeigt sich eine gewisse Ratlosigkeit; eine systematische Leerstelle im metatheoretischen Bereich, die sich im Festhalten am fingierten Besitz von vermeintlichen Wahrheiten im Kontext einer simualtiven Ordnung artikuliert, ist hier nicht zu übersehen; „Der Wert von Antworten auf die Anfragen am Ende der Moderne verkommt zum Simulakrum, wenn die Antworten einem universellen Sinngebungskonstrukt entspringen, das diese schon hat, bevor die Fragen gestellt sind".39 Die Problematik einer methodologischen Begründungstheorie, deontologischer Provenienz, verstärkt sich im besonderen Maße angesichts des modernen Pluralismus gelebter Ethosformen in einer grundsätzlich postteleologischen Epoche und des damit impliziten axiologischen Antirealismus. Bislang findet sich weder eine hermeneutische Erschließung noch eine traditionskriti-

37 38 39

hermeneutischer Hinsicht eher weiterführend, Höhn, H.-J., Veraunft-KommunikationDis-kurs, in: ThPh (1986), S. 93-128; ders., Vemunft-Glaube-Politik. Reflexionsstufen einer christlichen Soziallehre, Paderborn: Schöningh, 1990. Vgl. Krämer, H., Replik, S. 206f. Endreß, M., Grundlegung, S. 185. Vgl. Bauerdick, R., Transzendentale Subjektivität oder Transzendentalität des Subjekts, in: PhTh33 (1986), S. 289f.

16

Moraltheologie und die (post)moderne Signatur der Gegenwart

sehe Reflexion, wie die Zukunftsform des Glaubenssubjekts zu konzipieren und zu spezifizieren wäre. Demgegenüber ist heute ein Antwortversuch seitens der ethisch-theologischen Reflexion darin zu sehen, den Status des wahrheits- und diskursfähigen Subjekts neu zu überdenken; gegenüber Positionen radikaler Subjektkritik den Stellenwert der Subjektivität neu zu bestimmen und zu konkretisieren. In diesem Sinn hat die theologische Ethikforschung an aktuelle Ansätze, die die philosophische Diskussion um die heutige Möglichkeit Praktischer Philosophie mitbestimmen und insofern von einem ähnlichen Problembewußtsein getragen sind, anzuknüpfen; darauf bezogen, die phänomenologisch fundierte Argumentation vorrangig auf „das in der Selbst- und Lebenserfahrung gegebene praktische Subjekt und seine phänomenale Bezeugung" auszurichten, „die nicht durch „Aufklärungen" theoretischer Reflexion, sondern allenfalls durch äquivalente Gegenphänomene in Frage gestellt werden könnte". Das Subjektparadigma als unhintergehbares Faktum schließt hier neben dem existenziellen Interesse wie der unvertretbaren Eigenperspektive des Handelnden oder Leidenden auch den erlebten Entscheidungszwang wie die Konflikterfahrung mit ein und rekurriert auf den sich im Zuge der Handlungssequenz ergebenden Orientierungs- und Beratungsbedarf, von wo sich die Ansätze und Fragen der ethischen Theorie stellen.40 Das hier vorgestellte Projekt, das zunächst nur Anstöße und Anfänge einer Diskussion bieten kann, die in einer umfassenden Theorie fortzusetzen wären, steht auch im Interesse, dem progressiven Relevanzverlust des christlichen Glaubens wirksam zu begegnen und die Chance zu wahren, mit der Vorstellung eines spezifisch eigenen Sinnkonzepts einen Beitrag zur möglichen Konsensbildung im gegenwärtigen partikularisierenden, die Unübersichtlichkeit und Orientierungslosigkeit begünstigenden Pluralismus, zu leisten. Soziologische Analyse verweisen dabei auf das heute zunehmend schwieriger werdende Problem, Fragen von Sinn und Heil öffentlich und kollektiv zu diskutieren.41 Eine konstatierte Indifferenz, die mit der Ambivalenz der Moderne ihre Ursachen weniger in einem Werteverlust als in einer Werteinflation haben dürfte, welche theologische Sinnaussagen in direkte Konkurrenz zu anderen Werten wie Wohlstand, Freiheit oder Gerechtigkeit bringt und mit dem Übermaß des Werthaften ihre bislang übergeordnete Relevanz verlieren läßt. Gerechtigkeit wird so nicht mehr von der Religion, sondern vom Rechtssytem, vom Staat und seinen Verteilungsmaßnahmen erwartet. Der religiöse Anspruch des Christentums ist, soziologisch betrachtet, nur noch für eine Minderheit eine unbedingt werthafte Vorstellung. Was die Zukunftsfähigkeit des Christentums angesichts des fortschreitenden religiösen Traditionsverlusts betrifft, so dürften ganz allgemein die Chancen wesentlich davon abhängen, 40 41

Vgl. Krämer, H., Integrative Ethik, S. 214f. Vgl. Kaufmann, F.-X., „Es bleiben tiefe Ambivalenzen". Ein Gespräch mit Franz-Xaver Kaufmann, in: Herd. Korr. 2 (1997), S. 73f.

Ansätze für eine fundamentalethische Neuorientierung

17

inwieweit disponible Ressourcen des christlichen Glaubens vorhanden sind, um unvorhersehbaren Herausforderungen gewachsen zu sein; dies bedeutet soziologisch für die Theologie als Wissenschaft wie für die theologische Ethikforschung ganz besonders, in der Ausrichtung auf eine mögliche Zukunft, das Spezifikum der Theologie als die „Spannung zwischen dem all unser Begreifen und Tun übersteigenden Anspruch der Offenbarung und den Möglichkeiten des Menschen" zu begreifen, diese angesichts der fortschreitenden Orientierungsprobleme als solche lebendig zu erhalten42. Diese sozialwissenschaftlichen Ergebnisse der religiös-kulturellen Situation der Gegenwart rezipierend, wird eine die moraltheologische Tradition kritisierende Reformulierung der Subjektivität ihre Aufmerksamkeit vor allem auf den gemeinsamen und verbindenden Bezugspunkt einer prinzipiell möglichen, dabei aber auch dringlichen Gestaltung der menschlichen Lebenswelt zu richten haben, womit sich insgesamt die Gelegenheit für eine anthropologische Vertiefung der ethisch-theologischen Grundlagenreflexion ergeben soll. Als Desiderat und somit als Forschungsschwerpunkt im Bereich der „Fundamentalmoral" erscheint, so gesehen, der Entwurf einer integrativen Theorie des ethischen Subjekts mit der wesentlichen Frage nach der Konstituierung der sittlichen Persönlichkeit in ihrer verantwortlichen Lebensführung. Die Ausführung zielt auf eine ethische und theologische Diskussion des „Subjekt-Paradigmas" und steht zugleich im Zusammenhang mit der für heutiges ethisch-theologisches Selbstverständis entscheidenden Problematik einer Realisation des christlichen Glaubens unter den Bedingungen der heutigen Lebenswelt. Das nicht nur individualethisch43 zu beschreibende Interesse richtet sich auf den dynamischen Prozeß der ethischen Subjektivierung, auf den Gewinn personaler Identität als eine wesentlich qualitative Identität44. Dieser ist in Theorie und Praxis zu durchdenken mit der entscheidenden moraltheologischen Aufgabe, die Qualität autonomer Freiheit auf individueller und sozialer Basis abzusichern und sich ihrer, gemäß dem neu zu überprüfenden Selbstverständnis und Anspruch, auch theologisch zu vergewissern. Die Moraltheologie geht davon aus, daß ihr eigener Ansatz heute nur noch vom praktischen Selbstverständnis des Handelnden her verständlich gemacht werden kann. Das Prinzip des sittlichen Subjektseins oder das praktische 42 43

44

ebda., S. 77f. Was die terminologische Sprachregelung betrifft, so wird der wegen seiner Mehrdeutigkeit etwas unglückliche Begriff der , Jndividualethik" im folgenden synonym mit dem neutralen der „Strebensethik" verwendet .Jndividualethik" steht hier nicht im Gegensatz zur sog. „Sozialethik" vielmehr ergänzt und kontrastiert sie den Typus der Sollensethik. Mißverständliche Beziige auf Formen einer „Monastik" oder auf die individuelle Gewissensmoralität sind hier ebensowenig intendiert, wie die Partikularisierung des Moralischen oder die Vorstellung einer qualitativen Individualisierung; vgl. zur Abgrenzung, Krämer, H., Integrative Ethik, S. 81f. Vgl. Honnefeider, L., Absolute Forderungen in der Ethik. In welchem Sinn ist eine sittliche Verpflichtung „absolut"?, in: Kerber, W (Hrsg.), Das Absolute in der Ethik, München : Kindt, 1991, S. 13-33, hier S. 31

18

Moraltheologie und die (post)modeme Signatur der Gegenwart

Selbstverhältnis sind als normatives Grundprinzip auszuweisen, von dem her jeder sittliche Anspruch geltend zu machen ist.45 Für das theologische Interesse an einer plausiblen und effizienten Vermittlung des christlichen Glaubens ergibt sich hier eine wesentliche Einsicht. Soll der Glaube tatsächlich als freie Wahl des Menschen, als persönliche Lebensentscheidung verantwortbar sein, so bildet die Anerkennung des sittlichen Subjektseins hierfür unabdingbare Voraussetzung. Im praktischen Selbstverhältnis oder Subjektsein konstituiert sich die personale Identität des Menschen. Diese ist im Gegensatz zu einer rein formalen im sittlichen Kontext auf einen qualitativen Begriff hin zu deuten.46 Das bedeutet, sittliche Verbindlichkeit weist grundsätzlich über die universalgültige, verallgemeinerbare Normativität hinaus: „Die Antwort auf die Frage „Was soll ich tun?"... ist nicht möglich ohne die Antwort auf die Frage „Was ist das für mich Beste"?, und diese Antwort hängt unlöslich von der Antwort ab, was das für alle im gemeinsamen Handlungskontext Beste ist. Alle drei Antworten sind aber immer schon Antwort auf die Frage „Wer will ich sein?4**7. Die sittliche Verbindlichkeit erfaßt hier die Dimension des praktischen Selbstbewußtseins mit dem zentralen, von jedem einzelnen Subjekt selbst in seiner eigenen Verantwortung zu führenden Diskurs der ethischen Grundsatzfrage. Diese indiziert als Frage nach dem Lebenssinn oder dem guten und gelingenden Leben insgesamt eine theoretisch-praktische Gesamtinterpretation der eigenen und sozialen Verfaßtheit in der Welt, aus der sich ein übergreifender Lebensentwurf ergibt. In ihr vermittelt sich die persönliche Vorstellung eines umfassenden Konzepts des glückenden Lebens in der Reflexion darüber, was für ein Mensch man insgesamt sein will, wobei die Ganzheitlichkeit wesentlich auch die Beziehung zu anderen Menschen inkludiert. Die praktische Frage wird so zur Frage nach der Struktur der moralischen Identität der Person, welche Voraussetzung für die volle Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit ist und das eigene Leben als sinnvoll erfahrbar werden läßt.48 Sittliches Subjektsein und qualitative moralische Identitätsbestimmung sind in ihrer Konstitution, dies wurde eben angesprochen, nicht aus der rein formalen Sicherung der Bedingung ihrer Möglichkeit zu gewährleisten. Die Vergewisserung ihrer Möglichkeit und notwendigen sittlichen Verbindlichkeit des Einzelnen fordern ein „anspruchsvolles Sinnkonzept", d.h. ein sinnvoll erfahrbares Ethos und einen „inhaltlich gefüllten individuellen Lebens-entwurf". 45 46 47 48

„Aus der Teilnahme am Handeln wird auf die immer schon vollzogene Anerkenntnis des Prinzips, aus dem Faktum der Vernunft die praktische Freiheit als Voraussetzung erschlossen", Honnefelder, L., Forderungen, S. 30f Honnefelder im Anschluß an die Konzeption des praktischen Selbstbewußtseins bei E. Tugendhat, Honnefelder, L., Forderungen, S. 32f., S. 36f. Vgl. Tugendhat, E., Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt: Suhrkamp 1979. Honnefelder, L., Forderungen, S. 32. Tugendhat, E., Selbstbewußtsein, S. 93. Vgl. dazu Wolf., Gh., Das Problem des moralischen Sollens, Berün: de Gruyter, 1984, S. 138ff.

Ansätze für eine fundamentalethische Neuorientierung

19

Allerdings stellt dieser keine letzte, gegen inhaltliche Kritik immune Größe dar. Seine Dignität beruht einzig darauf, weil er die individuelle Ausdrucksoder Erscheinungsform der an jeden ergehenden Forderung der Sittlichkeit ist. „Er muß sich als Gestalt dieser Forderung ausweisen und sich jederzeit an ihr messen lassen. Zwischen dem allgemeinen sittlichen Anspruch und dem inhaltlichen Lebensentwurf besteht ein durch das jeweilige Ethos der gesellschaftlichen Gruppe vermittelter Verweisungszusammenhang, der im sittlichen Urteil kritisch zu durchlaufen ist".49 Diese unerläßliche Bedingung wird vor allem auch, darauf ist an dieser Stelle bereits aufmerksam zu machen, für den im Kontext der Moraltheologie unabdingbaren Theologiebezug zu berücksichtigen sein. Die Offenbarungs- oder Tiefendimension der Theologie als Sinnangebot wie zu zeigen sein wird - zum Entwurf und zur Gestaltung des eigenen sinnerfüllten, glückenden und guten Lebens hat durchaus, so wie jede andere humane Ethosform oder Religion, ihre moralische und rechtliche Dignität, „weil sie rein formal unabdingbar... (ist), um ein sittliches Subjektsein sicherzustellen, das über Konsistenzforderungen oder über einen rein formalen Identitätsbegriff hinausgehen soll". Diese Dignität ist jedoch dem je konkreten Inhalt nach einer kritischen Beurteilung zu unterziehen.50 In diesem Sinn ist der Glaubensentscheid, als freier und grundsätzlicher Lebensakt, welcher einen religiösen Sinnentwurf erst konstituiert, noch einmal in sich selbst auf seine Sittlichkeit hin zu verantworten51. Diese subjekttheoretischen Überlegungen als Antwortversuch seitens der Theologie auf den postmodernen Subjektverlust sind an anderer Stelle aufzunehmen, wobei in diesem Zusammenhang auch K. Rahners transzendentaltheologischer Entwurf zu sichten sein wird, sein Gottes- und Subjektkonzept, mit dem Aufweis der existentialethischen Qualität des Handelns. Der Versuch, die Wende zum Subjekt im Kontext der christlichen Ethik konsequent zu verfolgen, erfordert eine Neubestimmung der wesentlichen Spezifika der katholischen Moraltheologie. Voraussetzung dafür ist die Ermöglichung eines interdisziplinären Gesprächs mit der praktischen Philosophie und ihrer Traditionen, wobei sich der Dialog thematisch vor allem auf die Fragen der antiken philosophischen Ethik konzentrieren dürfte. In gegenwartsbezogener Veränderung der bisherigen Grundlagen ist moraltheoretisch ein Perspektiven- oder Paradigmenwechsel der ethischen Grundorientierung beabsichtigt, mit der Wende vom primären Sollen zum spezifisch eigenen Wollen des Menschen. Dies bedeutet eine Um- und Neuakzentuierung des bisherigen Selbstverständnisses als Handlungswissenschaft.

49 50 51

Honnefelder, L., Forderungen, S. 32f., S. 36. ebda, S. 36. ebda.

2. Moraltheologie als Konvergenzethik

2.1. Das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis Die umfassende Rehabilitation des praktischen Subjekts oder des Individuums im Bereich der Moraltheologie entspricht der Forderung nach einer systematischen Rückbesinnung auf jene Form der Ethik, welche auch den fundamentalen Interessen, wie dem Glücksstreben und -bedürfnis des Einzelnen gerecht zu werden vermag. Diese Ausweitung des Selbstverständnisses zugunsten eines komplexen mehrdimensionalen ethischen Systems bedeutet für die Moraltheologie die Wiederaufnahme originärer strebensethischer Grundelemente gegenüber dem Ideal einer reinen Sollensethik, wie es seit Kant, vor allem in der praktischen Philosophie zunehmend repräsentativ geworden ist.1 Sie greift damit positiv eine Grundlagenproblematik auf, die sich heute angesichts des sollensethischen Monopolanspruchs und der - damit verbundenen - Einsicht in dessen Mängel und Defizite wieder mit verschärfter Dringlichkeit stellt. Zur Debatte gelangt neuerlich mit dem bereits bei Kant erhobenen Vorwurf der Motivschwäche das Geltungs- und Motivationsproblem, welches sich im Vergleich fundamentaler und elementarer erweist, als die Begründung der Allgemeingültigkeit moralischen Sollens durch moralinteme Prinzipien, was letztlich die Praktikabi l i tat und Effizienz jeder Moraltheorie prinzipiell in Zweifel ziehen kann.2 Die ethische Aufmerksamkeit richtet sich auf die Sinnhaftigkeit moralischen Handelns überhaupt, auf den Nachweis, „daß und warum moralische Forderungen legitim sind, und daß es sich lohnt, moralisch zu sein". Das Konzept einer autonomen praktischen Vernunft stößt an seine deutlichen Grenzen, es bedarf einer Begründung von außerhalb, die moralintern nicht zu leisten ist, von der Moral selbst nicht mehr erbracht werden kann.3 Die Frage, „Was soll ich tun?", weitet sich zur Frage, „Was darf ich hoffen?" Ihre unabdingbare Beantwortung drängt auf eine Vergewisserung zureichender Kontin1 2 3

Vgl. Krämer, H., Integraüve Ethik, S. lOff. Krämer, H., Neue Wege der philosophischen Ethik, S. 87; ders., Integrative Ethik, S. 20f. Krämer, H., Wege, S. 88.

Das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis

21

genzbewältigung, weiterführender Sinnpotentiale und die Aussicht auf mögliche Glückseligkeit, in deren Perspektive das „Ideal eines höchsten Guts" praktische Relevanz gewinnt, Gott zum notwendigen Postulat der praktischen Vernunft wird4. Dieser Zusammenhang eröffnet für die Moraltheologie die Möglichkeit, im Rahmen eines erweiterten, mehrschichtigen Ethiksystems ihre originäre Kompetenz neu zu bestimmen. Sie ist gefordert, in Wahrnehmung des elementaren und letztlich entscheidenden Motivationsproblems die umfassende Sinn- und Heilsdimension des christlichen Glaubens einzubringen als konkretes Angebot an die autonome praktische Vernunft. Ihr originärer Diskursbeitrag sind, gegenüber der moralinternen, im Hinblick auf eine universelle-kognitivistische Ethik autonom zu belassende (Letzt)begründung des Sittlichen5 oder gegenüber der Geltungs- bzw. Anwendungsproblematik, die grundsätzlichen Fragen des guten und glücklichen Lebens, die Plausibilität gelungenen Menschseins im Sinne der Eudämonie. Auf wissenschaftstheoretischer Ebene bedeutet dies das Plädoyer für eine Neuorientierung der Moraltheologie - vorwiegend gedeutet als Sollens- oder Pflichtenethik - an einer weitergefaßten, die antike und frühneuzeitliche Auffassung von Ethik wiedergebende Form der Individual- oder Strebensethik, um so wieder zu einem ganzheitlichen Verständnis zu gelangen. Intendiert ist dabei nicht die Rezeption einer reinen Strebensethik, sondern eine Bereicherung oder Ergänzung des aktuellen moraltheologischen Diskurses um das individualethische Grundelement, welches von sich aus motivationale, subjektzentrierte Aspekte berücksichtigt, um so die Grenzen einer primären Sollensethik auszuweiten in Richtung einer ergänzenden Theorie der guten und gelingenden Lebensführung. Christliche Ethik hat dabei die genuine Bedeutung des Glaubens hinsichtlich der „Begründung" einer autonom entwickelten Sittlichkeit aufzuweisen. Hier gilt es, die Tiefendimension der Theologie im Rahmen einer individualethischen Ausweitung zu sondieren, wobei eine vertiefte Interpretation der anthropologisch-existenziellen Struktur des Glaubens zeigen dürfte, daß gerade theologische Ethik von sich aus einer individuellen Strebensethik mit der Präsenz des Wollens entgegenkommen könnte. Die Moraltheologie hat sich in einer Phase nachkonziliärer Erneuerung mit der Rezeption der Autonomievorstellung mehrheitlich an Kants autonomer Sollens- oder Pflichtenethik zu orientieren versucht und dementsprechend zumindest latent auch ihr Selbstverständnis ausgerichtet. Sie nimmt damit auch in gewisser Weise Maß an einer neuzeitlich ethischen Argumentation6, die das Selbstverhältnis im wesentlichen von der Interpersonal!tat des Sollens, sozionomer Struktur, her deutet. Damit steht sie in Gefahr, mit der individuel4 5 6

Kant, I., KrV B 832-847. KrV A 805. KpV, 224-237. KU § 87. Vgl. die Kritik und Weiterführung von Auers Konzept einer „autonomen Moral" bei Hirschi, H., Moralbegründung, S. 157f. 182ff. Krämer, H., Antike und moderne Ethik, in: ZkTh 80 (1983), S. 186ff.

22

Moraltheologie als Konvergenzethik

len Persönlichkeit und dem Anspruch ihrer eigenen Lebensführung ein ganz spezifisches Element des christlichen Ethos aus dem Blick zu verlieren. Die Wahrnehmung der einzelnen Persönlichkeit, die Wertschätzung der sittlichen Person in ihrer Singularität und Individualität mag seit jeher als konstitutiv gelten für die Auseinandersetzung des christlichen Glaubens mit der antiken Tradition7. Dieses für das Abendland entscheidende kulturanthropologische Grunddatum hat die Moraltheologie zu bedenken, wenn sie daran geht, die angedeutet Korrektur des Selbstverständnisses zu versuchen. Es ist mit Blick auf die Beiträge der gegenwärtigen praktischen Philosophie, sofern sie von einem verwandten Problemstand herkommen8, davon auszugehen, daß das Selbstverhältnis, von dem her das praktische Subjekt zu begreifen ist, der ganz persönliche Umgang mit sich selbst wie die zugehörige Lebensführung im Grunde in die Zuständigkeit der älteren Strebensethik verweisen, eudämonistischer Tradition, und primär durch diese in ihrer praxisrelevanten Ausgestaltung zu regulieren sind. Die moraltheologische Debatte hat, die aktuellen Forschungsinteressen berücksichtigend, in dieser Hinsicht noch nicht wirklich eingesetzt. Es wäre längst überfällig, in positiver Aufarbeitung der eigenen Tradition wieder nach einem weitergefaßten Begriff von Ethik zu suchen, der adäquat - im Sinne einer praxisermöglichenden Nahethik - auch der Situation des individuellen sittlichen Subjekts entspricht, vor allem aber den motivationalen Aspekt ins Zentrum rückt. Eine solche erweiterte Ethikgestaltung ist im Diskurs mit der gegenwärtigen praktischen Philosophie zu verstehen als Wiederaneignung der •etrebensethischen Grundidee/Orientierung, gegen die derzeit noch vorherrschende pflichtenethische Präsenz. Die Ethik des guten und gelungenen Lebens, aristotelisch-thomistischer Provenienz, ist im Gegensatz zum primären Sollen auf ein Wollen und Streben gerichtet, berücksichtigt also zentral den Grundaspekt der Hoffnung, die wohlverstandenen Interessen und Bedürfnisse des Einzelnen; ihre wesentlichen Ziele sind mit Begriffen wie Eudämonie, allseitige Selbstverwirklichung und Selbsterhaltung anzugeben.9 Ziele, die in der katholischen Moraltheologie mit der Orientierung am Autonomiemodell Kants an die Peripherie gedrängt wurden, die aber nunmehr in den Brennpunkt einer zeitbezogenen Ethik rücken. Die Wiederbesinnung auf einen Ethiktypus, welcher mit der Frage des praktischen Selbstbewußtseins korreliert, entspricht dem Bemühen der Moraltheologie, sich ihres Paradigmenwechsels zu vergewissern, die Subjektoption in Theorie und Praxis abzusichern. In ihrem Vorhaben ist ihre Argumentation, wie erwähnt, an das begleitende, den eigenen Horizont erweiternde resp. auch korrigierende Gespräch mit der praktischen Philosophie gebunden; sie nimmt 7 8 9

Burridge, K., Someone, no one. An essay on individuality, Princeton: 1979. Vgl. dazu Honecker, M., Tendenzen und Themen der Ethik, in: ThR 47 (1982), S. 18. Krämer, H., Antike Ethik, S. 185ff; ders., Neue Wege, passim. Krämer, H., Neue Wege, S. 87; ders., Antike und moderne Ethik, passim.

Das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis

23

Ergebnisse auf, sucht sie zu integrieren, soweit sie im christlichen Verstehenskontext entsprechen; heutige Moraltheologie ist, so gesehen, nur noch als Integrationswissenschaft zu verstehen, zu deren methodischen Voraussetzungen der interdisziplinäre Diskurs gehört. Von ihrer Grundthematik her bezieht sich die Strebensethik auf das Handeln des Einzelnen an sich selbst, sie ist zu verstehen als Rehabilitation einer Handlungstheorie, in welcher das Individuum als der eigentliche Handlunsgträger ausgezeichnet und zurückgewonnen wird.10 Ihr Entwurf widmet sich zentral dem Anspruch wie der Regulation der individuellen Lebensführung und ihrer spezifischen Problematik; sie argumentiert dabei nicht individualistisch oder subjektivistisch, sondern ist stets auf eine generische und typologische Allgemeinheit bedacht, ermöglicht so einen generellen nicht universellen Geltungsgrad. Die Strebensethik verfährt in charakteristischer Weise konsiliatorisch11 symbuleutisch, indem sie Empfehlungen, Ratschläge, Klugheitsregeln und praktische Erfahrungssätze ausarbeitet und weitergibt; ihre Leistung besteht in der Bereitstellung von praktischer Lebens- Orientierungs- und Entscheidungshilfe wie moralischen Ratschlägen im engeren Sinn.12 Phänomenologisch findet die Individualethik ihren originären Einsatzpunkt, auf den hin sie ihre Leistungsfähigkeit und Praktikabilität entwickeln kann, in der Reflexion der konsiliatorischen Grund- und Grenzsituationen, unter deren Bedingungen sich menschliches Handeln vollzieht, welche alltägliches Handeln kennzeichnen. Ihre wesentliche Aufgabe besteht darin, die Vielfalt konsiliatorischer Situationen typologisch zu ordnen, zu beschreiben, zu konzeptualisieren und sich selbst als Refiexionsstufe solcher situativer Gegebenheit zu begreifen. Thematisch erfaßt die Sondierung konsiliatorischer Grundkonstellationen neben der Faktizität des menschlichen Daseins, aufgeschlossen im „Daß" mit der unabdingbaren und lebensentscheidenden Handlungssetzung und -unterlasung, die spezifisch den menschlichen Lebensgang konstituierenden Not- und Grenzsituationen, mit der Frage nach dem Lebenkönnen im Ganzen, schließlich die stets zu berücksichtigende Problematik einzelner Handlungs10 11

12

Krämer, H., Plädoyer für eine Rehabilitierung der Individualethik, Amsterdam: B. R. Grüner, 1983, S. 2ff. Zur Suche nach einer „konsiliatorischen Ethik" zuletzt auch K. Demmer, im Kontext sei nes Referates zum Symposium „Christliche Ethik heute": „Erwartungen an die Kirche werden laut, es wird Ausschau gehalten nach überzeugenden Modellen, nach Vorbildern, die stimulieren und inspirieren. Eine reine Normenethik, die das Sollen in eindeutige Sätze faßt, stößt da an ihre Grenzen; sie wird der Vielfalt des Lebens nur bedingt gerecht. Was Ehepaaren fehlt, ist eine konsiliatorische Ethik, die auf den Betroffenen einladend wirkt. Nicht eine Normenethik, eine Haltungsethik ist gefragt", Demmer, K., „Der Ursprung einer Idee", in: Intams Review l (1995) S. 23-28. Vgl. auch, Müller, S. E., Zustimmung zum eigenen Dasein, in: ThG 2 (1997) S. 94-106, hier S. 95. ebda, S. 3.

24

Moraltheologie als Konvergenzethik

aporien. Konstitutiv für die Beschreibung einer konsiliatorischen Grundsituation ist das Vorliegen einer Asymmetrie, eines zweistelligen, nicht paritätischen Verhältnisses zwischen Ratendem und Beratenem mit einem entsprechendem Vorsprung oder Gefalle an Erfahrung. Ethisches Subjekt bildet der sich Entscheidende, der in freier Wahl Empfehlungen oder Warnungen vorzieht oder verwirft.13 In ihrer praxisleitenden Intention leistet die individualisierende Strebensethik als empfehlende und anratende Einflußnahme konstruktive Handlungsregulation; sie zielt auf richtiges und besseres Verhalten. Ihr eignet in diesem Sinn eine bestimmte Art von Normativität, die abweicht vom Begründungsmodus einer Sollens- oder Pflichtenethik. Ihr Normentypus unterscheidet sich durch die nur anratende oder anheimstellende Verfahrensweise ebenso wie er auf einen niedrigeren Generalisierungsgrad anzusetzen ist. Praktische Lebens- und Entscheidungshilfe wie die Optimierung des Verhaltens äußeren sich in der Empfehlung des Besseren und in der Warnung vor dem Schlechteren. Soweit darin typologische Handlungsregeln eingeschlossen sind, haben sie normativen Charakter konsiliatorischer Art, d.h. es ist, um bestimmte Ziele zu erreichen, angezeigt, ihnen gemäß zu handeln, entsprechend etwa dem hypothetischen Imperativen Kants. 14 Die Individualethik repräsentiert die konsiliatorische Grundstellung der Ethik in reinster Form, woraus sich ihr struktureller Primat innerhalb der ethischen Diskussion erklären läßt; sie stellt in diesem Sinn die Reflexionsstufe einfachster vorwissenschaftlich-lebensweltlicher Verhältnisse zwischen Personen dar, versucht diesen gerecht zu werden. Selbstberatung des Einzelnen wie die konsiliatorische Leistung der Ethik stehen dann zueinander komplementär, in der Deutung des Verhältnisses, daß jede von beiden ohne den anderen prinzipiell defizitär bleibt und auf seine Mitwirkung angewiesen ist.15 Die Möglichkeit eines individualethischen Entwurfs ist an die Wahrnehmung der für die konsiliatorische Situation bezeichnenden Asymmetrie und ihres entsprechend ratgebenden wie ratnehmenden Verhaltens gebunden; deren Nivellierung zugunsten einer abstrakten Parität und Reziprozität rückt sowohl die zugehörige Lebenspraxis als auch die konsiliatorische Grundstellung der Ethik selbst aus dem Blick. Die Individualethik verbindet darin eine gewisse Kritik an einer Lebensund Praxisferne bestehender, vorwiegend auch sozialethischer Ansätze, als deren Ergänzung sie deshalb zu werten ist. „Der von den Konsensethikern fiktiv verallgemeinerte Sonderfall, daß Interesse und Erfahrung bei den Kommunikanten kongruieren oder konvergieren, wird bei weitem überwogen durch die Fälle, wo Erfahrung und Interesse divergieren und sich gegenläufig, ja komplementär zu einander verhalten". Genau in der Wahrnehmung dieser Diffe13 14 15

ebda., S. 7. ebda., S. 35ff. ebda., S. 3f.

Das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis

25

renz oder des Dissenses liegt jedoch die Produktivität der konsiliatorischen Situation und die Chance einer ihr entsprechenden ethischen Sondierung. In der Tendenz, „alle asymmetrischen Kommunikationsverhältnisse als Vorstufen einer universalen egalitären Symmetrie zu mediatisieren", überspringt die Konsensethik „mit dem konsiliatorischen Grundverhältnis jede konkrete, praxisleitende und -ermöglichende Nahethik zugunsten einer geschichtsphilosophisch-utopischen Fernethik".16 Die Realisation eines formalen und abstrakten letztlich universal gültigen (auf universale Verallgemeinerungsfähigkeit hin ausgerichteten) Konsenses unter den Bedingungen der idealen Kommunikationsgemeinschaft führt zum charakteristischen Defizit am konkreten Handeln; Geltungsgrad und Operationalisierbarkeit im Sinne handlungsleitender und handlungsfördernder Effizienz stehen im umgekehrten proportionalen Verhältnis. Ein demgegenüber kritischer Ansatz reflektiert die unaufschiebbare Dringlichkeit der alltäglichen Lebensprobleme, der faktischen Lebensführung des Einzelnen: „Die Notwendigkeit des alltäglichen Handelns und Entscheidens hie et nunc erfordert vordringlich und mit Priorität eine effiziente Regulierung und Orientierung, für die eine jederzeit abrufbare, präsentische Ethik mit konkreten und praktikablen Erfahrungsbeständen bereitgestellt werden muß". Da vorzugsweise die Strebensethik die unmittelbare lebensweltliche Konkretion erfaßt, ist ihr in dieser Hinsicht ein Primat einzuräumen: „Der Einzelne kann seine Lebensführung nicht suspendieren, bis ein einschlägiger Konsens hergestellt ist oder gar bis bestimmte ideale Konsensbedingungen realisiert sind". Das individuelle Subjekt ist, um seine Lebensführung überhaupt gestalten zu können, auf den konsiliatorisch-symbuleutischen Sukkurs anderer angewiesen. Die Individualethik ist, so gesehen, einer konsensuell bestimmten Femethik vorgelagert resp. bedarf jene in ihrer Ermöglichung einer praktikablen Individualethik. Sie leistet eine inhaltliche Konkretisierung ethisch-praktischer Realität, ohne die eine konsensuell erzeugte Normativität einer Sollensethik nicht operationalisierbar wäre. Hier zeigt sich ein wechselseitiges Bedingungs- und Fundierungsverhältnis, welches das Konzept einer ganzheitlichen Ethik mit der Berücksichtigung beider eigenständiger Ethikformationen angezeigt erscheinen läßt.17 In ihrem Leistungsbereich korreliert die Strebensethik mit dem von jedem Subjekt zu führenden ethischen Grundsatzdiskurs. Ihre konsiliatorische Funktion entspricht dem Subjektivität konstituierenden Selbstbewußtsein, näherhin der Selbstberatung des Einzelnen, sie unterstützt die in der praktischen Frage zur Diskussion gestellte Perspektive eines gelingenden Verhältnisses von Selbst und Welt, hilft therapeutisch-pragmatisch darüber Aufklärung zu schaffen. Die Möglichkeit einer Individualethik geht so vom Paradigma des Ratschlags aus. Das erklärte Ziel ist, den einzelnen Handlungsträger oder Be16 17

ebda., S. 6f. ebda., S. 15ff.

26

Moraltheologie als Konvergenzethik

ratenen in seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung, seiner konkreten Handlungs- und Entscheidungsfreiheit zu antizipieren, ihn in seinem Können und Könnenwerdenkönnen aus- und weiter fortzubilden.18 Wesentliches Moment bildet dabei die Reflexion der konsiliatorischen Grundsituation und die darin sich vermittelnde Dimension der Erfahrung, welche für die Ermöglichung selbstbewußter Subjektivität konsumtiv ist Die für die konsiliatorische Fragesituation charakteristische asymmetrische kommunikative Beziehung zwischen Ratgeber und Ratnehmer geht so wie die darauf bauende Strebensethik von der Tatsache aus, „daß es vermittelte Erfahrung gibt, d.h., daß die Erfahrungen, die andere handelnd oder leidend gemacht haben, an potentielle Akteure weitergegeben werden können". Das Prinzip einer Übertragung von Fremderfahrung erweist sich sowohl im individuellen als auch im sozial-gesellschaftlichen Bereich als notwendig und wirksam. Der Einzelne ist in seiner Lebensführung durch die Begrenztheit seiner Wahrnehmungsfähigkeit auf die vielfältigen, auch divergierenden Erfahrungen und Erkenntnisse anderer angewiesen, ohne die es für ihn unmöglich ist, Vorstellungen des guten Lebens zu entwerfen oder in der optimalen Realisation abzusichern. Vom Ratschlag hängt weitgehend die Lebensfähigkeit des Menschen wie die Lebensqualität im besonderen ab, er verhilft in der Reaktion auf positive wie negative Lebenssituationen sowohl zum Handeln wie zum Lebenkönnen, „indem er Lebenserfahrung, d.h. aber die Wiederholbarkeit effizienten Handelns und Sichverhaltens, weitervermittelt. Nur die prinzipiell wiederholbare Handlung impliziert einen starken Könnens begriff und garantiert damit Autarkie und das erstrebte Gute. "19 Die theologische Ethik in der Grundorientierung einer eudämonistischen Strebensethik artikuliert und verifiziert mit der Subjektivität die fundamentalen Interessen am geglückten und erfüllten Leben des Einzelnen, reflektiert dessen Freiräume und bringt von sich aus die in der praktischen Überlegung implizierte Frage nach dem Guten ein. Sie bietet im Gegensatz zur Sollensethik einen wesentlich affirmativen, nicht nur negativistischen, restriktiv-prohibitiven Begriff des Guten vor, erläutert damit die Motivation zum positiven Handel. Mit der umfassenden Frage nach der Eudämonie, dem geglückten und sinnvollen Leben, grenzt sich die Strebensethik einerseits vom Hedonismus, asozialem Individualismus oder von verschlossener Egozentrik deutlich ab, widmet sich aber gleichzeitig zentraler Themen wie Selbsterhaltung, Selbstrealisation, Identitätsgewinn oder Selbsterfüllung als Person. Ihr theoretischer Reflexionsbereich ist der Bereich der Lebenskunst, entsprechend einer

18 19 20

Vgl. Krämer, H., Neue Wege, S. 92. ebda., S. 25. Krämer, H., Neue Wege, S. 90.

Das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis

27

Praxis spezifische Könnens und Wollens, in Korrespondenz und Ergänzung zu derjenigen des Sollens der Pflichtenethik21. Lebenskunst artikuliert das Einzelne und je Konkrete, sucht dadurch optimierend ein angemessenes Weltverhältnis zu gewinnen, wobei es heute weniger um „Optimierung und Sublimierung eines verfeinerten Lebensvollzugs", sondern um richtige und erfolgreiche Lebensführung, um umfassende Bewältigung und Meisterung der Lebensprobleme überhaupt geht, näherhin um „das durchschnittliche Grundkönnen des Lebensvollzugs insgesamt, ja darüber hinaus um ein fundamentales Überleben in der Abwehr von inneren und äußeren Existenzkrisen".22 Als Subjekt der Strebensethik gilt zwar der Einzelne, er ist als Subjekt der Lebenskunst, „der sich insgesamt aufs Leben Verstehende", was aber nicht auf individualistische Interessensverengung deuten läßt. Lebenskunst kann in Analogie prinzipiell auf Uberindividuelle Strukturen bezogen werden; die Strebensethik ist im Sinne einer integrativen Verfassung als Klugheits- und Tugendlehre im Rahmen eines sozialen Gruppenhandelns auch auf gemeinsam geplante, verfolgte und koordinierte Gruppeninteressen, -ziele und -Strategien hin offen.23 Übernimmt die theologische Ethik den für weite Teile des Lebensvollzugs geltenden strebensethischen Kompetenzanspruch und sucht ihn zu erfüllen, so liegt eine vorrangige Aufgabe darin, Aufklärung zu leisten, was der Einzelne in seinem unvertretbaren Interesse selbst will resp. wozu er in seinem Können befähigt ist. Die für die Organisation der Lebensbelange des Subjekts zuständige Theoriebildung der Strebensethik hebt in dieser Hinsicht ausdrücklich auf eine affirmative Bestimmung des praktischen Guten ab. Die Explikation dessen, was das gute Leben beschreiben soll, geschieht dabei in Verifikation der Subjektivität des Handelnden resp. des praktischen Selbstbewußtseins; das dabei konstitutive Welt- wie im Kontext der Theologie prioritäre Gottesverhältnis ist im Selbstverhältnis zu zentrieren; in Betracht kommt der umfassende Begriff von Eudämonie, im Sinne des gelingenden oder geglückten Lebens, welches später als „qualifizierte Relation"24 zu beschreiben sein wird. Die Moraltheologie in der Orientierung an strebensethischen Grundanliegen hat ihren wissenschaftstheoretischen Status zu bedenken. Sie muß sich im interdisziplinären Gespräch auf Basis einer vertieften Reflexion ihres eingebrachten Vorverständnisses und ihrer Erkenntnisinteressen um eine kritische Klärung ihres Verhältnisses zu den Einzelwissenschaften bemühen und hat dabei zugleich auf ihre Eigenständigkeit und Autonomie zu achten. 21 22 23 24

Vgl. dazu Krämer, H., Plädoyer für eine Philosophie der Lebenskunst, in: Information Philosophies (1988), S. 10. ebda., S. 7. ebda., S. 7. Vgl. Krämer, H., Selbstverwirklichung, in: Bien, G. (Hrsg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog, 1978, S. 21; ders., Prolegomena zu einer Kategorienlehre des richtigen Lebens, in: PhJ 83 (1976), S. 80ff.

28

Moraltheologie als Konvergenzethik

Christliche Ethik, sofern sie sich von ihrer Programmatik her als Anwalt des Subjekts versteht, thematisiert das Selbstverhältnis des Handelnden und sucht von diesem Standpunkt aus den elementaren Welt- und Gottesbezug herzustellen. Indem die individuatethische Option von sich aus ihrer Anwaltfunktion gegenüber dem Anspruch der Subjektivität gerecht werden will, muß sie sich auch der Frage widmen, wie sich der Handelnde zu den größtenteils kontroversen Angeboten und Ergebnissen der Einzelwissenschaften beurteilend, selektierend, kooperativ oder kritisch verhalten kann25. Sie wird sich in Wahrnehmung ihrer Aufgabe, das Subjekt in seiner sittlichen Kompetenz handlungs- und entscheidungsfähg zu setzen, zu vergewissern haben, wie es dessen Interessen in der offenen und zugleich kritisch-sondierenden Begegnung mit den Tatsachenwissenschaften bewahren, entfalten und deren oftmals verwirrenden Ergebnisse für sich nutzbar machen kann. Dieser therapeutisch-konsiliatorischen Grundfunktion der originären Individualethik in bezug auf das Handlungssubjekt entspricht adäquat ihre eigene Stellung als Wissenschaft innerhalb der wissenschaftstheoretischen Diskussion; die Komplexität und Unübersichtlichkeit der postmodernen Gesellschaft und die darin sich artikulierenden Einzelwissenschaften fordern heute geradezu den individualethischen Diskurs heraus. Ein allseitiger Pluralismus wie die zunehmende gesellschaftliche Differenzierung bedürfen zwar unabdingbar der sozialen Normierung und Koordination an sich selbst, benötigen aber darüber hinaus als Pendant ebenso eine qualifizierte Interpretation wie effektive Bewältigung durch eine individualethische Grundsatzreflexion. In diesem Sinn wäre die gegenwärtige Hochkonjunktur einer individualisierenden Hermeneutik wie die einer Handlungstheorie zu deuten, welche im Individuum den eigentlichen Handlungsträger erkennt, was vor allem im Hinblick auf die Humanwissenschaften und ihrer im Kontext der Frage des guten Lebens stehende Verfahrensweisen Geltung haben dürfte, deren ständig wachsendes, oft widersprüchliches, insgesamt kaum mehr überschaubares Wissensangebot direkt nach einer allgemeinen individualethischen Sondierung hinsichtlich Zielvorgabe und Programme verlangt.26 Dies scheint eine wesentliche Anfrage auch an die strebensethische Kompetenz der theologischen Ethik zu sein, der sie sich in ganz besonderer Weise künftig stellen muß. Als praxisleitende Wissenschaft steht die theologische Ethik im Dienst der Heilung des Einzelnen, hilft bei der Klärung zur Konstitution des praktischen Subjekts. Im Sinne einer therapeutischen Ethik leistet sie praktische Lebens- und Orientierungshilfe, erteilt Ratschläge, die die alltägliche Situation verändern und die auch teils kontrovers zur öffentlichem Meinung verlaufen können. Sie findet ihre pragmatische Bewährung nicht nur in der konkreten Bewältigung aktuell sich stellender Konfliktsituationen, sondern auch in der Aufklärung darüber, wie der Umgang mit an sich unlösbaren 25 26

ebda., S. 15f. Krämer, H., Individualethik, S. 17f.

Das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis

29

Problemlagen möglich sein kann. Aufgrund der strebensethisehen Reflexion des menschlichen Daseins und seiner konsiliatorisehen Grundaspekte ist es ihr möglich, im offenen Diskurs alltägliche Lebenssituationen in ihrer denkbaren Widersprüchlichkeit oder auch Paradoxe anzuerkennen, sie - ohne versuchte Zwangsharmonisierung - bis ans Ende hin zu durchdenken, dabei in der nötigen Redlichkeit des Denkens und Argumentierens zu schulen, um auf diese Art eine Bewältigung oder auch Integration im Rahmen eines gelungenen Lebensentwurfs herbeiführen zu können. Mit der erwähnten Neubesinnung des Selbstverständnisses verdichtet sich das Anliegen für das Konzept einer Ethik, die nicht nur „reaktiv" wirkt, deren therapeutische Reflexion oftmals spät oder zu spät einsetzt. Angepeilt wird die Kompetenz der theologischen Ethik in Richtung einer prospektiven Ethikform auszubauen, welche die Problemwahrnehmung wirklich leitet, die mit der alltäglichen Lebensführung immer schon die möglichen Problemfelder wie Entscheidungsfragen bedenkt, diese in darüber hinausgreifende Erkenntniszusammenhänge einzuordnen vermag27; vor allem aber im Hinblick auf das einzelne Subjekt, dessen primär auch innere Problemwahrnehmung vorbereitet, indem sie zunächst die denkerischen Voraussetzungen im Rahmen einer expliziten Ethik der inneren Handlung zu klären versucht, um sie dann für einen praxisrelevanten Einsatz verfügbar zu machen. In dieser Hinsicht wäre der Bereich der inneren Handlung mit dem Schwerpunkt von Wahrnehmung und Interpretation von Erfahrung für die Ethik zu bedenken, die den geordneten Aufbau der eigenen und soziokulturellen Welt regulieren. Die Komplexität der eigenen subjektiven inneren Tätigkeiten, geistigen Leistungen und Vollzüge, sei es Erkenntnis- Wahrnehmungs- oder Phantasiearbeit und deren Koordination, wird in dem Maß ethisch zu verantworten sein, als sie jene unabdingbare Voraussetzung darstellen, aus der heraus erst die für jede richtige und gute Lebensführung notwendige Interaktion, Vermittlung und Übereinstimmung der Erfahrungs- und Wissensbestände gelingen kann. Für die strebensethische Konzeption, welche mit der elementaren Anerkennung menschlicher Subjektivität und individuellen Selbstbewußtseins prioritär aus der Perspektive des Subjekts und seiner Innerlichkeit denkt, aus deren gelungener Strukturierung heraus die Organisation der Selbst- und Welt/Umwelterfahrung erfolgt, erscheint es in diesem Zusammenhang wesentlich, auf die Intersubjektivität als relevantes Kriterium aufmerksam zu machen, sodaß sich die Verantwortung denn auch auf deren Herstellung beziehen muß. Im Interesse einer Klärung, Sondierung resp. kritischen Überprüfung eigener Zielvorstellungen, Hypothesen und Strategien der Lebensbewältigung, ist die Perspektive des Subjekts und ihres Erfahrungsbereichs wesentlich auf die Kooperation wie den konsensuellen Austausch mit der ebenso 27

Vgl. Ulrich, H. G., Wege und Perspektiven ethischer Diskussion, in: VuF l (1989), S. 24.

30

Moraltheologie als Konvergenzethik

subjektiven Sicht des anderen und seiner entgegengebrachten Fremderfahrung angewiesen, sodaß im Übergang von individuellem und sozialem Handeln Verantwortung flir die Erzeugung, Ermöglichung und Erhaltung von Intersubjektivitäten und konsensuellen Verständigungsbereichen einzufordern ist. Die ethische Aufmerksamkeit richtet sich denn auf den anderen, fordert auf, ihn in seinem Selbstbewußtsein und seiner praktischen Subjektivität antizipativ anzuerkennen und in konsensueller Verständigung seinen zu führenden Grundsatzdiskurs zu unterstützen resp. darüber beratend Aufklärung zu leisten. Mit dem Umdenkprozeß, der das Selbstverständnis einer prospektiven Ethik begünstigen soll und deren Option einzulösen vermag, wird die aktuelle Moraltheologie auch eine wissenstheoretische Auseinandersetzung zu leisten haben, aus der eine für sie spezifische und teils neue Aufgabenstellung erwachsen dürfte. In einer Differenzierung jener vorfindbaren Wissensformen, welche für die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des sittlichen Subjekts Relevanz gewinnen, welche auch jeweils unterschiedliche Zugänge zum Welt- und Selbstverständnis repräsentieren oder anbieten, dürfte heute deutlich werden, daß der Schwerpunkt auf spezifische Arten von „Orientierungswissen" gelegt werden müßte, im Sinne eines regulativen Wissens um begründete Ziele und Zwecke, das zur übergreifenden Orientierung in der Welt wie im eigenen Lebensbereich dienen kann.28 Die theologische Ethik hat hier gegenüber dem heute einseitig dominierenden „Verfügungswissen", als einem positiven strategischen Wissen um Ursachen, Mittel und Zwecke, aus dem heraus der instrumentelle Zugriff auf die Welt erfolgt, ausgleichend auf eine ausgewogene Verhältnisbestimmung beider hinzuwirken; indem sie ihre zentrale Funktion wahrnimmt, von sich aus auch theologisches Orientierungswissen, begründet im Erfahrungshorizont des christlichen Gottes29, auf Basis einer spezifischen theologischen Theorie der Ethik zu entwickeln, zur Verfügung zu stellen und zu diskutieren. Ein derart qualifiziertes und für die Lebensgestaltung verbindliches Wissen gewinnt, individualethisch betrachtet, seine Leistungsfähigkeit gerade im Hinblick auf den Prozeß der ethischen Subjektivierung oder der Führung des praktischen Grundsatzdiskurses, in dessen Rahmen dann auch der - heute dringlich geforderte - kompetente Umgang mit den - im Prinzip wertneutralen - einzelwissenschaftlichen Ergebnissen und Tatsachen zu rechnen ist. Theologische Ethik muß hier im Blick auf sich selbst wie auf ihre Aufgabe und Verantwortung dem Einzelnen gegenüber stets auf ein offenes, sensibles und kooperatives Verhältnis bedacht sein, zugleich aber auch zu einem selektiven und kritisch beurteilenden Umgang mit dem heute widersprüchlichen und verwirrenden Angeboten an wissenschaftlichen Befunden und Deutungen 28 29

Mittelstrass, J., Philosophie in einer Leibniz-Welt. Über einige Aspekte der Modernisierung, in: NZZ, 6. 6. 1990, S. 34. Vgl. Oelmüller, W., Philosophisches Orientierungswissen, in: PhJ 95 (1988), S. 103.

Das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis

31

anleiten; sie wird so angesichts der Fragesituation des Diskursteilnehmers ihre in sie gesetzten Erwartungen zunächst dahingehend erfüllen, indem sie in der konkreten Handlungs- und Entscheidungssituation umfassend und ohne Vorbehalt oder auch bewußter Verkürzung über die sittlich relevanten Gesichtspunkte informiert und aufklärt, in diesem Sinn operatives, für die Lebensgestaltung nötiges Wissen bereitstellt. Die erwähnte Unterscheidung zwischen Verfügungswissen, größtenteils ermittelt und repräsentiert durch Wissenschaft, Forschung und Technik einerseits und regulativem Orientierungswissen andererseits, welche jeweils unterschiedliche Zugänge zur Wirklichkeitsdeutung darstellen, macht für die theologische Ethik mit der positiven Gewichtung des zur Verfügung gestellten Orientierungswissens ein wesentliches Desiderat sichtbar. Sie bedingt von ihren Voraussetzungen her die im spät- oder postmodernen Pluralismus und einer fortgeschrittenen Differenzierung von Wahrheits- und Geltungsansprüchen längst überfällige Neuakzentuierung der praktischen Vernunft. Hier eröffnet sich für die theologische Ethik die positive Chance, und wird auch als solche wahrzunehmen sein, einen spezifischen Beitrag für die Realisation des christlichen Glaubens anbieten zu können. Gegenüber dem Festhalten am eindimensionalen Rationalitätsmodell und dessen Wahrheitsanspruch auf Basis einseitig kognitiv-instrumenteller Rationalität wäre nach einem erweiterten und umfassenden Begriff von praktischer Vernunft zu suchen, der im wesentlichen eine Rekonstruktion der ästhetisch-emotiven, affektiv-passiven Anteile vorsehen müßte. Praktisch-ästhetische Vernunft zielt auf regulative Orientierung, indiziert Orientierungswissen gegenüber einseitig strategischer Verfügung instrumenteller Vernunft. Daran bindet sich die ethische Bewertung der Phantasie.

2.2. Die Frage nach Glück und Eudämonie Theologische Ethik bedenkt die Rehabilitation des praktischen Subjekts. Sie widmet sich dem Wollen, der Hoffnung, den fundamentalen Interessen wie dem Glucksbedürfnis des Einzelnen; ihr Gegenstand ist der von jedem Subjekt selbst und im Konsens mit anderen Subjekten zu führende ethische Grundsatzdiskurs. Mit der Grundfrage nach dem geglückten Leben und dem höchsten Gut übernimmt die Ethik ihre eigentliche Aufgabe, über die Begründung moralischer Verhaltensformen hinausgehend, Entwürfe für eine Theorie des guten und gelungenen Lebens zu erstellen. In der Entwicklung von plausiblen Gestalten gelungenen Menschseins, deren Diskurs auch nach dem II.Vatikanischen Konzil noch nicht wirklich be-

32

Moraltheologie als Konvergenzethik

gönnen hat,30 kann die Moraltheologie heute die Chance wahrnehmen, auf den allseits vorfindbaren ethischen Pluralismus, dem eine offene pluralistische Interpretation des Wahrheitsverständnisses entspricht, produktiv zu reagieren und diesen auch in das eigene System zu integrieren. Sie verleiht damit ihrem Bemühen Ausdruck, die heute weitgehend verlorene Diskurs- oder Argumentationsfähigkeit im öffentlichen Meinungs- und Bewußtseinsprozeß wiederzugewinnen. In unmittelbarem Zusammenhang damit entsteht ein neues, fundamentales Desiderat, mit dem die Moraltheologie bislang nicht befaßt ist, dem aber - so die Grundthese der vorliegenden Untersuchung - entscheidende Bedeutung bei der Klärung und Vermittlung des spezifisch Eigenen einer christlichen Ethik zuzumessen ist. Die individualethische Orientierung fragt nach dem individuell und sozial gelungenen Leben, thematisiert mit der Konstituierung des Handlungssubjekts (der Handlungssubjekte) über das praktische Selbstverhältnis zentral das Problem der individuellen Lebensführung; sie sucht nach übergreifenden Entwürfen einer Sinntotalität des guten Lebens. Hier kündigt sich eine neue Gesprächsebene an. Grundfragen der Ethik verschieben sich zum Bereich der Ästhetik. Es entsteht das Anliegen und auch die Notwendigkeit, über bisher bestehende Konzepte hinausgehend, den Diskurs mit der Ästhetik zu suchen. Ethische Selbstrealisation geschieht in Affinität zum Prozeß künstlerischen Schaffens. Das kreativ-schöpferische Subjekt wird so zum Paradigma eines neuen ethicoästhetischen Glaubenssubjekts. Theologische Ethik korreliert mit dem von jedem Subjekt zu leistenden Entwurf einer Ästhetik der Lebenspraxis; sie versucht in der Orientierung an der konkreten Situation des tätigen Subjekts handlungsrelevante Ratschläge und Konzepte zu erstellen, zur Praxis einer schöpferisch-innovativen Lebensführung. Der gesuchte Dialog mit der Ästhetik ist - so die Grundannahme - für die Moraltheologie weitgehend entscheidend hinsichtlich der Bestimmung einer christlichen Identität wie auch des Stellenwerts oder der Bedeutung, welche dem christlichen Glauben im öffentlichen Bewußtsein künftig noch zugemessen werden wird. Es ist notwendig, um der fundamentalen Aufgabenstellung gerecht zu werden, durch den Aufweis von überzeugenden Gestalten geglückten und gelungenen Menschseins, einen spezifisch eigenen Beitrag zur Konsensbildung zu leisten. In diesem Sinn wird viel davon abhängen, inwieweit es gelingt, im Bereich der ganzheitlich geweckten sittlichen Vernunft den ästhetischen Gehalt freizulegen und für die Alltagspraxis verfügbar zu machen, wobei sich in erster Linie die Aufmerksamkeit auf das Wirkprinzip der Phantasie31 in ihrer ausgewiesen ethico-ästhetischen Gestalt richtet wird müssen, welches über das Glücken oder Scheitern eines Lebensentwurfs mitentscheidend ist.

30 31

Honnefelder, L., Anpassung, S. 27 Vgl. Guth, R., Das Prinzip Phantasie, Wien 1987.

Die Frage nach Glück und Eudämonie

33

In das Zentrum der ethischen Theorie rücken Fragen der gelingenden und erfüllten Lebensführung, der Selbstgestaltung und Selbstverwirklichung als Mensch, die Suche nach einer geglückten personalen Existenz und Lebensform. Mit der Thematisierung des umfassend individuell und sozial gelungenen, guten Lebens findet der theologisch-praktische Diskurs seinen wesentlichen Referenzpunkt im Selbstverständnis einer spätmodernen Handlungswissenschaft. Das Theorem des Guten signalisiert die konsequent vollzogene neuzeitliche Wende zum Subjekt, die Idee oder die Vision des Guten wie das Glück werden zu Schlüssel- oder Basisbegriffen einer theologischen Ethik, deren Ausarbeitung und denkerische Bewältigung in genuin christlicher Perspektive ansteht; sie bilden die wesentliche Herausforderung, an der sich die Argumentation in ihrer Plausibilität zu bewähren hat. Vorrangig angesprochen ist die handlungstheoretische Bestimmung eines Subjekt- oder Personkonzepts im Kontext des Guten. Der Begriff der Person wie der des Guten sind im Wechselverhältnis zu klären, zur Debatte steht der ganzheitlich gelingende und glückende Lebensentwurf der Person in ihrer Ausrichtung auf Wahrheit und Wirklichkeit. In diesem Zusammenhang wird sich die Explikation der Tradition in mehrfacher Hinsicht einer existenziellanthropologischen Grundlegung zu vergewissern haben, mit der Rechenschaft über die wesentlichen Grundkonstellationen und Grundbedingungen, unter denen sich menschlich-personales Leben vollzieht. Die theologische Ethik steht vor dem Anspruch einer Rekonstruktion und Erneuerung einer Ethik des guten Lebens. Sie entwickelt - ausgehend von anthropologischen Überlegungen - unter dem Begriff des Guten Zielvorstellungen sinnvollen sittlichen Handelns und sucht damit als wesentlich ideologisch orientierte Ethik die Wiederaufnahme und Verständigung mit der Tradition des Eudämonismus zu leisten.32 Mit dem geplanten Perspektivenwechsel vollzieht sich das Projekt einer Rehabilitierung der antiken, prämodernen Ethik aristotelisch-thomistischer Provenienz gegen die Konzeption einer reinen Sollens- oder Pflichtenethik. Die Neuaufnahme der antiken Frage nach dem wahrhaft Gewollten, den wohlverstandenen eigenen Interessen oder dem wirklichen Glück33, in deren Kontext erst sekundär die Frage nach dem moralisch Gesollten ursprünglich gestellt wurde, impliziert die Kritik an der vorherrschend pflichtenethischen Präsenz in der gegenwärtigen Moraltheologie; mithin auch an dem, gerade im katholischen Gesetzesdenken nach wie vor virulenten Einwand, die Eudämonie diskreditiere das eigentliche Wesen des Ethischen. Als repräsentative Form des neuzeitlich-modernen Ethikverständnisses bleibt Kants Entwurf defizitär hinsichtlich Stellung und Beurteilung des individuellen Handlungssubjekts; ebenso was Inhalt des moralisch Gebotenen be32 33

Vgl. Wiebering, J., Auf der Suche nach einem geglückten Leben, in: Theologische Literaturzeitung 112 (1987), S. 8. Tugendhat, E., Probleme der Ethik, Stuttgart: Reclam, 1984, S. 50.

34

Moraltheologie als Konvergenzethik

trifft wie die angesprochene Motivation zum moralischen Handeln: So läßt sich heute zurecht fragen, ob „das Prinzip der Eudämonie, das Streben nach Glück wirklich die Euthanasie der Moral"34 bedeutet. Die Problematik der eigenen gelungenen Lebensgestaltung mit einer Konzeption des Guten als motivationale Voraussetzung und Beurteilungskontext des sittlich Richtigen und der sozialen Gerechtigkeit findet in Kants Moralbegriff keine thematisch zureichende Auseinandersetzung mehr.35 An diesem Einsatzpunkt ist die theologische Ethik als Handlungstheorie gefordert, ihre Option wahrzunehmen für eine Erneuerung im ethischen Denken der Gegenwart. Im Hinblick auf eine umfassende Argumentation wird sie sich dabei - entsprechend der anthropologischen Vorgabe - nicht nur um die Formulierung des guten, sondern im Pendant dazu ebenso über die stets latente Möglichkeit des mißglückten und gescheiterten Lebens, der Dysdämonie zu verständigen haben, als eine im Person- resp. Subjektbegriff verankerte Dimension des menschlichen Daseins. Die Reflexion muß sich, so gesehen, ausdrücklich auch auf die „problematische Natur der menschlichen Lebensführung und Weltgestaltung von Menschen" beziehen. „Ethik ist dann nach christlichem Verständnis nicht allein die Lehre vom Guten und vom richtigen Leben, sondern auch und umfassender die Lehre vom Umgang des Menschen mit der ganzen Wirklichkeit, also auch mit dem, was das andere des Guten ist, mit der Sünde, dem Bösen, dem Widerspruch und Konflikt'96. In der Aufarbeitung ihres gestellten Forschungsprogramms wird die theologische Ethik zunächst das Gespräch mit der gegenwärtigen praktischen Philosophie und Ethik suchen, um konkrete Orientierung zu finden für Lösungsvorschläge einer sinnverwandten Problematik, um auf diese Weise den eigenen Deutungshorizont und das eigene Denksystem zu weiten, und so auch mehr die geforderte Plausibilität der eigenen - theologischen Argumentation abzusichern. Gerade in dieser Hinsicht sind überkommene Positionen oder rezipierte Traditionen kritisch zu hinterfragen, im Gegenzug wären innovative Vorschläge und Entwürfe überfällig, angesichts des Bedeutungsverlustes, was die Relevanz theologischer Aussagen und ihres Wahrheitsanspruchs betrifft. In diesem Sinn nimmt die theologische Ethik den Diskurs mit Traditionslinien auf, welche seit geraumer Zeit, vor allem über den angelsächsischen Raum eine ähnliche Diskussion verfolgen. Darüberhinausgehend wird die theologische Ethik aber selbst zu beurteilen und zu konkretisieren haben, was im christlichen Sinn Entwürfe des guten und geglückten Lebens bedeuten können, wie Gestalten gelungenen Menschseins zu konzipieren sind, so daß sie in ihrer Plausibilität überzeugend wirken. Indi34 35 36

Krämer, H., Selbstverwirklichung, in: Bien, G. (Hrsg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart: frommann-holzboog, 1978, S. 27. Tugendhat, E., Probleme, S. 46ff. Rentdorff, T., Ethik, Stuttgart: Kohlhammer, 1980, S. 41.

Die Frage nach Glück und Eudämonie

35

ziert ist eine zumindest annäherungsweise verallgemeinerungsfähige und konsensfähige Ausgestaltung einer Vision des guten Lebens. Es wäre dabei primär zu überlegen, welchen spezifischen Begründungs- resp. Diskursbeitrag, ausgehend von einem anthropologisch-existenziellen und glaubensneutralen Basisbezug, der Sinn- und Erfahrungshorizont des christlichen Glaubens zu leisten vermag. Theologische Ethik trifft sich gegenwärtig mit einer Vielzahl von verschiedenen Beiträgen aus dem Bereich der praktischen Philosophie, wenn sie sich dem Vorhaben stellt, das seit dem II. Vatikanischen Konzil vorherrschende Ethikkonzept einer kritischen Revision zu unterziehen. Sie geht im breiten, weitgehend gemeinsamen Konsens davon aus, daß jeder Konzeption des moralisch Richtigen und sozial Gerechten immer schon eine Vision oder Idee des individuell und gemeinschaftlich Guten zugrundeliegt37. Die evaluativen Fragen des guten Lebens sind, so gesehen, den normativen Fragen des Rechten und Gerechten vorgelagert. Erst im Kontext einer Verständigung über gutes Leben sind Überlegungen zum Gerechten und normativ Richtigen zu erörtern, erhalten ihren explikativen und motivationalen Hintergrund. In diesem Sinn werden moralische Verpflichtungen nur als Teil einer umfassenden Orientierung am Guten verständlich und sind von daher verbindlich zu machen. Was hier allgemein für die Moralphilosophie gilt, mag im weiteren Sinn auch für die Moraltheologie gelten: Sie muß nicht nur eine Theorie der Bedeutung solcher Konzepte des Guten verkörpern, sondern darüber hinaus deren Anwaltfunktion übernehmen. Korrelativ zur praktischen Philosophie wird sie deshalb nicht ausschließlich Explikation und Begründung von Normen betreiben dürfen, sie wird sich ebenso als Ethik der Lebensgestaltung kenntlich machen müssen.38 Als praxisreflektierende Wissenschaft widmet sich die christliche Ethik nicht mehr ausschließlich oder vorrangig der Frage nach der Normbegründung, sondern sieht sich als Theorie der Lebensführung neu gefordert, erkennt darin ein neues Bewährungsfeld. Sie versteht sich in diesem Sinn als Anwältin und Interpretin der evaluativen Fragen konkreter und praktischer Formen guten und gelingenden Lebens. Dem Ungenügen am vorherrschenden Verständnis als Normtheorie folgt die ursprüngliche Besinnung auf die ursprüngliche Bedeutung als Handlungstheorie, deren systematische Reflexion auf das Grundgut des gelungenen Lebens zielt, dem sekundär die Einzelentscheidungen als Normerfüllung nachgeordnet sind. Leitender Bezug ist das Lebensprojekt oder der Lebensentwurf des Einzelnen, das ganzheitliche Selbstverständnis des Glaubenden.39

37 38 39

Seel, M., Die Wiederkehr der Ethik des guten Lebens, in: Merkur 45 (1991), S. 42. ebda., S. 42f. Demmer, K., Die Lebensgeschichte als Versöhnungsgeschichte, in: PhTh 36 (1989), S. 375ff.

36

Moraltheologie als Konvergenzethik

Theologische Ethik findet hier ihre Annäherung an ihre ursprungliche Form, die als weitgehend teleologisch orientierter Ethiktyp sowohl die „Unbedingtheit und Interpersonalität des Sollens" als auch die „Antriebe zur Selbsterhaltung und Gluckserfüllung"40 voll abzudecken vermochte. Das vorgestellte Theorieparadigma plädiert für einen Vorrang des Guten vor dem normativ Richtigen und sozial Gerechten. Erst als Bestandteil einer umfassenden Konzeption des subjektiv-intersubjektiv Guten werden in dieser Hinsicht moralische Fragen transparent. Dennoch ist, trotz des engen Bezugs- resp. Verweisungszusammenhangs, auf eine wesentliche Differenz zwischen beiden Bereichen aufmerksam zu machen, die, wie zu zeigen sein wird, bestehen bleiben muß und die es unabdingbar zu berücksichtigen gilt. Entgegen jeder Form der Subsumption des Richtigen (Rechten) - wie sie ein überwiegender Teil „integrativ" oder „inclusiv" verfahrender Ethikansätze forciert - wird jene verbleibende Eigenständigkeit der moralischen Dimension wahrzunehmen und abzusichern sein, auf deren Basis sich erst ihr genuin kritisches Potential in bezug auf jede Vision guten Lebens entfalten kann41. Ethisch-theologisches Denken steht heute mehr denn je vor der Aufgabe, kritische Selbstreflexion zu betreiben hinsichtlich ihrer praxiser-möglichenden und praxisleitenden Effizienz. Es gilt, sich im Kontext postmoderner Denkund Lebensbedingungen neu zu orientieren in Hinblick auf Erwartungen, Wünsche und Vorstellungen des handelnden Menschen. Zur Überlegung steht der Aufweis und die Vergewisserung der Möglichkeit des sittlich kompetenten Subjekts in der Totalität seiner individuellen und sozialen Lebensform; beifolgend, mit der Problematik einer inneren Komplexität und oft Widersprüchlichkeit, ja Paradoxie der Lebensführung und -bewältigung, die Frage nach der Befähigung zu kritisch-kreativen Handeln, als ausweisbar „ethische" Praxis zu alltäglichem Verhalten. Der Zusammenhang von Moralität und personaler Identität drangt auf eine vertiefte Klärung, erfordert eine wesentliche Neubesinnung, entsprechend postmoderner Reflexionsverhältnisse. Angesprochen ist der gegenwärtige Wandel im moralischen Bewußtsein der Öffentlichkeit, der das Spiegelbild einer weitgehend offenen Diskussion wiedergibt, in welcher „der Mensch versucht, gegenüber der strukturellen Wandlungen seiner Lebensbezüge sich der tragenden Gründe des Handelns neu zu vergewissern'**2. Angesichts einer derartigen, das bisherige Selbstverständnis in Frage stellenden Herausforderung der Moraltheologie zeigt sich die Situierung der ethischen Rechenschaft entscheidend geändert, verbunden mit der Einsicht, daß die bislang eingebrachten oder vorausgesetzten Deutungsmöglichkeiten zur Bewältigung der aktuellen Problembezüge und Konfliktlagen keine hinreichende und plausible Argumentationsgrundlage mehr bieten können. 40 41 42

Krämer, H., Antike Ethik, S. 191. Vgl. dazu den wichtigen Hinweis bei Seel, M., Wiederkehr, S. 49. Hunold,G.,Ethik,S.3.

Die Frage nach Glück und Eudämonie

37

Die theologische Ethik ist gefordert, ihre leitenden Erkenntnisinteressen auf den dynamischen Prozeß der ethischen Subjektivierung oder Personwerdung zu beziehen, sich dieser ethisch wie theologisch zu vergewissern; sie wird den an sie herangetragenen Erwartungen zu entsprechen haben, den Gewinn der praktischen Identität kritisch-konstruktiv zu ermöglichen und in ihrem Vollzug entsprechend unterstützen. Zur Debatte steht die Vorstellung eines umfassend gelingenden Lebens, die die Totalität der individuellen und sozialen Lebenswirklichkeit umgreift und die - trotz des notwendigen und grundsätzlich zu befürwortenden Pluralismus an Konzepten - zumindest in gewisser Weise auch konsensfähig erscheint Angesprochen ist jener „weisheitliche Orientierungsrahmen", jene „unzerstörbare(r) Einsicht in die Sinnhaftigkeit der eigenen Lebensgeschichte", auf deren Basis erst sekundär sittliche Ansprüche bestehen und wirksam werden können43. Theologische Ethik nimmt hier die grundlegende Aufgabe wahr, mit der Ermöglichen der personalen Identität auch das Wesen des Sittlichen heute neu abzusichern; sie vermittelt die für jede norm theoretische Überlegung unabdingbare Erkenntnis, daß sittliche Entscheidungen nicht auf Normerfüllung reduzierbar sind; sie entspringen wesentlich einem tragenden Selbstbewußtsein, der Überzeugung von einem sinnerfüllten, eigenen Lebensauftrag, welcher Normen immer schon ermöglichend vorausliegt44. Sittliche Urteile sind im grundlegenden Selbstbewußtsein des Subjekts zentriert, in jener Vision oder jenem Lebensentwurf des individuell und sozial geglückten Lebens. In diesem Sinn stehen evaluative Überlegungen immer schon in prioritären Verhältnis zu den normativen des Rechten und Gerechten, sind aus dieser Perspektive zu beantworten und gewinnen daraus ihren motivationalen und hermeneutischen Kontext. Sie sind bezogen auf das entscheidende Grundgut des umfassend gelungenen Lebens, auf das fundamentale und unverzichtbare Rechtsgut, in dem sich die personale Würde und Einmaligkeit wie die Unwiederholbarkeit der Lebensgeschichte einer Person artikuliert.45 Als Teil dieser umfassenden Konzeption guten Lebens werden normative Fragen präsent, sie reflektiern den hermeneutischen Rückbezug auf jenes Grundrecht eigenständiger, verantwortlicher Lebensgestaltung, erfüllen hier ihre spezifische Funktion, welche ihnen aber gerade - trotz ihrer Teilnahme einen Sonderstatus zuerkennt. Es handelt sich dabei um eine wesentliche Differenz, die es - wie erwähnt - zu beachten gilt, gegenüber verschiedenen Ansätzen „integrativ" verfahrender Ethikformationen. Das Prinzip des Rechten und Gerechten ist ein „strikt reflexives" Gut, „es ist das Gut eines allgemeinen Schutzes der Möglichkeit guten Lebens" und behält von daher, sosehr es auch Teil einer umfassenden Orientierung an der Vision des Guten werden kann,

43 44 45

Demmer, K., Die Wahrheit leben, Theorie des Handelns, Freiburg: Herder, 1991, S. 12. ebda.. S., 12. 14. ebda.,S.,72f.

38

Moraltheologie als Konvergenzethik

einen eigenständigen Status bei. Der normative Standpunkt gewinnt erst in dieser Perspektive seinen genuinen und kritischen Sinn zurück: Das Richtige bedeutet in dieser Hinsicht eine Grundsicherung, einen „Schutz der Möglichkeit des Guten, gerade weil es ein mögliches Korrektiv jeder Verwirklichung dieser Möglichkeit ist"46.

2.3. Kritik der ethischen Tradition Die Fragen um die Vorstellung von Glück, Eudämonie, Lebensserfüllung und Selbstverwirklichung scheinen in der gegenwärtigen katholischen Moraltheologie, wie sie seit der Neubesinnung durch das II.Vatikanische Konzil präsent ist, ein ephemeres Dasein zu führen, sind im Grund kaum wirklich wahrnehmbar. Aus einer Beurteilung des aktuellen Forschungsstandes der Interessenslagen und Publikationsrichtungen lassen sich nur wenig Impulse erkennen, die auf eine konstruktiv-kritische und zukunftsorientierte Aufarbeitung schließen lassen. Das Problemfeld wird, wenn überhaupt, nur sehr zögernd angegangen, eher dem vor- oder außerwissenschaftlichen Bereich überlassen.47 Nach wie vor kommt hier deutlich zum Ausdruck das tiefe Unbehagen, die Irritation und offensichtliche Skepsis der gegenwärtigen ethisch-theologischen Reflexion in bezug auf eine Anerkennung des Prinzips der Eudämonie und des guten Lebens, womit im Grunde freilich die - zwar programmatisch vorgestellte - Wende zum Subjekt gemeint ist. Das augenscheinliche Defizit an Klärung wie die fehlende Aufarbeitung mögen verwundern und überraschen, ist doch die Frage nach dem Glück seit der Antike her eng mit der nach dem Humanum verbunden48. Die Thematisierung der Eudämonie, des guten und geglückten Lebens und als Pendant dazu, der Dysdämonie, des verfehlten und gescheiterten Lebens, ist heute nicht nur im Bereich der theologischen Ethik mit großen sachlichen, vor allem auch traditionsbedingten Schwierigkeiten umgeben, dennoch muß der Versuch unternommen werden, Basiselemente für eine Wiedergewinnung des strebensethischen Grundbezugs zu gewinnen, um die optierte Neuformation der Moraltheologie in eine ganzheitliche Ethik auch realisierbar werden zu lassen. Die beabsichtigte und als notwendig erachtet Rehabilitation kann sich dabei freilich nicht nur auf eine bloße Wiederaneignung und Erwärmung antiker 46 47 48

Seel, M., Wiederkehr, S. 49. Vgl. den Beitrag und Literaturüberblick bei Wiebering, J., Auf der Suche nach einem geglückten Leben, passim. ebda., S. 3.

Kritik der ethischen Tradition

39

Fragen, Phänomene und Vorstellungen beschränken, gefordert ist für den gegenwärtigen Entwurf und die zukünftige Ausarbeitung eine zeitgemäße und zukunftsverbürgende Neufassung, im Grunde eine experimentelle Neuerschließung, womit der für jeden derartigen Versuch typische ungeschützte Bereich noch sehr groß bleiben muß, auch beirrbar sein kann, was in Rechnung zu stellen ist. Die gegenwärtige katholische Moraltheologie scheint nach wie vor stark unter dem Eindruck der von Kant postulierten Verwerfung des Eudämonismus als Motivation für sittliches Handeln und Planen zu stehen. Sie dürfte hier größtenteils den immer noch weithin verbreiteten Verdacht unterstützen, das Prinzip der Eudämonie suspendiere eigentlich das Ethische, das Streben nach dem guten Leben sei nicht mit ethischen Kriterien in Verbindung zu setzen.49 „Es scheint nicht verwegen, zu behaupten, das Thema der geschuldeten Selbstliebe friste in der gegenwärtigen moraltheologischen Arbeit eher ein Schattendasein. Es wird von der mit hohem Pathos vorgetragenen Forderung nach Selbstlosigkeit schier erdrückt und gerät aus diesem Grund nur allzuleicht in den Beweisnotstand. Feststeht jedenfalls, daß Selbstliebe in die bedenkliche Nähe zu Egoismus, Eudämonismus, wenn nicht gar Hedonismus rückt, wer das Wort in den Mund nimmt, setzt sich dem Verdacht aus, er tue das Gute schon nicht mehr um des Guten willen, er verfälsche es insgeheim und damit die Reinheit des sittlichen Gedankens. Einen solchen Makel nimmt niemand gern auf sich, die Rucht in die Pflicht, noch dazu mit tönenden Imperativen vorgetragen, legt sich verständlicherweise nahe"50. Mit der Verwerfung der Frage nach dem Guten, dem Streben nach Glück bleiben wesentliche Horizonte menschlicher Alltags- und Lebenspraxis unberücksichtigt, finden als unterschieden „ethisches Handeln" keine Wahrnehmung; ein Festhalten daran bedingt den drastischen Realitätsverlust moraltheologischer Diskurse, impliziert auch Unwahrhaftigkeit und Unredlichkeit. Bereits in diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß die aktuell festgestellte Tendenz eines Großteils moraltheologischer Forschung und Literatur mit tiefgehenden Defiziten im handlungstheoretischer und handlungsmetaphysischer Bereich einhergeht, was beispielsweise den zugrundeliegenden Begriff der „Handlung" betrifft. Die Theologie scheint hier einer Verengung ihrer Sprachund Denkmöglichkeiten zu unterliegen. Von vornherein bleiben hier wesentliche Voraussetzungen und Faktoren außer Reichweite moraltheologischer Reflexion, oder sucht man sich auch bewußt davon zu distanzieren, ohne die eine adäquate Auseinandersetzung jedes Konzepts guten Lebens unmöglich erscheint. Sittlich personales Handeln, menschliche Lebens- und Alltagspraxis ereignet sich wesentlich und prioritär im subtilen Bereich der inneren Handlung, 49 50

ebda. Demmer, K., Das vergeistigte Glück. Gedanken zum christlichen Eudämonie Verständnis, in: Gregorianum l (1991), S. 99.

40

Moraltheologie als Konvergenzethik

findet hier den zentralen Anfang und Aufbau. Konzepte und Visionen guten und geglückten Lebens, die Fragen von Motivation, Intention und Gesinnung haben hier zunächst ihren genuinen Reflexionsort. Eine ethisch-theolgische Aufklärung resp. Aufhellung und Ausweitung der Forschung auf diesen fundamentalen Bereich der sittlichen Handlung scheint von daher als unabdingbar. An betreffender Stelle ist aus diesem Grund für die angesetzte Untersuchung zusammen mit der Kritik ein entscheidender Neuansatz vorgesehen. Das Vorhaben, eine zeitgemäße Explikation der Eudämonie, des guten und glücklichen Lebens im theologisch-ethischen Kontext durchzuführen, bedarf heute in mehrfacher Hinsicht einer Differenzierung. Die inhaltliche Analyse hat sich zunächst primär von individualistischer, hedonistischer Engführung abzugrenzen und wesentlich in diesem Zusammenhang die enge Bindung der Eudämonie an den umfassenden Begriff der sittlichen Person zu betonen; darüberhinaus sind eingebrachte Kompetenzansprüche vornehmlich der empirischen Einzelwissenschaften zu hinterfragen. So kann es nicht zureichen, Glück mit der Tradition der Neuzeit ausschließlich dem menschlichen Gefühls- und Affektbereich zuzuordnen und damit die Wesensfrage der Zuständigkeit der Psychologie zu überlassen.51 In Übereinstimmung mit einem wesentlichen Beitrag aus der gegenwärtigen praktischen Philosophie scheint es aus diesem Grund auch für die Moraltheologie ratsam, sich an dem heute wieder zunehmend aktuellen Begriff antiker philosophischer Ethik zu orientieren und in diesem Sinn von gelingendem und richtigem Leben zu sprechen oder vom Glück als der „Willens- oder Wunschgemäßheif''52. Es handelt sich in seiner Zielbestimmung um ein Verhältnis zwischen dem Ich und seinem Gegenüber, dem anderen vom Ich, dem Lebenskreis, der speziellen Umwelt, schließlich der Welt im ganzen, welches mit Formulierungen wie einer Korrespondenz, Übereinstimmung oder der (generischen) Identität und Angemessenheit zu charakterisieren ist. Das richtige und geglückte Leben vollzieht sich über das gelungene Verhältnis zu sich selbst, welches Hand in Hand mit einem entsprechenden Weltverhältnis geht53. Die Relation zwischen Selbst und Welt im qualifizierten Leben drückt dabei eine bestimmte Stellung wie Grundsituation des Menschen in der Welt aus, die einen elementaren Weltbezug in Form der Güter- und Sozialwelt immer schon einschließt. Das quasi objektive Verhältnis der Angemessenheit ist unterlegt von einem dritten wesentlich mitkonstituierenden

51 52 53

Krämer, H., Selbstverwirklichung, S. 21. ebda. Das Weltverhältnis ist stets durch das Verhältnis zu sich selbst vermittelt, die subjektheoretische Perspektive überspannt die der Intersubjektivität; sie ist in anthropologischer Hinsicht die elemetarere, und bestätigt so auf Ebene der ethischen Theoriebildung eine Differenzierung von Strebensethik und Moral; vgl. Krämer, H., Integrative Ethik, S. 111.93f.

Kritik der ethischen Tradition

41

subjektiven Faktor, der angemessenen inneren Stimmungslage oder dem begleitenden Grundgefühl von Glück und positiven Dasein.54 Unter dem Titel der ,^ngemessenheit" oder der „Identität" vermittelt sich hier der charakteristisch individualethische Grundbezug. In der Homologie und Übereinstimmung der Vernunft mit sich selbst, im Konsens der Handlungen, Neigungen und Maximen untereinander macht die Individualethik ein Gegenstück zur sozial-politischen und rechtlichen Gleichheit wie Reziprozität des Kategorischen Imperativs geltend, was als ihr (imperativisches) Prinzip angesehen werden kann. Das Kriterium der Konsistenz und Verträglichkeit gegensätzlicher Aspekte gibt so in Analogie zur Konsensbildung der Sozialethik eine oberste Rahmenbestimmung der Handlungen und Maximen des Individuums ab, wenn auch stark einschränkend zu bedenken ist, daß es allein für sich betrachtet, aus verschiedenen gewichtigen Gründen für das Konzept einer Individualethik keinerlei zureichende Grundlage darstellen kann, vielmehr in seiner konkreten Operativität auf Ergänzung hin angelegt ist.55 Analog zur Bestimmung des guten Lebens läßt sich umgekehrt das verfehlte oder scheiternde Leben, die Dysdämonie, als ein Verhältnis der Nichtidentität, der Disharmonie beschreiben; dem gestörten Verhältnis zu sich selbst, der inneren Unangemessenheit entspricht das mißlingende Weltverhältnis und in Korrespondenz dazu die negative Stimmungslage.56 In diesem Zusammenhang ist nun grundsätzlich anzumerken, daß das dreigliedrige Verhältnis einer positiven Qualifikation des Lebens (mit den Faktoren der Stimmungslage, Selbstrealisation und der Güterwelt) im theologischen Kontext einer weiteren Präzisierung bedarf im Hinblick auf eine vertiefende und umfassende Rahmenbedingung. Das angemessene/unangemessene Weltverhältnis mit dem darin begründeten Gratifikationsaspekt ist einzubinden in das theologische Grundverhältnis des einzelnen Subjekts oder den je individuell persönlichen Glaubensbezug zur Transzendenz. Für die Bestimmung der Eudämonie im Kontext der Theologie, des Glücks oder des guten und richtigen Lebens ist das gelingende Verhältnis zu Gott konstitutiv, dem die innere Angemessenheit, Identität oder das gelingende eigene Verhältnis zu sich selbst korrespondiert. Individuelles Streben nach Selbstverwirklichung und Gluckserfüllung wie der elementare Weltbezug in Form einer selektiven Güter- und Sozialwelt ist so auf Hintergrund einer Transzendenzgebundenheit zu reflektieren, welche die theologische Strebensethik zwar nicht begründet, wohl aber voraussetzt und sich in charakteristischer Weise aufklärend und konsiliatorisch darauf bezieht. Erst die theonome Grundbestimmung bietet nach christlichem Verständnis jenen eigentlichen Verweisungszusammenhang, innerhalb dessen 54 55 56

Krämer, H., Prolegomena, S. 80-83. Krämer, H., Individualethik, S. 37. Krämer, R, Prolegomena, S. 81ff.

42

Moraltheologie als Konvergenzethik

sich erfülltes und geglücktes Leben vollziehen, Lebenskunst als solche entfaltet werden kann. Hinsichtlich einer inhaltlichen Präzisierung, welche sich heute für eine zeitgemäße Theorie des guten Lebens nahelegt, wird unter den spezifischen Gutem des gelingenden Lebens als Primärgut die Autonomie und Freiheit des einzelnen Subjekts anzusehen sein und insofern auch erklärtes Ziel der Lebenskunst darstellen. Jeder geglückte Entwurf des praktischen Selbstseins sollte dabei unter dem Aspekt der Selbstbefreiung stehen, wobei das Verständnis von Freiheit mehrdimensional zu fassen wäre: Freiheit meint sowohl die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit gegenüber inneren wie äußeren Zwängen und Mangelzuständen als auch die „innovatorische Kreativität und Spontaneität der Zielsetzung und des Handelns selbst". Die Kunst einer gelungenen Lebensgestaltung ist als Freiheit auf Ermöglichung und Progression von Freiheit hin ausgerichtet, indiziert in diesem Sinn eine Entfaltung von Freiheitsstufen als „Weisen des Lebenkd'nnens", wobei auf die „Freiheit von Zwänge und Defiziten die Wahlfreiheit des Verfügens über Alternativen bis hin zu einer relativen Autarkie folgt, die dann in autonomer Zielsetzung kreativ weiter ausgestaltet wird" mit dem Ziel, schließlich eine Souveränität der Lebensführung" zu gewinnen, die das Bewußtsein mehrerer Alternativen mit klaren Prioritäten und der Aussicht auf die Kreation noch besserer Alternativen verbindet".57 Daß individuelle Freiheit bis hin zur Souveränität dabei nicht egozentrisch oder subjektivistisch in sich verschlossen ist, sondern ganz wesentlich zur Bedingung ihrer Möglichkeit den sozialen Konnex voraussetzt, ist hier zu erwähnen und wird vor allem im theologischen Kontext einer Individualethik zu betonen sein. Die theologische Ethik versteht sich - mit der Wende zum Subjekt- von ihrer Programmatik her als Anwalt des Subjekts, sieht in der Subjektivität des Menschen das Fundament sittlichen Handelns. In Korrespondenz dazu steht - nun bezogen auf die Fragen von Eudämonie, unvertretbaren existentiellen Eigeninteressen, „geschuldeter Selbstliebe", der „Selbstbewahrung, die aus Selbstachtung stammt"58, der Selbstverwirklichung - die für die vorliegende Untersuchung aufgestellte und durch sie zu verifizierende Grundthese, den Entwurf einer ethischen Theorie im ursprünglichen Selbstverhältnis zu zentrieren und von diesem unverzichtbaren hermeneutischen Referenzpunkt der Subjektivität aus das Gottes- Welt- und Sozialverhältnis zu bestimmen59. Dem entspricht die Interpretation von Glück resp. Unglück als eine „qualifizierte Relation" zwischen den konstitutiven Momenten von Selbst, Welt und Gott, zu der ein begleitendes Glücks- resp. Schmerzgefühl gehört. 57 58 59

Krämer, H., Lebenskunst, S. 15f. Demmer, K., Eudämonie, S. 100. Vgl. wiederum die Diskussion in der praktischen Philosophie bei Krämer, H., Lebenskunst, S. lOff.

Kritik der ethischen Tradition

43

Glück bedeutet so ein angemessenes Verhältnis zwischen Selbst und Welt, welches in einem grundlegenden Sinn auf Gott bezogen ist und ein entsprechendes Gefühl begründet. In diesem Zusammenhang ist es wesentlich, gegen eine Verkürzung des Phänomenbereichs Glück und damit verbunden, des geglückten guten Lebens insgesamt, festzustellen, daß Glück nicht nur abstrakt praxisneutral und quietistisch - ein theoretisches Bewußtseins- und Reflexionsphänomen ist, sondern ganz wesentlich mit zielgerichtetem Handeln, eingeschlossen innerlich einzuübender Haltung verbunden ist.60 Glück ist in diesem Sinn nicht inoperabel, nicht etwas, was man eben nur „hat" oder „nicht hat", ohne Berücksichtigung des eigenen situativen Handlungs- und Verhaltensbezugs; dies gilt korrelativ für die Idee oder Vision des umfassend glückenden und gelingenden guten Lebens insgesamt; das vorgestellte Modell eines angemessenen Verhältnisses zwischen Selbst, Welt und Gott hat zwar einen theoretisch-ideelen Grundbezug, ist aber andererseits ganz wesentlich auf seine Realisation hin angewiesen, als tagtäglich neu zu verifizierende und damit auch zu korrigierende handlungstaugliche Idee einer glückhaften Praxis. So gesehen, kann das Urteil oder Prädikat eines gelungenen/mißlungenen, schicksalhaft gescheiterten Lebens immer erst im Rückblick, a posteriori, auf Grund eines tatsächlich gelungenen/mißlungenen persistierenden Verhältnisses zu kommen.61 In eine ganz ähnliche Richtung geht das Bestreben, einen gegebenenfalls monolithisch eingeengten Glücksbegriff - in diesem Sinn etwa in der Rede von einem vollendenten, nur auf die Ewigkeit bezogenen Glücksverständnis durch Partikularisierung zu öffnen. Die Beschränkung auf das übergreifende Ideal eines höchsten und endgültigen Glücks macht Glück inoperabel und vermag das tatsächliche, durchschnittliche und täglich erfahrbare „kleine" Glück überhaupt nicht zu erfassen62. Theologische Ethik bedenkt in ihrer strebensethischen Grundorientierung das individuell, vor allem aber auch sozial gelungene und geglückte Leben, verbunden mit der Einsicht, daß der Sozialbezug eine unabdingbare Vor- und Aufgabe bedeutet, der in das eigene lebensgeschichtliche Interpretament geglückten Lebens integriert werden muß. Glück erreicht in diesem Sinn nur seine Wesensfülle, wenn es sich in gelungenen sozialen Verhältnissen und Strukturen realisiert weiß.63 In diesem Zusammenhang kommt gerade für den theologischen Denkhorizont ein wesentlicher Hinweis, der auf die mögliche Gefahr einer Hypertrophierung des Glücks aufmerksam macht, sobald dieses zu eng an die Kategorie des Heils gebunden wird. Die mangelnde Differenz von Glück und Heil 60 61 62 63

Krämer, H., Moralisches Sollen, Autonomie und gutes Lebens, in: Perspektiven der Philosophie 12 (1986), S. 320f. Vgl. Wiebering, J., Suche, S. 3. ebda Krämer, H., Selbstverwirklichung, S. 21. 27. Vgl. Seel, M., Wiederkehr, S. 8.

44

Moraltheologie als Konvergenzethik

verkennt die Tatsache, daß sich die mit einem geglückten Leben verknüpften Erwartungen stets auf ein säkulares Ethos beziehen, „das den Raum der Eigenverantwortung und der sozialen Verbindlichkeit selbst gestalten muß". In diesem Sinn ist eine Unterscheidung wahrzunehmen, welche freilich auch keine Trennung bedeuten darf: „Sozialethische Fragen dienen dem Glück von Menschen und verschaffen nicht zugleich das Heil, wie andererseits beides nicht isoliert voneinander bleiben darf, wenn es um den Menschen als ganzen geht"64.

64

ebda., S. 8f.

3. Person und Subjekt im Kontext des guten Lebens

3.1. Das zugrundeliegende Subjektkonzept Die katholische Moraltheologie steht vor dem Anspruch und der Aufgabe, das Subjektparadigma im Kontext der spätmodernen Lebenssituation ethisch wie theologisch zu reflektieren, daraus eine Theorie des sittlichen Subjekts zu entwickeln, von der eine zeitgemäße Praxis der Moralgestaltung neu gesichtet werden kann. Die Überlegungen zur Rekonstruktion verbinden sich mit der Kritik am neuzeitlich modernen Subjektverständnis; sie gehen von der Annahme aus, daß sich die Idee eines isolierten, in sich selbst gegründeten und in sich selbst bestehenden Subjekts als fiktiv und unhaltbar erwiesen hat. Angepeilt wird mit der Wiedergwinnung der Eudämonievorstellung eine Konzeption des guten und wahren Lebens, in der das praktische Subjekt seine Realisation und Selbstbestimmung vollzieht, im Kontext einer kommunikativen Beziehung zu anderen Subjekten und zugleich aus dem Verhältnis zur Wahrheit resp. zur praktischen Vernunft begriffen wird. Die Erläuterung des Subjektkonzepts bindet sich an den Horizont der Frage nach dem guten Leben, findet von daher ihre inhaltliche Präzisierung. Die gegenwärtig noch in der Moraltheologie vorherrschende Person- resp. Subjektmetaphysik scholastisch-neuscholastischer Provenienz ist durch eine zeitgemäße Subjektmetaphysik zu ergänzen. Dem allzu abstrakten und deskriptiven Gegenstandsdenken ist eine prozessuale relational verfaßte Denkform zur Seite zu stellen. Entsprechend dieser Perspektive verknüpft sich die Bestimmung des Subjektkonzepts notwendigerweise mit der Frage nach dem Wahren und Guten. In der Möglichkeit gelungenen Subjektseins realisieren sich Formen guten gelungen Lebens. Für die Ethik entscheidend wird in diesem Sinn die qualitative Frage, was Subjektsein konstituiert, wie allseits geglückte Subjektivität zustandekommt, wie der diffizile Prozeß der eigenen Seinserschließung, der Wahrnehmung und der Erkenntnis der eigenen Wesensstruktur, und damit die Chance zur Verwirklichung des guten und geglückten Lebens positiv gefördert, durchgesetzt und begleitend unterstützt werden kann. Fragen normativer Ethik, des Richtigen und Gerechten folgen dieser Bestimmung des Guten

46

Persern und Subjekt im Kontext des guten Lebens

nach. Das Richtige orientiert sich letztlich an der Möglichkeit gelungenen Subjektseins, d.h. am fundamentalen und unverzichtbaren Grundgut des umfassend gelungenen, guten und geglückten Lebens, in welchem die Würde, Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des Lebensprojekts einer Person garantiert scheint. Als wesentliches Kriterium für die geforderte theoretische wie praktische Beurteilung gelungenen Person- resp. Subjektseins wird der gegenseitige Verweisungszusammenhang von Person, Wahrheits- und Erkenntnistheorie zu berücksichtigen und entsprechen zu entfalten sein. Person kann dann bedeuten, Ausgriff des Erkennens und Wollens auf das Sein als Wahres und Gutes, als die Fülle aller seiner Bestimmungen1. „Person ist Seinserschlossenheit und in dieser transzendentalen Auszeichnung Quellgrund ihrer Geschichte". Im Ausgriff auf das Sein als Gutes liegt die transzendentale Möglichkeitsbedingung für kategoriale Identität. In diesem Zusammenhang kündigt sich eine Revision des bisherigen Autonomieverständnisses in der katholischen Moraltheologie an. Autonomie meint dann die grundlegende Fähigkeit, „die Fülle des Seins auf die Begrenztheit des Seienden hin zu entschlüsseln", womit der diffizile als Lebensauftrag und Lebensleistung zu klassifizierende Prozeß einer denkerischen Vermittlung beider Bereiche angesprochen ist.2 Geht man vom Interessensbezug des Subjekts am guten Leben und damit am gelungenen Selbst- und Personsein aus, so ist hier auf die ursprüngliche Erfahrung eines grundlegenden ethischen Absolutums im Sinne einer den Menschen „ u n b e d i n g t angehenden und seine Sinnhaftigkeit bestimmende Befindlichkeit/Wirklichkeit" hinzuweisen. Diese in ihrem Kern für alle Menschen gleiche sittliche Absolutheitserfahrung tangiert sowohl die Selbstverwirklichung als Person wie auch die konkrete Handlung als deren ureigener Ausdruck. Ihre Unbedingtheit gründet dabei in der anthropologischen Ambivalenz von freier Selbstverwirklichung und freier Selbstentfremdung. Sie erfordert theoretisch eine Vielfalt an Erklärungsversuchen oder Wertungen, die unterschiedlich ausfallen mögen, je nach religiöser oder weltanschaulicher Gebundenheit. Der explizit subjektive Kontext benötigt und legitimiert hier einen notwendigen Pluralismus ethischer Entwürfe und Konstrukte.3 Indiziert ist die genuin anthropologische Leistung einer eigenständigen Konzeption des Selbst- und Weltverständnisses, welche auch die Frage der sozialen Moral miteinschließt resp. deren Begründung ausweist: sie umfaßt im Rahmen einer Gesamtwertung des eigenen Daseins, welche in ganzheitlicher Selbstverfügung alle menschlichen Potenzen beansprucht, die unabdingbare Aufgabe der persönlichen Sinnwahrnehmung und Sinnerfüllung. 1 2 3

Demmer, K., Wahrheit, S. 48. 76. ebda. Fuchs, J., Das Absolute in der Moral, in: StZ 297 (1989), S. 826f.

Das zugrundeliegende Subjektkonzept

47

Das angesprochene Grundinteresse läßt sich inhaltlich entfalten als Offenheit für das menschliche Gute, im Sinne der Eudämonie, als Erfüllung menschlichen Seinkönnens; es bedingt auf der Ebene des praktischen Selbstverhältnisses die autonome Stellungnahme zum eignen Daseinsganzen, als einem - wie zu zeigen sein wird - wesentlich artistischen Akt, in dem darüber zu entscheiden ist, was für ein Mensch man insgesamt sein will resp. wie man sich letztlich selbst verstehen möchte. Am Spiel steht mit der ethischen Subjektwerdung der Gewinn der praktischen Identität, die neben der kognitiven immer auch voluntative, affektivemotionale Grundbezüge involviert; die diesen Prozeß tragenden erkenntnistheoretischen wie methodischen Voraussetzungen mit einer expliziten Berücksichtigung der Phantasie in ihrer handlungsleitenden Funktion werden im Rahmen des Entwurfs einer Ethik der inneren Handlung zu entwickeln sein. Die Moraltheologie muß sich in diesem Zusammenhang einer kritischen Selbstreflexion stellen hinsichtlich der versuchten Rezeption von Kants Ethikentwurf. Die Kritik richtet sich hier im engeren Sinn auf eine wieder und neu zu gewinnende Ganzheitlichkeit des Subjekt- resp. Personverständnisses; sie wendet sich bewußt gegen jenen „inneren Zwiespalt", gegen jene ins Innere des Menschen getragene Kluft zwischen einer - in der Folge - eingeschränkten praktischen Vernunft und den sinnlichen wie emotionalen Antrieben des Menschen andererseits, welche Kants formaler und abstrakter Begriff einer Vernunftautonomie resp. dessen Tugendkonzept vorsieht.4 Die Aufarbeitung resp. Harmonisierung dieses inneren Konfliktpotentials Kantischer Provenienz, welches zumindest noch latent in mehreren Argumentationsbeiträgen und Texten gegenwärtiger Moraltheologie präsent scheint, dürfte eine der Hauptaufgaben einer künftig neu zu etablierenden Ethik des Inneren sein. Die erwähnte Naturneigung zum Guten „erscheint als personale Befindlichkeit, die zur expliziten Stellungnahme nicht nur herausfordert, sondern im Verlauf der Lebensgeschichte jeweils unterschiedliche Thematisierungsgrade annehmen kann".5 Das Werden des sittlichen Subjekts resp. die moralische Selbstfindung bindet sich an diesen Prozeß. Im Blick auf die noch ausführlich zu reflektierende Dimension des menschlichen Freiheitsakts im Sinne autonomer Selbstsetzung und Selbstbestimmung ließe sich der erwähnte Prozeß auch „als Ausgriff der Freiheit auf das Sein als Gutes" bezeichnen, als jener transzendentale Freiheitsakt, in dem „der ontologische Ermöglichungsgrund für die kategoriale Freiheit liegt".6 Dieser genuin subjektiv-ethische Grundsatzdiskurs, der als personales Werk zu vollziehen ist, führt in der Folge zur Ausarbeitung einer bestimmten Existenzweise oder allgemein eines eigenen Lebensprojekts; er bildet die Basis für die umfassende Konstruktion der individuellen und sozialen Wirklich4 5 6

Tugend ohne Glück?, in: FAZ 17. 8.1988, S. 31. Demmer, K., Wahrheit, S. 191. ebda.

48

Person und Subjekt im Kontext des guten Lebens

keit, die auch die Konzeption von „Moral" umfaßt. Moral - davon nicht ausgenommen, die christliche - hat in diesem Sinn eine ausgewiesen subjektivartifizielle Struktur, als „wesentlicher Teil schöpferischer Lebens- und Weltgestaltung" liegt sie fernab jeder autoritativ induzierten sittlichen Normativität, worin sich ihr autonom eigenverantwortlich-kreativer Charakter bewahrheitet.7 Diese Überlegungen replizieren auf den für die gegenwärtige Moraltheologie vorgeschlagenen Subjektbegriff, welcher im folgenden über das praktische Selbstbewußtsein zu präzisieren ist und der dann - so die Grundthese der Untersuchung - im ethisch theologischen Kontext auf einen ethicoästhetischen Qualitätsbezug hin zu überprüfen sein wird. Die Sondierung einer Relevanz des christlichen Glaubens im individualethischen Bereich geht dabei immer schon von der Annahme aus, daß der Glaubensbezug grundlegende anthropologische Relationen und Implikationen voraussetzt, welche zunächst grundlegend zu klären sind, auf deren Fundament dann seine eigentliche Tiefendimension entfaltet werden kann. Der vorerst vom Glauben unabhängige Basisbezug des Subjekts ist das wohlverstandene Eigeninteresse am menschlichen Guten, der Eudämonie, welcher über die autonom zu vollziehende Wahl der individuellen Lebensform seine Rechenschaft fordert und mit der Konzeption des richtigen und guten Lebens seine theoretisch-praktische Ausgestaltung findet. Der von jedem Subjekt in Gemeinschaft und Konsens von Subjekten durchzuführende ethische Grunsatzdiskurs in der elementaren Ausrichtung auf Sinnwahrnehmung ist jener mögliche Kontext, in dem sich auf Basis genuin anthropologischer wie theologischer Überlegungen die Dimension der Religion wie die des christlichen Glaubens im speziellen erschließen könnte; dessen individualethische Bedeutsamkeit könnte sich in der Reflexion des Entscheidungsprozesses freier, ethico-ästhetischer Selbstbestimmung zeigen; perspektiviert wäre so das ethico-ästhetische Subjekt als neues Subjekt der Glaubenspraxis. Im Rahmen dieser möglichen Stellungnahme von Seiten der Theologie auf den Verfall des spät- oder postmodernen Subjekts ist der Querverweis zu Rahners transzendentaler Anthropologie zu ziehen. Die subjekttheoretischen Überlegungen Rahners sind auf Hintergrund transzendentalen Denkens zu sehen, mit der religionsphilosophischen Frage nach den das Subjekt konstituierenden Bedingungen der Möglichkeit von Gotteserkenntnis.8 Personsein bedeutet nach Rahner „Selbstbesitz eines Subjekts als solchen in einem wissenden und freien Bezogensein auf das Ganze"9. Diese Subjekthaftigkeit als grundlegendes Sichzusichverhalten ist selbst ein „unableitbares Daseinsdatum, mitgegeben in einer jeden Einzelerfahrung als deren apriorische Eid, V., Die sozialethische Relevanz des Autonomiekonzepts, in: Concilium 20 (1984), S. 108f. Vgl. Bauerdick, R., Transzendentale Subjektivität oder Transzendentalität des Subjekts, in: PhTh 33 (1986). S. 291-309, hier S. 302. Rahner, K., Grundkurs des Glaubens, Freiburg : Herder, 1984, S. 26.

Das zugrundeliegende Subjektkonzept

49

Bedingung", sie ist in diesem Sinn eine „transzendentale Erfahrung". Das Subjekt, begriffen als das Wesen der Transzendenz meint dann,, jene apriorische Eröffnetheit des Subjekts auf das Sein überhaupt, die gerade dann gegeben ist, wenn der Mensch sich als sorgend und besorgend, fürchtend und hoffend der Vielfalt seiner Alltagswelt ausgesetzt erfährt"10. Im Vollzug seiner freien Subjekthaftigkeit realisiert der Mensch gleichzeitig seine Verwiesenheit auf „Gott", als das Woraufhin und Wovonher, als das absolut Unendliche, das „absolute Geheimnis", wie Rahner es nennt. „Aber der Mensch ist und bleibt das Wesen der Transzendenz, d.h. jenes Seiende, dem sich die unverfügbare und schweigende Unendlichkeit der Wirklichkeit als Geheimnis dauernd zuschickt. Dadurch wird er „zur reinen Offenheit für dieses Geheimnis gemacht und gerade so als Person und Subjekt vor sich selbst gebracht". Nach Rahner ist, so gesehen, die Erkenntnis Gottes eine ,transzendentale, weil die ursprüngliche Verwiesenheit des Menschen auf das absolute Geheimnis, die Grunderfahrung Gottes ausmacht, ein dauerndes Existential des Menschen als eines geistigen Subjektes ist".11 In der wesenhafte „Offenheit" des Subjekts auf die Offenbarung Gottes findet Rahner damit eine apriorische Verwiesenheit des Subjekts, die nicht mehr erkenntniskritisch funktional-logisch, sondern ontologisch begründet ist, womit die durch Kant gesetzten Grenzen theoretischer Vernunft überschritten sind.12 Als Wesen der Transzendenz begreift sich der Mensch neben seiner theoretischen Reflexion auch von seiner Handlungsdeterminante her. Analog zur Subjektivität und Personhaftigkeit bildet die Freiheit und Verantwortung einen wesentlichen Aspekt transzendentaler Erfahrung, sie ist im ursprünglichen Ansatz nicht ein partikulares empirisches Datum in der Wirklichkeit des Menschen neben anderen: „Indem der Mensch durch seine Transzendenz ins Offene gesetzt ist, ist er gleichzeitig sich selbst überantwortet, ist er nicht nur erkennend, sondern handelnd sich selbst anheim- und aufgegeben und erfährt er sich in dieser Überantwortetheit an sich selbst als verantwortlich und frei". Transzendenz meint damit nach Rahner nicht nur die Bedingung der Möglichkeit einer kategorialen Erkenntnis als solcher, sondern auch die „Transzendenz der Freiheit, des Willens, der Liebe. Diese Transzendenz, die das Subjekt als freies und personales Subjekt des Handelns in einem unbegrenzten Raum der Tat konstituiert, ist ebenso wichtig und im Grunde nur eine andere Seite der Transzendenz eines geistigen, deswegen erkennenden und gerade deshalb freien Subjekts". Freiheit vollzieht sich immer intersubjektiv, als Freiheit eines Subjekts das mit anderen Subjekten in Kommunikation steht. Daher ist sie unvermeidlich „Freiheit gegenüber einem anderen Subjekt von Transzendenz, die nicht zunächst Bedingung der Möglichkeit sachhafter Erkenntnis, sondern die Be10 11 12

ebda.. S. 45. ebda, S. 46. 61. 69. Bauerdick, R., Transzendentale Subjektivität, S. 302.

50

Person und Subjekt im Kontext des guten Lebens

dingung der Möglichkeit des Bei-sich-Seins eines Subjekts bei sich selbst und genauso ursprünglich beim anderen Subjekt ist". Die bejahende Freiheit eines Subjektes, das sich selbst aufgegeben ist, gegenüber einem anderen Subjekt heißt aber letztlich Liebe". Der Charakter einer solchen Transzendenz der Liebe ist das „Woraufhin einer absolute Freiheit, welches Woraufhin als das Unverfügbare, Namenlose und absolut Verfügende in liebender Freiheit waltet"13. Auf Basis dieses transzendentalen Subjektkonzepts ergibt sich für Rahner der Ansatz einer Existentialethik. Die Realisation sittlicher Freiheit und Verantwortung und damit von individueller Selbstverwirklichung steht in der Differenz zwischen faktischen Sein und sittlichen Sollen, als jene primäre transzendentale Erfahrung, die das Subjekt als sittliches Wesen begründet. Ihre Wahrnehmung vollzieht sich dabei in der bleibenden Spannung zwischen objektiv gegebenen abstrakten Normen einerseits und situativer, individuellpersönlicher Handlungsregulation andererseits, die das Subjekt in seiner konkreten sittlichen Entscheidung, auf den persönlich verpflichtenden Willen Gottes hin zu berücksichtigen hat. 14 Die Existentialethik bedeutet dabei den Versuch, das Anliegen der Existenzphilosophie, die Selbstverwirklichung der Person in der jeweils konkret gegebenen Situation wie der je eigenen Weise einerseits, und die Forderung der protestantischen theologischen Ethik andererseits nach einem steten Hören auf den je konkreten Anruf Gottes auch innerhalb der katholischen Moraltheologie zu situieren; sie sucht neben dem essentiellen das existentielle Moment der sittlichen Verpflichtung hervorheben, im Wissen um die Grenzen des wesentlich abstrakten Charakters allgemeiner Normen.15 Darauf ist an entsprechender Stelle zurückzukommen, wobei das entscheidende Augenmerk auf die Frage nach der Erkennbarkeit des individuell-konkret Sittlichen wie dessen Verpflichtungscharakter zu legen sein wird, als jene Grundsatzproblematik, in deren Bewältigung auch Rahner die wesentliche Voraussetzung für das Gelingen seiner Existentialethik sieht. Mit der Option für einen handlungstheoretischen Entwurf eines praktischen Selbstbewußtseins, welches zu einem neuen Subjektverständnis führen soll, vollzieht die Moraltheologie den geforderten Wechsel zum ethischen Wollen, womit sich ihre bisherige Aufgabenstellung ändert. Theologische Ethik perspektiviert vorrangig die moralische Selbstfindung des Menschen, antizipiert seine voluntative oder praktische Identität. Mit der Kritik und Infragestellung der neuzeitlich substantiellen Subjektkonzeptionen im traditionellen Sinn findet sie ihr neues Fundament im Subjekt des praktischen Selbstverhältnisses. Ihr leitendes Interesse gilt dem dynamischen Prozeß der Subjektivierung, sie versucht ihn zu begleiten, ihn in Theorie und Praxis zu durchdenken. Die praktische Leitfrage aus der Perspektive des Subjekts ge13 14 15

Rahner, K., Grundkurs, S. 46.48. 74. Vgl. ebda., S. 388-396. Vgl. Böckle, F., Art. „Existentialethik", in: LThK, Bd 3. Sp. 1301-1304.

Das zugrundeliegende Subjektkonzept

51

stellt, richtet sich nicht mehr vorrangig oder ausschließlich auf das, was man tun soll, sondern auf die übergeordnete Frage, wer oder was für ein Mensch man wahrhaft sein will. Die „Sorge um sich selbst" als Tiefenproblem des individuellen Subjekts wird Reflexionsgrund ethischer Forschung. Praktische Subjektivität vollzieht sich als individuell-konkrete auf der Ebene einer ethischen Wahl16, die der einzelne selbst vorzunehmen hat; operationalisierbar in einer handlungstheoretisch relevanten und auf die konkrete Lebenspraxis hin offenen Fassung des praktischen Selbstbewußtseins. Selbstbewußtsein wird hier im Modus reflektierter Selbstbestimmung verstanden, die Explikation der praktischen Grundfrage erfolgt im Kontext der Selbstsorge. In diesem Zusammenhang ist der Vorschlag gemacht worden,17 dieses grundsätzlich als Selbstverhältnis zu verstehen, als Beziehung des Menschen zu sich selbst. In Differenz zum kritischen Empirismus wie zur idealistischen Subjektphilosophie und ihrer Tradition, das Selbstbewußtsein nach dem erkenntnistheoretischen und ontologischen Modell einer Subjekt-Objekt-Beziehung zu begreifen, würde das Phänomen des praktischen Selbstbewußtseins strukturell bedeuten: „sich in der Weise der Selbstbestimmung zu sich zu verhalten".18 Im autonomen freien Selbstbezug des „Sichzusichverhaltens", als Stellungnahme zu den eigenen Lebens- und Sinnentwürfen, ereignet sich in diesem Sinn die Selbstkonstituierung des individuellen Subjekts. Zentral erscheint dabei der kommunikative Aspekt dieser Subjektbildung; das Selbstbewußtsein oder reflektierte Selbstverhältnis ist wesensmäßig auf den intersubjektiven Kontext hin ausgelegt, von Grund aus offen für die soziale Dimension19. Die praktische Frage als Resultat der Doppelerfahrung von praktischer Notwendigkeit in der „Faktizität des Zu-Seins" einerseits, und eines Handlungs-resp. Möglichkeitsspielraums andererseits zielt, sofern sie aus der Sicht des Subjekts grundsätzlich gestellt wird, auf das eigene Sein, auf das Leben im ganzen.20 Als Frage nach dem Lebenssinn oder dem guten und gelungenen 16

Die Parallele ist zu ziehen zu Ranners Begriff der „Wahl", als Art der persönlichen Entscheidungsfmdung, in seinen Überlegungen zu den Exerzitien des Ignatius. Rahner sieht in den Exerzitien die Verwirklichung seiner Existentialethik und das individuelle Finden des ethischen Existentialimperaü'vs gegeben. Die „Wahl" als „Wahl der Erwähltheit" bedeutet die Findung des Individualwillens Gottes, der Einmaligkeit begründet, in einer Weise der Grundentscheidung für diesen Willen. Vgl. Rahner, K., Schriften zur Theologie. Bd 1-15. Nebst Reg. zu 1-10, Zürich, Köln, Einsiedeln: Benzinger, 1962-1983, Bd. 2, Kirche und Mensch, 1962, S. 243; ders., Einübung priesterlicher Existenz, Freiburg: Herder 1970, S. 289ff; ders., Betrachtungen zum ignatianischen Exerzitienbuch, München: Kösel, 1965, S. 14f. 17 Tugendhat, E., Selbstbewußtsein, passim. Wolf, U., Problem, passim. 18 Tugendhat, E., Selbstbewußtsein, S. 145ff. 33ff. 19 Tugendhat erweitert hier den im Anschluß an Heideggers Existenzphilosophie formulierten Begriff des praktischen Selbstbewußtseins um die soziale Dimension durch Bezug auf die Sozialphilosophie von G. H. Mead, vgl. Tugendhat, E., Selbstbewußtsein, S. 264ff. 20 ebda., S. 193ff.

52

Perse» und Subjekt im Kontext des guten Lebens

Leben, indiziert die ethische Grundfrage eine theoretisch-praktische Gesamtschau des eigenen Daseins. In ihr wird der Entwurf oder die Vision des geglückten Lebens transparent, die praktische Frage wird so zur Frage nach der Struktur der persönlichen Identität, welche Voraussetzung für die volle Handlungsfähigkeit ist21 Eine Orientierung am Begriff des praktischen Selbstbewußtseins, wie er hier als Grundlage einer vernünftigen Praxis zur Diskussion gestellt wird, ist für die ethisch-theologische Reflexion in mehrfacher Weise richtungsgebend. Gegenüber der traditionellen Bewußtseinstheorie in der Rezeption der idealistischen Subjektphilosophie gelingt ein paradoxiefreier Begriff von Selbstbewußtsein, dem ethisch-praktische Relevanz zugeschrieben werden kann. In diesem Zusammenhang sind Konsequenzen hinsichtlich einer Neudeutung des Subjekts und der Autonomiefrage zu erwarten, insbesondere, was den Wahrheitsdiskurses betrifft. In Differenz zum Subjektverständnis auf Grundlage eines epistemischen Selbstbewußtseins, rekurrierend auf das Subjekt-Objekt- resp. Substanzmodell, erscheint für den Entwurf einer zeitgemäßen Fundamentalmoral jene Subjektkonzeption auf Basis des praktischen Sichzusichverhaltens zielführend zu sein mit der Vorstellung einer handelnden Person, welche in intersubjektiven Zusammenhängen eingebunden ist, und innerhalb dieser Zusammenhang die Möglichkeit zur Selbstbestimmung findet.22 Ethische Subjektivierung, anthropologisch fundiert, die Konstitution von Autonomie und der Gewinn persönlicher Identität werden als praktische Aufgabenstellung antizipiert. Die strukturelle Charakterisierung zeichnet das Selbstbewußtsein als Selbstverhältnis aus, als Beziehung des Subjekts zu sich, als materielle, geschichtlich konkrete Person.23 Selbstbestimmung und Autonomie bedeuten in diesem Kontext eine ausgezeichnete Weise des Sichzusichverhaltens, ein Sich-Verhalten zum eignen Sein oder zum Leben im ganzen. Es handelt sich um eine Stellungnahme zur individuellen Handlungs-, Wunsch- und Affektdisposition, in der die Person darüber entscheidet, wer sie letztlich sei will, womit sie ihre moralisch-praktische Subjektivität konstituiert. In der Distanzierung von vorgegeben Normen, Erwartungen und sozialen Rollen wie auch von der eigenen Triebhaftigkeit oder unmittelbar sich aufdrängenden Wünschen nimmt das Subjekt seinen Freiheits- resp. Möglichkeitsspielraum wahr, dem eine grundsätzliche Gestaltungsoffenheit entspricht, und entwirft oder konkretisiert in diesem Sinn das Leben seiner Wahl. Die Selbstbestimmung gewinnt - mit der Rückbindung an Kernelemente der antiken aristotelisch-thomasischen Handlungstheorie - erst ihre eigentliche Form in der Wahl des Wahren und Guten als oberstem Handlungsziel. Das

21 22 23

Wolf. U.. Problem, S. 138f. 147. 191. Tugendhat, E., Selbstbewußtsein, S. 29f. 32. ebda., S. 28-34.

Das zugrundeliegende Subjektkonzept

53

reflektierte Selbstverhältnis impliziert, so gesehen, die Wahrheitsfrage, sofern diese auf Voraussetzungen des eigenen Handelns gerichtet ist.24 Als entscheidend in diesem Zusammenhang wird der sozial-intersubjektive Charakter des praktischen Selbstbewußtseins angesehen. Das Verhältnis zu sich selbst konstituiert sich erst durch den interaktiven Bezug, der Entwurf des eigenen Seins ist wesensmäßig auf die soziale Dimension verwiesen, ohne intersubjektiven Kontext undenkbar. Selbstbestimmung oder die Wahl der Lebensform, auf die hin man sich in seinem Wollen und Handeln verstehen kann, ist streng an das Kriterium der intersubjektiven Vermittelbarkeit gebunden. Damit wird die Wahrheitsfrage neu strukturiert auf der Ebene eines offenen intersubjektiven Wahrheitsbezugs. Die von jedem einzelnen Subjekt gestellte Frage nach dem guten Leben, nach dem, was für das eigene Sein letztlich relevant ist, impliziert einen intersubjektiv formulierten und jeweils neu zu formulierenden Wahrheitsdiskurs, im Sinne einer Intersubjektivität von sich selbst und sich gegenseitig auf Wahrheit hin korrigierenden Subjekten.25 Die Bedeutung der Perspektive des Subjekts wird hier für die Begründung ethischer Praxis am Horizont der Wahrheitsfrage transparent: der Rekurs auf das praktische Selbstbewußtsein im vorgestellten Sinn eines sich intersubjektiv verstehenden Selbstverhältnisses erscheint als notwendige Bedingung der Möglichkeit, letzte Relevanzfragen rational zu stellen.26 Für die Moraltheologie wurde im Hinblick auf die Ausgestaltung der Perspektive des Subjekts ein Subjektbegriff vorgeschlagen, welcher im praktischen Selbstbewußtsein grundgelegt ist. Ethische Subjektivität konkretisiert sich - dies wurde versucht deutlich zu machen - im Modus der persönlichen Wahl, findet dabei - in der existenziellen Ambivalenz und Grunderfahrung von praktischer Notwendigkeit und Möglichkeit und der damit gegebenen Verpflichtung zu eigener Daseinsgestaltung - ihren anthropologischen Basisbezug. Dieser Prozeß der sukzessiven Entwicklung und Entfaltung des Handlungssubjekts wurde als Schwerpunktthema ausgegrenzt. Vorausgesetzt ist ein Personbegriff, der in seiner Bedeutung abweicht von der scholastisch-neuscholastischen Tradition. Wie erwähnt, ist die in der gegenwärtigen Moraltheologie präsente Personmetaphysik durch eine dynamische Subjektmetaphysik zu ergänzen. Die Person wäre demnach essentiell im Kontext des fundamentalen Interesses am guten und gelungenen Leben zu verstehen, menschliches Dasein als ursprüngliches „Seinkönnen" zu erfassen, „das sich selbst handelnd bestimmen kann und das immer und unausweichlich und notwendig dabei ist, sich durch Tun oder auch Nicht-Tun zu bestim-

24 25 26

ebda., S. 28ff. ebda.,S.43f;47f. ebda., S. 48.

54

Person und Subjekt im Kontext des guten Lebens

bestimmen"27. Person ist in diesem Sinn „Ausgriff des Erkennens und Wollens auf das Sein als die Fülle aller seiner Bestimmungen".28 Mit der Zentrierung dieses elementaren Antriebs menschlichen Lebens und Handelns auf einen inhaltlichen Ursprung und eine Mitte hin findet die Person ihre vertiefte Deutung, gewinnt ihre sittliche Dignität. Wesentlich erscheint in diesem Zusammenhang gegenüber Kants Kritik die Rehabilitation des klassisch antiken Begriffs der Eudämonie, die Wiederherstellung ihrer positiv sittlichen Relevanz und des normativen Sinns in der Formulierung des „geglückten oder sinnvollen Daseins". In der Dynamik der Grundinteressen als Konstanten des sittlichen Lebens - ausgedrückt in der „Sorge um sich selbst" - ist die Person ausgerichtet auf das Gute, inhaltlich präzisiert und positiv bestimmt, die „Erfüllung menschlichen Sein-könnens"29. Damit ist der Eudämoniegedanke, die Konkretion des Guten als der allgemeinste Inhalt des Sollens streng an den Personbegriff gebunden. Hier wäre eine Auseinandersetzung mit der modernen, von Kant maßgeblich beeinflußten Moralkonzeption zu suchen, in der die Frage nach dem Inhalt des moralisch Gebotenen auf Ebene des Sollens angesetzt wird, was zu einer Reduktion im Gesamtbereich des Sittlichen führt. Uneingelöst bleibt die Problematik einer Einheit der praktischen Prinzipien, die nicht allein im Sollensmoment begriffen werden kann, die stattdessen - wie skizziert - vom Ursprung und der Mitte menschlichen Seinkönnens her zu fassen ist. Sinnerfülltes Personsein erweist sich entsprechend der Endlichkeit und Vorläufigkeit des Lebens als ein ständig neu zu bestimmender und zu leistender Vollzug, wird konkret gemäß der strukturellen Determination menschlichen Seinkönnens in der spezifischen Form des Ethos, als die einzig „wirkliche Gestalt sittlichen Lebens "; diese ist grundsätzlich schöpferisch, trägt Entwurfscharakter.30 An dieser Stelle scheint es erneut wesentlich, eine mögliche Hypertrophierung der Eudämonievorstellung und damit ein weitgehend inoperables Glückskonzept zu vermeiden. Sosehr der elementare Antrieb und die fundamentalen Interessen des Menschen auf die Erfüllung des Daseinssinns im Handeln zielen, so bleibt dennoch zu betonen, daß moralisches Leben stets kontingent, häufig auch ambivalent verläuft; damit immer auch mit der Möglichkeit des Scheiterns zu rechnen hat, worin sich die Dimension personaler Selbstverfehlung artikuliert. Das Ideal einer höchsten und endgültigen Eudämonie, verstanden als „definitiver Zustand beständigen sinnerfüllten Personseins", transzendiert in diesem Sinn das reale Leben und Erleben, welches „als immer auf dem Wege, als ständig neu sich bestimmend und behauptend, als stets zu leistender Vollzug und bei allem und in alledem als endlich gegeben 27 28 29 30

Kluxen, W., Ethik und Ethos, in: PhJ 73 (196511966), S. 345. Demmer, K., Wahrheit, S. 48. 76. Kluxen, W., Ethik, S. 345. ebda., S. 348. 350.

Das zugrundeliegende Subjektkonzept

55

ist"31. Die Konzeption des geglückten Person- oder Subjektseins im Sinne des guten Lebens ist, entsprechend der aristotelischen Bestimmung der Eudämonie, in der spezifisch menschlichen Tätigkeit der Vernunft verankert und steht von daher im sozial-intersubjektiven Bezug. Das praktische Subjekt ist in seiner Realisation und Selbstbestimmung nur aus dem Kontext einer kommunikativen Beziehung zu anderen Subjekten zu begreifen ebenso wie aus seinem Verhältnis zur Wahrheit resp. zur praktischen Vernunft. Eine Person kann sich nur zu sich selbst verhalten, indem sie sich zu anderen verhält und dieses Sichverhalten der anderen zu ihr grundsätzlich mitvollzieht.32 Die Beziehung zu sich selbst ist vermittelt durch das Verhältnis, das zu anderen besteht. Das praktische Selbstbewußtsein konstituiert sich im Sprechen mit sich selbst und dieses konstituiert sich seinerseits sozial, als Verinnerlichung des kommunikativen Redens mit anderen. Im praktischen Mitsichreden liegt jene besondere Form des autonomen Selbstbezugs vor, die als Selbstbestimmung bezeichnet wurde, insofern es eine grundsätzliche Stellungnahme zum eigenen Sein wie den jeweiligen vergangenen wie künftigen Handlungsmöglichkeiten beschreibt.33 Für diesen inneren Dialog ist die enge Bindung an die Vernunft und ihre Begründungsstruktur resp. den damit gegebenen Wahrheitsbezug signifikant. Selbstbestimmung als Stellungnahme zum eigenen Dasein stellt im Prozeß des Überlegens und Begründens eine Weise des Mitsichredens dar, in der der Überlegende aus einer objektiven Perspektive, aus derjenigen eines beliebigen Partners, mit sich zu Rate geht. Für den Prozeß der ethischen Subjektivierung oder des Gewinns personaler Identität wird damit die praktische Beratungssituation charakteristisch. Der ethische Grundsatzdiskurs eröffnet in seiner Entfaltung eine intersubjektive Gesprächssituation, für die das beratende oder empfehlende wie auch aufklärend-kritisierende Moment konstitutiv ist. Authentische Selbstbestimmung und jede dementsprechend selbstbestimmte Entscheidung ist mit Blick auf den intersubjektiv zu gewinnenden Konsens über die Konzeption des guten Lebens an das Kriterium der intersubjektiven Vermittelbarkeit gebunden, sie bedarf der Anerkennung durch den anderen und muß von daher einer objektiven Begründbarkeit zugänglich sein. Selbstbewußtsein als Grundprinzip vernünftiger Praxisgestaltung ist nur im Anerkennen von und im Anerkanntwerden durch anderes Selbstbewußtsein möglich;34 so gesehen, ist Subjektbestimmung oder der Gewinn praktischer Identität im Modus der Selbstbestimmung - mit einer irreduzibl-intersubjektiv begründeten Wahl des Guten - unabdingbar an die - zumindest potentielle - Zustimmung anderer gebunden. Für die ethisch-theologische Reflexion des

31 32 33 34

ebda., S. 346. Tugendhat, E., Selbstbewußtsein, S. 249. ebda., S. 41; 245ff. Tugendhat im Anschluß an G. H.. Mead. ebda. S. 266ff.

56

Person und Subjekt im Kontext des guten Lebens

Handlungssubjekts ergeben sich hier weitere Anknüpfungspunkte, die es zu entwickeln gilt. Die Entfaltung des Selbstverhältnisses in der Struktur des Mitsichredens im Paradigma der Beratung erfordert eine adäquate konsiliatorische Leistung der Ethik, wie sie in der beratenden symbuleutischen Strebensethik mit der systematischen Reflexion der konsiliatorische Grundsituation des Subjekts gegeben ist. Das Selbstverständnis der Moraltheologie ist zum einen von daher zu erweitern. Sie wird dabei vor allem in Hinblick auf ihre normethischen Diskurs kritische Selbstreflexion zu betreiben haben, mit der Aufklärung über einen heute stillschweigend vorausgesetzten univoken Normbegriff. In diesem Zusammenhang wird es unabdingbar erscheinen, die traditionelle Unterscheidung von Gebot und Rat und damit das jeweils implizierte Ethikverständnis neu zu durchdenken.35 Zum anderen ergibt sich eine sublime Zone sittlicher Praxis, die bisher nicht Gegenstand der Diskussion geworden ist. Die Einführung des praktischen Selbstbewußtseins ermöglicht es, den zentralen Bereich der Innerlichkeit, im Sinne des Sich-zu-sich-Verhaltens zugänglich zu machen. Der praktische innere Dialog als Derivat des kommunikativen Redens ist im Rahmen einer Ethik des geistigen Tuns zu erfassen. Die Moral theologie steht diesbezüglich überhaupt noch vor einer neuen Ausgangslage mit dem - zunächst experimentellen - Entwurf einer expliziten Theorie der inneren Handlung, was eine Ausweitung des Verantwortungsbereichs auf die Dimension des Bewußtseins und der Gedankenwelt als Vor-entwurf zur äußeren manifesten Tat bedeutet.

3.2. Die Eudämoniefrage in der Perspektive des Subjekts Unter dem Begriff der Angemessenheit wurde das richtige Leben als „generisch-qualitative Identität zwischen Ich und Welt" bestimmt, welche eine „quantitative Ge"mäß"heit der Größe und des Grades" miteinschließt; umgekehrt wurde das verfehlte, mißlingende Leben als ein Verhältnis der Nichtidentität oder der Unangemessenheit charakterisiert. Angemessenheit oder Unangemessenheit sind dabei als eine qualitative Bestimmung aufzufassen, die jedes nur mögliche Weltverhältnis begleitet, so auch in besonderer Weise neben dem praktischen, das religiöse.36 Die Vorstellung des richtigen und geglückten Lebens - soll sie realisiert werden - ist mit dem unverzichtbaren Prozeß einer Selbstklärung und Selbstfindung verbunden. Die Person in ihrer Ganzheit muß erfaßt werden, um zu ermöglichen, was sonst nur verborgen und Wunschdenken bliebe. Das richtige oder gestörte Verhältnis zu sich kann

35 36

Vgl. Demmer, K., Wahrheit, S. 65. Krämer, H., Prolegomena, S. 81ff.

Die Eudämoniefrage in der Perspektive des Subjekts

57

als wesentliches Kriterium für ein geglücktes oder gescheitertes Leben angesehen werden, wobei für die innere (Un)Angemessenheit die Unterscheidung zwischen eigenen Möglichkeiten und eigenen Ansprüchen konstitutiv ist.37 Als auslösende Kraft für die notwendige Klärung des Selbstverständnisses, welche neben dem Einblick in eigene Fähigkeiten und Möglichkeiten auch Grenzen berücksichtigen müßte, mag dabei die grundlegende Sehnsucht nach einem erfüllten Dasein wirken, unabhängig davon, ob das tatsächlich geführte als solches erfahren wird. Hilfreich sein mag auch jenes - bei tiefer Betrachtung - sich erschließende Vorwissen um ein Verhältnis der Entsprechung oder der Übereinstimmung in bezug auf die jeweilige Lebenssituation. Diese intuitive Erfassung wird ergänzt durch die persönliche Vorstellung, daß eine positive Bilanz das Leben als ganzes betreffen sollte und nicht nur einige fragmentarische Glücksmomente, die sich mehr oder weniger zufällig ergeben. Nicht der Zufall wäre das Gesetz eines auf diese Weise angedeuteten Lebens, sondern die Überzeugung, daß eine kontinuierliche, auch das Detail berücksichtigende Entwicklung nötig ist, um ein angemessenes Verhältnis zu sich selbst - Hand in Hand mit dem Verhältnis zur Welt zu erreichen. Von Erfolg kann sicherlich dann gesprochen werden, wenn sich dieser nicht an Äußerlichkeiten mißt, vielleicht auch nicht an außergewöhlichen, herausragenden Leistungen, sondern vielmehr ein Leben andeutet, das in Übereinstimmung mit sich selbst, den eigenen Möglichkeiten und Ansprüchen geführt werden könnte, dem ein hoher Grad an Zustimmung eigen wäre. Vorbild ist hier eben nicht das „ideale" oder „perfekte" Leben, sondern jenes, das bejaht werden kann, indem es in einem kontinuierlichen Vorgang ein mehr und mehr angemessenes Selbstverhältnis in Aussicht stellt. Dies bedarf der Initiative, kann sich nicht - wenigstens in grundsätzlichen Bereichen - ausschließlich passiv einstellen. Wegweisender auch korrigierender Faktor wäre das Bewußtsein und die Sehnsucht von einem ganzheitlich erfüllten Leben in seiner vitalen und visionären Kraft, von welcher gesagt werden kann, daß sie stimmuliert und auch Situationen ertragen läßt, in denen die Existenz als unbefriedigend oder als Last empfunden wird. Sich ganz von der Vorstellung seines richtigen Lebens einnehmen zu lassen, das Fühlen und Denken ganzheitlich darauf zu beziehen, kann bereits als eine Leistung angesehen werden als ein schöpferischer Entwurf, der sich distanziert von einer mitunter auch einladenden resignativen Nivellierung, der im Gegensatz steht zu scheinbar bequemer Gleichgültigkeit. Das menschliche Grundbedürfnis nach einem geglückten Leben stellt zwar ein mächtiges Potential dar, das aber auch erschöpft werden kann, das sich zersetzt und verflüchtigt, in einem mißlingenden Leben, dem es immer wieder an Bereitschaft und Entschlossenheit mangelt.

37

ebda., S. 83, Anm. 47.

58

Person und Subjekt im Kontext des guten Lebens

Es ist nicht das eine oder andere Versäumnis, das diese Vorstellung schwächt, sondern ein langer, teilweise schleichender Prozeß der auf die stete Wiederholung von Inkonsequenzen und Disharmonien baut, nach dessen aufzehrender Dauer sich die bittere, jedenfalls durchdringende Sicht eines gescheiterten, verfehlten Lebens nahelegt, kaum noch aufgehellt von einer Sehnsucht nach Besserung. Als ein wesentlicher Faktor bei der Bewältigung von Krisensituationen, um eine einseitige Bilanzierung von Lebensabschnitten oder des ganzen Lebens zu vermeiden, kann der Perspektivenwechsel gelten, das Besinnen auf die Fähigkeit, innerlich ein Erlebnis aus unterschiedlichen Blickwinkeln von Nähe und Distanz zu betrachten, geistig-gedanklich Raum und Zeit zu wechseln. Diese innere Zusammenschau, die unter maßgeblicher Beteiligung der Phantasie verlaufen müßte, wäre Vergleich, Austausch, wäre ein zwischenund lebensgeschichtlicher Deutungs- und Gestaltungsversuch. Indem die Vorstellungskraft zum gegenwärtigen Erleben hinzutritt, wird dieses Erleben verändert, mehrdimensional ausgerichtet, die einzelnen Erlebnisse und Lebensabschnitte gewinnen einen mehr als nur chronologischen (und in dieser einen Richtung irreversiblen) Zusammenhang. Die Betrachtung von Ereignissen aus der variablen Perspektive der inneren Schau, der bewußte Einsatz der Vorstellungskraft, Hand in Hand mit dem Gedächnis, sollte bewirken, daß die übergeordnete Einheit und Einzigartigkeit, ja das Geheimnis eines Lebens kenntlich wird, die sinnvollen Entwicklungen und Übergänge zu durchschauen sind wie der innerer Zusammenhalt auch jenseits einer zeitlichen Folge. Die Nunancierung, auch die prüfende und interpretierende Gestaltung, die so einem Erleben zuteil wird, trägt zur gesteigerten Bewußtseinsbildung, zum Vorgang der Differenzierung und Neudefinition von Selbst- und Welterfahrung bei. Die nähere Bestimmung der Vision vom richtigen Leben, der Versuch, ethisch zu konkretisieren, wie das, der jeweiligen Persönlichkeit entsprechende, allein ihr angemessene Leben ausgerichtet soll, gibt Anlaß zu einer Reihe von Überlegungen. Welche Erfahrungen und Einsichten sind auf die Vorstellung des guten Lebens real zu beziehen, können sie inhaltlich bestimmen? Wie verdeutlicht sich der übergreifende Zusammenhang, das Leben in seiner Gesamtheit, wie die konkreten Einzelheiten? Darüber hinaus ist zu vergegenwärtigen: die Einsichten um ein solches gelingendes Leben - wie vermitteln sie sich, wie kommen sie zustande? Wie läßt sich schließlich das einmal vorhandene Bewußtsein in entsprechende Haltungen und Handlungen überführen, wie läßt sich dieses Leben in innerer Übereinstimmung mit sich auch nach außen hin praktizieren? In der aufrichtigen Selbstbefragung und -betrachtung, die grundsätzlich angelegt sein müßte, um zum für sich gültigen Leben zu finden, werden Zeiträume und Situationen wechseln, in welchen das erwünschte Leben weit entfernt scheint, sich die Vorstellung davon zu verflüchtigen droht; es muß

Die Eudämoniefrage in der Perspektive des Subjekts

59

nicht unbedingt die belastende Alltäglichkeit sein, die die große Vorstellung eines geglückten Lebens gefährdet, sie mehr und mehr schwächen kann, sondern die Erfahrung von Zuständen oder Befindlichkeiten, die im Denken und Fühlen eine Leere erzeugen, eine Unfähigkeit, sich wahrhaft zu öffnen; wo eine Undurchdringlichkeit und Abgeschlossenheit verhinderen, daß das Gesehene und Wahrgenommene begriffen, daß das Gehörte verstanden wird. Es wäre verfehlt, in derartigen Situationen, die sich mitunter über längere Zeiträume erstrecken können, in Gleichgültigkeit zu verfallen, mit Abstumpfung zu reagieren, sich entmutigen zu lassen durch die punktuelle oder länger währende Unmöglichkeit, Übereinstimmung mit sich zu erreichen und jenes Leben zu führen, das erfüllend wäre. Gerade in solchen Perioden bleibt die Sehnsucht nach dem anderen Leben aufrecht: die sich unter ihrem Antrieb heraus bildende Klarheit des Wollens kann wie ein sensibilisierender und vorbereitender Vorgang wirken, kann mit Hilfe der Imagination einen Vorgriff auf das, was sich noch entzieht, darstellen. So zeichnet sich - und sei es erst im temporalen Rückblick - in einer oftmals diffusen und verschleierten Selbst- und Welterfahrung, in manchmal schmerzlich wahrgenommenen Phasen der Zwiespältigkeit auch eine Schlüsselerfahrung ab, eine Art der Klärung zunächst im negativen Kontrast, im Sinne einer Makierung von Antizielen38, bisweilen aber auch ein bestimmtes Verwobensein von Gelingen und Mißlingen, jedenfalls ein knappes Nebeneinanderliegen beider Wertungen. Umso tiefgreifender, vor diesem Hintergrund auch effektiver, wären dann diejenigen Augenblicke und Erlebnisse zu sehen, in welchen die Vision vom erfüllten Leben, von seiner Möglichkeit, eigentlich erst entsteht, sich entfaltet zu einer durchdringenden, überzeugenden Einsicht reift. Wie erscheint ein derartiger Einblick möglich? Zunächst könnte es sich um das Ergebnis eines als außergewöhnlich empfundenen und kaum zu erklärenden Augenblicks handeln: durch ein Ereignis oder einen Zustand geschieht eine Erschütterung, eine Bewegung, die das Bewußtsein in seiner Gesamtheit erfaßt, ein plötzliches Zusichselbstkommen bewirkt. Die Wahrnehmung wird durchdringend und klar, eine Erfahrung der jähen Offenheit und Aufnahmefähigkeit stimmt mit der Teilhabe und Gegenwärtigkeit von Empfinden, Denken und Imagination überein. In gleichsam eigener Augen- und Ohrenzeugenschaft geschieht die Verschmelzung von 38

Grenzerfahrungen wie Endlichkeit, Leiden, Krise oder Scheitern einer Lebensform haben einen „erschließenden, indikatorischen Effekt, weil sie in die Zone führen, wo die Minimalwerte und Limits der eigenen Belastbarkeit auf dem Spiel stehen und das Weltund Selbstverhältnis in ein Unverhältnis umzuschlagen beginnt... Die Grenzerfahningen markieren die Antiziele und indizieren dadurch indirekt die Lebensziele. Darin liegt ihre doppelte Bedeutung für eine Strebensethik. Ihnen kommt darum nicht nur in anthropologischer, sondern auch in praktischer Hinsicht eine ausgezeichnete Schlüsselstellung zu, weil sie das Gesammtfeld dessen, was wir wollen und erstreben, schlaglichtartig erhellen und dadurch Anhaltspunkte dafür bieten, Rangordnungen und Prioritäten zu setzen", Krämer, H., Integrative Ethik, S. 193f.

60

Person und Subjekt im Kontext des guten Lebens

Selbst- und Welterfahrung. Dem in solchen Momenten der Kulmination höchsten vorhandenen Bewußtseins vergegenwärtigt und erschließt sich das Dasein als ein Inhalt und eine Gesetzmäßigkeit, aus der sich die Vorstellung von Erfüllung, Gelingen und Angemessenheit (Richtigkeit) nähren und bilden kann. Diese Augenblicke, die die eigentliche Substanz und Motivation zur Lebensführung verleihen, können überraschend auftauchende Ereignisse von Glück sein, kurz aufstrahlende und vielleicht eher seltene Glücksmomente, in denen sich die Fülle offenbart, andererseits aber auch länger währende Phänomene und Erlebnisse, zu denen zu bemerken ist, daß sich diese zumeist auf ein Gegenüber, ein Du beziehen werden. Es kann sich um erfahrene Freude und Harmonie mit dem anderen handeln, um Liebe, Zuneigung und Anteilnahme, die empfunden wird, aber auch um Erfahrungen von Trauer, von Leid, von Versäumnis oder Schuld. Nicht allein das glückhafte Erleben, sondern auch eine schmerzliche Erfahrung vermag ganz auszufüllen, damit zu lösen und zu befreien: indem der Mensch einerseits in solchen Zuständen durch die Verbindung mit dem anderen der einengenden Fixierung wie der Isolation seiner Individualität enthoben wird, andererseits sich aber als ganz erlebt, völlig zu sich selbst gelangt mit der unbegrenzten Offenheit und Durchlässigkeit zum anderen wie zu den vielfältigen Erscheinungen der Außenwelt. Die Erfahrungstatsache, daß es Augenblicke und Zustände gibt, in denen sich das Leben in seiner ganzen Eindringlichkeit zeigt, kann, aber muß nicht zwingend die Erkenntnis mit sich ziehen, diese als inspirierend und maßgeblich für die Lebensführung aufzufassen. Zunächst erscheinen solche Erlebnisse als partielle Phänomene, als einzigartige, aber doch eher seltene Erfahrungen, die in ihrer Großartigkeit der Existenz Höhepunkte verleihen, plötzlich Dimensionen von Weite und Tiefe eröffnen, das Bewußtsein augenblicklich steigern; zum Staunen anregen, indem Grenzen überwunden und Extreme erreicht werden, andererseits aber das gewöhnliche, alltägliche Leben mit all dem Ungenügen kaum tangieren. Eindrucksvolle Vorgaben also, nach denen aber doch nicht gelebt werden kann, deren Niveau letztlich nicht zu halten ist, weil der gesteigerte Anspruch und auch die Anspannung nicht tragbar erscheinen, den Anforderungen, die derartige Ereignisse stellen, auf Dauer nicht nachzukommen ist. Dennoch ist solchen umfassenden Erfahrungen etwas Denkmalhaftes zu eigen: sie bestehen, sie sind - in ihrer ganzen Gewichtigkeit - im Bewußtsein vorhanden, sie dokumentieren einen Zugang zum anderen, erfüllenden Leben; ein Wissen davon, eine Wahrheit hat sich festgesetzt, die zwar überdeckt oder auch vernachlässigt sein mag, hinter die im Grunde aber nicht zurückgegangen werden kann. In diesem Zusammenhang erscheint die Bereitschaft zur persönlichen Auseinandersetzung, zunächst in Form einer gedanklichen Durchdringung unerläßlich: es gilt den Umgang mit sich selbst kritisch zu prüfen, in der Weise etwa, wie wird dem, was wirklich betrifft, was erschüttert,

Die Eudämoniefrage in der Perspektive des Subjekts

61

was sich als bedeutsam erweist, innerlich begegnet, wie wird es wahrgenommen? Herrscht intellektuelle Redlichkeit vor? Werden die Gelegenheiten dazu, den Dialog aufzunehmen, immer wieder versäumt, wird vielleicht auch dem noch so dringlichen, wirklichkeitskräftigen Ereignis, der tiefen und mächtigen Erfahrung schließlich ein resümierendes „Umsonst" zugeschrieben, aus Nachlässigkeit und Gewohnheit, aus der heimlichen Befürchtung, mit Konsequenzen rechnen zu müssen, aus dem Unwillen, sich umzustellen? Werden Ratschläge, Warnungen oder Empfehlungen beachtet? Eine Spur des Ausweichens und der Versäumnisse könnte so ein Leben zeichnen, von dem ein bleibendes Unbehagen zeugt, daß es verfehlt wurde. Diesem Scheitern und Versagen gegenüber steht die Chance, zu einem tatsächlich entsprechenden, richtigen Leben zu finden, in dem klarerweise auch Verfehlungen zu integrieren sind; vorausgesetzt, es mangelt nicht an Aufrichtigkeit und Entschlossenheit, so dürfte auch der notwendige Einsatz zu erbringen sein im Hinblick auf das, was der eigenen Persönlichkeit direkt entspricht, was im Bereich ihrer Möglichkeiten und Fähigkeiten liegt, was durch sie selbst eröffnet wird. Um diese erfüllenden Augenblicke ermessen zu können, um instande zu sein, ihre „Botschaft" aufzunehmen, zu entschlüsseln und in der Folge den in ihnen enthalten Auftrag auszuführen, bedarf es der Konzentration, der empfindenden wie reflektierenden Versenkung, insbesondere auch der Phantasie: es ist festzuhalten, daß gerade unter ihrer schöpferisch konstruktiven Vorherrschaft, unter ihrer einerseits sammelnden und zusammenfassenden, andererseits differenzierenden Wirkungsweise transparent wird, was das Entscheidende solcher Momente der Lebensintensität ausmacht: nämlich, daß das Ereignis des Zu-sich-selbst-Kommens, das des Selbstseins in seiner Ganzheit erlebt wird und zugleich der Vollzug der Teilhabe an der Allgegenwärtigkeit des Daseins sich ereignet. So gelangt in der gesteigerten, umfassenden Selbsterfahrung auch das Allgemeingültige und -verbindliche, das plan- und gesetzmäßig Zugrundeliegende des Daseins zum Ausdruck, teilt sich dem Bewußtsein mit; vergleichbar etwa dem Akt eines erneuten oder wiederholten Geborenwerdens, eines zur Welt- und Zu-sich-Kommens. Hinsichtlich der ethischen Relevanz ist hier allerdings festzuhalten: der Wirklichkeit und durchdringenden Macht des Einblicks solcher Erfahrungen steht die persönliche Einstellung, die Haltung dazu gegenüber. Hier müßte sich ein entscheidender Ansatz ethischen Wollens und Begreifens dokumentieren: wird das Ereignis einfach und fraglos hingenommen, dem gewohnten „alltäglichen" Lebensablauf eingegliedert, schließlich nivelliert und übergangen, oder wird vielmehr darin ein Anstoß zu sittlicher Verhaltenskonsequenz gesehen; so gesehen, wäre als vorbereitender Schritt der Austausch, der innere Dialog mit sich selbst, die praktische Selbstberatung

62

Person und Subjekt im Kontext des guten Lebens

unter Beteiligung von Denken, Empfinden und Vorstellungskraft zu nennen, um Klarheit über sein Leben wie über dessen Ausrichtung zu gewinnen. Dem Ereignis der Selbstwerdung sollte die Selbstvergewisserung folgen, die ein antwortendes Zeichen ethischer Gewissenhaftigkeit darstellen kann: nämlich auf den Ernst des Ereignisses einzugehen, ihm den Rang eines Beispiels von vorbildhafter Dimension einzuräumen, eingeschlossen der Besinnung und Offenheit für die möglichen Konsequenzen. Das Wissen um die schöpferisch auszugestaltende Lebensführung, die Verantwortung dafür, soll zu diesem Entschluß, ja zu dieser geistig (gedanklichen)-ethischen Leistung führen, die dann auch im Handeln zu verifizieren ist. Eine solche Vorstellung ist dem Wunsch und der Absicht verpflichtet, als Ziel eine als notwendig erkannte Übereinstimmung von Denken und Handeln zu ermöglichen, im Bewußtsein, daß diese die entscheidende Grundbedingung darstellen würde für eine als angemessen und positiv erfahrene Existenz. In der intensiven Auseinandersetzung, der Erinnerung wie der gespannten Aufmerksamkeit wäre aus den Augenblicken der Lebensfülle, der Ganzheit des Selbst- und Weltverhältnisses, das Allgemeingültige zu gewinnen; es wären jene innewohnenden Prinzipien, Normen und situative Regeln der Lebensführung aufzuspüren und zu ergründen, um sie auf ihre Validität in der konkreten Lebenspraxis hin zu erproben und - in der zeitlichen Dauer - auf ihre Effizienz hin zu kontrollieren. Die vorerst kurzzeitige Erfahrung erfüllender Augenblicke soll als ein bestehender Beweis des möglichen Lebens gelten und ein Vertrauen wie ein phantasievolles Nachdenken bestärken, immer mehr das Allgemeingültige solcher Erfahrungen zu suchen und so teilzuhaben am schöpferischen Prozeß, in eigenständiger Verantwortung Prinzipien der Lebensführung zu schaffen. Dies bedeutet auch, nicht mehr überrascht den ergreifenden und durchdringenden Situationen ausgeliefert zu sein; vorstellbar wäre im Gegensatz dazu das mitschwingende Moment einer Bereitschaftshaltung: um so klarer könnten dann jene außergewöhnlichen Augenblicke und Zustände erfaßt werden, könnte eine ganz und gar geistesgegenwärtige Versenkung gelingen, könnte ein Tiefblick ermöglicht werden in Lebensfaktoren und Einzelheiten, die gewöhnlich unzugänglich sein mögen; die dennoch aber die Gewißheit vermitteln, die wirkliche, die „wahre" Welt zu erkennen, woraus sich Richtlinien für ein anderes Leben ableiten ließen, sich die Chance eines Daseins ergeben, das mit den eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Vorstellungen zu koordinieren ist und in einem gelungener Konsens seine Gültigkeit erreicht. Zweifelsohne bedeutet das Vorhaben und der persönliche Auftrag, die allgemein zutreffenden Gesetzmäßigkeiten und Richtlinien in den eigenen Erlebnissen und Erfahrungen wie in den daraus resultierenden und sie aufgreifenden Lebensträumen und Visionen aufzufinden und in der konkreten Praxis zu erproben, eine Berührung mit den Grenzen der eigenen Erkenntnis- und Leistungsfähigkeit. Andererseits sollte dies nicht Anlaß zur Resignation sein,

Die Eudämoniefrage in der Perspektive des Subjekts

63

da gerade der stete und geduldige Einsatz, die länger werdenden gedanklichen wie begrifflichen Anstrengungen und Leistungen das nicht unbedingt Endgültige, das von vornherein starr Fixierte solcher Grenzen wahrnehmen lassen: es ist der persönliche Zuwachs einzubeziehen, es sind Entwicklungen und Veränderungen zu berücksichtigen, ein persönliches Fortschreiten, welches anderen Bedingungen unterliegt, so daß sich einst massive Hindernisse in neuer Perspektive zeigen, Grenzen fluktuieren, diese umzuwandeln wie zu überwinden sind. In diesem Zusammenhang sei ein kurzer Hinweis auf den Aspekt des mißlungenen Lebens gegeben, der Dysdämonie, mit der Frage nach einer möglichen Bewährung der ursprünglichen Vision wie auch der Integration des Todesgedankens. Das Vorhaben, ein ganz bewußtes, ein als richtig erkanntes wie empfundenes Leben zu führen, wird, sofern dieses nicht auf bestimmte Augenblicke und temporale Zwischenbilanzen beschränkt sein soll, sondern auf ein lebenszeitlich erfüllendes Ziel hin gedacht ist, von vornherein auch Konfrontationen ausgesetzt sein, damit auch die Auseinandersetzung mit vorliegenden oder neu auftauchenden Hindernissen bestehen müssen. In diesem Sinn ist bei der Erprobung und Durchsetzung eines so beschaffenen Lebens neben dem gelingenden Ereignis immer auch mit Möglichkeiten des Scheiterns, Disharmonien und Bedrohungen zu rechnen, die schwerwiegend sein können, die die konkrete Praxistauglichkeit in Frage stellen, die aber letztlich darauf hinweisen, daß es unumgänglich ist, auch die negativen, nicht identischen Erfahrungen und Gegebenheiten miteinzubeziehen, ohne fundamental an der Durchführbarkeit eigener Vorstellungen, dem Recht auf sie, zu zweifeln und zu verzichten. Dem Dasein gemäß wäre es, geistesgegenwärtig mit Hindernissen zu rechnen, dem Schmerz, dem Leid, der Trauer wie Erfahrungen und Beweisen des Sinnverlust und Scheiterns von vornherein Raum zu geben, ohne aber von der inspirierten, als großartig empfundenen Vorstellung des Lebensganzen und der eigenen möglichen Lebensweise Abstand zu nehmen; Aufnahme solcher schmerzlicher Erfahrungen also, anstelle einer Auflösung der Vision; Verwesentlichung des Welt- und Selbstverhältnisses, was sowohl den Augenblick als die Gesamtheit des Lebens betrifft39. Dennoch, die Begegnung mit dem Leid, mit dem Tod kann von extremer Gewalt und Eindringlichkeit sein, vernichtende Einsichten, die Leere und Verzweiflung nicht ausschließen. Ohne diese Aspekte menschlicher Existenz in irgendeiner Form nivellieren zu wollen, ihnen Ernst und Strenge abzusprechen, sei aber gerade hier auf den wesentlichen Beitrag der Phantasie verwiesen. Durch ihren Beistand lassen sich Perspektiven der Einseitigkeit, der Ausweglosigkeit aufbrechen, Reduktion und Fixierung vermeiden. Ihre Offenheit und ihr Potential zur Vielgestaltigkeit machen Dimensionen transpa39

Vgl. Krämer, H., Integrative Ethik, S. 301. Die ethische Relevanz der Existenzphilosophie wird hier deutlich.

64

Person und Subjekt im Kontext des guten Lebens

rent, schafft neue, revidierte Verbindungen und Ausblicke, die der Stagnation, dem Abbruch entgegenstehen; ihrer immer wieder belebende und überraschend wirkende Aktivität verdankt sich die Verstärkung von Hoffnung, mancher Neuanfang wie auch die Fähigkeit, durchzuhalten. Es ist die Herausforderung an Empfinung und Denken, insbesondere aber an die Phantasie, das Wissen um die Endlichkeit des Daseins, um den Tod in die Lebensvorstellung zu integrieren; an dieser unverzichtbaren Auseinandersetzung, an der Bestimmung dieses fundamentalen Gedankens wird sich ihre Reife und letztlich ihr Gelingen messen. In dieser Hinsicht zeichnet sich gerade auf dem Hintergrund des Todesgedankens die Einmaligkeit und Einzigartigkeit jedes Lebensaugenblicks ab, stellt sich sein Wert jenseits von Gewohnheit und Unscheinbarkeit dar; die Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit birgt demnach auch eine das Leben steigernde Energie, die bewußt filr das Denken und Handeln genutzen werden sollte.

3.3. Diskurs über die sittliche Wahrheit Die Moraltheologie hat sich die Perspektive des Subjekts angeeignet, wird zu deren eigentlichem Anwalt, leistet ihre interpretative Verständigung. Sie spricht sich für das legitime Selbstinteresse am guten und geglückten Leben aus, läßt es als Thema für den ethischen Diskurs zu. Sie begegnet damit - in Aufarbeitung ihrer eigenen Tradition - dem Vorwurf einer prinzipiellen Interessenfeindlichkeit, sieht sich in Wahrung intellektuellere Redlichkeit immer wieder neu mit der Aufgabe konfrontiert, ihren Wissenschaftsbegriff wie das hermeneutische Forschungsinstrumentar einer Revision zu unterziehen. Nicht zuletzt als Folge ihrer Auseinandersetzung mit der wissenschaftstheoretischen Diskussion der Gegenwart40 findet die Moraltheologie zum kritischen Diskurs über die Struktur der Wahrnehmung und der Erkenntnis wie über die Eigenart der sittlichen Wahrheit. Ihr heute verbindlicher Referenzpunkt ist die hermeneutische Verklammerung von Erkenntnis und Interesse41. Sie hinterfragt unangemessene Paradigmen, Erkenntnisprämissen, deckt überkommene Denktraditionen auf, welche längst an Plausibilität und Glaubwürdigkeit verloren haben. Sie problematisiert auch subtile Verhaltensweisen der Bevormundung, Zentralisierung und Disziplinierung des Denkens, in welchen sich eine entsprechende Stellung und Wertung des sittlichen Subjekts widerspiegelt, prolongiert demgegenüber eine neue Kultur des befreiten geistigen Tuns. 40 41

Demmer, K., Das Selbstverständnis der Moraltheologie, in: Ernst, W. (Hrsg.), Grundlagen und Probleme der heutigen Moraltheologie, Würzburg: Echter 1989, S. 9f. Vgl. Habermas, J., Erkenntnis und Interesse, in: ders., Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1969, S. 146-159.

Diskurs über die sittliche Wahrheit

65

Diese Überlegungen bilden die denkerische Voraussetzung für die Formulierung und Ausarbeitung eines diskursfähigen, handlungstheoretisch relevanten Person- resp. Subjektkonzepts, welches gemäß der gewählten Option in innerem Verweisungszusammenhang von Erkenntnis- und Wahrheitstheorie steht. Die Frage nach Person und sittlichem Subjekt kann in diesem Sinn nur im Hinblick auf das Verhältnis zur Wahrheit geklärt werden, jede Lösung dieses fundamentalen Zusammenhangs bedeutet eine erkenntnisanthropologische Verkürzung, geht am Brennpunkt eines ganzheitlich gelingenden und geglückten Menschseins vorbei.42 Die Bemühung um eine diesbezügliche Verständigung der Moraltheologie hat in den vergangenen Jahren, wenn überhaupt, nur in sehr begrenzter Weise eingesetzt, ein weiterführender Diskurs zum Ansatzpunkt findet sich nicht. Sie gerät zurecht in die Kritik, es über die Bereitstellung von Kasuslösungen hinausgehend, im Grunde verabsäumt zu haben, ein denkerisches Programm oder konstruktive Vorschläge für den Aufbau oder die Ausarbeitung eines Ethos der Wahrhaftigkeit zu entwickeln, läuft damit Gefahr, zusehends an Glaubwürdigkeit, Plausibilität und Realitätsnähe zu verlieren. Der Mangel eines Grundsatzdiskurses zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit ist nicht zu übersehen, bildet er doch die wesentliche Voraussetzung für die eigentliche Ausgestaltung des sittlichen Subjekts. Im Vergleich dazu, bleiben alle anderen moraltheologischen Probleme in der Peripherie; jede Vision oder Idee eines ganzheitlich gelingenden und geglückten Menschseins, Selbstachtung und Personwürde, die Frage nach der Eudämonie bleiben stets auf den Kontext der Wahrheit bezogen, finden darin ihren verbindlichen hermeneutischen Referenzpunkt.43 Das offensichtliche Defizit mag überraschen oder auch nicht, ist doch die Moraltheologie hineingenommen in das Gespräch einer Zeit, in welcher ein innovativ-kritischer Gegendiskurs gerade zur Wahrheitsfrage zunehmend problematisch wird. Postmoderne Argumentationsbedingungen stellen über die Bewältigung der eigenen moraltheologischen Tradition hinausreichend eine komplexe Herausforderung dar, der es in einer offenen, gegebenenfalls auch konflikt- und widerspruchsbereiten Weise zu begegnen gilt. Inwieweit die gegenwärtige Moraltheologie dieser wiederum das Selbstbewußtsein berührenden Frage gewachsen ist, wird sich letztlich daran entscheiden, ob es gelingt, ihre Wahrheitsdiskurs neu zu überdenken und sich darüber im öffentlichen Bewußtsein entsprechend zu verständigen. Die Situationsanalyse der Gegenwart zeigt einen deutlichen Wandel der Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für die Frage nach der Wahrheit wie dem Umgang und das Verhältnis zu ihr.44 Im Kontext geänderter Erkenntnisse und Erfahrungen des postmodernen Menschen, der grundlegenden 42 43 44

Demmer, K., Wahrheit, S. 67. ebda Vgl. zum folg. Ruh, U., Wahrheit als Problem, in: Herd. Korr. 8 (1991), S. 345f.

66

Person und Subjekt im Kontext des guten Lebens

Erosion stabiler Sozialbezüge und traditioneller Beziehungsmuster, die mit einer oftmals irritierenden Vielfalt von „Lesearten" der inneren und äußeren Welt konfrontiert45, verliert „Wahrheit" als Anspruch und Leitbegriff zusehends an Plausibilität, „Beliebigkeit wird zum Prinzip'*46. Die geistig kulturelle und politisch-ökologische Situation der Gegenwart und ihre größtenteils differierenden Lesearten impliziert in diesem Sinn Verunsicherung, zusehends Orientierungslosigkeit bis hin zum Identitätsverlust. Angesichts dieser Zeitdiagnose bleibt für die katholische Theologie und Kirche und ihrem umfassenden Wahrheitsanspruch die Möglichkeit, in restaurativer Tendenz weiterhin „objektive" Wahrheit fundamentalistisch zu behaupten, damit die ohnehin stets latente Neigung, den diffizilen diskursiven Ausweis von Wahrheit durch Lehramtspositivismus abzukürzen, weiter zu verschärfen, Wahrheit so durch iuridische Sanktion und Repression einzuklagen; in diesem Sinn die längst eingetretene Erosion, Partikularisierung und Ausdifferenzierung von Wahrheits- und Geltungsansprüchen weiterhin zu übersehen, dabei - sich den problematischen Bedingung der späten Moderne anzupassen - mehr und mehr die Flucht in ein offenes Getto vorzubereiten oder in Kauf zu nehmen, welches die postmoderne Partikularisierung und Realisierung der Lebensformen geradezu anbietet und bereitstellt mit dem Rückzug auf den Status eines „binnenreligiösen Sonderethos", bei dem der Aufweis seiner inneren Sinnhaftigkeit und Verbindlichkeit durch autoritative Verfügung geleistet resp. ersetzt wird, wenn auch dabei der universale Anspruch des christlichen Glaubens seine Relevanz verlieren mag.47 Neben dieser in der gegenwärtigen katholischen Theologie und Kirche praktizierten Problembewältigung der spezifisch postmodernen Situation steht die Option für eine geistesgegenwärtige Wahrnehmung jener produktiven Herausforderung, welche Gelegenheit zum kritischen Diskurs gibt und die greifbare Chance konkret in Aussicht stellt, das spezifisch Eigene neu zu überdenken und entsprechend zu artikulieren im Hinblick auf den - gerade in der postmodernen Orientierungslosigkeit und Verunsicherung - nötigen Entwurf von Modellen guten und geglückten Lebens, die zumindest in annähernder Weise Konsensfähigkeit beweisen. Ausgangspunkt dafür wäre zunächst die ethische Vergewisserung der Ambivalenz des modernen Bezugs zur Wahrheit und der in ihr enthaltenen grundlegenden Möglichkeit.48 In erster Linie wäre dabei das für die gegenwärtige Zeit typische Wahrheitsverhältnis nicht nur als unausweichliche Begleiterscheinung des sozio-kulturellen und politisch-ökologischen Wandels anzuerkennen oder hinzunehmen, sondern vor allem positiv zu beurteilen. Mangelnde Wahrheitsorientierung und -bindung, oftmals als Kritik gegenüber 45 46 47 48

Keupp, H., Chancen, in: Universitas 45 (1990), S. 841. Ruh, U., Wahrheit, S. 345. Honnefelder, L., Zeitgeist, S. 26ff. Vgl. zum folg.. Ruh, U., Wahrheit, S. 346f.

Diskurs über die sittliche Wahrheit

67

gleiterscheinung des sozio-kulturellen und politisch-ökologischen Wandels anzuerkennen oder hinzunehmen, sondern vor allem positiv zu beurteilen. Mangelnde Wahrheitsorientierung und -bindung, oftmals als Kritik gegenüber der modernen pluralistischen Gesellschaft auch von kirchlicher Seite erhoben, ist in diesem Sinn „gerade um der Wahrheit willen zu begrüßen".49 Hier vermittelt sich in positiver Wertschätzung eine grundlegende Skepsis gegenüber ideologischen oder kirchlich-religiösen Wahrheits- und Deutungsansprüchen, gegenüber dem Monopol einer vorgegebenen und verordneten „objektiven" Wahrheit und deren Durchsetzungsvarianten. Wahrheit ist im wesentlichen plural anzusetzen, die eine Wahrheit scheint immer nur in vielfältigen Gestalten und unterschiedlichen Schattierungen möglich. Wahrheit läßt sich nicht autoritativ vermitteln, weder vorschreiben noch aufzwingen, sie verlangt einzig die freie Anerkennung. Sie ist von ihrer Wesensgestalt her auf den subjektiven und intersubjektiven Diskurs verwiesen, bedarf des grundlegenden Wahrheitsdisputes, in dem sie sich herauskristallisiert, der gemeinsamen Konsenssuche, an der eine Vielzahl, auch kontroversieller Stimmen beteiligt sein soll. Mit der Zustimmung zu diesem heute unabdingbar geforderten Wahrheitsstreit findet der christliche Glaube seine eigentliche Chance und Möglichkeit, die in ihm enthaltene moralische Herausforderung zu artikulieren und einzubringen. Er muß, gefordert vom Anspruch der eigenen wie der an ihn herangetragenen Erwartung einer Sinnvermittlung, versuchen, sich im notwendigen Disput um die Wahrheits- resp. Sinnorientierung spät- oder postmoderner Gesellschaften zu beteiligen und seine Position geltend zu machen.50 Als entscheidende Einsicht wurde in diesem Zusammenhang bereits festgehalten, daß die Konstitution des sittlichen Subjekts wie die Interpretation des authentischen Selbstverhältnisses in der Weise autonomer Selbstbestimmung sich im eigentlichen erst am Verhältnis zur und im Umgang mit der Wahrheit bewährt. Selbstbewußtsein und selbstbestimmtes Verhalten intendieren eine Praxis aus Vernunft, sie sind unlösbar an die intuitive Empfindung und rational-diskursive Überlegung gebunden, finden ihre konkrete, letztgültige und in diesem Sinn verbindliche Orientierung an der Wahl des wahrhaft Guten, als letztem Bezugsgrund allen Planens, Entwerfens und Handelns51. Das praktische Selbstverhältnis ist, so gesehen, ausgerichtet auf die Seinserschließung, als Wahrheits- und realisiertes Freiheitsverhältnis zu begreifen, es indiziert von sich aus die Wahrheitsfrage, soweit diese auf die Voraussetzungen des eigenen Handelns bezogen ist, diesem zur Begründung dient. „Im gelebten und verantworteten Verhältnis zur Wahrheit spiegelt sich auf ursprünglichste und eindringlichste Weise das Selbstverhältnis der sittlichen Person wieder"52. 49 50 51 52

ebda., im Orig. gesp. ebda. Tugendhat, E., Selbstbewußtsein, S. 230ff. Demmer, K., Wahrheit, S. 67.

68

Person und Subjekt im Kontext des guten Lebens

Die Erfahrungen und Zustände der Lebensintensität, die das ganz Zu-sichselber-gekommen-Sein, das Selbstsein in seiner Fülle und zugleich den Vollzug der Teilhabe an der Allgegenwärtigkeit des (Da)seins auszeichnet, vermitteln - in weiterer Vertiefung ihrer Bedeutung - ein überzeugendes Ereignis von Wahrheit und Freiheit: indem das Bewußtsein durchdrungen und erfüllt wird von der Gewißheit, endlich am erhofften und erwarteten, am wirklichen und wahren Leben teil zu haben, vermittelt sich in dieser Lebenswahrnehmung eine Perspektive der Befreiung wie die Erkenntnis von Freiheit: dem ganz zu sich selbst Gekommenen, der mit seinem Leben übereinstimmt, sich damit identifizieren kann, stellt sich der befreiende Imperativ dar: „So will ich leben!"; wie er auch zu der Überzeugtheit gelangt, daß es in seiner Möglichkeit und Macht steht, sein Leben aus derart qualifizierten Erfahrungen der Wahrheit zu bestimmen, daran zu orientieren und frei gestaltend fortzusetzen. Eine Einsicht und ein Ansatz, die offenkundig ethische Maßstäbe nach sich ziehen. Der Moment des Wahrheitsereignisses hat etwas ergreifend Machtvolles, etwas höchst Vitales an sich ebenso wie ihm auch eine Doppelnatur zuzuschreiben ist: einerseits wird die ganz auf die Person zutreffende, sie ins Zentrum stellende, aus ihr stammende und sich bestätigende Wahrheit des Erlebens (subjektiver Anteil) transparent, zum anderen gelangt in diesem Ereignis eine allgemeingültige, die Person übersteigende Wahrheit zum Ausdruck, wird bewußt als Teilhabe am (Da)sein vernehmbar. Eine solchermaßen qualifizierte Wahrheitserfahrung lädt geradezu ein und fordert von sich aus in Erprobung ihrer Gültigkeit den Austausch, den kommuniktiven Austausch jeglicher Art, schon deshalb, um die Doppelsinnigkeit von subjektiver und intersubjektiver Wahrheit aufzuhellen, zu differenzieren und zu klären. Es handelt sich um eine Wahrheit, die in einem zweifachen Bezug zu sehen ist; indem sie über die Person hinausweist, beinhaltet sie zwar Selbsterkenntnis, regt aber zugleich zum Vergleich und Austausch mit der Wahrheitserfahrung der anderen an, macht neugierig darauf, das gemeinsam Geteilte und Verbindliche aufzusuchen und in der Alltagspraxis zu erproben. In dieser Hinsicht wären gerade für den Bereich der Beziehungsethik, wo es um Verständigung und gegenseitiges Verstehen gehen soll, von der das Individuum überschreitenden Wahrheitserfahrung wichtige Impulse zu erwarten. Einen zweite Bezugspunkt dieser Wahrheit bildet die Person selbst, deren Leben, insbesondere deren zukünftiges: die Momente des Wahrheitserlebnisses sollten nicht in sich beschränkt bleiben, zwar großartige, letztlich aber abgeschlossene Formen sein; dessen ungeachtet, das Leben im Grunde als bruchstückhaft, fragmentarisch angesehen wird. Gerade einer solchen Anschauung oder einem solchen Empfinden von Beliebigkeit und Durcheinander gegenüber steht die Klarheit, das Bewußtsein von übergeordneter Einheit und Zusammenhalt wie Zusammengehörigkeit der Lebensmomente und -abschnitte. Zerrissenheit, Gegenläufigkeit, Wirrnis, scheinbare Sinnlosigkeit

Diskurs über die sittliche Wahrheit

69

der Lebenseindrücke werden aufgehoben in einem Ereignis, das den Blick öffnet und schärft für den inneren Zusammenhang, die Folgerichtigkeit und Gesetzmäßigkeit, so daß sich eine tiefe und große Erfahrung des Erfassens und Begreifens des eigenen Lebens konstituiert. Der Augenblick des Wahrheitsereignisses ist erfüllt von einer sich ausdehnenden, auf die konkrete Lebensführung einwirkenden, sie verändernden Kraft. Gewißheiten, Sicherheiten, welche evident werden, bewegen die Vorstellungskraft, sind gegenwärtig im Denken und Empfinden. Diese schon bestehende Vitalität kann darüber hinaus gefördert und unterstützt werden durch die aufrichtige und entschlossene Absicht, sein Leben aus derartigen Anstößen heraus neu zu formen, es gemäß der Einsichten auszurichten, um so auf einen visionären Aufriß eines gelungenen, erfüllten Lebens abzuzielen. Wer die Einzigartigkeit derartiger Wahrheitsereignisse aber auch die Anforderungen bezüglich Gestaltung und Handlung, die sie implizieren, begreift, wird versuchen, auch im Bewußtsein eigener Grenzen und möglichen Scheiterns diesem nun offensichtlichen Anspruch an sich selbst nachzukommen. Dies läge im Sinne einer bewußt praktizierten Verantwortlichkeit für das eigene Leben, die im Unterschied zu einer denkbaren Gleichgültigkeit oder Fahrlässigkeit auch Sorge zu tragen hätte, um das Bewahren und Festhalten, ständige Erproben und gegebenenfalls korrigieren erkannter Wahrheiten und erschauter Visionen; denn es bedarf eines besonderen Willens, es erfordert Mut und Vertrauen, es braucht den gesteigerten geistigen Einsatz, um die Vorstellung eines möglichen anderen, richtigen und guten Lebens gegenüber zerstörenden Einflüssen abzusichern, insbesondere gegenüber dem offenen oder auch heimlich sich einstellenden Zweifel. Hier ist eine entschiedene geistige Haltung und Handlung unerläßlich, die um die Notwendigkeit und Folgerichtigkeit einer Verteidigung der einmal gewonnenen Vorstellungen und überprüften Erfahrungen gegenüber Irritation und Zersetzung weiß. Denn nur in der Abwehr und im Widerstand gegen die Allgegenwärtigkeit subversiver Kräfte sowohl im handelnden Subjekt selbst als auch von der Außenwelt herangetragen, kann ein Fundament gesichert werden, auf dem sich Visionen und Entwürfe zu einem erfüllten Leben realisieren lassen. Der elementare und gründende Bezug des praktischen Subjekts auf das Dasein als Wahres und Gutes scheint bedeutsam und ist zu unterstreichen, insofern sich hier eine erweitere Metaphysik des Guten ankündigt und als heute wieder und neu zu gewinnende Option Gestalt gewinnt Der originäre Gegenstand und Bezugspunkt der sittlichen Vernunft ist das Gute in der ursprünglichen Konvergenz mit dem Wahren. Entsprechend scholastischer Transzendentalienlehre gilt diese Übereinstimmung für den Begriff der sittlichen Wahrheit als konstitutiv.53 Die Seinsfundierung der sittlichen Wahrheit begründet in diesem Sinn deren absoluten, dem Verfügen und Zugriff entzogenen An53

ebda., S. 70.

70

Person und Subjekt im Kontext des guten Lebens

spruch. Der aus der moraltheologischen Tradition aufzunehmende und für die gegenwärtige Problemstellung wieder einzubringende Ansatz der Perichorese, welcher einer normethisch möglichen Verengung bei der Bestimmung des Wesens der sittlichen Wahrheit entgegenwirken soll, setzt sich linear fort und geht ein in die grundlegenden anthropologischen Implikationen und Rahmenbedingungen. Unter dem Aspekt der natürlichen Neigung zum Guten ebenso wie zum Glück ist Glück nicht nur eine subjektive Empfindung oder ein Erleben54, es findet darüber hinaus sein objektives Fundament in der Zielvorstellung eines umfassend gelungenen und erfüllten Lebens, für die das Gute verantwortlich zeichnet. Glück ist in diesem Sinn unabdingbar an die sittliche Wahrheit gebunden, zu deren Wesen es umgekehrt gehört, Glück zu besorgen, die sittliche Wahrheit steht im Dienst an Ziel- und Wertvorstellungen, sie leistet so konkrete Lebens- Orientierungs- und Entscheidungshilfe55. Ein überwiegender Teil der heute vorrangig im Sinne normativer Ethik verfahrenden Argumentation der Moraltheologie läuft hier neuerlich Gefahr, in die Kritik zu geraten, aufgrund eines weitgehend reduzierten Metaphysikverständnisses, welches implizit vorausgesetzt resp. auch vertreten wird,und dem auf handlungstheoretischer Ebene ein ebenso reduzierter Begriff von „Handlung" korrespondiert. Die ausführliche Kritik wird in anderem Zusammenhang anzuführen sein, sie bezieht sich hier im wahrheits- und analog erkenntnismetaphysischen Bereich auf ein größtenteils defizientes Seinsverständnis: „Sein wird stillschweigend auf Seiendes zurückgenommen, Transzendenz verkommt zu formal inhaltsleerer Abstraktheit". Die Metaphysik des Guten mit der Frage nach der Kohärenz von Wahrheits- und Erkenntnistheorie, nach der Hermeneutik von sittlicher Wahrheit, verlagert sich unter diesem Aspekt zusehends in den Bereich der Handlungspsychologie56. Im Kontext dieser - wie erwähnt - das normative-methodologische Selbstverständnis betreffenden Verengung des Denkhorizonts gegenwärtiger Moraltheologie stellen sich heute wesentliche Vermittlungsschwierigkeiten in der Kommunikation und Argumentation ein. Unter dem leitenden Aspekt der „Handlungssicherheit", dem eine Objektbetonung des sittlichen Sollens entspricht, bleibt eine demgegenüber längst notwendig gewesene integrative Erfassung der sittlichen Persönlichkeit mit der Frage nach dem eigentlichen Wollen oder dem subjektiven Befindlichkeit des Menschen weitgehend unberücksichtigt und unbewältigt, verschwindet in den Bereich des bleibenden, von Verlegenheit und Ratlosigkeit umgebenen Desiderats57. 54 55 56 57

Demmer, K., Eudämonie, S., 105. Demmer löst den Glücksbegriff gänzlich vom Erleben resp. der persönlichen Empfindung ab. ebda. ebda., S. 66. 70f. ebda., S. 70f.

Diskurs über die sittliche Wahrheit

71

Die ethische Diskussion ist nach wie vor nicht oder nur sehr peripher mit den Grundlagen des sittlichen Subjekts befaßt. Trotz der zwar grundsätzlich vollzogenen Rezeption des Autonomiegedankens fehlt ein ausdrücklicher Diskurs zum Status der Subjektivität immer noch. Augenscheinlich am nach wie vor ungeklärten Verhältnis der Moraltheologie zum Freiheitsprinzip und dem damit verbunden Anspruch zur Selbstbestimmung im Sinne unbedingter und autonomer Handlungsfähigkeit. Eine konsequente Aufhellung des neuzeitlichen Freiheitsbewußtseins und des damit verbundenen anthropologisch-existenziellen Ansatzpunktes für jeden Entwurf konkreter Moralgestaltung ist noch nicht wirklich erfolgt, womit die ursprüngliche Autonomierezeption selbst, mit ihr die Argumentationsvoraussetzung des II.Vatikanischen Konzils heute zur kritischen Frage werden. Darauf ist zurückzukommen. Die ethische Diskussion hat hier entscheidenden Nachholbedarf, sie wird in vielen Einzelbereichen noch wesentliche Aufklärungsarbeit zu leisten haben. Das vorgestellte Projekt ist in diesem Sinne kritisch und kontrafaktisch orientiert, es richtet sich gegen den Subjektverlust am Ende der Moderne und die damit verbundene Identitäts- und Ethikkrise, gegen die verschiedenen Versionen zeitgenössischer Subjektkritik und plädiert dafür, den Stellenwert der Subjektivität, mit ihr das in der Selbst- und Lebenserfahrung bezeugte Subjekt wie seine unvertretbaren existenziellen Eigeninteressen neu zu überprüfen und für die Praxis zu spezifizieren; im Interesse, heute die Möglichkeit eines ethisch-praktischen Diskurses überhaupt noch aufrecht oder vertretbar zu halten mit der Wahrnehmung des praktischen Subjekts als autonomer Entscheidungsinstanz.58 Diese doppelte Vergewisserung ist klarerweise auch eine Anfrage an die Moraltheologie, wie sie die Chance wahrnehmen kann, mit der Vorstellung eines spezifisch eigenen Konzepts, einen zeitgemäßen, der heutigen Subjekt- und Moralkritik widersprechenden Beitrag zu leisten. Selbstverwirklichung und Selbsterfüllung als Zielaspekte jenes geglückten Freiheitsdiskurses realisiert sich nicht in abstrakter Isolation: Sie indizieren von sich aus ein bestimmtes Welt- und Sozialverhältnis, im theologischen Sinn auch Gottesverhältnis, der Angemessenheit, Identität und des Sinnes, entsprechend den Grundrelationen des guten und erfüllten Lebens, dem auf Seiten des negativen Pendants des schlechten und verfehlten Lebens ein Verhältnis der Nichtidentität, der Ungemäßheit, des Mißlingens und der Absurdität entspricht.59 Selbstwahl und Selbstsorge implizieren, so gesehen, immer auch Weltwahl, in der Weise, daß Freiheit von und zu sich selbst immer schon eingebettet ist in die Freiheit von und zu der Welt.60 Indem sich das praktische Selbstbewußtsein, artikuliert in der Sorge um sich selbst, nicht individualistisch, solipsistisch oder egozentrisch, sondern im 58 59 60

Vgl. Krämer, H„ Integrative Ethik, S. 204,214. ebda., S. 149f. Krämer, ohne Einbindung des Gottesverhältnisses. ebda., S. 155.

72

Perse« und Subjekt im Kontext des guten Lebens

Gegenteil sozial-interaktiv konstituiert, erfordert es von sich aus den subjektiv-intersubjektiven Wahrheitsdiskurs, in der Weise, daß jeder einzelne unabdingbar und mit allen anderen die Wahrheitsfrage selbst zu stellen hat. Es sollte sich eine „Intersubjektivität von sich selbst und sich gegenseitig auf Wahrheit hin kritisierende Subjekten"61 ergeben. Angepeilt ist im Interesse der authentischen Wahrheit das Ereignis und der Vollzug eines gemeinsamen intersubjektiv konstruierten Wahrheitsdisputs, der von einer Vielzahl an Teilnehmern getragen ist, um so mögliche Wahrheitsorientierungen zu gewinnen. Die positive Wertschätzung, freie Anerkennung und unabdingbare Einbindung unterschiedlich diskursiver Beiträge zugunsten der Wahrheit mit der ausdrücklichen Vergewisserung der verschiedenen - auch kontroversen - Gestalten und Facetten vermitteln die wesentliche Einsicht, daß die Wahrheitsfindung mit der folgenden Bestimmung sittlicher Norm- und Urteilsfragen nicht vom Kontext Wahrheit organisierender und -konstruierender Subjekte zu lösen ist. Diese Einsicht hält an der Annahme resp. Antizipation von selbstbewußten und eigenverantwortlichen, zur Freiheit befreiten (Glaubens)subjekten fest, die sich in ekklesiologischer Gemeinschaft wiederfinden, wobei es in diesem Zusammenhang freilich wesentlich ist, eigenständige normative Rahmenkriterien zu entwickeln, zum Schutz der Möglichkeit eines Pluralismus ethischer Entwürfe und Visionen guten und geglückten Lebens, in der Weise einer regulativen, koordinierenden und korrigierenden Instanz.62 Hier verdichtet sich die grundsätzliche - auch theologisch kirchenamtliche Kritik an ideologischen, aufoktruierten Wahrheits- Begründungs- und Geltungsansprüchen, es zeigt sich deutliche Distanznahme zu heteronomer Indoktrination, Domestizierung oder Verlehramtlichung des Diskurses der aus der Wahrheit lebender und die Wahrheit suchender (Glaubens)subjekte. Die praktisch-theologische Reflexion der Moraltheologie hat in dieser Hinsicht eine Wächterfunktion auszuüben, entsprechend dem eigenen wissenschaftlichen Selbstverständnis kommt es ihr zu, Ideologiekritik zu betreiben, auch gegenüber Dokumenten und des kirchlichen Lehramts. Für sie ergibt sich dabei die vordringliche Aufgabe, von der Wahrheitsfähigkeit der einzelnen Erkenntnissubjekte auszugehen, diese gegebenenfalls zu antizipieren und in diesem Sinn die tragende Relevanz der Subjektivität im hermeneutischen Prozeß von Wahrheitsfindung und Wahrheitsdeutung hervorzuheben, darüber Verständigung zu schaffen resp. diese gegenüber kontroversieller Argumentation einzuklagen und damit zu stützen. An die Moraltheologie richtet sich das Anliegen, den gemeinsamen Wahrheitsdisput zu fördern, auf sein Gelingen zu achten, sie hat über den Pluralismus im Zugang zur Wirklichkeit und Wahrheit Aufklärung zu leisten, auch auf die Möglichkeit zum legitimen Widerspruch hinzuweisen. Ihr obliegt es, die einzelnen Subjekte in ihrem persönlichen und konsensuellen Wahrheits61 62

Tugendhat, E. Selbstbewußtsein, S. 43. Seel. M., Wiederkehr, S. 49.

Diskurs über die sittliche Wahrheit

73

diskurs zu begleiten, deren konstruktive Arbeit daran zu unterstützen, durch theoretische Reflexion und praxisnahe Instruktion. Ihre in dieser Hinsicht eingebrachte Argumentation für eine umfassende, notwendigerweise fundamental theologische Wahrheitsbestimmung müßte sich dabei über den Brennpunkt der Intersubjektivität auf den Entwurf einer konsensuellen Wahrheitstheorie hin verständigen, in der die Aspekte der Korrespondenz, der Evidenz und der Kohärenz integrativ erfaßt sind und die ihre ethisch-praktische Relevanz im Kontext einer spezifisch theologischen Handlungstheorie erweisen kann.63 Den ganzen Zusammenhang kann ein Blick auf die bereits mehrfach erwähnte Verbindung von Erkenntnismetaphysik und Wahrheitstheorie verdeutlichen. Verbindlicher Referenzpunkt für die moraltheologische Reflexion bleibt dabei die Vergewisserung des hermeneutischen Bezugs von Erkenntnis und Interesse. Ein erster Hinweis gilt dem analogen Verständnis von Wahrheit, der Wahrnehmung der Differenz, welche zwischen den verschiedenen Wahrheitsebenen besteht und welche in unterschiedlicher Weise in Anspruch nimmt.64 Sittlich Wahrheit ist in diesem Sinn vom Paradigma einer Objektwahrheit abgehoben, die dem Bereich gegenständlicher, mehrheitlich rezeptiver Erkenntnis zugeordnet ist. Eine mangelnde Unterscheidung führt zu wesentlicher Verkürzung und Einengung des moraltheologischen Diskurses. Sittliche Wahrheit wird dabei als Tatsachenwahrheit verkannt, welche im Modus einer Gegenstands- oder auch geschichtlichen Wahrheit immer schon - mehr oder weniger determinativ - dem menschlichen Erkennen vorausliegt. Die praktische Vernunft verhält sich ihr gegenüber vorzugsweise passiv-rezeptiv, womit sie auf dem Status eines Ableseorgans beschränkt bleibt.65 Verkürzt die moraltheologische Reflexion ihre Wahrheitsinterpretation auf diese Weise, so läuft sie neuerlich Gefahr, in der Ethik jene traditionelle Divergenz zu wiederholen, derzufolge eine objektiv gegebene indoktrinierte Sittenordnung der subjektiv-sittlichen Einsicht entgegen- und gegenübersteht, diese auf ein pathisch-rezeptives Ablesen objektiver Geltungsansprüche reduziert. Demgegenüber steht das Bemühen, das Verständnis der sittlichen Wahrheit auf die Kategorie der Sinnwahrheit hin zu öffnen, der ein metaphysisch anthropologischer Basisbezug eignet. Sinneinsicht läßt sich nicht - erkenntnistheoretisch gesprochen - mit einem erkenntnistheoretischen Realismus verbinden, gefordert ist eine idealistische Erkenntnistheorie.66 Sinn und damit sittliche Wahrheit implizieren auf Seiten des erkennenden und wahrnehmenden Subjekts das Moment schöpferischer Deutung und Konstruktion, passiver Re63 64 65 66

Vgl. dazu Arens, E. Zur Struktur theologischer Wahrheit, in: ZKTh 112 (1990), S. 1-17. Vgl. Puntel, L. B., Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, Dannstadt, 1978. Demmer, K., Wahrheit, S. 68ff. Demmer, K., Moraltheologische Methodenlehre, Freiburg: Herder, 1989, S. 119f. ebda., S. 122.

74

Person und Subjekt im Kontext des guten Lebens

zeption tritt aktiv-kreative Wahrnehmung und Wirklichkeitserfassung entgegen. Indiziert ist primär die autonom schöpferische Potenz des Menschen, näherhin die Dimension der Phantasie in ihrer ausgewiesen ethico-ästhetischen Gestalt.67 Die gegenwärtige Moraltheologie hat in dieser Hinsicht, wohl als Folge der langfristigen Orientierung an Kant, wesentlichen Nachholbedarf. Eine konzessionslose Anerkennung der schöpferisch-subjektiven Kräfte, im Sinne einer ganzheitlich-integrativen Wahrnehmungs- und Wahrheitsfähigkeit steht im Grunde noch aus, vorherrschend scheint nach wie vor die (Macht)struktur einseitig kognitiv-instrumenteller Rationalität und deren entsprechend eingeschränkter Wirklichkeitsbezug. Optiert wird demgegenüber die handlungstheoretische Rehabilitation der Phantasie, die Wahrnehmung ihres operationalen Charakters im erweiterten ethico-ästhetischen Vernunftkonzept. Das bedeutet, mit dem Nachweis ihrer handlungstheoretischen Funktion die eudämonistische Kompetenz der Phantasie in der praktischen Frage nach dem guten und gelingenden Leben neu zu sichten und auf ihre Verbindlichkeit hin zu prüfen. Der normative Diskurs erweitert sich unter diesem Aspekt auf die Dimension der wahrnehmenden Entdeckung von Seins- und Gesetzesstrukturen, im Sinne qualitativer Seinserschließung, welche als obligat für das revidierte Personkonzept angesehen wurde; darauf ist ausführlich Bezug zu nehmen ebenso wie auf das in diesem Zusammenhang neuerlich angesprochene Desiderat einer Ethik des inneren, geistigen Tuns, mit der Vergewisserung erkenntnis- und wahrnehmungskonstituierender Faktoren. Die als unabdingbar betrachtete Unterscheidung zwischen den verschiedenen Wahrheitsebenen bedingt in Hinsicht auf das der Moraltheologie zugrundeliegenden wahrheitstheoretische Konzept die Option für die Ergänzung oder Ausweitung der bislang praktizierten, auf die Erfassung und die Einsicht in Objektwahrheiten gerichtete Konvergenztheorie durch eine Konsenstheorie. Sittliche Wahrheit ist in ihrer Authentizität nur vom Konsens her zu bestimmen.68 Sie behauptet sich autonom gegenüber Tatsachen Wahrheiten, in gewisser Weise auch gegenüber reiner Sinn- oder anthropologischer Wahrheit, insofern sie, zwar das umfassende Gelingen des Humanums reflektierend, immer auf die Dimension des Guten Bezug nimmt. Im Hinblick auf das erkenntnistheoretische Konzept bedeutet dies, daß sittliche Wahrheit von ihrem Wesen her als grundsätzlich anzunehmen ist, ihr originärer Gegenstand bleibt die personale Gutheit des Subjekts, Objektivität und Subjektivität finden sich auf dieser Ebene freiheitlich vermittelt. „Der Erkennende entwirft sich auf seine eigene zukünftige Vollendung hin", konsenstheoretisch betrachtet heißt das, daß der Diskurs über sittliche Ansprüche sich stets auf Zielgestalten oder Zielvisionen hin ereignet. „Aus einer 67 68

Guth, R., Phantasie passim. Demmer, K., Methodenlehre, S. 122.

Diskurs über die sittliche Wahrheit

75

gemeinsamen Zukunftsvision erfließen gemeinsame Handlungsziele für die das Leben einzusetzen lohnt. Über sie geschieht Verständigung ehe sie sich nachfolgend in normative Sätze umsetzt. Die das konkrete Handeln präzeptiv regeln".69 Unter dem Aspekt des schöpferischen-intersubjektiv vermittelbaren Entwurfs eines umfassend gelingenden und guten Lebens gewinnen die Momente von Interpretation und Konstruktion ethisch entscheidende Relevanz. Sittliche Wahrheit indiziert einen „setzenden Charakter" des Erkennens, Wahrheit wird durch den erkennenden Geist konstituiert. Sie ereignet sich dort, „wo das Erkennen seinen Gegenstand durchformt und so erst erkenntnisfähig macht"70. Sittliche Wahrheit erfordert in diesem Sinn eine entscheidende subjektive Interpretations- und schöpferische Produktionsleistung des Menschen, entsprechend ihrer Verwurzelung im Subjekt impliziert sie Ausdrucksqualität, die sich erst im Verlauf eines lebensgeschichtlichen Prozesses wahrnehmen, entdecken und schließlich in der alltäglichen Praxis realisieren läßt. Das erkennende und handelnde Subjekt trägt ein persönliches Lebensprojekt, d.h. ein Projekt der Freiheit an die empirisch vorgegebene Gegenstandswelt heran, es durchformt, bewertet und determiniert diese, indem es auf Hintergrund seiner eingebrachten Vorverständnisse und zentralen Interessen, d.h. eben seiner persönlichen Vision des guten, sinnvollen und geglückten Lebens, eine eigenständige Interpretation schafft.71 Das sittliche Subjekt konstituiert und konstruiert erst auf Basis seiner natürlichen und verbindlichen Neigung zum Guten und zur Eudämonie, der Vorstellung eines schöpferischen Entwurfs eudämonieträchtiger Lebens- und Handlungsziele, im Erschließungsund Steigerungsprozeß von Intuition, Reflexion und schöpferischer Phantasiearbeif2 seine eigene geschichtliche Wirklichkeit. Wahrhaftigkeit des Subjekts, erkenntnisanthropologisch grundgelegt, meint dann, die „Bereitschaft, das Gesamt menschlicher Erfahrungswirklichkeit so zu deuten, daß es im Dienst an der eigenen sittlichen Konsequenz steht; die Wirklichkeit ist so wahr, als sie Möglichkeiten besseren Handelns erkennen und entschlossen aufgreifen läßt, kurz, als sie sich dem Lichtstrahl von Idealen und Zielvorstellungen aussetzt. Erkennen heißt, den sittlichen Anspruch, wie er sich in Idealen und Zielvorstellungen bündelt, einsehen und die umgebende Wirklichkeit unter ihren ordnenden Deutungsanspruch stellen"73. Mit der Reflexion der sittlichen Wahrheit im Charakter subjektiver Setzung, als eigenständige und im wesentlichen schöpferische Setzung des Menschen, ist im moraltheologischen Denken nicht nur das individuelle Subjekt in seinem ethischen Grundsatzdiskurs wahrheitstheoretisch eingeholt, wie es der 69 70 71 72 73

ebda., S. 69. 76. 138. Demmer. K., Wahrheit, S. 138. ebda. Guth, R., Phantasie, passiin. Demmer, K.. Wahrheit, S. 139.

76

Person und Subjekt im Kontext des guten Lebens

postmodernen Differenz von Geltungsansprüchen adäquat scheint, sondern darüber hinaus seine in diesem Zusammenhang entscheidende intersubjektivkommunikative Vernetzung verrechnet. Unter diesem Aspekt gewinnt die Dimension des Konsenses als Mittel der Wahrheitsformulierung und Wahrheitsfindung im Unterschied zur Konvention seine hermeneutische (ethische) Relevanz ebenso wie die damit implizierte Frage nach der normativen Verfassung sozialer ekklesiologischer Strukturen, unter deren Bedingung sich jener ereignen kann, wobei die ethische Aufmerksamkeit vor allem auf - die ausdrückliche - Vergewisserung bereits erwähnter Schutz- und Korrekturfunktionen in bezug auf das Gute zu richten sein wird. Dem Paradigmenwechsel im gegenwärtigen Wahrheitsverständnis der-Moraltheologie hinsichtlich Wirklichkeitserkenntnis, Wahrheitsfindung und Wahrheitsfähigkeit des individuellen Subjekts, als Folge einer kritischen Selbstbesinnung auf die postmoderne Vernunft und Wahrheitsdifferenzierung wie auf die damit verbundenen pluralen Zugänge zur Wahrheit, entspricht auf moral theoretischer Ebene das Konzept einer „innovativen"74, oder besser, schöpferisch-kreativen Moral, um den gemeinten Sachverhalt präziser auszudrücken. Sittliche Handlungsnormen und Grundprinzipien sind unter diesem Aspekt nicht einfachhin vorgegeben oder auferlegt, sie werden nur im eigenständigen innovativ-kreativen Prozeß des Suchens und Findens vorstellbar. Die oftmals zitierte „Anwendung" ethischer Normen bedeutet einen „authentischen innovativen Akt" des erkennenden und sich entscheidenden Subjekts, sie wird unterschiedlich abgestuft, je nach individueller und gesellschaftlicher Verfaßtheit, den jeweils eingebrachten Vorverständnissen und Interessen sowie der persönlichen situativen Gegebenheit geleistet, sei es als Interpretation vorgefundener Verhaltensweisen, sei es als originäre Erschließung nicht konkret vorformulierter Handlungsanweisungen.75 Geht man von der prinzipiell unverfügbaren, deshalb strikt verbindlichen sittlichen Grunderfahrung des Menschen aus, im Sinne der Erfahrung „einer ihm eigenen Unbeliebigkeit, einer ihn unbedingt angehenden und seine Sinnhaftigkeit bestimmenden Besinnlichkeit/Wirklichkeit", die sowohl die Selbstverwirklichung als Subjekt und Person wie auch das konkrete Planen und Handeln als Artikulation dieser Selbstverwirklichung betrifft, so erscheint diese in allen Menschen als die gleiche Absolutheitserfahrung, die aber in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und auch im je Einzelnen entsprechend dem soziokulturellen Kontext eine jeweils spezifische Nuancierung und unterschiedlichen Ausdruck erlebt76. Diese natürliche Neigung zum Guten und Wahren, zur Eudämonie, der Vorstellung eines ganzheitlich gelingenden, glückenden Lebens gewinnt in mannigfacher Weise ihre Konturen; im Hinblick auf das Subjekt fordert sie 74 75 76

Fuchs, J., Innovative Moral, in: StdZ 3 (1991), S. 181-191. ebda., S. 182f. 186 . Fuchs, J., Das Absolute in der Moral, in: StZ 207 (1989), S. 826f.

Diskurs über die sittliche Wahrheit

77

nicht nur zu expliziter Stellungnahme, zur Bewältigung und Gestaltung des Daseins heraus, sondern erhält im Lauf der Lebensgeschichte jeweils unterschiedliche und immer wieder neue Thematisierungsgrade wie Urteilszuweisungen, in deren Kontext sich die Genese der sittlichen Person ereignet;77 zum anderen ist im Hinblick auf die soziale und kulturelle Gebundenheit stets mit differenten, auch kontroversiellen Interpretationen, Deutungsmustern und Zugängen zu rechnen, womit angesichts des deutlichen Pluralismus die Konsensfrage virulent wird. Gegentiber der einen, objektiv gültigen - darin problematischen - Auslegung dieser Erfahrung eines grundlegenden Absolutums, steht die plurale, eigenständige und - im Unterschied - eigenverantwortliche Wertung und Reflexion des Subjekts wie der analog konstruierenden Subjekte, welche weitgehend von der jeweils geistigen und emotiven Disposition bestimmt ist, was heißt, daß eben notwendigerweise und unabdingbar eine ethischer Pluralismus in Betracht zu ziehen und damit auch unumkehrbar in der Moraltheologie anzuerkennen ist.78 Christliche Ethik ist in diesem Sinn eine Moral „offener Optionen und Entscheidungen"; sie indiziert ein Verständnis sittlicher Wahrheit als Wahrheit des je einzelnen und der je einzelnen Gesellschaft in ihrer Konkretheit, die nur innovativ gefunden werden kann und die von Subjekt zu Subjekt und von Gruppe zu Gruppe stets auch unterschiedlich sein kann. Unter diesem Aspekt ist die Frage nach dem sittlichen Sollen im Horizont des subjektiven Lebensentwurfs zurückgebunden an die Frage nach der Sinnhaftigkeit der jeweiligen Lebensgeschichte und des jeweils von Erwartungen und Interessen geprägten Selbst- und Weltverständnisses.79 Unangemessen scheint in diesem Zusammenhang ein weiteres Festhalten am traditionellen ethischen Gegensatz von Subjekt- oder Objektgebundenheit des Sittlichen; hier kündigt sich eine Korrektur im Sinne eines neuen dialektischen Bezugsverhältnisses an; das auf Intersubjektivität und Konsensualität, damit auf Objektivität hin orientierte Subjekt vollzieht im interaktiven hermeneutischen Prozeß des Suchens und Entdeckens die prinzipielle Problematisierung und Klärung ethisch-praktischer Verhaltensfragen. Die theologische Ethik findet sich hier in ihrer individualethischen Grundperspektive wieder mit dem Referenzpunkt des fundamentalen Selbstinteresses wie dem Streben nach Wahrheit und Glück des Subjekts. Sie geht davon aus, daß Wahrheit nicht mehr unabhängig von jeder Subjektivität gedacht werden kann, die Berufung und Vertretung einer Kontext unabhängigen, objektiv gegebenen Wahrheit angesichts postmoderner Pluralisierung und Differenzierung heute kaum mehr wirklich plausibel und gegenwärtigen Reflexionsniveau angemessen erscheinen kann, nur um den Preis von Restauration und Repression möglich ist. Sittliche Wahrheit indiziert in 77 78 79

Demmer, K., Wahrheit, S. 52ff. Fuchs, J., Absolute, S. 33If. Fuchs, J., Moral, S. 187f.

78

Person und Subjekt im Kontext des guten Lebens

diesem Sinn keine Statik, ist nicht von intersubjektiver und lebenspraktischer Beziehung zu isolieren. Objektivismus, läßt sich immer nur auf intersubjektive Objektivität hin verständlich machen. Unter diesem Aspekt tritt die Moraltheologie für die Zulassung und ausdrückliche Befürwortung eines als unabdingbar erachteten ethisch-pragmatischen Pluralismus ein. Die Entscheidung für die eigenständige individualethische Wiederaneigung wie ihre Neusituierung innerhalb des Diskurses des guten, wahren und glücklichen Lebens folgt dieser wesentlichen Erkenntnis nach. Die moraltheologische Theoriebildung orientiert sich hier an der Faktizität des Daseins, an der Kontingenz, Geschichtlichkeit und steten Variabilität menschlichen Lebens, welche sich konkret wiederspiegelt in den verschiedenen Versionen ethischer Konzepte, den abweichenden Interpretationen und sittlichen Wertungen als bedingte, vorläufige und enorm differierende Ausdrucksformen des einen Absoluten, das in ihnen präsent ist. Dieser Einsicht zufolge „würde den von den Menschen selbst stammenden sittlichen Entwürfen nicht ein einheitliches und allen gleichartiges Unbedingtes (ein Absolutum) entsprechen, sondern ein notwendiger Pluralismus ethischer Entwürfe".80 In diesem Sinn hat die moral theologische Theorie nicht von einem einzigen absoluten ethischen Modell richtigen Verhaltens auszugehen, sondern im Gegenteil, von stark unterschiedlichen Entwürfen als Ausdrucksgestalt des einen ethischen Absolutums. Mit innerer Notwendigkeit entwickeln sich so gemäß kontextueller, interessenbezogener, situativer, genetischer und konkret lebenspraktischer Zusammenhänge und der damit verbundenen grundsätzlichen Offenheit zur Revision und Neubearbeitung vielfach abweichende Sittlichkeitsvorstellungen und -konzepte, die dabei nicht nur subjektiv, sondern auch „objektiv" richtig sein können, „denn Sittlichkeit hat es nicht nur mit einer abstrakten Idealwelt zu tun, sondern mit der dem Menschen bekannten Welt, das heißt, mit der Welt, wie er sie kennt. Im weltweiten menschlichen Wirklichkeitsbereich kann es kein konkretes und einfachhin gleichartiges allgemeines sittliches Bewußtsein geben. Ein solches Bewußtsein kann nicht sein konkreter Auftrag sein".81 Die individualethische Vergewisserung menschlichen Handelns in seiner Einmaligkeit seitens der Theologie knüpft hier an die bereits angedeutete Auseinandersetzung mit Rahners Überlegungen zu einer „formalen Existentialethik" an. Rahner greift diesen Fragenkomplex um die Existentialqualität der individuell persönlichen Sittlichkeit in der Erkenntnis des Willens Gottes zunächst unter dem Gesichtspunkt einer Abgrenzung von der „Situationsethik" auf. Die Situationsethik „leugnet die allgemeine und in jedem Fall gültig bleibende Verpflichtung materialer allgemeiner Normen im konkreten Einzelfall", ihre theoretische Grundannahme ist einerseits „eine extreme Existentialphilosophie, andererseits ein protestantischer Affekt gegen 80 81

Fuchs, J., Absolute, S. 83If. ebda., S. 832.

Diskurs über die sittliche Wahrheit

79

die Geltung eines „Gesetztes" innerhalb eines christliche Daseins"82. Im Gegensatz dazu skizziert Rahner seine formale Existentialethik zunächst im Hinblick auf die allgemein herrschende Meinung über Inhalt und Genese eines bestimmten sittlichen Imperativs in einer konkreten Situation, die davon ausgeht, „daß die Anwendung allgemeiner moralischer Normen auf die konkrete Situation eo ipso den konkreten Imperativ ergibt"; in diesem Sinn gibt die Situation gleichsam das Stichwort ab für die Auswahl der eben hier und jetzt relevanten allgemeinen Normen. Die Schwierigkeit und der mögliche Fehler dieser gewöhnlichen Auffassung liegt nun nach Rahner darin, daß die Situation „stillschweigend und selbstverständlich als der Normfindung und Entscheidung schlechthin vorausliegend aufgefaßt" wird, so daß das Zusammentreffen der objektiven Situation mit der allgemeinen Norm den konkreten Imperativ ergeben soll. Moral wäre in diesem Sinn „syllogistische Deduktionsmoral", der auf der subjektiven Seite das Gewissen entspricht, als „jene geistig-moralische Funktion der Person ... die die allgemeine Norm auf den konkreten „Casus" anwendet"83. Demgegenüber erhebt sich die Frage, ob das im konkreten Fall Gesollte auch grundsätzlich identisch sein kann mit dem, was sich aus den allgemeinen Normen im Hinblick auf eine konkrete Situation ableiten läßt. „Ist das sittlich Gesollte nur die Realisation der allgemeinen Norm, das Sittlich Gesollte im konkreten Fall nur gleichsam Schnittpunkt zwischen dem Gesetz und der vorliegenden Situation", oder muß es nicht mehr sein als das? Die stets problematische Vermittlung von dem sittlich Allgemeinen und dem sittlich Individuellem zeigt, daß der konkrete sittliche Akt stets mehr ist, mehr erfordert als nur die fallbezogene hier und jetzt geschehende Realistaion einer allgemeinen Idee; er ist vielmehr eine „Wirklichkeit, die eine positive und inhaltliche Eigenart hat, die grundsätzlich und absolut einmalig ist".84 Schon allein das theologische Argument zeigt: „Der Mensch ist als einzelner und konkreter zu einem ewigen Leben bestimmt", seine Akte haben „Ewigkeitsbedeutung nicht nur moralisch, sondern ontologisch". Daraus ergibt sich, daß der Einzelne als Person mit seinen geistigen und sittlichen Akten nicht nur - negativ bestimmt - Erscheinung des Allgemeinen sein kann. Im konkreten Handeln liegt eine Positivität vor, durch die es inhaltlich mehr wird als bloße Anwendung des allgemeinen Gesetzes, insofern der Mensch in seiner eigenen Geistigkeit substituiert, darin „Individuum ineffabile (ist), das Gott bei seinem Namen gerufen hat". Immer dann, wenn der Einzelne innerhalb des allgemein Sittlichen unter mehreren Möglichkeiten wählt, muß diese Konkretion seines sittlichen Seins im Akt als „In-Erscheinung-treten" seiner „ineffablen sittlichen Individualität" aufgefaßt werden, und nicht nur als willkürlicher Entscheid. So gesehen, ist dieses „positiv Individuelle an der sittli82 83 84

Rahner, K., Schriften zur Theologie, Bd 2, S. 228. Vgl. Guggenberger, E., Karl Rahners Christologie und heutige Fundamentalmoral, Innsbruck: Tyrolia, 1990, S. 185ff. Rahner. K., Schriften zur Theologie, 2, S, 230ff. ebda., S. 234f.

80

Person und Subjekt im Kontext des guten Lebens

chen Tat, die mehr ist als die Erfüllung der allgemein Norm oder eines abstrakten Wesens „Mensch" ... durchaus auch als solches zu denken als Gegenstand eines verpflichtenden Willen Gottes".85 Was bedeutet dies nach Rahner für die ethische Theoriebildung? Wenn es ein existential-ethisch Sittliches von verpflichtender Art gibt, daß nicht in eine materielle allgemeine Ethik übersetzbar ist, dann muß es eine Existentialethik formaler Art geben, eine Reflexion existentialer Konkretion, die formale und hermeneutische Strukturen eines solchen Existentialethischen thematisiert. Das praktisch dringlichste und schwierigste Problem einer solchen Existentialethik sieht Rahner allerdings in der Frage nach der Erkennbarkeit des individuell Sittlichen und dessen Art der Verpflichtung. „Wie weiß der Einzelne überhaupt von sich als dem einmalig Einzelnen?" Wie ist eine solche Erkenntnis denkbar, obwohl sie grundsätzlich nicht adäquat die Erkenntnis einer gegenständlichen, satzhaften Reflexion sein kann?" Darauf zu antworten würde nach Rahner heißen, auf die Eigenart einer nicht-gegenständlichen Erkenntnis einzugehen, die nicht nur nachträglich reflektierte Subsumption eines vorgegebenen Befundes ist, sondern konstitutiver Ausdruck der gewußten Sache selbst; es würde heißen, auf die Identität von Erkennen und Tun in der Erkenntnis des Personalen einzugehen, auf die fundamentale Option, auf die Grundentscheidung über sich selbst, in der die Person, wenn sie über sich selbst reflektiert, immer sich selbst schon gegeben findet; es würde weiters bedeuten, zu sprechen „von der Erkenntnis des zukünftigen und freien Individuellen durch eine gewissermaßen „spielende", „versuchende" Vorwegnahme dessen, was als absolut Entschiedenes noch aussteht und zukünftig ist, weil die Qualität des freien Zukünftigen nur in einer solchen Antizipation des erprobenden Versuchs (bis zur „Versuchtheit") gewußt werden kann". Darauf bezogen, wäre schließlich zu fragen, wie „sich dies alles modifiziert in einer übernatürliche Ordnung, in der es die Gaben des Heiligen Geistes, einen übernatürlichen Instinkt und eine personale Unmittelbarkeit zum persönlichen, lebendigen Gott" gibt, die über alles Gesetzhafte hinaus geht, eine „Salbung, die ... alles lehrt, ein Einverständnis des geistlichen Menschen mit dem Geiste Gottes, so daß dieser geistliche Mensch alles beurteilt, von niemand aber beurteilt werden kann"86. Was hier von Rahner intuitiv angesprochen und angedeutet wird, die Suche etwa nach einer „spielenden", „versuchenden Vorwegnahme" dessen, „was als absolut Entschiedenes noch aussteht und zukünftig ist", die Option eines „übernatürlichen Instinkts", daran ist bei den Überlegungen zur Disposition des beabsichtigten ethico-ästhetischen Bewußtseins anzuschließen, als dessen leitendes Prinzip die Phantasie vorgeschlagen werden soll, als eine zentrale hermeneutische Voraussetzung zum Entwurf und zur Entwicklung des neuen Subjekts der Glaubenspraxis. 85 86

ebda., S. 237f. ebda, S. 240f.

Diskurs über die sittliche Wahrheit

81

Dem heute evidenten Phänomen des ethischen Pluralismus hat die gegenwärtige Moraltheologie auch in ihrem wahrheitstheoretischen Diskurs nachzukommen, was zwangsweise zu einer kritischen Revision und Überarbeitung des über lange Zeit in katholischer Theologie und Kirche praktizierten dogmatischen Wahrheitsverständisses führen muß; im Sinne einer Problematisierung jener Tendenz zur Fundamentalisierung, Verlehramtlichung und Domestizierung sowie grundlegender Verkürzung und Verrechtlichung christlichsittlicher Wahrheit, welche heute im zunehmenden Maß, der Zeit angepaßt, den Weg in ein postmodernes kirchliches Sonderethos weisen, womit die ursprüngliche Tiefendimension wie der damit verbundene Anspruch aus dem Blick geraten, ihre sozial-intersubjektiv verbindliche Relevanz verlieren. Konkrete Wahrheitsfindung benötigt den unabdingbar zu führenden gemeinsamen Wahrheitsstreit, der von einer Vielzahl an Teilnehmern getragen sein soll; Theologische Ethik hat sich ausdrücklich als deren Anwalt und Interpret verständlich zu machen, zunächst mit der einzubringenden Option für die unumschränkte Wahrheitsfähigkeit beteiligter sittlicher Subjekte. Ihre wahrheitstheoretische Kompetenz und Verantwortung liegt in der Organisation, Sicherung und Verteidigung des subjetiv-intersubjektiven Wahrheitsdisputs, sie hat diesbezüglich immer noch Aufklärung zu leisten, diesen positiv zu fördern, anzuleiten und durchzusetzen. Unterschiedliche, teils kontroverse ethische Konzepte und Konstrukte guten und wahren Lebens sind in ihrem individuellen Anspruch sicherzustellen, zu koordinieren, zu integrieren, auch zu korrigieren im Hinblick auf eine angestrebte intersubjektiv gewonnene Objektivität. Die Vergewisserung eines ethischen Pluralismus in der Moraltheologie erweist sich in diesem Zusammenhang als eine Referenz an den schöpferischkreativen Ausdruck der sittlichen Vernunft und ihre stets zu berücksichtigenden immanente Geschichtlichkeit.87 Ethischer Pluralismus bejaht, qualifiziert in diesem Sinn positiv die sittliche Einzelwahrheit aus ihrem Verhältnis zum jeweils spezifischen sozio-kulturellen Kontext, er bekundet die Haltung der Toleranz, der kritischen Solidarität wie das eingebrachte ungebrochene Vertrauen in die grundlegende Wahrheitsbereitschaft jedes einzelnen Subjekts. Er bekundet darin den Respekt für unterschiedliche Bedingungen der Wahrheitsund Wirklichkeitserkenntnis, die anthropologischen Voraussetzungen sittlicher Urteilsbildung, die mit kulturellen oder subkulturellen Strukturen verbunden sein mögen und steht so auch im Dienst der Förderung von Kommunikation und intersubjektiver Verständigung.88 Im analogen Verhältnis zu diesem individualethischen, das einzelne Subjekt und die Subjekte direkt betreffenden Aufgabe, sieht sich die theologische Ethik in ihrer Anwaltfunktion auch - wissenschaftstheoretisch - interdisziplinär gefordert.

87 88

Demmer, K., Wahrheit. S. 79f. ebda., S. 80. 127.

82

Persern und Subjekt im Kontext des guten Lebens

Gegenüber einer immanenten (Absicherung und Verteidigung der einen christlichen Wahrheit hat sie in dem heute allseits geführten Wahrheitsstreit der modernen wissenschaftstheoretischen Diskussion einzutreten und den ursprünglich umfassenden Anspruch in der Auseinandersetzung um gegenwärtige Welt- und Wirklichkeitsdeutungen geltend zu machen. Diese Aufgabe ergibt sich im Interesse der eigenen Sinnvermittlung, sie scheint unverzichtbar im Hinblick auf eine optierte Konsenswahrheit resp. zumindest annäherungsweise erreichbare Universalität angesichts postmoderner Partikularisierung, Pluralisierung und Tendenz zur Nischenbildung.

4. Entwurf zu einer Ethik der inneren Handlung

4.1. Sittliche Praxis als Praxis der inneren Handlung Die vorwiegend wissenschaftstheoretisch und methodologisch orientierte Grundlagendiskussion seit dem II. Vatikanum brachte für die Moraltheologie eine durchaus konstruktive und in der traditionskrtischen Aufarbeitung auch nötige Vertiefung des Selbstverständnisses als Normwissenschaft. Mit der Frage nach der Begründungs- und Kommunikationsfähigkeit sittlicher Urteile - zu denken ist an die sich über lange Zeit erstreckende Auseinandersetzung zwischen Ideologie und Deontologie - wurde der Forschungsschwerpunkt primär auf den Objektbezug des sittlichen Sollens gesetzt und damit auf den Außenaspekt sittlichen Handelns.1 Subjektive Handlungskompetenz mit Bezug auf den individuell-persönlichen Entwurf geglückten Lebens, als Grundlage subjektiv vollzogener Urteilsund Entscheidungsprozesse, bleibt demgegenüber defizitär. Berücksichtigt man die wechselseitige Beziehung von Ethik und Handlungstheorie, in der sich ein Fundierungsverhältnis ausdrückt2, so läßt die erwähnte Sichtweise jedoch - mit der Dominanz des äußeren Vollzugs sittlichen Handelns - ein reduktives Verständnis von Handlungsmetaphysik erkennen. Diese Tendenz des vom Standpunkt der Sicherheit und größtenteils noch vom verdinglichenden Gesetzesdenken scholastisch-neuscholastischer Provenienz getragenen Ansatzes - setzt sich in der heutigen moraltheologischen Argumentation fort und findet auch ihren konkreten Niederschlag in manchen kirchenamtlichen Dokumenten oder diesbezüglicher Stellungnahme. Handlungstheoretisch betrachtet, zeichnet sich hier ein Verständnis von „Handlung" ab, welches präferenziell und einseitig auf den äußeren Vollzug von Einzelentscheidungen und deren Richtigkeit in ihrer direkten Nachweisbarkeit bedacht ist.3 Solches Denken involviert eine unpersönliche objektivistische Handlungsmetaphysik, es verkürzt wesentlich die umfassende Realität des Sittlichen. Mit der vorausgesetzten Rationalität des Wirklichen orientiert sich eine derart ver1 2 3

Vgl. Hunold, G. Ethik, S. 6. Hoffe, O., Philosophische Handlungstheorie als Ethik, in: Poser, H. (Hrsg.), Philosophische Probleme der Handlungstheorie, München, 1982, S. 233f. Demmer, K., Lebensgeschichte, S. 382.

84

Entwurf zu einer Ethik der inneren Handlung

kürzte, am äußeren Vollzug verhaftete Metaphysik primär an den empirisch gegenständlichen Phänomenen. Erkenntnis und Wollen werden in der Folge in den Bereich der Psychologie der sittlichen Handlung abgedrängt und zur Thematisierung überlassen. Dem äußeren Vollzug steht damit die innere Handlung gegenüber in ihre sich anbahnenden Vermittlung von sittlicher Gutheit und Richtigkeit. Das bekannte, in diesem Sinne entstehende SubjektObjekt-Schema entspricht jener strikten Trennung von Handlungsmetaphysik und Handlungspsychologie, wie sie für die neuscholastische Manualistik kennzeichnend war und wie sie mit der anhaltenden Tendenz zur Juridisierung auch noch in weiten Teilen der gegenwärtigen moraltheologischen Argumentation präsent scheint*. Ein demgegenüber kritischer Ansatz hinsichtlich einer Ausweitung der Möglichkeit von Ethik ist bisher kaum erfolgt. Im Hinblick auf eine integrative Erfassung des Handlungssubjekts in der Totalität seiner inneren und äußeren Lebenswelt steht die theologische Ethik noch vor einer völlig neuen Ausgangslage mit der Aufgabe, eine explizite Theorie der inneren Handlung zu erstellen, sie ist gehalten, den durch die Tradition zugrundegelegten Begriff von „Handlung" kritisch zu hinterfragen und zu revidieren, was bedeutet, daß mit der Ausweitung des Handlungsbegriffs eine Ausweitung des Verantwortungsbereichs auf die Bewußtseins- und Gedankenwelt als Vor-entwurf zur manifesten äußeren Tat zu vollziehen ist, wobei vor allem der prophylaktische Aspekt zu beachten sein wird.5 Sittliche Urteils- und Entscheidungsprozesse wurzeln im individuellen Bewußtsein des Handlungssubjekts, gewinnen von daher ihre personale Struktur. An diesem sublimen Einsatzpunkt menschlicher Praxis hat sich die handlungstheoretische Konzeption der Moraltheologie verbindlich zu orientieren; sittliche Praxis erweitert sich auf den mikroethischen Bereich der Innenwelt mit ihren je eigenen Raum- und Zeitkoordinaten, die ethische Reflexion bedenkt und reguliert die vielschichtigen, subtilen Verhältnisse und Beziehungen im Spiel der Gedanken, stellt dabei aber auch die damit verbundenen Schwierigkeiten und Gefahren jeder derartigen Erfahrung in Rechnung. Es ist vorrangige Aufgabe, die innere Großbaustelle in ihrem experimentellen Charakter hinsichtlich der ethischen Relevanz aufzuschließen, im Kontext einer Ethik des geistigen Tuns Rechenschaft zu geben über die geistig-gedankliche Tätigkeit des sittlichen Subjekts bei der Konstruktion und Koordination seiner Welt, in der es lebt. Innere Akte als prioritäre Leistungen des Subjekts sind damit strikt in den Begriff der „Handlung" einzubeziehen, als spezifisch sittliche Praxis zu qualifizieren und auf der Ebene gesteigerter, vor allem auch befreiter Eigenverantwortlichkeit deutlich zu machen: Akte der synthetischen-ganzheitlichen Wahrnehmung, des Denkens und Wollens, der Vorstellung, des Tagtraums oder der Erinnerung wie der aktiv-passivische 4 5

ebda. ebda., S. 384.

Sittliche Praxis als Praxis der inneren Handlung

85

Bezug von Affekt und Emotion als Handlungen, die dem manifesten äußeren Vollzug vorangehen, diesen vor-entwerfen, vor-bilden. In diesem Sinn wird es darum gehen, jene innere, fundamentale Lebens- und Erlebnisperspektive, aus der sich das Selbstverständnis und das Selbstbewußtsein des Einzelnen als individuelle Persönlichkeit erklärt, zu rehabilitieren und als Argumentationsbasis prinzipiell verfügbar zu machen. Eine explizite Theorie der inneren Handlung im Kontext der Moraltheologie erscheint in diesem Zusammenhang als notwendigerweise vorausgesetzte Theorie für das Subjekt, um Modelle oder Entwürfe guten Lebens entwickeln zu können, entsprechend seinem fundamentalen Grundinteresse am Glück. Indiziert ist der - endlich auch für die ethisch- theologische Argumentation aufzuschließende - existenziell-anthropologische Basisbezug, welcher den persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen gerecht wird und sie verrechnet für die Konzeption des umfassend gelingenden Lebens, in der sich das individuell-subjektive und im weiteren Zusammenhang intersubjektive Grundstreben nach Eudämonie verdichtet; zur Debatte steht die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von äußeren-manifesten Handlungen im allgemeinen und der guten und geglückten Lebensform im speziellen. Im inneren Handlungsfeld und dem entsprechenden Umgang damit ereignet sich Wirklichkeitskonstruktion, entscheidet sich der planmäßige Entwurf und die Koordination gelungenen oder mißlungenen Lebens. Derart transparent, enttabuisiert und über einen erweiterten Handlungsbegriff verfügbar gemacht, hat der ethisch-theologische Diskurs die innere Dimension des Subjekts / der Subjekte auf die Zuschreibung konkreter prophylaktischer Gestaltungsverantwortung hin zu thematisieren, zu spezifizieren und entsprechend praxistaugliche, alltägliches Handeln leitende Orientierungsmaßstäbe zur Verfügung zu stellen. Der Aufbau und das Werden der sittlichen Persönlichkeit oder des Subjekts ereignet sich prioritär in der Innenwelt, Verantwortung für das Projekt der Freiheit verlangt eine Kultur der Gedankenwelt, die auf Freude, Glück, Wohlgefallen, Übereinstimmung mit sich wie den übergreifenden Entwurf der positive Lebensmöglichkeiten gerichtet ist6 Zur Diskussion steht die Entwicklung einer prospektiven Ethik im Hinblick auf die Übernahme prophylaktischer Gestaltungsverantwortung. Angepeilt ist die Kultivierung und der subtile Aufbau einer sensibilisierten, anspruchsvollen Gedankenwelt, die das Optimum der ergriffenen Lebensinhalte gegenwärtig setzt; an der Koordination, der Qualität der Konstruktion wie der Organisation der persönlich-subjektiven Innenwelt entscheidet sich die Wahrhaftigkeit des sittlichen Subjekts; Selbstliebe und Selbstachtung - ohne unbedingt dabei den Eudämonismusvorwurf zu bewegen - sind hierfür klarerweise unabdingbare Voraussetzung. 6

Demmer, K., Wahrheit, S. 199f.

86

Entwurf zu einer Ethik der inneren Handlung

Umfassend gelungenes Leben wie jedes einzelne erstrebte Handlungsziel sind gedanklich zu verantworten, die persönliche Innenwelt ist in diesem Sinn die ursprünglichste Lebenswelt, „es darf keinen Zwiespalt zwischen Innen und Außen, zwischen Denken und Tun geben, ein prospektiver Ausgleich ist herzustellen, soll die Einheit der Persönlichkeit nicht aufgebrochen und Schritt für Schritt zerstört werden".7 Das sittliche Subjekt verifiziert den absoluten Verpflichtungscharakter der sittlichen Wahrheit im Entwurf auf ein umfassendes Lebensprqjekt. Im entschiedenen Festlegen darauf wie in der progressiven Entwicklung gewinnt es seine sittliche Autonomie, beweist darin seine Wahrhaftigkeit.8 Die hier artikulierte Sorge um sich verdichtet sich als ethische Sorge um die Konstruktion und Organisation der Innenwelt, aus der heraus sich die Vision guten und geglückten Lebens realisieren läßt. Das ethische Subjekt ist einzig darauf bedacht, sein Lebensprojekt mit all seinen Idealen, Ansprüchen, Wunsch- und Ziel Vorstellungen nicht zu verfehlen; Wahrhaftigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang, sein Leben aus transzendenzverwiesener Innerlichkeit zu gestalten, über die Gabe und Kraft zu verfügen, in ihre Stille einzukehren und damit sein volles Genügen und Glück zu finden. „Der Wahrhaftige verweilt in seinen Gedanken hier, er nennt einen unantastbaren Innenraum sein eigen, der dem verfügenden Zugriff anderer entzogen bleibt und so Grund seiner Freiheit sein kann. Das moral theologische Thema des Rechts auf die Intimsphäre verweist über alle Vordergründigkeit hinaus auf diesen Grund: Man muß wahrhaftig sein können, nur so ist es möglich, sich zu entfalten und ein selbstzugelastetes Leben fern aller Fremdbestimmung führen zu können'9. Die moraltheologische Reflexion wird sich, will sie ihrem Auftrag nachkommen, therapeutisch Lebens- und Entscheidungshilfe zu bieten, diesem programmatischen Anspruch des sittlichen Subjekts zu stellen haben. Ihr obliegt das Konzept einer kohärenten Handlungsmetaphysik, die sowohl den Bereich der Innenwelt wie den des äußeren Tuns ganzheitlich in ihrer je spezifischen Eigenart erfaßt, beiden gleichwertig gerecht wird und auf eine gelingende Vermittlung und Koordination bedacht ist. Diese heute unabdingbar geforderte Integration des Innenbereichs menschlichen Handelns im Kontext moraltheologischer Theorie bedeutet wiederum eine Überarbeitung des bisherigen Selbstverständnisses. Sie impliziert eine Revision der grundlegenden handlungstheoretischen Voraussetzungen, was in erster Linie auch das derzeit nach wie vor aktuelle, noch kaum hinterfragte Vernunftkonzept betrifft. Zu problematisieren ist, wie bereits erwähnt, die zeitgenössische eindimensionale, kaum mehr plausible und tragfähige Orientierung an Kants reduktiver Rationalitätsvorstellung, mit ihr verbunden, der zu kritisierende, zwangsläufig 7 8 9

ebda., S. 136. ebda., S. 55. ebda., S. 134.

Sittliche Praxis als Praxis der inneren Handlung

87

auftretende Zwiespalt im Inneren des Subjekts zwischen Vernunft und leiblich, affektiver, emotiver Disposition oder, wenn man so will, dem „Anderen der Vernunft"10. Es gilt, diesen kognitiven und instrumentellen Rationalismus aufzubrechen im Hinblick auf eine Ausweitung der praktischen Vernunft vor allem im Sinne einer - auch moraltheologisch zu verifizierenden - Rehabilitation der ästhetischen Grundbezüge des Menschen. Der ethisch-theologische Diskurs wird sich dabei in erster Linie - im Rahmen ethico-ästhetischer Selbst- und Weltgestaltung - über den Einsatz und die Kraft der Phantasie zu vergewissem haben, vornehmlich in ihrer explizit ethischen Gestalt, welche die schöpferische Organisation der Innenwelt erst ermöglicht und reguliert, welche im dialektischen Verhältnis zur äußeren Wirklichkeitskonstruktion steht; operationalisierbar auf Basis eines integrativganzheitlich formulierten Wahmehmungsbewußtseins. Theologisch gewendet, wäre in diesem Zusammenhang durchaus von einer Verifikation christlicher Freiheit zu sprechen gegenüber jeder restriktiven Befangenheit und Bevormundung geistigen Handelns in Denkschemata, Strategien und ideologischen Einschätzungen im Hinblick auf eine heute grundsätzlich nötige Erneuerung des Denkens, welche mit den Prozessen des Erkennens und des Findens von Wahrheit auch diejenige der Mitteilung betreffen müßte.11 Mit der Entwicklung einer expliziten Theorie der inneren Handlung, die immer unter dem Aspekt der ermöglichten Wahrheitsfähigkeit aller Subjekte steht, stößt die moraltheologische Grundlagenbebatte auf ein entscheidendes Desiderat. Signifikant ist der Wunsch und der Anspruch, ein realisierbares, handlungsleitendes Modell einer prospektiven Ethik aufzuzeigen, welche prophylaktische Gestaltungsverantwortung für das gedanklich vorzubereitende und vorzuentscheidende Konzept umfassend gelingenden Lebens übernehmen läßt, dieses in gewisser Weise auch abzusichern vermag. Der aktuelle Diskussionsstand innerhalb der Moraltheologie zeigt diesbezüglich allerdings wenig Fortschritte. Wenn auch so manche Bezugnahme begonnen haben mag, etwa im Rahmen einer mehrfach versuchten, letzten Endes aber nicht überzeugenden Wiedererwärmung der klassischen Tugendethik12, so hat im Grunde eine Tiefenhermeneutik des Problems und seiner Dimensionen noch nicht wirklich angefangen. Darüberhinaus wird eine Ethik des inneren Handelns einen für die moraltheologische Tradition wesentlichen Perspektivenwechsel ebenfalls im Grundlagenbereich bringen. Traditionelle, heute überkommene ethische Antinomien, Subjektivität und Objektivität 10 11 12

Böhme, H./ Böhme, G., Das andre der Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1985. Böhme, G., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1985; ders., Philosophieren mit Kant, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986. Ulrich, H. G., Konjunktur oder Aufbruch, in: EK 4 (1988), S. 199f. So etwa Nientiedt, K., Taugen Tugenden wieder?, in: Herd. Korr. l (1988), S. 1-3; die verschiedenen Beiträge von D. Mieth, vgl. ders., Die neuen Tugenden, Düsseldorf: Patmos, 1984; Gleixner, H., Tugenden wieder gefragt?, in : ZKTh (1986), S. 255-265.

88

Entwurf zu einer Ethik der inneren Handlung

treten in ein neues Verhältnis zueinander, der dialektische Bezug der Innenwelt zur Außenwelt stellt eine Korrektur des Gegensatzes von Subjektund Objektgebundenheit in Aussicht. Unter all diesen Gesichtspunkten kann nun im folgenden eine Durchführung des Projekts als Annahme eines neuen, bisher kaum thematisierten Herausforderung ethisch-theologischer Reflexion über weite Teile nur sehr experimentellen Charakter haben. Es ist wirkliches ethisches Neuland zu betreten, wenn versuchsweise anhand einzelner Kriterien aufgezeigt werden soll, in welcher Weise sich die Vorstellung einer Ethik der inneren Handlung konkretisieren könnte, wie zentrale Bereiche geistigen Tuns prophylaktisch in die persönlich sittliche GestaltungsVerantwortung einbezogen werden könnten.

4. 2. Handlung und Gedanke - Überlegungen zum Konzept einer Präventivethik Mit der praktischen Reflexion der inneren Handlung sucht die theologische Ethik ihr Selbstverständnis als prospektive Ethik auszubauen. Sie intendiert die Übernahme prophylaktischer Gestaltungs Verantwortung durch das sittliche Subjekt, damit auch die Möglichkeit, eine neue sittliche Kultur des Denkens vorzubereiten. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich unter diesem Gesichtspunkt auf den Gedanken als Vorentwurf zur äußeren Tat. Es sind in Gedanken schön Handlungen gesetzt, noch ehe sie in Worten zum Ausdruck kommen oder in äußeren Akten vollzogen werden; vielfältigste, subtile Überlegungen, ihre Spannungen und Kreuzungspunkte, ihr unaufhörliches Hin und Her, im unablässigen Bewußtseinsstrom legt sich ein brisantes Geschehen offen: innere Welten werden bewegt, Ausblicke, Horizonte geschaffen, es werden Einstellungen, Wertvorstellungen, Intentionen und Motivationen aufgebaut, Meinungen gebildet und gefestigt oder aber revidiert und wieder verworfen. Dieses aktive komplexe Geschehen, zwar von außen uneinsehbar und in seiner Vollständigkeit wie in seiner Abfolge und diffizilen Struktur kaum restlos zu erfassen, ist jedoch eine stete Realität, die im sittlichen Urteil gegenwärtig wird, Entscheidungsprozesse formt und von daher unabdingbar zu berücksichtigen ist. In diesem Sinn richtet sich die Anfrage an die ethisch-theologische Theorie hinsichtlich einer Vergewisserung des inneren Denk- und Konstruktionsprozesses, um auf diese Weise die Möglichkeit einer prospektiven Urteilsbildung in Aussicht zu stellen. Der Blick auf die Gedankenwelt des sittlichen Subjekts, welche in die konkrete Gestaltungsverantwortung einzubinden ist, eröffnet ein präsentes Geschehen von maßgeblicher Bedeutung und unabweisbaren ethischen Interesse. Was in Gedanken ge-

Handlung und Gedanke

89

schiebt, davon ist letztlich die persönliche Einstellung und Motivation abhängig ebenso wie die daraus hervorgehende Handlungsweise. Die Art, wie an eine Problemstellung herangegangen wird, wie sie wahrgenommen und vorbereitet wird, der gedankliche Aufwand und Einsatz oder aber sein Fehlen wird sich sublim oder ganz offen in der äußeren und direkt nachweisbaren Handlung zeigen, gleichgültig nun, ob es sich um eine geforderte Reflexion zu einer sittlichen Entscheidungsfrage oder aber um eine alltägliche zwischenmenschliche Begegnung, um die Situation eines Gesprächs handelt. Die positive oder negative Bewegung und Kraft der Gedanken, die Möglichkeit, damit einzugreifen, zu lenken und zu gestalten kommt hier zur Geltung und fordert eine handlungstheoretische Aufarbeitung, womit die individual-ethische Forschung ebenso zu betrauen ist wie mit der beinahe unerschöpflichen Fülle von Möglichkeiten inneren Verhaltens und den Fragen seines Zustandekommens wie seiner jeweiligen Auswirkungen. In dieser Hinsicht ist der ganz bewußte Umgang mit den Gedanken, der Anspruch wie die Anforderungen, welche daran gestellt werden, der gezeigte Einsatz, sei es nun die konsequente Vertiefung, die Treue zu den Gedanken oder aber seien es die schöpferisch-produktiven Versuche mit ihnen, als eine subjektiv-individuell vollzogene Entscheidung und Leistung zu werten. Der Gebrauch der Gedanken, verstanden als eine persönliche Verfahrens- und Handlungsweise, hat so ethisch bestimmbaren Charakter und fällt damit in den Bereich der sittlichen Verantwortlichkeit. Eine Handlung, sofern sie bewußt vollzogen wird, in diesem Sinn sich vom rein spontanen Akt unterscheidet, hat eine reflexive Vorgeschichte, sei es eine kurze oder längere, eine, die sich direkt zurückverfolgen läßt, oder die verschlungen ist, deren Weg sich im Gedächtnis verliert. Die äußere manifeste Handlung kann das Produkt einer Fülle von Überlegungen sein, einen komplizierten gedanklichen Aufbau aufweisen, sich aus vielen, vielleicht gegeneinander abgewogenen Gründen zusammensetzten oder aus einer vorherrschenden Idee hervorgehen. Transparent ist der innere Konnex, eine Reihe von Handlungen, deren Geschichten miteinander verwoben sind, die ein Geflecht von gegenseitigen Beziehungen darstellen, einander bedingen, auseinander hervorgehen. Warum dies oder jenes getan wurde - die dazugehörige Vorgeschichte mag im Bewußtsein des einzelnen Subjekts so klar und vollständig präsent sein, daß sie tatsächlich erzählt werden, von ihr wie von einem Erlebnis gesprochen werden könnte. Die geistig gedankliche Vorbereitung einer schließlich rein äußerlichen Handlung, je umfassender und gründlicher sie durchgeführt wird, umso mehr wird die Handlung selbst Ausdruck einer persönlichen Einstellung, ist sie als subjektiv-artifizielles Produkt identifizierbar. So gesehen, scheint es für eine ethisch-theologische Theorie unabdingbar, die Auseinandersetzung mit diesem Vorfeld der sittlichen Handlung zu führen, damit den ethischen Verantwortungs- und Gestaltungsprozeß entschei-

90

Entwurf zu einer Ethik der inneren Handlung

dend auszuweiten im Sinne einer Sondierung der gedanklichen Vorbereitung, des Einsatzes wie der individuell-subjektiv zu vollziehenden Leistung. Die Übersetzung von Denken und Tun als ein sukzessiver Prozeß der Übereinstimmung der inneren Haltung mit dem äußeren Verhalten erscheint als grundlegender Akt der Selbstvenvirklichung, der Ausübung von Autonomie. Die Entscheidung für oder gegen eine gesetzte Handlung ist von einer Vielzahl von innerlichen Schritten geprägt; sie entspringt aus einer Fülle von inneren Erfahrungen, ist besetzt von individuellen Eindrücken, Erinnerungen oder persönlichen Wünschen und von daher ganz wesentlich als ein Ereignis sowohl mit inneren als auch äußeren Folgen zu begreifen. Die Handlung, so sie auch primär nach außen gewandt sein mag, wirft demnach einen Schatten nach innen, ist auch in ihren innerlichen Konsequenzen zu beurteilen. Ethisch qualifizierte Vorstellungen, die direkt zu äußeren Handlungen führen, sich in diesem verdichten, wären zu beschreiben, als durchdrungen von persönlichen Erkenntnissen, Absichten und Überzeugungen, sie wären als eine reife Essenz aus zahlreichen Gedankenbewegungen durch Raum und Zeit anzusehen; als geglückte Integration von verstreuten, auseinanderliegenden Erfahrungen, eingeschmolzen und verdichtet zu einer auf Verwirklichung drängenden Idee. Angepeilt wäre das gelungene Projekt, aus einer langen Vorgeschichte, aus der Fülle teils noch unvollständiger, schemenhafter, auch nebensächlicher, scheinbar bedeutungsloser Gedanken durch die persönlich-subjektiv zu vollbringende Leistung, durch gesteigerte, sich selbst zugewandte Wahrnehmung und Sensibilität die Gestalt eines Entwurfs anzufertigen und festzuhalten; diesen in der Folge auf seine praktische Relevanz hin zu überprüfen, wenn nötig, zu verbessern und so nach und nach ein sich bewährendes Vorbild zu schaffen. Dieses eigenständig entwickelte Handlungsvorbild wäre mit anderen nur übernommenen oder bereits strikt vorgegebenen zu vergleichen und in kritischen Bezug zu setzen. Als wie stark, wie durchsetzbar und für die jeweilige Handlungssituation relevant werden sich die authentischen, aus dem eigenen Lebesinhalt geschaffenen Entwürfe erweisen? Diese Vergewisserung wird dabei im Rahmen ethischer Verantwortung immer erfolgen müssen; die eigenen Entwürfe werden dabei stets in der Spannung zwischen Möglichem und Unmöglichem errichtet sein, sie werden auf diese Weise versuchen, die Grenzen des Erreichbaren ständig auszuweiten, um Notwendigkeiten, Pflichten gerecht werden zu können ebenso wie persönlichen Wünschen und Sehnsüchten. Nicht unbemerkt und vernachlässigt werden darf in diesem Zusammenhang die jedem einzelnen Handlungssubjekt innewohnende Anlage zur Entwicklung visionärer Kräfte, welche insbesondere auch das Moment der Liebe weckt und fördert. Deren einende Macht prädestiniert zu jenen visionären Vorstellungen von beeindruckender Größe und überzeugender Gestalt, in denen Gedanken und Empfindungen, Erfahrungen und Träume konvergieren. Die Vision wird schließ-

Handlung und Gedanke

91

lieh beschreibbar als Ausformung ethischer Vorstellungen, als Form, in der jene stark und leuchtend präsent geworden sind. Unter dem Gesichtspunkt einer Präventivethik hat die theologische Ethik auf eine Freiheitspraxis schöpferischen Denkens, Planens und Entwerfens hinzuwirken, diese konkret vorzubereiten und auch gegenüber möglichen Widerständen durchzusetzen; damit ihre Anwaltfunktion gegenüber dem autonomen Subjekt wahrzunehmen. Es ist Aufgabe der ethischen Reflexion, sich hier der inneren Beweglichkeit oder der Dimension der „Gedankenreise" zu vergewissern, über diese im Hinblick auf den erweiterten Verantworungsbereich des Subjekts ethische Rechenschaft zu geben. Zur Diskussion steht die zu erschließende Möglichkeit einer Befreiung oder Freiheit des Denkens, gegenüber jeder Form restriktiver Befangenheit oder Disziplinierung des Denkens durch Einordnungen, Schemata und Strategien. Auszugehen wäre zunächst vom Versuch, die Gedanken völlig zweckfrei, ziellos schweifen zu lassen, sie ohne eine korrekte Absicht, einen Zwang, ein mögliches Ergebnis schwingen zu lassen, ihnen jede Vorgabe zu ersparen, ihnen erlauben, sich zu fassen, wahlweise Gestalt anzunehmen oder sich aufzulösen. Wesentlich wäre nun aber, in dieser Gelassenheit, dieser Hingabe ganz bewußt auf den Bewegungsprozeß der Gedanken zu achten, einem beinahe unaufhörlichen Unterwegssein, einem Herankommen und sich Entfernen beizuwohnen. Es würde in diesem Sinn zu wahrgenommener Verantwortung gehören, die Raum- und Zeitreise der Gedanken aufzunehmen, sich auf sie mit aller gebotenen Aufmerksamkeit und Wachheit einzulassen, zu reisen, ohne real - nach außen hin - den Ort zu verändern; ein derartiger Aufbruch indiziert so ein höchst aktiv-produktives Geschehen mit gezielten Aufforderungen an die Art und Weise des Umgangs mit den eigenen oder auch fremden Gedanken. In ihrer Dynamik und Flexibilität springen die Gedanken zwischen wahrgenommenen Welt- und Personenbezügen hin und her, tasten sich vorsichtig heran, umkreisen sie, aus unterschiedlichen Richtungen und Blickwinkeln ansetzend, umgeben sie so mit einem Netz von Beziehungen, versenken sich in ihnen, begreifen sie in ihren jeweiligen Raum- und Zeitdimensionen; im Gedankenprozeß vollzieht sich so eine ständige Bewegung der Perspektiven, ein Austausch und eine intensive Durchdringung von Außenwelt und Innenwelt. Dieses erwirkte Ineinander, dieser gewollte Austausch wäre in ethischer Hinsicht als eine entscheidende, geistige Praxis und Aktivität zu beurteilen, bedeutet sie doch eine wesentliche Voraussetzung für eine offene und freie sittliche Daseinsgestaltung, die in ihrer Qualität Schöpferkraft und wahrgenommene Eigenverantworung des Subjekts bezeugt. Wie die Gedanken Raum- und Zeitebenen beliebig wechseln, pendeln sie auch zwischen Realität und Irrealität, gleiten von Traum-, Wunsch- und Phantasievorstellungen zum gegenwärtigen Erleben. Viele der gedanklichen Reisen, welche in der Außenwelt begannen, durch eine Betrachtung, eine Ereignis angeregt wurden, gewinnen erst ihre eigentlichen Transparenz und Dynamik, wenn sie ihre Fortsetzung in der persönlichen Innenwelt finden; deren

92

Entwurf zu einer Ethik der inneren Handlung

Landschaften, Räume durchstreifen und ergründen, vielleicht in Sphären des Halbbewußten eintauchen, Nebel- und Schattenhaftes durchqueren wie Zonen der Leere, der Dunkelheit; die Gedanken sind hier wahrhaftig beflügelt und machtvoll frei, sie erzielen im mühelosen Überwinden von räumlichen und zeitlichen Distanzen ein Zusammenschmelzen von Entfernung und Dauer, ermöglichen ein blitzschnelles Erreichen von Orten, jeden beliebigen Wechsel von Situationen und Handlungsperspektiven und stellen in diesem Sinn nicht nur konkrete Entwürfe schöpferisch-geistiger Freiheit in Aussicht, sondern bieten auch Ansätze zu deren Verwirklichung. Angewandt auf sittliche Fragestellungen, auf bestehende und wieder neu entstehende Konfliktklagen oder Entscheidungsprobleme, welche die verschiedenen Lebensbereiche - gerade auch in ihrer „Alltäglichkeit" kennzeichnen, fällt der inneren (eingeübten) Beweglichkeit, der umfassenden Gewandtheit und spielerischen Leichtigkeit der Gedanken eine entscheidende Rolle zu, womit insbesondere die genuin ethische Aufgabe deutlich wird, sich grundsätzlich beweglich zu machen, sich um Offenheit und Flexibilität zu bemühen, in Wahrnehmung neuere, geistig erschlossener Freiheit. Beweglichkeit bedeutet hier, die Annäherung an einen Standpunkt von allen denkbaren Seiten, eine variable Sichtweise, die stete Möglichkeit, sich weiter zu entfernen, aus der Distanz zu betrachten und sich wieder anzunähern, sowohl einen Überblick zu gewinnen als auch ein konkretes Detail zu erfassen; sich Naheliegendem wie weit Entferntem zuwenden, es erreichen, in geglückter Synthese zusammenführen zu können; in dieser Perspektive die Tiefendimension einer Frage, die Ausmaße eines Problems zu erheben und zu verfolgen, dessen vielfältige Hinter- und Vordergründe sichten: ist es doch jedesmal wie eine Annäherung, wie eine Reise mit ihren Unterbrechungen der überlegenden Suche nach möglicher Neuorientierung, ein Umkreisen, ein Wechseln von Positionen, ein Ändern der Blickwinkel, im Ganzen, das Zurücklegen einer beachtlichen Wegstrecke, bis eine zufriedenstellende Lösung oder zumindest ein tragbarer Kompromiß gefunden ist. Nach-denken bedeutet eine fundamentale Leistung, eine ausholende Bewegung, welche Zeit benötigt, Vorstellungen zu folgen, Dingen auf den Grund zu gehen, sie in Wahrung und Ausübung intellektueller Redlichkeit bis zu ihren Wurzeln, ihren Anfängen zu verfolgen. Eine zunächst zügige oder rasche Bewegung wird zu einer schwierigen Vorgangsweise, in der jeder Schritt abzusichern ist, wo die Gefahr der Verwirrung droht, Aufgeben sich nahelegt. Denken wird zu einer Art Kampf gegen die Unwegsamkeit, die Hindernisse, die drohende Erstarrung, zu einer Auseinandersetzung mit Widerständen, einem Kräftemessen mit dem sich Widersetzenden. Der Verlauf einer gedanklichen Reise - sich also denkend-empfindend-erinnerend-phantasierend forttragen zu lassen - ist niemals festgelegt, hier liegt der Reiz und der experimentelle Charakter eines derartigen Aufbruchs, er läßt neugierig werden auf Erfahrungen damit, neue Ergebnisse erwarten, die Anteil

Handlung und Gedanke

93

hätten an der geistigen Potenz und Weite der vollzogenen Gedankenreise und dazu beitragen könnten, dahingehend die persönliche Einstellung reifen zu lassen. Diese Form des Denkens als Anforderung und Anspruch an sich selbst wäre ein wesentlicher Akt der Selbsterziehung, der ethisches Handeln entwirft und verwirklicht. Man sollte sich immer wieder kritisch prüfen, auch sich motivieren und ermutigen, um seine Gedanken soweit als möglich auszudehnen, sie ausschweifen zu lassen in die Innen- wie in die Außenwelt; um sich mit ihnen zu entfalten, den inneren Spielraum wie die geistige Reichweite zu vergrößern, die Sensibilität zu steigern, um dem Fernen nahe sein zu können, die Nähe nicht als erdrückend oder ausweglos empfinden zu müssen. Der Radius eines Gedankens - wie weit reicht er etwa in die Ablagen der Erinnerung, wie sehr kann er in persönlichen Reserven an Wünschen, Sehnsüchten und unerfüllten Vorhaben ausgreifen? Wie tief kann er eintauchen in Träume, in kaum Bewußtes, wie hoch entschweben in Wunschvorstellungen und Tagträumen? Wie flexibel, ausweit- und verfügbar ist er, um Gegenwärtiges mit Vergangenem zu verbinden, in Zukünftiges und noch Visionäres auszustrahlen? Ist es möglich, sich mit den Gedanken zumindest für Augenblicke aus dem „Alltäglichen" zu erheben, sich aus Zwängen, Vorschriften und Berschränkungen wirksam zu lösen oder wenigstens kritisch Distanz zu beziehen? Vermögen sie Langeweile, Geistlosigkeit zu überwinden, die Empfindung des Eingeschlossenseins durchbrechen, heben sie sich von dem unmittelbaren und gewohnten Umfeld noch kritisch ab, entziehen sie sich dessen betäubender Wirkung? Mit der Fähigkeit, die jeweilige Lebens- und Problemsituation geistig zu übersteigen, Vergleiche zu ziehen, andere Lösungsvorschläge stets verfügbar zu halten, denkend-handelnd einzugreifen (was jetzt sowohl auf die Auseinandersetzung mit der Innenwelt wie auch mit der Außenwelt zu beziehen ist) beweist sich jene Offenheit, jene schöpferische Freiheit, zu der mancher Gedankenflug einlädt, die mehr und mehr vergrößert und dementsprechend in die Verantwortung einbezogen sein will. Als eine der wesentlichen Voraussetzungen muß in diesem Zusammenhang die Wahrnehmung des integrativen Aspekts schöpferischen Denkens, Planens und Entwerfens gesehen werden, dem nun näher nachzugehen ist. Eine Vergewisserung des Reflexions- und Gedankenprozesses in ethischpraktischer Hinsicht, mit der Frage nach der Möglichkeit einer freien schöpferischen geistigen Praxis, hat sich notwendigerweise auf den gleichermaßen alten wie gültigen Gegensatz von Rationaliät und Emotionalität zu beziehen. Das Subjekt im Kontrast von Denken und Fühlen befindet sich im Spannungsfeld von sich widersprechenden Fähigkeiten und Kräften: auf der einen Seite der Intellekt, die Fähigkeit in bewußter Wahrnehmung klar und präzise zu denken, mit Ideen umzugehen, Welt und Leben gedanklich zu begreifen und auszulegen. Die primär instrumentell-kognitive Vernunft des Menschen, seine rationale Seite, sie steht für Klarheit und Ordnung, für die Möglichkeit zu

94

Entwurf zu einer Ethik der inneren Handlung

analysieren wie zu systematiseren, Strukturen zu erkennen, Methoden und Konzepte zu werfen. Der Intellekt des Menschen, der ihm ermöglicht ein Potential an Wissen, an Information und Daten zu erarbeiten und zu sammeln, der ihm gezieltes und kontinuierliches Vorgehen erlaubt, läuft jedoch stets Gefahr, sich - vereinseitigend eingesetzt - zunehmend von der Lebens- und Handlungswirklichkeit zu entfernen, in der reinen Abstraktion zu erstarren. In diesem Zusammenhang erschließen sich die Dimensionen von Emotional i tat und Affektivität: sie leisten direkte Rückbindung zum Lebenszug, setzen dabei mitunter ein gewaltiges Energiepotential frei. Die leidenschaftliche Kraft von Gefühlen kann mitreißend, überwältigend wirken, Hemmungslosigkeit, Maßlosigkeit freisetzen, kann verwirren ebenso wie Eindrücke von Macht und Ohnmacht, von Gewalten des Chaos vermitteln. Gefühle, Empfindungen regen an, bewegen, lassen teilnehmen, können zur Befreiung oder Abhängigkeit führen, Identifikationen, emphatisches Verstehen und grundsätzliche Motivationen ermöglichen. Für die ethische Urteilsbildung bedeutsam ist die Wahrnehmung des elementaren Widerspruchs, welcher im Verhältnis von Rationalität und Emotionalität stets gegenwärtig wird: das grenzenlose, allumfassende Gefühl - darüber nachdenken, und die Beschränkung zeigt sich sofort, wenn nicht sogar die Aufhebung durch den Gedanken, so doch der direkte Gegensatz in seiner Härte; was vom Gefühl her evident scheint, wird durch das Denken in seiner Unmöglichkeit, in seiner offensichtlichen Nichtigkeit enthüllt. Auf der anderen Seite jedoch stellt sich die kritische Frage: Können Gefühle überhaupt von Gedanken eingeholt, gänzlich erfaßt werden, in ihren Dimensionen und vielfältigen Nuancen beschrieben werden? Entziehen sich nicht Schattierungen, manche Stimmungen in ihren oftmaligen Gründen oder Auswirkungen dem rationalen Zugriff, bleiben so unübertragbar, in der Schwebe, dabei in ihrer Rätzelhaftigkeit auf unterschwellige Art besonders wirksam? Der Gegensatz zwischen Denken und Fühlen kann in der Innerlichkeit des Subjekts einerseits dramatische Spannungen aufweisen, andererseits aber auch die Chance bieten, diese Spannungen aufzuheben, Versöhnung zu erreichen; dann nämlich, wenn sich unter bestimmten Voraussetzungen beide Kräfte kreuzen, sich einen und so Knotenpunkte von besonderer Bedeutung entstehen: gemeint sind näherhin jene Gedanken, welche von Gefühlen ausgelöst wurden, beispielsweise aus der Freude, dem Schmerz, der Angst oder der Sehnsucht entstanden sind. Ein derart qualifiziertes Denken, welches von den Empfindungen inspiriert, von ihnen genährt und mit Aufmerksamkeit gestaltet wurde, vermag etwas von ihrer Gewalt, von ihrer Weite und Tiefe zu übersetzen und weiterzugeben. Diese Denkhaltung, welche nicht grundsätzlich und ausschließlich die Gefühle zu beherrschen oder abzudrängen sucht, sondern im Gegensatz, sich ihnen bewußt aussetzt oder sie begleitet, sich bemüht, sie zu integrieren, vermag in seinem gelungenen Momenten weit mehr anzubieten, als einen - vielleicht

Handlung und Gedanke

95

notdürftig erzwungenen - Kompromiß; zwar kann und soll der grundsätzliche Widerspruch von Denken und Fühlen nicht aufgehoben werden, doch gibt es Fälle, wo beide aufeinandertreffen und harmonisieren, schließlich Höhepunkte der Reflexion darstellen. Das ganz bewußte Eingehen auf solche Gedanken, der verantwortete Umgang mit ihnen, ihr gezielter Einsatz wie ihre Auswertung kann bereits als ethisch bestimmte Praxis angesehen werden, welche sich vom „alltäglichen" Tun abhebt. Ideen und Überlegungen, die das Resultat derartiger Reflexionshöhepunkte beschreiben, in diesem Sinn die Erfahrung des Empfindens in sich bergen, von ihr erfüllt oder grundiert, jedenfalls in gewisser Weise von ihr geprägt sind, mögen sich als besonders wirksam und praktisch nachvollziehbar erweisen; sie halten den Ereignissen und Situationen des Lebens stand, sofern sie aus ihnen hervorgingen, durch sie strukturiert sind. Vor allem der Zustand der Liebe kann im Übergang von Verstehen und Empfinden ausschlaggebend und fruchtbar sein, nuancenreiche Ergebnisse bringen, worauf noch speziell zurückzukommen ist. Eine ethisch relevante - vielleicht immer wieder auch spontan mögliche Reaktion resp. Kunstfertigkeit wäre das ganz bewußte Nachdenken über die Empfindungen, der subtile Versuch einer Übersetzung, einer Deutung: sie in dieser Hinsicht zuzulassen, sich auf sie zu konzentrieren, sich vertraut mit ihnen zu machen, um aus dieser Übung dann Wissen, Erkenntnis über sie zu gewinnen, wobei durchaus auch für das Paradoxe Raum sein müßte. Die so gewonnene gedankliche Vertrautheit in bezug auf die Gefühle sollte dazu dienen, mit ihnen besser umgehen zu können, sie sich in gewisser Weise anzueignen, fähig zu werden, sie bei sich und anderen zu interpretieren, in diesem Sinn Ausgleich zu schaffen. Die prophylaktische Gestaltungsverantwortung des Subjekts hat sich neben den klaren Gedanken, bewußten und im Umgang bewältigten Gefühlen immer auch jenes vorfindbaren Zwischenbereichs des Bruchstückhaften oder schon Zerstörten, Gescheiterten auch bereits Aufgegebenen zu vergewissern; diese Dimension inneren Erlebens gilt es als Herausforderung wahrzunehmen gegenüber versuchter Verdrängung oder Ablehnung; Fragmentarisches und Unbestimmtes ist als integrativer Bestandteil anzuerkennen, auch auf die implizite Möglichkeit hin, damit stets ein Potential zu neuen Ansätzen, zu einer neuen Totalität verfügbar zu halten. So gesehen, kann zwar das Ideal einer geglückten Korrelation von Denken und Empfinden prinzipiell erreicht werden, ist jedoch keineswegs von Dauer; sie muß sich immer wieder neu aus den widerstrebenden und auseinanderführenden, einmal aber doch sich fügenden Bewegungen ergeben. Die wesentliche Tatsache, daß Gedanken stets von Gefühlen beeinflußt werden, wie auch umgekehrt, dieser endlose und diffizile wechselseitige Prozeß sollte Berücksichtigung finden, wenn sittliche Entscheidungen zu treffen und Urteile zu fällen sind. Die Vergewisserung der Wechselwirkung und Verschränkung kann Einseitigkeiten vermeiden und der komplexen Anlage der sittlichen Persönlichkeit gerecht

96

Entwurf zu einer Ethik der inneren Handlung

werden, oder ihr zumindest entgegenkommen. Ebenso wie es gedankliche Entsprechungen und Antworten zu Gefühlen gibt, so vermögen auch Ideen Empfindungen hervorzurufen, sie zu erweitern und zu bereichern; dieser innere Zusammenhang, größtenteils subtil geschehend, wäre zu berücksichtigen und im Kontext einer Ethik der inneren Handlung deutlich zu machen; darauf ist mit Hinweis auf das „Gedankenereignis Liebe" im folgenden näher einzugehen. Von der Liebe durchdrungen und erfüllt erscheinen viele Vorstellungen, welche zuvor unmöglich gewesen sein mögen, als prinzipiell durchführbar; ein Zustand höchster Energie wird erreicht, Denken und Fühlen folgen ihrem Impuls und zeigen sich in neuen Perspektiven. Die Intensität der Liebe ist nicht nur im Gefühlsbereich gegenwärtig, auch das Denken wird von ihrer Macht eingenommen; die Erschütterungen, die kraftvollen wie sublimen Regungen, ihr Totalitätsanspruch ergreifen, färben und formen die Ideen. Dieses bewußte Erleben nimmt die sittliche Persönlichkeit in Anspruch, lenkt ihr Denken und Handeln, so daß die Liebe direkt auch auf die Tat einwirkt resp. diese nachhaltig bestimmt. Die Liebe erhöht oder vertieft, verfeinert und erweitert das Bewußtsein, nähert Denken und Fühlen an bis hin zu jenen einzigartigen Momenten der Einsicht in ihre Einheit. Die außerordentlichen und tiefen Erfahrungen durch die Liebe fuhren den Menschen an das Wesentliche seiner Existenz heran13. Was prädestiniert nun geradezu die Liebe zu derartiger Vereinigung von Denken und Fühlen, was gibt ihr die Macht, die grundlegenden Haltungen und Einstellung nicht bloß zu verändern, sondern sie geradezu neu zu erschaffen? Zum einen zeigt sich ein Zustand größtmöglicher Offenheit, eine umfassende Aufgeschlossenheit des Bewußtseins: die Eindrücke werden mit größtmöglicher Bereitschaft und Neugier erfaßt, jede Einzelheit zählt, eine gesteigerte Wachheit und Wahrnehmungsfähigkeit vermag die Fülle von Erfahrungen aufzunehmen; mit dieser umfassenden Aufmerksamkeit existiert zugleich der Wille und Wunsch, die Empfindungen und Erlebnisse zu bewahren, sie für sich zu schützen. Vorstellungskraft und Denkvermögen passen sich dieser wesentlichen Offenheit an. Hingabe, Innerlich-bereit-Sein, Warten oder Entgegenkommen - all diese Einstellungen und Handlungen erreichen auch die Gedanken, veranlassen sie, die Bewegung entgegen jeder Art von Starre und Isolation mitzuvollziehen. Auf diese Weise werden die Gedanken nicht nur in ihrer Variabiliät auch in ihrer Intensität angeregt, angesichts der eindringlichen Forderung der Liebe, verstehen oder durchschauen zu wollen.

13

Vor einem ähnlichen Hintergrund erscheint die Einsicht, die sich für Rahner mit der „Unbedingten Liebe" verbindet, die er so postuliert: „Wenn diese Liebe den Menschen wirklich radikal und ohne Vorbehalt an den Anderen wagt... dann ist darin inwendig und vielleicht namenlos - aber wirklich - das erfahren, was mit „Gott" eigentlich gemeint ist", vgl. Rahner, K., Praxis des Glaubens, Freiburg: Herder, 1982, S. 208.

Handlung und Gedanke

97

Der Wunsch, zu verstehen, so Einsicht und Einklang herzustellen, weist dem Verstand eine zentrale Position zu; vielfältige Fragen werden an ihn herangetragen, die in ihrer Virulenz und Dringlichkeit nicht abzuweisen sind, Auseinandersetzung suchen, Austausch und Abstimmung von Ideen und Empfindungen erfordern. Die Lenkung der Gedanken durch die Liebe, ihr anspornender Einfluß, ihre korrekte Umsetzung im äußeren Handeln werden zu bedeutsamen Dimensionen sittlicher Praxis. In der Liebe gelingt es immer wieder Distanzen zu überwinden, räumliche wie zeitliche Grenzen aufzuheben, sodaß die Augenblicke der Liebe als jene der Einheit erlebt werden, in welchen kein Widerspruch, kein Einwand mehr störend wirkt. Es sind Augenblicke der Identität von Leben und Denken; beides ineinander verschmolzen, ergänzt, beantwortet sich. In solchen außerordentlichen Momenten der Liebe stellt sich die Harmonie ein: Denken öffnet sich dem Empfinden, wird davon erfüllt; die Empfindungen berühren die Gedanken, wachsen mit ihnen zusammen. So ergibt sich aus den intensiven Erfahrungen der Liebe der Anstoß zu einem Denken, das diese in sich verarbeitet, sie in der Folge ausstrahlt und geradezu darauf drängt, sich auch in korrekten äußeren Handlungen umsetzen und bewähren zu können. Die Gedanken, hervorgegangen aus den innigen Erfahrungen der Liebe, durch sie gefördert, vermögen sowohl die feinsten als auch die heftigsten Regungen und Inhalte einzubeziehen, somit Dimensionen von Tiefe und Größe zu erreichen, durch die sie gleichsam zu Gedankenriesen werden, im strikten Gegensatz zu denen, die der bloßen „Alltäglichkeit" angeglichen sind. Berührt und durch die Herausforderung der Intensität der Liebe neu belebt, stärkt und verändert sich eine sonst oftmals in der Routine der Alltäglichkeit erstarrte, durch Gewohnheiten und Zwänge abgestumpfte, eintönig gewordene Gedankenwelt. Sie wird aus einer drohenden Verarmung und Nivellierung durch neue Perspektiven erlöst, die sich in der Umsetzung nach außen hin konkretisieren. Eine in diesem Sinn erneuerte und bereicherte Gedankenwelt fordert ihr entsprechende kritisch-konstruktive Handlungs- und Vorgangsweisen, die als explizit ethische Praxis nicht mehr mit überholten und gewohnt „alltäglichen" Verhaltensmustern zu vergleichen sind, diese im Gegenzug korrigieren und neu stimulieren. Die Liebe gewährt - in ihrer umfassenden Ausgeschlossenheit und gesteigerten Sensibilität - stets neue Einsichten, nicht nur in bezug auf die Vielfältigkeit, sondern vor allem auch auf die Schönheit; sie ist immer wieder Entdeckung und Eindruck von Schönheit, regt zur Bewunderung der sich wie unaufhörlich entfaltenden und steigernden Schönheit an. Derartige Erfahrungen von Erfülltheit und Glück gehen in die Gedanken ein, verleihen ihnen ihren Glanz, ihren Schwung, ihre Eleganz, wobei sittlich entscheidend ist, daß sich all diese Eigenschaften in den daraus gewonnen Haltungen der sittlichen Persönlichkeit wiederfinden. Die Liebe erscheint in gewisser Weise als Nährstoff für die einzelnen Gedanken, der sie intensiviert, ihnen neu Raum und Tiefe verleiht; ihnen Ausdauer schenkt, die Hindernisse überwinden, Grenzen überschreiten läßt, sie dazu anregt, sich in

98

Entwurf zu einer Ethik der inneren Handlung

äußeren Verhaltensweisen zu erproben und deren Neugestaltung zu versuchen. Durch die Offenheit und Aufnahmebereitschaft im Zustand der Liebe wird das Denken - von der Liebe eingenommen - entscheidend gefordert, zu reagieren, die vielfältigen Erfahrungen und Eindrücke zu sammeln und zu verarbeiten. Unter ihrem Ansporn gewinnt es sowohl an Intensität als auch an Ausdauer und Variabilität. Im Unterschied zu einem rein analytischen Denken wäre eine solche, sich aus der Vitalität speisende Denkweise, vor allem dort konstruktiv und zielführend, wo es um Fragen geht, die sich auf die Ganzheit der menschlichen Persönlichkeit und des menschlichen Lebens beziehen; aus der Liebe, im Sinne einer Haltung, die nicht nur das Gefühl, sondern auch das Denken an sich bindet, ergäbe sich eine Perspektive, die die Mitte des Menschen trifft. Ein von der Liebe illuminiertes, von ihr getragenes, geistesgegenwärtiges Denken könnte Ansätze bieten, die zentralen Anliegen und Forderungen des Menschen in ihrer subtilen Schattierung zugänglich zu machen, sie tatsächlich aufzuschließen und aus diesen Einsichten heraus konkrete Handlungsvorstellungen und -motive zu entwickeln, die weitgehend entsprechen würden. Die Liebe steht weder der Exaktheit der Überlegungen entgegen, noch muß sie zu Einseitigkeit verleiten; sie dient der Vollständigkeit wie der Auffindung des Wesentlichen und Wahren. Ihre Wirkung auf die Gedankenwelt wie ihr Ausdruck in der persönlichen Haltung stellt eine neue Qualität schöpferischen Seins und Handelns konkret in Aussicht.14

14 Die Konzeption einer Ethik der inneren Hanlung bedarf der Durchführung und der paradigmatischen Erprobung anhand konkreter Themenfelder. Beispielgebend sei hier etwa auf den Bereich der modernen medienethischen Herausfordeung verwiesen mit dem Ziel, eine offene und schöpferische Gestaltung medialer Kommunikation zu ermöglichen im Hinblick auf das Werden der sittlichen Persönlichkeit. Die theologische Ethik ist im Interesse des Subjekts mit der Frage konfrontiert, ob sie sich nicht über das bereits erwähnte Angebot von Orientierungswissen hinausgehend, auch über eine explizit individualethische Reflexion des Wissens, in dessen Bedeutung für das Subjekt und seine Identitätsfmdung, verständlich machen mußte. Erklärtes Ziel wäre hier, zu einer konstruktiven, die persönlichen Interessen, die eigenen Vorstellungen gelungenen Lebens berücksichtigenden Auseinandersetzung anzuleiten; das bedeutet für die Perspektive des inneren Handelns, die Weckung eines ganzheitlichen Wahrnehmungsbewußtseins vorzubereiten, welches den erweiterten, nicht mehr manipulierten oder verstellten Blick für das Ganze ermöglicht; ein hohes Maß an Geistesgegenwart zu fordern, mit dessen Hilfe es dem Subjekt gelingen soll, den eigenen Erlebnissen und Erfahrungen gerecht zu werden. Ethische Transparenz würde hier wiederum das Ereignis und die Dimension der Liebe gewinnen, deren Beweggrund und Treffsicherheit zuverlässig das Wesentliche erkennen läßt, eine andere, tief ergehende und wahrhaftigere Qualität des Wissens in Aussicht stellt als rein informatives; vgl. dazu exemplarisch, Guth, R., Aspekte medienethischer Verantwortung, in: ThG l (1990), S. 49 - 54.

5. Theologische Ethik im Diskurs mit der Ästhetik

5.1. Die Kunst der Lebensführung im Blickfeld der ethischen Reflexion Die Moraltheologie ist hineingenommen in das Gespräch der Zeit. Sie hat den spät- oder postmodemen Reflexions- und Handlungsbedingungen konzeptionell Rechnung zu tragen. Die Möglichkeit oder der Ansatzpunkt heutiger ethischer Verständigung - gleich welcher weltanschaulichen Provenienz - scheint dabei grundsätzlich formuliert: Ethische Rechenschaft ist im Hinblick auf ihre Ausgangssituation neu zu sichten. Signifikant ist die eingangs erwähnte Veränderung der bislang leitenden ethischen Grundperspektive im moralischen Bewußtsein der Öffentlichkeit mit dem Wandel der ethischen Frage vom jeweiligen Dürfen zum eigentlichen humanen Wollen; hier verdichtet sich das Spiegelbild eines offenen intersubjektiven Diskurses, innerhalb dessen - angesichts eines gesellschaftlichen und politisch-ökonomischen Strukturwandels neu die Sondierung der entscheidenden Grundbezüge und Grundvorstellungen des Handelns überhaupt erfolgt.l Der fundamentale Wandlungsprozeß im Bereich der öffentlichen Meinungsbildung schließt eine Kritik an der modernen Ethik ein, welche ausschließlich auf Norm- und Urteilsbegründung bezogen ist, darin ihr Selbstverständnis konkretisiert. Ethische Verpflichtungen, Prinzipien des Rechten und Gerechten geben keine Antwort auf die Frage, was zu tun ist, um eine geglücktes und gelingendes Leben zu führen, dieses nicht zu verfehlen; sie abstrahieren von der Vorstellung und dem Interesse des Subjekts am guten Leben, seiner eigenen Lebensgeschichte, seiner pluralen Beziehungen zu anderen Subjekten, der Lebensform, der er sich zugehörig fühlt.2 Die im praktischen Selbstbewußtsein artikulierte „Sorge um sich selbst" als Sorge des Subjekts um eine Erneuerung der eigenen Existenz indiziert weniger das Interesse an moralischen Normen und Urteilen, als vielmehr die zu bewältigende Grundproblematik einer ganzheitlich gelingenden Lebensfüh-

1 2

Hunold, G. W., Ethik, S. 2f. Günther, K., Das gute und das schöne Leben, in: Gamm, G./Kimmerie, G. (Hrsg.), Ethik und Ästhetik, Tübingen: Ed. Diskord, 1990, S. l If.

100

Theologische Ethik im Diskurs mit der Ästhetik

rung mit der Zielvorstellung einer eudämonistisehen Seinsweise, innerhalb derer erst kategoriales Handeln seinen Identitätsbezug erhält. Für die Moraltheologie entstehen hier neue, auch theologisch fundamentale, Diskurse. Fragen des richtigen und eudämoniefähigen guten Lebens, der schöpferisch-kreativen, eigenverantwortlichen Lebensgestaltung, der „Kunst" des Planens, Handelns und Entscheidens werden zu hervorragenden Aufgaben ethisch-theologischer Reflexion, womit zunächst die Individualethik zu befassen ist, dann aber auch ganz wesentlich der sozialethische Bereich gemeint sein muß. Der Begriff der „Sozialethik" ist hier im Hinblik auf die strebensethische Perspektive zu differenzieren. Die Sozialethik unterscheidet sich nicht durch einen entindividualiserten Sozialbezug schlechthin, sondern durch eine Spezialisierung auf bestimmte soziale Gefüge und Strukturen.3 Sie ist entsprechend dem Duktus der Untersuchung als mehrdimensionaler Ethiktypus zu verstehen im Sinne einer Zusammenführung sollens- und strebensethischer Argumente. Genau darauf kommt es an. Die Bestimmung einer sozialen Spezifizierung gilt zwar in erster Linie für die so definierte sozionome Moral, dann aber auch für die Strebensethik, die in ihrer generellen Form das nichtmoralische Weltverhältnis im ganzen thematisiert und hier in besonderer Weise auch ein Sozialverhalten, einen Umgang mit anderen Subjekten der nicht schon moralisch qualifiziert ist.4 Grundsätzlich zu bedenken sind dabei folgende Aspekte: Jeder Entwurf oder jede Selbststilisierung des Subjekts hat die irreduzible Perspektive des anderen in Rechnung zu stellen, seien dessen Recht und Anspruch universalisierbar oder unableitbar individuell. Dem zu entsprechen, verlangt die Wahrnehmung der anderen als eigenständige - auch wahrheitsfähige - Subjekte einer Artikulation von Entwürfen und Konstrukten, die in die eigenen Lebensgestaltung fundamental einzubeziehen sind, das eigene Lebenskonzept verändern, diesem im Grunde erst seinen „objektiven" Qualitätsbezug verleihen. Subjektive Welt- und Wirklichkeitskonstruktion, konstituiert aus eigenen ErVgl. Krämer, H., Integrative Ethik, S. 399. Christliche Sozialethik definiert sich heute vielfach in ihrem Selbstverständnis als Strukturenethik, vgl. u.a. Th. Hausmanninger im Anschluß an W. Korff: „Christliche Sozialethik in der späten Moderne, in: ders. (Hrsg.), Christliche Sozialethik zwischen Moderne und Postmoderne, Paderborn: Schöningh 1993, S. 45-90. Krämer, H., Integrative Ethik, S. 399f; 89;,.Die slrebensethische Perspektive läßt sich nämlich in das Gruppenverhalten in Gesellschaft und Staat hinein verlängern und auf die Zielbestimmung von Institutionen und Gruppierungen sowie auf deren Realisierung beziehen ... Die langfristig gemeinsame Verfolgung von Zielen nötigt dazu, einschlägige Verhaltensweisen durchzuhalten, Rollen zu fixieren und dafür feste Grundhaltungen auszubilden. Das Leistungsethos der individuellen Lebensführung bleibt also auch in der Gruppe erhalten, oder, genauer ausgedrückt, es entwickelt neue, in Gemeinschaftsstrategien eingebettete und funktionalisierte, aber darum nicht auch schon direkt moralische Formen der Anwendung und Betätigung. Ohne ein dergestalt erweitertes und ins Gruppenhandeln eingelassenes individuelles Strebeverhalten und die zugehörigen Dispostionen könnten Gemeinschaftsleistungen nicht erbracht und Gruppenziele nicht erreicht werden"; ebda., S. 395; 399f.

Die Kunst der Lebensführung

101

lebnis- und Erfahrungsmomenten resp. deren Interpretation und Koordination, ist unter kognitiven Aspekt unabdingbar an den anderen gebunden, wird im eigentlich erst durch ihn ermöglicht; der andere ist, so gesehen, unabdingbar zu berücksichtigen, um ein verläßliches Niveau von eigener Wirklichkeitskonstruktion im Sinne von „Objektivität" resp. Intersubjektivität zu erreichen. Darauf hat der inzwischen auf breiter interdisziplinärer Basis diskutierte „Konstruktivismus" nachdrücklich hingewiesen; in spezifisch ethischer Hinsicht impliziert dies die Tieferlegung einer Grundfrage von Ethik überhaupt, wie eine verbindliche Berücksichtigung des anderen oder der anderen Subjekte letztlich begründet werden kann, von einer bislang rein ethischen bereits auf eine allgemein erkenntnis- resp. wahrnehmungstheoretische Ebene5; dies scheint eine der wesentlichen Konsequenzen konstruktivistischer Ansätze zu sein, welche heute im Rahmen ethisch-theologischer Theoriebildung miteinbezogen werden müßte. Erfolgt in dieser Hinsicht die Beantwortung der Frage nach der Verrechnung des anderen bereits aus epistemischen Gründen, so bedeutet dies, daß sich der Ansatzpunkt von ethischen Überlegungen entscheidend verschiebt mit einer deutlichen Ausweitung des Verantwortungsbereichs ethisch reflektierter Praxis, in erster Linie - so die These der vorliegenden Untersuchung - auf die Innendimension menschlichen Handelns, deren Diskurs im Rahmen ethischer Rechenschaft zuvor ansatzweise versucht wurde. Die individuell-subjektive strebensethische Konstruktion resp. Vision guten und gelingenden Lebens richtet sich so etwa als Angebot resp. als konkrete Herausforderung an andere Subjekte und deren eigene schöpferische Konzepte, um im gegenseitigen Bestätigungs- oder Konstruktionsprozeß „objektives" Qualitätsniveau zu gewinnen, womit sich - allein durch die explizit verfügbar und operationalisierbar, damit auch prinzipiell verantwortbar gemachte innere Handlungsdimension, als innere „Großbaustelle" oder inneres Experimentierfeld, dem jeder angebotene Entwurf entspringt, eine neu zu sichtende Verantwortlichkeit für das Gelingen oder Scheitern intersubjektiver (Wahrheits)diskurse ergibt. Mit der bereits erwähnten Umakzentuierung des bisherigen Selbstverständnisses hinsichtlich einer Wiederaneignung ursprünglich individualethischer Grundbezüge fragt die Moraltheologie nach dem individuell und sozial gelungen Leben, thematisiert die diffizile Kunst der Lebensführung, sucht nach übergreifenden spezifisch eigenen Entwürfen einer Sinntotalität guten Lebens. Hier kündigt sich eine neue Gesprächsebene an. Grundfragen der Ethik weisen auf den Bereich der Ästhetik; es zeigt sich das neue Anliegen, über bisher bestehende ethisch-theologische Konzepte hinausgehend, den Diskurs mit der Ästhetik zu versuchen. Ein Diskurs der so die explizite These - im Interesse der theologischen Ethik, angesichts ihres Glasersfeld, E. v., Siegener Gespräche über Radikalen Konstruktivismus, in: Schmidt, S.-J. (Hrsg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt/M: Suhrkamp, 1988, S. 416f.

102

Theologische Ethik im Diskurs mit der Ästhetik

gegenwärtigen Stellenwert im moralischen Bewußtsein der Öffentlichkeit, was ihre praktische Kompetenz zu Lebensfragen betrifft, geführt werden muß. Ethische (Selbst)realisation wird in Affinität zum Prozeß künstlerischen Schaffens zu bestimmen sein; das kreativ-schöpferische Subjekt wird zum neuen Subjekt der Glaubenspraxis in der Dimension einer ethico-ästhetischen Lebensgestaltung. Darauf wurde bereits mehrfach hingewiesen in den Überlegungen für den Entwurf einer Theorie der inneren Handlung, die von einem wesentlich erweiterten und umfassenden - über das bisherige innermoraltheologische Selbstverständnis hinausführenden - Handlungsbegriff ausgeht und diesen für die künftigen Ethikdiskurse als verbindlich unterlegt. Die ethische Transparenz und Operationalisierbarkeit des Innenaspekts menschlichen Handelns mit der expliziten Reflexion der Gedankenarbeit bedeutet die unabdingbare und gezielte Vorbereitung resp. Ermächtigung des Handlungssubjekts. Sie indiziert, handlungstheoretisch betrachtet, die propädeutische Vergewisserung der Bedingung der Möglichkeit einer Freiheitspraxis künstlerischen Denkens, Planens und Entwerfens. Zu erbringen ist der Aufweis der sittlichen (Wahrheits)befähigung und ästhetischen Kompetenz des Subjekts; hier entscheidet sich präventivethisch die Konzeption und realisierbare Verwirklichung des optierten, heute auch geforderten ethico-ästhetischen, das Experiment verrechnenden Lebens- und Glaubensvollzugs. Die Moraltheologie verwirklicht mit der Wahl des ästhetischen Diskurses oder auch der spezifisch ethico-ästhetischen Dimension des christlichen Glaubens ihre übernommene Anwaltfunktion in mehrfacher Hinsicht. Aus der Wahrnehmung der Interessen des Subjekts wie der Einlösung ihrer Verantwortung diesem gegenüber ergibt sich einerseits die wesentliche Grundaufgabe, die erwähnte Vorbereitung, Befähigung resp. auch Einübung im Rahmen theologisch-ethischer Theoriebildung sicherzustellen; daran bemißt sich zunächst die individualethische Zuständigkeit der gegenwärtigen Moral theologie. Hinsichtlich ihrer gesellschafts- wie auch wissenschaftstheoretischen Relevanz mit der Vergewisserung der Möglichkeit einer theologischen Ethik im Kontext postmoderner Sozialsysteme und deren Lebenswirklichkeit überhaupt bezieht sich die Anwaltfunktion der Moraltheologie gegenüber dem ästhetischen Interesse auf die Bewahrung, gegebenenfalls auch Rettung des Sittlichen selbst und seiner allgemeinen Verbindlichkeit. Insbesondere rät der eigene Anspruch von Sinnvermittlung, aus dem heraus sich auch ihre unersetzliche Aufgabenstellung als Wissenschaft im wissenschaftlichen Zwiegespräch ergibt, zur Formulierung eines spezifisch eigenen ästhetischen Konzepts. Im Hinblick auf einen allseits feststellbaren postmodernen ethischen Pluralismus und Relativismus ist der Aufweis eines möglichen Konsenses in der Pluralität zu erbringen mit der Präsentation spezifisch eigener, überzeugender Entwürfe guten Lebens, womit der Bereich der praktischen Vernunft und deren neu einzubringende ästhetische Qualität angesprochen ist.

Die Kunst der Lebensführung

103

Ausgehend vom praktischen Selbstbewußtsein und der darin artikulierten „Sorge um sich selbst" als Sorge um eine Revision resp. Neugestaltung der eigenen Existenz- und Handlungsweisen, wurde die Genese des praktischen Subjekts über den von jedem einzelnen selbst und in Gemeinschaft und Konsens zu führenden ethischen Grundsatzdiskurs deutlich gemacht. Als entschieden kreativ-innovativer Prozeß, in welchem sich das ursprüngliche Selbstverhältnis zur schöpferisch-kreativen Selbstgestaltung formiert, impliziert der Grundsatzdiskurs - so die These - ethico-ästhetische Qualität, weist auf die Dimension des Kunstwerks. Dieses Konzept von Lebenskunst oder eine in diesem Sinn vorgestellte Kunst des Planens und Handelns setzt, auch mit der Frage nach der jeweiligen Technik einer derart kreativen Lebenspraxis, ein entsprechend erweitertes allgemeines Verständnis von Kunst voraus. Der moral theologische Diskurs befindet sich diesbezüglich in einer heute neu oder wieder aufgenommenen Diskussion um eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Kunst und Leben, für die eine spezifisch postmoderne Konvergenz von ethischen und ästhetischen Erkenntnissen resp. Interessen signifikant scheint.6 Als wesentliches Orientierungsergebnis dürfte dabei die gegenwärtig auf breiter Linie feststellbare Rehabilitation eines Kunstverständnisses sein, das die Erfahrungen der Moderne reflektierend, wieder auf den antiken Begriff der techne zurückgreift, welcher Kunst in ein offenes Verhältnis zu Leben und Existenz stellt. Gemeint ist jener deutlich erweiterte Kunstbegriff, der im großen und ganzen alle Bereiche des Lebens umfaßt und die Existenz selbst als eigenes Kunstwerk bestimmt. In diesem Sinn wurde in mehreren inzwischen vorgestellten philosophischästhetischen Konzepten als das entscheidende Kunstwerk, um das man sich zu bemühen hätte, das eigene Leben angesehen; in gewisser Analogie zu den verschiedenen anderen Künsten stünde dann die spezielle Kunst, sein Leben zu führen, sich selbst zu gestalten und experimentelle neue Möglichkeiten des Lebens zu finden und zu erschließen7. Vor diesem Hintergrund einer für die 6

7

Vgl. in diesem Zusammenhang u.a. die Diskussion in: Gamm, G./Kimmerle, G. (Hrsg.), Ethik; Schmid, W., Kunst und Leben. Anmerkungen zu einer wieder auflebenden Diskussion, in: Merkur l (1991), S. 82-87; von den einzelnen inzwischen vorgestellten ethico-ästhetischen Konzepten ist sicherlich in erster Linie nach wie vor das bekannte Werk von M. Foucault zu nennen und dessen Entwurf einer „Ästhetik der Existenz"; dieser wurde in mehrfacher Hinsicht für die Diskussion maßgebend und hat inzwischen in manchen Ansätzen eine Weiterentwicklung erfahren; zum anderen ist auf den Bereich der gegenwärtigen angelsächsischen Ethikdiskussion zu verweisen, so u.a. auf Autoren wie Alasdair Maclntyre oder Martha C. Nussbaum; ganz allgemein ist zu diesen Modellen aus dem angelsächsischen Raum sicherlich G. Gamms Kritik zuzustimmen, daß diese Ansätze ein insgesamt negatives Verhältnis zur Moderne aufweisen und in diesem Sinne auch explizit die für die heutige Diskussion verbindliche Orientierung an den speziellen Ergebnissen der Kunst der Moderne verweigern resp. vermissen lassen, vgl. Gamm, G., Das gute und das schöne Leben, in: ders./Kimmerle, G. (Hrsg.), Ethik, S. 11-37. Schmid, W., Kunst, passim.

104

Theologische Ethik im Diskurs mit der Ästhetik

Postmoderne signifikanten, inzwischen auf breiter Linie begonnenen Ästhetikdebatte, welche, längst über einzelwissenschaftliche Diskurse hinausgehend, die verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche und Gruppen erfaßt hat, wäre es Aufgabe und auch produktive Herausforderung, die eigene ethischtheologische Reflexion anzusetzen mit der Vergewisserung einer spezifisch „ethisch" klassifizierbaren kritisch-konstruktiven Praxis; dabei bleibt zu bedenken, daß eine zeitgemäße Moraltheologie heute nur noch, darauf wurde mehrfach hingewiesen, als Integrationswissenschaft verständlich gemacht werden kann, zu deren methodischen Voraussetzungen und Notwendigkeiten eben das interdisziplinäre Gespräch gehört. Sie wird in diesem Sinn den Diskussionsstand mit der gegenwärtigen philosophischen Ästhetik um eine Neuordnung des Verhältnisses zwischen Kunst und Leben aufnehmen und versuchen, mögliche Aufgabenstellungen für den Entwurf einer künftigen ethischen Theorie zu berücksichtigen. Als denkerischer Anstoß und verbindlicher Orientierungspunkt bleibt die heute mögliche Eröffnung eines Kunstverständnisses, welches über den modernen Begriff auf die antike Vorstellung zurückgeht, um wieder die zentralen Bereiche des Lebens wie der Existenz im ganzen unter dem umfassenden Begriff des Kunstwerks zu vereinigen. Von dieser allgemeinen Argumentationssituation her hat die eigenständige spezifisch ethico-ästhetische, vor allem auch theologische Theoriebildung neu anzusetzen resp. auch weiterzufahren. Unter Wahrung der jeweiligen innerdisziplinären Eigengesetzlichkeit wie der je spezifischen Erkenntnisinteressen wird sich die Moraltheologie so einerseits den Herausforderungen der aktuellen moralphilosophischen Debatte zu stellen haben und mit durchaus kritischem Bezug relevante Ergebnisse zur Kenntnis nehmen, soweit sie sich für den eigenen Diskurs als zielführend und hilfreich erweisen, auch zu integrieren versuchen, ohne damit schon die genuin theologische Disposition zu suspendieren. Zum anderen freilich bleibt es erste Aufgabe der Moraltheologie, und sie kommt als theologische Handlungs^ und Erkenntnislehre nicht umhin, einen eigenständigen Entwurf zu entwickeln und für die Diskussion verständlich zu machen. Ein Entwurf, der insbesondere hinsichtlich Voraussetzungen und ethico-ästhetischen Zielsetzungen Eigenständigkeit wie Unterschiedenheit beweist, wobei die Fragen nach dem Identitätsgewinn oder der Genese der ethico-ästhetischen Personwerdung zentral sein dürften. Theologische Ethik bedenkt in dieser Hinsicht den kreativen Prozeß der ethischen Subjektivierung, welcher sich auf Grundlage des Entscheidungsprozesses freier Selbstbestimmung vollzieht mit der Schöpfung und Formulierung eines eigenen Lebensstils und persönlichen Ethikkonzepts. Perspektiviert ist das ethico-ästhetische Subjekt als neues Subjekt der Glaubensrealisation. Diesem Konzept einer ethico-ästhetischen Seinsweise entspricht eine neue Dimension des Handelns, als eine neue „Orthopraxis des christlichen Glaubens"8, welche

Das Konzept einer integrativen praktischen Vernunft

105

zusammen mit der Autonomie der ethischen Erkenntnis das Gesamtbild einer christlichen Ethik formulieren. Diese Praxis intendiert als Entwurf der ganzen Person den lebensweisen oder sich auf die schwierige und erst einzuübende Kunst der richtigen Lebensführung verstehenden Menschen und seine sittliche Wahrheitsbefähigung. Das neue Handeln bedeutet hier Seinserschlossenheit, die Wahrnehmung der inneren ethico-ästhetischen Seins- resp. Wesensgesetzlichkeit, welche sich mit einem persönlichen Auftrag verbindet, der entsprechende ethico-ästhetische Ausdrucksqualität erfordert. Die Realisation dieses Konzepts einer so vorgestellten Lebenspraxis in Analogie zum Kunstwerk oder zum Prozeß künstlerischen Schaffens bedingt in erster Linie eine grundsätzliche Revision des in der gegenwärtigen Moraltheologie herrschenden Rationalitätsmodells wie die Infragestellung der bislang zugelassen Wissensformen und Erfahrungsweisen; daran ist zunächst anzuknüpfen.

5.2. Das Konzept einer integrativen praktischen Vernunft Der zentrale Prozeß der ethico-ästhetischen Subjektgestaltung, wie er als handlungstheoretisches Programm innerhalb der Moraltheologie durchzuführen und durchzusetzen ist, bedarf von seinen Möglichkeitsbedingungen her eines umfassenden erkenntnisanthropologischen Grundbezugs. Damit ist die Einsicht verbunden, daß jede Handlungstheorie ein bestimmtes erkenntniswie auch wahrheitstheoretisches Konzept unterlegt ist, dem wiederum ein entsprechendes Person resp. Subjektverständnis folgt; wobei innerhalb dieses inneren Verweisungszusammenhangs das praktische Subjekt - so die These - in seiner ethico-ästhetische Selbst- und Weltgestaltung bestimmt werden könnte. Die moraltheologische Theoriebildung hat sich über diese - möglicherweise oftmals stillschweigend - eingebrachten Argumentations- und Reflexionsprämissen stets kritisch zu vergewissern resp. Rechenschaft darüber abzulegen, diese auch gegebenenfalls zu hinterfragen und einer entsprechenden Korrektur zu unterziehen. Mit der Neuorientierung durch das II. Vatikanum hat die Moraltheologie, das wurde erwähnt, die neuzeitliche Wende zum Subjekt grundsätzlich vollzogen. Wenn diese auch seither weder in individual- noch sozialethischer Hinsicht wirklich realisiert oder beachtet worden ist, so hält der moraltheologische Diskurs dennoch zumindest jene geforderte handlungs- resp. erkenntnistheoretische Grundlegung offen oder stellt sie in Aussicht, welche als unumgänglich für eine produktive Bewältigung der heutigen postmodemen Lebens- und Existenzsituation erachtet wurde. Ihre konkrete Verwirklichung steht allerdings weitgehend aus. Erst die bedingungslose Einlösung des Subjekt-Paradigmas schafft eine reale Möglichkeit, die Gestaltung von Ethik und Moral erkenntnisanthropolo-

106

Theologische Ethik im Diskurs mit der Ästhetik

gisch in einer ganzheitlichen Weise zu fundieren, welche es erlaubt, auch die ästhetischen, emotiven und leiblich-affektiven Aspekte als wesentliche Möglichkeitsbedingungen menschlichen Handelns mitzuberücksichtigen, im Sinne einer integrativen Erfassung aller beteiligten schöpferisch-aktiven wie passivrezeptiven Wahrnehmungs- und Erkenntnisformen. Im Mittelpunkt eines auf diese Weise konzipierten ethico-ästhetischen Selbst- Welt- und Gottesbezugs soll auf Basis der bereits skizzierte Theorie der inneren Handlung die handlungstheoretische Rehabilitation der Phantasie stehen. Ihr operationaler Charakter entfaltet sich im Hinblick auf die Kritik am Rationalitätsmodell kantischer Provenienz, welche dazu führen müßte, einseitig kognitiv-instrumentelle Rationalität zu einem erweiterten Begriff von praktischer Vernunft zu führen. Die Rekonstruktion der ästhetischen, emotiven, affektiv-passiven Anteile sowie generell die ethische Wiederherstellung des menschlichen Leibes und seiner Sinnenhaftigkeit sollten auch zur Erschließung eines ganzheitlichen Wahrnehmungsbewußtseins beitragen, in dessen Zentrum die Phantasie - in ihrer explizit ethischen Gestalt - ihre handlungsleitende, heuristische und eudämonistische Kompetenz gewinnt. Die Wahl des Paradigmas eines ethico-ästhetischen (Glaubens)subjekts bedingt für die theologische Ethik mit der Frage nach der konkreten Operationalisierbarkeit zweifellos eine neue Ausgangssituation hinsichtlich ihres vorausgesetzten Rationalitätskonzepts. Zur Diskussion steht die handlungstheoretische Umorientierung mit der grundsätzlichen Kritik am bislang vorherrschenden Reduktionismus wie der Machtanalytik einer einseitig kognitiven instrumentellen und funktionalistischen Vernunft. Angepeilt ist damit eine Revision der gegenwärtigen Moraltheologie in bezug auf eine Neuformulierung des Gesamtzusammenhangs von Erkennen, Urteilen und Handeln, über den die Ethik Rechenschaft zu geben hat. Dieser angedeutete, heute notwendig erscheinende, Umbruch fordert den moraltheologischen Diskurs nachhaltig auf, sich einer kritischen Selbstreflexion zu unterziehen, die Plausibilität der Argumentationsstruktur zu überprüfen, stillschweigend eingebrachte Paradigmen und Vorverständnisse zu durchleuchten. Es gilt, rezipierte Traditionen zu hinterfragen, vorhandene Grauzonen, kaschierte intellektuelle Unredlichkeiten aufzuhellen, längst überkommene, der gegenwärtigen ethischen Frage- und Rechenschaftssituation nicht mehr gerecht werdende Lösungsansätze zu problematisieren. Die Moraltheologie ist aufgerufen, Aufklärung zu schaffen, insbesondere ihre jüngere Entwicklung seit dem II. Vatikanum kritisch und offen zu analysieren; sie zu hinterfragen und sich in diesem Zusammenhang endgültig von einer nach wie vor bestehenden, heute aber umso schwerer wiegenden engen Bindung an Kant zu distanzieren resp. sich von ihr zu befreien; ohne allerdings hinter einmal erreichte Klärungen zurückzufallen. Das denkerische Programm bezieht sich auf die konsequente Überwindung eines noch an Neuzeit und Auf-

Das Konzept einer integral!ven praktischen Vernunft

107

klärung orientierten Rationalitätsbegriffs und der damit gegebenen theoretischen Implikationen, welche notwendigerweise die durchgeführte Rezeption des Autonomiemodells begleiten, womit dieses ebenso - darauf wurde hingewiesen - in die Kritik gerät. Die wesentliche Herausforderung heute, die es wohl unabdingbar zu bewältigen gilt, bedeutet im Grunde jene - im Zuge des Konzils versuchte - Neuorientierung angesichts der gegenwärtigen postmodernen Argumentations- und Reflexionssituation zu überarbeiten und wiederholt zu formulieren. Die geäußerte Kritik bezieht sich freilich in erster Linie nicht auf die Moraltheologie direkt, sie geht tiefer, meint das Konzil selbst und die dort getroffene, aus heutiger Sicht verfehlte oder zu kurz gegriffene Diagnose der Moderne9; die eigentliche zeitgenössische Situation bleibt weitgehend unberücksichtigt, zu problematiseren sind argumentatives Wahrheitsverständnis und Weltbild, das Festhalten an einem starken, emphatischen Vernunftbegriff, an einer Vernunft, die sich noch als „eine begreift und die sich Erkenntnis der Wahrheit und Ausgriff auf das Ganze zutraut", wie sie in der Fortführung von mittelalterlicher Scholastik und Aufklärung noch bei Kant und im deutschen Idealismus gegenwärtig scheint. Unbeachtet bleibt demgegenüber die Krise der Moderne, die Erosion und Dissoziation jener Einheit, welche im großen und ganzen von der Aufklärung vorausgesetzt werden konnte. In dieser Hinsicht wurde nicht wahrgenommen oder blieb unberücksichtigt, daß an „die Stelle der einen Vernunft und ihrer umfassenden Wahrheit... plurale ausdifferenzierte Wahrheits- und Geltungsansprüche getreten (sind), die eine Geschichte ... sich - verstärkt durch Kontextualismus und Dekonstruktivismus - in Geschichten aufgelöst" hat, oder durch das Evolutionsparadigma ersetzt worden ist, und daß an die „Stelle der einen Lebenswelt... plurale Welten mit unterschiedlichen Wertmustern getreten (sind)"10. Diese für die Diagnose der Gegenwart unabdingbare Faktoren wären, über das Konzil hinausgehend, auch speziell durch die moral theologische Reflexion grundlegend nach- und aufzuarbeiten; es ist Aufklärung zu schaffen, umsomehr, als der jüngste Diskurs in der katholischen Theologie und Kirche von seiner Tendenz her kaum mehr in diese Richtung zu weisen scheint. Für die moraltheologische Verständigung gilt es dabei in ihrer Argumentation von vornherein deutlich zu machen: Eine umfassende Position innerhalb der Rationalitätsdiskussion der Gegenwart hat heute mehrschichtig anzusetzen, sie ist nach mehreren Seiten hin zu orientieren. Der Diskurs umschließt einerseits die heute praktisch in allen Bereichen präsente Kritik an der Machtanalytik und dem Reduktionismus einseitig kognitiv instrumenteller Rationalität; die Problematisierung einer totalisierenden Vernunft, ihre Herrschafts-

9 10

Honnefeider, L., Anpassung, S. 24. ebda , S.25.

108

Theologische Ethik im Diskurs mit der Ästhetik

Zwangs- und Unterdrückungsformen der inneren und äußeren Natur des Menschen. Für die Post- oder Spätmoderne signifikant ist in diesem Zusammenhang die Rede vom ,Anderen der Vernunft" geworden. Über diese gegenwärtig unabdingbar zu vollziehende, vor allem auch in den speziellen Bereich der Moraltheologie und deren Autonomievorstellung hineinzutragende, grundsätzliche Kritik der Vernunft hinausgehend, hat aber eine entsprechend differenzierte Wahrnehmung ganz wesentlich auch deren Rettung im Auge zu behalten, im Sinne einer wiederholten Vergewisserung jener stets manifesten Einsicht um die permanente Fraglichkeit und Bedrohung der Vernunft und ihrer Selbstbehauptung, welche heute zusehends aus dem Bewußtsein schwindet, worauf noch zurückzukommen sein wird.11 Wie erwähnt, steht in erster Linie die radikale Kritik an dem vor allem auch im Bereich der Moraltheologie dominierenden Rationalitätskonzept Kantischer Provenienz und den damit verbundenen moraltheoretischen Optionen zur Debatte. Zu problematisieren ist der neuzeitlich-moderne Prozeß der Herausbildung einer verkürzten, im wesentlichen „exklusiven" Vernunft und deren Herrschafts- resp. Machtanalytik, welche heute grundsätzlich in die Krise geraten scheint. ,,Die Vernunft schloß aus: indem sie aufs Bleibende aus war das Veränderliche; indem sie aufs Unendliche aus war das Endliche; indem sie aufs Geistige aus war das Sinnliche; indem sie aufs Notwendige aus war das Zufällige; indem sie aufs Allgemeine aus war das Vereinzelte; indem sie aufs Argumentative aus war das Affektive; indem sie aufs Unbezweifelbare aus war das, „woran man zweifeln kann", indem sie aufs Souveräne und Freie aus war das nur Zustoßende, Widerfahrende; indem sie aufs Unbedingte aus war das nur Faktische und Historische; indem sie aufs diskursiv Konsensuale aus war das Rechtfertigungsfähige und -unbedürftige".12 Das Projekt der Vernunft bedeutet letztlich die Geschichte einer Verdrängung und Unterwerfung, Ausgrenzung und Disziplinierung, Verdächtigung und Abwertung jenes „Anderen der Vernunft", über die sich diese erst in ihrer beherrschenden und totalisierenden Form konstituieren konnte: „Das Andere der Vernunft: von der Vernunft her gesehen ist es das Irrationale, ontologisch das Irreale, moralisch das Unschickliche, logisch das Alogische. Das Andere der Vernunft, das ist die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle - oder besser: all dieses, insoweit es sich die Vernunft nicht aneignen hat können.13 Der von Kants Vemunftbegriff in der Theorie erhobene Anspruch auf Freiheit stellt sich in seiner praktischen Realisierung letztlich nur als Vernichtung von Freiheit heraus, insofern die fundamental zur Praxis des tatsächlichen Le11 12 13

Vgl. dazu den wichtigen Hinweis bei Kohler, G., Die Kritik der Vernunft und die Vernunft der Kritik, in: NZZ, 6. 9. 1985, S. 38. Marquard, O., Vernunft als Grenzreaktion, in: Poser, H., (Hrsg.), Wandel des Vernunftbegriffs, Freiburg/München: Alber 1981, S. 109. Böhme, H./Böhme, G., Vernunft, S. 13.

Das Konzept einer integrativen praktischen Vernunft

109

bens gehörenden Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle, Triebe, Leidenschaften und Phantasien von der Herrschaft der Vernunft domestiziert, ökonomisiert oder auch vollständig vereinnahmt werden; Vernunft produziert in ihrer konkreten Realisation Unvernunft.14 Daran entzündet sich die wesentliche anthropologische, vor allem aber auch moral theoretische Kritik an einem derartigen Rationalitätsmodell resp. an einer auf dieser Basis konzipierten autonomen Vernunftmoral, welche es zusehends auch im Kontext der Moraltheologie zu verifizieren und entsprechend konsequent umzusetzen gilt. Der Vernunftbegriff indiziert - mit der moraltheoretischen Konsequenz einer subtilen Trennung und Unterscheidung zwischen Moral und Glück, Sittengesetz und Glückseligkeitslehre - eine unaufhebbare Kluft im Inneren des Subjekts. Kants Vorstellung einer autonomen Vernunft resp. eines freien, allein durch diese bedingten Willens bedingt in der ethisch-praktischen Realisation einen tiefen inneren Zwiespalt zwischen Vernunft und sinnlich emotionalen Antrieben, sie wendet sich im Grunde nicht nur gegen äußere Autoritäten, sondern errichtet eine neue fundamentale Front im Subjekt selbst.15 Das Konzept entwertet in diesem Sinn alles am Subjekt, insofern es sich der verbindlichen Gesetzgebung der Vernunft sperrt, was es zum je Besonderen, zum Einzelnen, zum Differenten macht, seine Körperlichkeit, seine Gefühle, das Begehren, die Macht der Phantasie, seine Leidenschaften auch Tagträume wie die Bereiche des Unbewußten. „Die Vernunft sperrt aus und macht das ihr andere zum Zufälligen - Gleich-gültigen und Un-vernünftigen zu dem, was es zu bändigen gilt, wenn es nicht schon zum schweigen gebracht ist"16. Sie schließt aus oder verdrängt die sinnlich kreativen, affektiven und imaginativen Anteile des menschlichen Daseins, verleugnet deren wesentliche und unhintergehbare Wahrheit, anerkennt demgegenüber nur das Bleibende, Kognitive, Intellektuelle und ArgumentativDiskursive; die Vernunftautonomie artikuliert, so gesehen, ein gespaltenes, von inneren Widersprüchen zerrissenes Subjekt. Diese Problematik resp. dieses Konfliktpotential der auch heute noch offen oder zumindest latent dominierenden, einseitig kognitiv-instrumentellen, darin totalisierenden Rationalität gilt es immer noch aufzuarbeiten; es ist nach wie vor Aufklärung darüber zu schaffen im Hinblick auf die Formulierung eines ganzheitlichen praktischen Subjekts, welches von einem uneingeschränkten Wirklichkeitsbezug wie einer umfassenden Wahrnehmungsfähigkeit geprägt ist. Dies bedeutet insbesondere für die Moraltheologie, sich hinsichtlich ihrer handlungstheoretischen Grundlegung an einem erweiterten, der aktuellen Vernunftkritik entsprechenden, in diesem Sinn differenzierten und entschieden pluralen Vernunft- resp. Wahrheitskonzept zu orientieren, dem moraltheoretisch eine revidierte Autonomievorstellung folgen muß. „Das Andere der Ver14 15 16

ebda.,S.10. Vgl. Kuhlmann, A., Tugend ohne Glück, in: FAZ 17. 8. 1988,31. Kohler, G., Kritik, S. 38.

110

Theologische Ethik im Diskurs mit der Ästhetik

nunft", im Kontext postmoderner Diskurs- und Argumentationssituation längst zu einem Hauptstichwort geworden, inzwischen auch in die verschiedensten gesellschaftlichen und politisch-ökonomischen Debatten eingegangen, fordert wiederholt und nachhaltig seine Rehabilitation und Integration im Rahmen einer umfassenden Perspektive praktischer Vernunft. Die Option besteht nach wie vor im Versuch einer Bewältigung resp. Neufassung der in die Krise geratenen, in den heute größtenteils absehbaren Folgen und Paradoxen grundsätzlich problematischen Rationalitäts- und Erkenntnistheorien neuzeitlich moderner Provenienz. Die angezeigte Neubestimmung von Rationalität im Sinne einer grundsätzlichen Rehabilitation und integrativen Erfassung der mitentscheidenden ästhetisch-expressiven Momente korreliert mit der ebenso - vorerst noch - experimentell zu entwerfenden Neukonstitution des erkennenden und handelnden Subjekts. In diesem Zusammenhang kommen die grundlegenden und wesentlichen Beiträge bisher aus dem Bereich der gegenwärtigen philosophischen Diskussion, welche inzwischen auch eine gewisse Rezeption in theologischen Diskussionen gefunden haben, etwa auf der Ebene einer christlich sozialwissenschaftlichen Forschung; vorgeschlagen wurde hier das Konzept einer „komprehensiven Rationalität", dem im weiteren Sinn eine Subjektformulierung entspricht, die den Reduktionismus eines reinen Vernunftsubjekts zu überwinden sucht: „Eine Diskurstheorie der Vernunft ist vor diesem Hintergrund a priori überholt, wenn sie die Tatsache unterschlägt, daß die Ratio, an der die Aufklärer die „differentia spezifica" des Menschen festmachten, nur den kleineren Teil des menschlichen Seins konstituiert". So gesehen, kann das Vernunftsubjekt" künftig nur noch verstanden werden in der zugleich historischen wie lebensgeschichtlichen Dialektik von Bewußtem und Unbewußtem, Kognitivem und Emotivem, von dem auf Verfügen und Eindeutigkeit fixierten Begriffsdenken und einem Denken in Bildern, die quer stehen zur Macht des Begreifens".17 Obwohl sich inzwischen, wie erwähnt, in der gegenwärtigen Rationalitätsdebatte unter dem Eindruck einer weitgehend allgemeinen Rationalitätsverdrossenheit auf breiter Basis ein Konsens über die Notwendigkeit der Berücksichtigung und Integration der sinnlichen, schöpferisch-kreativen wie imaginativen Momente menschlichen Daseins gebildet haben dürfte, sind bislang wesentliche Fragen unbeantwortet geblieben. So findet sich vor allem im Hinblick auf das spezifisch ethische Interesse weder im Bereich der praktischen Philosophie noch in der Moraltheologie im Grunde kaum ein Lösungsansatz, wie die problematische Differenz zwischen Körper und Geist hinsichtlich einer möglichen Integration theoretisch erfaßt und für eine lebensnahe, realisierbare Praxis geöffnet werden kann. Obwohl mit der heute grundsätzlich etablierten „inclusiven Vernunft" die leiblich-af17

Höhn, H.-J., Vernunft - Kommunikation - Diskurs, in: ThPh (1986), S. 125f.

Das Konzept einer integrativen praktischen Vernunft

111

fektiven, emotiv-volitiven, wie kreativ-imaginativen Anteile prinzipiell anerkannt und bestätigt scheinen, so dürfte dennoch ihre Diskursfähigkeit in Zweifel stehen; der aufgewiesene Mangel resp. das damit verbundene Desiderat wird insbesondere im Hinblick auf die Phantasie transparent. Es ist bislang kein überzeugend ausgearbeitetes Konzept einer handlungstheoretischen Erfassung der Phantasie abzusehen, welches über erste Anstöße oder vereinzelte programmatische Ankündigungen hinausginge, was gegenwärtig umso schwerer wiegt, als gerade dieses entscheidende, stets im reflektierten Verhältnis zur Vernunft zu bestimmende Potential menschlichen Seins seine wesentliche heuristische und eudämonistische Relevanz im Hinblick auf die ethische Erkenntnis- und Handlungssituation gewinnt. Es wäre für die aktuelle ethische Debatte längst Aufgabe gewesen, über die einmal erhobene Forderung nach der Rehabilitation des „Anderen der Vernunft" und in diesem Zusammenhang auch der Phantasie, deren schöpferischer Eigenwert im Kontext des neuzeitlichen Vernunftideals sublimiert war, hinausführend, deren aktive Anwaltschaft und spezifisch ethische Interpretation zu übernehmen, sie in diesem Zusammenhang wieder als ein eigenständiges, integratives Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen zu bedenken und für die praktisch-alltägliche Lebensgestaltung aufzuschließen. Die moraltheologische Reflexion hat in dieser Konsequenz - so die These ihren erneuerten Rationalitätsdiskurs zu führen und diesen auch ihrer künftigen Argumentation verbindlich zu unterlegen; im Hinblick auf ein heute gefordertes umfassendes Gesamtkonzept, dem ein entsprechender handlungstheoretischer Entwurf folgt, wird primär dem Bedürfnis nach notwendiger und gerechtfertigter Vernunftkritik Rechnung zu tragen sein. Gemeint ist sicherlich in erster Linie die grundsätzliche Revision und Aufarbeitung jener gerade auch im spezifisch moraltheologischen Bereich nachweisbaren, rezeptions- und traditionsbedingten Verkürzungen und Vereinseitigungen, uneingestanden oder stillschweigend geduldet; damit verbunden, der weitgehende Verzicht auf die praktizierte Machtanalytik, die DisziplinierungsSubversions- und systematischen Repressionsformen einer rein strategischinstrumentellen Vernunft, ohne sich jedoch dem gegenwärtigen Zeitgeist anzupassen und einer generellen Rationalitätsverdrossenheit zu folgen. Dies bedeutet neben der Kritik der Vernunft die bereits erwähnte „Rettung" der Vernunft mit der Vergewisserung oder „Wieder-holung" jener bleibenden Einsicht um die manifeste Fraglichkeit und Bedrohung der Vernunft wie das Festhalten an der Evidenz, daß Vernunft nie selbstverständlich existiert.18 Im Hinblick auf die beabsichtigte und geforderte Neubestimmung des Rationalitätsmodells einer zeitgemäßen praktikablen Ethik resp. Handlungstheorie ist in erster Linie am Unbedingtheitscharakter der Vernunft und den damit gegebenen Einsichten festzuhalten: Vernunft kann letztlich immer nur durch 18

Kohler, G., Kritik, S. 38.

112

Theologische Ethik im Diskurs mit der Ästhetik

sie selbst bestimmt werden. Dem zu widersprechen hieße, einen Rückfall hinter Kants Reflexionsniveau zu provozieren. Kritik der Vernunft wird demzufolge immer nur Selbstkritik der Vernunft heißen können.19 Bezogen auf die Kritik resp. die dadurch bedingte Anwaltschaft des „Anderen der Vernunft" folgt: „Der Widerstand des Anderen wird Kritik erst als Selbstkritik der Vernunft"20. Erst unter Wahrung dieser Konsequenz kann sich eine Neuorientierung der Vernunft im Hinblick auf die Rehabilitation und gemäße Verrechnung des Anderen" einstellen: ,J)ie bewußte Erfahrung des Anderen macht" in diesem Sinn ,jie selbst zu einer anderen'"11. Die auch für die Erneuerung der moraltheologischen Argumentation unerläßlichen und von ihr mitzuvollziehenden resp. mitzugestaltenden Entwürfe oder Konzepte einer erweiterten praktischen Vernunft mit der Rekonstruktion der wesentlichen ästhetischen, emotiven und leiblich affektiven Momente folgen dem nach. Für die Moraltheologie als Handlungstheorie muß dabei die spezifisch handlungstheoretische Rekonstruktion der Phantasie in ihrer eudäntonistischen und hermeneutischen Konsequenz mit im Vordergrund stehen.

5.3. Die handlungstheoretische Rehabilitation der Phantasie Der Zwiespalt von Emotionalität und Rationalität mag als eine maßgebliche Konstante für die Moderne gelten ebenso wie die Vorherrschaft und Verabsolutierung der kognitiv-instrumentellen Vernunft; die Betonung und der Vorzug reduktionistisch, technisch verfügenden zweckrationalen Denkens, Handelns und Verhaltens prägen die Entwicklung des Individuums, erfordern und verursachen eine eindimensionale Ausbildung von Fähigkeiten auf Kosten emotiver, ästhetisch-expressiver Anlagen, welche übergangen, verdrängt, von einer Entfaltung ausgeschlossen werden. Dieses Ungleichgewicht wie der Zwiespalt von Denken und Fühlen, gleichgültig, ob mehr der minder bewußt, bedingen eine innere Spannung und Zerrissenheit, fördern innere Konflikte, die auch im äußeren Handeln wirksam werden; Das Subjekt wird so in seiner Reifung und Entfaltung einer bestimmten Fixierung unterworfen, wird beeinträchtigt und vereinnahmt, andererseits aber auch herausgefordert, nach Formen des Ausgleichs zu suchen. Selbstständig zu beurteilen, wo eine Vermittlung, eine Konzentration aller Fähigkeiten und Anlagen des Menschen möglich ist, wo sich Emotionalität und Rationalität sinnvoll verbinden können im Hinblick darauf, daß die Autonomie der Persönlichkeit einer ganzheitlichen Entfaltung bedarf, daß auch nur so zu ei19 20 21

ebda. Böhme, H./Böhme, G., Vernunft, S. 9. Kohler, G., Kritik, S. 38.

Die handlungstheoretische Rehabilitation der Phantasie

113

ner selbstbestimmten und selbstgestalteten Lebensführung gefunden werden kann. Damit wäre nun auf die Dimension der Phantasie zu verweisen, auf ihre Möglichkeiten wie auf die konkreten Problemlösungen, die sich durch ihren Einsatz ergeben; diese Bezugnahme soll grundsätzlich angelegt sein, wobei von Anfang an der Begriff selbst wie auch der Einsatz und die Wirkweise spezifisch zu bestimmen sind, womit bereits gesagt ist, daß der alltägliche Sprachgebrauch nicht zureicht, meist diffus scheint, im allgemeinen auch ein eingeschränktes Phantasieverständnis vermittelt. Die Kritik richtet sich gegen eine Begriffsbestimmung, welche Phantasie primär auf das Phantastische, Irrationale bezieht, den Bereich illusionärer, von der Wirklichkeit abgehobener oder entfernter Vorstellungen assoziiert; wo die Tätigkeit der Phantasie (die Phantasiearbeit) eingeengt wird auf bloßes (Tag)träumen, sich Wegbewegen, ja Riehen vor der Wirklichkeit, vor der Gegenwärtigkeit der konkreten Wahrnehmungen und Erfahrungen, um auf diese Weise eine irreale Welt von (traumhaften) Vorstellungen und Ideen zu entwerfen. Ein solchermaßen fixiertes, reduktionistisches Phantasieverständnis verkennt die volle Bedeutung und Wirksamkeit der Phantasie bei der Bewältigung des Lebens ganz allgemein, unterschätzt und übersieht sie als ein Potential des menschlichen Geistes, das zu unterschiedlichsten Aufgaben herangezogen werden kann. Die Phantasie vermag nicht bloß zwischen Denken und Fühlen zu vermitteln, sondern darüber hinaus, verwandelnd und einend zu schöpferischen Gestaltungen, Entwürfen und Erkenntnissen zu gelangen. Es ist die sich über Grenzen hinwegsetzende, durchdringende Kraft der Phantasie, die Möglichkeiten zur Verwandlung wie zur Teilnahme gibt, durch die sowohl der Verstand als auch das Gefühl umfaßt, in allen Dimensionen erreicht werden kann.22 Zur genaueren Begriffsbestimmung der Phantasie gilt es zunächst zu differenzieren: zum einen, die Zugänglichkeit der Phantasie zur Sensibilität, die mehr passive Aufgeschlossenheit gegenüber den Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühlen und Stimmungen, wie zum anderen das aktive Eingreifen 22

Zu vergleichen wäre hier die Sichtweise von H. U. v. Balthasar, der die Einbildungskraft als das „menschliche Zentrum" definiert, als hintergründig oft halb vergessene Kraft, „die alles zusammenhält, eins ins andere vermittelt: das Sinnliche schöpferisch zu einem Umriß einigt, den der empfangende und tätige Verstand als „bedeutende Gestalt" erkennt, das Geistige wiederum schöpferisch in Bilder hinein inkarniert"; erst durch ihre Vermittlung kommt es zu einer „wahrhaft menschlichen, sinnlich-geistigen Schau", wobei ihre Voraussetzungen sekundär sind: ob platonisch-augustinisch oder aristotelisch-thomanisch oder kantisch-idealistisch oder goethisch-eidetisch: all diese Erklärungen „umkreisen das festliegende, vorgegebene Phänomen als das „offenbare Geheimnis" im Herzen des Menschen"; vgl. Balthasar, H. U. v., „Herr, daß ich sehe!" Über das Schauvennögen der Christen, in Rahner, K./ Weite, B. (Hrsg.), Mut zur Tugend, Freiburg: Herder, 1979, S. 213f. Angedeutet wird hier, daß sich zurecht mit der sog. „Ein-bildungs-kraft" auseinanderzusetzen ist, die weitreichende Wirksamkeit und die humanisierende Bedeutsamkeit zu erforschen ist, die sie in den Rang einer „neuen" menschlichen Tugend heben könnten.

114

Theologische Ethik im Diskurs mit der Ästhetik

und Handeln im Bereich der inneren, verstandesmäßigen Vorstellungen und Ideen. Von der Phantasie soll kein Bereich des Bewußtseins ausgeschlossen sein, weder Gedächtnis (und Erinnerung) noch der Raum gegenwärtigen Erlebens und der zukünftigen Vorstellungen und Projekte, ist es doch gerade ihre Zielgerichtetheit auf Ganzheit (oder ganzheitliche Erfahrung und Zusammenschau), die dies zwanglos nahelegt. Die Phantasie muß - und dies wäre wichtig zu betonen - auf die Lebenswelt, d.h. auf die unmittelbaren sinnlichen Eindrücke und Wahrnehmungen, auf das gegenwärtige Leben ebenso bezogen werden wie auf alle gemachten Erfahrungen und erlebten Ereignisse; um sie zu durchdringen, zu klären, zu integrieren, sie zu formen, zu ergänzen und zu vergleichen, Essentielles zu erkennen; in dieser Hinsicht bestimmt und beeinflußt die Phantasie entscheidend die Lebenserfahrung, die Erfahrung der Wirklichkeit und steht nicht etwa im Gegensatz dazu. Die Bedeutsamkeit der Phantasie für die Bewußtseinsbildung, für die Durchdringung und Aufarbeitung der Lebenserfahrungen (resp. der erlebten Wirklichkeit), die Wirksamkeit in der Folge für die Lebensführung und jeweiligen Handlungsweise fordert das ethische Interesse an ihr, rechtfertigt davon ausgehende Verbindlichkeiten. Die ethische Aufmerksamkeit richtet sich auf die Tätigkeit der Phantasie, sie versteht sie als eine persönliche Leistung, als ein stetig und ganz bewußt und willentlich vollzogener Einsatz, mit dem geistige Seinsweisen zu schaffen und zu erreichen sind, die sich im äußeren Verhalten und Handeln bezeugen. Eine solche Bereitschaft und Aktivität erscheint sowohl für die Selbst- als auch Welterfahrung relevant. Die gereifte und entfaltete Phantasiearbeit, so wurde in Differenz zu anderen Interpretationen betont und ausgeführt23, geschieht unter Heranziehung des Intellekts und der Gesamtheit der Lebenserfahrung, wäre demnach eine höchst entwickelte menschliche Tätigkeit, die als Ergebnis das vereinigt, was das Kind an Phantasiepotential besitzt und was hinzukommt an Erfahrung und dirigierenden Kräften des Verstandes. Die Tätigkeit der Phantasie, sie sollte nicht der Beliebigkeit oder dem Zufall überlassen bleiben, bloße Zugabe oder Ausflucht sein, sondern zu einer bewußt eingesetzten, geistigen Verhaltensweise werden, die allerdings eingeübt und gefördert werden muß, wo Selbsterziehung zu leisten ist. So wäre das „phantasierende Denken"24 oder auch das Denken mit Phantasie eine geistige Haltung und Tätigkeit, in der alle Kräfte des Menschen, die des Verstandes und der Emotionalität zusammenfinden und einen fruchtbaren Zustand der Ganzheit (oder Vollständigkeit) hervorrufen oder die Erfahrung der Ganzheitlichkeit der menschlichen Persönlichkeit zugänglich machen. Dieses phantasierende Denken wäre konsequent zu pflegen und einzusetzen, es sollte den Alltag begleiten, zu einem Lebenselement werden. Die Im23 24

Vgl. Hohl, L., Vom Arbeiten. Bild., Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1978, S. 128 „Phantasie"; dazu Guth, R., Phantasie, S. 190. Guth, R., Phantasie, S. 183.

Die handlungstheoretische Rehabilitation der Phantasie

115

pulse, die von der Phantasie und ihrem Einsatz für die Ethik ausgehen, scheinen evident: der Gebrauch der Phantasie ist unerläßlich für die richtige Entwicklung der sittlichen Persönlichkeit, für die Selbstauslegung, -gestaltung und -Steigerung, für die Findung praktischer Identität. Das Denken mit Phantasie (oder das phantasierende Denken) steigert und erweitert die Erlebnisfähigkeit, ermöglicht in den subjektiven Erfahrungen und Ereignissen das Gesetzmäßige, das allgemein Verbindliche und Gültige aufzuspüren, für sich verfügbar und kenntlich zu machen, um so auch mit Hilfe der Imagination in Entwürfe, Ideen und Visionen für ein bewußtes, als richtig und erfüllend gedeutetes Dasein umzusetzen. Es ist ganz entschieden festzuhalten, daß zum manifesten Vollzug, zum Vorgang der Verwirklichung der inneren Vorstellungen, zu einem sinnvollen, glückenden Lebensvollzug der stete Einsatz der Phantasie erforderlich ist, welcher Haltungen und Handlungen abstimmt zum inneren, geistigen Leben. Das phantsiearbeitende Denken scheint in gleicher Weise wesentlich sowohl für den Selbstbezug, das Selbstverständnis als auch für den sozialen Umgang und dem Austausch mit den anderen; die humanisierende Kraft der Phantasie25 bezieht sich in dieser Perspektive sowohl auf die gedanklichen und gefühlsmäßigen Einstellungen den anderen gegenüber als auch auf das reale Verhalten und Handeln in der zwischenmenschlichen Begegnung. Mit der Einführung der Phantasie in den ethischen Diskurs öffnet sich der Blick auf die nun anzusprechenden hermeneutischen und pragmatischen Voraussetzungen des ethico-ästhetischen Subjekts. Die Auseinandersetzung mit der Innen- wie auch mit der Außenwelt zeigt sehr oft, daß ein hoher Grad an Aufmerksamkeit, der sich über einen längeren Zeitraum erstrecken sollte, nur sehr schwer erreichbar ist. Während jede kurzlebige, beinahe blitzartige Aufmerksamkeit sich wie von selbst ergibt, treten Schwierigkeiten auf sobald eine reine, zunächst von nichts besonders affizierte Form gefordert ist, in der Art eines intensiven Anwesendseins mit wachen Sinnen. Dieser Zustand umfassender Offenheit, der die Wahrnehmungfähigkeit zu sensibiliseren vermag, der ein innigeres und reicheres Erleben ermöglichen könnte, diese erstrebte geistige Gegenwart und Aufgeschlossenheit wird gestört oder sogar verhindert durch Probleme, Fragen des Alltäglichen, die nicht loslassen, eine gewisse Unreflektiertheit oder Müdigkeit, die wie ein Grauschleier die Wahrnehmungen nivelliert, das Bewußtsein trübt; oder aber auch durch starre und vermeintliche Idealvorstellungen, die immer dann auftauchen und ablenken, wenn es kurzfristig gelungen ist, sich von anderen Störungen zu lösen; vielleicht mangelt es aber auch an energischer Bereitschaft, sich ohne besonderen Anlaß zur Aufmerksamkeit zu bewegen. Ungeduld, Hoffen auf schnell sich einstellenden Erfolg, dies wäre zu ersetzen zugunsten von Wartenkönnen, Geduldhaben wie auch Nachsicht haben mit sich selbst, denn nicht immer läßt sich jene Klarheit 25

Guth, R., Phantasie, S. 274ff.

116

Theologische Ethik im Diskurs mit der Ästhetik

und Gelassenheit des Bewußtseins erreichen, wo nichts stört, sich die Aufmerksamkeit vollständig entfaltet, es möglich wird, sich selbst ganz zuzuwenden und die Welt in sich zu sammeln. Käme zu einer solchen Aufnahme von Eindrücken noch die vergleichende, verarbeitende Phantasie, würde diese wie eine Erneuerung des Blicks wirken, den Neuansatz ermöglichen. Denn eine solche sinnenhafte wie geistige Präsenz wäre im wesentlichen nicht allein durch ein passives Sichaussetzen und Gehenlassen zu erzielen, sondern sie bedürfte des bewußten Aktes der Hinwendung der sinnlichen und geistigen Kräfte wie der Entscheidung zur Annahme, basiert also auf einem sensibilisierten ethischen Handlungsvollzug.26 Intensive, stets neue Durchdringung und Aufarbeitung des Erlebens scheint nötig, um nicht erste positive Ansätze durch Nachlässigkeit und praktizierte Indifferenz zu gefährden. Umfassende Aufmerksamkeit und geistige Gegenwart, ob sie nun der Umgebung, den Dingen oder einem Menschen zugewandt und geschenkt wird, erinnert an ein befreites Aufatmen, vermag eine Empfindung von Frische, ein Hochgefühl auszulösen: oftmals Gesehenes erscheint plötzlich neu als erstmals Wahrgenommenes, vermittelt den Eindruck, als würde es geradezu herausgehoben, entdeckt, zugleich mit der Ahnung, daß sich wohl immer wieder neue Nuancen zeigen und Zusammenhänge einstellen werden, in einer ungemein beflügelnden Vorwegnähme ein unabsehbar ausgedehnter Prozeß der Entdeckung und Erschließung erkennbar wird. Denn die einmal erreichte Offenheit und ihr gesammeltes Ergebnis an Erfahrungen, Eindrücken und Ereignissen wirkt im Gedächtnis und in der Phantasie weiter, auch unterschwellig; die Beschäftigung mit dem Stoff pflanzt sich über die Abstände hinweg fort, regt an, zum Ausgangsort, dem Ort der Erfahrung zurückzukehren, gleichgültig, ob dies tatsächlich oder bloß in der Vorstellung geschieht. Ein hoher Grad an Aufmerksamkeit im wahrnehmenden und handelnden Subjekt gestaltet und vertieft die Erlebnisfähigkeit, schafft Inhalte, die wesentlich werden können für die Gestaltung des Innenlebens. Die gesammelte Welt im Wahrnehmenden, diese oder jene Erfahrung, was bedeutet sie ihm und in welcher Weise greift er auf sie zurück, stützt sich auf sie, zieht sie zum Vergleich heran, was ist sie ihm geworden, wozu dient sie ihm? Solche und ähnliche Fragen sind berechtigt und kritisch konstruktiv weiterführend, zielen auf Selbsterkenntnis, beziehen sich auf die Konzentration von Außenwelt und Innenwelt, schließlich auf Haltung und Handlung. 26

Die eminente Rolle der Phantasie zur Erschließung und Klärung sinnlicher und geistiger Wahrnehmungen darf so dem religiösen Menschen nicht entgehen. In diese Richtung lenkt beispielsweise H. U. v. Balthasar seine Argumentation, wenn er über das unverzichtbar dem Christen notwendige „Schauvermögen" notiert: „Mit allen Sinnen auch mit den Augen - lauschen heißt jene volle Empfangsbereitschaft anstreben, die in der Philosophie der Phänomenologie als die einzig erfolgversprechende Haltung des Subjekts dem Gegenstand gegenüber gefordert wird, in der Theologie aber jenes marianische Jawort ist, womit der Glaubende apriori jedes von Gott her kommende Bild sich einbilden läßt", vgl. Balthasar, H. U. v., „Herr, daß ich sehe!", S. 215f.

Die handlungstheoretische Rehabilitation der Phantasie

117

Ethisch qualifizierte Praxis wäre im Unterschied zum alltäglichen Tun, sich phasenweise immer wieder nachhaltig zu besonderer Aufmerksamkeit, Offenheit und Gelassenheit anzuhalten, sich der unkritischen Gewohnheit, Unreflektiertheit und Bequemlichkeit zu entreißen, Selbsterziehung zu leisten im Hinblick auf eine nach und nach sich ergebende stete Sensibilisierung der Wahrnehmungsfähigkeit; somit immer bewußter sich Dingen und Wesen zuwenden zu können, sich auch wahrnehmbar zu machen, empfindlich zu werden für einen kritisch-konstruktiven Umgang mit ihnen. Die so verstandene Aufmerksamkeit erscheint als ein bewußter Akt der Weltzuwendung, führt schließlich zu Anteilnahme und Identifikation. Im Zustand einer gesteigerten Aufmerksamkeit sind unterschiedliche Arten der Wahrnehmung von einander abzuheben, die auch als solche bewußt werden: der Fähigkeit, einerseits Sinneseindrücke präzise zu registrieren, genau zu analysieren, dabei aber in der Rolle des distanzierten Beobachters zu bleiben, steht andererseits ein empathisches Wahrnehmen mit innerer Bewegung, ein Schauen mit emotionaler Teilhabe gegenüber. Diese Formen der Wahrnehmung wechseln einander gewöhnlich ab, gehen ineinander über, stehen aber auch im Kontrast zueinander, können ein spannungsreiches Verhältnis bilden; virulent wird der Widerspruch insbesondere dann, wenn beide direkt aufeinandertreffen oder unvermittelt nebeneinander gesetzt werden. Die genannte, zu entwickelnde und hier entscheidende Form der inneren Aufmerksamkeit müßte die Zusammenhänge der sinnlichen Erfahrungen und der inneren Anteilnahme erhellen, müßte die Bedeutung für das Selbstbild, für die persönliche Haltung und Handlung erfassen. Eine solchermaßen zu erstrebende Aufmerksamkeit könnte zurecht Bedingungen der äußeren Aufmerksamkeit beschreiben wie Offenheit, Gelassenheit, Geduld und Ausdauer, aber auch Gewissenhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Mut. Die Auseinandersetzung mit sich selbst, der Blick in die Tiefe und Weite des eigenen Lebens, das Erkunden der Räume des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen bedingt auch die Einsicht in Abgründe, bringt Gefährdungen, ja Zerstörungen mit sich, die nur ausgeglichen werden können im Streben nach bedingungsloser Wahrhaftigkeit. Der Zugriff solcher Aufmerksamkeit auf die innere Wirklichkeit wird sich immer wieder neu zwischen Sicherheit und Unsicherheit bewegen, die Einstellung auf das innere (Er)leben beinhaltet die Frage nach Wahrheit und Irrtum, sie ist ein Suchen und Forschen nach allen Richtungen. Welche Eindrücke, welche Erfahrungen und Erlebnisse sind zu einer inneren Wirklichkeit geworden, stellen in ihrer Überzeugungskraft und machtvollen Präsenz eine Gewißheit, eine innere Wahrheit dar? Welche anderen wieder werden bloß vordergründig zitiert, sind Vorspiegelung, vielleicht Selbstbelügung? Welche Ereignisse haben tatsächlich Bedeutung gewonnen, und wie äußert sich diese? Diese und ähnliche Fragen könnte die innere Aufmerksamkeit aufwerfen, wie sie überhaupt zu einem wesentlichen Teil Befragung sein sollte (das Element des Fragens in sich bergen

118

Theologische Ethik im Diskurs mit der Ästhetik

sollte), um hinzuführen zu einer reflexiven Verarbeitung des Erfahrenen, des durch sie erst eindrucksvoll Bewußtgemachten. Die komplexe innere Aufmerksamkeit zu erreichen, gestaltet sich als schwieriger Prozeß, sie muß gleichsam errungen werden in der bewußten und redlichen Beschäftigung mit sich selbt, mit dem eigenen Innenleben, sie ist nicht möglich ohne gesteigertes, ganz persönliches Engagement, ohne die mühevolle Auseinandersetzung mit Einzelheiten, ohne die Annahme des Winzigen, scheinbar Nebensächlichen, ehe sich größere Zusammenhänge ergeben und ein gewisser Überblick erreicht wird. Soll die innere Aufmerksamkeit nicht bloß ein Instrument der Beobachtung sowie Aufnahme von Bewegungen und Ereignissen des inneren Lebens sein, so muß ein Handlungsaspekt hinzukommen, der zu einer schöpferischen Interpretation befähigt, der Beurteilung und Veränderung ermöglichen soll. Ein Schwerpunkt muß in der Folge unter Anwendung der inneren Aufmerksamkeit die Auslegung sein, die ausführliche und selbständige Interpretation der inneren Wirklichkeit; diese zu leisten, ist eine Art von lebensbegleitender Aufgabe, stetig veränderten Anforderungen unterworfen, im Umbruch, in der Bewegung, gleich dem Leben selbst. Da die innere Wirklichkeit durchaus Fragen von fundamentaler Tragweite berührt, Zerstörung und die Berührung mit dem Unabwägbaren, Negativen kennt, bedarf sie im Hinblick darauf einer besonderen Zuwendung und Vermittlung, wobei die dazu notwendige Aufmerksamkeit geradezu erkämpft werden muß und gegenüber Widerstanden, der Unordnung von Lebenserfahrungen wie auch gegenüber einer Versuchung zur Aufgabe durchzusetzen ist. Neben der Auseinandersetzung mit dem inneren Wandel erscheint die Suche nach Konstanten, welche Halt geben, Strukturen schaffen, Fundament bilden eine wesentliche Aufgabe. Dies können Ideen sein und abstrakte Vorstellungen oder aber die Bilder des Lebens und ihr visionärer Ausbau, ihre Formung und Entfaltung durch die Phantasie, ihre Fortführung und Gestaltung durch Träume und Tagträume. Diese bildhaften Eindrücke und gewonnenen Vorstellungen, ihre Relevanz für die innere Wirklichkeit wie ihre direkte und auch indirekte Beziehung zu Haltungen und Handlungsweisen sei kurz bedacht. Die Aufmerksamkeit, die sich nach innen richtet, könnte zu einer Art Prinzip werden, zur Entdeckung, Wahrnehmung und auch Bewahrung innerer Wirklichkeiten; sie könnte den Umgang mit Ereignissen der Innenwelt koordinieren, intensivieren, in gewisser Weise schließlich vervollkommnen; eine intensive Durchdringung und Klärung des Bewußtseins wie ein besonderes Wissen um sich selbst wären positive Ergebnisse; darüberhinaus ist an eine Wendung nach außen zu denken, wobei die Einsichten in verwandelter Form in entsprechenden Grundhaltungen und daraus abgeleiteten Handlungen zum Ausdruck kommen, geradezu drängen, nach außen hin manifest zu werden. Der aufmerksamen Betrachtung werden primär jene Erfahrungen und Erleb-

Die handlungstheoretische Rehabilitation der Phantasie

119

nisse erreichbar sein, welche eine emotionale Rückbindung haben; Eindrücke, die mit Empfindungen und Gefühlen unterlegt, im Bewußtsein und in der Vorstellung gegenwärtig sind; Erlebnisse und Erfahrungen, aus denen schließlich Lebensbilder wurden; im Gedächtnis gewissermaßen bewahrt, oft benützt oder innerlich vor Augen geführt, stellen sie einen Halt dar, sind Begleiter durch die Lebenszeit; eindringlich präsent, besitzen sie Farbigkeit, Tiefe, sind überzeugende innere Wirklichkeit. In der Wendung an diese Lebensbilder ist deren Enstehnung und Wirksamkeit zu ergründen, es kommt darauf an, sowohl den Inhalt zu erforschen, herauszufinden, wie sie benützt werden, beispielsweise Kraft spenden, Trost, Zuflucht oder Beistand sind als auch zu fragen, wie sie überdauern oder auch verändert fortgesetzt werden, sei es in der Vorstellung sei es in den Tagträumen. Auf den verschiedensten Ebenen sollten die im Bewußtseinsstrom aufsteigenden und sich ausbreitenden Lebensbilder verfolgt werden, um Erkenntnisse über sie zu gewinnen mit der Aussicht, sich auf diese Weise schließlich besser kennenzulernen und in der Außenwelt bewußt entsprechende Handlungen setzten zu können. Die Vertiefung des Bewußtseins für die innere Welt und ihre Vorgänge ganz allgemein sollte in mehrfacher Hinsicht wirksam werden und auch zu bestimmten Erwartungen berechtigen. Bisher Unbekanntes und Unerwartetes könnte freigesetzt werden, ein Moment der Überraschung, Faszination gegenwärtig sein wie auch Einblicke sich eröffnen, die alternative, eigenverantwortliche und kritisch gestaltete Handlungsweisen nach sich ziehen. Sensibel geworden durch das Sicherfahren, ist mit einer wachsenden Diskrepanz zu rechnen zwischen dem zum Teil aus Bequemlichkeit, Unreflektiertheit und einer gewissen Oberflächlichkeit geführten Leben und dem, was die innere Wirklichkeit und ihre Vorstellung nahelegt, was die daraus gewonnen Einsichten, Visionen und Träume verlangen. Dieses immer präziser werdende Bewußtsein von einem Leben, das inneren Vorstellungen entsprechen und sie erfüllen könnte, mag zwar virtuell vorhanden sein, doch fehlen Richtlinien, etwas wie ein individuelles Programm, um die Annahmen durchsetzen, sich nach ihnen richten zu können. Daran geknüpft ist die Forderung nach einer stetig angewandten Technik und Einübung, um dem positiv entgegenzuwirken, was noch in der Schwebe ist, was zwar erfüllt aber noch eine Form zur Fassung und Aufnahme benötigt. Diese Technik dürfte nicht unflexibel sein, insofern sie den jeweiligen Verhältnissen und Erfordernissen anzupassen ist, immer wieder neu Maßnehmen und Ausrichten unerläßlich ist. Es bedeutet eine diffizile Aufgabe, das innerlich Geschaute und Wahrgenommene, das Erlebte und Erfahrene so zu deuten und umzusetzen, damit es in der richtigen Entsprechung in der Außenwelt zur Geltung kommt, damit Handlungsvorbilder und -vorschlage entstehen. Angerissen seien hier nur wenige Anstöße, die neben anderen möglichen auf diesem Weg weiterführend sein können.

120

Theologische Ethik im Diskurs mit der Ästhetik

Grundsätzlich notwendig ist, neben der Bereitschaft und dem Willen sich der inneren Wirklichkeit zu stellen, auch der wiederholte Vorsatz, sich daran zu halten: dem zu vertrauen und das ernstzunehmen, was zuzeiten ergriffen, erschüttert oder begeistert hat, das festzuhalten, wo eine innere Bindung besteht; eine Art von Treue, von Standfestigkeit gegenüber den inneren Gewißheiten zu entwickeln, sich selbst einen Rückhalt zu bieten, bisweilen sich auch zu verteidigen gegen die eigene Schwäche. Mangelt es an entschiedener Haltung und Festigkeit, so besteht die Gefahr, daß selbst das, was von großer Bedeutung und Überzeugungskraft war, nach und nach schwindet, verloren und unverfügbar wird, daß innere Erlebnisse von Fülle und Gehalt ohne Resonanz bleiben und immer wieder die Gelegenheit versäumt, der Zeitpunkt hinausgeschoben wird, das einzuholen, was vielleicht schon seit langem latent vorhanden ist als ein Lebensbild, als Wunsch oder aber auch als eine Forderung, welche plötzlich aufgrund einer bestimmten situativen Gegebenheit akut geworden ist. Durch Indifferenz und mangelnde Einsatzbereitschaft wird so der Gegensatz immer größer zwischen dem, wie tatsächlich gelebt und gehandelt wird und jener Vorstellung oder Vision, wie es in innerer Überzeugung eigentlich sein sollte. In Zusammenhang damit betrifft ein zweiter Impuls die Sorge um eine bestimmte Disziplin und Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber; einerseits, um gegen die Vergeßlichkeit, Nachlässigkeit oder Oberflächlickeit anzukämpfen, um negative Ansätze auszugleichen, andererseits aber auch, um manchen inneren Zweifel bewältigen zu können. Eine Strenge also, die Leichtfertigkeit und Ausweichen in entscheidenden Augenblicken nicht gelten läßt, eine Beharrlichkeit, die vor dem Nachlassen der Anstrengung bewahren soll. Beim dritten Anstoß handelt es sich um den wesentlichen Schritt des Versuchs, die innere Wirklichkeit in Worte umzusetzen, das zu fassen und auszudrücken, was zwar als lebendiges Bild, als überzeugender Eindruck vorhanden sein mag, allerdings noch im Schweigen belassen ist, was in der Vorstellung, präsent scheint, ohne in Sprache übertragen zu sein. Das bewußte Vorhaben, Worte zu suchen und zu finden für die inneren Erlebnisse und Erfahrungen, diese damit zu beschreiben, zu erzählen, kann als entscheidender geistiger Handlungsvollzug gelten: er bedeutet - nach der inneren Aufmerksamkeit - ein erneutes Durchdringen und Gestalten der inneren Wirklichkeit: in Worte übertragen, was vor allem heißen muß, die treffenden Worte dafür auszuwählen, womit der reflexive Zugang ermöglicht wird, die geschauten, inneren Bilder intellektuell verwertbar werden. Im Benennen und Formulieren wird gedanklich gefaßt, wird überhaupt gefestigt und definiert, was sonst nur virtuell vorhanden sein mag. Indem die inneren Ereignisse und Bilder benennbar werden, durch die angemessenen Worte ausgelegt werden, erscheinen sie gewissermaßen verfügbar gemacht; sowohl für die gedankliche Integration als auch direkt für die Lebenspraxis bereitgestellt. Allerdings fordert die Überführung in Sprache - soll sie tatsäch-

Entwurf zu einer Ästhetik der Existenz

121

lieh gelingen - alle Kräfte und Anstrengungen des Geistes. Beim Suchen und Fixieren von Begriffen muß die Phantasie ebenso mitwirken wie der Intellekt; ein kreatives Zusammenspiel ist unerläßlich bei diesem präzisierenden und definierenden Vorgang. Wichtiges soll von Unwichtigem geschieden werden, bloß Scheinbares aufgedeckt, Täuschungen aufgehoben werden. Beim Aufspuren des Wesentlichen und seiner Umsetzung im Ausdruck müssen Kritik und Zweifel mitwirken, um vorschnellen Lösungen vorzubauen, Oberflächlichkeiten zu verhindern. Je genauer und passender der gefundene Ausdruck ist, umsomehr wird sich auch jene Gewißheit und Befriedigung einstellen, eine Form oder auch Formel für die Übertragung von Vorstellungen und Bildern der inneren Wirklichkeit gefunden zu haben; über sie als eigenständige Gedanken verfügen zu können, mit dem Programm, diese greifbaren Ergebnisse tatsächlich auch in adäquate Handlungen umzusetzen und zu erproben.

5.4. Entwurf zu einer Ästhetik der Existenz Es wurde die Auffassung vertreten, daß der Begriff Kunst im Hinblick und in Relation zu den anderen bestehenden Künsten auf die menschliche Existenz selbst anzuwenden und für sie zu entwickeln sei: daß auch in Anlehnung und Wiedererweckung schon in der Antike vorkommenden Gedankenguts und kulturellen Verständnisses das Leben als ein künstlerischer Prozeß zu verstehen und zu gestalten sei, wobei der Mensch selbst, bei diesem Vorgang im Zentrum stehend, zu einem „Kunstwerk" werde.27 Zu einem solchen Vorhaben würde es einerseits bestimmter Techniken bedürfen, andererseits aber auch einer zugrundeliegenden „ästhetischen Haltung" und Bereitschaft, sich auf Versuche, auch Ungewißheiten, Veränderungen einzulassen, in diesem Sinn eine experimentelle Existenz zu führen.28 Diese Überlegungen sind für das zeitgemäße Konzept einer christlichen Ethik als eine wesentliche Herausforderung aufzunehmen, wobei die Situierung der ethischen Rechenschaft neue Impulse gewinnen könnte; es erscheint zur Bestimmung der heutigen ethischen Aufgabe angezeigt, diese kulturgeschichtlich traditionsreichen Ansätze als konkrete Möglichkeit wieder zu erschließen, sie zu konzeptualisieren und auf eine praxisgerechte Umsetzung hin zu durchdenken. Die Kunst, das Leben zu führen, will gepflegt und eingeübt sein; wenn gesagt wurde, daß es hierzu bestimmter Haltungen wie Techniken bedürfe, so müssen neben der gedanklichen Vorbereitung, den Idealen und Vorstellungen auch bestimmte praxisnahe Verhaltensweisen gefunden, erfunden und erprobt werden. Wie ein bestimmtes Wissen zu erwerben ist, so be27 28

Schmid. W., Kunst, S. 87. ebda.

122

Theologische Ethik im Diskurs mit der Ästhetik

darf es wohl auch der steten geistigen Bedachtsamkeit, der Geistesgegenwart, der nie nachlassenden Bereitschaft, um dieser lebenszeitlichen Aufgabe und Herausforderung nachkommen zu können. Prinzipiell ist dabei an die Phantasie als ein Dreh- und Angelpunkt des Gelingens zu denken; Lebenskunst beinhaltet wesentlich die Kraft und Macht der Phantasie. Wenn der Mensch selbst wie sein Leben ein Kunstwerk darstellen soll, ist dies vom ethischen Standpunkt her eine entscheidende Überlegung. Das Leben als ein zu vollführendes Kunstwerk verstehen, das zudem jedem einzelnen Subjekt möglich sein soll und worauf jeder Recht wie die Freiheit dazu hätte, birgt Ansätze zur Formulierung hochethischer Zielsetzungen. Sehr deutlich bildet sich - im Bezug zum Begriff Kunstwerk - die Einzigartigkeit, Großartigkeit und Würde menschlichen Daseins heraus ebenso wie die umfassende individuelle Entwicklungs- Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten betont und gefordert werden. Wenn der Mensch selbst schließlich als Kunstwerk gelten soll, so bedeutet dies von vornherein eine Bejahung seiner Originalität, seiner Unverwechselbarkeit, schließt in sich die Ganzheit resp. Autonomie seiner Persönlichkeit ein. Indem die Person hier ihre volle Anerkennung und Behauptung erfährt, werden an sie auch Anforderungen und Erwartungen herangetragen, ist ihre Stellungnahme und Verantwortlichkeit unabdingbar: das Leben zum Kunstwerk zu formen, gelingt nicht ohne eigene Schöpfung, Deutung und individuell-persönlichen Ausdruck. Es heißt vielmehr eine Herausforderung annehmen, die sich wiederum an die Ganzheit der Persönlichkeit, an alle ihre Anlagen, Fähigkeiten und Möglichkeiten richtet. Sowohl Verstand als auch Gefühl, vordringlich die beiden umfassende Phantasie, haben an dem künstlerischen Prozeß und Ereignis zu wirken, haben jene Techniken zu schaffen und anzuwenden, um damit Selbst- wie Weltgestaltung zu leisten. Wohl wird, wenn die eigene Individualität ausgeprägt werden soll, wenn sich ein Leben nach Gesichtspunkten der Entfaltung und Erfüllung des Selbst ergeben soll, das Experiment nötig sein, eine bestimmte Unternehmerlust wie der Wille und Mut, von Gewohnheiten, bislang als selbstverständlich Genommenes abzuweichen; die Kunst, sein Leben zu führen, hat zu allererst gegen Gleichgültigkeit, Nachlässigkeit, gegen die Bequemlichkeit anzukämpfen; auch kann es dafür keine Regeln, keine Muster geben, welche Erfolg garantieren könnten: Keine Kopie, sondern das Original, das einzigartige und unvergleichliche Lebenskunstwerk soll entstehen, eines, das von Eigenheit und Eigenmacht zeugt. Konsequentenveise können hier nicht Äußerlichkeiten zureichend sein, es ist die Gedanken- und Gefühlswelt, das Bewußtsein auf allen Ebenen einzubeziehen, der innere Mensch hat in diesem Sinn den äußeren Entsprechungen vorzuwalten; die tiefe Übereinstimmung von Innen und Außen, von Gehalt und Form(gebung) sind Kriterien, die nur durch eine derartige Priorität zu erreichen sind. Der experimentelle Charakter verweist zentral auf die innere Welt, auf den intimen Umgang damit auf ihre intensive Erforschung; diese innere Welt ist in ihrer Doppelheit wahrzunehmen:

Entwurf zu einer Ästhetik der Existenz

123

sie bietet zum einen die Quelle, das Material und den Stoff für das nach außen zu tragende, sich manifestierende Lebenskunstwerk, sozusagen sich vollendend und verwirklichend in einem als kunstvoll wie ethisch zu nennenden Handeln, zum anderen ist diese innere Welt an sich sowohl als ein Kunstwerk zu entdecken und zu verstehen als auch zu gestalten. Um zu dieser Art von Darstellung von sich wie vor sich selbst zu gelangen, scheint klarerweise eine bestimmte Vorbereitung unabdingbar, bedarf es diffiziler und differenzierter Vorgangsweisen, sind bestimmte Techniken dafür zu entwickeln und einzuüben. Das eigene Leben in einem visionären Akt als Kunstwerk zu erfassen und in einer realen Gegenwart auszuführen, in Verbindung damit, auch das der anderen als ein solches schätzen zu wissen, oder dies wenigsten erahnen können, zu dieser Fälligkeit ist zunächst als Voraussetzung eine Klärung des Bewußtseins, der Bewußtseinsinhalte im weitesten Sinn zu leisten, muß eine intensive Auseinandersetzung mit den gemachten Erfahrungen und Erlebnissen der Vergangenheit ebenso wie mit den Eindrücken gegenwärtigen Erlebens stattfinden. Umfassendes und primäres Bezugsfeld bei diesem künstlerischen Prozeß wird zunächst all das sein, was den inneren Menschen ausmacht; die stete Aufmerksamkeit muß sich demnach nicht bloß auf das Erlebte richten, sondern auf das Ganze der inneren Welt. Zu dieser Selbstbetrachtung scheint, um sich selbst fassen und erforschen zu können, eine gesteigerte Offenheit und Wachheit, eine verfeinerte Wahrnehmungsfähigkeit nötig; als Prinzip bietet sich hier die beschriebene innere Aufmerksamkeit an. Im konsequenten Fortdenken und Weiterentwickeln der Idee, Leben und Kunst zu verbinden, läßt sich insbesondere durch die Implikation des ethischen Interesses eine dreifache Strukturierung treffen, die folgende Kristallisationspunkte umfaßt: zum ersten: der Einzelne, d.h. das Individuum oder Subjekt ist grundsätzlich befähigt und mächtig, sich zu einer künstlerischen Persönlichkeit zu entfalten, den Status des Künstlers zu erreichen; zum zweiten: diesem Künstlertum entspricht die Ausbildung eines persönlichen, originalen Stils einer Darstellungs- oder Ausdrucksweise also, die Haltungen und Handlungen prägt und formt; und schließlich zum dritten: die künstlerische Persönlichkeit gelangt einmal in den (Kunst)genuß des eigenen Lebenskunstwerks und durch Teilnahme, Austausch, Betrachtung auch in den anderer. Diese einzelnen Punkte sind nun genauer zu verfolgen, was vor allem Ansprüche, Forderungen und Folgen betrifft, die sich bei dieser direkten Relation von Person und Künstlertum einstellen. Gewiß ist zu bedenken, zwar mag jeder einzelne die Anlagen, die Fähigkeit besitzen, den Künstler in sich zu verwirklichen, andererseits kann dieser Anspruch aber auch verfehlt werden, können solche Anlagen verkümmern und unterdrückt werden; ob der Mensch sich sozusagen als Künstler durchsetzen kann, hängt vom eigenen Willen, Einsatz und der Bereitschaft ab, zudem wird dieser Vorgang einen langen Prozeß der aufrichtigen und gewollten Ausein-

124

Theologische Ethik im Diskurs mit der Ästhetik

andersetzung mit sich, seinen Erfahrungen, seiner Lebenswelt implizieren. Sollte doch der Künstler jener Mensch sein, der frei und schöpferisch gestalten kann, der sich zum Ausdruck bringen, sich unterscheiden und behaupten kann. Nicht immer sind die Eigenschaften und Vorstellungen, die den echten Künstler prägen leicht auszumachen und von vornherein klar ersichtlich; im Grunde bedarf die künstlerische Genese einer eher langsamen Wandlung auf allen Ebenen: der ganze Mensch, sein Bewußtsein, seine Fühlen und Denken, seine Vorstellungskraft müssen betroffen sein; Künstler werden resp. sein bedeutet ja auch, über sich und seine Fähigkeiten mehr und mehr Bescheid wissen; bedeutet, das Wahrnehmungsvermögen zu schulen und zu steigern, Reflexion und Emotion zu intensivieren, seine Erfahrungen umfassend zu verdichten. Das Streben nach Selbsterkenntnis - entscheidender Faktor, um zu einer Identität als Künstler (des Lebens) zu finden, muß komplementär sein mit der zu erwerbenden oder nach und nach zu lernenden Fähigkeit, mit diesem Wissen, diesem mitunter auch problematischen und bedrohlichen Einsichten umgehen, sie interpretieren und bewältigen zu können. Der Künstler kennt zwar die Wirklichkeit und Gewalt zerstörerrischer und chaotischer Kräfte, er vermag sich ihnen mitunter auszusetzen, ohne jedoch von ihnen völlig beherrscht zu werden ebenso wie er die negativen Erfahrungen zulassen kann, ohne ihrer Totalität zu erliegen. Mißlingen, Scheitern, Rückschläge müssen nicht kaschiert oder geschönt werden, es ist in dieser Hinsicht Selbsterziehung zu leisten, Selbstdisziplin, die eine bestimmte Strenge mit sich wie auch Kontrolle bedingt. Es kommt wiederholend darauf an, die Widersprüche und Ungereimtheiten der eigenen Persönlichkeit, ihre Schwächen und ihr Versagen zu zu integrieren und zu bewältigen, ohne aber deshalb die Vorstellung von sich selbst als Künstler, als Schaffender, der an seinem Lebenswerk wirkt, der einen eigenständigen sittlichen Lebensstil zu kreieren sucht, aufzugeben. Es gilt nicht, einem künstlerischen Vorbild, einer Stilrichtung nachzueifern, niemand muß übertreffen oder als Konkurrent angesehen werden; Zwänge und Pflichten einer scheinbaren Lebensleistung um jeden Preis bestehen nicht, sondern die Persönlichkeit in ihrer Originalität soll sich innerlich entfalten und nach außen hin ausdrücken können in einer ihr gemäßen, von ihr gefundenen und gestalteten Form. Gelingen und Mißlingen, Erfolge oder Mißerfolge können aufgehoben werden in der Gesamtheit der Lebensdarstellung und, genauer und detailliert betrachtet, ebenso unvergleichlich sein wie die Persönlichkeit selbst. In der Übernahme künstlerischer Vollzugs- oder Produktionsweisen ist darauf hinzuweisen, daß die Hingabefähigkeit und die Versenkung dem eigenen Werk aber auch dem anderen gegenüber eine nicht zu übersehende Rolle spielt und, bezogen darauf, daß in Verbindung mit dem gestaltenden Wirken und täglichen Arbeiten am Lebenskunstwerk dieses auch als solches wahrzunehmen und zu genießen ist.

Entwurf zu einer Ästhetik der Existenz

125

Ein spezifisches Bewußtsein oder auch ein Sinn für die künstlerische Wertigkeit des eigenen und des Lebens anderer wie für die Wirkung der eigenen Persönlichkeit und der anderer wäre regelrecht zu erschließen und zu kultivieren, damit zu betrauen, Eindrücke, Erfahrungen aller Art zu sammeln; womit die Person als Künstler und zugleich als Publikum (oder Rezipient) selbst seines Lebens aufgefaßt werden muß. In Analogie zu der sonst üblichen Begegnung und Auseinandersetzung mit Kunst(werken) aller Art dürften ähnliche Kriterien angelegt werden und vergleichbare Erwartungen gelten; der durchaus nicht rein passive Kunstgenuß des Selbst - wie des eigenen Lebens sollte Bedürfnisse erfüllen, wie das von Kunst an sich erhofft wird; in entsprechender Weise Wünsche und Träume einlösen, Ideen anregen, Vorstellungen erzeugen, Gefühle bestärken, trösten oder Halt bieten. Die intensive, aufrichtige Betrachtung der gemachten Erfahrungen ebenso wie die stete geistige Durchdringung gegenwärtigen Erlebens, der bewußte und verantwortliche Umgang mit den Gedanken und Gefühlen vermag jene Perspektive zu öffnen, in der die Tiefe, die Weite und Größe des eigenen Lebens aufscheint, die Erfüllung und Befriedigung schenkt. Beeindruckt, begeistert sein vom eigenen Leben, diese Erfahrungen und Empfindungen, wie sie durchaus von Kunstwerken erzeugt werden können, bedeuten nicht Überheblichkeit oder Selbstüberschätzung, sondern weisen in ihrer Wirklichkeit vielmehr auf die Einzigartigkeit des Lebens, ja jedweden Augenblicks hin; solche tiefe und machtvolle Einsichten können Quelle der Erneuerung und Kreativität sein, aus ihnen mögen sich mit Hilfe der Phantasie Vorstellungen und Visionen ergeben als Entwürfe zu einem tatsächlich angemessenen und geglückten Leben. Glücken würde hier bedeuten, das darin enthaltende Allgemeingültige und -verbindliche solcher subjektiven Erlebnisse freizulegen und festzuhalten, um die als wahr und gültig erwiesenen Richtlinienfür die Befreiung und kunstvolle Gestaltung des Lebens zu gewinnen. Im Hinblick auf die sich offenbarende künstlerische Qualität (oder dem Künstlercharakter) des Lebensvollzugs (wie des betrachteten Lebens selbst in seiner Gesamtheit) wird ein hochethischer Impuls wahrnehmbar. Die ethische Aufmerksamkeit richtet sich darauf, jene Qualität mehr und mehr zu steigern, zu vervollkommnen, immer bewußter zu vernehmen, um geschauten Idealen nachkommen zu können. Hier ergibt sich nun die Frage nach einem persönlichen Stil, der sowohl von Eigenständigkeit als auch von Verantwortung zeugen müßte. Dieser wäre vergleichbar einer sehr diffizilen, nicht immer auf den ersten Blick voll zu erfassenden, sehr bewußten und bestimmten Ausdrucks- Verhaltens- oder Seinsweise. Dieser Ausdruck und die Hervorhebung einer individuellen Note bedeutet grundsätzlich eine Art der persönlichen Kultivierung und Steigerung stellt - zur Perfektion gebracht - eine persönliche Vervollkommnung, eine als hochethisch zu wertende Leistung dar. Denn dieser persönliche Stil bedeutet das Resultat einer Vielzahl vorgängiger Entscheidungen und subtiler Versu-

126

Theologische Ethik im Diskurs mit der Ästhetik

ehe, läßt eine teilweise bis ins Detail verfolgbare und verantwortbare Entwicklungsgeschichte erkennbar werden. Der Stil als ein Produkt der ganzheitlichen Persönlichkeit zeugt von ihren Gedanken und Gefühlen, ihrer Phantasie, ihrem Wünschen und Wollen, ihren Fähigkeiten. Er bedeutet eine Selbstverwirklichung auf allen Ebenen, ist, indem er das Wesen, das Innerste der Persönlichkeit nach außen trägt, eine menschliche Botschaft, die heißt: „das bin ich", „das will ich", „das vermag ich". In diesem Sinn wirkt er als ein hochdifferenziertes Kommunikationsmittel, weil er den anderen das eigene Selbst zugänglich und sichtbar, damit in gewisser Weise auch verfügbar macht; weil durch diese geklärte Selbstdarstellung der Austausch offener, intensiviert und zielführender wird. Der Mensch mit seiner ganz spezifischen Verhaltens- und Handlungsweise - er unterscheidet sich nicht nur - er gibt, indem er ein sehr konturiertes und durchgebildetes, ein präzises Selbstbildnis schafft, Anlaß, sich mit ihm zu beschäftigen, über ihn nachzudenken, er vermag anziehend, anregend und inspirierend zu wirken durch seine (aus)gestaltete, bestimmte Weise der Selbstbehauptung und Lebensart, wie dies beim Künstler der Fall ist. Er erweckt Interesse durch seine Weise der Durchsetzung, durch seine Handlungsformen; er gibt ein Beispiel, das eigentlich erst im sozialen Bezug seine tatsächliche Transparenz gewinnt. Konkret auf den Umgang, die menschliche Begegnung bezogen, meint dies beispielsweise, daß jemand, der sich selbst schöpferisch zum Ausdruck bringt, über eine variable, facettenreiche Palette verfügt, seine Gedanken und Gefühle, seine Vorstellungen und Erfahrungen einzusetzen und zu vertreten; und der darüber hinaus aufnahmebereit, neugierig und fähig ist, sich auf das Gegenüber einzustellen, den Kontakt zu intensiviern und festigen. Die einen eigenen Stil voraussetzende Beschäftigung mit sich selbst, die Suche nach gültiger Übertragung dessen, was einen bewegt, definiert, das Ringen um Formen des Ausdrucks gemachter Erfahrungen, erschauter Visionen, erkannter Wahrheiten wäre völlig falsch ausgelegt, wenn darin bloß eine Selbstbehauptung und -Verwirklichung (resp. Selbststilisierung) gesehen würde; der innerste Impuls solchen Bemühens weist ganz klar über das Selbst hinaus: das Verlangen und Streben nach eigenem Ausdruck (wie Ausdruck des Eigenen) verweist auf ein Gegenüber für die Mitteilung, ein Du der Teilhabe und Teilnahme. Gewiß mag der Rückzug auf sich selbst zeitweise Bedingung sein, um zu sich zu finden, sich neu zu fassen, diese Selbstbesinnung steht jedoch im Kontext des unverzichtbaren Bezugs zum anderen. Das Finden und Formen eines eigenen Ausdrucks im Verhalten und Handeln bedingt nicht nur den Einsatz der Ganzheitlichkeit der Person; es werden damit auch ihre Eigenschaften, ihre wesenseigenen Anlagen verifiziert; ebenso dokumentiert sich ihre Entfaltung und Veränderung in bestimmten Lebensabschnitten. So wird der Ausdruck, der wie eine sich offenbarende persönliche Spur oder auch Handschrift" in ihrer Handlung sein mag, den je-

Batwurf zu einer Ästhetik der Existenz

127

weiligen Lebenszeitaltern gemäß einen Wandel durchlaufen, unterschiedliche Ausrichtungen und Schwerpunkte ausprägen, von Gelingen und Fortschreiten, aber auch von Scheitern zeugen; es wird auch die wachsende Souveränität der Person kenntlich werden, die auf wahrgenommene Zuständigkeit und Verantwortung sich selbst wie anderen gegenüber schließen läßt. Deutlich werden mag auch, wie sich aus einem einst noch fragmentarischen, oft versuchsweise angesetzten und vorsichtige Einsatz des persönlichen Stils mehr und mehr eine kontinuierliche Linie von Vorzugsordnungen und Bedingungssfolgen29 abzeichnet, sich darin die Identität des Subjekts vermittelt, das Leben so seine eigene Struktur erhält. So berechtigt das Streben nach Selbstverwirklichung erscheint, und eine ästhetischen Ansprüchen gehorchende Gestaltung des Lebens auch vielversprechend und erfüllend sein mag, so darf doch diese Sorge um sich selbst letztlich nicht zu egozentrischer Verengung führen; in diesem Sinn durch den zentralen Augenmerk der eigenen Person die darüber hinausweisenden Perspektiven und Relationen zu vernachlässigen oder überhaupt aufzugeben; sich mehr und mehr abzugrenzen gegenüber dem Einfluß und Anteil anderer am eigenen Leben. Die Annäherung an eine solche Position wäre falsch und unangemessen, würde in die Nähe eines verfehlten Lebens führen; eine vermeintliche Betonung und Herausarbeitung der Persönlichkeit könnte so letztlich deren Einschränkung und Erstarrung bedeuten. In kritischer Distanz dazu ist in der Betrachtung des eigenen Lebens vielmehr das unmittelbare und mittelbare, aus vielen Gründen notwendige Verwiesensein auf die anderen, auf die Gemeinschaft anzunehmen; es muß, um ein Gelingen in Aussicht zu stellen, das mehr oder minder vorhandene soziale Einbezogensein in seiner ganzen Vielfältigkeit wie Geschichtlichkeit als Tatsache akzeptiert werden. Die Entfaltung der Persönlichkeit wie die Realisierung vieler ihrer Lebensziele ist, so gesehen, nicht zu trennen vom Verwobensein in die Sozietät. Dieser Voraussetzung muß die besondere Aufmerksamkeit gelten, um sie entsprechend umzusetzen gerade im Hinblick auf eine Verständnis, das der 29

Individuelle Vorzugsordnungen (Ziele/Mittel) und Bedingungsfolgen im Sinne der Mittel-Zweck-Relation sind Produkte der Finalisierungs- und Ordnungskompetenz der Praktischen Intelligenz; sie entspringen der „Präferenzsouveränität" des einzelnen Akteurs und kombinieren die verschiedenen Lebensbereiche in einem Gesamtplan; vgl. Krämer, H., Integrative Ethik, S. 175. 265. Solche komplexe „Operationstypen ... verbinden besümmte Ziel- und Vorzugsordnungen mit den entsprechenden Entscheidungskriterien und Argumenten sowie mit bestimmten Maximen, PlanungsHandlungs- und Situationsstrukturen, zu denen Bedingungsfolgen, Zweck-MittelRelationen, Strategemc und Taktika gehören. Sie bilden zwischen der Uniformität von geschlossenen Kollektiven und der Singularität des Individuellen eine große Mannigfaltigkeit aus, vermittelt durch ihre konkrete „Materialisierung", aber auch zwischen der Abstraktheit thematischer Gesichtspunkte einerseits und der Opakheit und Kontingenz des Einzelfalls andererseits. Zu jedem Typus gehören spezifische principia media und eine eigene Weise der Lebensführung", ebda., S. 186

128

Theologische Ethik im Diskurs mit der Ästhetik

Person die Potentialität eines Künstlers zuschreibt und die künstlerische Auffassung der Existenz wahren und realisieren will. Eine daran sich bindende Ethik wird demzufolge dem Subjekt selbst und seinen Bezug (wie seiner Bezugsfähigkeit) zu anderen ein gleiches Maß an Interesse einzuräumen haben. Es heißt nicht die Einzigartgkeit und Einmaligkeit des jeweiligen individuellen Lebenskunstwerks wie der Person selbst in Frage zu stellen oder zu unxwterwandern, wenn beides sich im Verhältnis zur Sozietät offenlegt. Ein Denken in der erweiterten Perspektive intersubjektiver Verhältnisse widerspricht weder der Realisierung des Selbst, noch zieht es die (in eigener Macht stehende) Kreativität des Einzelnen in Zweifel. Demgemäß sind die sozialen Verbindungen und Netze, die entsprechenden sozialen Lebenstechniken als unverzichtbarer Anteil des eigenen Lebenskunstwerks zu erfassen, sind sie in die persönliche Verantwortung miteinzubeziehen und in der Zielbestimmung von jeweiligen Lebenstypen nachzuweisen. In der Begegnung wie im Austausch, in der Zuneigung wie in der Liebe oder der Bewunderung läßt sich eine Art gemeinsame schöpferische Plan- und Handlungsstruktur erfahren, die Einverständnis und Einklang der Partner wiederspiegeln kann ebenso wie sie auch ihre Verschiedenartigkeit, ihre vorhandenen Gegensätze zusammenzufassen vermag und somit in übergeordneter Einheit ein Ergebnis bezeugt, das dem einzelnen, partikulären Unternehmen verwehrt geblieben wäre. Wie interpersonelle Verhältnisse ein positives, bereicherndes Aufgehen ermöglichen, so verdeutlicht sich - selbstredend - auch das Verunsichernde und Hemmende, das Abgründige, Zerstörenische negativer Beziehungen. Voraussetzung für eine nach ethico-ästhetisehen Richtlinien ausgelegte Lebensführung bleibt eine stete Durchdringung und Klärung des eigenen Bewußtseins, das sich nicht verschließen und abwenden soll von der Gegenwärtigkeit der anderen Subjekte. Gedanken und Gefühle vermitteln deren Anwesenheit, spiegeln deren Einfluß, geben Vorstellungen und Bilder von ihnen wieder. Die Klärungen des Selbstverständnisses verbindet sich mit dem Verständis der anderen, mit dessen Vertiefung und eigenverantwortlicher Auslegung. Die vorhandenen oder erinnerten Beziehungen sollen Einsicht geben, was sie jeweils bedeuten, zu welchen Handlungen oder Haltungen sie motivieren. Diese Überlegungen ist begleitet von dem Wissen um all die Erfahrungen, Gefühle und Stimmungen, die niemals existiert oder sich ereignet hätten, ohne den sozialen Bezug. Die Bedeutung des Beitrags anderer zur Bildung des ethischen Subjets veranschaulicht, daß Selbsterfahrung resp. Selbstreflexion, auch wenn sie sich mit der Einsamkeitserfahrung, der nicht zu überwindenden Grenzen und Partikuarität des Individuums verbindet, nicht ohne diese Grundlagen zureichend erfaßt werden kann; im Selbverständnis ist immer schon die Reaktion auf die eigene Persönlichkeit mit gegeben, im Selbstbild spiegelt sich der Blick, die Einschätzung der anderen, wie dies auch umgekehrt der Fall ist. Der Aus-

Entwurf zu einer Ästhetik der Existenz

129

tausch und die Verbindung mit anderen Subjekten wirkt darüber hinaus immer wieder wie eine Selbsterweiterung, eine Vergrößerung des Bewußtseins, indem durch die Zuwendung neue, vergrößerte Dimensionen eröffnet werden, die sich der Gemeinschaft und Berührung verdanken und ohne sie ungekannt und ungenutzt blieben. So bedeutet die Beziehung zur Sozialwelt für die individuelle Persönlichkeit selbst einen Zuwachs an Lebendigkeit und Leistungsfähigkeit, verstärkt oder läßt eigene Fähigkeiten entdecken ebenso wie gemeinsam wahrgenommene erst genutzt werden können. Die Anteilnahme an den Lebenserfahrungen, die Begegnung mit dem eigenen Sein - geschieht sie umfassend genug und wird sie auch entsprechend vorbereitet im Sinne einer Einübung zu ganzheitlicher Wahrnehmungsfähigkeit - verhilft zu einem Begriff von der unverwechselbaren (und immer auch erstaunenswerten) Einzigartigkeit des anderen Subjets; sie schafft die Möglichkeit, dessen in all seinen Feinheiten unnachahmlichen und, in seiner Zeitlichkeit betrachtet, unwiederholbaren Ausdruck zur vollen Geltung zu bringen. Soziale Verhältnisse vermögen so zu einem hohe Grad humaner oder ethischer Wertschätzung auszureifen. In dieser Perspektive lassen sich bestehende Beziehungen als einende, gemeinsam zu gestaltende Teile des als Kunstwerk aufgefaßten, jeweiligen individuellen Lebens begreifen; auch ließe sich insbesondere im Hinblick auf eine intensive und auch längerfristige Gemeinschaft von einer Art gemeinsam getragenen und im gemeinsamen Handeln erreichten Gesamtkunstwerk sprechen, das das jeweilige einzelne als größere Lebensform übergreift; gemeinsames Leben, so gesehen, als miteinander entworfenes und zustandegebrachtes Kunstwerk, getragen von Gemeinschaftsstrategien, die sich in Analogie zum jeweils eigenen (der Persönlichkeit entsprechenden, von ihr autonom verantworteten) Umgangs- und Handlungsstil, spezieller Daseinstechniken und Vorgangsweisen verdanken.

6. Theologische Integration

6.1. Präsenz der Theologie in einer eudämonistischen Handlungstheorie Die Moraltheologie steht vor der Klärung ihrer theologischen Aufgabe mit der Grundsatzproblematik einer Realisierung des christlichen Glaubens unter den spezifischen Bedingungen der spät- oder postmodernen Lebenswelt. Sie hat - wissenschaftstheoretisch gesehen - als theologische Disziplin ihre theologischen und spezifische ästhetischen Erkenntnisinteressen zu bedenken. Ihre Reflexion trifft die kritisch verschärfte Frage, wie christlichen Ethik in einem erweiterten mehrdimensionalen Selbstverständnis unter Voraussetzung der autonomen Vernunft und dem Konzept einer weitgehend offenen, universell-kognitiven Moral ihren originären Diskursbeitrag setzen kann im Hinblick auf den Aufbau einer der heutigen Argumentationssituation angemessenen ganzheitlichen Ethikformation. Zur Debatte steht die über die Begründung kategorischen Sollens durch moralinterne Prinzipien grundsätzlich hinausführende, unabweisbare Motivationsproblematik, damit in neuer Dringlichkeit die Eudämoniefrage, ohne deren effiziente, zureichende Bewältigung jede autonome Moral in ihrer Praktikabilität unsicher oder prinzipiell in Zweifel gezogen wird; das Motivationsdefizit schlägt mittelbar auf die Geltungsfrage (oder die Ausweisbarkeit moralischer Forderungen) zurück.1 In dieser, für die (reine) Sollensethik schwerwiegenden und mit weitreichenden Folgen verbundenen Problematik erkennt die theologische Ethik ihre spezifische, im Interesse einer Gesamtethik, unverzichtbare Aufgabe. Ihre zuschreibbare Kompetenz und gegenwärtige Relevanz wäre an die Repräsentation der, weder im aktuellen moralphilosophischen Diskurs noch in dem der Theologie genügend in Rechnung gestellten, dritten Grundfrage Kants „was darf ich hoffen?"2 gebunden. Angesprochen ist die unverzichtbare Vergewisserung der Sinnhaftigkeit von Moral überhaupt, der heute verschärfte und zu erbringende Nachweis, „daß und warum moralische Forderungen legitim sind, und daß es sich lohnt, moralisch 1

Krämer, R, Ethik, S. 20; ders., Antike Ethik, S. 190.

2

Kant,I.,KrVA805/B833;KpV224-237.

Die individualethische Relevanz des christlichen Glaubens

131

zu sein"3. Diese Perspektivität des Motivationsgrundes oder der Motivschicht, deren Grundproblematik moralintern nicht zu bewältigen ist und in deren Konsequenz Kant das Dasein Gottes zum Postulat der praktischen Vernunft4 erhebt, ermöglicht dem genuin theologischen Diskurs, seine originäre Bedeutung und Funktion im Rahmen einer mehrdimensionalen Ethik zu finden. Daran bindet sich die moraltheologische Reflexion. In Wahrnehmung ihrer ethischen wie theologischen Rechenschaft hat sie eine spezifisch eigene Hermeneutik der Sinnfrage anzusetzen und diese als konkretes (Diskurs)angebot an die autonome Vernunft zu richten. Die Verantwortung liegt in der Ausarbeitung von überzeugenden Modellen des guten Lebens, von Ziel- und Leitvorstellungen gelungenen Menschseins, auf deren Plausibilität die Vernunft angewiesen ist und die in ihrer Konkretion mögliche Konsensfähigkeit beweisen.5 Unter dieser Perspektive ist die Moraltheologie „Motivationsforschung im Glauben"6, Vergewisserung seiner grundlegenden Sinn- Hoffnungs- und Heilsoption. Über diesen, die motivationale Grundlegung autonom-vernünftigen Handelns betreffenden Aspekt theologischen Denkens im Rahmen einer integrativen Moraltheologie hinausgehend, zeigt das theologische Argument genuine Offenheit und könnte in diesem Zusammenhang auch ausgezeichnete Bedeutung erhalten für die nähere Rückfrage an das Autonomie- resp. Freiheitsprinzip selbst Die ethisch-theologische Aufmerksamkeit richtet sich hier auf den Aufweis der Möglichkeit, überhaupt moralisch handeln zu können, der - nicht nur tugendethisch - bedeutsamen Frage, wie der Mensch kann, was er soll7. Es geht um die anstehende Aufklärung darüber, wie und woher der Mensch die Kompetenz des moralischen Subjekts erlangt, die Befähigung auf Ausübung der Autonomie, in der sich die selbstbestimmte Freiheit Ausdruck verschafft. Eine zureichende Antwort wird davon ausgehen müssen, daß die Möglichkeit zur Selbstverpflichtung letztlich nicht vom Menschen selbst heraus deutbar sein kann, sondern nach einer darüber hinausgehenden Erklärung verlangt. Die christlich theologische Wertung wird hier von einem „geschenkten Können" sprechen, mit der Annahme, daß jedes Ethos die Gnade wesentlich voraussetzt, entsprechend paulinischer Tradition, den Indikativ dem Imperativ voranzustellen.8 Die Autonomie der ethischen Erkenntnis im Kontext der theologischen Ethik sucht ihre theologische motivationale Vertiefung. Zur Diskussion steht die individualethische Relevanz des christlichen Glaubens mit der theologischen Wahrnehmung des Subjektparadigmas. Die leitende Grundfrage nach 3 4 5 6 7 8

Krämer, H., Wege, S. 88f. Kant, L, KrV A 805; KrV B 832 - 847; KpV 224 - 237. Honnefelder, L., Anpassung, S. 27. Demmer, K., Komplexe Fragen erfordern komplexe Antworten, in: Herd. Korr. 4 (1989), S. 178. Mieth, D., Gott, S. 218. ebda.

132

Theologische Integration

der Konstituierung oder Genese des sittlichen Subjekts, der ethischen Subjektivierung, beschreibt die Aufgabe, vom Individuum her, von seiner Selbstbestimmung und Gestaltung seines Ethoskonzepts (seines persönlichen Ethos) her den genuinen Bezug des christlichen Glaubens geltend zu machen. Dies umfaßt eine Vertiefung des Grundsatzdiskurses katholischer Fundamentalmoral. Notwendig erscheint der Rekurs auf eine anthropologische Fundierung des Glaubens, wie sie bereits überzeugend zur Diskussion gestellt worden ist. In der über lange Zeit sich erstreckenden kontroverstheologischen Debatte um das „Proprium" christlicher Sittlichkeit brachte das Modell einer „autonomen Moral" unter dem Stichwort des „neuen Sinnhorizonts" oder der „christlichen Intentionalität" eine vorwiegend kognitive Zuordnung von Glaube und Moral; diese einseitige Sichtung des Verhältnisses ist mit dem Rückbezug auf die personal-existentiellen Voraussetzungen wesentlich zu erweitern, sie bedarf einer grundlegend anthropologischen Neubestimmung.9 Die Sondierung einer individualethischen Relevanz des christlichen Glaubens steht im Kontext des Eudämonieproblems, der Frage nach dem guten oder sinnvollen Lebens. Sie bewegt sich damit zentral um die Deutung des Bezugs zwischen der praktischen Grundfrage einerseits, mit der eigenen Konzeption resp. Wahl des richtigen und geglückten Lebens und dem persönlichen und selbstbestimmten Glaubensentscheid andererseits. Es ist zu klären, welcher Stellenwert dem christlichen Glauben hinsichtlich der Selbstverwirklichung, der Wahl der individuellen Lebensform eingeräumt werden kann, die ganzheitlich vollzogen, neben der kognitiven immer auch ästhetische, emoü'vvolitive Moment umfaßt; welche Relevanz ihm letztlich bei der Konstituierung moralischer Subjektivität oder praktischer Identität zugeschrieben werden kann. Im Hinblick auf den beabsichtigten Entwurf einer Präventivethik erweitert die theologische Fundierung den Blick auf das Selbstverständnis der „Ethik". Sie hat über die aktuelle Diskussion neu entstandener Konfliktlagen und Entscheidungssituationen hinausgehend, die Grundaufgabe zu leisten, die eigentliche Problemwahrnehmung zu leiten und in umfassender Weise auf Erkenntnis- resp. Motivationszusammenhänge und Unterscheidungen zu beziehen, auf deren Grundlage die Handlung und das ethische Urteil gesichtet werden kann10. Ethische Wertungen sind nicht zu beschränken auf den Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung, sie haben diesem gegenüber eine kritisch-konstruktive Funktion wahrzunehmen; das bedeutet für die ethische Grundlagenreflexion, Erkenntnisse und Kriterien zur Verfügung zu stellen, auf deren Basis Handeln und seine Qualität gesichtet werden kann; hierin bestimmt sich die theologische Aufgabe. Sie ermöglicht der ethischen Sondierung Eigenständigkeit und 9 10

Eid., V., Die sozialethische Relevanz des Autonomiekonzepts, in: Concilium 20 (1984), S. 108 - 114; ders., Sakramente und christliches Ethos. Skizze zu einem Thema des Problems Glaube und Moral, in: Studia Moralia XV (1977), S. 139 -153. Ulrich, H. G., Wege, S. 24.

Die individualethische Relevanz des christlichen Glaubens

133

Kritikfähigkeit gegenüber reiner, meist ohnehin zu später Reflexion anfallender Konfliktlagen oder gerade aktueller Diskussionssituationen.11 Für den Entwurf und die Entwicklung einer in diesem Sinn benötigten spezifisch ethisch-theologischen Theorie erscheint dabei folgende Forderung als wesentlich. Es gilt in erster Linie eine präzise Unterscheidung und Klärung zwischen theologischer Einsicht und anthropologischer Erkenntnis zu leisten und auf diese Weise die Eigenständigkeit beider Bereiche abzusichern. Die intellektuelle Redlichkeit wie das ethisch theologische Argumentationsbewußtsein zielen hier auf eine sauber durchgeführte, anthropologische wie theologische Hermeneutik. In der Konsequenz bedeutet dies von vornherein kritische Distanznahme zu überformender oder möglicherweise vereinnahmender Glaubensoption, im Sinne einer Substituierung der Wirklichkeit des menschlichen Daseins und ihres spezifischen ausschließlich anthropologischen Erkenntniszugangs. Unter dieser Voraussetzung wird die schwierige Vermittlungsarbeit beider ursprünglicher Dimensionen zu versuchen sein, wobei im Hinblick auf die individualethische Untersuchungsperspektive der Schwerpunkt beim einzelnen Subjekt selbst oder bei den Subjekten anzusetzen ist. Wahrheit und Wirklichkeit des Subjekts sind prospektiv auf jene genuin anthropologischen Bedingungen und Grundlagen hin abzuklären, von deren Bezug her erst die individualethisch relevante Dimension des Glaubens in Theorie und Praxis reflektierbar wird. Das zentrale Untersuchungsinteresse richtet sich auf die Realisation des ethico-ästhetischen Subjekts als neuem Glaubenssubjekt, Mit der theologischen Durchdringung hat die ethische Reflexion nicht nur zu beurteilen, was sein soll, sondern tiefergehend, zu berücksichtigen, was für das einzelne Subjekt Handeln als solches heißt12, was die - wie zu zeigen ist auch ästhetische Handlung wie Lebensführung insgesamt trägt und leitet. In erster Linie wird ein spezifischer Begriff von Handlung zu entwickeln sein, der sich kritisch von der gewöhnlichen Alltagspraxis abhebt, diese korrigiert und stimuliert oder ihr gegebenenfalls auch zustimmt. Eine in diesem Sinn gewonnene befreite und befreiende Praxis korreliert, so die These, mit dem zentralen Entwurf des ethico-ästhetischen Subjekts, wobei ihre konkrete Verwirklichungsform neben der prospektiven Grundausrichtung immer auch ganz wesentlich einen Therapiebezug enthalten muß. Im Verständnis einer spezifisch theologischen Ethik mit dem Hintergrund fundamentaler, übergreifender theologischer Sachverhalte, deren Klärung im Konzept einer theologischen Theorie ansteht, ist die ethische Argumentation nicht mehr allein mit der Reflexion der einen oder anderen Problematik oder Konfliktlage befaßt, sondern ermöglicht die Entwicklung einer Nahethik der alltäglichen Lebensbereiche, bietet eine praxisrelevante, jedem einzelnen Subjekt anschauliche Instruktion oder auch Beratung zur ethischen Urteilsfin11 12

ebda. ebda., S. 24f.

134

Theologische Integration

dung, die seiner ethischen Existenz vor Gott in der Gemeinschaft der Gläubigen entspricht13. Eine primäre Aufgabe und Leistung ethischer Praxis wäre in diesem Sinn, „Lebenshilfe" zu geben - nicht erst dort, wo Menschen in solche Konfliktlagen geraten, sondern in der „alltäglichen" Lebensführung. Die Moraltheologie, so verdichtet sich darin die Kritik, hat es bislang verabsäumt, auf die alltägliche Lebenspraxis hin oder von ihr aus zu denken, eine Ethik für die Problemsituationen, die sich in der täglichen Bewältigung einzelner Lebensbereiche ergeben, zu entwickeln. In diesem Sinn ist zu fragen, ob die theologische Ethik im Selbstverständnis nicht vorrangig therapeutisch einzusetzen hätte, und entsprechend prospektiv zu orientieren wäre, indem sie immer schon die Konfliktlagen in Blick nimmt, von denen sich keiner mehr dispensieren kann. Zur Diskussion stünde dabei die Klärung der ethischen Aufgabe mit der Frage, wie Zugänge zur ethischen Lebensform erschlossen werden könnten, wobei zunächst zu sondieren wäre, in welchem Bereich Ethik überhaupt einsetzen kann, um dann kontrastiv, ethisch reflektierte Praxis zum Ausdruck zu bringen14. Indem sich die theologische Ethik diesem Anliegen stellt, Zugänge zur ethischen Existenz aufzuschließen, darüber Aufklärung zu leisten, wie der Prozeß der ethischen Subjektivierung in der Regel und in den einzelnen Lebensbereichen zu gestalten wäre, hat sie ihre Wahrnehmung darauf zu richten, „daß sie das Erfordernis des Heilwerdens, der Therapie sieht, die durch keine „ethische Begründung" oder Überredungskunst ersetzt werden kann"15. In dieser Hinsicht indiziert der Weg zur ethischen Lebensform immer auch eine therapeutische Praxis. Im Sinne einer therapeutischen Ethik, die die rettende und heil schaffende Sinn- und Hoffnungsoption Gottes zur Mitteilung bringt, aus der heraus ethische Praxis gelingen kann, hat sich die theologische Ethik vorrangig als „Praxis der Verständigung" zu artikulieren, in deutlicher Distanzierung von der zunehmenden Tendenz, durch Zentralisierung, Fundamentalisierung oder iuridische Sanktion Wege ethischer Diskurse zu unterbinden. Einer der wesentlichen Aspekten bei einer Neuformulierung des Selbstverständnisses der Moraltheologie wird dabei sein, diese, in Wahrnehmung ihrer Aufgabe, Orientierungs- resp. Lebenshilfe zu leisten, nicht zu einem vordergründigen Beratungs- oder Reflexionsangebot abgleiten zu lassen, sondern das Verständnis einer „partizipatorischen Ethik" vorzubereiten, welche - an Gottes Verheißung teilnehmend - in der gemeinsam zu findenden Erkenntnis des Willens Gottes fundiert ist; in der Koexistenz von Vertrauen und Verantwortung wäre darauf zu drängen, daß die Frage einer ethisch gelungenen Lebensform immer auch den Kontext der erkennenden und anerkennenden Einstim13 14 15

ebda,,S.24f;31f. Ulrich, H. G., Konjunktur, S. 201f. Ulrich, H. G., Evangelische Ethik - gegenwärtige Perspektiven, in: ders. (Hrsg.), Evangelische Ethik. Diskussionsbeiträge zu ihrer Grundlegung und ihren Aufgaben, München: Kaiser, 1990, S. 401f.

Die individualethische Relevanz des christlichen Glaubens

135

mung in das, was dem Menschen vorgegeben ist, erfordert.16 Der ethische Diskurs hat sich hier hinsichtlich Wahrheitsfindung wie Erkenntnisgewinn seiner wesentlich kommunikativen Qualität wie intersubjektiven Ausrichtung zu vergewissern, wobei die ekklesiologische Einbindung unabdingbar erscheint. So ergibt sich das Desiderat einer praktisch-ekklesiologisehen Ausweitung der Ethik mit einer Neubesinnung auf das Verhältnis von ethischtheologischer Reflexion, Lehramt und Kirche. Zur Verwirklichung des Gesamtvorhabens wurde für die Moraltheologie ein Umdenken, was das Selbstverständnis betrifft, vorgeschlagen. Es wäre längst notwendig gewesen, sich um eine weitergefaßte Konzeption von „Ethik" zu bemühen, die adäquat im Sinne einer praktikablen Nahehtik der Situation des Handlungssubjekts entspricht, dessen individuelle Lebensführung und Arbeit am praktischen Grundsatzdiskurs in den Blick bringt. Die ethische Verständigung hat, dies wurde betont, in diesem Bereich noch nicht wirklich eingesetzt, sie bleibt in bezug auf eine notwendige Klärung des Anspruchs wie des Geltungsgrads, der dem eigentlichen Handlungsträger eingeräumt werde müßte, defizitär. Gefordert wurde mit der Rekonstruktion des guten oder gelingenden Lebens die Korrektur resp. Ergänzung der bisherigen Moraltheologie durch einen das humane Wollen artikulierenden strebens- oder individualethischen Grundbezug. Der integrationswissenschaftliche Aspekt rät zum interdisziplinären Gespräch mit der praktischen Philosophie. In diesem Sinn orientiert sich die Moraltheologie unter Wahrung der jeweils spezifischen Eigengesetzlichkeit wie der jeweiligen Erkenntnisinteressen an den Herausforderungen der aktuellen philosophischen Debatte, nimmt mit durchaus kritischem Bezug relevante Ergebnisse zur Kenntnis, integriert diese auch in das eigene Arbeitsprogramm, soweit sie sich für die eigenen theologische Problematik und Theoriebildung als anregend und weiterführend erweisen.17 Die Philosophie kann damit zu einem kritisch-konstruktiven Gesprächspartner werden, der die Moraltheologie zur Überprüfung der Wirklichkeitsnähe wie des hermeneutischen Ansatzes der eigenen Reflexion nötigt, zu einer Revision überholter Paradigmas und metaphysischer Optionen anhält. Intendiert wäre ein fruchtbringender Dialog, der dazu beiträgt, in Aufarbeitung der eigenen Denktradition, die Grenzen auszuweiten oder eigene Grauzonen zu korrigieren, der dazu auffordert, ein inoperables, dem Problemstand der Zeit unangemessenes, möglicherweise von verdeckten Vorlieben getragenes Weltverständnis zu revidieren, ohne daß damit notwendigerweise eine Suspendierung der genuinen theologischen Disposition gegeben sein müßte.18

16 17 18

Ulrich, H. G., Konjunktur, S. 201f. Demmer, K., Selbstverständnis, S. 16ff. ebda.

136

Theologische Integration

Unter diesen Voraussetzungen bleibt es freilich erste Aufgabe der Moraltheologie, und sie kommt als theologische Handlungslehre nicht umhin, einen eigenständigen, vor allem aber gesamtethischen Bitwurf zu entwickeln und zur Diskussion zu stellen. Christliche Ethik hat die genuine Handlungsrelevanz des Glaubens für eine autonome Sittlichkeit zu eruieren; das Interesse richtet sich auf den Zusammenhang von Ethik und Glaube mit der maßgeblichen Frage nach der Tiefendimension der Theologie im Kontext einer Individualethik. Die Vermittlung beider Ebenen setzt die subtile Verhältnisbestimmung von theologischer Einsicht und anthropologischer Erkenntnis voraus. Sie wird ausschließlich über eine vorgängige Klärung sowohl des anthropologisch-existenziellen Basisbezugs als auch der diesem korrespondierenden, als wesentlich autonom und subjektiv zu beschreibenden, moralischen Verantwortung zu leisten sein, welcher sowohl individuelle als auch soziale Signifikanz zukommt. Erst auf diesem Hintergrund kann dann die Rede von Glaubensoptionen entfaltet werden, als Diskurs eines möglichen und bestimmten Wahlangebots zu kreativ handlungsrelevanter Sinnbestimmung. Daß sich die theologische Argumentation in Wahrung ihrer intellektuellen Redlichkeit dabei stets der universellen, speziell auch philosophischen Diskursfähigkeit zu vergewissern hat, mag als obligat und unabdingbare Voraussetzung gelten.

6.2. Die individualethische Relevanz des christlichen Glaubens Theologische Ethik in individualethischer Orientierung hat sich auf deren spezifischen Reflexionsbereich zu konzentrieren und diesen in seiner Eigentypik wahrzunehmen. Dies bedeutet eine Berücksichtigung der grundlegenden anthropologischen Relation wie der sich daraus ergebenden Fragen und Probleme, unter deren Voraussetzung erst sekundär eine Bedeutsamkeit des Glaubens erwogen und zur Debatte gestellt werden kann. Die Tiefendimension des christlichen Glaubens kann, so gesehen, erst ihre individualethische Relevanz entfalten auf Basis einer vorgängigen, vom Glauben prinzipiell unabhängigen Anerkennung und Sondierung der menschlichweltlichen Faktizität Für die über lange Zeit, was Stellung und Wertung des Subjekts betrifft, belastete Tradition der Moraltheologie ist in diesem Zusammenhang im Interesse einer produktiven Aufarbeitung dieser Eigenproblematik entscheidend, daß sich erst mit der radikalen Anerkennung der existenziell-anthropologischen Gegebenheiten eine Rehabilitation des einzelnen Subjekts (der Subjekte) und seiner (ihrer) Wahrheit ergeben kann in seiner unvertretbaren Qualität als originärer Träger moralischer Verantwortung.

Die individualethische Relevanz des christlichen Glaubens

137

Dieser Gesichtspunkt scheint heute gerade im Hinblick auf den schwierigen Prozeß der Wahrheitsfindung wie der Konkretion ethischer Normen umso dringlicher, insofern sich im aktuellen moraltheologischen Diskurs längst überkommen geglaubte Tendenzen zu Verobjektivierung, Zentralisierung und Verlehramtlichung neuerlich zu artikulieren beginnen. Dem entspricht die Restauration einer christlichen Sonderethik, die den anthropologischen Basisbezug weitgehend aufgegeben hat, wobei der Rückzug in ein Getto postmoderner Zuweisung in Kauf genommen wird; eine auf diese Weise versuchte Unterscheidbarkeit im ethischen Pluralismus der postmodernen Gesellschaft geht freilich Hand in Hand mit dem zunehmenden Relevanzverlust des christlichen Glaubens überhaupt wie seines ursprünglichen Gehalts, was bisweilen zwar kritisiert, häufig aber hingenommen wird. Als verbindlicher Bezugspunkt für den Entwurf eines typisierenden individualethischen Konzepts und damit auch für eine in dieser Hinsicht orientierten theologischen Ethik gilt die Sondierung jener anthropologisch-existenziellen Grundsituationen, unter deren Bedingung sich alltägliches Handeln vollzieht, welche alltägliches Handeln kennzeichnen. In den Blick zu bringen und von besonderem Interesse für die spätere Einbindung der Glaubensperspektive ist dabei die Reflexion jener Doppelerfahrung im menschlichen Dasein, welche sich zwischen praktischer Notwendigkeit einerseits, aufgeschlossen in der Faktizität des „Daß" mit der unabdingbaren und lebensentscheidenden Handlungssetzung oder -Unterlassung und praktischer Möglichkeit andererseits, mit der zentralen Erfahrung eines Handlungs- oder Möglichkeitsspielraums bewegt.19 Diese wesentliche Grundkonstellation und ihre Problematik muß als vom Glauben vorerst unabhängiger Basisbezug des Subjekts angesehen und vorausgesetzt werden, dessen handlungstheoretische Aufarbeitung entsprechend eigenständig durchzuführen ist; wobei zu weiteren, konkreten hermeneutischen wie praktischen Erschließung anzumerken ist, daß die hierfür zuständige individualethische Reflexion von sich aus weder individualistisch noch subjektivistisch verfährt, sondern stets auf eine generische und typologische Allgemeinheit bedacht ist; sie kann in diesem Sinn von ihrer Typologie her als wesentlich pluralistisch angesehen werden, und verläuft so „quer durch die „für jedermann" geltenden universalen oder geschichtlich dimensionierten Normensysteme ".20 Die zuvor erwähnte existentielle Doppelerfahrung des Subjekts ist auf ihre individual- dann aber auch sozialethische Relevanz hin aufzuschließen; ihre Klärung steht im Rahmen des ethischen Grundsatzdiskurses an, der von jedem einzelnen Subjekt selbst und im intersubjektiven Konsens durchzuführen ist. 19 20

Vgl. Krämer, H., Plädoyer für eine Rehabilitierung der Individualethik, Amsterdam: B. R. Grüner, 1983, S. 2ff; Tugendhat, E., Selbstbewußtsein, S. 179, im Anschluß an M. Heidegger. Krämer, H., Plädoyer, S. 3.

138

Theologische Integration

Sie indiziert das wohlverstandene Eigeninteresse am menschlichen Guten, die letztlich entscheidende Frage nach dem Sinn, welche über die eigenverantwortlich zu vollziehende Wahl der guten und richtigen Lebensform ihre theoretisch-praktische Aufhellung wie im eigentlichen dann schöpferisch-ästhetische Ausdrucksweise findet. Die Rationalität ethischer Verantwortung wird sich über diesen Punkt hin zu verständigen haben. Mit der Ausgrenzung des Grundsatzdiskurses und seiner elementaren Ausrichtung auf Sinnwahrnehmung ist nun jener individual-, aber auch sozialethische Kontext gegeben, innerhalb dessen es möglich wird, auf Basis genuin anthropologischer wie theologischer Überlegungen eine zeitgemäße Debatte darüber zu führen, wie sich in der gegenwärtigen Postmoderne der Bezug der Religion oder des christlichen Glaubens plausibel vermitteln ließe, so daß deren ursprüngliche Tiefendimension heute überhaupt noch greifbar werden kann. Die Relevanz dürfte sich konkretisieren in der Reflexion des Entscheidungsprozesses freier, ethico-ästhetischer Selbstbestimmung, wobei der Entwurf eines ethico-ästhetischen Subjekts vorstellbar wird als dem neuen und zukunftsweisenden Subjekt der Glaubenspraxis. Unabdingbar in diesem Zusammenhang scheint dann die Berücksichtigung jener anthropologischen Deutung von Moral, wie sie für die moraltheologische Debatte geöffnet wurde. Der christliche Glaube wird hier grundsätzlich als freies fundamentales Sinnangebot verstanden, welches menschlichem Sein- und Sichentfaltenwollen entgegenkommt, es ermöglicht und trägt21. Der Glaubensbezug kann heute nur noch plausibel und in gewisser Weise diskursfähig werden, als „Anspruch und Sinnangebot an die Freiheit", deren Autonomie dabei anerkannt werden muß22. Damit unterstreicht die moraltheologische Argumentation die Revision des Selbstverständnisses hinsichtlich des Projekts einer mehrschichtigen, kooperativen Gesamtethik. Theologische Ethik vergewissert sich ihrer originären Zuständigkeit in der Reflexion des grundlegenden Sinnhorizonts wie der unabdingbaren Motivschicht des Handelns. Sie orientiert sich an der dritten Grundfrage Kants „was darf ich hoffen?", deren zureichende, sinngebende Beantwortung Voraussetzung für die Sollensfrage bleibt. Sie führt die Konnotation der Hoffnung mit dem Sollensdiskurs fort, in deren Ergebnis die Existenz Gottes zum Postulat der praktischen Vernunft wird, wobei die moraltheologische Debatte darauf bedacht sein muß, Hoffnung als grundlegende Haltung oder Disposition, als eine mehrdimenisonale Gestalt wahrzunehmen, welche in ihrer Komplexität die gesamte Persönlichkeit umfaßt, neben der kognitiven, ganz wesentlich auch die affektiv-emo-

21 22

Eid, V., Zum Verhältnis von Autonomie und Theonomie im christlichen Ethos, in: ThQ 100 (1980) S. 200. Pröpper, Th., „Erst in autonomer Zustimmung kommt Gottes Liebe zum Ziel", in: Herd. Korr. 9 (1991), S. 414.

Die individualethische Relevanz des christlichen Glaubens

139

tionale sowie die volitive Seite berührt, worauf die erwähnte anthropologischexistenzielle Grundlegung Bezug nimmt.23 Die theologische Integration soll in der Vermittlung des christlichen Glaubens das grundlegende Streben nach sinnerfülltem Personsein verifizieren, die existenziell-anthropologischen Grundbedingungen menschlichen Daseins in subjektiver wie in intersubjektiver Hinsicht reflektieren. Aus der Perspektive des einzelnen Subjekts läßt sich der Glaubensentscheid dann feststellen als prinzipielle Wahl, als freie, auf das Angebot und die darin liegende moralische Verantwortung antwortende Stellungnahme in der Weise einer „existenzbestim-menden Verfügung des Menschen über sich selbst"24. Es handelt sich um einen fundamentalen Akt der Selbstbestimmung mit der Option eines „Standpunkts", von dem her die Totalität der Lebensform in einem überzeugenden und tragenden Sinnhorizont integrierbar erscheint und der über die konkrete Strukturierung der individuellen und sozialen Lebensgestaltung vorentscheidet. Der persönliche individuelle Glaubensentscheid wird zum Akt des praktischen Selbstbewußtseins, er ist eingebunden in den Kontext der praktischen Grundfrage, in den eigenständigen Entwurf und die Konstruktion einer übergreifenden Sinntotalität. Das authentische Selbstverhältnis - in seiner wesentlich interaktiven Struktur - konstituiert sich durch das Verhältnis zur Transzendenz; es beschreibt das Sich-zu-sich-Verhalten in der Weise der Selbstbestimmung aus dem Verhältnis, welches zur Transzendenz besteht. Mit der autonomen Wahl der Glaubensperspektive - als einem wesentlich artistischen Akt - konkretisiert sich so das praktische Subjekt zum Subjekt der Glaubensrealisation. Das Sich-selbst-Entwerfen auf den im christlichen Glauben verkündeten Gott, die Wahl einer umfassenden religiösen Sinnbestimmug25 sind als spezifisch autonome Leistungen des Menschen zu sehen, als genuine Konstruktion, als Konstrukt des Subjekts. Die Annahme der im Glauben angebotenen Sinndimension bedeutet so eine schöpferische Stellungnahme zur eigenen Existenz in der Weise eines praktischen Selbstverhältnisses, das sich primär aus der gewollten (willentlich gesetzten) Beziehung zur Transzendenz konstituiert, ermöglicht durch die Zuwendung Gottes. Das Sinn- Hoffnungs- und Heilsangebot des Glaubens und die entsprechende Rezeption in der Weise einer Konstruktiv!tat des Glaubenssubjekts bedingen einander, sind aufeinander bezogen; das Verhältnis ist das einer gegenseitigen Durchdringung. Das Angebot Gottes sucht seinen „anthropologischen Ort", es steht nicht doktrinär oder autoritär für sich allein, 23 24 25

Davis, Ch., Kommunikative Rationali tat und die Grundlegung christlicher Hoffnung, in: Arens, E. (Hrsg.), Habermas und die Theologie, Düsseldorf: Patmos, 1989, S. 96 - 115, hier98f. Eid, V., Sakramente, S. 142; ders., Sittlich bedeutsame Perspektiven aus der Verkündigung Jesu. Christlicher Glaube und sittliches Handeln, in: Dynamik im Wort, hrsg. v. Kath. Bibelwerk e.V., Stuttgart: Verl. Kath. Bibelwerk, 1983, S. 348. Vgl. Eid, V., Verhältnis, S. 200.

140

Theologische Integration

sondern gewinnt erst an Gestalt, findet seine kreative Entfaltung durch die innere Rezeption des Subjekts. Der Glauben ist so in seiner vollen Transparenz gebunden an das Selbstverständnis des Glaubenden26, verleiht diesem umgekehrt erst seine Tiefendimension. Angesprochen ist in diesem Zusammenhang neuerlich das Problem einer Ethik des inneren geistigen Handelns; auf ihre entscheidende Bedeutung nunmehr in Bezug auf den Glaubensaspekt ist an anderer Stelle zurückzukommen. Der anthropologische Ansatz vermittelt hier die wesentliche Einsicht in die artifizielle Struktur von Religion als einer Form menschlicher Wirklichkeitsdeutung. Allerdings handelt es sich um eine Konstruktivität, die vermittelt ist, die verwiesen ist auf eine zuvor- und entgegenkommende Transzendenz, welche sie umfaßt, qualifiziert, im Grunde erst ermöglicht.27 Allein aufgrund dieser geschenkhaft (im Sinne auch von gnadenhaft) eröffneten Tiefendimension läßt sich ihre Hermeneutik in der Weise einer ethisch und insbesondere ästhetischen Freiheitspraxis entfalten, worin sich dann die Identität einer vom christlichen Glaubensverhältnis inspirierten, vorbestimmten Sittlichkeit erahnen läßt. Der in menschlich autonomer Selbstverfügung im Sinne einer frei gewählten Konzeption auf Gott hin gesetzte Anfang eines schöpferisch-freien Handelns findet seine Fortsetzung in der Realisation des geglückten Lebens als neue, tatsächlich ins Werk gesetzte Glaubenspraxis. Diese zentral erstellte die Untersuchung leitende - Grundthese einer ethico-ästhetischen Freiheitspraxis gilt es auszuführen, von ihrem qualitativen Nachweis hängt ein wesentlicher Beitrag zur unabdingbaren Unterscheidung einer christlichen Ethik im allseitigen Pluralismus und Relativsimus der Gegenwart ab. Eine ethisch-theologische Bewertung des Autonomie- und Freiheitsprizips schließt sich dem an, wobei in diesem Zusammenhang auch die überlange, vorwiegend in der Moraltheologie geführte Debatte um das „spezifisch Christliche" einer christlichen Moral neu in den Blick zu nehmen wäre. Die Formulierung und Organisation der Möglichkeit eines neuen und zukunftsweisenden Glaubenssubjekts wie der damit eröffnete neue Qualitätsbezug einer ethischen Praxis setzten die Perspektive der freien, persönlichen Wahl, der autonomen Entscheidung voraus. Das vorgestellte Konzept basiert auf der unumkehrbaren Anerkennung des Status der Freiheit, es indiziert die Anwaltfunktion gegenüber dem autonomen Subjekt. In ihm artikuliert sich jene Verwirklichung von Freiheit, wie sie als Grundlage für die Konstitution jeder ethisch relevanten Subjektivität verbindlich wurde. In dieser Erkenntnisperspektive kann der christliche Glaube als prinzipielles Freiheitsangebot erscheinen und damit auf einer Ebene diskursfähig werden, die es ihm ermöglicht, in der Vermittlung des spezifisch eigenen Gehalts, seine heute weitgehend verlorene Relevanz wieder und neu zu finden. Sie stellt, so die An26 27

Demmer, K., Methodenlehre, S. 90. Eid, V., Verhältnis, S. 200.

Die individualethische Relevanz des christlichen Glaubens

141

nähme, jene notwendige Voraussetzung dar, welche es erlaubt, überzeugende Modelle des guten und richtigen Lebens, des geglückten Menschseins zu entwickeln, auf deren Basis eine heute mehr denn je geforderte Konsensfindung gelingen könnte. Dieser Konsequenz und der in ihr liegenden Verantwortung hat sich jeder Entwurf einer Theorie christlichen Handelns zu vergewissern; sie drängt auf ihre Verwirklichung und konkrete Einlösung; wobei jene Vergewisserung von der Überlegung begleitet ist, daß der Stellenwert einer christlichen Ethik durchaus als essentiell erachtet werden könnte, sie in der postmodernen Pluralität und gleichzeitigen Relativität von größtenteils unvermittelten Ethiktypen und -Vorstellungen eine originäre und auch für das allgemein moralische Bewußtsein der Öffentlichkeit unabdingbare Aufgabe zu erfüllen hätte; die zentrale Erkenntnisaufgabe der Ethik würde sich hier auf die unverkürzte Wahrnehmung des Kerns sittlicher Verbindlichkeit richten; theologische Ethik müßte sich als deren Anwalt erkennbar zeigen. Sie hätte sich über eine plausible Erklärung und Vertretung des Unbedingtheitsanspruchs zu verständigen, von dem her erst der sittliche Grundgehalt auf weisbar wird; dies würde den Rekurs auf ein Unbedingtes voraussetzen, welches - gerade - im Moment der Freiheit zu suchen und zu bestimmen sein dürfte. Der theologischen Ethik würde es hier zukommen, entsprechend ihrem Selbstverständnis darüber praktische Aufklärung zu leisten, sie hätte in diesem Sinne konkrete Orientierungsfunktion zu übernehmen, auch in ihrer Verständigung über das Gelingen universeller Kommunikation.28 Unter diesen Aspekt richtet sich die konkrete Anfrage auch an die katholische Theologie und Kirche. Sie rät zur selbstkritischen Analyse, wobei im Zusammenhang vor allem die aktuelle Moraltheologie wie die Bestimmung ihrer Erscheinungsform im gegenwärtigen Ethikspektrum gemeint sein dürfte und hier wohl in erster Linie das inzwischen größtenteils etablierte Argumentationsmodelle einer sogenannten „Autonomen Moral im christlichen Kontext". Der unverzichtbare Referenzpunkt ethisch theologischer Debatten muß in dieser Hinsicht eine erneute Reflexion des neuzeitlichen Freiheitsbewußtseins sein und des damit implizierten anthropologisch-existenziellen Ansatzes für jeden Entwurf konkreter Moralgestaltung. Die denkerische Aufgabe richtet sich hier auf eine Klärung des Verhältnisses zum Freiheitsprinzip und zum Anspruch der Selbstbestimmung im Sinne unbedingter und autonomer Handlungsfähigkeit mit der prinzipiellen Entscheidungsfrage, inwieweit diese grundlegend bestätigt und auch in der konkreten Praxis ratifiziert werden sollen oder nicht. Unter diesem Gesichtspunkt hat die Moraltheologie in ihrer nachkonziliären Phase eine Neuorientierung versucht, scheint aber doch heute hinsichtlich einer authentischen Wahrnehmung oder Klärung der heuristischen Relevanz 28

Bezüglich der Verantwortung für den universellen ethischen Dialog zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden vgl., Demmer, K., Selbstverständnis, S. 22f.

142

Theologische Integration

des Subjektparadigmas wesentlich zu kurz gegriffen zu haben, womit sich nicht nur die spätere Aufarbeitung, sondern auch die ursprüngliche Rezeption der Autonomievorstellung im nachhinein als problematisch erweist. Der Eindruck verstärkt sich im Blick auf den gegenwärtigen Diskussionsstand, die bisherige Reflexion hat nicht wirklich Weiterführendes gebracht, eine grundsätzliche Veränderung im ethischen Denken ist nicht absehbar, für die Situation bezeichnend, dürfte eine gewisse Ratlosigkeit oder auch Desinteresse sein. Der Autonomiegedanke bleibt im Grunde ein nach wie vor nicht eingelöstes Desiderat, seine gebotene Verifikation bleibt im Verhältnis von eigentlichem Anspruch und dem gegenwärtig eingeräumten Geltungsgrad defizitär, so daß letztlich keine zureichend Stellungnahme oder auch Deutung angesichts des heutigen Kontexte von Moderne oder Postmoderne vorgelegt werden kann, die sich ganz wesentlich auch in einer konstruktiven theologischen Kritik einseitiger, verkürzter Interpretations versuche des Freiheitsprinzips mit einer grundsätzlichen Gefährdung des Subjektbegriffs beweisen müßte, womit eine unerläßliche Aufklärungsarbeit zugunsten und im Dienst der Freiheit zu leisten wäre.29 Der überfällige Versuch, eine sich über Jahrhunderte erstreckende Entzweiung von christlichem Glauben und neuzeitlichem Freiheitsbewußtsein entgegen zu wirken, ist in seinem Ausgang wenig erfolgreich geblieben. Auf die Herausforderung des modernen Freiheits- und Autonomiegedankens ist die entscheidende Antwort bislang nicht gefunden worden, wobei sicherlich die grundsätzliche Ambivalenz in Rechnung zu stellen ist, daß der christliche Glaube ebenso erst zur Ermöglichung des neuzeitlichen Freiheitsbewußtseins beigetragen hat, wie er andererseits mitverantwortlich für die eigentliche Entzweiung ist.30 Es ist - teilweise bilanzierend - davon auszugehen, daß die ursprüngliche Rezeption der Autonomievorstellung innerhalb der katholischen Theologie und Kirche zu wenig differenziert und, gemessen an ihrem eigentlichen subtilen Gehalt, unvollständig, im Grunde oberflächlich ausgefallen ist Die anstehende Fragestellung ist beispielsweise keineswegs schon mit einer „Aktualisierung der thomanischen, schöpfungstheologisch begründeten Konzeption von der relativen Eigenständigkeit der irdischen Wirklichkeit" beantwortet wie eben auch die gezeigten Ansätze im Bereich der gegenwärtigen Moraltheologie die Problematik nicht wirklich zu erfassen oder aufzuhellen vermögen, indem sie auf die in der Wirklichkeit innewohnende Rationalitat rekurrieren und deren Erkennbar- resp. Mitteilbarkeit unter dem Aspekt der sittlichen Verbindlichkeit reflektieren31; so das hinreichend bekannte Konzept, wie es von A. Auer, Ende der sechziger Jahre im Modell einer sogenannten „autonomen Moral im christlichen Kontext" vorgestellt wurde und seither für das ethische Denken bestimmend geblieben ist. 29 30 31

Vgl. dazu Pröpper, Th., Zustimmung, S. 66ff. ebda., S. 41 If. ebda., S. 414.

Die individualethische Relevanz des christlichen Glaubens

143

Ohne die Plausibilität und Notwendigkeit dieses Ansatzes zu bezweifeln und die damit geleistete Grundlagenarbeit in Frage zu stellen, so artikuliert er doch nur einen Teilaspekt innerhalb der Autonomie- resp. Freiheitsdiskussion und bedeutet noch nicht die an sich programmatisch intendierte „Wende zur Subjektivität". Deren konfessionslose Durchführung mit einer auch theologischen Vergewisserung müßte darüber hinausgehen. Sie umfaßt die uneingeschränkte Wahrnehmung der Herausforderung durch die neuzeitliche Freiheitsproblematik mit der Verifikation des radikalen Anspruchs autonomer Subjektivität. Eine Problematik, welche zweifelsohne ihre spezifisch moderne Zuspitzung gerade darin erfährt, „daß auch noch der Geltungsgrund moralischen Sollens im Subjekt selber gesucht wird", Autonomie (in diesem Sinn) dann heißt, daß die Freiheit sich selber Gesetz ist, womit die Ursprünglichkeit und Unbedingtheit menschlichen Handelns in der Weise adäquater Selbstbestimmung definitiv artikuliert ist32 Zu leisten wäre eine klärende Verhältnisbestimmung zum Autonomieprinzip mit der Debatte, inwiefern theologische Denken bereit ist, die Unbedingtheit menschlicher Freiheit - damit der Subjektivität - und ihre in Neuzeit und Miuoderne erhobene Forderung, daß kein Wissen und Handeln relevant sein sollte, welches nicht mit der Freiheit kompatibel wäre, anzuerkennen. 33 Erst auf Hintergrund dieser verbindlichen Zustimmung kann über die Modernitätsund Pluralitätsfähigkeit, über eine heute wieder zu gewinnende Transparenz des christlichen Glaubens entschieden werden. Hier eröffnen sich neu grundlegende ethische Aufgaben, neue theologische und anthropologische Klärungen sind unerläßlich. Der Referenzanspruch des neuzeitlichen Freiheitsbewußtseins mit dem existentiellen Interesse des Subjekts, sich als Prinzip seines Handelns und Erkennens bestätigt zu wissen, verlangt moraltheoretisch eine überarbeitete Sichtung der heuristischen Relevanz, welche dem Subjektparadigma bislang in der moraltheologischen Diskussion eingeräumt worden ist. Damit findet sich hier die angekündigte Neubestimmung der wesentlichen Spezifika wieder mit der Befürwortung eines Perspektivenwechsels in der ethischen Grundorientierung vom primären Sollen zum eigentlichen Wollen des Subjekts. Dem entspricht die für die Untersuchung angenommene und durch sie zu verifizierende These, den Entwurf einer ethischen Theorie im ursprünglichen Selbstverhältnis zu zentrieren und von diesem unverzichtbaren Bezugspunkt der Subjektivität aus das WeltSozial- und Gottesverhältnis zu bestimmen. 34 Die Moraltheologie wird so - entsprechend dem revidierten wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis und Anspruch - zum Anwalt des Subjekts mit der Aufgabe, die Qualität autonomer Freiheit individual- und sozialethisch ab32 33 34

ebda., S. 414. ebda., S. 413. Vgl. die Diskussion in der prakt. Philosophie bei Krämer, H., Plädoyer für eine Lebenskunst, in: Info. Philo. 3 (1988), S. lOff.

144

Theologische Integration

zusichern. Zur Debatte steht die Klärung des autonomen, freien und - so die These - wesentlich ästhetischen Subjekts mit der Garantie tatsächlicher Handlungsselbstständigkeit und nachweisbarer Selbstbestimmungsfreiheit. Unter diesem Aspekt hat die Moraltheologie ihre bisherige ethisch-theologische Argumentation neu zu überdenken und auf überkommene Vorverständnisse oder ungeeignete Paradigmas hin abzuklären, welche zu verfehlter Theoriebildung führen oder angebotenen Begründungen hinreichende Plausibilität verwehren. Die konzessionslose Anerkennung des Autonomieprinzips läßt keinen unmittelbaren Rekurs mehr auf Gott als letztem Geltungsgrund moralischer Normen zu, darauf hat die Begründung einer ethischen Theorie ebenso Bedacht zu nehmen wie sich auch die traditionelle, zwar immer noch mögliche schöpfungstheologische Interpretation kaum noch allgemeiner, auch nötiger philosophischer Diskursfähigkeit vergewissern können dürfte35; darüber hinaus wird es zur vorrangigen Aufgabe werden, gegenüber dem stets latenten Verdacht auf Heteronomie den Anspruch Gottes an den Menschen selbst noch als sittlich verbindlich auszuweisen. Eine unverkürzte Wiedergabe des Autonomiegedankens macht es erforderlich, die Begründung der Ethik autonom zu belassen; so gesehen, scheint eine sehr behutsame und vorsichtige Argumentation hinsichtlich einer genuin theologischen Sinnbestimmung und Integration im weiteren Sinn angeraten. Die Moraltheologie müßte in dieser Hinsicht die Gelegenheit zu einer Vertiefung des christlichen Glaubens wahrnehmen, die reale Chance, dessen humane Bedeutung, grundlegende Wahrheit und Praxis neu zu aktualisieren, indem sie diese auf das Unbedingte der Freiheit im Menschen bezieht und aus diesem Licht neu interpretiert36 Nur unter dieser Voraussetzung kann auch heute noch eine plausible Vermittlung des Glaubens gelingen, als eine Möglichkeit der humanen Sinndeutung, als Anspruch und konkretes Angebot an die Autonomie der Freiheit mit der Kernaussage, „daß Gott selber die Erfüllung menschlicher Freiheit sein will", daß Gottes Liebe - ausschließlich verstehbar als Freiheitsgeschehen auf die unbedingte Freiheit der Menschen setzt und in dieser Sicht erst zu ihrem Ziel kommt, wenn sie ihm aus autonomer, sich selbst verpflichteter Einsicht zustimmen. Es müßte dabei allgemein deutlich werden, daß der Mensch gerade darin sich selber entspricht und zu sich kommt, wenn er sich von Gottes Zuwendung beanspruchen läßt.37 Jede Wahrnehmung der ethischen Rechenschaft hat von dieser theologischdogmatischen Vergewisserung des Freiheitsprinzips her zu erfolgen. Die Chance und Aufgabe der Theologie kann es sein, aufklärend und orientierend zu wirken, den Mensch zu sich selbst zu ermutigen, zur Suche nach sich selbst, zur Berechtigung seiner Ansprüche, Wünsche und Hoffnungen im Wissen, daß der Glaube die freie und autonome Selbstverwirklichung und 35 36 37

Pröpper, Th-, Zustimmung, S. 414. ebda., S. 415. ebda., S. 413-416.

Die individualethische Relevanz des christlichen Glaubens

145

Selbsterkenntnis des Menschen intendiert, ihn dazu befähigt, und sie ihm tatsächlich auch ermöglicht.38 38

Im Hinblick auf das angesprochene ethische Grundinteresse, einer Vergewisserung der Möglichkeit, die Geltung unbedingter Sollensansprüche als begründet denken zu können, legt sich im folgenden eine kurze transzendentalphilosophische Reflexion der menschlichen Freiheit nahe. Transzendentales Freiheitsdenken versucht diese Begründung, „indem es eben die Freiheit als unbedingte Bedingung des Sollensphänomens eruiert und aus der Analyse ihres formal-unbedingten Wesens die obersten Kriterien sittlichen Handelns gewinnt: daß Freiheit sein soll, daß sie als Freiheit nur in unbedingter Anerkennung anderer Freiheit sein kann, und daß sie Verantwortung für eine Welt trägt, in der die Bestimmung jedes Menschen zur Freiheit gefördert wird und ihre gemeinsame Darstellung erhält"; vgl. Pröpper, Th., Das Faktum und die Konstitution menschlicher Identität. Ein Beitrag zur kritischen Aneignung der Anthropologie Wolfgang Pannenbergs, in: ThQ 170 (1990), S. 288f. Ausgangspunkt bildet die gegebene und damit anzuerkennende Unbedingtheit und Ursprünglichkeit menschlicher Freiheit, wobei es freilich gilt, eine ihr wesentliche Antinomie wahrzunehmen. In der Differenz zwischen formaler einerseits und materialer oder existierender Freiheit andererseits, zeigt sich die formale Freiheit, als ursprüngliches Sichverhalten unbedingt, während sie als existierende in vielfacher Hinsicht bedingt scheint und der eigentlichen Erfüllung als nicht mächtig, auf die sie von Grund her angelegt ist. Mit der bleibenden Vergewisserung dieses aporetischen Moments müßte sich die theologische Kritikfähigkeit in ihrer Verantwortung gegenüber der genuinen Freiheitsoption bewähren, indem sie sich zugunsten der Freiheit entschieden gegen die markante Tendenz des neuzeitlich säkularisierten Freiheitsbewußtsein richtet, die formale Unbedingtheit der Freiheit als reale zu interpretieren; vgl. Pröpper, Th., Zustimmung, S. 414ff, ders., Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte, München: Kösel, 1985, S. 66f. Der kritische Widerspruch müßte mit Hinweis auf die Kontingenz menschlichen Daseins gegen den wesentlich verdeutenden und letztlich uneinlösbaren Absolutheitsanspruch erfolgen, mit der Idee totaler Selbstbestimmung, der ein Selbstverwirklichungsstreben entspricht, welches für die gegenwärtige Skepsis am Freiheitsbewußtsein ebenso mitverantwortlich zeichnet wie für die tiefe Krise und Regression, die in Bezug auf jede Geltung autonomer Subjektivität entstanden ist und sich heute konkret im postmodemen Subjektverlust äußert In deutlicher Distanz dazu müßte sich die moraltheologische Argumentation als Anwalt tatsächlich verifizierbarer Selbstbestimmung verständlich machen. Ihr unverzichtbarer Referenzpunkt - insbesondere auch für alle eigenständigen ethisch-theologischen Bestimmungsversuche von Autonomie - kann dabei nur in dem Anspruch liegen, daß Freiheit sein soll, worin sich die für jedwede zeitkritische Ethiktheorie verbindliche ethische Grunderfahrung artikuliert, daß die existierende Freiheit sich selbst zur Aufgabe gestellt ist; vgl. Pröpper, Th., Zustimmung, S. 414ff. Die Selbstbestimmung der Freiheit muß autonom sein, was nur dann gegeben sein kann, wenn sie sich zu sich selber entschließt und sich an ihr eigenes Wesen als Kriterium der Verwirklichung bindet. Damit stellt sich die Frage nach dem angemessenen Inhalt, dem der Maßstab des unbedingten Sichöffnens menschlicher Freiheit entspricht; diesem Anspruch gerecht zu werden scheint dabei nur ein Gehalt, der selber durch Freiheit bestimmt ist, womit letztlich nur andere Freiheit, oder die Freiheit der anderen in Betracht zu ziehen ist Was Freiheit erfüllt, ist zugleich dasjenige, „was ihre Realität als Freiheit überhaupt erst ermöglicht; denn erst in der Affirmation anderer Freiheit ist ja ihr Unbedingtheitscharakter als solcher gesetzt, wird die Unbedingtheit ihres Sichöffnens und Sichbestimmens nicht nur implizit, sondern explizit gemachten verwirklicht"; vgl. Pröpper, Th., Erlösungsglaube, S. 100. Eine authentische Deutung des praktischen Subjekts hat damit zu berücksichtigen, daß im Begriff der Subjektivität immer schon der wesentliche Begriff der Intersubjektivität

146

Theologische Integration

Für die ethische Reflexion ergibt sich in diesem Zusammenhang die künftige Aufgabe, verbindliche Anerkennung von Freiheit im individual- wie auch sozialethischen Bereich abzuklären. Zu berücksichtigen gilt es den mikroethischen Aspekt der inneren geistigen Handlung ebenso wie die manifeste - direkt nachweisbare - äußere Tat des sozialen Verhaltens. Die Anerkennung der jeweils anderen Freiheit gilt als unabdingbar für die eigene Wirklichkeitstransparenz. Freiheit gelangt, so gesehen, erst zu ihrer Erfüllung, indem sie unbedingt anerkannt wird, wobei derartige Anerkennung nur dann real geschieht, wenn sie sich durch tatsächlich nachweisbare Handlungen, Gehalte oder Verhältnisse vermittelt, die das unbedingte Seinsollen des anderen ausdrücken und anfänglich zu verwirklichen suchen. Jedes Subjekt trägt damit in seiner praktizierten Freiheit Verantwortung für eine Gesellschaft und Welt, „durch deren Verhältnisse die Bestimmung aller Menschen zur Freiheit gefördert wird".39 Die kommunikativ-intersubjektive Struktur und Verfaßtheit jedes einzelnen Subjekts wird hier zum individualethisch relevanten Thema. Sie fordert eine Verständigung über die Möglichkeit einer auch prospektiv im Innenbereich menschlichen Verhaltens und Tuns grundgelegten Praxis kommunikativen Handelns, welche mit dem Theoriebezug einer theologischen Ethik kompatibel ist.40 mitgedacht ist, jede isoliert solipsistisch-abstrakte Selbstsetzung oder vermeintliche Selbstgewißheit in diesem Zusammenhang nur als defizitärer Modus des Selbstseins angesehen werden kann, da jene immer ihrer faktischen Möglichkeit nach bereits durch andere Freiheit vermittelt ist. 39 ebda., S. 414f. 40 Hier ergeben sich Ansätze für die explizite Berücksichtigung einer Theorie kommunikativen Handelns im Rahmen der Theologie. In diesem Zusammenhang wurde der Vorschlag gemacht, diese im Rahmen eines fundamentaltheologischen Gesamtkonzepts zu etablieren. Vgl. dazu Peukert, H., Wissenschaftstheorie - Handlungstheorie - Fundamentale Theologie, Düsseldorf: Patmos, 1976; ders., Kontingenzerfahrung und Identitätsfindung, in: Blank, J. /Hasenhüttel, G. (Hrsg.), Erfahrung, Glaube und Moral, Düsseldorf: Patmos, 1982, S. 76-102; ders., Was ist eine praktische Wissenschaft, in: Fuchs, O. (Hrsg.), Theologie und Handeln, Düsseldorf: Patmos, 1984, S. 64-79; ders., Kommunikatives Handeln, Systeme der Machtsteigerung und die unvollendeten Projekte Aufklärung und Theologie, in: Arens, E. (Hrsg.), Habennas und die Theologie, Düsseldorf: Patmos, 1989, S. 39-64. Für den individualethischen Aspekt von besonderem Interesse scheint dabei die dort vorgestellte Subjektkonzeption zu sein. Theologie wird als Theorie eines kommunikativen Handelns verständlich gemacht, welches aus den Zwangssystemen der Selbstbehauptung und den repressiven Formen machtförmigen Denkens, wie sie die neuzeitliche Subjektfassung mit sich bringt, befreit und stattdessen „Gott in seinem Handeln hier und jetzt als zuvorkommende absolute Liebe für den anderen und für sich erinnerend und antizipierend in Anspruch nimmt"; vgl. Peukert, H., Kommunikatives Handeln, S. 55f. Die Grundlegung der Theologie oder die fudamentaltheologische Rede von der Wirklichkeit Gottes wird zurückgebunden an die Analyse einer bestimmten kommunikativen (intersubjektiven) Praxis. Sie geht aus von der Gnindstrukturierung menschlicher Existenz in Intersubjektivität, dem normativen Prinzip, daß das freie Selbstsein des anderen Grundbedingung des eigenen Selbstseins ist, eigene Identität immer nur im bezug zum anderen aufgefunden werden kann; vgl. Peukert, H., Theologie, S. 75ff. Menschliches Dasein ist zeitlich strukturiert.

Die individualethische Relevanz des christlichen Glaubens

147

gekennzeichnet durch den reflexen Bezug zum Tod, im Augenblick des Jetzt. Die Intersubjektivität der sowohl in ihrer zeitlichen Erstrecktheit wie in ihrer konkreten Erscheinungsdimension zu erfassenden Existenz bedeutet dann, daß das „Zugehen auf den eigen Tod im Umgang mit dem anderen auch das Zugehen auf den Tod des anderen, die Anerkennung der zeitlichen Existenz des anderen als die Möglichkeit der Ekstasis in Endgültigkeit" heißen muß; vgl. Peukert, H., Kontingenzerfahrung, S. 94. Dabei zeigt sich, daß in der Unbedingtheit dieses wechselseitigen Anerkennens - als gemeinsames Zugehen auf den Tod - zugleich die praktische Behauptung Gottes vorliegt, als diejenige Wirklichkeit, die den anderen nicht im Tod der Vernichtung preisgibt und aus diesem Grund Hoffnung schenkt, auch selbst im Tod gerettet zu werden. Das gemeinsame solidarische Zugehen auf den Tod erscheint so als hoffendes Zugehen auf Gott, als jener Wirklichkeit, die sich im Tod als bejahend erweist. Solidarisches Bejahen des anderen in der Form zeitlich intersubjektiven Handelns, läßt sich nicht auf Zukunft wie auch auf Vergangenheit hin bezogen, es setzt immer schon die Behauptung einer Rettung des Vernichteten voraus, vom Tod des Todes. Fundamentaltheologisch wird dann die Auferstehung Jesu als ein nicht zu isolierendes Ereignis deutlich, „das die eigene Existenz gerade im Versuch zum Handeln in unbedingter und unbegrenzter Solidarität ermöglicht", womit umgekehrt gilt, „daß diese Rettung im Tod nur begriffen ist, wenn sie sich in der unbedingten Anerkennung der anderen hier und jetzt bewährt"; vgl. Peukert, H., Kontingenzerfahrung, S. 95. Die Auferstehung Jesu bedeutet in diesem Sinn die Ermöglichung einer Existenzweise, welche als „eigenes solidarisches Handeln Gott als die rettende Wirklichkeit für Jesus und im Vorgriff auf die Vollendung für alle behauptet". Der persönliche Glaubensentscheid oder die „Basishandlung des Glaubens" wird dann von ihrer intersubjektiven Struktur her faßbar als eine Praxis kommunikativen Handelns, welche Gott für die anderen und darin für sich selbst anerkennt und ihre Bewährung im konkreten Handeln zu bewähren sucht; vgl. Peukert, H., Kontingenzerfahrung, S. 95; ders: Art. „Fundamentaltheologie", in: HThG 2 (1984), S. 24. Bereits bei der Beurteilung des praktischen Selbstbewußtseins - in dessen Rahmen die Glaubenswahl steht wurde auf den kommunikativen Aspekt verwiesen, der für ein authentisches Selbstverhältnis im Modus der Selbstbestimmung entscheidend ist. Identität wird intersubjektiv konstituiert, der praktische Grundsatzdiskurs wird nicht monologisch, sondern immer schon auf den anderen hin geführt, die praktische Grundfrage immer schon von anderen mit gestellt. Die Entscheidung darüber, wer man letztlich sein will, fällt im Horizont der Entscheidung, wer man für andere sein möchte, womit sich die Verantwortung auf das Selbstsein für andere im eigenen Handeln bezieht; vgl. Peukert, H., Kontingenzerfahrung, S. 87f. Die Hermeneutik der intersubjektiven Handlungspraxis erschließt ein entsprechendes Subjektkonzept. Sie wendet sich gegen die Vorstellung eines autonomen, bereits ausgebildeten Subjekts, das in seiner Kompetenz Wirklichkeit erklärt und frei über sie verfügen kann. Kommunikatives Handeln zielt demgegenüber auf die Genese von Subjekten, setzt von daher seine ethischen Prämissen. In diesem Sinn liegt die Grundnorm in der freien Anerkennung des anderen in seiner Freiheit, was heißt, zu wollen, „daß er im Modus intersubjektiv reflektierter Selbstbestimmung er selbst werden kann". Ethische Subjektivierung meint den Prozeß einer Überführung möglicher Freiheit in ihre reale Entwurfsgestalt; vgl. Peukert, H., Kommunikatives Handeln, S. 59. Die unbedingte Anerkennung der Freiheit des anderen, in der sich - als eine Form des eigenen praktischen Grundsatzdiskurses - der Wille zur Genese seiner Identität resp. seiner Subjektivität artikuliert, richtet sich auch auf eine zukünftige Verwirklichung von Freiheitsmöglichkeiten, die es erst noch im gemeinsamen Handeln zu entwickeln gilt. Angepeilt wird der Entwurf einer Praxis „intersubjektiver Kreativität", aus deren Vollzug Gott als Wirklichkeit - auch hinsichtlich der trinitarischen Grundstruktur - erschließ- und bennenbar wird; vgl. Peukert, H, Kommunikatives Handeln, S. 60.

148

Theologische Integration

Für die theologische wie vor allem auch für die ethische Arbeit von besonderem Interesse ist nun die Frage nach der Präsenz des Gottesbezugs im Vorgang gegenseitiger Anerkennung und Subjektwerdung. Wesentlich erscheint dabei der erweiterte Blick auf die materielle Bedingtheit der menschlichen Freiheit und ihre defizitäre Realisationsfähigkeit. Sie eröffnen die Möglichkeit, eine grundlegende Verwiesenheit des Menschen auf Gott hin anzunehmen in der hierfür entscheidenden Einsicht, „daß das Seinsollen, das Menschen füreinander intendieren, wenn sie unbedingt einander bejahen, von ihnen selber nur anfänglich, nur bedingt und vorläufig realisiert werden kann'**1, jederzeit vom Scheitern bedroht bleibt; so gesehen, verweist der Vollzug zunächst selbst, „sofern er unbedingt ist, auf die Idee einer allen Gehalt und sich selbst unbedingt eröffnenden Freiheit, d.h. einer Freiheit, die als Einheit von unbedingtem Sichöffnen und unvermittelter Fülle des Inhalts nicht nur formal, sondern auch material unbedingt wäre und insofern vollkommen genannt werden könnte".42 Damit wird die Frage nach der Überzeugungskraft und -kompetenz der christlichen Theologie für eine mögliche Letztabsicherung jener gegebenen Unbedingtheit der Freiheit virulent, deren verbindlicher Bezug erst moralisch orientiertes Handeln erschließt. In diesem Zusammenhang ist nun entscheidend, daß in der Idee Gottes genau jene Wirklichkeit gedacht wird im Sinne vollkommener, nicht nur formal, sondern auch material unbedingter Freiheit, „die Menschen voraussetzen müssen, wenn sie das unbedingte Seinsollen, das sie im Entschluß zu sich selbst und zu anderer Freiheit intendieren, als begründet und somit überhaupt als möglich denken wollen". Eine Ablehnung Gottes im Gegenzug würde aus diesem Grund die menschliche Freiheit in einen Widerspruch bringen zu dem, „was sie will, wenn sie tut, was sie - sich selber verpflichtet - tun soll".43 Als unzutreffend dürfte hier der Einwand einer Funktionalisierung Gottes gelten, da Gottes Zuwendung - als „Selbstmitteilung von Freiheit an andere Freiheit" - grundsätzlich frei bleibt und letztlich nur als freie, in ihrer Freiheit autonom gewollte und anerkannte, diejenige Freiheit, welche jedes einzelnen Subjekt repräsentiert, zu erfüllen vermag.44 Für die moraltheologische Argumentation ist an dieser Stelle grundsätzlich zu wiederholen, daß die Sondierung einer Begründungskompetenz des christlichen Glaubens hinsichtlich des Autonomie- resp. Freiheitsgedankens heute nur in einer sehr vorsichtigen und behutsamen Weise geschehen kann und ausschließlich über eine anthropologische Vermittlung zu leisten ist; dies erfordert die Bereitschaft einer vorgängigen Anerkennung anthropologischer Grundgegebenheiten in ihrem eigenständigen Bezug und ihrer Dringlichkeit, auf deren Basis sich ethisch-theologisches Denken dann um eine Integration 41 42 43 44

Pröpper, Th, Zustimmung, S. 415. Pröpper, Th., Erlösungsglaube, S. 103. Pröpper, Th., Zustimmung, S. 415; ders., Erlösungsglaube, S. 103f. ebda, S. 412.415.

Die individualethische Relevanz des christlichen Glaubens

149

der Grundwahrheit einer christlichen Theologie bemühen muß. Wird unter diesem Aspekt die Idee Gottes als „vollkommene Freiheit" oder als „Sinnbedingung menschlich-unbedingter Anerkennung" in Betracht gezogen, so kann diese eben nur als sublimer Versuch gewertet werden, eine bestimmte Möglichkeit der Deutung oder Sinnbestimmung vorzuschlagen. Mit der Einführung und inhaltlichen Präzisierung des Gottesbegriffs unter den Primärprädikaten von geschichtlicher Selbstoffenbarung und freier Mitteilung wäre hier allerdings eine Basis erreicht, welche eine neue Vermittlung von christlicher Erlösungsbotschaft und neuzeitlich säkularen Freiheitsbewußtsein in Aussicht stellen könnte. Theologisches wie ethisch-theologisches Denken, das sich verbindlich dem Freiheitsdiskurs - darin der Subjektivität - verpflichtet weiß, könnte auf dieser Ebene eine prinzipielle Ansprechbarkeit und Verwiesenheit der menschlichen Freiheit auf einen Gott aufzeigen und zur Debatte stellen, von dem sie sich wie Freiheit von anderer Freiheit unterscheidet und über dessen Wirklichkeit sie nicht mehr verfügt; In dieser Hinsicht ließe sich der christliche Glaubenskontext für gegenwärtiges Freiheitsverständnis als durchaus mögliche und auch sinnvolle Option vertreten.45 Er bietet eine plausible und auch diskursfähige Sinnbestimmung an, welche sich in ethisch-praktischer Hinsicht mit der grundlegenden Motivation moralischen Handelns als unabdingbar erweist und von jedem eigenständigen Ethikkonzept, sofern es auf Letztabsicherung oder -begründung bedacht ist, in irgend einer Form geleistet werden muß. Theologische Ethik kann sich hier in ihrer genuinen Anwaltfunktion bewähren, die sie gegenüber der ursprünglichen Phänomenalität unbedingten Sollens übernommen hat und über deren Vertretung sie sich im gegenwärtigen moralischen Bewußtsein der Öffentlichkeit verständigen muß. Sie kann in diesem Sinn praktische Orientierung anbieten für eine zeitkritische Durchsetzung der Freiheits- resp. Subjektoption im individualethischen wie auch im sozialethischen Bereich. Beide Gebiete sind auf verbindliche, verpflichtende Anerkennung hin abzuklären, auf deren vorgängigen Bezug jeder Akt eigenständiger Freiheit, jeder Prozeß von Subjektwerdung und autonomer Glaubenszustimmung verwiesen bleibt.46 Entsprechend dem individualethischen Forschungsinteresse gilt zunächst als vorherrschender Integrationspunkt die Selbstsorge des Subjekts im ethisch-praktischen Grundstzdiskurs; jenem umfassenden Entwurf von Selbst- und Weltgestaltung, welcher von seiner inhaltlichen wie von seiner praktischen Entfaltung her nicht monologisch, sondern wesentlich intersubjektiv zu verstehen ist im Sinne gemeinsamer ethico-ästhetischer Subjektwerdung, ausgerichtet auf einen ebenso nur intersubjektiv zu gewinnenden Wahrheitsbezug. Die explizite Verrechnung der intersubjektiven Dimension im Subjekt wie im Wahrheitsverständnis ist eine der wesentlichen Aufgaben und Zielrichtungen der fundamentaltheologischen Arbeit, deren Transparenz es ermöglicht, 45 46

Pröpper.Th., Erlösungsglaube, S. 104. Pröpper, Th„ Zustimmung, S. 416f.

150

Theologische Integration

selbstverpflichtete Freiheit gegenüber jeder Form abstrakter Selbstsetzung und Selbstgewißheit auf ihre unbedingte Verantwortung dem anderen gegenüber hin anzusprechen. Der so im Vollzug eigenverantwortlich-autonomer Freiheit fundierte und dort abgesicherte Verpflichtungsgrad erfordert es, den anderen bei der täglichen Führung seines praktischen Grundsatzdiskurses zu begleiten, diese in ihrer unaufschiebbaren Dringlichkeit zu lenken, sie allenfalls erst freizulegen resp. durchzusetzen, und auf diese Weise konkrete LebensOrientierungs- und Entscheidungshilfe zu leisten. Der Einzelne bereitet in diesem Sinn jene therapeutische, ratgebende und -nehmende Praxis vor, deren systematische Reflexion und Deskription einer ausgewiesenen Individualethik obliegt47

6.3. Das ethico-ästhetische Subjekt als neues Subjekt der Glaubenspraxis Die kritisch-konstruktive Auseinandersetzung der Moraltheologie um eine Theorie christlichen Handelns bedenkt die Rehabilitation und Neueinschätzung der Subjektivität des Handelnden. Im Entwurf des bereits mehrmals erwähnten ethico-ästhetischen Subjekts als neuem und authentischen Glaubenssubjekt ist das primäre Diskursanliegen der Untersuchung erreicht. Dessen zunächst noch experimentelle - Realisation soll als Paradigma eines neuen kreativ-schöpferischen Lebensvollzugs (-Stils) im individual- wie im sozialethischen Bereich gelten. Die Sichtung der ethischen Rechenschaft wird von daher zu erfolgen haben. Dieses Bekenntnis zum Subjektsein, wie läßt es sich erfüllen? Wie läßt sich der Herausforderung durch den Glauben entsprechen, im Hinblick auf die Wahrnehmung von Freiheit und Autonomie des Subjekts? Wie sollte die Identitätsbildung angelegt werden, welche Fähigkeiten oder Eigenschaften wären auszubilden und zu fördern, welche Verhaltens- und Handlungsweisen adäquat? Das Vorhaben oder auch das Experiment der Selbstwerdung - wohin führt es und wie ist es zu bestehen? Der Begriff des ethico-ästhetischen Subjekts der Glaubensrealisation ist nun näher zu diskutieren im Hinblick auf modellhafte Vorstellungen für eine praktische Entfaltung. Der Entwurf des ethico-ästhetischen Subjekts soll eine Form der freien und schöpferischen Selbstverwirklichung aufzeigen, die durch eine grundlegende Dialogfähigkeit und -praxis ebenso wie durch die Wahrnehmung eines kreativen und verantwortlichen Handelns ausgezeichnet ist. Intendiert ist die Totalität der Persön-

47

Vgl. Krämer, H., Plädoyer, S. 4ff. Krämers Überlegungen zur Aufgabe einer Individualethik im Bereich der gegenwärtigen philosophischen Ethik sind in diesem Zusammenhang durchaus auch für eine genuine theologische Ethik relevant.

Das etbico-ästhetische Subjekt

151

lichkeit, ihre Einmaligkeit und Einzigartigkeit soll betont und anerkannt sein, im Anspruch, daß diese Gewißheit gerade eine nach ethisch-ästhetischen Richtlinien und Prinzipien ausgelegte Existenz im Glauben gestattet, daß die darin enthaltenen Orientierungen die spezifisch individuelle Entwicklung anregen, formen und tragen. Transparent werden muß die eigenständige, schöpferisch denkende und handelnde Persönlichkeit, der, so gesehen, ein je individuelles Künstlertum zu eigen ist, welches in einer kunstvollen Art der Selbstund Welterfahrung, der Verhaltens- und Handlungsweise wie der Lebensgestaltung überhaupt seinen konkreten Ausdruck findet. Die Überlegungen zur Realisation des ethico-ästhetischen Subjekts verlangen eine Reflexion des Begriffs der Phantasie, eine Feststellung seines möglichen Bedeutungsgehalts. Das damit erhobene Verständnis von Phantasie ist deutlich zu machen, es gilt - worauf zurückzukommen ist - die nähere Funktion der Phantasie in diesem speziellen Kontext zu beschreiben, ihre heuristische und eudämonistische Relevanz abzuklären. Im Zusammenhang damit steht ein zweiter Aspekt muß sein: da die Verwirklichung des ethico-ästhetischen Subjekts notwendigerweise von seinen Fundamenten und Bedingungen her zu erfassen ist, bedingt dies, insbesondere im Rahmen ethischer Theorie, in der Konsequenz die Thematisierung und Aufarbeitung einer Ethik der inneren resp. geistigen Handlung. Ein dritter Aspekt: die Konstitution des ethico-ästhetischen Subjekts der Glaubensrealisation gründet sich wesentlich auf seine Dialogfähigkeit und -praxis; der damit gegebene Sozialbezug wird zu präzisieren sein. Einer spezifischen Erörterung, vor allem auch im Hinblick auf die Verbindung von Glaube und Ästhetik, bedarf die Sinnfrage ganz allgemein, im Anschluß daran stellen sich die Fragen der Lebensgestaltung. An dieser Stelle sei hier angesichts des letzten Fragenbereichs bemerkt: gleichsam in der Mitte einer ethisch-ästhetischen Existenz aktualisiert sich das Streben, die Sehnsucht und Suche nach dem Guten, dem Wahren und dem Schönen, die sich - in der Integration des christlichen Glaubens - realisieren will; konkretisiert im Willen und im Bemühen, ein richtiges und gutes Leben zu führen und darin persönliche Verwirklichung und Erfüllung zu finden wie auch in der Absicht, eine allgemeine Vorbildfunktion wahrzunehmen. Gewiß werden sich so Erfahrungen des Gelingens und des Glücks jenseits von Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit einstellen; andererseits ist zu bedenken, daß es sich - gerade auch im Bezug auf die Wahrung der Autonomie der Persönlichkeit und ihres kreativen Denkens, ihres schöpferischen Handelns um ein bewußtes und konsequentes Experiment handelt, das Fehler und Verfehlungen nicht ausschließt, das auch mißlingen kann. Das Vorhaben der Realisation des ethico-ästhetischen Subjekts kann und soll von grundlegenden Lebens- und Seinsproblemen nicht absehen, allen voran, der Bewältigung des Todes; einer Integration der negativen Seiten der Existenz ist aus diesem Grund spezielle Aufmerksamkeit zu schenken.

152

Theologische Integration

In der Verbindung von Glaube und Ästhetik wäre auf Basis der angestrebten Selbstverwirklichung die Wahrnehmung auf folgenden Aspekt zu richten: gerade in einer ästhetischen Prinzipien gehorchenden Ausrichtung und Selbsterziehung bildet sich die Fähigkeit heraus, offen und ansprechbar zu sein für die positiven Erfahrungen, für Eindrücke und Wahrnehmungen des Schönen, des Harmonischen, die sich in der Folge mit der Einsicht oder Erkenntnis des Guten und Wahren verbinden. Lebensfreude, Glück, Begeisterung und Dankbarkeit, sie können umso tiefer empfunden und verankert werden, wenn sie auf die Dimension des Glaubens treffen, in seiner Wahrheit aufgehen können. Eine ethisch-ästhetische Selbstrealisation wird die Durchdringung und Klärung des Bewußtseins voraussetzen, sodann eine Schulung und Sondierung der Wahrnehmung, eine differenzierte und kreative Auseinandersetzung mit den eigenen Bewußtseinsinhalten nach sich ziehen; solche Kriterien stehen jedoch nicht bloß im Dienst eines bestimmten Ästhetikverständnisses, sie verhelfen zu einer gesteigerten Selbst- und Welterfahrung, regen die Aufnahme und die Fähigkeit zur Anteilnahme an; öffnen und sensibiliseren für die unterschiedlichsten Eindrücke und Erfahrungen, intensivieren die Erlebnisfähigkeit, was sich im gesamten Verhalten der Persönlichkeit niederschlägt, ihren Umgang mit sich selbst wie mit den anderen bestimmt. Mit diesen - hier kurz angerissenen - Gesichtspunkten läßt sich deutlich machen, daß Ethik und Ästhetik in einen umfassenden, fundamentalen Zusammenhang stehen und dieser gegebenenfalls herzustellen ist, unverzichtbar vor allem dort, wo der Bezug einer Ethik der inneren Handlung transparent ist und es notwendig wird, diesen Bereich als Verstehens- und Deutungszusammenhang aufzuschließen. Es ist davon auszugehen, so die leitende These, daß der christliche Glaube eine ethisch-ästhetische Entfaltung und Existenz nicht nur begünstigt, sondern sie sogar vorsieht und fordert Dabei ist zu betonen, daß vor allem die Phantasie resp. die Vorstellungskraft oder das Vorstellungsvermögen, einschließend die schöpferischen Kräfte des Menschen, in einer hochaktiven Wechselwirkung im Verhältnis zum Glauben steht: die Phantasie wird durch den Glauben angeregt, wird intensiviert, erweitert und vertieft; andererseits aber ist zu unterstreichen, daß der Einsatz der Phantasie unerläßlich ist, um überhaupt den Glaubensakt vollziehen, das Glaubensgeschehen erhellen und erfassen zu können.48 48

Ein kurzer Verweis auf die Einsicht von U. v. Balthasar sei hier gebracht, die ebenso die wichtige Rolle der Phantasie für das Glaubensverständnis und -gesehen erkannte und ihre humanisierende, verbindende, im Hintergrund wirkende Kraft würdigte. Auf die Phantasie (oder Einbildungskraft) müsse man sich besinnen und konzentrieren, „wenn man von natürlicher und philosophischer Weltdeutung zur christlichen Theologie übergeht. Wenn diese zentral von Menschwerdung des göttlichen Wortes handelt, wird das menschliche Zentrum, die Einbildungskraft mit belangvoll, ja so inständig angesprochen, wie nie zuvor". Freilich, so räumt Balthasar ein, würde es da niemals genügen, bloß die eigene Einbildungskraft zu pflegen und zu kultivieren, sondern man müsse sich schon einschwingen „in die Bewegung Jesu" und ihm als „dem Weg" nachfolgen wollen. So gesehen, kann es keine „theologische Wahrnehmungslehre

Das ethico-ästhetische Subjekt

153

Selbstverwirklichung, die sich erklärterweise auf die kreativen Fähigkeiten und Optionen stützt, die auf die Phantasie, als auf ein dafür entscheidendes Element baut, die sich auch befreit, eigenständige und konstruktive Entscheidungen und Handlungen zutraut und abverlangt, die sich einläßt auf offene Herausforderungen, kommt dem Glauben entgegen, vermag ihn zu erfüllen. Das eigene Leben (wie auch das der anderen), begriffen als Kunstwerk, als Seins- und Gestaltungsweise unter dem künstlerischen Aspekt - es ist gerade die Potenz des Glaubens, die sich darauf beziehen läßt, es ist die Dimension des Glaubens, die eine so bewußte, vielfältige und anspruchsvolle Entwicklung freisetzt und trägt; mit der Frage nach der Kompetenz der Phantasie im Verhältnis von Glaube und Eudämonie ist dies näher zu präzisieren, wobei sowohl das Ganze, der große Zusammenhang einer ethico-ästhetischen - in bestimmtem Sinn - künstlerischen Existenz, als auch ihre jeweiligen Detailfragen, die Vermittlung bis in die kleinsten Einzelheiten im Blick behalten werden müssen. Die freie und autonome Wahl der Glaubensperspektive impliziert eine Ganzheitlichkeit der Lebensform, umfaßt die individuelle wie soziale Lebensgestaltung. Die Annahme des Glaubens eröffnet die Befähigung zur Freiheit, wie auch das grundlegende Bewußtsein davon; sie fordert heraus zu konstruktiver Bewältigung, eigenständigem Entscheiden, schöpferischen Planen und Handeln. In der Verbindung mit dem Glauben erschließt sich für den Menschen erst gültig seine neue Dimension von Autonomie als ein tatsächlicher Status: nämlich, daß er als Glaubender beglaubigt, in seiner Autonomie anerkannt und seine Bestimmung zur Freiheit offenbar ist; ihm der Auftrag zur Initiative einer freien, schöpferischen Selbstverwirklichung gegeben ist. Diese Bestimmung zur Autonomie fordert heraus zu eigenständiger Entfaltung und Entwicklung, zu schöpferischer Aktivität, schließt aber auch die Möglichkeit des Irrtums und des Scheiterns mit ein; den sich bietenden und erwachsenden Chancen entsprechen umgekehrt Schwierigkeiten und Hindernisse, die zu Verfehlung und Mißlingen führen können. Zweifellos bedarf es eines sehr differenzierten und verantwortungsbereiten Umgangs mit den sich dem Bewußtsein eröffnenden Möglichkeiten. Um die Herausforderungen der Freiheit annehmen zu können, um sich auf sie einlassen, sie in ihren entscheidenden Dimensionen wahrnehmen zu können, sind entsprechende Vorgangsweisen und Leistungen unerläßlich. Hier erscheint der Einsatz der Phantasie adäquat, welche - eingeführt als eine auf die Ganzheitlichkeit des Menschen zielende Potenz - alle Fähigkeiten und Kräfte zusammenführt, sie zu einem schöpferischen Vermögen bündelt und somit beiträgt zur Versöhnung und Heilung der Zwiespältigkeit des modernen Menschen, seiner Zerrissenheit von Rationalität und Emotionalität. An die Tätigkeit der Phantasie oder an das „phantasierende Denken", als einer (.Ästhetik") geben ohne eine Lehre von der kämpfenden Konfrontation („Dramatik")", Balthasar, H. U. v.. „Herr, daß ich sehe!", S. 214; 217

154

Theologische Integration

intensiven, bewußten, ja höchst entwickelten geistigen Aktivität49, kann zurecht der Anspruch erhoben werden, umfassende Klärungen zu vollziehen, Ordnungen aufzudecken, Einsichten zu ermöglichen und sodann fruchtbar zu werden für die Lösung der Aufgaben oder Problemstellungen menschlicher Existenz; wie überhaupt die Phantasie ihre besondere Relevanz im Wirken um die Erfüllung und das Gelingen menschlichen Seins erfährt. Hervorzuheben ist die Bedeutung und Präsenz der Phantasie resp. der menschlichen Vorstellungskraft, wenn es darum geht, unter dem Aspekt der Zustimmung zum christlichen Glauben das Leben zu planen und zu gestalten; vor allem, wenn die neu gewonnene Dimension von Autonomie wahrgenommen und auch verantwortet sein will. Das Grenzen und Schwellen überschreitende Streben des phantasierenden Denkens prädestiniert dazu, Freiheit und Freiräume zugänglich und annehmbar zu machen; es ist ein offenes und gelöstes Denken, ein lebendiges, das der Erstarrung, der Stagnation, der Gewohnheit entgegenwirkt und auch den Versuch, die Vision zuläßt oder einschließt. Der hier aufgezeigte Weg weist in das Zentrum christlicher Theologie, in den Bereich der Spiritualität, der Dimension der mystischen Erfahrungen50, der Mitteilungen des Geistes Gottes. Das phantasierende Denken erscheint geradewegs dazu prädestiniert, das vorzubereiten und zu verarbeiten, was Rahner „Geisterfahrung"51 nennt. Die Sensibilisierung für solche außergewöhnlich geheimnisvolle und paradoxe Erfahrungen inmitten des Alltäglichen, die 49 50

51

Vgl. Hohl, L., Arbeiten, passim. Vgl. dazu den Begriff Mystik bei Rahner: „Wenn man unter Mystik nicht seltsame parapsychologische Phänomene versteht, sondern eine echte, aus der Mitte der Existenz kommende Erfahrung Gottes, dann ist dieser Satz sehr richtig und wird in seiner Wahrheit und seinem Gewicht in der Spiritualität der Zukunft deutlicher werden. Nach der Schrift und richtig erfaßter kirchlicher Lehre kommt nämlich die letzte Glaubensüberzeugung und -entscheidung letztlich nicht bloß aus einer von außen kommende lehrhaften Indoktrination, die von einer profanen oder kirchlichen Öffentlichkeit abgestützt wird, noch einer bloßen fundamentaltheologischen, rationalen Argumentation, sondern aus der Erfahrung Gottes, seines Geistes, seiner Freiheit, die aus dem Innersten der menschlichen Existenz aufbricht und da wirklich erfahren werden kann, auch wenn diese Erfahrung nicht adäquat reflektiert und verbal objektiviert werden kann. Geistbesitz ist nicht eine Sache, deren Gegebenheit uns nur von außen lehrhaft indoktriniert wird, als eine Wirklichkeit jenseits unseres existentiellen Bewußtseins (wie große theologische Schulen vor allem der nachtridentinischen Theologie behaupten), sondern wird von innen her erfahren"; Rahner, K., Praxis, S. 45f. ,^ütten in unserem Alltagsbewußtsein sind wir die auf namenlose, unumgreifbare Unendlichkeit hin Beseligten, oder Verdammten (wie man will). Die Begriffe und die Worte, die wir nachträglich von dieser Unendlichkeit, in die wir dauernd verwiesen sind, machen, sind nicht die ursprüngliche Weise solcher Erfahrung des namenlosen Geheimnisses, das die Insel unseres Alltagsbewußtseins umgibt, sondern die kleinen Zeichen und Idole, die wir errichten und errichten müssen, damit sie uns immer aufs neue erinnern an die ursprüngliche, unthematische, schweigend sich gebende und gebend sich verschweigende Erfahrung der Unheimlichkeit des Geheimnisses, in dem wir bei aller Helle des alltäglichen Bewußtseins wie in einer Nacht und weiselosen Wüste beheimatet sind; die uns erinnern an den Abgrund, in dem wir unauslotbar gründen"; ebda., S. 129f.

Das ethico-ästhetische Subjekt

155

nötige Interpretation, all dies erfordert ein erweiterndes und übersteigendes Denken, ein wahrhaft frei bewegliches, ganzheitliches Denken, wie es mit dem Einsatz der Phantasie möglich wird. Die Achse zwischen Glauben und Freiheit wird sich so bestätigen in ihrer Dynamik und Effizienz; ursprüngliche und wesentliche Verschränkungen dieses Begriffspaars können vom Denken mit Phantasie aufgenommen und umgesetzt werden; indem die Vorstellungskraft zwischen dem Möglichen und Wirklichen pendelt, Abstraktes und Konkretes vermittelt, so gleichsam Theorie und Praxis eint, zeigt sich ihre maßgebliche Eignung, ethisch-praktische Fragen der Lebensführung - auch präventiv - aufzugreifen, auslegend zu wirken und damit zu einer tatsächlich erfüllenden Bewältigung des Daseins und der damit verbundenen Herausforderungen beizutragen. Insofern scheint es berechtigt, die Phantasie in ihrer eudämonistisehen Funktionen für die ethische Theoriebidlung heranzuziehen; insbesondere aber auch dann, wenn Ethik unter dem Aspekt des christlichen Glaubens betrachtet und betrieben werden soll; auf das inspirierende Vermögen, auf die lebendige und schöpferische Kraft der Phantasie, auf ihre Gabe zu emphatischen Verstehen ist zurückzukommen, wenn sittliche Lebensentwürfe ausgearbeitet, hochethische Vorstellungen durchgesetzt werden sollen; etwa in Hinblick auf die Entfaltung oder Verwirklichung der Persönlichkeit in ihrer Ganzheit, auf die entsprechend gesteigerte und sensibilisierte Lebensgestaltung, die differenzierte Wahl der Lebensziele; die synthetisierenden Kraft der Phantasie dirigiert die eigenverantwortliche und im intersubjektiven Konsens zu leistende Gestaltung des sittlichen Grundsatzdiskurses, leitet und lenkt den diffizilen Entwurf einer übergreifenden Lebensorientierung. Die Vorstellung des ethico-ästhetischen Subjekts erhoben zu einem Subjekt der Glaubenspraxis bedarf zur Realisierung der Phantasie, insofern es gilt, eine ganz bestimmte Beschaffenheit des Lebensvollzugs zu verfolgen wie auch eine spezifische Interpretation der Totalität der Persönlichkeit und der ihr möglichen Entwicklungen und Fähigkeiten durchzusetzen; wobei die innige Beziehung und gegenseitige Verschmelzung von Phantasie, Autonomie, Kunst und Leben deutlich werden soll, und diese Einheit wiederum an den christlichen Glauben zurückzubinden ist. Wenn einsichtig ist, daß der Mensch zu eigenverantwortlicher Selbst- und Weltgestaltung aufgerufen ist, in jedem Fall also seine Initiative wie sein schöpferisches Realisieren unabdingbar gefragt sind, um Gelingen und Erfüllung erwarten zu können, so ist es nur angemessen, daß er sich verstärkt an seine Gabe zur Phantasie wendet, sich ihren Funktionen anvertraut, sich von ihrer inspirierenden wie synthetisierenden Kraft leiten läßt. Als wesentliches Kriterium phantasierenden Denkens, an dem es sich letztlich zu bewähren hat, ist die Hermeneutik der Sinnfrage zu nennen, die nun im spezifischen Kontext einer Ethik der inneren Handlung anzusprechen ist. Die ethische Theorienbildung in der Perspektive des christlichen Glaubens soll von der Vorstellung ausgehen, daß der Mensch ganzheitlich oder in seiner

156

Theologische Integration

Ganzheitlichkeit zu erfassen und zu verstehen ist. Dieses erkenntnisleitende Interesse an einer integrativen, ethico-ästhetischen Erschließung des Handlungssubjekts in der Totalität seiner Lebensführung begründet die Notwendigkeit einer expliziten Hermeneutik der inneren, geistigen Handlung als einem sehr komplexen und diffizilen Vorfeld der (real-nachweisbaren) äußeren Handlungspraxis. Es ist erforderlich, den - strebensethischen - Reflexionsbereich auf die Bewußtseins- und Gedankenwelt zu lenken, Rechenschaft zu geben über die geistig-gedankliche Tätigkeit des Subjekts bei der Wahrnehmung und Erörterung von Sinn, bei der Konstruktion seiner Welt und Umwelt im allgemeinen, in der es lebt. Das Interesse an dem Entwurf und der systematischen Erfassung einer Ethik der inneren Handlung verstärkt sich unter dem Gesichtspunkt der Theologie. Es gilt zu bedenken, wie sich der Prozeß der ethischen Subjektivierung auf Basis des persönlichen Glaubensentscheids im mikroethischen Bereich der Innenwelt darstellt resp. zu konzipieren ist mit ihrer je eigenen Raum- und Zeitwahmehmung, aus deren Horizont so die eigene Seins- und Sinnperspektive zumindest annähernd verstehbar werden könnte. Wenn die von Gott gewollte Freiheit und Autonomie anerkannt und ausgeübt wird, so bedeutet dies vorrangig eine innere Auseinandersetzung und Produktivität; dem Menschen eröffnet sich die Freiheit zu einem schöpferischen inneren und äußeren Tun in Abstimmung zu seinem Glaubensentscheid, wobei sich das Werden des Subjekts der Glaubensrealisation aus dem praktischen Subjekt stetig aktualisiert. Über eine derart mögliche christliche Ethik der inneren Handlung nachzudenken, Richtlinien und Vorstellungen diesbezüglich zu entwickeln, sich auf innere Vorgänge und Bewegungen zu konzentrieren, Strukturen, Inhalte und Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, so geistige Entscheidungen und Handlungen wahrzunehmen und zu differenzieren, bedeutet eine Herausforderung, die schwierig, gleichzeitg verlockend sein kann, in jedem Fall aber - angesichts der vielschichtigen und auch diffizilen Problematik - großer Vorsicht und Behutsamkeit in der Vorgangsweise bedarf. In der Gedankenwelt, als der „ursprünglichen Lebenswelt, aus der heraus die Entscheidungen fallen", findet die genuine Vermittlung des Glauben statt52; wo demnach die individuelle Selbst- und Welterfahrung, die Wahrnehmung ihrer Wirklichkeit und Wahrheit auf die Gültigkeit des Glaubens, auf seine Wirklichkeit und Wahrheit trifft; wo schöpferische Erfassung und Erkenntnis wie Ausdeutung (des einen im anderen) freizusetzen und zu leisten ist und wo es in der Präsenz der Sinnfrage, Sinndeutung und Sinnfindung vorzunehmen und zu bewältigen gilt. Die Konstruktivität, Fruchtbarkeit, die Folgewirksamkeit dieser Begegnung in Bezug auf die Existenz des Individuums wird sich an dessen ganzheitlichen, aktiven Einsatz (in der Voraussetzung seiner Bereitschaft und Aufnahmefähigkeit/-willigkeit) messen. 52

Demmer, K., Wahrheit, S. 50ff.

Das ethico-ästhetische Subjekt

157

Eine der wesentlichen Erfahrungen des inneren (geistigen) Menschen stellt jene der Zeit und Zeitlichkeit dar. Zu dieser Thematik wurde in einer bemerkenswerten Stellungnahme auf die Signifikanz der Verbindung von Zeit und Sinn für den modernen Menschen hingewiesen, und hier der Ort aufgezeigt, an dem die eschatologische Dimension des christlichen Glaubens für die Bestimmung eines Ethikkonzepts in der gegenwärtigen spät- oder postmodernen Lebenswelt neue Bedeutung und Virulenz gewinnen könnte.53 Ohne den darin sich zeigenden und zu beachtenden eschatologischen Hoffnungshorizont würde dem Christentum ein Fundament zur ethischen Orientierung verlorengehen; aus dem eschatologischen Glauben könne zwar keine unmittelbar konkrete Handlungsorientierung entnommen werden, evident sei aber - spätestens seit Kant - daß ein Ethos, überhaupt jedes Projekt von Ethik unhaltbar wäre, stünde es nicht im Horizont von Hoffnung. Die Aussicht einer Synthese von Zeit und Sinn sei so ausgerechnet für den zeitgenössischen Menschen bedeutsam, da die Zeit von ihm erfahren werde als ein Zusammenhang, in dem keine Zukunft existent sein, entweder, „weil die Zukunft vom vergangenen Handeln des Menschen immer schon zu ihrem Unheil determiniert (sei), oder weil die Zukunft einbezogen (sei) in eine ewige Wiederkehr des Gleichen, (d.h.) in eine Evolution der Naturgeschichte, der am Menschen nichts (läge)".54 Wesentlich sei aber, daß der Sinn der Zeit heute nicht mehr wie in früheren Jahrhunderten aus dem Bezug zur Ewigkeit verständlich gemacht werden könne; er müsse für den zeitgenössischen Menschen daher in der Zeit selbst aufzufinden sein. Die Bewegung, in der sich dies vollziehen würde55, wäre dann als eine ,Art Wahrheitskriterium für jeden Entwurf des Menschseins" zu simplifizieren. Dann könne die Antwort aus der christlichen Eschatologie zu holen sein in dem Sinn: „Da es eine Präsenz der Zukunft in der Gegenwart gibt, gibt es die Möglichkeit eines Handelns, das nicht nur von der Sorge um mich selbst bestimmt ist, gibt es Befreiung von mir selbst und zu mir selbst". Nur aufgrund der Möglichkeit einer derartige „Sinndeutung der Zeit in der Zeit", werde etwas wieder als Einheit sichtbar, was für die Moderne als Dichotomie erschiene: „die Einheit von Selbstverwirklichung und Hingabe an den anderen - oder um es mit Kant auszudrücken: von Pflicht und Glückseligkeit".56 Für die ethische Theorie scheint dies ein bedeutsames Ergebnis zu sein. Erst der eschatologische Hoffnungshorizont legt so eine geeignete Perspektive für die Konzeption einer theologischen Strebensethik vor, in der der elementare Sozialbezug des einzelnen Subjekts im Ethosentwurf tatsächlich verifiziert ist.

53 54 55 56

Vgl. zum folg.: Honnefelder, L., Anpassung, S. 29ff. ebda. ebda, Honnefelder im Anschluß an eine Kierkegaard-Deutung von M. Theunissen. ebda.

158

Theologische Integration

Wie konkretisiert sich nun für das Bewußtsein des modernen Menschen jene Verbindung von Zeit und Sinn aus der Eschatologie des christlichen Glaubens? Wie läßt sich die Vermittlung von subjektiven Bewußtsein erfahren, entschlüsseln? Wie macht sie entscheidungs- gestaltungs- und handlungsfähig? Die angestellten Überlegungen bedürfen einer weiterführenden Reflexion mit der ausdrücklichen Option für die Innenwelt des konstruierenden Subjekts. Die Perspektive einer derart qualifizierten Zeiterfahrung mit der persönlich-subjektiven Verbindung von Sinn und Zeit weist nachhaltig auf den subtilen Bereich menschlicher Innenerfahrung. Wenn das Verantwortungsfeld auf die Bewußtseins- und Gedankenwelt in ihrem speziellen Charakter als Vor-entwurf der äußeren Tat ausgeweitet ist, und innere VorstellungsPhantasie und Denkakte als spezifische Praxis zu qualifizieren sind, so erscheint deren Ergründung und Ordnung gerade in dieser Hinsicht als entscheidend. Zu thematisieren ist somit vorrangig die innere Welt des Menschen, das Selbstbewußtsein, die Selbst- und Welterfahrung des Subjekts; ihre Zugänglichkeit wie Erfaßbarkeit setzt auf den praxisermöglichenden Entwurf einer Ethik der inneren Handlung. Gerade der christliche Glaube kann jenen Bezugspunkt bilden, welcher die innere Zeiterfahrung durch die ethische Theorie operationalisierbar macht und in ihrer subjektiv belegten Sinndeutung eine vertiefende eschatologischen Dimension zu verleihen vermag. Die Wahrnehmung oder Transparenz der inneren Zeitdimension und ihrer so gewonnenen Sinnstruktur wird so als Vorbedingung anzusehen sein für den Wahrheitsgehalt jedes Projekts eines ethisch gelungenen Lebens. Ihr ist kriteriologische Funktion für die Bestimmung der Wahrheitsfrage zuzuschreiben. Diese wesentlichen Zusammenhänge sind im folgenden weiter auszuführen. Auszugehen ist von der Überlegung, daß in einer gedachten Anlegung von inneren Zeitkoordinaten für das (subjektive) Selbst- und Weltbewußtsein unterschiedliche Zeitbegriffe differenziert werden können57; einmal die chronometrische, äußere Zeit, der Ablauf und das Nacheinander von Ereignissen in den Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, gemeinhin als Operationales Raster, auch für die sog. Weltgeschichte, die Geschichte überhaupt; parallel dazu, die persönlich individuelle, temporale Lebenszeit und im besonderen, das Zeitgefühl, die innere Anschauung von Augenblick, Dauer, Gleichzeitigkeit und Vergänglichkeit. ^ 57 58

Vgl. Guth, R., Handlung und Gedanke, in: Studia Moralia 2 (1991), S. 391f. Eine Vorstellung von dieser inneren Anschauung von Zeit oder Zeiterfahrung gibt etwa O. Paz, wenn er über die Liebe als verdichtendes und gelingendes Erleben (und Erfahren) schreibt: „Liebe ist Intensität, und eben deshalb ist sie Dehnung der Zeit; sie dehnt die Minuten zu Jahrhunderten aus: Die Zeit, ein festes Maß, wird diskontinuierlich und unermeßlich". Freilich, so bemerkt Paz weiter, ist der Zeitablauf damit nicht zu überwinden und nach jedem Augenblick ohne Maß muß zur Zeit und ihrem Maß zurückgekehrt werden. Der ewige Augenblick der Liebe - er behält dennoch seine Bedeutung und Gültigkeit: „Es ist ein Sieg über die Zeit, eine Ahnung des Jenseitigen, dieses Dort, das ein Hier ist, wo nichts sich ändert und alles, was ist, wirklich isf", Paz, O., Flamme, S. 257.

Das ethico-ästhetische Subjekt

159

Verstärkt sittliche Relevanz gewinnen soll nun die Bezugnahme aus der Perspektive des inneren Zeitempfindens auf die Ereignisse in der Folge der äußeren Zeit. Es handelt sich im Strom des Werdens und Vergehens um Momente und Augenblicke, die sich vertiefen, die dauern, denen von innen her ein wesentlich längerer Zeit- und wesentlich erweiterter Raumaspekt zugemessen wird. Rezipiert durch die innere Vorstellungswelt können Erlebnisse, Erfahrungen ausgedehnt werden, im Grunde von der Zeitfolge herausgelöst, zeitlos werden. Es vermag sich von dieser inneren Vergegenwärtigung und Dauer ein Begriff von ewiger Gegenwart einstellen, vergleichbar vielleicht dem Erlebnis des sog. „nunc stans". Erfahrungen, Eindrücke, Erinnerungen, die dem zeitlich-starren Schema enthoben sind, können miteinander verbunden werden, ineinander übergehen; in solchen Vorstellungen zeigt sich bereits jene geistige oder innere Aktivität, die in vielfältiger Entwicklung und Steigerung begriffen, wesentlich für geistige Handlungen wird. Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang ein spezifisches Phänomen, nämlich die Form des Tagtraums59, mit ihrer Qualität der Interpretationsleistung. In der Anwendung und Aktivität der Tagträume ermöglicht sich beispielsweise im Rahmen der inneren Zeiterfahrung die Grenzüberschreitung der einzelnen Zeitdimensionen, weit Zurückliegendes wird als gültig oder gegenwärtig erfahren, Zukünftiges in der Vorstellung antizipiert Die Bewegung in allen Zeitgrößen befähigt zu einer Zusammenschau von Erinnerung, Erfahrung und gegenwärtigem Erleben zu einer überzeitlichen Anschauung. Diese überzeitliche (oder der Zeit enthobene) Anschauung ist vor allem wesentlich, weil sich in den von der inneren Dauer verklärten, gegenwärtig gesetzten Ereignissen, Erfahrungen und Erlebnissen ein Augenblick von Ewigkeit (oder ein ewiger Moment) aufzuschließen vermag; hinsichtlich dieser so herausgehobenen, einzigartigen Augenblicke wäre in der Interpretation an die erwähnte Ansicht von einer notwendigen „Sinndeutung der Zeit in der Zeit"60 anzuknüpfen. Der Vorschlag bestünde darin, den Weg dahin über das Subjekt und sein Bewußtsein, seine Lebenserfahrung zu versuchen, zu konkretisieren, was es zu einem Subjekt des christlichen Glaubens werden lassen kann. In diesem Zusammenhang ist auch der Versuch zu sehen, anhand der inneren/geistigen Erfahrungen resp. Begriffe von Zeit und Zeitlichkeit - etwa im Blick auf das Vorhandensein der zeitlosen, gleichsam ewigen Augenblicke - Entsprechungen oder Hinweise zu finden, um die eschatologische Dimension des Glaubens zugänglich zu machen, vielleicht den Ewigkeitsbezug neu zu übersetzen und zu gewinnen. Gefordert wäre vom glaubenden Subjekt zunächst die Durchdringung, Klärung des Bewußtseins und der Lebenserfahrungen in innerer Verantwortung; konkret vollzogen durch ganz bestimmte Vorgangsweisen, etwa durch die sog. „innere Aufmerksamkeit", durch den Einsatz der Phantasie, durch Reflexion oder auch durch die schon erwähnten Tagträume, um demzu59 60

Vgl. zur näheren Eigendefinition, Guth, R., Handlung, S. 389f. Honnefelder, L. Anpassung, S. 29.

160

Theologische Integration

folge für sich Inhalte, Strukturen, Gesetzmäßigkeiten zu ergreifen, Werte für sich zu entdecken, adäquate Sinndeutung zu versuchen. Die Erfahrung der genannten zeitlos dauernden, gleichsam ewigen Augenblicke, die Ergriffenheit von ihrer Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit, das Überzeugende oder Haltbare, das ihnen innewohnt, bietet sich geradezu zur weiteren Interpretation an; was auch einschließt: das Abenteuer der Interpretation und der Vorstellung.61 Diese ewigen Momente, als Essenz der inneren Welt wirksam umgesetzt, charakterisieren die sittliche Einstellung62 und sind in der Folge auch für die äußere Handlung ausschlaggebend. Indem sich fUr das individuelle Bewußtsein eine gültige Verbindung von Zeit und Sinn anbietet, werden dem einzelnen Subjekt, ausgehend von der Erfülltheit der Gegenwart, auch Visionen und Gestaltungen seines Lebens möglich, die in die Zukunft weisen; es vermag das Gegenwärtige produktiv zu überschreiten wie es auch in seinem Streben nach Selbstverwirklichung nicht auf sich zurückgeworfen ist und beschränkt bleibt, sondern dem anderen zuwenden kann.63 Dem entspricht freilich auch, daß das Subjek in seinem Verhältnis zur Zeit unabdingbar die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit zu leisten hat, der die Existenz unterworfen ist. Ein Prüfstein der Glaubensrealisation wäre in dieser Hinsicht die Integration des Wissens um den Tod wie die Aufnahme und positive Bewältigung der vielen kleinen Erfahrungen von Sterblichkeit bereits im Leben.

6.4. Christliche Existenz als Experiment In der Deutung des Todes vollzieht sich, theologisch-anthropologisch gewendet, die letzte Verdichtung des christlichen Selbstverständnisses.64 Jedes tatsächliche Gelingen, jede Vision oder Konzeption des guten Lebens bindet sich an diese Interpretationsleistung und die ihr verpflichtete Wahrhaftigkeit. „Geglücktes Leben ereignet sich angesichts des Todes, in seiner deutenden Bewältigung liegt der Schlüssel zur Dignität eines Lebensentwurfs, alle anthropologischen Einzelelemente weisen auf diesen letzten Bezugspunkt hin. Und alle Ereignisse der eigenen Lebensgeschichte sind so zu integrieren, daß sie diese unausweichliche Herausforderung läutern und bestehen helfen".65 61

62 63 64 65

Ein Beispiel zur Illustration solch möglicher Interpretation von Imagination. In dichterisch-subjektiver Weise hat O. Paz sich bemüht, die ewigen Augenblicke der Liebeserfahrung festzuhalten und zu erklären. „Die Liebe", so stellt er fest, „besiegt den Tod nicht, aber sie bietet der Zeit und ihren Wechselfallen Trotz. Durch die Liebe werden wir in diesem Leben des anderen Lebens teilhaftig. Nicht des ewigen Lebens, sondern ... der reinen Lebendigkeit", Paz, O., Flamme, S. 260. Guth, R., Handlung, S. 392. Honnefelder, L., Anpassung, S. 29. Demmer, K., Wahrheit, S. 3 If. ebda., S. 53.

Christliche Existenz als Expriment

161

Dem ist allerdings hinzuzufügen, daß es sich bei der Deutung der Todesproblematik um ein ambivalentes Wechselspiel handeln wird in der Differenz zwischen Eudämonie und Dysdämonie. Wenn davon ausgegangen wird, daß die Gewißheit des Todes den Lebensvorstellungen und -gestaltungen einzugliedern ist, muß aber berücksichtigt werden, daß die schwere Fülle vieler alltäglicher, persönlicher Erfahrungen und Einsichten von Sterblichkeit und Vergeblichkeit diese Option stören oder auch grundsätzlich in Frage stellen können. Für die konkrete Beurteilung dieser immer wiederkehrenden Auseinandersetzung bedeutet dies: zwar kann der Tod als mehr oder minder ferner, zwar real zu erwartender, aber letztlich unbegreiflicher, vom gegenwärtigen Leben abgetrennter definitiver Schlußpunkt betrachtet werden; andererseits jedoch gibt es viele Formen von partiellen Erfahrungen, daß der Tod oder die Sterblichkeit das Leben begleitet, ihm gleichsam immer schon innewohnt. Ohne daß es besonderer äußerer negativer Ereignisse als Auslöser bedürfte, sind dies Einblicke und Gewißheiten des inneren, des geistigen Menschen, so er sich um Wahrheitsfindung bemüht, wenigstens mit sich selbst redlich umgeht. Es hieße, das Fundamentale solcher Erfahrungen zu übergehen, wenn hierbei an vorschnelle Lösungsmöglichkeiten für den bedrohten Lebensentwurf gedacht oder diese künstlich erstellt würden. Von Eindrücken der Enttäuschung und Vergeblichkeit, der Verzweiflung und Mutlosigkeit vermag die innere Wirklichkeit des Subjekts in ihrer Ganzheitlichkeit erschüttert und tiefgehend betroffen sein. Einsichten über Vergänglichkeit, Einsamkeit und Selbstverlust legen Wirklichkeiten von Zerstörung und Nichtigkeit offen. Indessen solche Einblicke zu zulassen, sich ihnen auszusetzen, ohne zwanghaft positiv auszugleichen zu müssen, bezeugt auch hier die unbedingte Freiheit des Glaubenden. Wenn sich in der Begegnung mit dem Tod, mit dem Leiden, mit der Einsicht in anthropologische Gegebenheiten negative Erfahrungen sammeln, verbietet sich ihr Ausdruck nicht; gerade weil der Glaube offen ist für kritische Deutungen dürfen sie artikuliert und vorgebracht werden. Die Erfahrung der Endlichkeit ist allerdings selbst ambivalent, „wobei zuletzt die Qualifikation des Lebens über Leben und Tod entscheidet"66. Die Existenz ist immer schon evaluativ und praktisch qualifiziert, so daß die Lebensqualität in der Folge über die Bewertung des Todes nach Maßgabe des Lebenkönnens, -dürfens oder -müssens entscheidet. So entfaltet sich gegenüber der Erfahrung der Endlichkeit eine eigene Zielstrebigkeit des Lebensganges, die zu einer Konkretion der temporalen Struktur des Lebens führt und Grundbegriffen wie „Situation", .Augenblick", „Gegenwart", „Dauer" oder „Wiederholung" Platz gibt; eine vorrangige Zielstrebigkeit, von der im Wechselverhältnis von Leben und Qualität des Lebens das gelingende oder verfehlte Selbst- und Weltverhältnis abhängt67

66 67

Krämer, H., Integrative Ethik, S. 197. ebda., vgl. auch zum Verhältnis der Selbsterhaltung und Lebensqualität, S. 151f.

162

Theologische Integration

Dieser Prozeß einer Entfaltung und Optimierung von Lebensqualität bedingt eine charakteristische Struktur, die ganz speziell für Überlegungen zu einer christlichen Ethik Bedeutung gewinnt: in der Rückbindung und strikten Wahrung von Autonomie und Freiheit des Subjekts ist die Selbstverwirklichung und Lebensgestaltung im Rahmen der Glaubensrealisation wesentlich als Experiment auszulegen, eingedenk des vollen Bedeutungsgehalts dieses Begriffs, also auch der Unsicherheiten, der Versuchsstadien, des Risikos, ja des Irrtums und des Fehlschlags. Da es keine vorgegebenen Anleitungen, keine im vorhinein fixierten Richtlinien für das Experiment oder auch das Abenteuer dieser persönlichen Entfaltung, keine Garantie für ein Gelingen geben kann, erschließt sich vielmehr die Offenheit für den kreativen Einsatz und die Notwendigkeit dieser - mitunter bedingungslosen - schöpferischen Anstrengung, auch des damit implizierten Risikos.68 Der Mensch ist von vorne herein zu schöpferischer Gestaltung und Entscheidung herausgefordert, stets auch im Bewußtsein des Einmaligkeitscharakters seiner Existenz und des Seins auf den Tod hin69. Einmaligkeit und Einzigartigkeit der Existenz korrespondieren so jener des Todes. Gelingen oder Scheitern - was im Leben vielleicht eine vorläufige Erfahrung sein mag radikalisiert sich im Tod, es wird absolut.70 Das Abenteuer des Bewußtseins und des Glaubens, das das Werden der sittlichen Persönlichkeit bedingt, zeichnet sich hier in seinem ganzen Ausmaß, seiner Vielfältigkeit, in seiner Spannung und, dies ist zu betonen, in seinen Möglichkeiten der positiven wie negativen Ausschöpfung ab: die geistige Welt, in der sich fundamental vorbereitend für jedes Handeln, jeden verantwortlichen Handlungsvollzug, Glaubensrealisation ereignet, basiert so auf einem wesentlich kreativen und fordernden Prozeß der Entdeckung, der Interpretation und Ordnung wie dann der Formung in einen verfügbaren Ausdruck; dieser Prozeß kann dennoch als nie abgeschlossen betrachtet werden, sondern als ein lebendiger Vollzug und als lebenszeitlich verpflichtend. In Verbindung mit dem Begriff der christlichen Existenz als „Experiment" und der sich damit stellenden Problematik sei hier eine Parallele zum christlichen Existentialismus, vor allem zu Marcel und seiner Methode des Denkens 68

69 70

Der christlicher Glaube ist eigentlich ohne die Notwendigkeit der schöpferischen Auseinandersetzung und Aktivität nicht vorstellbar, oder wie Rahner bemerkt: „Das Christentum ist darum für mich das Einfachste, weil es das eine Ganze des Daseins meint, dieses Ganze mit dem sterbenden Jesus gelassen und hoffend in die Unbegreiflichkeit Gottes versenkt und alle Einzelheiten im Leben als solche uns überläßt, ohne auch dafür schon ein Rezept zu geben". Rahner, K., Praxis, S. 31. Der Tod gilt für Rahner als „die Kulmination der unwiederbringlichen Einmaligkeit unseres personalen Daseins", ebda., S. 450. „Die Einmaligkeit des Todes besagt auch seine Endgültigkeit. Im Tod bin ich wirklich am Ende. Es gibt kein Leben nach dem Tode in dem Sinn, daß mein Dasein dann im Grunde doch ähnlich „weitergeht". Tod bedeutet radikales und fraglos gewordenes Sein mit oder gegen Gott. Die Endgültigkeit des Todes ist darum letzte Entschiedenheit. Insofern ist der Tod des Menschen auch schon sein Gericht", Rahner, K., Praxis, S. 451.

Christliche Existenz als Expriment

163

gezogen. Relevant ist sein personales Denken, seine Art und Weise, die Person und ihre Erfahrungen ins Zentrum seiner Überlegungen zu stellen, ohne sie jedoch als letztes Maß der Dinge anzunehmen. Marcels Verständnis von Philosophie begreift sich darin, daß diese weniger eine Lehre als vielmehr ein personaler Akt zu sein hat und somit persönliches Zeugnis ablegt.71 Leben und Denken werden so ineinander verwoben, bedingen einander. Bis in die Form hinein soll ein existentielles Denken sich als glaubwürdiges Denken kundtun, und Marcel hat zeitlebens versucht, diesem Anspruch und dieser Aufgabe im Denken und Handeln gerecht zu werden. Sein „Journal mdtaphysique", eine Art philosophisches Tagebuch und existentielles Zeugnis72, stellt ihn in die Reihe der existentiellen Denker, deren biographische Zeugnisse zur europäische Geistesgeschichte zählen, wie beispielsweise die „Confessiones" von Augustinus, die „Penseos" von Pascal, die Werke von Sören Kierkegaard und Henry Newman oder „Widerstand und Ergebung" von Bonhoeffer. Marcel stets sich zu Offenheit für Einwände bereit erklärend und mit einer Leidenschaft für die Diskussion, bekannte sich vor jeder Festlegung zum Wegcharakter seines philosophischen Werkes. Existentielles Philosophieren soll, wenn es wahrhaft sein möchte, so kein System intendieren, sondern das konkrete Nachdenken, das ständig neue Aufbrechen, Wagnis und Sich-Aussetzen, das tägliche, auch widersprüchliche Bedenken des Lebens zum Ziel haben. Ein „dem Leben abgelauschtes Denken", wie es bei Marcel bezeichnet wird, stellt sich den damit verbundenen Unsicherheiten und Unschlüssigkeiten wie Überraschungen, es ist nicht in der Gefahr zu erstarren.73 Programmatisch auch Marcels Abhandlung „Unterwegssein"74, wo das Thema der „Wanderschaft" aufgenommen wird. Marcel, der sich als „Philosoph auf Wanderschaft" oder besser noch als „homo viator" verstand, war klar, daß auch der Glaube nie als sichere Beute aufgefaßt werden könne, sondern im Gegenteil, nicht einmal über die Glaubenserfahrung zu verfügen ist. So ließe sich als Hintergrund des existentiellen Denkens folgern, was auch für die Realisation des vorgestellten ethico-ästhetischen Glaubenssubjets gilt, Leben und Glauben sollen einander wirksam durchdringen, ineinander aufgehen; dies bleibt lebenslange Anforderung und kreativ zu verwirklichender geistiger Auftrag. Die Vorstellung des Glaubenssubjekts auf dieser Ebene konkretisiert sich im Auffinden jener Schnittpunkte, wo sich die Wahrheit und Wirklichkeit der subjektiven, inneren Welt mit der Wahrheit des Glaubens trifft, durch sie geklärt wird und eine Vertiefung erfährt, welche sie aus sich selbst nicht gewinnen könnte. Die Erkenntnis, daß die spezifischen, subjektiven Lebenserfah71 72 73 74

Vgl. dazu Marcel, G., Werkauswahl, Bd. 2, Metaphysisches Tagebuch, hrsg. v. P. Grotzer, Paderborn: Schöningh, 1992, S. 9 ff (Einführung). ebda., S. 8ff. Vgl. Cioran, E., Widersprüchliche Konturen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986, S. 65f. Vgl. Marcel, G., Werkauswahl, Bd. 3, S. 352ff

164

Theologische Integration

rungen und -ereignisse von der Dimension des Glaubens aufgenommen werden, kann ihnen Wert (Sinn) verleihen, der für das Bewußtsein der Persönlichkeit lenkend wird, der real in ihrer Lebensgestaltung wirkt, die Vorsätze bestimmt. Das Fundamentale solcher Einsichten und Gewißheiten schließt neben dem Halt, den sie zu spenden vermögen, auch die Berührung mit dem Unfaßbaren, dem Geheimnis ein, mit dem, was die menschliche Vorstellungskraft übersteigt, was ihr in einem gewissen Maß aber als Ahnung und Hoffnung zugänglich bleibt. Gerade dieses sich andeutende Unvorstellbare und Unbegreifliche kann beschwingen und inspirieren, das Über-sich-selbst-Hinausweisende treibt an, konkretisiert sich als Bereicherung wie Ausblick. Zu bewähren hat sich das Gültige dieser Einsichten letztlich auch in der Begegnung mit dem Tod, insbesondere wird es aber in der ganz alltäglichen Selbstund Welterfahrung geprüft, in dem, was unabweisbar negativ wirkt, was das Selbstbild stört, was es an Widersprüchlichem birgt, an Schwächen und Einschränkungen. Die Konfrontation mit dem fragmentarischen Charakter der menschlichen Existenz kann zu einer tiefgehenden und frequenten Erfahrung werden, die sich mehr und mehr festigt und das Selbstverständnis, das Verhalten sich und der Welt gegenüber beeinträchtigt, schließlich zum bestimmenden Faktor wird, der Zweifel bewirkt, Gleichgültigkeit, endlich Resignation nach sich ziehen mag. Das Scheitern wäre ein mögliches Resultat, eine vielleicht begründete Reaktion auf ebenso schwerwiegende wie zentrale Einsichten der Begrenztheiten der Existenz. Der Eindruck von Rüchtigkeit und Vergeblichkeit, das Wissen um den Tod - all dies stellt die Lebensgestaltung, die geplanten Entwürfe und Vorstellungen davon immer wieder in Frage; wie auch der Elan der Phantasie, die Vision und Begeisterung dadurch gebrochen werden können. Es wäre Illusion zu behaupten, die - wenn auch reiche - innere Welt des Menschen könne solchen Erfahrungen der Zerstörung in jedem Fall wiederstehen; vielmehr dokumentiert sich hier, welches Wagnis Selbstverwirklichung und Glaubensrealisation bedeuten, und daß hierfür bezeichnenderweise das Experiment als Vorbild zu nehmen ist. Dennoch, gerade diese Einblicke sind als Herausforderung an die Wahrhaftigkeit der Persönlichkeit anzunehmen, an ihre Fähigkeit, Wirklichkeiten zu erkennen und zu deuten, sie zuzulassen, sich ihnen - trotz dem verständlichen Widerstreben und der latenten Versuchung, sie zu verdrängen - auszusetzen und sie zu klären. Jenseits von Oberflächlichkeit und erzwungenen Balanceakten wäre ein höchst differenziertes und sensibles Gleichgewicht zwischen Selbstbehauptung und Selbstkritik, zwischen Hingabe und Loslösung, zwischen, Vertrauen und Vorsicht herzustellen, um die existentiellen Widersprüche aufnehmen, um Gegensätze einen zu können; um mit Phantasie und Reflexion die Wahrnehmungen und Erfahrungen als positiv oder negativ ermessen und verdichten zu können und so - in Einbindung des christlichen Glaubens - zu einer Lebensgestaltung fähig zu sein, die ebenso wahrhaftig wie er-

Christliche Existenz als Expriment

165

füllend ist. Rechtmäßig kann dann angesichts der Anforderungen an Haltung und Handlung von Lebenskunst gesprochen werden und dementsprechend vom Leben - anhand seiner Beschaffenheit - als von einem Kunstwerk. Ein solcher Anspruch wie eine solche Entfaltung bezeugen, daß die ursprüngliche Gestaltungsoption im Glaubensdiskurs zu einer Qualität geworden ist, für die die Person mit all ihrem Einsatz, ihren Fähigkeiten und Anliegen bürgt. Zugleich ist - gerade im vollen Bewußtsein der negativen Selbst- und Welterfahrungen, der kritischen Situationen, die sich existentiell ergeben, schließlich der Gewißheit des Todes - auf ein Seins- und Handlungsverständnis hinzuweisen, das all dies ausdrücklich einbezieht; einer derartigen ethischen Auffassung kann die Dimension der Therapie zugeschrieben werden. Lebenskunst, die sich generell Lebensproblemen stellt, indiziert entsprechend der strebensethischen Grundperspektive immer auch eine sozial-intersubjektive Dimension, worauf nun zuückzukommen ist. Das ethico-ästhetische Subjekt der Glaubenspraxis konstituiert sich durch seine Fähigkeit und seinen Willen zum Dialog; es tritt durch die Hinordnung auf den Dialog hervor, durch die Erfahrung und Kenntnis seiner Notwendigkeit wie durch den gelebten Vollzug Das Thema des Dialogs legt ganz allgemein einen Vergleich mit Strömungen aus dem philosophisch-theologischen Bereich nahe, die sich dem dialogischen Denken widmen, wobei im deutschen Sprachraum vor allem Buber und Ebner als wegbereitend für den sog. „Dialogischen Personalismus "angesehen werden, darüber hinaus ist auf Guardini, Rahner und Weite zu verweisen, in Frankreich etwa auf Marcel, die diese Denkform weiter entwickelten.75 Eine solche Praxis des Dialogs unterscheidet das Subjekt des Glaubens deutlich von jenen problematischen Tendenzen der Moderne, die in Richtung von Egozentrismus und solipsistischer Selbstverschlossenheit weisen; bewahrt es vor möglichen Entwicklungen zu einer individuellen Gewissensmoralität. Das Streben nach Selbstverwirklichung und Erfüllung des eigenen Lebens muß nicht notwendigerweise Egozentrik, Überbetonung der eigenen Subjektivität meinen; vielmehr - und gerade diese wichtige Essenz gründet im christlichen Glauben - kann das Subjekt nicht wirklich es selbst werden, sich entfalten und verstehen, wenn es nicht in den Dialog tritt. Ohne die einzelnen dialogischen Konzepte hier weiter entwickeln zu wollen, sei für den Zusammenhang nur schlaglichtartig eine Reflexion zum dialogischen Denken Rahners herausgegriffen, die die Sache im Kern trifft. Rahner versteht den Menschen als ein Wesen, „das sich selbst dem Anderen ganz anzuvertrauen sucht und nur so existieren kann; er muß sich „verlassen", indem er sich selbst ganz auf den Anderen einläßt". Der Mensch findet sich, so gese75

Prinzipiell ist hier anzumerken, daß sich zwischen den einzelnen Vertretern des dialogischen Denkens, zwischen ihren Ansätzen sicherlich bestimmte Affinitäten nennen lassen, andererseits ist jedoch vor jeder globalen Einordnung zu warnen, da sie zumeist die originäre Leistung verkennen.

166

Theologische Integration

hen, selbst nur, wenn er sich verläßt und sich selbst einläßt auf den anderen, er bleibt sonst in der eigenen Endlichkeit verschlossen, „die ihm, wenn dieser Verschluß die absolut endgültige Freiheitstat seines Lebens ist, im buchstäblichen Sinn zur eigenen Hölle wird, zur bleibend stummen Einsamkeit, die in sich selbst erstickt".76 Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß sich das Autonomie- wie das Dialogprinzip nicht unbedingt ausschließen müssen und dafür plädiert, gerade in der Auseinandersetzung um den Gehalt des Freiheitsgedankens auf dessen wesentliche intersubjektive Dimension zu achten.77 Um diese optierte Verbundenheit des Autonomieprinzips mit dem des Dialogs verständlich zu machen, ist - insbesondere im Hinblick auf ethische Relevanz - die innere Welt des Subjekts heranzuziehen und operationalisierbar zu machen. Es sind die geistigen Grundlagen, Zusammenhänge und Vorgänge zu erfassen und zu deuten, die das Handeln propsektiv begleiten und sich in ihm aktualisieren; ohne diese Klärung, ohne das Begreifen geistiger Handlungsentwürfe und -Vollzüge würden zum Verständnis der Handlungspraxis die vorbereitenden Gründe fehlen oder unberücksichtigt bleiben. Allein schon im Vorgang dieser Durchdringung wird deutlich, wie die anderen Subjekte in der eigenen geistigen Welt präsent sind, wie die Erfahrung mit ihnen anwesend und auch bestimmend ist; wie viele direkte und indirekte Bezugspunkte, wie zahlreiche Berührungen und Verknüpfungen bestehen. Das Selbstververhältnis wird erhellt, wenn diese tatsächliche Verwiesenheit wahrgenommen wird, wenn bewußt wird, daß Selbstdeutung und Selbstverständnis untrennbar mit dem sozialen Bezug verbunden sind. Gerade in der Glaubenoption vermag der Mensch diese Einsicht jedoch erst wirklich konsequent zu leben, kann sich zu ihren Herausforderungen entschließen und sie bewältigen. In der Gewißheit seiner Anerkennung durch Gott verfügt er über die notwendige Gewißheit und Freiheit, sein Dasein, Denken und Handeln auf den Dialog hin auszurichten und ist zugleich fähig, ihn auch konsequent zu pflegen und in dieser Beziehung Angebote an ihn aufzunehmen. Wie kommt dies in der Praxis zum Ausdruck? In diesem Zusammenhang ist wesentlich auf den Einsatz der durch den Glauben befreiten und immer wieder erneuerten Phantasie hinzuweisen, der 76 77

Rahner, K., Praxis, S. 206. Als tragendes Fundament dafür gilt Th. Pröpper die Liebe Gottes, die die Freiheit des Menschen will und erst dann zu ihrer Vollendung gelangt, wenn er ihr in autonomer Einsicht zustimmt; vgl. Pröpper, Th., Zustimmung, S. 416f. Aus der Erfahrung des unbedingten Anerkanntseins vermag sich der Mensch verbindlich zu seinem Subjektsein zu entschließen und kann aus dem Bewußtsein von der Bejahung durch Gott eine davon geleitete Spiritualität gewinnen, die für sein Verhältnis zu sich und zu den anderen, für sein Denken und Handeln entscheidend wird. Bestimmend für die kirchliche Praxis, und hier beruft sich Pröpper auf die Gedanken von Metz, sollte das Interesse an der Subjektwerdung aller Menschen vor Gott sein; demnach wäre einmal nach Wegen zu suchen, die den Menschen zu sich selber ermutigen, damit er in autonomer Freiheit dem Glauben zustimmen könne; zum anderen müßte der Glaubende motiviert werden, in seinem Handeln für andere das darzustellen, was ihm im Glauben gegeben wurde.

Christliche Existenz als Expriment

167

ein Sich-Entfalten in Hinordnung auf den Dialog ermöglicht. Eine so gestärkte wie gesteigerte Vorstellungskraft (in der sich alle Kräfte der Persönlichkeit einigen, die also für die Totalität der Person steht) vermag sowohl das Wesen des Dialogs zu begreifen als ihn auch in seiner vielfältigen Weise zu vollziehen. Es bedarf der umfassenden Potenz der Phantasie, um die komplexen Wechselwirkungen und Zusammenhänge des Dialogs erschließen zu können, um seine tiefe Notwendigkeit zu erfassen, seine Chancen zu erkennen. Die Erfahrung der Verbundenheit wie des Austausches mit dem anderen durch die geistige Welt eröffnet den Blick auf Wahrheiten des Dialogs, die auf Erweiterung des Selbstseins weisen, die Entfaltung, sogar Steigerung begünstigen. Nicht Selbstaufgabe oder Selbstverzicht fordert der richtig verstandene Dialog, im Gegenteil, die Erfahrungen bescheinigen schließlich, welchen Halt und welche Geborgenheit er dem Subjekt bietet, wie dieses durch die Entscheidung für ihn gerade gefördert und zu sich selbst gebracht wird.78 Selbstverwirklichung und Lebensvollzug auf dieser Basis soll so auch in ethischer Hinsicht bestimmend sein, womit die spezielle Aufmerksamkeit jenen möglichen Einstellungen, Haltungen und Handlungen gilt, die von intersubjektiven Erfahrungen und intersubjektiver Verbundenheit zeugen. Gewiß muß dieses Vorhaben ein hohes Maß an phantasievoller und experimentierfreudiger Forschungsarbeit einschließen, schon allein der komplexen, vielschichtigen Zusammenhänge und Beziehungen wegen, mit denen auf der inneren Ebene zu rechnen ist. Indem die Autonomie des Subjekts dabei zu seiner persönlichen Entwicklung und zu seinen Entscheidungen gehört und in der Folge auch gefordert ist, kann es keine engen normativen Richtlinien geben, die hier wiederum repressiv wirken würden; vielmehr muß so ein Raum für die Eigenverantwortung im Verhältnis zu jenem Grad an Abenteuer (auch Risikos) gewahrt werden, welches die Selbstrealisation miteinschließt. Spricht man von Selbstsein und Selbstverwirklichung im Kontext des Dialogprinzips, so wäre erneut auf das Phänomen und die Präsenz der Tagträume, aufgefaßt als eine geistige Handlung oder Tätigkeit, hinzuweisen als eine bemerkenswerte Form der Vermittlung. Im Vollzug der Tagträume - als innere Vorstellungs- Phantasie- und Denkakte sind sie als spezifisch sittliche Praxis zu qualifizieren79 - ereignen sich soziale Impulse, bilden sich soziale Vorstellungen und Bezüge heraus, die zu sondieren sind. Diesen sozialen Aspekt gilt es zu betonen und für die Ethik zugänglich zu machen, insofern im Antrieb

78

79

Ausführlich hat sich beispielsweise G. Marcel mit der Bedeutung der Intersubjektivität, mit der Notwendigkeit des dialogischen Verhältnisses auseinandergesetzt. Marcel ging soweit, die Intersubjektivität, d. h. die von ihm geprägte „presence", das Verfügbarsein für die wichtigste Dimension des Menschen zu halten. In der Fähigkeit zur Offenheit, zum Ausdruck und zur Verständigung, in der Prädestination zur Intersubjektivität zeigt sich für Marcel das Wesen der Person an, offenbart sich der die Gemeinschaft anstrebende Mensch; vgl. Marcel, G., Werkauswahl, Bd. 3, S. 8f. Guth, R., Handlung, S. 388.

168

Theologische Integration

der Tagträume immer wieder die entscheidende geistige Wende vom Ich zum Du erfolgt, von der Subjektivität zur Intersubjektivität. So betrachtet, steht die Selbsterfahrung resp. Innenweltserfahrung und die Tagträume (als deren Ausdruck) im Dienst der anderen. In diesem Sinn gilt es, ein dialektisches Verhältnis bewußt zu machen, das sich etwa so fassen läßt: einerseits Mit-sich-Sein, Alleinsein und dann in den Tagträumen der Impuls der Wendung zu den anderen, zum Miteinandersein; was der Einzelne an sich selbst erfährt, die Fülle an Erfahrungen und Erlebnissen sowie der bewußte Umgang damit, der kreative Einsatz in den Tagträumen schafft grundlegende Möglichkeiten zu einem Verständnis, welches tiefergeht, sich jenseits oberflächlicher Bezugnahme ereignet. Als ethische Voraussetzungen sind hierfür Behutsamkeit, Verzicht oder Geduld in der Begegnung anzusehen ebenso wie nötige Freiräume, die grundsätzliche Unantastbarkeit bewußt gemacht werden müssen. Einerseits ist im Entgegenkommen dem anderen gegenüber ein Vorschuß an Vertrauen einzuräumen, andererseits ist die Aktzeptanz von Widerständen und Widersprüchen aufzuweisen. Die Kenntnis der Selbsterfahrung sowie die Möglichkeit ihrer Eröffnung in den Tagträumen könnten Näherungswerte für den anderen zugänglich machen, ein gesteigertes Maß an Einfühlung gewähren wie auch in den anderen wiederfinden lassen, was man an sich selbst kennengelernt hat.80 Demgemäß erschließt sich - im Kontext der intersubjektiven Wendung - in den Erfahrungen der eigenen Wirklichkeit und Wahrheit das AllgemeingültigGesetzhafte; indem derart qualifizierte Erkenntnisse auf den christlichen Glauben bezogen, in ihm eingelöst werden, erhält das Subjekt seine verbindliche Gewißheit und seinen definitive Bestätigung. Wie erwähnt, sind Tagträume wirkungsvoll imstande, den Dialog zu führen, auf der inneren Ebene klarerweise aber nicht die einzige Möglichkeit; vorranig anzuführen wäre hier etwa das „Gedankenereignis Liebe", das den Dialog ganz spezifisch nährt oder auch das sog. „phantasierende Denken". Im großen Zusammenhang der Idee des ethico-ästhetischen Glaubenssubjekts ist schließlich auch zurecht unter Wahrung des Dialogprinzips - von der Möglichkeit wie von der Erfüllung eines gemeinsamen Lebenskunstwerks zu sprechen, welches in diesem Sinn durch Gemeinschaftstrategien zu verfolgen ist, als ein Vorbild von Zuwendung, Gruppenleistung und schöpferischen Gruppenhandeln.

80

ebda, S. 393.

Ausblick

169

6.5. Ausblick auf Möglichkeiten eines neuen ethico-ästhetischen Seins im Glauben Die christliche Ethik vergewissert sich der Präsenz des theologischen Diskurses im Rahmen eines mehrdimensionalen-kooperativen Gesamtverständisses. Die Diskussion ihrer ethischen Rechenschaft erfolgt im Blick auf die bislang kaum berücksichtigte Grundfrage Kants nach dem Sinn- und Hoffnungsgrund praktizierter Moral. Sie bezieht sich in dieser Hinsicht originär auf den Bereich der unabdingbaren Motivation sowie der Lebensführung und Lebensbewältigung im ganzen, welcher von sich aus über die reine Begründung der Allgemeinverbindlichkeit moralischen Handelns hinausreicht. Die theologische Strebensethik übernimmt damit die vordringliche und unersetzliche Aufgabe, in Ergänzung des primär am moralphilosophischen Niveau orientierten normativen Diskurses der autonomen Vernunft, Partei zu ergreifen resp. Anwalt zu sein für eine eigenen Theorie des guten und gelingenden Lebens, für die Eudämonie im eigentlichen Sinn. In diesem Zusammenhang sieht sie die Notwendigkeit einer spezifisch individualethischen Reflexionsstufe. Sie hat sich im Kontext ihrer Parteinahme stets zu vergewissem, daß der eingebrachte christliche Glaube eine wesentlich pluraler Glaube ist, dem „plurale, teilweise sogar in hohem Grad verschiedene Moralen entsprechen'*1. Diese Offenheit zugunsten freier pluraler Konzepten von Lebensformen, welche mit dem beabsichtigten Entwurf eines freien ethico-ästhetischen Subjekts übereinstimmt, wendet sich entschieden und ausdrücklich gegen jede „von oben zugereichte", eindeutige und absolute Moralvorstellung. Die theologisch-ethische Debatte verläuft dabei in gewisser Weise analog zum gegenwärtigen Wandel im moralischen Bewußtsein der Öffentlichkeit mit einer Neubestimmung der bislang tragenden ethischen Grundorientierung. Die ethische Frage nach dem jeweiligen Sollen weitet sich zur elementaren Frage nach dem eigentlich human Gewollten, den wahrhaften Interessen, den wohlverstandenen eigenen Möglichkeiten und dem tatsächlichen Glück. Diese Veränderung bedeutet keine beliebige Problem Verlagerung, vielmehr kennzeichnet sie die entscheidende Herausforderung heutiger ethischer Theoriebildung. Die theologische Ethik steht damit, so wie jede andere Ethik, mehr denn je vor der Erwartung, diesen Prozeß der normativen Selbstfindung positiv zu fördern und zu begleiten, sinngebend zu orientieren und gegebenenfalls kritisch zu korrigieren; sie hat im Aufweis des jeweiligen Sollens zugleich den Erweis des sittlichen Könnens des Menschen zu erbringen, den Erweis der

81

Fuchs, J„ Weltethos oder säkularer Humanismus, in: StZ 3 (1993), S. 147f.

170

Theologische Integration

Kompetenz des moralischen Subjekts, womit eine „vertiefte Klärung der „Konstituierung des Sittlichen selbst" bindend wird.82 In dieser Konsequenz richtet sich ihre Aufmerksamkeit im verstärkten Maße auf die Vergewisserung der grundlegenden Möglichkeiten eines neuen sittlichen Seins, in welchem sich die ethisch-kreative Personwerdung des Menschen vollzieht. Im Anspruch der Offenbarungsdimension des christlichen Glaubens hat die theologische Ethik die originäre Option wahrzunehmen, spezifisch eigene Modelle des guten und gelingenden Lebens zu konstituieren, überzeugende Gestalten geglückten Personseins zu entwerfen und diese als konkretes Sinn- Heils- und Hoffnungsangebot an den Diskurs der sittlich-autonomen Vernunft zu richten; die, so die Bedingung, in ihrer Plausibilität zumindest annähernd universalisierbar sein müßten, um tatsächlich einen Beitrag zur angestrebten Konsensbildung leisten zu können. Eingebrachte Zielvorstellungen des gelingenden, glücklichen Lebens sind auf ihren Gehalt hin zu konkretisieren. Sie realisieren sich, so die These der Untersuchung, in der Hermeneutik der Subjektivität als spezifische Weisen eines neuen ethico-ästhetischen Seins. Eine in dieser Hinsicht intendierte „Orthopraxis des christlichen Glaubens"83 steht im kooperativen Verhältnis mit der Autonomie der ethischen Erkenntnis; beide zusammen bilden das Gesamtgefüge einer künftigen christlichen Ethik. Das in der ethisch-theologischen Diskussion vorgestellte Konzept eines neuen authentischen Glaubenssubjekts muß von einem Gesamtentwurf der Persönlichkeit her verstanden werden; es präzisiert den lebensweisen oder sich auf die schwierige und erst einzuübende Kunst der richtigen Lebensführungen verstehenden Menschen und seine sittliche Wahrheitsbefähigung, dessen Realisation in gewisser Analogie zum Kunstwerk oder zum Prozeß künstlerischen Schaffens steht. Diese ethico-ästhetische - vorwiegend therapeutischkonziliatorisch orientierte - Praxis des Glaubens gilt als Lebensgrundlage für die Ausübung ethischer Autonomie; sie bedeutet in neuer, größtenteils geweiteter Perspektive Seinserschlossenheit, die Wahrnehmung der inneren ethicoästhetischen Seins- und Wesensgesetzlichkeit, welche sich mit einem persönlichen Auftrag verbindet, der eine entsprechende ethische wie ästhetische Sehweise und Ausdrucksqualität erfordert. Für die Theoriebildung der theologischen Ethik wäre es in diesem Zusammenhang entscheidend, den Begriff des Könnens (Mächtigkeit, Disponibilität) im Bereich der Ethik wieder in den Blick zu bringen84, im Sinne der traditionellen Aretologie bezogen auf die Dispositionen und Habitus. Mit der Differenzierung der verschiedenen Könnensweisen erfolgt die Reflexion der ein82 83 84

Hunold, G. W., Ethik, S. 4. Mieth, D., Art. „Autonomie", S. 145. Dieser auch für die Moraltheologie wesentliche Aspekt wurde dem von H. Krämer für die gegenwärtige philosophische Ethik konzipierten Entwurf einer Individualethik übernommen; vgl. Krämer, H., Plädoyer, S. 40ff.

Ausblick

171

zelnen Tugenden, in christlicher Sicht, auch die der theologischen. Zu debattieren wäre hier der Begriff der „Gnade", das im Glauben geschenkte „neue Können" als eine „kategorische Gabe"85, die theologischen Tugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe; in der ethisch aktualisierten Interpretation des Glaubens als „geschenkter Zugang zum Sinn der Welt", der Hoffnung als „geschenkter Zugang zur Zukunft der Welt", schließlich der Liebe als „geschenkter Zugang zur inneren Einheit des Menschen und der Welt"86. Diese nur ansatzweise skizzierten Hinweise umreißen ein umfassendes Arbeitsprogramm für die künftige ethisch-theologische Forschung; gefordert wäre eine Diskussion auf breiter Basis, wobei eine dogmatisch-fundamentaltheologische Grundlegung primär berücksichtigt werden müßte. Die Moraltheologie hat ihre Parteinahme gegenüber dem guten und gelingenden Leben zu konkretisieren. In dieser Hinsicht versuchen die anschließenden Überlegungen eine inhaltliche Präzisierung des vorgestellten Konzepts ganzheitlichen Personseins als Modell eines neuen ethico-ästhetischen Glaubenssubjekts. Im Sinne einer verwirklichten Präventivethik werden sich die folgenden Überlegungen einer einführenden Grundlegung widmen. Beabsichtigt ist eine gewisse Theoretisierung und Systematisierung der grundlegenden Verhaltensund Handlungsweisen des neuen Glaubenssubjekts. Die Arbeitsaufgabe umfaßt vorerst die prospektive Entwicklung von Kriterien für die konkrete Organisation und Disposition der konzipierten ethischästhetischen Seinsweise. Für die weitere Forschung wäre ein exemplarischer Aufweis der hermeneutischen und pragmatischen Relevanz des ethico-ästhetischen Glaubenssubjekts anhand einzelner Lebens- und Verhaltensfragen aufgegeben. Das ethico-ästhetische Glaubenssubjekt kann gesehen werden als eine Idee, auch als eine Vorstellung mit dem Wert eines Ideals mit all dem inspirierenden Antrieb und dem virtuellen Gehalt, der ein Vorbild ausmacht. Eine nähere Präzisierung des konkreten Verhaltens und Handelns für eine reale Praxis bedingt die Festlegung von Strukturen und Begriffen, um schließlich zu einer bestimmten Systematisierug zu finden. Eine Theoretisierung, die notwendig ist, um definitive Richtlinien zu geben, um Einblick zu schaffen in modellhafte Dispositionen und Gesetzmäßigkeiten, um das zumindest annähernd Universalisierbare und Verbindliche vom rein Subjektiven (Unverbindlichen) zu scheiden. Dieses Vorhaben ist von vornherein mit eine inneren Diskrepanz verbunden, auf die es aufmerksam zu machen gilt. Die Verkörperung des Individuellen, des Einzigartigen und Einmaligen der Person, für die das ethico85 86

Mieth, D., Gott, S. 218. Mieth bezieht sich auf O. Bayers Begriff der „kategorischen Gabe" in Parallele zum „kategorischen Imperativ" Kants; vgl. Bayer, O., Kategorischer Imperativ und Kategorische Gabe, in: EK 14 (1981), S. 627-630, hier S. 627. Auer, A., Glaube, Hoffnung und Liebe. Die Öffnung eines traditionellen theologischen Traktats in die Dimension des Gesellschaftlichen, in: Pompey, H./Hepp, J./Mielenbrink, E. (Hrsg.), Funktion und Struktur christlicher Gemeinde, Würzburg: Echter, 1971, S. 91114.

172

Theologische Integration

ästhetische Subjekt als Begriff steht, bestimmt auch seine Seins- und Verhaltensweise, seine Seinsform wird im jeweiligen Handeln transparent; in diesem Sinn widersetzt es sich bis zu einem bestimmten Grad der Systematisierung und Theoretisierung. Andererseits kann nicht darauf verzichtet werden, subjektive Verhaltens- und Entscheidungsweisen auf mögliche Objektivierung hin zu sichten, um das intersubjektiv Gültige wahrnehm- und vermittelbar zu machen. Der Versuch der Theoretisierung von spezifisch individuellen Seinsund Handlungsformen ist bestrebt, vom Besonderen zum Gemeinsamen zu gelangen, das Allgemeingültige zu intendieren, um allgemeine Verständlichkeit damit auch Konsenfähigkeit zu erreichen und so plausible Orientierungen wie Zielvorstellungen anbieten zu können. Wenn - vorerst ansatzweise - einzelne zentrale Verhaltens- und Vorgangsweisen des ethico-ästhetischen Subjekts entworfen werden, so ist einerseits anzumerken, daß die dafür maßgeblichen Kriterien oder Lebensprinzipien den Freiraum des Individuellen bewahren sollen, daß auf dieses Potential nicht verzichtet werden sollte. Die modellhaft angelegten Verhaltens- und Entscheidungsweisen stimmen so mit dem durch den Glauben befreiten Individuum überein, d.h. mit seiner ausgewiesenen Autonomie, vorrangig auch mit seiner freigesetzten und gewandelten Kraft der Phantasie, generell mit seiner Kompetenz zu schöpferischer Gestaltung und Entscheidung. Sie sind letztlich als autobiographisch zu nehmen, entspringen dem Subjekt und sind seine hermeneutische Auslegung. Auf der anderen Seite ist für ein Verständnis der vorgeschlagenen Prinzipien an die Voraussetzungen zu erinnern, die sie bedingen. Es ist zu unterstreichen, daß das Gesamtkonzept, welches den Leitlinien zugrunde liegt, von der spezifischen Bewußtseinsweise des ethico-ästhetischen Glaubenssubjekts her wahrgenommen und bestimmt wurde. Die dafür relevante Seinserschlossenheit und Seinsform, die der Begriff des ethico-ästhetischen Subjekts involviert wie die damit postulierten Verfahrensweisen sollen in den zu konzipierenden Lebensprinzipien transparent werden und sich durch diese mitteilen. Die intersubjektive Existenz(form) des Subjekts ist als Basis für deren Richtigkeit und Wertigkeit zu bestimmen; als zumindest annähernd universalisierbare, intersubjektive Verhaltens- und Handlungsmuster (resp. -vorschlage) soll in ihnen eine Lebensform konkretisierbar werden, die zentral auf Autonomie und Eudämonie ausgerichtet ist, diese Begriffe in der Praxis einzulösen sucht. Die Verhaltenskriterien berufen sich auf die Erfassung der Totalität der Person, auf die Ganzheitlichkeit ihrer Existenzweise, womit unterschiedliche Ebenen angesprochen sind. Als entscheidender Referenzpunkt der Überlegungen ist in diesem Zusammenhang wiederholt zu vergegenwärtigen, daß der christliche Glaube als ein pluraler Glaube anzusehen ist, dem „plurale, teilweise sogar in hohem Grad verschiedene Moralen entsprechen", der jedenfalls verschiedene Moralauffas-

Ausblick

173

sungen nicht ausschließt87. In der Orientierung am Glauben bedarf es also eines Bewußtseins und der Offenheit für die Möglichkeit und Gegebenheit unterschiedlicher Auslegungen; Eigeninitiative, prinzipielles Interesse, Kritik und Respekt sind in der Auseinandersetzung mit dieser Vielfältigkeit nötig, auch um beurteilen und entsprechende Konsequenzen daraus ziehen zu können. In der differenzierten Erkenntnis wird klar, daß keine eindeutige und absolute Moral zu finden, zu fixieren und mitzuteilen ist, sondern der Grundsatz gilt, daß das „als verbindliche Moral gesuchte Humanum und Christianum" nicht nur einer einzigen Deutung offensteht.88 Diese fundamentale Perspektive wird insbesondere dann relevant, wenn es um die Erschließung und Präzisierung des Wahrheitsbegriffs und Wahrheitsgehalts geht, der den Lebensprinzipien ihre Wertigkeit verleihen soll. In ihnen soll sich die Option für das Wahre, Gute und Schöne grundsätzlich darstellen, eingerechnet den Freiraum für die persönliche Gestaltung und den persönlichen Einsatz. Als Basis für dieses Forum individueller schöpferischer Auslegung kann dabei neben der genannten Seins- oder Daseinserschließung des ethico-ästhetischen Subjekts die Annahme gelten, daß das Glaubenssubjekt zur Wahrheit berufen und befähigt ist, daß es in der Wahrheit lebt, ihm Wahrheitserkenntnis zuzutrauen und möglich ist. Für das Konzept der Handlungskriterien ist wiederum der Charakter des Experimentellen in Rechung zu stellen, bedingt durch die Realisation von Autonomie und Kreativität. Das ethico-ästhetische Glaubenssubjekt formt sich insbesondere durch die Klärung und Steigerung der Wahrnehmungsfähigkeit und das Bekenntnis zur schöpferischen Kraft der Phantasie; existentiell wird so immer wieder die Spannung oder auch der Kontrast von Vision und Realität deutlich und muß berücksichtigt werden. Die Verschränkung von Vision und Realität, das dabei freigesetzte Potential veranlassen zu experimentellen und oft alternativen Formen von Verhaltensweisen, die sich den erkannten Herausforderungen stellen. Ein derartiger Lebensentwurf und seine Gestaltung bezieht sowohl Gelingen als auch Scheitern mit ein, Sicherheit für eine bestimmte Lösung kann es nicht geben. Die Existenz und Selbstverwirklichung bedeuten ein Abenteuer des Geistes und des Gefühls, sind ein Auftrag an die schöpferischen Kräfte, eine Aufgabe für die Phantasie. Wenn von Experiment und Abenteuer die Rede ist, so fordert dies Mut und die Bereitschaft zum Planen wie auch zum tatsächlichen Handeln. Die Realisation dieses Seins schließt immer die Möglichkeit des Scheiterns und Mißlingens mit ein, wobei sowohl Einzelheiten als auch die Gesamtheit der Existenz betroffen sein kann.

87 88

Fuchs, J., Weltethos, S. 147 ebda., S. 149.

174

Theologische Integration

Die Zuwendung

Die Zuwendung" ist als ein Begriff aufzunehmen, der sich gleichermaßen im Sein und Wirken des ethico-ästhetisehen Glaubenssubjekts bestätigt, der also für eine ganz bewußte und qualifizierte Seins- und Verhaltensweise steht, die sich in ihr gemäßen, ihr folgerichtigen Handlungen und Entscheidungen repräsentiert. Zum Ausdruck kommen soll hier eine sehr diffizile Fähigkeit und Leistung sich zu verhalten, welche die Persönlichkeit in ihrer Totalität erfaßt und die sich als deren klare und umfassende Stellungnahme versteht. Im Begriff der Zuwendung dokumentiert sich so das Gesamte der Persönlichkeit, zeigt sich konsequenterweise der Grad ihrer Reife, äußert sich die spezifisch mögliche Klarheit des Bewußtseins, beweist sich die Intensität und Reichweite ihres Denkens und Fühlens, bestätigt sich die schöpferische Kraft der Phantasie. Die Form und Dauer, die Intensität, das Gelingen der Zuwendung entwerfen in dieser Hinsicht ein sehr präzises und unverwechselbares Bild der Persönlichkeit und zeugen von ihrer eigenständigen und verantworteten Leistung. Abseits von Oberflächlichkeit und Gewohnheit, von Nachlässigkeit und Geistlosigkeit soll sich damit eine bewußt getragene Entscheidung zur Hingabe als auch zur Aktivität dokumentieren; eine Seinsweise, die sich ihrer Sinnhaftigkeit bewußt ist, die Effektivität und Konstruktivität beansprucht, darüber hinaus aber auch Offenheit für die jeweiligen situativen Erfahrungen zeigt und Variabilität, darauf zu reagieren. Für die inhaltliche Präzisierung des Begriffs der Zuwendung ist festzuhalten, daß es sich dabei einerseits um eine Entfaltung des Selbstseins und -Verhältnisses des ethico-ästhetischen Subjekts handelt, daß damit andererseits aber auch ein Dialog der auf unterschiedlichsten Ebenen stattfinden kann, erfaßt sein soll. Die Zuwendung, welche immer wieder freizusetzen ist mit einem bewußten Akt der Aufmerksamkeit, des Intereses und der Offenheit, zeigt sich als spezifisch innerer Zustand, der in schöpferischem Handeln und Gestalten Ausdruck findet; zugleich geschieht in dieser selektiv-kreativen Zuwendung auch der wechselseitige Austausch, einerseits entgegengebrachtes Interesse zu erkennen, zu interpretieren, andererseits in adäquater Weise darauf zu antworten. Die Zuwendung kann sich - wie erwähnt - auf sehr unterschiedliche Lebensverhältnisse, Sachverhalte und Gegenstände richten, ihr zentraler Ort bleibt aber die Sozität; sie erscheint insbesondere notwendig auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Kommunikation, verstanden sowohl als ein Mittel als auch ein Vollzug des Dialogs. Die Zuwendung beschreibt ein elementares In-Beziehung-Treten zum anderen, sie bedeutet die Kunst und Fähigkeit (sie Lebenskunst), einen wahrhaftigen und tiefen Kontakt herzustellen und eine tragende Verbindung (im Sinne einer dauernden und eindringlichen Bindung) zu schaffen. Grundvoraussetzung bilden neben dem geklärten und differenzierten Bewußtsein, der Verfügung über die Selbsterfahrung und

Ausblick

175

-kenntnis eine entgegenkommende und sensibilisierte Bereitschaft, ein Vorschuß an Vertrauen in den anderen und seine Möglichkeiten. Die Zuwendung ist als die Fähigkeit zu betrachten, sich selbst wahrnehmbar zu machen, sich dem anderen erkenntlich zu zeigen, ihm sich selbst ohne Einschränkung und Ressortiments schenken zu können; den Zustand einer Anwesenheit zu vermitteln, in der sich ein Austausch, aktiv wie passiv ereignen kann. Dieses Sich-selbst-wahrnehmbar-Machen, wenn es die Gesamtheit der Persönlichkeit, die Tiefe und Einmaligkeit ihres Wesens erschließen und darstellen soll, muß als eine Kunstfertigkeit und -fähigkeit, fern jeder Oberflächlichkeit, jeder egozentrisch-eigennützigen Selbstdarstellung, jedes puren und auf Effekte bedachten Strebens, Eindruck zu machen, begriffen werden. In dem klaren und bewußten Vorgang, in welchem sich die Zuwendung ereignet, in der Aufrichtigkeit und der Totalität der Wendung an den anderen wäre primär ein Angebot zur Teilnahme, eine Einladung im Aufzeigen der eigenen Wesenszüge und Fähigkeiten enthalten, mit der Absicht, so von vornherein einen Kontakt herzustellen, der die Chance eines tiefgehenden Verständnisses und einer beziehungsreichen Bindung einräumt, unabhängig von äußeren Gegebenheiten oder Verhältnissen, Raum- und Zeitgebundenheit ebenso relativierend. Denn ein entscheidender Aspekt ist zu unterstreichen: Im Anspruch der gemeinten Zuwendung - soll sie praktisch effizient sein - muß ein Absolutes enthalten sein, das keinen Bedingungen, Absichten oder Einschränkungen unterliegen darf; nur so kann es gelingen, zunächst sich selbst in der Ganzheitlichkeit der Person wahrnehmbar zu machen, eine umfassende Gegenwärtigkeit zu vermitteln, dem anderen sich so mitzuteilen, daß er diese Zuwendung erfährt und spürt, daß sie für ihn verfügbar wird, so daß er sich darauf einzulassen vermag. In dieser Perspektive wäre es vorstellbar, daß ihm nun seinerseits eine Antwort möglich und wünschenswert ist, die der Vorgabe hinsichtlich ihres Ernstes, ihrer Qualität und Intensität entspricht. Die genannte Zuwendung, dieses Sich-wahrnehmbar und -verfügbar-Machen bedeutet ein Freigiebigsein mit sich, mit der eigenen Zeit, bedeutet, Dasein, eigene Freiheit und Intensität zu vermitteln, umfassend einsichtig und ansprechbar für den anderen zu werden. Verbunden damit, zeigt sich die Notwendigkeit einer Art Übersetzung von Äußerem und Inneren, welche vom sittlichen Subjekt zu leisten wäre, um dem Gegenüber auf diese Weise das Wesenhafte und Einmalige der eigenen Persönlichkeit zu zeigen, damit in gewisser Weise durchschaubar oder zumindest ahnbar zu machen. Anhand dieser vorhandenen Fähigkeit und Kunst der Übertragung, die dann wechselseitig, also von jedem Partner einzusetzen wie auszuführen wäre, läßt sich die Qualität des Dialogs oder der Beziehung insgesamt eruieren. Gewiß kann nicht vom Anspruch ausgegangen werden, daß mit der geschenkten Zuwendung in jedem Fall eine geglückte Annäherung verbunden wäre, daß sich, ist der eigenen Einsatz nur hoch genug, gleichsam selbstredend eine Art der Übereinstimmung, wenigstens irgendwelche Beziehungen

176

Theologische Integration

oder Berührungen einstellen werden. Soll die Zuwendung weder einschränken noch von vornherein festlegen, so muß sie grundlegend offen sein für die Freiheit des anderen, auf diese zu reagieren, diese anzunehmen oder abzuweisen. Notwendigerweise ist daher auch Indifferenz oder Ablehnung in Rechnung zu stellen, ohne grundsätzlicher Enttäuschung oder Irritation zu unterliegen. Die in gewisser Weise absolute Art der Zuwendung, welche dem anderen das eigene Sein, die Totalität der Person erschließen soll und einen tiefen Wesenskontakt ermöglichen kann, ist als ein Leitbild für die Beziehungsform des ethico-ästhetischen Subjekts zu begreifen, eingeschlossen einer Fülle an ethischen Impulsen und sich ergebenden Regulativen.89 Die Zuwendung vermag Wohlwollen und Kritik zu vereinbaren mit dem Ziel, dem anderen zu helfen, zu sich selbst zu bringen, auch in gewisser Hinsicht zu leiten, ohne freilich sich seiner Freiheit bemächtigen zu wollen. Nicht gedrängt oder gezwungen werden soll ja das Gegenüber, sondern von der Atmosphäre, der Aura der Zuwendung inspiriert und gefördert werden. Die jeweilige Art der Zuwendung kann sich nuanciert und facettenreich auszudrücken, sei es durch das reine schweigende Anwesendsein, welches das Grundempfinden von Vertrauen und Sicherheit vermittelt, sei es durch Zuspruch, Ausdruck in Worten oder in Gesten. Gewiß sollte die Zuwendung ohne Berechnung erfolgen, ohne Vorbehalte und ohne Erwarten eines Vorteils eine vollständige persönliche Hinwendung sein, die auch für den eigenen Einsatz keine Erwiderung fordert; darüberhinaus ist jedoch vorstellbar, daß durch sie der Ansatz zu einem planmäßigen Handeln, vielleicht zum Entwerfen von gemeinsam getragenen oder auch eigenen Lebensprojekten in Aussicht gestellt wird, daß sich durch sie Einsichten, Erfahrungen ergeben, die von eindringlicher und nachhaltiger Wirkung auf die Persönlichkeit sind, die sie formen und bereichern können in ihren Grundispositionen. Die Erfahrung und der Vollzug wechselseitiger Zuwendung erschließt dem Partner nicht nur die jeweilige Persönlichkeit, die Wahrhaftigkeit des Austausches vermag Lebenssinn zu spenden, Inspiration und Motivation geben, die Existenz auf solche Erfahrungen von Fülle hin auszuschöpfen, zu versuchen, Zuwendung zu einem immer wirksameren und be89

Dieses Postulat kann in eine innere Beziehung gerückt werden zu dem, was Rahner über eine absolute Art von Zuwendung, nämlich die „wahre Liebe" anmerkt: daß diese nicht in einer isolierten Zweierbeziehung ausgelebt wird, sondern sich recht eigentlich zur Liebe aller Menschen öffnet. Es vermag sich im Anwesendsein, das eine absolute Art der Zuwendung verwirklicht, in jenem bewußten und klaren Sich-verfügbar-Machen und Da- oder auch Nahesein also ein menschlicher Beistand zu konkretisieren, der Stütze bietet, der Einfühlung, bekundet, der das Interesse einer Fürsorge für den anderen bezeugt, die ihn ganz meint und ihm Geborgenheit vermitteln kann: „Denn wahre Liebe zu einem bestimmten Mensch ist nur dort gegeben, wo die Liebe zur Liebe aller aufschließt. Liebe zum bestimmten Menschen ist auch in dieser Hinsicht nicht Egoismus zu zweit. Wo sie ist, ist der Anfang und die Verheißung der Liebe aller"; Rahner, K., Praxis, S. 211.

Ausblick

177

wußteren Lebensprinzip werden zu lassen. Das Prinzip der Zuwendung kann so die alltägliche Lebensführung des ethico-ästhetischen Subjekts in vielfacher und differenzierter Weise prägen und entsprechend qualifizieren. Im Bewußtsein, in ihm ein treffendes Mittel des Dialogs gefunden, eine Kunstfähigkeit und eine Verwirklichung der Kommunikation erschlossen zu haben, findet es seine praktische Bewährung in der Einschätzung und dem - auch prospektiven - Umgang mit Entscheidungssituationen oder auch in der Ausrichtung auf die Gesamtheit der Lebensverhältnisse; diese zu sondieren, sie kritisch zu klären, zu ordnen oder schöpferisch-innovativ zu verändern, darin beweist sich seine Effektivität. Auf die situative Ebene übertragen, bedeutet die Zuwendung ein intensives Sichwidmen, ein Sicheinstellen sowohl auf Details als auch auf Gesamtzusammenhänge, auf Grundstrukturen, auf verborgene und offenliegende Gegebenheiten; die klare Bewußtheit des eigenen Wollens und die Fähigkeit wahrnehmen und deuten zu können, sollte in einem Handeln Ausdruck gewinnen, das ganz der eigenen Persönlichkeit, ihrer Erfahrung, ihrem Wissen, ihrer Vorstellung und ihrer Kreativität entspringt und so von einer Identität zeugt, die verantwortet werden kann und in der zugleich Erfüllung und Glück präsent sind im Sinne von sich selbst verwirklicht, zum Ausdruck gebracht zu haben. Ganz wesentlich ist die zeitethische Komponente, die aus dem dem Prinzip der Zuwendung gefolgert werden kann, näherhin, daß durch die Zuwendung ein reflektierter und verantwortungsvoller Umgang mit der Zeit an sich, wie mit der eigenen Lebenszeit überhaupt realisierbar wird, indem die Aufmerksamkeit ganz bewußt auf die Dimensionen der Zeiterfahrung gelegt wird. Im Nachdenken darüber, wie sich diese im Selbst- und Weltbewußtsein90 dokumentieren, wäre im Rückverweis zu unterscheiden zwischen der persönlichen, inneren Wahrnehmung und Erfahrung von Zeit und Zeitlichkeit wie der persönlichen Bedeutung und Wertung, der sie unterliegen (zu erinnern ist an die innere Anschauung, an das Vermögen zur Evokation von Erfahrungen von Dauer, Zeitlosigkeit, ewigem Augenblick, ewiger Gegenwart) und zum anderen der äußeren, chronometrischen Zeit, die koordiniert ist, Leben und Handlungen in die Dimensionen von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verweist und durch sie bestimmt. Mittels der Dynamik der Zuwendung soll es möglich werden, Zeitbezüge und Zusammenhänge zu erkennen, um bei nötigen Lebensentscheidungen den rechten Zeitpunkt (kairos) bestimmen, eine Art Gespür und Sensibilität für zeitbedingte Änderungen oder Wandlungen entwickeln zu können. Ein Bewußtsein und eine Fähigkeit für aktuelles zeitrichtiges Handeln, ein Auffinden und Verständnis von zeitbedingt kritischen Momenten und Situationen oder die Wahrnehmung und Nutzung jeweilig richtiger Augenblicke und Chancen

90

Guth, R., Handlung, S. 391.

178

Theologische Integration

wären Zeichen eines Verstehens existenzieller Bedingungen und Geschehnisse wie der eigenständig-persönlichen Interpretation. Ethisch verantwortliches, besonnenes Handeln wäre ein der Zeit adäquates, ein den Zeitverhältnissen erforderliches und angemessenes, das sich nicht auf Verzögerung einläßt, Versäumnisse vermeidet; es wäre - in der Anwendung und der Erkenntnis des Prinzips der Zuwendung - der Einsatz zum richtigen Zeitpunkt mit den geeigneten Mitteln, bezogen auf die jeweiligen Phasen der einzelnen Lebensabschnitte. Als Beispiel erwähnt - signifikant auch im Kontext der modernen Massenmedien - sei ein Bereich, in dem sich die Leitvorstellung der Zuwendung wirkungsvoll und folgerichtig einsetzen läßt, in dem ihre operative Fähigkeit zur Geltung kommt; es handelt sich näherhin um die Problematik von Sprache und Sprachverhalten ganz allgemein. Die Macht des Wortes, sie ist nicht nur in der Dimension des Glaubens verwurzelt und in sie eingegangen, sie bezeugt sich als Erfahrung und Erkenntnis demjenigen, der aufrichtig sich selbst beobachtet, die Motive seines Verhaltens und Handelns reflektiert; Worte vermögen zu okkupieren, oftmals nachdrücklicher zu wirken als Handlungen, sie vermögen einen Eindruck zu hinterlassen, der prägend für die Einstellung, das Verhalten wird, sie können und sollen Handlungen evozieren und sind demgemäß zu verantworten. Als Ansatzpunkt für eine Erfassung dieses ebenso schwierigen wie lebensentscheidenden Feldes bietet sich gleichsam als zentrales Beobachtungs- und Experimentierfeld das eigene, ganz individuelle Verhältnis zur Sprache und zum Wort an. Die Aufmerksamkeit richtet sich darauf, den vielleicht selbstverständlichen und oftmals oberflächlichen Umgang mit Sprache zu prüfen und auch in Frage zu stellen hinsichtlich größerer Klarheit, gesteigerter Intensität und Ausdehnung der Wahrnehmung sowie einer Verbesserung und Verfeinerung der Ausdrucksfähigkeit; angepeilt ist die kritische Vergewisserung der Qualität in der persönlichen Mitteilung von Erkenntnis und Wahrheit. Die individuelle Persönlichkeit, gesehen im Brennpunkt eines intensiven Sprachgeschehens, gleichsam als Umschlagplatz wahr- und aufgenommener Worte wie ihr Verfügen über den vorhandenen „Wort-schatz" bietet die Einsicht der existenziellen Dimension, welche für jede ethische Grundfrage von entscheidender Bedeutung ist. Zu vergegenwärtigen gilt es hier - in der Konzentration auf das eigene Verhältnis zum Wort, auf die persönliche Kultur im Umgang damit - vor allem die jeweiligen Erfahrungen und Erlebnisse mit der Sprache, in denen direkte und indirekte existenzielle Bezüge offenbar werden: zu denken ist dabei an das Verhältnis von Sprache, Wirklichkeitserfahrung und Wahrheitserkenntnis oder auch an die Relevanz von Sprache und Handlung. Sprache als entscheidende Form der Selbstdarstellung und der Kommunikation ist so unter dem Prinzip der Zuwendung auf ihren Wirklichkeits- und Wahrheitsgehalt hin zu sondieren.

Ausblick

179

Mit dem Anspruch, daß das Subjekt zur Erkenntnis der Wahrheit befähigt ist, daß ihm ein Sein in der Wahrheit prinzipiell möglich, ja angemessen ist, verbindet sich die Annahme, daß es auch dazu in der Lage ist, dies nach außen hin verständlich zu machen, daß es ihm gelingt, seine Erfahrungen, Erlebnisse und Einsichten von Wahrheit in entsprechende Worte zu übertragen. In der Wahrnehmung seiner Autonomie steht es dem Subjekt frei, ethische Verantwortlichkeit zu zeigen und seine Wahrhaftigkeit, seine Erfahrung und Erkenntnisse von Wahrheit zu präzisieren, sie anderen zu vermitteln, oder aber diese absichtlich zu verbergen und zu verfälschen, die anderen zu manipulieren und in die Irre zu führen; welche Gründe und Absichten dafür auch immer - seien es systemkonservierenden Interessen, sedimentierte Optionen oder auch bloße Gleichgültigkeit - ausschlaggebend sein mögen. Mit Hilfe der Zuwendung sollte es sowohl möglich sein, sich selbst und sein Verhalten zu prüfen, Selbsterkenntnis zu leisten, sich gegebenenfalls zu disziplinieren oder sich zur Wahrheit im Ausdruck zu erziehen als auch im Dialog mit den anderen die Fähigkeit und Aufmerksamkeit zu entwickeln, genau zu differenzieren und so die feinen Nuancen deuten zu können, je nachdem, ob es dem anderen um Vermittlung von Wahrheit geht oder nicht; so vermag sich auch im Dialog das Gespür für das Essentielle einzustellen, kann die Dringlichkeit bestehen, Wichtiges von Unwichtigem zu scheiden. Das Porträt von sich, welches der andere im Gespräch zeichnet, dessen mögliche Reichweite kann durch die konzentrierte Zuwendung, durch jenes Verständnis und jene Deutungsfähigkeit in der Weise identifiziert werden, die dieser sich wünscht, wenn er seine innere Aktualität, seine Wahrheitserfahrung plausibel machen will. Nur kurz anzudeuten ist, daß sich, ausgehend von den persönlichen Erfahrungen von Wirklichkeits- und Wahrheitsgehalt der Sprache im Dialog, mit derselben Anteilnahme, Einschätzungsfähigkeit und Ausdauer (all diese Eigenschaften sind im Begriff der Zuwendung vereinigt) das gesprochenen und geschriebene Wort anbietet, wo immer dies begegnet, wobei sich hier der Verweis auf die Massenmedien und deren eigene normative Prägewirkung nahezu aufdrängt. Gerade in dieser Hinsicht, dem Umgang mit Daten, Fakten Informationen und Aussagen, welche von sich aus Wahrheitsgehalt beanspruchen, damit auch eine gewisse Verbindlichkeit nach sich zu ziehen suchen, scheint das Verhältnis von Sprache und Handlung von besonderer Bedeutung, gilt es die jeweils angebotene Qualität kritisch zu prüfen, auf ihren Anspruch hin zu hinterfragen; in ethischer Perspektive sollten mit der durchdringenden Kraft und der phantasiemächtigen, darin zielsicheren Beweglichkeit der Zuwendung die vielfältigen, teils offenkundigen, teils subtilen Verbindungen auf ihre möglichen Absichten, Konsequenzen, und Ergebnissen hin einer fundierten Überprüfung unterzogen werden. Eine tiefreichende und umfassende Beschäftigung mit jenen Aspekten, ihr eingehendes und gewissenhaftes Bedenken läßt in der Folge eine qualifizierte und vor sich selbst vertretbare Beurteilung zu,

180

Theologische Integration

indem sowohl Zustimmung wie Kritik, Distanz oder Ablehnung das Produkt gründlicher Auseinandersetzung bilden.

Reagieren - Dirigieren

Diese Leitvorstellung, präzisiert im Begriffspaar „Reagieren - Dirigieren", soll wiederum eine bestimmte Art des Handelns und Verhaltens des ethico-ästhetischen Subjekts der Glaubenspraxis beschreiben; die Intention liegt in der Erschließung von Grundstrukturen und -Ordnungen der Existenz und des existenziellen Bewußtseins. Verbindlicher Referenzpunkt ist der Bezug zum Streben nach Übersicht und nach Erkenntnis des Wesentlichen, des Wahren und Guten. Essenzhafte Einsichten, Lebenseindrücke und -erfahrungen, in ihrer summarischen Auswertung, gesammelte eigene Ideen, Ansichten ebenso wie Ziele und Visionen - all dies, als ein persönliches Lebenszeugnis begriffen, sollte Niederschlag finden in einer Art geordneten, bewußten und geklärten Lebensanschauung, in einer Form von Lebensweisheit und Lebenskunst; die praktisch Ausdruck gewinnen müßte in vom Subjekt selbst entworfenen, verantworteten und abgestimmten Kriterien seines Verhalten. Das Dirigieren und Reagieren des eigenen Lebens auf dieser Basis wäre dann eine autonome Leistung und eine Charakteristik derjenigen Persönlichkeit, welche ihren letzten Bezug im Glauben hat und damit auch die Freiheit und Sicherheit, ja den Auftrag gewinnt, sich selbst zu vertrauen, ganz sie selbst zu sein und in dieser Option zu leben. „Dirigieren und Reagieren" meint also den eigenständigen Umgang mit den existenziellen Dimensionen, meint ihre ganzheitliche Betrachtung, Analyse wie Interpretation; es verlangt - um diesen Ansprüchen gerecht zu werden - vorrangig den Einsatz der Phantasie, um schöpferische Kräfte mobilisieren zu können, um Möglichkeiten zu schaffen, in einer Sphäre der Freiheit und geistigen Beweglichkeit, der eigenen Klarheit und Macht das Bestehende zu verbessern, neue Perspektiven zu entwerfen und durchzusetzen. Diese großräumige Einschätzung und Bezugnahme auf ganze Lebensabschnitte und -Strukturen, diese Intention, die den Zusammenhang und die Übersicht über Lebenszeiten, Lebensalterstufen und ihre Wendepunkte hin verfolgt und darauf zielt, diese der Beurteilung zugänglich zu machen, diese Vorgangsweise des „Reagierens und Dirigierens" hebt sich damit auch von dem zuvor erläuterten Begriff der „Zuwendung" ab. Im Unterschied zur „Zuwendung", welche vor allem in der Gegenwärtigkeit und Spontaneität praktische Effiziez gewinnt, mit der das Naheliegende wie auch das Detail berücksichtigt werden kann, soll sich im „Dirigieren und Reagieren" die Möglichkeit verwirklichen, räum- und zeitubergreifend die Lebensführung und die Lebensbereiche, die Lebenswelt im ganzen abzuklären und

Ausblick

181

bewußt in die Handlungsebene einbeziehen zu können; jene näherhin in eigener Autorität zu planen, in ihrer Wahrheit zu entdecken und zu entfalten. Die eigene Existenz soll so in einer Großperspektive erfaßt, befragt, in der Folge interpretiert und gestaltet werden. So gesehen, erscheint einerseits eine bestimmte Distanznahme zu sich selbst unabdingbar, andererseits wäre aber auch unbedingte Aufrichtigkeit, Identifikation mit sich selbst, den eigenen Handlungen, dem eigenen Lebensgeschehen, wie der antreibende Wille und die Sehnsucht nach Erkenntnis des wahren und richtigen Lebens gefordert. Das ethico-ästhetische Glaubenssubjekt ist in der Interpretation seiner Existenz um absolute Wahrhaftigkeit bemüht, womit es gilt, auch die negativen Einsichten, wie umfassend auch zerstörerisch sie sein sollten, in die persönliche Vergewisserung miteinzubeziehen. Es ist und bleibt nicht zuletzt die Begegnung mit der eigenen Wahrheit, die hier festgestellt und akzeptiert sein soll: mit Sicherheit bedarf es Mut und auch einer Risikobereitschaft, die Verpflichtung zur Aufrichtigkeit, Selbsterkenntnis einzugehen, sich diesen zunächst mitunter bedrohlichen, ängstigenden und auch vernichtenden Erfahrungen und Gedanken zu stellen, ohne die Sicherheit einer Lösung zur Verfügung zu haben, ohne sich in seiner Verantwortung in bestehende Traditionen und Gesetzes(strukturen) - wie überkommen diese auch immer sein mögen zu flüchten, damit Revisionen und Enthüllungen zu akzeptieren, die sich notwendig daraus ergeben. Die Konfrontation mit dem eigenen Versagen, dem Scheitern, der eigenen Erfahrung von Trauer, der Nichtigkeit von Wünschen und Hoffnungen, die Einsicht in niederschmetternde Unfähigkeit und eigene Fehler bedeutet eine elementare Erschütterung und Infragestellung der Persönlichkeit in ihrer Gesamtheit. Die negativen Seiten der Existenz, die Begegnung und Berührung mit Leid, Krankheit, Vergänglichkeit und Tod können zeitweise oder auch scheinbar endgültig entmutigen und so belastend sein, daß sich ein einseitig verneinendes Selbst- und Weltverhältnis konturiert, das als die Erfahrung eigener Wahrheit und Wirklichkeit zu akzeptieren ist und dessen Ernst und Gewichtigkeit nicht durch oberflächliche Beschwichtigung und Ausflüchte verdeckt werden kann. Auf der anderen Seite aber stellt sich die Frage, ob nicht gerade in der Annahme und Auseinandersetzung mit der begründetermaßen negativen Selbstund Weltdeutung die Chance einer Lösung und Befreiung, einer Rettung auf einer anderen Ebene erreicht werden kann. Die Vorstellung des ethico-ästhetische Subjekts könnte sich angesichts derart radikaler Forderungen und Erfahrungen beweisen, wenn nicht von vornherein erwartet wird, daß sich - in der Position des Glaubens - wie mühelos und selbstverständlich eine negative Selbst- und Welterfahrung ins Positive transponieren oder auf einen solchen Sinn nach bewährten Vorgaben oder Vorbildern hin umlegen läßt. Der schwierige und eigenverantwortliche Prozeß der Bewältigung, welcher sich für die Persönlichkeit hier abzeichnet, wird auf die fundamentale Problematik einer negativen Sichtweise in ihrer ganzen Tragweite antworten müssen und

182

Theologischeintegration

kann keineswegs vorweg als abgesichert gelten, er kann aber zum Beweis werden für ihre besondere Fähigkeit, Würde und Größe. Das ethico-ästhetische Glaubensubjekt ist in dieser Hinsicht auch unter negativen Bedingungen zu entfalten und kann hier verwirklicht werden, wenn sich dies auf den entscheidenden Ebenen ereignet, nicht vorschnell oder den Schwierigkeiten unangemessen ein Ausweg gesucht wird, sondern im Gegenteil, die Entscheidungen auch dem Bewußtsein der Einzigartigkeit der Persönlichkeit wie ihren Erfahrungen entsprechen und daraus hervorgehen. Das ethico-ästhetische Subjekt wird auf diese besondere Weise seine Freiheit und seinen Glauben verifizieren, indem es in der Negativität anstelle von Resignation ganz bewußt eine Möglichkeit zur Loslösung sieht; in der - vorerst - schmerzlichen Erkenntnis der Realität des Daseins kann die Chance zu einer Selbstbefreiung liegen, zur Wahrnehmung einer gewissen Distanz vom eigenen Selbst, d.h. von seinen unmittelbaren Wünschen, Eigenschaften oder Zwangsvorstellungen, die nicht erzwungener Verzicht ist oder Selbstverleugnung bedeutet, sondern in einer Einsicht gründet, das über das eigene Sein hinausreicht, das in dieser ganz anderen Zugänglichkeit erst wirklich offen ist für Optionen des Glaubens. Dieser Abstand von sich selbst und den eigenen Begierden wie dem Verhaftetsein in der Welt kann zu einer Perspektive der Übersicht, Klarheit und Besonnenheit befähigen und ein Denken und entsprechendes Handeln formen helfen, das zwar aus der erfahrenen Negativität des Daseins erwachsen ist, dieses andererseits aber nicht als Absolutes erklärt und so seine übersteigenden Werte wie seinen tiefen Gehalt auf einer anderen Ebene gewinnt. Gerade in dieser Erfahrung des Kontrastes, daß nämlich anhand der Erfassung der Relativität des Daseins das Absolute des Glaubens zugänglich wird, kann der Ursprung zur Entfaltung einer Persönlichkeit von bestimmender Größe liegen, welche gleichsam über sich selbst hinauswächst und deren Sein und Handeln in jenem hohen ethischen Anspruch und Versuch gelingen kann. Eine so disponierte Persönlichkeit kann mit dem Zeugnis ihres Seins ganz besondere Bedeutung erlangen und verfügbar werden für die Sozietät und deren eigene Lebensstrukturen. Ihre gewiß auch als extrem zu nennenden Erfahrungen und Einsichten können Signal werden für andere, die Lebensführung in der Auseinandersetzung damit zu überprüfen, zu korrigieren und zu stimulieren wie auch ihr hohes sittliches Ethos gemeinsam getragene Strategien und Ziele neu zu dimensionieren vermag. Die Begegnung mit einem sittlichen Subjekt, das sich unter dem genannten Anspruch überzeugend realisiert hat, bietet Anstoß zum Vergleich wie sich in ihm auch die Wahrnehmung eines Vorbilds erfüllen kann. Von einer Persönlichkeit, die zu Loslösung und Selbstbefreiung gelangt ist, die durch die negativen Erfahrungen und Einsichten zu einer das eigene Sein und das Da(sein) ganz allgemein übersteigenden Form des Erkennens gefunden hat und darin fähig ist, den Glauben in der Realisation zu bestätigen, kann zurecht eine besondere soziale Effizienz und Leistungsfähigkeit hinsichtlich des Ethos der Lebensgestaltung erwartet werden. Denn gerade dieser schwie-

Ausblick

183

rige und Extreme durchlaufende Weg, dieses große Abenteuer, welches das ethico-ästhetische Subjekt in jener spezifischen Art der Verwirklichung bestritten hat, das in einem hohen Maß vertiefte Bewußtsein, welches damit erreicht wurde, vermag es zu wirklicher Partizipation und Empathie befähigen, vermag es zu einem Ratgeber und Ansprechpartner zu wandeln und schafft damit die Voraussetzung für eine entsprechende soziale Praxis. Die Bereitschaft dazu, ja den ethischen Auftrag erfährt das Glaubenssubjekt in der Wirklichkeit und Wahrheit seiner Erfahrungen; die spirituelle Kraft, seine Phantasie und sein Wissen werden es dazu öffnen, helfend zu beraten und einzugreifen, andere Lebensperspektiven aufzuschließen, seine Ansätze für ein angemessenes Verhalten anzubieten. Die eigene fundamentale Lebenserfahrung und gewonnene Großperspektive wird eine solche Persönlichkeit gerade dazu drängen, Möglichkeiten zu suchen, sie den anderen zugute kommen zu lassen; Übertragungs- und Anknüpfungspunkte aufzuspüren, die das jeweilige Gegenüber in seiner Lebensbetrachtung fördern und erweitern könnte. Wahrheit und Freiheit im Ausdruck Das Prinzip vom „Lebenstext" Das ethico-ästhetische Subjekt der Glaubenspraxis verfügt über das Bewußtsein eines sogenannten ,£ebenstextes", den es selbst schöpferisch erstellt und gestaltet hat; den es fortführt, der kreativ in seinem Denken und Handeln eingesetzt wird, auf den es sich forthin beziehen kann. Dieser spezifische Begriff des „Lebenstextes" ist hinsichtlich seiner existenziellen wie ethischen Relevanz näher zu präzisieren. Der „Lebenstext" - wie er zu einem Prinzip für Verhaltens- und Handlungsweisen werden kann - gründet in der Einsicht einer tiefen Verbundenheit von Existenz und Ausdruck, von Leben und Sprache. Diesem Verständnis zufolge wird im Bewußtsein gleichsam ein Text zum Leben angelegt und ausgearbeitet, gleichsam ein imaginäres Diarium niedergeschrieben, wird eine Mitschrift zum Erleben, zu den Lebenserfahrungen erstellt. Es handelt sich um ein sehr dichtes und diffiziles Textgewebe, um ein schöpferisches Lebensprodukt, das von der Ganzheitlichkeit der Persönlichkeit zeugt. Das Subjekt, welches einen derartigen Lebenstext verfassen kann, welches sich selbst und auch anderen sein Leben zu erzählen vermag, verfolgt damit ästhetische wie auch ethische Ansprüche und Anforderungen. Denn zu dieser Art der Selbstwahrnehmung, der Selbstentfaltung im sittlichen wie im schöpferischen Sinn, bedarf es konsequenterweise einer tiefgreifenden und umfassenden Beschäftigung mit dem Ausdruck ebenso wie der eingehenden Reflexion zum Thema Sprache und Sprachverhalten. In der Perspektive einer Verbindung von Existenz und Sprache steht im Zentrum der Überlegungen das in und mit einer Sprache lebende und agie-

184

Theologische Integration

rende Subjekt, das sich ganz bewußt und wesenhaft der Forderung nach Wahrhaftigkeit und Richtigkeit wie dem Anspruch einer Kunst des Ausdrucks aussetzt, das darin mehr als eine Stilfrage oder eine ästhetische Problematik erkennt, nämlich ein Prinzip, das als Denk- und Lebenshaltung zu eigen gemacht werden und in dem es aufgehen kann. Bei diesem besonderem und eigens zu bestimmenden Verhältnis zum Ausdruck, zum Wort wie zur Sprache ganz allgemein, handelt es sich ja nicht allein um ästhetische Belange, um das Bemühen um einen gehobenen und adäquaten Ausdruck oder um das Erringen und Auffinden einer persönlichen resp. originellen Note im Sprachgebrauch, sondern umgewandelt und mitgeteilt werden soll, was auch einem ethischen Anspruch unterliegt, näherin die Erfahrung und Einsicht von Wahrheit und Wirklichkeit des eigenen Lebens; Wahrheitserkenntnis und ethischer Impuls wären in Ausdruck, in Sprache umzusetzen, auf diese Weise mitteilbar, verfügbar und fruchtbar zu machen. In der damit gegebenen Auseinandersetzung mit den Worten und der Sprache, in der entscheidenden Gestaltung des persönlichen Ausdrucks, in der Form des Erzählens, ereignet sich einerseits Selbstwahrnehmung, geschieht Selbsterschließung, andererseits werden auf der Ebene des Dialogs Wechselwirkungen greifbar. Diese Einsicht von Wahrheit und angemessenem Ausdruck im Hinblick auf das Wirken am Lebenstext bedarf der ethischen Vergewisserung. Um den Text zum Leben entstehen zu lassen oder das Leben sich zu erzählen, das eigene Erleben mitteilbar und erzählbar zu machen, bedarf es der sorgsamen Vorbereitung, die Wahrheit dazu muß empfangen, schließlich in Ausdruck übersetzt und bewahrt werden, damit auch verfügbar gemacht werden. Hier konkretisiert sich die Idee eines ganz individuellen Schöpfertums, das dem ethico-ästhetischen Glaubenssubjekt in der Form, ohne zu übertreiben, zugestanden werden kann: in diesem Sichselbst-zum-Ausdruck-Bringen, das eine stete Durchdringung, Klärung und Bemächtigung des eigenen Lebensstoffes wie der jeweiligen Erfahrungen oder Einsichten bedingt, in dieser wahrhaft ethisch-ästhetischen Leistung, die es bedeutet, sich und anderen sein Leben erzählen zu können, in einer Form, die dem Anspruch auf Wahrheit und Richtigkeit des Ausdrucks genügt - in all dem kommt der Einzelne einem Künstler, einem Schriftsteller oder Weisen nahe. Ein derartiger Vergleich mag auch deshalb gerechtfertigt erscheinen, weil damit tatsächlich eine lebenslang währende, nie als abgeschlossen zu betrachtende, schöpferische Auseinandersetzung mit sich und den jeweiligen Einsichten bevorsteht, die durchdrungen und formuliert werden sollen, um sie schließlich zur Lebenserzählung reifen zu lassen. Der Einzelne kann bei dieser - tagtäglichen - Aufgabe, an seiner persönlichen Lebenserzählung zu wirken, wachsen und sich steigern, er wird immer mehr zum Dichter und Denker, der einen schöpferischen Akt vollzieht, der seine Denk- und Ausdrucks weise formt; und der sich dabei auch eines ethischen Anspruchs vergewissert, sich selbst als auch anderen gegenüber. Indem die Freiheit zu persönlicher Entfaltung wahrgenommen wird, ergibt sich, dank

Ausblick

185

der schöpferischen Initiative, das Glück persönlicher Erfüllung und Sinnhaftigkeit wie andererseits auch notwendige Selbstzweifel, Kritik und Erfahrungen des Scheiterns und Versagens einzubeziehen sind. Das Leben erzählbar machen, sich die Geschichte seines Lebens zu erzählen, dabei bilden sich sowohl ethische als auch ästhetische Maßstäbe heraus und mehr und mehr vertieft sich das Bewußtsein von bestimmten notwendigen Richtlinien und Prinzipien, entsteht das Verlangen, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und mitzuteilen. Entscheidendes Kriterium in ethischer wie ästhetischer Hinsicht ist hier wiederum der Begriff der Wahrheit. Wahrhaftigkeit und Richtigkeit des Ausdrucks soll dabei der Wahrheit des Erlebens entsprechen; die optierte Konvergenz, das Streben nach unbedingter Wahrheit wird so zur Konsequenz dessen, der eingesehen hat, daß nur auf dieser Grundlage ein zufriedenstellender, ethisch gelungener Lebenstext entstehen und nur in dieser Haltung ohne Vorbehalt erzählt werden kann. Das ethico-ästhetische Subjekt der Glaubensrealisation bemüht sich auf diese Weise, das Kriterium der notwendigen Wahrheit durch sein Sein und seinen Ausdruck einzuholen: es verlangt danach, in der Wahrheit zu leben und es will davon erzählen, im Wissen davon, daß es letztlich und zutiefst nur so sein Selbstzeugnis zu akzeptieren vermag und - in der Folge - es auch vertreten, anderen abieten kann. Um eine Übereinstimmung mit seinem Lebenstext zu erzielen, um fähig zu werden, ihn anderen mitzuteilen, kommt das Subjekt nicht umhin, die Wahrheitsfrage stets neu in ihrer Authentizität zu stellen als bleibende Grundierung der Lebenserzählung, als ihr Inhalt wie als ihre repräsentative Gestalt im Ausdruck. Die Liebe zur Wahrheit soll in dieser Weise den Lebenstext durchdringen und erleuchten, ihn verständlich machen, bis hin zu der Feststellung, daß die Wahrheit des eigenen Erlebens in der unbedingten und umfassenden Wahrheit des Glaubens aufgehen und darin aufgehoben werden kann, wenn begriffen wird, daß sich letztere darin offenbart. Um diese Spur aufzunehmen, ist die Aufmerksamkeit auf den Lebenstext in allen seinen Belangen zu richten, auf sein Werden genauso wie auf die stete Umsetzung im tatsächlichen Ausdruck. Dazu legt sich ein Vergleich nahe: Gleichgültig, ob einmal eine wirkliche Niederschrift stattfindet, eine solche Darstellung und Fixierung versucht wird oder nicht, im Bewußtsein des Subjekts ist die Anlage zu einem in vielen Teilen vielleicht noch verborgenen Text, zu einem sozusagen imaginären Tagebuch vorhanden; wobei es sich bei dieser Eintragung der Lebenserfahrungen und Einsichten um einen überaus umfassenden und vielfältigen Text handelt, um ein kompliziertes und dichtes Gewebe, an dem stetig gewirkt wird. Dieser in die verschiedenen Richtungen sich entfaltende Text kann als eine Art von Lebens-Mitschrift betrachtet werden, die ständig fortgeführt und die weiter ausgearbeitet wird; die in manchen Bereichen erweitert und bereichert öder auch gerafft wird, die korrigiert, neu überdacht, verändert und ergänzt wird; Zeit- und Raumdimensionen sind dabei fließend, was heißen kann, daß beispielsweise Ereignisse und Erfahrungen der Kindheit noch nicht abge-

186

Theologische Integration

schlössen sind oder, daß irgendein Erlebnis aus einem völlig veränderten Blickwinkel erscheint und interpretiert wird. In diesem Sinn ist gleichsam eine Art personaler Autor oder ein Erzähl-Ich am Diarium tätig, arbeitet an einer noch nicht offiziellen Biographie und befindet sich dabei selbst in einem unaufhörlichen Prozeß der Fassung, der Gestaltung wie der Veränderung. Das Bewußtsein vom Lebenstext als einem vorhandenen ganzheitlichen Zeugnis der Persönlichkeit läßt sich mit dem Einsatz des Verstandes, der Empfindung und insbesondere der Phantasie aktualisieren, die Arbeit am Text bedarf aber in erster Linie einer Auseinandersetzung mit der Sprache, um ihn zu entbergen, erzählbar zu machen, um mit ihrer Hilfe darüber verfügen zu können. Über die gründliche Beschäftigung mit der Sprache müßte ein Naheverhältnis, eine lebendige Verbundenheit und Vertrautheit erzielt werden, um dieses Ergebnis für den Ausdruck fruchtbar zu machen. Es sollte im Subjekt gleichsam der Künstler, präziser, der Schriftsteller oder Dichter zum Vorschein kommen, der in einer innigen Gemeinschaft mit den Wörtern existiert, und diese zu gebrauchen weiß, der aber auch mit ihnen kämpfen muß, bis es gelingt, eine wesentliche Erfahrung von Wahrheit und Wirklichkeit in die angemessenen, d.h. die einzig richtigen Worte zu fassen. Der - zugegebenermaßen - hohe Anspruch auf Wahrheit und Richtigkeit des Ausdrucks bedingt in seiner Verwirklichung nicht nur eine intensive Suche nach dem brauchbaren Wort; in dieser ständigen Prüfung und Klärung der Sprache ist auch der Zweifel an ihr miteinzubeziehen und zu bewältigen. Eine gültige Aussage muß dem Schweigen entrissen werden, muß ihrer Verneinung entkommen und standhalten. Andererseits ist zu bedenken, daß gerade in einer existenziellen Sichtweise, in der tiefen Verbundenheit von Leben und Sprache, welche bedeutet, daß die Worte mit Erleben und ganzheitlichen Erfahrungen der Persönlichkeit gedeckt sind, das zu Sagende stets Priorität haben sollte über das Wie des Ausdrucks, um sich letztlich nicht in einem puren Ästhetizismus zu verfehlen. Bei der Annäherung an eine autorisierte Biographie, beim schöpferischen Wirken an der Lebenserzählung wird augenscheinlich, daß dabei auch ethische Kriterien in Betracht zu ziehen sind; das Leben sich und anderen zu erzählen, wenn dies in der Offenheit für die Wahrheit geschieht, wenn die damit verbundene Verantwortung sich selbst und anderen gegenüber wahrgenommen wird, so ist darin ein ethischer Akt der Selbstdarstellung zu sehen. Der Anspruch, sich bei dieser Lebenserzählung an die Wahrheit zu halten, weder sich beirren noch täuschen zu lassen, entbehrt nicht - und dies wird immer deutlicher, je mehr darüber nachgedacht wird - seiner Strenge und Ordnung. Es gilt, die Tiefe von Erlebnissen auszuloten, das Ergriffen- und Erschüttertsein von bestimmten Ereignissen und Erfahrungen heranzuziehen, sich dem auszusetzen, was die eindringliche Kraft und die treffende Macht des Wahren und Wirklichen aufweist. Die Augenblicke der Erfahrung von Wirklichkeit - sie sind auf ihre Gesetzhaftigkeit hin zu sichten, können sie doch die Wegweiser für das wahre, gute und richtige Leben auf Dauer werden. Sein

Ausblick

187

Leben sich erzählen, schärft den Blick für das Wesentliche einer Erfahrung ebenso wie bei der Suche nach dem, was die einzelnen Lebensmomente verbinden könnte, wichtige Einsichten zu gewinnen sind; dies kann etwa das Entdecken einer bestimmte Haltung betreffen, die den ursächliche Zusammenhang stiftet. Einer der entscheidenden Faktoren bei der Erschließung des Lebenstextes ist die Stärkung und Formung des Bewußtseins für die weltgeschichtliche Dimension der eigenen subjektiven Lebensgeschichte. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß der Einzelne, wer immer er ist, und welche vergleichsweise bescheidene Rolle er auch spielt, einen weltgeschichtlichen Rahmen hat, auf den er sich beziehen kann. Derjenige, der sein Leben erzählt, gewinnt darin Abstand, er vermag sich und sein Leben in einer geänderten, wesentlich erweiterten, im Grunde ganzheitlichen Perspektive wahrzunehmen, Relationen herzustellen und Erkenntnisse zu gewinnen, die sonst verborgen geblieben wären. Das Aufgehen in der Weltgeschichte korrespondiert so der Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Lebens, was sich bei eingehender Aufmerksamkeit bis in den Alltag hinein verfolgen läßt; denn jedes Ereignis, jede auch unscheinbare Geste oder Handlung hat, bezogen auf die ganz spezifische Situation, bezogen auf den Ort und die Zeit des Geschehens, einen Charakter von Einmaligkeit, dem es adäquat zu entsprechen gilt. Die Vergegenwärtigung dieser Tatsache kann dazu anregen, bestimmte Situationen und Ereignisse, aber auch das Leben insgesamt pluraler zu sehen, alternativreicher zu gesaokstalten und offen zu sein für Werte, die bisher unbeachtet blieben. Mit der Einbindung der eigenen Lebensgeschichte in das Weltgeschehen und dem bis ins Detail reichenden Bewußtsein ihrer Einzigartigkeit gewinnt die Persönlichkeit entscheidende Motive für ihr Selbstbild, ihre Haltungen und Handlungen. Gerade in der intensiven Beschäftigung mit der eigenen Lebensgeschichte liegt ein Antrieb, sich den anderen zuzuwenden, sie teilhaben zu lassen an Einsichten, über deren Wahrheit und Wirklichkeit tiefe Überzeugung herrscht. Das Bedürfnis nach Kommunikation und Vergleich begründet in diesem Sinn ein Angebot, das in seiner Reichhaltigkeit und Konzentration dem Austausch von Belanglosigkeiten und Oberflächlichkeiten unbedingt entgegentritt. In dem vertrauten Umgang mit dem Lebenstext wird dem ethico-ästhetischen Subjekt einsichtig, daß es von Begegnungen und Beziehungen mit anderen geprägt und bestimmt ist, daß Erfahrungen der Gemeinschaft den Lebenstext insbesondere konturieren und betonen, daß in ihm das Prinzip des Dialogs hervortritt und modelliert wird, für sein Gelingen unentbehrlich ist. Sie existieren - die Glanz- und Höhepunkte einer Lebenserzählung, sowie die Spur des Glaubens in diese aufzunehmen ist, etwa dann, wenn in der Begegnung mit dem anderen Liebe erfahren wurde, und sich dabei ebenso bewußt wie selbstverständlich der Sinn für die Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Geschehens vor ihrem weltgeschichtlichen Hintergrund eröffnet.

7. Literaturverzeichnis Angehrn, E., Krise der Vernunft? Neuere Beiträge zur Diagnose und Kritik der Moderne, in: PhR 33 (1986) 161-209. Arens, E. (Hrsg.), Habermas und die Theologie, Düsseldorf: Patmos, 1989. ders., Zur Struktur theologischer Wahrheit, in: ZKTh 112 (1990) 1-17. Auer, A., Glaube, Hoffnung und Liebe. Die Öffnung eines traditionellen theologischen Traktats in die Dimension des Gesellschaftlichen, in: Pompey, H./ Hepp, J./Mielenbrink, E. (Hrsg.), Funktion und Struktur christlicher Gemeinde, Würzburg: Echter, 1971,91-114. ders., Zur Rezeption der Autonomie-Vorstellung durch die katholisch-theologische Ethik, in: ThQ 161 (1981) 2-13. Balthasar, H. U. v., „Herr, daß ich sehe!" Über das Schauvermögen der Christen, in: Rahner, K./Welte, B. (Hrsg.), Mut zur Tugend, Freiburg: Herder, 1979,213-226. Baecker, D., Man sieht nur, was man sehen kann. Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, in: FAZ 6. 5. 1987,11. Bauerdick, R., Transzendentale Subjektivität oder Transzendentalität des Subjekts, in: PhTh33 (1986) 291-309. Bayer, O., Kategorischer Imperativ und Kategorische Gabe, in: EK 14 (1981) 627-630. Bergfleth, G., Zur Kritik der palavernden Aufklärung, München: Matthes und Seitz, 1984. Böckle, F., Art „Existentialethik", in: LThK, Bd. 3, Sp. 1301-1394. Böhme, H./ Böhme, G., Das Andere der Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1985. Böhme, G., Alternativen der Wissenschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1980. ders., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1985. ders., Philosophieren mit Kant, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986. Bujo, B·. Autorität und Normsetzung, in: StdZ 10 (1990) 703-714. Burridge, K., Someone, no one. An essay on individuality, Princeton, 1979. Cioran, E. M., Widersprüchliche Konturen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986.

Literaturverzeichnis

189

Daecke, S. M., Glaube im Pluralismus. Gibt es eine postmoderne Theologie? in: EK 11 (1988) 629-632. Davis, Gh., Kommunikative Rationalität und die Grundlegung christlicher Hoffnung, in: Arens, E. (Hrsg.), Habermas und die Theologie, Düsseldorf: Patmos, 1989,96-115. Demmer, K., Deuten und Handeln. Grundlagen und Grundfragen der Fundamentalmoral, Freiburg-Wien: Herder, 1985. ders., Die Lebensgeschichte als Versöhnungsgeschichte, in: PhTh 36 (1989) 375-393. ders., Das Selbstverständnis der Moraltheologie, in: Ernst, W. (Hrsg.), Grundlagen und Probleme der heutigen Moral theologie, Würzburg: Echter, 1989, 9-25. ders., Komplexe Fragen erfordern komplexe Antworten, in: Herd. Korr. 4 (1989) 176-180. ders., Die Herausforderung der Moral theologie durch die Biologie, in: Gregorianum 3 (1989) 495-519. ders., Moral theologische Methodenlehre, Frei bürg: Herder, 1989. ders., Die Wahrheit leben, Theorie des Handelns, Frei bürg: Herder, 1991. ders., Das vergeistigte Glück. Gedanken zum christlichen Eudämonieverständnis, in: Gregorianum l (1991) 99-115. ders., Der Ursprung einer Idee, in: Intams Review l (1995) 23-28. Duer, H. P..(Hrsg.), Der Wissenschaftler und das Irrationale, Bd. 3, Frankfurt/M.: Syndikat, 1985. Ebeling, H., Neue Subjektivität. Die Selbstbehauptung der Vernunft, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1990. ders., Das Subjekt in der Moderne. Rekonstruktion der Philosophie im Zeitalter der Zerstörung, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt, 1993. ders., Das Subjekt in der Moderne, in: ders. (Hrsg.), Subjektivität und Selbsterhaltung? Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1996,344-354. Eid, V., Sakramente und christliches Ethos. Skizze zu einem Thema des Problems Glaube und Moral, in: Studia MoraliaXV (1977) 139-153. ders., Zum Verhältnis von Autonomie und Theonomie im christlichen Ethos, in: ThQ 100(1980) 191-203. ders., Sittlich bedeutsame Perspektiven aus der Verkündigung Jesu. Christlicher Glaube und sittliches Handeln, in: Dynamik im Wort, hrsg. v. Kath. Bibelwerk e.V., Stuttgart: Verl. Kath. Bibelwerk, 1983,345-359. ders., Die sozialethische Relevanz des Autonomiekonzepts, in: Concilium 20 (1984)108-114. Endreß, M., Zur sozial theoretischen Grundlegung einer integrativen Ethik, in: ders. (Hrsg.), Grundlegung einer integrativen Ethik, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995,155-204.

190

Literaturverzeichnis

Engelhardt, P. (Hrsg.), Glück und geglücktes Leben. Philosophische und theologische Untersuchungen zur Bestimmung des Lebensziels, Mainz: Grünewald, 1985. Fuchs, J., Das Absolute in der Moral, in: StdZ 297 (1989) 825-840. ders., Innovative Moral, in: StdZ 3 (1991) 181-191. ders., Die schwierige Goldene Regel, in: StdZ 11 (1991) 773-781. ders., Weltethos oder säkularer Humanismus, in: StZ3 (1993) 147-154. Gamm, G., Das gute und das schöne Leben, in: ders./Kimmerle, G. (Hrsg.), Ethik, 11-37. ders., Wahrheit als Differenz, Frankfurt/M.: Hain bei Athenäum, 1986. Glasersfeld, E. v., Wissen, Sprache und Wirklichkeit. Arbeiten zum radikalen Konstruktivismus, Wiesbaden 1987. ders., Siegener Gespräche über Radikalen Konstruktivismus, in: Schmidt, S. J., Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt/M: Suhrkamp, 1988,401-440. Gleixner, H., Tugenden wieder gefragt?, in : ZKTh 108 (1986) 255-265. Greshake, G., Gottes Heil - Glück des Menschen, Freiburg: Herder, 1983. Günther, K., Das gute und das schöne Leben, in: Gamm, G./Kimmerle, G. (Hrsg.), Ethik und Ästhetik, Tübingen: Ed. Diskord, 1990. Gumin, H. / Mohler, A. (Hrsg.), Einführung in den Konstruktivismus, München, 1985. Guth, R., Das Prinzip Phantasie, Wien: VWGÖ, 1987. ders., Aspekte medienethischer Verantwortung, in: ThG l (1990) 49-54. ders., Handlung und Gedanke, in: Studia Moralia, 2 (1991) 387-394. Habermas, J., Erkenntnis und Interesse, in: ders., Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1969, 146-159. ders., Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991,100-118. Hausmanninger, Th., Christliche Sozialethik in der späten Modere, in: ders. (Hrsg.), Christliche Sozialethik zwischen Moderne ud Postmoderne, Paderborn: Schönigh, 1993,45-90. Hejl, P. M./Köck, W. K. /Roth, G. (Hrsg.), Wahrnehmung und Kommunikation, Frankfurt/M: P. Lang, 1978. Hengstenberg, H.-E., Grundlegung der Ethik, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1989. Hirschi, H., Moral begründung und christlicher Sinnhorizont, Frei bürg-Wien: Herder, 1992.

Literaturverzeichnis

191

Hoffe, O., Ist die transzendentale Vernunftkritik in der Sprachphilosophie aufgehoben? Eine programmatische Auseinandersetzung mit Ernst Tugendhat und Karl-Otto Apel, in: PhJ 91 (1984), 250-272. ders., Philosophische Handlungstheorie als Ethik, in: Poser, H. (Hrsg.), Philosophische Probleme der Handlungstheorie, München 1982, 233-250. Höhn, H.-J., Vernunft - Kommunikation - Diskurs, in: ThPh (1986) 93-128. ders., Vernunft-Glaube-Politik. Reflexionsstufen einer christlichen Soziallehre, Paderborn: Schöningh, 1990. ders., Krise der Moderne - Krise der Vernunft? Motive und Perspektiven der aktuellen Zivilisationskritik, in: ZKTh 109 (1987) 20-47. ders., Gesellschaft im Wandel - Theologie im Wandel. Theologische Positionen im Streit um die Moderne, in ThG 2 (1989) 83-94. Hohl, L., Vom Arbeiten. Bild, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1978. Honecker, M., Tendenzen und Themen der Ethik, in: ThR 47 (1982) 1-72. ders., Tendenzen und Themen der Ethik, in: ThR 48 (1983) 349-382. ders., Einführung in die theologische Ethik, Berlin: Walterde Gruyer, 1990. ders., Zur ethischen Diskussion der 80er Jahre, in: ThR l (1991) 54-97. Honnefeider, L., „Ich sehe mehr Anpassung an den Zeitgeist, als sich die Urheber eingestehen", in: Herd. Korr. l (1991) 24-31. ders., Absolute Forderungen in der Ethik. In welchem Sinn ist eine sittliche Verpflichtung „absolut"?, in: Kerber, W. (Hrsg.), Das Absolute in der Ethik, München : Kindt, 1991, 13-33. Hunold, G. W., Ethik in einer sich verändernden Welt, in: ThQ (1986) 1-7. Kants Werke. Akademie-Textausgabe, I-IX, Berlin: Walter de Gruyter 1968 (2 Bde Anmerkungen, Berlin 1977). Kaufmann, F.-X., „Es bleiben tiefe Ambivalenzen". Ein Gespräch mit FranzXaver Kaufmann, in: Herd. Korr. 2 (1997), 72-78. Kerber, W. (Hrsg.), Das Absolute in der Ethik, München: Kindt, 1991. Keupp, H., Riskante Chancen. Das Subjekt im gesellschaftlichen Wandel, in: Universitas 9 (1990) 838-851. Kluxen, W., Ethik und Ethos, in: PhJ 73 (1965/1966) 339-355. Kohler, G., Die Kritik der Vernunft und die Vernunft der Kritik, in: NZZ, 6. 9. 1985,38. Korff, W., Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven der Ethik, MünchenZürich: Piper 1985. Krämer, H., Prolegomena zu einer Kategorienlehre des richtigen Lebens, in: PhJ 83 (1976) 71-97. ders., Die Grundlegung des Freiheitsbegriffs in der Antike, in: Simon, J. (Hrsg.), Freiheit. Theoretische und praktische Aspekt des Problems, München: Alber, 1977,239-270. ders., Selbstverwirklichung, in: Bien, G. (Hrsg.). Die Frage nach dem Glück, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog, 1978,21-57.

192

Literaturverzeichnis

ders., Antike und moderne Ethik?, in: ZThK 80 (1983) 184-203. ders., Neue Wege der philosophischen Ethik, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie XXX (1985) 87-96. ders., Sind zwei Ethiktypen notwendig? Zum Verhältnis von Sollensethik und Strebensethik, in: Universitas 40 (1985) 995-1002. ders., Moralisches Sollen, Autonomie und gutes Leben. Zur neueren EthikDiskussion, in: Perspektiven der Philosophie 12 (1986) 295-322. ders., Plädoyer für eine Rehabilitierung der Individualethik, Amsterdam: B. R. Grüner, 1983. ders., Plädoyer für eine Philosophie der Lebenskunst, in: Information Philosophie 3 (1988) 5-17. ders., Integrative Ethik, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1992. ders., Replik: "Die Integrative Ethik in der Diskussion, in: Endreß, M. (Hrsg.), Grundlegung einer integrativen Ethik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, 205249. Kreß, H., Die Kategorie ethischer „Verantwortung" in der neueren Diskussion, in: ThR l (1988) 82-98. Kuhlmann, A., Tugend ohne Glück?, in: FAZ 17. 8. 1988,31. Lenk, H., Universität oder Multiversität, in: Universitas l (1992). Lübbe, H., Die neue Aktualität der Ethik, in: Schweizer Monatshefte 3 (1992) 193-218. Maier, H. (Hrsg.), Ethik der Kommunikation, Freiburg: Univ.-Verlag, 1985. Marcel, G., Werkauswahl, Bd. 1-3, hrsg. v. P. Grotzer, Paderbom: Schöningh, 1992. Marquard, O., Vernunft als Grenzreaktion, in: Poser, H., (Hrsg.), Wandel des Vernunftbegriffs, Freiburg/München: Alber, 1981, 107-133. Mieth, D., Brauchen wie Gott für die Moral?, in: ThPh 29 (1982) 210-222. ders., Die neuen Tugenden, Düsseldorf: Patmos, 1984. ders., Art. „Autonomie", in: Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. l, München: Kösel, 1991,139-148. Mittelstrass, J., Philosophie in einer Leibniz-Welt. Über einige Aspekte der Modernisierung, in: NZZ, 6. 6. 1990,34. Müller, S. E., Zustimmung zum eigenen Dasein, in: ThG 2 (1997) 94-104 Neufeld, K.-H., Läßt sich Glaubenswahrheit absichern? Die begrenzte Aufgabe des kirchlichen Lehramts, in: Herd. Korr. 4 (1991) 183-188. Nientiedt, K., Taugen Tugenden wieder?, in: Herd. Korr. l (1988) 1-3. Oelmüller, W. (Hrsg.), Fortschritt wohin? Zum Problem der Normenfindung in der pluralen Gesellschaft, Düsseldorf: Patmos, 1972. ders., Philosophisches Orientierungswissen, in: PhJ 95 (1988) 96-106.

Literaturverzeichnis

193

Ollig, H. L.., Die Vernunft auf dem Prüfstand. Anmerkungen zur jüngsten Rationalitätsdiskussion, in: ThPh 58 (1983) 363-394. ders., Schwierigkeiten mit der neuzeitlichen Rationalität. Anmerkungen zur jüngsten Vernunftkritik, in: ThPh 61 (1986) 86-109. ders., Kontroverse Subjekttheorie , in: Endreß, M. (Hrsg.), Grundlegung einer integrativen Ethik, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995,73-97. Paz, O., Die doppelte Flamme. Liebe und Erotik, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995. Peukert, H., Wissenschaftstheorie - Handlungstheorie - Fundamentale Theologie, Düsseldorf: Patmos, 1976. ders., Kontingenzerfahrung und Identitätsfindung, in: Blank, J. /Hasenhüttel, G. (Hrsg.), Erfahrung, Glaube und Moral, Düsseldorf: Patmos, 1982, 76102. ders., Was ist eine praktische Wissenschaft, in: Fuchs, O. (Hrsg.), Theologie und Handeln, Düsseldorf: Patmos, 1984,64-79. ders., Kommunikatives Handeln, Systeme der Machtsteigerung und die unvollendeten Projekte Aufklärung und Theologie, in: Arens, E. (Hrsg.), Habermas und die Theologie, Düsseldorf: Patmos, 1989,39-64. ders., Art. „Fundamentaltheologie", in: HThG 2 (1984) 16-25. Podak, K., Woher Kants Lust an der Vernunft kam. Die Brüder Böhme beim Versuch, die Philosophie zu reformieren, in: SDZ, 12. 10. 1983,235. Pröpper, Th., Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte, München: Kösel, 1985. ders., „Erst in autonomer Zustimmung kommt Gottes Liebe zum Ziel", in: Herd. Korr. 9 (1991) 411-418. ders., Das Faktum und die Konstitution menschlicher Identität. Ein Beitrag zur kritischen Aneignung der Anthropologie Wolfgang Pannenbergs, in: ThQ 170 (1990) 267- 289. Puntel, L. B., Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, Darmstadt 1978. Rahner, K., Schriften zur Theologie, Bd 1-15. Nebst Reg. zu 1-10, Zürich, Köln, Einsiedeln: Benzinger, 1962-1983. ders., Betrachtungen zum ignatianischen Exerzitienbuch, München: Kösel, 1965. ders., Praxis des Glaubens, Freiburg: Herder, 1982. ders., Grundkurs des Glaubens, Freiburg: Herder, 1984. Rentdorff, T., Ethik, Stuttgart: Kohlhammer, 1980. Ringeling, H., Leben im Anspruch der Schöpfung, Freiburg: Herder, 1988. ders., Christliche Ethik im Dialog, Freiburg: Herder, 1991. Rinser, L., Gratwanderung: Briefe der Freundschaft an Karl Rahner 19621984, Hrsg. v. B. Snela , München: Kösel, 1994.

194

Literaturverzeichnis

Roth, G./Schwelger, H. (Hrsg.), Self-organizing systems. An interdisciplinary approach, Frankfurt/M., New York: Campus, 1981. Ruh, U., Wahrheit als Problem, in: Herd. Korr. 8 (1991) 345-347. Schmid, W., Kunst und Leben. Anmerkungen zu einer wieder auflebenden Diskussion, in: Merkur l (1991) 82 - 87. Schmidt, S. J.. (Hrsg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988. ders., Der beobachtete Beobachter. Zu Text, Kommunikation und Verstehen, in: ThQ 3 (1989) 187-199. Schönrich, G., Innere Autonomie oder Zurechnungsfähigkeit. Eine Auseinandersetzung mit Tugendhats „Der Begriff der Willensfreiheit", in: ZPhF 2 (1990)278-291. Seel, M., Die Wiederkehr der Ethik des guten Lebens, in: Merkur 45 (1991) 42-49. TUrck, H. J., Fundamenialismus, in: StdZ (1991) 86-94. Tugendhat, E., Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt: Suhrkamp 1979. Tugendhat, E., Probleme der Ethik, Stuttgart: Reclam, 1984. Ulrich, H.G., Konjuntur oder Aufbruch?, in: EK 4 (1988) 199-202. ders., Wege und Perspektiven ethischer Diskussion, in: VuF l (1989) 22-52. ders., Evangelische Ethik - gegenwärtige Perspektiven, in: ders. (Hrsg.), Evangelische Ethik: Diskussionsbeiträge zu ihrer Grundlegung und ihren Aufgaben, München: Kaiser, 1990,382-411. Welsch, W., Vielheit ohne Einheit? Zum gegenwärtigen Spektrum der philosophischen Diskussion um die „Postmoderne". Französische, italienische, amerikanische, deutsche Aspekte, in: PhJ 94 (1984) 111-141. Wiebering, J., Auf der Suche nach einem geglückten Leben, in: Theologische Literaturzeitung 112(1987) 1-9. Wils, J.-P., Sittlichkeit und Subjektivität. Zur Ortsbestimmung der Ethik im Strukturalismus, in der Subjektivitätsphilosophie und bei Schleiermacher, Freiburg: Herder, 1987. ders., Verletzte Natur. Ethische Prolegommena, Frankfurt/M.: Lang, 1991. Wolf., Gh., Das Problem des moralischen Sollens, Berlin: de Gruyter, 1984. Yankelovich, D., New Tules - searching for self-fulfillment in a world turned abside down, New York, 1981. Zoll, R. u.a., Nicht so wie unsere Eltern! Ein neues kulturelles Modell, Opladen: Westdt. Verl., 1989.