Schleiermacher / Hegel: 250. Geburtstag Schleiermachers / 200 Jahre Hegel in Berlin [1 ed.] 9783428556342, 9783428156344

Der Band dokumentiert die Beiträge eines Symposions, das vom 21. bis 23. November 2018 an der Berlin-Brandenburgischen A

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Schleiermacher / Hegel: 250. Geburtstag Schleiermachers / 200 Jahre Hegel in Berlin [1 ed.]
 9783428556342, 9783428156344

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Hegel-Jahrbuch Sonderband 13 Schleiermacher / Hegel 250. Geburtstag Schleiermachers / 200 Jahre Hegel in Berlin Herausgegeben von Andreas Arndt Tobias Rosefeldt

Duncker & Humblot

Schleiermacher / Hegel

HEGEL-JAHRBUCH Herausgegeben von Brady Bowman, Myriam Gerhard, Jure Zovko Begründet von Wilhelm Raimund Beyer (†)

Sonderband 13

Schleiermacher / Hegel 250. Geburtstag Schleiermachers / 200 Jahre Hegel in Berlin

Herausgegeben von Andreas Arndt Tobias Rosefeldt

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Der Band wurde im Rahmen der gemeinsamen Forschungsförderung von Bund und Ländern im Akademienprogramm mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung des Landes Berlin erarbeitet.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 2199-8167 ISBN 978-3-428-15634-4 (Print) ISBN 978-3-428-55634-2 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhalt Vorwort Von Andreas Arndt und Tobias Rosefeldt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Grußwort des Präsidenten der Berlin-Brandenburgischen Akademie der ­Wissenschaften Von Martin Grötschel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. Religionsphilosophie und Christentumsauffassung „Hauskrieg“ bei Kants Erben. Schleiermacher und Hegel über Religion und Christentum Von Jörg Dierken  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Das Faktum und die Vorstellung Von Walter Jaeschke  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 II. Revolution, Reform, Reaktion. Zur politischen Verortung Schleiermachers und Hegels Utopischer Pragmatismus. Schleiermachers Politikverständnis zwischen Enthusiasmus und Enttäuschung Von Andreas Arndt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Das Politische und Politik in Hegels Wirken zu seiner Zeit Von Hans-Peter Krüger  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 III. Dialektik, Logik, Metaphysik The Primacy of Intersubjectivity in Schleiermacher’s Dialectic By Christine Helmer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Dialektik bei Schleiermacher und Hegel Von Brady Bowman  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 IV. Ästhetik „Lieder ohne Worte“? Zum Verhältnis von Vokal- und Instrumentalmusik in Schleiermachers und Hegels Ästhetik Von Holden Kelm  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

6 Inhalt „… kein blosser Schrei der Empfindung, sondern ihr ausgebildeter Ausdruk“. Subjektivität und Bedeutung in Hegels Musikästhetik Von Bernadette Collenberg-Plotnikov  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Schleiermacher, Hegel – ihre Welt und die Musik. Einige Anmerkungen zum Programm des Konzertes des Duo Ingolfsson-Stoupel im Rahmen der Schleiermacher/Hegel-Tagung in Berlin im November 2018 Von Vladimir Stoupel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 V. Objektive Ethik und objektiver Geist Friedrich Schleiermachers Güterlehre als objektive Ethik: Kultur – Ware – Eigentum Von Sarah Schmidt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Der objektive Geist: von Hegel bis heute Von Jean-François Kervégan  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 VI. Bildung Bildung und Religion in Schleiermachers Entwicklung Von Jan Rohls  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Bildungsprozesse (in) der Moderne Von Birgit Sandkaulen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 VII. Sprache und Hermeneutik Verstehen „hat eine doppelte Richtung, nach der Sprache und den Gedanken“. Bemerkungen zur Relevanz der Schleiermacherschen Hermeneutik Von Jure Zovko  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Hegel und die „göttliche“ Natur der Sprache Von Denis Thouard  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Siglen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Verzeichnis der Autor*innen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Personenverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Vorwort (1) Der vorliegende Band dokumentiert die Beiträge eines Symposions, das vom 21. bis zum 23. November 2018 im Leibniz-Saal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften stattfand. Das Datum des Beginns ist nicht zufällig: Am 21. November 1768 wurde Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher in Breslau als Sohn eines reformierten preußischen Feldpredigers geboren. Zufällig mag es erscheinen, dass dieser 250. Geburtstag Schleiermachers bei diesem Symposion mit einem anderen Jubiläum verknüpft wurde: vor gut 200 Jahren, am 22. Oktober 1818, hielt Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der als Nachfolger Fichtes an die Berliner Universität berufen worden war, seine Antrittsvorlesung in Berlin. Warum Schleiermacher und Hegel? Die zeitliche Nähe beider Jubiläen ist gewiss zufällig; dieser Zufall ist aber ein guter Anlass, einen neuen Blick auf die Stellung und das Verhältnis beider Denker in der Epoche der Klassischen Deutschen Philosophie zu werfen und dadurch auch ihr geistiges Profil schärfer zu fassen. Die Epoche der Klassischen Deutschen Philosophie fand ihren Höhepunkt an der Berliner Universität. Hier lehrten zunächst Johann Gottlieb Fichte und neben ihm Schleiermacher, der – obwohl Professor der Theologie – als Mitglied der philosophischen Klasse der königlichen Akademie der Wissenschaften das Recht hatte, auch an der philosophischen Fakultät Vorlesungen zu halten und dieses Recht bis zu seinem Tod intensiv und regelmäßig wahrnahm. Die Berufung Hegels von Heidelberg nach Berlin – der bereits 1816 ergangene erste Ruf hatte Hegel zu spät erreicht, da er bereits den nach Heidelberg angenommen hatte – war mit Zustimmung Schleiermachers erfolgt, jedoch betrieb er gleichzeitig die Auflösung der philosophischen Klasse der Akademie, um Hegels Aufnahme zu verhindern.1 Solche wissenschaftspolitisch motivierten Konflikte, aber auch Hegels Polemik gegen Schleiermachers „Gefühlstheologie“ haben dazu geführt, dass beide als Antipoden wahrgenommen wurden und werden. Über Spannungen zwischen Schleiermacher und Hegel gibt es zahlreiche Berichte der Zeitgenossen. Der Heidelberger Theologe und Hegelianer Carl Daub soll 1  Vgl. den Kommentar von J. Hoffmeister in: Briefe von und an Hegel, hg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1969, Bd. 2, 449. – Vgl. Günter Stock, „Grußwort des Präsidenten der BBAW“, in: Gestalten des Bewußtseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels, hg. v. Birgit Sandkaulen, Volker Gerhardt und Walter Jaeschke, Hamburg 2009 (Hegel-Studien, Beiheft 52), 13–18, hier: 15–18.

8 Vorwort

bereits anlässlich Hegels Berufung nach Berlin geäußert haben, Hegel werde es „als ein bis an die Zähne gerüsteter, mit seinem Pallasch gerade durchhauender Kürassier“ mit Schleiermacher als „einem gewandten, sein leichtes Pferdchen zierlich tummelnden Ulanen zu tun bekommen.“2 Während Hegel Schleiermacher auch offen angriff – berühmt-berüchtigt ist sein Wort, nach Schleiermacher sei der Hund der beste Christ, weil er ganz im Gefühl der Abhängigkeit lebe3 – vermied Schleiermacher öffentliche Stellungnahmen gegen Hegel und versuchte eher, ihm wissenschaftspolitisch Einfluss zu nehmen. Gute oder beste Freunde waren Schleiermacher und Hegel gewiss nicht, auch wenn sie persönlich zumeist einen respektvollen Umgang miteinander pflegten, gelegentlich mit Studenten zusammen feierten,4 Adressen von Weinhändlern austauschten (damals ein außerordentlicher Vertrauensbe­ weis)5 und schließlich, so wird berichtet, gemeinsam in freundlichem Gespräch eine „Rutschbahn“ auf dem „Tivoli“ (am Südhang des Kreuzbergs) herunterfuhren.6 Die Rede von den Antipoden Hegel und Schleiermacher bezieht sich aber nicht in erster Linie auf Persönliches und Wissenschaftspolitisches, sondern auf ihre Theorien. Damit soll eine diametrale Entgegensetzung angezeigt werden. Allerdings: von Antipoden können wir nur dann sprechen, wenn sich beide auf der Oberfläche desselben Planeten befinden und damit auch dasselbe Gravitationszentrum haben. Dieses Zentrum ist die Kantische Philosophie. Nun trifft das zweifellos auch für viele andere Denker der Epoche zu, jedoch zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass Hegel und Schleiermacher in ihren Theorien zwar zum Teil völlig unterschiedliche Positionen vertreten, jedoch in der Einschätzung der Problemlage der nachkantischen Philosophie und der Richtung, in der sie Antworten suchen, vielfach Übereinstimmungen aufweisen, die es so mit anderen Repräsentanten der Klassischen Deutschen Philosophie nicht gibt. Sowohl Schleiermacher als auch Hegel verankern ihre Philosophie in einer Kategorienlehre, die als „Dialektik“ auftritt und – im Anschluss an Kants transzendentale Logik – als Einheit von Logik und Metaphysik gedacht wird. 2  Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, hg. v. Günther Nicolin, Hamburg 1970, 183. – Die Rutschbahn – 1829 eingeweiht – bestand aus Wagen, die auf Schienen einen Hang hinunterrollten. Vgl. Stefan Poser, Glücksmaschinen und Maschinenglück. Grundlagen einer Technik- und Kulturgeschichte des technisierten Spiels, Bielefeld 2016, 162 ff. 3  Vgl. Walter Jaeschke, „Paralipomena Hegeliana zur Wirkungsgeschichte Schleiermachers“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg. v. KurtVictor Selge, Bd. 2, Berlin und New York 1985, 1157–1169. 4  Vgl. Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen (Anm. 2), 193 f. 5  Briefe von und an Hegel, Bd. 2 (Anm. 1), 221 (Briefe 361 f.). 6  Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen (Anm. 2), 330.

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Beide beanspruchen, damit nicht nur den Gegensatz des Idealismus und Realismus überwunden, sondern auch ein System des Wissens begründet zu haben. Gewiss: Der „höchste Punkt“ dieser „obersten Wissenschaft“, wie Schleiermacher sie nennt, ist jeweils ganz entgegengesetzt; für Schleiermacher ist es der Ausgangspunkt, eine absolute Identität als terminus a quo und transzendentaler Grund des Wissens, für Hegel die absolute Idee als in sich konkrete, widersprüchliche Einheit, die Resultat des sich begreifenden Begriffs ist. Mit dieser Positionierung hängt auch zusammen, dass nach Schleiermacher der Grund nicht begrifflich erfasst werden, sondern nur im Gefühl repräsentiert werden kann – denn eine absolute Identität ist nicht begrifflich darstellbar –, Hegel hingegen dem Begriff zutraut, das Absolute zu erkennen. Gleichwohl: Beide gehen davon aus, dass wir uns denkend nicht auf ansichseiende Dinge beziehen, sondern die Denkformen selbst objektiv und Formbestimmtheiten dessen sind, was wir Dinge nennen; eben deshalb geht auch die Metaphysik in der Logik auf.7 Es lassen sich eine Reihe weiterer Übereinstimmungen nennen, von denen in den Beiträgen des Bandes die Rede ist und von denen hier nur noch eine herausgehoben werden soll. Beide, Schleiermacher wie Hegel, entwickeln im Gegenzug zu Kant und Fichte eine Theorie der Sittlichkeit, die als umfassende Theorie der Gesellschaft und ihrer Institutionen zu verstehen ist und deren geschichtliche Entwicklung mit in den Blick nimmt; bei Schleiermacher ist das eine „objektive“ Ethik,8 bei Hegel die Lehre vom objektiven Geist. Nicht nur die Schnittmengen zwischen Schleiermacher und Hegel sind beträchtlich, es gibt auch eine wechselseitige Anregung in Zustimmung und Widerspruch. Was den Widerspruch betrifft: Erst unter dem Eindruck der ersten Fassung von Schleiermachers Glaubenslehre 1821/22 hat Hegel sein Kolleg über die Religionsphilosophie geradezu erfunden, das dann wirkungsgeschichtlich zu einer seiner wichtigsten Vorlesungen werden sollte.9 Was 7  Vgl. dazu Andreas Arndt, Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin und Boston 2013, 226–239. 8  Schleiermacher verwendet diesen Terminus nicht explizit; in seinen Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) betont er jedoch, eine wissenschaftliche Ethik könne sich nur an diejenigen Philosophen anschließen – er nennt namentlich Platon und Spinoza –, die „objectiv philosophirt haben, das heißt von dem Unendlichen als dem einzigen nothwendigen Gegenstande ausgegangen sind“ (KGA I/4, 66). Dieses objektive Philosophieren nimmt er in Anspruch, wenn er seine Ethik als „schlichte Erzählung“ der „Naturgesetze“ menschlichen Handelns konzipiert (Schleiermacher, Werke, Bd. 2: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, hg. v. Otto Braun, Leipzig 21927, 80). 9  Vgl. Jaeschke, „Paralipomena“ (Anm. 3); ferner das „Vorwort des Herausgebers“ in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 1: Einleitung. Der Begriff der Religion, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1983, X–XII.

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die Zustimmung betrifft: In seinen Vorlesungen über die Ästhetik hat Schleiermacher Hegels Philosophie der Kunst als die jüngste große Entwicklung auf diesem Gebiet bezeichnet und offenbar seinen Studenten sogar entsprechende Paragraphen der Hegelschen Enzyklopädie zitiert.10 Die Schnittmengen zwischen Schleiermacher und Hegel erklären auch erst die Ideenkämpfe im Ausgang der Klassischen Deutschen Philosophie. Tatsächlich ist Schleiermacher hier überall präsent. Feuerbach beruft sich für seine Religionskritik – Religion sei das entfremdete Selbstbewusstsein der Menschen – ausdrücklich nicht nur auf Hegel, sondern ebenso auf Schleiermacher und dessen Bestimmung des frommen Bewusstseins als unmittelbarem Selbstbewusstsein,11 David Friedrich Strauß brachte Schleiermachers Vorlesungen über das Leben Jesu in seine Evangelienkritik mit ein12 und Friedrich Adolf Trendelenburg munitionierte seine Kritik an Hegels Wissenschaft der Logik auch im Rückgriff auf Schleiermachers Dialektik.13 – Zu erwähnen ist weiterhin, dass es im Vormärz mehrere Versuche gab, Hegel und Schleiermacher im nachhinein theoretisch miteinander zu versöhnen, wobei in der Regel religiös bestimmte ideenpolitische Motive im Vordergrund standen; hier sind u. a. Leopold George, Julius Schaller und Georg Weissenborn zu nennen.14 Es gibt daher, über den Anlass der Jubiläen hinaus, gewichtige inhaltliche Gründe, Schleiermacher und Hegel erneut zusammenzubringen und ihre Übereinstimmungen und Differenzen neu zu vermessen und zu bewerten. Warum aber soll das gerade aus Anlass des 250. Geburtstages von Schleiermacher geschehen, statt ausschließlich des Jubilars zu gedenken? Hierauf ließe sich antworten, dass gerade dadurch Schleiermacher unverkürzt in den Blick kommt, denn seine Philosophie steht nicht nur im Schatten seiner eigenen Theologie, sondern auch im Schatten der Theorien seiner Zeitgenossen. 10  Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ästhetik (1832/33). Über den Begriff der Kunst (1831–33), hg. v. Holden Kelm, Hamburg 2018, 12 f. und die „Einleitung“ von Holden Kelm, XXX–XXXII. 11  Vgl. Ludwig Feuerbach, „Zur Beurteilung der Schrift ‚das Wesen des Christentums‘ “, in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. Werner Schuffenhauer, Bd. 9, Berlin 1970, 230. 12  Vgl. Walter Jaeschke, „Schleiermacher und Hegel. Neue Ausgaben und alte Fragen“, in: Hegel-Studien 23 (1988), 327–341, bes. 337 ff. 13  Vgl. Klaus-Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, Frankfurt/M 2007; Andreas Arndt, „Einleitung“, in: Schleiermacher, Dialektik (1811), hg. v. Andreas Arndt, Hamburg 1986, XXXVI ff. 14  Leopold George, Princip und Methode der Philosophie mit besonderer Rücksicht auf Hegel und Schleiermacher, Berlin 1842; Julius Schaller, Vorlesungen über Schleiermacher, Halle 1844; Georg Weissenborn, Vorlesungen über Schleiermachers Dialektik, Teile 1 und 2, Leipzig 1847/1849.

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Da Schleiermachers Philosophie aber, wie die neuere Forschung vielfach gezeigt hat, integraler Bestandteil der Klassischen Deutschen Philosophie ist,15 kann sie aus dem Halbdunkel nur dann ans Licht geholt werden, wenn sie innerhalb dieses Diskurses profiliert wird. Und mit welchem Zeitgenossen Schleiermachers ließe sich das eindringlicher machen als mit und gegen Hegel? (2)  Das Programm des Symposions sah vor, zu grundlegenden Themen im Denken Schleiermachers und Hegels jeweils zwei Vorträge zu halten – einen mit dem Schwerpunkt auf Schleiermacher, den anderen mit dem Schwerpunkt auf Hegel. Unsere Erwartung war, dass die Vorträge durch den thematischen Bezug miteinander kommunizieren und eine Diskussion über Gemeinsamkeiten und Unterschiede ermöglichen. Tatsächlich haben dann mehrere Vortragende auch einen Blick über den Tellerrand gewagt und Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede im Blick auf Hegel oder Schleiermacher ausdrücklich gemacht. In jedem Fall haben aber auch die z. T. lebhaften Diskussionen dazu beigetragen, hier weitere Klärungen vorzunehmen. Aus unserer Sicht als Organisatoren des Symposions, die uns durch Rückmeldungen seitens zahlreicher Teilnehmerinnen und Teilnehmer bestätigt wurde, hat das Experiment, die Positionen Schleiermachers und Hegels thematisch aufeinander zu beziehen, vielfach neue Perspektiven eröffnet und auch Anregungen für weitere Forschungen gegeben. Die Folge der Vorträge auf dem Symposion entspricht der Reihenfolge der Beiträge in diesem Band. Am Beginn steht das Thema „Religionsphilosophie und Christentumsauffassung“ (Jörg Dierken und Walter Jaeschke), wobei deutlich wird, dass die auf diesem Feld doch sehr entgegengesetzten Auffassungen Schleiermachers und Hegels ihre Grundlage in der Auseinandersetzung mit den Kantischen Positionen und ihrer Weiterentwicklung haben und, wie Jörg Dierken zeigt, als „Hauskrieg“ legitimer Erben zu verstehen sind. Walter Jaeschke verortet in seinem Beitrag den religionsphilosophischen Gegensatz zwischen Schleiermacher und Hegel neu: er liege primär auf dem Gebiet der historischen Ansicht des Christentums, was jedoch in der Konsequenz auch zu einer partiellen Koinzidenz beider Auffassungen führe. Die zweite Sektion steht unter dem Thema „Revolution, Reform, Reaktion. Zur politischen Verortung Schleiermachers und Hegels“ (Andreas Arndt und Hans-Peter Krüger). Sowohl Schleiermacher als auch Hegel stehen der Französischen Revolution grundsätzlich positiv gegenüber und positionieren sich von hier aus auch kritisch gegenüber der Reaktion, insbesondre gegen die Restaurationspolitik nach den „Befreiungskriegen“ gegen Napoleon. Das 15  Vgl. Walter Jaeschke und Andreas Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845, München 2012.

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schließt ein, dass beide das Recht der Subjektivität bzw. Individualität betonen und damit ein grundlegendes Prinzip der Moderne zur Geltung bringen, zugleich aber auch an der Bindung des „bourgeois“ durch das Allgemeine in seiner Funktion als Staatsbürger bzw. „citoyen“ festhalten. Hierbei setzt Schleiermacher mehr auf eine staatsbürgerliche Gesinnung als Hegel, der diese Allgemeinheit in erster Linie von den Institutionen her denkt; dennoch steht Schleiermacher Hegel darin nahe, dass er, anders als etwa Jakob Ludwig Fries, die Gesinnung auf die Gleichheit der Menschen bezieht und nicht eine völkisch-nationalistische Ausgrenzung betreibt. Das Verhältnis von „Dialektik, Logik, Metaphysik“ bildet das dritte Themenfeld (Christine Helmer, Brady Bowman). Während Christine Helmer einen Primat der Intersubjektivität in Schleiermachers Vorlesungen über die Dialektik hervorhebt, der in der Kunst der Gesprächsführung zum Tragen komme, konfrontiert Brady Bowman die logisch-begriffliche Ebene der Schleiermacherschen Dialektik, insbesondre seine Theorie des Begriffs und des Urteils, mit Hegels Dialektik-Konzeption. Als Vergleichsebene dient ihm dabei die Phänomenologie des Geistes; seine These besteht darin, dass Schleiermacher, im Unterschied zu Hegel, das sinnliche Bewusstsein in anderer Weise als Hegel affirmiert und seinem Erkenntniskonzept zugrunde legt. Trotz aller Nähe der logisch-metaphysischen Konzeptionen bleibt Schleiermacher damit von Hegels Konzept einer immanenten Selbstreflexion des Begriffs entfernt, wie es in der Wissenschaft der Logik entfaltet wird. Die vierte Sektion ist der Musikästhetik Schleiermachers und Hegels gewidmet (Holden Kelm, Bernadette Collenberg-Plotnikov). Auf diesem Gebiet zeigen sich viele Übereinstimmungen, denn beide – Schleiermacher wie Hegel – bevorzugen die Vokalmusik und haben auch erhebliche Schnittmengen hinsichtlich der von ihnen rezipierten Musik. Beide sehen in der Musik nicht nur eine eigenständige Kunstgattung, sondern schreiben ihr – wie der Kunst überhaupt – eine bedeutende Rolle in der Selbstverständigung der Subjektivität zu. Hierauf beruht auch Schleiermachers grundsätzlich positive Haltung zu Hegels Ästhetik.16 Im Rahmen des Symposions wurde durch das Duo Judith Ingolfsson (Violine) und Vladimir Stoupel (Klavier) auch „hörbar“ gemacht, was Schleiermacher und Hegel musikalisch bewegte. Das Konzert fand in der Remise des ehemaligen Bankhauses Mendelssohn in der Jägerstraße in Berlin-Mitte statt, in einem Haus also, in dem Hegel regelmäßig verkehrte; Hegels Büste ist dort auch im Konzertsaal aufgestellt. Das außerordentlich gut besuchte Konzert bildete ohne Zweifel einen eigenen Höhepunkt der Tagung; Vladimir 16  Vgl.

oben die Belege in Anm. 10.

Vorwort13

Stoupel hat seine Einführung in das Programm dankenswerterweise auch für diesen Band zur Verfügung gestellt. Die fünfte Sektion befasst sich mit dem Thema „Objektive Ethik und objektiver Geist“ (Sarah Schmidt, Jean-François Kervégan). Sowohl Schleiermacher als auch Hegel verfolgen im Gegensatz zum individualethischen Ansatz ein umfassendes Konzept von Sittlichkeit, das alle Bereiche des gesellschaftlich-politischen Lebens einschließt. Sarah Schmidt zeigt, dass Schleiermachers Lehre vom höchsten Gut eine Kulturtheorie impliziert, die auch Phänomene wie Waren- und Geldzirkulation einschließt, deren Universalisierungstendenz Schleiermacher hervorhebt, zugleich jedoch in einer universalisierten Geselligkeit jenseits der Sphäre äußerer Zwecke gestalten will. Während Schleiermacher die gesellschaftlich-politischen Sphären und Handlungsräume eher als ein nicht hierarchisch strukturiertes Netzwerk versteht, entwirft Hegel, wie Jean-François Kervégan zeigt, in seiner Philosophie des objektiven Geistes eine Theorie von Institutionen, die zueinander in einem Aufhebungsmodus stehen und die Vermittlung von Subjektivität/Individualität auf der einen und Allgemeinheit auf der anderen Seite leisten sollen. Diese Institutionentheorie konfrontiert Kervégan mit den Thematisierungen des objektiven Geistes bei Charles Taylor und Vincent Descombes, wobei Descombes sich in der größten Nähe zu Hegel bewege. „Bildung“ ist das Thema der sechsten Sektion (Jan Rohls, Birgit Sandkaulen). Jan Rohls bietet in seinem Beitrag einen umfassenden Überblick zum Verhältnis von Bildung und Religion bei Schleiermacher, wobei deutlich wird, wie tief er in dem Bildungsdiskurs seines, des „pädagogischen Zeitalters“ verwurzelt ist. Birgit Sandkaulen dagegen legt, dem Selbstverständnis der Epoche entsprechend, einen weiten Begriff von „Bildung“ zugrunde, der das Naturverhältnis einschließt und als „Kulturbildung“ angesprochen werden kann. Hegel und Schleiermacher verfolgen beide ein solches Konzept, jedoch dehnt es Schleiermacher im Gegensatz zu Hegel ins Kosmologische aus, während Hegel Bildung von der Negativität des Geistes und damit nicht von der Kontinuität mit der Natur her denkt. Bildung und Entzweiung werden so miteinander verbunden, dem aber werde bei Hegel schließlich die kritische Spitze genommen, indem die Versöhnung der Gegensätze im Allgemeinen als in der Moderne prinzipiell schon immer vollzogen angenommen wird. Die siebente und letzte Sektion steht unter dem Thema „Sprache und Hermeneutik“ (Jure Zovko, Denis Thouard). Jure Zovko setzt sich kritisch mit der Ontologisierung und Subjektivierung der Hermeneutik bei Heidegger und Gadamer auseinander und betont im Rückgang auf Schleiermacher – den er als Vollender der modernen Hermeneutik versteht – und auch auf Dilthey, dass die Verstehensregeln objektiv begründet sind und das Verstehen daher

14 Vorwort

auch Wahrheitsansprüchen unterliegt. Aus dieser Perspektive ergäben sich Schnittmengen mit Hegel, die in der Selbstreflexion der Hermeneutik mit zu thematisieren seien. Denis Thouard stellt Hegels Diktum von der „göttlichen Natur“ der Sprache in den Mittelpunkt, um daran die Hegelsche Sprachtheorie insgesamt deutlich zu machen. Sprache vermittelt demnach zwischen Sinnlichkeit und dem Begriff, indem sie die im Sinnlichen bereits vorhandene logische Struktur hervorkehrt und damit das in der Rede zumeist Gemeinte ins Logische verkehrt. Schleiermacher hingegen legt Sprache auf das bildhafte Bezeichnen und Schematisieren fest, da sich für ihn auch das begriffliche Denken nicht von der (sinnlichen) organischen Funktion trennen lässt. (3)  Schließlich möchten wir Dank abstatten. Zuerst allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Vorhabens „Schleiermacher in Berlin 1808–1834“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, die sich mit großem Engagement an der Vorbereitung und Durchführung des Kongresses beteiligt haben, und auch den studentischen Hilfskräften am Arbeitsbereich Klassische Deutsche Philosophie der Humboldt-Universität, die während des Symposions im Einsatz waren. Unser Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Technik und der Verwaltung der BBAW, die für einen reibungslosen Ablauf sorgten. – Dank möchten wir auch denen sagen, die als Sektionsleiterinnen und Sektionsleiter an dem Symposion mitgewirkt haben: Notger Slenczka (HU Berlin), Simon Gerber (BBAW), Wilhelm Voßkamp (Köln, BBAW), Dina Emundts (FU Berlin) und Ernst Müller (HU Berlin). Sodann danken wir sehr herzlich allen Institutionen, die durch ihre finanzielle Unterstützung die Durchführung des Symposions erst ermöglicht haben: Der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und dem Zentrum Preußen-Berlin an der BBAW; dem Institut für Philosophie der Humboldt-Universität, das ebenso einen namhaften Betrag zur Verfügung gestellt hat, der Schleiermacherschen Stiftung, der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft und der Internationalen Hegel-Gesellschaft. – Die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität hat das Symposion als Mitveranstalterin ideell unterstützt. Ein weiterer Dank geht an die Verlage De Gruyter und Duncker und Humblot, die großzügigerweise im Anschluss an die ersten beiden Vorträge und Diskussionen einen Empfang ermöglicht hatten. Auch hier berührten sich indirekt Schleiermacher und Hegel: In den Verlag De Gruyter ist Schleiermachers Hausverlag, der Reimer-Verlag eingegangen, während Duncker und Humblot Hegels Berliner Verlag war. Aber das ist nicht alles, denn der Verlag Duncker und Humblot ging aus dem Verlag des Berliner Buchhändlers Heinrich Frölich hervor, in dem das Athenaeum der Brüder Schlegel erschienen

Vorwort15

war; in dieser Zeitschrift, deren Redakteur er auch zeitweilig war, hatte Schleiermacher seine ersten Publikationen veröffentlicht. Schließlich ist den Herausgebern der Beihefte zum Hegel-Jahrbuch dafür zu danken, dass sie diesen Band in ihre Reihe aufgenommen haben; ebenso gilt ein besonderer Dank dem Verlag Duncker und Humblot dafür, dass er sich dieses Buches angenommen und großzügigerweise von einem Druckkostenzuschuss abgesehen hat. Berlin, im August 2019

Andreas Arndt und Tobias Rosefeldt

Grußwort des Präsidenten der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Von Martin Grötschel Sehr geehrter Herr Arndt, sehr geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Symposiums, verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, als Hausherr und Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften darf ich Sie alle sehr herzlich hier am Gendarmenmarkt im Leibniz-Saal unserer Akademie zum Internationalen Symposium „Schleiermacher/Hegel: 250. Geburtstag Schleiermachers/200 Jahre Hegel in Berlin“ begrüßen. Das dreitägige Symposium, das heute beginnt, wird vom Akademienvorhaben „Friedrich Schleiermacher in Berlin 1808–1834“ in Zusammenarbeit mit dem Institut für Philosophie und der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin sowie der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft und der Internationalen Hegel-Gesellschaft ausgerichtet. Dieses Schleiermacher-Vorhaben ist eines der Projekte des Zentrums Preußen-Berlin der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Teil des von der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften koordinierten Akademienprogramms. Dieses Bund-Länder finanzierte Programm fördert geisteswissenschaftliche Langzeitforschungen und dient somit der Erschließung, Sicherung und Vergegenwärtigung unseres kulturellen Erbes. Das Schleiermacher-Vorhaben an unserer Akademie ist auf 14 Jahre angelegt und bearbeitet zentrale Quellen, um vor dem Hintergrund der Biographie ein Gesamtbild der wissenschaftlichen, kirchlichen und politischen Tätigkeit Schleiermachers in seiner Berliner Zeit von 1808–1834 zu erschließen. Auf dieser Grundlage können offene Fragen der Forschung beantwortet werden: Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Schleiermachers politisch-gesellschaftlichem Engagement und seiner Theorieentwicklung? Wie sind seine Positionen vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte zu sehen? Wie ist Schleiermacher politisch zu verorten?

18 Grußwort

Das äußerst facettenreiche Symposium hat einen besonderen Anlass: Heute vor 250 Jahren wurde Friedrich Schleiermacher in Breslau geboren. Zudem fällt dieses Datum annähernd mit dem 200. Jahrestag der Antrittsvorlesung Georg Wilhelm Friedrich Hegels an der Berliner Universität zusammen, die am 22. Oktober 1818 stattfand. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) gehört zu den bedeutendsten Gestalten des geistigen Lebens in Deutschland in der klassischen Epoche um 1800. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) war ein deutscher Philosoph, der als wichtigster Vertreter des deutschen Idealismus gilt. Die religionstheoretischen, philosophischen, politischen und wissenschaftspolitischen Differenzen zwischen den beiden Wissenschaftlern sind unverkennbar. Bei genauerer Betrachtung lassen sich jedoch auch konzeptionelle Gemeinsamkeiten innerhalb der nachkantischen Philosophie herausstellen, und es ist ersichtlich, dass sie in ihren philosophischen Positionen aufeinander reagiert haben. Das Akademienvorhaben möchte mit Hilfe des Symposiums die Gelegenheit nutzen, die Gegensätze, produktiven Spannungen und Gemeinsamkeiten zwischen Schleiermacher und Hegel zu untersuchen, indem zentrale Themenkomplexe jeweils aus Sicht der beiden bedeutenden Gelehrten beleuchtet werden. Weitere Details zum Inhalt und Ablauf der Veranstaltung wird Ihnen im Anschluss Prof. Dr. Andreas Arndt, Projekt- und Arbeitsstellenleiter des Akademienvorhabens, vorstellen. Meine Damen und Herren, ich freue mich auf ein interessantes Symposium mit vielen neuen Einblicken.

„Hauskrieg“ bei Kants Erben. Schleiermacher und Hegel über Religion und Christentum Von Jörg Dierken 1. Erinnerung mit Trübung Gedenktage großer Gelehrter generieren Gravitätisches. Das gilt für Schleiermacher wie für Hegel. Ihr intellektuelles Gewicht lässt sich kaum überschätzen. Beide waren Systemdenker, die auf nahezu allen Gebieten der späteren Geistes-, Kultur und Sozialwissenschaften Spuren hinterließen. Das macht sie zu Klassikern, also Orientierungsgrößen für die Mit- und Nachwelt in Aufnahme wie Ablehnung. Beide beerben auf je eigne Weise den Kritizismus Kants. Damit schreiben sie die Tradition der Aufklärung fort, wenn auch mit manchem Gefälle zum Romantischen. Dem intellektuellen Gewicht steht das institutionelle nicht nach. Schleiermacher kann zusammen mit Humboldt als Ideengeber für die neu gegründete Berliner Universität gelten, wie Hegel war er auch praktisch mit dem Schul- und Unterrichtswesen befasst. Hegel hat wie Schleiermacher als Magnet für Hörer und Schüler zur Strahlkraft der neuen Universität beigetragen. Dabei kam Religion und Christentum eine zentrale Stellung zu: Als studierten Theologen, von denen allerdings nur Schleiermacher auch als Geistlicher wirkte, und als ebenso philosophischen Köpfen gilt ihnen Religion immer auch als rationale Angelegenheit im weitesten Sinn. Religion gehört zu den Bildungskräften des Menschlichen, und zwar in Wechselzusammenhägen mit nahezu allen sozialen und kulturellen Lebenssphären. Indem sie die Vollzüge der Freiheit vergegenwärtigt, wird sie zum Ort des Sinns für das Ganze. Religion ist „Sinn und Geschmak für das Unendliche“, das gerade im Endlichen anschaulich wird – um mit Schleiermacher zu sprechen; sie ist „Selbstbewußtsein des absoluten Geistes“, mithin eines wissentlich vollzogenen, Selbst- und Anderssein verschränkenden Lebens, in dem sich das Menschliche zu „Gott“ erhebt als „Ort, wo er seine Freiheit, Unendlichkeit, Allgemeinheit […] fühlt, anschaut, genießt“ – um Hegel zu zitieren.1 1  KGA I/2, 212 (Reden über die Religion 11799); Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teile 1–3, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1983–1985, Teil 1, 222; ders., „Vorrede zu Hinrich’s Religionsphilosophie“ (1822), GW 15, 137; vgl. hierzu Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart 22010, 279 ff.

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Gerade die Religionsthematik lässt solche Pathosformeln durch Polemik trüben. Vor dem Hintergrund kritischer Beobachtung der unterschiedlichen Denkwege kam es bei den beiden ab 1818 auf engstem Raum wirkendenden, mithin auch konkurrierenden Kollegen bekanntlich zu harschen Auseinandersetzungen. Dass Schleiermacher neben der Anschauung im Gefühl die subjektive Form des Religiösen erblickt, hatte Hegel schon 1802 an den Reden öffentlich kritisiert.2 Diese Form sei, anders als das Denken, für beliebige Gehalte offen, so wieder in seinen Repliken auf die reife Glaubenslehre. Daher sei es nur konsequent, dass Religion nach der Programmformel von Schleiermachers Glaubenslehre ein ‚Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit‘ sein soll,3 denn es handle sich um die „tierische Form des vernünftigen Selbstbewusstseins“.4 Das führt zu dem bitterbösen Vergleich, dass der „Hund der beste Christ“ sei, da er vornehmlich in diesem „Gefühle“ gegenüber seinem Herrn lebe und „Erlösungsgefühle“ durch einen Knochen finde.5 Das Zerwürfnis der beiden, für das der Theologiegeschichtler Emanuel Hirsch das Bild eines „häuslichen Krieges“ geprägt hat,6 nahm seinen Lauf. Es führte zu wechselseitig betriebenen Ausschlüssen – nämlich Hegels aus der Akademie der Wissenschaften, deren Mitgliedschaft ihm bei der Berufung in Aussicht gestellt war, und Schleiermachers aus dem Jahrbuch für wissenschaftliche Kritik.7 Der Hauskrieg, hinter dem auch politische Motive8 und kirchenpolitische Dissense9 standen, wurde nur oberflächlich kaschiert, etwa bei geselligen Universitätsveranstaltungen oder der Empfehlung von Weinhändlern. Dennoch war er hochproduktiv: Hegels Ausarbeitung seiner Religionsphilosophie10 war eine Reaktion auf die Glaubenslehre, 2  Vgl.

GW 4, 385 ff. („Glauben und Wissen“). Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt (21830), KGA I/13, § 4. 4  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Berliner Antrittsrede“, in: GW 18, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1995, 24. 5  GW 15, 137. 6  Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, im Zusammenhange mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 4, Gütersloh 1952, 541. 7  Vgl. Jörg Dierken, Glaube und Lehre im modernen Protestantismus, Tübingen 1996, 314 ff. (mit weiterer Literatur). 8  Hierzu zählt insbesondere die kontroverse Beurteilung der gesinnungsethisch motivierten Mordtat in der Kotzebue-Sand-Affäre. 9  Sie entzündeten sich insbesondere an dem Projekt der Kirchenunion und deren dogmatischer Basis. 10  Dies erfolgte in Gestalt von Vorlesungen, nachdem Religion in den entsprechenden systematischen Werken knapp behandelt worden ist und ihren Platz gefunden hat. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Religion (Anm. 1). 3  Vgl.



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Schleiermacher rezipierte nicht nur in der Ästhetik Hegelsche Motive. Und beide begründeten durch ihr Berliner Wirken einander teilweise überlappende Schulen, in deren Debatten über Religionskritik und Religionsbegründung oder über Religion und Geschichte bzw. Politik sich die Erschließungskraft der Kategorien der Lehrer in epochalen Umbrüchen bewähren musste – und dabei konstruktive wie destruktive Umkehrungen durchmachte.11 Ein Hauskrieg setzt Gemeinsames voraus. An erster Stelle steht dabei die Erbschaft Kants. Das Denken beider hat subjektivitäts- und bewusstseinsphilosophische Ausgangspunkte, von denen her sich die Thematik von Religion und Gott erschließt.12 Hinzu kommt eine Verschränkung von theoretischer und praktischer Vernunft. Kants Primat der letzteren wird bei seinen Erben über scharfe Kritik des bloßen Sollens in eine performative Dynamik der Vernunft überführt, die durch die kommunikativen Vollzüge des Geistes gegliederte Gestalt gewinnt. Das zeigen beider güterethische Konzepte einer sittlichen Sozialwelt.13 In deren Institutionen ist Religion ebenso eingelassen wie Religion diese ihrerseits in besonderen Formen reflektiert. Darin liegt ein weiterer gemeinsamer Grundzug beschlossen: Die Interferenz von Theologie und Sozialtheorie. Voraussetzung hierfür ist, dass es keine prinzipielle Differenz von menschlichem Diesseits und göttlichem Jenseits gibt, sondern beide ineinander gehen. Solch cum grano salis: spinozistische Motive haben Schleiermacher wie Hegel in ihre Religionsphilosophien aufgenommen, freilich mit Kritik und Umformung. Beider religionsphilosophisches Denken ist auf die Töne von Ganzheit und Totalität gestimmt. Das hat ihnen wiederholt den Vorwurf des Pantheismus eingebracht, hinter dem der des Atheismus stand. Theist ist gewiss keiner von ihnen, Pantheist im simplen Sinn freilich auch nicht. Ersteres würde eine Zwei-Welten-Theorie implizieren, letzteres 11  Vgl. die Artikel von Simon Gerber, Andreas Reich, Albrecht Geck, Dirk Schmid und Martin Rössler zu Schleiermachers Berliner Zeit (1808–1834), in: Schleiermacher-Handbuch, hg. v. Martin Ohst, Tübingen 2017, 189 ff.; Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 457 ff.; Hirsch, Geschichte (Anm. 6), Bd. 5, 50.–52. Kapitel; Jaeschke, Hegel-Handbuch (Anm. 1), 505 ff.; ders., Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart 1986, 361 ff. 12  Vgl. dazu Jörg Dierken, „Subjektivität als Prinzip modernen (Religions-)Denkens“, in: Reformation und Moderne. Akten des VI. Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft, Halle, 5.–8. März 2017, hg. v. Jörg Dierken, Arnulf von Scheliha und Sarah Schmidt, 263 ff. 13  Bei Schleiermacher steht hierfür die philosophische Ethik (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ethik [1812/13], mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, auf der Grundlage der Ausg. v. O. Braun hg. v. H.-J. Birkner, Hamburg 1981 [zit. im Folgenden als E], bei Hegel der gleichnamige dritte Teil seiner Rechtsphilosophie (GW 14, 1) sowie deren knappere Parallele in der Enzyklopädie (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, GW 20, 478–541).

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würde die Freiheit ausschließen und alles Einzelne zu einem Glied einer übergeordneten Reihe werden lassen. Und Atheismus würde die inneren Transzendierungsvollzüge, die ein aufs Ganze gehendes Freiheitsleben kommunizierender Subjekte aufweist, abbrechen. Da Freiheit un-bedingt und ein Ganzes ohne Externbezüge selbsttragend ist, hat dieses Leben gleichsam selbst göttliche Qualität und will ebendarin erfasst sein. So sehr diese und weitere Ähnlichkeiten Schleiermacher und Hegel als Religionsphilosophen der Deutschen Klassik ausweisen, so sehr bilden sie eigenständige Typen mit markanten Differenzen. Zwei seien vorgreifend benannt. Die erste lässt sich am Streit um das Gefühl verdeutlichen. Dabei ist nicht kontrovers, dass gegenüber doktrinaler Theologie mit der aufklärerischen Unterscheidung von Theologie und Religion die subjektive Dimension religiöser Vollzüge fokussiert wird. Strittig ist angesichts der Gegenüberstellung von Gefühl und Denken aber, inwieweit der Zugang zu Religion primär über subjektive Zustände oder primär über objektive Gehaltlichkeit läuft. Beide Denker verschränken filigran die Dimensionen des Zuständlichen und Gehaltlichen, allerdings auf unterschiedliche Weise. Während Schleiermacher mit den Mitteln kontrastierender Reflexion immer neue Gegensatzpaare ausfindig macht und diese in einer mehrfach gekreuzten Limitations- oder Grenzdialektik balanciert, geht es Hegel um die konkrete Negation der Differenz von subjektiver Bewusstseinsgestalt und ihren Gehalten, wobei die Differenz in veränderter Form wieder auftritt. Das führt zu unterschiedlichen Formen des Gottesgedankens als zweiter markanter Differenz. Während für Schleiermacher Gott als letzte Einheit aller Gegensätze, mithin auch denen des welthaft-endlichen Bewusstseins, strikt transzendent bleibt und nur negativ als unfassbar gedacht werden kann, werden für Hegels Gott solche Differenzen negierenden Denkens selbst maßgeblich und in ihn hineingenommen. Man könnte im Blick auf die Religionsphilosophie von beiden von einer Selbstverständigung des endlichen, diskursiven Bewusstseins sprechen, bei der die Frage aufbricht, ob die dazu gebrauchten Mittel des diskursiven Denkens in seinem Radius verbleiben oder über ihn zu dessen unendlichem Anderem als Gegenbild erhoben werden, welches dann seinerseits sich verändert und verendlicht. Es liegt auf der Hand, dass diese Denkfiguren sich verbinden lassen mit Grundmustern einer christlichen Frömmigkeitskommunikation. Während Schleiermacher Gott gerade in bleibender Differenz zum Endlichen thematisiert, geht es Hegel um die qua Sittlichkeit vergöttlichende Aneignung der Menschwerdung Gottes durch seine Negation am Kreuz im Geist der Gemeinde hindurch. Dies sei nun in zwei Zugriffen näher erläutert. Der erste gilt der subjektivitätstheoretischen, der zweite der soziologischen Dimension des Religionsund Christentumsverständnisses. Ein knappes Fazit bündelt die Perspektiven.



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2. Ganzheitssinn im Einzelnen Bereits der frühe Schleiermacher verfolgte ein Programm, das der Hegelschen Formel ‚von der Substanz zum Subjekt‘ ähnelt.14 In seinem romantischen Erstlingswerk, den Reden „Über die Religion“, huldigt er mehrfach Spinoza und seinem All-Einheitsdenken.15 Dabei geht es Schleiermacher aber nicht um die Ergründung der selbstursächlichen Substanz als immanente Kausalität in den Dingen, erst recht nicht um einen suisuffizienten Gott – könne doch eine Religion ohne Gott besser sein als eine andere mit ihm.16 Religion als ‚Sinn und Geschmack fürs Unendliche‘ bedeute, dieses in allem Endlichen und Einzelnen, welches seinerseits auf das Unendliche hin transparent werde, anzuschauen. Im Hintergrund dieser vielfach variierten Figur steht das Motiv, das ‚Universum‘ – Schleiermachers Formel für eine weltumfassende Gottesidee – sei Inbegriff eines dynamischen Wechselzusammenhangs von allem mit allem. Dieser komme jedoch nur in einer unendlichen Fülle von Einzelnem zur Darstellung, das in seiner Differenz zu dem, was es nicht ist, virtuell alles andere Einzelne enthält. Dies wahrzunehmen ist für Schleiermacher Religion, die er insbesondere subjektivitätstheoretisch expliziert. Als eine „eigne Provinz im Gemüte“ wird Religion von dem theoretischen Vermögen, das für die objektiven Gehalte zwischen Wissenschaft und Metaphysik steht, und dem praktischen Vermögen, das auf subjektives Handeln nach Maßgabe moralischer Prinzipien abstellt, abgehoben.17 Die ‚eigene Provinz‘ der Religion meint aber keine Separierung. Religion bildet mannigfache Interferenzen mit den theoretischen und praktischen Vermögen des Subjekts. Dem entspricht, dass sie, indem sie den Zusammenhang von Universum und Einzelnem vergegenwärtigt, die Mannigfaltigkeit im Subjekt zur Einheit integriert.18 Das soll das filigrane Zusammenspiel der für Religion maßgeblichen Formen von Anschauung und Gefühl leisten. Die Anschauung lässt sich von etwas „Einzelnem und Endlichen“ passivisch ergreifen und sieht darin das „Unendliche“19 – in gewisser Parallelität zu Spinozas dritter, überdiskursiver Erkenntnisart gleichsam von empirischer zu intellektueller Anschauung driftend. Das Gefühl korrespondiert damit als spontane Veränderungsdynamik im Inneren des Subjekts, die ihm den Zusammenhang von Einzelnem und Ganzem auf eine unmittelbare, die Differenzen von Fühlendem und Gefühltem unterlaufende Weise vergegenwärtigt. Gefühl und Anschauung bilden ein Komplementärverhältnis, welches das überwiegend InHegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. Reden, KGA I/2, 213, 245. 16  Vgl. ebd., 244. 17  Ebd., 204. 18  Darin ähnelt sie formal dem Vollzug des Denkens bei Kant. 19  Schleiermacher, Reden, KGA I/2, 211 f. 14  Vgl.

15  Schleiermacher,

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nere und Äußere, das Passivische und Aktivische balanciert. Hintergründig aber sind sie „Eins und ungetrennt“.20 Ebendies kommt in der erotisch gefärbten Schlüsselstelle der Reden zum Ausdruck, die den „Augenblik“ der Indifferenz von Anschauung und Gefühl mit einer quasi sexuellen Vereinigung des Ich mit dem Universum bzw. seiner „Erscheinung […] im Bilde“ vergleicht: Das Ich wird darin zur „Seele“ der „unendlichen Welt“, es fühlt ihre „Kräfte“ und ihr „unendliches Leben wie das eigene, sie ist in diesem Augenblike mein Leib“.21 In dieser gleichsam umgekehrten Mystik geht das Universum in das subjektiv-endliche Ich ein, es wiederum entgrenzt sich zu diesem hin. Allerdings ist dieser Augenblick als solcher „geheimnisvoll“ und unfassbar, er wird von anderen Zuständen, in denen sich Universum und Ich wie Anschauung und Gefühl durch eine „geringste Erschütterung“ entzweit haben, abgelöst.22 Lebensnah beschreibbar wird er nur im Negativ solcher Folgezustände, gedanklich entspricht dem das Mittel einer „nothwendige[n] Reflexion“, die seine zur Einheit verbundenen Momente „trennt“.23 Beides wird keineswegs herabgestuft: Wie jene ‚Erschütterung‘ der Einheit zur „Geburtsstunde alles Lebendigen in der Religion“ wird,24 so erweist sich diese trennende Reflexion als methodischer Zugriff der Darstellung. Der Redner beschreibt, wie Natur und Welt, Geschichte und Menschheit zu Anlässen für religiöse Anschauungen und korrespondierende Gefühle werden. Das führt zur Bildung von je selbst vollzogener Religion in kommunikativen Gemeinschaftsformen. Dass die Religion selbst in den positiven Religionen eine Geschichte durchläuft, in der sie am Ende sich reflexiv auf Religion als „Stoff“ bezieht und darin ihre „höhere“, für Schleiermacher: christliche „Potenz“ prägt,25 markiert den Gipfel der Reden. Hegel hat Schleiermachers Reden durchaus gewürdigt und ihnen einen grundsätzlich spekulativen, weil Gegensätzliches zu einem Ganzen verbindenden Gehalt attestiert. In ihnen sei „die Scheidewand zwischen dem Subject […] und dem absoluten unerreichbaren Objecte niedergerissen, der Schmerz im Genuß versöhnt, das endlose Streben […] im Schauen befriedigt“.26 Dennoch bleibe „diese Subject-objectivität der Anschauung des Universums doch wieder ein Besonderes und Subjectives“,27 es dominiere am Ende eine Vielheit kontingenter subjektiver Vollzüge ohne innere Verbin20  Ebd., 21  Ebd. 22  Ebd.

23  Ebd.,

221.

220. 222. 25  Ebd., 317. 26  GW 4, 385 („Glauben und Wissen“, 1802, Ende des Teils zu Jacobi). 27  Ebd. 24  Ebd.,



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dung in einer neuen Gestalt des Universums. Statt die „subjective[] Eigenheit der Anschauung […] zu vertilgen“ und ein Gemeinsames zu bilden, komme es zu einer „Atomistik“ von Virtuositäten, die immer neue „Gemeinchen“ um sich sammeln und den „Figuren eines dem Spiel der Winde preisgegebenen Sandmeeres“ ähneln – so die Übersetzung der begrifflichen Kritik ins Sozialphilosophische.28 Damit bleibe das Universum letztlich doch im Modus des „Suchen[s] eines Sehnens“,29 dem Grundprinzip des Protestantismus entsprechend, „im Diesseits Versöhnung“ zu erhoffen.30 All dies rühre daher, dass Schleiermacher im Horizont der Reflexionsphilosophie der Subjektivität verbleibe. Sie sei bestimmt durch eine unübersteigbare Differenz des Endlichen gegenüber dem Allbefassenden, Einen und Ganzen – für das die philosophische Kunstsprache den Titel des Absoluten gebraucht, obwohl es gerade kein Losgelöstes sein soll. Das ist die Generalthese in Hegels Aufsatz zu den Reflexionsphilosophien der Subjektivität, für die die Namen Kant, Jacobi, dem auch Schleiermacher zugeordnet wird, und Fichte stehen. Aus Hegels Kritik an Schleiermacher spricht ein Bewusstsein der Überlegenheit im Blick auf das Reflexionsproblem, das ein auf umfassende Synthesis ausgerichtetes Gesamtprogramm hintertreibt. Diesem ist auch Hegel verpflichtet. Er beansprucht aber, jenes Problem, das ihn selbst umgetrieben hat, gelöst zu haben. Hegels Denkweg begann mit dem Motiv einer Vereinigungsphilosophie im Zeichen von Liebe und Leben.31 Danach sollten sich die Glieder des Liebesverhältnisses in der Prozessualität des Lebens finden und vice versa, womit die Differenzen des Endlichen und Unendlichen überwunden seien. Für dieses Programm rekurrierte der frühe Hegel selbst auf die subjektiven Formen des Gefühls und der Anschauung, und Gott wird zum Inbegriff von deren Vereinigungsvollzügen. „Gott lieben ist sich im All des Lebens schrankenlos im Unendlichen fühlen“, und Liebe ist das „Gefühl des Lebens, das sich selbst wiederfindet“.32 Einen ähnlichen inneren Rückbezüglichkeitsbogen bildet auch das „angeschaute Leben“.33 Allerdings fixiert die Anschauung das Angeschaute wieder, und das Gefühl kann sich durchaus im Negativ des „Verlusts des Lebens melden“.34 Auf diesen subjektiven Formen liegt der Schatten der trennenden Reflexion, die die vermeinte allumfassende Dynamik wieder stillstellt. Hegels Interessen richten sich daher darauf, 28  Ebd., 29  Ebd.

30  Ebd.,

386.

385. zum Folgenden die ausführlichere Darstellung des Vf.: „Hegel und Schleiermacher: Affinitäten und Abgrenzungen“, in: Der Frankfurter Hegel in seinem Kontext, hg. v. Thomas Hanke u. Thomas M. Schmidt, Frankfurt/M 2015, 251 ff. 32  TWA 1, 363; 346. 33  Ebd., 345 f. 34  Ebd., 345. 31  Vgl.

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das Problem der Reflexion zu lösen – und zwar mit den Mitteln des reflexiven Denkens. Dazu bildet er um 1800 zunehmend virtuose Reflexionsfiguren aus, die, ihr Prinzip der Relationsstiftung durch Unterscheidungsbezüge auf Endlich-Differentes anwendend, die Aufgabe haben, in allem „Endlichen die Endlichkeit aufzuzeigen“.35 Diese gleichsam negative Dialektik kennt für das Unendliche allerdings nur eine unfassbare Leerstelle. Dieses Problem geht Hegel bei seiner Entdeckung der spekulativen Denkform nach dem Übergang nach Jena 1801 durch zwei subtil miteinander verbundene Gedankenfiguren an, die es erlauben sollen, „das Absolute im Bewusstseyn zu konstruieren“.36 Zum einen wird das Prinzip der Reflexion, das Trennen, auf es selbst angewendet und in solchem Trennen des Trennens negiert. Wird dieser Prozess der Negation der Reflexion durch Reflexion in seiner Strukturganzheit genommen, bildet er eine spekulative Einheit durch Gegensätze hindurch. Dies führt zu der zweiten Gedankenfigur: In diese Ganzheit, für die das Göttliche oder Absolute steht, ist selbst Differenz, Unterscheidung oder auch Entzweiung zu setzen. Zugespitzt gesagt, kann Gott keine einfache Einheit sein, wenn er All-Einheit sein soll. Und diese Differenz in Gott, für die Hegel zunächst wieder auf die intellektuelle Anschauung rekurriert, kann nicht bloß Gott immanent sein. Sie will vielmehr auch am Orte eines Gott gegenüber Anderen gesetzt werden, sofern ihr Differenzcharakter ernst genommen wird. In dieser Figur steckt der Nukleus einer in der göttlichen Dynamik angelegten, gleichwohl vom Menschen als dessen Anderem vollzogen Eigenständigkeit oder Freiheit. Das ist der spekulative Ankerpunkt dafür, dass Hegel Religion nicht nur im Zeichen von Wahrheit – als Selbstübereinstimmung im Ganzen –, sondern auch von Freiheit – als verändernde Spontaneität, die sich im Anderen findet – versteht. Wenngleich Hegels Polemik gegen Schleiermachers spätere Formel von der Religion als Abhängigkeitsgefühl angesichts dessen Denkweg verständlich werden mag, lenkt sie doch von zentralen Pointen ab. Denn auch der reife Schleiermacher hält in seiner Glaubenslehre daran fest, dass es in der Religion darum geht, seiner selbst als Teil einer Ganzheit innezuwerden – und zwar in je eigener, mithin endlicher, relativer und individueller Freiheit. Dafür steht weiterhin das Gefühl, hinter das die Anschauung zurücktritt. Sein Vollzug wird zum Inbegriff subjektiver Zustände, in denen die Verflechtung des Subjekts mit tendenziell dem Ganzen der Welt erlebbar wird. Für die Beschreibung des Gefühls rekurriert der reife Schleiermacher allerdings auf subtile begriffliche Reflexionsmittel, die Leistungen des Gefühls wirken hochgradig konstruiert. Das Gefühl wird in der Glaubenslehre als Übergang des Kognitiven und Voluntativen verstanden. In seiner Indifferenz gegenüber 35  Ebd.,

423. „Differenzschrift“, GW 4, 11.

36  Hegel,



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diesen Vermögen schatte sich die je partielle, teils mehr passivische, teils mehr aktivische Verbindung des Subjekts mit Welthaft-Anderem in einem inneren Bewusstsein des Verflochtenseins in ein Ganzes der Wechselwirkung ab, für das dieses Bewusstsein zur subjektiven Synthesis wird.37 In solcher Einheit entspricht das Gefühl einem in den Fluchtlinien von synthetisierenden Denkvollzügen aus entworfenen Absoluten, das zum Inbegriff einer letzten Einheit von Denken und Sein, Subjekt und Objekt wird, aber genau darum im Jenseits des reflexiven Denkens liegt. In diesen, in Schleiermachers Dialektik ausgearbeiteten Fluchtlinien des Denkens gehen Subjektivitätstheorie, Metaphysik und Logik zusammen.38 Die Pointen der subtilen Argumentationen der Glaubenslehre wie der Dialektik stimmen darin überein, dass alles Wissen und alles Handeln partielle Verbindungen des Mentalen und des Realen – oder eben von Denken und Sein – implizieren. Insofern ist deren Einheit, deren Inbegriff das Absolute bildet, in allen theoretischen und praktischen Lebensakten immer schon beansprucht, allerdings in endlicher, gebrochener Weise. Da das Gefühl im Übergang von Wissen und Tun stehe und deren partielle Verschränkungen von Denken und Sein in einem Bewusstsein der Wechselwirkung zusammenfasse, wird jenes überreflexive Absolute mit diesem reflexionsindifferenten Gefühl parallelisiert. Indem es die Einheit des Subjekts verbürgt, vergegenwärtigt es zugleich das Gesamt der Wechselverhältnisse von Subjekt und Welt im zeitlichen Verlauf innerer Zustände. Die relationale Verwobenheit des Subjekts und der Welt werden erlebbar, darin werde es durch sein Selbstverhältnis zum Element von deren Ganzheit. Indem das Subjekt seiner selbst gewahr wird, nehme es die „ganze Welt in die Einheit des Selbstbewusstseins auf“.39 Das setzt aber eine momentane Differenz voraus. Das Subjekt kann einerseits nicht Bewusstsein von der Einheit der Welt und andererseits deren bloßes Teilmoment sein. Insofern geht die Ergründung des Abhängigkeitsgefühls mit dem Gewahrwerden von subjektiver Eigenständigkeit und Freiheit einher. Das Subjekt steht der Welt, in deren Relationalität es ganz verflochten ist, immer auch in Selbständigkeit gegenüber. Zugleich erlebt es, dass es in seine subjektiven Zustände immer schon eingesetzt ist. Es ist sich in seiner Selbsttätigkeit gegeben und kann die für alle Weltbezüge beanspruchte Einheit nicht selbst Schleiermacher, Der christliche Glaube, KGA I/13, 1, §§ 3 f. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Dialektik (1814), hg. v. Andreas Arndt, Hamburg 1988, v. a. Einleitung; dazu: Andreas Arndt, „Dialektik“, in: Schleier­ macher-Handbuch, hg. v. Martin Ohst, Tübingen 2007, 257ff; ders., Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin und Boston 2013, bes. 179 ff.; Jörg Dierken, Glaube und Lehre (Anm. 7), bes. 322 ff.; ders., „Das Absolute und die Wissenschaften. Zur Architektonik des Wissens bei Schelling und Schleiermacher“, in: Philosophisches Jahrbuch 99 (1992), 307–328. 39  Schleiermacher, Der christliche Glaube KGA I/13, 1, § 8.2. 37  Vgl.

38  Vgl.

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hervorbringen – sei es am Orte seiner selbst, sei es an dem des Absoluten. Ebendies macht seine schlechthinnige Abhängigkeit aus, die freilich ohne Freiheit nicht einmal wahrnehmbar wäre.40 Schleiermachers Konstruktion hat darin eine offene Flanke, dass das religiöse Gefühl nicht aus seinen Zuständen selbst heraus expliziert, sondern über seine Leistungen indirekt mit Reflexionsmitteln erschlossen wird. Dies schlägt sich darin nieder, dass das Gefühl stets in Bezügen zu zwei Totalitätsideen thematisch wird: die Idee von Gott als Einheit ohne Vielheit und die der Welt als Einheit unter Einschluss von Vielheit. Das erlaubt es zwar, einen subjektivitäts- und freiheitslogisch reformulierten Spinozismus mit einem strengen Monotheismus zu kombinieren. Aber die Einheit wird niemals als Einheit gedacht, sondern immer nur von verschieblichen Differenzverhältnissen aus angepeilt. Gott, Welt und Selbst fallen gerade nicht zusammen. Insofern bleibt Schleiermacher Hegels gleichsam ideenontologischer ‚Konstruktion des Absoluten im Bewusstsein‘ gegenüber auf gleichsam kritizistischer Distanz. Die dabei gebrauchten Reflexionsmittel werden aber nicht reflexiv eingeholt und stehen dem Absoluten gegenüber. Das gilt nicht nur für die Idee von Gott, die stets in korrelativen Verhältnissen zur Weltidee thematisch wird, sondern auch für das religiöse Gefühl. Seine Indifferenz kommt als ‚höheres Selbstbewusstsein‘ stets in Korrelationen zum veränderlichen, in die Welt verflochtenen, zwischen Lust und Unlust aufgespannten ‚niederen Selbstbewusstsein‘ zur Erscheinung.41 Dies ist der Ankerpunkt für Geschichtlich-Kontingentes, dessen Gestaltungen im Verhältnis zum ‚höheren‘ zum primären Ort von Freiheit werden. Kriterium ist die Lust der Leichtigkeit im Hervortreten des ‚höheren Selbstbewusstseins‘, und dies geht mit einer grundsätzlich ethischen Weltverwicklung und -gestaltung einher. Deren Horizont ist das Reich Gottes als tendenziell universale, in freiheitlichen Wechselpolaritäten geordnete Welt. Das Verhältnis beider Bewusstseinsstufen bildet zudem den Maßstab von Schleiermachers religionsgeschichtlich-typologischer Sortierung von eher pessimistisch oder optimistisch gestimmten Religionen, und es markiert auch das Gliederungsraster der christlichen Gehalte zwischen Sünde und Gnade. Die Erlösung führt folglich nicht aus der Welt heraus, sondern eröffnet eine Beheimatung in ihrer sittlichen Gestaltung. Hierzu gehört maßgeblich auch die Offenheit für Personalität, die in der subjektivitätslogisch erkundeten Selbständigkeit 40  Vgl. hierzu die im einzelnen etwas anders verlaufende Argumentation von Konrad Cramer, „Die subjektivitätstheoretische Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewußtseins“, in: Friedrich Schleiermacher 1768–1834. Theologe – Philosoph –Pädagoge, hg. v. Dietz Lange, Göttingen 1985, 129–162; vgl. dazu die Replik von Ulrich Barth, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 329 ff. 41  Vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube, KGA I/13, 1, §§ 5; 62 ff.



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des Subjekts gegenüber der Welt wurzelt. Das Personalitätsideal bildet ein balancierendes Gegengewicht zum Pantheismusmotiv. Personalität gibt es freilich nicht als bloß abstrakte Struktur, sie erscheint in der Vielfalt des Individuellen. Es nimmt darum nicht wunder, dass Schleiermacher zugleich der Denker des Individuellen im Spektrum der deutschen Klassik ist. Insofern für ihn das Individuum durch seine Differenzen gegenüber den Anderen ausgezeichnet ist, sind diese virtuell mit Individualität bereits im Horizont. Damit zeichnet sich das Soziale in den Fluchtlinien des Individuellen ab.42 Auch Hegels reifes Religionsdenken gipfelt in Sozialphilosophie. Religion realisiert sich am Ende als Sittlichkeit und geht in deren Lebenspraxis ein. Ihre gehaltliche Dimension als Vorstellung von Selbst, Welt und Gott wird indes in das begreifende Denken der Philosophie aufgehoben, das einen theoretisch-kontemplativen Zug besitzt. Beide Elemente, das eher praktische und das eher theoretische, wurzeln in Hegels geistphilosophischem Konzept der Religion. Er hat es in Reaktion auf Schleiermachers Glaubenslehre in viermal verändert vorgetragenen Vorlesungen43 vorgetragen. Sie explizieren Religion als resümierenden Abschluss des Systemganzen im Übergang von objektivem zu absolutem Geist mit eigener Partialgeschichte. Religion lässt nach Hegel auf eine hintergründige Weise die Strukturlogik vergegenwärtigen, die der an die Natur anschließenden kulturellen Wirklichkeit insgesamt inhärent ist und sich evolutiv zur Geltung in gedanklicher Einsicht bringt. Eine zentrale Pointe dieser Strukturlogik ist die Ausbildung eines Entsprechungsverhältnisses von Selbstsein und Anderssein, für das charakteristisch ist, dass in die Bestimmtheit des Selbstseins bereits das Andere hineingenommen ist und vice versa. Mit der Relationalität der Bestimmungsdifferenz wird die für alles Selbstsein maßgebliche Spontaneität zusammengedacht. Damit ist das Grundgerüst der Logik des Geistes markiert, die Freiheit und Ganzheit in den Vollzügen eines sich im Sozialverhältnis zum Anderen bestimmenden Selbstverhältnisses verbindet. Diese Logik bildet die Ankerpunkte für ein eher praktisches Element im Leben des Geistes, für das seine Objektivität als Sittlichkeit steht, und für ein eher theoretisches Element, das in seiner absoluten Gestalt seine reflexive Relationalität im reinen Denken präsent werden lässt. Hegel hat die überaus komplexe Genese dieser gleichsam selbsttragenden, darum absoluten Strukturlogik des Geistes in seiner Wissenschaft der Logik entwickelt, die – wie Schleiermachers Dialektik – Metaphysik und Logik verbindet. Allerdings durchdringt sie spekulativ die 42  Vgl. dazu Jörg Dierken, „Identität und Individualität. Schleiermacher über metaphysische, religiöse und sozialtheoretische Implikationen eines Schlüsselthemas der Moderne“, in: Journal for the History of Modern Theology/Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 15 (2008), 183–207. 43  Vgl. Hegel, Philosophie der Religion (Anm. 1).

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innere, Freiheit und Ganzheit in ihrer Gegenläufigkeit verbindende Struktur dieser logischen Absolutheitsstruktur und bewegt sich nicht wie Schleiermacher in einem Netz reflexiver Gegensatzpaare im Diesseits des Absoluten, das im Jenseits als deren letzte Einheit steht. Die von Differenzen bestimmten Reflexionsvollzüge sind folglich auch nicht in diesem einheitlichen Absoluten gegründet. Während Hegel die letztlich nur im Denken fassbare Struktur des Geistes als Religion in weiterem Sinn beschreiben kann, steht Religion in engerem Sinn dafür, dass der Geist im Medium eines immer auch sinnlich imprägnierten vorstellungshaften Denkens zur Darstellung gelangt.44 Dabei stellt Hegel anders als Schleiermacher stärker auf die Gegenstands- und Gehaltlichkeitsseite der Religion ab. Sie wird freilich sogleich mit den subjektiven Zuständen des Bewusstseins im Spektrum der ganzen Vermögen des Emotiven, Volitiven und Kognitiven verflochten.45 Hegel zeigt in vielen, nicht immer ausgeglichenen Figuren, wie das religiöse Subjekt durch die spannungshafte Dialektik von Gehalt- und Zuständlichkeit in Prozesse der Transzendierung vormalig endlicher und partikularer Positionen hineingezogen wird und sich bei der Selbstergründung durch religiöse Gehalte über sich ‚erhebt‘ und in Gott als Anderem seiner selbst neu zu verstehen lernt. Hegel kann dies durchaus recht nahe an Vorstellungen aus der dogmatischen Tradition entfalten, die überdies auch als vorläufiger Gipfel der Religionsgeschichte gelten sollen. Doch er teilt keineswegs deren vorkritischen Objektivismus. Gott ist keine Gegebenheit, sondern ein Gedanke – wenngleich ein unverzichtbarer. Und seine Realität ist das Gedacht-, Geglaubt- oder praktische Vollzogensein – in der von ihm verkörperten Logik des Geistes. Religiös kommt dies darin zum Ausdruck, dass die höchste Pointe Gottes sein Eingehen in das Menschliche ist. Religion ist in einem undogmatischen Sinn Menschwerdung Gottes – und zwar eine solche, die einerseits in der Eigenverfasstheit Gottes begründet liegt, andererseits aber auch die Negation eines dem Menschen gegenüberstehenden göttlichen Wesens impliziert. Für Ersteres rekurriert Hegel auf die Motivik der Trinitätslehre, letzteres kommt prägnant im Kreuz des Menschgewordenen zum Ausdruck, das zugleich der Tod des jenseitigen, erhabenen Gottes zugunsten seiner Aneignung im Glauben und im Geist ist. Dies geschieht ebenso innerlich-individuell wie sozial-kommunikativ. In diesem Prozess wird Gott selbst zum Geist: Sein Selbstsein ist sein offenes Verhältnis zum Anderssein oder etwas klassischer: „Geist“ ist „Gott“ nur, „insofern er in seiner Gemeinde ist“.46 Religion, das „Selbstbewusstsein des 44  Vgl.

GW 20, §§ 354; 564–571. die Analyse der subjektiven Formen in den religionsphilosophischen Vorlesungen, vgl. Hegel, Philosophie der Religion (Anm. 1) 1, 108 ff.; 168 ff.; 281 ff. 46  Ebd., 74; vgl. 33; 3, 254. 1, 222. 45  Vgl.



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Geistes“, konkretisiert sich in dem zwiefältigen Geist-Verhältnis von Gottesgedanke und -bewusstsein, für das das „Spekulative“ gleichsam zum dynamisch-veränderlichen „Zustand“ des in empirischen Kontexten befindlichen Subjekts wird.47 Ein sozialphilosophischer Schlüsselbegriff für diese Struktur des Geistes lautet Anerkennung. 3. Freiheit in kommunikativer Vergemeinschaftung Schleiermacher wie Hegel zeigen in ihren Religionstheorien ein starkes sozialphilosophisches Gepräge. Theologie wird in Soziologie übersetzbar, das Gottesverhältnis erscheint ebenso als Sozialverhältnis und fungiert als dessen Ausdruck. Bei Hegel macht sich dies in einem gleichsam kultursoziologischen Zugriff auf die Religionsthematik geltend, nach der in der Religion symbolisch verschlüsselt zum Ausdruck kommt, was ein Volk „für das Wahre hält“.48 Über das deskriptive Element hinaus enthält Religion zudem Potentiale zur normativen Fortentwicklung solcher Vorstellungen. So werde das „Individuum“ als solches sozial erst dann anerkannt, wenn Individualität wie in der Trinität „im göttlichen Wesen“ gewusst wird.49 Die Allgemeinheit des Menschlichen komme dann zur Geltung, wenn wie in der Christologie der Einzige für Alle steht – „in Einem – Alle“, so Hegel lapidar.50 Und die pneumatologische Geist-Struktur zielt auf ein Gott-ähnlich-Werden in den sittlichen Lebensvollzügen im Diesseits, wofür Anerkennungsformen leitend sind. Deren mitlaufendes Symmetrieideal ist ein implizites Sollensmoment, das unterschwellig als Korrektiv der mit allen empirischen Sozialverhältnissen verbundenen Asymmetrien fungiert. Während Hegel letztlich religiöse Frömmigkeit in praktische Sittlichkeit überführt, geht es Schleiermacher eher darum, die sozial-kommunikative Dimension der Frömmigkeit von innen heraus zum Ausdruck zu bringen. So besagt die Pointe seiner Christologie, dass der Erlöser ein neues ‚Gesamtleben‘ stiftet, in das er als Werk mit seiner Person ganz eingeht.51 Und die mit der Christologie parallelisierten Stücke der Pneumatologie und Ekklesiologie beinhalten, dass und wie die Frommen in einer kommunikativen ‚Ordnung des Freien‘ in diese Lebensgemeinschaft mit Christo hineinkommen und sie selbsttätig durch Mit- und Aufeinander wirken in unendlicher individueller Variation realisieren.52 Solche „Communikation“ der Erlösungsfrömmigkeit kann Schleiermacher auch in ethischen 47  Ebd.,

1, 222; 115. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, TWA 12, 70.

48  Hegel, 49  Ebd.

Philosophie der Religion (Anm. 1), 3, 49. Schleiermacher, Der christliche Glaube, KGA 13, 1, §§ 87 ff. 52  Vgl. ebd., §§ 106 ff.; 113 ff. 50  Hegel, 51  Vgl.

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Handlungsmustern beschreiben.53 Seine – unvollendete – Christliche Sitte, die die in der Glaubenslehre dogmatisch beschriebene Frömmigkeit als soziale Lebensprozesse explizieren will, kennt neben dem eher kultisch-ästhetischen ‚Darstellen‘ auch das kritische Muster der ‚Reinigung‘ und das aufbauende der ‚Verbreitung‘.54 Insbesondere hier wird die große Nähe von Religion und Bildung zum Thema. Dass das Religionsverständnis von Schleiermacher wie Hegel eine sozialethische Pointe hat, korrespondiert mit dem gesellschaftstheoretischen Grundzug ihres Denkens. Bei allen Unterschieden ähneln sich Hegels Konzept der Sittlichkeit und Schleiermachers Entwurf der philosophischen Ethik darin, dass sie in einer Vernunftsperspektive eine institutionell gegliederte soziale Welt beschreiben, deren empirische Lebensvollzüge durch intersubjektiven Austausch immer auch Normativität ausdrücken und fortbilden. Wenngleich beide in scharfsinnigen Kritiken der Kantischen Sollens-Logik konvergieren, differieren ihre sozialphilosophischen Denkmittel erheblich. Während Schleiermacher gleichsam systemtheoretische Intuitionen verfolgt, expliziert Hegel die Subjektivität des Willes und sein intersubjektiv verbindendes Handeln in geisttheoretischen Anerkennungsfiguren.55 In den Formativen von Hegels objektiven Geistes erzeugen sich ständig neue Asymmetrien, deren innere Widersprüche sie über sich hinaustreiben. Religion kann dabei ebenso mit kippenden Formativen wie einer eitlen, nur ihrer selbst gewissen Moralität ohne Abgleich mit dem Allgemeinen verbunden sein, sie kann aber auch zu einer gleichsam staatstragenden Größe werden – sei es durch symbolische Vergegenwärtigung der sittlichen Grundlagen der politisch-rechtlichen Ordnung, sei es als Verklärung des Staates zum Gott auf Erden.56 Von solcher Deifizierung ist Hegels Verständnis des Staates als konstitutioneller Monarchie mit Letztentscheidungskompetenz, das Rechtstaatlichkeit und Gewaltenteilung mit ständischen Elementen verbindet, nicht frei. Ihren besonderen Ort hat die kirchlich institutionalisierte Religion aller53  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Die christliche Sitte, nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg. v. Ludwig Jonas, Berlin 21884, 510; vgl. auch ders., Die praktische Theologie, nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg. v. Jacob Frerichs, Berlin 1850, 65. 54  Vgl. Schleiermacher, Christliche Sitte (Anm. 53), 97 ff.; 291 ff.; 502 ff. 55  Vgl. exemplarisch Jörg Dierken, „Aufgeklärtes Staatsdenken. Politische Institutionalität bei Hegel und Schleiermacher“, in: ders., Ganzheit und Kontrafaktizität, Tübingen 2014, 318 ff. 56  Vgl. Ludwig Siep, Der Staat als irdischer Gott. Genese und Relevanz einer Hegelschen Idee, Tübingen 2015.



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dings in der Sphäre der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft, die insbesondere durch ökonomische Interessen in wechselseitigem Austausch bei steigender Konkurrenz bis hin zu materieller und mentaler Verwahrlosung gekennzeichnet ist. In dieser Sphäre der Entzweiung bildet die korporativ verfasste Kirche eine Stütze des über allen Partikularinteressen stehenden Staates, indem sie durch religiöse Kommunikation zur sittlichen Bildung der Individuen beiträgt.57 Die fraglos vorhandene Nähe von Religion und Staat bei Hegel liegt aber nicht auf der Linie von – nachmaligen – Konzepten eines christlichen Staates.58 Die Institutionen von Staat und Kirche sollen gerade nicht zusammenfallen, die Freiheitsgewähr des Staates impliziert eine Offenheit für alle Bürger unabhängig von einer bestimmten Konfession, und die Religion kann aufgrund des Freiheitscharakters der Geist-Struktur Resistenzpotentiale gegenüber sittlichen Defiziten der Politik geltend machen. Auch dies ist in Hegels Konzept angelegt, wenngleich sich eine gewisse Staatsfrömmigkeit nicht übersehen lässt.59 Stärker als Hegel verficht Schleiermacher die Abgrenzung von Religion und Politik, Kirche und Staat.60 Er macht die staatliche Instrumentalisierung der Religion und ihre behördliche Organisation für ihre Glaubwürdigkeitsverluste verantwortlich. Die frühen Differenzierungen von Wissen, Tun und Gefühl sowie von Metaphysik, Moral und Religion mit gleichzeitigen Interferenzen werden später in einem Konzept der funktionalen Differenzierung und Interdependenz sozialer Sphären fortgeschrieben. Maßgeblich für seine güterethische Sozialphilosophie sind zwei einander kreuzende Polaritäten, die Individuelles und Allgemeines auf der einen Seite mit Organisieren – Aneignung von Natur durch Vernunft – und Symbolisieren – Darstellen der Vernunft in Natur – auf der anderen Seite kombinieren. Maßgeblich bei diesem bekannten ‚Viererschema‘ ist, dass die Extreme beider Gegensatzpaare weder vollkommen getrennt sind noch gänzlich ineinander fallen.61 Dies wäre die Position des Absoluten nach der Dialektik, die die Prozeduren des Denkens vermisst. Durch eine Verbindung von Limitationen zwischen jewei57  Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie, GW 14, 1, § 270 Anm; zum hier aufgerufenen Begriff der Korporation vgl. 250 ff.; GW 20, § 534. 58  Vgl. Walter Jaeschke, „Staat aus christlichem Prinzip und christlicher Staat. Zur Ambivalenz der Berufung auf das Christentum in der Rechtsphilosophie Hegels und der Restauration“, in: Der Staat 18 (1979), 349–374. 59  Sie gilt insbesondere dem friederizianischen Preußen in seiner Reformorientierung. Vgl. Jörg Dierken, „ ‚Protestantisches Prinzip‘. Religionsphilosophische Implikationen einer geschichtsphilosophischen Denkfigur Hegels“, in: ders., Selbstbewusstsein individueller Freiheit, Tübingen 2005, 259 ff. 60  Dieser schon in den Reden artikulierte Grundzug hält sich mit manchen Variatio­ nen durch. 61  Vgl. Michael Moxter, Güterbegriff und Handlungstheorie. Eine Studie zur Ethik Friedrich Schleiermachers., Kampen 1992, bes. 198 ff.

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ligen Minima und Maxima kommt es zu der Differenzierung der Sphären des Organisierens mit einem Übergewicht des Allgemeinen – besetzt durch Staat und Verwaltung – und des Individuellen – ausgefüllt durch Handel, Verkehr und Austausch; dem stehen die Sphären des Symbolisierens mit einem Akzent auf dem Allgemeinen und auf dem Individuellen gegenüber, die durch das reproduzierbare Wissen der Wissenschaft und die in geselligen Formen kommunizierten Symboliken von Religion und Kunst besetzt werden. Ihnen sind entsprechende institutionelle Formationen und Sozialstrukturen zugeordnet, wobei immer auch Leistungen anderer Sphären beansprucht werden. So gibt es keine Wissenschafts- und Bildungsinstitutionen ohne den Staat, keine religiöse oder ästhetische Kommunikation ohne Bildung oder keine wirtschaftliche oder politische Aktivität mit entsprechender Verantwortung ohne diesbezügliche mentale Prägungen.62 Insofern lässt sich grundsätzlich auch die Religion in ihrem eigenen Fungieren sozialphilosophisch fassen. Sie dient der für alle bedeutsamen Selbstverständigung des Menschen als freies, aber auch endliches Individuum im Ganzen des sozialen Lebens. Damit pflegt sie in ihrer symbolischen Form die Potentiale der Reflexivität, ohne die Vergesellschaftung ungeordnet vonstattenginge. Dass es bei Schleiermachers Beschreibungen auch zu manch irritierenden, weil äußerlichen Reflexionsunterscheidungen folgenden Gegenüberstellungen wie dem von Klerikern und Laien in der Kirche oder Obrigkeit und Untertanen im Staat kommen konnte, ist die Kehrseite eines sich ebenso virtuos wie konsequent in einander überlagernden Reflexionsfiguren ergehenden Religionsdenkens. 4. Fazit Schleiermachers und Hegels Religionstheorien lassen sich nicht aufeinander abbilden. Dazu sind die methodischen Differenzen zu gewichtig, und sie schlagen sich auch in Gesamtanlage und Grundakkord nieder. Doch das ändert nichts an grundlegenden Affinitäten aus Kantischem Erbe. Sie betreffen die subjektivitätstheoretischen Ausgangspunkte für die Religionsthematik, nach denen Religion in freien Vollzügen des bewussten Lebens wurzelt, das sich in seiner Eigenheit versteht und darüber in eine Grenzdialektik verwickelt findet, die zugleich über dessen bloße Endlichkeit hinauszugreifen verlangt. Religion verschränkt daher ein Ganzheits- oder Totalitätsbewusstsein mit einem elementaren Verständnis von Freiheit. Sie steht als Spontaneität immer auch für Abweichen, Veränderung und Anders-Werden und kann 62  Dass die Differenzierungen der sozialen Sphären keine Segregation darstellen, zeigt auch Schleiermachers biographisch bedeutsames Engagement als Bildungs- und Kirchenpolitiker. Vgl. Schleiermacher-Handbuch, hg. v. Martin Ohst, Tübingen 2017, v. a. 193–241 die Beiträge von Andreas Reich, Albrecht Geck, Dirk Schmid, Martin Rössler und Matthias Wolfes.



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als Selbstbestimmung ohne Selbstübereinstimmung anstelle von Fremddeterminierung nicht einmal gedacht werden. Die Spannungen in der Verbindung von Freiheit und Ganzheit verleihen dem programmatischen Systemdenken beider einen offenen Charakter, der sich auch im konstruktiven Verständnis des Einzelnen und Individuellen niederschlägt. Es wird kommunikationsoder geisttheoretisch mit dem Allgemeinen vermittelt, in seine Selbstidentität reicht gleichursprünglich die Alterität des Anderen – und virtuell aller Anderen – hinein. Damit wird an die aufklärerischen Motive der Gleichheit und Freiheit angeknüpft, wenn auch in erheblich modifizierten, teilweise romantisch inspirierten Formen. Dazu gehört auch, dass Subjekt- und Sozialtheorie verschränkt, das Gottesverhältnis in geisthafte Intersubjektivität übersetzt und Frömmigkeit als Ethik expliziert werden. Auch die markantesten Differenzen resultieren aus unterschiedlichem Umgang mit dem Kantischen Erbe. Während Schleiermacher der kritizistischen Einsicht in die Endlichkeit allen Denkens folgt, wie sie durch unübersteigliche Duale von Natur und Intelligenz in theoretischer und praktischer Hinsicht markiert wird, geht Hegel der Einheits- oder Synthesisbildung nach, die in den Fluchtlinien eines alle relationalen Duale durchdringenden spekulativen Vernunftvollzugs angelegt ist. Bei Schleiermacher zeigt sich sein reflexionsmethodischer Grundzug darin, dass die im Absoluten verortete letzte Einheit transzendent bleibt, während sich sein Denken in einer Fülle von kunstvoll balancierten Polaritäten bewegt. Das gilt ebenso für das Gefühl als Repräsentanz der absoluten Einheit im Diesseits, das gerade in seiner reflexionsentzogenen Unmittelbarkeit hochgradig konstruiert ist und erst durch Reflexionsmittel explizierbar wird. Hegel hingegen bringt die Diskursivität des endlichen, in Gegensätzen sich bewegenden Denkens durch Selbstanwendung und Aufhebung ins Absolute selbst hinein, das in der Folge davon seinerseits das Endliche in sich aufnimmt, ins Endliche eingeht und dieses in der GeistStruktur über seine bloße Endlichkeit erhebt. Damit stehen die Denkfiguren der Spekulation im Kontrast zu solchen der Reflexion. Methodisch korrespondiert hiermit ein negationsdialektisches Verfahren gegenüber dem Procedere wechselseitiger Limitierungen von Reflexionspolaritäten, die durch weitere überlagert und mit ihnen ausgeglichen werden. Das steht hinter den unterschiedlichen Färbungen in Ton und Stil des Denkens. Während sich durch Schleiermachers kunstvolles Arrangements der Gegensatzpaare der Eindruck einer letzten Balance in mobileähnlicher Beweglichkeit aufdrängt, macht sich in der Bedeutung des Negativen bei Hegel eine hohe Sensibilität für das Widersprüchliche geltend. Beides, Stabilisierung durch Beweglichkeit in mannigfachem Austausch und spannungsvolle Widersprüchlichkeit sind Merkmale der Moderne, die bereits in ihrer Sattelzeit hervortreten. Sie werden bei Schleiermacher wie Hegel konstruktiv bearbeitet. Daran lässt sich auch gegenwärtig anknüpfen.

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Zu den bleibenden Vermächtnissen dieser in großer Nähe, aber auch gedanklicher Distanz entstandenen Religionsphilosophien aus der Sattelzeit der Moderne dürfte gehören, dass beide Denker Religion als Angelegenheit der Vernunft im weitesten Sinn verstehen. Indem sie einer je eigenen, beschreibbaren Rationalität folgen, die sie dennoch nicht aufeinander abbildbar macht, zeigt sich eine in der Vernunft selbst angelegte Tendenz zum Pluralen. Sie gibt Anlass zu weiterem intellektuellen Streit, der an die Stelle des Hauskrieges treten kann. Diese Tendenz bewährt sich schon darin, dass die Konturen beider Religionsphilosophien im Gegenlicht der anderen deutlicher hervortreten. Hinzu kommt beiderseits eine Mehrfältigkeit von Zugängen zur Religionsthematik – insbesondere Subjektivitätsdenken und kommunikative Sozialtheorie bei Schleiermacher, die Entfaltung des absoluten Geistes auch in den Formationen des objektiven und vice versa bei Hegel. Beides lässt sich in weitere Differentiale hinein verfolgen. Die Tendenz zum Pluralen in der Vernunft ist aber nicht arbiträr. Das erhellt aus der Gegenläufigkeit der Grundmotive eines Ganzen, das immer auch relational alle Teile verflicht und auf Einheit drängt, und einer Freiheit, die neben Selbsttätigkeit immer auch die Dimension des Kontrafaktischen kennt. Beides führt auf unterschiedliche Ordnungen letzter Gedanken in religiöser Symbolisierung. Damit sind verschiedene Wege ihrer Erkundung markiert. Sie zielen insbesondere auf ein Verständnis der Pluralität der Vernunft auch in Religionsdingen anstelle von deren Separation, verbunden mit strengem, aber ebenso auch offenem Systemdenken. Diese Wege sind bis heute nicht ausgetreten.

Das Faktum und die Vorstellung Von Walter Jaeschke Der Begriff, an dem Schleiermachers und Hegels Konzeptionen der christlichen Religion sich wissenschaftsgeschichtlich epochal unterscheiden, ist nicht der Begriff des Gefühls, sondern der Begriff der Geschichte – genauer: die Rolle, die beide der Geschichte für die Fundierung der christlichen Religion zuweisen. Diese These will keineswegs in Abrede stellen, was über die unterschiedliche Stellung beider zum „Gefühl“ gesagt worden ist. Doch trotz Hegels scharfer Polemik gegen die Begründung der Religion auf das Gefühl ist es auch für ihn selbstverständlich, daß die Religion im Gefühl sein muß, das Gefühl erfüllen muß; es darf ihm nur keine Fundierungsfunktion zugeschrieben werden. Und dieses Gefühl darf auch kein Gefühl der Abhängigkeit sein, gar der „schlechthinnigen Abhängigkeit“ – denn dadurch wird es in Hegels Augen zu einer subtilen Form von Teufelsanbetung. Dies ist bekannt, zu bekannt, als daß ich hier darauf eingehen möchte. Wenig oder gar nicht bekannt ist hingegen die epochale Differenz in der Stellung beider zum Problem einer geschichtlichen Begründung der Wahrheit der christlichen Religion – und noch weniger wohl, daß diese epochale Differenz schließlich in eine – ungewollte – partielle Koinzidenz mündet. Deshalb möchte ich hier davon sprechen. 1. (1)  Ein Jahr nach dem Eintreffen Hegels in Berlin – und sicherlich völlig unabhängig davon – hält Schleiermacher eine Vorlesung, die nicht nur ein Novum gegenüber seinem bisherigen Lehrangebot darstellt, sondern – soweit ich sehe – ein theologiegeschichtliches Novum überhaupt: eine Vorlesung über das Leben Jesu. Zum Gegenstand der Forschung, auch romanhaft ausgeschmückter Darstellungen, ist das Leben Jesu bereits im 18. Jahrhundert geworden, und auch Hegel hat in seinen frühen Jahren einmal ein „Leben Jesu“ geschrieben1 – wenn auch nicht unter diesem Titel, der erst später gegeben worden ist, unter dem Einfluß des Werkes von David Fried1  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Frühe Schriften I, in: GW 1, hg. von Friedhelm Nicolin und Gisela Schüler, Hamburg 1989, 205–278.

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rich Strauß. Doch ist das Leben Jesu bis hin zu Schleiermacher – ich sage nochmals: soweit ich sehe – nicht zum Thema theologischer Vorlesungen geworden. Schleiermacher ist sich der Neuartigkeit seines Gegenstandes und der methodischen Andersartigkeit seines Vorhabens durchaus bewußt gewesen. Sie spiegeln sich bereits im spezifischen Ankündigungstext seiner Vorlesung: Schleiermacher „erzählt/narrabit“ das Leben Jesu – und er erzählt es nicht, wie man ein Mährchen oder einen Roman erzählt, sondern wie man Geschichte in kritischer, wissenschaftlicher Form erzählt. Seine Vorlesung dient nicht der Exegese einer biblischen Schrift, sondern ihr Zweck ist es, die Thatsachen des Lebens Jesu unpartheisch festzustellen (101)2, „das Faktische auszumitteln“ (116), oder noch prononcierter: Es geht darum, „die Wahrheit des Faktums“ (208) herauszuarbeiten – aber nicht bloß um der historischen Erkenntnis willen, sondern um darauf die Wahrheit der christlichen Religion zu gründen. Mit dem Ziel, ein anschauliches Bild vom Leben Jesu zu zeichnen, verbindet sich sogleich eine apologetische Absicht: Denn im gegenwärtigen Zustand der christlichen Kirche könne es nicht genügen, vom Glauben an Jesum oder an die evangelischen Nachrichten auszugehen. „Vielmehr kann unser Glaube in diesem Streit nur fest und mittheilbar werden, wenn wir die Thatsache ganz unpartheiisch feststellen.“ (101). Schleiermacher scheut sich hier auch nicht, etwaige mißliche Konsequenzen eines solchen Vorgehens unumwunden auszusprechen: Was sich nicht bewährt, muß man fallen lassen (121; 301). Und so zieht er aus, um die neutestamentlichen Texte, vor allem natürlich die Evangelien und die Eingangspartien der Apostelgeschichte, einer groß­ angelegten, manchmal erbarmungslos strengen historisch-kritischen Untersuchung zu unterwerfen – dies aber keineswegs in destruktiver Absicht, sondern um durch die Freilegung und Sicherung des Faktischen gleichsam ein fundamentum inconcussum für die Wahrheit der christlichen Religion zu gewinnen. Ermutigt wird er hierzu durch die Gewißheit, daß die göttliche Providenz es erlauben werde, auch in der Geschichte das Rechte zu finden (575). (2)  Doch die göttliche Providenz – wenn man sie denn bemühen möchte – läßt statt der erhofften „Thatsachen“ nur dies finden: daß sich nirgends das zeigt, was man mit Recht ein „Factum“ nennen könnte. Das Faktische ist vielmehr, daß die Nachrichten nicht übereinstimmen (648), daß sich allenthalben statt des postulierten Factums Widersprüche zwischen den Quellen zeigen. Schleiermacher führt sie auf unterschiedliche Berichte zurück – doch 2  Alle in dieser Form in den Text gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten des Bandes Schleiermacher, Vorlesungen über das Leben Jesu. Vorlesung über die Leidens- und Auferstehungsgeschichte, hg. von Walter Jaeschke, Berlin 2018 (KGA II, 15).



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was sind diese unterschiedlichen Berichte anderes als unterschiedliche religiöse Vorstellungen? Wenn seine Suche auf ein potentiell Faktisches stößt, so sind die Widersprüche zwischen den Berichten so groß oder seine Beschreibung so dürftig und vage, daß die Qualität und Belastbarkeit des Factums hierdurch untergraben wird. Doch sieht Schleiermacher sein Vorhaben einer Begründung der Wahrheit der christlichen Religion durch diese Widersprüche nicht gefährdet. Und es ehrt Schleiermacher, den Historiker, daß er nicht davor zurückschreckt, diese Widersprüche offenzulegen. Mehrfach hat man sogar den Eindruck, daß er geradezu seinen Ehrgeiz darein setzt, möglichst viele neutestamentliche Erzählungen als problematisch in den Blick zu rücken, möglichst viele solcher Unzulänglichkeiten oder gar Widersprüche aufzudecken – um zu demonstrieren, wie viele und welch große Widersprüche zwischen den Quellen die Wahrheit der christlichen Religion in sich aufzuheben vermag, ohne dadurch Schaden zu erleiden. In zahlreichen Partien allerdings scheint die kritische Interpretation auch noch durch eine Nebenabsicht geleitet und beflügelt, die sich wenig später als verderblich erweisen wird: durch die Absicht, möglichst viele Widersprüche zwischen dem Johannesevangelium und den synoptischen Evangelien, dann aber auch zwischen den synoptischen Evangelien aufzuzeigen: ihre „Verworrenheit“ (473) vor Augen zu stellen, um im Gegenzug gegen sie das Evangelium des Johannes als den historisch verläßlichen Bericht eines Augenzeugen präsentieren zu können. Die damit angeschnittene Problematik ist bekannt, zumindest unter Theologen, aber ich muß dennoch mit einigen Worten auf sie eingehen, um einen oft übersehenen Aspekt hervorzuheben. Schleiermachers Bevorzugung des Johannesevangeliums folgt – einmal abgesehen vom ansprechenden Inhalt der johanneischen Theologie – gerade aus seinem Interesse, auf die Facta zurückzugehen, ihre Wahrheit ins Licht zu stellen. Nachrichten, so formuliert er einmal bei Gelegenheit der Erzählungen von der Kindheit Jesu, müssen zurückgeführt werden können auf Augenzeugen (328f). Denn je weiter man sich von dieser Quelle, vom Bericht eines Augenzeugen entfernt, desto größer werde die Gefahr, daß andere Inhalte und Intentionen in die Texte einfließen oder sie gar überwuchern. Die Verfasser der synoptischen Evangelien sind aber keine Augenzeugen gewesen, wie schon aus der Ungenauigkeit und Widersprüchlichkeit ihrer Darstellungen zu ersehen ist; auch die Zeit der Abfassung dieser Evangelien läßt sich nicht exakt bestimmen, und „so ist es klar, daß sie Dinge als Thatsachen aufgenommen haben, die durchaus nicht factisch sind“ (483). Daß das Evangelium des Johannes hingegen der Bericht eines Augenzeugen sei, zeigt sich Schleiermacher bereits an der inhaltlichen Geschlossenheit und internen Widerspruchslosigkeit dieses Evangeliums. Aber er hat noch ein weiteres Argument parat, bei dessen Vortrag sein kritischer Gestus allerdings in einen schwer begreiflichen, ja lächerlichen Zirkel

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umschlägt: Bei der Kreuzigung (und fraglos während der gesamten Lehrtätigkeit Jesu) sei Johannes ein „unmittelbarer Zuschauer“ gewesen, „denn Christus spricht hernach mit ihm“ (591) – wie ja wiederum im Evangelium des Johannes deutlich zu lesen ist. Um sich zu veranschaulichen, wie verhängnisvoll Schleiermachers Orientierung am Johannesevangelium gewesen ist, braucht man nur einen Blick auf die hohntriefenden Marginalien zu werfen, die David Friedrich Strauß später auf seinen Abschriften von Schleiermachers Leben-Jesu-Vorlesungen angebracht hat. Man muß aber sehen – und dies hat wohl auch Strauß nicht gesehen –, daß sich Schleiermachers Fixierung auf das Johannesevangelium nicht einer bornierten Entgegensetzung des Dogmatischen gegen die Historie verdankt, sondern gerade dem Interesse an der Ermittlung der Wahrheit des Faktums – wenn auch einem fehlgeleiteten und mitunter etwas blinden Interesse. (3) Bei seiner Suche nach den „Thatsachen“ stößt Schleiermacher aber nicht nur auf solche potentiellen, durch den Widerstreit der Berichte aber unglaubwürdig und unbrauchbar werdenden Facta, sondern er stößt – gerade bei religiös relevanten Partien – immer wieder auf Erzählungen, bei denen auch er selber gar nicht ernstlich erwägt, ob es sich bei ihnen um Berichte über Facta handele: bei denjenigen Partien nämlich, die er als „poetisch“ oder „symbolisch“ qualifiziert. Das Reizwort „mythisch“ meidet er, weil er einen sehr engen Mythosbegriff zu Grunde legt – daß der Mythos allein der Vorzeit angehöre und somit im Neuen Testament gar nicht vorkommen könne (199). Ein wichtiges und auch bekanntes Beispiel für solche poetischen Texte sind etwa die als geschichtliche Nachrichten stilisierten (517) und mit theologischen Intentionen aufgeladenen Partien des Lukasevangeliums aus dem Umkreis der Geburtsgeschichte Jesu; ferner ist zu denken insbesondere an die Erzählungen von der dreimaligen Versuchung Jesu durch den Teufel, bei der bereits die Dreimaligkeit den Verdacht schöpfen läßt, daß es sich um eine Fiktion handle – ganz abgesehen vom abstrusen Inhalt. Ein weiterer Schwerpunkt solcher poetisierenden oder symbolischen, pseudohistorischen Nachrichten sind fraglos die kolportierten Ereignisse bei der Verklärung Jesu und bei seinem Verscheiden – Finsternis, Erdbeben, Öffnen der Gräber, Zerreißen des Vorhangs im Tempel –, die zum Teil sogar theologisch kontraintuitiv sind –, und ebenso die Begleiterscheinungen bei der Auferstehung Jesu, deren Qualifizierung als „Thatsachen“ Schleiermacher gar nicht ernstlich erwägt, denn: „Es war keiner da, welcher etwas davon hätte sagen können. Diese Geschichte erscheint uns also durchaus als eine gemachte. Daß solche Geschichten gemacht wurden, war sehr natürlich.“ (605). Es ist jedoch unstrittig, daß der theologische Gehalt vorzugsweise an solchen „poetischen“, „symbolischen“ und eben: „gemachten“ Erzählungen haftet – nicht am nüchternen, dem Historiker potentiell zugänglichen Factum, sondern an der religiösen Vorstellung.



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(4) Gleichwohl ist es das Interesse an der Wahrheit des Faktums, das Schleiermacher zu seinen großangelegten, mehrfach wiederholten Vorlesungen motiviert – zu seinem aufwendigen, minutiösen Vergleich der überlieferten Texte, der doch, statt ein gesichertes Faktum zu präsentieren, lediglich die naive Annahme zerstört, daß auf diesem Wege Facta, geschweige denn theologisch belangvolle, zu finden seien. Und dies betrifft alle Stationen seines kritischen Weges: beginnend von den divergenten und ohnehin nicht zum erwünschten Ziel führenden Geschlechtsregistern und von den Erzählungen von der übernatürlichen Empfängnis Jesu, die, wie Schleiermacher einräumt, nicht historisch begründet sind (334), oder von den Ereignissen im Umkreis der Geburt Jesu, von denen später anscheinend niemand mehr etwas gewußt hat, über die spärlichen Nachrichten aus den Kindheitsjahren Jesu oder die Berichte über die Versuchung Jesu durch den Teufel, über die Taufe, die Reisen oder die Reise nach Jerusalem, bis hin zu seiner Gefangennahme, Kreuzigung und Grablegung, wobei er es nicht einmal als Faktum gesichert sieht, daß der Tod wirklich eingetreten sei (481), und schließlich zu Jesu Auferstehung und Himmelfahrt. Im Blick auf Schleiermachers programmatischen Rückgang auf das Factum könnte man Urteile, die er einmal ausdrücklich formuliert, all diesen Themen als Refrain anhängen: „Man mag die Sache betrachten wie man will, sie will sich als Thatsache nicht anerkennen lassen“ (371). „Es soll eine Geschichte seyn und kann doch keine seyn.“ (197). Denn teils gibt es Widersprüche zwischen den Berichten, die es nicht erlauben, ein Factum als gesichert herauszustellen; teils wertet er die Erzählungen als „sehr unwahrscheinlich“, als nicht „anschaulich“ oder als nicht „construirbar“, oder es heißt, man könne sich das behauptete Factum gar nicht recht denken oder gar nicht damit reimen (622); teils handelt es sich für ihn um eine „kahle Erzählung“, die „Höchst willkührlich und leer“ (552) ist, und teils qualifiziert er die Texte, wie eben erwähnt, als poetische und symbolische Darstellungen – also nicht als Facta, sondern als Produkte des Glaubens. Gleichwohl schließt Schleiermacher – um potentielle Irritationen und Verletzungen durch den kritischen Stachel seiner Ausführungen abzumildern – seine nicht allein kritischen, sondern durchaus perniziösen Ausführungen stereotyp mit der beruhigen sollenden Versicherung, daß die Destruktion ja nur das Geschichtliche betreffe – daß die kritische Destruktion des Geschichtlichen dem Glauben keinen Eintrag tue (334) und die Glaubwürdigkeit der Evangelien dadurch nicht angetastet werde (588 u. ö.). Dies trifft sogar zu – aber es trifft nur unter der Bedingung zu, daß der Glaube gar nicht auf dem Fundament der Historie beruht; allein dann wird er vom Zerbrechen dieses Fundaments nicht erfaßt. (5)  Ich möchte dieses, jeweils über ein Semester hinweg fortgesetzte Aufzeigen von Widersprüchen und Unzulänglichkeiten hier nicht im Detail verfolgen, sondern mich auf den letzten Abschnitt der Vorlesungen konzen-

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trieren: auf die Themen „Auferstehung“ und „Himmelfahrt“. Hier räumt Schleiermacher zwar zunächst ein: „Es ist sehr schlimm, daß die Erzählungen von der Auferstehung gar nicht wollen zusammenstimmen.“ Doch weiß er sich mit einem überraschenden Argument aus seiner Not zu helfen: „die Widersprüche sind nicht zu läugnen, allein dies ist eine Thatsache, die in allen Theilen des Lebens Christi vorkommt. […] Zwischen den evangelischen Erzählungen von der Auferstehung Christi und zwischen der von dem Leben Christi im Ganzen, ist kein Unterschied. die Widersprüche hierin sind das Tägliche, welches sich in allen Erzählungen findet.“ (487 f.). So ganz befreiend und beruhigend ist dieses Argument allerdings denn doch nicht. Doch trotz der geschilderten, für seine Intention einer geschichtlichen Grundlegung eigentlich vernichtenden Sachlage meint Schleiermacher, aufkommende Bedenken wegwischen und noch den entscheidenden Schritt weitergehen zu können, zum angestrebten Factum: „Wie es mit dem Hauptmoment der Auferstehung selber zugegangen sei, darüber ist nichts bestimmtes zu sagen, es ist dies als Thatsache anzunehmen, ohnerachtet die Nachrichten hierüber fehlen.“ (493). Eine Tatsache also, über die die Nachrichten fehlen: Beiläufiger, aber auch prägnanter kann man das Scheitern des Programms einer historischen Sicherung des Factums eigentlich nicht eingestehen. Doch was berechtigt uns dazu, ein Faktum anzunehmen, für das die Nachrichten fehlen? Bei Schleiermacher findet sich jedoch keine Reflexion über diese für sein Programm prekäre Forderung. Statt dessen fühlt er sich zu einem ähnlichen und nochmals weitergehenden Schritt ermuntert. Auf die Auferstehung folgt ja die Himmelfahrt, ob noch am gleichen Tage, wie man nach Marcus vermuten kann, oder erst nach 40 Tagen, wie es auch in unserem Festkalender kanonisiert ist, und ob nun von Galiläa aus, wie Matthäus berichtet, oder von Bethanien, wie Lukas behauptet, muß wiederum offen bleiben. Schleiermacher räumt zwar ein: „Hier sind wir in unvermeidlicher Dunkelheit, weil die Geschichte ihre Grenzen hat.“ An diesem Punkt qualifiziert er die Texte aber nicht als poetisch oder symbolisch, sondern er nötigt uns wiederum, ein Factum anzunehmen – wobei er allerdings einräumt: „construiren werden wir uns das Factum nie können.“ Die Jünger hätten nun einmal die Tendenz gehabt, etwas Gesehenes berichten zu wollen (647) – und deshalb ist auch Schleiermacher selber gar nicht der Ansicht, daß hier etwas zu sehen gewesen sei. Die ursprüngliche Erzählung von der Himmelfahrt „hat sich also wohl von selber so gemacht, ohne daß irgend jemand sie gemacht hätte“, und das allgemein Angenommene sei dann sinnlich gestaltet worden (653). Die Begründungsrichtung der religiösen Wahrheit geht also nicht vom Factum, vom Gesehenen, zum Glauben, sondern umgekehrt vom Glauben zum Gesehenen bzw. als gesehen Behaupteten: „Was man also glaubte und glauben mußte ist also nur erzählt als ob es gesehen worden,



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ohne daß es gesehen war.“ (652). Ich denke, dies ist eine erstaunlich tiefe Einsicht in den Mechanismus der Formierung religiös relevanter Fakten, und es ist nur zu bedauern, daß Schleiermacher von ihr her seine Darstellung des Lebens Jesu nicht revidiert hat. Schleiermachers Versuch, die Tatsachen ganz unparteiisch festzustellen, das Factische auszumitteln (101, 116), um die Wahrheit der christlichen Religion darauf zu stützen, kulminiert somit in der Nötigung, zwei Facta anzunehmen, von denen wir nichts wissen und auch nichts wissen können, sondern die wir glauben müssen – und an die Wahrheit dieser behaupteten Facta bindet er auch noch die Glaubwürdigkeit der biblischen Erzählungen insgesamt: „Wenn aber das Factum [gemeint ist: die Himmelfahrt] gar nicht wahr ist, fallen alle Erzählungen der Apostel.“ (301). Dies allerdings ist keine historische Begründung, sondern eine Begründung aus dem Glauben – und Schleiermacher spricht hier auch selbst ganz treffend von einem „Glauben ans Factische“. Die Rede vom Factum steht also selbst unter der Bedingung des Glaubens, und „Der Glaube ans Factische hängt allerwesentlichst zusammen mit der Glaubwürdigkeit der Apostel.“ (301). Dies ist natürlich eine zirkelhafte Immunisierung: Die Wahrheit der Erzählungen der Apostel hängt an der Wahrheit des Faktums, aber diese Einsicht in die Wahrheit des Faktums ist abhängig von der Glaubwürdigkeit der Apostel – und deshalb darf diese nicht gefährdet werden: Man muß nicht nur in diesem Fall, sondern generell die Annahme übernatürlicher Ereignisse und Wirkungen gelten lassen, „weil sonst die heiligen Schriftsteller an ihrer Glaubwürdigkeit verlören“ (157) – und wenn sie verlorengehe, werde Christus „ein mythischer“ (208). Damit spricht Schleiermacher dann doch noch das von ihm sonst vermiedene Reizwort aus, das wenig später die Diskussion dominiert. (6)  Schleiermacher warnt zwar vor dem Verlust der Glaubwürdigkeit der biblischen Texte. Doch haben wenige so viel dafür getan, das historische Fundament der Evangelien zu untergraben, wie er mit seinem Versuch, den Glauben darauf zu begründen. Deshalb hat sich ja auch die historisch-kritische Leben Jesu-Forschung von seinen Vorlesungen abgestoßen: Nur drei Jahre nach Schleiermachers letzter Vorlesung erscheint das zweibändige Werk von David Friedrich Strauß: „Das Leben Jesu, kritisch betrachtet“ – und Strauß hatte seine Abschriften von zwei Leben Jesu-Vorlesungen in der Schreibtischschublade. Jahrzehnte später, nach der verzögerten Erstpublikation dieser Vorlesungen Schleiermachers, hat Strauß nochmals nachgehakt, und dabei hat er – wie Albert Schweitzer schreibt – Schleiermachers „Leben Jesu“ „die Grabrede gehalten“.3 3  Albert Schweitzer, Geschichte der Leben Jesu-Forschung. Zweite, neu bearbeitete und vermehrte Auflage des Werkes „Von Reimarus zu Wrede“, Tübingen 1913, 63.

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Es geht aber letztlich nicht um Schleiermachers Vorlesungen, und schon gar nicht um eine beckmesserische Kritik an ihnen, sondern es geht allgemein um die Möglichkeit einer historischen Fundierung der christlichen Religion im Sinne eines Rückgangs auf „Thatsachen“. In der „Schlußbetrachtung“ seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung zieht Albert Schweitzer einen markanten Schlußstrich unter die Epoche, die solches versucht hat: „Das historische Fundament des Christentums, wie es die rationalistische, die liberale und die moderne Theologie aufgeführt haben, existiert nicht mehr“.4 Schleiermachers Vorlesungen sind ein Dokument des Scheiterns ihrer Intention, auch wenn er selber dieses Scheitern einer historischen Begründung der christlichen Religion, einer Begründung auf „das Factische“, nicht ausdrücklich eingestanden hat. Es scheint aber nicht nur durch die Zeilen seiner Manuskripte hindurch. In den Schlußworten der Notizzettel für sein letztes Kolleg heißt es auch ausdrücklich, fraglos gegen die rationalistische Leben Jesu-Schreibung gerichtet: „Christus ist ein ens sui generis, und alle Versuche, sein ganzes Leben natürlich zu erklären, sind rein vergeblich.“ (508). Dann aber ist auch der Versuch einer historischen Begründung der christ­ lichen Religion auf Tatsachen „rein vergeblich“. Denn Facta kann es nur dort geben, wo man natürlich erklären kann, und nicht im weichen, von der religiösen Vorstellung ausgestalteten Raum des Poetischen und Symbolischen. Und dieser historische Begründungsversuch ist nicht nur vergeblich, sondern auch desaströs, weil er das Fundament der Religion zunächst in die Facta verlegt, dann aber ihre Unerweislichkeit eingesteht. Fabula docet: Wenn man das Fundament der christlichen Religion in den überlieferten vermeintlichen Facta finden will und sie rein historisch behandelt, ist es aus mit ihr. 2. (1)  „Wenn historisch behandelt, dann ist aus.“ Dies ist – strikt entgegen der ursprünglichen Intention von Schleiermachers Vorlesungen – ihr Resultat – zumindest das Resultat, zu dem ein kritischer Leser gelangen muß: und Schleiermacher fordert ja kritische Leser der biblischen Texte, um die Kombinationen von den bestimmten Relationen zu unterscheiden (588). „Wenn historisch behandelt, dann ist aus“ ist aber zugleich der Satz, der Hegels vernichtendes Urteil über den Versuch einer historischen Begründung der christlichen Religion kompromißlos ausspricht – und er spricht dieses Urteil zu Beginn des Jahrhunderts aus, an dessen Ende Albert Schweitzer die vorhin zitierten Sätze notiert, die das gleiche besagen. Hegels Satz findet sich im Manuskript zu seiner ersten Vorlesung über Religionsphilosophie, vom 4  Ebd.,

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Sommer 1821,5 also nur zwei Jahre nach Schleiermachers erster Leben JesuVorlesung. Man könnte meinen, Hegel habe die Vorlesung im Nebenraum gehört und daraus für sich dieses Resümee gezogen – aber das ist natürlich nicht der Fall. (2)  Doch warum ist es aus mit der Religion, wenn man sie historisch behandelt? Denkbar wäre, daß historische Nachweise religiöser Wahrheiten erfahrungsgemäß nicht wirklich gelingen wollen, daß Beweisversuche regelmäßig mit dem Spruch „non liquet“ abgebrochen werden müssen: Die Indizien reichen nicht aus, es gibt keine oder zu wenige Zeugen, und diese sind zudem nicht vertrauenswürdig, weil Differenzen zwischen ihren Aussagen klaffen – oder weil sie etwas behaupten, das gegen unsere Erfahrung vom Lauf der Natur verstößt, wie es ja bei den Wundern der Fall ist. Dies alles sind bekannte Situationen, und es sind ja auch eben diese Schwierigkeiten, die sich Schleiermachers Bild vom Leben Jesu in den Weg legen und die er nur mit dem Machtspruch überspringen kann, daß der Glaube durch sie nicht tangiert werde. Aber all dies bleibt unterhalb der Ebene, auf der sich das Problem für Hegel stellt. In seiner Perspektive stellen sich die Schwierigkeiten, die auf diesem Wege liegen, unvermeidlich ein, denn sie folgen mit Notwendigkeit aus einem verfehlten Ansatz: Sie folgen daraus, daß man die Religion auf die Ebene des Faktischen, der „Thatsachen“ herabzieht, auf der sie nicht zu finden ist, und daß man vom Rekurs auf Thatsachen einen Succurs erwartet, der sich zumindest mit legitimen Mitteln nicht einstellen will. Dann aber schlägt der Versuch eines historischen Beweises in sein Gegenteil um. (3)  Doch wenn die Wahrheiten der Religion nicht auf der Ebene des Faktischen angesiedelt sind – wo sind sie dann zu finden? Hegels Antwort ist kurz: Sie sind auf der Ebene der Vorstellungen zu finden. Diese Antwort ist nicht allein kurz; für viele, die sich etwas anderes erhoffen, ist sie auch nicht befriedigend oder gar verwerflich. Doch braucht sie nicht schon deshalb falsch zu sein. Wenn wir einen Moment auf Schleiermacher zurückblicken: An allen religiös sensiblen Punkten haben sich keine „Thatsachen“ feststellen lassen, sondern Poetisches oder Symbolisches oder ‚geglaubtes Faktisches‘. Doch was ist das Poetische und Symbolische anderes als eine religiöse Vorstellung? „Vorstellung“ – das Wort mag für manchen etwas Anstößiges haben, wegen seiner Leerheit und Beliebigkeit. Vorstellungen kann man sich bekanntlich mancherlei machen – phantastische und realistische, traurige und tröstliche. Die Vorstellungen, mit denen wir es hier, in der Religion, zu tun haben, 5  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Religions-Philosophie“, in: GW 17, Vorlesungsmanuskripte I (1816–1831), hg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1987, 299, bzw. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, hg. von Walter Jaeschke, Teil 3, Hamburg 1984, 95.

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sind von anderen spezifisch unterschieden – und sie sind von komplexerer Natur als die gewöhnlichen. Dazu wenigstens einige Worte. Generell unterscheidet Hegel die Vorstellung von der Anschauung, die die sinnliche Präsenz eines Gegenstandes voraussetzt und mit dem Ende dieser Präsenz ebenfalls endet. Die Vorstellung – könnte man sagen – kann aus der Aufhebung einer solchen sinnlichen Anschauung ins Bewußtsein, in die Erinnerung, resultieren: An die Stelle des verschwindenden sinnlichen Gegenstandes tritt dann die Möglichkeit seiner nahezu unbegrenzten Iteration – aber auch die seiner Umgestaltung und auch die eines schlichten Vergessens. Die Vorstellung setzt jedoch nicht notwendig eine derartige sinnliche Anschauung voraus: Man kann sich Vorstellungen von Gegenständen machen, die es nie gegeben hat und nie geben wird – ohne daß diese Vorstellungen einen Anspruch auf sinnliche Präsenz erheben; es reicht etwa schon, wenn sie einen Unterhaltungswert haben. Aber auch hier werden die Gegenstände entweder in Raum und Zeit oder doch wenigstens analog zu räumlich-zeitlich verfaßten Gegenständen vorgestellt. Die religiöse Vorstellung hingegen – nicht allein die der christlichen Religion, sondern der Religion überhaupt – ist anderer Art. Dies möchte ich an vier Characteristica festmachen, an drei formalen und einem inhaltlichen. Zunächst zu den formalen: Die religiöse Vorstellung ist nie die Vorstellung eines einzelnen, sondern stets die Vorstellung einer Gemeinschaft – einer Gruppe oder eines Volkes. Allein dies gibt ihr die Objektivität und Festigkeit, die die Vorstellung eines einzelnen nie erlangen könnte. Sodann: Ebenso wie die zweite vorhin besprochene braucht auch die religiöse Vorstellung keinen sinnlich anschaubaren Gegenstand vorauszusetzen; sie ist eine freie, allein aus dem Geist geborene Vorstellung. Man könnte sie deshalb eine ‚reine Vorstellung‘ nennen. Es liegt in der Natur der religiösen Vorstellung als Vorstellung, daß sie sich auf Gegenstände richtet, aber: Sie schafft sich diese Gegenstände, diese Fakten erst selber – es sind, mit Schleiermachers beiläufig ausgesprochener, aber tiefer Einsicht, ‚geglaubte Fakten‘. Zur Genese einer Religion können jedoch auch äußere, geschichtliche Momente anfangs einen Anstoß geben – ein Mensch, eine Begebenheit –, aber im Zuge der Ausbildung zur eigentlichen Religion vollzieht sich eine Transformation etwaiger äußerlicher Anknüpfungspunkte. Sie verwandelt diesen Menschen oder diese Begebenheit in geistige Gestalten und verleiht ihnen eine geistige Objektivität, nicht anders als bei den Gestalten, die sie ohne Zutun der sinnlichen Anschauung rein aus sich geboren hat. Und erst diese Transfiguration erhebt die Vorstellung von der Ebene der profanen Erzählung auf die Ebene des Religiösen. „Erst im Gedanken erhält die Geschichte diese Form, wodurch sie das absolute Interesse für den Geist hat.“6 Diese Transfiguration 6  Hegel,

Vorlesungen (Anm. 5), 161.



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aber ist keine Operation, die erst nachträglich an den religiösen, hier den biblischen Texten vorgenommen werden müßte; sie ist vielmehr mit der Konstituierung der religiösen Quellen immer schon vollzogen. Denn, so Hegel, was der Geist tut, ist keine Historie, und die Erzählungen stammen von jenen, über die der Geist bereits ausgegossen war; sie stehen immer schon als Momente im Zusammenhang der Ausformung des Kerygma. Ferner läßt die religiöse Vorstellung die von ihr geschaffenen Gestalten nicht in ihrer Isoliertheit stehen, sondern sie knüpft ein Netz von Verhältnissen zwischen ihnen, etwa von Bekanntschafts- und Verwandtschaftsverhältnissen, und sie erzählt von Begebenheiten, die zwischen den von ihr entworfenen Personen vorgefallen sind. Den Versuch jedoch, diese vom Geist entworfenen Gestalten und Ereignisse als äußerliche, sinnliche Facta aufzufassen und diesen doch nur geglaubten Facta eine Fundierungsfunktion zuzuschreiben, etwa der Spurensicherung am leeren Grabe, belegt Hegel mit dem harten Wort „Aberglauben“ – weil dieser Versuch ein Mißverständnis des Wesens der Religion verrät, indem er die religiösen Inhalte auf die Ebene äußerlicher Tatsachen herabzieht. Jacobi würde in solchen Fällen des Festhaltens am Sinnlichen von „religiösem Materialismus“ sprechen. Und es ist ein Indiz der Konsequenz in der Ausgestaltung der religiösen Vorstellung, daß es zur Umbildung des Meister-Jünger-Verhältnisses zu einer Religion erst kommt, nachdem Jesus aus der unmittelbaren Gegenwart, aus der sinnlichen Anschauung, entfernt und auf die Ebene der religiösen Vorstellung erhoben wird.7 Und erst so, nach der Negation der äußeren Sinnlichkeit, nach der Erhebung in den Raum der Vorstellung, wird er als göttliches Wesen angeschaut und angebetet. Anders aber – und dies ist das dritte Characteristicum – anders als die vorhin besprochene Vorstellung, der die Faktizität der von ihr produzierten Gegenstände gleichgültig war, insistiert die religiöse Vorstellung auf der äußeren Realität, auf der Faktizität ihrer rein aus dem Geist geborenen oder in Geistiges verwandelten Gegenstände, und sie legitimiert sich unter Bezug auf sie – wie wir dies ja auch bei Schleiermacher gesehen haben; sie fordert die allgemeine Anerkennung diese Gegenstände, fordert Glauben an sie, und sie verhängt gegebenenfalls Sanktionen über diejenigen, die diese Anerkennung verweigern. Das vierte Characteristicum schließlich ist ein inhaltliches, und es ist das entscheidende: Der Inhalt der religiösen Vorstellung – wo auch immer sie auftritt – ist letztlich stets das Verhältnis Gottes und des Menschen – auch wenn es in einzelnen Erzählungen um Gegenstände oder Themen geht, die nur im weiteren Umkreis dieses Verhältnisses zu stehen scheinen. Der erste 7  Ebd.,

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Akt ist die Geburt des Gottesgedankens aus der Vorstellung: Indem der menschliche Geist – und der menschliche Geist ist, wie Hegel mehrfach ausdrücklich betont, kein anderer als der göttliche Geist – indem der menschliche Geist sich zu erkennen sucht, stellt er sich sich selbst gegenüber und bezieht sich in seinem Gegenüber auf sich selbst: im Gottesgedanken. Von diesem Gegenüber empfängt er das Wissen von dem, was er ist, und die diesem göttlichen Wesen gleichsam in den Mund gelegten Offenbarungen sprechen zwar nur das aus, was der menschliche Geist auf den unterschiedlichen Stufen seiner Entwicklung selber für das Wahre hält, aber sie sprechen es mit einer Objektivität und Autorität aus, die der menschliche Geist nicht aus seiner Individualität heraus, sondern nur auf diesem Umweg erreichen kann. Doch das Gegenüber darf kein bloßes, unvermitteltes Gegenüber bleiben; in der religiösen Vorstellung setzt sich der menschliche, personale Geist in ein personales Verhältnis zu seinem Anderen – ins Verhältnis der Niedrigkeit, Sünde und Schuld, aber auch ins Verhältnis der Versöhnung, der Erlösung, und es ist nachzuweisen, daß zumindest partiell das Erlösungsbewußtsein sogar Priorität hat gegenüber dem Schuldbewußtsein. Die Ausbildung der religiösen Vorstellungswelt vollzieht sich natürlich nicht beliebig, sondern sie folgt einer internen Logik, die vom Zweck ihrer immanenten Perfektionierung geleitet ist. Ihren höchsten Vermittlungsausdruck findet die religiöse Vorstellung in dem bildlichen, kindlich-naiven Verhältnis von Vater und Sohn. Doch kann sie sich – eben als Vorstellung – nie zu dem Begriff erheben, der die Reihe der Vermittlungen erst logisch abschließt: zum Begriff der Einheit Gottes und des Menschen. Die Religion ist zwar frei gegenüber der Ebene der äußeren Sinnlichkeit, aber sie bleibt unaufhebbar der Sphäre der aufgehobenen Sinnlichkeit, der Vorstellung verhaftet. Als Religion ist sie eine Gestalt des sich wissenden Geistes – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Versuchte sie sich auf das sinnliche Factum zu stützen, wäre sie noch nicht Religion, sondern Aberglaube; versuchte sie über die Vorstellung hinauszugehen, wäre sie nicht mehr Religion, sondern Philosophie. *** Hegel und Schleiermacher: Die beiden Kollegen sind Exponenten eines bewußtseins- und wissenschaftsgeschichtlichen Prozesses: des Fraglichwerdens der zuvor als selbstverständlich unterstellten historischen Grundlagen der Religion und der Ablösung der Religion von ihnen – also eines Prozesses, der für die Theologie des 19. Jahrhunderts zentrale Bedeutung hat. Der Religionsphilosophie Hegels, des „Vertrauten Lessings“,8 liegt dieser Prozeß 8  Schelling an Hegel, 4. Februar 1795, in: Briefe von und an Hegel, hg. von Johannes Hoffmeister, Bd. 1. Hamburg 31969, 21.



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allerdings bereits im Rücken: Der Inhalt der Religion ist geistig; er ruht nie auf historischer Grundlage, und der Anschein, daß er auf Fakta beruhe, entsteht allein dadurch, daß die religiöse Vorstellung sich mit Notwendigkeit solche Fakta voraussetzt. Schleiermacher hingegen stemmt sich diesem Prozeß mit seinen Vorlesungen entgegen. Ihre Absicht ist es, diesen Prozeß zu dementieren, ihn zum Stillstand zu bringen oder gar umzukehren, und er verfolgt diese Absicht mit einer Emphase und Beredtsamkeit, die über das kontinuierliche Mißlingen seines Versuchs hinweggleitet und hinwegtäuscht und den Prozeß dadurch noch einmal verlangsamt. Daß Schleiermacher in seinen Vorlesungen – trotz seines Aufweises der Widersprüchlichkeit der Quellen – den Anschein einer historischen Begründung verbal aufrechterhält und ihn sogar noch auf die bereits weithin für dubios gehaltenen Wunder fallen läßt, hat ihm in theologischen und besonders in weiteren kirchlichen Kreisen begeisterte Zustimmung eingetragen. Doch auf der anderen Seite hat gerade dieses Vorgehen seine Kritiker, zumal seine von Hegel inspirierten Kritiker, empört und herausgefordert, und sie haben diesen Prozeß der Ablösung vom vermeintlich historischen Fundament beschleunigt und zum Abschluß gebracht. Insofern also klafft zwischen den Positionen Schleiermachers und Hegels ein garstiger breiter Graben. Doch soweit Schleiermacher selber immer wieder eingesteht, daß der Glaube die Zerstörung seiner vermeintlichen faktischen Grundlage unbeschadet übersteht und somit ein anderes Fundament haben muß, auf dem er ruht, so ergeben sich sachliche Übereinstimmungen mit Hegel – insbesondere in den freilich nur wenigen Stellen, an denen Schleiermacher ausdrücklich einräumt, daß der Glaube sich die Fakten, die ihn stützen sollen, selber erst erschafft und voraussetzt. Damit aber ist für Hegel wie für Schleiermacher der Jesus der Geschichte durch den Christus sei es des religiösen Glaubens oder sei es des philosophierenden Geistes ersetzt und die Divergenz beider überwunden.9

9  Zu diesem Gegensatzpaar siehe David Friedrich Strauß, Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte. Eine Kritik des Schleiermacher’schen Leben Jesu, Berlin 1865.

Utopischer Pragmatismus. Schleiermachers Politikverständnis zwischen Enthusiasmus und Enttäuschung Von Andreas Arndt 1. Der Titel meiner Ausführungen1 scheint ein hölzernes Eisen zu bezeichnen. Unter Pragmatismus ist ja eine Auffassung zu verstehen, nach der Theorien im Blick auf mögliche praktische Wirkungen zu beurteilen sind.2 Utopien dagegen sind, im Wortsinne, im Ortlosen angesiedelt und damit im Blick auf die Realität, wie Kant sagen würde, „überschwänglich“. Nun macht aber gerade Kant deutlich, dass die „Überschwänglichkeit“ einer Idee in theoretischer Hinsicht, also ihre fehlende empirische Grundlage, nicht daran hindert, dass sie in praktischer Absicht „dogmatisch und ihrer Realität nach wohl gegründet ist.“3 Kant sagt dies im Blick auf die Annahme einer Naturabsicht, die den Menschen zu Hilfe komme, um sich dem idealen Ziel der Geschichte, einem universalen Rechtszustand, anzunähern. Die moralischen Energien, die aus einer solchen, wenngleich objektiv nicht zu begründenden Annahme fließen, könnten dazu beitragen, die praktischen Anstrengungen zur Erreichung dieses Ziels zu verstärken und ihm damit tatsächlich näher zu kommen. Das theoretisch „Überschwängliche“ befeuert den Pragmatismus. Schleiermacher, der philosophisch entscheidend durch seine Auseinandersetzung mit Kant geprägt ist, trägt in seinen Vorlesungen über die philosophische Ethik seit 1804 eine verwandte Denkfigur in seine Theorie eines umfassenden ethischen Fortschritts ein. Der Fortschritt bezieht sich auf die Einigung von Natur und Vernunft. In Übereinstimmung mit Kant ist das ideale Ziel der Geschichte, nämlich die vollständige Einheit von Natur und Vernunft, nicht bzw. nur näherungsweise erreichbar. Im Unterschied zu Kant 1  Vgl. ausführlicher zu der hier erörterten Problematik Andreas Arndt, Die Reformation der Revolution. Friedrich Schleiermacher in seiner Zeit, Berlin 2019. 2  Vgl. „Pragmatismus, Neopragmatismus“, in: Metzler Lexikon Philosophie, hg. v. Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard, Stuttgart und Weimar 32008, 477 f. 3  Immanuel Kant, „Zum ewigen Frieden“, in: Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 9, Darmstadt 1968, 218 f.

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ist dieses Ziel jedoch nicht nur eine regulative Idee in praktischer Absicht, sondern der Fortschritt als Annäherung an dieses Ziel ist verbürgt. Von dorther entsteht eine Ambiguität, die Schleiermachers Politikverständnis zunehmend prägt. Auf der einen Seite fixiert sein Denken utopische Gehalte, die Ziele des Handelns vorgeben und in deren Licht sich bestehende Verhältnisse als vernunftwidrig bestimmen lassen. Auf der anderen Seite vertraut er dem Gang der Geschichte zumeist darin, dass der für den Fortschritt notwendige Reformprozess ohnehin seinen Gang gehen wird, auch ohne besondere Anstrengungen, das Bestehende zu verändern. Schleiermacher vertraut auf die Kraft der Vernunft, in den Individuen eine ethische Gesinnung auszubilden, welche Voraussetzung dieser Reformprozesse ist. Auch hier wird ein Kantisches Motiv aufgerufen: die Revolution der Denkart, die Ausbildung einer moralischen Gesinnung, welche die Voraussetzung von Reformprozessen ist. Anders wiederum als Kant hält Schleiermacher jedoch dafür, dass eine politisch-gesellschaftliche Revolution nicht unter allen Umständen zu verurteilen ist; lässt es nämlich die „Obrigkeit“, wie Schleiermacher im Blick auf die Herrschenden zu sagen pflegt, an vernünftiger Einsicht fehlen, so ist die Revolution ein notwendiges Korrektiv, ja sogar eine göttliche Nemesis. Die Ambiguität der Schleiermacherschen Position fügt sich in das Wechselspiel zweier Faktoren ein, die nicht nur seine Theorie auszeichnen. Für den frühromantischen Friedrich Schlegel, Schleiermachers Freund und Weggefährten, sind Enthusiasmus und Skepsis bestimmende Faktoren unseres theoretischen und praktischen Weltverhältnisses: Der Enthusiasmus als positiver Faktor richtet sich auf das Unbedingte und trägt auch die Utopie einer nichtentfremdeten Welt; realitätstauglich wird er aber erst durch den negativen Faktor der Skepsis, zu welcher der Enthusiasmus aber auch das Gegengewicht bildet, um zu verhindern, dass wir in einen bodenlosen Skeptizismus abgleiten.4 Schleiermacher ist ebenso durch dieses Wechselverhältnis geprägt; biographisch bilden (religiöse) Schwärmerei und Skepsis von früh an Pole seiner Erfahrung, und diese Erfahrung geht auch in seine Theorie ein. In dem bekannten Brief von 1802, indem er sich als Herrnhuter höherer Ordnung bekennt, erscheint der Mystizismus – der mit der Schwärmerei und dem Enthusiasmus konnotiert ist – geradezu als Rettung vor der Skepsis: „Hier“, in Herrnhut, „ging mir zuerst das Bewußtsein auf von dem Verhältniß des Menschen zu einer höheren Welt […]. Hier entwickelte sich zuerst die mystische Anlage die mir so wesentlich ist, und mich unter allen Stürmen des Skepticismus erhalten und gerettet hat.“5 Im Sprachgebrauch Schlegels, dem Schleiermacher sich hier offenkundig anschließt, ist Mystizismus Enthusias4  Vgl. Birgit Rehme-Iffert, Skepsis und Enthusiasmus. Friedrich Schlegels philosophischer Grundgedanke zwischen 1796 und 1805, Würzburg 2001. 5  KGA V/1, 392 f.



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mus für das Unbedingte oder Absolute; in diesem Sinne hatte Schleiermacher schon 1797/98 notiert: „Ohne Mysticismus ist es nicht möglich consequent zu seyn, weil man seine Gedanken nicht bis zum Unbedingten verfolgt und also die Inconsequenzen nicht sehen kann.“6 Der Höhenflug zum Unbedingten wird aber immer wieder ernüchtert durch eine Vernunft, welche die Enttäuschung reflektiert und verarbeitet, die darin liegt, dass das Unbedingte sowohl theoretisch als auch praktisch unerreichbar bleibt. Die Enttäuschung ist, auch in politisch-gesellschaftlicher Hinsicht, Aufdecken einer Täuschung durch den Enthusiasmus, ohne das Ideal zur bloßen Illusion zu verflüchtigen.7 Auf dieser prekären Grenze bewegt sich Schleiermachers Pragmatismus. Einen solchen Status des Enthusiasmus hat, wiederum, Kant als erster bestimmt, wenn er in Bezug auf die die „Denkungsart“ der unbeteiligten und daher interesselosen Zuschauer der Französischen Revolution von einer „Theilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt“ sprach,8 wobei der Enthusiasmus dann prekär wird, wenn er sich nicht auf ein rein ethisches Gemeinwesen richtet, eine „allgemeine[] Republik nach Tugendgesetzen“ oder ein „Volk Gottes“, wie es in Kants Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) heißt.9 Die Aussicht auf das Reich Gottes, die religiöse Vergesellschaftung der Menschheit, durchzieht auch (und nicht nur) die frühromantischen Texte Schleiermachers und bestimmt deren utopische Gehalte.10 Im Folgenden soll das Wechselspiel von Utopie und Pragmatismus, Enthusiasmus und Enttäuschung bei Schleiermacher näher beleuchtet werden. Ich werde zunächst auf Schleiermachers Frühschriften und darin besonders auf seine Stellung zur Französischen Revolution eingehen und zu zeigen versuchen, wie die damit verbundenen utopischen Gehalte in seine philosophische Ethik eingehen und transformiert werden. In einem zweiten Schritt wende 6  KGA I/2, 83 („Leibniz I“, 1797/98); vgl. Andreas Arndt, „Mystizismus, Spinozismus und Grenzen der Philosophie. Jacobi im Spannungsfeld von F. Schlegel und Schleiermacher“, in: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, hg. v. Birgit Sandkaulen und Walter Jaeschke. Hamburg 2004, 126– 141. 7  Vgl. dazu Peter Furth, Phänomenologie der Enttäuschungen. Ideologiekritik nachtotalitär, Frankfurt/M 1991. 8  Immanuel Kant, Werke. Akademie-Textausgabe, Berlin 1968, Bd. 7, 85. 9  Kant, Werke, (Anm. 8), Bd. 6, 98 f. – Vgl. Kants „Ethisches Gemeinwesen“, hg. v. Michael Städtler, Berlin 2005. 10  Diese hat zuerst in umfassender Weise Kurt Nowak herausgearbeitet; vgl. Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, Weimar 1986, 207–295.

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ich mich dann Schleiermachers Stellung im Preußen der Reform und der Reaktion zu, um schließlich kurz die Berührungs- und Abstoßungspunkte zu Hegel zu benennen. 2. Der junge Schleiermacher war gewiss kein homo politicus; die Ereignisse in Frankreich kommentiert er erst spät. Im August 1791 nimmt er Stellung gegen die „despotischen Absichten“ der Reaktion, die Gott verdammen möge.11 Dass Schleiermacher der Französischen Revolution insgesamt positiv gegenüberstand, hat erst die neuere Forschung überhaupt zur Kenntnis genommen – gegen die Vereinnahmung seiner Person und seines Denkens für deutschnationale Zwecke, die ihn nur als Gegner Napoleons wahrnahm.12 Schleiermacher war kein Jakobiner, aber er ließ sich auch durch die Radikalisierung in deren Verlauf nicht von der Überzeugung abbringen, dass die Revolution selbst gerechtfertigt war. Im Februar 1793, kurz nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. am 21. Januar, schreibt Schleiermacher seinem Vater, er müsse „gestehen, daß ich die französische Revolution im Ganzen genommen sehr liebe, freilich ohne Alles, was menschliche Leidenschaften und überspannte Begriffe dabei gethan haben, und was, wenn es sich auch in der Reihe der Dinge als unvermeidlich darstellen läßt, doch nicht als gut gebilligt werden kann – mit zu loben […] – ich habe sie eben ehrlich und unpartheiisch geliebt“.13 Für die Hinrichtung des ehemaligen Königs fehlt ihm zwar ein Schuldbeweis; die Todesstrafe könne aber nicht allein deshalb verwerflich sein, weil sie ein gekröntes Haupt treffe. Auch später hat Schleiermachers Haltung sich nicht grundlegend geändert. Noch in einer Nachschrift zur Ethik-Vorlesung von 1832 können wir lesen: „Das ganze Staatsleben ist […] in bestimmter Bewegung begriffen […]. Wir sprechen hier nur die Duplicität aus, unter der solche Veränderungen entstehen können, entweder als Reformen oder Revolutionen.“14 Die Revolution ist aus dieser Sicht die Folge verhinderter Reformen. 11  An

Heinrich Catel, 29.8.1791, KGA V/1, 229. Kurt Nowak, „Die Französische Revolution in Leben und Werk des jungen Schleiermacher. Forschungsgeschichtliche Probleme und Perspektiven“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg. v. Kurt-Victor Selge, Bd. 1, Berlin und New York 1985, 103–125; vgl. auch den Überblick zum Thema „Schleiermacher und die Französische Revolution“ bei Matthias Wolfes, Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, Teil 1, Berlin und New York 2004, 114–131. 13  An J. G. A. Schleyermacher, unter dem 13.2.1793, KGA V/1, 280. 14  „Ethik von Schleiermacher Sommersemester 1832“, Zentralbibliothek Zürich, Nachlass Alexander Schweizer VIII 28, S. 120. 12  Vgl.



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Der junge Schleiermacher versteht die Französische Revolution als ein welthistorisches Ereignis nicht nur von politischer, sondern auch von religiöser Bedeutung. Das mag heute befremden, steht aber im Einklang mit der Selbstdeutung der Revolution – man denke nur an die Revolutionsfeste und den Kult des höchsten Wesens – und auch mit der Deutung vieler zeitgenössischer Beobachter, zumal in Deutschland.15 Die kultischen Selbstinszenierungen der Revolution konvergieren insbesondre mit den kunstreligiösen Auffassungen der Frühromantik. Friedrich Schlegel deutet sein Projekt, eine neue Religion zu stiften und eine neue Bibel zu schreiben im Horizont der Revolution: „Die neue Bibel müßte für die Deutschen werden, was die Revoluzion für die Franzosen.“16 Und auch Novalis sieht die Französische Revolution als Ausgangspunkt für „eine zweite Reformation“:17 „Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion. Aus der Vernichtung alles positiven hebt sie ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor. Wie von selbst steigt der Mensch gen Himmel auf, wenn ihn nichts mehr bindet“.18 Für Schleiermacher schließlich ist die Französische Revolution, so heißt es in den 1799 anonym publizierten Reden über die Religion die „erhabenste[] That des Universums“,19 die er ihrem Wesen nach als ‚heilige’, göttliche Nemesis rechtfertigt, indem sie gegenüber dem alten Regime ausgleichende Gerechtigkeit übt. Ihr Fehler, so legt Schleiermacher nahe, besteht nur darin, dass dabei das Maß der Vergeltung nicht beachtet wurde.20 Schleiermachers Charakteristik der Revolution als „erhabenste Tat des Universums“ verweist auf Kant, für den das Erhabene das „Gefühl eines übersinnlichen Vermögens in uns“ weckt, da es „jeden Maßstab der Sinne übertrifft“.21 Dieses Gefühl ist, weil es auf das Übersinnliche und damit rein Intelligible gerichtet ist, der moralischen Gemütsstimmung verwandt,22 aber 15  Vgl. dazu ausführlich Andreas Arndt, Die Reformation der Revolution. Friedrich Schleiermacher in seiner Zeit, Berlin 2019, 108 ff. 16  Friedrich Schlegel, Werke. Kritische Ausgabe, hg. v. Ernst Behler u. a., Paderborn, München und Wien 1958 ff., Bd. 18, 227. 17  Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Richard Samuel u. a., Stuttgart 1977 ff., Bd. 3, 517. 18  Ebd. 19  KGA I/2, 196. 20  Vgl. im Einzelnen Andreas Arndt, „Die Reformation der Revolution. Schleiermachers Umdeutung der Französischen Revolution“, in: Reformation und Moderne. Pluralität – Subjektivität – Kritik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle (Saale), März 2017, hg. v. Jörg Dierken, Arnulf von Scheliha und Sarah Schmidt, Berlin und Boston 2018, 183–193. 21  Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 25. 22  Ebd., § 29: „Darum aber, weil das Urteil über das Erhabene der Natur Kultur bedarf (mehr als das über das Schöne), ist es doch dadurch nicht eben von der Kultur zuerst erzeugt, und etwa bloß konventionsmäßig in der Gesellschaft eingeführt; son-

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auch dem Enthusiasmus,23 den er den interesselosen Beobachtern der Französischen Revolution zuschreibt. Wie erinnert, verbindet sich damit die Aussicht auf ein ethisches Gemeinwesen oder „Volk Gottes“. Bei Schleiermacher steht an dieser Stelle in den Reden die religiöse Vergesellschaftung, welche die politische Vergesellschaftung übersteigt. Weil die religiöse Mitteilung, welche Gemeinschaft stiftet, von äußeren Zwecken frei ist, stehe sie höher als das „irdische[] politische[] Band, welches doch nur ein erzwungenes, vergängliches, interimistisches Werk ist“; in der religiösen Gemeinschaft herrscht Gleichheit, jerder ist Priester und Laie zugleich: „Es giebt nicht jene tyrannische Aristokratie […]: ein priesterliches Volk ist diese Gesellschaft, eine vollkommne Republik, wo Jeder abwechselnd Führer und Volk ist, jeder derselben Kraft im Andern folgt, die er auch in sich fühlt, und womit auch Er die andern regiert.“24 Die religiöse Gemeinschaft ist dabei nicht mit den Amtskirchen identisch, sondern wurzelt in der „frommen Häuslichkeit“25 Die „wahre Kirche“,26 wie Schleiermacher sie nennt, gründet in freien Versammlungen, in Konventikeln, wo, dem Wort Jesu gemäß, „wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen“,27 aber sie bleibt nicht auf das Haus (oikos) beschränkt, sondern erweitert sich zur oikumene: „Je mehr sich Jeder dem Universum nähert, je mehr sich Jeder dem Andern mittheilt, desto vollkommner werden sie Eins, keiner hat ein Bewußtsein für sich, jeder hat zugleich das des Andern, sie sind nicht mehr nur Menschen, sondern auch Menschheit“.28 Diese religiöse Perspektive der Universalisierung von Humanität konvergiert mit der ethischen Perspektive. Dies wird zuerst in Schleiermachers Anfang 1800 anonym erschienenen Schrift Monologen. Eine Neujahrsgabe sichtbar. Anders als in den Reden geht Schleiermacher hier nicht von einem Unendlichen, der Anschauung des Universums, aus, sondern von der Selbstanschauung des Individuums, die sich im Handeln schließlich zur Anschauung der Menschheit und der menschlichen Welt erweitert: „Ein wahrhaft menschlich Handeln erzeugt das klare Bewußtsein der Menschheit in mir, und dies Bewußtsein läßt kein anderes als der Menschheit würdiges Handeln dern es hat seine Grundlage in der menschlichen Natur, und zwar demjenigen, was man mit dem gesunden Verstande zugleich jedermann ansinnen und von ihm fordern kann, nämlich in der Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d. i. zu dem moralischen.“ 23  Christine Pries, Übergänge ohne Brücken. Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik, Berlin 1996, 71 f., betont diesen Zusammenhang des Erhabenen mit dem Enthusiasmus bei Kant. 24  KGA I/2, 270. 25  Ebd., 290; das Folgende 289. 26  Ebd., 287, auch das Folgende. 27  Matthäus 18, 20. 28  KGA I/2, 291.



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zu.“29 Die Wendung nach Innen ist zugleich Zuwendung zur Welt und zum Leben: „So ist mir aufgegangen, was jetzt meine höchste Anschauung ist, es ist mir klar geworden, daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit Alles was aus ihrem Schooße hervorgehen kann.“ Dieser Zustand beschreibt ein utopisches Ideal, denn in der Gegenwart seien die Menschen in Familie, Erziehung und Staat der Sklaverei eines entfremdeten Lebens unterworfen; so sieht sich Schleiermacher durch seine Selbstbetrachtung „der Denkart und dem Leben des jezigen Geschlechts“ als „ein Fremdling, ein prophetischer Bürger einer spätern Welt, zu ihr durch lebendige Fantasie und starken Glauben hingezogen, ihr angehörig jede That und jeglicher Gedanke.“30 Er sei „eine Erscheinung aus der beßern Zukunft hieher verirrt“.31 Die Selbst- und Weltbetrachtung der Monologen führt auf eine Revolution der Denkart, die dann durch Bildung und die „Götterkraft der Fantasie“32 versucht, in der Selbstbildung, in der freien Geselligkeit, in der Kunst und in der Religion die Grundlagen für eine moralische Vergesellschaftung zu legen. Das Reich der Freiheit verwirklicht sich erst durch eine umfassende Bildung zur Humanität, welche die zweckrationale Bildung der Natur durch die Vernunft ergänzt und überbietet und damit deren „Beseelung“ in einer unendlichen Bewegung des Fortschritts vervollkommnet. Dies wird in der philosophischen Ethik entfaltet. 3. Schleiermachers philosophische Ethik bildet im weitesten Sinne die theoretische Grundlage seiner politischen Auffassungen und Interventionen. Im Mittelpunkt steht die Lehre vom höchsten Gut, das, kurz gesagt, als Einheit von Natur und Vernunft – als „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“33 – bestimmt wird. Die fortschreitende Einigung von Natur und Vernunft ist der Inhalt der Geschichte, und insofern versteht Schleiermacher seine Ethik auch als Theorie der Geschichte. Die Lehre vom höchsten Gut umfasst damit den ganzen Prozess der Kulturbildung einschließlich der gesellschaftlichen Handlungssphären und Institutionen. Die Tugendlehre betrachtet dann „die Vernunft in dem einzelnen Menschen“ als individualisierte Vernunft und die Pflichtenlehre schließlich das wirkliche Handeln der Indivi29  KGA

I/3, 16, auch das Folgende. 35. 31  Ebd., 47. 32  Ebd., 48. 33  Schleiermacher, Werke, Bd. 2, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, hg. v. Otto Braun, Leipzig 21927, 87. 30  Ebd.,

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duen. Das höchsten Gut als solches, die vollständige Einigung von Natur und Vernunft, ist dabei ein nur näherungsweise zu erreichendes Ideal, denn es wäre das, was Schleiermacher in seiner Dialektik als „Idee der Welt“ vorstellt, die transzendent sei: eine Einheit unter Einschluss aller Gegensätze. Das Ideal des höchsten Gutes und damit die Idee des kulturellen Fortschritts in der Geschichte ist daher letztlich aus den Voraussetzungen der Spekulation abgeleitet. Seit 1812/13 hat Schleiermacher daher auch eine „Deduction der Ethik aus der Dialektik“ vorgenommen, in der alles Wissen auf ein absolutes Wissen als „Ausdruck gar keines Gegensazes, sondern des mit ihm selbst identischen absoluten Seins“ bezogen wird.34 Es ist diejenige Voraussetzung einer absoluten Einheit, die bereits in den Reden über die Religion das Ideal einer zukünftigen Welt getragen hatte. Da sie nicht gewusst, sondern nur analogisch (im Gefühl) repräsentiert werden kann, ist der Grund des Fortschritts und damit auch die Annahme eines kontinuierlichen kulturellen Fortschritts schon immer verbürgt. Politisch-gesellschaftliches Handeln ist daher in erster Linie am Selbstlauf der Dinge und nicht auf deren aktive Umgestaltung orientiert; das Schlagwort vom „revolutionären Attentismus“35 passt auch recht gut auf Schleiermacher, denn: „Den Weltgeist zu lieben und freudig seinem Wirken zuzuschauen, das ist das Ziel unserer Religion“.36 Bereits in den Reden über die Religion wird dies im Blick auf den Mythos des Titanen Prometheus deutlich gemacht, der hier die revolutionäre Gesinnung steht: „Spekulazion und Praxis haben zu wollen ohne Religion, ist verwegener Übermuth, es ist freche Feindschaft gegen die Götter, es ist der unheilige Sinn des Prometheus, der feigherzig stahl, was er in ruhiger Sicherheit hätte fordern und erwarten können.“37 Praktisch gestützt und gesichert wird der Fortschritt nicht durch geschichtliche Aktionen, die in den Gang der Dinge eingreifen, sondern durch eine umfassende Ausbildung der sittlichen Gesinnung, welche eine Revolution der Denkart im Sinne Kants bewirken soll. Hieran bemisst sich auch Schleiermachers Stellung im preußischen Reformprozess. Hardenbergs Rigaer Denkschrift von 1807 jedenfalls kommt mit Schleiermachers Vorstellungen überein, wenn „eine Revolution im guten Sinn“ gefordert wird, welche „alles Gute, Schöne, Moralische“ zu verfolgen habe,38 also all das, was als 34  Ebd.,

247. Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des ersten Weltkrieges, Frankfurt/M und Berlin 1973. 36  KGA I/2, 224. 37  Ebd., 212. 38  Karl August von Hardenberg, Über die Reorganisation des Preußischen Staats, verfaßt auf höchsten Befehl Sr. Majestät des Königs. Riga, 12. September 1807, http:// www.staatskanzler-hardenberg.de/quellentexte_riga.html#11 (Zugriff 2.5.2018). 35  Dieter



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Selbstzweck anzusehen ist und nicht äußere Zwecke verfolgt. Damit sind Ziele eines Bildungsprozesses bezeichnet, der nicht auf die Ausbildung bestimmter Kenntnisse und Fertigkeiten zielt, sondern auf die umfassende Ausbildung der Persönlichkeit selbst. Die Bildungsreform stellte daher auch das Gravitationszentrum aller Reformbestrebungen dar. „Das ganze Reformprogramm“, so Wolfgang Neugebauer, „war im weitesten Sinne politische Pädagogik“.39 Universitätsreform und Reform des Bildungswesens waren Bestandteil eines umfassenderen Bildungsprozesses, der jedoch im „neue[n] Lebensideal“ (Thomas Nipperdey) der Bildung durch Wissenschaft gipfelte: „diese Bildung hatte durchaus kontemplative, ästhetische und betont individualistische Züge; die Freiheit, die sie vermittelte, war eine geistige, innere Freiheit – gleichsam jenseits der politisch-sozialen Umstände.“40 Es ist leicht zu erkennen, dass alle utopischen Energien der von Schleiermacher im Gefolge der Französischen Revolution entwickelten Sicht auf den Menschen und die Welt sich ohne wesentliche Abstriche an den Idealen der preußischen Reformer festmachen ließen: eine Revolution der Denkart bzw. der Wissenschaften und Künste, befördert durch zweckfreie Gemeinschaftssphären der Ausbildung der Individualität; Universalisierung von Humanität und Gewinn von Freiheit im tätigen, gemeinschaftlichen Verhältnis zur „Welt“; Stiftung eines gemeinschaftlichen Bandes zwischen „Obrigkeit“ und „Untertanen“, befördert durch ein Bildungsideal. Entsprechend engagierte sich Schleiermacher vor allem in der Universitäts- und Schulreform; hier wie in der Kirchenreform, die ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Ausbildung einer staatsbürgerlichen Gesinnung zu sehen ist,41 war er einer der führenden Vertreter der Reformpartei. Die Bildung zur Sittlichkeit hat für Schleiermacher auch Vorrang vor der im preußischen Reformprozess diskutierten Verfassungsfrage. Die Verfassung ist für Schleiermacher, wie das Recht überhaupt, bewusste Fixierung bereits vorhandener, größtenteils unbewusst vollzogener Routinen („Sitten“). Daher kommt es weniger auf den rechtssetzenden Akt der Verfassungsgebung als solchen an, sondern auf den Zustand, der dieser Fixierung zugrunde liegt; darüber hinaus wird die Möglichkeit einer Veränderung der politischgesellschaftlichen Verhältnisse durch die Etablierung einer neuen Verfassung als Mittel ihrer aktiven Umgestaltung weitgehend ausgeblendet. In seiner Politik-Vorlesung von 1833 sagt er deutlich: „Die Entwicklung des Staats ist sein Zustand; und dieser ist eigentlich die Constitution; gewöhnlich aber Neugebauer, Geschichte Preußens, Hildesheim u. a. 2004, 93. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 2012, 59 (Die preußischen Reformen 33–68). 41  Vgl. Christiane Ehrhardt, Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher, Göttingen 2005. 39  Wolfgang 40  Thomas

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versteht man darunter ein Papier, (worauf ich gar wenig Werth lege).“42 Verfassung meint die innere Einrichtung des staatlichen Organismus im Verhältnis der Teile zu dem Ganzen, also das bestimmte Verhältnis zwischen „Obrigkeit“ und „Untertanen. Dieser Überzeugung war Schleiermacher schon in seiner Ethik-Vorlesung 1805/06, wo es heißt: „Die Constitution macht nicht den Staat“.43 Ebenso heißt es 1812/13: „Die Art und Weise des Gegensazes zwischen Obrigkeit und Unterthan ist die Verfassung des Staates.“44 Dieser Gegensatz sei zwar nur relativ und insofern gebe es eine Tendenz zur Verringerung der Ungleichheit, was Anpassungen der Verfassung erfordere; diese müssten aber immer „ein gemeinschaftlicher Act der Obrigkeit und der Unterthanen sein.“45 Diesen Prozess stellt Schleiermacher, wie aus einer studentischen Nachschrift zur Vorlesung 1812/13 hervorgeht, unter das Stichwort der Erziehung. Erziehung und Bildung müssen eine wachsende Gleichheit erst schaffen, bevor die Gleichheit in einer entsprechenden Verfassung zur Geltung kommen kann.46 Schleiermacher schreibt damit die im Reformprozess sich durchsetzende Politik des Aufschubs der Konstitution theoretisch fest, die von dem Erfolg der staatsbürgerlichen Bildung abhängig gemacht wird. Auf der anderen Seite hält Schleiermacher eine Verfassung nicht einfach für obsolet, da die Rechtsförmigkeit des Verhältnisses von „Obrigkeit“ und „Untertanen“ für ihn funktionale Vorteile bietet, auch wenn sie für ihn keine konstitutive Bedeutung für dieses Verhältnis selbst hat. Diese Ambivalenz lässt ihn in der preußischen Verfassungsdiskussion mitunter als Befürworter einer Konstitution erscheinen, die er jedoch in keinem Fall als Mittel der Veränderung der politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse versteht. Das Mittel der Veränderung ist vielmehr die Revolution der (staatsbürgerlichen) Denkart durch Bildung; in diesem Sinne vertritt Schleiermacher das, was der Hegelianer Eduard Gans 1832 im 42  Schleiermacher: Vorlesungen über die Lehre vom Staat, KGA II/8, 855 (Kolleg 1833. Nachschrift Waitz); vgl. das dazu gehörige Manuskript Schleiermachers ebd., 191. 43  Schleiermacher, Sittenlehre (Anm.  33), 144 f. 44  Ebd., 341, auch das Folgende. 45  Ebd., 342. 46  „Alle schnelle Entwicklung geht von dem democratischen alles beharrliche geht vom aristocratischen Familiencharacter aus. Die Verfassung muß machen daß zwischen den verschiedenen Polen der Zusammenhang erhalten wird. Wie diese Gegensätze in dem Volke ausgebildet sind gehört zu seinem Eigenthümlichen. Damit zusammen: das Bewußtsein ist das Erziehende des Bewußtlosen. – In diesem Sinne war: die Obrigkeiten – Väter des Volkes. Aber wie in der Erziehung das Bestreben ist das Verhältnis zu modificiren und aufzuheben. Je mehr das Bewußtsein in die Masse gedrungen desto weniger soll es bewußtlos behandelt werden“. (Ethik (vorgetragen von F. Schleiermacher, D. und Professor im Sommerhalbjahr 1816.) [tatsächlich 1812/13], Fröbel-Archiv Rudolstadt-Keilhau, Bl. 193v).



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Blick auf die preußische Realität einen „vormundschaftlichen Staat[]“ genannt hatte.47 Für Schleiermacher ist die „Obrigkeit“ der bewusste Träger allgemeiner Interessen; sie hat daher auf die „öffentliche Meinung“ zu hören, um „eine innige Übereinstimmung des Volks und des Regenten“ zu gewährleisten. Dem noch der Bildung bedürftigen Volk ist dabei wenig zuzutrauen, denn es habe eine „Receptivität des Bewußtseyns, das in ihm als ein Minimum, in der grösseren Zusammensetzung gar als ein Minus erscheint“; deshalb sei auch die „irrige Idee der Souverainität des Volks“ abzulehnen.48 Repräsentativorgane oder „Mittelglieder“ durch welche die öffentliche Meinung das Ohr der Obrigkeit erreichen könne, müssten letztlich von der Regierung bestimmt werden, wenn auch nach Gesetzen.49 Hierauf bezieht sich nach Schleiermacher eine anzustrebende Verfassung. Individuelle und kollektive Freiräume entstehen für ihn dagegen nicht in erster Linie durch die Rechtsordnung des Staates, sondern dadurch, dass die Sphäre des Staates innerhalb des ethischen Prozesses begrenzt ist. Der Staat ist nicht Alles, sondern eine der Gemeinschaftssphären neben freier Geselligkeit, Akademie und Kirche, die Schleiermacher als gleichberechtigt ansieht. Hieraus resultiert, dass der Staat diese Sphären in ihrer Unabhängigkeit auch zu respektieren hat, wenngleich von ihm auch die Förderung der Wissenschaften und der Kirchen erwartet wird. Dass diese Selbständigkeit dann doch im Rahmen des Staates rechtlich geregelt sein muss – wenigstens durch „Erlaubnisgesetze“, wie im Falle des kirchlichen Ritus –, führt Schleiermacher nicht darauf, dass auch solche Freiräume nur durch eine übergreifende Rechtsordnung garantiert werden können. In den bewegten Zeiten nach dem preußischen Zusammenbruch war Schleiermacher auf vielen Gebieten politisch aktiv, jedoch stimmte seine grundsätzliche Haltung auch hier mit seiner Theorie überein. Er war z. B. in konspirative Unternehmungen involviert, die eine Erhebung gegen Frankreich vorbereiten sollen und übernahm 1813 die Chefredaktion einer politischen Zeitung, des Preußischen Correspondenten. Kirchenpolitisch hatte er nicht nur Anteil an der Herstellung der Union zwischen Lutheranern und Reformierten, die ihm bereits in seiner Zeit als Charité-Prediger ein Anliegen war, sondern versuchte auch – letztlich vergeblich – eine demokratische Synodalverfassung durchzusetzen. In dem Agendenstreit 1827 bestand er auf der Unabhängigkeit der Kirche gegenüber dem Staat, als er dem König das 47  Eduard Gans, „Über die Untersuchungsmaxime des Preußischen Civilprocesses (Eine Recension)“, in: Beiträge zur Revision der Preußischen Gesetzgebung, hg. v. Eduard Gans, Berlin 1830–1832, 450–479, hier 471. 48  KGA II/8, 297. 49  Ebd., 295.

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Recht absprach, eine Liturgie zu verordnen. Dies liegt ebenso auf der Linie seiner ethischen Beschränkung des Staates wie die Tatsache, dass er immer wieder auf der Unabhängigkeit der Universität und Wissenschaft bestand. Hier scheute Schleiermacher keine Konflikte und das brachte ihn in den Verdacht demagogischer Umtriebe. Briefe, Vorlesungen und Predigten wurden überwacht, Verhöre bei der Polizei folgten und Schleiermacher drohten Amtsenthebung und Strafversetzung. Die Verfolgungen wurden erst eingestellt, als Schleiermacher sich persönlich an den König wandte.50 Das mag ihn darin bestärkt haben, dass letztlich, trotz aller Widrigkeiten, auf das einigende Band zwischen „Obrigkeit“ und „Untertanen“ Verlass sei. Noch 1831 ließ er eine Erklärung drucken, in der er sich gegen die Charakteristik, er sei ein „Linker“ und hege revolutionäre Gesinnungen, verwahrte: „Wir haben seit dem Tilsiter Frieden reißende Fortschritte gemacht, und das ohne Revolution, ohne Kammern, ja selbst ohne Preßfreiheit; aber immer das Volk mit dem König, und der König mit dem Volk. […] Darum bin ich auch meines Theils sehr sicher, immer auf der Seite des Königs zu sein, wenn ich auf der Seite der einsichtsvollen Männer des Volkes bin.“51 Gleichwohl: Sollte es der Obrigkeit an Einsicht in die Notwendigkeit weiterer Fortschritte fehlen, dann hielt Schleiermacher noch immer eine Revolution für theoretisch gerechtfertigt. Und auch den Horizont einer Angleichung von Obrigkeit und Untertanen hat er damit nicht aufgegeben, er ist vielmehr integraler Bestandteil seines Fortschrittsdenkens. 4. Schleiermachers Haltung zur Französischen Revolution ebenso wie die Anerkennung einer grundsätzlichen Berechtigung von Revolutionen in bestimmten historischen Situationen verbinden ihn mit Hegel, mit dem er auch die geschichtliche Freiheitsperspektive teilt: im Ausgang von der Naturabhängigkeit einen vernunftbestimmten Zustand des gesellschaftlichen und politischen Lebens zu etablieren. Es gibt jedoch auch entscheidende Unter50  Vgl. Doris Fouquet-Plümacher, Jede neue Idee kann einen Weltbrand anzünden. Georg Andreas Reimer und die preußische Zensur während der Restauration, Archiv für die Geschichte des Buchwesens 29 (1987); diese Abhandlung ist grundlegend auch für Schleiermacher, da dessen Briefwechsel mit seinem Verleger Reimer einen wesentlichen Anlass für die Verfolgungen bot. Vgl. ferner Wolfes, Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 2, 135 ff. („Schleiermacher und die Demagogenverfolgung“); Dankfried Reetz, Schleiermacher im Horizont preußischer Politik. Studien und Dokumente zu Schleiermachers Berufung nach Halle, zu seiner Vorlesung über Politik 1817 und zu den Hintergründen der Demagogenverfolgung, Waltrop 2003, 223 ff. 51  KGA I/14, 357.



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schiede im Fortschrittsdenken beider. Zunächst: Hegels geschichtlicher Fortschrittsbegriff bezieht sich allein auf das Bewusstsein der Freiheit (nicht auf ihre Realisierung, auch wenn die von Hegel erstrebt ist), während Schleiermacher einen umfassenden kulturellen Fortschritt im Auge hat, der sein Fortschrittsdenken theoretisch angreifbarer macht. Zweitens ist für Schleiermacher die rechtliche Institutionalisierung von Freiheit – bis hin zur Verfassung – im Unterschied zu Hegel nur von nachrangiger Bedeutung. Während für Hegel Recht das Dasein der Freiheit ist, setzt Schleiermacher auf die schrittweise Ausbildung von so etwas wie einem ethischen Gemeinwesen im Sinne Kants. Das hat zur Folge, dass weniger das Recht als vielmehr die ethische Gesinnung, die Ziel aller Bildungsanstrengungen ist, im Mittelpunkt steht. Für Hegel gilt dagegen, wie er im Blick auf Jakob Friedrich Fries betont, das „Gesetz […] das Schiboleth, an dem die falschen Brüder und Freunde des sogenannten Volkes sich abscheiden.“52 Fries, wie Schleiermacher ein ehemaliger Herrnhuter, setzte ebenfalls auf Gesinnung und Gewissen, wobei er die Gesinnung zunehmend völkisch und antisemitisch grundierte. In dieser Hinsicht steht Schleiermacher, obwohl er von Zeitgenossen bisweilen mit Fries in einen Topf geworfen wurde,53 näher bei Hegel als bei Fries. Der kulturelle Fortschritt bedeutet auch, dass Herkunft, Sprache, Volk und Nation keine feststehenden, natürlichen Größen sind, sondern zunehmend ineinanderfließen. Das höchste Gut, so Schleiermacher, könne nicht in der Abgeschlossenheit beschränkter völkisch-nationaler Identitäten erreicht werden, sondern bedürfe des Verkehrs mit andern Völkern, worin bisherige Identitäten sich auflösen und neue entstehen. Die Richtung gehe hier, so heißt es in einer Vorlesung zur Ethik 1833, „auf gegenseitigen Schutz & Anerkennung & auf gegenseitige Offenbarung der eigenthümlichen Bestimmtheit der Existenz.“54 Schleiermachers Denken bleibt einem Vernunftbegriff von Rationalität verpflichtet und widersteht allen Versuchen, es antiaufklärerisch zu vereinnahmen.

52  GW 14,

1, 11. Gerald Hubmann, Ethische Überzeugung und politisches Handeln. Jakob Friedrich Fries und die deutsche Tradition der Gesinnungsethik, Heidelberg 1997. 54  „Ethik von Schleiermacher Sommersemester 1832“, Zentralbibliothek Zürich, Nachlass Alexander Schweizer VIII 28, 81 f. 53  Vgl.

Das Politische und Politik in Hegels Wirken zu seiner Zeit Von Hans-Peter Krüger 1. Fragestellung nach und These zu Hegels Philosophie des Politischen Als Hegel 1818 im Alter von 48 Jahren nach Berlin kam, lagen bereits seine philosophischen Hauptwerke der Phänomenologie des Geistes (1807), der Wissenschaft der Logik (1812/13, 1816) und der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817) vor. Er ordnete sein Vorlesungskompendium Grundlinien der Philosophie des Rechts. Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1821) in den systematischen Kontext seiner längst entwickelten spekulativen Geistesphilosophie ein. Aber wie kann man diese Philosophie des Politischen, die in einer Zeit der Restauration erschien, in dem systematischen Kontext seiner Geistesphilosophie verstehen, deren Herausbildung auf eine viel früher entwickelte reformerische Antwort auf die Französische Revolution zurückging? Gab es in den Fragen der Philosophie des Politischen eine derart übergreifende Kontinuität in Hegels Entwicklung, die von der Herausbildung seines systematischen Philosophieverständnisses in der Jenaer Zeit (1800–1806) bis in seine Berliner Wirkungsperiode (1818–1831) hineinreicht und sie umschließt? Oder inszenierte hier Hegel, insbesondere in der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie, nur ein Maskenspiel für die preußische Zensur, die seine wahren revolutionären Absichten verbarg, bis man sie in besseren Zeiten öffentlich vertreten könne, wie es der noch persönliche Hegel-Schüler Heinrich Heine in seinem Buch Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834/35), aufgewühlt von der französischen Juli-Revolution 1830, vermutete?1 1  Heine verstand die philosophische Entwicklung von Kant über Fichte und den pantheistisch gedeuteten Zwischenschritt in Schellings Naturphilosophie bis zu Hegel als eine philosophische Revolution, die aus dem Geiste des Protestantismus auf die Französische Revolution antwortete und so eine praktische Revolution in Deutschland vorbereitete. Darin bestand eine paradigmatische Vorlage für die junghegelianische Radikalisierung der Religions- und Philosophie-Kritik im Vormärz, die Heine aber in der Vorrede zur 2. Auflage seines Buchs 1852 als die Radikale „gottloser Selbstgötter“ ablehnte. Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie

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Dieses Thema wirft die Frage nach den Kriterien für revolutionäres, reformerisches oder reaktionäres Wirken zwischen 1800 und 1830 in den deutschen Ländern auf. Sie haben sich zunächst und qualitativ betrachtet nicht aus sich selbst heraus entwickelt, sondern auf eine westeuropäische Herausforderung geantwortet, deren Expansion die napoleonischen Heere bis nach Moskau und wieder zurück nach Frankreich führte. Die deutschen Länder lagen inmitten eines europäischen Entwicklungsgefälles von West- nach Osteuropa, in dem sie sich vorläufig ab dem Wiener Kongress 1814 restaurativ stabilisieren konnten. Es wäre deshalb falsch, für die Philosophie die jeweils lokalen Maßstäbe in dieser oder jener Provinz anzulegen, ohne diese in die europäische und damit damals noch weltgeschichtliche Lage einzuordnen. Gleichwohl schlägt die internationale Entwicklung nur vermittelt über das Involviertsein der jeweiligen deutschen Länder in diesen auch durch, weshalb die Lage etwa während der Mainzer Republik und für die Württembergischen Landstände eine andere war als in Bern, Frankfurt, Jena, Bamberg, Nürnberg, Heidelberg und Berlin, um Hegels lebensgeschichtliche Stationen zu nennen. Die Veränderungen in den damaligen deutschen Ländern hingen direkt und indirekt von der Französischen Entwicklung ab, anfangs von der Ausstrahlung der Französischen Revolution und ihrer Verkehrung in den Terror auf die deutschen Gebiete, sodann deren napoleonischer Besetzung und Umgestaltung, bis in den deutschen Ländern zu ihrer Selbsterhaltung Reformen der Anpassung eintraten, die antinapoleonischen Befreiungskriege gelingen konnten und schließlich der Sieg der Heiligen Allianz eintrat mit den sogenannten Demagogenverfolgungen als seiner Konsequenz. Was so auf den ersten Blick als vollständiger Rücklauf in den Ausgangspunkt der Übergangsrolle absolutistischer Monarchien erscheinen konnte, war dies doch nur teilweise. Der Rücklauf hatte auch in Frankreich selbst zu einer nur noch konstitutionellen Monarchie geführt, die die napoleonischen Strukturveränderungen in Wirtschaft, Recht und Bildung bewahrte. Auch in den deutschen Ländern waren zwischenzeitlich Reformen in Anpassung an den Code Napoleon z. B. im preußischen Landrecht, in der Wirtschaft und Verwaltung, im Militär und der Kriegsführung, in der Bildung und Kultur erbracht worden, die in der Restaurationszeit fortwirkten. Im Hinblick auf diese Reformen galt Hegel in seiner Berliner Antrittsrede, dass „Preußen auf Intelligenz gebaut“2 sei. Mit der französischen Juli-Revolution von 1830 und der Reformbill in England von 1831 aber wurde klar, dass einerseits der Sieg der Heiligen in Deutschland, hrsg. v. Gotthard Erler, mit einem Essay „Heinrich Heine und das Schulgeheimnis der deutschen Philosophie“ von Wolfgang Harich, Leipzig 1966, 47. 2  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Rede zum Antritt des philosophischen Lehramtes an der Universität Berlin“ (1818), in: GW 18, 4.



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Allianz und andererseits die Auflösung der Politik in die fortschreitende Repräsentation von Kapitalinteressen keine dauerhaften Lösungen sein konnten. Der Kampf des napoleonischen Frankreichs war auch ein Kampf mit England, nicht nur mit Kontinentaleuropa, das durch die französische Kontinentalsperre in den Kampf mit England verwickelt wurde. England war zur ersten industriekapitalistischen Macht Europas und zur bedeutendsten handelskapitalistischen und Kolonial-Macht weltweit aufgestiegen, wenngleich durch die Amerikanische Revolution und das napoleonische Frankreich geschwächt. Eine Besonderheit Hegels besteht darin, dass er die Veränderungen auf den deutschen Gebieten – er spricht von „der Trennung der deutschen Völkerschafften“,3 denn „Deutschland sei kein Staat mehr“,4 so in seiner Verfassungsschrift (1799–1803) – nicht aus den deutschen Verhältnissen selber beurteilt, sondern an der französischen und auch an der englischen Entwicklung weltgeschichtlich zu bewerten erlernt. Er ist – in Fortsetzung von Friedrich Schillers Unterscheidung zwischen dem Not- und Verstandesstaat einerseits und dem ästhetischen und Vernunftstaat andererseits in Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) – einer der ersten und gründlichsten Denker in Deutschland, der das weltgeschichtliche Entwicklungsgefälle von West- nach Osteuropa strukturell begreift. Schon Schiller hatte an Christian Garves Popularisierung und Übersetzung von Adam Fergusons An Essay on the History of Civil Society (1767) angeschlossen, in dem die neue kommerzielle Gesellschaft als die zivilisationsgeschichtliche Herausforderung der Gegenwart verstanden wurde.5 Die doppelte Herausforderung aus Westeuropa besteht in dem primär kapitalökonomischen Weg Englands einerseits und in dem primär politisch-revolutionären Weg Frankreichs andererseits im Vergleich mit den dazu sowohl ökonomisch als auch politisch vorbürgerlichen Verhältnissen in den deutschen Ländern. Die Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet nicht nur politisch den Kampf um die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit von „citoyen“, sondern auch die Einrichtung privater Eigentumsverhältnisse von „bourgeois“6 zur wirtschaftlichen Expansion nach innen und außen, so Hegel in seinem System der Sittlichkeit (1802/03) und in seiner Geistesphilosophie von 1805/06. Die Bourgeoisie herrscht ökonomisch nicht nur nach innen über eine eigentumslose Mehrheit und nach außen durch Kolonialisierung anderer 3  Hegel,

„Die Verfassung Deutschlands“, in: GW 5, 157. 161. 5  Siehe zu diesem Rezeptionszusammenhang von Ferguson über Garve und Schiller zu Hegel Norbert Waszek, The Scottish Enlightenment and Hegel’s Account of ‚Civil Society‘, Dordrecht/Boston/London 1988, 60–64. 6  Hegel, „System der Sittlichkeit“, GW5, 336 f., 347. Ders., Jenaer Systementwürfe III: Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, GW 8, 238–240. 4  Ebd.,

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Gebiete und Völker. Sie bedeutet auch eine eskalierende Konkurrenz zwischen den nationalen Bourgeoisien, zunächst die Abnabelung der USA von England, dann insbesondere zwischen England und Frankreich und schließlich in den napoleonischen Eroberungskriegen. Hegel spricht in seiner Jenaer Periode von einem nord-west-europäischen Verstandesdenken, von der Herausforderung eines weltgeschichtlich neuen Überganges, in dem es darum gehe, so im Naturrechtsaufsatz und im System der Sittlichkeit von 1802/03, die Tragödie des Sittlichen in einer Tragödie im Sittlichen aufzufangen.7 Es gibt für diesen Widerspruch zwischen dem englischen Primat der Kapital-Ökonomie und dem französischen Primat revolutionärer Politik, die reaktionär beantwortet wurde, im Hinblick auf den deutschen Rückstand und die deutsche geschichtliche Ohnmacht immer neue Anläufe zu einer Lösung bei Hegel. Die für ihn bleibende, weil systematisierte Gestalt für den philosophischen Lösungsversuch dieses weltgeschichtlichen Problems lautet: Wenn man die protestantische Reformation nicht in ihrer lokalen Partikularität, sondern angesichts der Französischen Revolution in ihrem prinzipiell universalisierbaren Gehalt versteht, dann dreht sich alles um die Verwirklichung von allgemeiner kultureller Bildung für alle je individuellen Menschen. Die Begründung von dieser öffentlich-allgemeinen Hegemonie geistiger Kultur und Wissenschaft obliege einer begrifflich organisierten Geistesphilosophie. Was Hegel „Geist“ nennt, ist ein Wechsel im Primat des Geschichtsprozesses von der Ökonomie und von der Politik hin zu der kulturellen Hegemonie eines absoluten Geistes, der in Kunst, Religion und Philosophie ihm angemessene Ausdrucks- und Darstellungsformen findet. Diese Aufhebung realer Entzweiung brauche die geistesphilosophische Integrationskraft eines Systems, das sich methodisch durch Negationen der Negation gegenüber dem Verstand als vernünftig behaupten kann. Alle positiven Bestimmungen beruhen auf dem Ausschluss anderer Bestimmungsmöglichkeiten, die aber erneut eingeschlossen werden müssen, wenn es zu einer vernünftigen Entwicklung statt der exklusiven Fixierung von Positivitäten kommen können soll. Die kulturelle Hegemonie des Geistessystems bedarf dieser methodisch dialektischen Kampfform doppelter Negationen, um die Fixierung der verselbständigten Resultate des Verstandes überwinden zu können.8 Seit der Differenzschrift 1801 stellt Hegel der Philosophie die Aufgabe, den Verstand auf dem ihm eigenen Gebiet der Reflexion durch Ver7  Hegel, „Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts“, in: GW 4, 485; ders., „System der Sittlichkeit“, GW 5, 354. 8  Zum frühen Jenaer Programm der Hegelschen Philosophie und seinem politisch gesehen bonapartistisch-heroischen Charakter Hans-Peter Krüger, Heroismus und Arbeit in der Entstehung der Hegelschen Philosophie (1793–1806), Berlin 2014, Kap. 3.



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nunft direkt anzugreifen,9 weil seine moderne Vorherrschaft nicht mehr hinreichend durch Kunst und Religion aufzubrechen sei, woran Hegel früher in Bern und Frankfurt selber noch geglaubt hatte. Bevor ich sogleich auf diese kulturelle Hegemonie durch eine bestimmte Geistesphilosophie in ihrem historischen Kontext zurückkommen werde, möchte ich nur noch die Fragestellung im Titel meines Beitrages verdeutlichen: Die Frage nach dem Politischen ist nicht identisch mit der Frage nach der jeweiligen Politik. Es gibt historisch faktisch gesehen politische Verhältnisse, so Institutionen und mentale Einstellungen im Umgang mit diesen Einrichtungen, was unter Politik als einem gesellschaftlichen Handlungsbereich verstanden wird. Das Politische hingegen betrifft eine grundsätzlich andere Frage: In welchem Verhältnis steht dieser politische Handlungsbereich zu anderen gesellschaftlichen Handlungsbereichen wie der Ökonomie, dem Recht, der Religion und Weltanschauung, der materialen und idealen Bildung und Kultur der Zeit? Wer Hegels Stellungnahmen zu den politischen Verhältnissen und Erwartungen seiner Zeit verstehen möchte, also sein Verhältnis zur Politik, sollte das Politische in seinem philosophischen Einsatz und Vorgehen in Rechnung stellen. Hegel ist als Philosoph kein Politiker und Staatsbürger, was er natürlich auch sein muss, wenn er in den politischen Verhältnissen taktisch und strategisch agiert. Aber seine Philosophie vertritt und elaboriert nichts Geringeres als den Primatwechsel von der Kapital-Ökonomie und von der Politik der Revolution versus Restauration zur geistig-kulturellen Hegemonie in der öffentlich allgemeinen Sphäre. Er denkt daher den Übergang in seiner Zeit nicht als den Übergang vom Feudalabsolutismus zum Kapitalismus mit einer dementsprechend parlamentarisch repräsentativen Demokratie als Resultat, sondern als die Aufhebung der Kapitalökonomie in eine reformorientierte Sphäre von Politik, die sich öffentlich der Verwirklichung des Geistes der Freiheit im Objektiven und Absoluten unterstellt. Hegel versteht den Übergang tatsächlich als Aufgang, d. h. gleichsam wie eine Wendeltreppe, die einen in das höhere Stockwerk von Zivilisiertheit hinaufbringt, dorthin hinauf zu heben vermag. Man schaut und begreift dann Ökonomie und Politik anders, als wenn man in deren abgetrennten und verselbständigen Handlungszwängen steht und diese nur immer innerhalb ihrer selbst zu übertreffen versucht. Man mag dieses Reformprojekt rückwirkend aus späterer Sicht für eine Kompensation damaliger deutscher Ohnmacht durch einen geistig-heroischen Aufbruch halten. Aber dieser Aufbruch hat es auch im Rückblick immerhin und zunächst einmal erlaubt, einen strukturellen Rückstand gegenüber West9  Hegel, „Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie“, in: GW 4, 416–418.

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europa auf reformerische Art und Weise aufzuholen. Versetzt man sich darüber hinaus in Hegels Zeit zurück, um sich von den eigenen Vorurteilen der heutigen Zeit zu befreien,10 dann handelt es sich um diesen heute als unzeitgemäß wirkenden Versuch eines weltgeschichtlichen Primatwechsels, den ausgerechnet ein künftiges Deutschland unter dem Titel moralischer Sittlichkeit in der Phänomenologie des Geistes von 1807 zur Aufgabe erhält. Was hätte aus diesen Ländern werden können in dem Maße, in dem sie dem Geist der Verwirklichung moralischer Freiheit auf dem Grunde rechtlicher Freiheit sittlich gefolgt wären? – Es gab kein vorherbestimmtes deutsches Schicksal, im Verlaufe des 19. Jahrhunderts in der Politik von Blut und Eisen enden zu müssen. Im Folgenden möchte ich meine Hauptthese über Hegels Philosophie des Politischen als der Begründung dieses weltgeschichtlichen Primatwechsels11 erläutern, zunächst aus ihrer Entstehung heraus im Hinblick auf vier ihrer Charakteristika, sodann anhand von Hegels Rechtsphilosophie in ihrem Berliner Kontext. 2. Erläuterung der These anhand der Herausbildung einiger Charakteristika der Hegelschen Philosophie des Politischen 2.1. Die bonapartistische Dimension in der historischen Aufgabenstellung Georg Lukács hat in Der junge Hegel den bonapartistischen Charakter von Hegels Jenaer Entwicklung hervorgehoben, die sich in seiner Phänomenologie des Geistes bilanziere.12 Dieser Charakter zeichnet sich in der Tat in den verschiedenen Fassungen von Hegels Verfassungsschrift zwischen 1799 und 1803 ab, in denen er die deutsche mit der italienischen Zersplitterung vergleicht. Ohne französische Eroberung verändere sich in den deutschen Kleinstaaten nichts, aber während Hegel anfangs noch damit rechnete, dass diese Eroberung wenigstens einen deutschen Einiger als Antwort provozieren könnte, musste in der späteren Fassung Napoleon auch noch die Neuorganisation der deutschen Fürstentümer selbst übernehmen, wie es dann auch tatsächlich eintrat. 10  Den umgekehrten Weg, Hegels Praktische Philosophie an dem idealen Selbstbild der alten Bundesrepublik als dem Ende der Geschichte zu messen, ging Herbert Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge ihrer Entstehung, Frankfurt/M 2000. 11  Ausführlich in Krüger, Heroismus und Arbeit (Anm. 8), 10–23. 12  Georg Lukács, Der junge Hegel und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft, Berlin 1954.



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Napoleons Rolle in der Weltgeschichte war ein lebendiger Widerspruch. Er rettete die Französische Revolution gegen die konterrevolutionären Allianzen von außen, indem er sie auf die rechtsförmige Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft reduzierte, aber diese bürgerliche Gesellschaft durch die imperiale Expansion auch terrorisierte. Das Primat der Politik über die Ökonomie erhielt sich in der Form permanenter Kriegsführung, die Hegel in seinem System der Sittlichkeit (1802/03) unter dem Begriff der „allgemeinen Arbeit des Krieges“13 feierte. Ging in die Verfassungsschrift noch die handelsbürgerliche Political Economy von James Steuert ein, so in das System der Sittlichkeit bereits die manufakturkapitalistische Ökonomie von Adam Smith, deren philosophische Integration in Hegels Geistesphilosophie von 1805/06 kulminiert. Die Vergegenständlichung der innermanufakturiellen Arbeitsteilung in Maschinen revolutioniert das Verhältnis zur äußeren Natur, wodurch sich innerzweiglich und zwischenzweiglich die konkreten Arbeiten als abstrakte Arbeit erweitert reproduzieren können. Für diese neue Dynamik ist eine kapitalistische Vermittlung über den Tauschwert nötig, was Hegel für die Ökonomie ausdrücklich bejaht, für die Politik und Gesellschaft aber kategorisch ablehnt.14 Er verwechselt die gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung, die er als Ständeteilung darstellt, nicht mit der innerwirtschaftlichen Arbeitsteilung, die die Gesellschaft der Bourgeois gliedert. Diese Verwechslung gab es auch bei Adam Smith nicht, der seine Politische Ökonomie als Teil seiner Moralphilosophie entwickelt hatte. Darum wusste Hegel, der in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie der schottischen Moralphilosophie ein Denkmal gesetzt hat, da sie im Hinblick auf den sensus communis eine Parallelentwicklung mit Kant darstelle, aber ohne spekulativ werden zu können: „Auch der Staatsökonom Adam Smith ist in diesem Sinne Philosoph.“15 Das Primat der Politik über die Ökonomie manifestierte sich bei Hegel in der allgemeinen Arbeit des Krieges, der die Verselbständigung der Partikularitäten negativ durch seine Selbstzwecksetzung aufhebt. Er wäre aber keine allgemeine Arbeit, sondern allgemeine Vernichtung, wenn er nicht selber erneut einer geistig produktiven Ausrichtung unterworfen werden könne, d. h. der allgemeinen „Arbeit des Begriffs“,16 wie es dann am Ende der Vorrede 13  Georg

Wilhelm Friedrich Hegel, „System der Sittlichkeit“, GW 5, 335–336. Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 222–224, 249–253. 15  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, hrsg. v. Gerd Irrlitz, Bd. 3, Leipzig 1971, 432. Siehe zu Hegels differenzierter Rezeption der schottischen Aufklärung, insbesondere der Schriften von Adam Ferguson, James Steuart und Adam Smith, für seine Unterscheidung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat außer meinem Buch (oben Anmerkung 8) das gründliche Buch von Norbert Waszek, The Scottish Enlightenment and Hegel’s Account of ‚Civil So­ ciety‘ (Anm. 5). 16  Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, 48. 14  Hegel,

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zur Phänomenologie des Geistes 1807 heißt.17 Die Philosophie habe die Aufgabe, diese Selbstbegründung des Geistes als des Absoluten, d. h. als den kulturell unbedingt zu wahrenden Sinnhorizont der Gesellschaft im Ganzen, zu leisten. 2.2. Die geistesgeschichtliche Lage und das protestantische Prinzip für die Aufgabenstellung Diese Aufgabenstellung entstand Hegel aus seiner welthistorischen Diagnose der geistesgeschichtlichen Lage in seiner Zeit des Überganges. Diese Diagnose geht auf zwei grundlegende Einsichten zurück. Die eine Einsicht, die Hegel in seiner Verfassungsschrift von 1802 als Lektion aus den Religionskriegen, die den deutschen Bund durch Privatisierung des Öffentlichen zertrümmert haben, vorstellt, lautet: Nicht die innerliche Verbindung durch ein und dieselbe Religion, sondern die äußerliche Verbindung durch Wirtschaft, Verwaltung und Kriegsführung sei das „Prinzip der modernen Staaten“: Der „Grundsatz der Unabhängigkeit des Staates von der Kirche“ bedeute die „Möglichkeit des Staates“ ungeachtet der Verschiedenheit der Religionen“,18 also auch nicht unabhängig von jeder Art und Weise von Religiosität, wohl aber von dieser und keiner anderen positiven Bestimmtheit der Religion. Die andere Einsicht geht auf Hegels Selbstverständigungsversuch über die religionsgeschichtliche Lage in seinem Manuskript „Der Geist des Christentums“ aus dem Winter in Frankfurt 1798/99 zurück. Vorangegangen waren Hegels Berner Versuch, im Anschluss an Rousseau eine kleinbürgerlich-republikanische Einheit von Volksreligion und allgemein arbeitenden Republikanern nach antik-religiösem Vorbild zu konzipieren, und Hegels Frankfurter Versuch, eine vereinigungsphilosophische Verbindung zwischen der Bevölkerungsmehrheit und der „höheren Aufklärung“, wie sie Hölderlin genannt hatte, mythologisch in Angriff zu nehmen. Aber die Verkehrung der Französischen Revolution in ihr Gegenteil und die Anerkennung des großbürgerlichen Privateigentums als des schicksalhaften Resultats der Revolution führte Hegel auch zu einer grundsätzlichen Umbewertung der Rolle des Christentums. Statt das Christentum wie vorher wegzuhistorisieren, um die Gegen17  Diese Zwischenstellung des Krieges gegenüber der Ökonomie und unter dem Weltgeist in der Weltgeschichte, deren Bewusstsein der Freiheit in den Formen des absoluten Geistes zu sich kommt, behält der Krieg auch noch in Hegels Rechtsphilosophie. Siehe Soenke Schenk, Hegels Krieg. Die Unausweichlichkeit und Mäßigung des Krieges in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ – Eine Entgegnung auf Klaus Vieweg, Nordhausen 2018. 18  Hegel, „Die Verfassung Deutschlands“, GW 5, 22, siehe auch ebd. 169–172.



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wart für seine zivilreligiöse Überwindung freizubekommen, erscheinen nun die „Parabeln Christi“ über „Schwere, Arbeit, Not“ als die „eigentlichen Gleichnisse, modernen Fabeln, […] ganz wirklichen Geschichten,“19 die eine Erhebung über „das Gebiet des Rechts und über die ganze Sphäre des Eigentums“20 erfordern. Hegel durchläuft exemplarisch eineinhalb Jahrtausende Geschichte der Christlichen Religion, ihre Versuche, sich über kleine Gemeinden hinaus zu objektivieren und zu universalisieren, was zu ihren Spaltungen in Kirchen und Sekten, in einen Kampf zwischen Privatrecht und Staatsrecht geführt habe, um am Ende den enormen Spielraum des Christentums für seine stets erneute Auslegung und Interpretation zu resümieren. Dieser Spielraum liege gerade in der christlichen Wahrheit sowohl der Trennung, der Entzweiung im Wirklichen als auch der Versöhnung im Geistigen. Beide Seiten, die Trennung und das Einheitsstreben, erhellten sich gegenseitig und hielten sich dadurch geschichtlich in Gang.21 Im Protestantismus sieht Hegel ein Prinzip, das sich in verschiedenen reformatorischen Bewegungen der Neuzeit gezeigt hat, ohne in die lokal-historischen Bestimmtheiten der Folgen von Luther, Zwingli oder Calvin aufgelöst werden zu müssen. Es handelt sich um die Befreiung des Christentums von denjenigen seiner Vermittlungen, die seinen Geist ins Gegenteil verkehren, weil sie institutionell in Positivitäten erstarren. Im Protestantismus wird der Geist des Christentums zurückgenommen in die Innerlichkeit des Subjekts in seinem unmittelbaren Verhältnis zu Gott, in dem auch jedes andere Subjekt des Glaubens vor Gott steht. Mit dieser Gleichheit für die je individuelle Gewissensfreiheit entfallen auch die früheren Hierarchien zwischen Laien und Geistlichen, die das Einfallstor falscher Positivitäten waren. Umso dringender stellt sich dann aber die Frage, wie dieses Prinzip, dass der Geist des Christentums in dem reflexiven Glaubensgrund des Subjekts zu Gott anhebt, die ihm angemessenen Objektivierungsweisen ausbildet. Denn zum Prinzip des Protestantismus gehört, dass er die starre Trennung zwischen Diesseits und Jenseits in einer Verwirklichung zu überwinden versucht, die die Bejahung im weltlichen Leben gestattet. Seine Universalisierung auf alle Menschen als in diesem Sinne mögliche Christen der Zukunft entlädt seine Glaubensenergien in ihre weltliche Bewährung, die anderen offensteht und so in einen Kampf mit der Aufklärung führt.

19  Hegel,

„Grundkonzept zum Geist des Christentums“, TWA 1, 316. „Der Geist des Christentums“, TWA 1, 335. 21  Siehe ebd., 418. 20  Hegel,

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2.3. Die Aufgabe der Vernunftphilosophie im Übergang In diesem Kampf mit der Aufklärung geht es für Hegel um prinzipiell mehr als nur um eine theologische Bewahrung einer protestantischen Glaubensform im Unterschied zu anderen religiösen Glaubensformen. Es handelt sich um die Neubegründung des protestantischen Prinzips angesichts anders religiöser oder überhaupt nicht religiöser Ansprüche in der öffentlichen Auseinandersetzung über dasjenige, das in der Verweltlichung unbedingt als universale Orientierung zu gelten hat, wenn die Verweltlichung nicht in ihrer Zerstörung enden soll. Hier hat also laut Hegel ein Wechsel von der Theologie in die Philosophie stattzufinden. Für ihn liegt in seinem grundlegenden Aufsatz über Glauben und Wissen von 1802 der Zusammenhang zwischen dem Protestantismus und den jüngsten Reflexionsphilosophien der Subjektivität in ihren Gestalten von Kant, Jacobi und Fichte auf der Hand: „Die große Form des Weltgeistes aber, welche sich in jenen Philosophien erkannt hat, ist das Prinzip“ der „Subjektivität, in welcher Schönheit und Wahrheit, in Gefühlen und Gesinnungen, in Liebe und Verstand sich darstellt.“22 Aber gerade dann, wenn es sich um die öffentliche Hegemonie der Vernunft, um das „gänzliche Regieren aller Wahrheiten des Verstandes“23 handele, dürfe die Philosophie nicht mehr als „Magd eines Glauben“,24 auch nicht als Theologie des protestantischen Glaubens auftreten. Die Vernunft dürfe nicht zurückfallen in die positive Fixierung der reflexiven Gegensätze des Verstandes zwischen Glauben und Wissen, zwischen Endlichkeit und Vernunft, sondern habe umgekehrt ihre auch in diesen Philosophien begonnene Emanzipation vom Verstand zu ihrer Selbstbegründung und Selbstverwirklichung fortzusetzen. Die Selbstverwirklichung der Vernunft habe sich vor allem in der Entfremdung des Subjektivitätsprinzips in der äußeren objektiven Welt zu bewähren, statt das Subjektivitätsprinzip romantisch gegen seine Entfremdung in der Objektivierung der Welt zu beschwören. Damit die Vernunft im öffentlichen Kampf mit dem aufgeklärten Verstande die Regierung der Verstandeswahrheiten übernehmen kann, funktioniert sie die Negationsformen aus dem Skeptizismus um, wie es in dem Aufsatz Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie, ebenfalls von 1802, heißt.25 Auch in Hegels eigener, vernunftphilosophisch universalisierbaren Begründung des protestantischen Prinzips geht nicht dessen protestantisch geistiger Gehalt verloren. Unmissverständlich schreibt Hegel in seinem System der Sittlichkeit (1803), die absolute Sittlichkeit bedeute „absolute Uneigen22  Hegel,

„Glauben und Wissen“, GW 4, 317. „Verhältniß des Skepticismus zur Philosophie“, GW 4, 206. 24  Hegel, „Glauben und Wissen“, GW 4, 316. 25  Hegel, „Verhältniß des Skepticismus zur Philosophie“, GW 4, 208. 23  Hegel,



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nützigkeit, denn im ewigen ist nichts eigenes“.26 An diesem geistigen Maßstab gemessen, stechen die geschichtlichen Besonderungen hervor, die tatsächlich in eine Entzweiung von je individueller Subjektivität einerseits und objektiv Allgemeinem andererseits führen. Die Entzweiung, das Bedürfnis der Philosophie, kann sich selber absolut setzen, werde es nicht philosophisch im Öffentlichen befriedigt, was einer Tragödie des Sittlichen gleichkäme, wie wir sie aus den vormodernen Kriegen des Dschingis Khan kennen. Die zu verbindenden Seiten fallen in Gegensätze auseinander und die besonderen Vermittlungen verselbständigen sich erneut, weil sie von der Fixierung des Gegensatzes selber leben und sich so zur Totalität aufspreizen. Die Vermittlung von konkret-einzelner und abstrakt-allgemeiner Arbeit durch kapitalistische Tauschverhältnisse fixiert diesen Gegensatz der Arbeiten und zieht alles Mögliche in die Vergleichgültigung seiner Verwertung hinein. Die napoleonische Rettung der Französischen Revolution durch ihre Integration von Staats- und Volksgewalt führt aus dem fixen Gegensatz von Despotismus und Anarchie heraus, verselbständigt sich aber ihm gegenüber in imperialer Expansion. Hier liegen spezifisch moderne, nicht mehr nur neuzeitliche Probleme der dynamischen Totalisierung einer Widerspruchsart vor, der die ganze Gesellschaft zum Opfer fallen kann. 2.4. Die begriffliche Selbsterkenntnis des absoluten Geistes als neue Form der Vernunftphilosophie Dieter Henrich hat meines Erachtens sinnvoll zwischen drei Prinzipien unterschieden, die den Vergleich verschiedener Philosophien und damit den Hegel spezifischen Einsatz gegenüber Schelling herauszuarbeiten ermöglichen. Henrich unterschied zwischen der Prinzipform, der Begriffsform und der Systemform der jeweiligen Philosophie. Die Prinzipform betreffe die Frage, wie das Prinzip des Systems, d. h. das Absolute, aufzufassen sei. Die Begriffsform beziehe sich auf die Frage, in welcher logischen Form von Begrifflichkeit das Begreifen des Wirklichen in dem einen Zusammenhang des Absoluten möglich werde. Die Systemform betreffe den Aufbau des Systems, durch das sich die monistische Position begründet und entfaltet. Um die Mitte seiner Jenaer Jahre sei bei Hegel, so Henrich, an die Stelle der Prinzipform der absoluten Identität der Begriff des absoluten Geistes getreten. Zudem sei diejenige Systemform, in welcher der Logik vor allem die Aufgabe einer Einleitung zukam, von einer neuen Systemform abgelöst worden, in der die Logik sogleich mit dem Anspruch anheben kann, eine Erkenntnis des Absoluten selbst zu sein. Hegel überbrücke die Kluft zwischen dem Absoluten und dem Endlichen in der Figur der Selbstaufhebung des 26  Hegel,

„System der Sittlichkeit“, GW 5, 329.

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Endlichen: „Denn die Andersheit, die das Endliche an ihm selbst aufweist, ist genau dieselbe, die es auch in Beziehung auf sich selbst hat. Ist Anderes anders als es selbst, so ist damit seine primäre Andersheit aus ihm selbst heraus aufgehoben. Seine Selbstbeziehung ist seine Selbstnegation.“27 Dieses Primat der Selbstbezüglichkeit über die Andersheit lasse sich aber nur durch das Primat der Epistemologie über die Ontologie retten: „Das Absolute bezieht sich auf sein Anderes als auf sich selbst. So ist das Absolute gemäß dem Postulat der All-Einheit nur zu denken, wenn es als Erkennen gedacht wird, und zwar in der besonderen und höchsten Form von Selbsterkenntnis.“28 Mit dieser Umstellung der von Schelling gekommenen absoluten Identität von Subjekt und Objekt auf die begriffliche Selbsterkenntnis des absoluten Geistes hat Hegel in seinem Jenaer Systementwurf III von 1805/06 die spezifische Form seiner Philosophie ausgebildet. Er expliziert sie dann als Leiter ins System auf dem Wege der Erfahrung des Bewusstseins in seiner Phänomenologie. Er führt sie als begriffliche Selbsterkenntnis des Absoluten anhand der grammatikphilosophischen Potentiale, Sätze analytisch und im Ganzen spekulativ verstehen zu können, in seiner Wissenschaft der Logik aus. Schließlich entwirft er ihre realphilosophische Verwirklichung für verschiedene Realitätsbereiche in seinen Vorlesungskompendien, die durch die Enzyklopädie systematisch verklammert werden. Hegel hatte tatsächlich, bevor er 1818 in Berlin ankam, die systematischen Grundlagen seiner Philosophie des absoluten Geistes expliziert, die er nun in seiner Rechtsphilosophie als die spezifisch „spekulative Erkenntnisweise“ voraussetzen konnte.29 3. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts im Berliner Kontext Hat man die für das Thema des Politischen wichtigsten Einsichten aus der Entstehung von Hegels Philosophieprogramm vor Augen und setzt man die wichtigsten Ausarbeitungen dieses Programms voraus, dann war zu erwarten, dass diese Rechtsphilosophie weder das Primat der Kapitalökonomie noch das Primat revolutionärer versus reaktionärer Politik vertreten kann, wollte der Autor Hegel nicht gänzlich seinen Jahrzehnte lang erkämpften Überzeugungen plötzlich untreu werden. Umgekehrt: Diese Art von Kapitalökonomie und jene Art von Politik der Revolution versus Reaktion waren derart einzugrenzen, dass ihre weltgeschichtlich bereits unter Beweis gestellte Eigendynamik nicht ihre eigene Ermöglichungsstruktur im sittlichen Zusammenleben 27  Dieter Henrich, Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982, 161. 28  Ebd., 166. 29  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14, 1, 8.



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zerstört. Die Einbettung dieser Ökonomie und jener Politik mussten sich als mit einer allgemeinen modernen Sittlichkeit vereinbar verstehen lassen, die philosophischen Erkenntnisprinzipien zur öffentlichen Orientierung politischer und ökonomischer Einrichtungen folgt. Diese Reform ist erkenntnisbasiert und setzt auf die praktisch verantwortliche Verwirklichung wissenschaftlicher Erkenntnisse durch die akademisch gebildeten Mittelschichten, deren Bedeutung Hegel in seiner Rechtsphilosophie (§ 297) hervorhebt und deren Ausbildung Hegel selber als Bamberger Chefredakteur, als Nürnberger Gymnasialrektor und als Universitätsprofessor in Jena, Heidelberg und Berlin gedient hat. Hic Rhodus, hic saltus. Hegel konnte springen, weil er – vor allem dank Friedrich Immanuel Niethammer – in das Netzwerk der Reformer aufgenommen und in diesem stets weitergereicht wurde, von Schiller und Goethe bis zum preußischen Minister Altenstein, wodurch Hegel es selber in seinem Schülerkreis in Berlin fortsetzen konnte. Die Sittlichkeit folgt bei Hegel der Idee der Freiheit als der Einheit ihres Begriffes und ihres Daseins. Das abstrakte Recht behandelt die Person in ihrem äußeren Dasein im Verhältnis zu Sachen, anderen Personen und in Kollision mit diesen. Die Moralität betrifft das Subjekt in seinem unmittelbaren Selbstverhältnis, in seinem reflektierten Selbstverhältnis und in seinem gemeinschaftlichen Selbstverhältnis. Setzt man logisch die Personalität im Recht und die Subjektivität in der Moralität als die modernen Errungenschaften voraus, dann lässt sich die sittliche Einheit des Begriffs der Freiheit mit seinem gestalteten Dasein in den Weisen von Mitgliedschaften verstehen. Die Familie verwirklicht Subjektivität und Personalität durch eine je besondere Liebe aus der Generationenfolge der eigenen Natur heraus; die bürgerliche Gesellschaft in den abstrakt-allgemeinen Weisen des Menschseins durch Teilnahme an Märkten im Verhältnis zur äußeren Natur, der Staat durch konkret-allgemeine Mitgliedschaft in Ständen, Korporationen und Verwaltungen. In dieser Gliederung von Mitgliedschaften könne das moderne Prinzip der Subjektivität und Besonderung bis in den Eigennutz hinein so gestaltet werden, dass es strukturell in den sittlichen Gesamtzusammenhang des Uneigennützigen integrierbar bleibe. An jeder funktionalen Stelle in diesen gesellschaftlichen Arbeits- und Gewaltenteilungen, die substantielle Voraussetzungen haben und der Rekombination in vermittelten Einheiten des Sittlichen bedürfen, bleibt die frühere Aufgabenstellung aus dem System der Sittlichkeit die hermeneutische Richtschnur: Wie kann die Tragödie des Sittlichen in einer Tragödie im Sittlichen reformerisch durch Grenzregulierungen aufgefangen werden? Aus diesen Aufgaben, die Grenzen zwischen der Ökonomie, Politik und geistigen Kultur stets erneut öffentlich zu reformieren, konzentriere ich mich im Folgenden auf zwei. Erstens: Wie verhalten sich öffentlich die von der Religion und dem Staate in Anspruch genommenen Absolutheiten zueinan-

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der? Zweitens: Worin besteht politisch und geistig-kulturell die öffentliche Regulierungsaufgabe gegenüber der kapitalistischen Ökonomie? 3.1. Wie verhalten sich öffentlich die von der Religion und dem Staat in Anspruch genommenen Absolutheiten zueinander? Hegels Einbettung des ökonomischen und politischen Handlungsbereichs in einen sittlichen Gesamtzusammenhang, dessen Maßstab in den Formen des absoluten Geistes der Kunst, Religion und Philosophie ausgedrückt und dargestellt werden kann, muss alle enttäuschen, die entweder den Primat der Ökonomie oder den Primat der Politik über die geistige Kultur in der Frage nach dem Politischen vertreten. Hegels Rechtsphilosophie ergibt weder ein Lehrbuch des ökonomischen Liberalismus noch eines der permanenten Revolution versus Restauration. Stattdessen tritt sie aus dieser ökonomischen und jener politischen Dynamik heraus in eine geistig-kulturelle Art und Weise von Abstand, der die absolute Versöhnung von Natur und Geist im sittlichen Zusammenleben ermöglicht. Dafür muss man die antitotalitäre Differenz zwischen der Verwirklichung des Unendlichen im irdischen Endlichen und der symbolischen Erfüllung des Unendlichen in den bereits allgemeinen Formen des absoluten Geistes berücksichtigen. Um letztere Formen geht es in Hegels Ästhetik, Religionsphilosophie und Logik, um erstere Begriffe und Gestalten in seiner Rechtsphilosophie und Philosophie der Weltgeschichte. Ludwig Siep hat in seinem Buch Der Staat als irdischer Gott gezeigt, dass Hegel diese antitotalitäre Differenz wahrt und dass seine rechtsphilosophische Sakralisierung des Staates ein Beitrag zur Säkularisierung des Staates und zur Sakralisierung der Personenrechte darstellt.30 Wenn Hegel den Staat den höchsten und sogar heiligen Willen nennt, der auf Erden nur noch die Weltgeschichte über sich hat, so um ihn von der Legitimation durch eine bestimmte Religion freizuhalten und insofern die Trennung von Staat und Kirche sowie die Religionsfreiheit zu ermöglichen. Die Heiligkeit des Staates geht der Heiligkeit dieser oder jener Religion – oder laizistisch modern gelesen – auch der Heiligkeit dieser oder jener Weltanschauung vor.31 Zudem ist Hegels Staat nicht eine restaurativ legitimierende Fortsetzung von einer natürlichen Gemeinschaftssubstanz, wie bei Carl Ludwig von Haller,32 30  Ludwig Siep, Der Staat als irdischer Gott. Genese und Relevanz einer Hegelschen Idee, Tübingen 2015, 11. 31  Jocelyn Maclure und Charles Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, aus dem Französischen von Eva Buddeberg und Robin Celikates, Berlin 2011. 32  Siehe Carl Ludwig von Haller, Restauration der Staatswissenschaft oder Theorie des natürlich geselligen Zustands der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt, Bd. 1, Winterthur 1816; Bd. 2, Winterthur 1817.



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sondern an das abstrakte Recht und die Moralität von menschlichen Individuen als Personen und als Subjekte gebunden. Insofern fällt die Sakralisierung des Staates bei Hegel mit der Sakralisierung subjektiver und objektiver Personalität zusammen, ohne dass letztere in die empirische Summe einzelner Menschen aufgelöst werden könnte. Staatlichkeit und Personalität können nur insoweit zusammenfallen, als die Idee der Freiheit in der sittlich verantwortlichen Gliederung in den angesprochenen Mitgliedschaften realisierbar ist. Hegels „philosophisches Verständnis des Christentums“, das eine notwenige „Versöhnung zwischen Religion und Staat“ dadurch ermöglicht, dass es „beide als Manifestationsweisen des Absoluten“33 erkennt, enthält eine nachhegelsche Aufgabe. Man kann sie mit Hans Joas’ Unterscheidung und Zusammenhang zwischen einer bestimmten Sakralisierung und deren Interpretationen34 wie folgt formulieren: Die Sakralisierung der Personalität schließt deren verfassungs- und rechtsstaatlichen Schutz ein und kann religiös und areligiös auf verschiedene Weisen interpretiert werden.35 Gleichwohl muss öffentlich den verschiedenen Interpretationen gemeinsam sein, dass ihre geteilte Sakralisierung der Personalität in ihrem öffentlichen Zusammenleben Vorrang vor der Spezifik der jeweiligen Interpretation hat. Dies richtet sich gegen „Fanatismus“, den Hegel historisch verständlich an Formen religiöser Glaubensgewissheit (im § 270 der Rechtsphilosophie) erläutert, der aber auch in sich areligiös verstehenden Weltanschauungsformen auftreten kann. Zudem würde es sich nicht um eine Interpretation der Sakralisierung von Personalität handeln, enthielte sie nicht den Bezug auf ein für sie Absolutes, das sich der relativistischen Vergleichgültigung entzieht. Alle sittlichen Mitgliedschaften bedürfen in ihrer Ausübung einer solchen geistigkulturellen Haltung, Rechte und Pflichten übernehmen und sie in Gestalt von Tugenden verinnerlichen zu können. Dies vermögen nicht nur religiöse Interpretationsformen, sondern auch sich areligiös verstehende Formen von Humanismus und ökologischer Einordnung menschlichen Lebens in einen übergreifenden Naturzusammenhang zu leisten.

Der Staat als irdischer Gott (Anm. 30), 11. Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017, 435–440, 480–485. 35  Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011. 33  Siep,

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3.2. Worin besteht politisch und geistig-kulturell gesehen die Regulierungsaufgabe gegenüber der kapitalistischen Ökonomie? Für die Frage nach dem Politischen in Hegels Rechtsphilosophie, d. h. nach dem sittlichen Gesamtzusammenhang zwischen der Ökonomie, Politik und der geistigen Kultur in der Verwirklichung von Freiheit, spielte Hegels Bestimmung des Verhältnisses von Reichtum und Armut in der bürgerlichen Gesellschaft von Karl Marx an bis in die Gegenwart zu Recht eine heraus­ ragende Rolle.36 Hegels diesbezügliche Einsicht wurde aber meines Wissens auch schon zu seinen Lebzeiten von niemandem übertroffen, weil die aus ihr resultierende Kritik auf dem affirmativen Verständnis des ökonomischen Liberalismus von Adam Smith und David Ricardo beruhte, es sich also um eine Form der der bürgerlichen Gesellschaft immanenten Kritik handelt.37 In § 243 hebt Hegel das liberale Prinzip hervor, dass der bürgerlichen Gesellschaft ein Fortschreiten immanent sei, wenn man sie sich ungestört entwickeln lasse: „Wenn die bürgerliche Gesellschaft sich in ungehinderter Wirksamkeit befindet, so ist sie innerhalb ihrer selbst in fortschreitender Bevölkerung und Industrie begriffen.“ Gleichwohl führe dieses Fortschreiten, so in § 244, zu dem „Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise, die sich von selbst als die für ein Mitglied der Gesellschaft notwendige reguliert“. Das Subsistenzminimum sei, so im Zusatz zu diesem Paragraphen, unter verschiedenen Völkern „sehr verschieden“. „In England glaubt auch der Ärmste sein Recht zu haben: dies ist etwas anderes als womit in anderen Ländern die Armen zufrieden sind.“ Es geht mithin nicht nur um absolute materielle Not, sondern um relative und geistige Armut im Verhältnis zum Reichtum der anderen. Das Herabsinken unter das relative Subsistenzmaß bedeute auch Verlust „des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen“, so im § 244. Hier werde also das Grundversprechen der bürgerlichen Gesellschaft nicht gehalten. „Die Armut an sich macht keinen zum Pöbel: dieser wird erst bestimmt durch die sich mit der Armut verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw.“ Gemessen am guten Leben, das die bürgerliche Gesellschaft in ihrer abstrakten Rechtsform und Moralität verspricht, so erneut im Zusatz zu § 244, entstehe „im Pöbel das Böse, dass er die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch seine Arbeit zu finden, und doch seine Subsistenz zu finden als sein Recht anspricht.“ Damit treten diejenigen Personen (rechtlich) 36  Siehe in der Gegenwart Frank Ruda, Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Konstanz 2011. 37  Davon kann zum Beispiel in Johann Gottlieb Fichtes Der geschloßene Handelsstaat (Tübingen 1800) keine Rede sein.



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und Subjekte (moralisch), die Hegel durch Mitgliedschaften in Ständen zu integrieren versucht, in Angehörige zweier „Klassen“ auseinander, die gesellschaftlich in der „Form des Unrechts“ gegeneinander stehen. Im § 245 kommt nun Hegel auf zwei Varianten zu sprechen, in denen der Vergrößerung des Gegensatzes zwischen Reichtum und Armut entgegengewirkt werde. Variante A besteht darin, dass man aus öffentlichem Eigentum oder aus dem Privateigentum der reicheren Klasse versucht, die Subsistenz der Bedürftigen zu sichern, ohne ihnen Arbeit zu geben. Dies verstoße aber „gegen das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und das Gefühl ihrer Individuen von ihrer Selbständigkeit und Ehre“, durch die eigene Arbeit leben zu können. Variante B bestehe darin, den Bedürftigen Arbeit zu beschaffen, was aber „die Menge der Produktionen vermehrt“, ohne dass klar wäre, woher der Konsum dieses Überflusses an Produktion herkommen soll. Hegel ist sogar davon überzeigt, dass dieses Mehr an Produktionen nicht konsumiert werden kann, also ein „Überfluss“ bleibt, weil es „verhältnismäßig“ einen „Mangel“ unter den „selbst produktiven Konsumenten“ gebe. Die bestimmte Mehr-Konsumtion, die für die Konsumtion dieser Mehr-Produktion nötig wäre, muss selber erst auf andere Weise produziert werden, was offenbar für Hegel eine grundsätzliche Grenze hat, die er hier aber weder inhaltlich noch formal ausführt. In beiden Varianten werde die Produktion desjenigen Konsums unterstellt, der einmal ohne Arbeitsbeschaffung und das andere Mal mit Arbeitsbeschaffung an die Armen verteilt werde. Aber diese Produktion von Konsum gebe es „verhältnismäßig“ unter „produktiven Konsumenten“ gar nicht, was zur Vergrößerung des Gegensatzes zwischen der Reichen- und Armenklasse führe. Hegel schreibt daher zusammenfassend in dem § 245: „Es kommt hierin zum Vorschein, dass bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.“38 Dieses Vermögen war in § 199 als die Teilnahmemöglichkeit eines jeden an der „allseitigen Verschlingung der Abhängigkeit aller“ zur je eigenen Subsistenzsicherung durch Bedürfnis, Arbeit und Tausch bestimmt worden. Wenn man Hegels unausgeführtes Argument in dem Schluss des § 245 verstehen möchte, muss man offenbar berücksichtigen, wie er das Verhältnis zwischen Produktion und Konsumtion in den Verhältnissen zwischen produktiven Konsumenten begreift, um das es auch gleich in den Folgeparagraphen 246 bis 248 geht. Die bürgerliche Gesellschaft suche neue Konsumenten durch Außenhandel und Kolonisation, um ihre Über-Produktion absetzen 38  Hegel,

Grundlinien, GW 14, 1, 229.

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zu können, denn es entstehe in ihr „eine Menge, die die Befriedigung ihrer Bedürfnisse nicht durch ihre Arbeit gewinnen kann, wenn die Produktion das Bedürfnis der Konsumtion übersteigt.“ (§ 248) Schon in § 236 heißt es wieder unter ausdrücklicher Anerkennung der systemischen Selbstregulation durch den allgemeinen, durch Geld vermittelten Tauschmarkt hinausgehend: „Die verschiedenen Interessen der Produzenten und Konsumenten können in Kollision miteinander kommen, und wenn sich zwar das richtige Verhältnis im Ganzen von selbst herstellt, so bedarf die Ausgleichung auch einer über beiden stehenden mit Bewusstsein vorgenommenen Regulierung.“ Sie sei nicht nur im Sinne der Steuererhebung für gemeinsame Infrastruktur (Straßenbeleuchtung, Brückenbau, gesundheitliche Vorsorge) nötig, sondern insbesondere im Hinblick auf „die Abhängigkeit großer Industriezweige von auswärtigen Umständen und entfernten Kombinationen“ (ebd.). Diese Regulierungsaufgabe könnte man aber noch als ein zeitweiliges Ungleichgewicht von Produktion und Konsumtion verstehen, das zwar langfristig über den Tausch ausgeglichen werden würde, aber hier und jetzt nicht denjenigen Menschen hilft, deren für sie inhaltlich unersetzliches „Gewerbe zugrunde geht“, weil sie ihre je bestimmte Geschicklichkeit, ihr Kapital, ihre Anlagen und ihr Geld an es und kein anderes Gewerbe gewendet haben.39 Das politische Gemeinwesen muss hier mittelfristig helfen, indem es den schmerzlichen Übergang, der notwendig ist, abkürzt (§ 236). Die Diagnose in § 245 ist demgegenüber viel grundsätzlicher. Die Nachschrift der Hegelschen rechtsphilosophischen Vorlesung von Griesheim enthält auch das schlagende Argument: „Die Ausbildung der Gesellschaft und der Reichtum hat die Wirkung, dass die Produktion vermehrt wird, besonders geschieht dies ins Ungeheure durch die Maschinen, dies steigt in einem unendlich großen Verhältnis gegen die Bedürfnisse der Konsumtion und so findet am Ende selbst der Fleißige kein Brot.“40 Hegel vertritt den Primat der Produktion über die Konsumtion, aber dabei handelt es sich klar um die bereits industrielle Produktionsweise, die Arbeitskraft durch Maschinen ersetzt, also einen revolutionären Sprung in der Arbeitsproduktivität zustande bringt. Dies bestätigt die Lektüre des § 198, wo Hegel die Maschine als die mechanische Vergegenständlichung abstrakter Arbeit mit dem Effekt des Ersatzes menschlicher Arbeitskraft versteht, und die Lektüre des Zusatzes zu § 203 und des § 204, wo Hegel die moderne Ökonomie als selber eine Fabrik anspricht und den „Fabrikantenstand“ vom „Handwerksstand“ und dem „Handelsstand“ innerhalb des „Gewerbestands“ unterscheidet. 39  Hegel, Vorlesung über die Philosophie des Rechts. Wintersemester 1822/23. Nachschrift Heinrich Gustav Hotho, GW 26, 2, 698 f. 40  Hegel, Vorlesung über die Philosophie des Rechts. Wintersemester 1824/25. Nachschrift Karl Gustav Julius von Griesheim, GW 26, 3, 612.



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Hegel stützt sich also in der Pointe seiner Diagnose in § 245 tatsächlich auf die moderne Politische Ökonomie, die er in § 189 unter Verweis auf Adam Smith, Jean-Baptiste Say und David Ricardo angekündigt hat. Er begreift die Staatsökonomie als die Wissenschaft des Verstandes von den Notwendigkeiten inmitten der Zufälligkeiten des Systems der Bedürfnisse. Im Zusatz zu § 189 heißt es: „Es ist ein interessantes Schauspiel, wie alle Zusammenhänge hier rückwirkend sind, wie die besonderen Sphären sich gruppieren, auf andere Einfluss haben, und von ihnen ihre Beförderung und Behinderung erfahren.“ Hegel versteht unter den Sphären außer der Produktion und Konsumtion auch die Zirkulation, die dem Handelsstand obliegt und deren Vermittlung von Produktion und Konsumtion zu neuen gesellschaft­ lichen Bedürfnissen der Bequemlichkeit (was die Engländer comfortable nennen: Zusatz zu § 191) führt. Anhand von Mode und Luxus stellt Hegel eine unendliche Vervielfältigung, Spezialisierung und Verfeinerung der Bedürfnisse dar, die immer wieder von einer allgemeinen Nachahmung lebe, von der man sich dann wieder distinktiv abzusetzen suche (§ 192–194). Die Erzeugung neuer künstlicher Bedürfnisse erfolge durch entsprechende „Vorstellungen“ in der Zirkulation, auf dem Tauschmarkt selber. Hegel hatte das Primat der Produktion bereits in seiner Jenaer Geistesphilosophie von 1805/06 bei Adam Smith im Unterschied zu der Politischen Ökonomie des James Steuart erkannt und unvollständig durchgeführt. Das Begriffsnetz von Adam Smith um die Unterscheidung zwischen konkreter und abstrakter Arbeit herum anhand der Manufakturperiode bleibt in seiner Rechtsphilosophie erhalten (§ 198). Sowohl Say als auch Ricardo schließen ihre Ökonomien an die von Smith an. Aber in die Durchführung der neuen Gesellschaftlichkeit von Bedürfnissen geht nun gegenüber Jena neu Says Ökonomie ein, in die Durchführung des Primates der Produktion über die Zirkulation und Konsumtion jetzt erstmalig Ricardos Politische Ökonomie. Erst Ricardo begriff die Resultate der industriellen Revolution in einer verstetigten industriellen Produktionsweise anhand der rückwirkenden Folgen, die zur Voraussetzung der künftigen Produktions- und Reproduktionsprozesse werden. In der Nachschrift von Hegels rechtsphilosophischer Vorlesung durch Griesheim findet sich ein impliziter Verweis auf Ricardo, der deutlich über das Beispiel der Stecknadel-Produktion von Smith hinausgeht: „England würde mehrere hundert Millionen Menschen gebrauchen um die Arbeit der Maschinen zu ersetzen.“41 Hier spielt Hegel auf das berühmte Schlusskapitel von Ricardos On the Principle of Political Economy, and Taxation (London 1817) an, das von den rückwirkenden Folgen der Maschinenproduktion handelt, weshalb Ricardo 41  Ebd.,

502 f.

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teilweise selber seine Vorannahmen korrigieren musste, was er herausstellt. Es geht um die Relation von Relationen im Fortschreiten der maschinellen Produktionsweise, einerseits in der Relation zwischen Gebrauchswert (als Netto- und Brutto-Produkt) und Tauschwert (kurz: Wert)42 und andererseits in der Relation zwischen fixem Kapital (insbesondere im Maschinenanteil fixiertem Kapital) und dem zirkulierenden Kapital (insbesondere seinem Anteil in Arbeiterlöhnen). Aus Ricardos Schlussfolgerungen sind für Hegels Text direkt relevant erstens, „dass die Beweggründe für die Verwendung von Maschinen stets genügend stark sind, um deren Verwendung zu sichern, wenn sie das Nettoprodukt erhöhen, obwohl sie sowohl den Umfang der Bruttoproduktion als auch dessen Wert verringern können und häufig dies sogar müssen“, und zweitens, dass „die bei der arbeitenden Klasse herrschende Meinung, dass die Verwendung von Maschinen häufig ihren Interessen zuwiderläuft, sich nicht auf Vorurteil und Irrtum stützt, sondern mit den richtigen Prinzipien der Politischen Ökonomie vereinbar ist.“43 Die Pointe Ricardos kommt in seinem Beispiel Englands zu Geltung, wo die Nahrungsmittelproduktion viel teurer als in den USA sei, insbesondere an Arbeitskosten, was den Maschineneinsatz stimuliere. Die Nachfrage nach Arbeit werde langfristig nicht proportional mit der Vermehrung des Kapitals steigen, sondern geringer als diese ausfallen, da Arbeit durch Maschineire ersetzt werden wird. Die Nachfrage nach Arbeit werde „verhältnismäßig“ zur Kapitalvermehrung abnehmen und durch den Kapitalexport „völlig vernich­ tet“.44 Jetzt wird der politisch-ökonomische Referenzpunkt von Hegels „Verhältnismäßigkeit“ in der Relation zwischen Übermaß und Mangel in den Verhältnissen unter produktiven (nicht unproduktiven) Konsumenten (§245) verständlich. Ricardos Standpunkt ist hier der der Zukunft der industriekapitalistischen Produktionsweise, in der sie nur noch auf der Grundlage ihrer eigenen Relationen intensiv erweitert reproduziert werden kann. Sie kann dann nicht mehr von vorkapitalistischen Verhältnissen im Inland oder Auslad zehren. Auf diesem Standpunkt wird klar, dass der unproduktive Konsum Reicher und die Verschiebung des Problems auf die Kolonien keine Dauerlösung mehr für die Beschaffung neuer Arbeit anstelle der maschinell ersetzten Arbeit sein kann. Zudem seien diese Arbeiten als konkrete viel zu verschiedene, als dass man sie während der eigenen Lebenszeit durcheinander substituieren könnte (Hausdiener für Grubenarbeiter).45 42  David Ricardo, Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung, übers. u. mit einer Einleitung v. Gerhard Bondi, Berlin 1959, 386 f. 43  Ebd. 44  Ebd. 391 f. 45  Ebd. 387 f. Herzog vermutet, dass Hegel die Autoren Smith, Say und Ricardo „nicht im Original“ las, sondern „ihr Denken aus Zeitschriften oder Buchbesprechungen kennen“ lernte, da er sich nicht auf innerökonomische Fragen von Angebot und



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Am Ende sei es mir noch gestattet, auf die beiden Stellen einzugehen, die aus der Vorrede von Hegels Berliner Rechtsphilosophie am meisten und höchst streitig zitiert werden. Der berühmt-berüchtigte Satz aus der Vorrede – „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“46 – kann in keinem Falle historisch-empirisch gelesen werden. Denn er kritisiert ausdrücklich Platons Ideenlehre dafür, dass sie transzendent wurde, da sie dieses „Prinzip“ von der ihr „bevorstehenden Umwälzung der Welt“ (ebd.) noch nicht kennen konnte. Zudem wird der fragliche Satz sogleich in den Folgesätzen von seiner Interpretation durch das subjektive Bewusstsein der Eitelkeit abgegrenzt. Er sei nicht narzisstisch zu verstehen, denn das Vernünftige werde erst durch seine Verwirklichung hindurch begrifflich dazu frei, seine wesentlichen von seinen unwesentlichen Erscheinungen unterscheiden zu können. Dass also gerade dieser Satz zum Stein des Anstoßes wurde, zeigt, dass er nicht von dieser oder jener Politik handelt, sondern von dem Politischen in dem Verhältnis der Kapital-Ökonomie und der Politik zur geistig-kulturellen Hegemonie von Wissenschaften, Religionen und Künsten. Immanent einsichtsvoll ist dagegen der andere, am meisten zitierte Satz aus der Vorrede: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen“.47 Die kommenden Generationen werden sich davon lösen können, die Erfüllung in der lebendigen Gegenwart dadurch zu erleben, dass das Absolute ausgerechnet in der begrifflichen Form seiner Selbsterkenntnis erfüllt wird. Die Bedingungen der begrifflichen Erkenntnis und ihrer Realisierung differerieren von den Bedingungen, unter denen lebendige Wirklichkeit als Erfüllung gegenwärtig werden kann. Auch die Reform durch eine geistesphilosophisch formierte Hegemonie von Kultur im weiten Sinne hat ihre Zeit. Alle Widersprüche, die in ihr wirklich versöhnbar Nachfrage, den Preismechanismus, die Arbeitswertlehre und die optimale Besteuerung einlasse. Lisa Herzog, „Hegel als Denker des Marktes“, in: G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. Ludwig Siep (Klassiker Auslegen 9) Berlin/Boston 42017, 210. Sie beruft sich dabei zu Unrecht auf Norbert Waszek, The Scottish Enlighenment and Hegel’s Account (Anm. 5), der den textexegetischen Nachweis von Hegels Kenntnis der schottischen Autoren führt und Hegels Kenntnis auch von deren originalsprachlichen Zeitschriften als zusätzlichen Beleg und nicht als Ersatz für die Kenntnis von deren Hauptwerken versteht. Hegels Rechtsphilosophie kann keine innerökonomische Streitschrift sein, sondern deckt als Philosophie des Politischen die Grenzfragen zwischen Politik und Ökonomie anhand auch der Politischen Ökonomie auf. So geht Hegel mit den Hauptwerken von Smith, Say und Ricardo um, die alle nicht die heutige neoliberale Auflösung von Gesellschaft in Kapitalökonomie vertreten haben. 46  Hegel, Grundlinien, GW 14, 1, 18. 47  Ebd., 21.

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schienen, brechen dann erneut auf. Aber gerade in dem, was schon Hegels Zeit überforderte, bleibt seine Philosophie aktuell, denn sie enthält das Problem des weltgeschichtlichen Primatwechsels, d. h. das Problem des Politischen.

The Primacy of Intersubjectivity in Schleiermacher’s Dialektik By Christine Helmer 1. Circumscribing the Problem Today Schleiermacher scholars have for decades been fascinated by the topic of what Schleiermacher understands by subjectivity. American philosopher, Jacqueline Mariña, for example, has shown that Schleiermacher offers a compelling account of subjectivity that takes up Kant’s problem regarding the two bases for cognition – namely the faculty of sensibility and the faculty of representation. Where is the unity of both faculties to be located so as to secure the unity of the subject making knowledge claims? Is the unity to be located transcendentally in the unity of apperception, as Kant claimed, or in the self-positing of the I as ground of both subjectivity and world as Fichte argued? How can the ground of the self be accessed, by transcendental deduction or by intellectual intuition? Schleiermacher’s contribution to this discussion claims that subjectivity is grounded by another process. The unity of sensibility and representation is not accessible by reason that rationalizes its own ground. Rather, subjectivity is grounded in a “common root” that is available in an awareness that self and world together are grounded in a reality external to their unity.1 The feeling of absolute dependence refers the unity of self and world to a source that grounds them. As Mariña claims, “The idea of the common root thereby indicates an ‘empty space’ made possible by God, which in turn conditions the possibility of transitions in consciousness.”2 The feeling of a lack that the self grounds its receptivity and spontaneity, specifically sensation and representation, is the mode by which a self is aware that the constitution of subjectivity is referred to a source on which it is utterly dependent.3 1  Jacqueline Mariña, Transformation of the Self in the Thought of Friedrich Schleiermacher, Oxford 2008, 116–119. 2  Ibid., 120. 3  On the “lack” (Mangel am Sein), see Christiane Kranich, “Selbstbewusstsein – Nähe zum und Mangel an Sein,” in: Schleiermachers Dialektik: Die Liebe zum Wissen in Philosophie und Theologie, ed. Christine Helmer, Christiane Kranich, and Birgit Rehme-Iffert, Tübingen 2003, 275–293.

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Scholars have lauded Schleiermacher’s theory of the feeling of utter dependence as constitutive of subjectivity not only for its contribution to philosophy. Theologians too have discerned the significance of this idea for religion, theology, and ethics.4 The feeling of utter dependence as Schleiermacher specifies his notion of immediate self-consciousness in the famous §4 of Christian Faith is “piety,” or in other words a feeling that refers to the universal human capacity for religion. Subjectivity is integrally tied to religion precisely because Schleiermacher claims that piety is central to his theory of self-consciousness. The answer to the question concerning the mediation of the faculties of desire and representation, specifically willing and thinking, is given in Schleiermacher’s concept of the feeling of utter dependence. This feeling is an awareness that willing and thinking are grounded in a unity that makes them possible in sensible relations of freedom in and dependence on objects and persons. The feeling of utter dependence gives the self access, albeit through a lack, to a reality outside self and world that grounds the reality of self and world in reciprocal relations of relative freedom and dependence. The ground of subjectivity – its transitional moments of willing and thinking – is relayed by “the consciousness … of being in relation to God.”5 By 1820 Schleiermacher arrived at his understanding of the generative function of the feeling of utter dependence for both philosophy and theology. He revised his lectures on dialectic on the principle of feeling that grounds cognition of the world in a transcendent ground that unites reality and ideality, organic and intellectual functions. He published the first edition of his theological system, Christian Faith, that oriented the question of the ground to piety. Schleiermacher thus made productive use of the “common root” idea to work out his philosophical program of dialectic and his theological aim of constructing a dogmatic system on the question that had oriented his question of subjectivity in the first place. Both his philosophy and theology appropriate the central notion of immediate self-consciousness in different ways. Schleiermacher was concerned in his theology with piety that unites the disparate sensible moments of subjectivity into the self’s unity. He was preoccupied in his dialectic with the metaphysical ground for the unity of being and thinking that funds a definition of knowledge in terms of a correspondence theory of truth. Modern subjectivity is both constituted by religious feeling as well as oriented to knowledge while never possessing either. 4  See Schleiermacher, the Study of Religion, and the Future of Theology: A Transatlantic Dialogue, ed. Brent W. Sockness and Wilhelm Gräb, Berlin and New York 2010. 5  Friedrich Schleiermacher, The Christian Faith (1830/31), ed. H. R. Mackintosh and J. S. Stewart, trans. D. M. Baillie et al., Edinburgh 1999, § 4, proposition. Subsequent citations of this work are abbreviated as CF.



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Yet the preoccupation with Schleiermacher’s concept of subjectivity requires a closer look and, as I argue in this paper, a fundamental revision. Particularly in the era of #MeToo, a movement that has spread around the globe and created a new semantics of sexual abuse and misogyny, as legal scholar Catherine McKinnon argues in her recent book, Butterfly Politics,6 the usual account of subjectivity as autonomous, rational, white, and male, has come under intense and necessary scrutiny. The rational subject who thinks abstract universals without recourse to bodily affect and lived experience, who thinks alone in the splendid isolation of disembodied brilliance, has come under critical fire by feminist theologians and philosophers. This subject has been deployed to legitimate a patriarchal political, cultural, and capitalist system that is fundamentally exploitative, to the peril of people and planet. At this time and in view of this critical discussion, Schleiermacher might prove to be a generative resource in advancing a theory about the metaphysical, epistemological, and ethical dimensions of intersubjectivity.7 Schleiermacher can be mustered for a powerful argument concerning intersubjectivity as constitutive of what it means to be human. I argue in this paper that Schleiermacher’s Dialektik offers a distinctive approach to intersubjectivity by its focus on the pursuit of knowledge that takes place intersubjectively. I approach Schleiermacher to show that his Dialektik is a watershed text for understanding intersubjectivity as constitutive of the process of embodied thinking as it is oriented to knowledge and from this perspective, has the potential to inspire further conversation about how persons together make claims about a shared world. I have structured this essay in a way that reproduces the two criteria for knowledge that Schleiermacher identifies at the onset of his Dialektik, namely: 1) the correspondence between thought and reality; and 2) the identity of the production of this correspondence in the persons engaged in the inquiry into knowledge.8 Both of these criteria presuppose a theory of intersubjectivity. First, I show that Schleiermacher conceives the Dialektik as motivated by the desire to know. Desire connects embodied persons to their environment A. MacKinnon, Butterfly Politics, Cambridge, Mass. 2017. for this essay on Schleiermacher’s concept of intersubjectivity is the seminal essay by Shin-Hann Choi, “Sebstbewusstsein, Subjektivität und Intersubjektivität,” in: Schleiermachers Dialektik (note 3), 235–258. 8  “Was ein Denken zu einem Wissen macht […], das ist 1. Die Uebereinstimmung desselben mit dem ihm entsprechenden Sein, 2. Dieses, daβ das Denken geworden ist in seinem Zusammenhang mit früheren nach den Regeln der Verknüpfung.” Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Dialektik, aus Schleiermachers literarischem Nach­ lasse, hg. v. Ludwig Jonas, Berlin 1838 (Sämmtliche Werke, Abt. 3, Bd. 3, 2) § 24, footnote. 6  Catharine

7  Inspiration

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in such a way as to motivate thinking about reality. Desire for the real is integral to the process of how persons orient their thinking about the real to knowledge. Second, I develop the concept of desire according to Schleiermacher’s commitment to the reality of intersubjectivity as the location in which the process of coming to know takes place. Schleiermacher’s contribution to the concept of Dialektik consists of his retrieval of Plato’s understanding of διαλέσθαι, which means “nothing other than the art of conducting conversation.”9 From this early designation to his 1832 introduction to his lectures – the only section of the work that Schleiermacher published during his lifetime – Schleiermacher insisted that knowledge is produced intersubjectively. The desire for the other is the flipside of the desire for the real. 2. Dialectic: Desire for the Real10 Schleiermacher reported in a letter to his sister Charlotte in 1802 that the Schleiermacher family’s short stay in 1783 at Gnadenfrei, the community of the Herrnhuter Brethren, had precipitated a life-changing moment: “Here my consciousness of the relation of human beings to a higher world first arose … Here there first developed that mystical disposition which is so essential to me and has saved and sustained me under all the assaults of skepticism. Here I became a Herrnhuter of a ‘higher order’.”11 It would take Schleiermacher twenty more years to work out the full theoretical implications of this experience. Yet what is so characteristic of even the early Schleiermacher, intimated in the Soliloquies of 1800 and fully fledged in the texts after 1820, is a commitment to the real as reciprocally involved in the relations between self and world. Schleiermacher’s “realism of a higher order” involves the grounding of relations in reality between persons and objects, between persons and persons. This ground, which Schleiermacher designates as “transcendent,” precedes and grounds all relations between subject and object.12 All human thinking that is oriented to knowing works out subject-object relations that themselves are grounded in this antecedent unity. 9  “Die Dialektik […] heiβt im Grunde also weiter nichts als die Kunst, ein Ge­ spräch zu führen.” Dialektik 1822, KGA II/10, 399. 10  Cf. my article “Recovering the Real: A Case Study of Schleiermacher’s Theology,” in: The Multivalence of Biblical Texts and Theological Meanings, ed. Christine Helmer, with Charlene T. Higbe, Atlanta 2006, 161–176. 11  KGA V/5, 393. Translation mine. 12  On the use of “transcendence” to designate the ontological grounding of selfconsciousness, see Kranich, “Selbstbewusstsein” (note 3), 289 f.

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The first truth criterion that Schleiermacher outlines in the Dialektik orients the work’s first section, namely the transcendental part. Schleiermacher defines this truth criterion as follows: “the agreement between thinking and its corresponding being.”13 Yet the way Schleiermacher frames this truth criterion as the agreement between thought and being, or in my term, reality, must be distinguished from the usual contemporary philosophical definition of correspondence. The contemporary understanding has to do with a proposition’s correspondence to a state of affairs.14 A proposition identifies a state of affairs that can be tested empirically as to whether it agrees with the proposition referring to it in the first place. What Schleiermacher means by correspondence is something more systematic and, indeed, goal-oriented. Schleiermacher’s requirement extends propositional correspondence to the totality of reality. Correspondence is only achieved when the totality of knowledge corresponds to the totality of reality. Correspondence is not a one-to-one relation between a single proposition and a single state of affairs. Rather, correspondence functions to orient thinking to knowledge as correspondence. In this sense, the correspondence theory of truth is regulative, orienting the process of thinking to a goal. It sets up the entire project and history of human thinking to knowledge of the “complete concept.”15 The metaphysical realism that Schleiermacher presupposes is significant. In this regard Schleiermacher distinguishes his view of Dialektik from the main protagonists of post-Kantian Idealism, for instance Maimon, Fichte, and Reinhold, as well as the early Schelling and Hegel.16 The key question for the post-Kantians regarding the sources of knowledge had to do with the way in which sensation is related to causal influence. Schleiermacher appropriates Kant’s own causal theory of reference – evident in the B version of the Critique of Pure Reason17 – and argues that sensation presents to the human organism the effects of a cause external to the human. The claim that sensation as a source of knowledge is perceived as sheer receptivity presup13  See

footnote 8 for reference. Translation is mine. correspondence theory of truth holds when “a belief (statement, sentence, proposition, etc.) is true provided there exists a fact corresponding to it.” Paul Horwich. “Truth,” in: The Cambridge Dictionary of Philosophy, ed. Robert Audi, Cambridge 21995, 930 (929–931). 15  On this point concerning Leibniz’s complete concept, see Mariña, Transformation (note 1), 121–127. 16  On this point, see Manfred Frank, “Unendliche Annäherung”. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt/M 1998, 93–113; Andreas Arndt, “Zur Vorgeschichte des Schleiermacherschen Begriffs von Dialektik,” in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums. Festschrift für Hans-Joachim Birkner zum 60. Geburtstag, ed. Günter Meckenstock together with Joachim Ringleben, Berlin and New York 1991, 313–333. 17  On this point, see Frank, “Unendliche Annäherung” (note 16), 79–86. 14  The

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poses a type of realism. Kant himself advocated an empirical realism together with his transcendental idealism – meaning a realism in the scientific sense that attributes to objects of experience for all practical purposes space, time, and other features properly assigned to the transcendental categories. The problem with Kant’s own realism that precipitated the post-Kantian debate between realism and idealism was whether one could attribute causality, which is properly a transcendental category, to the thing-in-itself. Maimon and then most popularly Fichte, who both were early proponents of German Idealism, accused Kant of a category mistake. They tied the thing-in-itself to what they deemed was the fiction of receptivity. Receptivity is, they ascertained, a deception of the I that is, in fact, entirely spontaneous in its activity (Tat) of constructing the world in the totality of its relations. Schleiermacher’s position differs from that of his Idealist colleagues by his commitment to the bounds of Kantian critical philosophy. He distinguished between the receptivity of sensation and the activity of the understanding in conceptualizing the content of sensation. Receptivity and activity are clearly distinct feelings at a level of consciousness that itself must register causal influences from world onto self. The realist position that Schleiermacher advocates in the Dialektik drives the theory of knowledge developed in the transcendental part. The particular line of questioning Schleiermacher follows in this part concerns the quest of thinking to ground itself. This quest is itself motivated by the desire to know (das Wissenwollen). This desire drives the question of knowledge concerning being, and is itself grounded in being, namely the transcendent ground, as its presupposition.18 The movement of thinking’s attempt to ground itself that Schleiermacher charts ends up in failure, as indeed Schleiermacher intends it to be. Schleiermacher coaxes thinking to its limits in order to work out whether the limits of thinking can have any purchase on a relation to being. These limits do not reveal a concurrence between concept and being. Rather, they reveal reason’s difficulty in grounding its own activity. The desire that drives the process of thinking is grounded in the same transcendent ground that is external to both the thinking and willing self. Yet the failure results in a crucial insight. Schleiermacher cedes the realization that the thinking subject is indeed a being that thinks. Schleiermacher points out, “We carry the identity of being and thinking in ourselves; we are ourselves being and thinking, the thinking being and the being that thinks.”19 18  On the desire to know, see Birgit Rehme-Iffert, “Wahrheit und Wissen in der Dialektik Schleiermachers,” in: Schleiermachers Dialektik (note 3), 297–298. 19  “Die Identität des Seins und Denkens tragen wir aber in uns selbst, wir selbst sind Sein und Denken, das denkende Sein und das seiende Denken.” KGA II/10, 2, 553.

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The coincidence between thought and being resides precisely in the thinking subject, the subject who thinks. At this point, the coincidence refers to the feeling of a lack: the thinking being and the being who thinks is aware that it does not ground either its own activity or its own being. Rather, the feeling of the lack, as Christiane Kranich has beautifully worked out, identifies the metaphysical ground as external to thought and being, as the unity grounding them both.20 On this basis Schleiermacher works out a scheme in which the desire to know enervates and motivates the way in which persons think as they orient their thinking to knowledge. Schleiermacher’s epistemology is, so to speak, conceived on the faculty of desire that presupposes a realism “of a higher order.” The argument for this realism takes as its starting-point the oscillation between two human capacities that Schleiermacher argues constitute the entirety of the temporal modes of the self: thinking and willing. He takes over the Kantian and post-Kantian consensus regarding the two faculties informing the desire to know: the faculty of representation, as thinking, and the faculty of desire that he casts as willing. This move has two implications. First, knowledge is a process of thinking according to specific criteria outlined by consensus, and as a process, it is informed both by motivational theory and the constituent requirements for thinking that count as oriented to knowing. The second question concerns subjectivity. This question posed by the post-Kantian philosophers concerns the Grundkraft der Seele, the ground from which the two faculties of representation and desire spring. If the question is answered in terms of the ultimate transparency of subjectivity to its constituent ground, then the ground is ultimately cognizable. If the question is answered in terms of a fundamental opacity or elusiveness of subjectivity to its ground, namely that the ground of the self is ultimately shielded from the reflection of self-consciousness, then one must follow Schleiermacher’s lead in proposing another way in which the ground is registered in consciousness. The question of the transition between thinking and willing is the question concerning the constitutive element of subjectivity. The transition between thinking and willing is itself in perpetual oscillation because of the way in which Schleiermacher understands the structure of thinking. Thinking is made up of two poles, the organic and the intellectual, which are related to each other on a continuum.21 The organic pole registers sensation as an im20  See

Kranich, “Selbstbewusstsein” (note 3), 289–291. the interaction between these two poles, see my essay, “Schleiermacher’s exegetical theology and the New Testament,” in: Cambridge Companion to Schleiermacher, ed. Jacqueline Mariña, Cambridge 2005, 229–247, here 241; also Manfred 21  On

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age that it presents to the intellectual pole to be cognized by discursive reason (or predication). The organic pole is the wedge that thinking has in reality; it is through the organic pole that the reciprocity between self and world is registered. Furthermore, it is through the organic pole that predication occurs by virtue of different experiences. The lack of identity in the organic function – as contrasted with Schleiermacher’s definition of knowing as identical symbolization – drives the motivational structure of thinking. Thinking oscillates with willing as the two constitutive moments to temporal subjectivity because the different sensations from reality incite thinking’s desire to know reality. The willing function in consciousness, or in other words, the desire to know, is activated in part by the organic function. We will see in the next section how this activation entails conversation with others, and thereby intersubjectivity. At this point, however, Schleiermacher’s account of subjectivity already connects the human self to the external world through the organic function that registers activation by the world. The continuum between organic and intellectual functions is already connected to the world in reciprocal relations of freedom and dependence. What drives the desire to know is already the aspect of sensible self-consciousness that is connected to and reciprocally related to the world. It is relative and perspectival. The activation of concept formation begins with the organic function. As French philosopher Christian Berner summarizes, “The self’s perspective onto both the existing world that exists outside the self and the self’s system of concepts has its origin in the self’s organic affections.”22 Self-consciousness in its activities of thinking and willing is unable to ground itself. Once this inability is realized – Schleiermacher concedes this point towards the end of the transcendental part of the Dialektik – a new path must be charted. The mediating point of the transitions between thinking and willing is the self, where thinking is merged with being. This mediating activity is, however, not perpetuated by the self. It is precisely the self that is unable to account for the mediation of the transitions. The transition is, as Schleiermacher argues, located external to the self as its transcendent source. As transcendent source, it cannot be experienced; as transcendental source it cannot be cognized. Rather it is posited in immediate self-consciousness as the feeling of the incapacity of consciousness to ground its own subjectivity. In the terms of the Dialektik, this lack is felt in immediate Frank, “Einleitung des Herausgebers,” in: Friedrich Schleiermacher, Dialektik, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt/M 2001, vol. 1, 10–136, here 48–49. 22  Christian Berner, “Das Werden des Wissens: Zur Aufgabe des Denkens in Schleiermachers Dialektik,” in: Schleiermachers Dialektik (note 3), 124. Translation mine.

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self-consciousness; in Christian Faith, this lack is felt as the negation of absolute freedom in the world that refers to a “Whence” of the feeling of utter dependence.23 In epistemological terms, the “realism of a higher order” is registered in feeling. Schleiermacher’s epistemology of desire is a desire to know the real. The Dialektik is first and foremost a text about the production of knowledge, specifically scientific knowledge. It addresses how human thinkers produce knowledge about reality, and why knowledge has to do with the way in which concepts correspond to reality. The work’s central preoccupation is how the processes of thinking are transcendentally grounded and regulated by the idea of knowledge in such a way as to give rise to particular discursive practices oriented to the goal of correspondence between thought and reality. While much of the Dialektik focuses on the question of the ground of knowledge, it makes claims about humans as “thinking beings and beings that think,” and thereby addresses how subjectivity is part and parcel of the question of how thinking arises and takes place. I have introduced the way in which subjectivity entails intersubjectivity in the process of thinking. Subjectivity is reciprocally related to the world through relations of relative freedom and dependence. Subjectivity entails those relations as they are sensed and cognized by the thinking subject. Because the thinking subject is metaphysically oriented to reality, the desire for the real motivates the desire to know. Yet this process presupposes a notion of subjectivity that already entails relations to reality. The first part of the Dialektik offers clues to show just how the subject who desires to know is already connected to an external world, and how the desire to know, activated by the organic function, discloses indeed a connection to other subjects. How the desire to know presupposes intersubjectivity as the context in which thinking is actualized and rendered discursive is the theme of the next section. The Dialektik is not merely a theory of knowledge, but a theory of the praxis of knowledge.24 The desire for the real includes the desire to know together, in community. 3. Dialogue: Desire for the Other The second requirement for knowledge that Schleiermacher identifies has to do with the way knowledge is intersubjectively produced. Schleiermacher’s criterion in the Jonas edition of the Dialektik is the following: “That 23  See

CF § 4, 4. compelling claim is made by Choi, “Sebstbewusstsein, Subjektivität und Intersubjektivität” (note 7), 250. 24  This

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thinking has come about in systematic relation to thinking previously attained according to the rules governing how elements are connected to each other.”25 This claim is to be first understood in relation to how Schleiermacher categorizes knowledge in his philosophical ethics. Knowledge, as he claims is “identical symbolization.” By symbolization, Schleiermacher means the particular “ethical” relation between nature and reason as the two metaphysical constituents of reality. In symbolization, reason is intertwined with nature in such a way as to make nature its “symbol.” Reason is the tool by which nature is made intelligible (e. g. the laws of physics). Symbolization in other words is the way in which being has come to be appropriated and shaped by conceptual thinking.26 The identity of symbolization refers to the sameness by which this process of conceptualization occurs amid difference. If difference is posited by virtue of differences in the organic function, identity is required whereby difference is accounted for and integrated into conceptualization. One reason for Schleiermacher’s second requirement is to exclude the possibility of fluke or fantasy from knowledge. The other reason is the negotiation of intersubjective differences in the common pursuit of knowledge. Schleiermacher conceives the desire to know in the Dialektik with an eye to the empirical sciences. Appeals to examples from biology and physics to illustrate concept formation demonstrate Schleiermacher’s interest in producing knowledge about the real world. Yet what about the humanities, or specifically the study of religion? In these disciplines access to the real is inevitably conceptualized by discourse. When discussing claims about historical events, Luther’s Thesenanschlag from 1517, for example, the question of knowledge concerns both the intersubjective access to real events as transmitted through historical texts and persons and ways in which different historians or theologians interpret these events. The subject matter of the humanities – history and religion are two of Schleiermacher’s interests27 – is not for the most part given in sensation but is already shaped by communication. The subject matter of history and religion is available as the communication about “something.” To illustrate the intersubjective primacy of the production of knowledge, I turn to an example from Schleiermacher’s Christian theology, namely the intersubjective theological discussion of the person and work of Christ. I aim to reconstruct an account on the basis of 25  “2. Dieses, daß das Denken geworden ist in seinem Zusammenhang mit früheren nach den Regeln der Verknüpfung.” See footnote 8. 26  On Schleiermacher’s philosophical ethics, see Frederick C. Beiser, “Schleiermacher’s ethics,” in Cambridge Companion to Schleiermacher (note 21), 53–72. 27  Schleiermacher was a professor of New Testament and Dogmatic Theology in the faculty of theology at the Berlin-University (later Friedrich-Wilhelm-University, today Humboldt-University).



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the Dialektik by which intersubjectivity is the medium in which experiences of Christ are conceptualized and then become the basis for the history of Christological concept formation. If Christian theologians have the production of knowledge about the religious figure of Jesus of Nazareth as their aim, then they are both working with intersubjective experiences of this figure and conceptualizing these experiences as they are communicated in language. A reconstruction of Schleiermacher’s account of religious experience reveals the hermeneutical conditions already there in experience for subsequent theological articulation. The hermeneutical continuity between religious experience and theology is an imperative in Schleiermacher’s system because, for Schleiermacher, experience is the way by which predicates come to be associated with their corresponding subject term. Any reflection on experience, whether ordinary or academic, reveals the same structure of thinking that determines a subject term by the predicates gleaned from experience. For example: “The emerald shines” is a proposition in which the subject term is determined according to the predicate, “to shine,” that it entails. Predicates are gleaned from experience and the ensuing reflection on the judgment of predication takes the form “S is P.” The experience-predication continuum is the condition under which thinking takes place, even the most minimal reflection in theology. In Schleiermacher’s case, a post-Kantian Protestant, Christian experience is concentrated solely on the historical person of Jesus of Nazareth. The account stipulates how Jesus is available for experience in both his antemortem and his postmortem states.28 The commitment to the continuity of experience is simultaneously exegetical and soteriological. Schleiermacher acknowledges that the New Testament has two descriptions of Jesus’ appearing, a “bodily” presence in his antemortem state and a “spiritual” presence in his postmortem state that is in continuity with experiences of Jesus in the Christian Church. Yet the New Testament and subsequent theological reflection on both states admit a decisive commonality. Every experience with Jesus is personal and each results in a transformation. The transformation in the stories circulated by the New Testament and in the preaching of the Church is so oriented to a decisive enhancement of life that it evokes a predication. The New Testament, for example, abounds with titles for Jesus that are evocations of the transformation Jesus has effected. He is the good shepherd, the perfect sacrifice, the healer, the crucified one, “the Messiah, the Son of the 28  For more detailed account of this reconstruction of how Christological discussion arises from experiences of Jesus of Nazareth, see my article, “Schleiermacher,” in: The Blackwell Companion to Nineteenth-Century Theology, ed. David Fergusson, Edinburgh 2010, 31–57.

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living God!” as Peter exclaims in Matthew 16:16.29 Even Jesus’ dying breath on the cross elicits the outburst from the Roman centurion, “Truly, this man was God’s Son!” (Mark 15:39). The experience of particular transformation becomes the predicate that is then attributed to the subject term. To the same person is attributed the work. The commitment to the same subject term irrespective of type of presence is imperative for the continuity of the person as cause of his effects. Jesus Christ for Schleiermacher is, to refer to the book of Hebrews (13:8), “the same yesterday, today, and forever.” The description of the specific way in which Jesus becomes available for experience is one that gives Schleiermacher some difficulty. It is after all a key problem in Christian theology to describe the identity between Christ’s presence and the historical and cultural conditions under which this presence takes place as well as the particular kind of presence that must be distinct from these conditions. It is this quest for the “real” as the subject matter of religious studies and theology that continues to haunt both disciplines. For example, the real presence of Christ in earthly “stuff” of bread and wine is a theological identity and distinction that continues to invoke metaphysical and historical difficulties. Schleiermacher’s own Protestantism limits his understanding of Christ’s presence as it is evoked by the church’s preaching. Jesus’ postmortem spiritual presence is available as it is “circulated” in the community of Christians. Schleiermacher claims, along with Paul in Romans 7, that Jesus is the church’s “communal property” and as such is circulated by communication.30 Preaching renders the spiritual presence of Christ present to those who hear, so that a transformative encounter takes place through the experience of the “total impression” of this person. This specific mode of Jesus’ givenness is intersubjectively constituted; Jesus’ spiritual presence cannot be separated from the intersubjective occasion of preaching. Yet by virtue of the transformation that occurs by this “total impression,” the experience evokes predication that attributes transformative effect to a cause. For Schleiermacher, the cause is part and parcel of the matrix of intersubjectivity; Christ is circulated through the church’s activities. Yet Christ as cause of transformative effect is distinguished from the church. The church is characterized by corporate sin and guilt. The effect of transformation is a function of a cause external to the system of sin and guilt. Predication is constant throughout the Christian tradition by virtue of a consensus that this predication to a subject term is distinct from the church. Here Schleiermacher calls the experience that evokes such predication “mystical.” He writes in Chris29  Citations from the Christian Bible are taken from the New Revised Standard Version in The New Oxford Annotated Bible (New York: Oxford University Press, 1991). 30  A key reference in CF § 14, 1.

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tian Faith: “Now such a presentation of the redeeming activity of Christ as has been given here, which exhibits it as the establishment of a new life common to Him and us (original in Him, in us new and derived), is usually called by those who have not had the experience, ‘mystical’.”31 This mysticism denotes the particular determined sense of how a religious object is given under the intersubjective conditions of history and culture, while simultaneously distinct from those conditions. This account of predication evoked by a mystical experience entails one more element. This is the psychological condition involved in producing the experience of a religious object under the conditions of human intersubjectivity. The psychological element is precisely the hinge on which the movement from experience to predication turns, and it is the reverse as well: the hinge on which predication evokes the object of experience that is also the object of predication. The production of intersubjectivity is constituted by the psychological dynamic of “revelation,” though Schleiermacher does not use this term in the usual theological sense of the word.32 Revelation is a psychological drive, as Schleiermacher explains, to externalize the “inner” on the “outer.” In Christian Faith, Schleiermacher claims the following: “Fellowship, then, is demanded by the consciousness of kind which dwells in every man, and which finds its satisfaction only when he steps forth beyond the limits of his own personality and takes up the facts of other personalities into his own. It is accomplished through the fact that everything inwards becomes, at a certain point of its strength or maturity, an outward too, and, as such, perceptible to others … [and] becomes an outward, originally and without any definite aim or pertinence, by means of facial expression, gesture, tones, and (indirectly) words; and so becomes to other people a revelation of the inward.”33 The inner is the psychological fact of consciousness that can be either an experiential content or the way in which the content has been filtered through the subject-object dyad of reflective consciousness. Either way, the intensionality, meaning the referentiality, of experience or object is a psychological fact. What motivates the human person to externalize this fact in gestures or words is a fundamental anthropological awareness, the “consciousness of kind,” that admits the co-constitution of subjectivity with intersubjectivity. This consciousness is Schleiermacher’s fundamental-ontological description of basic human openness to others that is itself the product of many early years of wrestling with Kant’s and Leibniz’s notion of individual substances. The resulting account of “monads with windows” – the key appropriation of Leibniz in the early Soliloquies of 1800 as 31  CF

§ 100, 3. revelation as a concept in philosophical theology, see CF § 2. 33  CF § 6, 2. 32  On

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a development beyond Kant’s noumenal subject – is Schleiermacher’s understanding of monadic individuals in reciprocal relations to each other as well as to the “world.”34 Humans are individual monads with reciprocal relationships to the world that are necessitated by a fundamental co-originality of self-consciousness with consciousness of kind. Revelation constitutes intersubjectivity. I have shown by using a theological example – Schleiermacher was, of course, a theologian – of how intersubjectivity is constitutive of the process of conceptualizing experiences of Jesus of Nazareth in such a way as to participate in the concept formation that is at the root of the history of Christianity. Religious experiences of Jesus’ person are available in intersubjective relation – either face-to-face, as is the case in Jesus’ antemortem existence or in the church’s proclamation, as is the case in Jesus’ postmortem life. Intersubjective experience is conceptualized and then articulated in faith statements having the structure “S is P,” or specifically “Jesus is the Christ.” The conceptualization of experience in the form of predication is articulated in language. The externalization of the psychological fact of consciousness is intensional in its predication; any judgment refers the subject term to the reality from which its predicates are gleaned. Historians and theologians can speak about their objects in such a way that the judgments refer to the reality of their corresponding objects while simultaneously encapsulating that reality as it is given in interpretation. The objects of history and religion are distinct from the judgments about them, yet as judgments are made about them, they are given under psychological and intersubjective conditions. Knowledge about the real is produced under the conditions of thinking that structures the real in the interpretation of a subject-predicate judgment. As such then, the reality to which the judgment refers is revealed to others for disagreement, for further determination, or for the termination of the controversy that compels predication in the first place. The desire to know (Wissenwollen) motivates the ongoing process of producing knowledge about the real as that real is experienced and as it can be tested by others. 4. Dialogue: Convergence Between Desire for the Real and Desire for the Other Schleiermacher’s epistemology of desire has implications for the primacy of intersubjectivity. This connection is primarily evident in the way Schleiermacher connects both criteria for knowledge, namely correspondence and identity of production. Both are to be taken together – correspondence is the goal of a process of knowledge production in history that involves intersub34  See

Mariña, Transformation (note 1), 125.



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jective conversation. Conversation is the medium for testing out distinct perspectives and for working out how predicates can be attributed of subjects in ways that are regulated by the rules of connection (Verknüpfung). These rules themselves become evident through conversation. They are not determined in advance, but become apparent as interlocutors discuss and debate differences of predication. Schleiermacher offers a metaphysical explanation for the rules, namely the transcendent ground. Identity is posited transcendentally, while difference is negotiated intersubjectively. The desire for knowledge of the real is embedded in the desire for the other in order to negotiate differences and test out theories of how identity can be achieved in knowledge production. Significant for an account of knowledge production in the humanities is the intersubjective access to the real that becomes the subject matter for epistemological scrutiny.35 The intensely human conception of the Dialektik shows just how grounded in reality, both environmental and interpersonal, the production of knowledge is. The organic function that is responsible for difference is precisely the function of reason that compels the desire to know at all. This function that binds the individual to its own perspective is precisely the function that holds the individual in reality; psychological intensionality is both informed by the object of experience and it situates the referent of predication in such a way that it is simultaneously hooked into the intersubjective context of experience and predication. The connection in Schleiermacher’s Dialektik between reality and intersubjectivity follows the course of dialogue in the production of knowledge. The resolution then to the problem of knowledge is one that takes seriously the dialogical procedure to facilitate and regulate the production of knowledge. The Dialektik is supported by the ethical mandate to render dialogical conditions optimal and to guarantee that the production of knowledge is compelled by the dual desire of the real and the desire of the other. Schleiermacher takes this mandate seriously. Without it, knowledge would be tainted by the will to power, the real distorted by falsity, and the anthropological conditions for being human would be falsified. Dialogue is constituted by factors that are oriented to the real in spite of cognitive limitation and dialogical failures. The ethical mandate aims to carefully preserve those factors in order that the real is not destroyed and the other is not dehuman35  In this sense I disagree with Shin-Hann Choi’s claim that self-consciousness is the place at which an original language (Ursprache) asserts itself, so that one can understand self-consciousness is already constituted by subjectivity and intersubjectivity, “and this before all objects given with consciousness’s relation to the world as the content is mediated to consciousness.” Choi, “Selbstbewusstsein” (note 7), 244. Italics in original and translation mine. My claim is that both intersubjectivity and the consciousness of the real are simultaneously connected to subjectivity.

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ized. Dialogue is the exercise of being human under conditions of the real and intersubjectivity that constitute being human in the first place. The upshot of the dual connection between the real and intersubjectivity as they play into the dialogue between human persons embarked on a common path to knowing is precisely the relation to the world. Schleiermacher’s theory of subjectivity implies intersubjectivity, and thereby solves the problem of the “infinite regress” of a solipsistically conceived theory of selfconsciousness.36 The praxis of knowledge through intersubjectivity aims to negotiate disagreement between different kinds of predication that are rooted in differences in the organic function. Motivated by the desire to know the real, they desire to overcome limits of personality in conversation. As interlocutors embark together on a path of knowledge, they inherit a history of concept formation that already has arrived at some predications the truth or falsity of which perpetually needs to be critically determined. They agree to be oriented toward a construction of aspects of the real in conceptual thought, aiming at the complete concept but never attaining it. Their discussion thus structured and informed aims to produce a world. Because the world is only given in sensible self-consciousness, it is restricted. But in conversation restrictions are challenged by comparisons with others. Intersubjectivity opens to a shared world that is mutually informed by new predications and perspectives. This world is, however, always revisable. Schleiermacher’s conversation model presupposes the finitude of subjects and the finitude of conversations, reaching in best cases a tentative agreement, only to be followed up by questions and critical reflections that inspire more conversation. The world becomes only as big as, or as small as, those who are part of the conversation. 5. Schleiermacher for Today? In contemporary times, when what it means to be intersubjective is challenged by walls and borders, exclusions and prejudices, Schleiermacher’s theory of the intersubjective praxis of knowledge offers a timely alternative. In an age of division, in which those in power refuse to understand what it means to live on the other side of the color or gender or class line, in which partisanship has erected ideologies that require uncritical obedience, Schleiermacher’s vision of how the intersubjective pursuit of knowledge presents a model that may just be central to our survival as a human species. Schleiermacher’s commitment to intersubjectivity involves the desire for the real and the desire for the other. This dual desire can be severely re36  On

this achievement, see Manfred Frank, “Einleitung” (note 21).



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stricted. The epistemological danger today is posed by the echo chambers and exclusive ontologies in which limited access to the real is determined by selective interlocutors. In these cases, the dual desires motivate the production of a limited world shared by some at the expense of others. The political and social challenge is how to deconstruct mutually exclusive ontologies for just long enough to awaken the dual desires in more inclusive directions. What it means to be human is to be social and connected to the real world. A more capacious appreciation for the real and for each other would facilitate the construction of a shared world whose reality indeed depends on the truth of an adequate construction. My aim in this essay was to reconstruct Schleiermacher’s Dialektik as a theory of the intersubjective production of a shared world on the basis of the dual desires for the real and for the other. Schleiermacher’s theory of being human in pursuit of knowledge involved a metaphysical dimension. The knowledge of the world is achieved through conversation between interlocutors who are oriented to the real in distinct ways, yet are interested in overcoming their perspectival restrictions through a common interest in comparison of perspectives. Through the process of constructing knowledge through conversation, interlocutors work out differences in predication and come to tentative agreement about the ways in which predication obtains. In the example I used from Christian theology, predication obtains by virtue of experiences of Jesus that then establishes the way in which the subject term is portrayed. In the case of Jesus, the person is portrayed through his transformative work. Theologians use this Christological rule – person as identified with work – as common ground on which differences in predication are negotiated. A shared Christian world arises as Christians believe and experience, preach and act in ways that disclose their commitments to a common world. Schleiermacher’s theory of the production of knowledge discloses his “realism of a higher order.” The desire to know is open to others through the species consciousness presupposed in and mediating intersubjectivity. Intersubjectivity is the way in which knowledge about the real is produced. The praxis of knowledge is simultaneously the praxis of being human that involves a specific orientation to the real. People together construct the world. Restrictions in the practice of being human foreclose intersubjective possibilities that limit perspectives of the real. What our times show us is how fragile both intersubjectivity and the world really are. Schleiermacher’s proposal asks us to aim for a higher realism in which intersubjectivity is cultivated so that differences about the real can be discussed. A shared world is real only to the extent that humans adequately negotiate its reality. Both stand, or fail, together.

Dialektik bei Schleiermacher und Hegel1 Von Brady Bowman Im ersten Kapitel seiner Phänomenologie des Geistes kritisiert Hegel am sinnlichen Bewusstsein oder, wie er es dort nennt, an der „sinnlichen Gewißheit“, dass diese drei Gedanken gleichsam enthält, doch ohne sie zusammenzubringen. Der erste von ihnen ist der Gedanke aller Realität; d. h. der Gedanke an einen Inbegriff aller das konkrete Dasein in seiner Positivität ausmachenden, affirmativen Bestimmungen, noch ehe irgendeine negierende Tätigkeit sie berührt hat, sei es, um sie zu scheiden und zu begrenzen, sei es um einige reflektierend festzuhalten, während von anderen abstrahiert würde (vgl. GW 9, 63). Der zweite ist der Gedanke der Transzendenz; d. h. der Gedanke an ein Sein, das aller Beziehung auf Anderes entzogen ist, durch das es etwa eine Bestimmung gleichsam von außen empfangen oder erleiden könnte.2 Der dritte schließlich ist der Gedanke des Werdens; d. h. der Gedanke an einen Zusammenhang, in dem sich nichts als zugleich seiend und bestimmt identifizieren und herausheben lässt, sondern worin eine allseitige Bestimmbarkeit herrscht, die sowohl das Sein als auch die reale Bestimmtheit beständig in Frage stellt.3 Diese drei Gedanken sind dem sinnlichem Bewusstsein präsent, aber es bringt sie nicht zusammen. Zugespitzt lautet meine These, dass Schleiermacher die so geschilderte Lage des sinnlichen Bewusstseins als conditio humana verallgemeinert und akzeptiert, während sie Hegel spekulativ zu überwinden sucht. Das soll nicht heißen, Schleiermacher verbliebe etwa in demselben geistund begrifflosen Zustand, als welchen Hegel die sinnliche Gewissheit schil1  Anne Clausen möchte ich an dieser Stelle für die gleichermaßen konstruktiven wie kritischen Gespräche danken, die wir zum hier behandelten Thema geführt haben und welche das Entstehen des vorliegenden Textes in allen seinen Stadien begleitet haben. 2  Vgl. GW 9, 65: „Dieses sich erhaltende Itzt ist […] als ein bleibendes und sich erhaltendes dadurch bestimmt, daß anderes […] nicht ist. Dabey ist es eben noch so einfach als zuvor, Itzt, und in dieser Einfachheit gleichgültig gegen das, was noch bey ihm herspielt; […] es ist durch diß sein andersseyn gar nicht afficirt.“ 3  Vgl. GW 9, 67: „Itzt; es hat schon aufgehört zu seyn, indem es gezeigt wird; das Itzt, das ist, ist ein anderes, als das gezeigte, und wir sehen, daß das Itzt eben dieses ist, indem es ist, schon nicht mehr zu seyn.“

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dert. Ganz im Gegenteil: In seinen Dialektik-Vorlesungen reflektiert Schleiermacher diese Gedanken auf hohem Niveau und setzt sie formal zueinander ins Verhältnis. Aber er erkennt die Formalität ihres Verhältnisses an und sucht (vielleicht wohlweislich) nicht ihre gegenseitige Äußerlichkeit und inhaltliche Unmittelbarkeit in einer (wie es bei Hegel heißt:) immanenten Reflexion zu überwinden. Hegels weiterer Gang in der Phänomenologie ist bekannt: Auf die Betrachtung der sinnlichen Gewißheit folgt die Dialektik des Dings vieler Eigenschaften; darin tritt ein Verhältnis der Einheit und Vielheit zu Tage, welches uns gedanklich dazu zwingen soll, die starre Ontologie an sich qualifizierter Substrate zugunsten einer dynamischen Ontologie des universellen Kräftespiels zu überschreiten (GW 9, 83–85); dieses verweist hinwiederum in eine dem Spiel entzogen sein sollende übersinnliche Sphäre (GW 9, 89), in der sich nach etlichen weiteren Iterationen schließlich das vernünftige Selbstbewusstsein erkennen wird, und zwar als eine schlechthin in sich bleibende ideale Einheit, die sich kraft eines sogenannten „unendlichen Urteils“ zugleich als identisch mit einer sich schlechthin selber äußerlichen Realität weiß: „Das Seyn des Geistes [ist] ein Knochen“ (GW 9, 190).4 Schleiermacher bewegt sich auf einem begrifflichen Terrain, das trotz vieler Unterschiede im Blickwinkel und Ansatz erkennbar dasselbe ist. Seine Prädikationstheorie folgt z. B. derselben Tendenz, die Ontologie an sich qualifizierter Substrate auf eine grundlegendere Theorie dynamischer Wechselbestimmung zurückzuführen. Vor allem kennt seine Theorie der Begriffsbildung die drei eingangs betrachteten Gedanken, nämlich den des reinen, nach außen bestimmungslosen Seins, den Schleiermacher inhaltlich von dem des Inbegriffs aller Realität und alle beide wiederum vom dritten Gedanken einer von Sein und Nichtsein durchwirkten Sphäre realen Werdens unterscheidet. Im Folgenden zeichne ich das begriffliche Verhältnis nach, das Schleiermacher zwischen ihnen konstruiert, und suche zu zeigen, inwiefern vor allem gerade auch die Formalität des Verhältnisses zu würdigen sei. Dies geschieht wohl am besten, wenn man sich zunächst einmal vergegenwärtigt, wie Schleiermacher überhaupt das Verhältnis von Logik und Metaphysik versteht. Auch in dieser Hinsicht verbindet ihn mit Hegel deren gemeinsame Überzeugung von der inneren Einheit und Zusammengehörigkeit beider Disziplinen. „Logik […] ohne Metaphysik […] ist keine Wissenschaft und Metaphysik ohne Logik kann keine Gestalt gewinnen als eine willkürliche und fantastische“ KGA II/10, 1, 77) – so Schleiermacher. Ähnlich Hegel, der in der „logischen Wissenschaft“ die „eigentliche Metaphysik“ (GW 21, 4  Besonders diese in den ersten fünf Kapiteln der Phänomenologie dargestellten begrifflichen Konstellationen finden sämtlich ihre Entsprechungen in der Wissenschaft der Logik. Vgl. GW 21, 59–60; GW 11, 327–340, 359–364, 393–409.



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7 f.) erkennt und eine völlig neue Darstellungsmethode fordert, um diese Einheit wissenschaftlich zur Geltung zu bringen. Die übliche Methode, kritisiert Hegel, lasse „die Wahrheit auf die Seite“; sie sei nur dadurch zu vervollständigen, dass „der Inhalt mit in die denkende Betrachtung gezogen wird“ (GW 21, 17; vgl. KGA II/10, 2, 6). Der tiefere Grund dieser Meinung von der wissenschaftlichen Untrennbarkeit von Logik und Metaphysik liegt wiederum in dem ebenfalls von beiden Denkern geteilten Wahrheitsverständnis. Das Wissen verstehen nämlich beide im Lichte einer Identitätstheorie der Wahrheit: Wahrheit ist Identität (und nicht bloß Übereinstimmung) von Denken und Sein bzw. von gedachtem Inhalt und seiendem Sachverhalt. Wer etwas zu wissen beansprucht, setzt Identität zwischen dem gedachten Inhalt und dem darin vermeinten Sachverhalt.5 Das betonen beide gleichermaßen (vgl. KGA II/10, 2, 12 f.; GW 9, 58; GW 20, §§ 24–25). Im Falle einzelner, notwendig unvollständiger, perspektivgebundener und darum täuschungsanfälliger Erkenntnisakte gilt freilich nur „relative Identität“ (vgl. KGA II/10, 2, 12–13; KGA II/10, 1, 178 f.).6 Aber um auch nur die eigenen Gedanken im Hinblick auf ihre gegenseitige Konsistenz miteinander oder kritisch mit den Gedanken Anderer sinnvoll zu vergleichen, muss man (so Schleiermacher) die prinzipielle Möglichkeit eines einzigen in sich zusammenhängenden Systems von Erkenntnissen – Vernunft – voraussetzen, und diese kann man nicht anders denken, als dass es völlig im Sein aufgeht (vgl. KGA II/10, 2, 13). Diese Identität ist es, die Schleiermacher als das einzig „Reale und Gewisse“ gilt, ohne welches man nicht allein nicht zwischen Wissen und Nichtwissen würde unterscheiden können, sondern ohne welches man noch nicht einmal in der Lage sein würde, mit jener Unterscheidung überhaupt Sinn und Bedeutung zu verbinden: „Versucht man von dieser Identität abzugehn, so wird die Idee des Seyns und der Vernunft verlohren gehn“ (KGA II/10, 2, 13; vgl. KGA II/10, 1, 113–116).7 5  Vgl. in diesem Sinn Gottlob Frege, Logische Untersuchungen, hg. v. Günther Patzig, Göttingen 1976, 50. Während Frege selbst die Identitätstheorie ablehnt, vertritt sie hingegen der Hegel und Schleiermacher in dieser Hinsicht geistig verwandte F. H. Bradley explizit; dazu siehe Thomas Baldwin, „The Identity Theory of Truth,“ in Mind 100 (1991), 35–52. 6  Auch hier jedoch bestehen sowohl Hegel als auch Schleiermacher auf der Unmöglichkeit eines der Wahrheit gänzlich beraubten Denkens. Ohne diese Annahme entbehrte die Methode der Phänomenologie des Geistes jeglicher Grundlage (vgl. GW 9, 53). Dasselbe gilt für Schleiermacher: „Der Irrthum ist nie absolut“ (KGA II/10, 1, 60). 7  Vgl. KGA II/10, 1, 35 f.: „Gott ist kein Postulat, was gegeben werden müßte um reales Wissen wirklich zu Stande zu bringen. Man könnte gar kein reales Wissen

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Schleiermacher bringt seine identitätstheoretische Auffassung an zahlreichen Stellen der Dialektik-Vorlesung zum Ausdruck. „Das absolut höchste Sein und Denken in seiner Identität ist nicht ein bloßes Postulat sondern es ist in jedem einzelnen Act des Wissens das allein reale und gewisse“ (KGA II/10, 1, 6). Für ihn impliziert diese Identität eine durchgängige Strukturgleichheit oder Parallelismus zwischen dem Logisch-Idealen und dem Realen.8 „Ein Begriff ist ein Schweben zwischen dem Allgemeinen und Besondren“ (KGA II/10, 2, 16), hält Schleiermacher fest und folgert nach dem Grundsatz des Parallelismus: „Der Gegensaz des höheren und niederen muß also auch im Sein sich finden wie im Begriff“ (KGA II/10, 1, 35). Für Schleiermachers metaphysischen Entwurf wirkt daher seine Theorie der Begriffsbildung strukturbildend; anders herum gilt aber ebenso, dass seine metaphysischen Ansichten (etwa von der dynamischen Verfasstheit des Realen) auf seine Logik zurückwirken. Betrachten wir den soeben zitierten Satz weiter. Zwischen „Höherem“ und „Niederem“ „schwebt“ jeder Begriff deshalb, weil „das Bilden eines Begriffs“ überhaupt einen „eignen Denkact“ erfordert, wodurch eine Mehrheit verschiedener Bestimmungen als „ein Seyn, [als] eine Einheit des Seyns fixirt“ wird (KGA II/10, 2, 16). Jeder derartige Akt begrifflicher Fixierung setzt offensichtlich bereits das Vorhandensein eben jener verschiedenen, aber für sich jeweils als Einheit erfassbaren Bestimmungen – also Begriffe – voraus. Steigt das Denken zwar im Akt der begrifflichen Fixierung auf zur damit hervorgebrachten, höheren Einheit, so bleibt dieser Akt gleichwohl auf die niederen, darin vereinigten Begriffe zurückbezogen. Schleiermacher ordnet die Hierarchie der logischen Subjekte demnach so, dass ein Subjekt-Begriff desto höher steht, je reicher sein Inhalt ist, d. h. je größer die Anzahl der in ihm enthaltenen bzw. unter ihm befassten Begriffe ist. Der „Gegensaz des höheren und niederen,“ von dem Schleiermacher folgert, er müsse ebenso „auch im Sein sich finden wie im Begriff,“ bezieht sich also im begrifflichen Fall auf eine intensional geordnete Hierarchie. Schleiermacher fährt an der zitierten Stelle fort: „Den höheren Begriffen entspricht ein höheres Sein und ein wahreres weil weniger Nichtsein darin haben, oder gar kein Mittel im Einzelnen das Wissen vom Nichtwissen zu unterscheiden und die Gewißheit Gottes wäre dieselbe weil sie in der Idee des Wissens liegt. […] das Erkennen Gottes aber ist das ursprüngliche allem anderen zum Grund liegende.“ Schleiermacher schließt hier implizit an Gedanken Descartes’ und besonders auch Spinozas an (vgl. René Descartes, Œuvres, hg. v. Charles Adam und Paul Tannery, Paris 1897–1913, Bd. 7, 144; Baruch de Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, übers. u. hg. v. Wolfgang Bartuschat, Hamburg 1999, Teil 2, Lehrsätze 3, 32–35, 45). 8  Schleiermacher: „Alles Wissen setzt Parallelismus des Denkens und Seins voraus. Also auch im Sein so wie im Denken ein Hinaufsteigen“ (KGA II/10, 1, 13).



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gesezt ist. Das höchste Sein ist dasjenige welches zugleich sein Begriff ist, dasjenige unter welchem alles andere begriffen ist, wie die niederen Begriffe unter den höheren (KGA II/10, 1, 35). Den Gedanken eines Inbegriffs aller Realität bzw. eines allerreellsten Wesens gewinnt Schleiermacher, indem er aus der aufsteigenden („induktiven“: vgl. KGA II/10, 1, 48, 61, 63) Begriffsbildung ein Maximum extrapoliert. Im höchsten Begriff (dem Begriff des höchsten Seins) hört das Schweben notwendig auf, da über ihm per definitionem kein Höheres mehr steht, zu dem noch aufgestiegen werden könnte; die Bewegung gelangt an einen Reflexionspunkt, an dem sie allem Anschein nach nur aufhören kann. Der Begriff des höchsten Seins gilt Schleiermacher deshalb nicht mehr als Begriff im eigentlichen Sinn (vgl. KGA II/10, 2, 17). Obwohl er es selbst nicht so ausdrückt, dürfte man daher wohl auch sagen: Wir haben keinen eigentlichen Begriff vom allerreellsten Wesen, selbst wenn die Stelle eines solchen Begriffs in der Ordnung der Begriffsbildung gleichwohl notwendig angelegt ist. Hier lassen sich sogleich weitere Reflexionen anschließen, aus denen wir den metaphysischen Begriff der Transzendenz auf logischem Wege gewinnen. – „Den höheren Begriffen entspricht ein höheres Sein und ein wahreres“ deshalb, schreibt Schleiermacher, „weil weniger Nichtsein darin gesezt ist“ (KGA II/10, 1, 35; Hervorhebung B. B.). Was heißt das? Einen ersten Hinweis entnimmt man Schleiermachers Erklärung, das Subjekt habe „kein Maaß als die Wenigkeit des Prädicirens“ (KGA II/10, 2, 18). Je weniger es von ihm zu prädizieren gibt, desto weniger Nichtsein kann in ihm gesetzt werden. Weiteren Aufschluss über den Zusammenhang von Nichtsein und Prädikation erhalten wir, wenn wir Schleiermachers Urteilslehre befragen. Als Urteil im eigentlichen Sinn lässt Schleiermacher nämlich nur solche begrifflichen Kombinationen gelten, bei denen das Prädikat nicht bereits im Begriff des Subjekts enthalten ist. Analytische Sätze (z. B. „Das Quadrat ist ein Rechteck“) gelten daher nicht als Urteile. Sogenannte identische Sätze oder Tautologien („Das Quadrat ist ein Quadrat“) sind es erst recht nicht.9 Hieraus erklärt sich Schleiermachers Verwendung des Begriffs des Nichtseins. Soll eine Kombination aus zwei Begriffen als Urteil gelten, so muss der Prädikatbegriff aus der Sphäre geschöpft werden, die „das Nichtsein“ des Subjektbegriffs darstellt: Er muss, anders gesagt, aus der Menge der Bestimmungen stammen, die nicht bereits zum Sein des Subjekts an sich gehören, sondern ihm vermöge einer Beziehung auf Anderes erst zukommen, und in diesem Sinne also eine dem Subjekt akzidentelle oder von außen hinzukommende Bestimmung sein.

9  Diese Auffassung vom Urteil ist um 1800 nicht ungewöhnlich; Schleiermacher teilt sie jedenfalls auch mit Hegel: vgl. GW 11, 262–65; GW 12, 63; GW 20, § 166.

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Demnach bestimmt sich die Rangfolge eines logischen Subjekts nach der Anzahl der ihm subordinierten Begriffe, d. h. der Begriffe, die ihm wesentlich zukommen, im Verhältnis zur gedachten Gesamtmenge aller möglichen Prädikate. Als höchstes Sein gilt folglich nur ein solches Subjekt, „von dem nichts prädiziert werden könnte“ – ein logisches Subjekt also, zu dessen Intension alle (positiven) Bestimmungen überhaupt gehören und zu dessen Extension aus dem Grund nur ein einziger Gegenstand gehören kann, weil außer ihm keine weitere Bestimmung vorhanden ist, durch welche sich ein zweiter Gegenstand unterscheiden könnte. Galt der Begriff eines alle Realität in sich befassenden Wesens bereits aufgrund der Tatsache, dass er sich keinem höheren mehr unterordnen ließe, nur im uneigentlichen Sinn als Begriff, so erweist er sich jetzt zudem als Begriff eines nur durch sich selbst bestimmten, aber aus eben dem Grund nach außen hin unbestimmbaren Gegenstands: „Das höchste Seyn ist also das, wenn ein Subject gesetzt wird, von dem nichts prädicirt werden könnte,“ resümiert Schleiermacher; „dies ist aber der Uebergang des Urtheils in den Begriff; ein höchstes Seyn, von welchem nichts andres als sein Seyn prädicirt werden kann, also ein identisches Urtheil“ (KGA II/10, 2, 18). Erschöpft sich nach Schleiermacher das Denken im Begriff und Urteil als seinen beiden Grundformen, so muss man konstatieren, dass im Gedanken eines höchsten Wesens das Denken die Grenze erreicht, an der es sich selber aufhebt. Der Gedanke der Transzendenz, d. h. der Gedanke eines Wesens, das aller Beziehung auf Anderes entzogen ist, durch das es etwa eine Bestimmung gleichsam von außen empfangen oder erleiden könnte, ist also im logischen Sinn auch selber transzendenter Gedanke. Dennoch gilt er Schleiermacher als notwendiger Gedanke. Denn Begriff und Urteil setzen sich gegenseitig voraus. Ein Urteil im eigentlichen Sinn zu fällen, setzt eine begriffliche Einheit voraus, in welcher der Prädikat-Begriff nicht bereits analytisch enthalten ist. Einen Begriff zu fassen, bedeutet wiederum, einen durch vorangegangene Urteile vermittelten Denkakt zu vollziehen. „Wie kann denn aber,“ fragt Schleiermacher, „wenn beide sich voraussetzen, ein Wissen entstehn? Hier erscheint alles Wissen in einander verflochten, wo ist der primitive Anfangspunct?“ Seine Antwort: „Es muß eine Identität beider geben, welche die Quelle alles realen Wissens, also das absolute sein muß, und diese kann weder Begriff noch Urtheil sondern [nur] die reine Identität beider seyn“ (KGA II/10, 2, 16). Der Gedanke eines im metaphysischen Sinn transzendenten, höchsten Seins erscheint aus dieser Perspektive nicht lediglich als gleichsam progressive Extrapolation der Begriffsbildung im Aufstieg zu intensional immer höherrangigen logischen Subjekten. Auch im Versuch, gleichsam regressiv auf den „primitiven Anfangspunct“ alles realen Wissens zurückzugehen, stößt



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Schleiermacher auf den Gedanken einer Identität, in welcher der Unterschied zwischen Begriff und Urteil untergegangen ist. Wenden wir uns nun als Letztes dem Gedanken des Werdens zu, wie ihn Schleiermacher in den Dialektik-Vorlesungen entwickelt. – Erste Grundzüge von Schleiermachers Urteilslehre haben wir eben schon kennengelernt. Eine ihrer Besonderheiten liegt darin, dass sie das Augenmerk auf das Vollverb legt, anstatt sich am starren Schema „S ist P“ zu orientieren, dessen Drehund Angelpunkt die inhaltsleere Kopula bildet. Infolgedessen rückt der Unterschied zwischen transitiven und intransitiven Verben stärker in den Vordergrund, als dies seinerzeit bei konventionellen Logikdarstellungen der Fall gewesen ist. Bezeichnet also der Subjektbegriff in erster Linie das Sein des Gegenstands, so drückt das Prädikat eine besondere Modifikation oder ein Anderssein des Gegenstands aus. Ob dieses Anderssein als Zustand oder aber als Verhältnis des Tuns oder Leidens vorgestellt wird, hängt davon ab, ob das Urteil mithilfe eines intransitiven oder aber eines transitiven Prädikats gebildet wird. Auf dieser Unterscheidung zwischen transitiven und intransitiven Prädikaten beruht Schleiermachers Konzeption des vollständigen Urteils. Im Gegensatz zum logisch unvollständigen Urteil, welches den Subjektbegriff mit einem intransitiven Verb zu einem zwar grammatisch vollständigen Satz verbindet, der jedoch keine Stelle für das durch das Zeitwort implizierte Objekt des Tuns vorsieht, zeichnet sich das logisch vollständige Urteil durch seine Transitivität aus: Sowohl die durch das Zeitwort bezeichnete qualitative Relation als auch die sich dergestalt wechselseitig bestimmenden Subjekte gehen explizit in den propositionalen Gehalt ein. Das im logischen Sinne vollständige Urteil ist also nach Schleiermacher das um das transitive Vollverb strukturierte Urteil. Wenden wir nun den Grundsatz des Parallelismus an, so gelangen wir auf diesem Weg zu der entsprechenden metaphysischen These: Was in der gewöhnlichen Ansicht als wechselnde Qualitäten an starren Substraten wahrgenommen und verstanden wird, sind in Wahrheit lauter Funktionen der Beziehungen, durch welche sich die einzelnen für sich seienden Substrate wechselseitig bestimmen (vgl. KGA II/10, 1, 40 f., 67–71; 24–26). Überall dort, wo wir eine quantitative Vermehrung oder Verminderung von qualitativ gleichbleibenden Realitäten feststellen, haben wir es in Wahrheit nicht direkt mit für sich seienden Subjekten, sondern mit deren Kraftäußerungen zu tun; nicht direkt mit der Substanz, sondern mit der Wechselwirkung (KGA II/10, 1, 56). Den Prädikat-Begriffen selbst schließlich schreibt Schleiermacher einen Gehalt zu, der über die diskursiv-allgemeine Repräsentation gemeinsamer Merkmale hinausgeht, zu denen wir etwa durch Vergleichung, Reflexion und Abstraktion gelangen. Ihrer kognitionspsychologischen Genese unbeschadet, stellen sie im wahrs-

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ten Sinne des Wortes das Gemeinsame an den Dingen selbst, die Punkte und Flächen, in denen sie sich berühren und ineinander übergehen: Je fundamentaler die Kraft in der Natur verwurzelt ist, desto extensiver ihre Äußerung in Raum und Zeit (KGA II/10, 1, 49 f.). Wir haben vorhin die intensionale Rangfolge der logischen Subjekte betrachtet, die sich im umgekehrten Verhältnis zu deren Extension steht: Je höher der Rang, desto größer der Inhalt, aber desto kleiner der Umfang. Bei den Prädikatbegriffen verhält es sich genau umgekehrt: „Das Prädikat wird gesetzt als etwas an einem andren seyendes; es hat also nur soviel Existenz, als es an einem andren ist, um so mehr, an je mehreren [es] ist.“ Als „die höchste Existenz“ gilt folglich ein Prädikat, „wenn es von allen [Subjekten] prädicirt werden kann“ (KGA II/10, 2, 18). Die „höchste Existenz“ wird offenkundig durch denselben Begriff ausgedrückt, welches zur Bezeichnung des höchsten Wesens dient – nämlich das Sein – aber in der prädikativen Stellung erhält er einen völlig veränderten Sinn. Bezeichnet das „Sein“ in Subjekt-Stellung ein Wesen, das vollständig und vollkommen durch sich selbst bestimmt und daher extern unbestimmbar ist, bezeichnet es in prädikativer Stellung ein für sich genommen innerlich bestimmungs- und in dem Sinn wesenloses Tun, die reine Äußerung. Aus der veränderten, nämlich existentiellen Bedeutung des prädikativen Seins ergibt sich eine metaphysisch bedeutsame Folge für den Status der gesamten Sphäre wesentlich bestimmbarer Gegenstände: „Kann das Prädicat von allen prädicirt werden, so setzt man auch nur Subjecte, die selbst wieder Prädicate sind, selbst wieder an allen seyn können. Dies sind die beiden Enden des Urtheils […]. Diese sind also 1) das absolute Seyn, wovon nichts prädicirt werden kann als sein seyn; 2) das absolute Prädiciren, nach dem jedes Subject nur relativ Subject ist, auch Prädicat seyn kann“ (KGA II/10, 2, 18). Bewegt man sich in der Begriffsordnung von der höchsten Existenz abwärts, so trifft man überall nur auf solche Subjekte, die zwar als Kraftäußerung auf eine ihnen zugrundeliegende, substantielle Ursache verweisen, die aber andererseits ihre eigentliche Wirklichkeit allein in den von ihnen hervorgebrachten, unter ihnen befassten und daher mit ihnen gleichnamigen Arten finden, als deren Prädikate sie dienen. Gelangten wir auf der Spitze der aufsteigenden Ordnung der Subjektbegriffe zum identischen Satz: „Das Sein ist Sein,“ gelangen wir am entgegengesetzten Extrem der absteigenden Ordnung der Prädikate zum Widerspruch: „Das Sein ist das Nichtsein.“ Schleiermacher fasst pointiert zusammen: „Die Begriffbildung endete in einem unbestimmten, weil es nur durch unendliches Urtheilen zum Begriff werden konnte. Das identische Ende des Urtheils [ist], daß jedes gleich sehr Subject und Prädicat ist, also kein Seyn für sich hat,



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Identität des Seyns und Nichtseyns [ist], also kann kein Subject als bestehendes fixirt werden (was man im Gegensatz des Seyns Werden nennt)“ (KGA II/10, 2, 19; Hervorhebung B. B.).10 Standen sich logisches Subjekt und Prädikat zunächst als seiendes Substrat und negierende (das Nichtsein setzende) Tätigkeit11 starr gegenüber, so beginnen die Bestimmungen sich hier scheinbar zu verwirren und ineinander überzugehen. Wie Schleiermacher selbst im zitieren Passus hervorhebt, finden wir hier eben die Sphäre des Werdens gesetzt, in der sich nichts als zugleich seiend und bestimmt identifizieren und herausheben lässt, sondern worin eine allseitige Bestimmbarkeit herrscht, die sowohl das Sein als auch die reale Bestimmtheit beständig in Frage stellt. (Schleiermacher betont, dass mit der ersten „Spaltung in das Ideale und Reale […] zugleich auch Zeit und Raum gesetzt“ seien (KGA II/10, 1, 18). Wir sind hier also durchaus in einem vergleichbaren begrifflichen Setting wie dem von Hegels „Sinnlicher Gewißheit“, wo die raumzeitlichen Bedingungen eine hervorragende Rolle spielen). Was aus der einen Perspektive als substantielles Sein erscheint, zeigt sich aus der anderen als Tun oder Leiden eines Anderen; was sich in der einen Hinsicht als Positives geltend macht, offenbart sich von der entgegengesetzten Seite als Privation. Nichts steht, alles fließt. Die Sphäre des eigentlichen Daseins oder der Existenz ist eine Sphäre des Übergehens und des Werdens. Ich habe nun im Umriss gezeigt, wie sich im Rahmen von Schleiermachers Dialektik-Vorlesungen die drei Gedanken des allerreellsten Wesens, der Transzendenz und des Werdens recht zwanglos ergeben und welche Relationen sich unter ihnen abzeichnen. Ich komme also auf die Beobachtung zurück, die ich eingangs aufgestellt habe, dass nämlich Schleiermacher zufrieden ist, jene drei Gedanken zwar formal zueinander ins Verhältnis zu setzen, aber sie ansonsten gewissermaßen unvermittelt nebeneinander stehen zu lassen. Was das bedeutet, lässt sich nunmehr präziser sagen, als es zu Beginn noch möglich gewesen wäre. Betrachten wir zuerst die Gedanken des allerreellsten Wesens und des Werdens. Vollzieht man die von Schleiermacher vorgestellte intensionale Ordnung der Subjekt-Begriffe nach, dann gelangt man über den Parallelismus-Grundsatz zwanglos zum Gedanken eines vollkommen durch sich selbst bestimmten und alles Nichtsein aus sich ausschließenden, allerreellsten Wesens. Das geschieht zwar um den Preis, dass sich der Begriff desselben als 10  Vgl. KGA II/10, 2, 18: „Das Urtheil beruht nun darauf, daß das Subject an sich nicht ist, was ihm als Prädicat beygelegt wird; das Subject ist also alles nicht, was von ihm prädicirt werden kann; also ist jedes Urtheil eine Identität des Seyns und des Nichtseyns, denn das Seyn ist das Subject und das Nichtseyn das Prädicat.“ 11  Vgl. KGA II/10, 1, 29: „Die Negation ist immer aufzulösen in das Ueber­gewicht des Thuns über das Sein.“

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Grenzbegriff entpuppt und das Urteil ebenfalls in der Tautologie: „Das Sein ist Sein,“ aufhebt und dadurch in sein Gegenteil, den Begriff, übergeht. Aber das ist wohl aus Schleiermachers Sicht ein gewissermaßen vorherzusehendes und gar gewolltes Ergebnis – entspricht es doch seiner tiefsten Überzeugung, die Gottheit sei „eben so gewiß unbegreiflich als ihre Erkenntniß die Basis aller Erkenntniß ist“ (KGA II/10, 1, 37). Setzt man hingegen bei der extensionalen Ordnung der Prädikat-Begriffe an, kommt man zu einem Ergebnis, welches von dem der intensionalen Betrachtung zwar abweicht, aber ohne ihm direkt zu widersprechen. Denn in seiner prädikativen Stellung erhält der Begriff des Seins den nunmehr veränderten Sinn der Existenz, des Daseins oder eigentlich vielmehr der Äußerung und des Tuns. Anstelle der vorherigen Tautologie kommt zunächst der scheinbare Widerspruch zu stehen: „Das Sein ist das Nichtsein.“ Nun soll zwar dieser Widerspruch der Sphäre des Werdens insgesamt zugrundeliegen und sie durchherrschen. Aber dafür wird er im Einzelfall durch die Unterscheidung von Hinsichten und insgesamt durch die allseitige Bewegung und Veränderung in eine Dynamik überführt, in der er anders als in der starren Bewegungslosigkeit zu existieren und reell dazusein vermag. Richten wir den Blick hingegen auf die oberste Spitze der prädikativen Begriffsordnung, vermögen wir ein ganz anderes Urteil herauszulesen: „Das Sein ist das Tun.“12 Diese Identität stellt das affirmative metaphysische Pendent zu dem vorhin eben negativ gedeuteten Ergebnis des Verschwindens von Begriff und Urteil in einer ihnen vorgeschalteten Identität. Negativ zu bewerten ist letzteres Ergebnis insofern es die „Unbegreiflichkeit“ des Absoluten bedeutet. Vergessen wir indessen nicht die affirmative Bedeutung, die Schleiermacher diesem Ergebnis ebenso zuschreibt, nämlich den „primitiven Ausgangspunkt“ allen Wissens anzuzeigen. Damit verwandt ist seine ins metaphysische Register übertragene Bedeutung der Verursachung bzw. der Schöpfung. Schleiermacher unterscheidet die bloßen Naturgesetzmäßigkeiten, nach welchen die Dinge durch gegenseitige Wechselwirkung entstehen und vergehen, deutlich von dem an die Substanz gebundene Verhältnis der Verursachung im engeren Sinn.13 Als eigentliche Ursache kann nur Seiendes auftre12  Wörtlich heißt es: „Man sieht hieraus, wie die Unterordnung […] des Seins und Thuns gegenseitig ist, und jedes bestimmte Unterordnen eine Einseitigkeit begründet. Gänzlich verschwindet diese Unterordnung in der Idee des Absoluten welches die reine Identität von Sein und Thun ist, eben wie auf der Seite des stehenden von Begriff und Gegenstand“ (KGA II/10, 1, 41). 13  Vgl. KGA II/10, 1, 42: „Wenn jede Action so aus zwei Factoren besteht so ist die Frage nach der Ursach als Einer nur die Frage nach dem andern außer dem Ding, welchem die Veränderung als Subject beigelegt wird, gelegenen Factor. Aber das We-



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ten, niemals bloßer Zustand, bloßes Akzidens. So gesehen kann aber keine der Dinge, die dem Reich des Werdens als solchem angehören, in vollgültigem Sinn eine Ursache sein, weil jedes sowohl Subjekt als auch Prädikat ist. Ursache im vollen Sinn kann also nur eines sein, das wesentlich Subjekt ist, also ein vollkommen durch sich selbst bestimmtes Seiendes. Anders als das innerhalb der Sphäre des Werdens geltenden Widerspruchs: „Das Sein ist das Nichtsein,“ hebt der am Ursprung dieser Sphäre stehende Satz „Das Sein ist das Tun“ in anderer Weise das Urteil auf, und zwar als sogenanntes unendliches Urteil. Überlegungen des Neukantianers Hermann Cohen können diesen Gedanken weiter erhellen. Cohen nimmt seinen Ausgang beim monotheistisch-religiösen Gedanken eines in seiner Einzigkeit unvergleichbaren göttlichen Seins, welches somit absolut unterschieden ist vom weltlichen Dasein, dessen Wesenszug gerade in seiner durchgängigen Relationalität und allseitigen Vergleichbarkeit liegt.14 Es liegt nahe, ein dem Erkennen dergestalt entzogenes Sein, wenn überhaupt, dann negativ zu bestimmen, und zwar vermittels der Negation eben solcher Bestimmungen, die dem Bereich des Werdens (des Daseins) angehören. An diesem negativ-theologischen Ansatz kritisiert Cohen, dass er auf einem unzureichend differenzierten Begriff der Negation beruht, der ihn daran hindert, den Unterschied zwischen der Positivität des transzendenten Seins und der Positivität im Endlichen mit hinreichender Deutlichkeit zu erfassen. Ganz anders als die Positivität im Endlichen soll nämlich die Positivität des transzendenten Seins keiner sie begrenzenden, ihr Sein modalisierenden Privation gegenüberstehen. Um diese ganz andere Positivität begrifflich zu fassen, verbindet Cohen die Verneinung mit der Privation zum sogenannten unendlichen Urteil. Als „wegweisend“ gilt ihm dabei der Satz des Maimonides, „Gott ist nicht träge.“ Der Sinn dieses seinem Gehalt nach unendlichen Urteils liegt, so Cohen, darin, nicht bloß die Privation vom Wesen Gottes auszuschließen, sondern anzuzeigen, „daß diese Ausschließung durch eine wahre, eine neue Positivität begründet, die Negation daher gänzlich entwurzelt wird“:15 „Gott ist nicht träge, das heißt: er ist der Ursprung der Aktivität. […] Die Schöpfung ist kein heterogener Begriff in oder zu seinem Sein, sondern dies gerade bedeusen dieses Dings ist nicht als Ursach zu setzen […]. Ursache, Ding worin die Action gegründet ist, ist nur die höhere Einheit und lezte das Absolute.“ Strukturell die gleiche Auffassung vertritt Hegel; daher steht in der Wissenschaft der Logik das Verhältnisse von von Kraft und Äußerung auf einem ganz anderen Blatt als dasjenige von Substantialität und Kausalität, die erst im Rahmen des Begriffs des Absoluten abgehandelt werden (vgl. GW 11, 359–64, 396–407). 14  Cohen, Hermann, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Köln 2 1959, 51. 15  Ebd., 73.

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tet sein Sein als Einzigkeit: daß das Werden in ihm mitgedacht ist“.16 Auf diese Weise verbindet Cohen den Gedanken der Einzigkeit – der gleichsam tautologischen Beziehung nur auf sich: „Ich bin, der ich bin“ (2. Mose 3,14) – mit dem Gedanken einer das Privative schöpferisch negierenden Negation, dem Gedanken eines unendlichen Urteils. Ein grundsätzlich verwandter Gedanke ist auch bei Schleiermacher leitend. Der Satz: „Das Sein ist das Tun,“ ist zwar seiner Form nach kein unendliches Urteil. Aber im Zusammenhang von Schleiermachers Logik und Metaphysik erfüllt er eine analoge Funktion. Außer nur in dem einzigen Fall des höchsten Seins bedeutet der Satz ein ineinander von Position und Privation – also die wesentliche Relationalität, Wechselbestimmtheit und Unselbständigkeit der als Knotenpunkte im Kräftespiel auftretenden, letztlich nur scheinbaren „Substrate.“ In dem einzigen Falle des allerreellsten Wesens drückt er hingegen dessen Relationslosigkeit aus – dessen reine Abscheidung in sich gegenüber aller Andersheit, die jedoch im selben Zug die Setzung eben jener äußerlich daseienden Sphäre der Relationalität, Unselbständigkeit und Wechselbestimmtheit bedeutet. Im Gegensatz zu Spinoza bedeutet dies also gerade nicht die Selbstverursachung des höchsten Seins als eines allgemeinen Naturzusammenhangs, sondern vielmehr die Setzung eines nach außen hin zwar unbegrenzten, doch seiner innerlichen Verfasstheit nach wesentlich endlichen Anderen, theologisch gesprochen: die Erschaffung der Welt. Die drei Gedanken der Transzendenz, des einheitlichen Inbegriffs der Realität und des Werdens erreicht man jeweils an den „Enden“ der von Schleiermacher erstellten begrifflichen Ordnung, wo die innerhalb der Ordnung geltenden Gegensätze zusammenfallen und in reiner Identität untergehen. Allerdings markieren sie nicht alle dasselbe Ende. Man erreicht den Inbegriff aller Realität dort, wo sich der Begriff aufhebt; das tranzendente Eine dort, wo sich das Urteil aufhebt; die als Welt daseiende Sphäre des Werdens schließlich überall dort, wo sich Sein und Nichtsein grundsätzlich nur relational, nach Stellung, Funktion oder Perspektive unterscheiden lassen. So gesehen behalten die drei Gedanken eine gewisse Unmittelbarkeit gegeneinander und je für sich. Sie sind nicht schlechthin als Momente einer einzigen sie in sich befassenden realen Einheit. Sie stellen vielmehr Fluchtpunkte dar, die nur von einem innerhalb des endlichen Denkens situierten Standpunkt aus gesichtet werden, wenn sich dieses auf seine eigenen Ausgangspunkte und auf seine Grenzen hin reflektiert. Darin liegt ein großer Unterschied zu Hegel und zum Hegelschen Konzept der Dialektik als immanenter Reflexion. Ich habe eingangs behauptet, Schleiermacher und Hegel würden beide das Wissen im Lichte einer Identitätsthe16  Ebd.,

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Dialektik bei Schleiermacher und Hegel117

orie der Wahrheit verstehen. Diese Wahrheitstheorie hat die Schwierigkeit, wenn man es so nennen will, dass sich das Erkennen in seiner Vollendung als Wissen selbst aufhebt und gleichsam vernichtet, denn in der Identität von Denken und Sein verschwindet ja gerade der Unterschied, der die notwendige Voraussetzung vom Erkennen ist, insofern dieses doch eine Relation darstellt.17 Darüber ist sich Hegel wohl im klaren. Zum Anfang seiner eigenen Wissenschaft der Logik schreibt er: „Das reine Wissen, als in diese Einheit [von Subjekt und Objekt] zusammengegangen, hat alle Beziehung auf ein Anderes und auf Vermittlung aufgehoben; es ist das Unterschiedslose; dieses Unterschiedslose hört somit selbst auf, Wissen zu sein; es ist nur einfache Unmittelbarkeit vorhanden“ (GW 21, 55). Diese „einfache Unmittelbarkeit“ heißt aber eigentlich: Sein. Und eben damit beginnt Hegels Logik: „Sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung“ (GW 21, 68). Die Schwierigkeiten dieses Anfangs sind berüchtigt. Aber sie gehören unabdingbar zu Hegels Unterfangen einer rein immanenten Ableitung aller Denkbestimmungen in einem einzigen, ununterbrochenen und in sich selbst begründeten wissenschaftlichen Gang dazu. Schleiermachers Entschluss, sowohl die identitätstheoretische Ausrichtung als auch den Anspruch an Systematizität aufrechtzuerhalten, aber dies nur im Modus einer letzlich äußerlichen Reflexion zu tun, ist bescheidener, aber vielleicht auch realistischer in der Anerkennung der Endlichkeit und unaufhebbaren Selbstäußerlichkeit des menschlichen Erkennens.

17  Vgl. Gaskin, Richard. „The Identity Theory of Truth“, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2015 Edition), Edward N. Zalta (ed.), URL = . Accessed June 4, 2016.

„Lieder ohne Worte“? Zum Verhältnis von Vokal- und Instrumentalmusik in Schleiermachers und Hegels Ästhetik Von Holden Kelm Einleitung Schleiermachers Beschäftigung mit ästhetischen Fragestellungen reicht zurück bis in seine Studentenzeit, nachhaltig geprägt wurden seine ästhetischen Überzeugungen aber in seiner Zeit als Frühromantiker, in der er im Schulterschluss mit Friedrich Schlegel Aphorismen für das Athenäum verfasste und 1799 seine Reden Über die Religion veröffentlichte. Darin entwickelt er den noch heute diskutierten Begriff der „Kunstreligion“ und schreibt einer ästhetisch gebildeten Religiosität eine entscheidende Rolle in der Überwindung der naturalistisch-reduktiven Religionsauffassung der Aufklärung zu. Die ersten Spuren eines Plans von Schleiermacher, ein eigenes Kolleg über Ästhetik durchzuführen, finden sich aber erst zum Jahresende 1816 in einem Brief an seinen Kollegen Joachim Christian Gaß. Schleiermacher schreibt aus Berlin: „[A]ber leider fehlen mir noch ganze Disziplinen, an die ich nicht kommen kann, Einleitung ins Neue Testament, Psychologie, Aesthetik. Davon bin ich noch sehr weit entfernt.“1 Bereits im Januar 1819 ist diesen Mängeln insoweit abgeholfen, als Schleiermacher im vorigen Sommer sein erstes Kolleg über Psychologie gehalten hat und nun seinem Kollegen, dem Altphilologen August Bekker, sein Ästhetikkolleg ankündigt und bei dieser Gelegenheit auch von Hegels Ankunft an der Berliner Universität berichtet: „Bei uns ist nun Hegel angekommen, und man muß sehn, wie er sich auf die Länge hält; Klagen über Unverständlichkeit werden freilich schon gehört, aber vielleicht giebt sich das. Mir ist es lieb, daß ich nun meine philosophischen Segel wenigstens einziehen kann, so bald ich will. Vor der Hand will ich nun noch im Sommer ein neues Kollegium lesen, nämlich Aesthetik; daneben soll meine Dogmatik fertig werden“.2 1  Vgl. Brief von F. Schleiermacher an Joachim Christian Gaß, vom 29. Dezember 1816 bis 2. Januar 1817, in: Friedrich Schleiermacher’s Briefwechsel mit J[oachim] Chr[istian] Gaß, Berlin 1852, 127–131, hier: 128. 2  Vgl. Brief von F. Schleiermacher an August Immanuel Bekker, vom 9. Januar 1819 bis zum 16. Januar 1819, in: Friedrich Schleiermacher, Briefwechsel mit August

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Die Entlastung seiner philosophischen Lehrtätigkeit, die Schleiermacher mit der Berufung Hegels an die Berliner Universität im Jahr 1818 kommen sah, erhoffte er sich wohl nicht nur deshalb, weil ihn andere wissenschaftliche Projekte und Kollegien stark vereinnahmten, sondern auch weil nach dem Tod Fichtes 1814 der Lehrstuhl für Philosophie vakant blieb und eine Wiederbelebung des philosophischen Lehrbetriebs – nicht zuletzt auch wegen des Weggangs vieler Studierender während der Freiheitskriege – wünschenswert war.3 Der 1811 an die Berliner Universität berufene Philosoph Karl Wilhelm Ferdinand Solger setzte sich in dieser Lage für Hegels Berufung nach Berlin ein. Im Sommersemester 1819, als Schleiermacher sein erstes Ästhetikkolleg durchführte, hielt Solger zugleich das letzte seiner sieben Berliner Kollegien über Ästhetik.4 Die durch Solgers unerwarteten Tod im Herbst 1819 entstandene Lücke in der Lehre zur Ästhetik füllte dann neben Schleiermacher vor allem Hegel mit seinen vier Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Kunst ab 1820/21. Hegel war es auch, der 1828 in seiner Rezension der Werkausgabe Solgers auf dessen ästhetische Ironiekonzeption eingeht, die er als einen Standpunkt der „absoluten Negativität“ anerkennt, wobei Hegel zugleich auch seine Kritik an den uneingelösten spekulativen Ansprüchen der (früh-)romantischen Ironiekonzeption zum Ausdruck bringt.5 Schleiermacher hielt nach seinem ersten Ästhetikkolleg 1819 noch zwei weitere (1825 und 1832/33), wobei er sich nur indirekt mit Solgers Ästhetik auseinandersetzt. In der historischen Einleitung seines letzten Kollegs geht er allerdings näher auf Hegels Ästhetik ein, und dies offenbar aufgrund des Paragraphen über die „Kunst“ im Abschnitt über den „absoluten Geist“ in Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse von 1827, aus dem er sich Ausschnitte notiert hat.6 Hegels Ästhetik wird nicht etwa als Vorstufe, sondern als die „Fortsetzung“ seiner eigenen Linie angesehen, die Schleiermacher bei Kants Kritik der Urteilskraft ansetzt und über Schillers Briefe bis zu Fichtes und Schellings ästhetischen Konzeptionen fortführt. In der Nachschrift Schweizer des Ästhetikkollegs 1832/33 heißt es Boeckh und Immanuel Bekker. 1806–1820, für die Literaturarchiv-Gesellschaft in Berlin hg. v. Heinrich Meisner, Berlin 1916, 97–103, hier: 102. 3  Vgl. Volker Gerhardt, Reinhard Mehring und Jana Rindert, Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie bis 1946, Berlin 1999, 53–55. 4  Vgl. K. W. F. Solger, Vorlesungen über Ästhetik, hg. von Giovanna Pinna, Hamburg 2017, XV. 5  Vgl. G. W. F. Hegel, Schriften und Entwürfe II (1826–1831), GW 16, 113–119. Vgl. auch Hegels anerkennende Kritik der Solgerschen Ironiekonzeption in seinem Ästhetikkolleg 1826 (GW 28, 2, 549). 6  Vgl. „Einleitung“, in: F. D. E. Schleiermacher, Ästhetik (1832/33). Über den Begriff der Kunst (1831–33), hg. v. Holden Kelm, Hamburg 2018, XXX–XXXII.



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dazu: „Bedenklich ist es, was noch in Wirksamkeit fortbesteht als Geschichtliches zu betrachten, aber als letzten Punkt muß es hier Platz finden, ich meine die Hegelsche Philosophie, worin die Kunst dem absoluten Geist zugeschrieben wird, genau verwandt mit Religion und Philosophie, d. h. zum Höchsten gehörig. Einlassen kann ich mich nicht, sondern nehme es nur als Fortsetzung unsrer Linie, so daß Hegel die Kunst auf den höchsten Punkt stellt, da sie neben den höchsten Entwicklungen der Menschen noch an die Seite gestellt ist, i. e. absolutes maximum ihrer Werthschätzung, die gedacht werden kann.“7 Obwohl er sich nicht ausführlich mit Hegels Ästhetik auseinandersetzt, teilt Schleiermacher neben der hohen Wertschätzung der Kunst auch Hegels Kritik am Naturschönen und damit die Ansicht vom geistigen Konvergenzpunkt der Kunst sowie auch Hegels Kritik an sensualistischen und formalästhetischen Ansätzen weitgehend. Jedoch ist Schleiermachers Ästhetik insgesamt mehr auf die künstlerische Produktion in ihren erkenntnistheoretischen, psychologischen und ethischen Momenten konzentriert, während der geistige Gehalt des Kunstwerks – das Ideal – weniger im Vordergrund steht und auch nicht in Hinblick auf die Selbstentwicklung des absoluten Geistes ausgelegt wird. Andererseits finden sich keine Hinweise darauf, dass Hegel Schleiermachers Ästhetik anders als vom Hörensagen bzw. aus dem Lektionskatalog der Berliner Universität gekannt hätte, vermutlich nicht nur deswegen, weil ihm dessen philosophische Grundlegung des Gefühls nicht einleuchtete bzw. zusagte, sondern auch, weil es bis 1842 keine gedruckte Fassung von Schleier­machers Ästhetik gab. Es zeugt allerdings von einer gewissen Kontinuität in der Lehre, dass mit den Berliner Ästhetikvorlesungen von Solger, Schleiermacher und Hegel im Zeitraum von 1811 bis 1832/33 eine Generation von Professoren den Studierenden nicht nur ihre unterschiedlich begründeten Philosophien der Kunst vortrugen, sondern dabei auch einige sich fortsetzende und ergänzende thematische Linien ausbildeten, die zu den Grundlinien der klassischen deutschen Ästhetik gerechnet werden können: 1. Die intensive – durch Studien antiker Poesie und moderner Antikereflexionen sowie Übersetzungstätigkeiten begleitete – Auseinandersetzung mit der (griechischen) Antike, die zu einer Grenzbestimmung und Entgegensetzung von antiker und moderner Kunst führt und aus der die Frage nach der Geschichtlichkeit nicht nur der subjektiven Anschauungsformen und Wahrnehmungsweisen, sondern auch der Kunstwerke in ihrem idealen Gehalt erwächst. 2. Der Rekurs auf die Aufklärungsästhetik und die Problematisierung des Vorbildcharakters des Naturschönen für das Kunstschöne mit der Tendenz, das Kunstschöne aufgrund seiner geistigen und schöpferischen Implikationen als höherstufig zu 7  Vgl.

Schleiermacher, Ästhetik (1832/33) (Anm. 6), 12.

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betrachten und die reine Naturnachahmung als mechanische Tätigkeit einzustufen. 3. Der kritische Anschluss an Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft, der oftmals zu einer Hervorhebung des unbedingten und selbstzweckmäßigen Charakters idealer Kunstwerke führt, mit der Folge, dass die Kunst in ihrem Selbstreflexion ermöglichenden und potenzierenden Charakter zusammen mit Religion und Philosophie zu den vollkommensten menschlichen Kulturformen gerechnet wird. Allerdings beginnen diese im Einzelnen verschieden dargelegten und begründeten Problematisierungen nicht erst mit und bei Solgers Ästhetikvorlesungen, sondern haben ihren theoretischen Nährboden vor allem in der frühromantischen Kunstkritik und der spekulativen Ästhetik Schellings. Um nähere theoretische oder begriffliche Kontinuitäten oder Brüche, implizite oder explizite Anknüpfungen und Abgrenzungen in dieser Konstellation herauszustellen, wird im Folgenden näher auf Schleiermachers Ästhetik eingegangen. Insbesondere wird dessen Musikphilosophie untersucht und in Hinblick auf Hegels Musikästhetik kontextualisiert (was in diesem Rahmen nur summarisch erfolgen kann). Schleiermacher behandelt die Musik als eine Gestalt der subjektiven Künste, womit sie eine besondere systematische Funktion erfüllt: Ist das Kunstwerk an sich ein organischer Ausdruck des Gefühls bzw. der Stimmung, so ist die Musik als die Kunst der bewegten und bewegenden Stimmung geradezu das Paradigma dieser Kunstauffassung. In dieser Stellung der Musik liegt – so die Ausgangsthese – auch der Grund dafür, warum Schleiermacher die Vokalmusik als ursprünglicher und wesentlicher einstuft als die Instrumentalmusik. Weil mit der Ästhetik auch das Geschmacksurteil angesprochen ist, wird der Beitrag zunächst in biographischer Perspektive kurz auf die musikalischen Sympathien Schleiermachers und Hegels eingehen (1). Danach wird Schleiermachers Musikphilosophie mit Blick auf die hegelsche hinsichtlich folgender Gesichtspunkte untersucht: dem Ort der Musik im System der einzelnen Künste (2), der Musik als künstlerischer Praxis (3) sowie dem Verhältnis von Vokal- und Instrumentalmusik (4). Die Ausgangsthese in komparativer Hinsicht ist, dass es zwischen Schleiermacher und Hegel deutliche Parallelen hinsichtlich der Bewertung des Verhältnisses von Vokal- und In­ strumentalmusik gibt, die jedoch nicht aus denselben systematischen Erwägungen hervorgehen, die abschließend gegenübergestellt werden (5). Als Textbasis bei Schleiermacher werden zunächst sein Kollegheft zur Ästhetik sowie einzelne (teils unveröffentlichte) Vorlesungsnachschriften von 1825 und 1832/33 herangezogen, Hegels Musikästhetik wird aufgrund seiner Geistesphilosophie erörtert, wie sie in der Enzyklopädie 1827 und 1830 vorliegt sowie anhand von Vorlesungsnachschriften der Kollegien 1820/21, 1823, 1826 und 1828/29.



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1. Musikalische Sympathien Schleiermachers und Hegels Die Singakademie zu Berlin war nicht nur der Ort, an dem Schleiermacher und Hegel 1829 die Wiederaufführung von Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion“ im Arrangement von Felix Mendelssohn-Bartholdy miterlebten; es war auch die Institution, in deren Chor Schleiermacher ab 1808 als Tenorsänger mitwirkte. Laut seinen Tageskalendern war er allein im Jahr 1809 drei bis fünf Mal monatlich in der Singakademie und besuchte darüber hinaus mehrere Opern- und Konzertaufführungen.8 Aber auch aus Schleiermachers Briefwechsel lässt sich ein reges Interesse für das musikalische Leben seiner Zeit erkennen: Seiner Briefpartnerin und Musikliebhaberin Charlotte Cummerow hatte er offenbar eine Partitur von Beethoven zugesandt, die ihm am 20. Januar 1808 darauf antwortete: „Jetzt meinen besten Dank für dies liebe Geschenk, indessen haben Sie damit doch meinen Kräften zu viel zugetraut. Ich kann mich nur jetzt noch als Geschenk von Ihnen darüber freuen. Beethoven ist gewiß (darüber bin ich mit Ihnen einig) der verdienstvollste Künstler unsrer heutigen Zeit, aber er ist auch der schwerste, und ich achte ihn zu sehr um ihn zu mishandeln.“9 Dabei dürfte Schleiermacher aufgrund seiner Bekanntschaft, seinen Begegnungen und Erfahrungen mit Musikern und Musikaufführungen auf dem Giebichensteiner Landsitz des Komponisten und Musikkritikers Johann Friedrich Reichhardt aktuelle Entwicklungen auf dem Feld der Musik kennen gelernt haben. Dort verkehrten etwa auch Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck, die als Wegbereiter der romantischen Verherrlichung der Instrumentalmusik gelten, da sie in ihr eine universelle Sprache erblickten, die den Gesang überflüssig werden lässt, eine Ansicht, die in den sogenannten „Lieder[n] ohne Worte“ von Felix Mendelssohn-Bartholdy ihren vielleicht prägnantesten Ausdruck gefunden hat. Die innere Verwandtschaft von Kunst und Religion als Weisen der Anschauung des Universums hatte Schleiermacher bereits in seinen Reden dargelegt. In der Weihnachtsfeier von 1806 wird indes deutlich, dass er insbesondere die vokale Kirchenmusik als ein Medium der christlichen Religion betrachtet und insofern die (früh-)romantische Bewunderung der Instrumentalmusik nicht teilt. Bereits Gunter Scholtz hat in seiner Habilitationsschrift darauf hingewiesen, dass Schleiermachers Einstufung der Vokalmusik auf-

8  Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Tageskalender 1809, erarbeitet von Wolfgang Virmond unter Mitarbeit von Holden Kelm, in: schleiermacher digital/Schleiermachers Tageskalender 1808–1834, hg. v. Elisabeth Blumrich, Christiane Hackel, Wolfgang Virmond, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: ­https://schleiermacher-digital.de/tageskalender/index.xql (letzter Zugriff: 26.04.2019). 9  Vgl. KGA V/10, Nr. 2613, 27.

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grund seiner Affinität zur Kirchenmusik erfolgt.10 Es ist aber wohl nicht nur sein ästhetisches, sondern auch sein kirchenpolitisches Interesse, das diese Affinität verständlich werden lässt. In seiner Rezension von Johann Friedrich Zöllners „Ideen über Nationalerziehung“ setzt sich Schleiermacher zwar für die später tatsächlich erfolgte Anbindung von Zelters Singakademie an die Berliner Akademie der Künste ein, behauptet im selben Zuge aber, nicht die Schule oder die Akademie, sondern die Kirche sei „der einzige öffentliche Wohnsitz des Gesanges“; dabei erhoffte er sich wohl auch die Etablierung von Singchören in provinzialen Kirchengemeinden.11 Im Hintergrund seines Einsatzes für die vokale Kirchenmusik steht aber auch die Wiederentdeckung der italienischen Kirchenmusik der Renaissance im ausgehenden 18. Jahrhundert, die durch die mehrstimmigen Messen von Giovanni Pierluigi da Palestrina geprägt worden war, aus denen sich der Palestrinastil gebildet hat, in dem die Verständlichkeit des gesungenen Wortes und die Ausgewogenheit einer Vokalkomposition auf allen Ebenen ihrer Struktur im Vordergrund steht. Einige Messen Palestrinas gehörten zum Repertoire des Chores der Berliner Singakademie.12 Schleiermachers Sympathie für die Kirchenmusik bedeutet jedoch nicht, dass er nicht auch kammermusikalische Aufführungen genießen und bewundern konnte.13 Es war auch diese altitalienische Kirchenmusik im Palestrinastil, die Hegel in seiner Heidelberger Zeit (1816–1818) bei den Hauskonzerten seines Kollegen Anton Thibaut kennen und zu schätzen gelernt hatte, was sich noch in seinen Berliner Ästhetikvorlesungen niederschlägt. In der Nachschrift Kehler des Kollegs 1826 etwa heißt es: „Wir meinen die einfache Harmonie, in der die große, erhabene Musik geschrieben ist: Kirchenstil, großartige alte Kirchenmusik, Palestrina usf. wie Hegel das Glück gehabt hat, eine Aufführung zu hören.“14 Allerdings steht Hegel wohl insgesamt der weltlichen Musik, vor allem der Oper, näher als der Kirchenmusik. Eine gängige Anekdote veranschaulicht dies: Hegel sei des Öfteren nach seinen anstrengenden Kollegien an der Berliner Universität in das gegenüberliegende Opernhaus geeilt, um aktuelle Aufführungen nicht zu verpassen – vor allem jene, in denen die verehrte Sängerin Anna Milder-Hauptmann auftrat. Während Opernwerke in 10  Vgl. Gunter Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie, Göttingen 1981, 26, 37, 138. 11  Vgl. ebd., 30–31. 12  Vgl. Alain Patrick Olivier, „Das Musikkapitel aus Hegels Ästhetikvorlesung 1826“, in: Hegel-Studien 33, Hamburg 1998, 16. 13  Vgl. Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie (Anm. 10), 37, 43–44. 14  Vgl. „Musik und Hauskonzerte“, in: Hegel in Berlin, Ausstellung in Berlin und Düsseldorf, Berlin 1981, 241. Vgl. G. W. F. Hegel, Philosophie der Kunst oder Ästhetik nach Hegel, im Sommer 1826, Mitschrift Friedrich Carl Hermann Vitor von Kehler, hg. v. Annemarie Gethmann-Siefert, München 2004, 195 (vgl. GW 28, 2, 840 f.).



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dem Königlichen Opernhaus auf einer europaweit anerkannten Bühne aufgeführt werden konnten, waren Konzertaufführungen etwa einer vollständigen Sinfonie Beethovens im Berlin dieser Zeit eher selten.15 Auch in Hegels Brief an seine Frau Marie aus Wien vom 29. September 1824 zeichnet sich seine Begeisterung für die Oper ab, insbesondere für die Rossinis: „Barbier von Sevilla von Rossini! zum zweitenmal; ich habe nun bereits meinen Geschmack so verdorben, dass dieser rossinische Figaro mich unendlich mehr vergnügt als Mozart’s Nozze, […] was ist das herrlich, unwiderstehlich, so daß man nicht von Wien wegkommen kann.“16 2. Zur Stellung der Musik im System der einzelnen Künste Das besondere musikalische Interesse Schleiermachers erklärt wohl bis zu einem gewissen Grad auch seine im Kolleg 1819 geäußerte Kritik an der Stellung der Musik in Schellings Ästhetik, in der der Gegensatz von bildenden und redenden Künsten den Einteilungsgrund der einzelnen Kunstformen bildet. Weil die Musik hierbei als erste Kunstform der bildenden Künste vorkommt, aber auch innerhalb der redenden besprochen wird, bemerkt Schleiermacher: „Der Ort der Musik erscheint gleich zweideutig, indem wir sie unter die bildende schwer bringen, und zur Noth auch den bloßen Ton als herabgedrükte Sprache ansehn können. […] Hier ist schon etwas Verworrenes in der Form.“17 Nebenbei bemerkt, ist es erstaunlich, wie detailliert Schleiermachers Kenntnisse von Schellings Ästhetik stellenweise sind, die ja erst 1859 gedruckt erschienen, – ob er über eine Nachschrift einer Ästhetikvorlesung von Schelling verfügt hatte, konnte bislang weder bestätigt noch widerlegt werden. Seine Ästhetik teilt Schleiermacher dann allerdings – ähnlich wie Schelling und auch wie Hegel in seinen Berliner Kollegien bis 1826 – durchgängig in zwei Hauptteile ein: Nach einer kürzeren Einleitung der historischen Entwicklung der Ästhetik folgt ein erster spekulativer Teil über die philosophischen 15  Vgl. Studien zur Musikgeschichte Berlins im frühen 19. Jahrhundert, hg. v. Karl Dalhaus, Regensburg 1980, darin: Ch.-H. Mahling, „Zum ‚Musikbetrieb‘ Berlins und seinen Institutionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, 27–285, hier: 41. 16  Vgl. Briefe von und an Hegel, Bd. 3: 1823–1831, hg. v. Johannes Hoffmeister, Berlin 1970, 64–65. 17  Vgl. Friedrich Schleiermachers Ästhetik, im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Literatur-Archiv-Gesellschaft zu Berlin nach den bisher unveröffentlichten Urschriften zum ersten Male herausgegeben von Rudolf Odebrecht, Berlin und Leipzig 1931, 137. Vgl. zu Schelling etwa die Nachschrift Schlosser von Schellings Jenaer Vorlesung über die Philosophie der Kunst von 1802/03, in: F.W.J. Schelling, Philosophie der Kunst und weitere Schriften, hg. von Christoph Binkelmann und Daniel Unger, in: ders., Historisch-kritische Ausgabe, im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Abt. II, Bd. 6, 2, 433.

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Grundlagen der Ästhetik in Hinblick auf das Naturschöne und die Ethik, und darauf ein zweiter besonderer Teil, in dem die einzelnen Künste aufgrund des im ersten Teil entwickelten Einteilungsgrundes ausführlich behandelt werden. Die Einteilung der einzelnen Künste trifft Schleiermacher aufgrund des relativen Gegensatzes von subjektiven und objektiven Künsten, wobei die subjektiven stärker von der Bewegtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins, d. h. der Stimmung ausgehen, während die objektiven darüber hinaus durch die bild- und gedankenerzeugende Phantasie vermittelt sind. In seinen drei Ästhetikkollegien bleibt die Stellung der Musik durchgehend gleich: Musik wird nach der Mimik zu den subjektiven und damit begleitenden Kunstformen gezählt und den eher objektiven bzw. bildenden Künsten Architektur, Skulptur und Malerei gegenübergestellt (ab 1832/33 tritt die schöne Gartenkunst hinzu). Ganz gleich also ob Vokal- oder Instrumentalmusik – als begleitende Kunst besteht der ästhetische Wert der Musik nicht in der freien Entfaltung ihres Materials, sondern in ihrer Bezogenheit auf andere Künste wie den Tanz, das Schauspiel und vor allem die Poesie, die als höchste, die subjektiven und objektiven Kunstformen ausgleichende erscheint. Die Bezogenheit der Musik auf die Poesie ist jedoch nicht einseitig, sondern insbesondere in der Lyrik entstehe ein „Sehnen“ – wie es in der Nachschrift Trendelenburg von 1825 heißt – nach einem Maß der intonierenden Stimme und einem lebendigen Rhythmus.18 Musik ist in Schleiermachers Ästhetik somit nicht das primäre Zentrum, von dem aus die anderen Künste ihre Bedeutung erhalten. Vielmehr steht hier die ethische Ansicht im Vordergrund, dass alle einzelnen Künste erst in ihrem wechselseitigen Zusammenwirken etwa bei weltlichen oder religiösen Festen ihre vollständige Bedeutung erlangen. Schleiermacher denkt hier etwa an die antiken panhellenischen Spiele in Olympia oder Delphi, oder auch an die christliche Weihnachtsfeier. In Hegels Ästhetik erfolgt die Entwicklung der schönen Künste, hier am Beispiel seines Kollegs 1820/21, in anderer Reihenfolge: Während die bildenden Künste (Baukunst, Skulptur und Malerei) den Anfang und die redenden Künste den Abschluss bilden, steht die Musik in einer gewissen Sonderstellung zwischen beiden. Dabei wird die Poesie ähnlich wie bei Schleiermacher (oder auch Schelling und Solger) als die höchste Kunstform betrachtet. Allerdings entwirft Hegel in den Berliner Jahren sukzessive eine Dreiteilung der besonderen Kunstformen in symbolische, klassische und romantische, die der weitgehend gleichbleibenden Abfolge der einzelnen Künste eine historische Dimension verleiht. Musik wird in diesem Rahmen als die zentrale romantische Kunstform sichtbar, die wie Malerei und die sie ablösende Poesie 18  Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Ästhetik 1825, Nachschrift F. A. Trendelenburg (Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlass F. A. Trendelenburg, Handschriftenabteilung, A 24), 82.



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als Ausdruck der christlich geprägten Subjektivität erscheint. Auch Schleiermacher deutet gelegentlich an, dass er die moderne Kunst als überwiegend subjektiv disponiert einschätzt und die antike als überwiegend objektiv – seine Einteilung nimmt diesen historischen Unterschied aber nicht auf. Die Reihe der Kunstformen bei Hegel orientiert sich an der inneren Entwicklungslogik der Geistesphilosophie, wie sie in der Enzyklopädie (1817, 1827, 1830) vorgezeichnet ist. Dabei erhalten die historisch situierten Kunstformen zugleich eine systematische Bedeutung in Hinblick auf ihre lebendige Erscheinung, ihren geistigen Gehalt und das Entsprechungsniveau von Form und Inhalt. Während bei Schleiermacher die Musik aus der in sich bewegten unmittelbaren Subjektivität hervorgeht und nahezu am Anfang der Kunstreihe steht, ist sie bei Hegel eher das Resultat einer sukzessiven Vergeistigung der Kunstformen, die ausgehend von dem orientalischen über das griechisch antike bis hin zum christlich romantischen Kunstideal erfolgt. In letzterem findet die Musik ihre Stellung nur einen Entwicklungsschritt bevor die in sich vermittelte Unmittelbarkeit des Geistes in der Poesie und mit ihr der immanente Zweck der ästhetischen Entwicklung erreicht ist. 3. Musik als künstlerische Praxis Um zu verstehen, weshalb Schleiermacher die Musik als subjektive Kunstform darlegt und wie er die Entstehung des musikalischen Kunstwerks denkt, ist zunächst daran zu erinnern, dass seine allgemeine Bestimmung der Kunst auf das „Aeußerlichwerden des Gefühls“ zurückgeht, wie es bereits in seinem Hallenser Ethikkolleg von 1805/06 heißt.19 In seiner Ästhetik wird die Kunst dann als ein „Organischwerden der Stimmung“ (1819), „freie Produktivität“ (1832/33) oder als „Selbstmanifestation des Künstlers“ (1833) erklärt, was vom produktionsästhetischen und anthropologischen Charakter der Kunstkonzeption Schleiermachers zeugt.20 Die künstlerische Praxis setzt bei Schleiermacher somit im Gefühl bzw. in der Stimmung des künstlerischen Subjekts an. Im Zentrum des Interesses steht dabei zunächst die Frage: „Was für einem Princip folgt der Mensch, wenn er unwillkührlich seine Erregung ausdrückt?“ Da ein solches Prinzip nicht unmittelbar angegeben werden könne, nimmt Schleiermacher ein Beispiel aus der Mimik und fragt: „Wie thut nun z.B ein zorniger Mensch seinen Zorn kund?“21 – Ein unwillkürliches Agieren werde dabei oftmals von der 19  Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Brouillon zur Ethik 1805, in: ders., Werke, Bd. 2, hg. v. Otto Braun und Johannes Bauer, Reprint Aalen 1981, 98. 20  Vgl. Friedrich Schleiermachers Ästhetik (Anm. 16), 54. 21  Vgl. Schleiermacher, Ästhetik 1825, Nachschrift Trendelenburg (Anm. 17), 37.

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Rede begleitet, die im Tadeln und Schimpfen auch eine Veränderung der Tonlage der Stimme zur Folge hat. Wenn aber ein reflexives Moment zwischen die Erregung und den unwillkürlichen Ausdruck tritt, setzt eine Vergegenwärtigung des erregten Zustandes ein und damit eine Mäßigung oder Sublimierung der ursprünglichen Erregung, indem etwa die geäußerten Gesten und Worte bedacht gewählt und die Tonlage und Lautstärke der Stimme abgemildert werden. Es ist dieser Begriff der Besinnung, mit dem Schleiermacher den alltäglichen Gefühlsausdruck, der nur unter bestimmten Umständen künstlerisch ist, von dem genuin künstlerischen Ausdruck etwa eines Schauspielers oder Sängers unterscheidet sowie die Kunst insgesamt als ein Gemessenes und geistig Hervorgebrachtes bestimmt. Dabei ist die Intensität, mit der die Besinnung zwischen die Erregung und die Äußerung tritt ein Indikator dafür, in welcher Form sich das Kunstwerk letztendlich manifestieren wird: Tritt die Besinnung weniger intensiv ein, so wird sich die innere Erregung stärker auf die äußeren Bewegungen des Körpers übertragen können und ein eher subjektiv geprägtes Kunstwerk, wie ein Musik- oder ein Tanzstück entstehen; je intensiver die Besinnung hingegen ist, desto eher wird das Kunstwerk durch das Eingreifen der bilder- und gedankenkombinierenden Phantasie und durch den Intellekt geprägt, wie in der Skulptur und der Poesie. Gleichwohl können auch geistige Musikstücke entstehen, wenn durch die Besinnung ein religiöses Motiv eintritt und etwa die Verhältnisse der Töne diesem Motiv in einer bestimmten Weise angeglichen werden. Schleiermacher unterscheidet drei Momente der künstlerischen Praxis. Zunächst führt jede Besinnung zu einer besonderen Stimmung, die zeitlich situativ verbundene Gefühle des Subjekts und seine objektiven Lebensverhältnisse widerspiegelt. Mit dem Gefühl bzw. der aus Gefühlen zusammengesetzten Stimmung basiert die Kunstproduktion auch auf einer zentralen Kategorie von Schleiermachers Philosophie und Theologie insgesamt. Die Musik ist deshalb bisweilen auch – prominent von Wilhelm Dilthey – als das geheime Zentrum von Schleiermachers Denken bezeichnet worden.22 Kommt es infolge von Erregung und Besinnung nicht nur zu irgend einer, sondern zu einer begeisterten Stimmung, so ist damit laut Schleiermacher der Anfang der künstlerischen Darstellung gemacht – denn ohne Begeisterung (1) würde eine Stimmung wieder verschwinden und in eine andere übergehen; mit ihr aber ist dem Künstler die Kondition gegeben, ein Kunstwerk nicht nur anzufangen, sondern auch zu vollenden. In Hinblick auf die Materialität des Kunstwerks ist die Begeisterung zunächst unspezifisch, weil sie im künstlerischen Subjekt erst einen kreativen Prozess auslösen muss, den Schleiermacher Urbildung oder Erfindung (2) nennt, durch die sich die Begeisterung auf einen bestimmten Kunstzweig begrenzt. Damit ein musika22  Vgl.

Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie (Anm. 11), 10.



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lisches Kunstwerk entsteht, muss die Begeisterung sich demnach überwiegend auf die Welt der Töne in ihren verschiedenen Klang-, Erzeugungs- und Verbindungsweisen beziehen. Den Prozess der Urbildung fasst Schleiermacher dann als einen genuin geistigen auf, in dem die eigentümliche künstlerische Konzeption entsteht, indem auf ein allgemeines Kunstideal rekurriert und das konkrete Dasein des Kunstwerks vorgebildet wird. Diese eigentliche und vollständige Erfindung des Kunstwerks sei jedoch keine creatio ex nihilo, sondern stets eine Kombination von bereits vorhandenen Elementen, wobei die Kombination keine mechanische, sondern eine nach den Regeln des „freien Spiels“ sei.23 Im Fall der Musik erfolgt demnach eine Kombination von gemessenen Tönen, bei der die musikalischen Regeln den Bewegungen der lebendigen Stimmung und des freien Spiels folgen und zu einem in sich bestimmten Ganzen komponiert werden. Aus seiner Ansicht des freien Spiels erklärt sich auch, warum Schleiermacher die Improvisation als keinen Einwand gegen seinen Begriff der Besinnung gelten lässt, weil er auch die Improvisation als eine freie Kombination bzw. Rekombination von bereits entwickelten Momenten versteht und sie insofern ein reflexives Moment enthält. Der kreative Vorgang ist aufgrund des Moments der begeisterten Stimmung auch auf die Sinne bzw. Organe bezogen, mit dem ein Kunstwerk dargestellt und rezipiert wird. Bei der Musik sind dies die Stimme und das Gehör, wobei Schleiermacher die Stimme als die „Spitze der Naturproduction“ und damit als ein ursprüngliches Musikinstrument betrachtet.24 Wie verhält es sich aber, wenn eines dieser musikalischen Organe getrübt ist? Können trotzdem große musikalische Kunstwerke entstehen? In der Vorlesungsnachschrift Bindemann des Kollegs 1825 heißt es zu dieser Frage: „Einer der größten jetzigen Componisten ist taub und dennoch componirt er. Aber er ist nicht immer taub gewesen. Die Kenner finden aber einen größeren Mangel an Regelmäßigkeit und Gefälligkeit des Gehörs. Der ursprüngliche Impuls zur Kunst hat dadurch nicht aufhören können.“25 Und an einer späteren Stelle: „Es ist ein Triumph der künstlerischen Freiheit über die arithmetischen Fesseln wenn das Ohr nicht ganz überstimmt wird. Bei den späteren Compositionen ist Beethoven in dieses Extrem hinein gerathen.“26 Hier bestätigt sich, dass Schleiermacher Beethoven als Künstler und Komponisten hoch geschätzt hat, auch kannte er offenbar die Diskussion über die Bedeutung von Beethovens Taubheit für sein Spätwerk. Schleiermacher, Ästhetik 1825, Nachschrift Trendelenburg (Anm. 17), 64. Schleiermacher, Ästhetik (1832/33) (Anm. 6), 137. 25  Vgl. Schleiermacher, Ästhetik 1825, Nachschrift Bindemann (Archiv der BBAW, Schleiermacher-Nachlass 581), 49. 26  Vgl. ebd., 181. 23  Vgl. 24  Vgl.

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Das letzte Moment der künstlerischen Praxis ist das der äußeren Darstellung (3), in der das durch die Urbildung mehr oder weniger vollendete Kunstwerk äußere Realität gewinnt und ein Einzelnes wird, wozu besondere praktische Fähigkeiten, Geschick und Talent nötig sind. Weil Schleiermacher den künstlerischen Prozess primär in das Moment der Urbildung legt, ist für ihn die musikalische Aufführung auf einem Instrument eine geringere künstlerische Leistung als die des Komponisten, der die Partitur konzipiert, wenngleich es unter diesen auch solche gäbe, die nur für das Virtuosentum besonders talentierter Instrumentalisten komponierten und insofern nicht frei produzieren. Ein Mangel der Fähigkeit zur äußeren Darstellung kann zu einer Reihe von unglücklichen Darstellungsversuchen führen, die Schleiermacher selbst erfahren zu haben scheint, wenn man die folgende Stelle aus einem Brief aus dem Jahr 1803 an Henriette Herz ernst nimmt: „Es geht mir […] mit der Poesie wie mit der Musik. Ich kann ganz göttliche Sachen innerlich nicht nur nachsingen, sondern auch componiren. So wie ich aber den Mund aufthue, möchte man, wie Du weißt, davonlaufen.“27 Allerdings gehört zu der äußeren Ausführung des Kunstwerks nicht nur handwerkliches Geschick und Sinnesschärfe, sondern auch – und hier tritt ein zentrales ethisches Motiv der Ästhetik Schleiermachers ein – der Wille des Künstlers, seine Urbildung anderen mitzuteilen. Erst wenn dieser Wille vorhanden ist und die Besinnung infiltriert, wird der Rezipierende in der Darstellung eines Künstlers auch einen Sinn entdecken können, der über den persönlichen Ausdruck einer Stimmung hinausgeht und einen Bezug auf die gemeinsame Lebenswelt in ihren mehr oder weniger engen Kreisen hat. Ein Kunstwerk verstehen bedeutet nach Schleiermacher demnach, dass sowohl dessen Hervorbringung aus der subjektiven Stimmung des Künstlers nachvollzogen, als auch ein allgemeines Kunstideal in ihm als symbolisch Dargestelltes erkannt wird. Im Vergleich mit den entsprechenden Paragraphen über die „Kunst“ in Hegels Enzyklopädie von 1827/30 wird ein Gegensatz in der Bewertung der künstlerischen Praxis sichtbar. Allgemein ist mit der Kunst nach Hegel der absolute Geist und damit die Freiheit an sich erreicht, womit sowohl die Kunsterzeugung als auch die Kunstrezeption zu den Weisen der Vergegenwärtigung dieser Freiheit gehören. Zugleich zeigt sich aber, dass die Freiheit des Geistes in der Kunst noch nicht für sich begriffen ist, weil ihr grundlegendes Element, die Sinnlichkeit, seine freie Selbstentwicklung nur in symbolischer Weise, nicht aber in begrifflicher Form ermöglicht. Die vielen einzelnen Kunstwerke zerfallen nicht nur in eine unmittelbare Mannigfaltigkeit, sondern bleiben auch in inhaltlicher Hin27  Zit.

in: Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie (Anm. 11), 11.



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sicht heterogen.28 Selbst die ideale Schönheit der griechischen Skulptur bleibt ohne gedankliche Tiefe. Hegel stellt die Religion und die Philosophie deshalb letztlich höher als die Kunst, weil deren Gestaltungen sich im geistigen Element der Vorstellung bzw. des reinen Gedankens bewegen und insofern die Prüfung der Sinnlichkeit bereits absolviert haben. Während Schleiermacher die künstlerische Praxis als ein „freies Spiel“ oder als „freie Produktivität“ entfaltet und im Ausgang der „Begeisterung“ des Selbstbewusstseins entwickelt, ist die „Begeisterung“ für Hegel nur ein „unfreies Pathos“, solange sich darin die endliche Subjektivität des Künstlers anstelle der lebendigen Allgemeinheit des Geistes ausdrückt.29 Diese kritische Volte gegen die Tendenz, die endliche Subjektivität des Künstlers zum Maß der Kunst überhaupt zu erheben, dürfte mit Hegels Kritik der Romantik zu verstehen sein, die er etwa hinsichtlich der frühromantischen Ironiekonzeption spezifiziert und ferner auch in Verbindung mit seiner Kritik am subjektiven Idealismus steht.30 Die künstlerische Praxis sowie auch die einzelnen Künste und damit die Musik werden in der Enzyklopädie nicht näher behandelt. Weil Hegels eigene Kolleghefte zur Ästhetik weitestgehend verschollen sind, muss daher auf die überlieferten Kollegnachschriften zurückgegriffen werden. 4. Vokal- vs. Instrumentalmusik In Schleiermachers letztem Ästhetikkolleg von 1832/33 wird gleich zu Beginn des Musikkapitels darauf hingewiesen, dass die freie Instrumentalmusik gegenwärtig ein großes Gebiet umfasse und immer mehr eine „Kunstleistung rein für sich“ darstelle.31 Später wird sie als Gegensatz zu der den Gesang „begleitenden“ Musik (Vokalmusik) sogar als „selbständige“ Musik angesprochen.32 Offenbar war sich Schleiermacher aber des Widerspruches bewusst, die Musik insgesamt als begleitende Kunstform zu bestimmen und dann bei der Besprechung ihrer einzelnen Formen die Instrumentalmusik als eine selbständige Form zu behaupten. Denn er verteidigt diese Einordnung in anthropologischer Hinsicht: Es sei eine „psychologische Grundthatsache“, dass das bewegte Selbstbewusstsein seine Veränderungen durch Töne kundgibt, wovon bereits das unmittelbare Seufzen, Lachen oder Weinen zeuge.33 28  Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827), GW 19, § 558. 29  Vgl. ebd., § 560. 30  Vgl. Otto Pöggeler, Hegels Kritik der Romantik, München 1999, 45–54. 31  Vgl. Schleiermacher, Ästhetik (1832/33) (Anm. 6), 238. 32  Vgl. ebd., 263. 33  Vgl. ebd., 238 f.

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Sprechen und Singen, Wort und Ton, seien gleichursprünglich und zwar in der Weise, dass der Klang der Stimme das gesprochene Wort begleitet, wobei es einige Zwischenformen gibt, wie das singende Sprechen, das Rezitativ oder auf der anderen Seite das Singen mit oder ohne Worten. Die Einteilung der Musik in Vokal- und Instrumentalmusik folgt Schleiermachers Einsicht in diesen psychologisch-dynamischen Charakter der Musik in Hinblick auf das unmittelbare Selbstbewusstsein und wird in Analogie zum Verhältnis von Denken und Sprechen präzisiert: „Der Zusammenhang der künstlerischen Production mit den Bewegungen des Selbstbewußtseyns die in Lebensbewegungen so sehr zusammenhängen, ist in musikalischer Production also die Hauptsache. – Wenn wir nun die logische Bedeutung der Stimme mit betrachten, als ursprüngliche Art, wie die Vorstellung hervortritt für andre Individuen so ist es eigentlich ein fremdes Gebieth, wenn wir auf die reine Selbstständigkeit der Musik sehen, aber so wie die Unendlichkeit der Combinationen der Töne dazu gehört, damit das Vorstellen in Sprache erscheine, so ist die Mannigfaltigkeit des gemeßnen Tons die Repräsentation der gesamten Mannigfaltigkeit der Bewegungen des Selbstbewußtseyns. Wenn sie nicht Vorstellungen sind, sondern Lebenszustände, also auch nicht Bilder, denn will Musik das hervorrufen, so geht sie aus ihrer Bestimmung“.34

Sprache und Musik sind in Hinblick auf ihr Medium, den akustisch wahrnehmbaren Ton, miteinander verwandt. Allerdings kann eine Kombination von Tönen in der sprachlichen Ausdrucksform einer wörtlichen Rede konkrete Vorstellungen und Gedanken ausdrücken, während eine Kombination von Tönen in rein musikalischer Form diese semantische Struktur nicht erreicht, sondern vielmehr nur die Bewegungen des Selbstbewusstseins darstellen kann. Das Verhältnis von tonaler Außen- und emotionaler Innenwelt führt Schleiermacher offenbar zu einem relationalen Zusammenhang aus: Die Vielfalt der gemessenen Töne repräsentiere die gesamte Vielfalt der Möglichkeiten, in denen die subjektive Stimmung des Selbstbewusstseins bewegt sein kann. Es gibt demnach keine musikalische Form, die nicht irgendein Gefühl repräsentiert und andersherum auch kein Gefühl, das nicht musikalisch ausgedrückt werden könnte. Musik verfehle hingegen ihre Bestimmung, wenn sie mit ihren eigenen Mitteln versucht, objektive Inhalte wie Bilder oder Gedanken darzulegen. Die Vokal- unterscheidet sich von der Instrumentalmusik somit im Grad ihrer inhaltlichen Tiefe und im Modus ihrer Verständlichkeit. So heißt es bereits in der Vorlesungsnachschrift Trendelenburg des Kollegs 1825: „Musik und Mimik haben mehr die Tendenz die unmittelbare Production zu übertragen […]. Indem sie nun an der Stimmung hängen, und diese übertragen wollen, stehen sie auf einer geringeren Stufe der Verständlichkeit.“35 34  Vgl.

ebd., 257 (Hervorhebungen im Manuskript). Schleiermacher, Ästhetik 1825, Nachschrift Trendelenburg (Anm. 17), 78 (Hervorhebung im Manuskript). 35  Vgl.



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Die Instrumentalmusik kann mit ihren eigenen Mitteln demnach keine objektiven Gehalte transportieren, sondern ist in ihrer Mitteilung inhaltlich auf subjektive Stimmungen und „Lebenszustände“ beschränkt. Sie kann zwar den „Ton der Gedankenerzeugung“36 treffen, weil sie ähnlich wie Gedankenkombinationen durch rationale Verhältnisse (in Tonintervallen, Tempi und Takten) geprägt ist. Damit ist auch die künstlerische Mitteilung der Instrumentalmusik in einem geringeren Grad allgemein verständlich als bei Werken der Vokalmusik. Um konkrete Inhalte verständlich auszudrücken, bleibt Musik daher auf die Form der sprachlichen Mitteilung angewiesen und damit systematisch auf die Poesie bezogen. Weil die Vokalmusik die Verständlichkeit der Sprache mit der Bewegtheit der subjektiven Stimmung vereint, Wort und Ton in einer dem Inneren direkt zugänglichen Weise synthetisiert, erhält sie in Schleiermachers Ästhetik den Status einer vollendeteren Kunstform als die Instrumentalmusik. Schleiermachers Einteilung der einzelnen Musikformen folgt diesem Gegensatz von Vokal- und Instrumentalmusik sowie dem Gegensatz von religiö­ sem und geselligem Kunststil.37 Demnach gehört innerhalb der Vokalmusik etwa der Choral dem Kirchenstil und damit dem religiösen Stil an, während etwa die Opernarie dem Opernstil und damit dem geselligen Stil angehört. Die Instrumentalmusik steht – bis auf das kirchliche Orgelspiel – überwiegend im Zeichen des geselligen oder weltlichen Stils und zerfällt in Orchester- und Kammermusik. Die Sinfonien von Bach und Beethoven kannte Schleiermacher offenbar und befragt – wohl einen zeitgenössischen Diskurs aufgreifend – sie nach dem Unterschied ihrer Bedeutsamkeit.38 Den Kirchenstil charakterisiert Schleiermacher bereits in seiner Ästhetik von 1819 als eine harmonische Einfachheit und Klarheit, die den Tanz ausschließt und den Gesang hingegen notwendig einschließt.39 Im Hintergrund steht hier wohl die bereits erwähnte Kirchenmusik im Palestrinastil, in der Texte aus der christlichen Tradition die Grundlage für mehrstimmige Choräle bilden – eine Musik, die bereits Herder in Hinblick auf Klopstocks „heilige Poesie“ als „heilige Musik“ bezeichnet hatte.40 Die Verständlichkeit dieser geistlichen 36  Vgl.

ebd., 177 f. Schleiermacher, Ästhetik (1832/33) (Anm. 6), 263. 38  Vgl. Schleiermacher, Ästhetik 1825, Nachschrift Trendelenburg (Anm.  17), 188. 39  Vgl. Friedrich Schleiermachers Ästhetik (Anm. 16), 189. 40  Vgl. Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie (Anm. 11), 22. Für Schleiermacher ist der Kirchenstil zudem die einzige musikalische Form, in der Prosatexte musikalisch begleitet werden können. Vgl. Schleiermacher, Ästhetik 1825, Nachschrift Trendelenburg (Anm. 17), 184: „Die reine komponirte Prosa ist nur im Kirchenstil. […] Die Prosa, die in dem Kirchenstil begleitet wird, ist biblische Prosa, vorzüglich aus den Psalmen.“ 37  Vgl.

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Musik ist freilich nicht streng im diskursiven Sinn zu verstehen, sondern auch in Hinblick auf die Religiosität des rezipierenden Subjekts, bei dem das Hören eine religiöse Andacht auslösen kann.41 Löst sich hierin also vielleicht das ein, was Schleiermacher in seinen Reden als „Kunstreligion“ vorgeschwebt war, nun aber in einer historisch situierten „Musikreligion“ – wie Gunter Scholtz vermutet?42 Dieser Gedanke liegt nahe, wenngleich Schleiermacher seit der zweiten Auflage der Reden von 1806 nicht mehr direkt auf sein frühromantisches Konzept eingeht, allerdings Kunst und Religion in dem Grundschema seiner Ethik fest auf der Seite des individuellen Symbolisierens installiert. Die größtenteils im geselligen Stil versierende Instrumentalmusik stellt demgegenüber für das vernehmende Subjekt eine Art weltlicher Reflexionsebene dar, im Spiegel derer es sich seiner eigenen Stimmungen und Lebenszustände bewusst werden kann. Das kulturhistorische Auseinanderdriften von Vokal- und Instrumentalmusik erklärt Schleiermacher durch den allgemeinen Isolationsprozess der einzelnen Künste, der in der griechischen Antike, in der Wort und Ton, Gesang und musikalische Begleitung, noch untrennbar miteinander verbunden waren, seinen Ausgang nimmt und der in der christlichen Moderne eine fortwährende Ausdifferenzierung erfährt.43 Auch aus dieser Perspektive erscheint die Instrumentalmusik als unselbständig, weil ihre sukzessive Entfernung von der Vokalmusik eine Art Entfremdung von ihrem Ursprung darstellt.44 Eine ähnliche Auffassung findet sich bereits in A. W. Schlegels Berliner Vorlesungen über die „Kunstlehre“, wo der Gesang als der Ursprung auch der Instrumentalmusik angesehen wird.45 Durch diese kulturhistorische Perspektive, in deren Licht Schleiermacher etwa auch die Unterschiede der antiken Harmonielehre, der Kirchentonarten 41  Vgl. Martin Fritz, „Musikandacht. Über Herkunft und Bedeutung eines Elements bürgerlicher Religionskultur“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 111 (2014), 28–55. 42  Vgl. Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie (Anm. 11), 45, 55. 43  Vgl. Schleiermacher, Ästhetik 1825, Nachschrift Trendelenburg (Anm. 17), 82: „Denken wir uns die Komödie und Tragödie, wie sie bei den Alten war, so ist die Musik in ihr vollständig, das Minimum und Maximum nebeneinander, in Dialog und Chor […] und in diesem Ineinander Uebergehen spricht sich die absolute Vollendung mit aus.“ (Hervorhebung im Manuskript). 44  Vgl. Schleiermacher, Ästhetik 1825, Nachschrift Trendelenburg (Anm.  17), 131: „Gesang ohne Worte kann man sich wol construiren aber nur als Zwischenspiel. Instrumentalmusik tritt auch an und für sich hervor und in der neuen Zeit um so mehr, als sich die Instrumente und also die qualitativen Differenzen des Tons vervielfältigen.“ 45  Vgl. August Wilhelm Schlegel, „Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst“, in: ders., Kritische Ausgabe der Vorlesungen, Bd. 1, hg. v. Ernst Behler, Paderborn 1989, 366–382, hier: 366, 375.



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und des modernen Dur-Moll-Schemas berücksichtigt, erhält auch die zuvor beschriebene Ansicht von der (vollständigen) Repräsentation der emotionalen Welt durch die tonale Welt eine historische Dimension. Die Geschichte der Gefühlskultivierung ist demnach mit der geschichtlichen Entwicklung der Musik und damit ferner auch der Geschichte der Instrumentierungs-, und Orchestrierungsformen in einer Art Wechselwirkung begriffen. Musik begreift Schleiermacher somit durchwegs in ihrem historischen Gewordensein und in ihrer engen Beziehung zur Religion und dem Gefühl. In Hegels Musikphilosophie, wie sie sich etwa im Kolleg 1823 in der Nachschrift Hotho dokumentiert findet, zeigt sich, dass er die Musik ähnlich wie Schleiermacher als eine Kunst der subjektiven Innerlichkeit begreift, mit der zugleich die christliche Religion angesprochen ist – einem Hauptmotiv der „romantischen Kunstform“. In der Besprechung der Musik stößt Hegel somit gewissermaßen auf den Bewegungsgrund von Schleiermachers Ästhetik insgesamt, nennt die subjektive Innerlichkeit allerdings und wohl bedacht nicht „Gefühl“ oder „Stimmung“, sondern „Empfindung“. Musik wird dementsprechend als die Kunst der „tiefsten Empfindung“46 aufgefasst, in der der Gedanke sich als tönender selbst vernimmt und dadurch bildet. Zugleich aber weist Hegel die Äußerlichkeit des physisch erklingenden Tonmaterials als ein der wahren geistigen Selbstentwicklung nicht adäquates sinnliches Element zurück. Und weil konkrete Inhalte durch Tonverhältnisse nur abstrakt wiedergegeben werden können, bedarf die Musik des Wortes, womit die Poesie als notwendige Folgegestalt bereits innerhalb der Sphäre der Musik als Sinn- und Bedeutungsgeberin relevant wird. In seinem letzten Kolleg 1828/29 öffnet sich Hegel offenbar dem Gedanken, die reine Instrumentalmusik als selbständige Kunstform anzuerkennen, spricht ihr aber gleichwohl die Möglichkeit ab, konkrete Inhalte auszudrücken, weil sie vielmehr nur Erinnerungen an solche wecke, weshalb ihre eigentliche Aufgabe in der Begleitung des poetischen oder religiösen Wortes liege. Indem Hegel insbesondere die Opernwerke eines Gluck oder Mozart als „großartig“47 anerkennt, bestätigt sich, dass für ihn erst der Ton und Wort verbindende Gesang eine Art der Entsprechung von Form und Inhalt darstellt, in der das Kunstideal erscheinen kann und die Musik in ihre Folgegestalt (die Poesie) übergeht – auch für Hegel ist die Stimme das grundlegende Instrument der Musik.

46  Vgl.

481.

G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, GW 28, 1,

47  Vgl. G. W. F. Hegel, Philosophie der Kunst oder Ästhetik, Mitschrift F. C. H. V. v. Kehler (1826), hg. von A. Gethmann-Siefert und B. Collenberg-Plotnikov, München 2004, 195.

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Schluss Sowohl bei der Begründung der modernen Musik durch die christlich geprägte Subjektivität als auch bei der Bewertung des Verhältnisses von Vokalund Instrumentalmusik finden sich deutliche Parallelen zwischen Schleiermacher und Hegel. Obwohl sie den Aufstieg der Instrumentalmusik, insbesondere der Wiener Klassik, miterleben und letztendlich dazu tendieren sie als selbständige Kunstform anzuerkennen, priorisieren sie die Vokalmusik wegen ihrer höheren inhaltlichen Dichte und Transparenz. Auch weil in ihr die menschliche Stimme als das ursprüngliche Musikinstrument betrachtet wird – was eine anthropologische Dimension ihrer Musikästhetik ausmacht – ist die Vokalmusik für Hegel und Schleiermacher die höchste Form der Musik. Die systematische Dimension dieser Bestimmung liegt bei Hegel jedoch weniger in der ethischen Betrachtung der Kunstproduktion und der Problematisierung der Verständlichkeit der Kunstprodukte wie bei Schleiermacher, sondern vielmehr in der Stellung und Entwicklungslogik seiner Geistesphilosophie. Die im kritischen Durchlauf ihrer Darstellungs- und Wahrnehmungsformen zu sich kommende geistige Allgemeinheit erhält erst auf dem Niveau der sprachlichen Artikulation der Poesie eine begriffliche Form, die ihre innere Dynamik zu entschlüsseln erlaubt und mit der zugleich die Ablösung der Kunst durch die Religion vorbereitet wird. Es ist bezeichnend, dass den bezüglich ihrer komplexen Gedankenkomposition und -entwicklung vielleicht musikalischsten Denkern ihrer Zeit die systematischen Voraussetzungen ihrer Musikphilosophie daran hindern, die Instrumentalmusik als eine freie und in ihrer Weise ideale Kunstform anzuerkennen. Ein historischer Grund dafür liegt möglicherweise in der noch unentwickelten Konzertkultur im Berlin dieser Zeit, wo vor allem Opernaufführungen blühten und Aufführungen vollständiger Sinfonien eines Beethoven eher selten waren. Es ist jedoch ein verbreitetes Phänomen der Ästhetik der klassischen deutschen Philosophie, das sich etwa auch bei Solger oder Schelling findet, dass die Musik der als höchste Kunstform betrachteten Poesie untergeordnet wird. Was Schleiermacher und Hegel ferner verbindet, ist die noch immer relevante Einsicht in den geistigen Konvergenzpunkt der Musik und der Kunst überhaupt, der ein hoher wenn nicht uneinholbarer Maßstab für mechanistische Erklärungen ihrer Entstehung ist. Diese Einsicht folgt nicht zuletzt aus der Erkenntnis der kulturhistorischen Bedeutung und fruchtbaren Wechselbeziehung von Kunst und Religion; diese Erkenntnis hat Schleiermacher und Hegel vielleicht auch davon abgehalten, die romantische Verabsolutierung der Instrumentalmusik zu affirmieren – „Lieder ohne Worte“ wären wohl nicht ihre Sache gewesen.

„… kein blosser Schrei der Empfindung, sondern ihr ausgebildeter Ausdruk“. Subjektivität und Bedeutung in Hegels Musikästhetik Von Bernadette Collenberg-Plotnikov Hegels Musikästhetik teilt mit der Schleiermachers wesentliche Charakteristika: Wie Schleiermacher trägt auch Hegel der entscheidenden Transformation in der westlichen Musikgeschichte der Zeit um 1800, dem Durchbruch der reinen Instrumentalmusik, Rechnung, indem er der Unterscheidung zwischen begleitender und selbstständiger Musik in seinen Überlegungen eine zentrale Stellung einräumt. Wie Schleiermacher betrachtet er die Musik maßgeblich als Ausdruck von Subjektivität und Darstellung von Gefühlen. Und wie Schleiermacher leitet auch Hegel von dieser doppelten Eigenschaft der Musik ihre Relevanz für die Selbstverständigung des Subjekts ab, die nicht nur den Kunstcharakter der Musik begründet, sondern sie zugleich in die Nähe anderer Weisen solcher Selbstverständigung, nämlich Religion und Philosophie, rückt – d. h. für Hegel: als Form des Absoluten Geistes qualifiziert. Allerdings ist Hegels Musikästhetik gegenüber der Schleiermachers durch gleich zwei Hypotheken belastet. Zum einen liegt auf ihr der Schatten der notorischen These vom Ende der Kunst, mit der Hegel sich gegen die Kunstemphase der romantisch bewegten Zeitgenossen in Stellung bringt: Während Schleiermacher mit seiner Leitvorstellung von der Musik als einer „compendiöse[n] Verkündigung des gesamten Christenthums“1 die Idee einer ‚Kunstreligion‘ der Gegenwart artikuliert, erteilt Hegel dieser Idee gleich in der Einleitung zu seinen Ästhetikvorlesungen mit seiner These vom Ende der Kunst eine kategorische Absage.2 Für ihn ist die ‚Kunstreligion‘ ein Konzept ausschließlich historischer Natur: Die Selbstverständigung mit den Mitteln der Kunst genügt – so Hegels Kerndiagnose – dem modernen ‚Bedürfnis der Vernunft‘ nicht länger und muss daher der Philosophie Platz 1  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, „Weihnachtsfeier“, KGA I/45, 64 f. (unter Bezug auf Händels Messias). 2  Vgl. Gunter Scholtz, „Schleiermacher“, in: Musik in der deutschen Philosophie. Eine Einführung, hg. v. Stefan Sorgner und Oliver Fürbeth, Stuttgart 2003, 39–54, hier: 53.

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machen. Und dies gilt auch für die Musik als die Kunstgattung, auf die sich – vor allem mit Blick auf die Leistungen der Wiener Klassik – die zeitgenössische Hoffnung auf eine Erneuerung des Lebens im Zeichen der Kunst konzentriert. Zum anderen plädiert der Opernfreund Hegel einseitig für die Vokalmusik und gegen die reine Instrumentalmusik: Anders als Schleiermacher, der – nimmt man seine frühen und seine späten Schriften zusammen – für beide Arten von Musik Argumente findet, die sie als Träger einer neuen Kunstreligion prädestinieren, legt Hegel sich von vorne herein fest: Während die begleitende Musik bei aller Belanglosigkeit der modernen Libretti auch heute zumindest noch von Ferne an die ehemalige Bindung dieser Kunst an einen relevanten Inhalt erinnert, macht die Hinwendung zur textfreien Musik die endgültige Entleerung dieser Gattung in der Gegenwart sinnfällig: Die Musik hat und ist keine angemessene Sprache mehr. – Diese doppelte Diagnose legt den Schluss nahe, dass Hegel weder ein Verständnis für die zentrale Stellung der Musik in der Kultur der Gegenwart entwickelt noch die epochale Bedeutung der reinen Instrumentalmusik erfasst hat. In der Tat bleibt die Wirkung der Musikästhetik Hegels weit hinter der anderer Philosophen, etwa der Schopenhauers, zurück. Es scheint daher verwunderlich, dass bereits im 19. Jahrhundert der Hauptvertreter des Formalismus auf dem Gebiet der Musiktheorie, Eduard Hanslick, sich ausdrücklich auf Hegel beruft.3 Aber etwa auch Adolf Nowak meint in seiner 1971 erschienen Monographie zur Musikästhetik Hegels, dessen Rede von der ‚Inhaltsleere des reinen Tönens‘ in der freien Musik – mit Hegelschen Argumenten – zur „Fülle der ‚abstrakten Subjektivität‘ “4 uminterpretieren zu dürfen. Und auf dieser Linie liegt ebenfalls Carl Dahlhausʼ immer wieder zitierte Charakteristik von Hegels Schweigen über Beethoven als ein „beredtes Schweigen, das dazu herausfordert, entziffert zu werden“.5 Allerdings beziehen sich alle diese Deutungen auf die von Hegels Schüler Heinrich Gustav Hotho postum im Rahmen der Freundesvereinsausgabe erarbeitete Fassung der Ästhetik, die sich in den Ausführungen zur Musik in der Tat, wie wiederholt bemerkt worden ist, durch eine starke Ambivalenz in 3  Vgl. Bernhard Billeter, „Die Musik in Hegels Ästhetik“, in: Die Musikforschung. 26/3 (1973), 295–310, hier: 301. – Zu Hanslicks Hegel-Rezeption vgl. bes. Alexander Wilfing und Christoph Landerer, „Eduard Hanslick und der Hegelianismus“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. 62/2 (2017), 307–328. 4  Adolf Nowak, Hegels Musikästhetik, Regensburg 1971 (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. 25), 182. – S.a. B. Billeter, „Die Musik in Hegels Ästhetik“ (Anm. 3), 307. 5  Carl Dahlhaus, „Hegel und die Musik seiner Zeit“, in: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels, hg. v. Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler, Hamburg 1983 (Hegel-Studien. Beiheft 22), 333–350, hier: 337.



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der Bestimmung der Stellung der Musik im Allgemeinen ebenso wie der der Bedeutung ihrer unterschiedlichen Formen im Besonderen auszeichnet: Immer kann auch die Gegenposition mitgehört werden.6 Es ist daher die Frage, welches Bild die inzwischen im Zuge der Vorbereitung der historisch-kritischen Ausgabe der Werke Hegels erschlossen studentischen Zeugnisse zu seinen Vorlesungen über die Philosophie der Kunst in diesem Zusammenhang zeichnen.7 Eventuelle Hoffnungen, die an der Freundesvereinsausgabe erhobenen Befunde hinsichtlich der These vom Ende der Kunst und der einseitigen Auszeichnung der begleitenden Musik würden durch diese Dokumente widerlegt oder zumindest abgemildert, haben sich nicht bestätigt: Die Vorlesungszeugnisse dokumentieren vielmehr in beiden Hinsichten eher eine Verschärfung der Position. So findet sich hier im Musikkapitel eine direkte Adaption der These vom Ende der Kunst aus der Einleitung, die die Freundesvereinsausgabe den Lesern erspart.8 Und das Aufkommen der reinen Instrumentalmusik, für das die von Hotho edierte Textfassung durchaus noch einige anerkennende Worte bereithält9, wird hier ausdrücklich als „Unglück“10 bezeichnet.11 Die Vorlesungszeugnisse stützen damit die von Theodor Mundt überlieferte Dar6  Vgl. bes. Billeter, „Die Musik in Hegels Ästhetik“ (Anm. 3), 306 f.; Ludwig Siep, „Hegel über begleitende und selbständige Musik“, in: Vom Sinn des Hörens. Beiträge zur Philosophie der Musik, hg. v. Georg Mohr und Johann Kreuzer, Würzburg 2012, 97–107, hier: 104 f. 7  Auf die Darstellung der Musik in den Vorlesungszeugnissen beziehen sich bereits die Studien von Alain Patrick Olivier; vgl. bes. „Das Musikkapitel aus Hegels Ästhetikvorlesung von 1826“, in: Hegel-Studien. 33 (1998), 9–52; ders.: Hegel et la musique. De l’expérience esthétique à la spéculation philosophique, Préface de Bernard Bourgeois, Paris 2003. 8  „Orpheus, sagt man, zähmte die Menschen, gab ihnen durch die Musik, Gesetze. Unsere Gesetze werden nicht musikalisch gegeben. Musik allein für sich selbst inhaltslos wirkt bei uns nicht. Zu unserer Bildung gehören noch andere dinge.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1820/21 und 1823, GW 28,1, 482; Nachschrift Hotho 1823). 9  Vgl. z. B.: „Die begleitende Musik hat das, was sie ausdrücken soll, außerhalb ihrer und bezieht sich insofern in ihrem Ausdruck auf etwas, was nicht ihr als Musik, sondern einer fremden Kunst, der Poesie, angehört. Will die Musik aber rein musikalisch sein, so muß sie dieses ihr nicht eigentümliche Element aus sich entfernen und sich in ihrer nun erst vollständigen Freiheit von der Bestimmtheit des Wortes durchgängig lossagen.“ (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, TWA 15, 214). 10  G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Nachschriften zum Kolleg des Jahres 1826, GW 28, 2, 842 (Nachschrift Griesheim 1826). 11  Zu dieser Zuspitzung der Position in den Vorlesungszeugnissen vgl. auch bes. Jürgen Stolzenberg, „Musik“, in: G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, hg. v. Birgit Sandkaulen, Berlin und Boston 2018 (Klassiker Auslegen 40), 207–226, hier: 225.

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stellung, Hegel habe die „poetische Jugend, die vor ihm saß“, vor allem dadurch empört, dass er von der „Gedankenlosigkeit der Musik“, sprach – ein Diktum, das klar auf die von den Zeitgenossen als Wiedergeburt der Kunst gefeierte reine Instrumentalmusik gemünzt ist.12 Im Folgenden soll aber zum einen gezeigt werden, dass auf der Basis der Vorlesungszeugnisse eine philosophische Position rekonstruiert werden kann, die nicht nur die Bedeutung der selbstständigen Musik anerkennt, sondern, darüber hinaus, letztlich die zeitgebundene Gegenüberstellung von begleitender und selbstständiger Musik hinter sich lässt. Zum anderen soll gezeigt werden, dass es sich bei der These vom Ende der Kunst nicht um eine Hypothek handelt, sondern dass es vielmehr gerade diese These ist, die die Grundlage für eine differenzierte Beurteilung der Stellung der Musik in der modernen Kultur bildet. Als der entscheidende Sachzusammenhang wird dabei Hegels Bestimmung des Verhältnisses von Subjektivität und Bedeutung in der Musik geltend gemacht. Die Argumentation wird in drei Schritten entwickelt: Zunächst wird Hegels Charakteristik der Musik als Kunst der Subjektivität und des Gefühls vorgestellt. Es folgt eine Rekonstruktion von Hegels Thesen zur Bedeutung in den unterschiedlichen Formen der Musik vermittels der Sprache einerseits und der Klanggestalt andererseits. In einem letzten Schritt werden einige Perspektiven aufgezeigt, die sich aus der Hegelschen These vom Ende der Kunst für ein modernes Musikverständnis ergeben. Dabei beziehen sich die Ausführungen – dem Darstellungsziel entsprechend – ausschließlich auf die nun bald vollständig in den Gesammelten Werken Hegels präsentierten Vorlesungszeugnisse. 1. Der Charakter der Musik: Subjektivität und Gefühl Die Ausführungen zur Musik, die Hegel im Rahmen seiner Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Kunst vorträgt, sind vergleichsweise knapp und wenig detailliert: Im Gegensatz zu seiner Charakteristik der anderen Künste verzichtet er hier auf eine Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Musik, und selbst die Nennung konkreter Künstler oder gar Werke bleibt die Ausnahme. Die Argumentation ist stattdessen stark dominiert durch die alle Vorlesungsjahrgänge durchlaufende Kontrastierung von begleitender und reiner Musik, wobei die Ausführungen zur selbstständigen Musik in Umfang und sachlichem Gewicht einen bloßen Appendix zur Bestimmung der Vokalmusik bilden. 12  Theodor Mundt, „Heine, Börne, und das sogenannte junge Deutschland. Bruchstücke“, in: Der Freihafen. 3/4 (1840), 182–274, hier: 189.



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Allerdings ist diese recht ungleiche Gegenüberstellung von begleitender und reiner Musik in einen größeren Argumentationsrahmen eingebunden. In Hegels Darstellung geht ihr nämlich die grundlegende Frage nach der Phänomenalität der Musik und ihrem Verhältnis zur Subjektivität voraus. So eröffnet Hegel seine Bestimmung der Musik durchgängig mit einer Charakteristik der Musik, die zum einen ihr „Element als abstraktes“13, den Ton, und zum anderen ihre formalen Gestaltungsprinzipien zum Gegenstand hat. Der Ton wird demnach in der Musik, anders als in der Sprache, nicht als „articulirtes Zeichen einer Vorstellung“ eingesetzt, sondern er „kommt nur als solcher in Betracht, nach der Weise seines Klanges“. Und dieser „Ton als solcher“ ist nicht nur „inhaltlos“, sondern auch „stofflos“:14 Anders als in der Baukunst und der Skulptur, aber auch der Malerei, haben wir in der Musik kein „Objectives“ vor uns, „gegen das das Ich sich noch unterscheidet, oder sich darin versenkend, doch von einem sich selbst äußerlichen Inhalt erfüllt ist“. Vielmehr existiert der Ton ausschließlich in der individuellen Rezeption des Subjekts: Ein Ton, der nicht gehört wird, hat überhaupt kein Bestehen für sich, sondern verklingt spurlos; ja er kann nicht einmal wirklich als Ton bezeichnet werden. Dabei vollzieht sich dieses Hören, wie Hegel im Rekurs auf seine Naturphilosophie erklärt, als ein durch den Schall bedingtes „Erzittern eines Körperlichen, eine Bewegung wodurch der Körper in sich selbst sich bewegt ohne von seiner Stelle zu kommen“.15 Im Ton als dem Element der Musik fällt damit die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Innen und Außen, weg: „das Ich ist nicht mehr von dem Sinnlichen selbst unterschieden, die Töne gehn in meinem tiefsten Innern fort. die innerste subjectivität selbst ist in Anspruch genommen und in Bewegung gesetzt.“ Was daher „in der Musik in Anspruch genommen ist, ist die letzte Innerlichkeit“.16 Aber der isolierte Ton ist als solcher noch keine Musik. Vielmehr besteht Musik aus einer Verbindung von Tönen zu Tonfolgen – ‚Melodien‘ –, die klaren immanenten Gesetzmäßigkeiten gehorchen, wie sie als Zusammenklang der Töne in der Harmonielehre und als zeitliche Sukzession der Töne in der Lehre von Takt und Rhythmus erfasst sind. Auch für diese Verbindungen von Tönen gilt, dass sie als Klänge unmittelbar vergehen, aber eben so, dass sie „bloß äußerlich“ verschwinden und „nach ihrem Verschwinden ein Innerliches“ werden, das ihre in der Zeit zerstreuten, fast immateriellen Elemente durch die Erinnerung zu einer rein immateriellen Klanggestalt zusam13  GW 28, 14  Ebd.

15  Ebd., 16  Ebd.,

1 (Anm. 8), 179 (Nachschrift Ascheberg 1820/21).

483 (Nachschrift Hotho 1823). 481.

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menfügt.17 Dabei stellen auch die Töne, ganz wie der einzelne Ton, nichts dar, sondern sie bilden einen reinen Selbstbezug der Formen. Musik ist demnach ein akustisches Arrangement, das nichts bedeutet: Der Ton wird hier als Zweck in sich selbst behandelt. Aus diesem Charakter des Materials der Musik erklärt sich auch ihre Stellung in der von Hegel aufgestellten Rangfolge der Künste, in der die progressive Adäquatheit der Äußerung des immateriellen Geistes im umgekehrten Verhältnis zur festen und selbstständigen Materialität des Kunstwerks steht: Zwar unterscheidet sich bereits die Malerei insofern von Architektur und Skulptur, als sie die dreidimensionale Materialität gegen eine zweidimensionale „Magie des Scheins“ eintauscht, die sie „von dem äußerlichen Objektiven“ befreit und daher, wie Hegel erklärt, bereits „das Musikalische der Malerei genannt werden“ kann.18 Aber erst in der Musik tritt die Kunst, so heißt es in allen Vorlesungsjahrgängen fast identisch, bereits ihrer Form nach „[g]anz auf die subjective Seite“.19 Dies qualifiziert die Musik für Hegel nach der Malerei als die zweite romantische Kunst, also als Kunst der Gegenwart. Dabei geht das Gemüt zwar nicht zu verständigen Betrachtungen fort, wie dies nach Hegel in der Poesie als der dritten und höchsten der romantischen Künste der Fall ist. Aber das Selbstbewusstsein zerstreut sich auch nicht bloß in vereinzelte Anschauungen. Vielmehr wendet sich die Musik an „unser ganz leeres Ich, die Selbstischkeit ohne weitern Inhalt“.20 Sie betrifft damit den inneren Sinn, das abstrakte Sichselbstvernehmen.21 Zwar bezieht Hegel sich mit dieser Charakteristik ausdrücklich allein auf das Medium als solches, „die e l e m e n t a r i s c h e M a c h t d e r M u s i k , nicht ihre Macht in andrer Rücksicht, als Kunst“.22 Er hat mit diesen Ausführungen also auch nicht konkrete Musik, wie die reine Instrumentalmusik seiner Zeit, im Blick, sondern lediglich das Material, das in der wirklichen Musik zum Einsatz gebracht wird.23 Man kann aber verstehen, dass diese Ausführungen in ihrer von Hotho aufbereiteten Fassung immer wieder auch 17  Ebd., 179 (Nachschrift Ascheberg 1820/21). Vgl. Die Ästhetik nach Hegels Vortrag geschrieben von Heimann. Im Wintersemester 1828/29. Transkription von Niklas Hebing, Ms. Hegel-Archiv 2015, Ms. Heimann 118: „man macht sich eine Erinnerung in sich selbst“. 18  Ebd., Ms. Heimann 117. 19  GW 28, 1 (Anm. 8), 481 (Nachschrift Hotho 1823). 20  Ebd. 21  Vgl. Jens Kulenkampff, „Musik bei Kant und Hegel“, in: Hegel-Studien. 22 (1987), 143–163, hier: 153. 22  GW 28, 1 (Anm. 8), 179 (Nachschrift Ascheberg 1820/21). 23  Ebd., 483 (Nachschrift Hotho 1823). Siehe hierzu auch Kulenkampff, „Musik bei Kant und Hegel“ (Anm. 21), 157.



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als anschlussfähige Charakteristik der selbstständigen Instrumentalmusik aufgefasst worden sind. An Hegels Intention geht eine solche Deutung allerdings vorbei: Die künstlerische Wertschätzung von Musik allein aufgrund ihrer formalen Eigenschaften als rein akustische Struktur ist ihm völlig fremd. Für Hegel ist dagegen entscheidend, dass die so beschriebene Phänomenalität lediglich die Grundlage der Musik als Kunst ist. Er unterscheidet also zwischen Musik als solcher und Musik als Kunst. Als Kunst hat die Musik ihre Macht aber nicht schon durch ihr formales Dasein als „bloßes Tönen“, sondern sie hat vielmehr, „wie jede andre Kunst, ihre Macht durch den Inhalt des Dargestellten“.24 Reine Klänge, wie sie etwa im Orpheus-Mythos beschworen werden, sind daher noch keine künstlerische Musik; nur „die Thiere können sich damit begnügen, aber der Mensch verlangt etwas Höheres, einen geistigen Inhalt“.25 Dabei ist für Hegel klar, dass sich als Inhalt für das so als Medium reiner Subjektivität charakterisierte Material der Musik nur etwas eignet, „das seinerseits nichts objektiv Festes, nichts substantiell Selbständiges, sondern bloß subjektiv, bloß für das Subjekt und bloß bewegt ist“.26 Was die Musik im Medium des verklingenden Tons darstellt, kann daher nicht die gedankliche Struktur der Natur oder der Geschichte, also von Gegenständen und Prozessen außerhalb des menschlichen Subjekts, sein. Die Musik muss als Kunst vielmehr die Subjektivität als solche nicht nur zur Form, sondern auch zum Inhalt haben.27 Der Inhalt der Musik ist daher Hegels Auffassung nach das Gefühl, bzw. genauer: Welchen Inhalt auch immer die Musik thematisiert, so muss dieser ganz in die Form der Empfindung gefasst werden. 2. Bedeutung in der Musik: Sprache und Klanggestalt 2.1. Die Relativierung der Bedeutung Die Frage ist nun, wie Gefühle als Inhalt der Musik Bedeutung entfalten können. In der Musik erfährt der Mensch die innere und äußere Realität also nicht als denkendes oder wollendes Subjekt, sondern als empfindendes. Dieser Vorteil der Innerlichkeit wird allerdings Hegels Auffassung nach auf der Seite des Inhalts mit einem Nachteil erkauft, der die Musik suspekt macht und in der Rangfolge der Künste ihren Platz hinter der Poesie begründet: ihre 24  GW 28,

1 (Anm. 8), 179 (Nachschrift Ascheberg 1820/21). 180. 26  Kulenkampff, „Musik bei Kant und Hegel“ (Anm. 21), 153. 27  Vgl. z. B.: „das praktische Interesse befreit sich durch das freie Verweilen in dem Vernehmen seiner selbst. diese Seite macht das Höhere der Kunst aus.“ (GW 28, 1, 184; Nachschrift Ascheberg 1820/21). 25  Ebd.,

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inhaltliche Unbestimmtheit, die immer schon auf der Schwelle zur Leere steht. Denn die Empfindung ist für Hegel die unbestimmte, dumpfe Region des Geistes. Wenn die Musik als Kunst, d. h. als Form des Absoluten Geistes, angesprochen werden soll, ist daher die Frage, wie in ihr jene inhaltliche Bestimmtheit und Allgemeinheit erzielt werden kann, die sie über die Sphäre des rein Subjektiven erhebt. Ohne eine solche Bestimmtheit muss sich die Musik dagegen darauf beschränken, an jenem Prozess der Entfaltung und Entwicklung des Subjektiven Geistes teilzunehmen, der darin besteht, uns für uns selbst Gestalt zu verleihen und Existenz zu geben.28 Das Paradigma für die bestimmte Vergegenwärtigung eines solchen allgemeinen Inhalts im Medium der Musik bildet für Hegel die alte Kirchenmusik von Palestrina bis Pergolesi. In dieser Musik sieht Hegel nämlich nicht nur abstrakte Innerlichkeit am Werk – eine Kunst, in der das Gemüt sich selbst als in Töne gefasst vernehmen kann. Vielmehr sieht er hier die Möglichkeit realisiert, einen Inhalt von absoluter Relevanz – die christliche Heilslehre – nach seiner emotionalen Seite zu erschließen. Zwar tritt die Musik für Hegel als Kunst der subjektiven Innerlichkeit erst auf, wenn die Zeit der repräsentativen klassischen Kunst, der plastischen Vergegenwärtigung der Götter, abgelaufen ist. Mit Dahlhaus kann man aber sagen, dass in Hegels Konzept der Kunstgeschichte die ältere Kirchenmusik im Bereich der Musik eine ähnliche ‚klassische‘ Kulmination bildet wie in der Kunstentwicklung insgesamt die antike Skulptur. Die Weise, wie er hier eine Identität von überindividuell als orientierungsstiftend betrachtetem Inhalt und schöner Form realisiert sieht, erinnert in der Tat, wie Dahlhaus weiter notiert, „unwillkürlich an die Vorstellung einer leibhaften Gegenwart des Gottes in der antiken Götterstatue: an die Idee also, für die Hegel in der Phänomenologie des Geistes den Terminus ‚Kunstreligion‘ prägte“.29 Emotionaler Vollzug und inhaltliche Bestimmtheit bilden hier eine Einheit. Voraussetzung dafür ist allerdings die allgemeine Akzeptanz der Verbindlichkeit eines absoluten Inhalts einerseits und einer ästhetischen Formensprache im Sinne einer normativen musikalischen Affektenlehre andererseits. In der Gegenwart ist dies, wie Hegel mit seiner These vom Ende der Kunst diagnostiziert, im Zuge eines fortschreitenden ‚Bedürfnisses der Vernunft‘ und nach Individualität Vergangenheit. Damit eröffnet sich für die Kunst, also auch für die Musik, zwar eine völlig neue Entfaltungsfreiheit. Diese Freiheit wird aber eben erkauft um den Preis der Unbestimmtheit, ja – gerade in der Musik als Kunst der reinen Subjektivität, des Gefühls, – der Gefahr der Inhaltsleere. 28  Vgl.

Kulenkampff, „Musik bei Kant und Hegel“ (Anm. 21), 163. „Hegel und die Musik seiner Zeit“ (Anm. 5), 348.

29  Dahlhaus,



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Auch romantische Versuche, diese Tendenz rückgängig zu machen, überzeugen Hegel nicht. Dies zeigt namentlich Hegels distanzierte Haltung zu Mendelssohns Wiederentdeckung von Bachs Matthäuspassion, deren Aufführung im März 1829, hundert Jahre nach ihrer Entstehung, „in dem Bildungskreise Berlins eine ganz außerordentliche Sensation machte“, wie Eduard Devrient, der Sänger der Jesus-Partie, sich erinnert.30 Diese Aufführung, die – neben Persönlichkeiten wie Schleiermacher, Droysen und Heine – auch Hegel besucht, soll beweisen, dass Bachs Werk nicht nur als totes Monument verehrt, sondern, ganz im Geist der Zeit, als lebendiges Kunstwerk für die musikalische Praxis wiedergewonnen werden kann. Hegel quittiert dagegen dieses epochale musikgeschichtliche Ereignis, wie Zelter berichtet, mit der spröden Bemerkung, „das sey keine rechte Musik; man sey jetzt weitergekommen, wiewohl noch lange nicht aufs Rechte“.31 2.2. Bedeutung durch Sprache Zwar hält Hegel die Rückkehr zu einer Kunstreligion, wie sie den Romantikern vorschwebt, weder für möglich noch überhaupt für wünschbar. Nichtsdestoweniger bleibt für ihn die Frage, wie – im gegebenen Rahmen – jene kunstgemäße Steigerung der Bestimmtheit erzielt werden kann, die allererst den Kunstcharakter der Musik ausmacht. Hegels ausdrückliche und beharrlich wiederholte rationalistische These lautet hier, dass der Inhalt der Musik, für ihn also: die Darstellung von Emotionen, am angemessensten durch Sprache, d. h. einen von der Musik begleiteten Text, geliefert werden kann. Nur auf diese Weise scheint es für Hegel gewährleistet zu sein, dass die musikalisch vollzogene Empfindung keinen bloßen Gegensatz zum Denken, sondern dessen noch nicht ganz ausdifferenzierte Vorstufe bildet.32 Hier liegt also der Grund für Hegels Auszeichnung der begleitenden Musik. In der reinen Instrumentalmusik sei dagegen der Irrationalität und der Leere Tür und Tor geöffnet. Für diese These führt Hegel vor allem zwei Gründe an. Auf der einen Seite verweist er durchgängig auf die „Macht der Musik“33 als solcher über das Subjekt: Die Musik spricht den Menschen auf einer unbewussten, ja physiologischen Ebene an, indem die Töne den Körper nicht nur im Zuge des Hörens durch die Schallwellen unwillkürlich in Schwingung versetzen. Vielmehr geht diese Macht auch soweit, unwillkürliche motorische Bewe30  Zit.

nach ebd., 346. nach ebd., 347. 32  Vgl. Siep, „Hegel über begleitende und selbständige Musik“ (Anm. 6), 101 f. 33  GW 28, 1 (Anm. 8), 180 u. ö. (Nachschrift Ascheberg 1820/21). 31  Zit.

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gungen zu provozieren: „ich komme in Versuchung, den Takt zu schlagen, zu tanzen, etc.“34 Überhaupt kann die Musik wie kein anderes Medium „begeistern, das subject kann ganz in der Erregung drinn sein“. Davon zehrt nicht nur die antike Vorstellung des bacchantischen musikalischen Rausches, sondern etwa auch die Militärmusik, die diese Macht der Musik instrumentalisiert, um „in der Schlacht den Muth [zu] befeuern“. Dabei gilt für Hegel aber eben, dass die Menschen „desto mehr hingerissen werden, je weniger Bestimmtheit des Inhalts, je weniger Vorstellungen und Gedanken sie haben“.35 Zwar gehört eine gewisse „Macht über das Gemüth“36 für Hegel konstitutiv zur Musik als Kunst der Innerlichkeit. Diese Macht darf aber eben nicht so weit gehen, dass die Freiheit und Selbstbestimmtheit des Subjekts aufgegeben wird. Aus diesem Grund ist eine maximale Beherrschung der musikalischen Form durch einen bestimmten Inhalt erforderlich. Und diese maximale Bestimmtheit des Inhalts gewährleistet nach Hegel nur ein Text. Auf der anderen Seite weist Hegel ebenfalls durchgängig auf die Gefahr des Unverständlichwerdens der Musik hin. Neben die emotionale Seite treten nämlich in der Musik mit den „Zahlenverhältnißen“, nach denen das „Verhältniß der Töne“ organisiert ist, reine „Verstandesverhältniße“. „In dieser Hinsicht berühren sich das Subjective und Objective, Musik und Architectur.“37 Die Musik hat damit zwei Seiten: Sie ist nicht nur „die Kunst der tiefsten Empfindung“, sondern „anderseits der strenge kalte Verstand“.38 Mit echter Kunstgemäßheit hat allerdings diese Form der Rationalität nach Hegel nichts zu tun, sondern die Musik tritt – als Manifestation des Endes der Kunst – weiter aus der Mitte der Kultur und wird zur Sache von Spezialisten: von ‚Kennern‘, wie Hegel sagt. Diese Seite der Musik zeigt sich nun aber insbesondere dort, wo „die Kunst der Musik als freie Kunst hervortritt“.39 So kann die Musik eben „auch selbstständig werden, und diß ist besonders in der neueren Zeit, die architektonische Gebäude der Harmonie aufstellt, die nur den Kenner befriedigen. Bei keiner [anderen] Kunst ist diß so der Fall, daß nur ein verständiges Studium die Befriedigung gewährt.“40 Kompositorische Extravaganz und virtuose Beherrschung des Instruments vermögen aber eben nur den „Kenner des Theoretischen“ in musikalischen Angelegenheiten zu faszinieren. Den Laien lassen sie dagegen ratlos und wie „betäubt“, 34  Ebd., 35  Ebd., 36  Ebd., 37  Ebd., 38  Ebd., 39  Ebd., 40  Ebd.,

180 482 181 182 481 182 485

(Nachschrift Ascheberg 1820/21). (Nachschrift Hotho 1823). (Nachschrift Ascheberg 1820/21). (Nachschrift Ascheberg 1820/21). (Nachschrift Hotho 1823). (Nachschrift Ascheberg 1820/21). (Nachschrift Hotho 1823).



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sodass er sich bestenfalls seinen ungezügelten „Vorstellungen und Phantasieen“ überlässt.41 Solche Musik für Kenner ist leer, ein bloßes Spiel mit der Form, das keinen Beitrag zur Selbstverständigung leistet und so, wie Hegels ausdrücklich erklärt, „dem Zweck der Kunst ungetreu wird“.42 Damit steht, bei aller formalen Raffinesse und Perfektion, die künstlerische Relevanz solcher Musik in Frage. Hinreichende inhaltliche Bestimmtheit und damit Anknüpfungspunkte für das menschliche Bedürfnis nach Selbstvergewisserung im Medium der Sinnlichkeit, wie es für die Kunst charakteristisch ist, gewährleistet demgegenüber nach Hegel wiederum nur ein Text. Die Musik ist die einzige romantische Kunst, deren vollständige formale Autonomisierung Hegel mit dem Durchbruch der reinen Instrumentalmusik in der Zeit um 1800 erlebt hat. Strukturell vergleichbare Autonomisierungstendenzen, wie sie sich besonders in der Malerei abzeichnen, hat Hegel in seinen Ästhetikvorlesungen vor allem im Rahmen seiner Diskussion der niederländischen Genremalerei nicht nur als solche registriert. Er hat sie vielmehr auch als formale Vollendung der Gattung gefeiert und für die Konstruktion des argumentativen Übergangs zur Darstellung der nächsten romantischen Kunst, der Musik also, genutzt. So kann die „Magie des Scheins“ der von ihrer mimetischen Funktion tendenziell entbundenen Farben, wie Hegel emphatisch erklärt, bereits „das Musikalische der Malerei genannt werden“.43 In der Musik selbst lässt Hegel dagegen die Autonomisierung ihrer Mittel nicht gelten und bleibt damit hinter dem Stand der Kunstentwicklung zurück. 2.3. Bedeutung durch Klanggestalt Der Text ist für Hegel in der Konzeption eines Musikstücks also das Primäre. Musik ist daher philosophisch relevant nur als ‚begleitende‘ – nicht etwa als begleitete oder gar als freie. Allerdings lässt sich zeigen, dass Hegel implizit durchaus zu der Einsicht kommt, dass der Inhalt der Musik, für ihn also: die Emotionen, auch prinzipiell unabhängig von einem durch die Musik bloß begleiteten Text, d. h. durch die Musik als solche, geliefert werden kann und muss, ohne das Subjekt in dem beschriebenen Maß zu überwältigen oder an ihm vorbeizureden. Dabei vermeidet er zugleich einen weiteren Anachronismus, der auf seiner Musiktheorie lastet, nämlich die in der Rezeption zu recht problematisierte44 Annahme, dass in der Musik ein für sich bereits existierender Inhalt, eine Emotion, einen Ausdruck erhält, der aber ebenso 41  GW 28,

2 (Anm. 10), 842 (Nachschrift Griesheim 1826). 1 (Anm. 8), 485 f. (Nachschrift Hotho 1823). 43  Die Ästhetik nach Hegels Vortrag geschrieben von Heimann. Im Wintersemester 1828/29 (Anm. 17), Ms. Heimann 117. 44  Vgl. Kulenkampff, „Musik bei Kant und Hegel“ (Anm. 21), 159 f. 42  GW 28,

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gut, ja besser, in anderer Form, nämlich der Sprache, erfasst werden kann. Den maßgeblichen Bezugspunkt für diese weiterführende Deutungsperspektive bildet aber eben nicht, wie in der Forschung zumeist angenommen, Hegels Bestimmung des Materials der Musik. Den wesentlichen Anknüpfungspunkt bildet vielmehr seine in allen Vorlesungsjahrgängen wiederholte Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem natürlichen und dem musikalisch geformten Gefühlsausdruck. So ist der natürliche Gefühlsausdruck in „Schrei, Interjectionen, Seufzen, Schluchzen“ usw., wie Hegel erklärt, „noch keine Musik“.45 Der Grund hierfür liegt darin, dass es sich bei diesem natürlichen „Ton der Empfindung“ zwar ebenfalls, wie bei der Musik, um eine Gefühlsäußerung handelt. Allerdings handelt es sich hier nicht um „ein willkührliches Zeichen der Vorstellung“46, also die Gestaltung eines geistigen Inhalts, wie sie in der Kunst gefordert ist: Die Musik ist „kein blosser Schrei der Empfindung, sondern ihr ausgebildeter Ausdruk“, also eben bewusste Gestaltung.47 Die „Interjection“ ist daher zwar „die wahre Form der Empfindung“, aber erst „das Cadenziren der Interjection die wahre Kunst der Musik. die Kunst beginnt da, wo die Musik das Verweilen der Interjection zum Zweck macht.“48 Zwar geht Hegel mit seiner Unterscheidung zwischen Empfindungsäußerung in der Musik und natürlicher Empfindungsäußerung nach wie vor vom Konzept der Vokalmusik aus. Der entscheidende Punkt ist hier aber zum einen, dass in der Musik im Zuge dieses gestaltenden ‚Kadenzierens‘ der „Unterschied eines Subjectiven und Objectiven“, also eine reflexive Brechung, eintritt, die in der natürlichen Empfindung fehlt, wo gilt: „ich bin in Affect, ich bin bestimmt, ohne aber zu obigem Unterschiede fortgegangen zu seyn.“49 Und durch diese innere Distanznahme unterscheidet sich die künstlerische Musik Hegels Auffassung nach von ihren vorkünstlerischen Ursprüngen und Manifestationsformen, indem sie das Subjekt frei sein lässt, anstatt es zu überwältigen. Diese in der Gestaltung vollzogene Distanzierung besteht nun in der Entwicklung einer eigenen Formensprache, die ganz dem Medium angemessen sein muss. So muss in der Musik „z. B. der einzelne Schrei des Schmerzes, der Schmerz […] in sich befestigt werden, in sich eine Objektivität erhalten“, und „dieß geschieht durch Wiederholung seines Ausdrucks“. Diese „Gleichförmigkeit in der Wiederkehr“ ergibt sich aber eben aus der medialen Verfasstheit der Musik selbst mit der „Nothwendigkeit 45  GW 28,

1 (Anm. 8), 483 (Nachschrift Hotho 1823). 182 (Nachschrift Ascheberg 1820/21). 47  Ebd., 483 (Nachschrift Hotho 1823). 48  Ebd., 182 (Nachschrift Ascheberg 1820/21). 49  Ebd. 46  Ebd.,



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des Takts, daß nach einer Menge von Veränderungen sich ein Abschnitt zeigt und daß dieser in gleichen Zeiten wiederkehrt“.50 D. h. „die Musik erregt Empfindung […], indem sie in ein bestimmtes Verhältniß gebracht wird, und das Tönen zum Gegenstand gemacht wird“.51 Dies bedeutet aber, dass die künstlerische Musik auch unabhängig von wortsprachlichen Elementen nicht einfach leer ist, sondern selbst jeweils bereits einen Inhalt hat. Dabei ist dieser Inhalt zumindest soweit in sich bestimmt, dass er eben durch ein ‚bestimmtes Verhältnis‘ der Töne zueinander vergegenwärtigt wird und sich also von anderen solchen Konstellationen in charakteristischer Weise unterscheidet. So erklärt Hegel etwa selbst ausdrücklich, dass im Sinne der „Harmonie der Schönheit“ Verbindungen kontrastierender Gefühlsausdrücke in einer Musik zu vermeiden sind, wie „die fröhliche Stimmung des Herzens im Walzer, aber zugleich auch die heftigste Zerrissenheit des Gemüthes“.52 Mit seinem Hinweis auf den „verschiedene[n] Geschmak der Nationen“53 verweist Hegel dabei zudem zumindest am Rande auf die kulturelle Kontingenz der Musiksysteme, ihre Konventionalität, die die musikalische Expressivität bzw. ihr Verständnis immer schon mitbestimmt. Überhaupt steht Musik jeweils in einem Kontext, und man darf sie daher „nicht aus dem Umfange ihrer Wirklichkeit herausgerissen, beurtheilen“.54 Zum anderen geschieht der Empfindungsausdruck bei dem natürlichen Ausdruck zwar unwillkürlich, er ist aber zugleich eine bloße „Folge“ der empfundenen Emotion: Die Emotion wäre für das Subjekt auch dann vorhan50  GW 28,

2 (Anm. 10), 836 (Nachschrift Griesheim 1826). Ästhetik nach Hegels Vortrag geschrieben von Heimann. Im Wintersemester 1828/29 (Anm. 17), Ms. Heimann 121. 52  Ebd., 124. 53  GW 28, 1 (Anm. 8), 181 (Nachschrift Ascheberg 1820/21). 54  Die Ästhetik nach Hegels Vortrag geschrieben von Heimann. Im Wintersemester 1828/29 (Anm. 17), Ms. Heimann 124. – Damit wäre auch das von Hegel diskutierte Verhältnis von Musik und Sprache zu präzisieren: Hegel beschränkt sich hier darauf, eine „mittelere Art Poesie“ zu fordern, die sich weder in Trivialitäten ergeht noch zu „gedankenschwer“ daherkommt, wenn sie dem Charakter der Musik als Kunst der subjektiven Innerlichkeit angemessen sein soll. (Ebd., 123.) Zudem müsse der Sprachrhythmus zum Rhythmus der Musik passen. (Vgl. bes. GW 28, 1, 185, Nachschrift Ascheberg 1820/21; ferner ebd. 841 f., Nachschrift Griesheim 1826; ferner Die Ästhetik nach Hegels Vortrag geschrieben von Heimann. Im Wintersemester 1828/29, Anm. 17, Ms. Heimann 120.) Hinsichtlich ihres Inhalts als Kunst des Gefühls ist demgegenüber festzuhalten, dass die Musik verzichtbar wäre, wenn sie den Inhalt des begleitenden Textes nur illustrieren würde; Musikstücke mit identischem Text – etwa verschiedene Requien – wären dann letztlich identische Werke. Musik erhält aber eben nicht erst durch den Text ihren emotionalen Ausdruck, sondern sie passt zu einem Text, weil sie bereits einen bestimmten Ausdruck hat. Insofern kann man sagen, dass in begleitender Musik nicht nur der Text die Bedeutung der Musik präzisiert, sondern auch umgekehrt. 51  Die

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den, wenn durch irgendeinen Umstand ihre Artikulation unterdrückt würde. Die Musik bleibt dagegen nicht bei dieser unwillkürlichen „Äußrung der Empfindung“ stehen, sondern „sie macht sie sich zum Zweck“.55 Das bedeutet aber, dass die Musik nicht auf die bloße Reproduktion eines bereits unabhängig von ihr Vorhandenen angelegt ist, woraus sich – wie Hegel ergänzt – auch erklärt, „warum beschreibende, erzählende Musik eigentlich ein Mißgriff ist“56: Die Musik ahmt nichts nach. In diesem Sinn kritisiert er auch Webers Freischütz, dessen Uraufführung im Juni 1821 das zweite Groß­ ereignis des Berliner Musiklebens zur Zeit Hegels bildet: Der sogenannte ‚Lachchor‘ in Webers Werk sei ein bloß haltungsloses Herausplatzen, d. h. eine bloße Interjektion ohne die fällige Kandenzierung durch Gestaltung.57 Wenn die künstlerische Musik aber ihre genuine Sprache entwickelt statt nur bereits Bekanntes zu wiederholen, dann heißt das letztlich, dass sie auch Inhalte vergegenwärtigen – also für Hegel: Emotionen vorführen – kann, die uns nicht oder zumindest nicht in dieser Weise bekannt waren.58 Sie eröffnet 55  GW 28,

1 (Anm. 8), 483 (Nachschrift Hotho 1823). 182 (Nachschrift Ascheberg 1820/21). 57  Allerdings hat Dahlhaus darauf hingewiesen, dass Hegel mit diesem Einwand sie subtile ‚Cadenzierung‘ dieses Werks verkennt: „Daß Hegel, wie es scheint, das ‚haltungslose Herausplatzen‘ des Spottchores musikalisch-strukturell nicht zu begreifen vermochte – es handelt sich, technisch gesprochen, um eine metrisch irreguläre Dehnung des Quintsextakkords der IV. Stufe: um eine Argumentation in dem in der Tat irritierenden Verhältnis 8:1 –, daß er darum meinte, der Spottchor sei nichts als rohe, aus der musikalischen Struktur herausfallende Realistik, ist einem musikalischen Laien, als den Hegel sich offen bekannte, schwerlich zu verübeln. Die negative musikalische Erfahrung aber, die Hegel mit modern-romantischer Musik in Gestalt des Freischütz in den 1820er Jahren machte, ist wiederum, kaum anders als bei der Auseinandersetzung mit der absoluten Musik in der Interpretation E.T.A. Hoffmanns, eng mit philosophischen Motiven, die der Hegelschen Musikästhetik zugrundeliegen, verquickt, ohne daß es einstweilen möglich wäre, die chronologischen und philologischen Probleme, die damit verknüpft sind, restlos zu entwirren.“ (Dahlhaus, „Hegel und die Musik seiner Zeit“, Anm. 5, 344). 58  Auch in dieser Hinsicht wäre das von Hegel diskutierte Verhältnis von Musik und Sprache zu präzisieren: Zwar können wir Empfindungen, die wir kennen, erinnern und wiedererkennen, ohne sie zu haben; wir können also, auf die Musik bezogen, etwa ein Requiem hören, ohne dabei traurig zu sein. Aber wir können Empfindungen nicht erkennen, ohne sie je grundsätzlich gehabt zu haben. Allerdings bleiben diese Empfindungen im Alltag tendenziell eindimensional und beschränkt: Ihre vielfältigen Färbungen und Facetten gehen in den allgemeinsten Kategorien auf, die die alltägliche Sprache uns zur Verfügung stellt, wie „Trauer, Furcht, Heiterkeit“. (GW 28, 1, 482, Nachschrift Hotho 1823) Die Musik qualifiziert sich demgegenüber dadurch als Sprache der Empfindung, dass sie uns anbietet, uns von ihr in Modulationen von Empfindungen versetzen zu lassen, die wir so vielleicht noch nie hatten und die wir nur so kennenlernen. Hier kann die Musik durchaus ‚bestimmter‘ sein als die Sprache und als genaueste Bezeichnung für eine Stimmung und Empfindung dienen. (Vgl. Kulenkampff, „Musik bei Kant und Hegel“, Anm. 21, 163). 56  Ebd.,



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dem Menschen damit die Möglichkeit, etwas Neues über sich selbst – als der Gefühle fähiges Wesen – zu erfahren, das ohne Musik nicht erfahren werden könnte. Die für Hegels Argumentation ansonsten so charakteristische Unterscheidung zwischen Instrumental- und Vokalmusik und seine einseitige Auszeichnung der Letzteren ist aus dieser Perspektive sekundär: Die Gestaltung des Ausdrucks, die eine Tonfolge als Kunst qualifiziert, kann in beiden Musikformen gleichermaßen stattfinden. Über die künstlerische Relevanz von Musik entscheidet dann aber eben nicht ihre Anlage als Instrumental- oder Vokalmusik, sondern vielmehr die Frage, inwieweit sie geeignet ist, einen Beitrag zur Selbstverständigung zu leisten. 3. Musikästhetik im Zeichen des Endes der Kunst Musik ist heute, vor allem dank der modernen Reproduktionstechniken, präsenter als in jeder anderen Epoche der Geschichte. Und es gibt heute zudem viele Menschen, für die Musik wichtig, ja oft „geradezu lebens­ notwendig“59 ist – vielleicht sogar ebenfalls mehr als in früheren Epochen. Diese Präsenz und persönliche Bedeutsamkeit widerspricht aber durchaus nicht Hegels Diagnose vom Ende der Kunst – hier: in musikalischen Angelegenheiten. Vielmehr ergeben sich aus ihr Arbeitsfelder, zu denen eine philosophische Bestimmung der Musik in der Gegenwart Stellung beziehen muss. Hegels These vom Ende der Kunst besagt, dass das Ziel der Bestimmtheit in der Musik – ebenso wie in der Kunst allgemein – heute im strengen Sinn der Eindeutigkeit unangemessen ist: Eindeutigkeit ist hier nur auf einer historisch vergangenen Stufe – im Rahmen einer allgemein geteilten Weltanschauung und Kunstsprache – zu erreichen. Eindeutigkeit bleibt für Hegel dagegen heute der Philosophie vorbehalten. Zugleich kann die Musik als Form des Absoluten Geistes aber auch nicht bloß beliebig bleiben. Sie muss sich vielmehr im Feld zwischen Eindeutigkeit und Beliebigkeit bewegen, wenn sie einen künstlerischen Beitrag zur Selbstverständigung leisten soll. Für ein modernes Verständnis künstlerischer Musik ist es somit konstitutiv, dass diese weder durchgängig bestimmt noch beliebig ist und daher zum Gegenstand der Reflexion, Interpretation und Diskussion wird.60 Als ein solcher Gegenstand hat die Musik aber keinen quasi natürlichen Ort in der Kultur mehr, sondern sie bedarf der besonderen Pflege und Verwaltung. An59  Siep,

„Hegel über begleitende und selbständige Musik“ (Anm. 6), 106. Andrew Bowie, Music, Philosophy, and Modernity, Cambridge, New York, Melbourne u. a. 2017, 127. 60  Vgl.

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ders gesagt: Künstlerische Musik ist in der Gegenwart Teil des Kunstlebens mit seinen Institutionen. Aus der These vom Ende der Kunst folgt damit, dass eine Philosophie der Musik immer auch eine Theorie ihrer Institutionen enthalten muss. Was dies für die philosophische Bestimmung der Musik bedeutet, soll hier abschließend in Bezug auf drei zentrale Unterscheidungen von Hegels Musikästhetik skizziert werden: der Unterscheidung (a) zwischen begleitender und selbstständiger Musik, (b) Kennern und Laien sowie (c) Musik als solcher und künstlerischer Musik. (ad a) Zum modernen Kunstleben gehört – jenseits einer normativen Ästhe­tik – die Vielfalt der nebeneinander existierenden Weisen, wie Kunst sich manifestieren kann. So hat Hegels charakteristische Unterscheidung zwischen begleitender und selbstständiger Musik strukturelle Bedeutung: Auch die Musik ist heute nicht mehr Eine, sondern sie hat Teil an der Diversifizierung der modernen Kunstwelt. Dabei ist der von Hegel fokussierte Unterschied zwischen begleitender und freier Musik zwar nicht verschwunden, aber relativiert. Heute stehen als Hauptrichtungen der gegenwärtigen Musik Serielle Musik, Aleatorik, Rock & Pop und Easy Listening nebeneinander. Hinzu kommen Aufführungen und Adaptionen historischer Musik einschließlich der internationalen Folklore. Dabei gibt es zahllose Überschneidungen bzw. Mischformen und einen Wandel im Rezeptionsverhalten, der auch die frühere Unterscheidung zwischen Ernster Musik und Unterhaltungsmusik hat fragwürdig werden lassen. Zugleich ist die Differenzierung unterschiedlicher musikalischer Auffassungen aber keineswegs hinfällig, wie das Aufkommen unterschiedlichster ‚Szenen‘ mit ihren jeweiligen Vorlieben und Spezialisierungen deutlich macht. Die philosophische Herausforderung besteht hier im Sinne Hegels darin, einerseits herauszuarbeiten, was eigentlich das Gemeinsame dieser Phänomene ist, um auf diese Weise andererseits die Folie bereitzustellen, vor der ihre jeweilige Besonderheit charakterisiert werden kann. (ad b) Aus dieser Vielfalt und dem Verlust einer verbindlichen Ästhetik folgt, dass die Musik sich nicht mehr selbst ganz ausspricht: Sie wird nicht mehr zuverlässig spontan verstanden und als allgemein bedeutsam anerkannt, sondern ihr Verständnis bedarf der Unterstützung durch Spezialisten. Man kann daher sagen, dass der Abbau früherer Gewissheiten, den Hegel mit seiner These vom Ende der Kunst anspricht, auch im Musikleben weiter vorangeschritten ist. Die neueren Praktiken im musikalischen Produktions- und Rezeptionsverhalten haben damit Hegels Unterscheidung zwischen Kennern und Laien zwar modifiziert, aber – bei aller Liberalisierung – ebenfalls nicht hinfällig gemacht. Was ist aus hegelscher Perspektive zu dieser Konstellation der Kunstwelt zu sagen? Hegel hält auf der einen Seite in seiner These vom Ende der Kunst fest, dass heute „die Wissenschaft der Kunst mehr bedürfniß als in alter Zeit“ ist, die die kulturelle Bedeutung der Kunst herauszustellen



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und zu begründen hat.61 Damit ist die Epoche des Kenners angebrochen, der die Bestimmung der historischen Bedeutung der Werke und ihrer internen Gesetzmäßigkeiten übernimmt. Auf der anderen Seite macht Hegel gerade im Rahmen seiner Ausführungen zur Musik die Position des Laien stark, der umgekehrt nach der Bedeutung der so aufgrund ‚objektiver‘ Eigenschaften herausgehobenen Werke für das Individuum fragt. Als Form des Absoluten Geistes hat die Musik für Hegel aber eben sowohl individuelle als auch allgemeine kulturelle Bedeutung. Für die Philosophie muss es daher darum gehen, die Anliegen beider Standpunkte, des Kenners wie des Laien, geltend zu machen. Den Kennern fällt demnach nicht nur die Aufgabe zu, zu plausibilisieren, worin die kulturelle Bedeutung der als relevant erachteten Werke eigentlich besteht, sondern auch, welche Bedeutung sie für das Subjekt haben können. Hierfür müssen sie angesichts der extremen Diversifizierung der Musiksparten zwar Spezialisten sein und einer bestimmten ‚Szene‘ angehören. Sie müssen aber zugleich, wenn sie ihrer Vermittlerrolle gerecht werden wollen, Offenheit für die Vielfalt der musikalischen Kulturen und den Anspruch des Individuums auf individuelle Bedeutsamkeit bewahren. Den Laien fällt im Gegenzug die Aufgabe zu, nicht nur das Bedürfnis nach individueller Relevanz von Kunst stark zu machen, sondern die Relativierung der eigenen Vorlieben und Abneigungen durch das Bewusstsein der allgemeinen kulturellen Bedeutung von Musik zuzulassen. (ad c)  Und schließlich bleibt auch die Unterscheidung zwischen Musik als solcher und künstlerischer Musik, wie sie sich für Hegel aus dem Ende der Musik ihrer ‚höchsten Bestimmung nach‘ ergibt, allen aktuellen Entgrenzungstendenzen zum Trotz, relevant. So kann der Kunstcharakter eines Klang­ereignisses heute zwar noch weniger als zu Hegels Zeiten sicher an bestimmten formalen Eigenschaften und Kategorisierungen festgemacht werden: Selbst Alltagsgeräusche können inzwischen Kunstfunktion übernehmen. Umgekehrt kann Musik als bloßer Lärm, bloßes Geräusch wahrgenommen werden, das – wie schon Hegel erklärt – beim Laien bloß „Kopfweh“ verursacht.62 Dies bedeutet aber durchaus nicht, dass die Unterscheidung zwischen Musik als solcher und künstlerischer Musik hinfällig geworden wäre. Hier ist die Funktion der Kunstinstitutionen mit philosophischen Mitteln zu präzisieren: Überzeugt die in der Kunstwelt selbst geläufige soziologistische Auffassung, dass der Kunststatus einer Sache von ihrer institutionellen Einbindung abhängt – dass also etwa ein bestimmtes Musikstück Kunst ist, weil es in einem Konzertsaal aufgeführt wird? Mit Hegel kann gegenüber einem solchen Institutionalismus geltend gemacht werden, dass die künstlerische 61  GW 28,

1 (Anm. 8), 224 (Nachschrift Hotho 1823). Ästhetik nach Hegels Vortrag geschrieben von Heimann. Im Wintersemester 1828/29 (Anm. 17), Ms. Heimann 119. 62  Die

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Musik uns zwar immer in ihren Institutionen begegnet; sie geht aber nicht in ihnen auf. Hier bleibt Hegels Hinweis entscheidend, dass künstlerische Musik – anderes als bloße Musik – einen ‚geistigen Inhalt‘ hat, wie schon aus der Tatsache erhellt, dass künstlerische Musik im modernen Kunstleben zum Gegenstand der Deutung, der Interpretation, wird. Allerdings muss dieser Inhalt der Musik nicht, wie Hegel es tut, rein auf Gefühle festgelegt werden. So kann man zwar in der Tat sagen, dass Kunst – mit dem Hegelianer Arthur Danto gesprochen: immer ‚über etwas‘ sein muss.63 Dabei muss dieses Etwas in der Musik aber nicht unbedingt allein ein Gefühl sein. Bei Hegel führt diese Festlegung auf das Gefühl dazu, dass er stark konstruierte, amelodische Musik als Sache bloß leerer kennerschaftlicher Raffinesse an den Rand schiebt, weil sie sich gegen eine emotionale Erschließung sperrt. Vielmehr kann, wie Danto vor allem in Bezug auf die bildende Kunst gezeigt hat, dieses Etwas, über das Kunst ist, z. B. auch nichts sein. Sie ist dann aber nicht einfach leer, d. h. ohne Bezugnahme auf einen geistigen Inhalt, sondern ‚über nichts‘.64 Die latente Unbestimmtheit, die die Musik als Kunst dabei charakterisiert, macht sie aber eben nicht zu einer anderen oder gar überlegenen Art von Philosophie, wie die Romantiker und deren Nachfolger es sehen wollen. Allerdings ist es die Aufgabe einer Philosophie der Musik zu zeigen, dass die Musik gerade aufgrund ihrer Unbestimmtheit etwas leistet, was die Philosophie nicht leisten kann.

63  Vgl. Richard Eldridge, „Hegel on Music“, in: Hegel and the Arts, hg. v. Stephen Houlgate, Evanstan, Illinois 2007, 119–145, hier: 119. 64  Vgl. Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst (The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art, Cambridge, Mass./London 1981), übers. v. Max Looser, Frankfurt a. M. 31996 (11991), 20.

Schleiermacher, Hegel – ihre Welt und die Musik Einige Anmerkungen zum Programm des Konzertes des Duo Ingolfsson-Stoupel im Rahmen der Schleiermacher/Hegel-Tagung in Berlin im November 2018 Von Vladimir Stoupel Im Rahmen der Schleiermacher/Hegel-Tagung fand am 22. November 2018 in der Mendelssohn-Remise in der Jägerstraße in Berlin Mitte ein Konzert des Duos Judith Ingolfsson, Violine und Vladimir Stoupel, Klavier mit folgendem Programm statt: Franz Schubert (1797–1828) – Sonate für Violine und Klavier A-Dur, D 574 Johann Sebastian Bach (1675–1750) – Ciaconna aus der Partita d-Moll für Violine solo, BWV 1004 Dimitri Schostakowitsch (1906–1975) – Präludium und Fuge für Klavier Nr. 24 d-Moll, op. 87 Ludwig van Beethoven (1770–1827) – Sonate Nr. 10 G-Dur für Violine und Klavier, op. 96 Es passiert nicht unbedingt oft, dass ein Musiker einen – selbst einen denkbar kurzen – Vortrag über den Hegelschen „absoluten Geist“ in der Musik zu halten hat. Aber bei diesem Konzert schien es, dass einige einleitenden Worte zum besseren Verständnis der Programmzusammenstellung beitragen könnten. Obwohl Schleiermacher und Hegel große Anhänger der Vokalmusik waren – sie besuchten Opernaufführungen und Liederabende, wie z. B. „Die schöne Müllerin“ von Schubert – hat sich unser Duo für ein rein instrumentales Programm entschieden. Unserer Meinung nach kommt die instrumentale Musik, und vor allem die Polyphonie, in ihrer anspruchsvollen Form und hohem Grad der Abstraktion, der Idee des „absoluten Geistes“ am nächsten. Die Vokalmusik ist, schon auf Grund der Beteiligung des Wortes, eher dem Beschreibenden zugeneigt, obwohl sie in sehr vielen, insbesondere in den vokal-orchestralen Werken, wie etwa der „Missa Solemnis“ von Beethoven oder der „Matthäus-Passion“ von Bach, eine große philosophische Macht entfalten kann.

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In Berlin wurde „Die schöne Müllerin“ schon 1823 aufgeführt, im Jahr ihrer Entstehung. Wahrscheinlich haben die Musiker von einer Kopie des Manuskripts gespielt, denn gedruckt wurde sie erst 1824. Es entspricht aber auch den Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts, dass beiden Philosophen vor allem die damals zeitgenössische Musik hörten. Die Idee des klassischen Konzertes, wo hauptsächlich Werke berühmter Komponisten der Vergangenheit gespielt werden, ist wesentlich später entstanden. Obwohl rein instrumental besetzt, spiegelt die A-Dur Sonate für Violine und Klavier (1817) das Liedschaffen von Schubert in ihrer Sprache wider, wobei die Violine immer wieder als menschliche Stimme fungiert. Mit dieser Sonate versuchte der 20-jährige Schubert, sich vom früheren Vorbild Mozart zu lösen und den Anschluss an die großen Sonaten Beethovens zu erreichen. Schleiermacher und Hegel hörten Beethovens „Fidelio“ und waren auch von seinen Instrumentalschaffen zutiefst beeindruckt – Schleiermacher schickte seiner Freundin Charlotte Cummerow die Noten von BeethovenSonaten für Klavier, wofür sie sich in einem Brief vom 20.1.1808 zwar bedankte, meinte aber gleichwohl, dass diese Sonaten für sie viel zu schwer seien. Die im Abendprogramm vorgestellte Sonate für Violine und Klavier Nr. 10 G-Dur ist allerdings nicht virtuos angelegt. Sie beeindruckt aber durch ihren schlichten Ausdruck und durch ihre gesangliche Schönheit. Der Ausdruck des „absoluten Geistes“ in dieser Musik ist für uns darin enthalten, dass Beethoven es meisterhaft gelungen ist, in einer fast minimalistischen Manier ganze musikalische Landschaften zu entfalten und, ohne oberflächliche Effekte, die Musik „aus der Seele“ sprechen zu lassen. In dieser Musik durchdringt Beethoven die äußeren Schichten, um an die „absolute Musik“ zu gelangen. Das Transparente, das Schwebende spielt in dieser Sonate eine sehr große Rolle. Gleichwohl ist die Sonate – die ein wenig nostalgisch klingen mag – nicht rückwärtsgewandt, sondern eher zukunftsweisend. Die öfter verwendete Form des Kanons, bei dem Klavier und Geige eine gleichwertige Rolle spielen, eignet sich bestens für die Entwicklung langer Dialoge, die auch die humorvolle Seite der Beethovenschen Musik nicht auslassen. Die Gleichwertigkeit der beiden Instrumente, ein Novum in der damaligen Zeit, hat sich seitdem als neuer Maßstab für die künftigen Komponisten-Generationen etabliert. Auch bei den epochalen Aufführungen von Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“, die Felix Mendelssohn-Bartholdy 1829 in Berlin dirigiert hat, waren Schleiermacher und Hegel anwesend. Das lässt doch auf ein ernsthaftes Interesse schließen, wenn man nicht annehmen möchte, dass es Hegel dabei nur um das gesellschaftliche Event ging. In der Hothoschen Druckfassung der Ästhetik jedenfalls wird Bach – sicher mit Blick auf die von Mendelssohn initiierte Wiederentdeckung der Matthäuspassion – als „ein



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Meister“ bezeichnet, „dessen großartige, echt protestantische, kernige und doch gleichsam gelehrte Genialität man erst neuerdings wieder vollständig hat schätzen lernen“. Diese „gelehrte Genialität“ kommt im vollen Maße auch bei der Ciaconna aus der Partita d-Moll für Violine solo zum Ausdruck. Bach, der selbst auch hervorragend Geige spielte, hat es verstanden, polyphonisch für ein melodisches Instrument zu schreiben. Die – manchmal tief versteckte aber dennoch stets präsente – Polyphonie verleiht dem Werk eine architektonische Tiefe, die die Ciaconna fast wir eine sich im linearen Zeitraum entwickelnde Kathedrale erscheinen lässt. Als zeitgenössisch kann Dimitri Schostakowitsch heute nicht mehr gelten. Dennoch bildet sein Zyklus aus 24 Präludien und Fugen, bei denen Schostakowitsch zur Polyphonie in reiner Form greift, eine wichtige Brücke zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Hier demonstriert er, der ein großer Bewunderer von J. S. Bach war, wieder einmal seine hohe Beherrschung der polyphonischen Kunst. Der Zyklus gab dem Komponisten unschätzbare Möglichkeiten, seine Kreativität ungeachtet der sozialen und politischen Verhältnisse unter Beweis zu stellen. Im Präludium und der Fuge ­d-Moll wird die Summe des Zyklus gezogen: das Präludium, abwechselnd ernst und intim, bereitet die Fuge vor, die vom Temperament her so vielgestaltig ist wie der Form nach. Die lange Doppelfuge erinnert an die letzte Fuge aus der „Kunst der Fuge“ von J. S. Bach, wobei das erste Fugen-Thema schon im Präludium angedeutet wird. Der dramatische Höhepunkt ist umso überzeugender, als er mit Mühe errungen wird. Für Schostakowitsch war die Polyphonie der Ausdruck des absoluten Geistes und als solche auch der Freiheit in der Musik. Der Zyklus entstand zu einem Zeitpunkt, als die abstrakte Komposition in der Sowjetunion nicht nur unerwünscht, sondern auch gefährlich war, weil sie sich nicht für parteipolitische Zwecke vereinnahmen ließ. Genauso wenig ließ sich auch die Hegelsche Philosophie vereinnahmen, die als Bedrohung für den herrschenden Marxismus-Leninismus angesehen wurde. Das Programm zeichnet somit insgesamt den Geist der damaligen und der heutigen Epoche nach.

Friedrich Schleiermachers Güterlehre als objektive Ethik: Kultur – Ware – Eigentum Von Sarah Schmidt 1. Schleiermachers „objektive Ethik“ und der Mittelweg zwischen Sein und Sollen Schleiermacher wurde und wird in der Geschichte seiner Rezeption immer wieder – zustimmend wie ablehnend – als Philosoph des Subjektiven und/ oder des Individuellen etikettiert.1 Sicherlich ist weder das Etikett des Subjektiven noch des Individuellen falsch, riskiert jedoch in Einseitigkeit geäußert den eigentlichen Ansatz einer Vermittlung von Subjektivem und Objektivem, von Individuellem und Allgemeinem zu verzerren und wird der großen Bedeutung, die Schleiermacher sowohl in erkenntnistheoretischer als auch in ethischer Perspektive der Analyse konkreter gesellschaftlicher Konstellationen zusprach, nicht gerecht. Einen Baustein zu diesem einseitigen Urteil über Schleiermacher hat – neben einer meist literaturwissenschaftlich dominierten Rezeption der Romantik als Traum-, Gefühls- und Mythen-Renaissance – u. a. auch Hegel in seiner Polemik gegen Schleiermachers vermeintlich subjektives, da auf dem Gefühl 1  Als Kritik formuliert sich dies u. a. besonders stark im politischen Kontext der beginnenden 1930er Jahre: So behauptet Bartelheimer, Schleiermachers Theologie sei in „verkehrter Weise anthropozentrisch“ (Wilhelm Bartelheimer, Schleiermacher und die gegenwärtige Schleiermacherkritik: eine Untersuchung über den Subjektivismus, mit einem Vorw. von Friedrich Gogarten, Leipzig 1931, 4), er folge einem „schrankenlosen Subjektivismus“ und Relativismus (ebd., 2) und der „Schrei nach Autorität verstummt nicht, und das Bemühen, sie [die Gemeinschaft, S. S.] neu zu bilden und zu begründen, um dem Subjekt aus seinem Relativismus herauszuhelfen, wird unverkennbar für die Gegenwart als die ernsteste und dringlichste geistige Aufgabe empfunden“ (ebd.). Georg Wobbermin versucht in seiner Reaktion auf Bartelheimer 1933 in den „Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen“ die Vorwürfe der dialektischen Theologie zu entkräften, indem er dafür plädiert, Schleiermachers Theologie möglichst unabhängig von jener, so Wobbermin, nur fragmentarisch und systematisch widersprüchlich vorliegenden Philosophie Schleiermachers zu machen (Wobbermin, „Methodenfragen der heutigen Schleiermacherforschung“, in: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen aus dem Jahre 1933, Phil.-hist. Klasse, 1933, 30–52, hier: 39 ff.).

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fußenden Religionsverständnis beigetragen, obwohl oder auch weil Schleiermacher nie öffentlich auf Hegels Streitangebot eingegangen ist. Wenn ich mich, wie im Titel angekündigt, der „objektiven Ethik“ Schleiermachers zuwende, so sei vorweggeschickt, dass dies kein Terminus Schleiermachers ist – ebenso wenig wie der des „objektiven Geistes“, dem bei Hegel eine zentrale Rolle im enzyklopädischen System zukommt. Auch der Terminus des „Objektiven“ findet bei Schleiermacher, anders als bei Hegel, keine philosophisch scharfe und prominente Anwendung. Schleiermacher verwendet „objektiv“ als Pendant zu individuell – also dort, wo er in den meisten Fällen von „allgemein“ oder „identisch“ oder auch „universell“ spricht.2 „Objektivationen der Vernunft“ hingegen sind alle konkreten Erscheinungsformen der Vernunft, die aber durchaus auch individuellen Charakter an sich tragen. Insofern es in Schleiermachers Ethik – wie in Hegels Untersuchung des „objektiven Geistes“ auch, allerdings nicht nur und in anderer Formation – um die Sphären des Rechts, der Familie, der Wirtschaft sowie um Tausch, Eigentum und die Bedeutung des Staates geht, wären beide philosophischen Projekte besonders dankbare Gegenstände für einen systematischen Vergleich zwischen Schleiermacher und Hegel, in dem neben ihren Differenzen auch viele Gemeinsamkeiten deutlich würden. Für einen solchen Vergleich, der meines Wissens noch nicht vorgenommen wurde, kann die folgende Auseinandersetzung allenfalls Anregungen liefern. Sie widmet sich Schleiermachers Güterlehre als dem Herzstück seiner „objektiven Ethik“, die die menschlichen Tätigkeiten als immer schon sozial bezogene Tätigkeiten versteht und Formen konkreter Sittlichkeit untersucht. Gerade dies bestimmt ihre Lesart als Kulturphilosophie,3 die nicht ohne Grund um 1900 in der Geburtsstunde der Kulturwissenschaften einsetzt.4 2  In diesem Sinne findet es sich beispielsweise in der Vorlesungsnachschrift von Schweizer von 1832, Bl. 189: „Diejenigen Handlungen welche vom objectiven ausgehen, haben einen universellen Charakter. Sie sind aber nur vollkommen sittlich wenn sie die eigenthümliche Bestimmtheit des Einzelnen in sich tragen. Diejenigen von der Eigenthümlichkeit aus haben nur individuellen Charakter müssen aber das Universelle in sich setzen.“ 3  So z.  B. bei Paul Henning Jørgensen, Die Ethik Schleiermachers, München 1959, 112–131; Bernhard Kopp, Beiträge zur Kulturphilosophie der deutschen Klassik. Eine Untersuchung im Zusammenhang mit dem Bedeutungswandel des Wortes Kultur, Meisenheim am Glan 1974, 68–81; Gunter Scholtz, „Schleiermachers Theorie der modernen Kultur mit vergleichendem Blick auf Hegel“, in: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels, hg. v. Otto Pöggeler und Annemarie Gethmann-Siefert, Bonn 1983, 143–151; ders., Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1995, 35–64; Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 488 („Soziologie der Kultur“); Wilhelm Gräb, Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002; Cornelia Richter, Die Religion in der Sprache der Kultur. Schleiermacher und Cassirer – kulturphilosophische Symmetrien und Divergenzen, Tübingen 2004,



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Schleiermacher beginnt seine Vorlesungen zur philosophischen Ethik mit dem Wintersemester 1804/05, d. h. zu Beginn seiner ersten universitären Anstellung in Halle, und setzt sie, insgesamt acht Mal, bis 1832 fort, also beinahe bis zu seinem Lebensende.5 Manuskripte aus Schleiermachers Hand und Vorlesungsnachschriften liefern – zum Teil komplementär – für fast alle Entwicklungsphasen Textdokumente, sodass sich die Modifikationen der Vorlesung gut nachverfolgen lassen. Eine kritische Edition der Ethikvorlesung ist in Arbeit.6 Der Beginn dieser Vorlesung in Halle ist jedoch nicht der Beginn seiner Auseinandersetzungen mit ethischen Fragen, die ihn schon in seinen frühromantischen Schriften, etwa den Monologen (1801), dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) oder seinen Notizheften beschäftigen und bereits Kerngedanken zum Ausdruck bringen, die bis zum Schluss grundlegend für seine Vorlesungen zur philosophischen Ethik sein werden. Auf diese Frühschriften werde ich hier nur mit kurzen vergleichenden Bemerkungen eingehen. ­ 9–121; Sarah Schmidt, Die Konstruktion der Endlichkeit. Schleiermachers Philoso5 phie der Wechselwirkung, Berlin und New York 2005, 361–387. 4  Vgl. dazu Sarah Schmidt, „Kulturkritik als geschichtliches Verstehen in Friedrich Schleiermachers Ethik“, in: Kulturwissenschaften in Europa – eine grenzüberschreitende Disziplin?, hg. v. Andrea Allerkamp und Gérald Raulet, Münster 2010, 39–55. 5  Für die erste Vorlesung 1804/05 liegen keine Nachschriften vor, 1805/06 ist in vier Parallelnachschriften ausführlich dokumentiert, für die erste Berliner Vorlesung von 1807 liegt eine in der Mitte abbrechende Handschrift Varnhagen von Enses vor, für 1812/13 eine ausführliche Nachschrift; die Kollegien 1814/15 und 1816/17 sind durch eine Nachschrift nicht überliefert, für 1827 liegen zwei Nachschriften vor und für die letzte Vorlesung von 1832 sogar drei. 6  Schleiermachers Manuskripte zur philosophischen Ethik werden gegenwärtig von der Autorin für die historisch-kritische Gesamtausgabe vorbereitet und erscheinen im Teilband KGA II/1.1. (2024), die Vorlesungsnachschriften von Andreas Arndt, sie erscheinen im Teilband KGA II/1.2 (2024). Die von Andreas Arndt erarbeiteten Transkriptionen dieser Vorlesungen konnte ich für diesen Beitrag auswerten, wofür ich ihm meinen Dank aussprechen möchte. Es handelt sich um folgende Nachschriften: Nachschrift Boeckh 1805/06, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Schleiermacher-Nachlass, SN 585/1; Nachschrift Adolf Müller 1805/06, Stadtbibliothek Bremen, 134738 (Brem. B. 652 Nr. 21); Nachschrift Anonymus 1805/06, Evangelisch-reformierte Gemeinde Lübeck, Bibliothek KIII 26; Nachschrift Varnhagen van Ense 1807, Jagiellonische Bibliothek Krakau, Sammlung Varnhagen; Nachschrift Anonymus 1816, Fröbel-Archiv Rudolstadt-Keilhau; Nachschrift Anonymus 1827, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Schleiermacher-Nachlass, SN 586; Nachschrift Stolpe 1827, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Handschriftensammlung, Dep. 42, Schleiermacher-Archiv I, K.4, C.3; Nachschrift Alexander Schweizer 1832, Zentralbibliothek Zürich, Nachlass Alexander Schweizer VIII 28.

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Schleiermacher versteht und präsentiert seinen eigenen ethischen Entwurf als Mittelweg zwischen zwei Ansätzen praktischer Philosophie – eine Forderung, die sich bereits in den 1798 anonym publizierten „Fragmenten“ im Athenäum7 und in seinen frühen Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre von 1803 findet. Die zwei je einseitigen ethischen Ansätze werden durch den Gegensatz von Sein und Sollen, Sitte und Gesetz bestimmt und zeigen sich z. B. zwischen Altertum (wo Güter- und Tugendlehre dominieren) und Moderne (der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in Namen vor allem Kant, die Ethik als Pflichtenethik entwirft).8 Aber auch innerhalb der Moderne macht Schleiermacher beide Ansätze aus, so z. B. im Gegenüber von Eudämonismus9 oder einer „consultative[n] Ethik“ und der Pflichten­ ethik à la Kant.10 „In allen Formen sezt sie [die kantische Philosophie, S. S.] das Sollen, ohne sich zu bekümmern um das Sein, als charakteristisch für das 7  In den Fragmenten stellt Schleiermacher diesen Gegensatz als Gegensatz nationaler Philosophien dar und polemisiert gegen die normative Unterbestimmtheit französischer und englischer Entwürfe: „Jämmerlich ist freylich jene praktische Philosophie der Franzosen und Engländer, von denen man meynt, sie wüßten so gut, was der Mensch sey, unerachtet sie nicht darüber spekulirten, was er seyn solle. Jede organische Natur hat ihre Regel, ihr Sollen; und wer darum nicht weiß, wie kann der sie kennen? Woher nehmen sie denn den Eintheilungsgrund ihrer naturhistorischen Beschreibungen und wonach messen sie den Menschen? Eben so gut sind sie aber doch als jene, die mit dem Sollen anfangen und endigen. Diese wissen nicht, daß der sittliche Mensch aus eigner Kraft sich um seine Axe frey bewegt. Sie haben den Punkt außer der Erde gefunden, den nur ein Mathematiker suchen wollen kann, aber die Erde selbst verloren. Um zu sagen, was der Mensch soll, muß man einer seyn, und es nebenbey auch wissen.“ (KGA I/2, 151). 8  Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, auf der Grundlage der Ausgabe von O. Braun, hg. v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1990 (2. verbesserte Auflage), 16, § 86. 9  Ebd. 6, § 8. 10  Ebd. 10, § 42: „Die imperativische Ethik faßt nur die Seite des Nichtgewordenen, drückt also das allmählige Verschwinden dieses Factors nicht aus.“ Vgl. ebd., § 43: „Die consultative [Ethik, S. S.] faßt nur die Seite des Gewordenen, denn nur für die gewordene kann es gleichgültig sein dasselbe unter der Form der Vernunft oder der Sinnlichkeit auszudrücken.“ Vgl. ebd., § 44: „Eine vollständige Darstellung muß also den Gegensaz beider Formen aufheben.“ – Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Broullion zur Ethik (1805/06), auf der Grundlage der Ausgabe von O. Braun, hg. u. eingeleitet v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981, 17: „Unter dem Charakter der Gesezmäßigkeit wollen in unsern Zeiten die bürgerlichen Menschen die ganze Sittlichkeit anschaun. Mit Recht, denn ohne Gemeinschaft kann die Vernunft im Einzelnen nicht zur Identität hinaufsteigen. Aber sie muß die Individualität mitbringen, sonst bringt sie ja nur ein Organ mit, das sich erst ein beseelendes Princip sucht.“ Vgl. ebd., 11: „Form und Stil der Ethik. Der Stil der Ethik ist der historische. Denn nur wo Erscheinung und Gesez als dasselbe gegeben ist, ist eine wissenschaftliche Anschauung. Im Sollen ist ein Zwiespalt gesezt, im Rathgeben ein Aeusseres und Bedingtes. Der Stil kann also weder imperativisch noch consultativisch sein.“



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Ethische im Gegensaz gegen das Physische. Aber die Erscheinung ist im Physischen auch dem Begriff nie angemessen, und was für die Ethik eigentlich Object ist, nemlich die Kraft, aus welcher die einzelnen Handlungen hervorgehen, muß in der Ethik auch als seiend und mit seinem Sollen identisch vorausgesezt werden.“11 Schleiermachers Kritik an Kant manifestiert sich unter anderem in einer Neugewichtung von Güter-, Tugend-, und Pflichtenlehre.12 Die Pflichtenlehre und mit ihr die Frage: Was soll ich tun? bildet nicht den Dreh- und Angelpunkt des ethischen Interesses, sie ist lediglich einer von drei möglichen Zugängen. Nimmt die Pflichtenlehre das sittlich kleinste Element, die einzelne Handlung, in Augenschein, so beschäftigt sich die Tugendlehre mit dem sittlichen Vermögen des Individuums. Die Güterlehre hingegen richtet den Blick auf die „Produkte“ der Handlungen, bzw. auf all das, was aus dem menschlichen Handeln hervorgegangen ist. Der in der Güterlehre in Anspruch genommene Begriff des Gutes ist dabei, wie Schleiermacher in seiner Akademierede „Über den Begriff des höchsten Gutes“ ausführt, am ehesten mit dem ökonomischen Ausdruck des Gutes vergleichbar.13 Denn ein Gut kann sowohl ein konkreter Gegenstand sein (in dem sich menschliches Handeln manifestiert und das seinerseits wiederum menschliches Handeln anleitet) als auch eine zur Institution geronnene Organisationsform des menschlichen Zusammenlebens. Neben der Analyse der einzelnen vernünftigen Tätigkeiten geht es in der Güterlehre um die Analyse so genannter „ethischer Formen“, die institutionalisierte Handlungskomplexe darstellen. Auch wenn ein Gut im privaten Leben entsteht – wie z. B. der je eigen organisierte Wohnraum einer Person – so bringt dieses Gut nie allein die Individualität dieser Person, sondern immer auch gemeinschaftliches Handeln zum Ausdruck. Insofern sie der systematische Ort ist, an dem die Wechselwirkung von Individuellem und Allgemeinen unter einem gesellschaftlichen Weitwinkel untersucht wird, bezeichnet Schleiermacher die Güterlehre auch als „sittliche[n] Makrokosmos“. Das „höchste Gut“ als Ziellinie aller sittlichen Bemühungen muss nach Schleiermacher als vollkommene oder gelungene Organisation aller Güter vorgestellt werden.14 Ethik (Anm. 8), 6, § 10. dreigliedrige Grundstruktur der eine metareflexive Einleitung vorangestellt ist, bleibt in allen Vorlesungen erhalten. Eine eigene Fassung der Einleitung findet sich lediglich in den nahezu vollständigen Entwürfen des Brouillon zur Ethik und den Notizen zur Vorlesung von 1812/13 sowie in dem Manuskript von 1816/17. 13  Vgl. KGA I/11, Über den Begriff des höchsten Gutes (I), 545. 14  Indem Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre verschiedene Perspektiven auf ein und denselben Prozess darstellen und zwar derart, dass, wenn alle Tugenden erreicht und alle Pflichten erfüllt sind, auch alle Güter geschaffen sind – setzt Schleiermacher sich deutlich gegen Kants Entwurf des höchsten Gutes ab. Bei Kant wird das höchste 11  Schleiermacher, 12  Die

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Mit dieser Dreiteilung der Ethik – der Güterlehre als ihr „Makrokosmos“, der Tugendlehre als „sittlicher Mikrokosmos“15 (denn hier geht es um das Vermögen der einzelnen Person zu Handeln) und der Pflichtenlehre als Elementarlehre der Handlung16 – unterscheidet Schleiermacher keine Gegenstandsbereiche des Sittlichen, sondern drei Perspektiven auf den Prozess der erscheinenden Vernunft, die – wären sie vollendet – jede für sich den ganzen sittlichen Prozess in Augenschein nehmen.17 Gleichwohl kommt der Güterlehre unter diesen drei möglichen Perspektiven, sich dem Sittlichen anzunähern, ein besonderes Gewicht zu, insofern sie in ihrer progressiven, im Werden begriffenen und somit noch unvollendeten Gestalt am umfassendsten ist.18 Erst mit einem Fokus auf die Güter Gut als Zusammenfallen von Vollkommenheit und Glückseligkeit gefasst, deren Realisierung jedoch nicht in menschlicher Gewalt steht, der Mensch darf lediglich hoffen, dass sein moralisches Handeln vom Glück begleitet wird, dessen er sich würdig erwiesen hat. Im Gegensatz zur Kantischen Philosophie wird von Schleiermacher das höchste Gut mit dem Prozess des Sittlichen so verwoben, dass die Realisierung des Sittlichen und die Realisierung des höchsten Gutes ein und dasselbe ist. (Vgl. dazu vor allem Tobias Berben, „Praktische Vernunft und Individualität. Schleiermachers Ethik als Theorie konventioneller Moralität“, in: Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, hg. v. Dieter Burdorf und Reinold Schmücker, Paderborn, München, Wien und Zürich 1998, 163–185, hier: 172 ff.). Die Güterlehre und mithin das höchste Gut auf die Gemeinschaft und nicht allein auf den einzelnen Menschen zu beziehen, darin sieht Schleiermacher den wesentlichen Unterschied zu den Ethiken der Antike, die ebenfalls als Güterlehren angelegt sind (vgl. dazu KGA I/11, Über den Begriff des höchsten Gutes, 547). 15  Schleiermacher, Ethik (Anm. 8), 17, § 100, vgl. dazu auch KGA I/11, Über die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs, 321. 16  Vgl. Schleiermacher, Ethik (Anm. 8), 18, § 101: Die Pflichtenlehre ist die „Darstellung des vernünftigen Momentes […] des unendlich Kleinen, des Elementes im sittlichen Prozeß“. 17  Vgl. ebd., 221, § 117: „Wenn alle Güter gegeben sind, müssen auch alle Tugenden und alle Pflichten mit gesezt sein; wenn alle Tugenden, dann auch alle Güter und Pflichten; wenn alle Pflichten, dann auch alle Tugenden und Güter.“ Vgl. auch KGA I/11, Über die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs, 320 f. u. Schleiermacher, Ethik (Anm. 8), 220, §§ 113 ff. 18  Vgl. KGA I/11, Über den Begriff des höchsten Gutes, 540: „Kommt doch das meiste von dem was in der menschlichen Welt geschieht, und auch unser Leben bedingt und bestimmt, nicht durch unsere und anderer Einzelner sittliche Weltbestimmungen und pflichtmäßiges Handeln zu Stande, sondern auf eine andere Weise“. Die gewichtige Bedeutung der Güterlehre schlägt sich auch in der Darstellung nieder, denn die Tugend- und Pflichtenlehre liegen eher fragmentarisch vor. Dieser Umstand kann auch durch die Akademieabhandlungen nur zum Teil kompensiert werden, die eher Aufschluss über die Anlage als über die konkrete Ausführung dieser zwei letzten Teile geben. Schleiermacher hielt mehrere Akademieabhandlungen zu ausgesuchten Problemen bzw. Teilen der Ethik: Über die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs (1819), Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs (1824), Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz (1825),



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wird der Weg deutlich, den wir als Menschengemeinschaft in unseren sittlichen Bemühungen bereits zurückgelegt haben, denn Güter haben eine historische Tiefendimension, in der sich die kulturelle Organisation ganzer Gesellschaften abbildet. Sie sind, will man einen modernen Ausdruck bemühen, unser kulturelles, unser sittliches Gedächtnis.19 Und erst mit dem Blick auf die Produkte unseres Handelns, die nicht nur von vergangenem Handeln Zeugnis ablegen, sondern zukünftiges Handeln maßgeblich anleiten, wird die Frage aufgeworfen, ob gutes Handeln auch gelingt und wenn ja, wie. Diesem – in Objekten und Institutionen abgebildeten – gewachsenen Regelwerk sittlicher Normen kann sich niemand vollständig entziehen, wir bedienen es in unseren Handlungen ebenso wie wir uns einer bestehenden Sprache bedienen. „Darum habe ich mich“, formuliert Schleiermacher in seiner Akademievorlesung „Über den Begriff des höchsten Gutes“, „auch in alle diese herrlichen Lobpreisungen niemals finden können, wie wohl und voll sie auch klingen von einer Pflichtmäßigkeit des Handelns, welche gar nicht daran denke, was dabei herauskommt oder nicht, und von einer Tugend, welcher gar nichts darauf ankommt, ob das auch gelingt und wohl geräth, woran sie sich setzt, oder nicht, sondern dieses, wie es nun eben jeder meint, dem Zufall oder der göttlichen Vorsehung anheimstellt.“20 Eine Ethik ohne Einschluss konkreter Sittlichkeit bliebe demnach leer, oder wie Hegel in seiner Kant-Kritik mit ähnlicher Stoßrichtung formuliert, eine Tautologie.21 Zugleich darf die Gültigkeit sittlicher Normen nicht allein Über den Begriff des Erlaubten (1826). Den Abschluss bilden die zwei Abhandlungen Über den Begriff des höchsten Gutes (1827 u. 1830). 19  Es macht daher in Schleiermachers System wenig Sinn, einen Naturzustand von einem Zivilisationszustand zu unterscheiden. Es gibt kein erstes Anfangen der Wirkung der Natur auf die Vernunft und der Vernunft auf die Natur. Ihr Aufeinandereinwirken hat immer schon begonnen: „Die Vernunft wird in der Natur gefunden und die Ethik stellt kein Handeln dar, wodurch sie ursprünglich hineinkäme.“ (Schleiermacher, Ethik, Anm. 8, 9, § 39); „Jedes Erscheinen der Vernunft unter dieser Form ist aber selbst schon zu sezen als ein Gewordenes, d. h. als einen früheren geringeren Grad ihres Vorhandenseins voraussezend, also nie als bloßes Vermögen, sondern jedes Vermögen nur mit seiner Thätigkeit und durch sie.“ (Ebd., 14, § 72). 20  KGA I 11, Über den Begriff des höchsten Gutes, 541; vgl. dazu auch Schleiermacher, Ethik (Anm. 8), 16, § 87 ff. und 224, § 122. 21  Vgl. dazu etwas Hegels Kantkritik im Naturrechtsaufsatz von 1802: „Es ergiebt sich sogleich, daß da die reine Einheit das Wesen der praktischen Vernunft ausmacht, von einem Systeme der Sittlichkeit so wenig die Rede seyn kann, daß selbst nicht einmal eine Mehrheit von Gesetzen möglich ist; indem was über den reinen Begriff, oder weil dieser, insofern er als negirend das Viele, d. h. als praktisch gesetzt wird, die Pflicht ist, was über den reinen Begriff der Pflicht und die Abstraction eines Gesetzes hinausgeht, nicht mehr dieser reinen Vernunft angehört; […] Aber

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von historisch gewachsenen Formen abhängig sein und bedarf einer normativen Orientierung. 2. Kultur als Organbildung des menschlichen Geistes – Schleiermachers Güterlehre als Kulturphilosophie Schleiermacher entwirft die Ethik als „Ausdruck des Handelns der Vernunft“22 und „Beschreibung der Geseze des menschlichen Handelns“23 als ein groß angelegtes Unternehmen, das „also alles wahrhaft menschliche Handeln umfassen und verzeichnen“24 soll. Es beinhaltet – ähnlich der Ethik Spinozas – sowohl die Anliegen der praktischen als auch der theoretischen Philosophie.25 Die Vernunft realisiert sich, indem sie Natur vernünftig strukturiert – „Organe“ schafft – und in der vernünftig strukturierten Natur sich selbst erkennt – „Symbole“ hervorbringt.26 Dies bedeutet, dass die Frage nach dem guten Handeln und die nach der Wahrheit nicht voneinander zu trennen und Momente ein und desselben Prozesses einer sich im Endlichen realisierenden Vernunft sind. die Materie der Maxime bleibt, was sie ist, eine Bestimmtheit oder Einzelheit; und die Allgemeinheit, welche ihr die Aufnahme in die Form ertheilt, ist also eine schlechthin analytische Einheit; und wenn die ihr ertheilte Einheit rein als das, was sie ist, in einem Satze, ausgesprochen wird, so ist der Satz ein analytischer und eine Tautologie.“ (GW 4, 434 f.) Für Schleiermachers Dialektik und Hegels Wissenschaft der Logik hat Andreas Arndt wesentliche Übereinstimmungen im systematischen Ansatz hervorgehoben, die sich beide an Kant abstoßen (Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin und Boston 2013, 226–247). 22  Schleiermacher, Ethik (Anm. 8), 208, § 75. 23  Schleiermacher, Broullion (Anm. 10), 4. 24  Schleiermacher, Ethik (Anm. 8), 6, § 12. 25  Als Wissenschaft ist die Ethik umfassende Geisteswissenschaft, die das „Leben der Vernunft“ (ebd., 7 § 16) behandelt. 26  „Symbol ist jedes Ineinander von Vernunft und Natur, sofern darin ein Gehandelthaben auf die Natur, Organ jedes, sofern darin ein Handelnwerden mit der Natur gesezt ist; jedes also beides auf ungleiche Weise. 1.  Denn Organ ist die Natur als Durchgangspunkt für das Handeln der Vernunft, Symbol ist sie als ruhend mit und in der Vernunft. 2.  Denn nirgends ist im beziehungsweisen In- und Außeinander von Vernunft und Natur ein Gleichgewicht. Jedes bestimmte Ineinander hat also auch seine Beziehung überwiegend auf das eine oder das andere.“ (Ebd., 235, § 7) Im Brouillon zur Ethik von 1805/06 wird diese spätere Bipolarität von einer Dreigliedrigkeit überlagert, die von der Ausführung jedoch bereits im Brouillon zu Ethik unterlaufen wird und sich auch leicht auf die Bipolarität zurückführen lässt: Statt Symbolisieren und Organisieren bedingen sich Symbolisieren, Organisieren und Erkennen wechselseitig (vgl. Schleiermacher, Brouillon, Anm. 10, 12). Erkennen und Symbolisieren als Wissen und Darstellen können jedoch als zwei Momente oder Tendenzen des Symbolisierens verstanden werden.



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Die transzendentale Begründung der Einheit der Vernunft behandelt Schleiermacher in seinen Dialektikvorlesungen. Die philosophische Ethik setzt diese ursprüngliche Einheit voraus und untersucht sie als eine in der Form der Persönlichkeit und des einzelnen Aktes zwar reale aber zugleich zerstreute Vernunft. Die Einheit der sich realisierenden Vernunft kann nur progressiv eingeholt werden, indem die Ausschnitthaftigkeit zur Gemeinschaft erhoben wird und der einzelnen Erscheinung der ihr unverwechselbare Platz in der Totalität der Erscheinungen zukommt.27 Unter diesen Vorzeichen zeigen die Prädikate „wahr“ und „falsch“ nur den „Grad der Einigung“ des Denkens an, sie sind relative Größen, nichts „Positives“ und können sich im Verlauf des sittlichen Prozesses durchaus noch wandeln: „Indem also die Sittenlehre das Handeln der Vernunft als ein Mannigfaltiges auseinanderlegt, so ist sie ein sich immer erneuerndes Sezen und Aufheben des Gegensazes von gut und böse. Er wird gesezt, indem bestimmte sittliche Gebiete gesezt werden; er wird aufgehoben, indem ein Ineinander von Natur und Vernunft gesezt wird, welches abgesehen von dem ausgedrückten Handeln nicht war.“28 Dass die Güterlehre eine Philosophie der Kultur sei, geht nicht auf Schleiermacher zurück, wohl aber taucht der Begriff der Kultur insbesondere in den frühen Ethikvorlesungen prominent auf, die diesen Rückschluss zulässt. Ab dem frühen, mit Brouillon zur Ethik überschriebenen Manuskript von 1805/06 (und trotz der seltener werdenden Verwendung bis zur letzten Vorle27  „Das Handeln der Vernunft ist in der Persönlichkeit unter die Bedingung von Raum und Zeit gesezt. Geht ihr Handeln in den räumlichen und zeitlichen Bestimmungen auf und ist also ein absolut Vereinzeltes, so wird in jedem Handeln die Totalität des sittlichen Prozesses negirt. Es muß also die Vernunft auch unter dieser Form als mit sich selbst gleich dargestellt und gezeigt werden, daß in jeder Handlung vermöge ihrer Vernünftigkeit die Totalität des sittlichen Prozesses gesezt ist.“ (Schleiermacher, Ethik, Anm. 8, 15, § 82). 28  Schleiermacher, Ethik (Anm. 8), 212, § 92; vgl. auch ebd., 10, § 47: „Da es keine reale Antivernunft geben kann, in welchem Falle es auch einen Antigott geben müßte, so kann der Gegensaz zwischen gut und böse nicht anderes ausdrücken als den positiven und den negativen Factor in dem Prozeß der werdenden Einigung und also auch nicht besser aufgefaßt werden als in der reinen und vollständigen Darstellung dieses Prozesses.“ Ferner ebd., 212, § 91: „Der Gegensaz von gut und böse bedeutet nichts anderes, als in jedem einzelnen sittlichen Gebiet das Gegeneinanderstellen dessen, was darin als Ineinandersein von Vernunft und Natur, und was als Außereinander von beiden gesezt. […] – Indem aber das Gute durch das Handeln der Vernunft gesezt ist, kann weder die Natur selbst das Böse sein, denn sie ist im Guten mitgesezt, noch kann es eine Gegenvernunft geben, deren Einssein mit der Natur das Böse wäre. Denn sonst gäbe es keine vorausgesezte Einheit der Vernunft und Natur. […] Ein sittliches Gebiet ist ein bestimmtes und begrenztes, sittlich für sich sezbares Sein. Nur in einem solchen wird Böses gesezt mit dem Guten, und kann also nur das oben Beschriebene ausdrücken.“ (Vgl. auch ebd., 34, § 78; 34, § 77 und 35, § 81).

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sung) versteht Schleiermacher unter Kultur „Organbildung“. Mithin weist er der Kultur nur eine Seite vernünftiger Tätigkeit zu, denn diese besteht nach Schleiermacher aus „Organisieren“ oder Organe bilden (Handeln im engeren Sinne) und „Symbolisieren“ (Erkennen im engeren Sinne). Zur unmittelbaren Organbildung gehört die Ausbildung menscheneigener Anlagen. Schleiermacher spricht in diesem Kontext auch von der Ausbildung der „Talente“ oder von „Gymnastik“, die nicht nur körperliches Training umfasst,29 sondern auch und vor allem den Ausbau der Denk- und Wahrnehmungsfähigkeiten.30 Die menschliche Tätigkeit des Organisierens greift jedoch weit über die Selbstbildung des Menschen hinaus und ist Aneignung und Gestaltung der (externen) Natur, deren Ergebnisse ihm als mittelbare Organe dienen. Die Bildung mittelbarer und die unmittelbarer Organe bedingen sich dabei wechselseitig. Denn jede Form der Aneignung der äußeren Natur – ein neues Instrument wie das Fernrohr beispielsweise – fordert und fördert den Ausbau meiner Fähigkeiten, ebenso wie die Entwicklung eben jener körperlich-geistigen Fähigkeiten die Art und Weise beeinflusst, wie ich mich der äußeren Natur bemächtigen kann.31 Zur mittelbaren Organbildung zählt Schleiermacher Mechanik (Aneignung der anorganischen Natur, also jede Form von Technik und Industrie), „Agrikultur“ (Aneignung der organischen Natur) und die Sammlung des wissenschaftlichen Apparates.32 Dem heutigen Sprachgebrauch entsprechend, in dem Mechanik und Agrikultur zusammen genommen den Bereich der Wirtschaft ausmachen, spricht Schleiermacher im Brouillon zur Ethik auch von einer „ökonomischen Kultur“, der die Sammlung des wissenschaftlichen Apparates als „wissenschaftliche Kultur“ oder „repräsentative Bildung“ gegenübersteht.33 Der als Organbildung oder schöpferische Naturgestaltung sehr weit gefasste Begriff der Kultur unterläuft gängige Oppositionen: Weder wird er durch den Gegensatz von Kultur und Natur noch durch den von Kultur und Gesellschaft bzw. Kultur und Zivilisation bestimmt. Natur ist keine zu überwindende Bildungsstufe, die unserer vernünftig strukturierten Welt vorausgeht, sondern ein dialektischer Gegenspieler, an dem sich die bildende Kraft der Vernunft „abarbeitet“. Nur weil sie durch und mit Vernunft organisiert wurde, ist Natur überhaupt etwas, konkret oder wirklich, und in diesem Sinne 29  Schleiermacher war ein Anhänger der in seiner Zeit aufkommenden Turnbewegung. 30  Vgl. Schleiermacher, Ethik (Anm. 8), 31. 31  Vgl. ebd., 30: „Die Ausbildung der Persönlichkeit bestimmt die Anbildung der Natur und umgekehrt. Daher ist es besser das Ganze zusammen zu lassen, und so ist es das, was wir ausdrücken wollen in der Idee der Kultur.“ 32  Vgl. ebd., 29. 33  Vgl. ebd., 69.



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ist sie eine immer schon vernünftig kultivierte Natur. Ebenso ist Vernunft nur, insofern Natur ihr Anlass gibt, sich an ihr handelnd und erkennend zu erproben. Vollkommen getrennt voneinander sind Vernunft und Natur abstrakte Größen; ihre Realisierung sind zwei Momente ein und desselben Prozesses. Bezogen auf den Begriff der Kultur bedeutet dies z. B., dass selbst der uns bei der Geburt vorliegende, organisierte Leib als kulturelles Produkt verstanden werden muss. Insofern Kultur auf den Bereich der Organbildung beschränkt bleibt und eben nicht den gesamten Prozess sittlicher Weltbildung umfasst, fällt, wie Kopp zurecht bemerkt, gerade das, was in der Klassik wesentlicher Anteil der Kultur war (Wissenschaft und Kunst) aus Schleiermachers weit gefasstem Kulturbegriff wieder heraus.34 Wissenschaft und Kunst sind daher nicht selbstverständlich Kultur, sondern können als Kultur verstanden werden, wenn es darum geht, wie sie sich als Organ oder zum Ausbau der Talente und zur Aneignung der externen Natur eignen.35 Wirft man einen Blick auf die Architektonik dieser weit gefassten Kulturproduktion, so erschließt sie sich – wie wir es von Schleiermacher kennen – als Quadruplizität. Jede Tätigkeit – das tendenziell mehr individuell und identisch vorgenommene Organisieren und Symbolisieren – bildet ihre eigene Form der Gemeinschaft aus: Während das identische Symbolisieren als Wissen wollendes Denken in den Bereich der Wissenschaft fällt (Akademie), das individuelle Symbolisieren als Ausdruck des Gefühls dem Bereich der Kunst und Religion zugeordnet werden kann (Kirche/Kunst), versteht Schleiermacher unter identischem Organisieren jede Art des Verkehrs, der sich als Tausch in der Wirtschaft oder in der Sphäre des Rechtes abspielen kann (Staat). Das individuelle Organisieren richtet sich auf die Ausbildung der eigenen Individualität und die Produktion von Eigentum in Familie und Geselligkeit.36 34  Vgl. Bernhard Kopp, Beiträge zur Kulturphilosophie der deutschen Klassik. Eine Untersuchung im Zusammenhang mit dem Bedeutungswandel des Wortes Kultur, Meisenheim am Glan 1974, 1 u. 76. 35  Man kann jedoch – und das wird stillschweigend in den meisten Interpretationen von Schleiermachers Kulturphilosophie gemacht – einen erweiterten Kulturbegriff ansetzen, der Prozess und Güter des Symbolisierens mit einschließt. Ein derart weit gefasster Kulturbegriff, würde den ganzen Bereich der Sittlichkeit umfassen. Es wäre eine Bezeichnung für alle Manifestationen menschlicher Vernunft und ihre Institutionalisierung, für den Prozess vernünftiger Tätigkeiten, in denen sich Handlung und Erkenntnis objektivieren und sich als Objektivation zukünftiger Handlungen und Erkenntnisse bestimmen. So verstanden wäre Kultur Prozess der Gestaltung sinnhafter Wirklichkeit, kein „Kampfbegriff“ (Kultur versus Natur oder versus Zivilisation), sondern eher eine Plattform, auf der Bewegungen beobachtet und analysiert werden können. 36  Die Zuordnung der freien Geselligkeit ist bei Schleiermacher ähnlich wie die der Familie nicht eindeutig vorzunehmen – denn sie kann auch dem individuellen Symbolisieren zugeteilt werden, vgl. dazu Schleiermacher, Brouillon (Anm. 10), 53.

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Mit dieser Architektur der Güterlehre entwirft Schleiermacher ein Modell gesellschaftlicher Ausdifferenzierung, das nicht als dialektische, immer höherstufige Erfahrung gedeutet wird und auch nicht im „Absoluten“ ihren versöhnenden Abschluss findet; sondern als ein offener Prozess der wechselseitigen Bildung gleichwertiger ethischer Formen. Gerade weil diese Architektur von Schleiermacher auf gleichberechtigte Tätigkeiten der Vernunft zurückgeführt werden, die eine je eigene Zielgerade verfolgen, ist die Unabhängigkeit der gesellschaftlichen Sphären die Voraussetzung einer gelungenen, beständigen Wechselwirkung. Die Forderung, den Staat nicht als übergeordnete Form zu begreifen, der Kirche, Akademie und Privatleben als Geselligkeit unter sich subsumiert und reglementiert, sondern an seine Stelle ein „institutionstheoretisches Balance-Modell“ zu setzen, markiert einen wesentlichen Unterschied zur Hegelschen Philosophie.37 3. Teilen und Tauschen – Gabe und Ware – Geldwirtschaft und Gastfreundschaft 3.1. Schleiermachers Philosophie des Geldes – ist Geld noch kosmopolitischer als die Sprache? Im Folgenden sollen aus Schleiermachers „objektiver Ethik“ zwei Formen des Gemeinschaftlich-Werdens näher betrachtet und einander gegenübergestellt werden: Die des Tauschens und Teilens, die der Geldwirtschaft und Gastfreundschaft, die der Ware und der Gabe. Um gemeinschaftlich Organe zu bilden oder individuell zu organisieren – und zwar auch im Sinne einer über Distanzen hinweg sich vernetzenden Struktur – brauchen wir Verkehrsformen. Als Äquivalent zur Sprache als Verkehrsform innerhalb des identischen Symbolisierens – mit ihr werden Ideen „transportiert“ und erst dieser Transport ermögliche die progressive Formation einer Akademie – betrachtet Schleiermacher seit den frühen Vorlesungen, spätestens seit 1805/06, das Geld als „Verkehrsmittel“ für die Bildung gemeinschaftlicher Organe.38 Geld 37  Einen Vergleich mit Hegel findet sich bei Gunter Scholtz, „Schleiermachers Theorie der modernen Kultur mit vergleichendem Blick auf Hegel“, in: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels, hg. v. Otto Pöggeler und Annemarie Gethmann-Siefert, Bonn 1983, 143–151, hier: 39 ff. 38  Sprache wie Geld sind „Übertragungsmittel des unmittelbar organisierten“ (Vorlesungsnachschrift Müller 1805/06, Anm. 6, Bl. 23). – Zu Schleiermachers Theorie des Geldes in der Vorlesung 1805/06 im Kontext der von ihm herangezogenen ökonomischen und philosophischen Geldtheorien vgl. Andreas Arndt, „Tauschen und Sprechen. Zur Rezeption der bürgerlichen Ökonomie in der philosophischen Ethik 1805/06“, in: ders., Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin und Boston 2013, 117–136.



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ist demnach eine Bedingung der Möglichkeit des Verkehrs von Kulturgütern im weitesten Sinne, und zwar desjenigen an ihnen, was sich übertragen und mithin verkaufen lässt – nämlich das Kulturgut als Ware und nicht als Eigentum: „Waare ist ein jedes Ding was geeignet ist aus dem Besitzstand des Einen in den des andern überzugehen.“39 Zu vermerken ist, dass Schleiermacher seit der frühen Vorlesung von 1805/06 als Gegenstand des Tausches nicht nur das Produkt sondern auch die Tätigkeit, also Arbeit versteht.40 In diesem Sinne hat Geld nicht nur eine Verkehrsfunktion, sondern analog zur Sprache eine Darstellungsfunktion bzw. eine symbolische Aufgabe, indem es Arbeit zur Darstellung bringt.41 Als Symbol und Verkehrsmittel für Arbeit und ihr Produkt als Ware ist Geld eine Bedingung der Möglichkeit von Arbeitsteilung und gemeinschaftlichem Organisieren im großen Stile und in diesem Sinne – das stellt Schleiermacher zunächst einmal nüchtern fest – kann es per se nicht unsittlich sein.42 Die Übersetzung einer Währung in die andere sei dabei wesentlich weniger problematisch als die Übersetzung einer Sprache in die andere43 und vor diesem Hintergrund ihrer grenzüberschreitenden Potenz bezeichnet Schleiermacher Geld emphatisch als „1ste[s] Element der absoluten Gemeinschaft 39  Vorlesungsnachschrift Anonymus 1816 (Anm. 6), Bl. 169. Vgl. auch Vorlesungsnachschrift Anonymus Lübeck 1805/06 (Anm. 6), Bl. 82: „Das Geld setzt Übertragbarkeit aller Producte, die nicht mit der Persönlichkeit unzertrennlich verbunden sind voraus.“ 40  Vgl. Vorlesungsnachschrift Boeckh 1805/06 (Anm. 6), Bl. 96: „Wie die Sprache die Idee, so stellt das Geld das Product des Handelns dar: aber beyde stellen dar abgesondert und losgerissen vom Producirenden.“ – hier muss ergänzt werden „von der Persönlichkeit des Producierenden“. 41  Vgl. Vorlesungsnachschrift Anonymus Lübeck 1805/07 (Anm. 6), Bl. 82: „Das Geld stellt Arbeit dar, und alle Arbeit ist organisirende Thätigkeit der Vernunft im Menschen. Weil das Geld nun absolute Übertragbarkeit ist, so stellt sich in diesem Mittel die Idee einer absoluten Trennbarkeit dar.“ Vgl. ebd.: „Beides also der so bestimmte Gebrauch der Sprache der ebenfalls seine sittliche Bedeutung hat und das Geld sind Symbole der Übertragbarkeit des organisirten, sind Resultate von Trieben zur Gemeinschaft, die dieser Thätigkeit eingepflanzt sind […])“. 42  Geld (und seine Vorstufe der Tausch) machen erst Arbeitsteilung möglich, sie sind die Verkehrsgrundlage für ein gemeinschaftliches Organisieren, vgl. Vorlesungsnachschrift Anonymus 1827 (Anm. 6), Bl. 409: „Wenn wir nun den Tausch der Erzeugnisse mit der Theilung der Arbeiten zusammen als einen wesentlichen Entwicklungspunkt für den ganzen Bildungsprozeß gesetzt haben, so haben wir, so wie wir auf das geschichtliche Gebiet gingen, gefunden, daß der sittliche Prozeß nicht eher, als dieses eingeleitet ist, eine gewisse Schnellkraft gewonnen hat, und dann, daß immer ein gewisser Zeitraum verfließt, ehe dieser Entwicklungspunkt eingetreten ist.“ 43  Diese Bemerkung Schleiermachers fällt in eine Zeit divergenter Währungssysteme und komplexer Umrechnungen, wofür sich in Schleiermachers Korrespondenz ebenso wie in seinen Tageskalendern (1898–1834) anschauliche Beispiele finden lassen.

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unter den Menschen“44 und spricht ihm sogar eine größere kosmopolitische Kraft zu als der Sprache.45 Da Tausch und Warenzirkulationen die Menschen wie nichts anderes miteinander in Verbindung setzen, sind sie ein wesentlicher Motor auf dem Weg zu einer imaginierten Totalgemeinschaft der Menschen und es wäre sehr kontraproduktiv – wie es Fichte 1800 in Der geschlossene Handelsstaat vertrete – auf dieses kosmopolitische Vehikel zu verzichten. „Das Geld in seiner Idee noch cosmopolitischer. Die Sprache nur Bindungsmittel für eine gewisse Masse von Menschen daher beschränkt und individualisirt diese zu einem Staat. Die Verbindung durchs Geld nicht so eingeschlossen es ist Mittel der absoluten Gemeinschaft zwischen allen Staaten. Der erste materielle Repräsentant der ganzen Menschengattung. Daher die Idee falsch durch Geld die Staaten abzuschließen, die Fichte auch nicht ausführte – Resultat daß mit dem organisierenden Handeln der Vernunft Gemeinschaft unter den Einzelnen gesezt ist.“46 Ebenfalls in den frühen Vorlesungen von 1805/06 entwirft Schleiermacher auf knappen Raum sogar eine kleine Kulturgeschichte des Geldes.47 Denn einerseits zeigt sich kultureller Fortschritt im Geldwesen, je weniger es selbst Ware sondern konventionelles Geld ist,48 zugleich will Schleier­ 44  Vorlesungsnachschrift

Anonymus 1805/06 (Anm. 6), Bl. 86. Vorlesungsnachschrift Anonymus Lübeck 1805/06 (Anm.  6), Bl.  82: „Durch Geld kann ich mit Menschen in Gemeinschaft kommen, wenn auch durch 100 Hände.“ 46  Vorlesungsnachschrift Müller 1805/06 (Anm. 6), Bl. 24. 47  In der Vorlesungsnachschrift Boeckh 1805/06 (Anm. 6), Bl. 23 heißt es: „In dieser Darstellung sind wir ganz von Schl. abgewichen, weil er hier weder consequent noch beweisend war. Denn daß das Geld nicht Waare seyn dürfe, wie er sagt, ist 1) gegen den Ursprung, und 2) macht das Geld zu einem bloß conventionellen; 3) und widerspricht seiner eigenen Behauptung von der Nichtigkeit des PapierGeldes welches so nach das beste seyn würde. Ferner daß das Geld sich mit der Sprache nicht vermischen dürfe, ist Theils gerade gegen das Wesen des Gelds, Theils gegen die Behauptung, daß Geld nicht für sich bestehen könne. Daß das Geld aber noch allgemeiner als die Sprache seye, widerspricht der Erfahrung und Theorie, wie gezeigt ist. Nur als Waare, nicht als Geld, ist diß.“ Andreas Arndt konjiziert an dieser Stelle mit Verweis auf Schleiermachers Kritik an Fichte, dass es nicht Schleiermacher, sondern Fichte in der Nachschrift heißen müsste (vgl. „Tauschen und Sprechen“, a. a. O. – Anm. 38 – , 131–136, hier 134). In seinen späteren Vorlesungen bekräftigt Schleiermacher den konventionellen Charakter des Geldes, argumentiert auch nicht mehr gegen Papiergeld und weist seine Vorliebe für das Metall, die er immer noch äußert, zumindest als eine unbeweisbare These in ihre Schranken. 48  Das Metallgeld hat als wertvolles Material zunächst auch noch Warencharakter, geht aber in der geprägten Münze als konventionelles Geld über diesen Warenwert hinaus. So heißt es in der Vorlesungsnachschrift Boeckh von 1805/06 (Anm. 6), Bl. 96v: „Das Nichtconventionelle ist also der Waarenwerth, das Conventionelle der Münzwerth.“ 45  Vgl.



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macher jedoch am Metallgeld als „wahre[m] Geld“49 festhalten und spricht sich ganz explizit gegen Papiergeld als seine kulturelle Verfallserscheinung aus.50 An seiner Vorliebe für das Metallgeld hält Schleiermacher bis in seine vorletzte Vorlesung von 1827 fest. Schaut man sich die Begründung für Schleiermachers Plädoyer für das Metallgeld durch die Jahre hindurch an, so scheint ihm hier ein Rest unausgegorener Naturphilosophie in seine Argumentation hineinzufunken: Denn Metall, so heißt es, sei das Kernhafte, Starre und zugleich Lichtgleiche und darin läge seine Auszeichnung für einen gemeinschaftlichen Verkehr.51 Im Brouillon von 1805/06 formuliert Schleiermacher: „Naturansicht des Metallgeldes ist die innere Einwohnung des Lichtes als ursprünglichen Mediums der Gemeinschaft.“52 Aber die Kritik seiner Schüler ist an ihm nicht vorbeigegangen, denn zumindest gesteht Schleiermacher einer anonymen Mitschriften von 1816 zufolge einen Mangel an Argumentation zu: „Das Geld scheint nothwendig Metallgeld zu sein, weil alle es angenommen. Schleiermacher kann es ethisch nicht construiren. Es ist ein Naturgeheimniß.“53 Aber auch die in den frühen Vorlesungen arg strapazierte Äquivalenz54 von Sprache und Geld hinkt gewaltig. Denn Sprache ist ja nach Schleiermacher gerade kein reines Werkzeug, sondern ein sich mit jeder Anwendung individuell modifizierendes individuelles Allgemeines. Geld hingegen ist ein 49  Vgl. Vorlesungsnachschrift Müller 1805/06 (Anm. 6), Bl. 23: „Der fixirte Sitz der Cultur im MetallGeld“; Metall sei „wahres Geld“. 50  Diese Kulturgeschichte ist durchaus als Bildungs- aber auch als Verfallsgeschichte zu lesen. 51  So heißt es in einer Randbemerkung im Brouillon zur Ethik von 1805/06: „Metall als das anorganische absolut Starre, als der Kern der Erde.“ (Schleiermacher, Brouillon, Anm. 10, 38). 52  Ebd., 39. 53  Vgl. Vorlesungsnachschrift Anonymus 1816 (Anm.  6), Bl. 169: „Das Geld scheint nothwendig Metallgeld zu sein, weil alle es angenommen. Schleiermacher kann es ethisch nicht construiren. Es ist ein Naturgeheimniß. Weil wenn man sieht wie die Metalle auf der einen Seite in Starrheit liegen auf der anderen Seite den Lichtglanz haben, so vereinigen sie 2 Funktionen des Körpers die am meisten entgegen.“ Auch in der Vorlesung von 1827 findet sich noch knapp und sehr hermetisch formuliert eine Auszeichnung des Metallgeldes, die auf naturphilosophischen Annahmen beruht: „Es ist allerdings wahr, daß wir die Metalle als den eigentlichen Kern der Erde ansehen, was am meisten im gleichen Verhältniß gegen alles Übrige steht; diese nothwendige Ausgleichung selbst ist also eben ein besonderes Glied in dem sich immer vervollkommnenden Processe.“ (Vorlesungsnachschrift Stolpe 1827, Anm. 6, Bl. 90). 54  In der Forschung wird dieser Vergleich immer nur wiederholt, ungeachtet seiner Problematik, denn der Vergleich trägt nicht sehr weit.

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rein quantitativer Messwert (1832: „ein mathematisches Quantum“), in seiner primitiven Gleichwertigkeit liegt gerade sein Gewinn für den Verkehr der Waren. Wie kann diese Quantifikation jedoch sittlich werden, wie wird Geld zum sittlichen Organ, d. h. selbst zum Ausdruck einer Wechselwirkung von Individuum und Gemeinschaft? Erst die späteren Vorlesungen (ab 1827) verschaffen hier Klarheit.55 Die Gemeinschaft, die das Geld als Verkehrsmittel befördern kann, findet in der Aushandlung der Gleichwertigkeit von individueller und gemeinschaftlicher Arbeit und Waren statt. Diese Aushandlung ist der eigentliche Ort des Sittlichen, die im Verlauf der Kultur selbst Formen und Organe hervorbringt.56 Gerät diese sittliche Aushandlung in eine Schieflage (also etwa wenn Ratingagenturen, die die Kreditwürdigkeit von Staaten beurteilen nicht gemeinschaftlich – sprich demokratisch – legitimiert sind, sondern als national und/oder wirtschaftlich interessierte Dienstleister agieren, oder aber wenn die Arbeitsleistung in einem Weltteil ungleich weniger wert ist als in einem anderen) dann ist auch das gemeinschaftliche Organisieren (aus sittlicher Perspektive versteht sich) gefährdet. So heißt es in der Nachschrift Stolpe von 1827: „Aber die gemeinschaftliche Annahme vom Werthe gebildeter Gegenstände und ihre Abschätzung ist der eigentliche Begriff der Gelds; aber von allem Materiellen abgelöst. Es ist nur ein Maß, worauf alles reducirt wird. Geld giebt es nur, wenn mehre wirklich den Werth von Gegenständen nach diesem Maße abschätzen und sich so ausgleichen. Die Sittlichkeit dieses ganzen Processes wird also dadurch bedingt, daß es zwischen Mehren jenes Vertrauen und das Geld oder die Abschätzung giebt; nur in sofern als dieses unter Mehren ein constantes Sein kann, kann es überhaupt bleibend sein. Sobald wir denken daß zwischen Mehren die Gemeinschaftlichkeit der Abschätzung aufhört, so kann auch die Theilung der Arbeiten als eine constante Form nicht unterhalten werden.“57 Diese gemeinschaftliche Aushandlung oder Abschätzung geschieht natürlich nicht in Form des Geldes, sondern in Sprache. Dass Sprache und Geld nicht nur zu parallelisieren sind, sondern interagieren, ja – zumindest für die Seite des Geldes – nicht ohne einander zu denken sind, ist ein Gedanke, der

55  Der von Boeckh 1805/06 niedergeschriebene Satz: „Die Producte des Handelns werden gemeinschaftlich durch Geld“ (Vorlesungsnachschrift Boeckh 1805/06, Anm. 6, Bl. 96) ist schief und findet erst in den späteren Vorlesungen ab 1827 eine Klärung. 56  In unserer Gegenwart wären hier beispielsweise Gewerkschaften bzw. das Modell von Tarifverhandlungen zu nennen oder auch so etwas Simples wie Kundenbewertungen im Netz. 57  Vorlesungsnachschrift Stolpe 1827 (Anm. 6), Bl. 90.



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sich schon in Schleiermachers frühen Ethikvorlesungen findet.58 1805/06 steht Schleiermacher dieser Interaktion sehr skeptisch gegenüber und sieht im Papiergeld einen Kulturverfall – nicht nur weil es keine Lichtgestalt wie das Metallgeld ist – sondern weil hier der Sprache eine so große, eine zu große Rolle zukäme.59 Die Skepsis ist bedenkenswert, insofern Sprache hier nicht im Dienste des Wissens steht, sondern des Handelns. Es ist, wie Schleiermacher in der späten Einleitung zur Dialektikvorlesung formuliert, „geschäftliches Denken“, d. h. eine auf einen wissensfremden Zweck ausgerichtete Kunst der Überredung.60 Die Sittlichkeit dieser Überredung beweist sich dann letztendlich an der Sittlichkeit ihrer Zwecke. Für diese erreichte Übereinkunft der Gleichwertigkeit des Arbeits- und Warenverkehrs formuliert Schleiermacher ab den Vorlesungen 1827 noch zwei weitere Bedingungen: a) eine gemeinschaftliche Abschätzung und b) Vertrauen.61 Das hier noch hinzukommende Vertrauen meint, dass deroder diejenige, mit dem ich in Handel trete, dies auch zu einem sittlichen 58  So heißt es bei Boeckh 1805/06 (Anm. 6), Bl. 23: „Auch dieses bestätigt die Erfahrung, daß Geld nicht ohne Sprache seyn kann; […] Eines von beyden [Buch­ staben- oder Bilderschrift] muß hinzukommen, wenn die Geldwaare will wahres Geld werden“. 59  Vgl. Vorlesungsnachschrift Anonymus 1816 (Anm. 6), Bl. 192: „Der bürgerliche Zustand gibt der Sprache wiefern sie sich auf den Verkehr bezieht eine bestimmte Sanktion. Das kommt aber weil der Verkehr aus dem Zustand des unbewußten in den des Bewußtseins gekommen ist. Das Geld. Die am wenigsten gesuchte Waare constituirt sich als Geld vor dem bürgerlichen Zustande – Wodurch wird es denn Geld? Dadurch daß es dafür ausgesprochen wird. Also indem nun mit dem Staat die Sprache ihre Sanction, das Geld seinen Gegensatz gegen Waare“. 60  Wird Sprache lediglich als Überredungsmittel verwendet ist sie unsittlich, vgl. Vorlesungsnachschrift Müller 1806/06 (Anm. 6), Bl. 23. 61  Erst dann werde es, wie Schleiermacher formuliert, eine „Transaktion“: „Nun ist dieses Verhältniß zwischen dem Vertrauen und dem Gelde, was wir unter dem Begriff der Transaction zusammengefaßt haben, die allgemeine Basis dessen, was wir den vertragsmäßigen Zustand nennen, der noch etwas anderes ist, als das Rechtsverhältniß. Dieser verbreitet sich immer mehr, weil er die sittliche Bedingung ist, unter der nur der Tausch Statt finden kann, und Vertrauen und Geld führen sich immer mehr ein als Abkürzungen des Verfahrens. Je mehr die Aufgabe sich steigert, um so nothwendiger wird es, die Transaction so zu gestalten. Auf diese Weise verbreiten sich auch beide, und so geschieht es, daß menschliche Gesellschaften, die so gesondert waren, daß kein Vertrauen unter ihnen Statt fand, auch in dieses Verhältniß traten. Nun haben wir durchaus nirgend einen Dritten ins Spiel gebracht, sondern nur die Zwei, die mit einander eine Transaction machen, und es ist offenbar, daß, je mehr die beiden Momente der Handlung sich zu einer Vollkommenheit entwickelt haben, der Tausch unter den beiden sich auch um so vollkommener entwickeln kann. Es gibt nämlich einen Zustand in der bürgerlichen Gesellschaft, wo für einen unvollendet gebliebenen Vertrag keine Genugthuung Statt findet, und das ist

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Zweck tut bzw. vernünftig ist.62 Zwar kann die Gleichwertigkeit der Waren durchaus sittlich ausgewogen sein (drei Panzer gegen ein Schiff) aber der sittliche Zweck des Handels bleibt möglicherweise unsittlich.63 Anders als bei der Gleichwertigkeit der Waren, für die der Staat als Garant auftreten muss, sieht Schleiermacher in den Vorlesungen 1827 und 1832 das für den Handel grundlegende Vertrauen in die Vernünftigkeit des Handelspartners seltsamerweise als eine innerliche Angelegenheit an. D. h. für die Gleichwertigkeit von Ware und Arbeit braucht es nach Schleiermacher einen Vertrag, diesen sichert der Staat (der sich gleichwohl nicht darin erschöpft).64 Er muss Organe ausbilden, die die Gleichwertigkeit regulieren, er muss das Monopol der Geldprägung haben und auch dessen Wert garantieren. Aber warum kann und soll er nicht auch Organe ausbilden, die über die Sittlichkeit des Warenverkehrs beraten und diese überwachen? Auch der kosmopolitische Drang des Warenverkehrs über Staatengrenzen hinaus, den Schleiermacher früh betont und sogar über den der Sprache stellt, scheint in Schleiermachers Ethikvorlesungen noch nicht bis zu Ende gedacht. Hier wäre konsequenterweise an die Idee eines Weltstaates zu denken, bzw. an eine Staatengemeinschaft, die den staatsübergreifenden Handel sittlich absichern hilft und vertraglich garantiert. Die Möglichkeit und Notwendigkeit eines solchen wird zumindest ab 1827 angedeutet, auch wenn Schleiermacher diese Konsequenz selbst nicht explizit formuliert: „Halten wir das an die Geschichte, so müssen wir sagen: es ist die allgemeine Erfahrung, daß der sittliche Proceß als Fortschreitung sich erst entwickelt, wo in einer Gemeinschaft Theilung der Arbeit eingetreten ist, und daß das lebendige Verhältniß verschiedener Völker auf dieser Theilung der Arbeit beruht. Ohne diese aber giebt es nie unter der Masse einen Staat, sondern nur ein bewußtein unvollkommener Zustand.“ (Vorlesungsnachschrift Anonymus 1827, Anm. 6, Bl. 415). 62  „Diese allgemeine Voraussetzung ist nur eine spezielle Anwendung der noch allgemeineren, daß die Vernunft in Allen dieselbe und der Impuls ihrer Handlungen sey.“ (Ebd., Bl. 413). Vgl. ebd.: „Vertrauen bezieht sich auf die Identität der Handlungsweise“. 63  Ganz simpel heißt es daher 1816: „Z. E. wenn ich weiß Einer ist Feind des gemeinsamen Wohls, so darf ich mit ihm nicht tauschen. Wenn Einer bloß in seinen Tauschhandlungen den Gesichtspunkt des Equivalents sich bewußt ist, so wird das Gemeinheit.“ (Ebd., Bl. 169). 64  Vgl. ebd., Bl. 170: „Da sieht man um den Staat zu bilden muß ein anderes hinzukommen als was auf die Verallgemeinerung des Verkehrs gerichtet ist, sondern es liegt in einer gemeinschaftlichen Eigenthümlichkeit.“ Vgl. auch Vorlesungsnachschrift Stolpe 1827 (Anm. 6), Bl. 108: „Erst durch den Staat und in demselben vollendet sich der Verkehr, und so kommt erst in ihn die wahre Vertragsmäßigkeit, und wahres Geld zu Stande: der Charakter des Geldes entsteht nur durch die Garantie des Staates: d. h. es ist die Sicherheit da, daß das Geld als Tauschmittel gegenwärtig sei.“



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loses Nebeneinandersein, ohne eine solche hat kein Volk den Trieb mit Andern in Gemeinschaft zu treten.“65 3.2. Gastfreundschaft: Aspekte einer Ethik der Alterität Die Produkte des individuellen Organisierens nennt Schleiermacher Eigentum und insistiert bei dieser Wortwahl auf dem Eigentümlichen, dem, was einer Person angehört und durch sie auf unverwechselbare, eben je eigene Weise geprägt wurde. Ein erstes und wichtiges Eigentum eines jeden Menschen ist sein eigener Leib aber auch seine unmittelbare Dingumwelt, sein Haus und Hofstand kann als Eigentum gestaltet sein. Als Ergebnis des individuellen Organisierens sind Eigentümer daher immer auch Ausdruck der eigenen Individualität d. h. nicht nur Organe, sondern auch Symbole. Diese Lesart der unmittelbaren Dingumwelt als eine Form der Selbstdarstellung und -deutung – sei es in Form einer privaten Bibliothek oder einer nationalen Sammlung – findet in der Kulturphilosophie und -soziologie sowie in den Kulturwissenschaften eine breite Resonanz und wird seit der vorletzten Jahrhundertwende auch philosophisch prominent wie z. B. beim Romantikexperten Walter Benjamin. Im Gegensatz zu allen Organen, in denen der identische Charakter überwiegt, können individuell gebildete Organe nicht in den Warenkreislauf eingehen, sie sind nicht tauschbar, durch Geld nicht erwerbbar. Eigentum ist nun nicht etwa aus dem Verkehr ausgeschlossen, weil es um einen materiellen Besitzstand geht, den es zu wahren und zu schützen gilt, sondern weil es schlichtweg nicht möglich ist. Freilich gilt für jedes reale Eigentum, was auch für jede Ware gilt: Keine Aneignung der Natur, kein Organ ist ausschließlich individuell oder allgemein, jede Form der Organbildung und mithin jedes kulturelle Produkt ist immer zugleich ein individuelles und ein gemeinschaftliches.66 Insofern gibt es immer etwas – auch am eigenen Körper –, was sich verkaufen und in den Warenkreislauf einbringen lässt. Stellen wir uns eine Kneipe vor, der ihr Betreiber seine ganz eigene Note verschafft hat, so lässt sich die Lizenz verkaufen, es lässt sich die Einrichtung verkaufen und die Immobilie als Ganzes, aber ob der stimmungsvolle, spezifische Ort erhalten bleibt, ist keine Frage der Ablösesumme, sondern ob 65  Vorlesungsnachschrift

Stolpe 1827 (Anm. 6), Bl. 88. Schleiermacher, Ethik (Anm. 8), 31, § 53: „so kann das Gebiet des Identischen nicht anders als zugleich ein Eigenthümliches und das Eigenthümliche nicht anders als zugleich ein Identisches sein.“ Vgl. ebenso Schleiermacher, Brouillon (Anm. 10), 16: „Die Eigenthümlichkeit wäre keine, wenn sie nicht in Gemeinschaft träte: denn sie existirt nur relativ gegen andere. Und die Gemeinschaft hätte kein Fundament, wenn es nicht die Eigenthümlichkeit wäre.“ 66  Vgl.

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der oder die neue Betreiberin sich in die Individualität dieses Ortes einfinden kann. Bemerkenswert und ethisch interessant ist nun, dass Schleiermacher für dieses unveräußerliche Eigentum zwar keinen Tausch, aber einen eigenen Modus der Teilhabe entwirft. Dieser Modus oder diese Modi der Gabe oder des Geschenkes, der Gastfreundschaft und Geselligkeit beschäftigen Schleiermacher schon in seinen Frühschriften wie Die Weihnachtsfeier,67 den Notaten und den Athenäumsfragmenten oder dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens und bilden eine sehr frühe, bis in die späte Ethikvorlesung beibehaltene Kernproblematik seiner Ethik. Geselligkeit und Gastfreundschaft sind, so formuliert Schleiermacher im Brouillon zur Ethik, ein „freiwilliges Eintretenlassen der Andern in die Sphäre des Eigenthums“68. „[D]er eigentliche und innere Sinn dessen, wo das Gebiet der Gastfreiheit sich entwickelt“, so heißt es in der Vorlesung eines Anonymus von 1827, sei „eine Aufhebung der Verschiedenheit […], nämlich so weit, daß eine Gemeinschaftlichkeit des Gebrauchs Statt findet ohne eine Aufhebung der Verschiedenheit zu bezeichnen.“69

67  Einer Form – der geselligen Schenkung – geht Inken Mädler in der Weihnachtsfeier nach. Schenkung oder selbstlose Geste dient dem symbolischen Austausch, aber auch dem Austausch der individuell gebildeten Organe. „Dass auch die einzelnen Geschenke für sich betrachtet als Materialisierung der emotional gefärbten, sozialen Beziehungen von Gebern und Be-Gabten fungieren, erhellt der geschilderte Umgang mit ihnen. Nach dem Auspacken sind alle Beschenkten verpflichtet, die jeweiligen Geber ihrer Gaben zu erraten und jene komplexe Übertragung vorzunehmen, die darin besteht, sich selbst mit den Augen des Anderen sehen zu lernen und diesen Anderen dementsprechend wahrzunehmen.“ (Inken Mädler, Transfigurationen. Materielle Kultur in praktisch-theologischer Perspektive, Gütersloh 2006, 428) „Die verschenkten Gegenstände sind sowohl Vergegenständlichung der Geber als auch der damit Be-Gabten und ermöglichen in der Polarität von Selbst-Ausdruck und FremdEindruck sowohl die Vergegenwärtigung von Vergangenem wie die Antizipation einer noch ausstehenden Zukunft. Die Dinge tragen somit das Ihre dazu bei, fragile Beziehungen auf Dauer zu stellen über den gegenwärtigen Moment des Erlebens hinaus und flüchtige Gefühle zu vergegenwärtigen.“ (Ebd., 431). 68  Schleiermacher, Brouillon (Anm. 10), 50. 69  Anonymus 1827 (Anm. 6), 427; und in derselben Vorlesung notiert Stolpe: „Aus dem Eigenthümlichen entsteht die Nachahmung und dadurch tritt eine Ähnlichkeit ins Bewußtsein, so daß sich daraus offenbar wiederum ein größerer Verkehr entwickelt. Die beiden einander relativ entgegengesetzten Thätigkeiten stören sich also nicht, sondern dienen sich gegenseitig zum Impulse und steigern sich gegenseitig. – Wenn wir sagen: das Abschließen verschwindet, so heißt das: der Charakter der Differenz in der bildenden Thätigkeit hört auf. Das ist das, was, wo die Gastfreiheit fehlt, als Gastgeschenk vorkommt: die den gemeinschaftlichen Gebrauch, ohne daß das Eigenthümliche aufhört, ausdrücken sollen.“ (Stolpe 1827, Anm. 6, 92 f.).



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In Geschenken oder Gaben, Gastfreundschaft oder geselligem Umgang wird das Modell einer Teilhabe entworfen, das vordergründig nicht auf eine Vermittlung von Differenzen aus ist und in dem Eigentümlichkeiten nicht nur nebeneinander bestehen können, sondern im Nebeneinander sogar ein besonderes Studium des Andern als Andern ermöglichen. Diese Ethik der Alterität basiert auf dem Bewusstsein, dass eine gemeinschaftliche Form da gewaltvoll sein muss, wo sie (noch) keine reale Vermittlung gefunden hat (und möglicherweise zu unseren Lebzeiten auch nicht finden wird) und basiert auf dem wechselseitigen Respekt für die Andersartigkeit des Anderen, der einem in seiner Andersartigkeit bekannt werden soll.70 4. Dynamik der Kultur(en) – Orientierung im Sittlichen Mit dem Verständnis (und der Anerkennung) der Güterethik Schleiermachers als Kulturphilosophie wird immer wieder auch der Vorwurf erhoben, Schleiermachers Ethik biete wenig sittliche Orientierung, Schleiermacher erweise sich hier – so Mulert vor knapp 100 Jahren – als „Determinist“71, seine Ethik sei deskriptiv – so Poul H. Jørgensen in seiner Schleiermacher als Kulturphilosophen würdigenden Studie von 1959 – keine Ethik „in unserem Verständnis des Wortes“72 und es ist zu bedauern, wie Brent Sockness in seinem Beitrag zum Schleiermacher-Kongress 2006 betont, dass die Bedeutung des ethischen Charakters verkannt werde.73 70  Ein kleines Programm dieser Ethik der Alterität, die eine Schonung der Andersartigkeit des Anderen zum Gegenstand hat, findet sich in dem „Versuch über die Schamhaftigkeit“ aus Schleiermachers Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde; vgl. KGA I/3, 168–178. 71  Es müsse gefragt werden, „ob man bei dieser Methode der Ethik dem Unterschied von Sein und Sollen gerecht wird und ob nicht eine Physiologie des sittlichen Lebens ebenso unzulänglich und einseitig bleibt, wie uns eine Ethik der Naturvorgänge als möglich erscheint“ (Hermann Mulert, Schleiermacher und die Gegenwart, Frankfurt/M 1934, 36). 72  Jørgensen, Ethik (Anm. 3), 112. Schleiermacher bleibe beschreibend im Indikativ, nicht im Imperativ, es sei „niemals von einem regulativen, kritischen Denken“ die Rede und urteilt „[a]uf welchem Boden eine Kulturkritik bei Schleiermacher wirklich sollte genährt werden können, können wir theoretisch schwerlich sehen“ (ebd., 119). 73  Sockness verweist in seinem Beitrag ganz richtig auf Schleiermachers Dialektik und ihre begründende Funktion für die Ethik, allerdings ohne die von Jørgensen aufgeworfene Frage nach der Möglichkeit einer praktischen Kritik zu verfolgen. „The implication of all this is that moral theory is not for Schleiermacher, a matter of putting a culture’s shared moral intuitions and values into reflective equilibrium. Rather, it is the consistent application of a canon of pure knowing to the realm of human action so as to yield a necessary and exhaustive cognition of the moral cosmos that human beings qua rational organisms (or embodied reason) create and inhabit.“ (Brent W. Sockness, „Cultural Theory as Ethics“, in: Christentum – Staat –

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Und auch in einer Lesart der Ethik nicht allein als Kulturphilosophie, sondern als Kulturhermeneutik – wie sie beispielsweise bei Scholtz, Gräb oder Laube vorliegen,74 klingt an, dass es hier mehr um Einsicht in sittliche Verhältnisse gehe, als darum, sie zu ändern. Sowohl in der Ethik als auch in der Dialektik beschreibt Schleiermacher den Prozess der sich wechselseitig aneinander bildenden Natur und Vernunfterscheinungen als eine unhintergehbare Dynamik, die auch ohne unseren Willen und unser Wissen voranschreitet. Zugleich kann und soll man diesen Prozess orientieren und vorantreiben.75 Wie – und die Frage nach dem Wie meint tatsächlich die konkrete Umsetzung – gewinnen wir Orientierung im sittlichen Prozess und können der Vermittlung von Sein und Sollen, Freiheit und Notwendigkeit, Individuum und Gemeinschaft in unseren Handlungen zuarbeiten? Die Frage, wie wir Geschichtlichkeit in aller Radikalität denken können, ohne die Möglichkeit einer Orientierung im Endlichen aufzugeben, wird in keiner anderen Vorlesung so systematisch verfolgt wie in der Dialektik. Sie macht den Konflikt als ewigen Streit der Meinungen sogar zum Ausgangspunkt ihrer Argumentation. Ein dem Streit der Meinungen vergleichbarer Streit der Interessen formuliert Schleiermacher bezeichnenderweise nicht in der Ethik, sondern in der Dialektikvorlesung von 1822.76 Obwohl dieser Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, hg. v. Andreas Arndt, Ulrich Barth und Wilhelm Gräb, Berlin und New York 2008, 517–526, hier: 521). 74  Als „Kulturhermeneutik“ wird sie auch entsprechend in der Forschung wahrgenommen, vgl. z. B. Scholtz, Ethik und Hermeneutik (Anm. 3); Wilhelm Gräb, „Religion in vielen Sinnbildern. Aspekte einer Kulturhermeneutik im Anschluß an Ernst Cassierer“, in: Die Prägnanz der Religion in der Kultur, hg. v. Dietrich Korsch und Enno Rudolf, Tübingen 2005, 229–248; Martin Laube, „Kultur und Individuum: Aspekte ihrer gegenläufigen Verhältnisbestimmung bei Friedrich Schleiermacher und Ernst Cassirer“, in: Die Prägnanz der Religion in der Kultur: Ernst Cassirer und die Theologie, hg. v. Dieter Korsch und Enno Rudolph, Tübingen 2000, 139–161. Nach Laube erweitert Schleiermacher „die Aufgabe der philosophischen Ethik zu einer umfassenden Hermeneutik der menschlich-geschichtlichen Lebenswirklichkeit“ (151), die Ethik trägt eine „kulturhermeneutische Grundintention“ (153), allerdings liege „die eigentliche Leistung Schleiermachers weniger in der materialen Durchführung als vielmehr in der systematischen Grundlegung seiner Kulturhermeneutik“ (156). 75  Die Frage, ob es im Sinne einer Einigung auch Rückschritte gibt, ist nicht ganz einfach für Schleiermachers Schriften zu beantworten, es tauchen aber immer wieder – so z. B. wie oben bemerkt in seiner kurzen Geschichte des Geldes – Formulierungen auf, die in diese Richtung gedeutet werden können. 76  Schleiermacher formuliert in der Dialektikvorlesung von 1822: „Wir sind im Zustande streitiger Vorstellungen, – der muß gelößt werden. Wir finden uns aber auch beständig im Zustande eines streitigen Wollens, jeder mit andern und mit sich selbst (Zustände von Ungewißheit und Unschlüssigkeit). Diese Zustände müssen auch ge-



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Streit der Interessen auch schon im Frühwerk der Monologen präsent ist, wenn es heißt: „Es stößt die Freiheit an der Freiheit sich“77 – so wird er in der Ethik weder in dieser Form präsentiert noch systematisch verfolgt. Ich habe an anderer Stelle dafür plädiert, den Kritikbegriff der Dialektik und seine starke Bindung an die Hermeneutik auch für die Ethik als Kulturhermeneutik und Kulturkritik fruchtbar zu machen78 und möchte diesen Gedanken kurz aufgreifen und fortführen, denn die wechselseitige Bedingtheit von kultureller Manifestation als institutionalisiertes Handlungsmuster bestimmt jede zukünftige Handlung wie eine „sittliche Grammatik“ und erfährt zugleich in jeder einzelnen Handlung eine Anwendung und mithin eine Modifikation. Erst innerhalb der Struktur solcher bestehenden „Güter“ oder kulturellen Manifestationen macht eine Handlung überhaupt erst „Sinn“, und nur in der je eigenen Anwendung, die nie eine pure Reproduktion sein kann, haben diese Güter Bestand. Sicherlich ist die Einsicht in jene kulturhermeneutischen oder sittlichen „Zirkel“ und ihre Kritik im Sinne eines Vermittlungsvorschlages ein wesentliches Element auf dem Weg einer sittlichen Einigung. Aber mit einer Kulturhermeneutik und -kritik wären wir zwar thematisch im ganzen Umfang des Sittlichen, aber disziplinär immer noch in der Dialektik, denn sie ist eine Kritik im Modus des Erkennens. Eine praktische Kritik müsste nicht auf der symbolisierenden, sondern auf der organisierenden Seite ansetzen und dies heißt, sie ist selbst Handlung, nicht Erkenntnis, sie entwirft keine Thesen sondern agiert und probiert einen konkreten, neuen Handlungsablauf. Oder salopp formuliert könnte man sagen: Die praktische Kritik ist keine Psychoanalyse der Kultur, sondern ihre Verhaltenstherapie. Und so wie die Dialektik eine Technik kennt, in der der Wissensprozess vorangetrieben wird, so müsste auch die Ethik eine Technik kennen, die in Form von Organen die sittliche Vermittlung vorantreibt. Eine erste Voraussetzung, die wie eine regulative Idee diesen Schlichtungsprozess antreibt, bleibt freilich die Annahme eines grundsätzlich vermittelbaren, jedoch im Bereich konkreter Sittlichkeit nie zu verwirklichenden, allgemeinen Willens, oder, gesprochen auf der Ebene der Objektivationen oder Güter, die eines im unendlichen Werden der Vernunft zu realisierenden „höchsten Gutes“.79 schlichtet werden, wenn sich das Leben erhalten soll. So haben wir auch hier das Interesse, die Construction eines übereinstimmenden Wollens zu Stande zu bringen. Ein rein übereinstimmendes kann es aber nicht eher geben, als bis in beiden streitenden Theilen die Totalität alles menschlichen Wollens gesetzt ist. Wenn wir also dies ansehen als reine Aufgabe für sich, so ist es offenbar eine, die eben so viel Recht hat, für sich behandelt zu werden, als die bisherige.“ (KGA II/10, 2, 558; vgl. auch ebd. 564 f.). 77  KGA I/3, 10. 78  Vgl. Schmidt, Die Konstruktion der Endlichkeit (Anm. 3), 371–387. 79  In der Einleitung der Ethikvorlesung von 1816/17 bezeichnet Schleiermacher die Idee einer „angewandten“ Sittenlehre als „leeren Gedanken“ (Schleiermacher,

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5. Schluss Abschließend seien noch einmal thesenhaft einige Schlaglichter geworfen, die auch einen weiterführenden Vergleich Schleiermachers mit Hegel anregen sollen: Schleiermachers ethischer Ansatz als Vermittlung zwischen Sitte und Gesetz ist in ihrer kritischen Absetzung gegen Kant nicht weit entfernt von Hegels Kantkritik. Schleiermachers Ethik entwirft ein Modell einer auf allen Ebenen zugleich agierenden Wechselwirkung unserer symbolisierenden und organisierenden Tätigkeit, in der kein sittliches Ranking vorgenommen wird. Sie ist – anders als Hegels Modell einer alles integrierenden höherstufigen Erfahrung – eher als ein Netzwerk und auf die großen ethischen Formen Familie, Religion, Staat und Wissenschaft bezogen eher als „balance of power“ angelegt. Die sittlichen Sphären oder ethischen Formen, die sich aus den zwei jeweils individuell und allgemein differenzierten Tätigkeiten des Symbolisierens und Organisierens ableiten, haben als Quadrupel eine theoretische Plausibilität. Der Blick auf die historische Entwicklung zeigt jedoch – das ist seit Mulert immer wieder in der Schleiermacher-Literatur bemerkt und gefordert worden80 –, dass eine Beschränkung der ethischen Formen auf diese Quadruplizität im Sinne von gesellschaftlichen Teilbereichen wenig sinnvoll ist und eine Ausdifferenzierung als unterschiedlich gewichtete Mischungen der Tätigkeit auch von Schleiermacher aus begründungsfähig ist. So würden sich in Zeiten der Patchwork-Familien die Bereiche der Geselligkeit und Familie näher zusammenschließen, mit dem Bereich der Freizeit wäre ein Ineinander von Geselligkeit und Wirtschaft gegeben und in den Medien kommen sowohl Wissenschaft (Akademie), Wirtschaft, Geselligkeit und Politik zusammen.

Ethik, Anm. 8, 216, § 107). Damit wird jedoch nicht ausgeschlossen, dass Sittenlehre kritisch angewandt wird, denn anders kann sich das Sollen gar nicht in das Sein einschreiben. Vielmehr ist die Idee einer Sittenlehre, die anwendbare Formeln oder Regeln festschreibt, obsolet. Ein Anzeichen dafür, dass sich die Kritik nicht allein auf das identische Symbolisieren richtet, obgleich sie bei Schleiermacher nur dort eine Ausführung erhält, kann man im Begriff der doktrinalen Kritik sehen, die nicht nur Werke, sondern auch Handlungen umschließt. 80  Vgl. Mulert, Schleiermacher (Anm. 71), 36. Solche Aktualisierungsforderungen sind jedoch keine Einwände gegen die Einsicht in die Funktionsweise kultureller Wechselwirkungsprozesse, auf der Schleiermachers Ethik fußt. Kulturkritik als „geschichtliches Erkennen“ oder Kulturverstehen, so wie es sich in Schleiermachers Philosophie über den Umweg der Dialektik entwerfen lässt, ist, gerade weil es sich der konkreten Sittlichkeit zuwendet, ein unendliches kritisches Unternehmen, das auch die Kritik immer wieder der Kritik unterziehen muss und sich jeglicher substantiellen Festschreibung entzieht. „Dieses geschichtliche Erkennen durch das kritische Verfahren ist aber ebenfalls nie vollkommen gegeben, sondern nur im Werden begriffen“ (Schleiermacher, Ethik, Anm. 8, 192, § 19).



Friedrich Schleiermachers Güterlehre als objektive Ethik183

Schleiermachers Ausführungen zur Wirtschaft machen deutlich, dass im Wirtschaftlichen – ebenso wie in der Wissenschaft, ein Hang zur Grenzüberschreitung besteht und in diesem Sinne wohnt dem wirtschaftlichen Austausch ein kosmopolitisches Element inne. Es zwingt uns – es zwingt auch Schleiermacher, der mit dieser Thematik m. E. noch nicht bis zum Ende gekommen ist – über Formen nachzudenken, die die Sittlichkeit dieser kosmopolitischen Tendenz garantieren, und die Frage nach einem Weltstaat zumindest immer wieder evozieren. Jenseits einer so auszuarbeitenden globalen Wirtschaftsethik findet sich bei Schleiermacher jedoch auch ein aus der Betrachtung des unübertragbaren Eigentums eine Ethik der Alterität. Um ihre Bedeutung auszuschöpfen, scheint es mir besonders wichtig, auf ihren größtmöglichen Umfang hinzuweisen. Zwar entwickelt Schleiermacher die Idee des Eigentums als Eigentümliches vorrangig für den Bereich des Privaten und im Wirkungskreis einzelner Personen, sie gilt aber für alle Ebenen menschlicher Gemeinschaft, denn auch Gemeinschaften und Staaten tragen einen individuellen Charakter. So wie Schleiermacher in einzelnen Bemerkungen andeutet, dass sich Geselligkeit durchaus auch auf das Miteinander von Staaten beziehen kann, so wäre auch seine Idee der Gastfreundschaft unter Staaten sinnvoll.81 Aber wäre der sittliche Modus der Gastfreundschaft nicht eher ein Argument für Schleiermacher als Philosoph der Individualität? Sicher, aber nicht als weltferne Innenschau, sondern sie hat gerade dort ihr Potential, wo wir uns den konkreten gelebten Formen zuwenden, und feststellen, dass Differenzen aufeinanderprallen, deren Vermittlungserfahrung möglicherweise noch lange aussteht und in keinem Bilderbuch einer idealtypischen Erfahrung vorgeschrieben werden kann. Der Modus der Gastfreundschaft begleitet den sittlichen Prozess ebenso wie eine von Schleiermacher ausgehend zu entwerfende erkenntnistheoretische wie praktische Kulturkritik, ebenso analytisch wie divinatorisch, ein Entwurf hinein in das noch nicht Gelebte.

81  Vgl. dazu Sarah Schmidt, „Zum Denkmodell der Wechselwirkung als Dialektik von Grenzauflösung und Grenzziehung. ‚Freie Geselligkeit‘ bei Friedrich Schleiermacher mit Blick auf Friedrich Schillers ‚Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen‘ “, in: Grenzziehung und Grenzüberwindung. Philosophische und interdisziplinäre Zugänge, hg. v. Bärbel Frischmann, Hannover 2014, 91–109.

Der objektive Geist: von Hegel bis heute Von Jean-François Kervégan Hegel ist gegen den Strich zu lesen. Adorno

Dass Hegel den Ausdruck „objektiver Geist“ erfunden hat, ist (so fern ich es weiß) zweifellos. Der Begriff taucht zum ersten Mal 1817 in der Heidelberger Enzyklopädie auf. In der Tat, wenn man drei Erwähnungen in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (in den Anmerkungen zu den §§ 57, 71 und 258) absieht, ist er nur im Kontext der enzyklopädischen „Philosophie des Geistes“ zu finden. Übrigens ist dieser Umstand keineswegs erstaunend. Der Begriff „objektiver Geist“ ist nämlich durch seine Nebeneinanderstellung mit demjenigen des „subjektiven“ Geistes erst sinnvoll; beide sind von dem absoluten Geist dadurch unterschieden, dass sie, als Formen des endlichen Geistes, durch eine gewisse „Unangemessenheit des Begriffs und der Realität“ gekennzeichnet sind.1 Die Stellung des objektiven Geistes innerhalb des Hegelschen Systems definiert sich also durch die Dichotomie vom endlichen und unendlichen Geist, sowie durch die Trichotomie des subjektiven, des objektiven und des absoluten Geistes. In der Nachfolge Hegels ist dieser Begriff mehrmals und sehr unterschiedlich rezipiert worden, z. B. bei Dilthey, der ihm die völlig andere Bedeutung, einer „Objektivierung des Lebens“ zuteilt,2 und den Hegelschen, „metaphysisch konstruierten“ Begriff des objektiven Geistes deshalb verwirft, weil er die „Macht des Irrationalen“ vernachlässigt.3 Da ich nicht überzeugt bin, dass die Ersetzung einer Metaphysik des Begriffs durch eine Metaphysik des Lebens einen begrifflichen Gewinn verschafft, werde ich im Folgenden eher zwei heutige fruchtbare, aber vom strikten ‚Hegelschen‘ Standpunkt aus in der Tat kritisierbare ‚Aktualisierungen‘ des Begriffs untersuchen, und zwar diejenigen von Charles Taylor und Vincent Descombes. Aber es empfiehlt sich zunächst, die Hauptcharaktere der Hegelschen Konzeption des objektiven Geistes kurz darzustellen. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, GW 20, 383, § 386. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Leipzig und Berlin 1927, 146 ff. 3  Ebd., 150 ff. 1  Hegel,

2  Wilhelm

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1. Hauptmerkmale des objektiven Geistes bei Hegel Hegel definiert den objektiven Geist als eine vom Geist selbst „hervorzubringende und hervorgebrachte Welt […], in welcher die Freiheit als vorhandene Notwendigkeit ist“.4 Extensional bezeichnet der Begriff die Normen und Institutionen des abstrakten Rechts, der Moralität5 und der Sittlichkeit, also der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates, die insgesamt das Mitsein der Menschen innerhalb einer sittlich-politischen Gemeinschaft normativ strukturieren. Die Objektivität jener Gestaltungen ist nicht gegenständlicher Art, weil Institutionen nur durch Handlung und Interaktion von Subjekten (oder von werdenden Subjekten) Bestand haben können. Umgekehrt erhält die Subjektivität im komplexen institutionellen Netz des objektiven Geistes einen bestimmten Aktualisierungskontext. Eine Stelle aus dem fünften Kapitel der Phänomenologie des Geistes, die das Entstehen des „Reich[s] der Sittlichkeit“ beschreibt,6 enthält in der Sache eine einleuchtende frühe Darstellung des Begriffs des objektiven Geistes, wie er in der Enzyklopädie und in den Grundlinien der Philosophie des Rechts später dargestellt werden wird. Das Merkwürdige daran ist, dass in dieser Stelle zwei unterschiedlichen Auffassungen der Sittlichkeit und des (noch ungenannten) objektiven Geistes nebeneinander gestellt und gewissermaßen vermischt sind. Sie enthält nämlich widersprüchliche Aussagen, die ein Schwanken zwischen der exklusiven Hervorhebung des politischen Glücks der Polisbürger und der Berücksichtigung der Sehnsucht des modernen bourgeois nach egoistischem privatem Glück manifestiert. Auf den ersten Blick handelt es sich dort um dieselbe sehnsuchtsvolle Darstellung der antiken Sittlichkeit, der „schönen sittlichen Totalität“, wie diejenige, die man in den Berner, Frankfurter, und in den vorigen Jenaer Schriften, insbesondere in den Manuskripten über die Philosophie des Geistes, lesen kann. Diese Vorstellung der Sittlichkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass sie vom Einzelnen den kompletten Verzicht auf die Suche nach persönlichem Wohl und die restlose Zustimmung zu den Sitten, Kultur und Institutionen der politischen Gemeinschaft fordert, also eine „unmittelbare Einheit des Allgemeinen und Einzelnen“ bevorzugt.7 Aber man kann auch aus derselben Passage folgern, dass dieser Begriff der Polissittlichkeit imstande ist, durch eine andere, moderne Konzeption der Sittlichkeit und des Geistes ersetzt zu werden. 4  Enzyklopädie,

GW 20, 383, § 385. die Moralität, die die Subjekte orientiert oder orientieren soll, gehört zum objektiven Geist, weil sie aus Normen besteht, die wie diejenigen des abstrakten Rechts und der Sittlichkeit eine universell-objektive Geltung beanspruchen. 6  Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, 194. 7  Hegel, „Naturphilosophie und Philosophie des Geistes“, GW 8, 263. 5  Auch



Der objektive Geist: von Hegel bis heute187

Wie sie in dieser Stelle der Phänomenologie dargestellt wird, ist die Sittlichkeit eine „allgemeine Substanz“, die „ihre allgemeine Sprache in den Sitten und Gesetzen eines Volks“ hat.8 Diese gediegene Totalität betätigt eine „objektive Vernunft“,9 wodurch „das rein einzelne Tun und Treiben des Individuums […] durch die Macht des ganzen Volkes“ orientiert oder vielmehr strukturiert wird.10 Diese objektive, unverfügbare Rationalität durchdringt sowohl die Vorstellungen und Begriffe der Individuen als auch ihre materiellen Tätigkeiten und gemeinschaftlichen Praktiken: „In einem freien Volke ist darum in Wahrheit die Vernunft verwirklicht; sie ist gegenwärtiger lebendiger Geist, worin das Individuum seine Bestimmung, d. h. sein allgemeines und einzelnes Wesen, nicht nur ausgesprochen und als Dingheit vorhanden findet, sondern selbst dieses Wesen ist und seine Bestimmung auch erreicht hat.“11 Diese lobende Auffassung der sittlich-politischen Freiheit, die zur einer Rousseauschen Herabwürdigung der modernen Privatisierung des Lebens führen sollte,12 ist jedoch tief erschüttert. Hegel fährt nämlich fort: „Die Vernunft muss aus diesem Glücke heraustreten; denn nur an sich oder unmittelbar ist das Leben eines freien Volks die reale Sittlichkeit“.13 Das „höhere Prinzip der neueren Zeit“ erfordert nämlich, dass der Einzelne kein bloßes, zum „Verschwinden“ verurteiltes Akzidenz der sittlichen Substantialität mehr ist.14 Was aber diese Ausdifferenzierung des Einzelnen und Allgemeinen ermöglicht, ist das Entstehen dessen, was im Spätwerk Hegels als die moderne bürgerliche Gesellschaft in ihrer relativen Autonomie gegen den Staat beschrieben ist. Infolgedessen muss die „schöne glückliche Freiheit der Griechen, die so sehr beneidet worden [ist] und wird“,15 nicht verlassen, sondern mit der Selbstbehauptung der bürgerlichen Individualität in Einklang gebracht werden. Im Unterschied zur antiken ist zwar die moderne Sittlichkeit kein „Kunstwerk“ mehr; aber die Individualität muss nicht mehr „untergehen“, 8  Phänomenologie,

GW 9, 195. GW 20, § 467; GW 25, 2, 1112. 10  Phänomenologie, GW 9, 194. 11  Ebd., 195. 12  Siehe Rousseau, Du Contrat social, I.6, in: Jean-Jacques Rousseau, Œuvres Complètes, Bd. 3, Paris 1964, 361 : „Le vrai sens de ce mot [cité] s’est presque entièrement effacé chez les modernes ; la plupart prennent une ville pour une cité et un bourgeois pour un citoyen“. Siehe auch Rousseau, Émile, livre I, in: Jean-Jacques Rousseau, Œuvres Complètes, Bd. 4, Paris 1969, 249 f. 13  Phänomenologie, GW 9, 195. 14  GW 8, 263; siehe Phänomenologie, GW 9, 194: „Sie sind sich bewusst, diese einzelnen selbständigen Wesen dadurch zu sein, dass sie ihre Einzelheit aufopfern und diese allgemeine Substanz ihre Seele und Wesen ist“. 15  GW 8, 262. 9  Enzyklopädie,

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damit die politische Gemeinschaft Bestand und Kraft erhält. Im Gegensatz zum Prinzip der sittlich-politischen Homogenität der „freien Völker“ bahnt die moderne Selbstbehauptung des Individuums den Weg zu einer höheren, ausdifferenzierten Sittlichkeit. In diesem Sinne ist das Glück, sich mit der sittlichen Substanz zusammenzuschließen, „noch nicht erreicht“.16 Das moderne Individuum muss „sein Glück suchen“,17 anstatt es in einer schon bestehenden sittlichen Gemeinschaft vorzufinden. Diese Suche kann schmerzlich sein, wie die Erfahrung der sozialen Entfremdung des ‚bourgeois‘ (des Privatmenschen) zeigt. Sie ist dennoch notwendig, damit der starre Gegensatz zwischen dem Einzelnen und der sittlichen Welt zum produktiven Widerspruch der „sittlichen Handlung“ des Individuums und der legitimen Ansprüche der Gemeinschaft erhoben wird. Hegel zufolge liegt die Belehrung des tragischen Konflikts darin, dass eine Welt, die sich nur durch Unterdrückung der individuellen Selbstbehauptung durchsetzt, zur Selbstzerstörung verurteilt ist: „Das Gemeinwesen kann sich aber nur durch Unterdrückung dieses Geistes der Einzelheit erhalten, und, weil er wesentliches Moment ist, erzeugt es ihn zwar ebenso, und zwar durch die unterdrückende Haltung gegen denselben als ein feindseliges Prinzip“.18 Die antike Polis musste Antigone und Sokrates töten, um sich zu erhalten; deshalb bietet sie kein gültiges Muster der Sittlichkeit mehr. Es muss eine andere Sittlichkeit begriffen werden, innerhalb welcher die Selbstbehauptung der Individualität keine Zerstörung der sittlichen Welt des Geistes, sondern ihre Bereicherung ist. Dies ist die Leistung der neuen Sittlichkeitslehre, die den Kern der Theorie des objektiven Geistes in der Enzyklopädie und in den Grundlinien der Philosophie des Rechts ausmacht. Meines Erachtens ist die Institution der Schlüsselbegriff dieser theoretischen Konstruktion.19 Die Beschreibung der drei sittlichen Sphären (Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat) hebt die institutionelle Einwurzelung der sozialen Praktiken stark hervor. Dank seiner Eingliederung in einer Reihe institutioneller Gestaltungen kann nämlich das Individuum objektive Normen befolgen, ohne sich dadurch als unterdrückt und entfremdet vorzustellen zu müssen. Im Unterschied zu Hegels früherer Lehre der „sittlichen Welt“ erfordert die Philosophie des objektiven Geistes keine einseitige, starre Unterordnung der Individualität unter den institutionalisierten objektiven Willen. Das normative Potenzial der sittlichen Institutionen und der dazu gehörenden „Pflichten“ kann vielmehr erst 16  Phänomenologie, 17  Ebd.

18  Ebd.,

GW 9, 196.

259. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14, 1, 199, § 255; 210–211, §§ 264–265. 19  Siehe



Der objektive Geist: von Hegel bis heute189

betätigt werden, wenn die Individuen dadurch „die Anerkennung ihres Rechts“ erhalten.20 Wie auch immer: Hegels institutionelle Theorie des objektiven Geistes gewährt den objektiven Gestalten der Sittlichkeit, in erster Linie dem Staat, einen klaren Vorrang; er hat „das höchste Recht gegen die Einzelnen, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staates zu sein“.21 Selbstverständlich hat dieser Vorrang der Institutionen starke Einwände hervorgerufen. Die Hegelsche Linke sowie später die kritische Theorie hat (mit Axel Honneths Worten) die „Überinstitutionalisierung“ der Hegelschen Sittlichkeitslehre kritisiert.22 Die Autonomie, das Potenzial der Selbstbestimmung der Individuen, sei sehr begrenzt, wenn sie den institutionellen Gestaltungen der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates systematisch unterordnet sind. Auf diesen klassischen Einwand kann eine doppelte Antwort formuliert werden. (1)  Für Hegel ist die subjektive Freiheit kein pures Vermögen des NeinSagens. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass ein Individuum, das von den institutionskonformen Vorstellungen und Praktiken Abstand nimmt, freier ist als eines, das ihnen zwanglos zustimmt.23 In der modernen Ausdifferenzierung der Normensysteme erfordert die Zustimmung zu objektiven Normen keine Aufopferung des „Rechts der Individuen an ihre Besonder­ heit“.24 In der Tat wird dieses subjektive Recht erstrangig in den vorpolitischen Schichten der Sittlichkeit (Familie und bürgerlichen Gesellschaft) und weniger auf staatlich-politischer Ebene berücksichtigt. Die soziale Freiheit ist jedoch ebenso wichtig wie die politische Freiheit, die allerdings ohne sie nicht bestehen könnte.25 Darin liegt der tiefe Unterschied zwischen der nachrevolutionären Gesellschaft und dem Ancien régime, in welchem ein jeder an eine beständige Position in einer starren sozialen und politischen Hierarchie gebunden war. (2) Obwohl die Individuen den normativen Institutionen des objektiven Geistes unterordnet sind, hat sich in der Moderne die Subjektivität, auch in ihren zweifelhaften Formen, aufgrund der objektiven Rationalität der Institu20  Ebd.,

208, § 260. Grundlinien, GW 14, 1, 201, § 258. 22  Siehe A. Honneth, Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart 2001, 102  ff. Der Standpunkt Honneths hat sich inzwischen verändert, wie man es bei der Lektüre von Das Recht der Freiheit (Frankfurt/M 2011) feststellen kann. 23  Die Abneigung Hegels gegen die romantische Verehrung des „lieben Ichs“ erklärt sich dadurch; siehe Hegel, Grundlinien, GW 14, 1, 132 ff., § 140 Anm., und die Rezension der Schriften Solgers, GW 16, 77–128. 24  Hegel, Grundlinien, GW 14, 1, 142, § 154. 25  Siehe dazu Frederick Neuhouser, Foundations of Hegel’s social theory: actualiz­ ing freedom, Cambridge (Mass.) 2009. 21  Hegel,

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tionen befestigt. In Hegelscher Sicht sind also die Institutionen keine bloßen repressiven Maschinen, sie lösen vielmehr Formen des subjektiven Engagements aus, so dass die subjektive Freiheit als eine Wiederspiegelung des objektiven Geistes im Raum der selbstbezogenen Individualität betrachtet werden kann. In dieser Rücksicht ist das Subjekt, das sich als frei vorstellt und als solches handelt, selbst ein ziemlich spätes Produkt der Geschichte: „Das Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit. Dies Recht in seiner Unendlichkeit ist im Christentum ausgesprochen und zum allgemeinen wirklichen Prinzip einer neuen Form der Welt gemacht worden.“26 Was soll also unter den Ausdruck „objektiver Geist“ verstanden werden? Hegel selbst versteht darunter eine Kombination von objektiv-institutionellen und subjektiv-dispositionellen Gestaltungen, die der vermutlich autonomen subjektiven Freiheit die „Wirklichkeit einer Welt“, also die „Form von Notwendigkeit“ verschafft, und eine „Einheit des vernünftigen Willen mit dem einzelnen Willen“ bewirkt.27 Mit anderen Worten ruft die institutionelle Strukturierung der Sittlichkeit spezifische Arten der sozialen und politischen Subjektivität hervor, und zwar Vorstellungen, Praktiken und Gesinnungen – wie die soziale „Standesehre“ innerhalb der Korporation28 und die „politische Gesinnung“ im Staat.29 Diese Formen der Subjektivität verstärken ihrerseits die objektiven Institutionen der Sittlichkeit; sie sind auch manchmal imstande, die herkömmlichen Institutionen zu kritisieren, zu reformieren, oder sogar abzureißen. Wann und wie findet solche Umwälzung der objektiven Strukturen der Sittlichkeit statt? Hegel hat dem Zeitgeist, diesem großen Krisenverwalter, die Aufgabe überlassen, den genauen Bruchpunkt zu bestimmen. Wie auch immer: Die Lehre des objektiven Geistes begründet einen völlig anderen Theorietypus als denjenigen der meisten aktuellen Gerechtigkeitstheorien, indem sie, anstatt abstrakte Normenkomplexe zu konstruieren, darauf zielt, das eigene normative Potenzial der sozialen Wirklichkeit zu enthüllen. Darin liegt der Grund, worum gegenwärtige Philosophen, die den abstrakten Normativismus der herrschenden politischen Philosophie zurückweisen, den Hegelschen Begriff des objektiven Geistes übernommen haben. Es wäre lehrreich, in der soziologischen und philosophischen Literatur die Entwicklung dessen nachzufolgen, was Philip Petitt „the broadly Hegelian tradition of social holism“ nennt.30 Man sollte zum Beispiel all das untersuGrundlinien, GW 14, 1, 110, § 124, Anm. Enzyklopädie, GW 20, 478–479, §§ 484–485. 28  Hegel, Grundlinien, GW 14, 1, 198, § 253. 29  Ebd., 211, § 268. 30  P. Pettit, The common mind, Oxford 1996, 167. 26  Hegel, 27  Hegel,



Der objektive Geist: von Hegel bis heute191

chen, was in der Soziologie des 20. Jahrhunderts zur Umformulierung der Problematik des objektiven Geistes beigetragen hat, wie die „représentations collectives“ von Durkheim, die sozialen Riten und körperlichen Techniken von Marcel Mauss, George Herbert Meads „emerging self“ oder der „sens pratique“ im Sinne Bourdieus. Es ist natürlich ausgeschlossen, die mögliche Hegelsche Provenienz der aktuellen sozialen Ontologie und social philosophy hier zu untersuchen.31 Es wäre umso lehrreicher, als ihre heutigen Vertreter vor irgendwelchem direkten Hegelschen Einfluss meistens „kulturell“ bewahrt worden sind. Ich werde also unter den zahlreichen Kandidaten die Beiträge von zwei gegenwärtigen Philosophen, Charles Taylor und Vincent Descombes, untersuchen. Übrigens handelt es sich um zwei ganz unterschiedlichen Fälle, indem Taylor als Hegel-Forscher bekannt geworden ist, während Descombes, obwohl er sich den Begriff des objektiven Geistes aneignet, aus der Wittgenstein-Tradition stammt und keine Gelegenheit verpasst, von den „Hegelianern“ – einer eigentlich nicht besonders harmonischen Familie – Abstand zu nehmen. 2. Eine „expressive“ Deutung des objektiven Geistes (Charles Taylor) Bekanntlich ist Charles Taylor der Verfasser einer umfangreichen HegelMonographie, aus welcher er eine kürzere, auf soziale und politische Fragen konzentrierte Fassung herausgezogen hat.32 Unabhängig von den hier nicht berücksichtigten Büchern The Sources of the Self und Secular Age hat er auch eine Reihe von Studien über wissenschaftstheoretische Fragen der Sozialwissenschaften verfasst, die den Begriff des objektiven Geistes wenigstens indirekt mobilisieren, obwohl sie Hegels Werk nicht speziell berücksichtigen. Noch mehr als in Taylors Hegel-Arbeiten kann man in diesen Aufsätzen die Fruchtbarkeit und Aktualität des Begriffs des objektiven Geistes prüfen. Taylors Hegel-Interpretation zielt darauf, zu beweisen, dass „Hegel’s philosophy is at once incredible and highly relevant for us“.33 Für Taylor besteht nämlich das große Verdienst der Philosophie Hegels darin, dass sie die beiden entgegengesetzten Strömungen versöhnt, die sich nach dem Verfall des klassischen, naturwissenschaftlich orientierten Rationalismus entfaltet haben, 31  Das Werk Axel Honneths ist selbstverständlich ein Musterbeispiel der Aneignung von Hegels Konzeption des objektiven Geistes. Ich lasse es jedoch außer Acht, weil ich mich damit mehrmals auseinandergesetzt habe. 32  Charles Taylor, Hegel, Cambridge 1975; ders., Hegel and modern Society, Cambridge 1979. 33  Taylor, Hegel and modern Society, 72, XI.

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und zwar die mit Herder anfangende „expressive“ Strömung und die in Kants Auffassung der rationalen Autonomie gipfelnde Aufklärung. Dieser Versuch, „the division between the two ideals of radical freedom and integral expression“ zu überwinden,34 ist jedoch durch die Einführung eines übermensch­ lichen, „kosmischen“ Begriffs des Geistes zum Scheitern verurteilt: „Hegel’s spirit (or Geist), although he is often called ‚God‘, and although Hegel ­claimed to be clarifying Christian theology, is not the God of traditional theism; he is not a God who could exist quite independently of men. […] On the contrary, he is a spirit who lives as spirit only through men. […] But at the same time the Geist is not reducible to man; he is not identical with the human spirit, since he is also the spiritual reality underlying the universe as a whole […[. For the mature Hegel, man comes to himself in the end when he sees himself as the vehicle of a larger spirit.“35 Taylor meint, diese „ontology of Geist“ sei heute „close to incredible“.36 Nach dem Muster einer nicht-metaphysischen (oder nachmetaphysischen) Lektüre verwirft er die Metaphysik des absoluten Geistes, die bei Hegel die endgültige Aufhebung der Widersprüche des objektiven Geistes garantieren sollte. Wir müssen jedoch diesen dichten Begriff des „kosmischen“ Geistes nicht notwendig übernehmen, um die Relevanz und Aktualität gewisser Elemente der Philosophie Hegels, insbesondere der Lehre des objektiven Geistes, feststellen zu können. Während die heutige Hegelforschung manchmal behauptet, die Aktualität der Lehre vom objektiven Geist liege in der Art, wie Hegel das Kantische Programm einer Identifizierung von Rationalität und Freiheit übernimmt und radikalisiert, behauptet Taylor in Übereinstimmung mit seinen eigenen philosophischen Grundoptionen, dass der innovativste Teil der Hegelschen Philosophie ihre Umschreibung der expressiven Problemstellung Herders ist, die ihn zum legitimen Initiator der Moderne macht.37 Woraus besteht der „Expressivismus“ Herders, der in der nachkantschen Landschaft eine Alternative zur romantischen Übertreibung der Subjektivität ausmacht? Dieser Begriff (der auf keinem Fall zum Standpunkt eines „sich ausdrückenden“ Subjekts reduziert werden soll) erfordert eine Auffassung der Sprache, der Subjektivität und der Gemeinschaft. Die Sprache soll nicht nur auf ihre bloß bezeichnende und kommunikative Funktion reduziert werden; sie hat auch dank ihrer expressiven Dimension die Kapazität, „to make something manifest in an

34  Ebd.,

8. 11. 36  Ebd., 69; vgl. 135. 37  Siehe Charles Taylor, „The importance of Herder“, in: ders., Philosophical Arguments, Cambridge, Mass. and London 1995, 79–99. 35  Ebd.,



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embodiment“.38 Diese expressive Funktion überschreitet den Bereich der Sprache: Auch eine Handlung darf als Expression bezeichnet werden, insofern sie etwas (eine Begierde, eine Absicht) symbolisch zum Ausdruck bringt, dessen Vorstellung ihr nicht vorausgeht. Obgleich Taylor ihn nicht zitiert, kann man hierzu den bekannten Satz Hegels erwähnen: „Was das Subjekt ist, ist die Reihe seiner Handlungen“.39 Deshalb bringt die expressive Perspektive eine neue Sicht auf die Subjektivität mit sich. Das Subjekt ist nicht primär jenes cogito, jenes „ich denke“, welches „alle meine Vorstellungen begleiten können“ muss;40 es ist vielmehr der Boden für verschiedenartige expressive Akte, die insgesamt ein einheitliches Leben ausmachen, wodurch die Subjektivität konstituiert wird; kurz gesagt, die Subjektivität ist der Herd eines Netzes von Akten. Dieser „holism of meaning“41 erfordert aber eine neue Auffassung der Intersubjektivität oder vielmehr der Gemeinschaft: ein expressiver Akt, sei er sprachlicher oder nichtsprachlicher Natur, ist keine bloße Manifestation einer Subjektivität oder gar einer Inter-Subjektivität: „What is made manifest is not exclusively, not even mainly, the self, but a world“.42 Diese Welt ist eine sprachliche Welt, eine Rede- und Diskursgemeinschaft, die ein Netz gemeinschaftlicher Bedeutungen, Institutionen und Symbole ausmacht; sie ist eine soziale Welt oder, wie Hegel sagt, ein „Ich, das Wir, und [ein] Wir, das Ich ist“.43 Hier stoßen wir auf das Problem des objektiven Geistes und der Sittlichkeit. Diese Begriffe spielen deshalb eine Hauptrolle in Taylors Hegeldeutung, weil sie zu einer holistischen Auffassung der Gesellschaft gehören, die für Taylor „far from implausible or bizarre“, und jedenfalls „much superior to the atomistic conceptions of some of Hegel’s liberal opponents“ ist.44 Taylor umschreibt diese Hauptbegriffe Hegels auf folgender Weise: „We can think of the institutions and practices of a society as a kind of language in which its fundamental ideas are expressed. But what is ‚said‘ in this language is not ideas which could be in the minds of certain individuals only; they are rather common to a society, because embedded in its collective life, in practices and institutions which are of the society indivisibly. In these the spirit of the society is in a sense objectified. They are, to use Hegel’s term, ‚objective 38  Charles Taylor, „Action as expression“, in: Intention and Intentionality. Essays in honor of. G. E. M. Anscombe, ed. by C. Diamond and J. Teichmann, Brighton 1979, 73. 39  Hegel, Grundlinien, GW 14, 1, 110, § 124. 40  Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 131. 41  Taylor, „The importance of Herder“ (Anm. 37), 93–95. 42  Charles Taylor, „Language and human nature“, in: ders., Philosophical Papers, 1: Human Agency and Language, Cambridge 1985, 238. 43  Hegel, Phänomenologie, GW 9, 108. 44  Taylor, Hegel and modern Society (Anm. 32), 94.

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spirit‘. These institutions and practices make up the public life of a society. Certain norms are implicit in them, which they demand to be maintained and properly lived out. […] The norms of a society’s public life are the content of the Sittlichkeit.“45 Diese Stelle ist eine klare und meines Erachtens treffende Darstellung des Hegelschen Begriffs des objektiven Geistes. Aber sie gibt uns auch Anlass, die Richtigkeit der „expressiven“ Problemstellung in Frage zu stellen. In der Sicht Taylors ist das Individuum erst dann völlig individuiert, wenn es einem „larger life“ eingefügt ist.46 Dies bedeutet, dass die „atomistische“ Sicht der Gesellschaft durch eine holistische Auffassung des objektiven Geistes ersetzt werden soll. Die Gesellschaft ist keine Sammlung von einzelnen Entitäten; im Gegenteil erhalten die Individuen eine anerkannte oder anerkennungsbedürftige Identität erst dann, wenn sie in dem „larger life“ eines ‚We‘ eingeschlossen sind, das ihnen gewissermaßen vorausgeht. Relativ unklar bleibt jedoch der Grund, worum diese holistische Verfassung des Geistes als eine „expressive Einheit“ gedeutet werden soll. In dem Aufsatz „Hegel’s philosophy of mind“ setzt Taylor der „kausalen Theorie der Handlung“ von Davidson, die die Handlungen als eine Art von natürlichen „events“ versteht, eine „qualitative Theorie der Handlung“ entgegen.47 Wenn es stimmt, dass eine korrekte Theorie der Handlung ihren teleologischen Charakter, d. h. den Umstand, dass sie nicht nur Ursachen, sondern auch reasons hat, beachten soll, erfordert das jedoch nicht, dass man notwendig eine hermeneutisch-expressive Perspektive einnimmt. Das objektivistische, kausale Verständnis der sozialen Fakten zu bestreiten, bedeutet nicht notwendig, dass in der Nachfolge von Dilthey und Gadamer „Erklären“ und „Verstehen“ entgegengesetzt werden müssen. Anders gesagt: wir müssen nicht unbedingt Hegel mit Herders Brille lesen, um den Sinngehalt seiner Theorie der Handlung und seiner Auffassung des objektiven Geistes getreu zu rekonstruieren. Hegels Behandlung der Teleologie und des „Syllogismus der Handlung“ in der Wissenschaft der Logik ist ein gutes Beispiel davon, wie eine nicht objektivistische, aber auch nicht hermeneutische Auffassung der Handlung aussieht.48 Übrigens sind die überzeugendsten Ausführungen Taylors über den Begriff des objektiven Geistes nicht diejenigen, die aus seiner „expressiven“ Hegel45  Ebd.,

89. 125 und passim. 47  C. Taylor, „Hegel’s philosophy of mind“, in: ders., Philosophical Papers, 1: Human Agency and Language, Cambridge 1985, 78–79. Was Davidson betrifft, siehe „Actions, reasons and causes“, in: D. Davidson, Actions and events, Oxford 2001. 48  Siehe Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Begriff, GW 12, 154 ff. („Teleologie“). 46  Ebd.,



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Lektüre herrühren; sie sind vielleicht eher aus seinen Beiträgen über die Philosophie der Sozialwissenschaften zu entnehmen.49 In dem Aufsatz „Interpretation and the Sciences of Man“, der die objektivistische Orientierung der damaligen Sozial- und Politikwissenschaften bestreitet und die falsche Meinung widerlegt, wonach die sozialen Fakten als „brute facts“ betrachtet werden könnten,50 geht Taylor vom sozialontologischen Prinzip aus, dass „die Sprache die Realität konstituiert“ (so Searle), um in einer Wittgensteininspirierten Perspektive alle sozialen Praktiken als institutional facts zu deuten, insofern sie eine Art von „rule-governed behavior“ sind.51 Intersubjektive Bedeutungen sind „constitutive of the social matrix in which individuals find themselves and act“.52 Zwei Arten von intersubjektiven Bedeutungen sollen jedoch unterschieden werden, und zwar die „shared meanings“, die aus der Konvergenz von schon bestehenden individuellen Meinungen entstehen, und die „common meanings“ die aus einer „consciousness which is communally sustained“ stammen und die das ausmachen, „what makes community“.53 Taylor zieht daraus eine Folgerung, die eine offensichtliche Anspielung an Hegel enthält: „We are aware of the world through a ‚we‘ before we are through an ‚I‘.“54 Dies ist eine klare Bezeichnung einer Familie von Begriffen, die nach dem Muster vom Hegels Begriffs des objektiven Geistes die Umrisse eines holistischen, aber nicht notwendig expressivistischen Forschungsprogramms zeichnen könnte. Die Fruchtbarkeit eines solchen Programms kann im Taylors „Atomism“Aufsatz geprüft werden. Hier wird aufgrund einer Diskussion der „primacyof-rights theory“ von Robert Nozick eine Kritik der „rights-based“ politischen Theorien entwickelt.55 Solche Theorien setzen ein „atomistisches“ Verständnis der Gesellschaft voraus, wonach diese eine Gruppierung von aus Natur existierenden Individuen ist. Taylor betont, dass die Absolutheit der subjektiven Rechte nur aus dieser Perspektive festgestellt werden darf. 49  Siehe dazu V. Descombes, „Y a-t-il un esprit objectif ?“, in: Les Études philosophiques, 3/1999, 347–367, insbesondere 356–357. 50  Taylor stützt sich auf Elizabeth Anscombes’ Aufsatz, „On brute facts“, in: Analysis 18 (1957/58), 69–72, und auf John R. Searles’ Unterscheidung von brute facts und institutional facts: see J. Searle, The construction of social reality, New York 1995; Making the social world, Oxford 2010. 51  C. Taylor, „Interpretation and the sciences of man“, in: ders., Philosophical Papers, 2: Philosophy and the Human Sciences, Cambridge 1985, 34. 52  Taylor, „Interpretation and the sciences of man“ (Anm. 51), 36. 53  Ebd., 39. 54  Ebd., 40. 55  Charles Taylor, „Atomism“, in: ders., Philosophical Papers, 2: Philosophy and the Human Sciences, Cambridge 1985, 188 ff. See R. Nozick, Anarchy, State, and Utopia, New York 1974.

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Dagegen behauptet eine holistische Theorie, dass die Rechte von einer „obligation to belong“, von einer Zustimmung zu der Art sozialen Lebens untrennbar sind, die ihr Anspruch ermöglicht.56 Wenn in unserer Gesellschaftsordnung die Rechte tatsächlich identitätsstiftend sind, darf man nicht ver­ gessen, dass diese Rechte, wie alle anderen normativen Bestimmungen, aus einer „social matrix“ stammen.57 Hier haben wir es also mit einer Neuformulierung der These Hegels zu tun, Rechte und Pflichten seien im Kontext der modernen Sittlichkeit untrennbar.58 In meiner Sicht ist Charles Taylor Hegel nie treuer, als wenn er einen anderen Gegenstand als das Werk Hegels selbst behandelt. 3. Hegelianer gegen eigenen Willen: Vincent Descombes In dem Aufsatz „Y a-t-il un esprit objectif?“ (Gibt es einen objektiven Geist?) weist Descombes völlig richtig darauf hin, dass Charles Taylor den Begriff des objektiven Geist nur insofern rehabilitiert, als er von der „sperrigen Metaphysik“ Hegels befreit werden kann.59 Aber Descombes’ eigenes Vorhaben, diesen Begriff in die „Reihe der soziologischen Begriffe des Geistes“ einzufügen, um die dadurch erforderte „Metaphysik“ zu verdeutlichen,60 entfernt sich weitgehend von Taylors Intentionen, obzwar beide zugunsten eines holistischen Standpunkts den „spontanen Atomismus des modernen common sense“ zurückweisen.61 Descombes Projekt besteht nicht darin, eine expressiv-hermeneutische Auffassung des Geistes zu entwickeln, sondern eine Sozialontologie zu konzipieren, die sich eher auf Peirce und Wittgenstein als auf Hegel und Herder beruft. Descombes beschreibt also eher sein eigenes Vorhaben als dasjenige Taylors, wenn er behauptet, dass es an der Zeit ist, „etwas wie einen ‚objektiven Geist’ in einer solchen Fassung zu rehabilitieren, die für Hegel vielleicht nicht akzeptabel wäre, aber von der Soziologie als unentbehrlich betrachtet wird“.62 (Meinerseits bin ich der Meinung, dass Descombes’ Auffassung des objektiven Geistes für „Hegelianer“, oder wenigstens für einen Clan dieser Sippe, viel annehmbarer ist als Descombes selbst es sagt.) Descombes schlägt folgende Definition des objektiven Geistes vor: er bestehe „aus festgelegten Regeln oder Gewohnheiten, die unabhängig von indi56  Taylor,

„Atomism“ (Anm. 55), 198. 208. 58  Hegel, Grundlinien, GW 14, 1, 143 u. 208–210, §§ 155 u. 261. 59  Vincent Descombes, „Y a-t-il un esprit objectif“ (Anm. 49), 348. 60  Ebd., 347 u. 350. 61  Ebd., 353. 62  Ebd., 355. 57  Ebd.,



Der objektive Geist: von Hegel bis heute197

vidueller Willkür und reziproken Vereinbarungen gegeben sind“.63 Diese Auffassung kann sich ebensowohl auf Montesquieus Idee des „esprit général de la nation“64 wie auf den deflationär interpretierten Hegelschen Begriff des objektiven Geistes berufen; wir wissen übrigens, wie hoch Hegel den „echt philosophischen Standpunkt“ Montesquieus schätzte.65 Descombes präzisiert: „Was uns interessiert, ist weniger den Begriff des objektiven Geistes, wie ein orthodoxer Hegelianer ihn verstehen würde, als die Familie von Begriffen, deren Vorfahr die Idee eines ‚Geistes der Gesetze‘ oder der Institutionen wäre.“66 Meines Erachtens zeigt dennoch dieser holistisch verstandene „soziale Geist“ ein viel Hegel-treueres Gesicht, als Descombes selbst es meint, wenigstens wenn man darauf verzichtet, Hegel nach den Maßstäben des „französischen Hegelianismus“,67 d. h. etwa in der Nachfolge von Kojèves Deutung zu lesen. In La denrée mentale (etwa „Die geistige Ware“; der Ausdruck stammt von Mallarmé) stellt Descombes die Unzulänglichkeit der herrschenden, „internen“ Auffassung des Geistes fest, wonach der Geist „drinnen“, nicht „draußen“ ist.68 Die allgemeine These des Buchs ist, dass der „Mentalismus“ (der auch ein Kognitivismus ist, indem seine Auffassung der geistigen Zustände auf dem cartesianischen Modell der Objektsvorstellung beruht) eine (manchmal unbewusste) philosophische Entscheidung für eine Ontologie enthält, welche „dem Geist die metaphysische Konstitution eines physischen Dings zuschreibt“.69 Solche Metaphysik liegt übrigens einer breiten Reihe von Konzeptionen des Geistes zugrunde, die sich zwischen dem reinen Spiritualismus und dem radikalen Materialismus gewisser gegenwärtiger Kognitionswissenschaftler entfalten.70 Dieser Metaphysik setzt Descombes eine zugleich holistische und intentionale Perspektive entgegen. Dafür sollen die bei Husserl und in der französischen Phänomenologie (Merleau-Ponty) noch bestehenden „mentalistischen“ Charaktere des Begriffs der Intentionalität ausgeklammert werden. Descombes nimmt sich vor, aufgrund der Einsichten von Peirce, Wittgenstein und Searle eine „nicht kartesianische Auffassung 63  Ebd.,

350.

L’esprit des lois, livre XIX, chapitre IV, Paris 2011, 329. Descombes zitiert auch diese schöne Wendung von Montesquieu: Völker haben wie die Individuen eine „manière de penser totale“ (Mes Pensées, n° 398). 65  Hegel, Grundlinien, GW 14, 1, 26, § 3, Anm. 66  Vincent Descombes, Les institutions du sens, Paris 1996, 287. Selbstverständlich hat seit 1831 der Streit darüber nie aufgehört, wer ein orthodoxer Hegelianer ist. 67  Ebd., 227. 68  Vincent Descombes, La denrée mentale, Paris 1995, 10. 69  Ebd., 271. 70  Als Musterbeispiel davon kann man Daniel C. Dennetts Auffassung geistiger Aktivität, z. B. in Freedom evolves oder Kinds of minds, erwähnen. 64  Montesquieu,

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der Intentionalität“ zu entwickeln.71 In solcher Hinsicht liegen die Bedeutungen nicht „im Kopf“72 in dem Sinne, dass sie nicht auf das Modell der Vorstellung reduziert werden können; umgekehrt ist der als „Sinnesordnung“ verstandene Geist „in der Welt, in den symbolischen Praxen und Institutionen präsent“.73 Aus solcher Untersuchung ergibt sich, dass „die Studie des Geistes […] holistisch sein wird, sonst nichts“.74 Die exakten Merkmale eines solchen Holismus des Geistes sollen jedoch näher bestimmt werden. Nach Descombes soll man zwei Arten unterscheiden: es gibt einen methodologischer Holismus, der zur Beschreibung mentaler Zustände holistische Begriffe verwendet, und einen anthropologischen Holismus, der die mentalen Zustände als durch die soziale und historische Umwelt bestimmt betrachtet.75 Überdies soll der „kollektivistische Holismus“, der mit atomistischen Vorurteilen behaftet ist, von dem strukturellen Holismus, der mit der Konzeption eines objektiven Geistes zusammenfällt, unterschieden werden.76 Aber was für ein Verständnis des objektiven Geistes erfordert dieser Holismus? In Bezug auf Peirce stellt Descombes fest, dass die Beschreibung sozialer Beziehungen (wie z. B. Ehe, Vertrag usw.) und der darin zu leistenden Akte die Anwendung von „dyadischen“, bzw. von „polyadischen“ Prädikaten erfordert. Z. B., ich kann nicht einen Ehemann ohne einen impliziten Bezug auf eine Ehefrau (bzw. umgekehrt) erwähnen; ich kann mir keinen Mörder vorstellen, ohne mir das Opfer und die soziale Definition des Mords vorzustellen.77 Eine extrem detaillierte Analyse führt zu dem Ergebnis, dass keine soziale Beziehung ohne Rekurs auf nicht-subjektive, sondern institutionelle Bedeutungen beschrieben werden kann. Aber kein Individuum, nur ein gegenwärtiges „Wir“, das das kollektive geschichtliche Gedächtnis und die Zukunftsvorstellungen der betroffenen Gruppen mit einschließt, ist imstande, solche sozialen Bedeutungen zu definieren. Um eine treffende Beschreibung des durch uns handelnden sozialen Geistes zu leisten, muss man davon ausgehen, dass „der objektive Geist der Institutionen den subjektiven Geist besonderer Personen vorangeht und ermöglicht“.78 Dieser objektive Geist soll aber nicht wie etwa bei Dilthey und MerleauPonty als ein objektivierter Geist, d. h. mit einem ursprünglich subjektiven Geist begriffen werden, der durch Einrahmung in ein soziales Milieu eine

72  Descombes,

Les institutions du sens (Anm. 66), 17. La denrée mentale (Anm. 68), 284.

74  Descombes,

Les institutions du sens (Anm. 66), 93.

71  Descombes, 73  Ebd., 75  Ebd.,

94.

89. 76  Ebd., 121. 77  Ebd., 211 ff. 78  Ebd., 15.



Der objektive Geist: von Hegel bis heute199

„menschliche Atmosphäre“ (Merleau-Ponty) bekommen würde.79 Der ‚echte‘ objektive Geist ist ursprünglich objektiver Natur: er „manifestiert die Präsenz des Sozialen in jedermanns Geist“.80 Descombes beabsichtigt, seinen Begriff des objektiven Geistes von demjenigen Hegels strikt zu unterscheiden. Nicht deshalb, weil er Hegel gegenüber feindselig wäre. Im Gegenteil übernimmt er manchmal nicht nur Hegels Terminologie, sondern auch Hegels Argumente, was seitens eines Philosophen analytischer Ausbildung eine ziemlich ernste Übertretung bedeutet. Er bringt z. B. Hegel und Peirce auf der Grundlage in einen Zusammenhang, dass sie „die beiden Philosophen der Zahl drei“ sind.81 Er lobt auch Hegel dafür, dass er die institutionelle Normativität des objektiven Geistes entziffert hat: „Etwas Wichtiges würde verloren gehen, wenn man sich an den objektivierten Geist halten würde. […] In der hermeneutischen Umformulierung des Hegelschen Begriffs des objektiven Geistes welche dazu zielt, ihn von den im System verankerten spekulativen Aufgaben zu befreien, geht etwas verloren: man vergisst den normativen Inhalt der Tatsachen, die er begrifflich machen soll.“82 Jedoch scheint es Descombes unentbehrlich zu sein, sich von der „belastenden Metaphysik“ (also vom absoluten Geist usw.) zu befreien, die die genialen Einsichten Hegels verwischt. Das ist bei einem Wittgenstein-Jünger völlig verständlich; übrigens verfahren die meisten Anhänger einer „nichtmetaphysischen“ Lektüre Hegels genauso. Aber die Kritik geht vielleicht über das Ziel hinaus. Z. B. zeigt Descombes anlässlich einer hervorragenden Analyse der „triadischen Tatsache der Schenkung“ in Bezug auf Peirce, dass die Schenkung keine bloße materielle Objektsübertragung von A zu B, das heißt keine bloß dyadische, sondern eine triadische Beziehung ist, weil sie die Vermittlung einer „Regel der Schenkung“, d. h. einer institutionellen Definition des Schenkens voraussetzt.83 Descombes setzt aber hinzu, dass „die Vermittlung [im Sinne von Peirce, der selbst auf Hegels Sprache bewusst zurückgreift] keineswegs dialektisch ist“, weil sie zu keiner „den Widerspruch aufhebenden Synthese“ führt,84 – als ob die Dialektik dem von Hegel explizit kritisierten Schule-Schema „These-Antithese-Synthese“ entspräche! Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris 1945, 400. Les institutions du sens (Anm. 66), 289. Diese Formulierung ist aus Durkheim quasi wörtlich entnommen. 81  Ebd., 231. 82  Ebd., 286. 83  Ebd., 242. 84  Ebd., 244. Dieselbe Sicht der Dialektik ist in der übrigens sehr klugen Widerlegung von Lévi-Strauss’ Kritik des Essai sur le don von Marcel Mauss zu finden: siehe bei Descombes, ebd., 255. 79  Maurice

80  Descombes,

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Natürlich ist die Dialektik im Sinne Hegels von der hier übernommenen Karikatur weit entfernt.85 Übrigens darf man nicht bei dieser etwas schulmeisterlichen Kritik von Descombes’ Überlegungen stehen bleiben; man sollte eher auf die begriffliche Nähe der Argumentationsweisen von Hegel und Descombes aufmerksam machen. Descombes’ Darstellung des paradoxen Charakters der „triadischen Tatsache der Schenkung“86 und Hegels Darstellung desselben Paradoxes im Fall eines weiteren sozialen Akts, des Vertrags, stimmen in der Tat weitgehend miteinander überein. Der Vertrag, so Hegel, enthält einen Widerspruch, denn ich bin als Eigentümer durch den bestimmten Akt (des Verkaufs) definiert, wodurch ich aufhöre, zugunsten eines Anderen Eigentümer zu sein.87 Aber dieser Widerspruch besteht nur vom Standpunkt des beiderseitigen einseitigen subjektiven Willens; in der Tat löst er sich durch keine „Synthese“, sondern durch den vermittelnden institutionellen Akt des Vertrages auf, durch den „mein Wille […] mir gegenständlich“ wird.88 Wie man sieht, beschreibt Hegel den Vertrag als eine „triadische Beziehung“ genau im Sinne von Peirce und Descombes. In dieser Hinsicht steht Hegels Lehre des objektiven Geistes tatsächlich von der angeblich nüchternen Auffassung Descombes’ nahe. Das große Verdienst der Konzeption eines objektiven Geistes liegt für Descombes darin, dass es der Institution eine Hauptrolle zuteilt. Institution bezeichnet aber nicht oder nicht nur eine „große Organisation“; die Institutionen sind vielmehr „begriffliche Systeme“, „Arten des Denkens sowie des Handelns“.89 Genau in diese Richtung soll meines Erachtens Hegels Institutionalismus verstanden werden: Wie Descombes will Hegel die Gegenüberstellung von Objektivismus und Subjektivismus überwinden. So interpretiert, steht Hegels Lehre des objektiven Geistes der von Descombes vorgeschlagenen nüchternen Variante jenes Begriffs viel näher, als Descombes selbst es glaubt. Eine kurze Schlussbemerkung. Nicht zufällig haben bedeutende gegenwärtige Philosophen wie Taylor und Descombes (und manche andere) einen auf den ersten Blick so seltsamen Begriff wie den des objektiven Geistes übernommen. Es ist nämlich, wenn man die konventionelle Art beseitigen will, die „mentale Ware“ zu konzipieren, wesentlich, den Begriff des Geistes zu ‚entsubjektivieren‘. Genauer gesagt ist es wichtig, sich von den in der Sprache selbst eingefügten ‚mentalistischen‘ Vorurteilen zu befreien. Genau dies 85  Siehe über diese klassische Fehldeutung der Dialektik als „These-AntitheseSynthese“-Schema J.-F. Kervégan, Hegel et l’hégélianisme, Paris 2017, 13–15. 86  Siehe Descombes, Les institutions du sens (Anm. 66), 242–245. 87  Hegel, Grundlinien, GW 14, 1, 77, § 72. 88  Ebd., 77, § 73. 89  Descombes, Les institutions du sens (Anm. 66), 296.



Der objektive Geist: von Hegel bis heute201

war das Vorhaben Hegels, als er den subjektiven Geist und den sozial institutionalisierten objektiven Geist unterschied. Die Fruchtbarkeit dieses Begriffs, den sich die sozialwissenschaftliche Forschung aneignet hat oder aneignen könnte, besteht darin, dass der objektive Geist mein Geist nicht ist, obwohl er mir nur unter ganz besonderen Umständen (z. B. anlässlich einer tiefen Krise der sozialen und kulturellen Identität) als etwas Fremdes erscheint. Der objektive Geist bedeutet die Präsenz eines „Äußeren“ in mir, das mir erst als etwas Äußeres erscheint, wenn ich nicht mehr imstande bin, „bei mir selbst“ zu sein. Anders gesagt: damit das „Ich“ möglich wird, muss ein „Wir“ bestehen, das die kollektive sowie persönliche Identität ermöglicht und verwirklicht.90 Genau das hatte Hegel in der Phänomenologie des Geistes behauptet.

90  Vincent

Descombes, Les embarras de l’identité, Paris 2013, 227.

Bildung und Religion in Schleiermachers Entwicklung Von Jan Rohls In seinen „Gelegentlichen Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn“, die er 1807 im Vorfeld der 1810 erfolgten Gründung der Berliner Universität zu Papier brachte, unterschied Schleiermacher zwischen Schulen, Universitäten und Akademien als den drei Hauptformen, in die sich gegenwärtig alle Vereinigungen zum Betrieb der Wissenschaften gestalten. Ich werde mich im Folgenden auf den Beitrag der Schule im Bildungsprozess konzentrieren und nur am Schluss auf die Universitäten eingehen. Was die Fächer des schulischen Lehrplans angeht, werde ich dem Religionsunterricht besondere Aufmerksamkeit schenken. Die Schulen sind für Schleiermacher Einrichtungen der Wissenschaft, in denen der Einzelne zur Erkenntnis „hinangebildet“ wird.1 Schleiermacher denkt dabei an die gelehrten Schulen, die Gymnasien, deren Vorsteher vollkommen wissenschaftlich gebildete Männer sein müssen und in denen wissenschaftliche Erkenntnisse vermittelt werden.2 Er hat aber nicht nur Überlegungen zum gymnasialen Schulunterricht vorgetragen, sondern er befasste sich auch mit dem Unterricht an Elementarschulen und weitete seine Überlegungen zu einer umfassenden Erziehungslehre, einer Pädagogik aus, die die Bildung des Menschen von der Geburt an behandelt. 1. Die preußische Schulreform Schleiermacher war nicht nur Mitglied der Kommission zur Einrichtung der Berliner Universität, sondern er wurde 1810 auch in die staatlichen Unterrichtsbehörden berufen, die sich mit der Reform des Schulwesens in Preußen befassten. Auf Wunsch Wilhelm von Humboldts, des damaligen Chefs der dem Innenministerium unterstellten Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht, wurde er Direktor der auch für die Prüfungen höherer Schulbediensteter zuständigen „Wissenschaftlichen Deputation für den öffentlichen Unterricht“. In einer vorläufigen Instruktion hatte Humboldt den Mitglieder1  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hrsg. von Dirk Schmid, KGA I/6, Berlin und New York 1998, 31. 2  Ebd., 30.

204

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kreis der Deputation näher bestimmt: „Zu ordentlichen Mitgliedern wählt die Sektion ausschließend Männer, die sich den allgemeinen Wissenschaften, namentlich den philosophischen, historischen und philologischen Studien, der reinen Mathematik und der allgemeinen Naturwissenschaft widmen“.3 Es handelte sich bei der Deputation also um ein wissenschaftliches Beratungsgremium. Zugleich wurde Schleiermacher Mitglied der für den Unterricht zuständigen Abteilung der Sektion. Mit seiner Wahl zum Sekretar der philosophischen Klasse der Berliner Akademie der Wissenschaften schied er allerdings bereits 1814 wieder aus dem Dienst der Unterrichtsbehörde aus. Mit der Zunahme der gegen die Bildungsreformer gerichteten Tendenzen nach der 1814 erfolgten Ernennung Kaspar Friedrich von Schuckmanns zum Innenminister wurde auf dessen Drängen hin die Wissenschaftliche Deputation 1816 ohnehin aufgelöst. Ihre bisherigen Aufgaben wurden neu errichteten wissenschaftlichen Prüfungskommissionen übertragen. Diese sollten mit den Provinzialkonsistorien, die mit den internen Belangen des Kirchen- und höheren Schulwesens betraut wurden, eng zusammenarbeiten.4 Das bedeutete, dass die von Schleiermacher forcierte Entflechtung von Kirche und Schule wieder rückgängig gemacht und die Schule erneut der kirchlichen Aufsicht unterstellt wurde. Die Schule wurde durch die Auflösung der mit Wissenschaftlern besetzten Deputation von der Wissenschaft getrennt und zu einer reinen Verwaltungsangelegenheit des Staates.5 Während seiner amtlichen Beschäftigung mit der Schulreform verfasste Schleiermacher zahlreiche Voten, die sich auf Lehrpläne, Prüfungsordnungen und die Lehrerausbildung bezogen. Erst jetzt kam es zur Etablierung eines eigenen akademisch gebildeten Standes von Gymnasiallehrern, während zuvor die Lehrerschaft an Latein- und Gelehrtenschulen aus dem Theologenstand rekrutiert worden war. Zudem war Schleiermacher um eine größtmögliche Trennung von staatlicher und kirchlicher Verantwortung bei der Erziehung und um die Selbstverwaltung der Schulen bemüht. Zu den Fragen, die den Lehrplan an den gelehrten, das heißt den höheren Schulen betrafen, zählte auch die nach der Stellung des Religionsunterrichts. So erbat sich Schleiermacher von den Mitgliedern der Deputation am 6. Juni 1810 eine Antwort auf die Frage: „Soll in den Lehrplan für gelehrte Schulen ein eigner Religionsunterricht aufgenommen werden oder nicht?“6 Schleiermacher erhielt daraufhin Zuschriften, die sich mehrheitlich für einen Religionsunter3  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Vorlesungen über die Pädagogik und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht, hrsg. von Jens Beljan, Christiane Ehrhardt, Dorothea Meier, Wolfgang Virmond und Michael Winkler, KGA II/12, Berlin und Boston 2012, 9. 4  Ebd., LIIf. 5  Ebd., LIV. 6  Ebd., 47.



Bildung und Religion in Schleiermachers Entwicklung205

richt an Gymnasien aussprachen. So plädierte etwa der Historiker Johann Gottfried Woltmann für einen schulischen Religionsunterricht, weil der kirchliche Unterricht in eine frühe Entwicklungsperiode des Jugendlichen falle und der Kirche es danach nur noch um die Erregung christlicher erbaulicher Gefühle gehe. Es scheine ihm daher notwendig, „daß es noch in den folgenden Schuljahren, für die welche eine gelehrte Bildung anstreben und doch nicht künftig als Theologen das Christenthum in seiner wißenschaftlichen und historischen Gestalt und Bildung zum Gegenstande ihres Studiums machen, daß es für diese noch eine Steigerung dieses Unterrichts gebe“.7 Gerade der Einfluss des Christentums auf die ganze neuere Geschichte mache einen Religionsunterricht in höheren Schulen notwendig. Besonders hebt Woltmann dessen Bedeutung für die Belebung und Erweckung des philosophischen Talents hervor, da es zwischen neuerer Philosophie und christlicher Lehre eine Wechselbeziehung gegeben habe. In seiner eigenen Stellungnahme beginnt Schleiermacher mit der Auflistung der Argumente, die gegen einen schulischen Religionsunterricht sprechen, um dann aber für einen solchen zu plädieren. Denn der kirchliche Unterricht differenziere nicht zwischen Jugendlichen verschiedener Klassen und vernachlässige über der Belebung der Gesinnung die Einsicht. „Die Kirche fordert diese Einsicht nur von den künftigen Klerikern und ist sicher daß diese sie in ihrem künftigen theologischen Studio erlangen.“8 Dagegen wünsche der Staat sich diese Einsicht bei allen, die die Kirche als eine vom Staat adoptierte und benutzte Anstalt einmal leiten werden, so dass er Wert darauf lege, dass seine künftigen Staatsdiener auf der höheren Schule einen Religionsunterricht erhielten, der diese Einsicht fördere. Schleiermacher sieht daher keinen Gegensatz zwischen dem kirchlichen und dem schulischen Religionsunterricht, da der kirchliche für die Gesinnung, der schulische für die Einsicht zuständig sei. Die „Auflösung des scheinbaren Streites liegt darin daß bei dem Religionsunterricht auf gelehrten Schulen die Einsicht die Hauptsache sein muß und die Belebung der Gesinnung die Nebensache und so in der Form einer allgemeinen historischen Darstellung der christlichen Lehre und Kirche scheint er mir beibehalten werden zu müssen“.9 Im Sommer 1810 arbeitete Schleiermacher dementsprechend einen „Allgemeinen Entwurf zum Religionsunterricht auf gelehrten Schulen“ aus. Ihm schwebt dabei für den preußischen Staat ein christlicher Religionsunterricht vor, da der Staat das Christentum als die unter seinen Bürgern allgemein verbreitete und gültige Form der Religion anerkenne und er auf diese Weise zugleich der Ansicht widerspreche, als ob die Religion in Gestalt der positiven christlichen Religion und wissenschaftliche Bildung 7  Ebd., 8  Ebd., 9  Ebd.

58. 56.

206

Jan Rohls

sich ausschlössen. Der für alle Schüler, Protestanten wie auch Katholiken und Juden verbindliche Religionsunterricht müsse „christlich sein dabei aber streben sich von der Polemik der einzelnen christlichen Partheien gegen einander frei zu halten“.10 Allerdings müsse sich der Religionsunterricht an den verschiedenen Bildungsstufen orientieren, von denen die Deputation bei gelehrten Schulen drei kenne. Auf der untersten Bildungsstufe der Sexta und Quinta komme als Leitfaden des Unterrichts nur die Bibel in Frage, aus der dann Geschichten, Parabeln und Sprichwörter die christliche Gesinnung vermitteln sollten. Da die mittlere Stufe der Quarta und Tertia in die Zeit des kirchlichen Unterrichts fällt, schlägt Schleiermacher vor, den schulischen Religionsunterricht auf dieser Stufe ausfallen zu lassen. Auf der obersten Stufe der Secunda und Prima solle eine allgemeine Kenntnis der Bibel sowie eine kurze Geschichte der Entstehung und Entwicklung der christlichen Kirche und Lehre erworben werden. Hier gehe es darum, „durch eine gehaltvolle Darstellung den Mängeln welche der kirchliche Religionsunterricht für den gebildeten Verstand der Jünglinge nicht selten gehabt haben wird abzuhelfen, den Skepticismus der sich in ihnen entwikelt haben mag zur Sprache zu bringen und zu zügeln, den religiösen Geist auch unter den verschiedensten Lehrformen und Meinungen auffassen zu lehren und das speculative Talent propädeutisch anzuregen damit in dem Einzelnen eben wie es im Großen geschehen ist die Philosophie sich hernach desto leichter aus der Beschäftigung mit der Religion entwikkele“.11 Der von der Deputation erarbeitete Entwurf eines Lehrplans für die höheren Schulen wurde schließlich von August Ferdinand Bernhardi, dem Leiter des Friedrichswerderschen Gymnasiums, unter dem Datum vom 3. September 1810 der Sektion für den öffentlichen Unterricht beim Innenministerium zugeleitet. Schleiermacher selbst, der maßgeblichen Anteil an ihm hatte und ihn als sein eigenes Produkt ansah, befand sich zu diesem Zeitpunkt auf einer Urlaubsreise nach Dresden. Auch seine eigenen Gedanken zum Religionsunterricht finden sich in dem Lehrplanentwurf wieder. Zwar soll der Unterricht in allen Disziplinen erregend auf die Richtung aller geistig-seelischen Kräfte zur Selbsttätigkeit für das Gute und Rechte wirken. Aber der Religionsunterricht sei dazu die natürliche Ergänzung, „indem hier unter der Form des Lehrens selbst auf die Religiösität als die höchste Einheit aller Gesinnung gewirkt wird“.12 Der Religionsunterricht mache somit explizit, was auch jedem anderen Unterricht immanent sei. Schleiermacher wehrt sich dagegen, aus Rücksicht auf jüdische Schüler den Religionsunterricht als Unterricht in der sogenannten allgemeinen, das heißt der natürlichen Religion zu gestalten, 10  Ebd.,

76. 77. 12  Ebd., 153. 11  Ebd.,



Bildung und Religion in Schleiermachers Entwicklung207

da dieser eine anerkannte Lehre fehle. Zwar soll er je nach konfessioneller Ausrichtung des Gymnasiums entweder protestantisch oder katholisch sein, aber auf jede Polemik verzichten und den Schülern der jeweils entgegengesetzten Konfession der Wechsel in den eigenen konfessionellen Unterricht erlaubt sein. Auch in dem Lehrplanentwurf plädiert Schleiermacher dafür, während der Dauer des kirchlichen Religionsunterrichts den schulischen ausfallen zu lassen, um Reibereien zu vermeiden. Der Religionsunterricht auf der Unterstufe habe propädeutischen Charakter und diene dazu, der Religiosität Anerkennung zu verschaffen anhand biblischer Geschichten, Parabeln, Sprichwörtern und Sentenzen, gepaart mit religiösen Liedern. Was den Religionsunterricht in der Oberstufe betrifft, so übernimmt Schleiermacher die Ausführungen seines Votums und hebt besonders hervor, dass sich aus der Religion die Philosophie entwickeln solle. Zwar kennt der Lehrplanentwurf der Deputation keinen Unterricht in der Philosophie. Aber nicht nur bereitet der Religionsunterricht auf die Philosophie vor, die ihren Platz im Universitätsstudium hat. Vielmehr bezieht sich der Unterricht auf all jene Gegenstände, die zur allgemeinen Bildung gehören und ihre Einheit in der Philosophie haben. Der Endzweck der Gymnasien ist es nicht nur, der Jugend eine Menge von Kenntnissen beizubringen oder Fertigkeiten mechanisch einzuüben, sondern die Gymnasien dienen auch der Entwicklung der geistigen Kräfte der Schüler. Denn die Universitäten setzen zum einen eine gewisse Menge von Kenntnissen und ebenso den freien Gebrauch geistiger Kräfte voraus. Dabei geht die Deputation davon aus, „daß die gelehrte Schule den ganzen Unterricht von den ersten Elementen an bis zur Universität hin besorgt, und von einem Zögling, den sie als einen Anfänger in ihre unterste Klasse aufnimmt, nichts weiter fodert, als daß er Wörter und Zahlen mechanisch mit Geläufigkeit lesen und die deutschen und lateinischen Schriftzüge wenn auch nur mühsam malen kann“.13 Mit in die gelehrten Schulen integriert sind die höhere Elementarschule und die höhere Stadtschule, wobei der Schüler von jeder Schulstufe in ein ausübendes Leben wechseln kann, und zwar von der Unterstufe in den niederen Bürgerstand, von der Mittelstufe in den Handelsstand, den Stand des Künstlers und alle nicht rein wissenschaftlichen Zweige des Staatsdienstes, von der Oberstufe schließlich in das streng wissenschaftliche Universitätsleben. Andererseits ist jede Stufe Teil eines Ganzen und trägt etwas zur nächst folgenden Stufe bei. Auch ist jede Stufe durch den Gegensatz von Empfangen, Rezeptivität und Hervorbringen, Spontaneität charakterisiert, wobei die Spontaneität von Stufe zu Stufe zunimmt. Was die Lehrinhalte der Allgemeinbildung betrifft, so rechnet die Deputation dazu außer der Muttersprache und dem Französischen als moderne Fremdsprache sowohl die realen Wissenschaften, nämlich Geschichte, 13  Ebd.,

112.

208

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Geographie, Naturbeschreibung, Naturlehre und Mathematik als auch die alten Sprachen Griechisch und Latein, während das Hebräische nur für Theologen und Orientalisten von Belang ist. Daneben soll von den schönen Künsten der Gesangsunterricht, eingeschränkt auf den ernsten Stil der Kirchenmusik, und der Zeichenunterricht, bezogen auf die Naturbeschreibung, ebenso in der Schule verankert werden wie die Gymnastik zur Ausbildung des Körpers. 2. Der Akademievortrag über den Beruf des Staates zur Erziehung Auf Vorschlag Humboldts war Schleiermacher 1810 Mitglied der philosophischen Klasse der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften geworden, und 1814 wählte man ihn zum Sekretar dieser Klasse. In der Plenarsitzung am 22. Dezember 1814 hielt er dort einen Vortrag „Über den Beruf des Staates zur Erziehung“, der sich im gedanklichen Umfeld seiner Tätigkeit für Deputation und Sektion bewegt. Schleiermacher ließ den Vortrag zwar nicht drucken, betrachtete ihn aber als mitteilbar. Erhalten blieb Schleiermachers Vortragsmanuskript, das erstmals 1835 im Druck erschien. Den Ausgangspunkt bildet die Feststellung, dass in der neuen europäischen Bildung der Staat in der Erziehung seiner künftigen Bürger zwar eine Tätigkeit übernommen habe. Aber diese Tätigkeit sei mal stärker, mal schwächer gewesen, „so daß er strebt sich ausschließend dieses Geschäft anzueignen und auch diejenigen, denen es am natürlichsten obliegt und die ein früheres und größeres Recht dazu zu haben scheinen als er, nur seinen Bestimmungen zu unterwerfen“.14 Allerdings lasse diese staatliche Okkupation des ganzen Bildungssystems zwei entgegengesetzte Bewertungen zu. So sehr man sie dort begrüße, wo die gewöhnlichen Wege der häuslichen Erziehung daran scheitern, die schlummernden geistigen Kräfte zu wecken, so sehr verurteile man sie, wo ein tyrannischer Staat dem Volk seinen fremden Willen aufdrücke. Zwar räumt Schleiermacher ein, dass man sich gerade in den deutschen Ländern in der glücklichen Lage befinde, dass der staatliche Einfluss auf die Erziehung durchweg förderlich sei. Aber gerade angesichts der von ihm negativ beurteilten staatlichen Erziehungspolitik im napoleonischen Frankreich möchte er nach den Gründen fragen, auf denen der Beruf des Staates zur Erziehung beruht, und auch die Grenzen dieses Berufs erkennen. Faktisch bewege sich die Erziehungspraxis immer zwischen zwei Extremen. Das eine sei die Vorstellung der platonischen „Politeia“, die die gesamte Erziehung 14  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Akademievorträge, hrsg. von Martin Rössler unter Mitwirkung von Lars Emersleben, KGA I/11, Berlin und New York 2002, 127.



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ausschließlich in die Hände des Staates lege, das andere die Auffassung, dass das Haus als Sitz der Familie das Heiligtum sei, in dem die Kinder bis zum Eintritt ihrer Mündigkeit blieben. Schleiermacher möchte keine allgemeingültige Theorie über den Einfluss des Staates auf die Erziehung liefern, sondern möchte nur „ein Fachwerk aufstellen für diese Untersuchungen um nämlich die Staaten selbst und die Gesichtspunkte von denen sie haben ausgehen können zu classificiren, und damit zugleich ein Mittel zur Verständigung über die verschiedenen Theorien wie nämlich die eine vielleicht unter solchen Umständen anwendbar sein könne und die andre unter anderen“.15 Schleiermacher geht dazu von dem Unterschied von Staat und Erziehung aus. Während der Staat ein Verhältnis erwachsener Menschen unter sich sei, ohne dass im Begriff des Staates impliziert wäre, woher die Erwachsenen kommen, handle es sich bei der Erziehung um ein Verhältnis der Generationen unter sich, in dem die eine Generation erziehe, die andere erzogen werde. Die Erziehung aber könne durchaus ohne den Staat gedacht werden. Wie der Staat sich zur Erziehung verhalte, hänge wesentlich vom Staatsverständnis ab. Wo der Staat nur als negative Größe verstanden werde, deren einzige Aufgabe es sei, das Nebeneinanderbestehen der Triebe und Freiheiten der einzelnen Individuen zu sichern und ihren Missbrauch zu verhüten, müsse seine Beteiligung an der Erziehung als ein Eingriff in die Freiheit der Einzelnen gesehen werden. Wenn man den Staat hingegen positiv als eine selbst hervorbringende, bildende und leitende Kraft sehe, die einen bestimmten Zweck verfolge, dann „gehört die Erziehung als eine natürliche Tätigkeit des Menschen auch dazu, und der Staat wird zuerst unmittelbar selbst erziehen, demnächst aber auch Einzelne zum Erziehen immer kräftiger und sicherer bilden, und jenes durch dieses allmählig beschränken“.16 Allerdings ergebe sich diese Beteiligung des Staates an der Erziehung nicht unmittelbar aus der Entstehungsgeschichte des Staates selbst. Denn in dem vorbürgerlichen Zustand der Stammeshorde gebe es bereits verschiedene Stufen der Bildung sowie sittliche und religiöse Gefühle, und in dieser Sitte wachse die Jugend auf und werde so wirklich erzogen. Das ändere sich auch nicht beim Übergang von der Horde zum verfassten Staat. Daraus leitet Schleiermacher folgenden Schluss ab: „da Sitten und Gebräuche in einem Volk überall älter sind als die Verfassung, kann auch dasjenige in der Erziehung was auf der Sitte ruht, nie auch in einem folgenden Zustande eben so wenig als in diesem ursprünglichen als von der Regierung ausgegangen und von ihr erzeugt angesehen werden sondern dieses ist wol überall auch in seinen allmählichen Umwandlungen das unbewußte Erzeugniß freilich nicht der Einzelnen als solcher, auch nicht der Weisesten und Kunstverständigsten […], auch nicht 15  Ebd., 16  Ebd.,

130. 133.

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das Erzeugniß des isolirenden Privatlebens, sondern das gemeinsame aber freie und nur in freier Gemeinsamkeit gedeihende unbewußte Erzeugniß des Volkes“.17 Die Erziehung hat somit für Schleiermacher ihre Wurzeln im Volk und seiner Sitte, und der Staat in Gestalt der Regierung kann sie zwar entweder schützen oder bekämpfen, niemals aber erzeugen. Zu einer erzieherischen Tätigkeit des Staates komme es erst dann, wenn im vorbürgerlichen Zustand ein Stamm einen anderen unterwerfe und im Interesse der staatlichen Einheit eine Aufhebung der Stammes- und Standesunterschiede bezwecke. Diese staatliche Erziehung dürfe nicht eher aufhören, als bis der Zustand der Einheit der Sitte und der Gleichheit der Bildungsstufe beide Stämme miteinander vereint habe. Schleiermacher wendet dieses Modell auf das gegenwärtige Verhältnis von Adel und Bürgertum an, indem er feststellt: „Große Aehnlichkeit mit dem Verhältniß zweier solcher ursprünglich ungleichartiger Stämme hat in unsern Verfassungen das Verhältniß des Adels zum Bürgerstande.“18 Denn auch hier beginne, nachdem bereits die Kirche und der aus ihr hervorgehende wissenschaftliche Verein die politischen Unterschiede zwischen den beiden Ständen nicht mehr berücksichtigt hätten, der Ausgleich zwischen ihnen durch ihre Teilnahme an demselben Erziehungssystem und den Verzicht auf eine nach Ständen getrennte Ausbildung. Ebenso müsse letztlich beim Zusammenschluss mehrerer bislang selbstständiger Länder zu einem Staat dessen Regierung ein Interesse daran haben, außer der äußeren auch eine innere Einheit heranzubilden. Denn „früher oder später wird eine Zeit kommen, wo sie es fühlen wird daß es nothwendig ist die Vielheit in eine wahre Einheit umzuprägen, jedem organische Theile das Gefühl des Ganzen lebendig einzubilden und diesem Gefühl das des eigenthümlichen Daseins unterzuordnen damit nicht die Liebe zum Stamm und zum Gaue der Liebe zum Vaterlande und zum Volke entgegenstrebe“.19 Aus diesem Grunde nehme sich die Regierung der Erziehung der heranwachsenden Jugend an, um bei ihr ein Gefühl der Identität mit dem Ganzen auszubilden. Daher könne sie die Erziehung auch nicht der Kirche überlassen, die an der Bildung einer Nationaleinheit keinen entscheidenden Anteil habe, sondern an das persönliche Gefühl des Einzelnen und das allgemeinste Gefühl der menschlichen Natur anknüpfe. Erst wenn das Gefühl der Einheit in einem Staat so stark geworden ist, als sei es angeboren, „ist auch kein Grund weshalb die Regierung länger sollte die Erziehung, die doch von Natur nicht ihr Geschäft ist dazu machen, und sie nicht vielmehr in die Hände des Volkes zurückgeben“.20 Damit hat Schleiermacher auch die Grenze des Berufs des Staates zur Erzie17  Ebd.,

135 f. 140. 19  Ebd., 141 f. 20  Ebd., 142. 18  Ebd.,



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hung benannt. An diese Grenze gelangt, solle der Staat die Erziehung an das Volk in Gestalt der „Communalverfassung“ zurückgeben. Diese werde durch ihre Gemeinschaft mit der Kirche und dem wissenschaftlichen Verein intellektuell belebt und stehe mit der Regierung in indirektem Zusammenhang, „nur daß diejenigen, die ihn vermitteln, nicht mehr eigentlich als Staatsbehörde sondern nur die einen als Vertreter des Volkes bei der Regierung, die andern als Vertreter der Regierung beim Volke anzusehen sind“.21 Von Seiten der Erziehung aus aber sieht Schleiermacher die Beziehung zum Staat dadurch gegeben, dass die Erziehung damit ihr Ende erreicht, dass sie den Menschen an den Staat als dessen Bürger abliefert, der fähig ist, als lebendiger organischer Teil des Ganzen zu handeln und in ihm eine bestimmte Stelle einzunehmen. 3. Die Pädagogik-Vorlesung von 1813/14 Schleiermacher fühlt sich in seinem Akademievortrag der Beantwortung der Frage, was denn Erziehung eigentlich sei, deshalb enthoben, weil sie in seinen Augen Sache des pädagogischen Systems ist, das er in seinen Pädagogik-Vorlesungen entfaltet. Die Pädagogik-Vorlesungen stehen in direktem Zusammenhang mit seiner praktischen Tätigkeit als Mitglied der Deputation und der Sektion für den öffentlichen Unterricht in Preußen, das heißt als Mitarbeiter an der preußischen Schulreform. Carl Platz, der 1849 aus Manuskripten Schleiermachers und Nachschriften seiner Vorlesungen eine „Erziehungslehre“ zusammenstellte, besaß noch das ihm von Ludwig Jonas zur Verfügung gestellte Manuskript der ersten Pädagogik-Vorlesung, die Schleiermacher 1813/14 in Berlin hielt. Dieses Manuskript, übrigens das einzige, das neben Nachschriften überliefert ist, ist im Original nicht mehr auffindbar, aber es existiert dessen für die Ausgabe von 1849 angefertigter wörtlicher Abdruck.22 Schleiermacher charakterisiert die Pädagogik zwar als eine wissenschaftliche Disziplin, die von der Sittenlehre oder Ethik ausgeht, doch statt diesen Ausgang nachzuzeichnen, legt er einen populären Begriff von Erziehung zugrunde. Erziehung ist danach „die Einleitung und Fortführung des Entwikklungsprocesses des einzelnen durch äußere Einwirkung“, und zwar „durch Einwirkung einzelner (nicht ganzer Massen) und bis zur bürgerlichen Selbständigkeit“.23 Da aber die Erreichung der bürgerlichen Selbstständigkeit unterschiedlich bestimmt werde, gelange man, was das Ende des Erziehungsprozesses angehe, zu keiner allgemeinen Begrenzung. Was den Ausgangspunkt des Erziehungsprozesses betrifft, so frage sich, welche phy21  Ebd.,

143. LVI. 23  Ebd., 260. 22  Ebd.,

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sischen Voraussetzungen auf Seiten des zu Erziehenden gegeben seien. Schleiermacher sieht alles Lebendige durch den Gegensatz von Rezeptivität und Spontaneität gekennzeichnet, alles bewusste Leben zudem durch unterschiedliche Temperamente und Talente, die die Eigentümlichkeit des Menschen konstituieren. Von der Frage, was der Mensch zu Beginn der Erziehung schon ist, unterscheidet Schleiermacher die Frage nach dem ethischen Ziel der Erziehung, also danach, was aus dem Menschen werden soll. Er gibt darauf keine allgemeingültige Antwort, sondern beschränkt sich stattdessen auf die Beantwortung der empirischen Frage, wohin die Erziehung den Menschen denn abliefere. Schleiermacher nennt als Sphäre neben dem Staat die Kirche, und je nachdem, wie der Staat und die Kirche verfasst seien, müsse auch die Erziehung verschieden sein. „Eine allgemeine Religion und eine von aller Nationalität entblößte Sitte sind eben solche Chimären wie eine allgemeine Sprache und ein allgemeiner Staat.“24 In der Erziehung verbänden sich aber zwei Schritte, nämlich die vorgängige Ausbildung der Natur des zu Erziehenden mit seinem späteren Hineinbilden in das sittliche Leben. Dem entspreche eine zweifache Form der Erziehung, nämlich zunächst durch die Familie und dann durch den Staat und die Kirche. Dabei unterscheidet Schleiermacher drei Stufen der Erziehung: die häusliche Erziehung, die öffentliche Elementarerziehung und die höhere öffentliche Erziehung. Die Frage, ob jeder Mensch auf gleiche Weise wie jeder andere fähig sei, in die öffentlichen Sphären von Staat, Kirche oder ähnlichen einzutreten, gibt Schleiermacher Gelegenheit, sich grundsätzlich über die Bedeutung der unstreitig vorhandenen Differenzen auf Seiten der zu Erziehenden für die Erziehung zu äußern. Wenn man diese Differenzen nur als Folge der verschiedenen Bildung und der äußeren Verhältnisse betrachtet, dann hält er sie prinzipiell für aufhebbar. Allerdings finde eine solche Aufhebung nur in einer vollkommenen Demokratie statt.25 In einer Aristokratie wäre man hingegen an einer Aufrechterhaltung der Differenzen interessiert. Auch wenn er es nicht deutlich ausspricht, tendiert Schleiermacher doch zu einer demokratischen Aufhebung der Differenzen. Das legt zumindest die folgende Bemerkung nahe: „Wenn die Ungleichheit der Menschen von Natur im Abnehmen ist […]: so ist eine pädagogische Institution frevelhaft welche sie auf dem Punkt festzuhalten strebt wo sie sich findet; also jede welche von aristokratischen Gesichtspunkten ausgeht.“26 Das völlige Abnehmen würde aber zum Verschwinden auch der angeborenen Ungleichheit, also zur vollkommenen Gleichheit führen, so dass jeder in die höchste Bildungsstufe aufsteigen könnte. Doch Schleiermacher geht nicht von einem derartigen angepeilten 24  Ebd.,

264. 266 f. 26  Ebd., 267. 25  Ebd.,



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egalitären Zustand, sondern von dem faktischen Zustand der Ungleichheit aus, der bei den nur für die niedrigen Bildungsstufen Bestimmten dadurch kompensiert wird, dass sie ihre Erziehung früher beenden und es als Vorteil ansehen, die höchste Bildungsstufe nicht durchlaufen zu müssen. Eine entscheidende Frage an den Erziehungsprozess lautet dabei, ob jeder seiner Momente nur ein Mittel für den künftigen sei, weil es sein Ziel sei, den Menschen für den Staat, die Kirche oder eine ähnliche Sphäre heranzubilden. Als Antwort stellt Schleiermacher den Kanon auf: „Alle Vorbereitung muß zugleich unmittelbare Befriedigung, und alle Befriedigung zugleich Vorbereitung sein.“27 Die Pädagogik-Vorlesung von 1813/14 gliedert sich nach der Einleitung in einen allgemeinen und einen besonderen Teil, eine Einteilung, der auch die späteren Vorlesungen folgen. Wenn das Ziel der Erziehung die Selbstständigkeit sei – so Schleiermacher –, dann müsse alle Behütung vermieden werden, die die Entwicklung der Selbstständigkeit verhindere. Das bedeute auch, dass der Verlust der Unschuld notwendig sei, da die Unschuld sich nicht mit einem selbstständigen wissenschaftlichen oder politischen Leben vertrage. Während die Erziehung die ihr widersprechenden Einwirkungen abwehre oder einschränke, verstärke und ordne sie die mit ihr zusammenstimmenden Einwirkungen und hebe ins Bewusstsein, was sie nur unbewusst brächten. Dabei unterscheidet Schleiermacher zwischen dem Gebiet der Erziehung im engeren und im weiteren Sinn. Das Gebiet der Erziehung im engeren Sinn sei das des technischen Verfahrens, das der Erziehung im weiteren Sinn sei hingegen das des Lebens. Der Unterschied leuchte sofort ein, wenn man bedenke, dass ein technischer Prozess zur Erweckung einer tugendhaften Gesinnung oder eines ästhetischen Geschmacks etwas Verkehrtes sei. Das technische Verfahren bringe nur Kenntnisse und Fertigkeiten, das einwirkende Leben dagegen Gesinnung und Geschmack hervor. Da das Leben durch das Zusammensein und den Wechsel von Rezeptivität und Spontaneität gekennzeichnet sei, lasse sich als allgemeine Aufgabe bestimmen die „Entwikklung des receptiven Chaos zur Weltanschauung, und des spontanen zur weltbildenden Selbstdarstellung“.28 Im besonderen Teil seiner Pädagogik-Vorlesung von 1813/14 unterscheidet Schleiermacher drei Erziehungsperioden. In der ersten Periode sei der Anteil der Familie am größten, während in der letzten Periode der Einfluss der organischen Sphären, für die der Mensch ausgebildet wird, überwiege. Bei diesen organischen Sphären denkt Schleiermacher an die Institutionen von Staat, Kirche, Wissenschaft und freier Geselligkeit. Denn diese Institutionen hätten ein Interesse, sich auf die künftigen Generationen fortzupflanzen. Doch er27  Ebd., 28  Ebd.,

270. 286.

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strecke sich der Einfluss der Familie gleichwohl bis zum Ende wie der der Institutionen bis zum Anfang der Erziehung, wenngleich der Einfluss der Familie zu Anfang, der der Institutionen am Ende am stärksten sei. Daher erscheine die Erziehung „einmal als Werk der Familie bis zu Ende, denn nur nach vollendeter Selbständigkeit tritt der Mensch aus ihr heraus. Dann aber als Werk jener Organismen bis zu Anfang; denn wenn gleich ihr nächstes Interesse ist zu sehen daß die Entscheidung über die Bildungsstufe richtig gefaßt werde: so muß doch ihr Interesse bis auf die erste Periode zurückgehen.“29 Die mittlere Periode hingegen beginne mit dem Eintritt in das pädagogische Leben außerhalb der Familie, also in der öffentlichen Schule, und ende mit dem propädeutischen Eintritt in eine bestimmte Lebenssphäre. Denn die dritte Periode sei für diejenigen, die sich zur höheren Bildungsstufe eignen, noch ein Zustand allgemeiner Erziehung, für die anderen hingegen die technische Vorbereitung auf ihren besonderen Beruf. Dementsprechend handelt Schleiermacher erstens von der Erziehung der Kinder in der Familie, zweitens von der Elementarbildung in Beziehung auf die vier organischen Sphären und drittens von der höheren und der technischen Bildung. Die erste Periode, die der Erziehung der Kinder in der Familie gewidmet ist, lässt Schleiermacher durch den Anfang des Schulunterrichts begrenzt sein. Anders als in ihm ließen sich in der Familie Zusammenleben und Erziehen nicht säuberlich voneinander trennen. „Man kann wenig thun als mitleben und lebenhelfen; aber alles ist auch Erziehung desto mehr, je mehr es auf alles folgende einwirkt.“30 Die Periode zerfalle in zwei Teile, wobei die Grenze die Erlangung der Sprachfähigkeit, damit aber die Formung von Begriffen und der Eintritt der Reflexion bilde. Der erste Abschnitt betreffe somit die Erziehung des noch sprachlosen Kindes, bei dem sich allmählich der Gegensatz von Spontaneität und Rezeptivität ausbilde. „Gegen das Ende dieses Abschnittes ist die Spontaneität soweit entwikkelt daß sie sich bestimmt und nach vielen Seiten als Zuneigung und Abneigung zeigt.“31 Das Leben des Kindes entwickle sich dabei im Streit mit Anderen, gegen die es seinen Willen durchzusetzen und seine Selbstständigkeit zu erlangen suche. Dies geschehe, indem es durch Schreien und Schmeicheln danach strebe, Unangenehmes zu entfernen und sein Verlangen zu stillen. Dabei gebe es verschiedene Erziehungsmittel, um der Opposition des Kindes gegen die Eltern zu begegnen. Sie liegen in den durch die absolute Nachgiebigkeit und die absolute Härte markierten Grenzen. „Alles kommt an auf richtige Unterscheidung der Gebiete, wo man den Willen als Befehl ausspricht, und wo als Frage und Vorschlag. Befehlen muß man alles wovon man fühlt daß das 29  Ebd.,

298. 300. 31  Ebd., 303. 30  Ebd.,



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Beste des Kindes und die Ordnung der Familie es erfordert“.32 Den zweiten Abschnitt der ersten Periode lässt Schleiermacher für Jungen und Mädchen unterschiedlich enden. Während der Knabe in das Schulleben übergehe, trete das Mädchen in das Leben des Hauswesens ein. Schleiermacher favorisiert eine Privatbildung der Mädchen in der Familie, wogegen er separate Mädchenschulen und ebenso eine mit Jungen gemeinsame Elementarbildung wie in ländlichen Regionen nur als Notlösung ansieht.33 Da auf der öffentlichen Schule Ordnung nach dem Gesetz herrsche, so dass jede Übertretung des Gesetzes dem Schüler als Unrecht bewusst sein müsse, sei es notwendig, dass er bereits zuvor in der Familie Ordnung in den verschiedenen Bereichen wie Schlafen und Wachen, Essen und Trinken, Waschen und An- und Auskleiden gelernt habe. „Die Ordnung ist auch deshalb nothwendig, damit die Kinder die Dienste die ihnen geleistet werden für ein Familiengeschäft halten und nicht das Gefühl bekommen als ob andere von ihnen abhängig wären.“34 Da das anfängliche Schulleben zudem bei dem Schüler eine gewisse Selbstständigkeit voraussetze, müsse den Kindern im zweiten Abschnitt der ersten Erziehungsperiode zudem in der Familie beigebracht werden, sich immer mehr selbst zur gesellschaftlichen Erscheinung zu bilden. Zwar scheide sich erst mit dem Schulbeginn das schulische Arbeits- und Übungsleben vom häuslichen Spielleben. Das eine sei hervorbringend, das andere darstellend. Aber auch wenn dem Kind, solange es nur zu Hause in der Familie lebt, alle Übung zum Spiel werde, müsse der Erzieher versuchen, ihm jedes Spiel zur Übung werden zu lassen. Auf die Einwirkung der Familie gehe es auch zurück, wenn am Ende dieser Periode die Keime der Frömmigkeit, Geselligkeit und Bürgerlichkeit gelegt seien. Schleiermacher geht im Einzelnen der Förderung des Wissens, der Bildung zur Religion und der Bildung für den Staat im zweiten Abschnitt der ersten Periode nach. Was die Förderung des Wissens betrifft, so will er es auf das nationale Elementarwissen beschränkt wissen. Bereits hier auf das höhere oder spezielle Wissen Bezug zu nehmen, erscheint ihm als „tyrannisches Vorgreifen der Natur“.35 Für grundlegend hält er das Erlernen der Sprache, das er auf die Muttersprache restringiert sehen will. Die Kinder eigneten sich die Muttersprache zwar weitgehend von selbst an. Aber nachhelfen müsse man bei der richtigen Aussprache, der korrekten Grammatik und der Vermeidung des Gemeinen. Während der Sprachreichtum bei Kindern durch häufiges Sprechen mit ihnen befördert werde, diene die Zufuhr von möglichst viel Stoff mittels der Sprache und unterstützt durch Bildmaterial zur Vermehrung 32  Ebd.,

307. 299. 34  Ebd., 308. 35  Ebd., 311. 33  Ebd.,

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ihres Wissens. Nur wenn die Schule bereits die Lese- und Schreibfähigkeit voraussetze, müsse diese schon in der Familie erworben worden sein. Zur Anregung des freien Kombinationsvermögens bei Kindern empfiehlt Schleiermacher das Erzählen von Märchen. Was die Bildung zur Religion betrifft, so unterscheidet er „die Entwikklung der Religion als inneren Princips im Leben überhaupt, und das Heraustreten desselben für sich allein“.36 Die Religion als inneres Lebensprinzip und Bedingung alles menschlichen Erkennens und Handelns hält er für allen Menschen angeboren. „Sie ist das positive Bewußtsein von der Relativität des Gegensatzes zwischen einem einzelnen Leben und der Totalität“.37 Je stärker sich der Gegensatz ausbilde, desto mehr entwickle sich dieses Bewusstsein. Die kindliche Frömmigkeit bestehe darin, dass das Kind sein Wohlsein nur in der Übereinstimmung mit dem Ganzen, also im Gehorsam finde. Was das Heraustreten der Religion für sich alleine angeht, so hält Schleiermacher dies für ein „wesentliches Element der vollendeten menschlichen Bildung“.38 Entscheidend seien dabei nicht die Begriffe, sondern entscheidend sei der Kultus. Zwar hält Schleiermacher den kirchlichen Kultus für Kinder ungeeignet. Aber: „Ist Gottesdienst im Hause, so ist es unmöglich daß die Kinder nichts davon merken. Fragen sie nun: so muß man ihnen auch die Begriffe mittheilen so wie sie sie fassen können.“39 Neben der Bildung zur Religion zählt Schleiermacher noch die Bildung für den Staat zu den Erziehungsaufgaben der ersten Periode. Sie umfasst nicht nur die geistige, sondern auch die körperliche Bildung zur Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit sowie die Ausbildung des Ordnungssinns und des Gehorsams. „Gehorsam ist Basis des bürgerlichen Zustandes. Auch der beste Mensch im besten Staat muß bisweilen rein gehorchen.“40 4. Die Pädagogik-Vorlesung von 1820/21 Bereits Platz beklagte den Verlust zweier Bogen des Manuskripts der Vorlesung von 1813/14, und tatsächlich fehlen Schleiermachers Ausführungen zum Ende der ersten und Anfang der zweiten Periode der Erziehung. Die zweite Periode, die sich mit der Elementar- oder Trivialbildung befasst, kommt im Manuskript zudem nur kurz zur Sprache, und die Vorlesung bricht ab, bevor sie die dritte Periode überhaupt erreicht hat. Die in einer „Berliner Nachschrift“ vorliegende zweite Pädagogik-Vorlesung Schleiermachers vom Wintersemester 1820/21 führt, zumindest was die zweite Periode betrifft, 36  Ebd., 37  Ebd.

315.

38  Ebd. 39  Ebd.

40  Ebd.,

318.



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weiter. Auch geht Schleiermacher hier ausführlicher auf die Frage der religiösen Bildung in der ersten Periode ein. Wie schon in der früheren PädagogikVorlesung unterscheidet Schleiermacher auch jetzt wieder zwei konträre Auffassungen. „In den frühern Zeiten glaubte man, es verstehe sich von selbst, daß, wie die religiösen Empfindungen in der Sprache ausgedrückt sind, so sie auch in den Kindern durch das Verkehren mit dieser erweckt werden müßten.“41 Mit dem Spracherwerb solle daher das Erlernen religiöser Sprüche einhergehen. Dieser vom Hallenser Pietismus aufgestellten Forderung stehe aber die Auffassung entgegen, die Rousseau in seinem „Émile“ formuliert, dass man Kinder nichts lehren dürfe, was sie gar nicht verstehen. „Es sei daher jenes Erlernen religiöser Sprüche etwas ganz Mechanisches, und man müsse dagegen den Kindern alles Religiöse verbergen, bis sie es verstehen könnten, damit nichts Äußerliches in sie hineinkäme, bis das lebendige Gefühl sie beseele.“42 Dass man Kindern nichts beibringen dürfe, was sie nicht verstehen, hält Schleiermacher allerdings für eine falsche pädagogische Regel, zumal vieles mehr über das Gefühl als über das Verstehen zum Bewusstsein gelange. Überhaupt gehöre das Religiöse eher dem Gebiet der Empfindung und des Gefühls an, und das Verstehen sei etwas durchaus Sekundäres. Zwar kämen eigentlich religiöse Zustände im Kindesalter noch nicht vor, aber das Religiöse erscheine den Kindern im Leben von außen her. „Mag auch in der Familie selbst das Religiöse weniger hervortreten, so ist es doch in der Sprache eingewurzelt, und kommt in dieser Sprache vor, und erregen ihr Interesse in sehr hohem Grade.“43 Je mehr das Religiöse in der Familie hervortrete, desto mehr bemerkten die Kinder auch den Zusammenhang zwischen der Sprache und den Gemütszuständen. Auch wenn Schleiermacher das mechanische Auswendiglernen von Sprüchen ablehnt, hält er es doch für erforderlich, dem freiwilligen Interesse der Kinder an religiösen Sprüchen nachzukommen. „Die Kinder werden zwar nicht verstehen, was sie nachsagen, aber doch ahnen, [was] in den Gemüthern der Erwachsenen vorgeht, die ihnen die Sprüche vorsagen.“44 Auch solle man es beim Ahnen und Fühlen der Kinder belassen und sie nicht zum Verstehen führen, da dies nur zu falschen anthropomorphen Verstandesansichten über das Göttliche Anlass gebe und den anschließenden Skeptizismus befördere. „Wir haben also keine Ursache, das zu frühe Eindringen des Religiösen in den Gemüthern der Kinder zu verhüten, sondern nur darauf zu sehen, daß das unmittelbar Religiöse tiefere Wurzel schlage als die Vorstellungen von Gott, die sich nachher immerhin ändern mögen, wenn nur jenes bleibt.“45 41  Ebd., 42  Ebd.

43  Ebd.,

485.

486. 486 f. 45  Ebd., 487. 44  Ebd.,

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Schleiermacher leitet seine Ausführungen zur zweiten Erziehungsperiode, in der die Bildung für Religion, Erkenntnis und das gesellschaftliche Leben in bestimmten Formen vorkomme, mit allgemeinen Bemerkungen ein. Zunächst einmal sieht er mit dem Übergang von den häuslichen Kindheitsjahren zur Schulzeit eine Veränderung im Verhältnis der Geschlechter vor sich gehen. „In der Erziehung der Volksmasse finden wir, dass auch nach vollendeten Kinderjahren beide Geschlechter nicht von einander getrennt werden, wogegen in den gebildetern Theilen der Gesellschaft dies bald geschieht“.46 Schleiermacher führt das darauf zurück, dass in der Volksmasse die Geschlechtsdifferenz nicht so stark heraustrete wie in den Bildungsschichten. Dass die Schulzeit für die Volksmasse kürzer sei, leite sich hingegen daher, dass bei ihm die Bildungsfähigkeit geringer und daher kein Verlangen nach längerer Schulzeit vorhanden sei. Der Unterschied der Bildung nach Ständen betreffe aber das ganze Gebiet der Erziehung einschließlich der religiösen, so dass sich die Frage stelle, ob bei der öffentlichen Erziehung darauf Rücksicht genommen werden solle. Die Alternative, die Erziehung der Stände möglichst lange zusammenzuhalten oder schon früh auseinandergehen zu lassen, entscheidet Schleiermacher zunächst nach folgendem Kriterium: „Wenn man die Jugend der verschiednen Stände gleichförmig behandelt, so bekommt der eine etwas in sein Leben, das ihm nichts nützt, und der andre kommt dabei zu kurz.“47 Je mehr man aber bezweifle, schon frühzeitig bestimmen zu können, in welches Gebiet des Lebens der Einzelne gehöre, desto mehr tendiere die Gesellschaft dazu, diese Sonderung zu vermeiden. Faktisch verhalte es sich allerdings so, dass der Endpunkt der Erziehung in der zweiten Periode nicht bei allen identisch sei. „Die Erziehung der einen ist in zwei Entwickelungsperioden zerspalten, die Erziehung der andern ist mit der ersten beendigt.“48 Doch bestehe ein großer Unterschied zwischen der städtischen und der ländlichen Bevölkerung. Während nämlich bei der Stadtbevölkerung häufig jemand aus der niederen Klasse in die höhere aufsteige, trete dieser Fall beim Landvolk äußerst selten ein. Als entscheidend für die zweite Periode sieht Schleiermacher die Erziehung zur Sittlichkeit, wobei der Sittlichkeit jeweils eine nationale Färbung eigne. Neben einem starken Gemeingefühl bedürfe es dazu einer Übereinstimmung der Tätigkeiten der einzelnen Glieder der Gemeinschaft. Dies impliziere einerseits ein Gefühl der persönlichen Freiheit und andererseits ein Bewusstsein der Beschränkung. „Wir können uns unsre Aufgabe auch so ausdrücken: der Mensch, wenn seine Erziehung vollendet ist, soll gelernt haben frei sein und gehorsam sein. Denn das letzte ist eigentlich, sich die persönliche Beschrän46  Ebd.,

491. 494. 48  Ebd., 495. 47  Ebd.,



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kung gefallen lassen. Frei muß er sein, wenn das gemeinsame Leben aus ihm selbst hervorgehen soll, denn sonst ist er nur ein Werkzeug, das von andern getrieben und angestoßen werden muß.“49 Gehorsam in dem geforderten Sinn gibt es für Schleiermacher aber weder im vorbürgerlichen Naturzustand noch im häuslichen Bereich, sondern erst in dem durch Gesetz und Recht charakterisierten bürgerlichen Leben. Da an ihm nur die Männer teilnähmen, seien die Frauen von der entsprechenden Erziehung ausgeschlossen. „Öffentliche Erziehung und wahrhaft bürgerliche Erziehung treffen auch in der Geschichte stets zusammen. Für die gesellschaftliche Erziehung ist also die Aufgabe diese, die männliche Jugend in Verhältnisse zu bringen, wo sich der Gegensatz von Gehorsam und Freiheit entwickeln muß“.50 Denn wie die Beschränkung die Bedingung der Freiheit so sei die persönliche Freiheit des Einzelnen die Bedingung eines gemeinsamen Lebens. Dem Erzieher, der an die Stelle der elterlichen Autorität trete, obliege sowohl die Leitung des Freiheitsgefühls als auch die Bewirkung des Gehorsams auf Seiten der männlichen Jugend. Er bewirke beides zunächst dadurch, dass er die Jugend daran gewöhne, etwas zu einer bestimmten Zeit mit einer gewissen Beharrlichkeit zu verrichten. Auf diese Weise erlange der Jugendliche Herrschaft über sich selber und damit zugleich das Gefühl der Freiheit. „Diese Freiheit also muß sich jeder erwerben, wodurch er allein ein lebendiges Glied des Ganzen sein kann. Dieser höchst wichtige Punct fällt eben so sehr in das Gebiet des Gehorsams als der Freiheit. Das Unterworfensein [unter] allerlei Launen muß der Mensch als Abhängigkeit und das Fügen in die gesellige Ordnung als Freiheit fühlen, und dieses Gefühl muß in der Jugend erregt werden.“51 Zudem müsse der Jugendliche daran gewöhnt werden, mit anderen zusammenzuwirken, ohne ein persönliches Interesse an ihnen zu haben, auch wenn sich dieses durch das Zusammenwirken ausbilden sollte. Persönliche Zuneigung und Abneigung dürften somit für das Zusammenwirken zu irgendeinem rein menschlichen Zweck keine Rolle spielen. Auch die Glückseligkeit und die Ehre müssten als Motive zur Hervorbringung eines sittlichen Zustands ausscheiden. Für Schleiermacher steht die Erziehung in unmittelbarer Beziehung zur Freiheit. Das Leben in der Erziehung ist für ihn die Vorbereitung zum Leben in der Freiheit. „Die ganze Erziehung hat den Zweck, Gehorsam und Freiheit in der Identität darzustellen, und dieser Zweck muß überall derselbe sein.“52 Dies gelte auch bei Anerkennung der Differenz der Erziehung der Volksmasse und der gebildeten Stände. Schleiermacher hält es daher für völlig 49  Ebd.,

498.

51  Ebd.,

503. 510.

50  Ebd.

52  Ebd.,

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verfehlt und mit der bürgerlichen Gesellschaft unvereinbar, wenn man die Volksmasse nur zum Gehorsam und nicht auch zur Selbstständigkeit und Freiheit erziehen wolle. „Hält man es für gefährlich, im Volke das selbstständige Bewustsein in dem oben angegebenen Sinne zu entwickeln, so will man die Masse nur als Maschine nicht als lebendigen Theil des Ganzen behandeln. Dies kann aber nicht der Vortheil der Gesellschaft sein.“53 Doch nicht nur, was die sittliche Erziehung, sondern auch was die Gegenstände der Erziehung betrifft, möchte Schleiermacher einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Volksmasse und den gebildeten Schichten vermeiden. Vielmehr hält er es für „barbarisch, wenn die Gegenstände des Unterrichts der Volksmasse so abgegrenzt sind, daß höhere Talente nie erregt werden könnten. Das erste Princip ist also, daß die Gegenstände des Unterrichts, in denen die bildende Kraft liegt, für die Jugend der höhern und niedern Stände im Wesentlichen durchaus dieselben sein müssen.“54 Und zwar ungeachtet des Unterschieds der Volksschulen für die Volksmasse und der Schulen für diejenigen, die später eine höhere Bildung genießen werden. Was die Gegenstände des Unterrichts angeht, so unterscheidet Schleiermacher drei, nämlich die Natur, die Sprache und die Maßverhältnisse oder Größen. Sie müssten also so unterrichtet werden, dass für talentierte Schüler der niederen Stände ein Übergang in Schulen für höhere Stände möglich sei. Von den Hauptgegenständen des Unterrichts aus konstruiert Schleiermacher die einzelnen Unterrichtsfächer: Sprachen, Geschichte, Physik und Naturkunde sowie Mathematik. Die zweite Pädagogik-Vorlesung schließt an ihre Ausführungen zur sittlichen und wissenschaftlichen Erziehung Bemerkungen über das Verhältnis der Teile des Unterrichts zueinander an. „Es zeigt sich darin ein verschiedener Character unter verschiedenen Völkern, daß auf eins von den drei großen Gebieten ein größerer Werth gelegt wird, je nachdem man die Sache nicht nur als Geschäft, sondern auch als Bildungsmittel betrachtet.“55 Doch Schleiermacher spricht sich hier gegen Einseitigkeiten aus und plädiert für eine solche Freiheit im pädagogischen Verfahren, dass sich die Verschiedenheiten ausgleichen. Diese Freiheit sieht er gefährdet, wenn der Unterricht Teil des politischen Lebens wäre, wenn er also von einer staatlichen Behörde organisiert würde. „Eben so war es nachttheilig, daß der Unterricht eine Zeit lang der Sache nach unter der Kirche stand, denn so wurde er nur philologisch.“56 Das protestantische Schriftprinzip habe letztlich zu einem Übergewicht des Sprachunterrichts geführt, vom Bibellesen bis hin zum Erlernen der alten Sprachen. Zum Schluss seiner Vorlesung geht Schleierma53  Ebd.

54  Ebd.,

514. 535. 56  Ebd., 536. 55  Ebd.,



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cher nach der sittlichen und wissenschaftlichen noch auf die religiöse Bildung ein. Die religiöse Bildung könne am wenigsten die Form der Erziehung annehmen, also durch Unterricht vermittelt werden, sondern beruhe wesentlich auf unmittelbarer Einwirkung. Das hänge aber mit dem Wesen der Religion zusammen. „Was in den Unterricht gehört, theilt sich in das Geschichtliche, das sich auf das Dasein der christlichen Kirche bezieht, und in das Katechetische, welches in das Gebiet der praktischen Theologie gehört. Aber auch dies ist für die religiöse Bildung nur untergeordnet, weil das Religiöse die innere Gemüthserregung, nicht der Gedanke ist.“57 Für entscheidend hält Schleiermacher das Verhältnis zwischen dem Religiösen und dem Sittlichen. Das Sittliche ruhe auf dem Bewusstsein des Menschen von der Identität des Einzelnen mit der Gattung, das Religiöse hingegen auf dem bewussten Verhältnis des Menschen zur ursprünglichen Quelle alles Lebens und Seins, also auf seinem Verhältnis zu Gott als höchstem Wesen. Dieses zur menschlichen Natur gehörige religiöse Bewusstsein müsse nicht nur vorausgesetzt, sondern auch entwickelt werden. „Weil das Religiöse rein innerlich ist, so kann dies nur auf eine formlose Weise durch das Innerste des Lebens geschehen, und in den vertrautesten Verhältnissen. Es giebt also kein pädagogisches Mittel als das unmittelbare Verhältniß der Aeltern und derer, die ihre Stelle vertreten, zur Jugend, um auf die Erweckung des religiösen Elements zu wirken.“58 Es entwickle sich im geselligen Leben, und zwar zunächst in der Familie, und lasse sich nicht durch religiöse Übungen mechanisieren. Vielmehr komme das Religiöse im Menschen als Gefühl der Frömmigkeit zu Bewusstsein, indem er die Entwicklung des Religiösen in sich gehemmt fühle. „Fühlt der Mensch, er sei zuweilen nicht fähig, zum religiösen Bewußtsein aufzusteigen, so ist dies die Anlage zur Frömmigkeit.“59 Sobald aber dieses Gefühl erwache, erwache damit zugleich auch das Gefühl, dass es etwas allgemein Menschliches, also eine anthropologische Konstante sei. Bei den Jugendlichen äußere es sich wie bei den Erwachsenen zunächst als Gefühl der Hemmung der Entwicklung des Religiösen, das heißt als Sündenbewusstsein, was nur zeige, dass vor Gott alle Menschen gleich sind. Diese religiöse Gleichsetzung der Erziehenden und Erzogenen vor Gott ist für Schleiermacher „der richtige Uebergang aus dem Zustande der Erziehung zur Selbstständigkeit, denn so wird der ganze Mensch seinem eigenen Bewußtsein von Gott untergeordnet“.60

57  Ebd. 58  Ebd.

59  AaO., 60  AaO.,

537. 538.

222

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5. Die Pädagogik-Vorlesung von 1826 Im Sommer 1826 las Schleiermacher zum dritten und letzten Mal über Grundzüge der Erziehungskunst. Diese Vorlesung war durch die Kompilation nicht mehr erhaltener Nachschriften von Platz die einflussreichste und prägte weitgehend das Bild von Schleiermachers Pädagogik. Die 2017 erschienene Kritische Gesamtausgabe der Werke Schleiermachers bringt die einzige heute noch erhaltene originale Nachschrift des Kollegs von 1826. Die von dieser Vorlesung überlieferten Nachschriften enthalten als einzige auch Ausführungen über die dritte Bildungsperiode. Den Übergang zu ihr sieht Schleiermacher dadurch vorbereitet, dass die Selbstbestimmung des Jugendlichen allmählich zunehme, und zwar beginne sie bereits mit dem Augenblick, wo ihm die Kirche die religiöse Mündigkeit attestiere, also zum Zeitpunkt der Konfirmation. In der Schule beziehe sich die Entwicklung größerer Selbstständigkeit ausschließlich auf die intellektuelle Tätigkeit und bedeute die Zunahme selbstständigen Arbeitens. Im häuslichen Bereich bedeute sie eine Abnahme des elterlichen Befehlens, um die moralische Selbstbestimmung der Kinder zu wecken. „Das Ausscheiden aus den Anstalten sowol des mittleren als des höheren Bildungskreises, aus den Realschulen und den Gymnasien, wird theils ein Eintreten in einen höheren Bildungskreis zur Folge haben, so daß das Erziehungsgeschäft in der dritten Periode noch fortgeszt wird; theils ein Eintreten in das praktische Leben selber, so daß dann für diejenigen die unmittelbar aus der Schule in das Leben übertreten die dritte Periode einen besonderen Charakter annimmt.“61 Der Termin des Ausscheidens aus der Schule und dem Eintritt ins Berufsleben liege gewöhnlich zwischen der kirchlichen Mündigkeit und der bürgerlichen Volljährigkeit. Die Ausführungen über die dritte Erziehungsperiode gliedert Schleiermacher in zwei Teile. Der erste handelt von der „Vollendung der Erziehung derer welche aus der Volksschule und der Bürgerschule in das mechanische und technische Gewerbsleben übergehen“, der zweite Teil bespricht die „Bildung auf den Universitäten“. Zwar sei es in Ausnahmen so, dass es zu einem Übergang von der Volksschule in die höhere Bürgerschule oder Realschule komme. Aber normalerweise besuche die Volksmasse nur die Volksschule, die einem höheren Bildungskreis Zugehörigen gingen hingegen auf die Realschule, die ihre Schüler in einem späteren Alter entlasse als die Volksschule. Die Absolventen beider Schultypen träten nach der Schule zurück in das Familienleben, und für sie beginne nunmehr entweder das eigentliche Berufsleben oder die spezielle Vorbereitung auf einen bestimmten Beruf. Schleiermacher empfindet es allerdings als unbefriedigend, wenn das gemeinschaftliche Leben in der Schule nur ein Zwischenzustand zwischen der Kindheitszeit im Kreis der 61  Ebd.,

862.



Bildung und Religion in Schleiermachers Entwicklung223

Familie und dem geselligen bürgerlichen Leben ist. Denn je mehr „der Sinn für größere Gemeinschaft in der Gesellschaft erwacht ist: desto mehr wird man es natürlich finden das gemeinschaftliche Leben in der Schule fest zu begründen und nachher zu erhalten und fortzusezen“.62 Daher empfiehlt Schleiermacher die Einrichtung eines gemeinschaftlichen Lebens für die Absolventen von Volks- und Realschule nach deren Schulabgang. Eine solche Einrichtung für beide Gruppen trotz des Altersunterschieds hält er deshalb nicht für unsinnig, weil sich die beiden Klassen weniger voneinander, wohl aber stark von der Jugend der wissenschaftlichen Bildungsstufe unterscheiden, da sie „ungleich früher in das Geschäftsleben übergehen, sei es Akkerbau, Gewerbe, Fabrication oder Handel“.63 Zwar würden sie dadurch wieder einem Hauswesen, meistenteils allerdings einem fremden, zugewiesen. Aber es fehlte ihnen ein der Schule vergleichbares gemeinsames Leben. Schleiermacher unterbreitet dafür zwei Vorschläge. Zum einen denkt er an ein „gemeinsames Leben als Fortsezung des vorangegangenen Lebens in der Schule, in so fern es sich auf die Entwikklung der Fertigkeit, den Unterricht, bezieht“.64 Ansatzweise gebe es so etwas bereits in Form von Handwerksschulen. Doch müsste es auch Unterrichtsanstalten geben, die über den Elementarunterricht hinausgehen und eine höhere Fortbildung bezwecken oder sich auf einzelne technische Zweige spezialisieren. Diese schulische Gemeinschaft würde sich vorteilhaft auf die sittliche Haltung der Jugend auswirken. Mit der zu erwartenden Zunahme der Allgemeinbildung würden diese Schulen sich allerdings eher spezialisieren und damit eine schlechte Vorbereitung auf das öffentliche Leben und den Gemeingeist darstellen. Da Schleiermacher meint, dass sich eine derartige Spezialisierung nicht vermeiden lasse, fordert er als Gegengewicht, das dem Gemeingeist förderlich ist, ein „gemeinsames Leben als Fortsezung des vorangegangenen Lebens in der Schule in Beziehung auf die freie Tätigkeit und das Spiel“.65 Die Gemeinschaft der freien Tätigkeit und des Spiels einschließlich gymnastischer Übungen hebe die durch das Geschäftsleben bedingte Trennung wenigstens zeitweilig auf und schwäche so die schädliche Wirkung der beruflichen Spezialisierung auf den Gemeingeist. „Es repräsentirt alsdann diese Gemeinschaft für die Jugend das Gebiet der Geselligkeit. Wo also noch im bürgerlichen Leben eine große Differenz der Sitte und Trennung der Klassen der Gesellschaft stattfindet, da würde eine allgemeine Vereinigung der Jugend immer eine gewaltsame Reaction gegen diesen Zustand sein“.66 Eine Gegenreak62  Ebd., 63  Ebd. 64  Ebd.

65  Ebd., 66  Ebd.

865. 867.

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tion von Seiten der Gesellschaft lasse sich dann vermeiden, wenn die Jugendvereinigung sich der Sitte der Gesellschaft anpasse. Das Ende der dritten Erziehungsperiode lässt Schleiermacher zwar variieren, doch fordert er, dass mit ihm die allgemeine Anerkennung der Selbstständigkeit verbunden und der Termin der Großjährigkeit dementsprechend herabgesetzt werde. „Alle Staaten die eine Umwälzung erfahren haben, haben den Termin der Großjährigkeit früher gesezt, und die anderen Staaten werden auf die Länge sich dem auch nicht entziehen können.“67 Neben den Absolventen der Volks- und Realschulen, die sich nach ihrem Schulabgang auf die Erwerbstätigkeit vorbereiten, kennt Schleiermacher die Absolventen der höheren Schulen oder Gymnasien, die im dritten Stadium der Erziehung ihre Bildung auf den Universitäten erlangen. Hier sind „die Anleitung zur Wissenschaft und die besondere lezte Vorbildung für diejenigen verschiedenen Geschäfte welche die höchste Leistung der öffentlichen Angelegenheiten in sich schließt verbunden“.68 Diese Verbindung sei aber an der deutschen Universitäten viel zu locker und zudem sekundär, keineswegs jedoch notwendig aus dem Wesen der Universität herausgewachsen. Schleiermacher denkt an die von ihm selbst in seiner Universitätsschrift geforderte Verbindung von spekulativer Wissenschaft, das heißt Philosophie, als Grundlage des ganzen Studiums und berufsbezogenen positiven Wissenschaften. Es sei aber faktisch keineswegs so, dass die zur Universität zugelassenen Studenten schon vollkommen mündig und selbstständig seien, was ihr Studium betrifft. Daher „ist denn auch dies das gewöhnliche, daß alsbald nach der Inscription überwiegend die meisten zu den besonderen positiven Wissenschaften eilen, die höhere wissenschaftliche Bildung gering schäzend oder auf das kürzeste absolvirend“.69 Das bedeute aber, dass sie die Universitäten letztlich nur als Spezialschulen betrachteten. Schleiermacher gelangt so zu dem Schluss, dass die gegenwärtige Form der Universitäten ihrem eigentlichen Zweck nicht entspreche. Das erkläre sich vielfach aus ihrer Entstehungsgeschichte, insofern sie ursprünglich tatsächlich Spezialschulen gewesen seien. Ihre Universalität sei ihnen von außen zugewachsen, „und auch gegenwärtig wächst so von außen die Universalität: denn so wie aus vier Welttheilen fünf geworden sind, so haben auch manche Universitäten den vier Facultäten schon eine fünfte zuge­ sellt“.70 Gedacht ist wohl an eine mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät neben den klassischen vier Fakultäten für Philosophie, Theologie, Jurisprudenz und Medizin. 67  Ebd.,

871.

69  Ebd.,

872.

68  Ebd. 70  Ebd.



Bildung und Religion in Schleiermachers Entwicklung225

Schleiermacher greift in seinen Ausführungen zur universitären Bildung auf seine Universitätsschrift zurück, zumal wenn er im Hinblick auf die Organisation der Universität die philosophische Fakultät zu deren Basis erklärt. Was die Philosophie, das heißt die spekulative Erkenntnis betrifft, so war für sie aufgrund ihres Schwierigkeitsgrades ja kein Platz in Schleiermachers Lehrplan der höheren Schulen vorgesehen. Vielmehr sollte auf den Gymnasien der Religionsunterricht unter anderem die Aufgabe übernehmen, auf die Philosophie vorzubereiten. Ausgebildet werde die spekulative Erkenntnis jedoch erst auf der Universität. Allerdings müsse die philosophische Ausbildung unterschiedlich ausfallen. „Das philosophische Studium, die Totalität des Wissens umfassend, muß aber ein anderes sein für diejenigen die sich der Philosophie ex professo widmen wollen, ein anderes für diejenigen die in den verschiedenen Fächern als Lehrer auftreten wollen, ein anderes für die in das Geschäftsleben übergehenden.“71 Für letztere reiche eine spekulative Entfaltung des Zusammenhangs der Totalität des Wissens. Schleiermacher weist ausdrücklich darauf hin, dass dieser für alle Studierenden verpflichtende systematische Überblick über die verschiedenen Wissenszweige, also eine philosophische Enzyklopädie, etwas sei, was er der Studienordnung der katholischen Universitäten entlehnt habe und das er auch an protestantischen Universitäten verankern wolle. „Wenn diese Einrichtung bei uns Eingang fände: dann würde sich ein bestimmter Abschnitt innerhalb der Universitätsstudien bilden, alle würden ein ungetheiltes ganze sein so lange sie in den philosophischen Studien versirten, und erst nach Vollendung derselben würden die einzelnen in die vier Facultäten auseinandergehen.“72 Wie das anfängliche Philosophiestudium einen Überblick über den systematischen Zusammenhang des Wissens überhaupt geben solle, so müsse auch am Anfang des Studiums der einzelnen Fakultätswissenschaften ein enzyklopädischer Überblick über deren Zweige und ihren Zusammenhang stehen. Den Fakultäten seien sodann die Seminare zugeordnet, die speziell für künftige theoretische Lehrer bestimmt seien. Schleiermacher unterscheidet nicht nur gemäß den territorialen Verhältnissen in Deutschland die evangelischen und die katholischen Universitäten, sondern er wirft auch einen vergleichenden Blick auf die Universitäten in England. Bei ihnen spielten die Vorlesungen nur eine untergeordnete Rolle, und sie legten mehr Wert auf den fortschreitenden Prozess der Selbsttätigkeit des Studenten, der wegen der Einzelbetreuung einen höheren Aufwand an Lehrpersonal erfordere. Den Vorteil der protestantischen Universitäten erblickt er darin, „daß das Studium weniger mechanisirt wird, und daß Lehrer

71  Ebd., 72  Ebd.,

872 f. 873.

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und lernende sich einer größeren Freiheit erfreuen“.73 Was die Disziplin an den Universitäten betreffe, so lebten und wohnten in England, dessen Universitäten aus bischöflichen Schulen hervorgegangen seien, die Studenten in den kleineren Gemeinschaften der Colleges zusammen. Daher herrsche bei ihnen auch eine festere Ordnung und größere Strenge, somit auch weniger Selbstständigkeit. Diese Gesetzmäßigkeit werde angesichts der ansonsten herrschenden bürgerlichen Freiheit willig ertragen. Schleiermacher hebt dies gerade im Vergleich mit den deutschen Verhältnissen lobend hervor. „Wo aber die öffentlichen Anordnungen den Schein der Willkühr an sich tragen, da ist bei der Aussicht in die Selbstbestimmung einzutreten besonders bei der Jugend eine Neigung sich von der Willkühr zu befreien, eine Neigung zur Ungesezlichkeit; daher die Widersezlichkeit mit der man auf unseren Universitäten unter verschiedenen Formen immer zu kämpfen hat.“74 Das Heilmittel dagegen sieht Schleiermacher nicht in gesetzlichen Maßnahmen, sondern in einer durchgreifenden Änderung des öffentlichen Lebens in Deutschland, wobei der freie bürgerliche Zustand englischer Prägung als Vorbild dient. Wie aber die Differenzen in der Gestaltung des öffentlichen Lebens sich auf die Gestaltung der Universitäten niederschlage, so auch die konfessionelle Differenz zwischen katholischer und evangelischer Kirche. „Die Grundsäze der katholischen Universitäten sind dem Wesen nach mit den Grundsäzen der katholischen Kirche gleich; die größere Freiheit der evangelischen Universitäten hängt zusammen mit und ist Postulat der evangelischen Kirche.“75 Ein Problem für die Erziehung stellt sich bei der studierenden Jugend insofern, als diese zwar einerseits das Vorrecht der Minderjährigkeit genieße, was sich im geringen Strafmaß niederschlage, andererseits aber zugleich am Vorrecht der Großjährigkeit, nämlich der Freiheit und Selbstständigkeit, partizipiere. Daher erscheine einem die Zeit des Studiums als „Zeit eines gelinden Rausches“.76 „Die akademische Zeit erscheint im Verhältniß zu dem ganzen übrigen Leben als eine in ihrer Art einzige Freiheitsinsel, nachher nicht wieder zu finden.“77 Dieses Vorrecht der akademischen Freiheit, das besonders im Protestantismus hochgehalten werde, führt Schleiermacher auf zweierlei zurück, nämlich einmal auf das historische Faktum, dass sich in der Scholastik durch die große Anziehungskraft von Wissenschaftlern auf die Jugend überhaupt Universitäten als selbstständige Korporationen bildeten. Zum andern aber auf die gleichzeitige Ausbildung des spekulativen Prinzips, das als „das höchste leitende Princip auch die Seele erfüllt und das Leben 73  Ebd., 74  Ebd.

75  Ebd.,

874.

875. 876. 77  Ebd., 877. 76  Ebd.,



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gestaltet“.78 „Dieser Grund ist der ideale, und aus dem Zusammenfallen und Zusammenwirken desselben mit dem historischen erklärt sich, wie unter allen Wechseln die akademische Freiheit sich dennoch immer wieder emporgerungen hat.“79 Daraus leitet Schleiermacher jedoch zugleich ab, dass die akademische Freiheit nur da ihr Recht habe, wo das Prinzip der Wissenschaft das höchste leitende Prinzip sei und eine entsprechende Auswahl von Studierenden stattfinde. Was den Übergang aus dem akademischen Leben in die öffentliche Tätigkeit, den Beruf, betrifft, so verweist Schleiermacher zwar auf die in das Studium gegen Ende eingebauten Praktika, die ihn erleichtern sollen. Aber grundsätzlich erfolge der Übergang, der Schritt aus der akademischen Freiheit in den gesetzlichen Zustand der Unterordnung unter eine leitende Persönlichkeit, plötzlich. Dennoch hält er die Trennung des akademischen Lebens von der unmittelbaren Vorbereitung auf die berufliche Praxis für richtig, auch wenn es zunächst den Anschein habe, als sei gerade das philosophische Studium etwas Überflüssiges, das durch den sofortigen Besuch von berufs­ orientierten Spezialschulen zu ersetzen sei, während das Philosophiestudium denen vorbehalten bleiben möge, die vorhätten, Philosophielehrer zu werden. Doch Schleiermacher hält entschieden am philosophischen Studium als wissenschaftlicher Grundlage aller übrigen berufsorientierten Studiengänge fest, und zwar nicht zuletzt wegen des Einflusses der Philosophie auf die europäische Kultur. „Alles würde tiefer sinken auf eine untergeordnete Stufe hinab, wenn das philosophische Studium vernachlässigt würde oder nur in denen lebendig wäre in denen das speculative ein specifisches Talent ist.“80 Als warnendes Beispiel stehen Schleiermacher die Vereinigten Staaten vor Augen, in denen die Philosophie bislang hinter der rein praktisch ausgerichteten Geisteshaltung zurückstehe. Zwar komme eine wahrhaft sittliche Gemeinschaft eigentlich nur zustande, wenn die philosophischen Prinzipien gegeben seien. Aber die Amerikaner hätten statt der Philosophie ja die Religion als Grundlage der Gesinnung, und „die Verwandtschaft von Philosophie und Religion, nicht in Beziehung auf die Form also als Erscheinung angesehen, sondern in Beziehung auf das zum Grunde liegende Princip, ist so groß daß wenn nur das eine zuerst sich entwikkelt auch das andere sich ausbilden muß“.81 Was den Übergang in den öffentlichen Dienst betrifft, so meint Schleiermacher zwar, dass er das vollständige Erlöschen der Erziehung und das Ende der akademischen Freiheit bedeute, dass es aber verderblich sei, wenn die ersten Stufen des öffentlichen Dienstes den Berufsanfänger in ei78  Ebd. 79  Ebd.

80  Ebd., 81  Ebd.,

880. 881.

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nen allzu servilen Zustand herabdrückten. Denn eigentlich solle er ja die ersten öffentlichen Beweise der Ausübung seiner Selbsttätigkeit im Beruf bringen. Gerade in Berufen, die keine rein mechanische Tätigkeit erfordern, sondern die Betätigung der geistigen Kräfte verlangen, müsse ein solcher Zustand verschwinden, den Schleiermacher als einen Überrest an Barbarei charakterisiert, der von dem Missverhältnis zwischen der geistigen Entwicklung auf dem wissenschaftlichen Gebiet und der politischen Gestaltung der Gesellschaft herrühre. Daher kann er abschließend sagen: „Das Ende der Erziehung und der Uebergang in die öffentliche leitende Thätigkeit muß als ehrenvoll erscheinen, und von Anfang an auch der einzelne schon geehrt werden der seine Fähigkeit leitend aufzutreten documentirt hat.“82 Servilität, Schmeichelei und Unterwerfung gegenüber den Vorgesetzten seien das schlechteste Ende, das die Erziehung nehmen könne. Und „desto mehr müssen wir uns Glükk wünschen, wenn wir auch in dieser Beziehung hinter vielen Völkern zurükkstehen, daß doch auf der anderen Seite bei uns durch die höhere wissenschaftliche Entwikklung der Grund zu einer Bildung gelegt ist welche dem servilen Zustande widerstrebt: und dies Widerstreben ist, wenn es in seinen natürlichen Grenzen gehalten wird, eine der schönsten Früchte der geistigen Entwikklung, der Wissenschaft“.83

82  Ebd., 83  Ebd.

884.

Bildungsprozesse (in) der Moderne Von Birgit Sandkaulen 1. Die Bildungsrepublik und der Weltbegriff der Bildung „Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung“, so Mendelssohn 1784 in der Berlinischen Monatsschrift, „sind in unsrer Sprache noch neue Ankömm­ linge.“1 Aus heutiger Sicht muß diese Notiz ganz sonderbar erscheinen. Bildung – ein neues Wort, wo heutzutage kaum ein Wort so inflationär gebraucht und beschworen wird wie das Wort Bildung? Das ist schwer vorstellbar. Allerdings: Auf die inzwischen weithin verbreitete Rede von Bildung, am liebsten in allerlei Zusammensetzungen bis hin zur sogenannten „Bildungsrepublik“, brauchen wir uns nichts einzubilden. Uns im vermeintlichen Fortschritt von rund 200 Jahren den Anfängern um 1800 überlegen zu fühlen, besteht kein Grund. Kaum ein Wort ist so entleert wie der Bildungsbegriff, der geradezu zur Chiffre für ein umfassend quantifizierendes und funktionalistisches Denken geworden ist. Es steht zu befürchten, daß er mit dem aktuell in den Fokus gerückten Problemfeld „Digitalisierung“ eine noch unheimlichere Allianz eingehen und schließlich ganz hinter Kompetenzmodellierungen und Lernmodulen verschwinden wird.2 Diese gegenwärtige Situation macht es schwierig, einen Vortrag über Bildung zu halten, der zeitlich und sachlich an den Anfang der modernen Bildungsdiskussion um 1800 führt. Dabei besteht die Schwierigkeit gar nicht so sehr darin, daß von inhaltlichen Differenzen zu sprechen sein wird, die sich im Vergleich zwischen damals und heute nicht einfach überbrücken, geschweige denn auflösen lassen. Die eigentliche Schwierigkeit besteht vielmehr in dem performativen Widerspruch, in dem ich mich befinde. Die Pointe, auf die es dabei ankommt und die schon etwas ganz Wesentliches über den Bildungsbegriff sagt, ist – mit Kants schöner Unterscheidung gesprochen – die: Bildung ist kein Schulbegriff, sondern ein Weltbegriff. Mit seinem Aufkommen als ganz neuem Begriff, der sogleich zu einem Schlüsselbegriff der Epoche avanciert und geradezu idealtypisch für die von Kosel1  Moses Mendelssohn, „Ueber die Frage: was heißt aufklären?“, in: Berlinische Monatsschrift 4 (1784), 193–200, hier 193. 2  Vgl. Käte Meyer-Drawe, Die Welt als Kulisse. Übertreibungen in Richtung Wahrheit, Paderborn 2018, 38.

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leck adressierte „Sattelzeit“ im Aufbruch der jüngeren Moderne stehen kann, ist das Aufkommen eines neuen philosophischen Selbstverständnisses verbunden. In allen möglichen Spielarten geht es jetzt um eine Philosophie, die im Gefolge der Aufklärung (und alsbald auch der Französischen Revolution) den Schulturm verläßt und sich für das lebendige Leben und dessen gesellschaftliche, politische und kulturelle Umstände interessiert. Nicht zufällig zählt Mendelssohn neben Bildung auch Aufklärung und Kultur dem neuen „weltphilosophischen“ Vokabular hinzu. Der performative Widerspruch dieses Vortrags folgt daraus. Man kann über Bildung nicht nach dem Muster einer scholastischen, innerakademischen Etüde sprechen – de facto bin ich dazu aber gezwungen, wenn der Echoraum einer aktuellen Bildungsdiskussion fehlt. Und im Widerspruch dazu, daß ein Weltbegriff wie derjenige der Bildung gleichsam von selbst auf eine Erörterung drängt, die damals wie heute gesellschaftliche Gegenwartsrelevanz beansprucht, muß ich heute sagen, daß ich auf diese Behauptung bewußt und vollständig verzichte. Ob irgendetwas von dem, was Hegel über Bildung sagt, gegenwärtig „anschlußfähig“ ist, weiß ich nicht. Wie aber klar geworden sein dürfte, verstehe ich diese Aussage nicht als Rückzug aus sys­ tematischen Interessen in historistische Doxographie, sondern als kontrafaktische Kritik an der Gegenwart, um dem performativen Widerspruch wenigstens versuchsweise zu entkommen. 2. Bildung als Gestalt des objektiven Geistes Vor diesem Hintergrund geht es jetzt darum, Hegels Konzept der Bildung vorzustellen und – soweit ich dies überblicke – mit Bezug auf Schleiermacher zu diskutieren. Eine Bezugnahme der Protagonisten aufeinander kann ich nicht erkennen, aber im Interesse der Sache ist dies auch nicht nötig, die auf eine scharfe Kontrastierung der Positionen hinauslaufen und Hegels epochale Sonderstellung in Sachen Bildung auch im Blick auf Schleiermacher bestätigen wird. Der Bildungsdiskussion tun solche Kontraste gut. Sie sind um so wirkungsvoller, als zunächst einmal ein gemeinsamer Horizont umrissen werden kann. Im direkten Anschluß an das eben Gesagte besteht dieser gemeinsame Horizont darin, daß der Bildungsdiskurs in einem Bereich verortet wird, der die gesellschaftliche und politische Dimension menschlichen Lebens unter Einschluß von Ökonomie und Geschichte betrifft. Diese Dimension heißt bei Hegel „objektiver Geist“, das Analogon dazu fällt bei Schleiermacher, wie Andreas Arndt plausibel argumentiert, in die Güterlehre der Ethik.3 3  Walter Jaeschke und Andreas Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845, München 2012, 291.



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Die – mit Hegels Terminologie gesprochen – in beiden Fällen vorgenommene objektive Verortung des Bildungsdiskurses ist interessant und natürlich hat sie für die Sache erhebliche Konsequenzen. Drei Aspekte hebe ich schon an dieser Stelle hervor, um die folgenden Überlegungen auf die richtige Bahn zu bringen und von Assoziationen freizuhalten, die man aus dem gegenwärtigen Umgang mit dem Bildungsbegriff beziehen mag. Erstens folgt, daß Bildung – im Unterschied zur Erziehung – über die Adresse an einzelne Individuen weit hinausgeht. Bildung bezeichnet ein gesamtgesellschaftliches und dabei tief in die conditio humana eingelassenes Phänomen, innerhalb dessen Individuen den Ansprüchen, Erwartungen und Umständen von Bildung unterliegen. Daß das in andere Sprachen (mit Ausnahme, wie ich höre, der russischen Sprache) unübersetzbare Wort „Bildung“ keinesfalls identisch mit „education“ ist, kann man jetzt bereits festhalten. Zweitens, und dieser Punkt hängt mit dem ersten eng zusammen, ist Bildung am Ort des objektiven Geistes auch nicht auf Praktiken in sogenannten Bildungsinstitutionen zu verkürzen. Schleiermacher und Hegel kennen solche Institutionen als Schul- und Hochschullehrer von innen und haben an deren Neuaufbau und Reform maßgeblich mitgewirkt. Der Vorwurf der Praxisferne ginge somit ganz ins Leere. Um so interessanter ist, daß nach ihrer Vorstellung die Verfassung und Arbeit von Bildungsinstitutionen einer ihnen gesellschaftlich voraus- und zugrundeliegenden Bildungswirklichkeit gerecht werden muß und in ihrem Erfolg daran zu messen ist. Wenn man die entscheidende objektive Verortung des Bildungsdiskurses übersieht, kann man diese Relation zwischen Institutionen und ihrer Umwelt mißverstehen. Dann entsteht die Frage, ob Bildung Zweck in sich selbst oder Mittel für anderes ist, ob Bildung auf Allgemeinbildung oder fachliche Ausbildung zielt, ob sie der allseitigen Bildung der Persönlichkeit oder zweckrational der beruflichen Karriere dient, ob sie Wissenserwerb oder der Erwerb von, wie man heute sagt, formalen Kompetenzen ist. Das ist die vom sogenannten Neuhumanismus im 19. Jahrhundert induzierte Bildungsdiskussion mit dem eindeutigen Votum für das selbstzweckhaft angeeignete humanistische Bildungsgut – und genau damit, das ist der dritte Punkt, hat das Bildungsverständnis weder Schleiermachers noch Hegels etwas zu tun. Am Anfang der Bildungsdebatte in der Sattelzeit befinden wir uns – zum Glück – vor der ideologischen Erstarrung der Bildung zur „Bildungsmythologie“, wie es bei Ernst Lichtenstein richtig heißt.4 Als neues Schlüsselwort ist Bildung nicht nur kein Schulbegriff, sondern auch keine Umschreibung für schöngeistige Elfenbeintürme – und das nicht gesehen, sondern dieser neuhumanistischen Ideologisierung der Bildung lediglich den quantifizierenden Bildungsfunktio4  Ernst Lichtenstein, „Bildung“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Bd. 1, Basel 1971, 927.

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nalismus (einschließlich des modularisierten Projekts des „lebenslangen Lernens“) entgegengesetzt zu haben, bezeichnet den nach meiner Überzeugung schwersten und bis auf weiteres irreparablen Schaden der gegenwärtigen Situation.5 3. Bildung und Natur Worin besteht nun aber der anfangs angekündigte Unterschied zwischen den Bildungskonzepten Hegels und Schleiermachers? Eine zentrale Passage aus Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, in der er gleich zu Beginn des Abschnitts über die „bürgerliche Gesellschaft“ in § 187 von nichts Geringerem als einem „Standpunkt“ spricht, „der die Bildung als immanentes Moment des Absoluten, und ihren unendlichen Werth erweist“, lautet folgendermaßen: „Der Geist hat seine Wirklichkeit nur dadurch, daß er sich in sich selbst entzweyt, in den Naturbedürfnissen und in dem Zusammenhange dieser äußern Nothwendigkeit sich diese Schranke und Endlichkeit giebt und eben damit, daß er sich in sie hinein bildet, sie überwindet und darin sein objectives Daseyn gewinnt.“ (GW 14, 1, § 187) Das Schlüsselwort, das den scharfen Kontrast zwischen Hegel und Schleiermacher markiert, ist damit benannt. Jedoch möchte ich es noch nicht gleich aufgreifen, sondern erst einmal die ganze Passage in Augenschein nehmen. Das dient, wie zu sehen sein wird, der Steigerung des Effekts. Zunächst bestätigt das Zitat die behauptete objektive Verortung der Bildung in ihrer gesellschaftlichen Relevanz – in ihrem, wie Hegel sagt, „unendlichen Wert“. Konkret handelt es sich um ein substantielles Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft und zwar so, daß Bildung kein Teil oder Element, sondern geradezu die genealogische Vollzugsform dieser – zwischen Familie und Staat eingerückten – Sphäre der Gesellschaft ist. Die Objektivität dieser Welt ist nicht einfach vorhanden, sie wird im Prozeß der Bildung hervorgebracht. In diesem Sinn, dessen abgründige Konnotation ich einstweilen auch noch aufschiebe, meint Bildung nicht auch oder hin und wieder, sondern grundsätzlich immer einen dynamischen Vorgang des Produzierens und Gestaltens: Der spezifische Sinn von „Bildung“ hängt mit anderen Worten wesentlich, wie das Zitat zeigt, am verbalen Ausdruck des „Bildens“. Aber: Nichts anderes ist offensichtlich bei Schleiermacher im Spiel, wenn er in seiner Güterlehre Bildung durchweg an die „bildende Tätigkeit“ knüpft. Und dabei fällt eine weitere Gemeinsamkeit der Positionen auf, daß nämlich 5  Vgl. Birgit Sandkaulen, „Bildung und lebenslanges Lernen. Eine kritische Analyse des Bildungsbegriffs aus normativer Perspektive“, in: Altern, Bildung und lebenslanges Lernen, hg. v. Ursula M. Staudinger und Heike Heidemeier, Nova Acta Leopoldina NF, Nr. 364, Bd. 100, Halle (Saale) 2009, 21–29.



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der Bildungsbegriff in beiden Fällen im Konnex von Bildung und Natur Gestalt gewinnt. Bildung bringt in dem Maße das objektive Dasein der Gesellschaft hervor, wie sich der Geist im Vollzug von Bildung in die äußere Notwendigkeit der Natur „hineinbildet“, so Hegel. Ähnlich versteht Schleiermacher die bildende Tätigkeit als Einbildung der Vernunft in Natur,6 als eine Formation der äußeren und der leiblichen Natur im Interesse der „organischen Einigung der Natur mit der Vernunft“.7 Derzeit ist viel von der „Zweiten Natur“ die Rede, der kürzlich sogar ein ganzer Hegel-Kongreß gewidmet war. Bei Hegel findet sich dieser Ausdruck in der Tat, wenngleich nicht an dieser Stelle, bei Schleiermacher habe ich ihn gar nicht gesehen, aber das tut nichts zur Sache. Der Begriff der „Zweiten Natur“, der eigentlich ganz rätselhaft ist, scheint mir an dieser Stelle hilfreich zu sein, um der offenbar von Hegel und Schleiermacher gleichermaßen gehegten Idee Rechnung zu tragen, daß Bildung nichts Geringeres als diejenige Vollzugsform ist, die zwischen Natur und Geist respektive Vernunft vermittelt. Das ist die basale Idee von Bildung: Sie setzt an der fundamentalen Tatsache an, daß wir natürliche, durch Natur bestimmte Wesen sind, und zugleich setzt sie darauf, daß wir uns in der Bearbeitung der Natur als kulturbildende Wesen zeigen. Daß je die klassische deutsche Philosophie in den Ruch kommen konnte, leere, weltferne Spekulationen zu vertreten, ist wirklich vollkommen unerfindlich. 4. Bildung, Entzweiung und Negativität des Geistes: Zur Differenz zwischen Hegel und Schleiermacher Und allererst jetzt, vor diesem gemeinsamen Hintergrund, gehen die Konzepte, dafür aber dann um so dramatischer auseinander. Schleiermacher weitet die Idee von Bildung als zwischen Natur und Kultur genealogisch vermittelnder Instanz weitestmöglich aus. Es ist mir nicht ganz klar geworden, jedoch scheint es so zu sein, als würde die erwähnte „bildende Tätigkeit“ von Schleiermacher sogar der Natur selbst zugesprochen, die damit in sich das Moment der Vernunft je schon enthielte und in dieser Form sozusagen selbst bereits „zweite Natur“ wäre. Eilert Herms scheint dies mit der These zu bekräftigen, daß es sich bei Schleiermachers Bildungsbegriff um eine „Grundkategorie der gesamten Kosmologie“ handelt.8 Offenkundig ist 6  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, „Brouillon zur Ethik 1805/06“, in: Werke, Bd. 2, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, hg. v. Otto Braun, Leipzig 21927, 215; „Ethik 1812/13“, in: Ebd., 259. 7  Schleiermacher, „Ethik 1816“, in: Ebd., 605. 8  Eilert Herms, „Schleiermachers Bildungsbegriff und seine Gegenwartsrelevanz“, in: ders., Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 227.

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in jedem Fall, daß sich die Güterlehre gleichsam zwischen zwei Polen jus­ tiert: „Als größtes Bildungsgebiet ist gegeben die Erde als Eines für das menschliche Geschlecht als Eines“.9 Und: „Als engstes Bildungsgebiet […] oder als kleinste Einheit ist uns gegeben der menschliche Leib“.10 Im Vergleich mit Hegel läuft dies auf eine „umfassende Kulturtheorie“ hinaus,11 die den Bereich des objektiven Geistes weit über den bei Hegel damit gekennzeichneten Bereich ausdehnt. Wie bei Hegel werden hier die Grundformen der bürgerlichen Gesellschaft einschließlich ihrer ökonomischen Kategorien (Eigentum, Tausch, Arbeitsteilung) verhandelt, der alles umgreifende, buchstäblich globale Bildungsprozeß jedoch setzt in der Naturphilosophie ein und umfaßt zugleich auch, was bei Hegel in Gestalt der Anthropologie die Funktion eines dynamischen Scharniers zwischen Naturphilosophie und Philosophie des Geistes übernimmt. Das allerdings sind nicht lediglich topographische Verschiebungen, die man im enzyklopädischen System der Wissenschaften (um hier bewußt nicht den Hegelschen Werktitel zu verwenden) cum grano salis nehmen kann. Ganz im Gegenteil hat der deutlich fokussierte und eben nicht „kosmologisch“ angelegte Bildungsbegriff bei Hegel mit der alles entscheidenden Differenz der Auffassungen zu tun, wie sie im zitierten Passus der Rechtsphilosophie zum Ausdruck kommt: „Der Geist hat seine Wirklichkeit nur dadurch, daß er sich in sich selbst entzweit“. In dieser Überzeugung formiert sich Hegels Bildungsbegriff – Entzweiung ist, so kann und muß man sagen, das „Lebenselixier“ von Bildung. Dieser Gedanke ist bis heute ungewöhnlich, aus der Perspektive sowohl neuhumanistisch geprägter als auch kompetenzorientierter Bildungsvorstellungen muß er geradezu abwegig erscheinen. Aber auch Schleiermacher ist er vollständig fremd. Die zwischen Natur und Vernunft vermittelnde, kulturbildende Leistung der Bildung bewegt sich bei Schleiermacher auf einer Skala der Kontinuität, der das „Ineinander von Vernunft und Natur“ vorausgesetzt ist.12 Das erinnert von weitem an das gleichfalls groß angelegte Bildungsprojekt Herders in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, das mit kosmologischen Überlegungen über Weltall und Erde einsetzend Natur und Menschheit in eine kontinuierliche Gesamterzählung bringt. Und im Interesse der Integration von Natur und Vernunft erinnert es dem Ansatz nach auch an die Identitätsphilosophie Schellings, womit ich keine Abhängigkeit Schleiermachers von Schelling oder gar die Gleichförmigkeit ihrer Konzepte behaupten will. „Ethik 1816“, in: Werke, Bd. 2 (Anm. 6), 580. 583. 11  Jaeschke/Arndt, Klassische Deutsche Philosophie (Anm. 3), 291. 12  Schleiermacher, „Ethik 1816“, in: Werke, Bd. 2 (Anm. 6), 561. 9  Schleiermacher, 10  Ebd.,



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Worum es mir an dieser Stelle einzig geht, wenn ich den Eindruck einer gewissen Familienähnlichkeit zwischen Herder, Schelling und Schleiermacher verzeichne, ist der drastische Kontrast zu Hegel, dessen singuläre Stellung im Verbund der ganzen Epoche ich früher schon angedeutet hatte. Was Hegels Alleinstellungsmerkmal ausmacht und worauf in Bildungssachen die in meinen Augen hochattraktive Idee der Entzweiung konstitutiv verweist, ist die Auffassung der grundlegenden Negativität des Geistes. Das heißt: Geist steht bei Hegel nicht in Kontinuität zu Natur, sondern Geist ist, was er ist, als „Zurückkommen aus der Natur“.13 Als Anderes der Natur spaltet sich Geist demnach auch nicht spirituell dualistisch wie eine andere Substanz von der Natur ab, sondern er bearbeitet in sich den Bezug auf ein Anderes. Hegels Idee, Geist und Natur im Bezug aufeinander voneinander zu unterscheiden oder besser gesagt, das Wesen des Geistes in genau diesen negativen Selbstvollzug der Unterscheidung in sich zu setzen, ist so basal, daß man bei Hegel im Gebrauch organologischer Metaphern höchst vorsichtig sein sollte, was überdies, wie ich an dieser Stelle hinzufügen möchte, auch der Reichweite des aktuell prominenten Aristotelismus der Hegel-Deutung oder generell naturalistischen Hegellektüren Grenzen setzt. Hegel selbst legt größten Wert darauf, daß zwischen organischen und geistigen Entwicklungsprozessen eine grundsätzliche Differenz besteht: Der Geist ist „in ihm selbst sich entgegen; er hat sich selbst als das wahrhafte feindselige Hinderniß seines Zweckes zu überwinden; die Entwicklung, die als solche ein ruhiges Hervorgehen ist, denn sie ist ein in der Aüsserung zugleich sich gleich und in sich bleiben, ist im Geiste in Einem, ein harter, unendlicher Kampf gegen sich selbst. Was der Geist will, ist seinen eigenen Begriff erreichen, aber er selbst verdeckt sich denselben, ist stolz und voll von Genuß in dieser Entfremdung seiner selbst. Die Entwicklung ist auf diese Weise nicht das harm- und kampflose blosse Hervorgehen, wie in die des organischen Lebens, sondern die harte, unwillige Arbeit gegen sich selbst“.14 Das Zitat stammt aus der Einleitung in die Philosophie der Weltgeschichte. Nicht allein hebt es mit aller wünschenswerten Deutlichkeit die spezifische Differenz zwischen Geist und Natur hervor. Nicht zufällig fällt hier vielmehr auch das Stichwort „Bildung“. Bildung als strukturierendes Prinzip der Weltgeschichte beruht nicht anders als die Bildung der bürgerlichen Gesellschaft auf dem skizzierten Kampf des Geistes gegen sich selbst, dem Vollzug der Selbstentfremdung, der harten Arbeit gegen sich selbst. Daß Bildung, so Hegel in wörtlicher Entsprechung in der Rechtsphilosophie, „diese harte Arbeit ist, macht einen Theil der Ungunst aus, der auf sie fällt. Durch diese 13  Hegel, 14  Hegel,

Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: GW 20, § 381. Philosophie der Weltgeschichte, Einleitung 1830/31, in: GW 18, 184.

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Arbeit der Bildung ist es aber, daß der subjective Wille selbst in sich die Objectivität gewinnt, in der er seinerseits allein würdig und fähig ist, die Wirklichkeit der Idee zu sein“ (GW 14, 1, § 187). Bevor ich einen letzten Schritt in meinen Überlegungen unternehme, halte ich in einem Zwischenresümee die folgenden vier Punkte fest. Erstens hat sich gezeigt, daß Hegel und Schleiermacher wichtige und nicht wenige Überzeugungen in Bildungssachen teilen – man versteht, warum Bildung ein Schlüsselbegriff ist, der sich auf nichts Geringeres als die produktive Dynamik der soziokulturellen Entwicklung insgesamt bezieht. Zweitens ist um so mehr auch die grundsätzliche Differenz der Konzepte zu unterstreichen, die in Hegels in der ganzen Epoche und bis heute singulärer Verknüpfung von Bildung und Entzweiung oder Entfremdung besteht: Charakteristika der Bildung wohlgemerkt, deren Negativität Hegel zum positiven Merkmal gelingender Bildung erklärt. Darum geht es auch in der Bildungsinstitution Schule, die die Schüler nicht etwa vor Entfremdungsprozessen zu schützen hat, sondern solche Prozesse in dem „leichtern Schmerz und Anstrengung der Vorstellung, sich mit einem Nicht-unmittelbaren, einem Fremdartigen“ zu beschäftigen, anstoßen soll: „Entfremdung“, so Hegel wörtlich in der Schulrede von 1809, ist „Bedingung der theoretischen Bildung“. Auf den „Centrifugaltrieb der Seele gründet sich nun überhaupt die Nothwendigkeit, die Scheidung, die sie von ihrem natürlichen Wesen und Zustand sucht, ihr selbst darreichen, und eine ferne, fremde Welt in den jungen Geist hineinstellen zu müssen“.15 Das verweist drittens auf Hegels negativen Begriff des Geistes, der mit der Auffassung einer Kontinuität zwischen Natur und Vernunft schlechthin inkompatibel ist. Eine vierte Feststellung folgt daraus: Danach kann man in der negativistischen Verfassung des Geistes so etwas wie einen anthropologischen Grundbefund erkennen, der sich einerseits in allen Bereichen manifestiert, die von der Philosophie des Geistes erörtert werden, der jedoch andererseits im Bildungsprojekt der bürgerlichen Gesellschaft zu explizitem Selbst-Bewußtsein kommt. Hegel selbst weist darauf ja immer wieder hin, weil dies zu den Strukturmerkmalen des Geistes gehört: Es ist ein Unterschied, ob sich die „Identität“ des Geistes als „absolute Negativität“16 in allen menschlichen Verhaltensweisen und geschichtlich-kulturellen Lebensformen äußert, oder ob der Geist diese Darstellung seiner selbst auch für sich selbst realisiert und als normative Erwartung ausdrücklich formuliert. Das geschieht Hegel zufolge in aller Schärfe erst in der Moderne, wofür die bürgerliche Gesellschaft 15  Hegel, 16  Hegel,

Nürnberger Gymnasialkurse und Gymnasialreden, in: GW 10, 1, 461 f. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: GW 20, § 381.



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im konstitutiven Selbstverständnis ihrer Bildungsprozesse kulturell, ökonomisch, und nicht zuletzt auch im Übergang zum Anspruch politischer Freiheit und entsprechenden Partizipationserwartungen steht. 5. Bildung und Entfremdung Ich glaube nicht, daß es – ironisch gesagt – ein Evaluierungsprogramm gibt, das über Stärken und Schwächen der Ansätze Hegels und Schleiermachers im algorithmischen Abgleich entscheidet. Eine Entscheidung wird man anhand von Analysekriterien und Vorlieben selbst treffen müssen – und so wiederhole ich gern, daß ich Hegels Bildungsbegriff deutlich attraktiver, produktiver und realitätsgerechter als denjenigen Schleiermachers finde, weil das kreative Potential in Bestimmungen von Differenz, von Brüchen und Sprüngen grundsätzlich zu unterstreichen ist und mir dabei auch Hegels Diagnose völlig einleuchtet, daß moderne Lebenswelten irreversibel an Differenz­ erfahrungen gebunden sind. Bildung ist die Herausforderung, damit konstruktiv umgehen zu können. Dieser Gedanke führt mich im letzten Schritt zu einem Rückgriff auf Hegels Jenaer Zeit, mit dem ich abschließend zwei Thesen verbinden möchte. Höchst interessant ist erstens, daß das Verhältnis von Geist und Bildung in Hegels intellektueller Entwicklung nicht so systematisch wohlsortiert ist, wie ich es eben im Sinne einer anthropologischen Voraussetzung, die dann in der Moderne zu explizitem Bewußtsein kommt, beschrieben habe. Vielmehr ist es so, daß Geist und Bildung in ihrer Hegelspezifischen negativistischen Struktur gemeinsam, gleichsam mit einem Schlag auf die Bühne treten, und zwar so, daß der Bildungsbegriff bei diesem Auftritt die Führung übernimmt. Das erlaubt es zweitens, die Diskussion der Bildung um eine Reihe maßgeblicher Aspekte zu erweitern, um schließlich festzustellen, daß der Berliner Hegel in der Rechtsphilosophie von einigen Kühnheiten seiner Jenaer Konzeption leider Abstand genommen hat. Eine kritische Replik auch auf Hegel muß am Ende sein. Der Text, um den es in diesem Rückgriff geht, ist die Phänomenologie des Geistes, genauer das Kapitel „Der sich entfremdete Geist. Die Bildung“, bei dessen vielsagendem Titel man inzwischen sicher hellhörig wird. Um die Pointe richtig zu taxieren, ist jedoch dem voraus bei Hegels ganz zu Beginn der Jenaer Zeit verfaßten kritischen Schriften anzusetzen. Mit dem vorhin erwähnten Schelling ist Hegel hier noch befreundet, während gewisse Dis­ tanzierungssignale gegenüber der Identitätsphilosophie jetzt schon nicht zu übersehen sind. In Frage steht dabei die Rolle der Reflexion, die Hegel – anders als Schelling – „als Instrument des Philosophierens“ ontologisch und epistemologisch für bedeutsam hält. Jedoch brauche ich diese äußerst kom-

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plizierten und beinahe undurchsichtigen Äußerungen zur Reflexion hier nicht zu vertiefen, denn worauf es hier ankommt, ist eine Form der Reflexion, die Hegel für schlechthin inakzeptabel erklärt – die moderne „Reflexions-Cultur“ der Bildung. Als Vertreter eines „Systems der Bildung“ werden namentlich Kant, Jacobi und Fichte von Hegels Verdikt getroffen.17 Worin liegt das Problem? Nach Hegels Analyse liegt es in der Fixierung auf die Urteilsstruktur des Verstandes, die die Einheit des lebendigen Lebens von Grund auf zerstört. „Je weiter die Bildung gedeyht, je mannichfaltiger die Entwicklung der Äußerungen des Lebens wird, in welche die Entzweyung sich verschlingen kan, desto größer wird die Macht der Entzweyung, desto fester ihre klimatische Heiligkeit, desto fremder dem Ganzen der Bildung und bedeutungsloser die Bestrebungen des Lebens, sich zur Harmonie wieder zu gebähren.“18 Unabhängig davon, ob Hegels Kritik an der vermeintlichen Reflexionsphilosophie Kants, Jacobis und Fichtes zutrifft oder nicht, ist deutlich, wo die Pointe liegt. Noch bevor Hegel auch nur im entferntesten über seinen Geistbegriff verfügt, verknüpft er bereits die Begriffe von Bildung und Entzweiung, deren expliziter Zusammenhang hier wie später für das Syndrom der Moderne steht. Zugleich fällt die rein pejorative Bedeutung der Verknüpfung auf. Im Rationalisierungsprozeß der Moderne vollbringt Bildung das Zerstörungswerk des Verstandes. Wie Hegel zu dieser negativen Einschätzung der Bildung kommt, wo die Epoche im Bildungsbegriff längst ein neues Schlüsselwort der Selbstverständigung sieht, ist mir nicht klar. Entscheidend ist, daß Hegel anschließend nur das pejorative Vorzeichen aufgeben muß, um den Bildungsbegriff unter Beibehaltung der Struktur, der behaupteten Entzweiung in einen, nämlich seinen maßgeblichen Grundbegriff zu transformieren. Das geschieht im Bildungskapitel der Phänomenologie, in dem Hegel eine denkbar radikale Darstellung und Analyse „reine[r] Bildung“19 unternimmt. Ich rekapituliere kurz: Danach beginnt mit der Welt der Bildung die Welt der Moderne, in der der Geist erstmals in ein artikuliertes Verhältnis zu sich selbst tritt und ein volles Bewußtsein seiner selbst gewinnt. Das bedeutet, daß sich diese Welt der bewußt vollzogenen Aufhebung aller natürlichen und traditionsgebundenen Voraussetzungen verdankt. Das Initiativmoment ist der Geltungsanspruch des Indi17  Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, in: GW 4, 322, 319. Vgl. Birgit Sandkaulen, „Hegel’s first System Program and the Task of Philosophy“, in: The Oxford Handbook of Hegel, hg. v. Dean Moyar, New York 2017, 3–30. 18  Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: GW 4, 14. 19  Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: GW 9, 282.



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viduums, der unabdingbar an der „entfremdenden Vermittlung, sich dem Allgemeinen gemäß gemacht zu haben“, hängt: „Wodurch also das Individuum hier Gelten und Wirklichkeit hat, ist die Bildung. Seine wahre ursprüngliche Natur und Substanz ist der Geist der Entfremdung des natürlichen Seyns.“ (GW 9, 267). Damit aber nicht genug. Der Gedanke, daß Bildung ein Entfremdungsprozeß ist, der eine Bewegung zum Allgemeinen und darin den radikalen Bruch mit natürlichen Dispositionen vollzieht, wird sogleich von dem weiteren Gedanken begleitet, daß in dieser entfremdenden Bewegung zum Allgemeinen das Allgemeine selbst als ein Gewordenes erscheint. Das heißt, daß in der Welt der Bildung nicht nur das Individuum, sondern jedwede Autorität allererst als solche anerkannt werden muß. Das Allgemeine wird nicht als vorgefundenes übernommen, sondern die Legitimität von Ordnungen wird in der Welt der Bildung gestiftet – und zwar im Ausspruch ihrer Geltung als „gut“ oder „schlecht“ durch das Urteil, das diese Unterscheidungen trifft und sich dadurch der Gültigkeit der Ordnung versichert (GW 9, 271). Als eine Welt des Urteilens ist die Welt der Bildung damit zugleich eine durch und durch sprachlich vermittelte Welt. Sie besteht in dem, was und wie gesprochen wird, und insofern das der Fall ist, sieht Hegel hier die Sprache „in ihrer eigenthümlichen Bedeutung“ am Werk (GW 9, 276). Vollends jedoch kommt Bildung in ihrer Reinform erst in dem Moment zum Vorschein, in dem die dieser Welt inhärente Logik ihren Lauf nimmt, und die im Urteil etablierte Ordnung in den Taumel ihrer Auflösung gerät. Logisch ist das deshalb, weil genau in dem Maße, wie die Welt der Bildung nichts unmittelbar Gültiges akzeptiert, sondern die Verbindlichkeit ihrer Ordnung einzig und allein im Urteilen stiftet, sie ihre Stabilität nicht garantieren kann. Die Kriterien des Urteils können wechseln, sie können ein und dasselbe unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten und sich im Effekt in widersprüchliche Aussagen verstricken. Diese mögliche und wirkliche Verkehrung aller Orientierung geschieht nicht blind oder hinter dem Rücken der Akteure. Der Verkehrung ihrer Welt sind sich die Akteure bewußt: eben darum sind sie ja gebildet und unterscheiden sich von der „Einfachheit des natürlichen Herzens“ (GW 9, 285), was Hegel auf unübertroffene Weise in der Figur des „zerrissenen“ und um seine „absolute Zerrissenheit“ wissenden Bewußtseins dargestellt hat. Insofern dieses Bewußtsein um sein Zerrissensein weiß, behauptet es seine Identität im Zerfall von Identität, und das drückt Hegel so aus, daß hier ein identisches Urteil gefällt wird, das zugleich ein unendliches Urteil ist, indem es miteinander unverträgliche Bestimmungen zusammenhält. Der im Modus der Zerrissenheit „seines Begriffes bewußte Geist“ weiß „sich als ein Anderes“ (GW 9, 282).

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Das ist eine ganz großartige (in der Hegelforschung noch immer nicht wirklich beliebte20) Analyse, die keineswegs eine in sich abgeschlossene, lediglich passagere Gestalt des Geistes bezeichnet. Im Gegenteil zeigt ein Blick auf die nach Beendigung des Werks verfaßte Vorrede der Phänomenologie, daß sich bis hinein in wörtliche Übernahmen die systematische Bestimmung des Geistes der Gestalt der „reinen Bildung“ verdankt. Daß der Geist „seine Wahrheit“ nur gewinnt, „indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet“, daß die „Krafft und Arbeit des Verstandes“ jetzt als „verwundersamste und größte, oder vielmehr […] absolute Macht“ ausgezeichnet wird, und daß zwei Seiten der Bildung zu unterscheiden sind, nämlich die „Erhebung zur Allgemeinheit überhaupt“ und die gegenläufige Bewegung, „das Fixe von Unterschiedenen“ zu verflüssigen – das sind die dem Bildungskapitel entnommenen zentralen Motive, in denen sich Hegels negativistischer Geistbegriff konstitutiert (GW 9, 27 f.). An anderer Stelle habe ich dafür argumentiert, daß Hegel bereits in der Vorrede der Phänomenologie dann nicht wirklich zeigen kann, wieso es zugleich so etwas wie einen Überschuß über die Gestalt der „reinen Bildung“ geben soll, der aus der Entfremdung heraus in den Stand der Versöhnung führt.21 Eine analoge Problematik gibt es auch in der Rechtsphilosophie. Das lasse ich hier außer Acht. Denn selbst wenn sich das Bildungsprojekt nach Hegels Vorstellungen schlußendlich als ein Versöhnungsprojekt realisieren könnte (was ich wie gesagt bezweifle), wäre klar, daß solche Versöhnung in jedem Fall durch Erfahrungen und Anstrengungen der Zerrissenheit hindurchgegangen sein muß – Hegel also selbst in diesem Fall das epochale Alleinstellungsmerkmal behält, als Diagnostiker der Moderne auf irreversible Diskontinuitäten verwiesen zu haben. 6. Bildung und Kritik Um so bedauerlicher ist aber das Bild, das ausgerechnet die Rechtsphilosophie in einem entscheidenden Punkt des Bildungsprogramms bietet. Dieser Punkt hat mit der von mir früher erwähnten abgründigen Konnotation des Faktums zu tun, daß die Welt des objektiven Geistes nicht einfach existiert, 20  Thomas Sören Hoffmann hat hier immerhin einen Anfang gemacht: „Bildung, Entzweiung, Sprache. Zur Dialektik des Bildungsgeschehens nach Hegel“, in: Bildung als Mittel und Selbstzweck. Korrektive Erinnerung wider die Verengung des Bildungsbegriffs, hg. v. Axel Hutter und Markus Kartheiniger, Freiburg i. Br. 2009, 82–104, hier 100 ff. 21  Birgit Sandkaulen, „Wissenschaft und Bildung. Zur konzeptionellen Problematik von Hegels Phänomenologie des Geistes“, in: Gestalten des Bewußtseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels, hg. v. Birgit Sandkaulen, Volker Gerhardt und Walter Jaeschke, Hegel-Studien Beiheft 52, Hamburg 2009, 186–207.



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sondern durch Bildung hervorgebracht wird. Vor dem Hintergrund des Bildungskapitels der Phänomenologie kann ich das jetzt erläutern. Wichtig ist zunächst, daß angefangen von der expliziten Markierung der Entzweiung – „Der Geist hat seine Wirklichkeit nur dadurch, daß er sich in sich selbst entzweit“ – eine ganze Reihe von Merkmalen in der Rechtsphilosophie wiederkehren, die in der Phänomenologie am Fall der „reinen Bildung“ entwickelt worden sind. Zentral ist hier wie da die genealogische Bewegung hin zum Allgemeinen, die im Bruch mit natürlichen Dispositionen erobert wird und dabei der Rationalitätsform des Verstandes folgt. Hegels Bildungsbegriff, das zeigt sich von Anfang an in der zunächst pejorativen und dann ins Positive gewendeten Bedeutung verständiger Reflexion, ist – anders als Schleiermachers mehr der Anschauung verpflichteter Bildungsbegriff – ohne diesen stark rationalen Akzent nicht zu denken. Das gilt im übrigen für Hegels ganze Philosophie, was kein Wunder ist, wenn Bildung und Geist, wie ich behaupte, in der Anerkennung und Selbstreflexion des Urteils gemeinsam die Bühne betreten. Mit der „Bildung des Verstandes überhaupt“ geht die Bildung „auch der Sprache“ einher (GW 14, 1, § 197). Und schließlich fällt diese „theoretische Bildung“ ebenso wie die „praktische Bildung“ in der Ausbildung von Routinen gesellschaftlich in das Feld der Arbeit (GW 14, 1, §§ 197 f.). Mit Schleiermachers Ausdruck gesprochen ist bei Hegel die Arbeitswelt das „Bildungsgebiet“ der modernen Gesellschaft. Hier jedoch endet die Strukturparallele mit der „reinen Bildung“ des Bildungskapitels der Phänomenologie – der Grund ist offensichtlich. Hegel beschränkt den Bildungsprozeß auf die beschriebene Bewegung hin zum Allgemeinen und verzichtet vollständig darauf, auch die gegenläufige Bewegung ins Spiel zu bringen, in der das Allgemeine selbst auf den Prüfstand gerät und mit ihm die fixen Rationalitätsmuster des Verstandes. In der Konsequenz dieser resoluten Beschränkung fehlt dann natürlich auch von der geistreichen Figur des zerrissenen Bewußtseins in der Rechtsphilosophie jede Spur. Die abgründige Konnotation, daß die Welt der modernen Bildung ihre eigene Geltung genealogisch durchschaut und kritisch jederzeit auf den Prüfstand stellt, wird von Hegel zugunsten einer rein affirmativen Bedeutung der Bildung verdrängt. Das setzt sich über die bürgerliche Gesellschaft hinaus in der politischen Sphäre des Staates fort: „Beginnende Bildung fängt immer mit dem Tadel an, vollendete aber sieht in Jedem das Positive.“22 Eine ganz sicher ganz abwegige Behauptung. Daß Hegel ausgerechnet in der Rechtsphilosophie die kritische Dimension der Bildung allein gegen die Individuen geltend macht, aber aus deren Ver22  Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, Nachschrift Wintersemester 1822/23, in: GW 26, 2, 1002.

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ständigung über das Allgemeine tilgt, ist wie gesagt höchst bedauerlich. Schon in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, für deren Vorzüge und Abgründe sich Hegel ansonsten höchst sensibel zeigt, wird so die Kondition der Moderne hinterschritten, die – wie Hegel selbst am besten weiß – bestimmte Ansprüche und Erwartungen an substantielle Stabilität nie mehr erfüllen kann. Mit Krisen der Zerrissenheit muß man nicht zufällig, sondern notorisch rechnen. Kontrafaktisch gesprochen, enthält darum Hegels Konzept der Bildung, wenn man alle seine Aspekte berücksichtigt, genau das Rüstzeug, das wir heute sehr dringend brauchen.

Verstehen „hat eine doppelte Richtung, nach der Sprache und nach den Gedanken“. Bemerkungen zur Relevanz der Schleiermacherschen Hermeneutik Von Jure Zovko Nach dem Urteil von Wilhelm Dilthey war Schleiermacher imstande, eine universelle Hermeneutik auszuarbeiten, weil er „die Virtuosität philologischer Interpretation mit echtem philosophischen Vermögen“ geschickt kombiniert bzw. beide vereinigt hat.1 Zu seinen Lebzeiten hat Schleiermacher aus dem Bereich der Hermeneutik nur seine 1829 gehaltenen Akademie-Vorträge „Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch“ veröffentlicht. Schleiermachers einflussreiche Vorlesungen über Hermeneutik, die er neunmal gehalten hat, hat sein Schüler Friedrich Lücke unter dem Titel Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament 1838, d. h. vier Jahre nach Schleiermachers Tod, veröffentlicht. Streng genommen lässt sich Schleiermachers Philosophie keineswegs auf Hermeneutik reduzieren, wie dies Dilthey behauptet hat, weil Schleiermacher Hermeneutik als eine technische Disziplin charakterisiert hat, die als Kunst des Verstehens den systematischen Disziplinen Dialektik und Ethik, untergeordnet bleibt und im engen Zusammenhang mit diesen thematisiert wurde. Die Stellen aus denen man auf Universalität der Hermeneutik bei Schleiermacher schließen möchte, kommen selten in seinem Opus vor. Die bekannteste ist offensichtlich die Behauptung, dass „sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt [ … ] gewollt und gesucht werden“ muss.2 Dieser Universalitätsanspruch hat zur Folge die Tatsache, dass „das Nichtverstehen sich niemals gänzlich auflösen will“.3 Experten haben inzwischen nachgewiesen, dass Schleiermacher in seinem philosophischen Œuvre die führende Rolle nicht der Hermeneutik, sondern der Ethik

1  Wilhelm Dilthey, „Die Entstehung der Hermeneutik“, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Stuttgart 1957, 326. 2  Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hg. v. Manfred Frank Frank­ furt/M 1977, 92. 3  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, KGA II/11, 621.

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und Dialektik zugeteilt hat.4 Alle Versuche, Schleiermachers Dialektik auf die Universalität der Hermeneutik zurückzuführen bzw. beide Disziplinen als gleichranging im Opus Schleiermachers zu bewerten, wie dies Rudolf ­Odebrecht versucht hat, erwiesen sich als misslungen.5 Eine Vermittlung des Verstandenen und des Erkannten „für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens“, wird nach dem Urteil Schleiermachers erst durch die Dialektik erreicht.6 Gadamers Vorwurf, Schleiermacher habe „die Hermeneutik zu einer von allen Inhalten abgelösten Methode verselbständigt“, ist nur unter Voraussetzung der Dekontextualisierung der Hermeneutik zutreffend, wie sie durch Dilthey vollzogen wurde. Eine der wichtigsten Charakteristiken der Schleiermacherschen Hermeneutik ist die verantwortliche Interpretation, die nach seinem Urteil einen sorgfältigen Umgang mit dem Interpretandum erfordert, wie dies unter anderem aus seinen Vorlesungen über Dialektik ersichtlich ist. Schleiermacher beruft sich auf Platons Hinweis, wie man mit einem Text interpretatorisch umgehen sollte. Die anregende Sage von Theuth über die Erfindung der Schrift aus dem Dialog Phaidros schließt Platon mit der Feststellung ab, dass der geschriebene Text, logoi gegramenoi, einen substantiellen Nachteil hat, dass er sich nämlich vor den Missverständnissen und den absichtlichen Fehldeutungen nicht schützen kann: „Und wird die Schrift (graphê) beleidigt oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe (boêthou); denn selbst ist sie weder imstande sich zu schützen noch sich zu helfen.“7 Schleiermacher knüpft in seinen Vorlesungen über die Dialektik an diesen Platonischen Topos an, indem er auf den wesentlichen Unterschied zwischen einem zu interpretierenden Text und einem anwesenden Gesprächspartner verweist: das Buch könne „sich nicht verantworten“, während die Person, mit der man diskutiert, dies jederzeit tun kann. Deshalb bleibt es die hermeneutische Verantwortung für jeden Leser und Interpreten, in sachgerechten Verstehensbemühungen mit dem Werk wie mit einem Dialogpartner umzugehen und „sich ganz auf den Standpunct und in die Seele des Verfassers hineinzuversetzen“ und den Text so zu verantworten, dass der Verfasser, „wäre er selbst gegenwertig, nichts gegen […] Einwendungen sagen können“ würde.8 In der hermeneutischen Tradition der Textdeutung hat 4  Vgl. Andreas Arndt, Schleiermacher als Philosoph, Berlin und Boston 2013, 301. Arndt behauptet, dass der „relativ untergeordnete systematische Ort der Hermeneutik im Zyklus der philosophischen Disziplinen bei Schleiermacher selbst […] in auffälligem Kontrast zu der philosophischen Aufwertung der Hermeneutik im letzten Jahrhundert“ stehe. Schleiermacher hat Hermeneutik im Kontext ihrer Fundierung in Dialektik und Ethik erörtert. 5  Kritisch dazu Arndt, Schleiermacher als Philosoph (Anm. 4), 302. 6  Vgl. KGA II/4, 120. 7  Platon, Phaidros 275 e. 8  KGA II/10, 2, 403.



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man diese verantwortliche Aufgabe als Erfassung des buchstäblichen Sinnes verstanden. In diesem Zusammenhang sollte auch die Aufgabe der Hermeneutik angesehen werden, das Missverstehen zu überwinden und das Verstehen möglichst sinngemäß zu vollbringen und für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens zu vermitteln. In der Vorlesungsnachschrift von 1832 behauptet Schleiermacher, dass durch die Universalität der Sprache eine Vermittlung des gemeinschaftlichen Wissens vollbracht wird: „So ergiebt sich das gemeinsame Verhältnis der Grammatik und Hermeneutik zur Dialektik, als der Wissenschaft von der Einheit des Wissens.“9 Dies ist ein Indiz dafür, dass die Hermeneutik als Kunst des Verstehens eine Universalität des Verstehens und Wissens erst durch die Dialektik als fundamentale Wissenschaft erreichen kann. Eine Aufwertung der Hermeneutik zur fundamentalen philosophischen Disziplin hat Dilthey in seinem epochalen Aufsatz „Die Entstehung der Hermeneutik“ vorgenommen und somit ein Jahrhundert der hermeneutischen Philosophie eröffnet. Heidegger hat sich in seinen frühen Freiburger Vorlesungen (1923) über Ontologie – Hermeneutik der Faktizität dann expressis verbis auf Ditlheys Hermeneutik-Aufsatz berufen und Diltheys auf das faktische Leben bezogene Hermeneutik als „Hermeneutik der Faktitizität“ bzw. als Daseinsanalytik gedeutet.10 Nach dem Urteil von Frithjof Rodi wollte auch Dilthey nicht die Hermeneutik zu einer philosophia prima erheben. Er war wegen der theologischen Herkunft des Wortes „zeit seines Lebens äußerst zurückhaltend im Gebrauch des Terminus“ Hermeneutik.11 Erst nach der ontologischen Wende wird die Hermeneutik „an das Ganze der menschlichen Welterfahrung und Lebenspraxis“ bezogen. Hermeneutik, so Gadamer, „fragt, um es kantisch auszudrücken: Wie ist Verstehen möglich?“12 Im Unterschied zur traditionellen Hermeneutik, die primär auf Texte bzw. „Schriftdenkmale“ – wie es Dilthey genannt hat – unterschiedlicher Form fokussiert war, hat Gadamer die Ansicht vertreten, dass in der Hermeneutik auch „Einsichten erworben und Wahrheiten erkannt“ werden, die „den Kon­ trollbereich wissenschaftlicher Methodik“ übersteigen.13 Gadamers pauschale Beurteilung der Methoden der Naturwissenschaften bzw. der Wissenschafts9  Friedrich Schleiermacher, Sämmtliche Werke, Abt. 1, Bd. 7, Hermeneutik und Kritik, mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament, hg. v. Friedrich Lücke, Berlin 1838, 11. 10  Martin Heidegger, Gesamtausgabe, II. Abteilung. Vorlesungen, Band 63: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Frankfurt/M 1988, 14. 11  Frithjof Rodi, „Drei Bemerkungen zu Diltheys Aufsatz ,Die Entstehung der Hermeneutik‘ von 1900“, in: Revue Internationale de Philosophie. 57 (2003), 425–437, hier: 426. 12  Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik II. Wahrheit und Methode.
Ergänzungen. Register, Tübingen 1993, 439 f. 13  Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Gesammelte Werke, Band 1, Tübingen 1990, 1.

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theorie ist äußerst umstritten und einseitig.14 Das von Gadamer zur Zeit der Veröffentlichung von Wahrheit und Methode kritisierte Modell der naturwissenschaftlichen Methodik existiert im wissenschaftsphilosophischen Diskurs heute nicht mehr, insbesondere nachdem Thomas S. Kuhn eine radikale Kritik an der positivistischen Wissenschaftsauffassung vollzogen hat. Kuhn lehnte auch das in der Wissenschaftstheorie gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrrschende Dogma der universellen Verwissenschaftlichung der experimentellen Praxis in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen ab. Kuhn stellte die Einheit von Wissen und wissenschaftlichem Fortschritt in Frage und verlangte, alle Formen des Reduktionismus hinsichtlich der wissenschaftlichen Erklärung zu überprüfen. Gadamer ist leider nicht in einen intensiveren philosophischen Dialog mit T. S. Kuhn eingetreten, nachdem er das Dogma über die Einheit der wissenschaftlichen Methodik gebrochen hatte. Insofern lässt sich feststellen, dass Gadamers strikte Abgrenzung der Geisteswissenschaften von den Methoden und Praktiken der Naturwissenschaften auch auf die mangelnde Kenntnis des wissenschaftsphilosophischen Diskurses in der Wissenschaftsphilosophie nach Kuhns Paradigmenwechsel zurückzuführen ist. Durch die ontologische Wende ist die Hermeneutik nach dem Urteil von Gianni Vattimo zu einer Art Koine des interdisziplinaren Dialogs im Bereich der Geisteswissenschaften geworden.15 Als Folge dieser Universalisierung ist die Frage nach der Methode des richtigen Verstehens weithin verabschiedet und stattdessen zum Förderinstrument des Relativismus und Pluralismus äquivalenter Interpretationen geworden. Deshalb erscheint dieser Wesenswandel der philosophischen Hermeneutik manchen Experten nicht nur als Gewinn, sondern auch als wesentlicher Verlust (E. D. Hirsch, Hans Krämer, Nicolas Rescher, Rudolf Makkreel). Der Universalitätsanspruch des Verstehens in der philosophischen Hermeneutik hat von jeder systematischen Regelung dispensiert, das Verstehen wird vage und verschwommen als „Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen“ gefasst, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln. Weder vermittelt die neu konzipierte hermeneutische Reflexion nach Gadamers Ansicht ein Wahrheitskriterium noch erforscht sie die theoretischen Grundlagen der geisteswissenschaftlichen Arbeit. Die hermeneutische Erfahrung hat sich dabei vom Geschäft der Methodologie und vom System der Kunstregel, die für die traditionelle Hermeneutik kennzeichnend waren, verabschiedet. Gadamer bemüht sich ferner, das Verstehen und Auslegen von Texten von dem Methodenbegriff der modernen Wissenschaft zu befreien und zu zeigen, dass im Verstehen der Überlieferung nicht nur Texte verstan14  Ebd.,

479. Vattimo, Etica dell‘ interpretazione, Torino 1989.

15  Gianni



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den, sondern auch Einsichten erworben und Wahrheiten erkannt werden, die den Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik übersteigen. Somit wird die hermeneutische Erfahrung samt allen Geisteswissenschaften aus dem Umkreis der verifizierbaren Wissenschaften entfernt. Gadamer gibt zwar in seinem „Nachwort“ (1972) zu Wahrheit und Methode zu, dass methodische Mittel der Wissenschaft, wie z. B. das Schema der Aufstellung von Hypothesen und ihrer Prüfung, zweifellos hilfreich sind, Irrtum auszuschalten und Erkenntnis zu gewinnen bzw. zum richtigen Textverständnis zu gelangen, doch sei diese methodische Sauberkeit nicht alles, denn sie müsse in den geschichtlichen Verstehensprozess einbezogen und stets auf die konkrete Situation appliziert werden. Gadamers Frage, wie der Text selbst seine sach­ liche Wahrheit gegen die eigenen Vorurteile ausspielen kann, findet ihre Antwort mitnichten in der strikten methodischen Regelbefolgung, sondern im dialogischen Austrag der argumentativen Auseinandersetzung, wobei „lesendes Verstehen“ als „Teilhabe an einem gegenwärtigen Sinn“ gefasst wird.16 Einen Grund für die schlechthinnige Aufhebung methodologischer Regeln in der Interpretationspraxis sieht Gadamer unter anderem in Kants Auffassung der reflektierenden Urteilskraft und seiner Ansicht, dass es keine Regel gibt, wie man Regeln richtig anwenden lernt. Jede Anknüpfung an Gadamers philosophische Hermeneutik wirft indessen die Frage auf, ob man durch die ontologische Wendung der Hermeneutik und ihre Explikation vom Sinnverstehen noch sinnvoll einen Text verstehen bzw. ein Interpretandum auslegen und verständlich machen kann. Kritiker der hermeneutischen Philosophie sind der Meinung, dass Gadamers Rede von der „Teilhabe an einem gegenwärtigen Sinn“ nicht den Sinn des Textes oder Interpretandums verfehlt. Dasselbe lässt sich für die hermeneutische Wahrheitskonzeption behaupten, die Gadamer als ein „Einrücken in das Überlieferungsgeschehen“ erörtert.17 Durch „sprachliche Spiele“ erheben wir uns als Lernende „zum Verständnis der Welt“. Eine hermeneutische Praxis des Verstehens, in der Wahrheiten erworben werden, die gegenüber dem neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff zu verteidigen sind, ist zweifellos Ausdruck unserer Zugehörigkeit zu dem, was wir verstehen. Indem sie aber darauf verzichtet, auf die Voraussetzungen, die jeder wissenschaftlichen Methodologie vorausliegen, zu reflektieren, bleibt ihre Relevanz für die hermeneutische Auslegungspraxis äußerst fragwürdig. Der Ruf nach einer philosophischen Disziplinierung der Hermeneutik war in den letzten Jahren immer wieder hörbar. Dies bedeutet im Grunde genommen eine Annäherung an die Ausgangspositionen der Interpretationstheorie, wie sie in der hermeneutischen Tradition von Flacius bis Schleiermacher ausgearbeitet und praktiziert 16  H.-G. 17  Ebd.,

Gadamer, Wahrheit und Methode (Anm. 13), 396. 295.

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wurden. Demzufolge sollte man Texte bzw. das Interpretandum möglichst stringent und sinngemäß interpretieren und verstehen, wie deren umfassender Kontext es erfordert. Die Behauptung von Peter Szondi, dass „mit Schleiermacher […], ideengeschichtlich gesehen, nichts Neues“ beginnt,18 lässt sich durch gründliche Analyse der hermeneutischen Praxis seit der Reformation bestätigen. Schleiermacher hat offensichtlich im Kontext der Konstituierung der Hermeneutik im Sinne einer Theorie des Verstehens neue Applikationen des traditionellen hermeneutischen Kanons ergründet. Sein Bestehen auf „hermeneutischen Regeln“, die „mehr Methode sein“ müssen, um die „Schwierigkeiten im Nachkonstruieren der Rede und des Gedankenganges“ lösen zu können,19 ist eine Bestätigung dafür, dass er immerhin in der Tradition der methodischen Auffassung der Hermeneutik steht, trotz seiner Bemühungen, „specielle Hermeneutiken“ in die allgemeine Kunstlehre des Verstehens zu implementieren. Dilthey hat überzeugend nachgewiesen, dass schon Matthias Flacius Illyricus, der Begründer der neuzeitlichen Hermeneutik, „die Bedeutung des psychologischen oder technischen Prinzips der Auslegung“ entdeckt hat, „nach welchem die einzelne Stelle aus der Absicht und Komposition des ganzen Werkes interpretiert werden muß.“20 Flacius habe, so Dilthey, „auf lange hinaus die hermeneutische Wissenschaft bestimmt“.21 Dilthey hat mit seiner Festlegung durchaus recht, wenn er behauptet, dass zwischen Flacius und Schleiermacher keine historische Vermittlung besteht, sondern „nur eine innere Gewalt der Sache selbst wirkt“.22 Ihm verdankt man zwei Interpretationsmaximen, nämlich die Theorie des Scopus und den Zirkel des Verstehens, die für die hermeneutische Tradition maßgebend geworden sind. Die Ankoppelung der Hermeneutik an Platons dialektische Methode ist nicht F. Schlegels oder Schleiermachers Innovation, man findet sie schon bei Flacius, der die Tätigkeit des Interpreten bei der Textauslegung mit der Fähigkeit des Platonischen Dialektikers verglichen hat: „εφ′ εν και πολλα οραν, das eine in den vielen, und das viele in einem sehen und untersuchen zu können“.23 Es 18  Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt/M 1975, 135. Eine ähnliche Ansicht über Schleiermachers Hermeneutik hat auch Paul Ricoeur vertreten; vgl. P. Ricoeur, „Schleiermacher’s Hermeneutics“, in: Monist 60 (1977), 181–197. 19  Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik (Anm. 2), 84. 20  Wilhelm Dilthey, „Die Entstehung der Hermeneutik“ (Anm. 1), 325. 21  Wilhelm Dilthey, „Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation“, Göttingen 111991 (Gesammelte Schriften, Bd. 2), 127. 22  Ebd. 23  Mathias Flacius Illyricus, De ratione cognoscendi Sacras literas, Über den Erkenntnisgrund der Heiligen Schrift. Übers., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Lutz Geldsetzer, Düsseldorf 1968, 52 f.



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handelt sich hier um die bekannte Bestimmung der Dialektik im Dialog Phaidros (266b), wo der Platonische Sokrates für sich behauptet, er sei ein Liebhaber von den Einteilungen (dihaireseôn) und Zusammenfassungen (syn­ agogôn) der Begriffe, welche Voraussetzung des sinnvollen Sprechens und Denkens ist. Das synoptisch-dihairetische Verfahren des Dialektikers, das Platon als Methode der Bildung von Urteilen in den Spätdialogen praktiziert hat, betrachtet Flacius als Modell dafür, wie der Interpret bei der Textanalyse verfahren soll. Die Platonische Methode der Dialektik lässt sich erfolgreich auf die Erfassung der Struktur und der Komposition einer ganzen Schrift (ordo scripti totius) anwenden. Dementsprechend schreibt Flacius in seiner Glossa zum Neuen Testament, dass sich die Norm der Schriftauslegung geschickt und vorsichtig einer vernünftigen Dialektik anpassen soll.24 Der Interpret verfährt analog, indem er im heuristischen Prozess eruiert, wie die einzelnen Textteile „untereinander zusammenhängen“ (quomodo singulae partes se invicem cohaereant)25 und wie sie die Erfassung des Sinnzusammenhangs des zu verstehenden Textes ermöglichen. Spätere Klassiker der Hermeneutik haben sich bemüht, die beiden Auslegungsmaximen, Scopus und Zirkel des Verstehens, als Bestandteil der hermeneutischen Methode zu bestimmen bzw. das Interpretandum sinngemäß aus seinem Kontext zu erschließen. Der Zweck jeder Interpretation war, die Bedeutung einzelner Sätze und den Sinn der Textpassagen aus dem Scopus des ganzen Werkes zu ermitteln und den Sinnzusammenhang des Werkes wiederum durch die Kohärenz der verstandenen Einzelteile zu entschlüsseln. Die wesentlichen Ideen der Flacianischen Hermeneutik werden bei verschiedenen Vertretern der Hermeneutik und Interpretationstheorie, je nach den geistesgeschichtlichen Umständen, unterschiedlich rezipiert und appliziert. Der einflussreiche Vertreter der aufklärerischen Hermeneutik Johann Martin Chladenius hat in seiner Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften von 1742 eine umfassende Theorie des „Sehe-Punktes“ ausgearbeitet, die eine Transformation der Flacianischen Konzeption des Scopus ist.26 Georg Friedrich Meier hat in seiner Schrift Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst (1757) aus der Regelgebung des Verstehens und Auslegens, beispielsweise der rechten Textzergliederung (recta distributio textus) oder der anatomischen Text-Rekonstruktion (anatomica retexto), das Prinzip der „hermeneutischen Billigkeit“ entwickelt, dessen primäres Ziel es 24  Vgl. Novum Testamentum Jesu Christi Filii Dei […] cum Glossa Compendiaria Matthiae Flaciii Illyrici Albonensis, Frankfurt/M 1659, 8. 25  Flacius, De ratione (Anm. 23), 100 f. 26  Jean Grondin behauptet, dass der Begriff „Sehe-Punkt“ an sich „die deutsche Übertragung des lateinischen scopus, der ein zentrales Thema der Hermeneutik seit Augustin und Flacius gewesen war“, sei; vgl. J. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991, 72.

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ist, den Sinn des Textes zu entschlüsseln: „Die hermeneutische Billigkeit (aequitas hermeneutica) ist die Neigung eines Auslegers, diejenigen Bedeutungen für hermeneutisch wahr zu halten, welche, mit den Vollkommenheiten des Urhebers der Zeichen, am besten übereinstimmen.“27 Der heuristisch-rekonstruktive Verstehens- und Auslegungsprozess bewegt sich bei G. F. Meier, ähnlich wie bei Flacius, von der Erfassung der Bedeutung der Wörter aufgrund ihres Gebrauchs bis zur Erschließung der komplexen „hermeneutische[n] Wahrheit des Sinnes“: „Aufgrund des Sinnes wird die ganze Palette der sprachlichen Ausdruckformen bestimmt“.28 Hierin zeigt sich die ursprüngliche Intention und die Aufgabe der Hermeneutik, die nach Dilthey ihren Abschluss im Werk Schleiermachers erreicht, Texte gegen Beliebigkeit und Willkür der Interpreten abzusichern und dem Verstehen zugänglich zu machen. Die Hermeneutik sollte nach Diltheys Ansicht „gegenüber dem beständigen Einbruch romantischer Willkür und skeptischer Subjectivität in das Gebiet der Geschichte die Allgemeingiltigkeit der Interpretation theoretisch begründen“.29 Ähnlich wie Vertreter der Reformations- und Aufklärungshermeneutik hat auch Dilthey die Hermeneutik als Lehre von der allgemeingültigen Interpretation definiert, die ihre Anwendung im „Zusammenhang von Erkenntnistheorie, Logik und Methodenlehre der Geisteswissenschaften“ finden sollte.30 Die besonders wichtige Errungenschaft der Schleiermacherschen Hermeneutik war die Einsicht, dass menschliches Verstehen aus zwei Segmenten besteht. Einerseits wird die Wortbedeutung bzw. Sinn der Sätze im Kontext der Ganzheit der Sprache ergründet. Dementsprechend behauptet Schleiermacher, dass „jedes Kind […] nur durch Hermeneutik zur Wortbedeutung“ kommt.31 Schon in seinen Aphorismen zu Ernestis Hermeneutik hat Schleiermacher eine Unterscheidung zwischen Sinn (sensus) und Bedeutung (significatio) gemacht, wodurch ein Spektrum der Deutungsmöglichkeiten der in der Sprache artikulierten Kreativität des Geistes eröffnet wird. Eine der wichtigen Errungenschaften der Schleiermacherschen Hermeneutik besteht in der Einsicht, dass im Prozess des Verstehens die individuelle Gedankenbildung gründlich analysiert und rekonstruiert wird. Die Fokussierung auf das Allgemeine und Universelle der Sprache wird als grammatische Interpretation charakterisiert, währen die „technische“, bzw. „psychologische“ Interpretation primär auf den Denkakt des Verfassers bzw. seine individuelle 27  Zitiert nach Riccardo Pozzo, Georg Friedrich Meiers „Vernunftlehre“. Eine historisch-systematische Untersuchung, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, 165. 28  Ebd., 284. 29  Wilhelm Dilthey, „Die Entstehung der Hermeneutik“ (Anm. 1), 331. 30  Ebd. 31  KGA II/4, 20.



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Produktion zielt. Die Sprache erweist sich dabei als das substantielle Hypokeimenon, die Grundlage, auf der individuelle Äußerungen und Gedankenentwicklungen stattfinden: „Alles vorauszusetzende in der Hermeneutik ist nur Sprache“.32 Inzwischen ist in der Forschung nachgewiesen worden, dass das klassifikatorische Verfahren der Platonischen Dialektik, ähnlich wie bei Flacius, eine Schlüsselstellung in der Ausarbeitung der „grammatischen Auslegung“ bei Schleiermacher gespielt hat.33 Schleiermacher hat eingesehen, dass in den Platonischen Dialogen die Sprache selbst als Gegenstand der dia­ lektischen Analyse genommen wurde. Das dialektische Verfahren, in welchem die durchgängigen Einheiten stufenweise untereinander subordiniert werden, fängt normalerweise mit den allgemeinen Begriffen, mit den sogenannten höchsten Gattungen (megista genê) bzw. mit der organischen Ganzheit der Natur an und setzt sich bis zum Unteilbaren, dem sogenannten atomon eidos, bzw. bis zum Individuellen fort. Das dihairetische Verfahren setzt ebenfalls die „synoptische“ Tätigkeit voraus, in welcher zuerst das vielfach zerstreute Mannigfaltige in einem Begriff vereinheitlicht wird, und dieser Begriff wird wiederum im synoptischen Verlauf mit anderen Begriffen zu einer neuen umfassenden Einheit zusammengeknüpft. In seinen Vorlesungen zur Dialektik behauptet Schleiermacher, dass sich die Spontaneität der Vernunft auf die Sprache im Ganzen bezieht. Ähnlich wie Platon im Sophistes (261d–262c) Sprache in Substantive und Verbe („Onoma und Rhêma) einteilt, behauptet Schleiermacher, dass die „Gesamttätigkeit des Denkens“ in der Analyse der Urteilsbildung vollzogen wird, die als Verbindung der „Subjekts- und Prädikatsbegriffe“ fungiert.34 Dadurch kommt man zur Einsicht, dass „jeder Begriff […] Identität vom Besonderen und Allgemeinen“ ist.35 Schleiermacher illustriert dies am Beispiel der allgemeinen Begriffe „Hund“ und „Baum“, die von konkreten Gestalten ausgesprochen werden, aber als solche die Tätigkeit der Schematisierung durch ein sinnliches Bild voraussetzen, wonach der Terminus Hund für Golden Retriever und Baum für die deutsche Eiche (Quercus) gebraucht wird. Schleiermacher hat in seinen Vorlesungen zur Ethik (1812/13) diese zweifache Dimension der Sprache als Grundlage der hermeneutischen Interpretation hervorgehoben: „Von Seiten der Sprache angesehen, entsteht aber die technische Disziplin der Hermeneutik daraus, daß jede Rede nur als objective Darstellung gelten kann, inwiefern sie aus der Sprache genommen und aus 32  Ebd.,

17. vgl. Hendrik Birus, „Zwischen den Zeiten. Friedrich Schleiermacher als Klassiker der neuzeitlichen Hermeneutik“, in: Hermeneutische Positionen. Schleiermacher – Dilthey – Heidegger – Gadamer, hg. v. Hendrik Birus, Göttingen 1982, 15–58, bes. 35–37. 34  Vgl. KGA II/10, 2, 615. 35  Ebd., 616. 33  Dazu

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ihr zu begreifen ist, daß sie aber auf der anderen Seite nur entstehen kann als Action eines Einzelnen, und als solche, wenn sie auch ihrem Gehalte nach analytisch ist, doch von ihren minder wesentlichen Elementen aus freie Synthesis in sich trägt. Die Ausgleichung beider Elemente macht das Verstehen und Auslegen zur Kunst“.36 Im verstehenden Vorgang der Rekonstruktion der Gedankenentfaltung des Verfassers kommt die doppelte Funktion des Verstehens zum Ausdruck, nämlich der intentionale Bezug auf die Sprache durch die grammatische Interpretation und die Erfassung der Gedankenformulierung durch die „technische“ bzw. die psychologische Interpretation. Beide Formen der Interpretationen sind durchaus interdependent und bilden den einheitlichen Akt des Verstehens. Verstehen wird durch das „Ineinandersein“ dieser beiden Elemente der Interpretation ermöglicht, wobei grammatische und „technische“ Interpretation beide „einander völlig gleich“ stehen.37 Die hermeneutische Aufgabe als Verstehensvollzug kann somit erfolgreich gelöst werden, wenn beide Seiten der Interpretation als gleichgewichtig behandelt werden. Die Behauptung, dass die psychologisch-individuelle Interpretation das eigentlichste Ziel der hermeneutischen Kunstlehre Schleiermachers sei, wie dies Gadamer gemeint hat, entspricht nicht der ursprünglichen Intention Schleiermachers. Eine gelungene Interpretation kommt nach dem Urteil Schleiermachers nur unter der Voraussetzung zustande, dass sowohl „die Sprache in ihrer Objectivität als der Prozeß der Gedankenerzeugung“ erfasst werden sollten.38 Den hermeneutischen Vorgang des Verstehens kennzeichnet Schleiermacher in seiner Akademierede „Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch“ als „das allmähliche Sichselbstfinden des denkenden Geistes“; dies impliziert, dass wir uns im „Geschäft des Verstehens und Auslegens […] immer mehr gegenseitig unterstützen“.39 Somit gibt Schleiermachers hermeneutische Kunstlehre Standards bzw. Kanones im Hinblick auf die verantwortliche und zuverlässige Interpretation. Es scheint, dass Schleiermacher gewollt hat, die Hermeneutik im Zusammenhang mit der Dialektik zu thematisieren, da nach seinem Urteil die „Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens“ durch die Dialektik bewerkstelligt wird.40 Dialektik nämlich ist für Schleiermacher die spekulative Theorie des Wissens, das „Organon aller Wissenschaft“.41 36  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Werke. Auswahl in 4 Bänden, Bd. 2: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, hg.v. O. Braun, Leipzig 1913, 356. 37  Vgl. KGA II/4, 121. 38  KGA I/11, 621. 39  Ebd. 40  Vgl. KGA II/4, 120. 41  Vgl. KGA II/10, 2, 5.



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Interpreten von Schleiermachers Hermeneutik haben immer wieder versucht, seine Hermeneutik mit der kritischen Tätigkeit zu verkoppeln.42 Leider wurde die Kritik in Schleiermachers hermeneutischen Schriften stiefmütterlich behandelt. Einer der Gründe für die Vernachlässigung der Kritik im Opus Schleiermachers ist sicherlich, dass sein Kollege und Freund Friedrich Schlegel in seiner Notizensammlung „Zur Philologie“ Kritik als hermeneutische Kunstlehre etwa zehn Jahre vorher konzipiert hat. Schlegel hat sein Modell der Kritik aus der traditionellen ars critica, die eine Hilfsdisziplin der klassischen Philologie war, abgeleitet und der Kritik einen neuen, universal-hermeneutischen Sinn gegeben, während sein Zeitgenosse, der Theologe Schleiermacher, für die ausgearbeitete Kunst des universellen Verstehens den in der theologischen Auslegungspraxis eingebürgerten Terminus Hermeneutik präferiert hat. Dass Schlegel unter Kritik eine hermeneutische Kunstlehre verstanden hat, ist am deutlichsten aus seinem Lessing gewidmeten Essay „Vom Wesen der Kritik“ (1804) ersichtlich. Kritik impliziert dabei eine behutsame und feinsinnige Erschließung der ursprünglichen Intention des Verfassers: „Es ist nichts schwerer, als das Denken eines andern bis in die feinere Eigentümlichkeit seines Ganzen nachkonstruieren, wahrnehmen und charakterisieren zu können. […] Und doch kann man nur dann sagen, daß man einen Werk, einen Geist verstehe, wenn man den Gang und Gliederbau nachkonstruieren kann. Dieses gründliche Verstehen nun, welches […] Charakterisieren heißt, ist das eigentliche Geschäft und innere Wesen der Kritik“.43 Schlegel ist sich dessen bewusst, dass die Erforschung und Auswertung der philosophischen und kulturellen Überlieferung Kompetenz und kultivierte Urteilskraft des Interpreten voraussetzt. Der Aufsatz „Vom Wesen der Kritik“ wird mit der Behauptung abgeschlossen, dass Kritik, „der gemeinschaftliche Träger [ist], auf dem das ganze Gebäude der Erkenntnis und der Sprache ruht“.44 Die Tatsache, dass die Protagonisten des 18. Jahrhunderts, namentlich Kant, ihre Epoche als „Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen Gunter Scholtz, Ethik und Hermeneutik, Frankfurt/M 1995, 118 f. Schlegel, Werke, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner, Paderborn 1958 ff., Bd. 3, 60. 44  Ebd. 55. Wie umfassend und anspruchsvoll die Aufgabe des Kritikers ist, sieht man aus einer Aufzeichnung aus den „Fragmenten zur Literatur und Poesie“ (1797): „Der gute Kritiker und Charakteristiker muß treu, gewissenhaft vielseitig beobachten wie der Physiker, scharf messen wie der Mathematiker, sorgfältig rubrizieren wie der Botaniker, zergliedern wie der Anatom, scheiden wie der Chemiker, empfinden wie der Musiker, nachahmen wie ein Schauspieler, praktisch umfassen wie ein Liebender, überschauen wie ein Philosoph, zyklisch studieren wie ein Bildner, strenge wie ein Richter, religiös wie ein Antiquar, den Moment verstehen wie ein Politiker.“ (Schlegel, Werke – Anm. 43 –, Bd. 16, 138, Nr. 635). 42  Vgl.

43  Friedrich

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muß“,45 gekennzeichnet haben, beurteilt Schlegel als eine unrealisierbare Tendenz, weil diese abstrakte Kritik der Vernunft wenig Wert auf Förderung der Poesie und Kultur, resp. auf Verfeinerung des Kunstgefühls im Menschen gelegt hat: „Für die Kritik aber ist damit immer nicht viel gewonnen, solange man den Kunstsinn nur erklären will, statt daß man ihn allseitig üben, anwenden und bilden sollte“.46 In der neueren Forschung hat man versucht, den Begriff der Kritik in Schleiermachers Werk aufzuwerten und diese als Verbindungsglied von Dialektik bzw. Ethik mit ihren Hilfsdisziplinen zu deuten. Ob Kritik in einem engen Zusammenhang mit der Hermeneutik als Kunstlehre aufzufassen oder sogar mit ihr gleichzusetzen ist, bleibt eine offene Frage.47 Die hermeneutische Reflexion ist seit Schleiermacher immer wieder mit der Frage konfrontiert, wie das „Proteische“ des Lebens in seiner Fragilität und Individualität verstanden bzw. zur objektiven Erkenntnis erhoben werden kann. In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage, ob ein neuer kritischer Anschluss an Hegel neue Wege zu Bestimmung der Hermeneutik anbieten kann, wie es Dilthey gegen Ende des 19. Jahrhundert versucht hat, dessen Zielsetzung es war, die Menschheit, sofern sie „als geisteswissenschaftlicher Gegenstand für uns da ist“, zu erfassen und kritisch zu würdigen.48 Immer, wenn die beständigen Objektivationen des Geistes und des Lebens zum Gegenstand der hermeneutischen Reflexion genommen werden, ergibt sich auch die Möglichkeit der Vertiefung der menschlichen Selbstbesinnung und der Selbsterkenntnis. Es handelt sich, wie der späte Dilthey in Anschluss an Hegel behauptet hat, um das Ganze der geistigen Gebilde, worin der Einzelne eingebettet bleibt, daraus sich selbst versteht und seine Identität bestimmt. Die hermeneutische Reflexion hat als primäre Aufgabe, das Gebilde des Geistes zu verstehen und in seiner Relevanz für Kulturbildung einer Epoche zu würdigen. Eine Beurteilung des Interpretandums vom Standpunkt des Wahrheitsgehaltes sollte dabei auch ein substantielles Charakteristikum der philosophischen Hermeneutik sein. Gadamer hat Dilthey den Vorwurf einer „ungewollten und uneingestandenen Nähe […] zum spekulativen Idealismus“ gemacht und behauptet, dass Dilthey sich in seinen späteren Jahren mehr an Hegel als an Schleiermacher anlehnt und „dort von 45  So Kant in der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft; KrV A XI, Anm. 46  Schlegel, Werke (Anm. 43), Bd. 3, 57. 47  Vgl. Eilert Herms, „Die Ethik des Wissens beim späten Schleiermacher“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 73 (1976), 471–523; Gunter Scholtz, Ethik und Hermeneutik (Anm. 42), 118 f.; kritisch dazu Arndt, Schleiermacher als Philosoph (Anm. 4), 317. 48  Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften, Bd. 7, 81992, 86.



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Geist redet, wo er früher Leben sagte“. Gadamer behauptet, dass Dilthey in seiner späten Hermeneutik Hegels „begriffliche Entwicklung“ trotz seiner Kritik an Hegels Monismus wiederholt hat.49 Die Tatsache, dass Dilthey die Rolle des Geistes im Zusammenhang der Erklärung der universellen Hermeneutik thematisiert, ist ein Beleg dafür, dass er eindeutig auf der Linie von Schleiermacher steht, der behauptet hatte, dass man die Hermeneutik als eine universelle Kunstlehre des Verstehens behandeln kann, indem wir die hermeneutische Wahrheit gemeinschaftlich suchen und uns dabei „immer mehr gegenseitig unterstützen“, damit der Weg des sich selbst findenden Geistes ans Ziel gelangen kann. Das Gebilde des Geistes sollte gegen Beliebigkeit der Interpretationen abgesichert und vom Standpunkt der Relevanz für die Bildung der Kultur gewürdigt und beurteilt werden. Dies impliziert freilich eine Neudefinition der hermeneutischen Kunstlehre, wie sie Schleiermacher selbst konzipiert bzw. Dilthey in Anschluss an Hegels Lehre vom objektiven Geist als Grundlage der Geisteswissenschaften zu deuten versucht hat. Die Forderung nach einer normativen Disziplinierung des Verstehens in den Geisteswissenschaften wird immer wieder erhoben. Nachdem der antirealistische Prozess der Gadamerschen Hermeneutik im gegenwärtigen Diskurs immer mehr die Form des postmodernistischen Realismus angenommen bzw. sich einen Pluralismus der äquivalenten Interpretationen als Ziel gesetzt hat, erweist sich eine Neuanknüpfung an die hermeneutischen Normen und Standards Schleiermachers als sinnvoll. Eric D. Hirsch hat in seiner Besprechung von Gadamers Wahrheit und Methode für die Objektivität des Verstehens statt der Andersheit des Verstehens plädiert und sich somit für die Fortsetzung der hermeneutischen Tradition von Schleiermacher eingesetzt.50 Hirsch selbst hat betont, dass er sich bemüht hat, die Quintessenz der Schleiermacherschen Hermeneutik fortzusetzen. In Anschluss an Schleiermachers hermeneutische Kunstlehre hat E. D. Hirsch Hermeneutik so definiert: „the modest, and in the old fashioned sense, philological effort to find out what the author meant.“51 Ein Schritt über E.D. Hirschs Model der objektiven Hermeneutik hinaus wäre es, zu ergründen, ob die hermeneutische Reflexion das Gebilde des Geistes auch unter dem Wahrheitsanspruch, d. h. sub ratione veritatis analysieren und bestimmen kann.52 In diesem Zusammenhang wäre Hegels LöWahrheit und Methode (Anm. 13), 231. D. Hirsch, „Truth and Method in Interpretation“, in: The Review of Metaphysics 8 (1965), 488–507. 51  E. D. Hirsch, Validity in Interpretation, New Haven 1967, 57. 52  Diese Form der Interpretation der klassischen Texte „sub ratione veritatis“ hat vornehmlich Wolfgang Wieland in seinen umfänglichen Studien zu den Klassikern der Philosophie mit Erfolg angewendet: „Wer den Wahrheitsanspruch eines Autors 49  Gadamer, 50  Eric

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sung aus der zweiten Vorrede zu Enzyklopädie (1827) empfehlenswert, wo er behauptet hat, dass man Verstehen nicht bloß im Sinne der Rekonstruktion des Gedachten auffassen darf, sondern als „ein Fortschreiten der Wissenschaft selbst“ bzw. als „wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit“.53

ernst nimmt, arbeitet lediglich mit der Hypothese, daß das, was der Text zu sagen hat, möglicherweise wahr ist, mithin den von ihm intendierten Sachverhalt zu treffen fähig ist“ (W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 21999, 332). 53  TWA 8, 14.

Hegel und die „göttliche“ Natur der Sprache* Von Denis Thouard Die Studien über das Problem der Sprache bei Hegel, – ich nenne hier den Titel des bahnbrechenden Buches von Josef Simon1 – haben sich seit 30 Jahren so vermehrt, dass eine Übersicht jetzt kaum noch möglich ist. Das Thema Sprache gehört zum Kern seiner Philosophie. Namhafte Philosophen haben es in verschiedenen Perspektiven behandelt.2 Neben Einzelstudien sind auch Sammelbände und Monographien zum Thema erschienen, die es aber doch nicht erschöpft haben.3

*  Mein Dank gilt zuerst Simon Gerber (BBAW) für seine Korrekturvorschläge, die den Text vielfach verbessern konnten, den Teilnehmern der Tagung an der Akademie für ihre Fragen und Einwände und nicht zuletzt Antonios Kalatzis (Centre Marc Bloch, Berlin), dem ich wichtige Hinweise schuldig bin. Seit einer Magister Arbeit im Jahre 1987 hat mich das Thema immer wieder angesprochen. Diese erste Arbeit hatte mich bereits auf das Motiv der „göttlichen Sprache“ in der Phänomenologie des Geistes aufmerksam gemacht und ich hatte damals die Möglichkeit, es im Kolloquium von Karlfried Gründer an der Freien Universität zu diskutieren. Danach hat das Thema, obwohl mit Umwegen über Humboldt, Hamann, Schlegel oder Schleiermacher mich ständig begleitet, ich erwähne nur meinen Beitrag zu der Festschrift für Jürgen Trabant (Hegel. Zur Sprache, Tübingen 2002), der in verkürzter Form als Kapitel 5 meines Buchs Geteilte Ideen unter dem Titel „Das spekulative Epos“ erschienen ist (Berlin 2016, 127–144). 1  Josef Simon, Das Problem der Sprache bei Hegel, Stuttgart 1966. 2  Unter anderem: Bruno Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Frankfurt/M 1964; Karl Löwith, „Hegel und die Sprache“ in: Die neue Rundschau 76 (1965), 278–297; Hans Georg Gadamer, Hegels Dialektik, Sechs hermeneutische Studien, Tübingen 1980; Jürgen Habermas, „Arbeit und Interaktion“, in: Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt/M 1968; Jacques Derrida, „Le puits et la pyramide. Introduction à la sémiologie de Hegel“, in: Marges de la philosophie, Paris 1972, 97–127. Ihre Kommentare werden wiederum kommentiert, und dies ohne Ende. 3  Hegel. Zur Sprache. Beiträge zu einer Geschichte des europäischen Sprachdenkens, hg. v. Bettina Lindorfer und Dirk Naguschewski, Tübingen 2002; Hegel and Language, hg. v. Jere O’Neill Surber, New York 2006; Jim Vernon, Hegel’s Philosophy of Language, New York 2007; Jeffrey Reid, Real Words: Language and System in Hegel, Toronto 2007; Jere O’Neill Surber, „Hegel’s Philosophy of Language: The Unwritten Volume“, in: A Companion to Hegel, hg. v. Stephen Houlgate, Michael Baur, Oxford 2011, 243–261; Guillaume Lejeune, Sens et usage du langage chez Hegel, Paris 2014.

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Es kann also hier keineswegs die Rede davon sein, dieses Thema umfassend darzustellen, aber es kann auch nicht mehr nur eine einfache Entdeckungsreise unternommen werden, da das Thema bereits gut bearbeitet ist. Deswegen wird hier einfach ein Motiv ausgewählt und anhand desselben eine partielle Einsicht in das hegelianische Verständnis der Sprache zur Diskussion gestellt. Die vor Hegel herrschende Auffassung sah die Hauptfunktion der Sprache in der Kommunikation. Die Sprache war für die Menschen ein Werkzeug, um miteinander zu kommunizieren, also sich auszudrücken und sich mitzuteilen. Die Sprache war dabei mehr oder weniger zuverlässig, half oder hinderte die Mitteilung der Gedanken, war aber immer zweitrangig. Zuerst wird gedacht, dann mitgeteilt. Dass es nicht so einfach ist, beweist beispielsweise die Tatsache, dass man anfing, die Sprache in der Erkenntnislehre zu behandeln. Die Wörter seien an sich nicht so wichtig, aber könnten doch die ganze Philosophie verderben, wenn man sie nicht sorgfältig gebraucht. Deshalb hat John Locke ein eigenes Buch seiner Essays on human Understanding der Sprache, den Wörtern (Of Words), gewidmet. Aber obwohl in die Erkenntnislehre selbst eingebürgert, wurde die Sprache doch immer als ein Äußeres betrachtet, als etwas, das die reine Einsicht der Erkenntnis stört und verkehrt. Die Sprache bilde eigentlich etwas wie eine „Wolke vor unseren Augen“, meinte Locke.4 Sie ist voller Fallen. Man stolpert über die Wörter. Aufgrund dieser Gefahr haben sich viele Denker der Aufklärung mit der Sprache auseinandergesetzt, sei es im Sinne einer philosophischen Sprachlehre, einer Untersuchung über den Ursprung der Sprache oder mit dem Entwurf einer Pasigraphie; die Sprache wurde zum Hauptthema, aber damit wurde sie nicht unbedingt besser verstanden. Bei Hegel wird die Sprache nicht nur als Gegenstand der Untersuchung betrachtet, sondern als Struktur des Denkens in ihrem Wirken beobachtet. In diesem Sinn bietet Hegel etwas Neues sowohl im Vergleich mit der Aufklärung als auch mit Denkern wie Herder, der sich bekanntermaßen gegen eine einseitige Auffassung der Sprache als Kommunikationsmittel wehrte. Für Herder nämlich war Sprache für das Denken bildend. Er trug wesentlich bei zur Abkehr von der Auffassung, wonach die Sprache hauptsächlich im Dienst der Mitteilung stehe. Jede Sprache entwirft nach Herder eine eigene Welt. Beide Einseitigkeiten will Hegel aufnehmen und aufheben. Tatsächlich ist die Sprache beides, Ausdruck und Mitteilung, und noch mehr. Die Voraussetzungen der Mitteilung, also der Sprache im Dienst des 4  John

Locke, Essay on Human Understanding Book III, ix, 21.



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Verkehrs, hat Hegel in der Phänomenologie des Geistes gezeigt, ferner die Beziehungen zwischen Wörtern und Dingen beim Benennen. Hegel liefert in dieser Schrift das, was man eine hermeneutische und pragmatische Auffassung der Sprache nennen könnte. In der gereiften Darstellung der Enzyklopädie gibt er dagegen vor allem einen Begriff der Sprache, wie sie ist, nicht wie sie gesprochen wird. Immerhin ist ihm die Sprache etwas Grundlegendes, weil ihr Verfahren zutiefst dialektisch ist. Es gibt vielleicht keinen besseren Beweis für die Macht der Dialektik als eine ruhige Betrachtung der Sprache im Sprechen. Ist das auch der Grund, warum ihr Hegel eine „göttliche“ Natur zuschreibt? Dieser Frage werden wir uns zuwenden, nachdem wir vorher, leider nur skizzenhaft, an die Stellung der Sprache in seinem Denken erinnert haben. Hegel verteidigt ohne Umschweife die These, dass Denken Worte braucht, dass wir in „Namen“ denken (Enzyklopädie, GW 20, § 463).5 Er ist überzeugt, dass es ohne die Bestimmtheit, die die sprachliche Artikulation bietet, kein Gedanken gibt. Er glaubt auch, dass die Sprache die Welt in den Begriff aufnehmen wird und dass das Logische im nicht-sprachlichen Wesen wirkt und dessen eigene Gestaltung, dessen sprachlichen Ausdruck vorantreibt. Wir sehen das in seiner Hierarchie der Künste, wo die Sprachkünste einen Vorzug gegenüber den anderen haben. Das Logische in der Reinheit seiner Selbstbewegung wird in der Wissenschaft der Logik beschrieben. Jede Zufälligkeit wird dann aufgehoben, aber durch den Filter der Sprache können logische Bewegungen immer in ihrer reinsten Form gezeigt werden. 1. Sprache und Sprechen (Phänomenologie) Wie ist das Verhältnis zwischen der Enzyklopädie als Darstellung allen Wissens und der Hermeneutik, die hier als Aneignung durch ein Bewusstsein von Wissen in Zeichenform verstanden werden kann? Hier muss man sich mit einer sehr schematischen Darstellung begnügen. Zuerst kann man feststellen, dass Hegel die Sprache zum wirksamen Prinzip der Erfahrung macht, so dass die Phänomenologie des Geistes auch als eine Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins erscheint. Die Beweisführung, die Hegel in dem ersten Kapitel der Phänomenologie des Geistes liefert, gilt auch als eine Reflexion über zwei grundsätzlich verschiedene Typen von sprachlichen Verhältnissen: Man kann die Sprache als Verlängerung des Körpers betrachten, als kontextuell bezeichnend, so wenn ich rechts und links sage, oder geradeaus, oben und unten, oder dieses, jenes, hier und dort, ich und du. In solchen 5  Dazu Josef Simon, „In Namen Denken. Sprache und Begriff bei Hegel“, in: Hegel. Zur Sprache (Anm. 3), 33–46.

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Fällen spricht man immer situativ, was im ursprünglichen Kontext beispielsweise des Alltagslebens meist gut funktioniert. Oder man kann versuchen, durch die Sprache Berichte für einen Dritten, nicht Anwesenden, zu geben oder verschiedene zeitliche Geschehnisse zu unterscheiden und zu hierarchisieren, und dann genügt die einfache Bezeichnung nicht mehr, denn sonst entstehen allzu viele Missverständnisse. Es wird eine Syntax gebraucht, um den Zusammenhang zwischen den Aussagen, unabhängig von deren Aussprache, zu bestimmen. Dieser Unterschied wurde von Hegel minutiös rekonstruiert. Durch die Sprache erfährt das Bewusstsein, das glaubt, einen unmittelbaren Zugang zum Wissen zu haben, die Vermittlung. Es gibt kein unmittelbares Wissen, sondern nur ein bestimmtes Meinen, eine Meinung, die sofort verschwindet. Die von der Sprache bereitgestellten Bezeichnungen – die Zeigewörter oder Deixeis –, die es uns ermöglichen, uns auf die unmittelbare Umgebung zu beziehen, die Welt um uns herum zu bezeichnen und uns dort zu orientieren, bringen uns kein Wissen. Oder besser gesagt: Sie geben uns das Wissen über die Negation unseres Primärwissens, unseres angeblichen Wissens. Durch dieses und jenes erhält das Bewusstsein nichts von dem, was es anstrebt. Sein Wissen wird nicht erhöht. Wird es besser durch das jetzt und das hier? Kaum. Hier zu sagen, verliert seine Wahrheit, die Wahrheit, die wir anstreben, sobald wir den Ort verlassen haben. Jetzt zu sagen wird sofort widerlegt, denn was in diesem Moment wahr schien, es ist Tageslicht, ist bald falsch, weil die Nacht inzwischen gekommen ist. Die Sprache, mit der das Bewusstsein seine Wahrheit aussagt, sagt etwas anderes aus, nämlich ein Allgemeines. Die Sprache spricht wahrer als das Bewusstsein: sie sagt das Wahre, wo das Bewusstsein in seinem besonderen Meinen gefangen ist. Aber es ist auch diese Sprache, die die Wahrheit des Bewusstseins aussagt, das also, was in den Behauptungen des Bewusstseins gültig bleibt: „Die Sprache aber ist, wie wir sehen, das wahrhaftere; in ihr widerlegen wir selbst unmittelbar unsere Meynung, und da das Allgemeine das wahre der sinnlichen Gewißheit ist, und die Sprache nur dieses Wahre ausdrückt, so ist es gar nicht möglich, dass wir ein sinnliches Seyn, das wir meynen, ja sagen können.“6 Ohne alle Phasen der hegelschen Beweisführung zurückzuverfolgen, können wir festhalten, dass mit dem Motiv der unmittelbaren Widerlegung der Sprache, welche den Ansprüchen des Bewusstseins sofort widerspricht, die noch wesentlichere Figur der Inversio bekräftigt wird, und zwar unter ihren beiden Bezeichnungen Umkehrung und Verkehrung. Wir dachten, wir wollten etwas Konkretes, und die Sprache verkehrt unser Meinen, um uns dazu zu bringen, die Wahrheit unseres Meinens, nämlich seine Subjektivität, zuzu6  GW 9,

65.



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geben (ohne dass wir das sofort verstehen). Wir dachten, wir benutzten Sprache, um uns einem Gegenstand zu nähern. Wir entdecken aber, dass es die Sprache ist, die uns benutzt, um einen möglichen Begriff auszusagen. Die sinnliche Gewissheit hebt sich selbst als sinnlich auf und weist dabei ihre sinnvolle, begriffliche Bestimmung als ihre Wahrheit auf. Dies kann auch so ausgedrückt werden: Das Gewissen glaubt, dass es die Sprache benutzt, aber in ihr ist es bereits der Geist, der sich ausspricht und der seine Wahrheit ist. Das gilt auch für das Pronomen: Das Bewusstsein glaubt, sich unmittelbar als das, was es ist, aussagen können. Es sagt „Ich, Ich“. Dabei aber sagt es nichts anderes als eine allgemeine Kategorie, denn jeder kann ein solches Ich sagen, das also alle „Ich, Ich“ überschreitet. Die phänomenologische Erfahrung wird durch die immer wiederkehrende Kluft zwischen dem Ziel des Bewusstseins und seiner Aussage genährt, die es ihm ermöglicht, eine Wahrheit, seine Wahrheit zu ermitteln. Dass die aufgestellten Behauptungen unfehlbar enttäuscht werden, drückt sich in der Sprache aus, in der die Ansprüche auf Wissen befestigt und erhalten bleiben, so dass die Behauptungen immer wieder mit ihrem Gegenstand verglichen werden können und immer wieder scheitern. Die Sprache wendet die Ansprüche des Bewusstseins gegen dieses selbst, indem sie diese widerlegt, d. h. indem sie zeigt, dass die aufgestellten Behauptungen das Gegenteil dessen sagen, was sie zu sagen meinen. Aber sie geht über diese einfache Widerlegung des Unmittelbaren hinaus: Sie setzt eine Dialektik in Gang, die das Bewusstsein über sich hinaus zu seiner allgemeinen Wahrheit führt. Das ist es, was Hegel am Ende als die „göttliche Natur“ der Sprache (des Sprechens) bezeichnet. Warum göttlich? Göttlich darin, dass sie es schafft, „die Meynung unmittelbar zu verkehren, zu etwas anderem zu machen, und so sie gar nicht zum Worte kommen zu lassen“.7 Indem Hegel von der „göttlichen Natur“ des Sprechens und damit der Sprache, wie sie praktiziert wird, spricht, verwendet er den Begriff Verkehrung, der nicht einfach eine Umkehrung bedeutet, wo das Aussagen das Ausgesagte widerlegt, sozusagen in einer einfachen Beziehung, sondern der den Eintritt in einen Prozess bedeutet, in dem der endliche Glaube verloren gehen muss, um allmählich als seine Wahrheit ein zugleich vorläufig allgemeineres und konkreteres Wissen zu erkennen. Der Rückfall in die unmittelbare Täuschung bedroht das Bewusstsein auf dem Weg seiner Erfahrung, aber ungeachtet dieser Rückfälle geht es seiner Wahrheit entgegen, und zwar unter der Führung der Sprache, die mehr als die Erfahrung weiß, weil in sie die Verbindung und die gegenseitige Anerkennung einer Vielheit von Bewusstseinen eingeflossen ist. 7  GW 9,

70.

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Die „göttliche“ Natur der Sprache besteht also zunächst darin, das Besondere ständig zum Allgemeinen zu führen, sich in jeder Aussage zu widerlegen, damit die Bedeutung entsteht, die sich aus der bloßen Negation der besonderen Bedingungen einer Äußerung ergibt. Darin liegt noch keine Ontologie der Sprache, wie das später in der hermeneutischen Tradition geschieht, sondern nur ein feines Hören auf die Pragmatik des Sprechens. 2. Sprache, Namen, Zeichen (Enzyklopädie) Die Phänomenologie des Geistes analysiert die Auswirkungen des Sprechens und damit der subjektiven Gestaltung der Sprache. Die Sprache tut, aber sie benennt auch. Das ist der andere Aspekt, der ebenfalls kurz dargestellt werden muss. Sprache sei eine namengebende Kraft, können wir in der Jenenser Realphilosophie lesen.8 Der Name erhebt das Ding zur Bedeutung, er reduziert es auf sein wahres Wesen, sein geistiges Wesen. „Adam gab allen Dingen einen Nahmen, diß ist das Majestätsrecht und erste Besitzergreiffung der ganzen Natur, oder das Schaffen derselben aus dem Geiste“.9 Die intellektuelle Aneignung der Welt erfolgt durch Namen, die ihr ihre sinnliche Besonderheit, die Bilder, entziehen, um sie zur Bedeutung zu bringen. Namen sind sofort das Element des Denkens: Wir denken in Namen. Allerdings ist eine große Masse von Namen noch kein Wissen. Die Namen, die die Dinge zur Geistigkeit erheben, sind auch selbst Dinge. Auf der einen Seite wäre es notwendig, sie zu vervollständigen, um eine Kenntnis von allem, was ist, zu erlangen. Aber selbst das würde nicht ausreichen, wie es das Scheitern der barocken Enzyklopädien zeigt, die wahllos, polymathisch, alle Arten von Informationen ansammelten. Solange wir diese Informationen nicht durchdacht haben, haben wir keine Wissenschaft. Dies ist im Vorwort zur Phänomenologie einprägsam formuliert: „So wenig, wenn ich sage: alle Tiere, diß Wort für eine Zoologie gelten kann, ebenso fällt es auf, daß die Worte des Göttlichen, Absoluten, Ewigen usw. das nicht aussprechen, was darin enthalten ist; – und nur solche Worte drücken in der That die Anschauung als das Unmittelbare aus. Was mehr ist als ein solches Wort, der Uebergang auch nur zu einem Satze, ist ein Anderswerden, das zurückgenommen werden muß, ist eine Vermittlung.“10 Hegel kombiniert das Bewusstsein der Namengebung mit einer Kritik am Wissen, das auf eine Reihe von Namen reduziert ist. Aus diesem Grund zielt 8  GW 8,

189. 190. 10  GW 9, 19. 9  Ebd.,



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die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften darauf ab, den Begriff der wichtigsten Wissenschaften zu vermitteln, vor allem dadurch, dass sie die Kohärenz allen Wissens erzeugt.11 Die Enzyklopädie kann keine einfache Taxonomie sein: Sie muss den Begriff erstellen und seiner Entwicklung folgen.12 Sie muss daher die Bewegung der Wissensproduktion umfassen, die die Sprache als dialektischen Operator einbezieht. Tatsächlich ist eine gekürzte Version der Phänomenologie in der Enzyklopädie enthalten. Das Hegelsche System bietet in seiner Idee die Darstellung des objektiven Wissens und gleichzeitig des subjektiven Akts seiner Aneignung. Auf diese Weise versöhnt Hegel im Prinzip die Bedeutung der Nomenklatur mit dem hermeneutischen Ansatz, der auf die Auswirkungen der Sprache achtet. Im Titel eines kürzlich erschienenen Buches hat Eleonora Caramelli zu Recht das Verhältnis von Sprache und Begriff in Hegels Werk dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie auf „das Erbe des Sinnlichen“ (Eredità del sensibile) verwies.13 Die Sprache mag den Begriff in Gang setzen, aber sie trägt die Spur des Sinnlichen in sich, bis in den Bereich der Bedeutung. Die Philosophie ist ständig bestrebt, die von der Sprache getragene Vorstellung zu überwinden, um den Begriff hervorzubringen (oder freizulassen), aber sie kann dies nur in der Sprache tun, mit den Mitteln der Vorstellung also, welche die Philosophie immer mit dem Rückgriff auf die bekannte, routinemäßige Wiederholung bedroht. Hegels Anschauung der Sprache beruht einerseits auf der Überwindung der sinnlichen Dimension zugunsten der reinen Geistigkeit, andrerseits aber auf der Wichtigkeit der Namen als Wörter, die ihre Sinnlichkeit vergessen machen und sich folglich dem Denkprozess nicht in den Weg stellen.14 11  Die Enzyklopädie fängt quasi verbatim mit dieser Bemerkung an, die die Distanz zwischen dem Namen und sogar der Definition und dem (entfalteten) Wissen darlegt: Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817), GW 13, 15, Einleitung, § 1. 12  Es ist genau der Einwand, den Hegel gegen Hamann erhebt: „Hamann hat sich seinerseits die Mühe nicht gegeben, welche, wenn man so sagen könnte, sich Gott, freilich in höherem Sinne, gegeben hat, den geballten Kern der Wahrheit, der er ist […] in der Wirklichkeit zu einem System der Natur, zu einem System des Staats, der Rechtlichkeit und Sittlichkeit, zum System der Weltgeschichte zu entfalten, zu einer offenen Hand, deren Finger ausgestreckt sind, um des Menschen Geist damit zu erfassen und zu sich zu ziehen, welcher ebenso nicht eine nur abstruse Intelligenz, ein dumpfes konzentriertes Weben in sich selbst, nicht nur ein Fühlen und Praktizieren ist, sondern ein entfaltetes System einer intelligenten Organisation, deren formelle Spitze das Denken ist […]“, Hegel, „Rezension zu Hamanns Schriften“ (1828), in: TWA 11, 330–331. 13  E. Caramelli, Eredità del sensibile. La proposizione speculativa nella Fenomenologia dello spirito di Hegel, Bologna 2015. 14  Dazu der Aufsatz von C. Colliot-Thélène, „Logique et langage. L’idéalisme spéculatif“, in : Archives de philosophie 62 (1999), 17–45.

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Auf der einen Seite wird das Problem der Sprache im Zusammenhang mit der Bildung des spekulativen Idealismus verstanden, wo eines der wesentlichen Themen die Überwindung der Trennungen ist, die Kant aufgewiesen hatte und die er durch Synthesen zu überbrücken versuchte. Hegel betrachtet diese Synthesen jedoch als ein Eingeständnis der Schwäche und eine hemmende Markierung des Empirismus innerhalb der kantischen Kritik, deren Bestreben ansonsten richtig gewesen sei, da es Kant in der transzendentalen Deduktion gelungen sei, die Identität der transzendentalen Apperzeption an der Spitze des Gebäudes zu etablieren. Das Ich war, um es mit Hegels Worten auszudrücken, der Begriff. Einfach gesagt: Kant folgte seiner Inspiration nicht bis zum Ende und räumte den ererbten Formen zu viel ein. Zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zwischen Verstand und sinnlicher Anschauung musste Kant eine Vermittlung finden, um eine Synthese zu machen. Aber damit gab er zu, dass der Versuch im Voraus scheitern musste. Erst die zweite Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft habe gezeigt, dass das Prinzip der Schlussfolgerung der Verstand und nicht die Einbildungskraft ist, und den Weg zu einem konsequenten Idealismus gewiesen. Die Gegensätze spiegeln sich in den Bedeutungstheorien wider, die sich jeweils aus diesen Positionen ergeben: Für Kant muss die Kategorie mit der Anschauung in Beziehung gesetzt werden, um Sinn zu machen, um mit Sinn ausgestattet zu werden, während für Hegel der logische Prozess dasjenige ist, was von sich selbst und an sich Sinn macht. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass Hegel die auf Prozesshaftigkeit basierenden Denkformen radikal neu denkt. Deshalb ist die Logik, wie sie in dem detailliertesten seiner Werke, der Wissenschaft der Logik, dargelegt wird, nur im Umriss als Prozess der logischen Bewegung dargestellt, der sich in ihr in voller Lesbarkeit entfaltet, aber sowohl der Natur als auch der geistigen Welt innewohnt. Es geht nur darum, dies zu erkennen. Der Sinn ist also im Hegelschen System sich selbst inhärent und muss nur in seinen verschiedenen Darstellungsformen reflektiert, erkannt werden, während er bei Kant ständig in einer Synthese der Erfahrung produziert wird. Die These von der Allgegenwart des Logischen ist charakteristisch für das Hegelsche Denken. Da das Sinnliche bereits begrifflich strukturiert ist, wohnt das Logische in der Sprache. Aber wie kommt die Bedeutung des Sinnlichen heraus? Für Hegel ist die Sprache nicht nur für den Verkehr da, also nicht nur ein Werkzeug der Kommunikation für Bedeutungen, die unabhängig von ihr im Geist gebildet werden, sondern sie ist im Gegenteil selbst der Ort der Bestimmung von Bedeutungen und ihrer Freilassung vom Sinnlichen: Der geäußerte Laut zerstört das Bild, um nur die Idealität einer Abstraktion zu bewahren, die für die Arbeit des Geistes perfekt verfügbar ist und die ihre ei-



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genen Gedankenbestimmungen in ihm niederlegen kann. Die „Hegelsche Sprachtheorie“, wie die ersten Abschnitte der Phänomenologie des Geistes, aber vor allem § 459 der Enzyklopädie sie darstellen, gründet auf der Macht der Negativität des Zeichens. Sprachliche Zeichen – Laute – sind nämlich das Sinnliche, das das Sinnliche abschafft, um den Sinn zu befreien. Der Name ist also die Negation der bezeichneten Sache. In Namen, die sinnliche Formen der Einbildungskraft sind, kann sich der Geist aufgeben, sich entfremden, weil die Namen bereits die Unterdrückung des Sinnlichen sind, eine objektive Form der Vermittlung und damit eine volle Objektivität. Durch das Zeichen hebt sich das Sinnliche auf, der Geist erreicht damit die reine Bedeutung. Beim Namen sind wir bereits im Geiste. In der enzyklopädischen Behandlung der Sprache macht Hegel sichtbar, warum das Logische ihr innewohnt. Diese Versöhnung der hermeneutischen und objektiven Dimensionen der Sprache setzt jedoch die Realisierung des spekulativen Systems voraus, das die Identität von Identität und Differenz begründet. 3. Die „göttliche“ Natur der Sprache Die Sprache verkehrt unsere Meinung und bringt uns nolens volens zum richtigen Wissen. Ist sie deswegen „göttlich“? Warum wird sie eigentlich von Hegel so bezeichnet? „Göttlich“ ist noch, zu diesem Zeitpunkt, ein bloßer Name. Wir wissen, dass „die Worte des Göttlichen, Absoluten, Ewigen usw. das nicht aussprechen, was darin enthalten ist“.15 Was mit diesem „göttlichen“ unmittelbar ausgesagt wird, muss noch entfaltet, auseinandergesetzt werden, damit es begriffen werden kann bzw. damit es zu einem Begriff kommt. Etwas geschieht, das wir tun, ohne aber zu wissen, dass wir es tun, wie es geschieht. Eine erste Antwort würde die Trennung des subjektiv Gemeinten vom objektiv Verursachten betonen. Das entspricht einem populären Bild der Dialektik, wonach sie die fragwürdige Fähigkeit hätte, die Einseitigkeit und Endlichkeit des subjektiv Gemeinten durch die objektive Wahrheit zu ersetzen. Diese Denkfigur hat in der Kulturgeschichte verschiedene Gestalten hervorgebracht. Ich erwähne drei davon, um die Wichtigkeit der kleinen Stelle der Phänomenologie zu unterstreichen. Zuerst die griechische Tragödie. In der tragischen Ironie weiß der Held überhaupt nicht, was er macht, und der Zuschauer genießt den Blick auf 15  GW 9,

19.

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diese Diskrepanz, die dem Hauptdarsteller entgeht. Das ist paradigmatisch der Fall bei Ödipus oder auch in Euripides’ Bacchanten (V. 435–520); dort hat Pentheus in dem Fremden den Dionysos nicht wiedererkannt, was natürlich gefährlich ist. In den Anfängen der Geschichtsphilosophie und in den ersten Gesellschaftstheorien der Neuzeit16 wurde oft bemerkt, dass die tatsächlichen Wirkungen bestimmter Handlungen überhaupt nicht davon abhängen, dass man sie intendiert hat. Das ist umso auffallender, als die damalige rationalistische Auffassung des Sinns eben überall den Vorrang der Intention behauptete. Der Mensch sei frei, solange er nach einem Vorsatz, also rationell, handle. Nichtdestotrotz wurde bemerkt, dass dies auf der Ebene der Gesellschaft und der Geschichte nicht immer gilt. Die objektiven Wirkungen subjektiver Handlungen münden in das, was Hegel später als den „objektiven Geist“ bezeichnen wird. Die meisten Menschen wissen also eigentlich nicht, was sie tun, als würde die Vernunft, die der Geschichte innewohnt, mit uns listig spielen. Das dritte Beispiel dieser Verkehrung ist religiös und politisch. Es zeigt, wie Vertreter dissidenter oder häretischer Ansichten durch Autorität wieder zur geltenden Lehre gebracht werden. Wer über die objektive Bestimmung der Wahrheit verfügt, ist Teil des objektiven Geistes, sei es eine Kirche oder eine Partei, nein: als die Kirche, die Partei. Eine Figur verkörpert die verdoppelte tragische Ironie einer solchen Bekehrung: Nikolai Bukharin, selbst ein ausgewiesener Kenner des dialektischen Materialismus, musste als besonderer Intellektueller Gründe finden, um den eigenen Standpunkt, seine „Meinung“, zugunsten der Partei aufzugeben.17 Die Wahrheit der Dialektik konnte sich also auch gegen den Dialektiker behaupten. Aus diesen drei Fällen wird ersichtlich, warum die Formulierung, die Hegel am Ende des Kapitels „Die sinnliche Gewißheit“ auswählt, nicht zufällig ist. Im Gegenteil. Indem die Verkehrung ans Licht tritt, sind es gleichzeitig verschiedene Facetten und Deutungen der Kehre, die unserer Aufmerksamkeit bedürfen: Umkehrung, Verkehrung, Bekehrung … Die Welt der Philosophen ist eigentlich eine „verkehrte Welt“.18 Aus dem semantischen Spektrum dieser 16  Es ist hier unnötig, auf Beispiele zu verweisen. Der Leser kann an die Argumentationen von Vico, Mandeville, Adam Smith, Steuart usw. denken. Die Denkfigur wurde immer wieder von den Apologeten der Vorsehung angeboten; interessant zu sehen ist, dass sie der Vorstellung der Vorsehung überlebt, von Mandeville bis zu dem Begriff einer „Tragödie der Kultur“ bei Simmel. 17  Siehe seinen „Brief an Koba“ (vom 10. Dezember 1937). Seine letzten Jahre sind eindrucksvoll dargestellt von Karl Schlögel, „Bucharins Abschied“, in: Terror und Traum. Moskau 1937, München 2008, 661–684. 18  Phänomenologie, 121 (Kraft und Verstand); über diesen Ausdruck, siehe H. G. Gadamer, „Hegel – die verkehrte Welt“, in: Hegels Dialektik, Tübingen 1980, 31–47.



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Wörter ergibt sich die Verteilung der Dimensionen, in denen diese „Verkehrung“ geschieht. Das sind die sozialen Beziehungen mit dem Verkehr, die Bewegungen in beiden Richtungen, aber auch die sprachlichen und logischen Übergänge, die Übersetzung sowie die logische Umkehrung, die sinnlose und sogar unsittliche Verkehrung, bis hin zur religiösen Bekehrung.19 Die „göttliche“ Natur der Sprache ist demnach auch in Beziehung zu der Sprache des Göttlichen zu lesen und sogar zu den Sprachen: Der innere Widerspruch der göttlichen Sprache besteht ja darin, dass sie mehrsprachig ist, wenigstens hebräisch und griechisch. In diesen zwei Sprachen ahnt der Philosoph die Zusammenführung der zwei Testamente, gut reformatorisch ausgedrückt, Lex und Evangelium. Die Auffassung des Hebräischen fußt auf den Debatten über die „Ebräische Poesie“, wie sie von Lowth, Michaelis, Hamann und Herder geprägt wurden.20 Im deutschen Kontext der Spätaufklärung war die Reflexion über die Sprache immer auch eine Stellungnahme zum Hebräischen. Die Abhandlung von Herder Über den Ursprung der Sprache, die wohl markanteste sprachtheoretische Schrift der Zeit, war nicht von seiner Auffassung des Hebräischen zu trennen, wie die Forschung mittlerweile vielfach belegen konnte.21 Das Bild von der sinnlichen Sprache des Ursprungs war davon geprägt. Hegel hat diesen Stoff in seinen frühen Arbeiten intensiv behandelt und die Entgegensetzung von „jüdischem“ und „christlichem“ Geist diente ihm 19  In diesem Kontext verweise ich auf die drei Bücher der Eleonora Caramelli, die mehrmals auf diese Semantik hinweist, sei es um den „spekulativen Satz“ zu erläutern, um den religionsphilosophischen Weg von der Verkehrung zu der Versöhnung über die Bekehrung nachzuspüren, oder der Präsenz der biblischen Problematik in der Sprachphilosophie Hegels überhaupt. Ich verweise auf E. Caramelli, Eredità del sensibile. La proposizione speculativa nella Fenomenologia dello spirito di Hegel, Bologna 2015, 30 ff.; Lo spirito del ritorno. Studi su concetto e rappresentazione in Hegel, Genova 2016, 87 ff.; ferner: Hegel et le signe d’Abraham. La confrontation avec la figure d’Israël (1798–1807), Paris 2018. 20  Für eine knappe Darstellung, Denis Thouard, „Hamann und der Streit um die Poesie der Hebräer“, in: Achtes internationales Hamann-Kolloquium an der Universität Halle-Wittenberg. Die Gegenwärtigkeit J. G. Hamanns, hg. v. Bernhard Gajek, Frankfurt/M und Bern 2005, 321–334. 21  So Daniel Weidner, der, nachdem er Herders Ausführungen zum „ersten Wörterbuch“, das „aus den Lauten aller Welt gesammelt“ war, zitiert hat, auf diese Weise kommentiert: „Dabei entwickelte Herder die Vorstellung der ursprünglichen, sinnlichen Sprache immer am Paradigma des Hebräischen, so daß es kein Zufall – und auch keine Anwendung einer allgemeinen Sprachtheorie – ist, dass die Charakteristika der ursprünglichen Sprache jetzt in der Beschreibung des Hebräischen wiederkehren“; in: Urpoesie und Morgenland. J. G. Herders Vom Geist der Ebräischen Poesie, hg. v. Daniel Weidner, Berlin 2008, 124. Siehe auch Christoph Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. J. G. Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes, Tübingen 1999.

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lange als Interpretans, um die eigene Begrifflichkeit zu bearbeiten. Es liegt nahe, dass er auch zu Kant Stellung nimmt, wenn er sich mit dem Judentum auseinandersetzt. Was unterscheidet Juden und Christen? Sie berufen sich auf dieselbe Geschichte, aber deuten diese jeweils anders. Bei den Juden wird Gott in seiner Majestät geehrt, der getrennt und entfernt bleibt. Bei den Christen hat sich Gott vermenschlicht, hat sich seiner Göttlichkeit in der Selbstverneinung des Kreuzes anscheinend entäußert, in der kenosis, um sich als Geist wieder zu behaupten. Von dem monotheistischen Text bietet das Christentum also eine andere Lesart als das Judentum. Die Sätze sehen gleich aus, klingen aber anders. Diese Andersheit wurde von Hamann mit dem Unterschied der beiden Sprachen verglichen: der Unterschied, dass im hebräischen die Vokale nicht mitgeschrieben werden, im Gegensatz zum Griechischen, der Sprache des Evangeliums, wurde theologisiert. Wie auf dem Münster zu Straßburg die Synagoge als blind dargestellt wurde, wurde auch das Hebräische sozusagen stumm gemacht und unterstellt, dass erst die christliche Botschaft ihre Erzählung, ihre Sprache hörbar macht. In der Aesthetica in nuce liest man: „Versucht es einmal die Iliade zu lesen, wenn ihr vorher durch die Abstraction die beyder Selbstlauter α und ω ausgesichtet habt, und sagt mir eure Meynung von dem Verstande und Wohlklange des Dichters.“22 (N II, 207). Dazu kommt ein weiteres Motiv, das auch bei Hamann sehr präsent ist: die schlechte (d. h. schlichte) Sprache des Evangeliums, das durchaus nicht im attischen Griechisch aufgeschrieben wurde.23 Darüber klagte bereits Erasmus. Aber Hamann verteidigt die muttersprachliche Umgangssprache gegen die Sprache der Gelehrten. Theologisch gedeutet wird es zu einem Zeichen der Kondeszendenz Gottes, der Synkatabasis: Gott macht sich zu nichts, übernimmt die μορφὴ δούλου (Philipper 2, 7), drückt sich durch das allerstvulgärste Idiom aus, im Sinne also der Entäußerung. So Hamann: „Es gehört zur Einheit der göttlichen Offenbarung, dass der Geist Gottes sich durch den Menschengriffel der heiligen Männer, die von ihm getrieben worden, eben so erniedrigt und seiner Majestät entäußert, als der Sohn Gottes durch die Knechtsgestalt und wie die ganze Schöpfung ein Werk der höchsten Demuth ist.“24 Aus dieser Entäußerung kommt der Geist heraus: So wäre er der spekulative Gewinn dieser Bewegung. Der Geist arbeitet sich am Jüdischen ab, opfert sich und entleert sich, um dann seine Botschaft, als Leben und Weg und Wahrheit (Johannes 14, 6) zu behaupten.

22  Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke, hg. v. Josef Nadler, Wien 1950, Bd. 2, 207. 23  Vgl. in: ebd., 169–173 („Kleeblatt hellenistischer Briefe; 1759–1760). 24  Ebd., 171.



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Diese theologische Figur wirkt bereits auf der Ebene der Alltagssprache und erweist ihre Richtigkeit in der Pragmatik der Rede, die Hegel so stark nachweisen kann. Die Negation am Werk in der Sprache als Wirkung der Zeit (Enzyklopädie, GW 20, § 459) impliziert ein „Verschwinden des Daseins“ durch den Ton. Die Sprache wiederholt beim Sprechen die Vernichtung des Unmittelbaren, die auch jedes Mal die Opferung des Endlichen inszeniert. Die Vorlesungen über die Philosophie der Religion belegen präzis, in welchem Sinn dies zu verstehen ist. Zentral dabei ist die Rolle, die Hegel der Auferstehung Christi zuerkennt. Gegen den philosophischen Gedanken der Unsterblichkeit, der von Platon bis Kant bevorzug wurde, betont er die Negativität der Auferstehung. Die Deckung von Sprache als gesprochener Rede und Tod Christi ist auffallend. Beide führen einen Prozess der Umkehrung aus: „Mit dem Tode Christi beginnt aber die Umkehrung des Bewußtseins. Der Tod Christi ist der Mittelpunkt, um den es sich dreht; in seiner Auffassung liegt der Unterschied äußerlicher Auffassung und des Glaubens, d. h. der Betrachtung mit dem Geiste, aus dem Geiste der Wahrheit, aus dem heiligen Geiste.“25 Der Durchgang durch den Tod bezeichnet die buchstäbliche Endlichkeit des Menschen, der Jesus auch als Mensch nicht entgehen kann. Der Tod ist der Ausdruck, aber auch die Negation dieser Endlichkeit. Für Hegel ist er der „Prüfstein“26 oder der Drehpunkt, dem eine wesentliche Funktion zukommt. Die Umkehrung, um die es geht, wird als Verkehrung,27 aber auch als „innere Konversion und Umwandlung“28 bezeichnet oder in dem Manuskript zur Vorlesung 1821 als „innere Conversion, Umwendung“ und sogar „vollkommene Revolution“.29 Der Wortschatz mischt das Religiöse der Bekehrung (Conversion) mit dem Politischen der Revolution, das mit der Erwähnung der Cocarde unterstrichen wird. Die Sprache, die wir sprechen, ist so allgemein wie der Tod; sie erinnert uns an die Endlichkeit, verneint aber diese zugleich. Hegel gibt in den Vorlesungen über die Religionsphilosophie zwei Per­ spektiven über den Tod. Einerseits ist er ein inneres Geschehnis im Prozess des Absoluten. Die Gottheit wird bezeichnet als „Dreieinigkeit, worin das 25  TWA

17, 286 f. 289. 27  Vgl. ebd., 291 („verkehrt“). 28  Ebd., 293. 29  Hegel, Vorlesungsmanuskripte zur Religionsphilosophie 1821, GW 17, 267 und 269, wo man lesen kann: „Hier liegt der unmittelbare Ausdruck – der vollkommenen Revolution gegen das bestehende in der Meynung geltende […] Kreuz entspricht unserem Galgen – Symbol der Entehrung zum Panier, zur Cocarde gemacht“, 269. 26  Ebd.,

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Allgemeine sich sich selbst gegenüberstellt, und darin identisch mit sich ist“.30 Diese Geschichte von Gott mit sich selbst wird als „Schluß seiner mit sich“ dargestellt, d. h. als logische Entzweiung der Idee. Die Auferstehung bewirkt eine Verklärung bis zur „Erhebung zur Rechten Gottes“.31 Andrerseits wird durch den Tod die Negativität in ihrer vollen Tragweite gewürdigt. Die Bewegung ist etwa folgende: Der Tod ist ja natürlich, da alle Menschen sterben; aber indem sie sterben, wird ihr natürliches Leben verneint, zunichte gemacht, d. h. auch ihre „Menschlichkeit“, ihre „Allgemeinheit“ wird durch den Tod widerlegt; in Christo ist aber der Tod zugleich bestätigt und überwunden, indem sein Tod auch „der Tod dieses Todes selbst“ ist, also eine Negation der Negation. So kann man feststellen, dass „Gott es ist, der den Tod getötet hat“.32 Was geistig ist, muss den Tod ertragen – das hatte Hegel bereits zu Zeiten der Phänomenologie des Geistes angekündigt.33 So wie der Ausdruck „Gott“ regelmäßig als Beispiel von logischen und sprachlichen Sätzen kommt, so ist umgekehrt die tatsächliche Geschichte von Tod und Auferstehung eine Art Paradigma für den alltäglichen Prozess der Sprache: „Gott ist gestorben, Gott ist tot – dieses ist der fürchterlichste Gedanke, daß alles Ewige, alles Wahre nicht ist, die Negation selbst in Gott ist; der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden. – Der Verlauf bleibt aber nicht hier stehen, sondern es tritt nun die Umkehrung ein; Gott nämlich erhält sich in diesem Prozeß, und dieser ist nur der Tod des Todes. Gott steht wieder auf zum Leben: Es wendet sich somit zum Gegenteil. – Die Auferstehung gehört ebenso wesentlich dem Glauben an“.34 Und eine Note aus dem Jahre 1821 ergänzt dies folgendermaßen: „Der Geist ist nur Geist als dies Negative des Negativen, welches also das Negative selbst in sich enthält.“35

Durch diesen Tod wird also die Natürlichkeit doppelt negiert: als besondere Endlichkeit sowie als abstrakte Allgemeinheit. Es ist genau das, was die Sprache macht. Jeder besondere Ausdruck verschwindet sofort, aber jeder allgemeine Begriff (Tag, Nacht, Jetzt, Hier) wird nicht weniger negiert und in die äußerste Einzelheit der Rede versenkt; es ist also genau die Bewegung, die wir bei dem „sinnlichen Bewusstsein“ beobachten konnten. Daraus entsteht aber der Sinn; man darf jetzt sagen: Daraus ist der Sinn 30  TWA

17, 287. 291. 32  Ebd., 292. 33  „Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt, und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes“, GW 9, 27. 34  TWA 17, 291. 35  Ebd. 31  Ebd.,



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auferstanden, wir gelangen zu dem Begriff, d. h. zum Allgemeinen, das dem sinnlichen Einzelnen innewohnt. Der Sprechende wiederholt immer wieder das Zugrundegehen des sinnlichen Lauts zugunsten des Bezeichneten, des Geistigen. Noch eine weitere Bestätigung lässt sich anführen: Hegel beschreibt den Tod Christi als Aufhebung des Natürlichen im Geistigen durch Abstraktion und Versenkung, als Negation der Negation, so dass „aus diesem Schachte nur seine Bestimmung, sein wahres Wesen und seine absolute Allgemeinheit“ sich ergibt.36 Das Bild vom Schacht wird bekanntlich in der Enzyklopädie verwendet, wenn Hegel die Funktion der Intelligenz, die aus dem „Schachte“ des Gedächtnisses wieder Unterscheidungen und Bestimmungen hervorholt, beschreibt und die Bilder damit auf ihre Verwendung als Zeichen vorbereitet (Enyklopädie, GW 20, § 453 f.) Die „nächtliche Schacht“ der Intelligenz enthält die Bilder und ist die Voraussetzung zur Artikulation, zur Sprache, die zuerst als „zeichenmachende Phantasie“ auftritt.37 Als zusätzlichen Beleg dieser Lesart darf man vielleicht an den ersten Herausgeber der Religionsphilosophie, nämlich Philipp Marheineke, erinnern, der bei Hegels Bestattung in Berlin sich nicht enthielt, seinen Meister direkt mit Christus zu vergleichen und dabei eine spekulative Deutung des Lebens Jesu im Sinne der Hegelschen Philosophie zu geben, die gleichzeitig auch eine theologische Deutung dieser Philosophie selbst wurde. Diese Grabrede wird in einem Brief David Friedrich Strauss’ so wiedergegeben: „Den 17. Gestern haben wir ihn begraben. Um 3 Uhr hielt Marheineke als Rektor im Universitäts-Saale eine Rede, einfach und innig, mich ganz befriedigend. Er stellte ihn nicht nur als König im Reich des Gedankens, sondern auch als echten Jünger Christi im Leben dar. Er sagte auch, was er bei einer kirchlichen Feier nicht würde gesagt haben, dass er wie Jesus Christus durch den leiblichen Tod zur Auferstehung im Geiste, den er den Seinigen gelassen, hindurchgedrungen sei.“38

Für einen Jünger wie Marheineke war es völlig selbstverständlich, dass dies die richtige, ja gar die einzige Lesart von Hegels Philosophie war. Er hatte ja auch deren sprachlichen bzw. logischen Kern gut getroffen.39 Der 36  Ebd.,

293. § 458, wo er die Bestimmung des Zeichens gibt, zitiert Hegel auch die Kokarde, die auch in der Religionsphilosophie auftauchte (vgl. oben Anm. 29). 38  David Friedrich Strauss an Christian Märklin, Brief angefangen am 15.11.1831, abgedruckt in: Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, hg. v. Günther Nicolin, Hamburg 1970, 484 [Hervorhebungen von mir, D. T.]. 39  Die politischen Untertöne, die von der Umkehrung als „Revolution“ und von der abermals Benennung der „Kokarde“ getragen wurden, bleiben aber auch in dieser Episode die Voraussetzung zu einer anderen Deutung. 37  GW 20,

272

Denis Thouard

Ton kündet ein Innerliches als Äußeres an und verschwindet. Es wirkt also nicht nur die „Logik hinter dem Bewußtsein“, um eine späte Bemerkung Hegels über seine Phänomenologie zu zitieren.40 Nein, es wirkt anscheinend auch eine „Theologie hinter dem Bewußtsein“, soweit diese durch und durch logisch, dialektisch ist. Die Bewegung des Logischen kann man sicher nicht auf eine gegebene theologische Figur zurückführen. Die Wissenschaft der Logik beansprucht vielmehr die Autonomie ihrer Selbstentfaltung und behauptet diese durch die verschiedenen Register der Enzyklopädie. Aber die Bezeichnung der dialektischen Verkehrung als eine „göttliche“ besagt doch sehr richtig, wie tief diese Auffassung der Sprache durch die zeitgenössischen Debatten vorbereit ist. Es konnte hier nur skizzenhaft auf diese zahlreichen Facetten hingewiesen werden. Bedenkt man aber, wie die Sprache ständig die verschiedenen Erfahrungen des Bewusstseins begleitet und wie oft die Figur der „Verkehrung“ wiederkehrt, so hat man gute Gründe, um die Clausula des ersten Kapitels als wegweisend für den ganzen Prozess der Phänomenologie zu betrachten. 4. Schluss Wenn diese Ausführungen über den philosophischen und theologischen Zusammenhang der hegelschen „Sprachphilosophie“ nicht völlig in die Irre führen, so würde man sich gern fragen, ob man im Denken Schleiermachers, der seinerseits ja doch ein Theologe war, ähnliche Sprachspekulationen beobachten kann. Kann man auch bei ihm von einer „göttlichen“ Natur der Sprache reden? Ausführungen Schleiermachers über die Sprache werden wir meist in den Vorlesungen zur Hermeneutik, aber auch zur Ethik und Dialektik finden.41 Der Mensch steht in einem doppelten Verhältnis zur Sprache: er steht in der 40  Das Blatt wurde von Hegel im Rahmen einer neuen Ausgabe der Phänomenologie wohl 1831 aufgeschrieben und von Johannes Schulze in dem Vorwort der Ausgabe 1832 wiedergegeben. Man liest darin: „Logik, hinter dem Bewußtseyn“ (GW 9, 448). Diese Stelle, auf welche Pierre-Jean Labarrière immer gern hinwies, erwähne ich gern heute als Zeichen der Ehrung dieses großen, im Sommer verstorbenen Lesers Hegels. Siehe den Nekrolog von J. F. Kervégan im Bulletin de littérature hegelienne 18 (2018), in: Archives de philosophie 81, 821 f. 41  F. Schleiermacher, Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, hg. von Wolfgang Virmond unter Mitwirkung von Hermann Patsch, KGA II/4, Berlin 2012. Dazu verweise ich auf den Sammelband: Friedrich Schleiermachers Hermeneutik. Interpretation und Perspektiven, hg. v. Andreas Arndt und Jörg Dierken Berlin und Boston 2016, und besonders (wegen der ähnlichen Thematik) auf meinen Beitrag: Denis Thouard, „Die Sprachphilosophie der Hermeneutik“, 85–99.



Hegel und die „göttliche“ Natur der Sprache273

Gewalt der Sprache, soweit diese bereits da ist, wenn man spricht, und die Sprache bestimmt auf diese Weise unsere Rede; er kann aber auch auf diese Sprache wirken, indem er redet. Beim Reden bleibt man nie wirklich in der Wiederholung, nicht nur, dass es sonst sehr langweilig wäre, sondern auch, weil man meist bestrebt ist, etwas Neues zu sagen. Der Beziehung zwischen der gegebenen Sprache, ihren Regeln und Gewohnheiten, und der im Akt des Sprechens sozusagen immer neu erfundene Sprache wird in der Hermeneutik durch die Wechselwirkung zweier Perspektiven Rechnung getragen: es ist einerseits die grammatische Interpretation, die eine gegebene Rede in den Zusammenhang der bekannten grammatischen und lexikalischen Ausdrucksmöglichkeiten einer Sprache einordnet, andrerseits die psychologische bzw. technische Interpretation, die die Änderungen, die Neuerungen innerhalb der bekannten Sprache verfolgt: Code einerseits, Abweichung andererseits. Der Unterschied dieser Perspektiven ist aber nicht aufzuheben. Schleiermacher bleibt in seiner Bedeutungstheorie ein Kantianer, insofern der Sinn immer durch eine sprachliche Erfahrung entworfen wird, durch eine Schematisierung. Die Sprache ist überall bildhaft, Begriffe werden jeweils durch eine bestimmte Redeweise produziert. Die Betonung des Akts des Redens relativiert die Abhängigkeit der Redner von der Tradition des schon Gesagten. Sogar die Wiederholung ist eine andere Erfahrung des Sprechens. Hat diese hier sehr pauschal zusammengefasste Ansicht der Sprache irgendetwas mit der Religion zu tun? Auch wenn Schleiermacher die Hermeneutik als „allgemeine“ Hermeneutik vorgetragen hat, so hat er sie doch viel öfter als „Hermeneutik des Neuen Testaments“ gelesen. Wenn man die verschiedenen Nachschriften dieser Vorlesungen genau ansieht, so bemerkt man, wie wichtig ihm die Frage des Neuen war. Das Neue Testament braucht eine Hermeneutik, da es der Paradefall einer Sinnschöpfung ist. Wie kann man in einer gegebenen Sprache etwas Neues – in dem Fall vielleicht radikal Neues – aussagen? Der hermeneutische Leser, der sich am Neuen Testament ausgebildet hat, wird auch überall die passende Empfindlichkeit haben, um den neuen Sinn von dem alten zu unterscheiden. Ist die hermeneutische Tätigkeit beim Redner sowie beim Ausleger nicht da, so gibt es nur noch Wiederholung, Entfremdung, Wettergespräche. In dieser Hinsicht kann Schleiermacher die Sprache überhaupt nicht als „göttlich“, sondern nur als „menschlich“ betrachten, und doch entwickelte er seine Ansicht der Sprache nicht ohne eine starke theologische, hermeneutische Inspiration.

Siglen GW Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, Hamburg 1968 ff. KGA  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, Berlin und New York bzw. Boston 1984 ff. TWA Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke. Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M. 1970

Verzeichnis der Autor*innen Andreas Arndt, Prof. (em.) Dr., zuletzt Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin; Ehrenvorsitzender der Internationalen Hegel-Gesellschaft, Mitherausgeber der Kritischen SchleiermacherGesamtausgabe und Projektleiter des Akademienvorhabens „Friedrich Schleier­ macher in Berlin 1808–1834“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Letzte Buchveröffentlichungen: Die Reformation der Revolution. Friedrich Schleiermacher in seiner Zeit, Berlin 2019; Freiheit, Köln 2019. Brady Bowman, Prof. Dr., Professor für Philosophie an der Pennsylvania State University (USA). Autor zahlreicher Schriften zum Deutschen Idealismus, zuletzt auch der Monographie Hegel and the Metaphysics of Absolute Negativity, Cambridge 2013. Bernadette Collenberg-Plotnikov, apl. Prof. Dr., apl. Professorin am Institut für Philosophie der FernUniversität in Hagen, zudem als Mitarbeiterin am Forschungszentrum für Klassische Deutsche Philosophie/Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum betraut mit der Erstellung des Kommentarbandes zu G. W. F. Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (Gesammelte Werke, Bd. 28, 4). Letzte Buchveröffentlichung: Das Museum als Provokation der Philosophie, Bielefeld 2018. Jörg Dierken, Prof. Dr., Professor für Systematische Theologie/Ethik an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Vorsitzender der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft. Letzte Buchveröffentlichung: Gott und Geld. Ähnlichkeit im Widerstreit, Tübingen 2017. Christine Helmer, Prof. Dr. Dr. theol. h. c., Professorin für Germanistik und Religionswissenschaft an der Northwestern University in Evanston, Illinois, USA; Online Lehrveranstaltung „Luther and the West“: www.coursera.org/learn/luther-andthe-west. Letzte Buchveröffentlichungen: How Luther Became the Reformer, Louisville, Ky. 2019; als Herausgeberin, The Medieval Luther, Tübingen 2020. Walter Jaeschke, Prof. (em.) Dr., zuletzt Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum und Direktor des Hegel-Archivs. Herausgeber der Ausgaben „Hegel: Gesammelte Werke“ und „Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel“ (gemeinsam mit Birgit Sandkaulen) sowie des Bandes Schleiermacher: Vorlesungen über das Leben Jesu. Letzte Buchveröffentlichungen: Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845. München 2012; Hegels Philosophie, Hamburg 2019. Holden Kelm, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Akademienvorhaben „Friedrich Schleiermacher in Berlin 1808–1834“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Drittmittelprojekt). Letzte Veröffentlichung (als Herausgeber): F. D. E. Schleiermacher, „Ästhetik (1832/33). Über den Begriff der Kunst“, Hamburg 2018.

278

Verzeichnis der Autor*innen

Jean-François Kervégan, Prof. (em.) Dr., zuletzt Professor für Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne, honorar Fellow des Institut Universitaire de France. Letzte Buchveröffentlichung: Explorations allemandes, Paris 2019. Hans-Peter Krüger, Prof. Dr., Professor für Politische Philosophie und Philosophische Anthropologie am Institut für Philosophie der Universität Potsdam. Mitherausgeber der Deutschen Zeitschrift für Philosophie und des Internationalen Jahrbuchs für Philosophische Anthropologie, beide Berlin. Jüngste Monographie: Homo absconditus: Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie im Vergleich, Berlin 2019. Jan Rohls, Prof. (em.) Dr., zuletzt Professor für Systematische Theologie mit besonderer Berücksichtigung der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Letzte Buchveröffentlichung: Protestantische Theologie der Neuzeit I/II, Studienausgabe, Tübingen 2018. Tobias Rosefeldt, Prof. Dr., Professor für Klassische Deutsche Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin; Autor von Das logische Ich. Kant über den Gehalt des Begriffs von sich selbst (Berlin 2000) und von zahlreichen Aufsätzen zur kantischen und nachkantischen Philosophie; Mitglied der Kant-Kommission der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Birgit Sandkaulen, Prof. Dr., Professorin für Philosophie mit Schwerpunkt Klassische Deutsche Philosophie und Leiterin des Forschungszentrums für Klassische Deutsche Philosophie/Hegel-Archiv an der Ruhr-Universität Bochum; Projektleiterin des Akademienvorhabens „Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel. Text – Kommentar – Wörterbuch Online“ an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (zusammen mit Walter Jaeschke). Letzte Buchveröffentlichung: Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit, Hamburg 2019. Sarah Schmidt, Dr., Arbeitsstellenleiterin des Akademienvorhabens „Friedrich Schleiermacher in Berlin 1808–1834“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; letzte Veröffentlichungen: Friedrich Schleiermacher, Kommentarband zu den Briefen 1808–1810 (KGA V/K1), Berlin und Boston 2017; (Mithg.) Reformation und Moderne: Pluralität – Subjektivität – Kritik. Akten des Schleiermacher-Kongresses in Halle 2017, Berlin und Boston 2018; (Mithg.) Wissenschaft, Kirche, Staat und Politik. Schleiermacher im Preußischen Reformprozess, Berlin und Boston 2018. Vladimir Stoupel, Konzertpianist und Dirigent, geb. in der Sowjetunion, Ausbildung am Moskauer Konservatorium, 1984 Emigration nach Paris und seit 1985 französischer Staatsbürger, lebt seit 1987 in Berlin. 2010 gründete er mit der Geigerin Judith Ingolfsson das Festival „Aigues-Vives en Musiques“ in Südfrankreich, dessen künstlerische Leiter Ingolfsson/Stoupel seither sind. Die zuletzt erschienene CD des Duos Ingolfsson/Stoupel Blues, Blanc, Rouge mit Werken von Ravel, Ferroud und Poulenc wurde für den ICMA-Preis 2019 und den Preis der deutschen Schallplattenkritik nominiert. Denis Thouard, Prof. Dr., Directeur de recherche am Centre National de la Recherche Scientifique (Centre Georg Simmel, EHESS/CNRS, Paris). Letzte Veröffenlichun-



Verzeichnis der Autor*innen279 gen zum Thema: (Hrsg.), Schleiermacher philosophe, Archives de philosophie 77, 2014; Schleiermacher. Communauté, individualité, communication, Paris 2007.

Jure Zovko, Prof. Dr., Institut für Philosophie der Universität Zagreb und Ordinarius für theoretische Philosophie an der Universität Zadar. Mitglied des Institut International de Philosophie (Paris) und ordentliches Mitglied der L’ Académie Internationale de Philosophie des Sciences (Bruxelles). Mitglied des Steering Committee der FISP, Vizepräsident der Internationalen Hegel-Gesellschaft und Mitherausgeber des Hegel-Jahrbuch und der Beihefte zum Hegel-Jahrbuch.

Personenverzeichnis Das Verzeichnis umfasst alle im Text und in den Anmerkungen erwähnten historischen Personen mit Ausnahme von Hegel und Schleiermacher sowie Herausgeber­ namen und Namen in Werktiteln. Adorno, T. W.  185 Altenstein, K. v.  77 Anscombe, E.  195 Arndt, A.  9–12, 15 f., 27, 51, 53, 55, 91, 161, 166, 170, 230, 234, 244, 254 Bach, J. S.  123, 145, 155–157 Baldwin, T.  107 Bartelheimer, W.  159 Barth, U.  28 Beethoven, L. v.  123, 125, 129, 138, 155 f. Beiser, F.  79 Bekker, A.  119 Berben, T.  164 Berner, Ch.  94 Bernhardi, A. F.  206 Billeter, B.  138 f. Birus, H.  251 Boeckh, A.  172 Bourdieu, A.  191 Bowie, A.  151 Bowman, B.  12 Bukharin, N.  266 Bultmann, C.  267 Calvin, J.  73 Caramelli, E.  263, 267 Catel, H.  54 Chladenius, J. M.  249 Choi, S.-H.  89, 95, 101 Clausen, A.  105 Cohen, H.  115 f.

Collenberg-Plotnikov, B.  12 Colliot-Thélène, C.  263 Cramer, K.  28 Cummerow, C.  123, 156 Dahlhaus, C.  138, 144, 150 Danto, A.  154 Daub, C.  7 f. Davidson, D.  194 Dennett, D.  197 Derrida, J.  257 Descartes, R.  108, 197 f. Descombes, V.  13, 185, 191, 195–201 Devirent, E.  145 Dierken, J.  11, 20 f., 25 f., 27, 29, 32 f. Dilthey, W.  13, 128, 185, 194, 198, 243–245, 248, 250, 254 f. Droysen, G.  145 Dschingis Khan  75 Durkheim, E.  199 Ehrhardt, Ch.  59 Eldridge, R.  154 Emundts, D.  14 Euripides  266 Ferguson, A.  67, 71 Feuerbach, L.  10 Fichte, J. G.   7, 25, 65, 74, 80, 91 f., 120, 172, 238 Flacius Illyricus, M.  247–251 Fouquet-Plümacher, D.  62 Frank, M.  91, 93 f., 102

282 Personenverzeichnis Frege, G.  107 Fries, J. F.  63 Fritz, M.  134 Frölich, H.  14

Horwich, P.  91 Hotho, H. G.  138, 142 Hubmann, G.  63 Humboldt, W. v.  19, 203, 208, 257

Gadamer, H.-G.  194, 244–247, 252, 254 f., 257, 266 Gans, E.  60 f. Garve, Ch.  67 Gaskin, R.  117 Gaß, J. C.  119 Geck, A.  21, 34 George, L.  10 Gerber, S.  14, 21, 257 Gerhardt, V.  120 Gethmann-Siefert, A.  Gluck, W.  135 Goethe, J. W.  77 Gräb, W.  160, 180 Groh, D.  58 Grondin, J.  249 Gründer, K.  257

Ingolfsson, J.  12

Habermas, J.  257 Haller, C. L. v.  78 Hamann, J. G.  257, 263, 267 f. Hanslick, E.  138 Hardenberg, K. A. v.  58 Hegel, M.  125 Heidegger, M.  245 Heine, H.  65, 145 Helmer, Ch.  12, 90, 93, 97 Henrich, D.  75 f. Herder, J. G.  192, 194, 234 f., 258, 267 Herms, E.  233, 254 Herz, H.  130 Herzog, L.  84 f. Hirsch, E.  20 Hirsch, E. D.  246, 255 Hoffmann, E. T. A.  150 Hoffmann, T. S.  240 Hölderlin, F.  72 Honneth, A.  189, 191

Jacobi, F. H.  24 f., 47, 74, 238 Jaeschke, W.  8–11, 19, 21, 33, 230, 234 Jesus, Jesus Christus  37 f., 40–45, 47, 49, 56, 96–98, 100, 103, 269–271 Joas, H.  79 Johannes (Evangelist)  39 f. Jørgensen, P. H.  160, 179 Kalatzis, A.  257 Kant, I.  8, 11, 19, 23, 25, 51–53, 55 f., 65, 71, 74, 91–93, 100, 120, 122, 163–165, 182, 192 f., 229, 238, 253 f., 264, 268 f. Kelm, H.  12 Kervégan, J.-F.  13, 200, 272 Köhnke, K. Ch.  10 Kojeve, A.  197 Kopp, B.  160, 169 Koselleck, R.  229 f. Kotzebue, A. v.  20 Krämer, H.  246 Kranich, Ch.  87, 90, 93 Krüger, H.-P.  11 f., 68 Kuhn, T. S.  246 Kulenkampff, J.  142–144, 147, 150 Labarrière, P.-J.  272 Landerer, C.  138 Laube, M.  180 Leibniz, G. W.  91 Lejeune, G.  257 Lessing, G. E.  48, 253 Lévi-Strauss, C.  199 Lichtensteim, E.  231 Liebrucks, B.  257 Locke, J.  258 Löwith, K.  257

Personenverzeichnis283 Lowth, R.  267 Lücke, F.  243 Ludwig XVI von Frankreich  54 Lukács, G.  70 Lukas (Evangelist)  41 Luther, M.  73, 96 Maclure, J.  78 Mädler, I.  178 Mahling, C. H.  125 Maimon, S.  91 f. Makkreel, R.  246 Mallarmé, S.  197 Mandeville, B.  266 Marheineke, P.  271 Mariña, J.  87, 91, 100 Märklin, C.  271 Marx, K.  80 Matthäus (Evangelist)  42 Mauss, M.  199 McKinnon, C.  89 Mead, G. H.  191 Mehring, R.  120 Meier, G. F.  249 f. Mendelssohn, M.  229 f. Mendelssohn-Bartholdy, F.  123, 145, 156 Merleau-Ponty, M.  197–199 Meyer-Drawe, K.  229 Michaelis, J. H.  267 Milder-Hauptmann, A.  124 Montesquieu  197 Moxter, M.  33 Mozart, W. A.  125, 135, 156 Mulert, H.  179, 182 Müller, E.  14 Mundt, T.  139 f. Napoleon Bonaparte  54, 67, 70 f. Neugebauer, W.  59 Neuhouser, F.  189 Niethammer, F. I.  77 Nipperdey, Th.  59

Novalis  55 Nowak, A.  138 Nowak, K.  21, 53 f., 160 Nozick, R.  195 Odebrecht, R.  244 Olivier, A. P.  124, 139 Paulus (Apostel)  98 Peirce, C. S.  198–200 Petrus (Apostel)  98 Pettit, P.  190 Pierluigi da Palestrina, G.  124 Platon  90, 208, 244, 248 f., 251, 269 Platz, C.  211, 216 Pöggeler, O.  131 Poser, S.  8 Pozzo, R.  250 Pries, Ch.  56 Reetz, D.  62 Rehme-Iffert, B.  52, 92 Reich, A.  21, 34 Reichardt, J. F.  123 Reid, J.  257 Rescher, N.  246 Ricardo, D.  80, 83–85 Richter, C.  160 Rindert, J.  120 Rodi, F.  245 Rohls, J.  13 Rossini, G.  125 Rössler, M.  21, 34 Rousseau, J.-J.  187 Ruda, F.  80 Sand, K. L.  20 Sandkaulen, B.  13, 232, 238, 240 Say, J.-B.  83–85 Schaller, J.  10 Schelling, F. W. J.  48, 65, 76, 108, 120, 122, 125 f., 234 f. Schenk, S.  72 Schiller, F.  67, 77, 120

284 Personenverzeichnis Schlegel, A. W.  14, 134 Schlegel, F.  14, 52, 55, 119, 253 f., 257 Schleiermacherr, Ch.  90 Schleyermacher, J. G. A.  54 Schlögel, K.  266 Schmid, D.  21, 34 Schmidt, S.  13, 161, 181, 183 Schnädelbach, H.  70 Scholtz, G.  123 f., 128, 130, 133 f., 137, 160, 170, 180, 253 Schopenhauer, A.  138 Schostakowitsch, D.  155, 157 Schubert, F.  155 f. Schuckmann, F. F. v.  204 Schulze, J.  272 Schweitzer, A.  43 f. Searle, J.  195, 198 Siep, L.  32, 78 f., 139, 145, 151 Simmel, G.  266 Simon, J.  257 f. Slenczka, N.  14 Smith, A.  71, 80, 83–85, 266 Sockness, B.  179 Sokrates  188 Solger, K. F.  120–122, 126 Spinoza, B.  21, 23, 116, 166 Steuart, J.  71, 83, 266 Stock, G.  7 Stolzenberg, J.  139 Stoupel, V.  12 f.

Strauß, D. F.  10, 37 f., 40, 43, 49, 271 Surber, J.  257 Szondi, P.  248 Taylor, Ch.  13, 78, 185, 191–196, 200 Thibaut, A.  124 Thouard, D.  13 f., 257, 267, 272 Tieck, L.  123 Trabant, J.  257 Trendelenburg, F. A.  10 Vattimo, G.  246 Vernon, J.  257 Vico, G.  266 Wackenroder, W. H.  123 Waszek, N.  67, 71, 85 Weber, C. M. v.  150 Weidner, D.  267 Weissenborn, G.  10 Wieland, W.  255 f. Wilfing, A.  138 Wittgenstein, L.  191, 195, 198 f. Wobbermin, G.  159 Wolfes, M.  34, 54, 62 Woltmann, J. G.  205 Zelter, C. F.  124 Zöllner, J. F.  124 Zovko, J.  13 Zwingli, H.  73