Rechtsphilosophie nach Hegel: 200 Jahre Grundlinien der Philosophie des Rechts 9783846768358, 9783770568352, 3770568354

Im Oktober 1820 erschienen Hegels »Grundlinien der Philosophie des Rechts« erstmals im Druck. Nach der Erläuterung des A

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Rechtsphilosophie nach Hegel: 200 Jahre Grundlinien der Philosophie des Rechts
 9783846768358, 9783770568352, 3770568354

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Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

Rechtsphilosophie nach Hegel

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jena-sophia STUDIEN UND EDITIONEN ZUM DEUTSCHEN IDEALISMUS UND ZUR FRÜHROMANTIK

Herausgegeben von Francesca Iannelli, Christian Krijnen, Andreas Schmidt und Klaus Vieweg Wissenschaftlicher Beirat Ralf Beuthan (Seoul) Stephen Houlgate (Warwick) Anton Friedrich Koch (Heidelberg) Wenjun Niu (Shanghai) Taiju Okochi (Tokyo) Robert B. Pippin (Chicago) Allen Speight (Boston) Marco Aurélio Werle (São Paulo)

ABTEILUNG II – STUDIEN Band 20

2024 Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, Klaus Vieweg (Hg.)

Rechtsphilosophie nach Hegel 200 Jahre Grundlinien der Philosophie des Rechts

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Umschlagabbildung: Jena – Blick vom Philosophengang (um 1800) kolorierte Radierung von F. W., Stadtmuseum Jena

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2024 Brill Fink, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. www.brill.com Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISSN 2629-8732 ISBN 978-3-7705-6835-2 (hardback) ISBN 978-3-8467-6835-8 (e-book)

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Christoph Jamme (1953–2021) zum Gedächtnis

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ix Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xi Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, Klaus Vieweg 1

Hegels Universalismus – Gegen den Relativismus . . . . . . . . . . . . . . . 1 Klaus Vieweg

2

Hegels Rechtsphilosophie als spekulativer Idealismus . . . . . . . . . . 15 Christian Krijnen

3

Zur Aktualität von Hegels Kritik an unmittelbarer Moralität . . . . 35 Pirmin Stekeler-Weithofer

4

Rechtsphilosophie als Politik? Zur Darstellung des Rechts in den „Grundlinien“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Dan Wielsch

5

Politik des Wissens bei Hegel. Einige zeitgemäße Bemerkungen . . 83 Zdravko Kobe

6

Die Institutionalität der Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Jean-François Kervégan

7

Hegel über internationale Beziehungen und internationales Recht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Jochen Bung

8

Das Privateigentum im historischen Kontext. Eine Auslegung der Rolle vom Eigentumsrecht in der hegelschen Staatstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Matteo Rategni

9

Sittlichkeit und Nachhaltigkeit in einer Postwachstumsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Konrad Ott Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

viii

Inhalt

10

Gibt es unrechtes Recht? Über positives Recht, Unrecht und richtiges Recht bei Kelsen, Radbruch und Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Folko Zander



Zum Gedenken an Christoph Jamme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Jörg Philipp Terhechte Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

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Vorwort Anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Publikation von Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ sollte im Herbst 2020 eine Tagung in Lüneburg stattfinden. Pandemiebedingt musste sie verschoben werden; wir konnten die Veranstaltung erst im darauffolgenden Jahr, im Oktober 2021, nachholen. Die nachfolgenden Beiträge versammeln die auf dieser Tagung gehaltenen Vorträge. Hinzugekommen sind dankenswerterweise noch zwei weitere, den Band um zusätzliche Pespektiven bereichernde Texte von Matteo Rategni und Folko Zander. Die ursprüngliche Planung und Organisation unseres Treffens in Lüneburg ging maßgeblich auf Christoph Jamme zurück. Für uns wie für alle Teilnehmer war die Vorfreude auf die Tagung insbesondere auch die Vorfreude auf die Zusammenarbeit und den Austausch mit diesem brillanten, so ungeheuer anregenden Philosophen. Jammes plötzlicher Tod im Mai 2021 ließ uns entsetzt und voller Trauer zurück. Wir widmen den Band seinem Andenken. Ino Augsberg Mansoor Koshan Jörg Philipp Terhechte Klaus Vieweg

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Einleitung Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, Klaus Vieweg

I.1

Im Oktober 1820 erschienen Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ erstmals im Druck. Nach der Erläuterung des Autors handelte es sich bei dem Werk um einen „Leitfaden“ für die Hörer seiner Vorlesungen.2 Zwei Jahrhunderte später ist die Frage zu stellen, in welche Richtungen dieser Leitfaden seine Leser seitdem geführt hat, also welche Perspektiven durch das Werk eröffnet wurden und weiterhin werden, und an welchen Stellen die Leser den Faden – wenn sie ihn denn je richtig ergirffen hatten – wieder haben fallenlassen, statt ihm weiter zu folgen. Zweifellos handelt es sich bei dem Werk um eines „der wirkungsreichsten Bücher in der Geschichte der politischen Philosophie“3 (Ludwig Siep). Der Reichtum der Wirkung bestand aber von Anfang an auch in der Unterschiedlichkeit der Verständnisse und der daran anknüpfenden heftigen Kontroversen um das Buch. Schon die zeitgenössischen Reaktionen folgten vielfach nicht Hegels erklärtem Hinweis, das Werk müsse aus der Perspektive seiner „Wissenschaft der Logik“ verstanden werden,4 sondern reduzierten es auf seinen (angeblichen) politischen Gehalt.5 Seitdem wird über Hegels Status als „preußischer Staatsphilosoph“ (Rudolf Haym) gestritten.6 Die Spannbreite der Interpretationen ist dabei denkbar weit; sie reicht von einer Rekonstruktion

1 Dieser erste Abschnitt bildete das Exposé zu der Tagung in Lüneburg, das im Oktober 2019 noch gemeinsam mit Christoph Jamme erstellt und den Einladungen zur Teilnahme an der Tagung beigefügt wurde. 2 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen, in: ders., Werke in 20 Bänden, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michl, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1970, S. 11. 3 Ludwig Siep, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), G.  W. F.  Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, 3. Aufl., Berlin/Boston 2014, S. I ff. (I). 4 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., S. 12 f. 5 Vgl. die Sammlung einschlägiger Beiträge in Manfred Riedel (Hrsg.), Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1975. 6 Vgl. Rudolf Haym, Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Entwickelung, Wesen und Werth der Hegel’schen Philosophie. Berlin 1857.

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Einleitung

des Hegel’schen Systems als einem „Denken der Freiheit“ (Klaus Vieweg)7 bis hin zu der extremsten Umkehrung dieses Verständnisses, die in Hegel einen Vordenker des Totalitarismus ausmachen und dementsprechend Kontinuitätslinien „Von Hegel zu Hitler“ ziehen will.8 Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen bietet das 200-jährige Jubiläum des berühmt-berüchtigten Werkes einen willkommenen Anlass, um noch einmal eine Lektüre der „Grundlinien“ in Angriff nehmen, die nicht nur das Werk selbst, sondern ebenso seine Rezeptionsgeschichte in den Blick nimmt, aber dabei wiederum nicht ausschließlich einen Blick zurück auf die im Verlauf der Jahrhunderte erfolgten klassischen Lektüren wirft – etwa von Eduard Gans, Karl Marx oder Franz Rosenzweig –, sondern zumal fragt, wo diese Lektüren möglicherweise zu früh abgebrochen wurden und daher mit noch größerer Konzentration wieder aufgenommen, fortgesetzt und intensiviert werden müssen. Dabei darf es, Adornos Verdikt anlässlich von Hegels  125. Todestag entsprechend, nicht darum gehen, den zeitlichen Abstand als Legitimation für eine eigene überlegene Position zu reklamieren und demgemäß mit der Anmaßung zu verknüpfen, „Lebendiges und Totes in Hegel“ auseinanderklauben zu können. Eher geht es um die „umgekehrte Frage […], was die Gegenwart vor Hegel bedeutet“9. Für eine solche Umkehrung der Problematik, in Richtung einer Infragestellung der eigenen Gegenwart, reicht es nicht, lediglich festzustellen, dass die „Grundlinien“ auch noch das gegenwärtige Denken begleiten müssen, dass also jeder, der heute etwa über Freiheit, Person und Handlung, Gerechtigkeit, Universalismus oder den modernen Staat nachdenken will, notwendig unter anderem auch zu einer Auseinandersetzung mit Hegels Werk herausgefordert ist. Gefragt ist vielmehr zugleich etwas Anderes: Inwiefern ist eine Rechtsphilosophie nach Hegel – im Doppelsinn von post und secundum – gegenwärtig noch möglich – oder sogar nötig?

7 Klaus Vieweg, Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München 2012. 8 Hubert Kiesewetter, Von Hegel zu Hitler. Die politische Verwirklichung einer totalitären Machtstaatstheorie in Deutschland (1815–1945), Frankfurt a. M. 1995. 9 Theodor  W.  Adorno, Aspekte, in: ders., Gesammelte Schriften Bd.  5: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Drei Studien zu Hegel, hrsg. v. Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1971, S. 251 ff. (251).

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Einleitung



xiii

II.

Eine derartig umfassende Frage ist aber nicht gegen eine Fortführung der Auseinandersetzung mit den spezielleren Problemstellungen in Anschlag zu bringen; sie setzt diese vielmehr ihrerseits voraus. Zu den einschlägigen bereits in der Vergangenheit geführten, gegenwärtig und künftig weiter zu führenden Diskussionen um die „Rechtsphilosophie“ gehören neben den genannten insbesondere Fragen, die etwa die Stellung von Recht und Staat der Moderne, die Ausgestaltung des Rechtsstaats und der Demokratie und, in jüngerer Zeit noch einmal verstärkt, die Erläuterung des universalistischen Ansatzes bzw., korrelativ dazu, eines angeblichen Partikularisnus in Hegels Philosophie betreffen.10 Um diese Debatten angemessen zu führen, ist zunächst eine anachronistische Rückprojektion gegenwärtiger Perspektiven zu vermeiden und stattdessen der zeitgenössische Horizont in Rechnung zu stellen,11 zugleich aber auch zu bedenken, dass Hegel den Zusammenhang, aber auch die Differenz zwischen der jeweiligen geschichtlichen Lage und der Entwicklung der Idee betont hat. Ein unverstellter, die zureichende Bestimmung der besonderen Relevanz gerade der „Rechtsphilosophie“ ermöglichender Blick erfordert in diesem doppelten Sinn, „die vielen Vorurteile […], durch die Hegels Rechtsdenken verstellt ist“, aus dem Weg zu räumen.12 Hegel als bloßen Apologeten der zeitgenössisch herrschenden Zustände zu diskredieren, zeugt demnach nur von der eigenen historischen Unkenntnis und damit verbunden von der Ignoranz gegenüber den speziellen Anforderungen an eine philosophische Arbeit, die unter den argwöhnischen Augen der Geheimpolizei erfolgen musste.13 Angemessen kontextualisiert, ermöglicht demgegenüber gerade die „Rechtsphilosophie“, namentlich mit ihrem „Universalitätsparagraph 209“, eine Lektüre, die die theoretisch-konzeptionelle Unhaltbarkeit insbesondere der genannten Parti­ kularismusvorwürfe darlegen kann.14 10 Vgl. dazu den Beitrag von Klaus Vieweg, i. d. Bd. Mit Bezug auf Hegels einschlägige Äußerungen zur notwendigen Abschaffung der Sklaverei ferner den Beitrag von Matteo Rategni i. d. Bd. 11 Vgl. den entsprechenden Hinweis von Pirmin Stekeler-Weithofer i. d. Bd.; ferner ders., Logik der Geschichte und Geschichte im Begriff. Zum notwendigen Holismus in jeder Praxisformanalyse, in: Kurt Seelmann/Benno Zabel (Hrsg.), Autonomie und Normativität. Zu Hegels Rechtsphilosophie, Tübingen 2014, S. 295 ff. Als Beispiel für diese Form der Kontextualisierung auch den Beitrag von Matteo Rategni i. d. Bd. 12 So Folko Zander in seinem Beitrag i. d. Bd. 13 Vgl. dazu den Beitrag von Konrad Ott, mit Verweis auf die grundlegende Darstellung bei Klaus Vieweg, Hegel. Der Philosoph der Freiheit, München 2019. 14 So Klaus Vieweg in seinem Beitrag i. d. Bd.

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Einleitung

Diesseits einer im engeren Sinn politischen Auseinandersetzung geht es bei den Debatten implizit auch um die Frage, ob und wie sich Philosophie und Politik auseinanderhalten lassen müssen. Es liegt auf der Hand, dass die Frage sich gerade für die Hegel’sche Philosophie mit besonderer Dringlichkeit stellt, weil sie ihrem Anspruch nach das Politische nicht als Außerhalb der Philosophie ansehen kann, im Sinn eines speziellen Gesellschaftsbereichs, der einer spezifischen Eigenrationalität folgt, ebenso wenig aber selbst auf den etwaigen politischen Gehalt reduziert werden darf. Gerade wenn man annimmt, dass die im Übrigen in der (post-)modernen politischen Philosophie so beliebt gewordene Unterscheidung von le und la politique15 von Hegels Werk je schon unterlaufen bzw. überboten wird, bleibt die Frage, wo in dieser Bewegung dann die Politik bzw. das Politische verbleiben. Während die einen auch jenseits des klassischen, aber genaueren Analysen nicht standhaltenden Klischees vom „preußischen Staatsphilosophen“16 doch ein „Konservativitätsprinzip“ im Sinn eines strukturell-institutionellen Konservativismus erkennen und Hegel damit als Ahnherrn all jener Positionen markieren, denen zufolge im gesellschaftspolitischen Bereich immer der Veränderer die Beweislast tragen soll,17 sehen andere gerade in der Frage der möglichen Veränderung der Gesellschaft ein Potential zur Fortentwicklung des Gedankens.18 Dabei kann die entsprechende Perspektive eine abstraktere gesellschaftstheoretische Gestalt annehmen;19 sie kann aber auch fragen, was mit Bezug auf konkretere Problemstellungen, namentlich die Aufgabe einer „großen Transforrmation“ der Gesellschaft in eine nachhaltige Post-Wachstumsgesellschaft, aus einer an Hegel geschulten Sicht zu sagen ist.20 Mit der Frage nach der politischen Perspektive eng verknüpft ist die Problematik, in welchem Maß im Bereich des Politischen die Kategorien aus dem Bereich der theoretischen Philosophie, also insbesondere Erkenntnis und Wissen, eine zentrale Rolle spielen können. Aus der hegelschen Sicht liegt eine 15

Vgl. dazu nur Oliver Marchart, Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin 2010. 16 Vgl. dazu näher, mit einem instruktiven Vergleich zwischen Hegels Einschätzung der württembergischen Verhältnisse einer- und der preußischen Zustände andererseits, den Beitrag von Matteo Rategni i. d. Bd. 17 Vgl. dazu den Beitrag von Pirmin Stekeler-Weithofer i. d. Bd. 18 Vgl. allg. zum Zusammenhang von Politik und Philosophie im Denken Hegels etwa Christoph Jamme, Die Erziehung der Stände durch sich selbst. Hegels Konzeption der neuständisch-bürgerlichen Repräsentation in Heidelberg 1817/18, in: Hans-Christian Lucas/Otto Pöggeler (Hrsg.), Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte, Stuttgart 1986, S. 149 ff. 19 Vgl. den Beitrag von Dan Wielsch i. d. Bd. 20 Vgl. den Beitrag von Konrad Ott i. d. Bd.

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positive Antwort nahe,21 impliziert eben damit dann aber genauere Rückfragen mit Bezug auf die mögliche Veränderung des Wissens in der gegenwärtigen Gesellschaft und die damit verbundenen Herausforderungen.22 Die Gegenperspektive, für die klassisch insbesondere Hans Kelsen stehen mag, würde demgegenüber gerade darauf beharren, dass politische Fragen Wertungsfragen sind und sich damit der theoretischen Erkenntnis entziehen.23 Demokratie bildet danach kein deliberatives Verfahren zur Wahrheitsermittlung, sondern ist primär als eine coping-Strategie auf der angenommenen Grundlage einer unüberwindbaren Ungewissheit konzipiert.24 Der damit offenbar (und in Kelsens Fall sogar: ganz explizit25) verbundene Relativismus soll allerdings, so die Kritiker, selbstwidersprüchlich sein, nämlich seinerseits nur das Beispiel eines letztlich dogmatischen Skeptizimus bilden.26 Umgekehrt könnte allerdings vielleicht gerade an diesem geläufigen Vorwurf eine wiederum an Hegel geschulte Metakritik ansetzen, die die contradictio nicht nur als regula falsi, sondern ebenso und erst recht als regula veri begreift.27 Das leitet über zu einer weiteren Analyseperspektive. Auch die scheinbar „praktischere“ Frage nach der politischen Dimension lässt sich mit Bezug auf den eingangs schon erwähnten eigenen Hinweis Hegels stelllen, der den Gedankengang der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ als wesentlich von der „Logik“ her zu lesen aufgibt.28 In dem Maße, in dem man diesem Hinweis folgt und seine Berechtigung erläutert, werden alternative 21 22 23

24 25

26 27 28

Vgl. entsprechend mit Bezug nicht nur auf den deliberativen Charakter der Politik im Allgemeinen, sondern zumal die wissenschaftliche Politikberatung im Besonderen, den Beitrag von Konrad Ott i. d. Bd. Vgl. dazu den Beitrag von Zdravko Kobe i. d. Bd. Vgl. Hans Kelsen, Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen, 2. Aufl. 1929 (2. Neudruck Aalen 1981. Näher dazu den Beitrag von Folko Zander i. d. Bd. Allg. zum Problemhintergrund auch Christian Krijnen, Neukantianismus und neukantianische Rechtsphilosophie, in: Michael Pawlik/Carl-Friedrich Stuckenberg/Wolfgang Wohlers (Hrsg.), Strafrecht und Neukantianismus, Tübingen 2023, S. 1 ff. Vgl. in diese Richtung aus der modernen politischen Philosophie prominent etwa Claude Lefort, Die Frage der Demokratie, in: Ulrich Rödel (Hrsg.), Autonome Gesellschaft und liber-täre Demokratie, Frankfurt a. M. 1990, S. 281 ff. Vgl. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, a.a.O., S. 101: „Wer absolute Wahrheit und absolute Werte menschlicher Erkenntnis für verschlossen hält, muß nicht nur die eigene, muß auch die fremde, gegenteilige Meinung zumindest für möglich halten. Darum ist der Relativismus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt.“ Vgl. dazu den Beitrag von Folko Zander i d. Bd., mit Bezug auf Kelsen. Mit Bezug auf den Relativismus allg. ferner den Beitrag von Klaus Vieweg i. d. Bd. Vgl. dazu den entsprechenden Hinweis auf Hegels Habilitatsionthese in dem Beitrag von Pirmin Stekeler-Weithofer i. d. Bd. Vgl. in dieser Perspektive etwa die Erläuterungen zum Begriff des Staates in den Grundlinien in Klaus Vieweg, Der Staat als ein System von drei Schlüssen. Hegels logische

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Einleitung

Ansätze fragwürdig, die die Hegel’sche Rechtsphilosophie vor allem anerkennungstheroretisch, also eben nicht von der „Logik“, sondern von der „Phänomenologie des Geistes“ her zu lesen versuchen.29 Das heißt nicht, dass nicht auch in anerkennungstheoretischer Perspektive die „Rechtsphilosophie“ im Allgemeinen und einzelne ihrer Aussagen im Besonderen hochrelevante Deutungen ermöglichen. Eine entsprechend verfahrende Sicht ermöglicht etwa eine Beschreibung von Hegels Theorie des internationalen Rechts, die diese in eine bemerkenswerte Nähe zu in der völkerrechtlichen Praxis erst in den letzten Jahren und Jahrzehnten durchgesetzten Konzepten führt, weil damit das absolute Primat der Staatensouveränität um zusätzliche Aspekte der Solidarität zwar nicht ersetzt, aber ergänzt werden muss.30 Eine hier ansetzende Debatte kann aber noch weiter gehen. Statt die Anerkennung vorwiegend in ihrer aktivischen Dimension des Anerkennens zu beleuchten und hierauf nicht nur die angemessene Gestalt von Freiheit und Recht, sondern auch politischer Tätigkeit – qua Partizipation an den einschlägigen Prozessen, die nunmehr teilweise sogar nicht länger auf den im engeren Sinn politischen Bereich begrenzt sein sollen – zu gründen,31 lässt sich auch nach den Grenzen dieses Modells fragen. Statt affirmativ die kantische Autonomie als auch von Hegel weiter fortgeführten zentralen Bezugspunkt zu bestimmen,32 wären danach verstärkt die Grenzen des kantischen Konzepts zu akzentuieren, die von Hegel über die bloß subjektive, letztlich als bloße Konsistenzanforderung fungierende Gestalt hinaus in Richtung einer institutionell konzipierten Sittlichkeit überstiegen werden.33 Ungeachtet der im gegebenen Kontext natürlich auf allen Seiten betonten notwendigen Vermittlung von subjektiven und objektiven Momenten wird daraus deutlich, wie Grundlegung der Staatskonzeption, in: ders./Anton Friedrich Koch/Friedrike Schick (Hrsg.), Hegel – 200 Jahre Wissenschaft der Logik, Hamburg 2014, S. 391 ff. 29 Vgl. dazu näher den Beitrag von Christian Krijnen i. d. Bd. 30 Vgl. dazu den Beitrag von Jochen Bung i. d. Bd. 31 Vgl. in diese Richtung etwa einer- und andererseits die Beiträge von Folko Zander und Dan Wielsch i. d. Bd. 32 Vgl. so ausdrücklich etwa den Beitrag von Konrad Ott i. d Bd., der aber zugleich die Grenzen des subjektivistischen Moralansatzes – im Sinne von Hegels „Brei des Herzens“ – hervorhebt. 33 Vgl. dazu die Beiträge von Pirmin Stekeler-Weithofer und Jean-François Kervégan i. d. Bd. Zu diesem Problemfeld ferner etwa Christoph Jamme, Das Verschwinden der Moralphilosophie. Zum Verhältnis von subjektivem, objektivem und absolutem Geist in Hegels Rechtsphilosophie, in: Thomas Oehl/Arthur Kok (Hrsg.), Objektiver und absoluter Geist nach Hegel. Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte, Leiden/Boston 2018, S. 145 ff.; sowie Jean-François Kervégan, Die verwirklichte Vernunft. Hegels Begriff des objektiven Geistes, Frankfurt a. M. 2019.

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auch innerhalb einer solchen Vermittlung unterschiedliche Akzentuierungen möglich bleiben.

III.

Hegel als einen „modernen Denker“ zu bezeichnen meint in diesem Sinn nicht die Feststellung, dass er es mit seinem Denken erstaunlicherweise bereits ähnlich herrlich weit gebracht habe wie die ihm damit zugleich als Maßstab vorgegebene Gegenwart. Es verweist vielmehr darauf, dass noch die Probleme der Gegenwart und damit diese selbst mit Hilfe eines an Hegel geschulten Blicks genauer erkannt und bearbeitet werden können.34 Die nachfolgenden Beiträge bilden eine Probe auf die so bestimmte Aufgabe. Sie demonstrieren in ihren (auch untereinander) kontroversen, bisweilen thesenhaft zugespitzten Analysen nicht nur, dass und wie eine Rechtsphilosophie nach Hegel in dem Sinn möglich und sogar notwendig bleibt, dass über die Frage des Rechts weiterhin philosophisch nachgedacht werden kann und muss. Sie zeigen zugleich, warum eine Rechtsphilosophie nach Hegel eine Philosophie sein muss, die gewissermaßen durch Hegel hindurchgegangen ist und seine Lektion verinnerlicht hat. Das heißt gerade nicht, dass sie einfach aufgrund der zeitlichen Differenz, dem fragwürdigen Glück des später Geborenseins, über Hegel hinauszugehen vermag.35 Sie muss sich zunächst und vor allem der Aufgabe stellen, eine immer wieder neu ansetzende, immer genauere Lektüre zu unternehmen. Zu dieser Aufgabe möchten der vorliegende Band und die ihm versammelten folgenden Texte beitragen. Vor allem aber wollen sie dazu ermuntern, die Aufgabe selbst aufzunehmen und die Arbeit an ihr fortzusetzen.

34 Vgl. dazu v.a. die Beiträge von Zdravko Kobe und Konrad Ott i. d. Bd. Ferner etwa die Beiträge in Wolfgang Welsch/Klaus Vieweg (Hrsg.), Das Interesse des Denkens. Hegel aus heutiger Sicht, München 2007; und in Hartmut Rosa/Klaus Vieweg (Hrsg.), Zur Architektonik praktischer Vernunft – Hegel in Transformation, Berlin 2014. 35 Vgl Adorno, Aspekte, a.a.O., S. 251.

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Hegels Universalismus – Gegen den Relativismus Klaus Vieweg Hegels Philosophie kommt aus europäischer Tradition, aber repräsentiert kein eurozentrisches Denken. Wahrheit im Hegelschen Sinn ist nicht westlich oder östlich, weder europäisch noch asiatisch, nicht abend- oder morgenländisch. Als Ausgangspunkt der Darstellung soll der Universalitäts-Paragraph 209 RPh dienen: „Es gehört der Bildung, dem Denken als Bewußtsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit, daß Ich als allgemeine Person aufgefaßt werde, worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist. Dies Bewußtsein, dem der Gedanke gilt, ist von unendlicher Wichtigkeit.“1 Hier wird speziell mit den Kursivierungen – Denken, allgemeine Person etc. – der Gedanke der Universalität formuliert und aller diesbezüglicher Relativismus ausgeschlossen und zugleich ein leerer Kosmopolitismus, der nicht das logische Gefüge des Begriffs – Allgemeinheit, Besonderheit, Einzelheit – erfüllt, abgewiesen. Nochmals: Wenn Hegel hier die Wendung „von unendlicher Wichtigkeit“ benutzt, dann haben wir es mit einem zentralen, unverzichtbaren Grundgedanken zu tun. Hinzuzufügen wären noch zwei sinngemäß gleiche Stellen aus Zusätzen zu Paragraphen aus Hegels Enzyklopädie: Im Zusatz zu  § 393 heißt es: „Aus der Abstammung kann aber kein Grund für die Berechtigung oder Nichtberechtigung der Menschen zur Freiheit und zur Herrschaft geschöpft werden. Der Mensch ist an sich vernünftig; darin liegt die Möglichkeit der Gleichheit des Rechts aller Menschen – die Nichtigkeit einer starren Unterscheidung in berechtigte oder rechtlose Menschengattungen.“2 Im Zusatz zu Paragraph 433 heißt es, „daß der Mensch als solcher, als dieses allgemeine Ich, als vernünftiges Selbstbewußtsein, zur Freiheit berechtigt ist.“ Darin liege die „Anerkennung der ewigen Menschenrechte“ – ewig, als solcher, als allgemeines Ich.3 Dies sei Vertretern der sogenannten Cancel culture ins Stammbuch geschrieben, die Hegel ohne tieflotende Prüfung seines Universalismus, seines Denken der Freiheit, rassistische oder kolonialistische Gedanken unterstellen. Solche Vorwürfe des Rassismus, Kolonialismus oder neuerdings durch das Unwort ‚Kulturrassismus‘

1 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, (im Folgenden RPh) § 201. 2 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, TWA 10, S. 57-58 (Enz). 3 Ebd. S. 223-224.

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© Brill Fink, 2024 | doi:10.30965/9783846768358_002

2

Klaus Vieweg

offenbaren allerdings den kläglichen hermeneutischen Zugriff auf Hegels Philosophie seitens der Anführer dieser perfiden Attacken. Dass der Mensch als Mensch frei ist, gilt Hegel als ‚alleinige Quelle des Rechts‘. – Der Mensch ist als Mensch freigeboren, der „allgemeine Mensch, der Mensch, wie ihn der Gedanke und er sich im [Gedanken] erfaßt.“ Erst „mit diesem Wissen ist die Freiheit Recht, nicht ein positives Privilegium, sondern das Recht an und für sich“.4 Dieser Hegelsche Fundamentalgedanke der Freiheit gilt „unabhängig von Geburt, Stand, Bildung usf.“ Damit kann keine Kultur, kein Volk, keine Nation, keine Gruppe etc. exklusive Rechte beanspruchen, jegliche Form solcher Minderschätzung, jede Form von Tyrannei, von Ausgrenzung aufgrund von Besonderheit – von Herkunft, Geschlecht, Alter, ethnischer Herkunft etc. etc., jegliche Art von Rassismus oder Kolonialismus steht diametral zum universellen Recht als Vernunftrecht. Sklaverei, Knechtschaft, Unterwerfung fallen in einen Zustand vor dem Recht, sind kein Zustand des absoluten Rechts, des Vernunftrechts (RPh  7, 124). Der Sklave, der Knecht, der Unterdrückte, der Diskriminierte hat stets (unabhängig von der Zeit) das Recht auf Widerstand gegen die Unterwerfung. § 2 RPh betont, dass „für das römische Recht keine Definition vom Menschen“ möglich war, denn ‚der Sklave ließe sich darunter nicht subsumieren‘, in seinem Stand ist jener universelle Begriff des Menschen verletzt. Und für die philosophische Erkenntnis ist die „Notwendigkeit des Begriffs die Hauptsache“ (RPh 7, 31). Die Entwicklung aus historischen Gründen darf nicht verwechselt werden mit der Entwicklung aus dem Begriff und die geschichtliche Erklärung und Rechtfertigung nicht zur Bedeutung einer an und für sich gültigen Rechtfertigung ausgedehnt werden (§ 3, RPh 7, 35–36).

Philosophische Theorie der Person – das abstrakte Recht

Hegels Gedanke des Universalismus verlangt den Rekurs auf Hegels Theorie der Person, der Personalität, den ersten Abschnitt der Rechtsphilosophie.5 In dieser innovativen, logisch fundierten Theorie der Personalität werden die Grundpfeiler des gesamten Gebäudes dieser Philosophie der Freiheit errichtet. Ein neu konturierter Begriff der Person (der Persönlichkeit) und des abstrakten Rechts eröffnet die Möglichkeit sowohl für ein tragfähiges Verständnis des 4 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, TWA Bd. 20, S. 507-508. 5 Die Ausführungen folgen, speziell im ersten Teil dem Abschnitt zu Person und Personalität, den Darstellungen in: Vieweg, Klaus, Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München, 2012.

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Hegels Universalismus – Gegen den Relativismus

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Vernunftrechts. Die folgenden Überlegungen beschränken sich auf den Anfang, auf das Fundament – dem Allgemeinen und Abstrakten, dem unendlichen Auf-sich-selbst-Bezogensein, der einfachen Selbstreferenz des Willens. Der an und für sich seiende Wille ist hier in der Bestimmtheit der Unmittelbarkeit, in der Bestimmtheit des Seins (RPh § 34). Dem Ich kommt die unmittelbare Allgemeinheit des Seins zu. ‚Im Ich ist so das Sein‘, das Ich ist die unmittelbare Beziehung auf sich selbst. Mit dieser negativen Bestimmtheit – und der bloß abstraktiven, noch nicht in sich bestimmten Beziehung auf sich – ‚ich kann von allem abstrahieren, aber nicht vom Denken, denn Abstrahieren ist selbst das Denken‘6 – ist der Wille jetzt in sich einzelner Wille als allgemeiner. Mit anderen Worten: „Der an und für sich freie Wille, wie er in seinem abstrakten Begriffe ist, ist in der Bestimmtheit der Unmittelbarkeit“ […] „in sich einzelner Wille eines Subjekts.“ (RPh § 34)7 In dieser formellen, inhaltslosen, einfachen Beziehung auf sich, in seiner exklusiven Einzelheit ist das Subjekt Person (RPh §§ 34, 35). Die Persönlichkeit beinhaltet „daß ich als Dieser vollkommen nach allen Seiten […] bestimmte und endliche, doch schlechthin reine Beziehung auf mich bin und in der Endlichkeit mich so als das Unendliche, Allgemeine, Freie weiß.“ (RPh § 35)8 Mit Persönlichkeit wird so der Begriff als solcher ausgedrückt, die Person umfasst diesen Begriff mit der Bestimmtheit der Wirklichkeit. Relevant ist die Unterscheidung von Person und Persönlichkeit und die Entfaltung des Rechts als einer ‚Entwicklung des Begriffs ‚Person‘, die von der abstrakten Rechtsperson hin zur konkreten Staatsperson verläuft.9 Die Person und ihr Tätigsein werden auf den höheren Stufen des Handlungsbegriffs und der Bestimmung des Akteurs der Handlung aufgehoben, das moralische 6 „Dies Abstrakte ist die Bestimmtheit dieses Standpunkts.“ – „Noch bestimmungslos, gegensatzlos, in sich selbst“ (RPh § 34, A). Zu allen weiteren besonderen Bestimmtheiten (Triebe, Bedürfnisse, Eigenschaften, etc. etc.) kann ich mich ‚negativ‘ verhalten, von ihnen absehen. Darin besteht das Fundament der Gleichheit der Personen. 7 Es handelt sich um den freien Willen in potentia, noch nicht actu, aber diese Potentialität ist von fundamentalem Gewicht, z. B. die Anerkennung von Kindern. In Bezug auf Kranke und geistig Behinderte verweist Hegel auf nur einzelne Momente, die dem Menschen die Ausübung seines Grundrechts erschweren, aber das Recht des Betroffenen nicht prinzipiell antasten. 8 „Die ‚reine Beziehung auf mich‘ der Personalität ist also die rein denkende und stellungsnehmende (insofern voluntative) Beziehung eines selbstbewußten und verkörperten Individuums auf sich.“ (Siep, Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, S. 101). Vgl. dazu: Quante, Michael, Die Persönlichkeit des Willens als Prinzip des abstrakten Rechts. Eine Analyse der begriffslogischen Struktur der §§ 34-40 von Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: G.  W. F.  Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. Siep, Ludwig, Berlin 1997, S. 73-94. 9 Vgl. Vieweg, Das Denken der Freiheit.

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Subjekt etwa wird als besondere Person beschrieben, das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft als konkrete Person (‚Privatperson‘), Person und Persönlichkeit bleiben eine essentielle Dimension der auf den höheren Stufen agierenden Subjekte. Mit dem neu konzipierten Begriff der Person wird der Anfang von Hegels praktischen Philosophie und ihre Grundfeste fixiert, darauf ruht die weitere Entwicklung seiner Philosophie des Rechts. Logisch werden das abstrakte Recht und die Bestimmung der Personalität als erste Stufe in der Entfaltung des Rechtsbegriffs in den Grundlinien durch die Lehre vom Begriff und den Übergang zur Lehre vom Urteil untermauert. Das Ich kommt im Subjekt in doppelter Weise in Betracht: als ‚Dieses‘, Unverwechselbares, das indexikalisch ausgedrückt oder ‚angezeigt‘ wird (das ganz bestimmte Besondere) und zugleich als das Entgegengesetzte, als reiner Selbstbezug und darin Allgemeines. Die endliche Person kann sich so als Allgemeines, Unendliches, Freies wissen (RPh § 35). Von der erstgenannten Besonderheit des Willens wird in der Bestimmung der abstrakten Person vollständig abgesehen, sie bleibt für die Persönlichkeit zunächst ein Gleichgültiges: „Meine Allgemeinheit – dies die absolute Berechtigung, wovon alles andere abhängt“ (RPh  § 35, A). Das erste Kapitel dreht sich somit um das logische Prinzip der Einzelheit (E), die unmittelbare Allgemeinheit (A) ist. Der (freie) Wille ist zunächst unmittelbar und sein Begriff daher abstrakt – eben die Persönlichkeit (RPh § 33). Der Begriff der Person verlangt ein Wissen von sich als abstraktem Ich, ein denkendes Wissen von sich, das Ich erkennt sich selbst und erkennt sich selbst an.10 Die Person hat ihre Legitimität im freien Willen, der als sich wollend gedacht wird. Von Persönlichkeit ist nicht bei einem bloßen Selbstbewusstsein zu sprechen, sondern es handelt sich um „ein Selbstbewußtsein von sich als vollkommen abstraktem Ich, in welchem alle konkrete Beschränktheit und Gültigkeit negiert und ungültig ist.“ (RPh § 35) Jede sich denkende und wollende Ichheit, die sich als eine solche (an)erkennt, ist eine Person: der Einzelne ist das Allgemeine. Als dieses reine Für-mich-Sein oder Für-sich-Sein bin ich schlechthin nur auf mich bezogen, ich schreibe mir dies zu und erkenne mich an. Darin gilt mein Wille, mein Recht, das Recht des Einzelnen als Allgemeines, Unendliches. „In der Tat gründen sich das Recht und alle seine Bestimmungen allein auf die freie Persönlichkeit, eine Selbstbestimmung“. (Enz § 502) Die Antwort auf die Frage, wie im reinen Denken das Ich zu einem Gegenstand für das Selbstbewusstsein werden kann, muss auf die Voraussetzungen der Logik und des subjektiven Geistes verweisen. Wenn also im Sprechen das Wörtchen ICH auftaucht, so entzieht sich dies einer kurzen Definition. Um 10

Vgl.: Siep, Ludwig, Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, S. 98-115.

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diese erste Allgemeinheit auszudrücken, operiert Hegel auch mit dem Terminus Persönlichkeit als Einheit des ‚Diesen‘ und des ‚Ich‘ (der Ichheit). In dieser Endlichkeit weiß der Einzelne sich als das Unendliche, Allgemeine; das Ich hat jetzt Wissen von seiner Freiheit und ist damit nicht mehr nur unmittelbares Selbstbewusstsein. In Bezug auf RPh § 5 gilt dieses Formelle, Abstrakte als die Bestimmtheit des Anfangs: Mein Wille wird unabhängig von seiner Besonderheit und unabhängig von aller weiteren Bestimmtheit respektiert und legitimiert, er ist daher ‚berechtigt‘. Von der Besonderheit, von der besonderen Bestimmtheit des Willens, wird zunächst abgesehen, weshalb vom abstrakten Recht gesprochen werden darf (RPh § 37). Es wird sich jedoch zeigen, dass von der Besonderheit (B) letztlich eben nicht abstrahiert werden kann, die Beziehung Einzelheit – Besonderheit (E – B) muss letztlich doch in Rechnung gestellt werden, was dann die Grenze des abstrakten Rechts markiert. Im Eingangsparagraphen liest sich dies wie folgt: „Nach dem Moment der Besonderheit des Willens hat er einen weiteren Inhalt bestimmter Zwecke, und als ausschließende Einzelheit diesen Inhalt zugleich als eine äußere, unmittelbar vorgefundene Welt vor sich.“ (RPh § 34) Hegels Anmerkung hierzu lautet: „alpha) Freier Wille, der sich will, abstrakt. Beta) Außer ihm B[esonderheit] […] Seine Realität, Gegenständlichkeit hat noch gar keinen eignen Inhalt, der aus sich selbst bestimmt wäre“. In der Persönlichkeit liegt die absolute Berechtigung des freien Willens, meine Allgemeinheit ist diese absolute Berechtigung, mein Wille gilt als allgemeiner, ohne weitere Stützen oder andere Begründungen (RPh § 35). Das Recht und alle seine Bestimmungen gründen sich allein auf die freie Persönlichkeit, auf den Begriff der Person, dies beschreibt Hegel ausdrücklich als das Fundament der Selbstbestimmung (Enz § 502) – unbedingt, ewig, unantastbar.

Die Anerkennung der Person – Die Rechtsfähigkeit

Das Hinausgehen über das einfache ‚Ich will‘ in der Rede vom Ich, welches sich als Ich will, zeigt Hegel kategorial mit der Rechtsfähigkeit an, was die Pflicht einschließt ‚Sei eine Person‘, die Aufforderung, sei ein Subjekt, das seine Allgemeinheit, eben die genannte absolute Berechtigung weiß, ein Subjekt, dem dieses Charakteristikum zugerechnet werden kann. Sofern es sich als Person weiß, schreibt sich jedes Subjekt diese Rechtsfähigkeit zu. Die wechselseitig respektierte absolute Selbständigkeit hat jetzt den Status der absoluten Berechtigung jeder einzelnen Person. Darin haben wir das Allgemeine als Universelles, schlechthin Gültiges, die absolute Gleichheit der in der Relation der Anerkennung stehenden Einzelnen, eben insofern sie Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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ausschließlich als Personen genommen werden. Verhältnisse wie Knechtschaft, Sklaverei oder Despotismus können somit von vornherein nicht als Formen der Freiheit gelten. Im reziproken Anerkanntsein der Personen als Personen haben wir ein intrinsisches Moment von Hegels Begriff der Freiheit. Gegen die Deutung des Hegelschen Ausgangspunktes als ‚Individualismus‘ oder ‚Liberalismus‘ bzw. gegen die These von der ‚verdrängten Intersubjektivität‘ oder gegen die Behauptung, dass Hegel den ‚Personenbegriff völlig von Intersubjektivität losgelöst denkt‘11, kann eingewendet werden, dass das Moment der Anerkennung im Hegelschen Anfang vorausgesetzt ist.12 Anlässlich der Interpersonalität als erster Stufe der Intersubjektivität dürfte folgende Stelle einschlägig sein: Im Kontext der Überlegungen zum Eigentum betont Hegel, dass „Ich, die unendliche Beziehung meiner auf mich, als Person die Repulsion meiner von mir selbst bin und in dem Sein anderer Personen, meiner Beziehung auf sie und dem Anerkanntsein von ihnen, das gegenseitig ist, das Dasein meiner Persönlichkeit habe.“ (Enz § 490) Der zweite Teil des Gebotes des abstrakten Rechts inkludiert die Intersubjektivität in Gestalt der Interpersonalität und muss lauten: ‚Respektiere jegliche andere einzelne Ichheiten als Personen, als rechtsfähige Subjekte‘. Auf diese Interpersonalität bauen die in den Grundlinien weiter entfalteten Formen von Inter-Subjektivität auf. Grundsätzlich können dann in den Grundlinien drei Hauptstufen der Inter-Subjektivität identifiziert werden: a) die Inter-Personalität; b) die moralische Inter-Subjektivität sowie c) die sittliche Inter-Subjektivität.

Das Recht auf Leben und Unverletzlichkeit – Die Person als Selbstzweck

Hier geht es um das Gebot der Unverletzlichkeit oder Integrität jeder einzelnen Person – Kant gebraucht ‚heilig‘ und ‚unverletzlich‘ synonym – und zwar in Form eines Unterlassungsgebots, nämlich des Verbots, diese Personalität zu beeinträchtigen oder zu verletzen. In der deutschen Verfassung heißt es: „Die

11 Hösle, Vittorio, Hegels System, Bd. 2, S. 491, Hamburg 1988. 12 „Daß die prinzipielle Gleichheit aller Rechtssubjekte in Hegels Rechtsphilosophie nicht mehr eigens erörtert werden muß, liegt daran, daß in der Allgemeinheit des sich wissenden Wissens ein wechselseitiges Anerkennungsverhältnis impliziert ist.“ Siep, Ludwig, Intersubjektivität, Recht und Staat in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik, hg. v. Dieter Henrich u. Rolf Peter Horstmann, Stuttgart 1985, S. 258.

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Freiheit der Person ist unverletzlich.“13 Mit dem Recht auf Leben wird ein fundamentales Recht fixiert, dessen Verletzung alle weiteren Rechte tangiert und gegebenenfalls ausschließt. Die Person verhält sich zu sich selbst nicht nur dadurch, dass sie Ich ist, worin der einzelne Wille sich diese seine Allgemeinheit zuschreibt, ebenso muss berücksichtigt werden, dass die vorgefundene Natur von der tätigen Person aufgehoben, zum Eigenen transformiert wird. Dieses ‚sich setzende‘ Subjekt ist – im Unterschied zu jeglichen Sachen – an sich selbst Zweck14 und von absolutem Wert.15 Vernünftige Wesen dürfen laut Kant Personen genannt werden, weil „ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d.i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin sofern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist).“16 Eine weitere Billigung oder Legitimierung des Person-Seins wird nicht benötigt. Das Willenssubjekt (der Mensch) gilt Hegel als ‚absoluter Selbstzweck‘.

Das Recht auf Personalität als Grundrecht und als Fundament der Menschenrechte

Die genannten Dimensionen – Anerkennung, Unverletzlichkeit und Selbstzweck – verbinden sich im Gedanken der Gleichheit der Personen in ihrer ‚Mensch-heit‘‚ der Menschheit in jeder Person‘ (Kant), in einem universellen Prinzip, insofern ja ausdrücklich von jeglicher Besonderheit abgesehen, abstrahiert wird, damit wird ein Prinzip von ‚absolutem Werthe‘ (Kant) konstituiert. Darin sieht Hegel ein Prinzip des Denkens, worin das Ich als allgemeine Person beurteilt wird, worin alle diese Subjekte identisch sind – der Gedanke des Universalismus. „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“17 Im Wörtchen ‚niemand‘ drückt sich die angesprochene Universalität aus – ‚alle‘ ohne Einschränkung aufgrund besonderer Bestimmtheit. Das Prinzip des Rechts der Person als das Fundament aller Rechte repräsentiert das Grundrecht

13 14 15 16 17

GG Art. 2 (2). Kant, Kritik der praktischen Vernunft (KdpV), AA V, S. 112. Ebd., S. 429. Ebd., S. 428. GG Art. 3 (3).

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schlechthin18. Alle weiteren Bestimmungen des Rechts gründen sich ‚allein auf die freie Persönlichkeit‘, auf das eine (singuläre) und universelle Recht der Personalität.19 Eminentes Gewicht erhält hier § 66 RPh über Grundrecht der Person. „Das Recht an solches Unveräußerliche ist unverjährbar, denn der Akt, wodurch ich von meiner Persönlichkeit und substantiellem Wesen Besitz nehme, mich zu einem Rechts- und Zurechnungsfähigen, Moralischen, Religiösen mache, entnimmt diese Bestimmungen eben der Äußerlichkeit, die allein ihnen die Fähigkeit gab, im Besitz eines anderen zu sein.“ (RPh § 66)20 Die Modernität dieses Gedankens des einen Grundrechts dürfte unbestritten sein, außerdem legitimiert Hegel an einer vermeintlich marginalen Stelle schon die Umwälzung aller gegen dieses Grundrecht verstoßenden Zustände, das Recht auf Widerstand und der Konstitution einer freien Ordnung: „Mit diesem Aufheben der Äußerlichkeit fällt die Zeitbestimmungen und alle Gründe weg, die aus meinem früheren Konsens oder Gefallenlassen genommen werden können.“ (RPh  § 66) Jeder Unterdrückte oder Diskriminierte hat das Recht jeder Zeit seine Fesseln zu zerbrechen, er hat das unbedingte, uneingeschränkte Recht auf Anerkennung seiner Person.21 Hier haben wir die Rede vom Wegfallen der Zeitbestimmtheit und der Formel ‚jeder Zeit‘, dieses Grundrecht ist eben im wahrsten Sinne ‚unverjährbar‘ und unveräußerlich, es hat absolute Geltung, ist nicht relativierbar. Das Staatsgesetz als Gesetz der Freiheit muss dieses Recht, diese unantastbare Würde des Menschen voraussetzen.22 Dies gestattet es hier (mit Hegel) im Plural von den Grundrechten, den 18 Schnädelbach unterstellt dagegen, dass Hegel die in den USA und Frankreich deklarierten Menschenrechte für Ideologie halte, ein eklatanter Missgriff (Schnädelbach, Herbert, Die Verfassung der Freiheit (§§ 272-340), in: G.  W. F.  Hegel  Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. Ludwig Siep, Berlin 1997, S. 260. Hegel formuliert zunächst das Grundrecht schlechthin und dann ein darauf bauendes System fundamentaler Rechte. 19 Das Recht und alle seine Bestimmungen gründen sich „allein auf die freie Persönlichkeit, eine Selbstbestimmung, welche vielmehr das Gegenteil der Naturbestimmung ist.“ (Enz § 502). 20 Hegel begründet dies mit Hinweis auf seinen Begriff des Geistes: In diesem Begriff, nur „durch sich selbst und als unendliche Rückkehr in sich aus der natürlichen Unmittelbarkeit seines Daseins das zu sein, was er ist, liegt die Möglichkeit des Gegensatzes zwischen dem, was er nur an sich und nicht auch für sich ist (RPh § 57), sowie umgekehrt zwischen dem, was er nur für sich, nicht an sich ist (im Willen das Böse), – und hierin die Möglichkeit der Entäußerung der Persönlichkeit und seines substantiellen Seins“ (RPh § 66). 21 Der ‚Herr‘ erreicht ebenfalls keine Anerkennung seiner Personalität, denn der von ihm Unterschiedene, der Andere als ‚Knecht (Sklave) ist kein Freier und kann so sein Gegenüber nicht anerkennen. 22 In den modernen Staaten, so Hegel in Bezug auf die Rechtsfähigkeit als Kern der Personalität, darf „man die Definition des Menschen – als eines rechtsfähigen – an die Spitze des Gesetzbuches stellen, – ohne Gefahr zu laufen, auf Bestimmungen über Rechte

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Hegels Universalismus – Gegen den Relativismus

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Menschenrechten zu sprechen, die sich auf das eine ‚Grundrecht‘ stützen und dessen Fortbestimmungen sind. Diese Rechte gelten als unbedingt und unverjährbar, absolut: Man müsse nicht bei der Abstraktion dieser Menschenrechte stehenbleiben, d.h. diese Rechte müssen fortbestimmt werden (u. a. zu konkreten Rechten des Citoyen), aber sie sind die eherne Grundfeste der Freiheit – ‚dieser Grundsatz ist an sich absolut‘. Dies erscheint als starke These für eine Zeit, in der universalistischkosmopolitisches Denken zugunsten von verschiedenen Spielarten eines schier übermächtigen Relativismus verabschiedet wird. Der Generalverdacht gegen den Universalismus, gegen weltbürgerliches Denken konzentriert sich in der Rede vom ‚Terror des Allgemeinen‘. Meist wird so getan, als ob man die Besonderheiten ohne Allgemeinheit, ob man Endlichkeit ohne Unendlichkeit, Vielheit ohne Einheit denken kann, ein offenkundiger logischer Fauxpas, der unausweichlich zum ‚Terror des Besonderen‘ führt. Hegel denkt jedoch jenseits eines Terrors des Allgemeinen als auch den des Besonderen, vermeidet den ‚leeren Kosmopolitismus‘23 als auch den kulturellen, ethnischen und nationalen Relativismus. Der Erstgenannte, ein ‚dem konkreten Staatsleben‘ gegenüberstehender Kosmopolitismus, bleibt eine abstrakte Verstandesallgemeinheit, welche die Besonderheiten des Kulturellen und Ethnischen ignoriert und negiert. Der Relativismus hingegen, logisch die abstrakte Verstandesallgemeinheit, tritt in verschiedenen Versionen auf, etwa in Gestalt eines kulturell, national oder religiös formierten ‚Zentrismus‘ (Beispiel: Nationalismus, Chauvinismus, Eurozentrismus), mit der Ablehnung jeglicher Allgemeinheit oder Universalität (totaler Kulturrelativismus, heute oft in Form des Identitären).

Gegen den Relativismus

Eine philosophische Streitfrage kann laut Friedrich Schlegel nur vor einem philosophischen Richterstuhl entschieden werden. Das Beurteilen verlangt den Beweis, ob bei einer Position unbedingte Geltung vorliegt, erforderlich bleibt Kant zufolge ein ‚Probierstein der Wahrheit‘, ein Härtetest für die Stichhaltigkeit der Position. Während es beim chemischen Prüfstein um den Reinheitsgrad von Edelmetallen geht, so hier um die ‚reine‘ Wahrheit‘, verbürgt durch das Legen auf die philosophische Goldwaage in der Tradition von Aristoteles,

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und Pflichten des Menschen zu treffen, die dem Begriff des Menschen widersprechen.“ (RPh § 2, A). „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ (GG Art. 1). Vgl.: § 209.

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Kant und Hegel. Kriterium muss die Resistenz, die Immunität des positiv Gesetzten gegen die anderen Positionen sein. Bereits Aristoteles benannte klar den entscheidenden philosophischen Prüfstein: ‚Wer recht erkennen will, muß zuvor in richtiger Weise gezweifelt haben.‘ Den Idealtypus solchen Zweifelns repräsentiert die pyrrhonische Skepsis, im altgriechischen Sinne sind die Skeptiker Untersuchende und Prüfende – quaesitores et consideratores, sorgsam nachdenkend und vorurteilslos Untersuchen und Erwägen. Schon Sextus verwendet das Bild der Waage für das Prüfen, auf dem Cover der Essais des genialen Pyrrhonikers Montaigne verbinden sich das Symbol des Wägens mit der Frage: Was weiß ich? Und den Ausschlag für das Urteil sollen Beweise geben, keinesfalls insuffiziente Meinungen oder Mutmaßungen. Was steht im Zentrum der pyrrhonischen Examination, der Frage, ob es sich um philosophisches Edelmetall oder glänzendes Narrengold handelt? Ein elementares aber profundes Werkzeug findet hier Anwendung, allerdings in klarer Reinheit: Das Denken spitzt den Unterschied, die Mannigfaltigkeit zum Gegensatz, zur Kontradiktion zu. Eine Position, ein positiv, bejahtes Gesetztes oder Gesetztsein als einem ersten Fall wird mit einem zweiten Fall konfrontiert – der Zweifel etymologisch als zwei-fällig, zwei Fälle, zweifach, zwiefältig Es erfolgt das zulässige Geltendmachen der Zweiheit, der zweiten Variante gegen die erste, einer Andersheit und somit das Ver-Neinen des Positiven. Kant spricht vom ‚Auftritt des Zwiespalts‘. Dubitare (zweifeln) geht auf zwei, duo, diversi generis zurück, in Übersetzungen bleibt Zweiheit präsent: dubbio, doute, doubt. Der pyrrhonische Härtetest liegt in der Probe des Negativen, dem Für wird das Wider, dem Pro das Contra entgegengehalten, dem Positiven das Negative. Der pyrrhonische Äquipollenzgedanke beinhaltet, dass jede Behauptung, jeder Satz mit gleicher Gültigkeit mit der Gegenbehauptung, dem Gegen-Satz konfrontiert werden kann – panti logo logos isos antikeitai. Die Hauptwaffen gegen ein ungeprüftes, nicht legitimiertes Positives, von einem ‚wurmstichigen Dogmatismus‘ (Kant) bloß Gesetztes, finden sich in kongenial komprimierter Form in den von Sextus überlieferten und als Argumente genommenen Fünf Tropen des Agrippa – ein knappes, aber klassisches Lehrstück für alle Philosophierenden, überliefert durch Sextus Empiricus. Hier haben wir das bereits bei Platon und Aristoteles vorbereitete Arsenal für die seriöse Prüfung, speziell auch für die Frage nach dem Anfang, dem Primum der Philosophie. Infolge dieser scharfsinnigen, profunden skeptischen Einsprüche gerät das Philosophieren in ein gravierendes logisches Dilemma: A) Die Forderung nach Legitimation einer Position führt in den unendlichen Regressus – die Begründung bedarf der Begründung usf. Wir wissen nicht, „wo wir mit der Begründung beginnen sollen“ (Tropus  2). Fatalerweise nahmen Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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und nehmen dies viele neuzeitliche Philosophierichtungen nicht ernst und halten diese stetige Fortsetzung als Muster des Wissenschaftlichen, etwa der Empirismus. Andere sehen gar in dieser logisch inkonsistenten Figur der (schlecht) unendlichen Approximation gar ein Modell von Rechtfertigung, womit Wahrheit zu Wahrscheinlichkeit herabgestuft werden soll, eine offenkundige Bankrotterklärung der Philosophie. B) Um dem logischen Desaster des unendlichen Regressus zu entkommen, wird eine Position als Prämisse gesetzt, die nicht begründet wird – AgrippaTropus  4: ‚einfach angenommen und unbewiesen, nur durch Zugeständnis‘. Dieser vierte Tropus trägt deshalb den treffenden Namen ‚aus der Hypothese‘. Es handelt sich um eine bloße Annahme, ein Axiom, eine pure Behauptung, eine unbelegte Voraussetzung, welcher unbedingte Gültigkeit zugemessen wird. Jedoch kann der Skeptiker dieser Art von Voraussetzung oder Grundsatz das Gegenteil mit gleichem Gewicht entgegensetzen. Das Fundament dieses (dogmatischen) Begründens – so der Befund bei Sextus Empiricus – ist morsch, es werde ein nur in Entgegensetzung Bestehendes, somit Einseitiges, zum Unbedingten, Unmittelbaren erhoben bzw. postuliert. Der Dogmatismus erweist sich als verkappter Relativismus, die vermeintliche Unmittelbarkeit als vermittelt, relational. Über die ‚morsche Brücke von Postulaten‘ sollte Philosophie nicht schreiten, sie bricht unausweichlich zusammen. Jedes Postulat hat so viel Gültigkeit wie ein anderes und man kann dem Postulierer die Umkehrung ins Gesicht postulieren – so Montaigne. Als Resultat der Probe des Negativen ergibt sich a) die Entgegenstellung des Positiven, der Voraussetzung mit dem Anspruch auf unbedingter Geltung und der Voraussetzung der KontraPosition (der Negation) sowie der gleichen Gültigkeit beider Ansprüche, die Isosthenie oder Antinomie. Es wird b) damit eine Relation, ein Verhältnis von Positivem und Negativem konstituiert, woraus sich – wie in dem als Argument verstandenen Tropus 3 fixiert – die Relativität alles Wissens ergeben soll – apolytos.24 Dieser zentrale skeptische Tropus, das Argument der Relativität von allem, hat die Zwei-heit, die ‚Ent-zweiung‘ im Hintergrund, die sich in verschiedener Metaphorik des dia und diabolus artikuliert: Goethes Mephisto stellt sich als der Geist vor, der stets verneint und was man das Negative nennt, wäre sein eigentlich Element. In religiöser Sprache, der Teufel als der Zweite, der Abgefallene, der Separator, der Widersacher. Lukian spricht vom Standpunkt der Hölle, Jean Paul von der lex inversa, der Verkehrung des Ersten, des Positiven – erst die Höllenfahrt bahne aber die Himmelfahrt. Die Elixiere des 24 Vgl dazu ausführlich: Vieweg, Klaus, Philosophie des Remis, Der junge Hegel und das Gespenst des Skepticismus, München 1999.

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Teufels sind somit zu inhalieren, Teufels Küche zu inspizieren und die Papiere des Teufels gründlich zu studieren – die Philosophie feiert ihren ‚spekulativen Karfreitag‘, die Negativität. In der Philosophie repräsentiert die isosthenischantinomischen Methode den paradigmatischen Anwalt der Negativität, zur Geltungsprüfung einer Position, eines Gesetzten. Der Kerneinspruch des Relativismus lautet: Alles Wissen ist relativ. Nun ist dies mitnichten das totale Fiasko für alle Wahrheitsansprüche, der Schein trügt. Denn solch Relativismus gleicht dem von den Pyrrhonikern selbst bemühten Kathartikon, dem selbst sich mit abführenden Abführmittel. Es kann gezeigt werden, dass der skeptische Einwand ‚sich selbst in sich schließt und aufhebt‘, so Hegel. Sofern die Behauptung „alles Wissen ist relativ“ fixiert wird, schließt diese Behauptung sich selbst ein, die Relativität wird ins Gesicht der Relativität geschleudert – der Spieß wird umgedreht. Es muss hinzugefügt werden: „alles Wissen ist unbedingt, absolut“. Somit stehen zwingend zwei unverzichtbare Positionen nebeneinander: Absolutheit und Relativität, Unmittelbarkeit und Vermittlung, Nicht-Relationales und Relationales, Unbedingtes und Bedingtes – die Einseitigkeit der positiven wie der negativen Option, die beide sowohl dogmatisch und relativistisch sind – die Antinomie als das höchstmögliche Resultat des dualistischen Verstandes. Die Kontradiktion von Dogmatismus und Skeptizismus scheint ein unauflösbares Dilemma zu sein. Ob und auf welche Art bleibt der Vernunft im Angesicht des Antinomischen ein Weg zur Wahrheit offen? Hier kann auf Kant und Hegel rekurriert werden, auf das Unternehmen der Integration, der Inklusion der Negativität in das eigene Denken: die ‚skeptische Methode‘ muss laut Kant der Transzendentalphilosophie ‚wesentlich eigen und ihr unentbehrlich‘ sein, für Hegel bildet der Gedanke der bestimmten Negation ein Zentralmoment seiner Logik, dem Gedanken der Negativen als impliziten Moment, als der freien Seite jeder Philosophie und der Aufhebung des angeblich sakrosankten Satzes des Widerspruchs. Das Skeptische, Negative ist mit jeder echten Philosophie ‚aufs Innigste eins‘ – notwendig sei ein dritter Typ von Philosophie, die ‚weder Skeptizismus noch Dogmatismus und also beides zugleich ist‘. * Vom NS-Ideologen Rosenberg wurde Hegel als anti-deutscher, somit ‚unvölkischer‘ Kosmopolit beschimpft. Rosenbergs Variante eines militanten Nationalismus und Rassismus fußt auf der These von der prinzipiellen Verschiedenheit der Nationen und Kulturen, er verlangt die Abdankung der Idee der Menschheit und wendet sich dezidiert gegen die absoluten ,universalistischen‘ Systeme“ vom Type Hegels, von denen eine „Unitarisierung Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

Hegels Universalismus – Gegen den Relativismus

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aller Seelen“ drohe.25 Immer tritt solch Relativismus mit der These der prinzipiellen Verschiedenheit und totalen Eigenständigkeit von Kulturen, Völkern, Nationen etc. auf, dem Insistieren auf die Souveränität der Besonderheit, ohne Allgemeinheit. Der eklatante logische Fauxpas, sobald der Relativist vom ‚Alles‘ spricht, muss er seine eigene These einschließen, auch für den Satz „Alles Wissen ist relativ“ gilt die Relativität. Sofern der Relativist dies abweist, muss er als Fundamentalist des Besonderen entlarvt werden. Mit Hegel sollte so jenseits des Terrors des Allgemeinen und jenseits des Terrors des Besonderen gedacht werden. Beide Formen sind einseitig und stehen gegen Hegels Verständnis des Begriffs. Die Freiheit des Begriffs, der Begriff als das Freie heißt sein Zusammenschließen mit sich selbst, die Einheit des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen. Für das 21. Jahrhunderts sollte die Verteidigung von Hegels begrifflich fundiertem Universalismus eine gewichtige Rolle spielen, die Verteidigung seines Denkens der Freiheit.

25 Rosenberg, Alfred Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. München 1934, S. 136.

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Hegels Rechtsphilosophie als spekulativer Idealismus Christian Krijnen I.

Die Phänomenologie als Paradigma der Philosophie?

Während bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein Hegels Rechtsphilosophie bestenfalls auf historisches Interesse stoßen konnte und allenthalben die systematische Aktualität von Kants praktischer Philosophie propagiert wurde (und nach wie vor wird), hat sich seit den 90er Jahren eine bemerkenswerte Wende vollzogen: Im Zuge der philosophischen Debatte über ‚Anerkennung‘ wird Hegels Rechtsphilosophie vielfach diskutiert und als systematisches Angebot ernst genommen.1 Axel Honneths Versuch einer Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie2 bzw. deren umfangreiche Ausarbeitung in Das Recht der Freiheit3 ist diesbezüglich geradezu berühmt geworden. Wie der Titel der erstgenannten Schrift Honneths schon andeutet, wird Hegels Rechtsphilosophie dabei einer Reaktualisierung unterworfen. Mit dieser Reaktualisierungsmaßgabe geht nicht nur eine (übrigens eindrucksvoll heterogene) Hinwendung zu Hegels Philosophie einher; zugleich fällt die damit verbundene Abwendung von Hegels reifem System auf, wie es in Grundzügen in der Enzyklopädie von 1830 vorliegt. Hegels philosophisches Projekt 1 Einen Überblick der Anerkennungsdebatte bieten Schmidt am Busch, Hans-Christoph/ Christopher Zurn (ed.): The Philosophy of Recognition. Historical and Contemporary Perspectives, Lanham et  al.: Rowman & Littlefield 2010. Bezüglich Anerkennung und Sozialontologie vgl. Ikäheimo, Heikki/Arto Laitinen (Hg.): Recognition and Social Ontology, Leiden/ Boston: BRILL 2011. Zu Anerkennung und Kritischer Theorie siehe Schmidt am Busch, Hans-Christoph: „Anerkennung“ als Prinzip der kritischen Theorie, Berlin: de Gruyter 2011. Für eine Diskussion der anerkennungstheoretischen Aneignung des deutschen Idealismus vgl. Krijnen, Christian (Hg.): Recognition. German Idealism as an Ongoing Challenge, Leiden/Boston: BRILL 2014. – Freilich wird Hegels Rechtsphilosophie auch jenseits der Anerkennungsdebatte offensiv in die Gegenwartsphilosophie eingebracht. Vgl. etwa Vieweg, Klaus: Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München: Fink 2012, oder Chotaš, Jiří/Tereza Matějčková (ed.): An Ethical Modernity? Hegel’s Concept of Ethical Life Today, Leiden/Boston: BRILL 2020. 2 Honneth, Axel: Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie, Stuttgart: Reclam 2001. 3 Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin: Suhrkamp 2011.

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© Brill Fink, 2024 | doi:10.30965/9783846768358_003

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eines sich im Durchgang durch die drei Elemente des reinen Denkens, der Natur und des Geistes sich vollziehenden Selbsterkenntnisgangs der absoluten Idee ist für die Erneuerer wenig überzeugend. Honneth etwa moniert in seiner anerkennungstheoretischen Reaktualisierung der Hegelischen Rechtsphilosophie „methodologisch“, dass Hegels rechtsphilosophische Argumentation zwar auf dessen Logik rückbezogen sei, diese aber für uns heute aufgrund ihres „ontologischen“ Begriffs des Geistes als völlig unverständlich gelten müsse.4 Freilich wird eine systemirreferente Deutung von Hegels Begriff des objektiven Geistes auf grundlegende Bestimmungsstücke des Hegelschen Philosophiebegriffs verzichten müssen.5 Hegel selbst versteht seine Grundlinien der Philosophie des Rechts als Ausarbeitung der Philosophie des objektiven Geistes,6 also des Systems der Philosophie.7 Er bemerkt entsprechend, dass diese seine Rechtsphilosophie ihre Methode der Logik entlehnt.8 Die Logik hat somit eine tragende Funktion für die Rechtsphilosophie als Teil der Philosophie wie bezüglich ihrer spezifischen Inhalte.9 Die Ausarbeitung der Rechtsphilosophie verläuft gemäß der selbsterkenntnisfunktionalen Entwicklung der absoluten Idee als des absoluten Geistes (eines Geistes also, der sich erst am Ende der objektiven Geistphilosophie ergibt). Daher gilt auch der Anfangsbegriff der Rechtsphilosophie bzw. der Philosophie des objektiven Geistes als Ergebnis eines ihm vorangehenden philosophischen Bestimmungsgangs (des 4 Honneth, Leiden an Unbestimmtheit, S.  12 ff. Vgl. auch die in dieselbe Kerbe schlagenden Bemerkungen in Honneths Recht der Freiheit, S. 17 mit 106 f. 5 Dagegen ist es Honneth wegen der „eigentlichen Substanz“ der Hegelschen Rechtsphilosophie wichtig, dass es eine systemirreferente Deutung von Hegels Begriff des objektiven Geistes gibt (Leiden an Unbestimmtheit, S. 14 f.). 6 E § 487 A; vgl. §§ 483-552. – Georg Wilhelm Friedrich Hegel wird wie folgt zitiert: Wissenschaft der Logik. Erster Teil, hrsg. v. G. Lasson, Leipzig 1951 = I. Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil, hrsg. v. G. Lasson, Leipzig 1951 = II. Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 1955 = R. Werke in zwanzig Bänden, hrsg. v. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1971 = TWA (Band, Seite). Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. Hans-Friedrich Wessels / Heinrich Clairmont / Wolfgang Bonsiepen, Hamburg 1988 = PG. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hrsg. v. Friedhelm Nicolin / Otto Pöggeler, 8. Aufl., Hamburg 1991 = E. Gesammelte Werke, Deutsche Forschungsgemeinschaft in Verbindung mit der Hegel-Kommission der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und dem Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum. Hamburg: Meiner, 1968 ff. = GW (Band, Seite). 7 Vgl. R § 2: „Die Rechtswissenschaft ist ein Teil der Philosophie. Sie hat daher die Idee […] aus dem Begriffe zu entwickeln oder, was dasselbe ist, der eigenen immanenten Entwicklung der Sache selbst zuzusehen.“ 8 R §§ 2 Z mit 31. Überhaupt betrachten die ‚Realphilosophien‘ ihre Gegenstände im Modus der Notwendigkeit nach der „Selbstbestimmung des Begriffs“ (E § 246). 9 Indes ist es ein Verdienst von Vieweg, Denken der Freiheit, auf die Relevanz von Hegels Logik für die Rechtsphilosophie hingewiesen zu haben.

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subjektiven Geistes). Der so exponierte Begriff des Rechts bzw. des objektiven Geistes ist sodann zu „realisieren“. Durch seine Realisierung streift er den abstrakt allgemeinen Charakter ab, den er als Anfangsbegriff hat und erlangt so seine Bestimmung.10 Die Unterschätzung der Enzyklopädie bzw. des Hegelschen Systemgedan­ kens betrifft jedoch nicht nur die Rechtsphilosophie, wie ebenfalls aus der Anerkennungsdebatte hervorgeht: Den Protagonisten zufolge fungiert das Prinzip der Anerkennung in Hegels früher Philosophie, namentlich der von Hegel unveröffentlichten Jenaer ‚Geistphilosophie‘ (1805/6) und der Phäno­ menologie des Geistes (1807), als ein zentrales Prinzip seiner praktischen Philosophie.11 Da Hegel jedoch auch hier so wenig wie im Spätwerk, das sich zudem durch eine Beziehung zur Logik auszeichnet, die von seinen frühen Arbeiten abweicht, keine umfassende Theorie der Anerkennung entwickelt, wundert es nicht, dass es eingehende, aber eben zugleich eigenständige Versuche gibt, die Phänomenologie als Kern der Hegelschen Anerkennungstheorie zu interpretieren.12 Insofern ist es nicht überraschend, dass viele Anerkennungstheoretiker Hegels frühe Philosophie bevorzugen. Seine reife Philosophie scheint als solche unzureichend für eine Philosophie der Anerkennung. Diese müsste etwa aus einem Frühwerk wie der Phänomenologie entwickelt werden.13 Damit werden jedoch, was im Folgenden ausgeführt werden soll, gewisse Perspektiven des frühen Hegel maßgebend für die Deutung der Philosophie des späten 10

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Vor dem Hintergrund dieses Hegelschen Begründungsgedankens wird der von Honneth weit vorgeschobene begründungsfunktionale Status „sozialer Pathologien“ (Leiden an Unbestimmtheit, S. 16 f.; „Sozialphilosophie“, in: Stefan Gosepath/Wilfried Hinsch/Beate Rössler (Hg.), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Berlin: de Gruyter 2008, S. 1234–1241; Recht der Freiheit, Teil B, S. 127 ff.) ebenso problematisch wie seine damit verbundene Auffassung der philosophischen Begründung realer Phänomene. Vgl. wirkungsmächtig etwa Siep, Ludwig: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg/München: Alber 1979. Vgl. beispielsweise Cobben, Paul, The Nature of the Self. Recognition in the Form of Right and Morality, Berlin/New York: de Gruyter 2009, der damit freilich gezwungen ist, die Phänomenologie in ein anderes programmatisches Korsett zu schnüren und ihr einen anderen systemischen Stellenwert zuzuerkennen. Kok, Arthur: Kant, Hegel, und die Frage der Metaphysik. Die Möglichkeit der Philosophie nach der kopernikanischen Wende, München: Fink 2013, folgt ihm darin. Auch Halbig, Christoph/Michael Quante/Ludwig Siep: „Hegels Erbe – eine Einleitung“, in: Christoph Halbig/Michael Quante/Ludwig Siep (Hg.), Hegels Erbe, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S.  7–19, S.  10, stellen fest, dass es in der gegenwärtigen Debatte über Hegels Erbe gerade die Phänomenologie ist, die in der Aneignung Hegelscher Lehrstücke auf besonderes Interesse stößt.

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Hegel. Das Ergebnis ist sodann, dass Hegels spätere Philosophie hinter die in der Phänomenologie erreichten Position zurückfällt.14 Die Alternative zu dieser Prävalenz des Frühwerks ist, man denke wieder an Honneth, eine erhebliche Modifikation der reifen Philosophie Hegels, falls ihr Relevanz für die Philosophie der Gegenwart soll zugesprochen werden können. Hegels Auffassung, Philosophie und ihre Disziplinen müssten im Rahmen eines ‚Systems‘ der Philosophie ihrer Bestimmung zugeführt werden, wobei zudem der Logik eine fundierende und maßgebende Rolle für eine gegenwärtige Anerkennungsphilosophie zukomme, spielt entweder keine Rolle15 oder wird ausdrücklich als ‚metaphysisch‘ beiseitegeschoben.16 Dass die zweite Option, aufgrund metaphysischer Prämissen sei Hegels Philosophie, nicht zuletzt die Rechtsphilosophie, gründlich zu korrigieren, nicht nur Hegels eigener Auffassung diametral entgegengesetzt ist, sondern sich zudem nicht halten lässt, habe ich an anderer Stelle besonders in Bezug auf Honneth dargelegt.17 Deshalb wende ich mich im Folgenden der ersten 14

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Vgl. etwa die Position von Cobben, Nature of the Self. Auch Robert Brandom ist fasziniert von Hegels Phänomenologie, vor allem schätzt er den engen Konnex von Normativität und Sozialität, den Hegel als gegenseitige Anerkennung fasse. Brandom gibt Hegels Philosophie freilich einen neo-pragmatischen Anstrich: “Some Pragmatist Themes in Hegel’s Idealism. Negotiation and Administration in Hegel’s Account of the Structure and Content of Conceptual Norms,” European Journal of Philosophy 7 (1999), S. 164–189; Tales of the Mighty Dead. Historical Essays in the Metaphysics of Intentionality, Cambridge, Mass. 2002; “Sketch of a Program for a Critical Reading of Hegel. Comparing Empirical and Logical Concepts,” Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 3 (2005), S. 131–161; “Kantian Lessons about Mind, Meaning, and Rationality,” Philosophical Topics 34 (2006), S. 1–20. Entsprechend liest Brandom Hegels Text durch eine (sozial-)subjektivistische Brille, die allerdings nicht so recht zu Hegels objektiver Orientierung passt. Vielmehr kommt (auch) Brandom nicht umhin, die Funktion, die die Logik für das System der Philosophie hat, erheblich zu beschneiden und damit Hegels Methode philosophischer Erkenntnis zu modifizieren. Vgl. zum Beispiel Cobben, Nature of the Self. Vgl. etwa Honneth: „Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie“, in: Axel Honneth (Hg.), Pathologien des Sozialen. Die Aufgaben der Sozialphilosophie, Frankfurt am Main: Fischer 1994, S.  9–69; Leiden an Unbestimmtheit; Recht der Freiheit. – Sehr kritisch über Hegels System ist ferner Quante, Michael: Die Wirklichkeit des Geistes. Studien zu Hegel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2011, Kap. 3. Auch Siep wittert eine schlechte Metaphysik bei Hegel: Anerkennung als Prinzip; Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, München 2010; “Recognition in Hegel’s Phenomenology of Spirit and Contemporary Practical Philosophy,” in: Hans-Christoph Schmidt am Busch/ Christopher Zurn (ed.), The Philosophy of Recognition. Historical and Contemporary Perspectives, Lanham et al.: Rowman & Littlefield 2010, S. 107–127. Krijnen, Christian: “Recognition. Future Hegelian Challenges for a Contemporary Philosophical Paradigm,” in: Christian Krijnen (ed.), Recognition. German Idealism as an Ongoing Challenge, Leiden/Boston: BRILL 2014, S.  99–127; “Comprehending Sociality. Hegel

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Option zu, in der Absicht, das spekulativ-idealistische Profil der Hegelschen Rechtsphilosophie vor dem Hintergrund der Phänomenologie zu diskutieren. Meine These lautet: In einer verselbständigten, d. i. von ihrer Systemstelle losgelösten Form fällt die Phänomenologie hinter Hegels Anspruch einer wissenschaftlichen Philosophie zurück, und zwar aus methodischen Gründen. Eine solche Aneignung stellt daher weniger eine produktive Fortführung der Philosophie Hegels dar als vielmehr eine Unterbietung des von Hegel erreichten Reflexionsniveaus. Hegels Philosophie degenerierte schlimmstenfalls zum Steinbruch für eine eigene Philosophie- bzw. Systemvorstellung, die freilich in Auseinandersetzung mit Hegel begründet werden müßte, wenn sie sich denn überhaupt begründen ließe. Wenn ich recht sehe, liegt der Fall einer überstrapazierten Verselbständigung paradigmatisch in der Position des Rechtsphilosophie- und PhänomenologieSpezialisten Paul Cobben vor, der durch seine Hegel-Deutung hindurch und in engem Anschluß an sie zu einer systematischen Philosophie gelangt ist. Exemplarisch sei dazu seine einschlägige und viel beachtete Studie The Nature of the Self. Recognition in the Form of Right and Morality (2009) herangezogen. Cobben deutet hier, wie erwähnt, die Phänomenologie nicht nur als Kern der Hegelschen Anerkennungstheorie, sondern ist zugleich der Auffassung, Hegels spätere Philosophie falle hinter die in der Phänomenologie erreichten Position zurück. Die Phänomenologie bilde, als Entwurf, den systematischen Höhepunkt von Hegels Werk. Hegels Rechtsphilosophie müsse als Elaboration einer in der Phänomenologie entwickelten Programmatik und Vernünftigkeit verstanden werden,18 was Cobben in Kapitel 6 von Nature of the Self mit dem vielsagenden Titel „Das Programm der Rechtsphilosophie als Elaboration des Projekts der Phänomenologie“ eingehend ausarbeitet.19 Die Rechtsphilosophie sei aus der Phänomenologie zu begreifen und daran zu messen; soweit sie von der Phänomenologie abweiche, erweise sie sich als inferior.20 Inhaltlich gesehen gehe es Hegel in seiner Phänomenologie darum, die Einheit von Körper und Geist zu durchdenken. Dazu kombiniere Hegel Aristoteles’ Auffassung des menschlichen Selbst als eines sozialen Selbst mit Kants Auffassung der Freiheit des Individuums. Dass es in der Phänomenologie darum gehe, die Einheit von Körper und Geist zu begreifen, werde sichtbar, wenn man die Phänomenologie als eine Philosophie der Anerkennung deute: das Verhältnis zwischen Beyond his Appropriation in Contemporary Philosophy of Recognition,” Hegel Bulletin 9 (2017): 1–27. 18 Nature of the Self, S. 116. 19 Alle Übersetzungen aus dem Englischen sind von mir. 20 Nature of the Self, S. 8, 136.

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Körper und Geist bilde eine sehr komplexe Beziehung zwischen horizontaler (Recht) und vertikaler (Moralität) Anerkennung. – Zunächst gehe ich auf das Programm und die Systemstellung der Phänomenologie ein, anschließend auf Programm und Systemstellung der Rechtsphilosophie! II.

Der systemische Status der Phänomenologie

Bei ihrem Erscheinen 1807 hat Hegel der Phänomenologie – zweifelsohne ein „Jahrtausendwerk“21 – die Funktion einer Einleitung in das System der philosophischen Wissenschaft zugedacht, besonders in deren Grunddisziplin: die Logik.22 Während sie zunächst als erster Teil dieses aus Phänomenologie, Logik, Natur- und Geistphilosophie bestehenden Systems fungiert,23 hat Hegel diese Konzeption des Systems spätestens mit der Erstauflage der Seinslogik 1812 aufgegeben und durch eine Struktur ersetzt, wie er sie 1817 mit der ersten Auflage der Enzyklopädie vorgelegt hat. Hiernach präsupponiert das System der Philosophie die Phänomenologie nicht mehr als Einleitung und ersten Teil.24 Hegel schließt sie aus der Systemordnung insofern aus, als er wesentliche Teile der Phänomenologie vor allem in die Philosophie des subjektiven Geistes der Enzyklopädie integriert.25 Zudem wird der Enzyklopädie eine neue Einleitung vorangestellt.26 Darüber hinaus erhält die enzyklopädische Logik eine eigene Einleitung.27 Die innerhalb des enzyklopädischen Systems stehende ‚Phänomenologie‘ hat sicherlich nicht mehr die Aufgabe, in die 21 22 23 24

So Vieweg, Klaus: Hegel. Der Philosoph der Freiheit. Biographie. München: Beck 2019, S. 306. Vgl. I 7 f. GW 9, 447. Vgl. etwa Bonsiepen, Wolfgang: „Einleitung“, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. Hg. v. Hans-Friedrich Wessels/Heinrich Clairmont/Wolfgang Bonsiepen, Hamburg 1988, S. IX–LXIII, S. L ff., und Jaeschke, Walter: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart: Metzler 2003, § 6, sowie zur Stellung der Phänomenologie in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht neuerdings Bowman, Brady: „Zum Verhältnis von Hegels ‚Wissenschaft der Logik‘ zur ‚Phänomenologie des Geistes‘ in der Gestalt von 1807“. Ein Überblick, in: Michael Quante/Nadine Mooren (Hg.), Kommentar zu Hegels Wissenschaft der Logik, Hamburg: Meiner 2018, S. 1–42. 25 Selbstverständlich ist die Integration darauf nicht beschränkt, man denke etwa an Hegels Moralitätskritik in der Phänomenologie und der enzyklopädischen Philosophie des objektiven Geistes sowie der Rechtsphilosophie. 26 E §§ 1-18. 27 E  §§ 19-83. Vgl. auch E  § 25, wo Hegel darauf hinweist, dass die drei „Stellungen des Gedankens zur Objektivität“ in die Logik einleiten, deren Standpunkt herbeiführen sollen und sich darin mit der Einleitungsfunktion der Phänomenologie decken (auch wenn sie sich sonst wesentlich von der Phänomenologie unterscheiden).

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Philosophie einzuleiten. Hegel tut die Phänomenologie gelegentlich sogar als eine überflüssige Einleitung zur Logik ab,28 wobei er die Einleitungsfunktion der Phänomenologie selbst niemals vollständig aufgegeben hat und bis in die Seinslogik von 1832 an ihr festhält.29 Der Grund dafür ist, dass das „natürliche Bewußtsein“ zweifelsohne das Recht hat, zum spekulativen Standpunkt der Philosophie hingeführt zu werden. Dessen ungeachtet aber fungiert für den reifen Hegel die Phänomenologie nicht mehr als notwendige Einleitungswissenschaft in das System der Philosophie. Zudem eignet der Logik eine Selbstbegründungsfunktion: Der „Begriff der Wissenschaft“ gehe aus der Logik selbst hervor,30 die Bestimmung der Methode der Philosophie falle in die Logik selbst, während die Phänomenologie bloß ein „Beispiel“ dieser Methode bilde.31 Mag die Phänomenologie auch ein möglicher Weg in die Logik sein, konstitutiv im Sinne einer notwendigen Voraussetzung für den Standpunkt der Logik ist sie nicht.32 Gerade aus dem Abschnitt „Womit muss der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“33 geht hervor, dass die Phänomenologie nicht als Anfang der Logik fungieren kann, ist die für sie als Einleitung konstitutive Entgegensetzung 28 29 30 31 32

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Eine Einleitung über den Weg des sich vollbringenden Skeptizismus – d. i. der Weg der Phänomenologie – sei unerfreulich und überflüssig (E § 78 A). Vgl. GW 21, 9 Fußn.; I 29 ff., 53; vgl. auch die späte Notiz zur 2. Aufl. der Phänomenologie (PG 448). I 29. I 35. Anderer Meinung ist der Cobben-Schüler Kok, Frage der Metaphysik, Kap.  4.2.1 f. Ihm zufolge hat die Phänomenologie eine notwendige Einleitungs- und Begründungsfunktion für Hegels System. Koks Argumentation zieht jedoch weder Hegels Ausführungen zur Selbstbegründungsfunktion der Logik in Betracht noch dessen Bemerkungen über den räsonierenden und historischen Charakter von ‚Einleitungen‘. Sparby, Terje S.: Hegel’s Conception of the Determinate Negation, Leiden/Boston: BRILL 2015, ch. 7.1 ff., bedenkt nicht die besondere Bewandtnis, die es mit dem Anfang als Anfang der Philosophie und damit als Anfang eines logischen Prozesses der (Selbst-)Bestimmung des sich begreifenden Denkens auf sich hat. Houlgates Vorstellung, Hegel konzipiere das Denken als eine Art „intellektuelle Anschauung“, scheint mir unzureichend in Rechnung zu stellen, dass in Hegels logischer Konzeption objektiven Denkens der Gegensatz zwischen Intuition und Diskursivität von Anfang an überwunden ist und der Anfang der Logik entsprechend der Anfang eines Prozesses der Selbstbestimmung begreifenden Denkens ist (welcher Anfang als Anfang eben nur unbestimmte Unmittelbarkeit sein kann): Houlgate, Stephen: “Schelling’s Critique of Hegel’s ‘Science of Logik’,” Review of Metaphysics 53 (1999), S. 99–128, S. 119 ff.; The Opening of Hegel’s ‘Logic’. From Being to Infinity, West Lafayette, Ind.: Purdue University Press 2006, S. 125 ff.; „Der Anfang von Hegels Logik“, in: Anton Friedrich Koch/ Friedrike Schick/Klaus Vieweg et al. (Hg.), Hegel – 200 Jahre Wissenschaft der Logik, Hamburg: Meiner 2014, S. 59–70, S. 59. I 51-65.

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von Bewusstsein und Gegenstand (wie das Verhältnis von thematischem Bewusstsein (‚für es‘) und thematisierendem Bewusstsein (‚für uns‘)) doch zu voraussetzungsvoll. Hegel zufolge lässt sich der Anfang nur mit dem (reinen) „Sein“ machen, ganz gleich, ob man nun über die Phänomenologie in die Logik hineinkommt  oder durch eine Art Privat-Phänomenologie des philosophierenden Subjekts, die Hegel den Entschluss nennt, das Denken als solches zu betrachten.34 Das Projekt einer Phänomenologie ist hiernach zwar so oder so notwendig, um in das System der Philosophie hineinzukommen, als solches jedoch hat es nur eine Beziehung auf das Subjekt, das sich entschließt, zu philosophieren, nicht auf das System der Philosophie selbst. Und so wenig wie der Gegensatz des Bewusstseins zum Anfang des Systems der Philosophie taugt, so wenig etwa genügt der Anfang der Phänomenologie mit dem Kapitel „Die sinnliche Gewissheit oder das Diese und das Meinen“35 den von Hegel in der Logik herausgearbeiteten Bedingungen eines Anfangs der Philosophie: ebenso wie der Gegensatz des Bewusstseins wäre die sinnliche Gewissheit ein bestimmter Anfang, nicht die reine Unmittelbarkeit selbst, die für Hegel den Anfang auszeichnet und aus dem sich sodann der logische Fortgang generiert. Als solche sind sowohl der Gegensatz des Bewusstseins als auch die sinnliche Gewissheit nicht einmal logische Phänomene – sie sind Phänomene des Geistes. Als geistige Phänomens sind sie in den reinen Strukturen des Denkens fundiert, die die Logik traktiert. Mit der Phänomenologie gesprochen, ist der Geist in seinem „unmittelbaren Dasein“ das „Bewusstsein“,36 thematisch in der Phänomenologie, und im „reinen Element seines Daseins“ der „Begriff“,37 thematisch in der Logik. Ein Blick auf die enzyklopädische Phänomenologie des Geistes38 führt zu wichtigen Differenzen bezüglich der Phänomenologie von 1807, die ebenfalls für Hegels Rückstufung ihrer Stellung im System der Philosophie sprechen. Zunächst fällt die unterschiedliche Einbettung und Ausrichtung der Entwicklung auf: Die Phänomenologie hat als programmatische Zielsetzung das erscheinende wahre Wissen dergestalt zu thematisieren, dass seine aufeinanderfolgenden Erscheinungsformen sich als eine Einleitung des natürlichen Bewusstseins in die philosophische Wissenschaft qua Element des reinen, begreifenden Denkens zeigen.39 Hegel inszeniert diese Einleitung 34 35 36 37 38 39

I 52-54. PG 69 ff. PG 29. PG 432. E §§ 413-439. Das Programm der Phänomenologie findet sich vor allem in der Einleitung (PG 53–62). Vgl. dazu aus der neueren Literatur etwa Fulda, Hans Friedrich: G. W. F. Hegel, München:

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im Ausgang vom grundlegenden Gegensatz seiner Zeit: dem zwischen der Subjektivität einerseits und dem die Subjektivität Begrenzenden anderseits: dem Subjekt-Objekt-Gegensatz. Der für den common sense wie für die Philosophie paradigmatische Gegenstand dieses Gegensatzes ist das Bewusstsein.40 Am Ende seiner Bildungsgeschichte, im „absoluten Wissen“,41 hat das Bewusstsein den Subjekt-Objekt-Gegensatz, den Gegensatz des Bewusstseins, überwunden. Das erscheinende Wissen wird wirkliches, wird philosophisches Wissen. Dieses Wissen ist nunmehr im System der Philosophie zu entwickeln: am Ende der Phänomenologie liegt als Ergebnis der sich selbst skeptisch vollbringenden Vermittlung durch die Gestalten des Verhältnisses des Bewusstseins zum Objekt hindurch ein zu bestimmendes und insofern unmittelbares Wissen des Absoluten vor.42 Im System der Philosophie entpuppt sich dieses Absolute als absolute Idee. Die absolute Idee ist das einzige Thema der Philosophie. Philosophie ist also „Darstellung der Idee“.43 Die Phänomenologie indes ist nur ein auf das Bewusstsein, d. i. auf einen Aspekt der Idee, fixierter Anwendungsfall der philosophischen Methode, keine Wissenschaft der absoluten Idee. Die absolute Idee erweist sich bei Hegel als die Methode, d.h. als die eigentümliche Prozessualität, die der in der Logik thematischen reinen Gedankenbestimmungen eigen ist, in eins mit dem System dieser Gedankenbestimmungen. Sie enthält alle Bestimmtheit in sich.44 Als alle Bestimmtheit in sich enthaltende erschöpft sie sich nicht darin, logische Idee zu sein, Beck 2003, S. 81 ff.; “’Science of the Phenonomenology of Spirit’. Hegel’s Program and its Implementation,” in: Dean Moyar/Michael Quante (ed.), Hegel’s Phenomenology of Spirit, Cambridge: Cambridge University Press 2008, S. 21–42. 40 Hegels Phänomenologie nimmt daher die Gestalt einer „Wissenschaft des Bewusstseins“ (PG 61) an, die Wissenschaft des „erscheinenden Wissens“ (PG 434) ist. 41 PG 422-433. 42 Unter Bezugnahme auf seinen Lehrmeister Jan Hollak stellt Cobben sich die Sachlage wie folgt vor: Während die Enzyklopädie das Ganze der Philosophie in sich selbst betrachte, betrachte die Phänomenologie es für das erscheinende Bewusstsein (Krijnen, Christian/ John van Houdt/Paul Cruysberghs: “Hegel and the Nature of the Self. In discussion with Paul Cobben,” Tijdschrift voor Filosofie 74 (2012),  S.  729–763, S.  756). Von inhaltlichen Erwägungen noch abgesehen, kann dies wegen der Stellung der Phänomenologie als eines im Ausgang von der sinnlichen Gewissheit sich selbst vollbringenden Skeptizismus‘, die in das System der Philosophie, näherhin die Logik mündet, in der das Endergebnis der Phänomenologie, das absolute Wissen, allererst für sich thematisch wird, gar nicht der Fall sein. Hegels System der Philosophie ist keine Darstellung des Inhalts der Phänomenologie in einer anderen Perspektive; System und Phänomenologie haben nicht denselben Inhalt in einer je anderen Form. 43 E § 18, vgl. II 484. 44 II 484.

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sondern aufs Ganze der Philosophie gesehen ist die absolute Idee thematisch in drei Bestimmungshinsichten: im Element des reinen Denkens, der Natur und des Geistes. Zur Einlösung des Philosophieprogramms Hegels gehört also, dass die beiden Sphären der Natur und des Geistes in die Philosophie, näherhin in die sog. Realphilosophie, einbezogen werden, und zwar in der Weise einer immanenten, durchaus die „Erfahrung“ anerkennenden Entwicklung der Idee.45 Die Logik bildet dabei die „Grundlage“ jeglicher naturalen oder geistigen Bestimmtheit.46 Ihrer schlechthin fundierenden Funktion zufolge hat Hegel sie nicht nur als „erste“, sondern auch als „letzte“ Wissenschaft qualifiziert.47 Darin liegt u. a., dass jegliche Bestimmtheit – sei sie nun eine ‚empirische‘ oder eine (Empirisches fundierende) realphilosophische – nicht nur letztlich in die Logik zurückgenommen wird; zugleich bleibt die Logik in den anderen Sphären als fundierende Grundlage erhalten und wird sogar am Ende der Systementwicklung sich wissendes Logisches, das sich zugleich als Einheit von Natur und Geist und damit als Prinzipiationsgrund von Realem weiß: die Philosophie, als die Gestalt des absoluten Geistes, die sie ist, begreift sich als schlechthinnige Grundlegungs- oder Totalitätswissenschaft.48 In seiner Enzyklopädie hat Hegel das ‚Bewusstsein‘ in jener beschränkten Bedeutung, Funktion, Aspekt oder Moment, der Idee zu sein, behandelt und innerhalb seiner Philosophie des subjektiven Geistes als Zwischenglied zwischen der ‚Anthropologie‘ und der ‚Psychologie‘ positioniert.49 Aus dieser 45

Immanente Entwicklung ist als eine methodische Qualifikation gemeint. Inhaltlich bleibt der spekulative Idealismus seinem Selbstverständnis nach durchaus dem ‚fruchtbaren Bathos der Erfahrung‘ (Kant) verpflichtet. Hegel lässt weder die Empirie noch die Geschichte der Philosophie beiseite, sondern erkennt die empirische und philosophische Erkenntnis als Material an, bildet dieses Material jedoch weiter und formt es somit dem spekulativ-idealistischen Erkenntnisanspruch und der methodischen Handhabe dieses Anspruchs gemäß um. 46 II 224, vgl. TWA, Bd. 8, § 24, Z 1. 47 II 437. 48 Insofern ist der absolute Geist nicht bloß „derjenige Geist, der weiß, dass er in demjenigen endlichen Leben erscheinen muss, das Hegel letztlich als Weltgeschichte auffasst“ (Kok, Frage der Metaphysik, 2013 Kap. 6.8.3); die „transzendentale Offenheit“, für die Kok sich stark macht, deckt nicht den Begriff der absoluten Idee. Dieser enthält eben auch einen spezifischen Abschluss im Geist. Hier denkt Hegel Offenheit und Geschlossenheit so zusammen, dass es sich nicht nur um die „Einheit von Geist und Natur“ handelt, sondern um die von Idee, Natur und Geist. Philosophiegeschichtlich gesehen ist Philosophie sodann jeweiliges Wissen des Ganzen. Vgl. dazu Krijnen, Christian: „Hegel und das Problem der Abgeschlossenheit des philosophischen Systems“, in: Hamid Reza Yousefi/Henk Oosterling/Hermann-Josef Scheidgen (Hg.), Von der Hermeneutik zur interkulturellen Philosophie. FS H. Kimmerle, Nordhausen: Bautz 2010, S. 135–153. 49 E §§ 413 ff.

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enzyklopädischen Einbettung gehen sowohl die Rückbindung der Bewusstseinsproblematik an die Ideenlehre als auch das spezifische Format des Bewusstseins hervor: Auch Hegels enzyklopädische Philosophie des Geistes ist Ideenlehre: Lehre der Idee, „die aus ihrem Anderssein in sich zurückkehrt“50 und zu ihrem „Fürsichsein“ gelangt.51 Die Aufgabe der Geistphilosophie ist es, das Absolute als Geist zu begreifen.52 Dieses Begreifen ist ebenfalls Funktion der Realisierung der absoluten Idee: am Ende des Realisierungsprozesses weiß die absolute Idee sich in der ihr adäquaten Weise, d. i. in der Form des Begriffs. Die Realisierung der absoluten Idee im Element des Geistes ist vollendet, sobald der Geist sich völlig von seinem Begriff nicht adäquaten Formen befreit hat; der Geist erlangt diese Freiheit nur als etwas „durch seine Tätigkeit Hervorzubringendes“; daher thematisiert die Geistphilosophie den Geist als „Hervorbringer seiner Freiheit“.53 Der Geist im Reich des Geistes ist „freier Geist“.54 Insofern er subjektiver Geist ist, bezieht sich die Entwicklung des freien Geistes in einem engeren Sinne auf diesen selbst. Indem der „Begriff“ des Geistes „für ihn“ wird, wird ihm sein „Sein“, „bei sich, d. i. frei zu sein“.55 Die Entwicklung hat also einen selbsterkenntnisfunktionalen Charakter; die Entwicklungsstufen sind Stufen der Selbsterkenntnis des Geistes und damit der absoluten Idee als des Geistes. In der Philosophie des subjektiven Geistes gilt es entsprechend zu klären, wie der Geist sich zum Erkennen bestimmt, und zwar konform der logischen Ideenlehre sowohl hinsichtlich der theoretischen als auch der praktischen Dimension des Erkennens. Daraus ergeben sich drei Stufen der Entwicklung: erstens der (subjektive) Geist „an sich“ als „Seele oder Naturgeist“, zweitens der (subjektive) Geist „für sich“ als „Bewusstsein“, drittens der (subjektive) Geist an und für sich als „sich bestimmender Geist, als Subjekt [theoretischer oder praktischer Tätigkeit, ck] für sich“.56 Während Hegel auf der ersten Stufe den Gegensatz von Leib und Seele, Natur und Mensch, überwindet, bewältigt er auf der zweiten mit der Vernunft den Gegensatz von (bewusstem bzw. selbstbewusstem) Ich und Welt; dadurch kann es auf der dritten Stufe darum gehen, den Gegensatz von theoretischer und praktischer Vernunft, von Denken und Wollen, zu überwinden.

50 51 52 53 54 55 56

E § 18. E § 381. E § 384 A. TWA 8, § 382 Z. E §§ 382 mit 384. E § 385. E § 387.

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Auf der zweiten Stufe wird der Geist als Bewusstsein aufgefasst. Hegel sieht diese Stufe vor allem in den Philosophien Kants und Fichtes ausgebildet. Diese kämen allenfalls zu einer „Phänomenologie“, nicht zu einer „Philosophie“ des Geistes, nicht zum „Begriff“ bzw. zum Geist „an und für sich“: das Ich sei nur „in Beziehung auf ein Anderes“ betrachtet,57 nicht als „sich in sich bestimmender Geist“.58 Zum Bewusstsein gehört für Hegel der zwar konstitutive, aber zu überwindende Gegensatz zwischen einem Subjekt und seinem Objekt. Dessen Überwindung in der Entwicklung des (subjektiven) Geistes kommt dem Scheitern der Hegelschen Bewusstseins- bzw. Selbstbewusstseinsphilosophie als eines Paradigmas der Philosophie gleich. Indem die Seele zum Ich wird, wird sie zum Bewusstsein.59 In der Entwicklung zur Vernunft als Begriff des Geistes kommt es sodann darauf an, die Abstraktheit des Geistes, die ihm als Bewusstsein (und Selbstbewusstsein) eigen ist, zu überwinden.60 Hegels Lehrstück von der Anerkennung61 kehrt dabei die Bestimmtheit des Selbstbewusstseins hervor, nicht bloß vereinzeltes, sondern allgemeines Selbstbewusstsein zu sein.62 Auf dieser Stufe des Geistes, allgemeines Selbstbewusstsein zu sein, ist die intrinsische Beziehung von Subjekt und Objekt und damit die „Vernunft“ erreicht,63 – erreicht freilich als „einfache Identität“, also in ihrer Abstraktheit wiederum.64 Diese Identität bildet nur die Anfangsgestalt dessen, was bei Hegel sodann „Geist“ als „wissende Wahrheit“ seiner selbst heißt.65 Kurzum: Nicht in der „Phänomenologie“, sondern erst in der „Psychologie“ und damit in der Philosophie des spezifisch66 Subjektiv-Geistigen wird begriffen, was Erkennen ist: eine Leistung des freien, theoretischen wie praktischen Geistes.

57 58 59 60 61 62 63 64

65 66

E § 415 A. E § 387. E § 412. E §§ 416 f. E §§ 430-436. E §§ 435 f. E § 437. E  § 438. Vos, Lu de: „Selbstbewusstsein ist kein  Geist“, in: Wolfgang Neuser/Wolfgang Lenski (Hg.), Bewusstsein zwischen Natur und Geist, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 93–104, behauptet zu Recht, dass das Selbstbewusstsein seine eigene Gliederung nicht zu klären vermag. E § 439, vgl. §§ 440 ff. Hegel hat die ‚Psychologie‘ auch einmal als die „eigentliche Geisteslehre“ (II  437) ausgegeben.

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III.

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Die Rechtsphilosophie als Teil des philosophischen Systems

Programm, Methodik und Architektonik des Systems der Philosophie, wie in der Enzyklopädie von Hegel skizziert, weichen substantiell von der Phänomenologie ab. Für Hegel kann die Phänomenologie mitnichten das Format einer aktuellen Philosophie abgeben. Sie unterbietet das Reflexionsniveau einer radikalen Fundierungslehre, wie es Hegels spekulative Philosophie als Monismus der Idee zu sein beansprucht. Für sich genommen ist die Phänomenologie kein spekulativer Idealismus, keine Philosophie der Idee in der Weise des sich in sich selbst durchgehend spiegelnden Begriffs. Diese harsche Einschätzung muß natürlich Konsequenzen für Cobbens The Nature of the Self haben. Ich denke dabei noch nicht einmal daran, dass Cobben beispielsweise den ersten, nicht-historischen Teil der Phänomenologie im Unterschied von der darauf folgenden „Rekonstruktion einer historisch-sozialen Ordnung“ als eine „hypothetische Konstruktion“ auffasst,67 während der Selbsterkenntnisgang der Idee im System der Philosophie sich bei Hegel von Anfang an im Modus der „Notwendigkeit“ vollzieht. Die methodische Struktur spekulativer Begriffsentwicklung, die „Realisierung des Begriffs“, ist die einer immanenten (selbstanalytischen, reflexiv-konstitutiven) Selbstproduktion des begreifenden Denkens, in der jeder Fortgang im Weiterbestimmen des unbestimmten Anfangs einen Rückgang zu diesem Anfang bildet und dieser Anfang entsprechend die sich in allem Folgenden erhaltende Grundlage ist. Es gibt hier dem Anspruch nach keine von außen eingeschleusten Bestimmungen: entweder eine Bestimmung verdankt sich dem selbstanalytischen Explikationsgang des Gedankens oder sie ist unberechtigt eingeführt, also grundlos, zufällig. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Hegel Reinholds Anfang mit einem Hypothetischen kritisiert hat.68 Ein Anfang mit der „sinnlichen Gewissheit“ wäre im übrigen ebenfalls ein solcher hypothetischer Anfang, von dem sich sodann bestenfalls im Nachhinein herausstellte, dass man gut daran getan habe, so und nicht anders anzufangen (was freilich nicht der Fall ist). Es gebricht einem solchen Anfang an Notwendigkeit. Die Entwicklung der Philosophie als spekulativen Idealismus‘ unterliegt durchgehend der Form der Notwendigkeit.69 Vielmehr denke ich an die für Cobbens These viel wichtigere, eingangs erwähnte Auffassung, die Rechtsphilosophie müsse von der Phänomenologie her begriffen und beurteilt werden; das Programm der Rechtsphilosophie sei die Ausarbeitung des Projekts der Phänomenologie. Hegel selbst nämlich 67 Cobben, Nature of the Self, S. 78. 68 I 55 ff.; E § 10 A. 69 E § 9.

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deutet die Rechtsphilosophie als Ausführung der Philosophie des objektiven Geistes70 – des Systems der Philosophie also. Er hebt zudem hervor, dass die Rechtsphilosophie die Methodik spekulativer Begriffsentwicklung aus der Logik „voraussetzt“.71 Mehr noch, er weist ausdrücklich darauf hin, dass die Natur spekulativen Wissens in der Logik entwickelt ist und die Rechtsphilosophie „vornehmlich“ von dieser logischen Seite her „gefasst und beurteilt“ werden sollte.72 Die Logik bildet für Hegel bekanntlich die erste Disziplin im System der Philosophie. Die Realphilosophie betrachtet ihre jeweiligen Gegenstände immer im Modus der Notwendigkeit in der Weise der „Selbstbestimmung des Begriffs“.73 Der Logik kommt eine tragende, um nicht zu sagen konstitutive Funktion auch für die Rechtsphilosophie zu: als solche wie für ihre spezifischen Inhalte, ist sie doch die „reine Gestalt“ der „Intellektualansicht des Universums“74 und damit zugleich der „innere Bildner“ und „Vorbildner“ der Realphilosophie.75 Die Ausführung der Rechtsphilosophie vollzieht sich gemäß der selbsterkenntnisfunktionalen Entwicklung der absoluten Idee als des absoluten Geistes (eines Geistes, der im objektiven Geist noch gar nicht thematisch ist, sondern erst an dessen Ende erreicht wird)76. Der Logik spekulativer Begriffsentwicklung zufolge muss es sich am Anfang der Philosophie des objektiven Geistes um einen Begriff von Geist handelt, der dem schon erreichten Begriff des subjektiven Geistes als des freien Geistes maximal äußerlich ist, d. i. das abstrakte Recht als Dasein der Freiheit in der Form des Besitzes.77 Hegels Begriff des Rechts gemäß gilt es, den Begriff des Rechts als Daseins des freien Willens, der die Freiheit zu seiner „inneren Bestimmung und Zweck“ hat, in einer „äußerlich vorgefundenen Objektivität“ zu verwirklichen, und zwar so, 70 71 72 73 74 75 76

77

E § 487A; vgl. §§ 483-552. R § 31, vgl. § 2 Z. R Vorrede S. 4. E § 246. I 31. II 231. Der objektive Geist ist nämlich endlicher Geist. Zwar wird dieser im Laufe seiner Entwicklung zu einem „in der Sittlichkeit denkenden Geist“, der sich darin zu einem „Wissen seiner in seiner Wesentlichkeit“ (dem Wesen der Sittlichkeit) erhebt (E § 552); dieses Wissen um (endliche, willentliche) Zwecktätigkeit ist jedoch noch keine wissende Selbstbeziehung. Ohne wissende Selbstbeziehung könnten wir nicht sein, was wir sind: freier Geist. Erst im absoluten Geist (E  §§ 553-577) ist eine Gestalt des Wissens erreicht, „in welcher die wissende Vernunft frei für sich“ ist. Für den absoluten Geist sind „Natur und Geschichte nur seiner Offenbarung dienend“, ihm also funktional subordiniert (E § 552). Als absoluter Geist thematisiert der Geist sich als Geist. Deshalb ist erst im absoluten Geist der Begriff des Geistes, umfassender: die absolute Idee, realisiert. E §§ 488 f.

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dass er sich zur „Idee“ vollendet.78 Am Anfang dieses Prozesses manifestiert das Subjektsein des freien Geistes sich noch gar nicht an ihm selbst, sondern an einer „äußerlichen Sache“: darin, dass „Ich“ meinen „Willen“ in eine Sache hineinlege.79 Die Äußerlichkeit der Idee im Element des objektiven Geistes überwindet Hegel dadurch, dass der Begriff des Rechts sich realisiert, d. i. den abstrakten Charakter, den der exponierte Begriff als Anfang einer Abfolge von Bedeutungen hat, explizit macht und sich dadurch als das bestimmt, was er ist.80 Cobben wundert sich darüber, dass es in puncto des absoluten Geistes eine erhebliche Differenz zwischen der Phänomenologie und der Rechtsphilosophie gibt, da in der Rechtsphilosophie der absolute Geist auf der Ebene sozialer Institutionen keine Rolle spiele.81 Diese von Cobben diagnostizierte Absenz des absoluten Geistes scheint mir jedoch im Einklang zu stehen mit Hegels Programm der Philosophie als Selbsterkenntnis der absoluten Idee als des absoluten Geistes: sie ergibt sich aus der Funktion des absoluten Geistes im System der Philosophie. Daher konzipiert Hegel Recht und Moralität nicht, wie Cobben es gerne hätte,82 als „objektiven und absoluten Geist“. Recht und Moralität sind für Hegel beide Gestalten des objektiven Geistes, da sie anders als die Gestalten des absoluten Geistes (Kunst, Religion und Philosophie) keine Formen des Sich-Wissens des Geistes als Geistes sind. Cobbens These, Phänomenologie und Rechtsphilosophie markierten keine unterschiedlichen Positionen, sondern es würde die „historische Ordnung nur transformiert in eine systematische Ordnung“,83 ist gewiss herausfordernd, und Cobbens Überlegungen sind erhellend. Aber noch ganz abgesehen von Detailproblemen, wie etwa der Tatsache, dass Hegels Philosophie des objektiven Geistes auf der Ebene des „freien Geistes“ entwickelt ist und folglich strikt genommen kein ‚griechisches Selbst‘ im Sinne Cobbens kennt, gibt es gewichtige Gründe, die gegen seine These sprechen. Dass die „logische Struktur“ der Rechtsphilosophie sich nicht verstehen lasse, ohne Hegels Intention zu berücksichtigen, die Epochen der europäischen Geschichte mit korrespondierenden Formen des Selbst zu 78 79

E §§ 483 f. E §§ 488 f. Vgl. dazu auch meine Arbeit zu Hegels Lehre vom freien Geist: „Metaphysik in der Realphilosophie Hegels? Hegels Lehre vom freien Geist und das axiotische Grundverhältnis kantianisierender Transzendentalphilosophie“, in: Myriam Gerhard/Annette Sell/Lu de Vos (Hg.), Metaphysik und Metaphysikkritik in der Klassischen Deutschen Philosophie, Hamburg: Meiner 2012, S. 171–210. 80 II 488 mit 241; E § 84. 81 Cobben, Nature of the Self, S. 137, vgl. S. 143. 82 Ebd. S. 148. 83 Ebd. S. 8.

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verbinden,84 widerstreitet nämlich sowohl Hegels eigener Einschätzung als auch dem Argumentationsgang der Enzyklopädie. Cobben deutet die Rechtsphilosophie als Ausarbeitung einer in der Phänomenologie entwickelten Form von Vernünftigkeit.85 In Hegels System der Philosophie hingegen ist die Rechtsphilosophie die Objektivierung des freien Geistes als Endpunkt der Philosophie des subjektiven Geistes.86 Die Philosophie des subjektiven Geistes macht plausibel, dass und wie der Geist ein sowohl praktisch wie theoretisch erkennender Geist sein kann. Es stellt sich heraus: der Geist muss frei sein, ein Geist, der sich als frei weiß und will und damit seine eigene Freiheit zum Zweck hat,87 d.h. ein autonomer, sich selbst bestimmender Geist. Dieser Geist ist frei, aber vor-sozial und vor-individuell. Sozialität und Individualität spielen erst in der Philosophie des objektiven Geistes, der Rechtsphilosophie, eine Rolle. Erst hier haben wir es konstitutionstheoretisch gesehen mit einer Pluralität von Subjekten zu tun.88 Sie alle haben sich das Dasein ihrer Freiheit zum Zweck gemacht. Es ist die Aufgabe der Rechtsphilosophie als die Philosophie des objektiven Geistes, die sie ist, das Dasein der Freiheit zu begreifen. Beim exponierten Begriff des Rechts handelt es sich um einen weiten Rechtsbegriff: Wille als sich vernünftig zum Dasein Bestimmen des Geistes,89 Dasein des freien Willens.90 Das Recht ist also bestimmt als Auszeichnung des freien, sich Dasein gebenden und darin sein Wesen (Freiheit) verwirklichenden Willens. Dieser Rechtsbegriff als Anfangsbegriff der Philosophie des objektiven Geistes ist ein Begriff von Geist, der dem am Ende des subjektiven Geistes erreichten – dem des freien Geistes – maximal äußerlich ist. Im Zuge der Logik spekulativer Begriffsentwicklung ist durchaus nachvollziehbar, dass Hegel den Aspekt des Willens im freien Geist prävalieren lässt und zum Grundbegriff des objektiven Geistes bzw. der Rechtsphilosophie macht (während im absoluten Geist das Denken im Vordergrund steht). Hegel fasst den Willen nicht als etwas vom Denken Getrenntes, sondern geradezu als eine Art von Denken – Denken „als 84 85 86 87 88 89

90

Ebd. S. 8, Kap. 7-9. Ebd. S. 116. E § 481 f. E § 482. Vgl. §§ E 485 ff. Vgl. zum ideengeschichtlichen Hintergrund von Hegels Rechtsbestimmung Fulda, Hegel, Kap.  7.3.5. Vgl. auch die Darlegungen von Duso, Giuseppe: „Vom  Freiheitsbegriff der Naturrechtslehre zur Sittlichkeit der hegelschen  Rechtsphilosophie“, in: Gunnar Hindrichs/Axel Honneth (Hg.), Freiheit. Stuttgarter Hegel-Kongress 2011, Frankfurt am Main: Klostermann 2013, S. 483–503, zur Relevanz der modernen Naturrechtslehre für Hegels Philosophie des objektiven Geistes. E § 486.

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sich übersetzend ins Dasein, als Trieb, sich Dasein zu geben“,91 „denkenden Willen“.92 Innerhalb des freien Geistes macht ebendieses Moment des Willens als Trieb das maximal äußerliche Moment des Denkens und damit der Freiheitsverwirklichung des Geistes aus. Auf das Denken ist der Entwicklungsgang des Systems der Philosophie als Selbsterkenntnis der absoluten Idee angelegt. Am Ende der begrifflichen Entwicklung des subjektiven Geistes ist ein freier Wille konstituiert, d.h. der Wille ist ein wirklich freier Wille: freier Wille, der für sich als freier Wille ist. Insofern ist der Wille nicht bloße Bestimmungskompetenz oder Intentionalität des Subjekts. Vielmehr ist er in sich bestimmt und sich in dieser seiner Bestimmtheit wissend und wollend sowie in dieser Einheit von theoretischem und praktischem Geist zugleich ein Moment im Selbsterkenntnisprozess der Idee. Als dieses Moment macht der freie Wille das „Dasein der Vernunft“93 aus: als freier Wille bezweckt er, sich in einer äußerlich vorgefundenen Objektivität Dasein zu geben, d. i. seinen Begriff (Freiheit) zu verwirklichen.94 Den Anfang macht dabei das „abstrakte Recht“.95 Der wirklich freie Wille erlangt hier sein Dasein in einzelnen Personen, die ihren Willen in ihnen äußerliche Gegenstände legen.96 Der objektiv-geistige Prozess begrifflicher Entwicklung, der damit in Gang kommt, geht von diesem ‚unmittelbaren‘ Auftreten des freien Geistes (abstraktem Recht) in eine ‚in sich reflektierte‘ Gestalt (Moralität) über und endet bei der Gestalt des „substantiellen“ Willens als Einheit beider Vorgängergestalten und damit von Objektivität und Subjektivität (Sittlichkeit) (E § 487).97 Von der Logik spekulativer Begriffsentwicklung her gesehen, lässt sich also durch den Anfang mit dem abstrakten Recht die Freiheitsverwirklichung im Objektiven begreifen. Die Verwirklichungsperspektive der Freiheit ist das übergeordnete Moment; die Ausrichtung auf das abstrakte Recht (im Sinne des „beschränkt juristischen Rechts“,98 d.h. des positiven Rechts wie des tradierten Naturrechts) darauf hin funktionalisiert und freilich fundierend für den tradierten abstrakten Rechtsbegriff. Die Daseinsgestalten 91 92 93 94

R § 4 Z; vgl. E § 233. E § 469. E § 482. – und insofern, selbsterkenntnisfunktional gesprochen, ist er „an sich die [absolute, ck] Idee“, „nur Begriff des absoluten Geistes“ (E § 482, vgl. § 483). 95 E § 487. 96 E §§ 488 ff. 97 – was den willentlichen Aspekt im freien Geist anbelangt freilich, denn der Entwicklungsgang schreitet fort zum absoluten Geist, wo das Sich-Wissen der Idee als Geist thematisch ist. 98 E § 486.

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des freien Geistes als objektiven Geistes selbst und ihr Zusammenhang sind das Thema der Philosophie des objektiven Geistes. So handelt Hegels Rechtsphilosophie als Philosophie des objektiven Geistes von der Idee des Rechts. Sie soll aufzuzeigen, wie der Begriff des Rechts sich in einer ihm adäquaten Objektivität verwirklicht.99 Entsprechend denkt Hegel den freien Geist als „Zwecktätigkeit“,100 die darauf aus ist, seiner inneren (wesentlichen) Bestimmung objektives Dasein zu verschaffen. Unter welchen begrifflichen Bedingungen ist dies angesichts des geschichtlich vorliegenden Kenntnisstandes objektiv-geistiger Verhältnisse möglich? Hegel zufolge erschöpfen sich die Bedingungen objektiv-geistiger Freiheitsrealisierung weder in einer vertragstheoretischen Konzeption des abstrakten Rechts vereinzelter Personen als Rechtspersonen noch in einer moralischen Rechtsbegründung aus dem Wollen von Willenssubjekten. Um das Dasein der Freiheit wahrhaft zu begreifen, erweist sich vielmehr der Einbezug politischer Gemeinschaftlichkeit nötig, die Hegel Sittlichkeit nennt. IV.

Schluss

Angesichts dieser Andeutungen zur Vernünftigkeit der Rechtsphilosophie, kommt man nicht umhin festzustellen, dass Hegel zu einer Konzeption von Phänomenologie gelangt, die Cobben nicht teilt. Eine Folge dieser divergierenden Einschätzung ist Cobbens Primatstellung der Phänomenologie. Ihretwegen muss Cobben sowohl die Rechtsphilosophie als auch die Phänomenologie von der Funktion lösen, die sie in Hegels System der Philosophie haben. Bei ihm erhält die Phänomenologie, und damit die Philosophie, eine anerkennungsfunktionale Färbung. Das verleiht Cobbens Nature of the Self zwar ihren innovativen Charakter und ihre Relevanz für gegenwärtige Debatten in der Sozialphilosophie, lässt sich jedoch mit Hegels (reifer) Konzeption von Philosophie nicht vereinbaren. Für Hegel ist Philosophie Philosophie der absoluten Idee. Das Paradigma der Anerkennung vermag Hegels Monismus der Idee nicht gerecht zu werden.101 Dazu gilt es nämlich, das ganze System mitzudenken. Wenn man schon versuchte, die Rechtsphilosophie zu verstehen aus etwas anderem, als sie selbst ist, dann nicht aus der Phänomenologie, sondern aus der Logik des philosophischen Systems: „das Wahre ist das Ganze“.102 99 100 101 102

R § 1. E § 484. Vgl. Krijnen, “Recognition. Future Hegelian Challenges.” PG 19; E §§ 14 f.

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Dieses System entwickelt sich zunächst im Element reiner Gedankenbestimmungen, bevor es dann zum Übergang in die Realphilosophie und schließlich zur Philosophie selbst als Gestalt des absoluten Geistes kommt. Dem vorgeschaltet ist eine wie auch immer geartete Phänomenologie, die das philosophierende Subjekt zum spekulativen Standpunkt hinführt, dem Standpunkt des vernünftigen Monismus der Idee, auf dem die Logik und sodann die weiteren philosophischen Wissenschaften des Systems entwickelt sind. In Beziehung auf das philosophierende Subjekt gesehen, das sich entschließt, wissenschaftlich zu philosophieren, gründet auch die Phänomenologie in einem „Entschluss“: im Entschluss, dem von Hegel in seiner Phänomenologie ausgearbeiteten Bildungsgang zu folgen und dadurch zur Einsicht in die Notwendigkeit des spekulativen Standpunkts zu gelangen. Der Entschluss ist subjektiv gesehen der einzige Anfang der Philosophie. Der von Hegel sogenannte „Entschluss, das Denken rein als solches zu betrachten“, ist allerdings kein grundloser, kein wie aus der Pistole geschossenes unmittelbares Wissen, sondern der Entschluss eines entsprechend philosophisch Vorgebildeten,103 etwa eines Philosophen, der eingesehen hat, dass es sogar mit Kants Dualismen nicht sein Bewenden haben kann, da sie ihre Berechtigung nur als Ergebnis der begrifflichen Explikation einer ihnen zugrunde liegenden Einheit haben können. So gesehen ist der Entschluss immer phänomenologisch vermittelt. Freilich ist es nicht wichtig, wie man in die Logik hineinkommt, ist doch die Hauptsache, wie Hegel selbst sagt, „dass ein reiner Anfang gemacht werde“.104 Es liegt in der Natur des Anfangs selbst, dass er Sein qua unbestimmte Unmittelbarkeit ist.105 Sodann ist zu sehen, welche Bestimmungen dieser Anfang hergibt und wie er sich zu einem System von Gedankenbestimmungen erweitert. Insofern setzt das philosophierende Subjekt in seinem Entschluss, rein denken zu wollen, nur den Sinn seiner eigenen Tätigkeit voraus: es fängt an, das Denken zu denken. Als Einleitung in das System der Philosophie kommt einer Phänomenologie die Funktion zu, philosophische Alternativen zum spekulativen Standpunkt als unzureichend auszuweisen. In seiner Phänomenologie ist Hegel dafür den Weg eines an sich selbst verzweifelnden und sich darin selbst aufhebenden natürlichen Bewusstseins gegangen: jenen „Weg des Zweifels“, der eben genauer gesprochen ein „Weg der Verzweiflung“106 ist und schließlich in 103 Vgl. zu Hegels Kritik des angeblich unmittelbaren Wissens die dritte Stellung des Gedankens zur Objektivität (E  §§ 61 ff.). Sogenanntes unmittelbares Wissen eines erkennendes Geistes ist immer auch ein Ergebnis von Bildungsprozessen (vgl. E §§ 66 f.). 104 I 58. 105 I 57. 106 PG 61.

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den Begriff des absoluten Wissens mündet. Im Begriff des absoluten Wissens ist der Subjekt-Objekt-Gegensatz überwunden und damit das Tor zur wahren Philosophie eröffnet. Aus all dem folgt allerdings auch, dass die von Hegel in der Phänomenologie vertretenen systematischen Positionen keine zureichende philosophische Explikation der je verhandelten Sache sind, wie beispielsweise des (Selbst-) Bewusstseins oder der Beziehung zwischen Körper und Geist. Denn jene Sachverhalte sind hier noch nicht als Momente der sich selbst begreifenden Idee entwickelt. Allerdings reichen sie aus, alternative Philosopheme abzuwehren. Cobben selbst hat sich sogar einmal so artikuliert, dass der Vorteil einer Herangehensweise an die Rechtsphilosophie aus der Perspektive der Phänomenologie statt der Enzyklopädie darin bestehe, dass sie die Diskussion mit nichtHegelschen Positionen erleichtere, während ein über den „Entschluss“ vermittelter Zugang zum System sie „unnötig erschwere“.107 Dem mag – abhängig u. a. vom Kenntnisstand der Phänomenologie, über den der Kritisierte verfügt, sowie von den Talenten des Kritisierenden – so sein oder eben nicht so sein. Jedenfalls handelte es sich um pragmatische Bedingungen der Verständigung. Wie Cobben schreibt, ist die Phänomenologie vor dem Hintergrund der skeptischen Wende geschrieben, die das moderne Denken vollzogen hat. Diese skeptische Grundhaltung sei auch maßgebend für unsere Zeit. Da Hegels Phänomenologie bis heute als der „am meisten systematische Versuch“ gelten dürfe, den Skeptizismus zu überwinden, sei gerade dieses Werk für Beiträge zur Gegenwartsdebatte, weitgehend durch „Verstandesdenken“ charakterisiert, prädisponiert.108 Gegen diese Einschätzung läßt sich nichts einwenden. Beschränkte sich die Relevanz von Hegels Philosophie und näherhin die Deutung der Rechtsphilosophie von der Warte der Phänomenologie aus jedoch darauf, es würde sich nur um Vorhof-Philosophie handeln: um Philosophie, die Alternativen kritisiert und damit freie Bahn schafft für eine andere, für die wahre Philosophie, die sie als Weg des sich vollbringenden Skeptizismus – selbst nicht ist. Indes ist die Rechtsphilosophie keine Vorhof-Philosophie. Sie ist spekulativer Idealismus der Wirklichkeit der Freiheit.

107 Krijnen et al., “Hegel and the Nature of the Self,” S. 757. 108 Ebd.

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Zur Aktualität von Hegels Kritik an unmittelbarer Moralität Pirmin Stekeler-Weithofer 1.

Logische Lücken in Kants kategorischem Imperativ

Um zu sehen, was an einer kantianischen Vorstellung von Moralität so problematisch ist, dass Hegel es nötig findet, sich in seinen Kommentaren klar zu distanzieren, betrachten wir zum Einstieg einige Formulierungen von Kants Kategorischem Imperativ. Dieser lautet in seiner Grundform 1. „Handle nur nach derjenigen Maxime (Hervorhebung PSW), durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (AA IV, 421).1

Aber Kant arbeitet auch mit folgenden Formulierungen: 2. „Handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann.“ (AA IV, 436) 3. „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (AA V, 30) 4. „[Handle so], daß der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne.“ (AA IV, 434)

Es ist bis heute noch nicht ausdiskutiert, wie sich die verschiedenen Formulierungen zueinander verhalten, zumal nicht einmal als klar gelten kann, was es überhaupt heißt, bei Sprachformen dieser Art zu sagen, dass eine dieser Formeln wahr bzw. gut oder falsch bzw. schlecht, etwa zu schlicht ist. Erst recht unklar ist, wie eine der Formeln aus den anderen ‚logisch‘ oder ‚begrifflich‘ folgen sollte. Dabei habe ich die weit schwierigeren Versionen, in denen Kant mit einer Analogie zu einem Naturgesetz operiert oder davon spricht, sich und andere als Personen zum Zweck zu machen, sogar schon ausgeblendet.2

1 AA IV = Immanuel Kant, Akademieausgabe, Berlin: de Gruyter, Bd. 4. 2 „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.“ (AA IV, 421) „Handle nach Maximen, die sich selbst zugleich als allgemeine Naturgesetze zum Gegenstande haben können.“ (AA IV, 437) „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (AA IV, 429). „Demnach muß ein jedes

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© Brill Fink, 2024 | doi:10.30965/9783846768358_004

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Das Folgende aber sollte klar sein: Ein bedingtes Verbot der Form „Handle nur gemäß der Maxime oder Handlungsform H, wenn A(H) der Fall ist“ sagt etwas anderes als ein bedingtes Gebot der Art „Handle gemäß der Maxime oder Handlungsform H, wenn A(H) der Fall ist“. Denn wenn ich sage: „Komm bitte nur, wenn Peter da ist“, dann machst du nur etwas falsch, wenn du kommst und Peter ist nicht da. Sage ich aber: „Komm bitte, wenn Peter da ist“, dann machst du nur etwas falsch, falls du nicht kommst, wenn Peter da ist. Damit sehen wir, dass die Formulierung: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ nur das folgende bedingte Verbot artikuliert: Man darf nach einer Maxime H nicht handeln, wenn ein Handeln gemäß H nicht auch zugleich für alle anderen als Erlaubnisgesetz von mir anerkannt wird.3 Bisher ist noch ganz offen, unter welchem Aspekt dabei etwas als erlaubt, geboten oder verboten bewertet wird. Es sagt sich zwar leicht, es gehe um ethische bzw. moralische Erlaubnisse, Gebote oder Verbote. Was das aber konkret bedeutet, ist damit noch nicht explizit kommentiert, sondern nur erst implizit als bekannt unterstellt. Wir werden daher später noch von der bloß erst formalen Betrachtung eines Dürfens oder Könnens und Müssens zu den Unterschieden eines rechtlichen, sittlichen und moralischen Dürfens und Müssens übergehen müssen, wobei das Wort „Sittlichkeit“ als gleichbedeutend zu „Ethos“ zu verstehen ist, also nicht einfach zu „Sitte“. „Sittlich“ bedeutet damit „ethisch“, nicht etwa: „einer konventionellen Sitte gemäß“. Wir werden daher auch den weiten Gebrauch des deutschen Wortes „moralisch“ oder des englischen „morals“ von seinem engeren zu unterscheiden haben. vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre.“ (AA IV, 438) 3 Hegel schreibt ganz in diesem Sinne im § 29 der Grundlinien der Philosophie des Rechts (hg. K. Grotsch, Hamburg: Felix Meiner 2017, i.f. kurz: PhR) S. 54: „Die Kantische (Kants Rechtslehre Einl.) und auch allgemeiner angenommene Bestimmung, worin »die Beschränkung meiner Freiheit oder Willkür, daß sie mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne«, das Hauptmoment ist – enthält teils nur eine negative Bestimmung, die der Beschränkung, teils läuft das Positive, das allgemeine oder sogenannte Vernunftgesetz, die Übereinstimmung der Willkür des einen mit der Willkür des andern, auf die bekannte formelle Identität und den Satz des Widerspruchs hinaus.“ Die Kritik an Kants Kategorischem Imperativ als Grundformel moralischer Beurteilung von (subjektiven) Maximen im Prozess einer möglichen Instanziierung einer Handlungsform besteht in der noch genauer zu diskutierenden Beobachtung, dass sie als Verfahrensformel nur die Konsistenz von Reden und Handeln fordert. Auch wenn ich so handle, dass ich wollen kann, dass die Maxime meines Handelns zu einem allgemeinen Gesetz der Erlaubnis, des Entitlements, werden könnte, ist, wie Hegel sieht, je nur ausgeschlossen, dass ich mir selbst erlaube, gemäß φ zu handeln, es aber ansonsten für gut finde, dass andere nicht so handeln (dürfen oder sollten).

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Hegel betont zu Recht, dass es zunächst um Erlaubnisse und Verbote geht, etwas Bestimmtes zu tun. Ein Verbot, eine Handlung H an sich durch ein Tun h der Form H zu aktualisieren, im Handlungsvollzug zu instanziieren, ergibt sich aus der Verneinung einer Erlaubnis, H zu tun. Ein Gebot, nach H zu handeln, besteht darin, dass die Unterlassung von H verboten, also nicht als erlaubt anerkennbar ist. Dabei ist es, wie wir gleich sehen werden, eigentlich gleichgültig, ob eine Anerkennung sich empraktisch zeigt, leise verbalisiert oder laut deklariert wird – sofern man dabei kohärent bleibt, also weder gegen sich noch andere ‚unehrlich‘ oder ‚unredlich‘ ist. Pflichten oder Gebote werden aus Erlaubnissen nur dann, wenn man Tun und Unterlassen als gleichwertig betrachtet. Das aber müsste allererst als gute Idee gezeigt werden. Wäre dies der Fall, dann wäre ein Gebot, p zu tun, wie gesagt, durch das Verbot bestimmbar, p zu unterlassen. Das Problem der Gleichstellung von Tun und Unterlassen liegt darin, dass wir im (vorsätzlichen, absichtlichen) Handeln aus einer Alternativmenge von möglichen, aber in ihrer Bestimmung bewusst gemachten, Handlungsformen im Blick auf eine Zweck- oder Zielbestimmung eine der Formen per Beschluss wie in einer stillen Ratsversammlung als Maxime auswählen (müssen). Ein derartiger Beschluss im bloß erst verbalen, sozusagen ‚theoretischen‘ Denken (einer stillen Rede mit sich selbst) wird zu einem Entschluss, indem man die Handlungsform zu aktualisieren versucht, und das heißt, schon entsprechend zu handeln beginnt. Auch im Bereich der Institutionen und des Staates unterscheiden wir so wie Hegel zwischen Gremien, die nach einer Beratung einen Beschluss fassen, und der Exekutive, die einen solchen Beschluss per Entschluss in die Tat umzusetzen veranlasst und dazu die Möglichkeiten ihrer Macht auf konkrete Weise instanziiert. Der Bereich dessen, der in einem Entschluss, die Handlung zu beginnen, unterlassen wird, ist damit klar mehrdeutig. Es werden zunächst vorbedachte, aber mit der Maxime als das Handeln leitende Form inkompatible Handlungsformen unterlassen (1). Man würde weit mehr unterlassen, wenn man auf alle möglichen Handlungsformen Bezug nähme, an welche man hätte denken sollen (2) oder hätte denken können (3) oder an welche andere Personen vielleicht gedacht haben mögen (4), im Nachhinein denken werden (5) oder denken könnten (6). Den Gesamtbereich aller Möglichkeiten ‚kennt‘ nur ein Gott – wie schon Heraklit zu wissen scheint (7). Die Symmetrie von Tun und Unterlassen mag in Bezug auf die zu bedenkenden Handlungsformen im Sinn von (2) zu verstehen sein. Doch dann ergibt sich immer noch eine Mehrdeutigkeit zwischen dem, was ein personales Subjekt in einer konkreten Situation zu bedenken hätte, also auch bedenken konnte (2,3), und dem, was wir als (spätere) Bewerter der Handlungen oder Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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Personen zu bedenken geben (4,5,6), dann aber auch dem, was aus idealster ‚Perspektive‘ von der Seite (John McDowell) eines allwissenden Gottes, also in einem Blick von Nirgendwo (Thomas Nagel) bzw. Überall auf alle möglichen Menschen und alle mögliche Unterlassungen und Taten zu bedenken sein könnte (7). Es ist bemerkenswert, dass wissenschaftliche Aufklärer nicht anders als Theologen häufig und gern unmittelbar über eine ‚Objektivität‘ des Könnens und Sollens samt der (kausalen) Folgen eines Tuns oder Unterlassen sprechen. Man denke etwa an Kants berüchtigten Slogan: Du kannst, denn du sollst. Damit wird von den immer nur sehr wenigen konkreten alternativen Möglichkeiten des Tuns eines Handelnden untunlich abstrahiert. Der spekulative Blick auf die Welt führt daher dort noch mehr in die Irre, wo dem implizit mitvorgestellten Gott nicht auch noch ein Blick ins Herz des Subjekts zugestanden wird und man nur das äußerliche Verhalten und dessen ‚objektive‘ Folgen betrachtet. Das Bedenken gilt gerade auch für die üblichen Argumentationen des Utilitarismus nach Jeremy Bentham. Schon aufgrund der kurzen Skizze zu den Kernbedeutungen von Beschluss, Entschluss, Erlaubnis und Maxime und den verschiedenen Alternativbereichen, in denen mögliche Maximen liegen können, kann man bei etwas eigenem Nachdenken das Problem einsehen, das durch eine Gleichschaltung der immer nur sehr wenigen aktual bedachten und nur so möglichen Handlungen mit den vielen möglichen Unterlassungen (qua instanziierbaren Formen oder Typen) entstehen kann, die in einem indefinit mannigfaltigen Sinn zu bedenken sein könnten.4 Es sind, das sollte nun klar sein, alle Unterlassungen, die für unsere ethische Beurteilung eines Tuns als gut relevant werden könnten, auf die subjektive Perspektive der Handelnden zu beziehen. Eben daher kann es z. B. nur dann einen rechtlichen Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung oder einer negligence geben, wenn allgemein als bekannt gelten kann, zu welchen Hilfen jemand verpflichtet ist – was z. B. für Autofahrer in Deutschland oder den USA ganz verschieden ist. Es ist daher per Bildung und Gesetz bekannt zu machen bzw. zu lernen, welche besonderen Sorgfaltspflichten ethisch und rechtlich einzuhalten sind.

4 Das sehr verdienstvolle Buch von Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen (Stuttgart: Reclam 1995) diskutiert diesen Punkt m. E. viel zu wenig. Das liegt daran, dass es ‚von der Seite‘ (eines Beobachters oder gar schon eines Gottes) über ein Verhalten und über mehr oder weniger ‚basishafte‘ Beschreibungen (S.  27) redet, damit aber gerade nicht, wie Kant, über Maximen als aktualisierbare Handlungsformen.

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Ein anderer Punkt ist weniger strittig. Schon Kant erkennt, dass sich schon aus meinem Vollzug einer einzelnen Handlung h gemäß der Maxime H ergibt, dass H in vergleichbaren Situationen uns allen bzw. von allen anderen Personen erlaubt sein muss. Denn mein Tun h als Aktualisierung der Maxime oder Handlungsform H (egal, wie allgemein oder konkret diese bestimmt sein mag) wird von uns als (implizit) gleichwertig betrachtet zu einer expliziten Deklaration der Art, dass H in der betreffenden Situation qua Typ mir erlaubt ist zu tun, damit aber auch uns – bei gleichem Falltyp. Das zu dem obigen „Mir“ gehörige „Ich“ ist genau in diesem Sinn ein „Wir“.5 Jede Handlung sagt sozusagen empraktisch ‚von sich selbst‘, dass ihre Maxime uns allgemein erlaubt ist. Wer also nach einer Maxime H handelt, anerkennt damit implizit und will ipso facto, dass die anderen auch nach H handeln dürfen. Die sich aus dieser – übrigens unabweisbaren – Beobachtung ergebende mögliche Inkohärenz zwischen Handeln und Reden wird sich am Ende als die Argumentationsmethode herausstellen, welche Kants Moralprinzip, der Kategorische Imperativ, zur Verfügung stellt, um Handlungsformen und Maximen ‚moralisch‘ zu beurteilen. Sie ist einwandfrei (übrigens ganz im Sinne von Harald Wohlrapp)6 insofern, als jeder mögliche Einwand von uns allen gehört werden will oder soll und dabei selbst über allgemein zulässige oder zu empfehlende Formen spricht bzw. sprechen muss. Meine bloß erst privaten Meinungen und Eigeninteressen sind ja als solche noch keine Argumente für uns und schon gar nicht für andere. Das Problem der kantischen Moral und aller so genannten transzendentalen Begründungen liegt nun darin, dass sie die Grenzen der Leistungskraft von Argumenten nicht erkennen, die sich nur auf die Forderung nach Ehrlichkeit bzw. Redlichkeit als Kohärenz im Reden und Handeln stützen. Wir werden daher zu beachten haben, dass Kants Prinzip aus logischen Gründen bestenfalls dazu eingesetzt werden, über die Negation von Erlaubnissen manche Verbote und Gebote zu begründen, aber keineswegs alle, und zwar weil die Konsistenz von Reden und Handeln viel weiter ist als der Bereich der realen Erlaubnisse. Dabei ist Hegels ebenso geniale wie denkprovokative 5 Der zweite Teil des berühmten Zitats aus Hegels Phänomenologie des Geistes (das auch in den Zusammenhang von subjektivem Denken und transsubjektivem Wissen einführt): „Ich das Wir und Wir das Ich ist“ wird gleich betrachtet werden. Vgl. dazu P. Stekeler, Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar, Hamburg: Meiner 2014, S. 661 in seinem Bezug auf GW 9, S.127 (= Band 9 von G. W. F. Hegel Gesammelte Werke, Hamburg: Meiner, Abschnitt 177). 6 Harald R. Wohlrapp, Der Begriff des Arguments. Eine philosophische Grundlegung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 32021, Überarbeitung der 1. Auflage: Würzburg: Königshausen & Neumann 2008.

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Habilitationsthese contradictio regula veri, noncontradictio falsi so zu lesen: Logische und transzendentale Widersprüche sind spezielle Falschheiten. Sie liegen außerhalb der Grenzlinie („regula“) des Wahren. Präsuppositionslogische Widerspruchsfreiheit grenzt das Falsche nur erst weiträumig aus, reicht also nicht aus, um etwas für wahr oder auch nur für wirklich möglich bzw. erlaubt zu halten. 2.

Das Prinzip der Subjektivität und das Problem gemeinsamen Wollens

Es ist nun nicht nur das Ich ein Wir, wie eben erläutert, sondern auch das Wir ein Ich. Denn eine Menge von Leuten sagt oder singt nur im Chor, etwa im Gesang von Kirchenliedern, wirklich gemeinsam „wir“. Zumeist sage ich als Einzelperson „wir“ – und spreche damit auf durchaus prekäre Weise für uns im doppelten Sinn von „für“ oder „pro“, nämlich an Stelle von uns und in einem behaupteten Interesse von uns.7 Der wichtige Unterschied zwischen einem distributiven Wir und einem gemeinsamen Wir lässt sich dazu mit Margaret Gilbert recht einfach erläutern: Die Aussage „wir gehen spazieren“ ist in distributiver Lesart schon dann wahr, wenn ich in die Stadt gehe, du aber auf‘s Land. Damit es wahr wird, dass wir gemeinsam spazieren, sind noch weitere Bedingungen zu erfüllen, z. B. dass der Abstand nicht zu weit wird. Die Aussage „Wir singen gemeinsam ein Lied“ ist im Allgemeinen nur wahr, wenn jeder von uns mitsingt. Sie ist damit sowohl distributiv-universal im Sinne eines Allquantors als auch gemeinsam-universal in dem Sinn, dass alle gut genug mittun, bzw. dabei sind. Der rein generische Gebrauch des Wortes „wir“ besagt nun aber gerade nicht, dass alle (im Sinne von jedem Einzelnen von uns) das tun, sind oder haben müssen, was wir tun, sind oder haben. So sagen wir z. B., dass wir Menschen sprechen können, auch wenn es nicht alle können. Wir sagen auch, dass wir Deutschen Sauerkraut mögen oder dass wir die Ampelkoalition als Regierung gewählt haben, obwohl das keineswegs für alle einzelnen Personen gilt. Wenn ein Spruch wie „Wir sind das Volk“ in politischen und zivilreligiösen Massenveranstaltungen skandiert wird, ist das selbst im guten Fall seines Gebrauchs zunächst nur Liturgie. Das Wort „Liturgie“ bedeutet wiederum wörtlich „Werk des Volkes“, der Leute, des Litos. Liturgien wie die tagelange 7 Das lateinische „inter-esse“ bedeutet dabei durchaus auch „Dabeisein“ und „Mitsein“.

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Verabschiedung von der toten Königin Elizabeth II im Vereinigten Königreich und die angesichts der kollektiven Trauerfeierlichkeiten erzeugten Emotionen oder Gefühlswallungen bei vielen werden jedoch nicht anders als die Aufmärsche in ‚sozialistischen‘ Staaten organisiert. Sie zeigen dennoch eine gewisse freiwillige Teilnahme. Darin liegt die große Bedeutung gemeinsamer zivilreligiöser Feiern – gerade auch für die Gemeinschaft (bzw. das so genannte Gemeinschaftsgefühl) der Bürger in Staat und Gesellschaft. In Liturgien etwa der Religion und Kunst, auch in (zivil-)religiösen Riten wie in einem Chor oder einem Orchester, präsentiert sich sozusagen ein generisch-allgemeines Wir als kollektives Wir von ‚vielen‘ explizit. Der unvorbereitete Leser wird sich freilich eine ‚genauere‘ Erläuterung der Rede von einem generischen Wir gerade auch qua Gemeinschaft im Wollen und Tun wünschen. Aber schon Jean-Jacques Rousseau gibt uns zunächst nur erst ein Rätsel auf, indem er von einem Gemeinwillen (volonté génerale) spricht. Im Grunde ist nämlich die Frage, was ein solcher generisch-allgemeiner Wille etwa eines Volkes ist, das Problem jeder Praktischen Philosophie, jeder Rechtsphilosophie und jeder bewusst begriffenen bzw. anerkannten Staatsverfassung. Gefragt ist damit gerade, wer oder was das Wir ist, an das die Einzelpersonen im subjektiven Modus als selbsternannte Fürsprecher oder vielleicht auch schon als legitimierte Repräsentanten appellieren. Denn ein unmittelbar übereinstimmender Wille aller (volonté de tous) existiert in größeren Gruppen und Gemeinschaften praktisch nie. Es gibt immer Abweichler, was per se keineswegs etwas Schlechtes sein muss, da alle Innovation aus Abweichungen von den Normen des Normalen entsteht, aber natürlich prekär ist. Vernunft herrscht allerdings nur dort, wie Hegel sieht, wo auf souveräne Weise mit der damit angesprochenen Negativität des Wir, der Gemeinsamkeit, auch der Geltung aller Realnormen des Guten oder Wahren umgegangen wird. Am Umgang mit Dissidenten zeigt sich ja auch immer und überall der republikanische Geist einer Politik des Gemeinwesens, wie ich die Form des öffentlichen Interesses, der res publica, nennen möchte. Dieser ‚Geist‘, den manche gerne „Gemeinsinn“, sensus communis, nennen, definiert sozusagen den Unterschied eines wahren Staates zu einer nur erst demokratistischen ‚Volksherrschaft‘ von Mehrheiten, die eine dirigistische Exekutive stützen. Der Ausgangspunkt der begrifflichen Explikationen Hegels zu Moralität und Sittlichkeit, dann auch zum Recht und zum Staat als Gemeinwesen einer res publica liegt in der Tat darin, dass ganz offenbar normalerweise nur Einzelpersonen „wir“ sagen, dass dabei aber an ein generisches Wir appelliert wird, das mit Ausnahmen und Dissidenten zu rechnen hat und das auch tut. In diesem Sinn lässt sich die Formel „das Wir ist ein Ich“ als Kommentar zur unabweisbaren Form unserer Sprechhandlungen lesen. Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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Wann also ist es wahr, wenn ich sage oder wenn du sagst, dass wir gemeinsam etwas wollen? Wann anerkennen wir eine gemeinsame Handlungs- oder dann auch schon Praxisform mit verteilten Rechten und Pflichten, Rollen und Status nicht nur verbal, sondern tätig und konkret? Das sind die geheimen logischen Grundprobleme von Hegels Rechtsphilosophie in ihrer formalen Allgemeinheit. Mit der Frage nach dem Ich und Wir offenbar eng verbunden ist die Frage, was gemeinsame Absichten und gemeinsame Handlungen im Unterschied zu einem bloß kollektiven Verhalten sind. Die Zielideen normativ bestimmter Kooperationsformen lassen sich dabei, wie Hegel klar sieht, immer nur in Grundrissen explizit machen. Es geht dabei um so allgemeine Prinzipien wie das Prinzip der Freiheit als Recht der Subjektivität, nach dem gerade auch im gemeinsamen Handeln und Wollen je ich entsprechend handle und dieses Handeln a fortiori will. Bei Hegel tritt das Prinzip auch unter den Titeln eines Prinzips des Selbstbewusstseins, des Prinzips des Bestimmens, dann auch leicht spezieller als (leeres, weil nur erst formales) Prinzip des moralischen Standpunkts und allgemeiner als Prinzip der Persönlichkeit bzw. Prinzip der Besonderheit auf.8 Hegel fragt also ganz radikal: Wer darf nach Art des Sonnenkönigs oder eines Präsidenten eines Staates oder einer Gesellschaft für uns sprechen oder sogar schon entscheiden? Wer darf sagen, was wir wollen – oder dann auch, was als unser Konsens anerkannt werden kann oder sollte? Und wer kann sagen, was dabei ‚vernünftig‘ ist? Daraus ergibt sich für Hegel die Frage nach der Struktur einer Institution, des Gemeinwesens, in dem für uns und in unserem Namen ein Allgemeinwille real gesetzt und von uns anerkannt wird – gerade wie in der Wissenschaft ein allgemeines Wissen bzw. eine allgemeine Wahrheit. Das logische Problem, das wir jetzt also mit Kants Moralphilosophie und seinem Prinzip des Wollen-Könnens haben sollten, liegt wesentlich am Umgang mit modalen Formulierungen. Der Appell an ein Ideal wie in Jürgen Habermas’ Rede von einem „vernünftigen Konsens“, einer „idealen Sprechsituation“, auch einem „besseren Argument“, reicht deswegen nie aus, weil es keine Möglichkeit gibt, rein objektiv von der Seite über das zu sprechen, was als vernünftig oder was sogar als ideal oder perfekt anzusehen ist. Wir können, heißt das, von uns als je einzelnen Sprechern und Beurteilern nie ganz abstrahieren – so dass es das Allgemeine des Wahren und Guten, auch das Perfekte unserer Ideale,

8 PhR § 62 (a.a.O. S. 82) „Es ist wohl an die anderthalb tausend Jahre, daß die Freiheit der Person durch das Christentum zu erblühen angefangen hat und unter einem übrigens kleinen Teile des Menschengeschlechts allgemeines Prinzip geworden ist.“ Vgl. auch PhR § 66 und § 104.

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nur im Rahmen von Setzungen und Urteilen in repräsentativen Institutionen gibt. Die Folge dieser – unabweisbaren – Einsicht Hegels ist, dass sowohl jede kantianische Fundamentalbegründung ethischer Prinzipien wie in der Tradition von Karl-Otto Apel auf defizitäre Weise subjektiv idealistisch bleibt, als auch jede Konsensus- oder Diskursethik. Man unterschätzt dabei gerade das prekär dialektische Verhältnis zwischen einem geschichtlich bestimmten Gemeinwillen der generisch-allgemeinen Anerkennung institutionell gesetzter Normen und Formen wie in Rousseaus Rede von der volonté générale und einem immer bloß erst zufälligen, labilen, oft sogar totalitären Konsens. Das bloß erst Akzidentelle eines faktischen Konsenses von Vielen führt immer nur zu einer instabilen Herrschaft je aktualer Meinungen. Der immer nur erst subjektive Appell aber an einen vernünftigen Konsens bleibt zunächst so vage und unklar wie Rousseaus Rede von einem Gemeinwillen. Bei angemessenem Verständnis der republikanischen Strukturen gerade auch in jeder Demokratie haben wir also immer die von uns zugestandene Macht unserer Repräsentanten in ganz analoger Weise wie das Wissen von Experten anzuerkennen. Wer an der Demokratie zweifelt, weil er meint, dass ihre Repräsentanten in besonderen Fällen wie der Corona-Pandemie oder der Energiekrise und Inflation anders hätten entscheiden sollen, weil er oder sie anders geurteilt hätte und das angeblich sogar im Interesse aller, bedarf wohl allererst der Einsicht in die Vielfalt der Gesichtspunkte aller im generisch Allgemeinen wirkenden und auch nur im Verhältnis zu alternativen Optionen zu beurteilenden Entscheidungen. Besonders das Urteil darüber, was reale Optionen im Unterschied zu bloß im Prinzip möglichen sind und wie sich die immer nur utopische Erfüllung der je besonderen Wünsche aller Leute von einem gemeinsamen Wollen in einem Gemeinwesen unterscheidet, bedarf wohl auf Dauer einer Verbesserung der Bildung der Leute. Es ist zwar richtig, dass sich die Einzelsubjekte immer um einen vernünftigen Konsens in einem offenen Diskurs bemühen sollten. Der Mangel dieses Sollens wird aber schon in der – unter anderen von Michel Foucault oder Jacques Derrida unbewusst von Hegel aufgegriffenen – Frage sichtbar, wer denn bestimmen kann, darf oder soll, was als ausreichend vernünftig gelten kann. Ein bloß faktischer Konsens kann auch dann rein willkürlich und ‚unvernünftig‘ bleiben, wenn sich ‚fast alle‘ einig sind – wie das ja gerade in der Akklamation von Diktaturen wie der Nazis oder Mussolinis leider sogar faktisch so war und in Russland oder China heute noch so ist. Eine volonté de tous kann sich mindestens so irren wie ein von wenigen per Institution in Geltung gesetzter Allgemeinwille. Im zweiten Fall sind es die Möglichkeiten und anerkannten Verfahren gerade auch der öffentlichen Kritik und Kontrolle von Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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Beschlüssen und Entscheidungen im Gemeinwesen, welche das Gemeinsame eines Willens in der res publica, also in den öffentlichen Angelegenheiten, definieren. Der Konsens einer Gruppe von Laien wie in einem Geschworenengericht nach uralten Verfahren ist eben daher auch keineswegs immer besser als das professionelle Urteil von einzelnen Berufsrichtern in der ‚lateinischen‘ Tradition Roms und des ‚kanonischen‘ Rechts der Kirche. Analoges gilt für alle verfahrensmäßigen Setzungen eines transsubjektiven Kanons von Recht und Gesetz und allen rechtlich kontrollierten Entscheidungen im alltäglichen, realen, empirischen Handeln von Staat und Regierung, Verwaltung und ‚Polizei‘. Dieses System, zu dem auch alle freien Vereine gehören (und damit sogar alle freie Nächstenhilfe), definiert das konkrete Ethos des Gemeinwesens. Subjektive Sittlichkeit besteht in dessen Anerkennung im realen Tun und Reden – wobei es immer auch subjektiv unbemerkte Widersprüche gibt: Noch die ärgsten Kritiker des Staates, nicht nur in einer Demokratie, profitieren faktisch von dessen relativer Liberalität. Der sogenannte methodologische Individualismus in der Soziologie teilt mit Hegels Analyse leider nur die ersten Denkschritte. Er überschätzt in seiner Fokussierung auf das kollektive Verhalten der Einzelsubjekte seine statistischen Methoden und unterschätzt die Tatsache, dass das Wir einer Gesellschaft der Leute und Staatsbürger längst nicht einfach eine Menge von Menschen ist, die kollektiv etwas tun, indem jeder etwas tut, was irgendwie akzidentell zum Gesamtergebnis beiträgt. Die Folgen eines als wahrscheinlich erwartbaren oder auch nur zufälligen kollektiven Verhaltens sind zwar auch Themen der Sozialwissenschaften, aber keineswegs nur diese. 3.

Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit

Kant versuchte offenbar, das Allgemeine der Geltung und Anerkennung moralischen Sollens sozusagen distributiv zu verstehen: Alle Einzelnen kennen demnach das ‚moralische Gesetz in uns‘, also die Normen und Formen moralisch guten Handelns. Wir alle wissen nämlich, dass wir im Reden und Tun kohärent sein sollten. Diese moralische Form oder Norm des Urteilens über Maximen oder Handlungsformen gilt also in der Tat für alle Personen und Handlungen. In diesem Punkt haben daher auch alle Autoren recht, welche von einer transzendentalen Letztbegründung kantianischer Moralität und der entsprechenden Verbote und ggf. auch Pflichten sprechen:9 Kants Erläuterungen 9 Zu denken ist an Autoren wie Karl Otto Apel, Wolfgang Kuhlmann oder Vittorio Hösle.

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zu den Formeln des kategorischen Imperativ zeigen in der Tat, wenn man sie im Kontext angemessen versteht, jedem Einzelnen, dass er selbst immer schon zustimmt: Moralisch erlaubt ist sein eigenes Tun auch für ihn nur, wenn er wollen kann, dass sich auch alle anderen an der Maxime orientieren dürfen. Das ist zugleich eine Erläuterung des Wortes „moralisch“ und der Praxisform des moralischen Urteilens, eben damit des (engeren, eigentlichen) Begriffs der Moral. (Jeder kanonische Begriff im Sinne Hegels ist übrigens auf eben diese Weise eine bestimmte Verbindung von Worten, Unterscheidungen und Schlussbzw. Handlungsformen.) Als Personen wissen wir demnach sozusagen immer schon, was moralisch richtig ist, und zwar allein schon auf der Basis unserer praktischen Vernunft, nach der wir über die Kohärenz der Maximen unseres Handelns und Redens und über das Verhältnis von Ich und Wir so nachdenken können, wie oben beschrieben. Häufig freilich halten wir uns nicht an die uns bekannte moralische Pflicht, also an das von Kant als erhaben gefeierte moralische Gesetz in uns. Das geschieht, so die Diagnose, weil wir uns dem Nachdenken über diese Formen und Normen samt den Folgen des Tuns verweigern und wie animalische Wesen uns nur nach Neigung verhalten. Daraus ergibt sich das typisch kantische Entweder-Oder zwischen einem begehrensgeleiteten Benehmen und einem Handeln nach einem autonom bewerteten Gesetz. Das Böse ist daher in kantianischer Analyse zunächst nur die animalische Begierde, sozusagen wie im Christentum die Lust des ‚Fleisches‘. Das Gute dagegen sei das selbstbewusste Denken und autonome Bewerten der Moralität oder Kohärenz im Handeln. Das alles klingt fast wie in der Philosophie der Stoa, wenn man von der Mehrdeutigkeit des Prinzips des secundum naturam vivere, dem Leben nach der Natur oder dem Wesen des Menschen einmal absieht und gegebenenfalls auch vom asketischen Ideal ungerührter Ataraxie. Zu bedenken ist nun aber die Frage, wie weit uns Kants Identifikation des Moralischen mit bloß subjektiver Ehrlichkeit (sincerity) befriedigen kann. Bernard Williams unterscheidet in Truth and Truthfulness10 diese sincerity (des Herzens, um mit Pascal und der romantischen Tradition zu reden) von einer zwar immer noch rein subjektiv prüfenden Gewissenhaftigkeit (accuracy). „Um der abstrakten Beschaffenheit des Guten willen fällt das andere Moment der Idee, die Besonderheit überhaupt, in die Subjektivität, die in ihrer in sich reflektierten Allgemeinheit die absolute Gewißheit ihrer selbst in sich, das Besonderheit setzende, das Bestimmende und Entscheidende ist, – das Gewissen.“11

10 11

Cambridge/Mass.: Harvard University Press 2002. PhR § 136, S. 140.

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Das Gewissen als subjektive Haltung zur transsubjektiven Sittlichkeit orientiert sich nun aber an schon etablierten gemeinsamen Standards, gerade auch im Blick auf das kritische Urteil anderer Personen. Demnach handelt ein personales Subjekt im aktualen Vollzug schon dann (und nur erst) ehrlich, wenn es seine Maxime qua Gesamtform der Handlung unter Einschluss zu erwartender Folgen nach Kants Kategorischen Imperativ prüft, sie als mit diesem ‚Moralgesetz‘ konform bewertet und das Tun an der so rein moralisch, d. h. rein subjektiv bewerteten Handlungsform ausrichtet, sie zu instanziieren versucht. Gewissenhaft handelt man aber erst dann, wenn man das Ethos gemeinsamer Praxis kennt und prima facie anerkennt. Man ‚darf‘ also nur in klar privativen Fällen gegen diese handeln – ansonsten darf man für Verbesserungen von für ‚schlecht‘ gehaltenen Normen und Formen nur erst werben. Es ist dabei sozusagen nur ein Lesefehler, wenn der sogenannte Konsequenzialismus in der utilitaristischen Moralphilosophie übersieht, dass bei Kant die erwartbaren Folgen des Tuns als Teil der Maxime aufzufassen sind. Die utilitaristische ‚Kritik‘ an Kants Praktischer Philosophie tritt daher im Grunde nur offene Türen ein. Sie lässt sich leicht aufheben, wenn man – mit Hegel – auf einer Bewertung der Handlung aus der Sicht des handelnden Subjekts besteht und den Blick auf ‚objektive‘ Ursachen und Folgen von der Seite einer alles besser wissenden Zukunft oder eines Gottes als irrelevant ablehnt – was man ja unbedingt tun muss. Und doch ist, wie Hegel klar sieht, Kants Moralität nur erst bestimmt als Wahrhaftigkeit oder Redlichkeit (truthfulness), wie sie hier erläutert wurde und wie sie angesichts der allgemein verfassten Formen kooperativer Praxis und des Ethos der Institutionen selten oder nie wirklich ausreicht. Offenbar sind bis heute die sich hieraus ergebenden Unterschiede von Moralität und Sittlichkeit, Ethos und Sitte, Gesinnung und Gewissen weder ausreichend sachlich begriffen, noch in kanonischer Sprache oder, wie man dazu auch sagt, terminologisch allgemein artikuliert. Dazu ist natürlich zwischen den diversen Gebrauchsweisen des Wortes „Gewissen“ zu unterscheiden, was Hegel in der Phänomenologie extensiv tut. Das geschieht allerdings in einer Sprache, die kaum schon ausreichend verstanden ist. Denn Hegels Sätze über das Gewissen (oder dann auch über Gott und Geist) sind nicht als Aussagen über eine schon als bekannt unterstellte Sache oder einen schon bestimmten Gegenstand zu lesen, sondern als Kommentare zum Gesamtbegriff bzw. Gesamtbereich, in dem vom Gewissen (oder dann etwa auch vom Geist oder von Gott) die Rede ist. Damit kommentiert Hegel, erstens, unsere üblichen, zweitens, die für den Kontext als relevant ausgewiesenen Unterscheidungen und ‚behauptet‘ und ‚begründet‘ nichts. Vielmehr schlägt er kontextbezogene

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Unterscheidungen und eine zugehörige Normierung oder Kanonisierung der Rede über die betreffenden Sachen vor. Grob gesagt bedeutet das für einen ‚guten‘ Gebrauch des Wortes „Gewissen“: Eine Person handelt erst dann gewissenhaft, wenn sie auch noch prüft, ob nicht nur sie bzw. je ich die betrachtete Praxisform als für uns erlaubt oder geboten anerkennen kann, sondern, ob wir sie wirklich anerkennen. Das folgt keineswegs daraus, dass ich sie gemäß ehrlicher oder wahrhaftiger Gesinnung für entsprechend anerkennbar halte. Die bekannte Kritik von Max Weber an jeder bloßen Gesinnungsethik fällt daher – ohne dass er es als Neukantianer und Nietzsche-Leser wissen konnte – mit Hegels Kritik an der kantischen Moralität und an der schönen Seele subjektiver Gutmenschen zusammen. Ehrlichkeit reicht in der Tat nicht schon aus, um ethisch gut zu handeln. Sittlichkeit ist das je zu internalisierende Ethos der Person im Gemeinwesen. Der Staat ist der Rahmen für alle Institutionen und daher zunächst als Gesamt aller Öffentlichkeit zu begreifen. Am Ende weitet er sich über die zwischenstaatlichen Beziehungen auf die ganze Menschheit aus. Diese Form der Ausweitung ist formal ganz so, wie die regionalen Sprachen (langues) per Übersetzung zur universalen Sprache (langage) werden, oder wie jede gute Literatur zu einem Teil von Weltliteratur im Sinn Goethes wird.12 Dabei geht es in einer Entwicklung der Formen des Gemeinwesens immer auch um die Anerkennung der äußeren, normativen, zum Teil rechtlichen, Ordnung der Personen in ihren Beziehungen zueinander. Diese Ordnung ist das von uns selbst geformte ethische Leben, das „die Einheit und Wahrheit“ der „beiden abstrakten Momente“, der subjektiven Moralität und der objektiven ethischen Welt, aktiv herstellt.13 Am Problem einer gewissen Überbewertung des Prinzips der Subjektivität mit ihrer vermeintlich autonomen moralischen Gesetzgebung scheitert also die Praktische Philosophie Kants. Die Folge ist eine selbstgerechte Romantik 12

13

Dabei ging es gerade nicht um einen Platz der gegenüber dem Süden und Westen etwas verspäteten deutschen Literatur an der Sonne, sondern wie bei Hegel um die Teilnahme an der Entwicklung der Einheit humaner Kultur. Welche Regionen und Leute in Europa, Afrika, den Amerikas oder im Osten Asiens zu bestimmten Zeiten Wesentliches für die Entwicklung einer Kultur gemeinsamer Vernunft beigetragen haben, war und bleibt zwar umstritten. Eine Fokussierung auf unbezweifelbare Leistungen in Bezug auf wesentliche Praxisformen und Institutionen wäre dabei aber weit wichtiger als die oberflächliche Rede über plurale Kulturen. Was man im Ton der Entrüstung über angebliche oder wirkliche ‚rassistische‘ oder ‚antidemokratische‘ Urteile der damaligen Zeit zu erzählen beliebt, ist allzu häufig von keinem Wissen darüber getrübt, wer damals auf der Seite des aufkommenden Nationalismus, auch Antisemitismus, stand und wer sich dagegen stellte. Vgl. PhR § 33, a.a.O. S. 58.

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des guten Willens mit pathetischer Rede von einer angeblichen Erhabenheit des moralischen Gesetzes in uns: Das implizit gemeinsame Wissen, dass wir die moralische Pflicht haben, als Personen auf die ethische Gemeinsamkeit des Wir zu vertrauen, ist, anders als Kant sagt, noch kein sinnvoller Gegenstand erhabenen Staunens. Wenn man schon über das Erhabene in der Moral und Ethik nachdenkt, dann besteht dieses eher darin, dass es Menschen gibt, welche ihre moralischen und sittlichen Pflichten wirklich auf einigermaßen gute Weise trotz aller zu erwartenden Nachteile und Risiken sozusagen heldenhaft erfüllen. 4.

Zum materialen Gehalt des formalen Moralprinzips

Trotz dieser zum Teil schon auf die folgenden Ausführungen vorgreifenden Bedenken reichen Kants Kohärenzüberlegungen zunächst aber durchaus für eine autonome moralische Beurteilung von manchen Problemen freier Kooperationen aus. Das ist der Grund, warum man sich mit ihnen oft vorschnell zufrieden gibt. Das lässt sich an dem mit Recht viel besprochenen Gefangenendilemma als Muster für ein Kooperationsdilemma darstellen.14 Es ist nämlich die Redlichkeit der Übereinstimmung von Reden und Tun und damit die Moralität notwendige, aber noch nicht zureichende Bedingung sittlich guten Handelns. Dass Ehrlichkeit Grundbedingung ethisch guten Handelns ist, ist eine wichtige Einsicht Kants. Er erkennt aber noch nicht einmal klar, wie risikovoll das Vertrauen in die Redlichkeit der anderen Personen sein kann. Die Kooperationsdilemmata ergeben sich in Fällen, in denen freie Kooperationen zwar für alle Beteiligten bessere Ergebnisse liefern würde, als wenn alle nicht kooperieren (defektieren), in denen aber Trittbrettfahrer gute Chancen der Gewinnmitnahme haben. Die Folge ist, dass die ‚Tugendhaften‘, die zunächst kooperieren wollen, in der Gefahr stehen, auf bekannte Weise zu 14 Zwei Angeklagten drohen nach einer möglichen Darstellung des Dilemmas  5 Jahre Gefängnisstrafe, wenn sie beide defektieren, also sich gegenseitig verraten, aber sie haben nur 1 Jahr zu erwarten, wenn sie beide (mit einander, nicht mit dem Staatsanwalt) kooperieren. Der Anreiz zur Defektion – durch den Staatsanwalt – entsteht dadurch, dass, wenn nur einer ‚kooperiert‘, er selbst 10 Jahre erhält, der andere aber als ‚Kronzeuge‘ straffrei bleibt. In der ‚mathematischen‘ Spieltheorie wird es für ‚ökonomisch rational‘ angesehen, zu defektieren, da, falls der andere kooperiert, 0 Jahre besser sind als 1 Jahr, falls er aber defektiert 5 Jahr besser sind als 10. Warum aber soll es besser sein, durch sein Tun dafür zu sorgen, dass das Ergebnis für mich 0 oder 5 Jahre lautet und nicht 1 oder 10 Jahre?

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den Dummen zu werden. Das führt dann häufig dazu, dass am Ende sie selbst defektieren. Steuerbetrüger sind ja nicht allein mit ihrer Entschuldigung: das machen doch alle so, così fan tutte. Es ist immer auch das rationale Sicherheitsdenken, das wegen des hohen Risikos der Defektion der anderen über den Entzug des Vertrauens in ihre Kooperativität (also über den Zweifel an ihrer Moral) zur eigenen Defektion, zur Nichtkooperation führt. Der homo rationalis als der reine Wirtschaftsegoist kann per definitionem im Kooperationsdilemma nicht frei kooperieren. Denn ihm ist das Risiko des Vertrauens in die Moralität viel zu hoch. Er müsste sich ja in seinem Nutzenkalkül auf die Kooperativität der anderen Individuen verlassen (können). Zur strukturellen Einsicht Kants gehört dabei durchaus schon, dass instrumentelle Rationalität und praktische Vernunft nicht im Gleichklang sind. Die beiden Gefangenen im Dilemma z. B. können gemeinsam nur wollen, dass sie kooperieren – und ‚sollten‘ daher mit ‚Zutrauen‘‚ wie Hegel zum Vertrauen sagt, das Risiko der Kooperation den Gefahren der Defektion vorziehen. Dem transzendentalen Ich, das ein Wir ist, also der Person, sagt eben das Kants Praktische Vernunft. Allerdings ist die Gegenspielerin dieses moralischen Sollens nicht einfach, wie Kant es darstellt, die unmittelbare Neigung oder Begierde, sondern die scheinbare Rationalität des bloß erst subjektiven Verstandes. Kants Moralprinzip hebt also in der Tat einen Teil der Paradoxie des Gefangenendilemmas auf, freilich nur im Modus eines normativen Sollens, noch lange nicht im Modus praktisch wirksamer Lösungen. Das gilt besonders auch für die Tragödie der Allmende (tragedy of the commons), nach welcher z. B.  gemeinsame  Felder und Wälder aufgrund des Egoismus der Einzelnen auf absehbare Weise schlecht gepflegt oder übernutzt werden. Ein klares Beispiel dafür liefert das Problem der Luftverschmutzung und des Klimawandels. Moralische Appelle und Heroisierungen von Protagonisten des Guten reichen in solchen Fällen freier Kooperationsprobleme nicht für eine praktische Lösung aus. 5.

Staatliches Recht als Rahmen einer freien Gesellschaft

Hegel bemüht die antike und gotische Architektur als Metapher, um die „Strenge des Maßes“15 in den staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen leicht pathetisch hervorzuheben. Es ist in der Tat eine erfahrene Kunst, nach der „jeder Pfeiler, Bogen und Strebung“ seine Funktion erfüllt, so dass „die 15

PhR a.a.O. S. 13.

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Stärke des Ganzen aus der Harmonie seiner Glieder“ hervorgeht.16 In einem brutalen Bildbruch wirft Hegel dabei einem oberflächlichen moral sentiment romantischer Subjektivität vor, den „gebildeten Bau in den Brei des ‚Herzens, der Freundschaft und Begeisterung‘ zusammenfließen zu lassen“.17 Er will damit offenkundig den Kategorienfehler in den utopischen Vorstellungen von einer unmittelbaren Lösung gesellschaftlicher Kooperationsprobleme auf der Basis von ‚sozialen‘ Appellen an Liebe und Solidarität, auch Vaterland und Familie wie in jeder Nationalromantik drastisch hervorheben. Heute spricht man häufig akademischer von „Normativität“, wo Hegel me­ tonymisch, also pars pro toto, von „Recht und Sittlichkeit“ redet. Gemeint ist grob dasselbe. Dabei sind uns die (impliziten) Normen kanonisch gesetzter Richtigkeiten im Unterscheiden, Reden, Schließen und Handeln sowohl für den Bereich des Wissens als auch der Ethik unter Einschluss des Rechts und der staatlichen Gesetze empraktisch weitgehend bekannt. Sonst könnten wir nicht reden und denken, etwas verstehen und etwas als gut beurteilen. Freilich ist die reflektierende Rede über ‚Formen der Vernünftigkeit‘ frei, so dass man immer fragen kann, ob eine unterstellte ‚Allgemeinheit und Bestimmtheit‘ wirklich gut ist.18 Die in ihrer Form ganz unklare und unscharfe Aufforderung in Kants Verständnis von ‚Aufklärung‘, nämlich irgendwie ‚selbst zu denken‘, steht, wie wir gesehen haben, in der Gefahr, alle Bindungen an Traditionen, also an die geschichtliche Gemeinsamkeit der Projekte und Prozesse des individuell guten Handelns im Rahmen einer als gut zunächst erst einmal zu unterstellenden Praxis aufzulösen – um alles neu zu bewerten und zu entscheiden. Das ist eine maßlose Überschätzung des Subjekts und der Gegenwart. Das gilt auch für den so genannten Fortschritt in den Wissenschaften, nicht nur für die transzendentalphilosophische Reflexion auf die uns zunächst gegebenen Formen der Ethik, des Rechts und damit des Staates. Warum nämlich sollten sich andere Personen für meine privaten Vorstellungen dazu interessieren, was ich als besseres Wissen gegen ein etabliertes Wissen und als allgemeine Gesetze gegen ein tradiertes Ethos und gesatzte Rechte und Pflichten im Staat anerkennen zu können meine? Und wie sollte eine Praktische Philosophie als Teil einer selbsterklärten Kritik an der Gesellschaft ausreichen, um die gegebenen Praxisformen und Institutionen von Ethos und Recht auch nur zu kritisieren, geschweige denn unmittelbar zu revolutionieren? Kants Moralphilosophie kann ja zunächst nur die Kohärenz im eigenen Denken, Reden 16 17 18

PhR a.a.O. S. 13. PhR a.a.O. S. 13. PhR a.a.O. S. 14.

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und Handeln prüfen. Benthams Utilitarismus kann prinzipiell nur das allgemein Schöne im Sinne des supererogatorisch Guten für möglichst alle aus dem Blick von der Seite eines Gottes ausmalen. Eine unmittelbare Praktische Ethik der Pflichten für den Einzelnen, den Staat oder für ‚die Gesellschaft‘ ergibt sich daraus, pace Peter Singer,19 keineswegs. Auch hier wünschen oder ‚wollen‘ zumindest zunächst immer nur die einzelnen Sprecher, dass ‚wir alle‘, also möglichst alle anderen Leute, die von ihnen für gut befundenen Maximen der Perfektion der menschlichen Welt befolgen. Weder aus der Befolgung eines bloß kohärenztheoretischen und formalen ‚kategorischen Imperativs‘ noch aus der Orientierung an der Vorstellung von einem möglichst großen Glück einer möglichst großen Anzahl von Menschen und Tieren ergibt sich unmittelbar eine gemeinsame Form des kooperativen Handelns. Wenn wir die Orientierung an der bloß subjektiven Moral des kategorischen Imperativs wie oben zusammen mit der Vorstellung von einer Rettung der Welt auf utilitaristischer Grundlage „Gesinnungsethik“ bezeichnen, steht diese sogar im Gegensatz zu einem ethischen Gewissen und zu einer theoretischen Vernunft gewissenhafter Prüfung, wie die geschichtlich gemeinsam etablierten Normen des in entsprechenden Falltypen normalerweise schon ausreichend guten Formen des Handelns und das zugehörige Allgemeinwissen in den je besonderen Fällen der je gegenwärtigen Situation gut anzuwenden sind. Kants Kategorischer Imperativ schließt im Grunde nur aus, anderen Wasser zu predigen und selbst Wein zu trinken – oder auf andere Weise als Trittbrettfahrer ein allgemeines Ethos (und Recht) nur für sich zu benutzen. Kants Prinzip ist damit keineswegs leer, wie Hegel etwas übertrieben sagt,20 sondern schon höchst folgenreich. Es liefert nämlich sogar schon eine Lösung für das praktische Kooperationsdilemma, theoretisch expliziert am Beispiel des Gefangenendilemmas und einer entsprechend quantitativ formalisierten Entscheidungs- und Spieltheorie. Auch ohne jede Absprache weiß jede Person, wie oben ausgeführt, dass das moralisch gute Handeln darin besteht, nicht in der berechnenden Hoffnung auf einen höheren Nutzen für sich aus der Form einer symmetrischen Verteilung von Kosten und Nutzen ‚auszusteigen‘. Das heißt konkret, der moralisch Handelnde ‚muss‘ auf die Kooperativität der anderen personalen Subjekte vertrauen – und darf sein mögliches Misstrauen nicht als Vorwand benutzen, aus den uns und ihm bekannten Kooperationsformen zu ‚defektieren‘. Die ökonomische Spieltheorie als Modellierung für Entscheidungen unter Unsicherheit abstrahiert von dieser basalen ‚sozialen‘ Tatsache. 19 20

Peter Singer, Praktische Ethik Stuttgart: Reclam 1984. PhR § 136, a.a.O., S. 139 und § 140, S. 153ff.

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Das Prinzip des moralischen Urteilens und die zugehörige Pflicht zu vertrauen ist freilich weder ausreichend wirkmächtig noch überhaupt gut genug. Das kann man jetzt auch an dem zur Moralformel parallelen Rechtsprinzip zeigen. Diesem zufolge soll ‚meine Freiheit oder Willkür so beschränkt werden, dass sie mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne‘.21 Das ist, um es noch einmal zu sagen, nur eine negative Bestimmung. Konkret bleibt nicht nur offen, welche Verteilung von Entitlements und Commitments in der Kooperation von personalen Subjekten aus den vielen möglichen auszuwählen ist. Es kann nämlich indefinit viele geben, die je für sich Kants Bedingungen der moralischen, also subjektiven, Redlichkeit erfüllen, die aber dennoch keineswegs zueinander passen. Es bleibt bei Kant außerhalb der Betrachtung, dass es das Rechtssystem selbst ist, welches die positive Freiheit eines ‚moralischen‘, ‚kommunitarischen‘ und vertragsförmig-gesellschaftlichen kooperativen Handelns sichert und damit allererst real instanziiert. Und es wird von der Pfadabhängigkeit der geschichtlich gemeinsam entwickelten Konventionen abstrahiert, mit denen wir immerhin Koordinationsprobleme im gemeinsamen Handeln wie im Fall des Rechtsfahrens und Rechtsgehens lösen. Auch sie sind Bestandteile einer Verwandlung von bloß subjektiv verallgemeinerbaren Erlaubnissen in objektive sittliche Formen, Normen und Regeln. Die kantianische Gegenkritik an Hegels Betonung des tradierten Ethos als angeblich bloß regional oder relativistisch trifft insgesamt an der logischen Form des Arguments vorbei. Denn Hegel besteht darauf, dass gute Formen der Kooperation und allgemeines Wissen sich im Allgemeinen der Tendenz nach weltweit verbreiten, so dass man von einem Geist der Welt über den Geist einer Epoche oder eines Volkes hinaus ebenso zu sprechen hat wie über die Sprache (langage) und den Begriff als das Übersetzbare aller bloß erst in einer Einzelsprache (langue) konstituierte allgemeine Semantik aller Sprachen. Insgesamt wird so klar, dass die allgemeine Sittlichkeit ein schon durch ethische Normen und rechtliche Regeln und Gesetze geformtes Zusammenleben zunächst der Mitglieder einer speziellen Gesellschaft, wie sie durch einen Staat als Staatsvolk zusammengehalten ist, und dann auch aller Menschen im überstaatlichen Kontakt meint. Hegels Begriff des abstrakten Rechts meint dazu die je konkretisierten Formen der Legitimität im Sinne eines zunächst schon anerkannten Systems konventioneller Sitte und staatlichen Rechts, die in ihrer geschichtlichen Konkretheit längst schon weit über die bloß moralischen Formen der subjektiven Redlichkeit, aber auch das so genannte Gute 21 Vgl. FN 3 oben.

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utilitaristischer Ideale und das so genannte Gerechte sozialistischer Utopien hinausgehen. Der romantische, gesinnungsethische bzw. subjektiv-idealistische Fehler bloß erst moralischen Denkens besteht darin, Ethik mit der bloß erst freien Form privater bzw. frei kommunitarischer, familialer, Kooperation, damit auch einem zufälligen Konsens bzw. subjektiver Caritas oder Nächstenliebe zu verwechseln. Der Vorrang des allgemeinen Rechts vor einer supererogatorischen Moralität nach Art einer gefühlsbetonten und damit im Tun sozusagen nur erst netten Nächsten- und Fernstenliebe ist anzuerkennen. Daher ist nach Hegel auch die Rechtschaffenheit, nicht das moral sentiment der caritas, die oberste ethische Tugend. In ihr verschiebt sich die übliche Deutung der Liebe vom bloßen Verhalten zwischen Einzelpersonen auf die wahre christliche Haupttugend. Diese ist gute Haltung der Person zum Gesamt der Menschheit, in mythischer Sprache: zu Gott. Es wäre aber offenkundig verfehlt zu glauben, es ergäbe sich daraus nicht auch ein Commitment für das moralische und rechtliche Handeln in der Beziehung zwischen Einzelpersonen. Die Absolutheit und Heiligkeit der personalen Subjekte bleibt oberstes Prinzip. Es gibt eben daher ein höheres Recht als das der bloß positiven Regeln. Dieses aber ist nicht etwa so zu verstehen, dass die freien Gefühle der Moralität über dem Recht stünden, wohl aber so, dass wir im Recht, wie überall sonst auch, zwischen allgemeinen Prinzipien an sich und besonderen Anwendungen unterscheiden müssen – was bisher wohl nur Hegel in dieser Klarheit gesehen hat. Hegel selbst greift diesen Gedanken so auf: „Jede Stufe der Entwicklung der Idee der Freiheit hat ihr eigentümliches Recht, weil sie das Dasein der Freiheit in einer ihrer eigenen Bestimmungen ist.“22 Geschichtliche Epochen lassen sich daraufhin unterscheiden, inwieweit sie weltweit als Voraussetzungen für spätere Entwicklungen zu begreifen sind, die zu unseren Standards der Wertungen führen und ihr eigentümliches Recht haben. Dabei ist es leere Abstraktion, die eigenen Standards als möglicherweise bloß relativ gegen unbekannte bessere zu stellen. Die nette Rede von einem Pluralismus der Kulturen aus der Perspektive eines allwissenden Gottes ist selbst zutiefst regionalistisch – sogar schon inkohärent. Alle von uns abstrakt entworfenen Utopien haben bestenfalls im Kontext der Reflexion auf unsere jeweilige Wirklichkeit einen bestimmten Sinn und Zweck. Sie bleiben damit relativ zu unserem institutionellen System des Ethos als dem „Dasein der Freiheit“ aus je „eigenen Bestimmungen“.23 Auch wer Moralität gegen Sittlich22 23

PhR § 30, a.a.O., S. 55. a.a.O. S. 55.

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keit und Sitte gegen Recht setzt, versteht unter Recht „nur das erste formelle“ Recht „der abstrakten Persönlichkeit“. Es handelt sich um das Recht, in allen Dingen selbst zu entscheiden, zumal wir immer selbst handeln und unser Leben selbst führen müssen. „Die Moralität, die Sittlichkeit, das Staatsinteresse ist jedes ein eigentümliches Recht, weil jede dieser Gestalten Bestimmung und Dasein der Freiheit ist. In Kollision können sie nur kommen, insofern sie auf gleicher Linie stehen, Rechte zu sein; wäre der moralische Standpunkt des Geistes nicht auch ein Recht, die Freiheit in einer ihrer Formen, so könnte sie gar nicht in Kollision mit dem Rechte der Persönlichkeit oder einem andern kommen, weil ein solches den Freiheitsbegriff, die höchste Bestimmung des Geistes, in sich enthält, gegen welchen Anderes ein substanzloses ist. Aber die Kollision enthält zugleich dies andere Moment, daß sie beschränkt und damit auch eins dem andern untergeordnet ist; nur das Recht des Weltgeistes ist das uneingeschränkt absolute.“24

Die Moralität ist sozusagen die subjektive Beurteilung der Form der (zunächst bilateralen) Beziehungen zwischen Einzelpersonen. Die Sittlichkeit oder das Ethos ist das geschichtlich entwickelte System der Formen und Konventionen des gemeinsam verfassten Zusammenlebens in der Familie, in Gruppen und Gemeinden, in einem Stamm oder Volk, am Ende in der Gesellschaft eines nicht mehr tribalistischen Staates und einer Gemeinschaft aller Menschen. Jede dieser Formen hat ihr eigentümliches Recht. Das ist zunächst nicht nur im Sinn positiv gesatzter Regeln zu verstehen, sondern auch der allgemein schon etablierten, prima facie zu erhaltenden, Kooperationsformen. Dabei können die Rechte und Pflichten der Einzelnen, der Familien, der Gemeinden oder des Staates nur qua Entitlements und Commitments in Kollision geraten: Es kann sein, dass, wie im Fall der Antigone, die Familien auf einem eigenen Begräbnisrecht und sogar einer heiligen Begräbnispflicht bestehen, der Staat aber bestimmte eigene Regeln, die dazu in Widerspruch stehen, durchsetzen will. Wäre „der moralische Standpunkt“ der freien Beurteilung prima facie erlaubter Kooperationsformen mit Einzelpersonen „nicht auch ein Recht“, dann könnte er z. B. mit staatlichen Konventionen und positiven Gesetzen nie in Konflikt geraten. Prima facie können daher z. B. Karl Marx oder Thomas Piketty als Nebenfolge der von ihnen vorgeschlagenen ‚Abschaffung des Lohnsystems‘ bzw. der privaten Aneignung von Mehrwert wünschen, dass es kein Privateigentum an Produktionsmitteln in der Gesellschaft geben soll. Ob es klug ist, das auch wirklich zu wollen, hängt offenbar an den zu erwartenden Konsequenzen einer solchen Revolution. Mitgewünscht ist nämlich keineswegs die totale 24

PhR § 30, a.a.O. S. 55f.

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Verwaltung der Ökonomie der Arbeit- und Güterverteilung durch den Staat. Daher bleibt die Frage zunächst offen, ob man, um es prägnant zu sagen, Marx ohne Lenin und dann auch ohne Stalin haben kann. Jedenfalls berechtigt das Wollenkönnen noch lange nicht, für sozialistische Ideen anders denn als bloße Zielideen zu werben, also rein missionarisch oder propagandistisch tätig zu werden. Denn es ist unabweisbar, ich wiederhole diesen Punkt, dass nicht das, was einige meinen, wollen zu können, schon moralisch bzw. ethisch gut ist, sondern nur das, was allgemein und dabei zumeist nicht ohne allgemeine Erfahrung über das gesellschaftlich Machbare wirklich gewollt wird. Gegenüber der normativen Macht des Faktischen sind moralische Utopien und ist der subjektive Idealismus eines ‚normativen‘ Sollens zunächst also in der Tat, wie Hegel sagt, substanzlos, also nicht nachhaltig, wie man heute dazu sagen würde. Die „Sphäre der Moralität“ charakterisiert Hegel „in ihrer Entzweiung oder besonderen Existenz“ klar genug als „das Recht des subjektiven Willens im Verhältnis zum Recht der Welt“.25 Denn es ist das gute Recht des personalen Subjekts, aus seiner je endlichen Perspektive über alles, auch alles ethisch und rechtlich Richtige, zu urteilen. Diese Subjektivität ist sogar objektive Grundlage aller Bemühung um transsubjektive Objektivität in allen Formen des Perspektivenwechsels. Moralität verbleibt aber dennoch in der Sphäre bloßer Redlichkeit, solange sie nicht Teil ist der Sittlichkeit und damit der Internalisierung einer wirklich anerkannten Rechtlichkeit oder gewissenhaften Rechtschaffenheit. Die moralische Haltung zum Recht ist also nur erst ein subjektives Verhältnis zur Idee und Praxisform rechtlich begrenzter und zugleich rechtlich ermöglichter Freiheit. Es ist schon höchst fragwürdig, wenn man sie den konkreten, geschichtlich gewordenen Formen eines institutionellen Gemeinwillens so gegenübergestellt, als hätte das einzelne moralische Subjekt eine echte Wahl zwischen Alternativen. Das hat es so wenig wie das Kind, das Zählen lernt. Dennoch muss und darf je ich immer aus meiner Perspektive urteilen und handeln. Dieses Recht ist unveräußerbar, was schon Solon in sehr früher Zeit so explizit macht: Man darf sich auf keine Weise selbst versklaven. „Das Recht an solches Unveräußerliche ist unverjährbar, denn der Akt, wodurch ich von meiner Persönlichkeit und substantiellem Wesen Besitz nehme, mich zu einem Rechts- und Zurechnungsfähigen, Moralischen, Religiösen mache, entnimmt diese Bestimmungen eben der Äußerlichkeit, die allein ihnen die Fähigkeit gab, im Besitz eines andern zu sein.“26 25 26

PhR § 33, S. 58. PhR § 66, a.a.O. S. 85.

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Das freie Recht am unveräußerlich Eigenen der Person kann nie ‚zurückgegeben‘ werden. Wäre das der Gedanke des Islam, dass man die Umma der personalen, moralischen, rechtlichen und damit auch allgemein religiösen Menschen nicht verlassen kann, wäre er groß. Die Formen, die ich reproduziere, indem ich mich zur Person bilde, gibt es also schon in der gemeinschaftlichen Welt der Menschen, d.h. der Personen. Ich hebe ihre Äußerlichkeit auf, indem ich die Formen als abrufbare Vollzugsformen sozusagen internalisiere. Damit fallen, wie Hegel sagt, „alle Gründe weg, die aus meinem früheren Konsens oder Gefallenlassen genommen werden können“,27 nämlich die schematischen Konventionen aus der Lern-Zeit meiner Erziehung. Es ist natürlich geradezu frech, mindestens tief ironisch, dass Hegel Kants Kategorischen Imperativ als Prinzip eines möglichen Betruges darstellt. Aber man kann sich leicht denken, wie das gemeint ist: Der tugendhafte Robespierre z. B. mag nicht anders als Lenin sein Tun vor sich selbst damit gerechtfertigt haben, dass alle Gutwilligen seinen politischen Entscheidungen zustimmen könnten und sollten. So gab es z. B. auch Studierende des Faches Philosophie, die ernsthaft meinten, man könne allgemein wollen, dass im kapitalistischen System arme Studenten Bücher, die sie dringend brauchen, in Buchläden stehlen dürfen – und danach handelten. Das ethisch-moralische Vernunftprinzip Hegels ist demgegenüber ein Prinzip des konstruktiven Misstrauensvotums. Ihm zufolge ist sozusagen vorab nachzuweisen, dass die vorgeschlagenen oder sogar schon akklamierten institutionellen Änderungen besser sind als die alten Ordnungen. Es ist ein Prinzip der Nachhaltigkeit, um das heute in die Ohren fallende Wort noch einmal zu verwenden. Als Konservativitätsprinzip schützt es die institutionellen Erfahrungen der Menschheit, indem es den Vorrang von Tradition vor einem zu schnellen Besserwissen der Gegenwart auch gegen einen bloß kontingenten Konsens verteidigt und den Appell an einen idealen Konsens als bloß subjektiv und frei von jeder zielführenden Realorientierung durchschaut. Für uns heute ist es dennoch schwer einzusehen, dass der Fehler der Aufklärung insgesamt darin besteht, alle Tradition für rein akzidentell zu erklären und an einen idealen vernünftigen Konsens in einer diffusutopischen Zukunft zu appellieren. Die Anerkennung tradierter Institutionen ist geschichtliche Voraussetzung der Seinsform einer vollen Person oder, was dasselbe ist, eines geistigen Wesens oder gebildeten Menschen. Die materiallogischen Präsuppositionen wirklich vernünftigen Urteilens und Handelns sind als institutionelle Setzungen der Menschheit zu begreifen. Sie definieren 27

PhR § 66, a.a.O. S. 85.

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jedes relativ-transzendentale Apriori in einer globalen Vernunftentwicklungsgeschichte. Nur über deren explizite Rekonstruktion, samt dem Verständnis der von uns heute hervorhebbaren Zwecke, auch Gründe und Ursachen, kommen wir über bloß tautologische Vernunftappelle hinaus zu einer realen Orientierung, wie sie jeder konkrete Sinn verlangt. Kants guter Wille als subjektive moralische Qualität eines Tuns bezieht sich nur erst auf das Bewusstsein der einzelnen Handelnden. Sie allein entscheidet keineswegs darüber, ob das Handeln ethisch oder rechtlich gut ist. In einer oberflächlichen Überbewertung der guten Absicht im Fall eines Täters wird daher, wie Hegel sagt, „die objektive Betrachtung der Gerechtigkeit, welche der erste und substantielle Gesichtspunkt bei dem Verbrechen ist, bei Seite gestellt, und es folgt von selbst, daß der moralische Gesichtspunkt, die subjektive Seite des Verbrechens, vermischt mit trivialen psychologischen Vorstellungen von den Reizen und der Stärke sinnlicher Triebfedern gegen die Vernunft, von psychologischem Zwang und Einwirkung auf die Vorstellung (als ob eine solche nicht durch die Freiheit eben sowohl zu etwas nur zufälligem herabgesetzt würde) – zum Wesentlichen wird.“28

Man redet, heißt das, erfinderisch von einem ‚psychologischen Zwang‘ und von ebenfalls erfundenen allgemeinen kausalen Einwirkungen z. B.  eines  Wunsches oder der Wirkung der Gelegenheit auf das Individuum. Jeder, auch der Verbrecher, urteilt und handelt aus rein subjektiver Perspektive. In der Sphäre der Moralität machen wir uns als Personen immerhin schon selbstbewusst zum Gegenstand einer Reflexion und Selbstbewertung mit Allgemeinheitsanspruch. Im moralischen Standpunkt ist die Trennung von subjektiver Anerkennung und objektiver Geltung aber nur insofern überwunden, als gewisse Formen der Zufälligkeit der bloß eigenen Interessen und der perspektivischen Sicht auf die anderen Personen schon mitreflektiert werden: Während das abstrakte Recht sozusagen das Wesen des Personalen eines jeden personalen Subjekts in der Form von allgemeinen Pflichten, Erlaubnissen und Rechten expliziert, reflektieren wir unter dem Titel „Moralität“ transsubjektiv auf eine mögliche Willkür und Akzidenz im subjektiven Urteilen und Handeln. Dabei prüfen wir aber zunächst nur, ob wir wollen können, dass die von uns in Anspruch genommenen Formen des Urteilens und Handelns allgemein gelten. Wir prüfen damit noch nicht, ob andere diese Formen wirklich als gut anerkennen.

28

PhR § 99, a.a.O. S. 109.

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Die freie sittliche Person

In einer Vertragsgesellschaft erweitert sich der Kreis der Personen, mit denen man kooperiert, auf andere Weise als in der Erweiterung familiärer Gemeinschaften auf der Basis freier Kooperationen und direkter moralischer Beurteilung je aus subjektiver Perspektive. Das Gemeinsame des Familialen stellt sich sozusagen immer wieder neu intersubjektiv her. In der Vertragsgesellschaft wird dagegen die individuelle Nutzenmaximierung der Einzelnen im Prinzip anerkannt, soweit diese durch die Moralität im Sinn Kants, also die Kohärenz der Wahrhaftigkeit und damit des Verbots von Vertragsbrüchen und Trittbrettfahrten, eingeschränkt bleibt. Die Einschränkung durch „Treu und Glauben“ ist zentrale Bedingungen des nötigen Vertrauens in die Vertragssicherheit – auch dort, wo sich die ‚moralischen‘ Verbote der Defektion auch ohne Verträge eigentlich, aber leider faktisch nie ausreichend, von selbst verstehen. Man denke etwa an den Fall des Schutzes von Gemeinschaftsgut in der Allmende oder an das Verbot von Bereicherungen auf Kosten anderer Personen. Der Staat und seine positivrechtliche Ordnungspolitik werden gerade deswegen nötig, weil freie, kommunitarische Moralität eine viel zu schwache Bindung an das Gemeinsame ist, um die Kooperativität der Individuen in der Gesellschaft stabil zu sichern. Das vom kategorischen Imperativ geforderte Vertrauen ist in der Tat manchmal zu viel an idealistischer Pflicht, da keineswegs allen blind zu trauen ist. Das zentrale Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft ist daher nur erst der subjektiv zweckrationale Tauschhandel des homo oeconomicus als besondere Form von ‚Kooperation‘ von Einzelnen. Sie besteht in der Verfolgung rein subjektiver Intentionen, also des subjektiven Sinns Max Webers. Eine naheliegende Form, einen Rechtsstreit zu lösen, in dem die von den Parteien jeweils für gut befundenen Formen des Urteilens und Handelns kollidieren, ist offenbar, eine dritte Person urteilen zu lassen, die nicht schon Partei ist. Ein solcher Richter und sein Schiedsspruch sollten zumindest „von der Unmittelbarkeit des Interesses befreit“ sein – da gerade verhindert werden soll, dass nur eine Partei ihren Willen durchsetzt. Indem sich die Parteien am Ende dem Schiedsspruch unterordnen, gibt jede Seite die Idee auf, sie selbst könne die Form der Lösung bestimmen, von der sie moralisch vielleicht sogar meinen mag, dass alle sie wollen können. „So das Allgemeine von dem besondern Willen zu einem nur Scheinenden, – zunächst im Vertrage zur nur äußerlichen Gemeinsamkeit des Willens herabgesetzt, ist es der Betrug.“29 29

PhR § 87, a.a. O. S. 103. Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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Wenn das, was wirklich allgemein gilt, von mir in meinem besonderen Wollen in etwas verwandelt wird, das nur allgemein zu gelten scheint, während ich meinen bloßen besonderen Willen so stilisiere, als könnten alle, konsensuell, das wollen, was ich will, dann begehe ich einen Betrug. Betrug ist auch, wenn das, was allgemein verbindlich ist, so angesehen wird, als sei es nur eine äußerliche Gemeinsamkeit des Willens wie in einem Vertrag in einer beschränkten Wir-Gruppe. Dabei ist die Gesellschaft zunächst nur die Menge der Staatsbürger zusammen mit den nicht eingebürgerten oder bloß zeitweisen Bewohnern eines Landes – denen schon in den griechischen Städten der Antike die freien Metöken korrespondierten.30 In der bürgerlichen Gesellschaft ist dagegen die ‚private‘ Orientierung an je meinen eigenen Interessen handlungsleitend. Jede Gemeinschaft als das gemeinsame Meinige (auch in einer freien Kommune) bleibt zunächst lokal, sozusagen familienanalog. Familien aber stehen in der Gesellschaft gegen einander, so dass, wie nach einer charitablen Lektüre die Analysen von Ferdinand Tönnies31 zeigen, gerade die Gesellschaft keine Gemeinschaft ist, sondern begrifflich im Kontrast zu jener steht. Sie ist von ihrer Form her sozusagen eine Ge-Selb-schaft im Sinne eines gemeinsamen Egozentrismus. Der Bürger oder Bourgeois als sein typisches Mitglied ist der homo oeconomicus bzw. der homo rationalis individualis. Das heißt, die Einzelnen (bzw. die einzelnen Familien) versuchen, durch ihr individuelles rationales Tun ihren eigenen ‚Nutzen‘ zu mehren, die Chancen des Wohlseins zu maximieren und zugleich das Risiko von Gefahren und Schäden zu minimieren. Hegels Kritik richtet sich hier nur erst gegen die Überschätzung der Reichweite bloßer Kohärenzüberlegungen des Wollenkönnens. Die bloß subjektive Ehrlichkeit des ‚guten Gewissens‘ bzw. der bloß redlichen Gesinnung verführt nämlich zu moralischer Selbstgerechtigkeit. Daraus ergibt sich eine radikale Differenz zwischen dem Begriff des (ursprünglich) Bösen bei Kant und bei Hegel. Zu prüfen ist, was gilt, nicht bloß, was gelten könnte oder zufälligerweise akzeptiert wird. Objektstufige Pflichten sind, wie schon gesagt wurde, von metastufigen Vorschlägen möglicher Veränderungen geltender Werte und Normen unbedingt zu unterscheiden. Moralische Autonomie droht sonst in einen Autismus des absoluten Bösen zu kollabieren.

30 31

Es sind in traditionalen Gesellschaften eigentlich die Familien die Einheiten. Frauen und Kinder, Knechte und Mägde, früher auch die Haussklaven, wurden vertreten durch ihr Oberhaupt. Der Mann als Herr (dominus) vertritt also sich und die Seinen. F.  Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1887), Darmstadt: Wiss. Buchg. 1979. Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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Der Denkweg sinnkritischer Reflexion führt uns so mit logischer Notwendigkeit von der nur erst subjektiven Moralität zu einer gemeinsam schon institutionell verfassten Sittlichkeit.

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Rechtsphilosophie als Politik?

Zur Darstellung des Rechts in den „Grundlinien“ Dan Wielsch Betrachtet man Rechtsphilosophie als Teil der Philosophie, so ergeben sich scheinbar die gleichen Bedingungen ihrer Darstellung, wie sie sich für die Philosophie allgemein ergeben. Für sie wollte Hegel den Gang der Geschichte der Philosophie vom Gang der Philosophie selbst unterscheiden. Der Gang der Entstehung einer Wissenschaft ist verschieden von dem „Gang in sich“, wenn sie fertig ist. Ist das „Ganze der Idee in sich“ erreicht, so wird das Vorwärtsgehen in der Darstellung, das zugleich das subjektive Fortschreiten des Erkennens ist, „ein Rückgang in den Grund, zu dem Ursprünglichen und Wahrhaften, von dem das, womit der Anfang gemacht wurde, abhängt und in der Tat hervorgebracht wird“.1 Marx übersetzt Hegels Methode, den Stufengang der Idee durch „das rückwärts gehende Begründen des Anfangs und das vorwärts gehende Weiterbestimmen desselben“2 darzustellen, ins Politisch-Ökonomische und erschließt auf diese Weise die gesellschaftliche Totalität des kapitalistischen Systems. Er untersucht die kapitalistische Welt nicht primär als Wirtschaftsund Sozialhistoriker, sondern unter dem Aspekt ihrer gewordenen Struktur, unter der zur Allgemeinheit entwickelten Existenz des Werts.3 Anstatt den Gang der Ökonomie historisch abzuschildern rechtfertigt sich eine Darstellung im System, weil das Kapital seine Existenzbedingungen selbst produziert, nicht mehr „als Bedingungen seines Entstehens, sondern als Resultate seines Daseins.“4 Indem Marx die objektive Logik des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses herausarbeitet und den „Gesellschaftskörper, in dem alle Beziehungen gleichzeitig existieren und einander stützen“5, darstellt, zeigt er, wie die im System der bürgerlichen Ökonomie als fix behandelten Kategorien selbst produziert werden. Der im „Kapital“ durchgeführte Gang der Ökonomie 1 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, Theorie-Werkausgabe (besorgt von E. Moldenhauer und K. M. Michel), Band 5, Frankfurt a. M. 1970, 70. – Soweit nicht anders angegeben, wird Hegel im Folgenden nach der Theorie-Werkausgabe zitiert. Paragraphen, die im Haupttext in Klammern gesetzt wurden, beziehen sich auf die Grundlinien der Philosophie des Rechts. 2 Hegel, Wissenschaft der Logik II, TW 6, 570. 3 A. Schmidt, Geschichte und Struktur, München 1971, 56. 4 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, 372. 5 Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, 131.

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© Brill Fink, 2024 | doi:10.30965/9783846768358_005

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„in sich“ ist „zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben“.6 Diese Kritikfunktion der Darstellung ist entscheidend für den dialektischen Materialismus, der die Objektivität der kapitalistischen Gesellschaft als ein zugleich subjektiv – durch vergangene Arbeit – Vermitteltes ansieht.7 Wenn die bislang unbewusst waltenden Mächte ins Bewusstsein treten, eröffnen sich, so die Annahme, für die Individuen Wege von der bloß reproduzierenden hin zu einer strukturverändernden Praxis. Die Form der Darstellung ist bei Marx folglich mehr als ein Medium der Wissenschaft. Sie ist zugleich ein Medium der Emanzipation. Doch welcher Methode der Darstellung folgen die „Grundlinien der Philosophie des Rechts“? Wie steht es um das emanzipative Potenzial der von Hegel erstrebten wissenschaftlichen Form der Behandlung der sittlichen Welt? Zumal für Hegel Sittlichkeit als das lebendige Gute im Selbstbewusstsein sein Wissen und Wollen haben muss, um wirklich zu werden. Ihm zufolge bedingen substantielle Freiheit und der „zur Natur des Selbstbewusstseins gewordene Begriff der Freiheit“ einander.8 Konsequent ist Weltgeschichte „der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“.9 1.

Die Aufgabe der Philosophie: Darstellung des Absoluten

Hegels Rechtsphilosophie unterscheidet sich schon dadurch von der naturrechtlichen Tradition, dass sie nicht von einem obersten Grundsatz oder Definitionen ihren Ausgang nimmt. Die stattdessen gewählte Struktur ergibt sich aus dem Problem der Darstellung des Absoluten. In dem Moment, in dem durch die politischen Ereignisse deutlich wird, dass sich die Geschichte der Welt nicht mehr unter der Form der Naturgeschichte schreiben lässt, sondern als Geschichte des Menschen und der Entfaltung seiner Subjektivität, entsteht auch die ontologische Frage, wie das Absolute selbst, die oberste Vernunfteinheit, zugleich als frei vorgestellt, d.h. auf noch unentschiedene Möglichkeiten bezogen sein könne.10 Bereits in der „Differenzschrift“ stellt Hegel fest, dass das Absolute, das der Reflexion zugrunde liegt, nicht in der Form eines obersten absoluten 6 7 8 9 10

Marx, Brief an Lasalle v. 22.02.1858, MEW 29, 550. A. Schmidt, Fn. 3, 134. In der Sittlichkeit ist der Begriff der Freiheit nicht nur „zur vorhandenen“ Welt geworden, sondern auch „zur Natur des Selbstbewusstseins“, vgl. § 142 GPR. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, TW 12, 32. Hans Heinz Holz, Einheit und Widerspruch – Problemgeschichte der Dialektik in der Neuzeit, Band 3, Stuttgart 1997, 14.

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Grundsatzes gegeben sein kann.11 Das Absolute kann überhaupt nicht in der Form eines einzelnen Satzes ausgedrückt werden. Genau das ist aber die Auffassung des Verstandes, der bei seinen Festsetzungen jedoch davon abstrahiert, dass das Gedachte, das ein Satz ausdrückt, stets durch ein Entgegengesetztes bedingt ist. Erst die Vernunft supplementiert das „in dieser Einseitigkeit der abstrakten Einheit“ nicht ausgedrückte Entgegengesetzte durch einen zweiten Satz, „in ihm ist abstrahiert von der reinen Identität und die Nicht-Identität … gesetzt“.12 Die absolute Identität von Subjekt und Objekt kann in der einfachen Reflexion also nur durch zwei getrennte und einander widersprechende Sätze ausgedrückt werden, „in einem die Identität, im andern die Entzweiung“. Die formale Erscheinung des Absoluten ist der Widerspruch, die Antinomie.13 Das Absolute ist mit Hegel – und anders als in der Philosophie vor ihm – also nicht als schlechthin Erstes, Unbedingtes zu denken, das alles weitere bedingt und entsprechend dessen Grund bildet. Unter Rückgriff auf „das Prinzip der Spekulation“, d.h. die Identität des Subjekts und Objekts14, das ihm als regulatives Erkenntnisprinzip dient15, ist es vielmehr als das nichts außer sich habende „Ganze“ zu verstehen, das in sich differenziert ist.16 Es hat seinen Gegensatz, sein Anderssein, seine Negativität in sich selbst. Als Ganzes ist es sowohl Identität als auch Differenz, also „Identität von Identität und Nichtidentität“17. Es ist nur im Geschehen-lassen dieser Differenz, im Sichentzweien, im Setzen und Halten des Gegensatzes als Bildung eines Gegen-Satzes.18 Dann aber ergibt sich als spezifische Aufgabe für die Philosophie, das Absolute als Bewegung, als „Werden“ darzustellen. Sie muss versuchen, eine eingetretene „Entgegensetzung der festgewordenen Subjektivität und Objektivität aufzuheben und das Gewordensein der intellektuellen und reellen Welt als ein Werden, ihr Sein als Produkte als ein Produzieren zu begreifen“.19 Aus dieser Perspektive erweist sich die Begründung in obersten Sätzen oder Prinzipien als problematisch, weil sie eine notwendige Entzweiung des Absoluten im Endlichen fixiert und so die „relative“ – und als solche notwendige – Entzweiung in eine „absolute“ 11 12 13 14 15 16 17 18 19

Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, TW 2, 36. Hegel, Fn. 11, 38. Hegel, Fn. 11, 41. Hegel, Fn. 11, 10. Rolf-Peter Horstmann, Den Verstand zur Vernunft bringen, in: W.  Welsch/K.  Vieweg (Hrsg.), Das Interesse des Denkens – Hegel aus heutiger Sicht, München 2003, 89 (97). Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch, Stuttgart 2016, 103. Hegel, Fn. 11, 96. Herbert Marcuse, Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit, in: ders., Schriften, Band 2, Frankfurt a. M. 1980, 22. Hegel, Fn. 11, 22.

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Entzweiung überführt, die in der Isolierung der Erscheinung des Absoluten vom Absoluten besteht.20 Damit weist Hegel der Philosophie eine unmittelbar praktische Aufgabe zu. Indem sie den radikalen Prozesscharakter des Absoluten gegen die unveränderlichen Wesenheiten der traditionellen Metaphysik herausarbeitet und die Geltung des Identitätsprinzips in eine Logik des Werdens aufhebt, wird es nicht nur möglich, Freiheit als Daseinsmodus der Vernunft zu denken. Denn das Absolute ist nicht anders als dadurch, dass es sich auslegt. Oder, mit den Mitteln der späteren Geistphilosophie formuliert, ist „Weltgeschichte  … also überhaupt die Auslegung des Geistes in der Zeit“.21 Vielmehr hängt auch die vernünftige Fortbestimmung des Absoluten davon ab, wie die ontologische Subjekt-Objekt Einheit dargestellt wird. Hegel sieht die Aufgabe der Philosophie ausdrücklich darin, dass „das Absolute fürs Bewußtsein konstruiert werden [soll]“22, weil die Verwirklichung von Freiheit an ihrem Bewusstsein hängt: „Es ist also als die Bestimmung der geistigen Welt … und als der Endzweck der Welt das Bewußtsein des Geistes von seiner Freiheit und ebendamit die Wirklichkeit seiner Freiheit überhaupt angegeben worden.“23 Die Aufgabe der begrifflichen Konstruktion des Absoluten als lebendige Totalität, die synthetische Vereinigung von Entgegengesetzten ist, besteht unabhängig von Hegels Einschätzung, selbst in einem Zeitalter zu leben, in dem „die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen“. Denn das dadurch hervorgerufene „Bedürfnis der Philosophie“ entsteht immer dann und jeweils neu, wenn Erscheinungen des Absoluten als Selbständiges fixiert werden. Die Weise, in der das konkret geschieht („die besondere Form, welche die Entzweiung trägt“), ist kontingent („als Bildung des Zeitalters die unfreie gegebene Seite der Gestalt“)24. Zwar untersucht Hegel trotz dieses Ansatzpunktes nicht ausdrücklich die gesellschaftlichen Bedingungen dafür, dass sich ein bestimmtes Denken der Entzweiung zur jeweils beherrschenden Form entwickelt.25 Doch gibt er das Instrument zur Bearbeitung der Spannung zwischen dem Begriff der Reflexion und ihren Produkten an, zwischen der Aufgabe der (Re-)Konstruktion des Absoluten für das Bewusstsein einerseits und den dabei auftretenden Beschränkungen andererseits: Die „philosophische Reflexion“, die 20 21 22 23 24 25

Hegel, Fn. 11, 20. Hegel, Fn. 9, 96 f. Hegel, Fn. 11, 25. Hegel, Fn. 11, 32 f. Hegel, Fn. 11, 20. Jaeschke, Fn. 16, 106.

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sich als Vernunft auf das Absolute bezieht und nicht als „isolierte Reflexion“ sich im Setzen von Entgegengesetzten erschöpft, ist nichts anderes als die Vermittlung dieses Widerspruchs.26 Im späteren System entfaltet dann die Dialektik diesen Widerspruch als Logik des Übergangs von einer Formbestimmtheit zu ihrer bestimmten Negation. Aber – und das ist entscheidend – nicht nur als Übergang von einer Gestalt des Denkens zu einer anderen, aus ihr hervorgehenden, sondern eben auch die Formbestimmtheiten des Übergangs von einer Gestalt der Wirklichkeit zur nächsten.27 Indem Hegel Metaphysik auf diese Weise in eine Theorie der Freiheit transformiert,28 verschränken sich erkenntnistheoretische und sozialphilosophische Fragen.29 In seiner Formulierung des Absoluten als Prozess bilden Sein, Zeit und Freiheit eine strukturelle Einheit,30 und es ist vorgezeichnet, dass Hegel die Fixierung der praktischen Philosophie auf eine abstrakte und überzeitliche Begründung von Normen aufbrechen wird.31 Vernünftige Normen entwickeln sich erst im Durchgang durch Zeit und Raum. 2.

Eigenart der Darstellungsform des Rechts

Die philosophische Darstellung des Rechts in den „Grundlinien“ setzt nun in der Tat weiter an als in der Tradition. Dargestellt werden soll die „Idee des Rechts“, womit Hegel nicht allein den Begriff des Rechts, sondern auch dessen Verwirklichung meint (§ 1 GPR). Anders als das Natur- und Vernunftrecht arbeitet die geistphilosophische Architektur der Grundlinien – in der sich der inzwischen von Hegel ausgebildete Entwicklungsstand spekulativer Dialektik spiegelt – nicht mit einem statischen Rechtsbegriff, sondern stellt das Recht als Prozess dar. Als ein Prozess, in dem sich der Geist in eine von ihm selbst erzeugte Objektivität übersetzt und sich Wirklichkeit gibt.32 Aus 26

Hegel, Fn. 11, 26: „Die Reflexion hat als Vernunft Beziehung auf das Absolute, und sie ist Vernunft nur durch diese Beziehung“. 27 Holz, Fn. 10, 4. 28 Holz, Fn. 10, 52. 29 Christoph Demmerling, Philosophie als Kritik. Hegels Dialektik und das Programm kritischer Theorie, in: Ch. Demmerling/F. Kambartel (Hrsg.), Vernunftkritik nach Hegel. Analytisch-kritische Interpretationen zur Dialektik, Frankfurt a. M. 1992, 69 f. 30 Holz, Fn. 10, 47. 31 Oliver Flügel-Martinsen, Befragungen des Politischen, Wiesbaden 2017, 67 ff., der seit Hegel die Aufgabe der praktischen Philosophie hin zur Analyse und Kritik sozialer und normativer Ordnungen verschoben sieht. 32 Zur Idee als «Subjekt-Objekt» und als Prozess vgl. Jean-François Kervégan, Hegel, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Handbuch Deutscher Idealismus, Stuttgart 2005, 200.

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der durch die Fassung als Idee vorgenommenen Beziehung des Rechts auf das Absolute folgt, dass die Rechtsphilosophie die durch den Begriff selbst gesetzte Wirklichkeit nur zu rekonstruieren hat, sie braucht nur „der eigenen immanenten Entwicklung der Sache selbst zuzusehen“ (§ 2 GPR). In doppelter Frontstellung sowohl gegen die Begründungsfixierung des Naturrechts wie gegen den Positivismus der Historischen Rechtsschule wird damit die Tür aufgeschlagen zu einer rational rekonstruierenden Beobachtung des Rechts33, an deren Schwelle Geistphilosophie in Gesellschaftswissenschaft übergeht. Im gleichen Atemzug wird das Recht mit der Freiheit verknüpft. Denn das Recht ist die Selbstverwirklichung des Geistes. Es ist keine natürliche, sondern eine durch den freien Willen gesetzte Tatsache. Recht ist „Dasein des freien Willens“ (§ 29  GPR). Nicht Natur gibt Recht, sondern umgekehrt: im Recht wird Freiheit, die sich im subjektiven Geist als solche bewusst geworden ist, zur (zweiten) Natur.34 Entscheidend ist das Verständnis des freien Willens, den Hegel ebenfalls prozedural denkt. Freiheit darf nicht mit Willkürfreiheit verwechselt werden. Das hieße, sie auf ein Vermögen der Wahl zwischen Handlungsalternativen zu reduzieren, das auf die vorgegebenen Handlungsmöglichkeiten und Zwecke bezogen und von ihnen abhängig bliebe (§ 15 GPR). Auf diese Weise kann das Allgemeine nur als Beschränkung des Besonderen konzipiert werden (§ 29  GPR) – so wie von Hobbes bis Kant Freiheit als ursprünglich vorhandene und schrankenlose Qualität des Willens gilt, die erst nachträglich, bei Eintritt in einen gesellschaftlichen Zustand eingeschränkt würde. Allgemeinheit und Besonderheit bleiben dann nebeneinander stehen. Das Einssein der allgemeinen und individuellen Freiheit („Sittlichkeit“) wäre unmöglich. Das zum Subjekt der Wahl depotenzierte Subjekt wäre nicht fähig, sich selbst als rechtserzeugende Instanz aufzufassen.35 Auch beim Willensbegriff liegt das Problem der Tradition darin, dass Intellekt und Sinnlichkeit, Abstraktion und Bestimmung, getrennt werden. Hegel fasst den Willen hingegen als selbstbezüglich und zur Selbsttransformation fähig auf. Denken und Willen sind nicht etwa zwei verschiedene Vermögen, „sondern der Wille ist eine besondere Weise des Denkens: das Denken als sich übersetzend ins Dasein, als Trieb, sich Dasein zu geben“ (§ 4 Z GPR). Die „Idee des Willens überhaupt“ ist es, dass sich die freie Intelligenz selbst fortbestimmt, indem sie sich selbst als ein Bestimmtes setzt und so „in das Dasein überhaupt“ 33 Zu dieser Charakterisierung von Hegels Ansatz im Unterschied zu Kants vgl. Jürgen Habermas, Noch einmal: Zum Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit, DZPhil 67 (2019), 729 (733). 34 Hegel, § 4 GPR: „das Rechtssystem [ist] das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur“. 35 Tatjana Sheplyakova, Öffentliche Freiheit und Individualität, Berlin 2017, 284.

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tritt: es ist „der freie Wille, der den freien Willen will“ (§ 27 GPR). Das Subjekt ist erst dann wirklich frei, wenn es in dem, worauf es sich in der Welt bezieht, bei sich selbst bleibt, wenn es sich in einer Welt vorfindet, deren Beschaffenheit ihrerseits ein Ausdruck seines eigenen Willens ist.36 Damit das eintritt, muss sich der Wille als die Einheit der beiden Momente der Allgemeinheit und der Besonderheit verstehen, als „die in sich reflektierte und dadurch zur Allgemeinheit zurückgeführte Besonderheit – Einzelnheit“ (§ 7 GPR).37 Konkrete Freiheit denkt also die Bedingungen ihrer Realisierung mit. Sie vollzieht eine Reflexion, die immer dort notwendig wird, wo es um die Bestimmung des unmittelbaren Seins geht.38 Der freie Wille wird an die Bedingungen gekoppelt, unter denen tatsächlich von ihm Gebrauch gemacht werden kann. Damit wird der liberalen Konzeption eines „natürlichen“, dem Recht vorgegebenen Willens eine Absage erteilt. Denn „wenn man so spricht: der Wille ist allgemein, der Wille bestimmt sich, man den Willen schon als vorausgesetztes Subjekt oder Substrat ausdrückt, aber er ist nicht ein Fertiges und Allgemeines vor seinem Bestimmen und vor dem Aufheben und der Idealität dieses Bestimmens, sondern er ist erst Wille als diese sich in sich vermittelnde Tätigkeit und Rückkehr in sich“ (§ 7 Z GPR). In der Handlung realisiert sich nicht ein an sich „fertiges“ Subjekt, vielmehr ist gerade umgekehrt ein Subjekt losgelöst von reflexiven Handlungsvollzügen gar nicht ausweisbar und lässt sich nur von dort her rekonstruieren:39 „Was das Subjekt ist, ist die Reihe seiner Handlungen.“ (§ 124  GPR) Das Subjekt bliebe leer und unbestimmt ohne Auseinandersetzung mit widerständigen, objektiven Handlungstypen, wie sie Institutionen verlangen. Um in die Wirklichkeit handelnd eintreten zu können – um sich im Anderssein selbst zu konstituieren –, bedarf das Subjekt der Formen des abstrakten Rechts: der „Person“, die einen „rechtlichen“, objektiven Willen in der Welt der Dinge konstruktiv erschafft, des „Eigentums“, das 36

Axel Honneth, Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), in: Manfred Brocker (Hrsg.), Geschichte des politischen Denkens, Frankfurt a. M. 2007, 407 f. 37 Aus dieser Bewegung der Freiheit, die sowohl „schrankenlose Unendlichkeit der absoluten Abstraktion oder Allgemeinheit, das reine Denken seiner selbst“ ist als auch „Unterscheidung, Bestimmen und Setzen einer Bestimmtheit als eines Inhalts und Gegenstands“ ist (§ 5 f. GPR), entsteht das Ganze der geistigen Welt. Vgl. Jaeschke, Fn. 16, 339. 38 Hegel, § 7 Z GPR: „Diese beiden Momente sind jedoch nur Abstraktionen; das Konkrete und Wahre (und alles Wahre ist konkret) ist die Allgemeinheit, welche zum Gegensatze das Besondere hat, das aber durch seine Reflexion in sich mit dem Allgemeinen ausgeglichen ist.“ 39 Vgl. Elisabeth Weisser-Lohmann, Rechtsphilosophie als praktische Philosophie, München 2011, 107.

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dieser Rechtsperson eine „äußere Sphäre ihrer Freiheit“ verleiht, und anderer. Damit aber gewinnt das Recht entscheidende Funktion für die Konstituierung des Subjekts, wie auch umgekehrt die Fortentwicklung des Rechts „jene ‚handelnde‘ – und daher: subjektive – Freiheit“40 voraussetzt. Dieser Zusammenhang bietet nicht nur äußerlich die Möglichkeit, die Entfaltung der verschiedenen Weisen des Daseins des freien Willens zugleich als einen Erkenntnisprozess für das Bewusstsein der Freiheit zu deuten, insofern Freiheit als ein Fall von Selbstbeziehung gedacht und auf diese Weise dem Erkenntnisbegriff angenähert wird.41 Liest man die „Grundlinien“ gemäß ihrem Programm als eine Grundlegung der praktischen Philosophie mit der Aufgabe, den Weg aufzuzeigen, wie der Begriff des an und für sich freien Willens sich gegenständliches Dasein gibt und zur Idee sich entwickelt, so wäre sie allein eine Art „Metaethik“, die vom Beobachterstandpunkt aus geschrieben ist. Tatsächlich wird im Text aber immer wieder von der Perspektive des freien Willens in seinem unmittelbaren Selbstverständnis ausgegangen und so Rechtsphilosophie als Phänomenologie des Bewusstseins der Freiheit vorgetragen. Diese Verdoppelung der Perspektive mag vom jeweiligen isolierten Standpunkt aus zu beklagenswerten Inkonsistenzen führen.42 Nur so kann aber den Handelnden die Normativität jener konkreten Ordnungen einsichtig gemacht werden, die den zunächst nur möglichen Rechtsbegriffen des „abstrakten Rechts“ und der „Moralität“ und den mit ihnen erhobenen Ansprüchen auch reale Geltung verleihen. Soll das Defizit eines rein präskriptiv bleibenden Vernunftrechts vermieden werden, das dem subjektiven Wollen gegenüber als ein bloßes Sollen aufzutreten vermag, muss eine Philosophie des Rechts die Bedingungen der Wirklichkeit dieser Rechte ausweisen. Sie tut dies, indem sie Gestalten der Sittlichkeit rekonstruiert.43 Erst die Sphäre der Sittlichkeit ist es, „welche dem Rechte das Dasein gibt, als allgemein Anerkanntes, Gewußtes und Gewolltes zu sein und, vermittelt durch dies Gewußt- und Gewolltsein, Gelten und objektive 40 Sheplyakova, Fn. 35, 285. 41 Dina Emundts/Rolf-Peter Horstmann, G.  W. F.  Hegel, Stuttgart 2002, 99. – Vgl. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, TW  10,  § 488, 306: „Der Geist in der Unmittelbarkeit seiner für sich selbst seienden Freiheit ist einzelner, aber der seine Einzelheit als absolut freien Willen weiß; er ist Person, das Sichwissen dieser Freiheit, welches als in sich abstrakt und leer seine Besonderheit und Erfüllung noch nicht an ihm selbst, sondern an einer äußerlichen Sache hat.“ 42 So Karl Heinz Ilting, Rechtsphilosophie als Phänomenologie des Bewusstseins der Freiheit, in: D. Henrich/R.-P. Horstmann (Hrsg.), Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik, Stuttgart 1982, 225 (228 ff.). 43 Hegel, System der Sittlichkeit, Hamburg 2002, 5: „das Sittliche ist an und für sich seinem Wesen nach, ein Zurücknehmen der Differenz in sich, die Rekonstruktion; die Identität geht von Differenz aus, ist ihrem Wesen nach negativ“.

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Wirklichkeit zu haben“ (§ 209 GPR). Die Geltung des Rechts wird nach Hegels Konzeption erst durch die Institutionen vermittelt. Als Institution verbindet eine Handlungspraxis die subjektiven Zwecksetzungen mit der Realisierung der Zwecke des Allgemeinen. Dadurch, dass die Ansprüche, als „Person“ und „Subjekt“ anerkannt zu sein, in diesen Handlungsformen gewährleistet (und auch rechtlich durchsetzbar) sind, werden die normativen Anforderungen der Institutionen für den Einzelnen zur Pflicht. Daraus aber ergibt sich gleichzeitig der Maßstab für die normative Beurteilung dieser Institutionen. Denn sie müssen sich gerade als Gestalten selbstbestimmten Handelns ausweisen lassen, sie müssen als positive Gestalten mit den freiheitlichen Rechtsprinzipien vereinbar sein. Sie müssen sich als Rechtsgestalt rekonstruieren lassen.44 Und es ist das Selbstverständnis der Subjekte, das die Forderung nach ihrer Rechtsförmigkeit stellt.45 Um die wechselseitige Bestimmung von Subjektivität, Recht und sozialer Praxis bei Hegel zum Ausdruck zu bringen, könnte man von einem „relationalen Rechtsmodell“ sprechen. Entscheidende Bedeutung für die Entwicklung dieses relationalen Rechtsdenkens kommt der „Sittlichkeit“ zu, die schon in Jena zum Zentralbegriff von Hegels praktischer Philosophie geworden war,46 in den „Grundlinien“ aber ihrer antiken Konnotationen entkleidet und zu einem Analyseinstrument moderner Gesellschaft ausgebaut wird. Bereits die Einführung der „Sittlichkeit“ als eines dritten Begriffs neben dem Recht und der Moral ist eine Innovation der philosophischen Darstellung des Rechts.47 Er wird gezielt gegen die Trennung von Recht und Moral bei Kant in Stellung gebracht.48 Sittlichkeit – anfangs von Hegel schlicht „Leben“ genannt49 – beschreibt eine (vernünftige) soziale Praxis, die ihre eigene „innere“ Normativität freisetzt.50 In dieser Normativität sind abstraktes Recht und Moral gleichermaßen „aufgehoben“, weil sie zwar aus der Inanspruchnahme von individuellen Rechten resultiert, welche nach den eigenen Vorstellungen von Richtigkeit in Bewegung gesetzt werden, die emergierende 44 Weisser-Lohmann, Fn. 39, 271. 45 Weisser-Lohmann, Fn. 39, 229. 46 Jaeschke, Fn. 16, 353 zum Wandel des Sittlichkeitsbegriffs hin zu einem formell geschichtsindifferenten Begriff. 47 Weitere Differenzierung durch die „Medien“ Sprache, Arbeit und Interaktion, vgl. Klaus Lichtblau, Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, Gießen 1978, 103. 48 Dabei brandmarkt Hegel gerade die „Moralität“ als ein von der formalen Vernunftethik „gemachtes“ Wort, vgl. Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, TW 2, 504. 49 Karl Rosenkranz, Hegels Leben, Berlin 1844, 87. 50 Sheplyakova, Fn. 35, 60.

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„allgemeine“ Normativität dann aber die individuellen Positionen ihrerseits zu binden vermag. Entscheidend ist vor allem, dass Rechtsphilosophie damit einen zusätzlichen, neuartigen Gegenstand bekommt: die Sphären der Sittlichkeit, die sich als Praxisformen der Freiheit darstellen. Neben traditionellen (freilich „modern“ rekonstruierten) Institutionen wie Familie und Staat, macht Hegel so auch eine neuartige Praxisform überhaupt erst sichtbar: die bürgerliche Gesellschaft. Durch die Wechselwirkung von Rechtsform und Sozialpraxis in den Gestalten der Sittlichkeit muss die Naturrechtsidee in die Geschichte eintreten, sie wird verzeitlicht. Das wird besonders deutlich, wenn man noch andere Handlungssphären als das „System der Bedürfnisse“ – und damit das wettbewerblich organisierte Wirtschaftssystem – in den Blick nimmt und die Perspektive der bürgerlichen Gesellschaft auf die Eigennormativität anderer emergenter Sozialsysteme erweitert. Denn die gesellschaftlichen Grenzen dieser Systeme und ihrer sittlichen Prinzipien verschieben sich laufend im Zuge der Ko-evolution mit den jeweils anderen Systemen. Freiheit wird in Hegels „Grundlinien“ nicht mehr in einer apriorischen, jedenfalls aber ungeschichtlichen Vernunft begründet, sondern an die geschichtlich vermittelte Rechtsform gekoppelt. In der Konsequenz hängt nicht nur das Selbstbewusstsein der Freiheit am Entwicklungszustand des Rechts, so dass sich fundamentale Züge der Bewusstseinsgeschichte nicht ohne Heranziehung der Rechtsgeschichte begreifen lassen.51 Über eine solche Historisierung des Verhältnisses von Recht und Subjekt hinaus wird zugleich die Frage nach der Möglichkeit einer Änderung und Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Praxis aufgeworfen. Welche Funktion hat die Darstellung des Rechts für die Politisierung des Sittlichen? Vollzieht sich diese über eine Kritik des Rechts? 3.

Politisierung des Sittlichen

Indem Hegel den abstrakt-freien Willen des formellen Rechts geltungslogisch hinter den an und für sich freien Willen der Sittlichkeit setzt, schneidet er der Konstruktion der Wirklichkeit aus dem Willen den Weg ab. Der in der Rechtsphilosophie zuvor so wichtige Vertragsgedanke wird als Legitimationsverfahren für Institutionen verabschiedet. Stattdessen entsteht ein reicherer 51

So die These von Walter Jaeschke, Genealogie des Rechts, in: B.  Sandkaulen/V.  Gerhardt/W. Jaeschke (Hrsg.), Gestalten des Bewusstseins, Hamburg 2009, 284 (300).

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Blick auf die Bedingungen wirklicher Freiheit, wie sie sich in der Objektivität der Sittlichkeit „zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet“. Durch die Institutionen erhält Freiheit „die Form von Notwendigkeit“ und gewinnt Geltung in der Wirklichkeit.52 Freilich scheint die Eigennormativität dieser Institutionen für Freiheit selbst zur Notwendigkeit zu werden. Hegel konstatiert offen, was Max Weber später als die „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“ bezeichnet: „Für das Subjekt haben die sittliche Substanz, ihre Gesetze und Gewalten einerseits als Gegenstand das Verhältnis, daß sie sind, im höchsten Sinne der Selbständigkeit, – eine absolute, unendlich festere Autorität und Macht als das Sein der Natur.“ (§ 146 GPR) Autonomie scheint sich auf diejenige Form zu verkürzen, deren Verwirklichung von der institutionellen und sozialen Praxis zugelassen wird53, mithin „auf ein Leben, das [den Menschen] angeboten und erlaubt wird“54. Indessen ist Hegels praktische Philosophie auf einen solchen „starken Institutionalismus“, wonach die institutionelle Normativität den einzelnen Willen ganz unter ihre eigenen Bedingungen subsumiert, keineswegs festgelegt.55 Diskutiert wird, ob ihr auch ein abgeschwächter, „moderater Institutionalismus“ zu entnehmen sei, dem zufolge sich ein individueller Wille so in institutionellen Ordnungen mit ihren eigentümlichen Existenzbedingungen verwirklichen können soll, dass diese Einrichtungen ihrerseits an den in sie inkorporierten Willen und an dessen eigenes Recht durchgängig zurückgebunden bleiben.56 52 Hegel, Fn. 41, § 484, 303. 53 Vgl. Sheplyakova, Fn. 35, 319 im Anschluss an Michael Theunissen, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, Berlin 1982, 28 f. 54 Hegel, Fragmente einer Kritik der Verfassung Deutschlands [1799–1803], in: ders., Gesammelte Werke, in Verb. mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, Band  5, Hamburg 1998, 16. 55 Bereits gegen die Vertretbarkeit eines starken Institutionalismus bei Hegel vgl. Karl Heinz Ilting, Zur Genese der Hegelschen „Rechtsphilosophie“, Philosophische Rundschau  30 (1983), 161 (202): „Der freie Wille tritt im Abstrakten Recht als »Person« auf, geht dann in der Moralität als »Subjekt« in sich und wird schließlich in der Sittlichkeit »Glied« einer Institution; dies bedeutet aber nicht, daß »Person« und »Subjektivität« durch den Eintritt in eine Institution »preisgegeben« seien. Das »Glied« einer Institution bleibt nach dem Aufbau der »Rechtsphilosophie« nicht nur »Persönlichkeit« und moralisches »Subjekt«, sondern verwirklicht das eine wie das andere überhaupt erst in der Sittlichkeit, insbesondere in der Bürgerlichen Gesellschaft (vgl. Rph  §§ 207 f.).“ – Ungeklärt bleibt hier freilich, wie Individuen als Glieder von Institutionen durch ihre Rechte eine Transformation der Institution herbeiführen können, also die Frage nach der Politisierung der Sittlichkeit. 56 Dieter Henrich, Vernunft in Verwirklichung, in: Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1818/20 in einer Nachschrift, hrsg. v. D. Henrich, Frankfurt a. M. 1983, 9 (32).

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Sein Kennzeichen wäre es, dass „Rechte der Individuen gegenüber den Institutionen ihrer eigenen Verwirklichung ohne Widerspruch“ definiert werden könnten. Ob diese Kennzeichnung – insbesondere das Postulat von „Rechten gegen Institutionen“ – angemessen ist, mag dahinstehen. Jedenfalls liefert bereits die Darstellung des relationalen Rechtsbegriffs Ansatzpunkte für eine Politisierung des Sittlichen. Hegel öffnet nämlich die Tür in eine Rechtskritik als Gesellschaftskritik. Die Grundlagen hierfür schafft er bereits im Naturrechtsaufsatz, wo er Kants Moralkonzept gleichsam vom Kopf auf die Füße stellt. Hegel kritisiert Kants Moralitätsbegriff dafür, insgeheim an der römisch-bürgerlichen Rechtsform orientiert zu sein: In den moralischen Urteilen der Subjekte spiegelten sich privatrechtliche Kategorien57. Der moralische Standpunkt, das „Moment des negativ Absoluten oder der Unendlichkeit“ des individuellen Willens, entspricht dem formalen Rechtsverhältnis des bürgerlichen Privatrechts, „welches das Einzelnsein fixiert und absolut setzt“.58 Bereits hier deutet sich die Macht der „Abstraktion der Form“59 an, die eine einseitige Positivierung des Absoluten hervorbringt, deren Opfer in diesem Fall eine in absoluten Entgegensetzungen denkende Moralauffassung ist. Der Standpunkt der Reflexionsphilosophie Kants ist dazu verurteilt, ein bestimmtes, partikulares Rechtsverständnis auf dem Felde der Innerlichkeit zu reproduzieren. Um diesen Standpunkt der „relativen Identität der sittlichen Natur“ von der absoluten Sittlichkeit abzusetzen, führt Hegel die Unterscheidung zwischen „Moralität“ und „Sittlichkeit“ ein.60 Durch das ganze Manöver dreht sich im Vergleich zu Kant das Verhältnis von Recht und Moral um61 – mit der Folge, dass Moralität zu einem defizienten Modus der Legalität wird. Diese defiziente Form der Sittlichkeit ist nicht die der Allgemeinheit, sondern genau derjenigen Klasse, die sich gesellschaftlich in den Formen des Formalrechts organisiert: des „bourgeois oder Privatmenschen“, „für welche die Differenz des Verhältnisses fest ist und welche von ihnen abhängt und in ihnen ist“.62

57 58 59 60 61 62

Sheplyakova, Fn. 36, 46 und 69 (als „verkehrte Vernunft“ vermöge die Moralität, die im Prinzip der individuellen Autonomie gründet, nicht zu erkennen, dass sie nur den Rechtszustand reproduziere). Hegel, Fn. 48, 492. Hegel, Fn. 48, 454. Hegel, Fn. 48, 504. Hegel, Fn. 48, 505. Hegel, Fn. 48, 506.

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So wie die philosophische Kritik des „Atomismus“ zugleich dessen politische Kritik war,63 so mündet Hegels am Konzept der absoluten Sittlichkeit (und später der absoluten Idee) aufgehängte Entzifferung einer universalistischen Moral als Ausdruck einer partikularen Rechtsformation in den Nachweis einer umfassenden Entpolitisierung der Gesellschaft und des Verlustes eines politischen Freiheitsverständnisses. Dieser Nachweis ist freilich erst dann vollständig, wenn das bürgerliche Formalrecht selbst als insuffizienter Vergesellschaftungsmodus aufgewiesen wird. Das geschieht in der Darstellung der „Grundlinien“, die fortschreitet von der Form des Rechts (Person, subjektives Recht) zu den sozialen Institutionen, in denen die materiellen gesellschaftlichen Voraussetzungen für freies Handeln erzeugt werden: ohne Moralität als Instanz der inneren Überzeugungsbildung kein Motor für die Ausübung von Rechten, ohne Familie keine Träger von Rechten, ohne bürgerliche Gesellschaft keine Austauschverhältnisse zur Befriedigung der sich durch die Rechte artikulierenden Interessen64, ohne Staat keine Gewährleistung für die Gesamtheit der übrigen sozialen Institutionen als Praxisformen der Freiheit65. Indem Hegel das abstrakte Recht mit den Gestalten der Sittlichkeit konfrontiert, macht er die Defizite der Selbst-Artikulation der bürgerlichen Gesellschaft in naturrechtlichen Begriffen sichtbar. Diese setzt zu ihrem Funktionieren immer schon mehr voraus, als sie selbst darzustellen vermag. Sie operiert eben nicht allein auf Grundlage der durch die Rechtsperson vermittelten Anerkennung von Freien und Gleichen und der ihnen durch Eigentum und Vertrag eröffneten Handlungsmöglichkeiten, sondern „sie setzt vielmehr auch politische und juridische Institutionen voraus, deren Funktionieren nicht in Begriffen einer strategischen Handlungsrationalität erklärt werden kann“.66 Das darf freilich nicht das Missverständnis aufkommen lassen, die Gestalten 63

Albrecht Wellmer, Freiheitsmodelle in der modernen Welt, in: ders., Endspiele: Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt a. M. 1993, 19. 64 Hegel, GPR § 207 („in dieser Sphäre, wo die Reflexion [des Individuums] auf sein Tun, der Zweck der besonderen Bedürfnisse und des Wohls herrschend ist“). 65 Hegel, Fn. 41, § 537, 330 f. („Sein Werk überhaupt besteht in Beziehung auf das Extrem der Einzelheit als der Menge der Individuen in dem Gedoppelten, einmal sie als Personen zu erhalten, somit das Recht zur notwendigen Wirklichkeit zu machen, und dann ihr Wohl, das zunächst jeder für sich besorgt, das aber schlechthin eine allgemeine Seite hat, zu befördern, die Familie zu schützen und die bürgerliche Gesellschaft zu leiten, – das andere Mal aber beides und die ganze Gesinnung und Tätigkeit des Einzelnen, als der für sich ein Zentrum zu sein strebt, in das Leben der allgemeinen Substanz zurückzuführen und in diesem Sinne als freie Macht jenen ihr untergeordneten Sphären Abbruch zu tun und sie in substantieller Immanenz zu erhalten.“) 66 Wellmer, Fn. 63, 22.

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der Sittlichkeit ließen sich mit Hilfe einer Theorie der Intersubjektivität rekonstruieren und seien letztlich von einer kommunikativen Rationalität einzuholen. Denn obgleich die Institutionen aus Akten subjektiver Freiheit entspringen (und nicht etwa von der ersten Natur vorgegeben sind), folgen sie einer eigenen, emergenten Entwicklungslogik. Es wäre ein Selbstmissverständnis der Freiheit, nähme sie an, es sei nur das ihr Produkt, was aus bewussten Akten entspringe.67 Das Wort von einer „Implementationsdialektik“ ist hierfür noch zu kurz gegriffen.68 Mit seiner Philosophie des objektiven Geistes verlässt Hegel den Boden der Handlungstheorie und wechselt auf eine andere Ebene. Mit Luhmann kann man sie als soziale Kommunikationssysteme beschreiben. Jedenfalls ist Hegel, gerade weil Institutionen nicht aus dem seiner selbst bewussten Willen konstruiert werden können, auf das Verfahren der Rekonstruktion der Wirklichkeit der Sittlichkeit angewiesen.69 In einer materialistischen Interpretation ließe sich sogar in umgekehrter Richtung argumentieren, dass die abstrakten Begriffe des Vernunftrechts bloße Produkte der sittlichen Gestalten selbst seien, diese also nicht einfach die Wirklichkeit jener sind. Weil die Vermittlung aller mit allen sich in der Arbeit vollzieht (§ 192 GPR), diese in ihrer modernen Form aber abstrahiert ist in der Produktion und Zirkulation äquivalenter Güter, d.h. in ihrem Wert, würde die Abstraktion der gegenseitigen Anerkennungsverhältnisse in der Warenform der bürgerlichen Gesellschaft erst den Gedanken der Gleichheit der Person hervortreiben.70 Das tendiert aber womöglich zu einer einseitigen Determination in der umgekehrten Richtung. Vielmehr gilt es, die strenge Relationalität von Hegels Rechtsbegriff und die Annahme ernst zu nehmen, dass sich individuelle Rechte und soziale Institutionen gegenseitig konstituieren. Die Probleme der bürgerlichen Gesellschaft sind zugleich die Probleme der sie tragenden Rechtsbegriffe – eine Erkenntnis, die Rudolf Wiethölter später auch unter demokratischen Bedingungen auf die Kurzformel bringen wird: „Markt- und Politik- als Rechtsversagen.“71 Der Satz Hegels „Jede Stufe der Entwicklung der Idee der Freiheit hat ihr eigenes Recht“ (§ 30 Z GPR) bekräftigt zunächst die Objektivierung der Freiheit in 67 68

Jaeschke, Fn. 16, 341. Begriff bei Rudolf Wiethölter, Politik und Aufklärung. Bemerkungen aus der Rechts- und Juristenwelt, in: J. Rüsen (Hrsg.), Die Zukunft der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1988, 33 (39). 69 Jaeschke, Fn. 16, 341. 70 Jochen Bung, Hegels bürgerliche Gesellschaft zwischen subjektivem und objektivem Recht, in: E. Hilgendorf/B. Zabel (Hrsg.), Die Idee subjektiver Rechte, Berlin 2021, 89 (91). 71 Rudolf Wiethölter, Ist unserem Recht der Prozeß zu machen?, in: A. Honneth et al. (Hrsg.), Zwischenbetrachtungen – Im Prozeß der Aufklärung (Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag), Frankfurt a. M. 1989, 794 (803).

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jeweils eigenständigen Institutionen der gesellschaftlichen Allgemeinheit, die weder auf den Einzelwillen noch auf intersubjektive Relationen reduzierbar sind. Soziale Systeme wie Familie, Wirtschaft und im Staat organisierte Politik verfügen über eine autonome Funktionslogik mit einem eigenen normativen Geltungsanspruch, weil in ihnen Freiheit konkrete Wirklichkeit gewinnt: Sie sind „das Dasein der Freiheit in einer ihrer eigenen Bestimmungen“ (§ 30 Z GPR, Hervorhebung hinzugefügt). Hegel lenkt aber nicht nur den Blick auf die institutionelle Normativität gesellschaftlicher Teilbereiche als solche, sondern auch auf den Umstand, dass sie alle gleichzeitig in der Gesellschaft existieren. Die interne Differenzierung der modernen Gesellschaft führt in distinkte normative Ordnungen, die untereinander in Kollision geraten – eine Kollisionslage, der Hegel nur durch die Hierarchisierung der Geltungssphären („eins dem anderen untergeordnet“) zu entkommen meint. Gleichzeitig befestigt das abstrakt-formale Recht diese institutionellen Normativitäten. Ein nicht-reflexives Recht muss zwangsläufig sprachlos vor den beiden Bewegungen der fortschreitenden Separation einerseits und totalen Entgrenzung der Bereichslogiken sozialer Systeme andererseits stehen, die infolge der Entzweiung der absoluten Sittlichkeit in einzelne Potenzen freigesetzt werden. Jeder gesellschaftliche Teilbereich fertigt auf seine eigenen Erfordernisse zugeschnittene Selbstbeschreibungen, während andere Teilbereiche gleichgültig werden.72 Das „System der Bedürfnisse“ etwa erfasst keine Bestimmungen des Menschen jenseits seiner Bedürfnisnatur. Andererseits wird als Kehrseite dieser Gleichgültigkeit die Bereichssemantik entgrenzt und die Handlungsprinzipien der eigenen Sphäre den der anderen Bereiche übergeordnet. Die Teilsphären nehmen sich jeweils für das Ganze: „Die bürgerliche Gesellschaft ist vielmehr die ungeheure Macht, die den Menschen an sich reißt, von ihm fordert, daß er für sie arbeite und daß er alles durch sie sei und vermittels ihrer tue.“ (§ 238 Z GPR) In diesen divergenten Richtungen der Selbstbeschreibung artikulieren sich die Eigennormativitäten der Freiheitssphären, in denen die Rechte von Person, Eigentum und Vertrag Geltung erlangen. Das abstrakte Recht kann kein Verhältnis zu den institutionellen Eigennormativitäten und ihren Kollisionen gewinnen. Das hängt mit der Herrschaft der Rechtsform selbst zusammen. Die Abstraktion der Rechtsform isoliert und setzt für sich seiend, „was ideell, ein Entgegengesetztes, Einseitiges ist und allein in der absoluten Identität mit dem Entgegengesetzten Realität hat“.73 Dadurch 72 73

Lutz Ellrich, Entgeistertes Beobachten, in: P.-U. Merz-Benz/G. Wagner (Hrsg.), Die Logik der Systeme, Konstanz 2000, 73 (108). Hegel, Fn. 48, 516.

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wird der Zusammenhang der absoluten Totalität des Sittlichen zerstört. Ein für diese Zusammenhänge blindes Recht führt zu einer doppelten Gefahr: „Es ist durch diese Form möglich, daß nicht nur […] eine rein formelle Abstraktion fixiert und als eine Wahrheit und Realität fälschlicherweise behauptet, sondern auch daß eine wahrhafte Idee und echtes Prinzip von seiten seiner Grenze verkannt und außer der Potenz, in welcher es seine Wahrheit hat, gesetzt wird und dadurch völlig seine Wahrheit verliert.“74 Auf der einen Seite kann also die rechtliche Form bereits mit der sittlichen Erscheinung identifiziert und für ihre Realität gehalten werden. Die innere Dynamik und eigene Normativität der konkreten sittlichen Institution werden übergangen. Umgekehrt besteht die Gefahr, dass der Geltungsanspruch einer einzelnen Freiheitssphäre auf das Ganze ausgedehnt wird, indem rechtliche Prinzipien, die für bestimmte sittliche Bereiche ihre Berechtigung haben, verabsolutiert werden, wie Hegel selbst an der Übertragung der Form des Vertrages aus dem bürgerlichen Recht auf das Feld des Staats- und Völkerrechts kritisiert. Erst im „Staat“ findet sich nach Hegel das Prinzip institutionalisiert, „daß alle wesentlichen Seiten, die in der geistigen Totalität vorhanden sind, zu ihrem Rechte kommend sich entwickeln“ (§ 273 Z GPR), und zwar insofern hier der sittliche Geist seiner selbst bewusst ist „als der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Wille, der sich denkt und weiß und das, was er weiß und insofern er es weiß vollführt“ (§ 257 GPR). Die Verantwortung für „das Ganze“ (von Staat und Gesellschaft) wird in die eigenständige sittliche Gestalt des Staates gelegt, mit dem das Politische identifiziert wird. Ihr allein obliegt die Funktion, das die bürgerliche Gesellschaft kennzeichnende Prinzip der Besonderheit, dem destruktive Eruptionen der durch Partikularinteressen bestimmten freien Konkurrenz inhärent sind und das zur sozialen Explosion tendiert, „in die substantielle Einheit zurückzuführen“ und dadurch die bürgerliche Gesellschaft vor der Selbstaufhebung zu bewahren. Indem Hegel von vornherein dem Recht nur eine äußerliche „abstrakte“ Allgemeinheit zugesteht, schließt er die Sphäre des Rechts mit der bürgerlichen Gesellschaft kurz. Die Einheit der Individualität und des Allgemeinen, „der Wille, der sich in der Form der Allgemeinheit befindet“, diese für eine jede gesellschaftliche Formation (über-)lebenswichtige Einheit von ratio und voluntas, existiert dagegen nur im Staat. Das Recht ist nur das Medium für die Organisation der Zirkulationssphäre. Es leistet die Vergegenständlichung der Freiheit im Eigentum und ihre In-bewegungsetzung durch den Vertrag. Das Recht bleibt bei Hegel auf „Zirkulationssphärenrecht“ reduziert. Die Bedingungen der Möglichkeit der bürgerlichen Gesellschaft selbst sind in den Staat ausgelagert. 74

Hegel, Fn. 48, 516 f.

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Der Gedanke eines sozialreflexiven Rechts, d.h. einer Reflexion auf die institutionelle Normativität im Recht selbst, wird nicht in Erwägung gezogen. Hier zeigt sich, dass die Stärke von Hegels Methode der Darstellung zugleich ihre Schwäche ist. Die Umbestimmung des sittlichen Ganzen auf der Grundlage der Struktur des Selbstbewusstseins (auf dem Weg vom Naturrechtsaufsatz zu den „Grundlinien“) als „Einheit der Individualität und des Allgemeinen“ eröffnet die Möglichkeit einer Integration des Prinzips der Individualität, in der Weise, dass es als eigenständiges Extrem auch innerhalb der als lebendig angesehenen Totalität der Sittlichkeit Geltung erlangt. Auf diese Weise kann Hegel die Ausdifferenzierung einer Sphäre des „Systems der Bedürfnisse“ beschreiben und ihr Bewegungsgesetz75 ernst nehmen, ohne dabei aber die Möglichkeit einer Kritik dieses Vorgangs zu verlieren. Kritisiert werden kann jene Besonderheit, die sich in sich selbst vertieft und „sich für eine Totalität nimmt, die an sich, unbedingt und absolut sei“. Hegel ist dann aber gezwungen, eine eigentliche Sphäre der Allgemeinheit positiv zu bestimmen, die sich zu Recht als Totalität beschreiben darf. Er findet sie im Staat: „Der Staat an und für sich ist das sittliche Ganze.“ (§ 258 Z GPR) Durch diesen Schritt wird die Differenz von Staat und Gesellschaft – die Hegel erst die Herausarbeitung der Eigengesetzlichkeiten sozialer Institutionen ermöglicht – zugleich unterminiert, indem die eine Seite dieser Unterscheidung gleichzeitig sich selbst in Differenz zur anderen wie auch die Einheit dieser Differenz bezeichnet: „Der Staat konstituiert sich als Staat in Differenz zur (als Ensemble ökonomischer Reproduktionsmechanismen konzipierten) Gesellschaft und soll zugleich, als die eine Seite dieser Differenz, die Einheit des Differenten garantieren können“76. Die Stärke: Hegel reflektiert die Relationalität von abstraktem Formalrecht und bürgerlichem Wirtschaftssystem. Und er sieht, dass diese Verbindung nicht selbsttragend ist. Die Schwäche: Auf der Suche nach den Möglichkeitsbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft bleibt er stehen bei einer Hierarchisierung der Sozialsysteme. Das zunächst ganz aus der Konstruktion herausgehaltene politische Moment wird in Gestalt des Staates als die bürgerliche Gesellschaft umgreifend und sie regulierend gedacht. Weil mit 75

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Vgl. neben §§ 241–246 GPR etwa Hegel, Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft, Nachschrift  P.  Wannenmann, Heidelberg 1817/18,  §§ 93 ff. zur Vervielfältigung und Vermittlung der Bedürfnisse sowie zur Vervielfältigung der Tätigkeiten zur Bedürfnisbefriedigung, zu Arbeitsteilung und Industrialisierung, zur Ausdehnung der sozialen Ungleichheit. Andreas Göbel, Paradigmatische Erschöpfung. Wissenssoziologische Bemerkungen zum Fall Carl Schmitts, in: A. Göbel/D. van Laak/I. Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, Berlin 2005, 267 (276 f.).

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dem Begriff des Staates die Einheit der Differenz von Staat und Gesellschaft bezeichnet wird, kommt es bei Hegel zu eigentümlichen Verdoppelungen der Begriffe von Staat (zum Not- und Verstandesstaat einerseits und zum Vernunftstaat als wahrer Allgemeinheit andererseits) wie auch von Verfassung als Verfassung „im Besonderen“ der gesellschaftlichen Institutionen einerseits und als Verfassung des „eigentlich politischen Staates“ andererseits (§ 267 GPR). Das politische Freiheitsverständnis, das in der bürgerlichen Gesellschaft verloren gegangen zu sein schien, wird auf diese Weise wiederbelebt, erhält aber im Staat, der das Ganze im Ganzen repräsentieren soll, eine feste Stelle. Diese Engführung dürfte ihren Grund in der Hegelschen Konzeption von Selbstreferenz haben. Identität wird in Hegels System bei aller Differenzierung in grundlegender Weise vorausgesetzt, benötigt und letztlich (wieder) hergestellt.77 Es scheint die traditionelle Differenz von Ganzem und Teil nachzuwirken.78 Als Alternative dazu bietet sich eine Theorie der Selbstreferenz an, die mit Differenz beginnt und für die ein System nichts anderes ist als das Prozessieren der „Differenz (sic!) zwischen System und Umwelt“.79 Begreift man mit Luhmann die Komplexität von „Welt“ als Bezugsproblem und entsprechend Komplexitätsreduktion als die allgemeinste Funktion, die durch die autonome Bildung systemischer Strukturen erfüllt wird, so ist eine funktionale Betrachtungsweise von Systemstrukturen möglich, ohne dabei deren Erhaltung als Bezugspunkt voraussetzen zu müssen.80 Weil die Systeme wechselseitig füreinander Umwelten darstellen, sind sie Produkte einer Coevolution und immer schon auf ihre Umwelt eingestellt. Jedes Teilsystem rekonstruiert dazu eine eigene, d.h. teilsystemspezifische Differenz von System und Umwelt. Diese systemische Rationalität kann sich nicht mehr nach einem übergreifenden Konzept von Vernunft bemessen, die „Einheit“ der sozialen Systeme bleibt für die Beobachtung unzugänglich.81 Die einzelnen

77 Tatjana Schönwälder-Kuntze, ‚Geist‘-Revitalisierungen in Theorien der Gegenwart?, in: Geist?, Hegel-Jahrbuch 2011, Zweiter Teil, 427 (429) mit Bezug auf Hegels Analyse des Anfangs von Philosophie als Wissenschaft: „Die Analyse des Anfangs gäbe somit den Begriff der Einheit […] des Unterschieden- und des Nichtunterschiedenseins – oder der Identität der Identität und Nichtidentität. Dieser Begriff könnte als die erste, reinste, d. i. abstrakteste Definition des Absoluten angesehen werden.“ Hegel, Wissenschaft der Logik I, TW 6, 74. 78 Als Bindeglied zwischen der Logik und dem Ganzes/Teil-Schema fungiert Hegels Konzept des «Organischen», vgl. § 302 Z GPR. 79 Niklas Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, Heidelberg 1991, 66. 80 Nilas Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: ders., Soziologische Aufklärung 1, Wiesbaden 1970, 113 (114). 81 Ellrich, Fn. 72, 81.

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Systeme konstruieren als Beobachter „die Welt nicht als Universum, sondern als Multiversum“.82 Hegel öffnet also zwar die Tür in eine Rechtskritik als Gesellschaftskritik, kann aber das umgekehrt darin liegende Potenzial einer gesellschaftlichen Kritik des Rechts nicht entwickeln. Obwohl Autonomie von Beginn an konsequent in der Rechtsform gedacht wird und sich das Recht – anders als bei Kant – keine von außen kommende Kritik durch eine auf natürliche, vor-positive „private“ Freiheit gestützte Moral gefallen lassen muss, wird das Subjekt doch wieder in zwei Welten verlagert: Treten bei Kant „Freiheit (als Freiheit autonomer Sittlichkeit des Menschen) und Bürger (als „Mitgesetzgeber“ in der politischen Gesellschaft)“ auseinander, so bei Hegel gesellschaftliche und politische Existenz.83 Diese Welten wieder zusammentreten zu lassen, läge in der Konsequenz eines relationalen Rechtsbegriffs, erfordert jedoch, dass private Rechte als Teilnahmerechte an sozialer Regelbildung verstanden und die mit ihnen verbundene politische Autonomie freigesetzt wird. Was fehlt, ist eine „Sittlichkeit zweiter Stufe“84, die einen Umbau der institutionalisierten Freiheitspraxis durch ihre Teilnehmer selbst ermöglichen würde. Um sie ist es bei Hegel schlecht bestellt. So wie der Einzelne in der bürgerlichen Gesellschaft eingeschränkt ist auf seine unpolitische Privatexistenz, so bleibt das Recht reduziert auf die Form des abstrakten Rechts. Konkrete Freiheit, wie sie eingangs der Grundlinien als „die in sich reflektierte und dadurch zur Allgemeinheit zurückgeführte Besonderheit“ projiziert wurde, kann sich letztlich erst im Staat ergeben. Dort ist für ihre Herstellung der 82

Niklas Luhmann, Die Paradoxie der Form, in: Baecker (Hrsg.), Kalkül der Form, Frankfurt a. M. 1993, 197 (204). Vgl. auch Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, 61 zu den Unterschieden der Entfaltung der Selbstreferenz im Begriff bei Hegel und im eigenen Kalkül der Form: „Anders als die Form im hier gemeinten Sinne übernimmt es der Begriff, das Problem seiner Einheit selber zu lösen. Er beseitigt dabei die Selbständigkeit des Unterschiedenen, und dies mit Hilfe der spezifischen Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem, mit deren Aufhebung sich der Begriff als einzelner konstituiert.  … Form ist gerade die Unterscheidung selbst, indem sie die Bezeichnung (und damit die Beobachtung) der einen oder der anderen Seite erzwingt und die eigene Einheit (ganz anders als der Begriff) gerade deshalb nicht selber realisieren kann.“ 83 Rudolf Wiethölter, Bürgerliches Recht, in: A.  Görlitz (Hrsg.), Handlexikon zur Rechtswissenschaft, München 1972, 50, 53. Dem korrespondiert die historische Entwicklung: „Die Ablösung der absolutistisch-feudalistischen Ständegesellschaft hat nicht zu einer politischen bürgerlichen Gesellschaft geführt mit entsprechendem bürgerlichen Recht, sondern zum formal-liberalen, bürgerlichen Rechtsstaat, also zum Dualismus von »politischem«, konstitutionell später gebundenem Obrigkeitsstaat und »unpolitischer«, von Besitz- und Bildungsbürgertum bestimmter Laissez-faire-Gesellschaft.“ 84 Ausdruck bei Wellmer, Fn. 63, 27 f.

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„allgemeine Stand“ der Berufsbeamten zuständig, der „die allgemeinen Interessen des gesellschaftlichen Zustandes zu seinem Geschäfte“ hat. Hingegen kommt der „Privatstand“ erst in der ständischen Versammlung der gesetzgebenden Gewalt – die zugegebenermaßen originell aus Repräsentanten der funktional gegliederten Korporationen der bürgerlichen Gesellschaft gebildet werden soll – zu einer politischen Bedeutung und Wirksamkeit (§§ 205, 303 GPR); erst in diesem „vermittelnden Organ“ des Ständerats wird der unpolitische Bourgeois ins Politische gehoben. Der einzelne Wille kann sich selbst nur eingeschränkt als Einheit der beiden Momente der Allgemeinheit und Besonderheit verstehen, weil entweder die Institutionen der Gesellschaft gleichsam hinter seinem Rücken für Allgemeinheit sorgen oder er aber als „Mitglied des Staates“ in ein „gedoppeltes Moment“ auseinandertritt: nämlich „Privatperson und als denkendes ebensosehr Bewusstsein und Wollen des Allgemeinen zu sein“ (§ 308 Z GPR).85 Der „konkrete Staat“ ist nichts anderes als „das in seine besonderen Kreise gegliederte Ganze“ (ebd). In den Augen von Marx ist Hegels Staat damit nur der Begriff der Unwahrheit der bürgerlichen Gesellschaft, zugleich genommen als die Sanktion ihrer faktischen Existenz.86 „Sobald die bürgerlichen Stände als solche politische Stände sind, bedarf es jener Vermittlung nicht und sobald es jener Vermittlung bedarf, ist der bürgerliche Stand nicht politisch, also auch nicht jene Vermittelung.“87 Auf der Strecke bleibt damit bei Hegel eine politisch autonome Interpretation naturrechtlicher Begriffe, ihre Übersetzung in einen demokratischen Begriff der Sittlichkeit für moderne Gesellschaften.88 Diese Übersetzung heute mit Hinweis auf den erreichten Entwicklungsstand des demokratischen Parlamentarismus als erledigt anzusehen, greift indessen zu kurz. Denn die reflexive Kapazität des demokratisch-parlamentarischen Prozesses entlastet 85

86 87 88

Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Marx/Engels Gesamtausgabe, Band  2, Berlin 2009, 86: „Bürgerliche Gesellschaft und Staat sind getrennt. Also ist auch der Staatsbürger und der Bürger, das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft getrennt. Er muß also eine wesentliche Diremtion mit sich selbst vornehmen. Als wirklichen Bürger findet er sich in einer doppelten Organisation, der büreaucratischen – die ist eine äussere formelle Bestimmung des jenseitigen Staats, der Regierungsgewalt, die ihn und seine selbstständige Wirklichkeit nicht tangirt – der socialen, der Organisation der bürgerlichen Gesellschaft. Aber in dieser steht er als Privatmann ausser dem Staat; die tangirt den politischen Staat als solchen nicht. Die erste ist eine Staatsorganisation, zu der er immer die Materie abgiebt. Die zweite ist eine bürgerliche Organisation, deren Materie nicht der Staat ist.“ Dieter Henrich, Karl Marx als Schüler Hegels, in: Veröffentlichungen der Freien Universität Berlin, Universitätstage 1961. Marxismus – Leninismus, Berlin 1961, 5 (17). Marx, Fn. 85, 105. Wellmer, Fn. 63, 27.

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nicht das Recht von der Reflexion auf die politische Dimension der Ausübung privater Rechte, die sich aus ihrer Funktion für soziale Institutionen und deren Wirkungen auf eine Vielzahl von (unbeteiligten) Personen ergibt.89 Die Ausblendung dieser Zusammenhänge entsprach freilich dem Selbstverständnis des bürgerlichen Rechts im 19. Jahrhundert, das ganz auf die Abgrenzung individueller Handlungsfreiheiten gerichtet war und damit letztlich auch allein auf die Konstituierung von autonomen Sozialsystemen, nicht aber auf deren Limitierung oder Konstitutionalisierung. Bis heute leidet das Verständnis von politischer Autonomie an einer Zentrierung der Reflexion von institutioneller Normativität im Staat, wie sie vom Monismus des Begriffs in Hegels Logik erzwungen wird.90 Es wird nicht umgedacht auf die Möglichkeiten einer Steigerung der Reflexivität von Systemrationalität in den verschiedenen Funktionssystemen einer polykontexturalen Gesellschaft und einer entsprechenden internen Politisierung ihrer Eigennormativitäten. Stattdessen wandert ein an dem Dualismus von Staat und Gesellschaft orientiertes Verständnis von politischer Freiheit auch noch in das zeitgenössische Modell eines demokratischen Positivismus ein, das insofern zu einfach gezeichnet ist, als es öffentliche Autonomie auf die Teilhabe allein an staatlicher Regelbildung und private Autonomie auf das Ausfüllen eines durch eben jene Regeln abgesteckten Spielraumes reduziert. Das erweist sich spätestens dann als problematisch, wenn deregulierte Märkte und digitalisierte Medien privaten Akteuren ein Wirkungsfeld jenseits der legislativen Ausgestaltung verschaffen. Kennzeichen transnationaler Rechtsbildungsprozesse ist gerade ihre enge Kopplung an globale soziale und ökonomische Prozesse bei gleichzeitiger Distanz zur Politik, welche sich aus dem Umstand ergibt, dass die strukturelle Kopplung des politischen Systems und des Rechtssystems über Verfassungen auf der Ebene der Weltgesellschaft keine Entsprechung hat.91 Politische Selbstbestimmung geht freilich nicht im Staat auf, sondern erfolgt auch dezentral durch die auf private Rechte gestützte Gestaltung sozialer 89 Gegen eine Überordnung öffentlicher Rationalität im Vergleich zur distribuierten „relationalen Rationalität“ von gesellschaftlichen Beziehungsnetzwerken, die vor allem auch mit Hilfe des Privatrechts verfasst werden, vgl. Karl-Heinz Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, 2. Aufl., Berlin 1995, 33 und 67 f. Eine Präferenz für die Institutionalisierung von öffentlicher Deliberation läuft Gefahr, die „Bürger von den Zwängen zur Beobachtung der durch die Gesellschaft erzeugten Zwänge und Möglichkeiten“ zu entlasten, vgl. Ladeur, ebd., 70. 90 Zur Kennzeichnung von Hegels Logik vgl. Christian Iber, Metaphysik absoluter Relationalität, Berlin 1990, 14. 91 Gunther Teubner, Globale Bukowina – Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15 (1996), 255 (257); Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1993, 582.

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Institutionen. Der Begriff der öffentlichen Autonomie muss entsprechend multipliziert und auf Möglichkeiten der Mitgestaltung auch der Regeln dieser sozialen Institutionen bezogen werden. Denkt man die Funktionalisierung von Rechten zu Ende, geht es im Recht neben einer Berücksichtigung eigennormativer Ordnungen auch um Einflussnahme auf diese Ordnungen durch die von ihnen Betroffenen. Die öffentlich-rechtliche Betrachtungsweise des Privatrechts, durch die es sich nach den Vorstellungen der ordoliberalen Rechtslehre „mit dem Sozialeffekt privatrechtlicher Institutionen“ befassen sollte92 und durch die es als ein Ausdruck des relationalen Rechtsdenkens angesehen werden kann, muss in der Konsequenz das politische Potential privater Rechte mitdenken: die durch sie mögliche Teilhabe an der Gestaltung privater Ordnungen bzw. sozialer Institutionen. Sobald die Frage nach der Funktion von individuellen Rechten für die soziale Praxis gestellt wird, steht auch die Frage nach der Funktion dieser Praxis für die Rechte (gerade auch Dritter) im Raum. Subjektive Rechte ermächtigen gleichermaßen zur Konstitution wie zur Transformation von gesellschaftlicher Ordnungsbildung. Insofern private Rechte die Änderung des Rechts der Praxis erlauben, fungieren sie als politische Gestaltungsrechte. Die Politisierung des Sittlichen, die in der philosophischen Darstellung des Rechts angelegt ist, vollendet sich also erst dann, wenn das Recht der Gesellschaft die Instrumente dazu übergibt. Der Sache nach hat sie das Recht bereits, nur: Es „kömmt drauf an“, sie verschieden zu interpretieren! Das wiederum setzt Lernprozesse im Recht selbst voraus, die ohne Hegel kaum denkbar wären: Recht kann seit Hegel begreifen, dass die Autonomie des Subjekts nur als Relationsbegriff von sozialer Praxis gefasst und nicht als gegeben angenommen werden kann. Recht kann seit Hegel begreifen, dass ihm selbst (jedenfalls einer „philosophischen Rechtswissenschaft“) eine Reflexivität seiner Formen abverlangt ist, mit denen es eben jene soziale Normativität im Recht zur Darstellung bringt – sollen sich nicht jene von Hegel beschriebenen Gefahren des Positivismus der Form für die Totalität der sittlichen Erscheinungen realisieren. Und Recht kann über Hegel hinaus begreifen, dass es zu seinem sozialreflexiven Umbau auch gehört, der Gesellschaft geeignete Formen für seine eigene Veränderung zur Verfügung zu stellen. Es muss für seine eigene Kritik durch die Gesellschaft sorgen, damit diese sich selbst kritisieren kann. Es muss also eine Selbstinterpretation der Gesellschaft durch sich selbst zulassen. Das Recht lernt bei Hegel viel über konkrete Freiheit. Durch ein solches Recht aber kann Freiheit über sich lernen. 92

So Franz Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, Berlin 1933, 117. Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

Politik des Wissens bei Hegel Einige zeitgemäße Bemerkungen Zdravko Kobe Hegel war ein ungemein moderner Autor. Wenn man heute seine politische Philosophie liest – zum Beispiel seine Aussagen über das Verhältnis der bürgerlichen Gesellschaft zum Staat, über den allgemeinen Stand, über das Problem des (sowohl armen als reichen) Pöbels,1 über die politische Repräsentation, auch in Bezug auf die abstrakte Arbeit oder das gesellschaftliche Vermögen und die Beteiligung daran – kann man sich nur wundern, mit welcher Schärfe er Phänomene wahrzunehmen wusste, die zu seiner Zeit erst im Werden begriffen waren. Man muss jedoch zugeben, dass Hegel bisweilen auch falsch liegen konnte. Zu den besonders auffallenden Fällen gehört etwa die Frauenfrage: Es ist schwer zu verstehen, wie Hegel einen so offensichtlichen Widerspruch begehen und die Frauen systematisch aus dem öffentlichen Leben ausschließen konnte. Auch bemerkte er nicht, dass sich innerhalb des Systems von Bedürfnissen eine selbständige Struktur mit einer Eigendynamik entwickelte, die neben der Verstandsallgemeinheit der bürgerlichen Gesellschaft und der Vernunftallgemeinheit des Staates eine dritte Allgemeinheit produzierte, die Allgemeinheit des Kapitals, welche den Übergang von der bürgerlichen Gesellschaft zum politischen Staat zu blockieren drohte. Um diese fremde Struktur begrifflich zu fassen, musste man auf Marx warten, und darin liegt zweifellos dessen Verdienst. Obwohl sich Hegel, wie ich meine, dennoch als der präzisere Denker der Moderne erwies, muss man letztendlich zugeben, dass die geschichtliche Entwicklung in einigen wichtigen Hinsichten nicht den hegelschen Richtlinien folgen wollte. Die heutige liberale Demokratie entspricht offensichtlich nicht dem hegelianischen Begriff des modernen Staates, und zwar weder ihrem Selbstverständnis noch ihrer Realität nach. Hegel wäre sicher tief davon beeindruckt, dass der Staat in der modernen Welt seine politische Macht verliert und dass die wichtigsten Entscheidungen immer mehr außerhalb des politischen Rahmens, zum Beispiel in Gerichten und halbprivaten Foren ohne jegliche politische Legitimierung, getroffen werden. 1 Für eine nähere Darstellung der Pöbelfrage bei Hegel vgl. Kobe, Zdravko, „Die Armut, der Pöbel und der Staat. Über ein vermeintlich ungelöstes Problem der Hegel’schen Philosophie“, Philosophisches Jahrbuch 127(1), S. 26-47.

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© Brill Fink, 2024 | doi:10.30965/9783846768358_006

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Solche Diskrepanzen stellen aber keine bloßen empirischen Tatsachen dar (etwa im Sinne von: umso schlimmer für die Tatsachen). Ganz im Gegenteil, wenn überhaupt, dann war es Hegel, der der Positivität eine begriffliche Dimension zuerkannte und der folglich in der faktisch erfolgten historischen Entwicklung eine ernstzunehmende philosophische Herausforderung erblicken würde. Hegel würde bestimmt die Frage aufwerfen, was denn „schief“ gelaufen sei, da heute eine so breite Kluft zwischen seinem Staatsbegriff und dem real existierenden Staat besteht. Oder besser gesagt, Hegel würde sich fragen: Was ist heute das was ist? Und wie in der Deutung des berühmten hegelschen Doppelsatzes von Jean-François Kervégan gezeigt wird, würde Hegel als Philosoph – als Philosoph, dessen Philosophie als solche politisch ist – das zu formulieren versuchen, was im Bestehenden „immanente Schranken“ aufzeigt und so „in seiner eigenen Verfassung bereits über sich selbst hinausweist“.2 Im vorliegenden Beitrag werden ein paar Schritte in diese Richtung gewagt. Zunächst wird Hegels Auffassung vom modernen Staat kurz dargestellt, insbesondere in seinem Verhältnis zum Wissen; dann werden einige Veränderungen genannt, die sich im Wissensregime neuerlich durchgesetzt haben; schließlich wird angedeutet, welche politischen Implikationen so eine veränderte Wissensform haben könnte.

I.

Hegel verwendet den Staatsbegriff in einem flexiblen und breiten Sinne, der die öffentlichen Institutionen einer territorial begrenzten Gemeinschaft bei weitem übertrifft. Wenn er die bürgerliche Gesellschaft als „äußeren Staat“, als den „Noth- und Verstandesstaat“ beschreibt (GW 14, § 183, S. 160)3, dann muss es offensichtlich auch einen inneren Staat, einen Freiheits- und Vernunftstaat geben; und wenn er über den „eigentlich politischen Staat“ (GW 14, § 267, S. 211) spricht, dann muss es auch eine Staatsdimension geben, die über den Bereich des Politischen im eigentlichen Sinne hinausgeht. Um eine solche Einbettung des Staates in das Gesellschaftsgefüge hervorzuheben, greift Hegel absichtlich nach dem mehrdeutigen Wort Verfassung, das sowohl das Grundgesetz einer politischen Entität wie auch die faktische Struktur des (sozialen) Körpers benennt.4 Man darf sagen, dass Hegel den Staat vor dem Hintergrund 2 Kervégan, Jean-François, L’Effectif et le rationnel. Hegel et l’esprit objectif, Paris, 2007, S. 32. 3 Hegels Werke werden nach der Referenzausgabe Gesammelte Werke (hrg. von der NordrheinWestfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg, 1968 ff.) mit der Band- und Seitenangabe zitiert. 4 Für eine nähere Schilderung s. Cesaroni, Pierpaolo, Governo e costituzione in Hegel, Milano, 2006. Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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seiner Theorie der Sittlichkeit versteht, als eine besondere Manifestation der allgemeinen sittlichen Substanz.5 Jedoch geht der Staat nicht restlos in der sittlichen Substanz auf. Nach Hegel ist der Staat eher der Ort, an dem die allgemeine sittliche Substanz sich seiner selbst bewusst wird. Zudem zeichnet sich der moderne Staat – und nur der moderne Staat entspricht Hegel zufolge dem Begriff des Staates – dadurch aus, dass sein Selbstbewusstsein sich im Bereich des vernünftigen Wissens als das denkende Allgemeine herstellt. „Der Staat ist der sittliche Geist als sich wissend“ (GW 26, S. 511), sagt Hegel; genauer: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee, – der sittliche Geist, als der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Wille, der sich denkt und weiß und das was er weiß, und insofern er es weiß, vollführt.“ (GW 14, § 257, S. 201)

Hegel zufolge denkt und weiß der Staat also. Dabei geht es keineswegs um eine abgeschmackte Glorifizierung des Staates, wie ihm oft vorgeworfen wird. Mit dieser Behauptung will Hegel vielmehr nur die heute weit verbreitete Ansicht zum Ausdruck bringen, dass auch der Staat – trotz, oder besser gerade aufgrund seiner Souveränität – dazu verpflichtet ist, sein Handeln im Vernunftraum zu begründen. „Was [in unserer Zeit] gelten soll, gilt nicht durch Gewalt, weniger durch Gewohnheit, Sitte, sondern durch Einsicht, Gründe“ (GW 26, S.  1464). Wenn der Staat einst noch willkürlich handeln durfte und jegliche Kritik mit dem Verweis auf die raison d’état abwehren konnte, ist der moderne Staat vielmehr ein état de raison, ein Staat, der vernünftig handeln muss, nach einem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren und aufgrund von allgemein geltenden Gründen. In diesem Sinne ist der Staat nicht nur eine Wissensinstitution, sondern ist nun wesentlich auf die vernünftige, d.h. wissenschaftliche Wissensform angewiesen.6 5 Eigentlich kann man der engen Rückbindung von Hegels Auffassung der Sittlichkeit an die politische Theorie in seinen früheren Schriften nachspüren, wo Sittlichkeit und sittliche Substanz stets mit einer stark politisch markierten Begrifflichkeit eingeführt werden. In der Phänomenologie spricht Hegel über „das allgemeine Wesen“, „das Gemeinwesen“ oder über „die Sache selbst“, die „das Tun Aller und Jeder“ ist, was alles vor dem Hintergrund der res publica verstanden werden soll. Es muss aber ebenso bemerket werden, dass Hegel „das allgemeine Wesen“ umgekehrt als „das allgemeine Werk“ entstehen lässt, welches seinerseits auf die Frage antwortet, wie sich ein Individuum erfolgreich verwirklichen kann. Dies ist deutlich in der ersten Auflage der Enzyklopädie zu sehen, wo die sittliche Substanz direkt als „das allgemeine Werk“ (GW 13, § 432, S. 233) bezeichnet wird. Man kann also sagen, dass Hegel zufolge „das allgemeine Wesen“ eigentlich „das wahre Werk“ ist. 6 Vieweg beschreibt den hegelianischen Staat treffend als eine „Epistokratie“ und „Wissensdemokratie“, die in der gemeinsamen Bildung zum freien Denken verortet wird. Vgl. Vieweg, Klaus, Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München, 2012, S. 434 ff. Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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Die enge Beziehung zwischen der freien Wissenschaft und dem modernen Staat, die eigentlich eine breite Fragestellung eröffnen sollte, kann man zu unserem Behuf damit illustrieren, wie Hegel die Stellung der Religion in seinem Staat denkt. Wenn einst die Ansicht verbreitet war, dass der Staat die religiösen Grundlehren berücksichtigen oder wenigstens nicht öffentlich gegen sie verstoßen sollte, bemerkt Hegel dagegen, dass „auch der Staat eine Lehre“ habe (GW  14,  § 270A, S.  218), diejenige nämlich, die in seinen Vorschriften, Schulbüchern und allgemeiner in wissenschaftlichen Erkenntnissen niedergelegt ist. Der moderne Staat ist eine Wissensinstitution nicht bloß in dem Sinne, dass er sich durch vernünftiges Wissen rechtfertigen muss, sondern auch sofern die Wissenschaft ihre institutionelle Infrastruktur eben im Staat hat: „Zum vollendeten Staat gehört wesentlich das Bewußtsein, das Denken. Der Staat weiß daher, was er will, weiß es als Gedachtes. … Indem das Wissen im Staat seinen Sitz hat, hat die Wissenschaft überhaupt im Staat ihren Sitz.“ (GW 26, S. 1003f.)

In der Enzyklopädie wird zwar behauptet, dass die Sphäre des absoluten Geistes „im Allgemeinen“ als Religion bezeichnet werden kann (s. GW 20, § 554, S. 542), doch wenn Religion in der Tat das Bewusstsein ist, das das Absolute von sich hat, dann ließe sich daraus eher schließen, dass umgekehrt eben Wissenschaft und besonders die Philosophie die religiöse Sphäre des modernen Geistes ausmachen. „Philosophie ist nichts als die Gestaltung der Religion.“ (GW 26, S. 339) Und wenn nach Hegels Auffassung in der historischen Entwicklung des absoluten Geistes Kunst durch Religion ersetzt wurde,7 dann lässt das erneut den Schluss zu, dass in der modernen Welt gerade die Wissenschaft zur privilegierten Form des Wissens des Geistes von sich selbst geworden ist. In seinen Briefen bemerkt Hegel oft, dass „unsere Universitäten und Schulen unsere Kirche“8 sind. In diesem Sinne sollte man, unserer Meinung nach, nach dem Ende der Kunst eigentlich auch über das Ende der Religion sprechen.9 7 Über die Geschichtlichkeit des absoluten Geistes vgl. besonders Jaeschke, Walter, „World History and the History of Absolute Spirit“, in: Perkins, Robert L. (Hrg.), History and System: Hegel’s Philosophy of History, Albany, 1984. 8 Brief an Niethammer vom 12. 7. 1816, in: Hegels Briefe, Bd. 2, hrg. von J. Hoffmeister, Hamburg, 1969, S. 89. 9 Die These vom Ende der Religion will nicht sagen, dass es in der modernen Gesellschaft keine Religion mehr gibt oder dass heute nur noch die vom Fortschritt Zurückgelassenen gläubig sein können. Ein Vergleich mit der berüchtigten These vom Ende der Kunst kann sich in dieser Hinsicht als hilfreich erweisen. Auch diese These besagt nicht, dass es in der modernen Welt keine Kunstwerke mehr gäbe oder Menschen, die ihr Leben ganz der Kunst widmen – manchmal sogar mit großer gesellschaftlicher Anerkennung. Im Gegenteil, die These vom Ende der Kunst besagt nur, dass Kunst nicht mehr die privilegierte Form des öffentlichen Diskurses darstellt, dass sie für das moderne Publikum nicht mehr diejenige Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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Die angedeutete Entwicklung des absoluten Geistes spiegelt sich dann auch in der entsprechenden Reihenfolge des objektiven Geistes und damit der Staatsgestalten wider. Wenn der antike Staat schön und der mittelalterliche fromm war, kann man pointiert sagen, ist der moderne Staat wesentlich ein vernünftiger oder freier Staat – ein Staat des freien Denkens, in dem die Rolle der Priester durch Wissenschaftler besetzt wird.10 Demgemäß behandelte Hegel die Wissenschaftler wie Staatsbeamte und ordnete sie (zusammen mit den anderen Arbeitern, die im Dienst des Allgemeinen stehen, wie zum Beispiel den Lehrern und dem gesamten öffentlichen Sektor) dem allgemeinen Stande zu – dem Stande also, der sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass er keine Abgeordnete in die gesetzgebende Versammlung schickt. Was nach einem ungerechten Ausschluss aus dem politischen Leben aussieht, kann darauf zurückgeführt werden, dass Wissenschaftler schon im Vornhinein an der politischen Willensbildung beteiligt sind. Mit anderen Worten, der Grund ist, dass Hegel zufolge Wissenschaft, und insbesondere die Philosophie, als solche politisch ist. Die privilegierte Stellung der Wissenschaft bedeutet allerdings nicht, dass die Staatsgewalt in die ausschließliche Zuständigkeit der Experten fällt. Denn Hegel zufolge schließt die moderne Wissensordnung notwendig auch das Moment der Subjektivität ein, und zwar mindestens in zweierlei Hinsicht. Das Wissen ist subjektiv zunächst dadurch, dass das, was ein Subjekt ist – und das Volk ist ein Subjekt – nicht unabhängig von seinem Wissen von sich bestimmt werden kann. Auf die berühmte Frage, ob es erlaubt sei, ein Volk zu täuschen (zu seinem Vorteil, versteht sich), bemerkt Hegel daher, dass es „unmöglich“ sei, ein Volk über seine wesentliche Grundlage zu täuschen, da hier „der  Überzeugungskraft besitzt, die sie angeblich einst für die Griechen hatte. Wir mögen die großen Kunstwerke noch immer bewundern, unser Knie beugt sich jedoch nicht mehr vor ihnen. – Das Gleiche gilt für die Religion. Natürlich können Menschen persönlich weiterhin zutiefst religiös sein und natürlich gibt es auch heute solche, die in der Frage des Ursprungs der Welt eher die Autorität der Bibel (und nicht die der Physik oder Biologie) anerkennen. Aber in der modernen Welt ist dies nicht mehr die bevorzugte Form des Bewusstseins des absoluten Geistes von sich: Politische Entscheidungen können heute im Prinzip nicht mehr durch göttliche Inspiration oder das Urteil von Hohepriestern gerechtfertigt werden. Vgl. dazu Kobe, Zdravko, „Das Ende der Religion? Eine Geschichte des absoluten Geistes“, in: L. Illetterati, A. Manchisi, M. Quante, A. Esposito, B. Santini (Hrg.), Morale, etica, religione tra filosofia classica tedesca e pensiero contemporaneo. Studi in onore di Francesa Menegoni, Padova, 2020. 10 In seiner Berliner Antrittsrede bemerkte Hegel ausdrücklich: „Zur Vollendung dessen, was der Staat in der Wirklichkeit einzurichten hat, gehört auch noch dies, dass für die Existenz der Wissenschaft und insbesondere der Philosophie ein eigner Stand, eine eigne Existenz gewidmet sei“ (GW 18, S. 27). Insofern sind Wissenschaftler, und Philosophen insbesondere, die Hohepriester der modernen Religion (einer Religion nach dem Ende der Religion), die bekanntlich keine Laien kennt. Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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Gedanke der Täuschung ganz hinwegfällt“ (GW 9, S. 299).11 Außerdem ist das vernünftige Wissen aber auch dadurch wesentlich subjektiv, als es – zuletzt im „Wendepunkt der Methode“, wie Hegel sagt (GW 12, S. 247) – eine Anerkennungsgeste erfordert, die das Subjekt nur erstpersönlich auf sich nehmen kann. Wie im Protestantismus gibt es auch im modernen Wissensregime keine Laien. Aufgrund solcher Wissenssubjektivität widmete Hegel der öffentlichen Meinung besondere Aufmerksamkeit und schrieb ihr sogar eine Strukturstelle innerhalb der gesetzgebenden Gewalt zu. Die öffentliche Meinung ist eine der Erscheinungen, die „am schwersten zu begreifen“ sind, bemerkt Hegel (GW 26, SW. 571).12 Sie ist vox dei und nulla vox zugleich und verdient sowohl beachtet als verachtet zu werden (GW  14,  § 318, S.  260), denn sie ist einerseits eine Manifestation des Wissens, das das politische Subjekt von sich selbst hat, und muss folglich bei allen politischen Entscheidungen berücksichtigt werden. Auf der anderen Seite ist sie aber eben eine Meinung, d.h. eine Erkenntnis als Erscheinung, worin das Wesentliche und Unwesentliche, Wahre und Falsche unmittelbar miteinander vermischt sind. Die große politische Aufgabe des Staates ist es daher, öffentliche Meinung in öffentliche Erkenntnis umzuwandeln; diese Aufgabe erweist sich aber umso schwieriger, da es nach Hegel keinen allmählichen Übergang von der Meinung zur Erkenntnis gibt, sondern die Verwandlung nur durch einen abrupten Bruch erfolgen kann.13 Man könnte sagen, dass das gesamte System der politischen Vermittlung, welches die Verfassung von Hegels Staat ausmacht – samt seiner untypisch dreifachen Gewaltenteilung – darauf abgestimmt ist, aus den Fragmenten der öffentlichen Meinung ein System der öffentlichen Erkenntnis zu bilden. In gewissem Sinne ist Hegels Staat nichts anderes als eine riesige Anlage zum immerwährenden öffentlichen Erkennen. Der Staat steht jedoch in der Welt und es kann daher vorkommen, dass dieses politische Vermittlungssystem nicht in der Lage ist, die substanzielle Grundlage der öffentlichen Meinung aufzufangen. Das Volk weiß dann nicht,

11

„Wie soll Täuschung und Betrug da statt finden, wo das Bewußtseyn in seiner Wahrheit unmittelbar die Gewißheit seiner selbst hat,“ fragt sich Hegel (GW  9, S.  299). Vgl. auch GW 14, § 317A, S. 260. 12 In der Sekundärliteratur ist Hegels Behandlung der öffentlichen Meinung relativ vernachlässigt worden; eine Ausnahme bildet Mabille, Bernard, „Hegel et le pouvoir de l’opinion publique“, in: J.-G. Goddard und B. Mabille (Hrg.), Le pouvoir, Paris, 1994. S. 188-200; Tortorella, Sabina, „L’opinione publica nella Filosofia del diritto di Hegel“, Leussein, 5(2-3), S. 119-125. 13 In der Phänomenologie spricht Hegel an dieser Stelle von der „Unterbrechung“, s. GW 9, S. 41. Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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was es will.14 Für Hegel ist es Zeit für starke Persönlichkeiten, also für politische Führer, die den Puls der Öffentlichkeit ertasten können und auch den Mut haben, deren Bedürfnisse zu erfüllen. Man kann aber bemerken, dass im modernen Staat das Auftauchen von starken Persönlichkeiten immer – auch heutzutage – ein Zeichen des Versagens des politischen Vermittlungssystems war, das offensichtlich nicht im Stande war, die öffentliche Meinung zur öffentlichen Erkenntnis zu erheben.

II.

Dieser knappen Darstellung ist hoffentlich zu entnehmen, in welchem Sinne Hegels Staat eine Wissensinstitution ist und inwiefern der moderne Staat spezifisch auf eine vernünftige oder wissenschaftliche Wissensform angewiesen ist. Der objektive und der absolute Geist hängen bei Hegel zusammen. Diese Verbindung lehrt uns aber zugleich, dass der moderne Staat für sein Bestehen gewisse epistemische Bedingungen erfüllen muss. Man kann mit Zuversicht sagen, dass Hegel zufolge der moderne Staat von der gesellschaftlichen Hegemonie einer Wissensgestalt abhängt, wie sie in seinem System verkörpert ist, und also um vernünftige Erkenntnis und freie Wissenschaft organisiert wird. Das Problem ist, dass diese Gestalt des Wissens, um es abmildernd zu formulieren, ihre gesellschaftliche Selbstverständlichkeit verloren hat. Für unser Anliegen reicht es, auf zwei verhältnismäßig frische Brüche hinzuweisen: auf das Ende der großen Erzählungen und die algorithmische Wissensproduktion (man kann sie Atomisierung und Automatisierung des Wissens nennen). Was den ersten Bruch angeht, hat Lyotard die These aufgestellt, dass die Vernunft, die einst alle partiellen Wissenssysteme in einer einheitlichen großen Erzählung zusammenfasste, in den postindustriellen Gesellschaften die Rolle der letzten Instanz verloren hat.15 Stattdessen ist eine Vielzahl von regionalen Wissenssystemen aufgetreten, von denen jedes eine eigene Innenstruktur und seine besondere Legitimierungsweise hat. Damit vollzieht sich aber im „Status des Wissens“ eine tiefgehende Veränderung, fügt Lyotard hinzu. Vernunft ist ein eifersüchtiger Gott, sie will „keine fremden Götter neben sich haben“.16 Wenn also das Anführen von allgemein geltenden Gründen nur noch eine der zugelassenen und im Grunde gleichwertigen Begründungsweisen 14

Um vorgefassten Urteilen vorzubeugen, sollte man hier folgendes anmerken: „Dazu gehört tiefe Einsicht zu wissen was man will; … Es ist überhaupt das Größte, was ein Mensch kann, daß er wisse was er will.“ (GW 26, S. 560) 15 Lyotard, Jean-François, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz-Wien, 1986, S. 19. 16 G. W. F. Hegel, Vorlesungen: Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 6, Hamburg, 1994, S. 304. Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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ist, ist einerseits dem vernünftigen Wissen der Boden entzogen: Die Idee der Wahrheit ist verlorengegangen, die Erkenntnis ist zur Meinung geworden. Anderseits besteht aber die Tatsache der Vielheit von solchen Wissensfragmenten, welche nach dem Ende der alleinigen Wahrheit alle einen gleichberechtigten Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung haben mögen, und damit auch das Problem ihrer Koordination. Lyotard selbst wollte das Problem dadurch lösen, dass er die einzelnen Wissensformen mit ihren Behauptungen als Sprachspiele betrachtete, die zu lokalen Verständigungen führen könnten. Seine Idee war also, dass sich an den Berührungspunkten sozusagen von selbst – ohne Zwang und ohne sich selbst zu ernst zu nehmen – gemeinsame Gebiete bilden würden, die als lokale und temporäre Ankoppelungen wirken würden. Diese Idee hat sich jedoch als naiv erwiesen. Wenn man sich ansieht, wie solch eine wahrheitslose Koordination in der Tat erfolgt, kann man vor allem zwei herrschende Modi entdecken. Einerseits ist nach dem Ende der großen Erzählungen Erkenntnis zur Meinung geworden. Inhaltlich können sie sich überschneiden, denn in beiden Fällen geht es um gewisse Überzeugungen. Was aus einer Erkenntnis erst Erkenntnis, wirkliches Wissen macht,17 ist die Form dieser Überzeugungen, die Tatsache, dass sie in einem Netz allgemeingültiger Gründe eingeflochten sind, welches jedem Inhalt einen bestimmten Platz im Vernunftraum zuweist. Dagegen ist die Meinung eine Überzeugung, die eben nicht unter Rechtfertigungszwang steht, es reicht die Tatsache, dass es meine Überzeugung ist. Meinung ist wesentlich das Meinige, pflegt Hegel zu sagen.18 Das verstärkt die Souveränität des Einzelnen in Bezug auf seine Meinungen und sorgt für deren äußerliche Gleichwertigkeit. In einer solchen Situation, wo als einziger Garant für eine Meinung das Subjekt selbst auftritt und wo sich einzelne Überzeugungen vor allem nach der Heftigkeit voneinander unterscheiden, mit welcher sie von ihren Trägern verteidigt werden, muss eben die subjektive Stärke die Rolle einer einfachen gesellschaftlichen Koordination übernehmen: Je höher die Einsatzbereitschaft beim Durchsetzen der eigenen 17

18

Der Wissensbegriff wird unterschiedlich verwendet, was folglich die Auseinandersetzung terminologisch erschwert. Selbst Hegel scheint ihn unterschiedlich oder zumindest mit verschiedenen Betonungen zu verwenden. In der Phänomenologie wird das Wissen häufig an die Wissenschaft angeknüpft, so dass „das Wissen nur als Wissenschaft  … wirklich ist“ (GW 9, S. 21; vgl. auch GW 9, S. 11: „Die innere Nothwendigkeit, daß das Wissen Wissenschaft sey, liegt in seiner Natur“; GW 9, S. 24: „Diß Werden der Wissenschaft überhaupt, oder des Wissens …“). In der Enzyklopädie wird es dagegen vorwiegend in einem weiten Sinne gebraucht, wo es ausdrücklich den Glauben einschließt (s. GW  20,  § 63, S 102ff; § 554, S. 542) und folglich fast ans Bewusst-sein grenzt. Eigentlich sollte Hegels Wissensbegriff näher untersucht werden, was aber hier leider nicht geschehen kann. Der Leser wird deswegen um Nachsicht gebeten. Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen, Bd. 6, S. 281. Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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Überzeugungen, desto gewichtiger also die einzelne Meinung und desto größer ihre Anerkennung im öffentlichen Raum. Damit erklärt sich, glauben wir, auch die neue Verbreitung des Obskurantismus in der angeblich aufgeklärten Öffentlichkeit und die Hinwendung zu religiösen und „ethischen“ Diskursen, die bekanntlich starke Überzeugungen vermitteln sollen.19 Die andere Strategie zur dezentralisierten Koordination der Meinungen bietet freilich die Marktlogik – umso mehr, als im Meinungsregime Subjekte in einer äußeren Beziehung zu ihren Überzeugungen stehen und diese mit der gleichen Freiheit, mit welcher sie sie einst übernommen haben, später auch zurückweisen können. Nach dem Ende der großen Erzählungen, wo alle Antworten gleichwertig sind, übernimmt gerade der Markt die Rolle der einzig gebliebenen gemeinsamen Erzählung und bestimmt, welche Idee die beste ist.20 Der neue Obskurantismus und der Marktfundamentalismus gehören mithin zusammen: Sie sind zwei Seiten des gleichen Phänomens, das mit dem gesellschaftlichen Hegemonieverlust des vernünftigen Wissens einhergeht. Was dagegen den anderen Bruch angeht, verband bereits Lyotard das Ende der großen Erzählungen mit technologischen Veränderungen in der Verwaltung von Informationen. Die technologische Entwicklung, die einen ungeheuren Anstieg von gesammelten Datenmengen und der Kapazitäten für ihre Verarbeitung ermöglichte, hat jedoch erst neuerlich dazu geführt, dass der Zugang zum Wissen und sogar seine Produktion zunehmend von Maschinen übernommen wird. Auch dies hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Form und das Status des Wissens.21 Wir müssen uns fragen: Was heißt wissen – wenn fast alle möglichen Daten nur einen Mausklick entfernt sind? Was bedeutet sich entscheiden – in einer Umgebung, wo uns aufgrund einer umfassenden 19 Es mag hinzugefügt werden, dass auch Hegels philosophischer Widersacher Fries einst eine „Überzeugungsethik“ entwickelte, worin die Stelle des Wahren und Guten von der subjektiven Überzeugungsstärke übernommen wurde: „Die Überzeugung eines Menschen, von dem, was ihm geboten wird, mag seyn, welche sie will, genug, daß er ihr folgt, so schreiben wir ihm das höchste, was wir in ihm gut nennen, den guten Willen selbst zu.“ (Fries, Jakob Friedrich, Wissen, Glaube und Ahndung, Jena, 1805, S. 143) 20 Solche „Merkantilisierung des Wissens“ wurde ebenso von Lyotard angekündigt: „Man kann von da an auf eine starke Veräußerlichung des Wissens gegenüber dem ‚Wissenden‘ gefaßt sein … Das Wissen ist und wird für seinen Verkauf geschafft werden.“ (J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 24) Man muss bekennen, dass Lyotard mit einer überraschenden Klarheit auch die (Ent-)Bildungseffekte einer solchen Wissensform sah. 21 „Die Digitalisierung verändert, was und wie wir wissen,“ behauptet Bunz und fügt hinzu: „Algorithmen reorganisieren das Wissen, und dadurch verändern sie unsere Vorstellung davon, was es heißt, zu denken – genau wie Maschinen im Zuge des 19. Jahrhunderts unser Verständnis von ‚Arbeit‘ revolutionierten.“ (Bunz, Mercedes, Die stille Revolution. Wie Algorithmen Wissen, Arbeit, Öffentlichkeit und Politik verändern, ohne dabei viel Lärm zu machen, Berlin, 2012, S. 11, 24.) Auch in dieser Hinsicht wurde der Weg von Lyotard geebnet, s. Das postmoderne Wissen, S. 21 ff. Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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Analyse unserer früheren Aussagen und Entscheidungen in verschiedenen Bereichen, vom sozialen Netzwerk über Online-Einkäufe bis hin zu den Orten, die wir besucht haben, Empfehlungen gemacht werden, die angeblich perfekt jene Bedürfnisse befriedigen, von denen wir vorher gar keine Ahnung hatten? Und was heißt denken – zu einer Zeit, in der auch höhere geistige Funktionen wie Gesichtserkennen, Schachspielen, Übersetzen oder sogar Textschreiben zunehmend von Algorithmen ausgeführt werden?22 Da das Gebiet breit und zurzeit noch unklar ist, sollen hier nur ein paar kurze Beobachtungen angesetzt werden. Der große Vorteil digitaler Prozesse besteht darin, dass sie heute blitzschnell ablaufen und mit nahezu endlosen Datenmengen operieren. Deswegen sind sie nicht gezwungen, scheint es, die Daten nach vorgefassten Kriterien zu filtern, und befinden sich so in der Lage, völlig kontraintuitive Muster zu identifizieren. Mit anderen Worten, in einer automatisierten Wissensproduktion hebt der Erkenntnisprozess von einer rohen Datenmenge an und resultiert typischerweise in einem ebenso rohen, interpretationslosen Muster. Wenn man die Antwort auf eine Frage mithilfe der Suchmaschine zu finden versucht, ist das Ergebnis dieselbe abstrakte Folge von Treffern. Der gesamte Prozess läuft angeblich jenseits des Sinnhorizontes ab und gibt sich anstatt mit kausalen Zusammenhängen mit bloßen Korrelationsmustern zufrieden.23 Wie Andersen in seinem Aufsatz proklamierte, braucht die digitale Wissensproduktion keine Theorie mehr.24 22 23

24

Die Frage hier ist nicht, um es nochmals zu betonen, ob die Maschinen denken und wissen, sondern vielmehr, wie das allgemein verbreitete Eindringen von Algorithmen in unsere Lebenswelt die Form von unserem Denken und Wissen selbst verändert. Nassehi behauptet, dass die Digitalität nicht eine Charakteristik der technischen Datenverarbeitung, sondern vielmehr die prägende Eigenschaft einer hochkomplexen Gesellschaft bezeichnet, worin die Entscheidungen, anstatt wie einst nach den vorgegebenen Bahnen erfolgen zu können, immer wieder frisch getroffen werden müssen. „Moderne Gesellschaften sind nur digital zu verstehen, deshalb können Digitaltechniken an sie andocken.  … Man könnte also sagen: Das Bezugsproblem der Digitalisierung ist die Gesellschaftlichkeit der Gesellschaft selbst, und (moderne) Gesellschaft ist selbst ein digitales Phänomen.“ (Nassehi, Armin, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München, 2019, S. 62-63) Eine andere Auffassung der Digitalität wird von Noler vertreten, der auf die wesentliche „Differenz“ von (technischer) Digitalisierung und (ontologischer) Digitalität hinweist und die letztere als eine neue, „veränderte Wirklichkeit“ versteht, die aus der „Fusion“ von digitaler „Virtualität“ und „Realität“ hervorgeht. Vgl. Noler, Jörg, Digitalität. Zur Philosophie der digitalen Lebenswelt, Basel, 2022, S. 21, 11. Vgl. Andersen, Chris, „The End of Theory: The Deluge of Data Makes The Scientific Method Obsolete“, Wired (2008), https://www.wired.com/2008/06/pb-theory/ [besucht am 17. 8. 2022]. Nach dem Ende von Kunst und Religion ist nun das Ende der Theorie und insofern auch der Wissenschaft selbst ausgerufen worden. Wenn das zutrifft, wäre es für Hegels Philosophie folgenschwer, da er nicht nur die wahrhafte Wissenschaft und spekulative Philosophie gleichzusetzen pflegte, sondern die Wissenschaft zugleich als die Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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So jedenfalls wird die Sache von ihren Protagonisten gepriesen. Wenn man sich sie jedoch näher ansieht, lassen sich auch in diesem neuen Traum ernüchternde Schatten erkennen. Wenn zum Beispiel die Internetsuche eine Reihe von Treffern ergibt oder uns Freunde, Informationen oder Produkte angeboten werden, die wir bestimmt interessant finden würden, wissen wir nicht, und können es oft auch nicht wissen, nach welchen Kriterien die Algorithmen genau zu dieser Auswahl gekommen sind. Die bewirkte Klassifizierung kann keiner kritischen Beurteilung unterzogen werden und auch ihre Richtigkeit kann demzufolge nicht in Frage gestellt werden. Man bekommt also eine Art von Wissen, welches die Kritik strikt verbietet. Darüber hinaus sind in den heutigen Prozessen der automatisierten Wissensproduktion die Algorithmen oft so komplex, dass selbst diejenigen, von denen sie erstellt wurden, genau genommen nicht mehr herausfinden können, wie ein Ergebnis erzeugt worden ist – und folglich auch nicht, ob es nur prozedural richtig ist.25 Das Ergebnis steht so in seiner nackten Positivität da, als eine Tatsache, die man bloß akzeptiert oder nicht, als ein Wissen, das sich nicht wissen kann. Dies ist bereits epistemisch beträchtlich. Aber gerade weil man die Auswahlkriterien nicht kennt, ist es durchaus möglich, dass diese Kriterien – wissentlich oder unwissentlich, das ist hier gleichgültig – gewisse Vorbehalte enthalten, die für verschiede Individuen und Gruppen unterschiedliche Wirkungen haben können, oder dass sie den Interessen desjenigen angepasst werden, von dem der Algorithmus verfasst worden ist.26 Das Problem ist, dass wir bei der Verwendung solcher Werkzeuge und innerhalb eines solchen Wissensnetzes den Machteffekten ausgesetzt sind, die sich unserer Beurteilung und Kontrolle entziehen.27 Mehr noch, da sowohl höchste Form des absoluten Geistes betrachtete. Es würde den Untergang des absoluten Geistes selbst bedeuten. 25 Dies trifft besonders im Fall der sogenannten tieflernenden Netzwerke zu: „Die Ergebnisse von den lernenden Netzwerken basieren nicht auf gut definierten oder expliziten Kriterien, auch deren Verarbeitung nicht. Obwohl wir in der Tat ein Ergebnis bekommen, wissen wir weder, wie dies Ergebnis hervorgebracht worden ist, noch warum gerade dieses und kein anderes.  … Niemand versteht im Detail die Operationen seines Rechners“ (Schubbach, Arno, „Judging Machines. Philosophical Aspects of Deep Learning“, Synthese, 198(2), S. 1815). Schubbach macht den interessanten Vorschlag, die Ergebnisse der tieflernenden Prozeduren nach dem Muster von kantischen Geschmacksurteilen zu behandeln. 26 „Eine KI-Leistung ist immer heteronom interessiert und motiviert: Sie bedarf einer teleologischen Initiierung, die sie von außen erhält,“ bemerkt Noller dazu (Digitalität, S. 63). 27 Für eine Übersicht der Auswirkungen von Algorithmen auf diverse Lebensgebiete s. O’Neal, Cathy, Weapons of Math Destruction. How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy, New York, 2016. O’Neal betont (s. S. 10), dass es den Algorithmen oft an den entsprechenden Daten mangelt, so dass sie auf Ersatzdaten angewiesen sind; dass ihre Zielsetzungen und Vorgehensweisen undurchsichtig bleiben; vor allem aber, dass Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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die so gewonnenen Daten als auch die Algorithmen dieser Wissensproduktion oft im Besitz von privaten Unternehmen sind, sind wir heute mit einer vielschichtigen Privatisierung von breit gebrauchtem Wissen konfrontiert. Das genannte Automatisierungsphänomen und das Ende der großen Erzählungen helfen uns, einen wichtigen Aspekt des Strukturwandels im öffentlichen Wissen zu beschreiben, der in den letzten Jahren stattgefunden hat. Eben weil die Tatsachen dem Begriff nach abstrakt und nackt dastehen und nicht wie zuvor in ein Netzwerk von Gründen eingebunden sind, eignen sie sich desto besser für eine postfaktische Behandlung, die nicht auf einer schlichten Verneinung, sondern eher auf dem massiven Angebot von alternativen Tatsachen beruht. Und gerade weil digitales Wissen im Grunde ein Wissen ist, das sich nicht weiß, ist es umso anfälliger für willkürliche Interpretationen und Machtmanipulationen. Wenn die Erkenntnisfragmente aus den Begründungszusammenhängen herausgerissen werden, wenn sie im Meinungsregime auftreten, gilt eine „Erkenntnis“ genauso wie die andere. Alle verschieden, alle gleich! Was hier aber durchaus fehlt, ist die kollektive Bildung von öffentlicher Erkenntnis. Mehr noch, da die Informationen vorfiltriert und an jeden Einzelnen besonders angepasst („personalisiert“) werden, können sich im digitalen Raum getrennte Kollektive bilden, die nichts voneinander wissen und insofern tatsächlich parallele Welten bewohnen. Was so in der digitalen Welt verloren geht, ist paradoxerweise das allgemeine Publikum – und damit das Volk als politisches Subjekt. Die politischen Folgen liegen auf der Hand.

III.

Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Hegels Begriff des modernen Staates seine epistemischen Bedingungen hat. Die Tatsache, dass es in der sogenannten Postmoderne zum Strukturwandel des Wissens gekommen ist, muss sich folglich im Wirken des Staates niedergeschlagen haben (die herrschende Wissensform bringt ja unausweichlich gewisse politische Folgen mit sich). Man müsste aber hinzufügen, dass die genannte Verbindung auch in umgekehrte Richtung gilt, d.h., dass das bestehende politische System auch selbst ein bestimmtes Wissensbild hervorbringt oder zumindest bekräftigt, und so eine Wissenspolitik durchsetzt. Was wir das Meinungsregime genannt haben, darf insofern auch als strukturelle Nebenwirkung der liberalen Demokratie angesehen werden, da nämlich die politischen Repräsentanten durch ihre Ergebnisse im Prinzip nicht in Frage gestellt werden können: „Ihre Urteile, selbst wenn [offensichtlich] falsch und schädlich, waren unanfechtbar und unbestreitbar“.

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„freie Wahlen“ designiert werden, bei denen sich abstrakte Individuen um abstrakte Stimmen von abstrakten Wählern bewerben, wodurch die Verbindung zwischen dem gesellschaftlichen Körper und dem politischen Staat gebrochen ist. „Das politische Leben,“ sagt Hegel, ist „in die Luft“ gestellt (GW 14, § 303A, S. 252). Mehr noch, nicht nur werden die politischen Vertreter auf der Grundlage der bloßen Stimmenquantität gewählt, die oft ohne ersichtliche Verbindung mit der Programmqualität ist, auch das Wahlverfahren selbst verläuft außerhalb des vernünftigen Wissensregimes: Die Wahlen sind geheim, der Einzelne hat keine Pflicht, seine Entscheidung zu rechtfertigen, sondern verfügt über seine Stimme auf genau dieselbe Weise wie über sein Eigentum, das er eben frei gebrauchen, genießen und missbrauchen kann. Man sieht so, dass schon das real existierende Wahlsystem eine Erkenntnistheorie impliziert und eine spezifische Wissenspolitik fördert. Wie die herrschende Wissenspolitik unausbleiblich ihre Wirkungen auf dem Gebiet des Politischen hervorbringt, hat auch die bestehende politische Praxis ihre Effekte in der Ordnung des Wissens. „Beydes ist untrennbar,“ kann man mit Hegel schließen: „es kann nicht zweierlei Gewissen“, ein wissendes und ein dem Gehalt und der Form nach davon verschiedenes politisches, geben (vgl. GW 20, § 552A, S. 532). * Obwohl sich Hegel zufolge die Philosophie davor hüten muss, erbaulich sein zu wollen, mögen wir zum Schluss einige Bemerkungen darüber anbringen, was heute das was ist sein könnte und was also darin schon über sich hinausweist. Da die Verbindung zwischen dem Wissen und dem Politischen wechselseitig besteht, müssen die Bemühungen zur Wiederherstellung des Universalismus – was wir als hegelianische Aufgabe für unsere Zeit ansehen würden – auf beiden Seiten gleichermaßen stattfinden. Was die Wissensstruktur angeht, so geht daraus hervor, dass man nach der Flut von kleinen Erzählungen und der Verbreitung der Verdächtigungsdiskurse heute wieder den Mut fassen muss, sich für die großen Erzählungen einzusetzen und die emanzipatorische Dimension der Vernunft hervorzuheben. Dies bedeutet nicht, dass man die Kritik an den Grenzen der Vernunft einfach vergessen sollte. Auch hier ist eine Rückkehr zum Alten nicht mehr möglich. Es ist nun jedoch deutlicher geworden, dass ungeachtet der Machteffekte, die das vernünftige Wissen mit sich bringt, Vernunft zugleich das einzige Feld ausmacht, auf dem die Individuen ihre Freiheit verwirklichen können. Unserer Meinung nach ist gerade Hegel der Philosoph, der sich diesbezüglich als ungemein aktuell erweist, da er sich einst selbst in einer strukturell ähnlichen Lage befand, als er nämlich gegen die partikularistischen Angriffe der Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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Romantiker (den Postmodernisten seiner Zeit) die Sache des Allgemeinen verteidigen musste. Es ist vielleicht übertrieben zu fordern, dass die Produktion von wissenschaftlichen Erkenntnissen heute erneut als öffentlicher Dienst mit Sitz im Staat betrachtet werden müsste. Dennoch muss aber, glauben wir, die institutionelle Bindung der Wissenschaft an die öffentliche Sphäre erneut betont werden – mit dem Bewusstsein, dass auch das Erkennen oder die Erkenntnisproduktion wesentlich eine allgemeine Sache ist, die von den Privatinteressen geschützt werden muss und sich allein im politischen Raum frei entwickeln kann. Hegel betont oft, dass der moderne Staat und die Wissenschaft dasselbe Prinzip des freien Denkens haben: „Im Staate ist das Wahre in der Form des Gedankens, der Allgemeinheit.“ (GW 26, S. 522) Die Universität sollte demnach wieder eine politische Institution, eine Institution des modernen Staats werden, die für die Produktion anerkannter Erkenntnisse zuständig ist.28 In dieselbe Richtung geht auch die Forderung, dass die maschinenartige Erkenntnisproduktion offen wird, und zwar sowohl im Sinne des öffentlichen Zugangs zu den Algorithmen, die die kognitiven Produkte herstellen, wie im Sinne der Öffentlichkeit von Verfahren und Datenbanken, die jetzt oft Eigentum von Privatunternehmen sind. Es sollte gefordert werden, dass im modernen Staat auch die automatische Wissensproduktion öffentlich werden muss. Was dagegen den Staat betrifft, müsste darauf hingewiesen werden, dass Hegel in seiner Rechtsphilosophie ein Modell der politischen Willensbildung entwickelte, das als komplexes Vermittlungssystem konzipiert wurde, in dem die gesellschaftlichen Interessen nicht vorgestellt, sondern in der Tat dargestellt werden. In einem Hegelschen Staat repräsentiert die gesetzgebende Versammlung nicht die Gesellschaft, sie ist die Gesellschaft im Kleinen – was aber wiederum nur darum möglich ist, weil das gesamte politische Leben als Vermittlungssystem nach dem Modell der öffentlichen Erkenntnisproduktion verstanden wird. Hegels Theorie der politischen Willensbildung wurde lange Zeit nicht ernst genommen. Dieser blinde Fleck hat eine Reihe von Gründen – von Klagen über Hegels politischen Konformismus über la haine de l’état, den Staatshass (der sowohl von der „liberalen“ Rechten als von der „progressiven“ Linken geteilt 28 Es ist ein Zeichen unserer epistemischen und politischen Krise, dass sich autoritatives Wissen kaum noch hervorbringen kann. Hegel war sich als einer der ersten darüber im Klaren, dass freie Wissenschaft eine umfassende Infrastruktur voraussetzt. Man kann sogar sagen, dass sich Hegel zufolge selbst das begreifende Denken nicht im leeren Raum entfaltet, sondern als positive Bedingung seiner Möglichkeit auf gewisse Machtverhältnisse angewiesen ist. Für eine dahingehende Interpretation von der Herr-und-Knecht-Dialektik vgl. Kobe, Zdravko, „True Sacrifice. On Hegel’s Presentation of Self-Consciousness“, Filozofija i društvo 26(4), S. 830-851.

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wurde) bis zum allgemein verbreiteten Glauben, dass die liberale Demokratie letztendlich doch das am wenigsten schlechte System aller schlechten Systeme ist. Da aber heute auch dieser Glaube seine empirische Grundlage verloren hat, ist es wahrscheinlich an der Zeit, Hegel erneut in dieser Hinsicht ernst zu nehmen. Und wiewohl es ein wenig seltsam klingen mag, kann sich Edvard Kardeljs Theorie des Pluralismus von selbstverwalteten Interessen hier als hilfreich erweisen.29 Es geht nicht bloß darum, dass es heute immer schwerer wird, eine Verbreitung des demokratischen Prinzips auf das Gebiet der wirtschaftlichen Tätigkeit weiter zu verhindern. Es sei erneut bemerkt, dass es „nicht zweierlei Gewissen“ geben kann, ein politisches und ein davon dem Gehalt und Inhalt nach verschiedenes ökonomisches. Man kann also mit Zuversicht davon ausgehen, dass sich in einer absehbaren Zeit die ökonomische Demokratie allgemein durchsetzen wird. Dazu sollte man sich aber auch daran erinnern, dass Kardelj in zwei Schlüsselbereichen eigentlich die Geste Hegels wiederholte: Obwohl er den Unterschied zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat anerkannte, versuchte er zugleich die direkte Einbeziehung von gesellschaftlichen Strukturen in den politischen Staat zu ermöglichen; und er versuchte den Prozess der politischen Willensbildung wie auch die Vermittlung von Konflikten ausdrücklich nach einem Modell zu verstehen, das sonst in den Bereichen der Wissenschaft und Kultur gilt. Vielleicht wäre dies eine denkbare Richtung für die neumoderne Politik des Allgemeinen heute.

29 Für eine nähere Darstellung s. Kardelj, Edvard, Die Wege der Demokratie in der sozialistischen Gesellschaft, Europäische Verlagsanstalt, Köln 1979; Die Selbstverwaltung und das politische System, Sozialistische Theorie und Praxis, Belgrad 1981.

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Die Institutionalität der Sittlichkeit Jean-François Kervégan Die Problematik des Institutionalismus im Denken Hegels ist ein Gegenstand heftiger Debatten, insbesondere seitdem Dieter Henrich sie ins Zentrum seiner Deutung der Lehre des objektiven Geistes gestellt hat.1 Obwohl eine breite Übereinstimmung über die Bedeutsamkeit der institutionellen Grundlagen der praktischen Rationalität, daher über Hegels Konzeption einer „Sozialität der Vernunft“ herrscht, bin ich der Meinung, dass die ganze Diskussion meistens auf einem zu engen Begriff der Institution beruht, der mit der üblichen Vorstellung ‚großer‘ Institutionen wie Staat, Kirche, Universität, usw., zusammenhängt. Wenn wir nun die Beiträge der sogenannten ‚institutionalistischen‘ Theoretiker berücksichtigen, die meistens Fachjuristen sind oder waren, haben wir es mit einem breiteren und flexibleren Begriff der Institution zu tun. Das Ziel dieses Beitrags ist, die Bedeutung und Tragweite des sogenannten Institutionalismus Hegels aufgrund einer erweiterten und komplexeren Auffassung der Institution zu erörtern.

Institution: was ist das?

Ich möchte folgende, rein stipulative Definition einer Institution vorschlagen: Eine Institution ist ein normatives System, das die Handlungen und Vorstellungen von Individuen oder Gruppen dauerhaft und voraussehbar reguliert, denen es auf formeller oder informeller Weise einen Status, bzw. eine Rolle zuweist. Diese Handlungen sind selbst auf ein gewisses Ziel (oder mit den Worten des französischen Juristen Maurice Hauriou: eine „leitende Idee“) ausgerichtet, welches in dem Sinne objektiv bestimmt ist, dass es von den 1 Henrich, Dieter, „Einleitung des Herausgebers: Vernunft in Verwirklichung“, in Hegels Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, hrsg. von Dieter Henrich, Frankfurt 1983, S.  30-38. – Für eine aktuelle Behandlung der Frage, siehe u. a. Kervégan, Jean-François, Die verwirklichte Vernunft. Hegels Begriff des objektiven Geistes, übersetzt von B.  Schwibs, Frankfurt/M., 2018, S.  317-320 u. 374-378; Pinkard, Terry, Hegel’s Phenomenology: the Sociality of Reason, Cambridge, 1994, S. 269-343; Pippin, Robert B., Hegel’s Practical Philosophy, Cambridge, 2008, S. 239-272; Zabel, Benno, “The institutional Turn in Hegel’s Philosophy of Right”, in: Hegel Bulletin 31 (2015), p.  80-104. A contrario, für eine Kritik der „Überinstitutionalisierung“ der Hegelschen Auffassung der Sittlichkeit, siehe Honneth, Axel, Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie. Stuttgart 2001, S. 102-127.

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Vorstellungen und Erwartungen der betroffenen Individuen, bzw. Gruppen relativ unabhängig ist. Eine Institution kann, aber muss nicht nach expliziten Regeln (oder nach „regulative rules“ im Sinne von John Searle2) organisiert werden; im Gegensatz zu den „brute facts“ ist ihr Ursprung nicht in einer natürlichen Begebenheit zu finden, sondern in einer „constitutive rule“, das heißt in einer sozial bestimmten Regel.3 Diese Regel kann eine wirkliche (wenn die Institution durch einen sozialen Akt explizit gestiftet wird) oder eine mythische sein (wenn ihr Ursprung zu einer nicht menschlichen Autorität zugeschrieben wird); sie kann auch das Ergebnis der Leistungen weiterer Institutionen sein. Unter bestimmten Umständen kann eine Institution einen quasi individuellen Charakter erlangen, und daher gewisse an die Individualität zugewiesenen Eigenschaften, wie ‚Persönlichkeit‘ oder ‚Wille‘, besitzen; in diesem Fall hat man mit Haurious Worten mit „institutions-personnes“ zu tun, die er von den „institutions-choses“ unterscheidet.4 Die institutions-choses, wie z. B. Eigentum, Vertrag oder Ehe, haben eine nur objektive Individualität, während in den institutions-personnes die Individualität sich „zur subjektiven Ebene erhebt“, so dass die Institution nun eine „moralische“ („personnalité morale“), besser gesagt rechtliche Persönlichkeit besitzt. Wichtig ist, Institution und personifizierte Institution klar zu unterscheiden, damit man nicht die „subjektive“ Dimension der Personalität auf Kosten der grundlegenden Objektivität jeder Art von Institution einseitig bevorzugt. Versuchen wir, die bereits erwähnten Bestimmungen der Institutionen näher zu erläutern. 1/ Institutionen haben stets normative Wirkungen, wenn nicht ein normatives Vorhaben: Sie verschreiben, verbieten oder erlauben de facto verschiedene Handlungsklassen, die als gut, schädlich oder akzeptabel angesehen werden. Mit anderen Worten veranstalten sie ein ‚Sollen‘. 2/ Eine Institution ist eine verkörperte Idee; sie ist, so Hauriou, „die Idee einer in einem bestimmten sozialen Gebilde auszuführenden Aufgabe“.5 Diese Idee aber hat eine „objektive Natur“, das heißt: sie ist nicht die Idee, die jemand oder ein 2 Searle, John R., The construction of Social Reality, New York, 1995, S. 27-28. Searle bemerkt, dass eine ähnliche Unterscheidung in Rawls, John, “Two Concepts of Rules”, in: Philosophical Revue 64 (1955), eingeführt worden ist. 3 Searle, The construction of Social Reality, zit., S. 44-5. Der Begriff von brute fact wurde von G. E. M. Anscombe formuliert: Anscombe, Gertrude E. M., “On Brute Facts”, in: Analysis 18-1 (1958), pp. 69-72. 1958 eingeführt; Anscombe selbst benutzt nicht die Wendung „institutional facts“, im Gegensatz zu den „brute facts“ erwähnt sie Begebenheiten „in the context of institutions“. 4 Hauriou, Maurice, “La théorie de l’institution et de la fondation” (1933), in M. Hauriou, Aux sources du droit: le pouvoir, l’ordre, la liberté, Caen: Presses Universitaires de Caen, 1986, S. 96-97. 5 Hauriou, “La théorie de l’institution et de la fondation”, S. 98.

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Gremien ermächtigter Personen hat, sondern eine solche, die eine Existenz per se hat; eine solche institutionalisierte Idee hat, so Durkheim, „ihre eigene, von ihren individuellen Manifestationen unabhängige Existenz“.6 3/ Ein weiteres Merkmal einer Institution ist ihr dauerhafter Charakter. Im Allgemeinen ist ihr Ursprung in der Tiefe der Vergangenheit verborgen; in traditionellen Gesellschaften ist er in der Sprache des Mythos und in den Riten dargestellt, wodurch sie ihre Identität verstärken und ihre wesentlichen Institutionen sakralisieren, wie Hegel es betont.7 Eine Institution ist kein willkürlich ‚Gemachtes‘; sie scheint sozusagen immer da gewesen zu sein. 4/ Die im Rahmen einer Institution durchgeführten Handlungen sind ritualisiert, wie man es z. B. im ältesten römischen Recht sehen kann, worin die Gültigkeit eines rechtlichen Akts vom Aussprechen gewisser Formeln abhängig war. Diese Handlungen sind, wie Hauriou sagt, „prozedurale Operationen“ (opérations à procédure).8 Dieser prozedurale Charakter macht die Fiktion hinfällig, dass eine Absicht hinter jedem Akt, insbesondere hinter jedem kollektiven Akt, liegt. In der Tat ist eine solche Operation in einer Institution integriert, die unabhängig von den Absichten der Handelnden ihren Sinn und ihre Bedeutung bestimmt; Hauriou nennt diese Struktureigenschaft der prozeduralen Operationen „adhésion au fait“ (Festhalten an der Faktizität).9 Als zur Natur gewordene Kultur gehören die sozialen Institutionen zur „zweiten Natur“ im Sinne Hegels:10 Ihr Bestehen ist die implizite, meistens unsichtbare Voraussetzung irgendeiner sinnvollen sozialen Handlung. Mit Haurious Worten (der sich jedoch als Nicht-Hegelianer erklärte!) ist die Institution eine in jedem Einzelnen refraktierte „objektive Seele“ (âme objective).11 „In die Dinge um uns herum eingebunden“, ist sie eine Idee, die zur Sache wird. Wir können also feststellen, dass der „institutionalistische“ Begriff der Institution und Hegels Begriff des objektiven Geistes, das heißt eines in den Sitten und Praktiken von Menschen eher als in ihrem Bewusstsein eingefügten Geistes, ineinandergreifen. Ein solcher, sich durch eine kollektive Seins-, Sprechens- und Handelnsweise ausdrückender Geist ist,

6 7

8 9 10 11

Durkheim, Émile, Les règles de la méthode sociologique (1895), Paris, 1999, S. 14. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 203 Anm., in: Hegel, G. W. F., Gesammelte Werke, Band 14-1, Hamburg, 2009, S. 171. Über die geschichtliche Bedeutung des Ritus, siehe Habermas, Jürgen, Nachmetaphysisches Denken II, Berlin, 2012, S. 77-95. Hauriou, Maurice, Principes de droit public, 2. Aufl., Paris, 1916, S. 137. Hauriou, M., Principes de droit public, 2. Aufl., zit., S. 138. Siehe Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, zit;, § 4, S. 31; § 151, S. 141. Hauriou, M., “La théorie de l’institution et de la fondation”, zit., S. 108.

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so Hegel, nicht so sehr das, was Menschen im Kopf haben, als vielmehr das, was sie sind.12 Wie steht es nun insbesondere mit den rechtlichen Institutionen? Betrachten wir zum Beispiel Friedrich Carl von Savignys Begriff des Rechtsinstituts, den er vom Begriff einer Institution unterscheidet; im Großen und Ganzen kann man sagen, dass Savignys „Rechtsinstitut“ und Haurious „institution-chose“ miteinander übereinstimmen, sowie Savignys „Institution“ und Haurious „institution-personne“. Am Anfang seines massiven Systems des heutigen römischen Rechts (erster Band, 1840), definiert Savigny, Hegels Zeitgenosse, Kollege und Gegner, die Schlüsselbegriffe von Rechtsverhältnis und Rechtsinstitut. Das Rechtsverhältnis, das die rechtliche Grundstruktur ist, ist „organischer“ Natur; dies bedeutet, dass es ein Teil einer funktionell koordinierten Gesamtheit ist. Dieser Begriff selbst ist mit dem noch gründlicheren Begriff des Rechtsinstituts, zum Beispiel des Eigentums, verknüpft. Savigny erklärt folgendes: „In der Tat steht jedes Rechtsverhältnis unter einem entsprechenden Rechtsinstitut als seinem Typus, und von diesem auf gleiche Weise beherrscht wird, wie das einzelne Rechtsurteil von der Rechtsregel.“13

Daher ergibt sich die folgende Definition des Rechts: Recht ist das System der Rechtsinstitute, das in jedem gegebenen Rechtsverhältnis die Zuteilung von subjektiven Rechten erlaubt. Nach Savigny ist die typische Eigenschaft der Rechtsinstitute und des Rechtssystems selbst, dass sie keinen faktisch bestimmbaren Ursprung haben: das Recht setzt sich stets voraus. Nebenbei kann bemerkt werden, dass solche Rechtsauffassung Heideggers und Gadamers Begriff des hermeneutischen Zirkels vorwegnimmt.14 Als ein System der Rechtsinstitute hat das Recht eine dynamische Kreisstruktur, die jedwede Suche nach einem vermeinten Ursprung unmöglich macht; die Rechtsinstitute und -Institutionen sollen als immer schon da betrachtet werden, obwohl dies selbstverständlich faktisch unrichtig ist. Im Allgemeinen versuchen die institutionalistischen Rechtstheorien (die sich selbst unter „stärkeren“ und „schwächeren“ Varianten unterteilen lassen), die üblichen Alternativen zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus und 12

Hegel,  G.  W. F., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830),  § 482, in: Hegel, G. W. F., Gesammelte Werke, Band 20, Hamburg 1992, S. 477: “die Wirklichkeit der Menschen, nicht die sie darum haben, sondern sie sind.” 13 Savigny, Friedrich Carl von, System des heutigen römischen Rechts, Band 1, Berlin, 1840, S. 9-10. 14 Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen, 1993, §§ 32 u. 63, S. 148 u. 310; Gadamer, Hans Georg, Wahrheit und Methode, Tübingen, 2004, S. 267 ff.

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zwischen Objektivismus (Vorrang des objektiven Rechts, law) und Subjektivismus (Vorrang der subjektiven Rechte, rights) zu überwinden. Meiner Meinung nach ist es genau das eigene Ziel der Hegelschen Lehre vom objektiven Geist, und insbesondere seiner Theorie der Sittlichkeit, die ich als eine institutionelle Theorie des Zusammenlebens grob beschreiben würde.

Sittlichkeit: was ist das?

Es steht außer Frage, dass Hegels Lehre des objektiven Geistes den Institutionen eine Hauptrolle zuteilt. Darf man sie jedoch als einen ‚Institutionalismus‘ beschreiben, und gegebenenfalls welcher Art? Wie ist diese Charakterisierung auf die Theorie der Sittlichkeit anwendbar? Was bedeutet es für die darin wirkende Art von Normativität? Was Hegels Begriff der Sittlichkeit anbelangt, muss eine naheliegende Verwechslung unbedingt vermeidet werden. Die Sittlichkeit ist kein ‚Teil‘ des objektiven Geistes, der neben anderen ‚Teilen‘, abstraktem Recht und Moralität, liegen würde. In der Tat entspricht allein die Sittlichkeit, als „die selbstbewusste Freiheit zur Natur geworden“,15 der vollständigen Definition des objektiven Geistes als „einer Welt, in welcher die Freiheit als vorhandene Notwendigkeit ist“;16 sie ist „die Vollendung des objektiven Geistes“, weil sie die einseitige Objektivität des abstrakten Rechts und die einseitige Subjektivität des moralischen Standpunkts aufhebt. Die Sittlichkeit ist eine von einzelnen Subjekten erlebte soziale Welt; die Identität jener Subjekte wird ihrerseits durch ihre aktive Beteiligung an den institutionellen sittlichen Gebilden (z. B.  der  Familie, der Korporation, der Gemeinde, der Kirche) erstellt und bekräftigt. Umgekehrt sind diese Gebilde durch die Handlungskapazität (agency) jener Subjekte und dank ihrer inneren sittlichen Gesinnungen erst wirksam.17 Deswegen kann man sagen, dass die Sittlichkeit mit der Gesamtheit des objektiven Geistes übereinstimmt. Abstraktes Recht und Moralität sind keine abtrennbaren Komponenten desselben, sondern vielmehr dessen abstrakte, aus einer gedanklichen Zergliederung herkommende ‚Momente‘. Selbstverständlich sind Recht und Moralität keine bloßen Gedankendinge. Sie sind jedoch deshalb abstrakt, weil die Verwirklichung ihres Begriffs Faktoren 15

Hegel, G. W. F., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, zit., § 513, S. 495. 16 Hegel, G. W. F., Enzyklopädie, zit., § 385, S. 383. 17 Über den Begriff der sittlichen Gesinnung, siehe Hegel, Grundlinien, zit.,  § 137 Anm., S. 120; § 166, S. 149; § 171, S. 151; § 207, S. 173. – Über die politische Gesinnung, siehe Hegel, Grundlinien, zit., § 268, S. 211-12.

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voraussetzt, die außerhalb ihres eigenen Bereichs liegen und von ihrem jeweiligen Prinzip unabhängig sind. Die Verwirklichung der rechtlichen Vorschriften ist nicht bloß rechtlicher, sondern sozialer und politischer Art; die Realisierung moralischer Zwecke setzt voraus, dass den abstrakt-moralischen Normen eine ‚sittliche‘ (das heißt institutionelle) Objektivität verliehen wird. Dies bedeutet keineswegs, dass in der sittlichen Sphäre die typischen Formen der abstrakt-rechtlichen und der moralischen Verhältnisse (rechtliches Verhältnis von Personen zu Personen und Sachen; moralisches Verhältnis des handelnden Subjekts zu Normen und zu anderen Subjekten) ganz und gar verschwunden wären. Im Gegenteil finden sie innerhalb der sittlichen Gestaltungen (Familie, Stände, Korporationen, usw.) institutionelle Garantien ihrer eigenen Wirklichkeit. Hegel gibt folgende Definition der Sittlichkeit: „Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewusstsein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit, so wie dieses an dem sittlichen Sein seine an und für sich seiende Grundlage und bewegenden Zweck hat, – der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewusstseins gewordene Begriff der Freiheit.“18

Versuchen wir, diese Definition der Sittlichkeit zu umschreiben. Die Sittlichkeit ist eine objektive sowie subjektive dynamische Realität (besser gesagt, Wirklichkeit). In einer sozialen, politischen und geschichtlichen Welt eingerahmt, haben die sittlichen Verhältnisse einen primär objektiven Charakter: „die sittlichen Mächte, welche das Leben der Individuen regieren“, bilden auf den ersten Blick einen „Kreis der Notwendigkeit“.19 Aber die Individuen sind keine bloßen „Akzidenzen“ der „sittlichen Substanz“, obwohl Hegel selbst zu dieser Terminologie manchmal greift, denn das System objektiver Bestimmungen, worin ihr Handeln eingerahmt ist, ist für sie eine erlebte Erfahrungswelt; die sittliche Welt der Handlungsnormen hat erst Wirklichkeit, wenn sie für die Individuen „Objekt des Wissens“, oder wenigstens des „Glaubens“ und des „Zutrauens“ ist.20 Die Sittlichkeit beinhaltet also, trotz ihrer quasi-materiellen Objektivität, eine unentbehrliche subjektive Dimension. Im Gegensatz zu den Naturgesetzen sind die sittlichen expliziten und impliziten Normen „dem Subjekte nicht ein Fremdes“: sie sind erst durch die manchmal vage Vorstellung wirksam, die die Individuen davon haben, und ihre Geltung hängt von deren

18 Hegel, Grundlinien, zit., § 142, S. 137. 19 Hegel, Grundlinien, zit., § 145, S. 137-8. 20 Hegel, Grundlinien, zit., § 146-7, S. 138.

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praktischer Einwilligung und Anerkennung ab, die als ein „Zeugnis des Geistes“ betrachtet werden soll.21 Der Zusammenhang zwischen dem Individuum und den objektiven normativen Strukturen der Sittlichkeit ist also doppelseitig. Einerseits sind „die sittliche Substanz, ihre Gesetze und Gewalten“, für die Individuen unverfügbar; unter diesem Gesichtspunkt haben sie „eine absolute, unendlich festere Autorität und Macht, als das Sein der Natur“.22 Andererseits setzt die Geltung der sittlichen Normen voraus, dass die Individuen diese Geltung anerkennen, dass sie sie als ihr „eigenes Wesen“ wahrnehmen.23 Kurz gesagt, „das Sittliche ist die wirkliche Lebendigkeit des Selbstbewusstseins“.24 Die Beziehung der Einzelnen zu den Bedingungen und Normen ihres Handelns, die im Fall der subjektiven Zustimmung zur moralischen Norm des Guten kontingent ist, wird bei der Befolgung sittlicher Normen völlig internalisiert. Als „allgemeine Handlungsweise“ der Individuen erscheint die Sitte, das heißt eine von allgemeinen Normen objektiv geregelte Praxis, als eine „zweite Natur“.25 Wir dürfen also behaupten, dass die entscheidende Rolle der Subjektivität in der Ökonomie des objektiven Geistes erst innerhalb der komplexen sittlichen Verhältnisse völlig erkennbar wird. Die Subjektivität ist nunmehr nicht nur der bloße „Boden der Existenz für den Freiheitsbegriff“; sie ist vielmehr „die ihm adäquate Existenz“.26 Mit anderen Worten entspricht erst auf der sittlichen Ebene der objektive Geist seinem Begriff, insofern die sittliche Subjektivität (welche das „wahrhafte [moralische] Gewissen“ ist27) den Vorrang der objektiven Normativität faktisch anerkennt und der Relativierung (aber nicht der Beseitigung) ihrer partikulären Erwartungen und Normenvorstellungen zustimmt. Im objektiven Geist werden die normativen Inhalte durch die subjektive Zustimmung bestätigt, aber nicht begründet. Das Objektiv-Sittliche bleibt, bewusst oder nicht, die ‚Substanz‘ der subjektiven Stellungnahmen, deshalb ist es von ihnen vorausgesetzt. Wie schon erwähnt beschreibt Hegel den normativen Hintergrund der sittlichen Handlung mit dem von Aristoteles entliehenen Ausdruck „zweite Natur“.28 Als solche ist die Sittlichkeit von der ersten, 21 22 23 24 25 26 27 28

Hegel, Grundlinien, zit., § 147, S. 138. Hegel, Grundlinien, zit., § 146, S. 138. Hegel, Grundlinien, zit., § 147, S. 138. Hegel, Grundlinien, zit., § 147 Anm., S. 138. Hegel, Grundlinien, zit., § 151, S. 141. Hegel, Grundlinien, zit., § 152, S. 142. Hegel, Grundlinien, zit., § 137, S. 120. Hegel, Grundlinien, zit., § 4 and 151, S. 31 und 141; Hegel, Enzyklopädie, zit., § 410, S. 416. – Über Hegels Auffassung der zweiten Natur, siehe u. a. in der neuesten Literatur Testa,

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‚äußeren‘ Natur (die unsere leibliche und geistige Verfassung einschließt) radikal unterschieden, weil sie kein Reich der Notwendigkeit, sondern der Freiheit verkörpert. Jedoch bleibt die zweite Natur, wenigstens wie sie auf den ersten Blick aussieht, eine Natur: die ‚Sprache‘, die sie spricht, bleibt diejenige der Notwendigkeit. Obwohl die sittlichen Normen dem Einzelnen es möglich machen, sich in einer auf den ersten Blick fremden Umwelt zu orientieren, sind sie als solche nicht direkt wahrgenommen, insbesondere seitdem die Individuen sich von den vorigen religiösen und politischen Einschränkungen und Nötigungen befreit haben. Der Zugang des Individuums zur wirklichen (sittlichpolitischen) Freiheit setzt eine Bildung, eine „harte Arbeit“ der Erziehung zum Allgemeinen voraus,29 die sich gegen seine unmittelbare (‚erste‘) Natur und die damit zusammenhängende Vorstellung der Freiheit durchsetzen soll. Deswegen widersteht manchmal das Individuum einer objektiven Befreiung, die ihm als eine äußere Gewalttätigkeit erscheinen mag. Im objektiven Geist bleibt also die Versöhnung von objektiver und subjektiver Dimension manchmal bloß objektiv. Aus diesem Grund scheinen die Pflichten, insbesondere im staatlich-politischen Bereich, einen Vorrang über die subjektiven Rechte zu haben, obgleich beide ein prinzipiell gleiches normatives Gewicht haben und vom spekulativen Standpunkt identisch sind.30

Die sittliche Tugend der Institution

Bei Hegel sind die „sittliche“ und die „politische“ Gesinnung der Individuen eher als eine vertrauensvolle, manchmal naive Zustimmung zu den staatlichen Gesetzen und sozialen Normen als eine ‚Kant’sche‘ Selbstbestimmung nach einem Universalisierungsprinzip konzipiert.31 Die echte Sittlichkeit hängt also nicht primär vom ausgezeichneten Verhalten der Individuen, sondern eher von der Tatsache ab, dass sie „Bürger eines Staats von guten Gesetzen“ sind.32 Die Geltung der ‚sittlichen Naturgesetze‘ setzt dennoch etwas anderes als Italo, “Second Nature and Recognition. Hegel and the Social Space”, in: Critical Horizons, 10-3 (2009), S.  341-370; Quante, Michael, Die Wirklichkeit des Geistes. Studien zu Hegel, Berlin 2011, S. 116-139; Pinkard, Terry, Hegel’s Naturalism. Mind, Nature, and the Final Ends of Life, Oxford, 2012, S. 98 ff. u. 183 ff.; Ranchio, Filippo, Dimensionen der zweiten Natur. Hegels praktische Philosophie, Hamburg, 2016; Khurana, Thomas, Das Leben der Freiheit. Form und Wirklichkeit der Autonomie, Berlin, 2017; Menke, Christoph, Autonomie und Befreiung. Studien zu Hegel, Berlin, 2018, S. 119-148. 29 Hegel, Grundlinien, zit., § 187 Anm., S. 163. 30 Hegel, Grundlinien, zit., § 261, S. 208-210. 31 Siehe Hegel, Grundlinien, zit., § 137, S. 119-120; § 207, S. 173-174; § 267-8, S. 211-212. 32 Hegel, Grundlinien, zit., § 153 Anm., S. 142.

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eine passive Zustimmung voraus: auch in sittlicher, d.h. ‚übermoralischer‘ Perspektive behält die individuelle Freiheit, die sich selbst eher als moralischsubjektive Autonomie versteht, ihre Rechte; vielmehr erhält sie erst im sittlichen Kontext ihre volle Bedeutung. Weil die Menschen die „Unschuld der Pflanze“ nicht genießen,33 soll die sittliche „zweite Natur“ vom subjektiven Bewusstsein als seine eigene Natur nach und nach anerkannt werden, was eine mühsame Bildung der Subjektivität voraussetzt. Eine Vermittlung zwischen objektiven Normen und subjektivem Bewusstsein, sowie zwischen Rechten und Pflichten der sittlichen Subjekte, muss nun erfunden werden. Diese Vermittlung erfolgt im Rahmen der verschiedenen Unterstrukturen der sittlichen Sphäre, deren gemeinsames Merkmal darin liegt, das sie Institutionen sind. Die sittlichen (das heißt Familie-, gesellschaftlichen, politischen) Institutionen setzen die „Macht des Vernünftigen in der Notwendigkeit“ um:34 dies bedeutet, dass sie den erfolgreichen Zusammenhang des individuellen Strebens und des Gemeinwohls gewährleisten. Indem sie mit Charles Taylors Worten „common meanings“ auslösen,35 erzeugen die Institutionen auf einmal individuelle Subjektivität und soziale Objektivität. Sie sind nicht ‚künstlich‘, sie sind kein Produkt eines bewussten Vorhabens, sondern vielmehr das, was Hauriou „des couches géologiques“ (geologische Schichten) nennt: sie bilden sozusagen eine archaische Grundlage, worauf Sitten, Glauben, Normen und Praktiken beruhen.36 Ihre (zwar revidierbare) Selbstverständlichkeit entsteht daraus, dass sie von den alltäglichen Akten der Individuen vorausgesetzt sind, denen sie einen sinnvollen Horizont verschaffen. So verstanden sind die Institutionen quasi-Dinge, die die Einrichtung einer ‚natürlichen‘ (in der Tat: sozialen) Lebenswelt ausmachen. Selbstverständlich sind sie dennoch keine materiellen Dinge, sondern rein symbolische Verhältnisse, die die Wahrnehmung, das Reden und das Handeln von Subjekten strukturieren, welche genau dadurch zur individualisierten Subjektivität gelangen, dass sie sich an die verschiedenen ‚Riten‘ anpassen, die die Zugehörigkeit zu diesen Institutionen kennzeichnen. Die Kohärenz der Hegelschen Lehre der Sittlichkeit rührt hauptsächlich von ihren institutionellen Prämissen her. Über ihre scheinbare Heterogenität hinaus ist sie ein Versuch, die institutionelle Verwurzelung der individuellen 33 Hegel, Enzyklopädie, zit., § 248, S. 238. 34 Hegel, Grundlinien, zit., § 263, S. 210. 35 Taylor, Charles, “Interpretation and the Sciences of Man”, in: Taylor, C., Philosophy and Human Sciences. Philosophical Papers 2. Cambridge, 1985, S. 39. Taylor unterscheidet sorgfältig „shared meanings“ und „common meanings“: die ersteren gehören zur ‚atomistischen‘, die zweiten zur ‚holistischen‘ Betrachtungsweise des Sozialen. 36 Hauriou, Maurice, Principes de droit public, erste Aufl. (1910), Paris 2010, S. 168-169.

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sowie kollektiven Praktiken und Vorstellungen ins Licht zu bringen, während das abstrakte Recht und die Moralität sie zu abstrakten operativen Schemen reduzieren: Formen der Erwerbung, der Übertragung und des Verlustes von subjektiven Rechten einerseits; moralische Zurechnung von Handlungen nach einem normativen pattern andererseits. Solche institutionelle Verwurzelung ist nicht nur im staatlich-politischen Bereich feststellbar, dessen „dicke“ Institutionen und Gesetze den „gedachten Willen“ ausmachen;37 sie ist schon in der Familie (Ehe, Abstammung, Erbschaft) sowie in der bürgerlichen Gesellschaft (Marktordnung, Justiz, Korporationen) operativ. Familien-, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse von Individuen oder Klassen von Individuen („Stände“) bilden einen entpolitisierten institutionalisierten Raum, der „die Verfassung, d. i. die entwickelte und verwirklichte Vernünftigkeit, im Besonderen“ ausmacht.38 Zuerst durch diese sozialen Institutionen, und zweitrangig dank den eigentlichen politischen Institutionen sind die Individuen imstande, ohne prinzipieller Entfremdung eine universelle Regulierung zu befolgen. Unter diesem Gesichtspunkt bildet Hegels Theorie der Sittlichkeit eine Art von „gesellschaftlichem Konstitutionalismus“ im Sinne von Gunther Teubner.39 Wie auch immer gibt es bekanntlich verschiedene Typen des Institutionalismus, die sich durch die Art unterscheiden, wie sie das Verhältnis von Individuum und Institution vorstellen. Dieter Henrich hat die Meinung vertreten, dass Hegels Theorie des objektiven Geistes ein starker Institutionalismus ist, denn sie lehrt, dass sich die Freiheit des einzelnen Willens nur in einer Ordnung verwirklichen kann, die als objektiver selbst die Form des vernünftigen Willens hat und die insofern den einzelnen Willen ganz in sich einbegreift und unter ihre eigenen Bedingungen, wie immer ohne Entfremdung, subsumiert.40 Ich stimme mit dieser Darstellung nicht völlig überein. Ich würde eher sagen, dass diese Theorie einen schwachen Institutionalismus deshalb vertritt, weil sie gewisse vorpolitische Institutionen wie Familie und Korporation als die „feste Basis“ des Staates und der eigentlich politischen Institutionen betrachtet.41 Wie schon gesagt versuchen die verschiedenen Typen des Institutionalismus, den Gegensatz zwischen „objektivistischer“ und „subjektivistischer“ Sicht der sozialen Phänomene zu überwinden. Hegels Auffassung der Sittlichkeit verfolgt 37 Hegel, Grundlinien, zit., § 256 Anm., S. 200. 38 Hegel, Grundlinien, zit., § 265, S. 211. 39 Siehe Teubner, Gunther, Verfassungsfragmente. Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung, Berlin, 2012. 40 D.  Henrich, „Einleitung des Herausgebers: Vernunft in Verwirklichung“, in Hegel 1983, S. 31. 41 Hegel, Grundlinien, zit., § 265, S. 211.

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unleugbar dieses Ziel, obgleich sie (nach Henrichs Deutung) den objektiven sittlichen Normen ein größeres Gewicht beimisst. Wenn man sie aber als ein schwacher Institutionalismus versteht, wird das Gleichgewicht zwischen den beiden Perspektiven wiederhergestellt.42 Hegels Konzeption der Institutionen räumt den subjektiven Gesinnungen und den objektiven normativen Strukturen der sittlichen Sphäre ein vergleichbares Gewicht ein. Die Staatsverfassung, zum Beispiel, ist keine bloße Liste normativer Bestimmungen; sie schreibt vielmehr die Dynamik um, nach welcher der Staat sich durch die Interaktion von den subjektiven Gesinnungen der Bürger und den Institutionen des öffentlichen Lebens konstituiert. Als „Organismus des Staates“ ist die Verfassung ein Prozess, „wodurch das Allgemeine sich fortwährend […] auf notwendige Weise hervorbringt, […] und sich erhält“.43 ‚Verfassung‘ bedeutet also die Art der Selbstinstitution einer politischen Gemeinschaft durch soziale Prozesse und normative Vorstellungen. Die politische Gesinnung, das heißt das politische Ethos des zum Staatsbürger werdenden ‚bourgeois‘ (= des Privatmenschen), ist sozusagen die subjektive Seite der Staatsverfassung, deren ‚Organismus‘ durch das „Zutrauen“ der Bürger genährt wird. Wir dürfen also nicht den Sinn der Institutionalismus Hegels missverstehen: Seine Theorie der Sittlichkeit bringt nicht notwendig eine einseitige Unterwerfung des subjektiven Willens unter einen objektiven Willen mit sich, welcher in unverfügbaren, ‚schweren‘ Institutionen eingewurzelt wäre, obwohl Hegel sich als Institutionalist verweigert, die Strukturen der praktischen Subjektivität von ihrem ‚objektiven‘ Kontext abzutrennen. Dies regt uns an, die Konstitution der Individualität innerhalb der sittlichen Sphäre genauer zu beschreiben.

Die Institution der Individualität

Die von den Bedingungen des modernen sozialen und politischen Lebens erforderte autonome Handlungskapazität der Individuen setzt ein Netz institutioneller Zugehörigkeiten voraus; dennoch ergibt sie sich nicht mechanisch daraus. Subjektive Gesinnungen, Haltungen und Praktiken sind durch die Institutionen der Sittlichkeit umrahmt, aber nicht bestimmt, als ob sie deren bloßen ‚Überbau‘ wären. Hegels Theorie der sittlichen Verfassung der Subjektivität ist keine „Ideologietheorie“, wenigstens nach dem vereinfachten Verständnis davon, das der ordinäre Marxismus davon hat. Dies bedeutet, dass meine soziale und politische ‚Identität‘ aus meinen objektiven Eigenschaften nie 42 Siehe Kervégan 2019, S. 317-20. 43 Hegel, Grundlinien, zit., § 269, S. 212.

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einfach deduziert werden kann: ich kann auch ‚frei‘ sein (auch nach einer sehr knappen Definition der Freiheit), wenn ich die institutionelle Einwurzelung meiner und jeder anderen Identität übernehme. Rechtlich-soziale Freiheit heißt hier zuerst, mit Kants Worten aus der Rechtslehre, „Unabhängigkeit von eines Anderen nötigender Willkür“.44 Aber Freiheit hat schon bei Kant, und sicherlich auch bei Hegel, eine anspruchsvollere Bedeutung. Für Hegel ist „Freiheit […] eben dieß, in seinem Andern bei sich selbst zu seyn“.45 Dieser dialektischer Begriff der Freiheit gibt beispielsweise Rechenschaft davon, dass die soziale und politische Freiheit der Individuen aus der scheinbar äußerlichen kulturellen Imprägnierung sittlicher Normen hervorgeht, welche von den autopoietischen Institutionen verursacht und durch die entwicklungsfähigen Sitten und kollektiven Vorstellungen einer geschichtlichen Gemeinschaft ausgedrückt werden. Soziale und politische Freiheit besteht sicherlich nicht aus der passiven Akzeptanz der in den bestehenden Institutionen eingehüllten objektiven Einschränkungen, die übrigens einen handfesten Einfluss auf die individuellen Vorstellungen und Willensakten haben; manchmal, zum Beispiel anlässlich einer unentbehrlich gewordenen Umwälzung, bedeutet Freiheit auch, sich den Institutionen einer veralteten Sittlichkeit zu widersetzen. Der ‚Institutionalist‘ Hegel war auch dieser überzeugte Anhänger der Prinzipien von 1789, der in einem Brief proklamierte: „Ich halte mich daran, dass der Weltgeist der Zeit das Kommandowort zu avancieren gegeben [hat]“.46 Betrachten wir die verschiedenen Facetten der Individualität, wie sie in den Grundlinien der Philosophie des Rechts aufgezählt sind: die Rechtsperson, das moralische Subjekt, das Mitglied der Familie, den „Bürger (als bourgeois)“, das heißt den sozialen Akteur, endlich den Staatsbürger. Eine jede dieser Gestalten ist im institutionellen Kontext des objektiven Geistes eingefügt. Wenn wir nach üblichem Verständnis der ‚Aufhebung‘ diese Sequenz linear deuten, sind wir dazu geneigt, zu denken, dass jede dieser Gestalten die vorige ‚übertrifft‘, welche daher eher beseitigt als aufbewahrt wäre. Ich glaube dagegen, dass hier, wie im Allgemeinen bei Hegel,47 ‚Aufheben‘ eine Rückentwicklung zu dem, 44 Kant 1986, S. 47. 45 Hegel, Enzykl § 24 Zusatz 2, GW 23-3, S. 821. Siehe Hegel, Grundlinien, zit., § 187, S. 163: „Auf dieser Weise nur ist der Geist in dieser Äußerlichkeit als solcher einheimisch und bei sich“. 46 Hegel, Briefe von und an Hegel, hrsg. von J. Hoffmeister, Band 2, Hamburg 1969, S. 85-86. 47 Hegel 2005, S. 95: „Was sich aufhebt, wird dadurch nicht zu Nichts; […] ein Aufgehobenes ist ein Vermitteltes, es ist das Nichtseiende, aber als Resultat, das von einem Sein hervorgegangen ist; es hat daher die Bestimmtheit, aus der es herkommt, noch an sich. […] So ist das Aufgehobene zugleich ein zugleich Aufbewahrtes, das nur seine Unmittelbarkeit verloren hat, aber darum nicht vernichtet ist.“

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was zugrunde liegt, und nicht ein Fortschreiten zu dem, was den gegebenen Terminus widerlegt, bedeutet. Dies ist durch eine Stelle aus dem Kapitel über die absolute Idee in der Logik bestätigt: „Auf diese Weise ist es, dass jeder Schritt des Fortgangs im Weiterbestimmen, indem er von dem unbestimmten Anfang sich entfernt, auch eine Rückannäherung zu demselben ist, dass somit das, was zunächst als verschieden erscheinen mag, das rückwärtsgehende Begründen des Anfangs und das vorwärtsgehende Weiterbestimmen desselben, ineinander fällt und dasselbe ist.“48

Die Theorie der Sittlichkeit bietet in einem institutionellen Kontext eine Veranschaulichung jener „fortschreitenden-regressiven“ Struktur der logischen „Methode des Begriffs“. Im Einklang mit der Logik ist hier das „Ergebnis“ (der Staat) der „wahrhafte Grund“ der „im Gange des wissenschaftlichen Begriffs“ früher dargestellten Momente, und zwar der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft.49 Daher sind die politische Gestalt der Individualität (die Staatsbürgerschaft) und ihr subjektiver Ausdruck (die politische Gesinnung) auf einmal das logische „Ergebnis“ und der „wahrhafte Grund“ der soeben aufgelisteten vorangehenden Gestalten der Individualität. In der modernen (nachrevolutionären) Lage der funktionellen Differenzierung der ‚sozialen‘ Untersysteme (mit Hegels Terminologie: Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat), ist die politische Subjektivität oder das politische ethos („l’esprit de citoyenneté“) die Wirklichkeits-, doch nicht die Möglichkeitsbedingung der vorpolitischen Formen der subjektiven Individualität, weil sie sie von ihrer Abstraktion – sagen wir: Selbstbezüglichkeit – befreit oder befreien soll. Der moderne citoyen ist auch moralisches Subjekt, Rechtsperson, sozialer Akteur usw., und seine subjektive ‚Verfassung‘ garantiert die Wirklichkeit dieser Gestalten und ihrer jeweiligen ‚Geister‘. Woher aber entsteht dieses moderne politische ethos selbst, und was bereitet ihm die Kapazität, die weiteren Arten sittlicher Gesinnung wirksam zu machen? Hegels Antwort dazu ist, dass die politische Gesinnung von den „im Staate bestehenden Institutionen“ erzeugt wird.50 Wir verstehen sofort, aber teilweise unrichtig, dass die politische Subjektivität aus der Teilnahme der Bürger am Leben der politischen Institutionen, z. B. an den Wahlen und bei der Teilnahme an einer staatlichen Anstalt herkommt. Ich bin jedoch der Meinung, dass der Vorsatz Hegels ein anderer ist; tatsächlich sind die staatlichen Institutionen (repräsentative Körperschaften, Regierungsbürokratie, 48 Hegel 1981, S. 251. 49 Hegel, Grundlinien, zit., § 256 Anm., S. 199. 50 Hegel, Grundlinien, zit., § 268, S. 211.

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usw.) im Gang der Argumentation der Grundlinien noch nicht erwähnt worden. Die „im Staate bestehenden Institutionen“ sind also nicht primär die eigentlich politischen Institutionen, sondern vielmehr die früher betrachteten Institutionen der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft, welche die „sittliche Wurzel“ nicht nur des Staates, sondern auch der subjektiven Verfassung seiner Bürger sind.51 Wir haben hier also zu einem rekursiven Schema zu tun. Die Beteiligung an gewissen sozialen (sowie politischen) Institutionen fördert die Bildung des politischen ethos (des alltäglichen Patriotismus), der im Gegenzug die ‚sozialen‘ Gesinnungen nährt, die für eine gute Leistungsfähigkeit der ‚partiellen‘ sittlichen Institutionen wie Ehe, Markt oder Korporation erforderlich sind. Hegel beschreibt das Verhältnis vom „Korporationsgeist“ und „Geist des Staates“ auf folgender Weise: „Der Korporationsgeist, der sich in der Berechtigung der besonderen Sphären erzeugt, schlägt in sich selbst zugleich in den Geist des Staats um, indem er an dem Staate das Mittel der Erhaltung der besonderen Zwecke hat. Dies ist das Geheimnis des Patriotismus der Bürger nach dieser Seite, dass sie den Staat als ihre Substanz wissen, weil er ihre besonderen Sphären, deren Berechtigung und Autorität wie deren Wohlfahrt, erhält. In dem Korporationsgeist, da er die Einwurzelung des Besonderen in das Allgemeine unmittelbar enthält, ist insofern die Tiefe und die Stärke des Staates, die er in der Gesinnung hat.“52

In seiner Heidelberger Vorlesung über „Naturrecht und Staatswissenschaft“ erklärte Hegel (nach der Wannenmann-Nachschrift) folgendes: „Der allgemeine Patriotismus wird gebildet dadurch, dass die allgemeine Freiheit durch die Besonderung wird. Der allgemeine Patriotismus muss vorhanden sein, aber durch den esprit de corps werden.“53

Hier vertritt Hegel die gegenteilige Auffassung davon, was er in einem Berner Fragment aus 1794 schrieb. Damals erklärte er, dass der „esprit de corps“ den „Geist des Ganzen“ gefährdet, oder sogar zerstört hat, der in einer „Gemeine, die gemeinschaftlich, in dem nämlichen Sinn einmütig vor die Altäre ihrer Götter tritt“, früher herrschte.54 Diese Urteilsumkehrung kann durch die institutionelle Wende des Hegelschen Denkens erklärt werden. Während der Berner Hegel die Individualität und ihre Interessen als einen gefährlichen Faktor der Auflösung der polis betrachtete, ist der Berliner Hegel überzeugt, dass die 51 52 53 54

Hegel, Grundlinien, zit., § 255, S. 199. Hegel, Grundlinien, zit., § 289 Anm., S. 242. Hegel 2013, § 132, p. 160. Hegel 1989, p. 125.

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partikulären Institutionen der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur die Entwicklung des „Geistes des Ganzen“ nicht gefährden, sondern dass sie diese Entwicklung fördern. Institutionen sind eine wesentliche Komponente der Sozialität der Vernunft (so Terry Pinkard), indem sie Erzeuger von Individualität und Subjektivität sind; daher sind sie erstrangige Wirklichkeitsbedingungen einer subjektiven sowie objektiven Freiheit.

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Hegel über internationale Beziehungen und internationales Recht Jochen Bung Will man sich mit Hegels Verhältnis zum internationalen Recht befassen1, ist der erste Eindruck, dass es hier um einen Gegenstand geht, dem in der Gesamtanlage der Hegelschen Rechtsphilosophie ein recht übersichtlicher Platz eingeräumt ist. Verwendet man die Grundlinien als zentralen Bezugstext2, ist der Umfang jener Passagen, die sich zu Aspekten des Verhältnisses der Staaten untereinander und zum internationalen Recht äußern, vergleichsweise gering. Von verstreuten einzelnen Bemerkungen abgesehen, konzentriert sich die Darstellung auf die zwei Abschnitte am Ende, nämlich den Abschnitt über „Die Souveränität gegen außen“ (§§ 321–329) sowie jenen über „Das äußere Staatsrecht“ (§§ 330–340). Die  §§ 341–351 des letzten Abschnitts über „Die Weltgeschichte“ sollte man noch hinzunehmen. Die sich daran anschließende Darstellung der vier welthistorischen Reiche, die das Buch abschließt (§§ 352– 360) ist für sich genommen kaum zugänglich und erfordert die Einbeziehung weiterer Texte zum Verständnis der Hegelschen Geschichtsphilosophie, die ich hier jedoch weitgehend außer Betracht lassen möchte.3 Insoweit handelt es sich um ein recht schmales Textstück zum Thema der internationalen Beziehungen und des internationalen Rechts, so dass der erste Eindruck sein könnte, dass Hegel an dem Thema nicht in der Weise interessiert war, wie an anderen Themen der Rechtsphilosophie. Wer sich mit den genannten Abschnitten näher befasst, wird jedoch feststellen, dass es sich um sehr gehaltvolle Passagen handelt, deren Bedeutung durch den schmalen Umfang kaum gemindert wird und deren Aussagekraft in mancherlei Hinsicht gerade durch die knappe Form eine besonders 1 Mit der Verwendung dieses Ausdrucks wie auch desjenigen der internationalen Beziehungen ist keine direkte Bezugnahme auf gegenwärtige, spezifisch disziplinäre politik- und rechtswissenschaftliche Verwendungsweisen intendiert. Vorabveröffentlichung dieses Beitrags im Archiv des Völkerrechts 60 (2022), S. 129-147. 2 Hier verwendete Ausgabe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts [1820], Werke Bd. 7, hrsg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel, 14. Aufl., Frankfurt am Main 2015 (im Folgenden abgekürzt als Grundlinien). 3 Dazu näher Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werkausgabe Bd. 12, hrsg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt am Main 1986, zu Hegels Geschichtsphilosophie s. auch Charles Taylor, Hegel, Frankfurt am Main 1983, S. 515 ff.

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© Brill Fink, 2024 | doi:10.30965/9783846768358_008

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eindrucksvolle Verdichtung erfährt. Außerdem ist zu bedenken, dass sich frühere Abschnitte der Grundlinien so lesen lassen, dass sie wesentliche Aussagen zum internationalen Recht enthalten, wenn man sie nur auf dieses Thema bezieht. Insbesondere lässt sich die ganze Vertragstheorie als Theorie eines Rechts lesen, das wesentlich auf Verträgen beruht. Und ebenso lässt sich die Philosophie des Anerkennungsverhältnisses und des Anerkennungskampfs über ihren Bezug auf natürliche Personen hinaus erweitern und auf das Verhältnis zwischen solchen Entitäten beziehen, die vielleicht zwar nicht, wie Kant einmal geschrieben hat, „wie einzelne Menschen beurteilt werden können“4, die aber doch das von Kant hervorgehobene Kriterium der Person erfüllen. Denn Staaten können als Subjekte behandelt werden, „[deren] Handlungen einer Zurechnung fähig sind“5. Ich verweise zur Verdeutlichung meines Arguments von der impliziten Theorie des Völkerrechts auf Hobbesʾ Leviathan, in dem sich die Philosophie des Staatenverhältnisses und des internationalen Rechts am Ende des zweiten Teils auf einen Satz zusammenzieht: „Concerning the Offices of one Souveraign to another, which are comprehended in that Law, which is commonly called the Law of Nations, I need not say any thing in this place; because the Law of Nations, and the Law of Nature, is the same thing.”6

Unter dieser Voraussetzung kann das im 14. und 15. Kapitel des Leviathan entfaltete System des Naturrechts (zu dem man auch noch den Gedanken der Stellvertretung in Kapitel 16 rechnen sollte) als Philosophie des internationalen Rechts gelesen werden, wenn man nur den Begriff natürlicher Personen (und ihrer Stellvertreterinnen) durch den juristischer Personen ersetzt. Liest man die Grundlinien auf diese Weise, lassen sich viele Passagen als eine implizite Theorie des internationalen Rechts lesen und für die Diskussion fruchtbar machen. In diesem Beitrag geht es mir darum, die wesentlichen Aspekte dieser Theorie zu rekonstruieren, wobei ich weitgehend textimmanent vorgehen werde. Ich werde zunächst allgemein etwas zu Hegels Philosophie des Vertrags sagen, vor allem den Umstand hervorheben, dass Verträge tatsächlich Recht begründen und die Rechtsgeltung nicht von woanders her kommen muss (I), sodann werde ich jene spezifische Entdifferenzierung des Staates 4 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden [1795], Stuttgart 1984, S. 16. 5 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten [1997], Werkausgabe Bd. VIII, hrsg. v. W. Weischedel, 18. Aufl., Frankfurt am Main 2017, S. 329. 6 Thomas Hobbes, Leviathan [1651], Englisch/Deutsch, übers. v. H. Hanowell, hrsg. v. J. Klein, Stuttgart 2013, S. 748 (2. Teil, Kap. XXX a.E.).

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beschreiben, über die sich im Außenverhältnis die Souveränität bemerkbar macht, nämlich dadurch, dass die Komplexität der Verfassung gegenüber dieser Souveränität in den Hintergrund und die „Beziehung eines Anderen auf ein Anderes“ hervortritt (II), danach werde ich zunächst die destruktive Seite dieser Beziehung betrachten, vor allem auch in ihrer verheerendsten Ausdruckform, nämlich der Gestalt des Krieges (III), sodann wende ich mich Hegels Darstellung der grundlegenden Ambivalenz im Staatenverhältnis zu, wonach in diesem Verhältnis sowohl Vernunft als auch Interesse, sowohl Anerkennung als auch Kalkül regieren, womit sich Hegels Theorie der internationalen Beziehungen und des internationalen Rechts als realistisch und idealistisch zugleich darstellt. Moderner als Kants Theorie des Völkerrechts erscheint ihr Ansatz, über die Notwendigkeit der Anerkennung zu begründen, dass Staaten sich dafür interessieren müssen, was in anderen Staaten vor sich geht und dass es ihnen nicht gleichgültig sein darf, was dort passiert – eine Auffassung, der man entnehmen kann, dass sich entgegen dem klassischen Souveränitätsverständnis in gewissem Umfang eine Pflicht zur Einmischung begründen lässt (IV). Schließlich will ich Hegels Kritik des Pessimismus und Fatalismus in der Geschichtsdeutung und seine optimistische und zukunftszugewandte Annahme behandeln, dass es in der Geschichte, wenn auch nicht stringent teleologisch, so aber doch mit einer gewissen Notwendigkeit, einen Fortschritt zum Besseren gibt (V). Abschließend will ich die Ergebnisse der Darstellung zusammenfassen (VI). I.

Das Recht der Verträge

Hegels Rechtsphilosophie ist wesentlich eine Philosophie des Vertrags und des Vertragsverhältnisses. Das ergibt sich notwendig aus der Grundkonstellation, aus der Hegel alles Weitere hervorgehen lässt, nämlich dem Verhältnis der Reziprozität und der Dynamik, die es durch die wechselseitige Beschränkung freisetzt und dadurch die diversen Formen der Intersubjektivität ermöglicht. Die ursprüngliche Reziprozität, die uns in Hegels Beobachtung begegnet, dass zum Beschränken zwei gehören7, stellt schon – wenn man so will „protokontraktual“ – jenes Verhältnis wechselseitiger Verpflichtung und Berechtigung dar, das jedem speziellen Vertragsverhältnis als normatives Muster zugrunde liegt. Aber nicht nur das spezielle Vertragsverhältnis, sondern das ganze System lässt Hegel aus der Reziprozität hervorgehen. In ihr verwirklicht sich das Eigentum, nicht nur im privatrechtlich-positivistischen Verständnis, sondern 7 Grundlinien, S. 61 (Anm. zu § 10).

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im umfassenden Sinne, zu dem auch wir selbst, unsere Körper und unsere Produktivität gehören. Aus ihr heraus erst wird verständlich, was eine Verletzung dieses Eigentums und was Unrecht ist, aus ihrer Reflexion wird deutlich, dass das abstrakte Recht durch die Überwindung dieser Abstraktionen und die Sensibilisierung für die sozialen Verwerfungen, denen gegenüber es sich zunächst indifferent verhält, über sich selbst hinauskommen und zu sich selbst kommen muss, zu einem „guten“ Recht, das die besonderen Bedürfnisse und Interessen, das individuelle und das allgemeine Wohl als Angelegenheit des Rechts, auch die Aufhebung des Eigentums, in den Rechtsbegriff einschließt. Aus der Reflexion des Vertragsverhältnisses erst wird deutlich, warum sich das abstrakte oder formale Recht zum jenem besonderen Status hin entwickeln, „materialisieren“ muss, für den der Name dieses Status – der „Staat“ – wörtlich steht. Also ist Hegel am Ende Vertragstheoretiker? Selbstverständlich ist er das. Er betont, dass die historische Dimension des Staates „die Idee des Staates selbst nicht an[geht]“8, dass es „[d]ie philosophische Betrachtung […] nur mit dem […] gedachten Begriffe zu tun [hat]“9, mit dem „Staat als Resultat“10. Man sollte sich nicht dadurch beirren lassen, dass Hegel sich an einigen Stellen abfällig über die Theorie des Gesellschaftsvertrags äußert. Gerade nach seiner eigenen Darstellung erweisen sich Recht und Staat nicht als etwas, das „von außen“ hinzutreten muss, Recht und Staat ergeben sich begrifflich notwendig aus der Entwicklung der ursprünglichen Reziprozität, weil die ursprünglich Übereinkommenden von Anfang an nicht in der Reserviertheit gegeneinander verbleiben können, wie es der Begriff der Respektspflicht11 nahelegen könnte, sondern über diesen Respekt – das Anerkennungsverhältnis – immer schon, wie Hegel bereits ganz am Anfang der Ausführungen über das abstrakte Recht hervorhebt, auf „höhere Verhältnisse“12 bezogen sind. Diese höheren Verhältnisse ergeben sich daraus: (1) dass es uns in unserem ursprünglich übereinkommenden Anerkennen gerade nicht gleichgültig sein kann, wie es den jeweils anderen geht, dass wir „nicht bloß sie gehen lassen“13, sondern auch mit ihnen solidarisch sind, (2) dass wir in unserem ursprünglich übereinkommenden Anerkennen erkennen, dass wir – auch wenn wir eigene Interessen verfolgen – gemeinsame Sache machen, dass unsere Interessen in einem bestimmten Umfang konvergieren und wir deswegen besser miteinander 8 9 10 11 12 13

Grundlinien, S. 400 (§ 258). Grundlinien, S. 400 (§ 258). Grundlinien, S. 397 (§ 256). Vgl. Grundlinien, S. 93 ff. (§§ 35, 36). Grundlinien, S. 97 (Anm. zu § 38). Grundlinien, S. 97 (Anm. zu § 38).

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und nicht gegeneinander handeln und (3) dass wir über diesen Aspekt des Gemeinsamen hinaus auch auf das Allgemeine bezogen sind, eben jene Formen der Intersubjektivität, die sich wesentlich als Öffentlichkeit, Verfassung, Recht und Staat ausprägen, weil nur über diese Formen eine gemeinsame Willensbildung und effektives gemeinsames Handeln möglich ist. Hegels Invektiven gegen die Vertragstheorie14 überzeugen nicht, für seine Behauptung, dass die Natur des Staates, ebenso wenig wie die der Ehe, im Vertragsverhältnisse liege15, führt er kein überzeugendes Argument an. Er argumentiert, der überindividuelle Wille, der die Einheit des Vertragsverhältnisses ausmacht, sei nur ein gemeinsamer, aber kein allgemeiner Wille.16 Das sieht er aber an anderer Stelle anders, wenn er den Gehalt dessen analysiert, was die Vertragschließenden eigentlich tun: „[B]eide haben im Vertrag nicht nur ihres besonderen Willens sich entäußert, sondern auch vorausgesetzt, dass gelte, das Dasein des Willens überhaupt – das Recht in dieser Sache – dies ist die innere wesentliche Voraussetzung – Vertragbrechen, Nichtleisten ist gegen das Recht überhaupt, – d.h. nicht nur gegen meinen besonderen Willen als besonderen; – Anerkennung nicht nur, weil er im Besitz ist, – sondern seines Willens als eines solchen – in der Stipulation – deswegen Einsicht in die Natur der Stipulation höchst wichtig, dass der Vertrag als stipuliert gültig angesehen werde, denn darin Dasein als des Willens geistiges Dasein – so Recht überhaupt –“17

Im Vertrag geht es also (entgegen § 75) nicht nur um das Gemeinsame, sondern um das Allgemeine, um Recht überhaupt, und die von Hegel hervorgehobene Wichtigkeit der Einsicht in die Natur der Stipulation bedeutet, dass dem Vertrag nicht von außen – durch Zwangsvorkehrungen – dazu verholfen werden muss, ein Rechtsverhältnis zu sein. Die Einsicht in die Natur der Stipulation, des verbindlichen Leistungsversprechens, führt dazu zu erkennen, dass Recht und Befugnis zu zwingen, eben nicht einerlei sind, wie es bei Kant heißt (der das Argument allerdings missverständlicherweise nicht auf das Recht überhaupt, sondern lediglich auf das von ihm so genannte „strikte Recht“ bezog)18, sondern, dass es Recht gibt ohne Zwang und dass dieser zwanglose Begriff des 14 Zugespitzt vorgetragen bereits im Naturrechtsaufsatz von 1802/03, s. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jenaer Schriften 1801-1807, Werke Bd.  2, hrsg. v. Eva Moldenhauer und K. M. Michel, 9. Aufl., Frankfurt am Main 2018, S. 444 ff. 15 Grundlinien, S. 157 (§ 75). 16 Grundlinien, S. 157 (§ 75). 17 Grundlinien, S. 171 (Anm. zu § 81). 18 S. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten [1997], Werkausgabe Bd. VIII, hrsg. v. W. Weischedel, 18. Aufl., Frankfurt am Main 2017, S. 339 f.

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Rechts, wie er von Hegel im Naturrechtsaufsatz entwickelt wird, auch dessen wahrer Begriff ist.19 An der Stipulation entwickelt Hegel den Gedanken, dass mit dem Versprechen originär und zweifelsfrei ein Recht begründet wird. Er wendet sich gegen die Ansicht, dass das Recht des Versprechens sich erst aus der unter Beweis gestellten Bereitschaft ergibt, das Versprechen einzulösen, d.h. die Leistung zu erbringen. Aber die Normativität des Versprechens ergibt sich nicht aus dem Begriff eines „bloßen Versprechen[s]“20, bei dem man Angst haben muss, dass es nicht ernst gemeint war oder nicht eingelöst wird, sondern aus dem Recht, das es begründet und das durch seine Verletzung nichts von seiner Verbindlichkeit und verpflichtenden Kraft einbüßt. Diese Kraft wird nicht erfasst, wenn man meint, „die Verbindlichkeit vor der Leistung sei […] nur moralischer, nicht rechtlicher Natur“21. Damit argumentiert Hegel genau wie Grotius, der das Völkerrecht aus dem Rechtscharakter des Versprechens entwickelt und gegen den Einwand verteidigt, das Versprechen verpflichte nur moralisch (oder pragmatisch aus Klugheitsregeln), aber nicht aus dem Gesichtspunkt des Rechts.22 Diese Ansicht, wie auch die Annahme, dass nur „Gesetze […] das Moralische zu einem rechtlich Notwendigen umwandeln könnten“23, weist Grotius zurück mit dem Argument, dass die Gesetzeskraft letztlich nur auf einem „gemeinsamen Vertrag des Volkes“24 beruhe und mit dem Hinweis, dass ohne das Recht des Versprechens,

19

20 21 22 23 24

S.  Georg  Wilhelm Friedrich Hegel, Jenaer Schriften 1801-1807, Werke Bd.  2, hrsg. v. Eva Moldenhauer und K. M. Michel, 9. Aufl., Frankfurt am Main 2018, S. 470-480.. Es stimmt deswegen auch nicht, dass der Wille „[a]ls Wille […] nur Rechte [hat]“, Charles Taylor, Hegel, Frankfurt am Main 1983, S. 563; er hat von Anfang an genauso Pflichten und zwar nicht erst über den „Bereich der Moralität“ (Taylor, ebd.), der dann einer „Ergänzung in der äußeren Welt“ (Taylor, a.a.O., S. 564) bedarf. Diese Deutung ergibt sich aus einer Verkennung des ursprünglichen Wesens der Reziprozität und einer eigentumsrechtlichen Verengung des Blicks auf einsame Handlungen der Aneignung und des Gebrauchs, also auf den „Umgang mit den Dingen“ (Taylor, a.a.O., S. 562), in dem vom Umgang mit den anderen abstrahiert ist. Der Umgang mit den Dingen ist aber nur über den Umgang mit den anderen zu begreifen und in diesem Begriff sind Berechtigung und Verpflichtung gleichursprünglich angelegt. Grundlinien, S. 162 (§ 79). Grundlinien, S. 163 (§ 79). Zu Grotiusʾ Theorie des Versprechens Jochen Bung, „Naturrecht – Völkerrecht – Weltrecht – Der Code des Huga Grotius“, Archiv des Völkerrechts 55 (2017), S. 125, 129 ff. Hugo Grotius, Drei Bücher über das Recht des Krieges und des Friedens, Erster Band, herausgegeben und übersetzt von J. H. von Kirchmann, Berlin 1869, S. 387 f. (Buch II, Kap. XI am Anf.). Grotius, a.a.O., S. 388 (Buch II, Kap. XI).

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„Verträge unter Königen und Völkern unkräftig sind, so lange noch keine Erfüllung hinzugekommen ist“25. Eben weil durch Versprechen Rechte begründet werden können, ist es, wie Hegel bemerkt, „so wichtig, dass Völker zum Vertragsverhältnis innerhalb ihrer und gegen andere kommen“26. II.

Souveränität und Exklusion

Nur wenn die Völker zum Vertragsverhältnis untereinander kommen, kann sich ihr Außenverhältnis nämlich als Rechtsverhältnis entwickeln. Im Außenverhältnis tritt zunächst die innere Differenzierung des Staates, „die reiche Gliederung […], die Architektonik seiner Vernünftigkeit“27 zurück, hervor tritt die „Persönlichkeit des Staates“28, „das Individuelle des Staats als solches, der selbst nur darin einer ist“29 – die „Souveränität des Staats“30. Dass Hegel diesen Aspekt in der individuellen Person des Monarchen verankert („Die Persönlichkeit des Staates ist nur als eine Person, der Monarch, wirklich“31), verdiente eine eigene Diskussion, die ich hier nicht führen, aber zumindest andeuten will. Hegels Monarch ist Teil eines komplexen funktionalen Verständnisses von Gewaltenteilung. Überzeugend richtet sich Hegel zum einen gegen allzu schlichte, plakative Verständnisse von Regierungssystemen32 sowie gegen ein einseitiges Verständnis von Gewaltenteilung, das ihren Sinn auf das klassisch liberale Modell der Begrenzung und Kontrolle von Machtbefugnissen beschränkt.33 Eine hinreichend komplexe Verfassung wird – funktional, nicht institutionell verstanden – immer zugleich „demokratische“, „aristokratische“ und „monarchische“ Elemente oder Momente aufweisen, weil sie auf einem Ineinandergreifen verschiedener Kompetenzen und Regelungsformen beruht. Und das Prinzip dieser Gewaltendifferenzierung ist wegen des funktionellen Ineinandergreifens nicht lediglich Kontrolle und Begrenzung, sondern zugleich Integration und Steigerung. Auch demokratische Verfassungen weisen „monarchische“ Momente auf, insoweit gibt es mit dem Begriff des Monarchischen 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Grotius, a.a.O., S. 388 (Buch II, Kap. XI). Grundlinien, S. 171 f. (Anm. zu § 81). Grundlinien, S. 19 (Vorrede). Grundlinien, S. 445 (§ 279). Grundlinien, S. 444 (§ 279). Grundlinien, S. 442 (§ 278). Grundlinien, S. 445 (§ 279), s. auch S. 497 (§ 329). Vgl. Grundlinien, S. 436 f. (§ 273). Vgl. Grundlinien, S. 433 (§ 272).

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kein Problem. Problematischer ist Hegels ambivalentes Verhältnis zur Volkssouveränität und zur Öffentlichkeit als ihrem Artikulationsraum. Kann man Hegel noch gut folgen in seiner Kritik an der Instrumentalisierung des Begriffs vom Volk, wie er sich im Kontext des antinapoleonischen Widerstands als Signalwort heraufziehender „völkischer“ Bewegungen formiert hat,34 und lässt sich auch seine Kritik an der Verbindung von Verfassung und Volk jedenfalls insoweit modern lesen, als mit Volk häufig eine homogene „identitäre“ Gemeinschaft gemeint ist, ist andererseits seine Perhorreszierung des unstrukturierten Volks, jener „formlose[n] Masse, deren Bewegung und Tun eben damit nur elementarisch, vernunftlos, wild und fürchterlich wäre“35, ersichtlich von antidemokratischen Affekten nicht frei, die sich auch in seiner Skepsis über den Sinn allgemeiner Wahlen niederschlagen.36 Dieselbe Problematik zeigt sich auch in Hegels ambivalenter Einstellung zur öffentlichen Meinung. Sie sei, so Hegel, ebenso zu achten wie zu verachten.37 Zu achten, denn sie „enthält [..] in sich die ewigen substantiellen Prinzipien der Gerechtigkeit, den wahrhaften Inhalt und das Resultat der ganzen Verfassung, Gesetzgebung und des allgemeinen Zustands überhaupt, in Form des gesunden Menschenverstandes […] sowie die wahrhaften Bedürfnisse und richtigen Tendenzen der Wirklichkeit.“38

Zugleich aber sei die öffentliche Meinung zu verachten, da in ihr „die ganze Zufälligkeit des Meinens, seine Unwissenheit und Verkehrung, falsche Kenntnis und Beurteilung ein[tritt]“39. Dass diese elementare Kontingenz für eine demokratische Verfassung wesentlich, gewissermaßen ihr Unableitbares und 34 35 36

37 38 39

Zu Hegels scharfer Kritik an politischen Aufladungen des Volksbegriffs vgl. Grundlinien, S. 20 (Vorrede) sowie S. 473 f (§ 303): „schiefe Deklamationen“. Grundlinien, S. 473. Grundlinien, S. 480 f. (§ 311). Nach Taylor sind die Zweifel Hegels am Sinn allgemeiner Wahlen und seine Vorstellung einer strukturierten Vermittlung des allgemeinen Willens durch „Korporationen“ der Hauptgrund für das Stereotyp vom Konservatismus Hegels, s. Charles Taylor, Hegel, Frankfurt am Main 1983, S. 581 ff., insbes. S. 585 f., den er – zutreffend – für falsch und gut widerlegbar hält. Auch sieht Taylor in Hegels Kritik am allgemeinen Wahlrecht richtigerweise das Wahrheitsmoment der Diagnose einer „Manifestation der Entfremdung“ (Taylor, a.a.O., S. 598), indem sich im verbreiteten Desinteresse an der Ausübung des Wahlrechts auch das strukturelle Problem einer mangelnden Identifikation an Belangen des Gemeinwesens offenbart, zu dieser Entfremdungsdiagnose s. auch Taylor, a.a.O., S. 499 ff. Grundlinien, S. 485 (§ 318). Grundlinien, S. 483 f. (§ 317). Grundlinien, S. 484 (§ 317).

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ihr Ursprung ist, kommt Hegel nicht in den Sinn, vielmehr reserviert er Kontingenz und Unableitbarkeit für die – nicht gewählte, sondern durch Geburt bestimmte40 Person des Monarchen.41 Es ist dieses absolute, „schlechthin aus sich [a]nfangende“42 Individuum, das nach seinem Verständnis vom Völkerrechtsverhältnis als Souveränität nach außen tritt, der Punkt, auf den der Staat auf der Weltbühne zusammenschrumpft und sich – wie die historische Erfahrung zeigt – häufig nicht damit zufrieden gibt, sondern dazu neigt, sich über diese repräsentative Funktion hinaus auszudehnen und aufzublasen. Selbst wenn es so ist, dass ein verfasstes Gemeinwesen eine „individuelle Spitze“43 haben muss, ist die Tragweite der These fragwürdig, dass „alle Handlung und Wirklichkeit […] ihren Anfang und ihre Vollführung in der entschiedenen Einheit eines Anführers [hat]“44. Allerdings brauchen wir Hegels geborenen Monarchen oder entschiedenen Anführer nicht, um uns mit seiner Philosophie der internationalen Beziehungen und des internationalen Rechts befassen zu können. Wir können das Wesen der Persönlichkeit des Staates unabhängig von der Frage seiner personalen Verkörperung diskutieren. Hegel selbst relativiert die Bedeutung der Zuspitzung der Selbstbestimmung eines Volkes in einem Anführer, indem er „dieser ursprünglichen Erscheinung“45 der Souveränität bescheinigt, dass sie „ganz abstrakt ist und keine weitere innere Entwicklung hat“46. Vielleicht eignet sich aber die abstrakte unentwickelte Form der Souveränität zur Veranschaulichung des Zustands, in dem sich diese Souveränität befindet, wenn sie auf andere Souveränitäten trifft (und sich damit auch erst als Souveränität begreift). In ihrer rohen und unentwickelten Form hat die Souveränität abgrenzenden und ausschließenden Charakter und dieser Ausschluss findet im internationalen Staatensystem seinen Ausdruck: „Die Individualität, als ausschließendes Für-sich-sein, erscheint als Verhältnis zu anderen Staaten, deren jeder selbständig gegen die anderen ist“47. Ist das Außenverhältnis in diesem radikalen Sinne als Ausschlussverhältnis begriffen, ist darin eine Entfremdung eingeschlossen, die Hegel so beschreibt, dass er von einer „Beziehung eines Anderen auf ein Anderes“48 spricht. Diese 40 41 42 43 44 45 46 47 48

Grundlinien, S. 450 (§ 280). Vgl. Grundlinien, S. 444 ff. (§§ 279 ff.). Grundlinien, S. 446 (§ 279). Grundlinien, S. 448 (§ 279). Grundlinien, S. 448 (§ 279). Grundlinien, S. 491 (§ 322). Grundlinien, S. 491 (§ 322). Grundlinien, S. 490 (§ 322). Grundlinien, S. 491 (§ 323).

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Fremdheit oder Andersheit ist natürlich eine Abstraktion, die im Grunde gar nicht aufrechtzuerhalten ist49, sondern schon durch erste Schritte der Kontaktaufnahme auf die Möglichkeit bezogen ist, sich im Verhältnis zueinander auf allgemein verbindliche Regeln zu einigen. Allerdings ist die natürliche Aufgeschlossenheit zu dieser Verallgemeinerung im Staatenverhältnis durchaus schwerer zu denken, die Souveränität im Staatenverhältnis ist zugleich nervöser und gepanzerter als im Verhältnis natürlicher Personen. Ein Zusammenschluss von Staaten zur Überwindung des Exklusivitätsverhältnisses ist formal genauso denkbar wie ein Zusammenschluss von Menschen und gestaltet sich in der Realität doch als so viel schwieriger. Im System der Staaten ist die Möglichkeit der Irritation permanent, jene Möglichkeit „der Verwicklung mit zufälligen Begebenheiten, die von außen kommen.“50 Und nicht selten zeigt sich in diesen Verwicklungen die destruktive Seite der Souveränität, diese Verwicklungen so aufzulösen, dass der Konflikt in einen bewaffneten Konflikt umschlägt, in Krieg, in dem der Staat zu einer „absolute[n] Macht“ wird, die „gegen das Leben, Eigentum und dessen Rechte […] die Nichtigkeit derselben zum Dasein und Bewusstsein bringt“51. III.

Krieg und Frieden

Hegels Philosophie des Krieges verdiente eine eigene systematische Betrachtung, allein schon, um die möglichen Missverständnisse oder Zweifel aufzugreifen, zu denen die Ausführungen Anlass geben. Das Problem macht sich in der Rezeption und Wirkungsgeschichte klassischer Texte häufig bemerkbar, dass isoliertes Zitieren einzelner Passagen verfehlten oder zumindest einseitigen Interpretationen Vorschub leistet. Von dieser Kritik kann man Hegel selbst nicht ausnehmen, der sich in seiner Betrachtung des Krieges selbst zitiert und zwar einen Passus aus dem Naturrechtsaufsatz von 1802/03, in dem er bemerkt, durch das System der souveränen und exklusiven Entitäten sei

49 Anders freilich Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 8. Aufl., Berlin 2009, S.  25 ff., wonach Fremdheit im Wesentlichen als Bedrohung erscheint und zu entscheiden ist, „ob das Anderssein des Fremden […] die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wird, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren“ (a.a.O., S. 26). 50 Grundlinien, S. 491 (§ 323). 51 Grundlinien, S.  491 (§ 323. Während ich dies schreibe, findet in Europa der erste Aggressionskrieg seit Ende des Zweiten Weltkriegs statt und belegt auf erschütternde Weise die Wahrheit dieser Beobachtung. Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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„die Notwendigkeit des Krieges gesetzt, der […] die sittliche Gesundheit der Völker in ihrer Indifferenz gegen die Bestimmtheiten und gegen das Angewöhnen und Festwerden derselben erhält, als die Bewegung der Winde die Seen vor der Fäulnis bewahrt, in welche sie eine dauernde Stille, wie die Völker ein dauernder oder gar ein ewiger Friede, versetzen würde.“52

Dieser Passage eine ziemlich robuste Kriegsverherrlichung zu entnehmen, fällt nicht schwer, sie erfährt aber im Kontext der Grundlinien eine Relativierung, die den bellizistischen Zungenschlag zumindest stark zurücknimmt. Es sei diese Schilderung nämlich, so Hegel klarstellend, „nur philosophische Idee“53 – wobei die Kursivierung des „nur“ nicht zufällig ist und mit dem Hinweis ergeht, dass damit über das Recht des Krieges – „davon hernach“54 – noch gar nichts ausgesagt ist. Die philosophische Idee des Krieges als einer Kraft der Veränderung, gepriesen von Heraklit bis Nietzsche, steht im Kontext des Naturrechtsaufsatzes in Verbindung mit einer merkwürdigen (aus heutiger Sicht fast prä-faschistischen) Philosophie von der „Gefahr des Todes“55 als einer äußersten existenziellen Möglichkeit, die das Individuum mit der absoluten Totalität des Volkes verschmelzen lässt. Und auch in den Grundlinien spricht Hegel verklärend vom Krieg als dem „Zustand, in welchem mit der Eitelkeit der zeitlichen Güter und Dinge […] Ernst gemacht wird“56. Dass man diese Philosophie als radikalisierte Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und womöglich gar als Revolutionstheorie lesen kann, ist nicht auszuschließen57, es gibt für eine solche Deutung Anknüpfungspunkte.58 Sowohl aus dem Kontext der Darstellung im Naturrechtsaufsatz wie dem der Grundlinien geht aber unmissverständlich hervor, dass sich der Krieg hier auf zwischenstaatliche Aggressionen und bewaffnete Konflikte bezieht. Die Notwendigkeit des Krieges ergibt sich für Hegel nämlich, so schon die Argumentation im Naturrechtsaufsatz, aus dem System der souveränen Staaten, der „Beziehung eines Anderen auf ein Anderes“59, die hier als „Beziehung von Individualität zu Individualität“60 bezeichnet wird. Diese Beziehung, so Hegel, sei 52 53 54 55 56 57 58 59 60

Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Jenaer Schriften 1801-1807, Werke Bd. 2, hrsg. v. Eva Moldenhauer und K. M. Michel, 9. Aufl., Frankfurt am Main 2018, S. 481 f.; vgl. Grundlinien, S. 492 f. (§ 324). Grundlinien, S. 493 (§ 324). Grundlinien, S. 493 (§ 324). Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Jenaer Schriften 1801-1807, Werke Bd. 2, hrsg. v. Eva Moldenhauer und K. M. Michel, 9. Aufl., Frankfurt am Main 2018, S. 481. Grundlinien, S. 492 (§ 324). Auf diesen Punkt hat mich Pirmin Stekeler-Weithofer aufmerksam gemacht. Grundlinien, S. 491 f. (§ 324). Grundlinien, S. 491 (§ 323). Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Jenaer Schriften 1801-1807, Werke Bd. 2, hrsg. v. Eva Moldenhauer und K. M. Michel, 9. Aufl., Frankfurt am Main 2018, S. 481. Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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Jochen Bung „eine gedoppelte: die eine die positive, das ruhige gleiche Nebeneinanderbestehen beider im Frieden, die andere die negative, das Ausschließen einer durch die andere; und beide Beziehungen sind absolut notwendig.“61

In den Grundlinien tritt uns eine ausgereiftere und differenziertere Betrachtung des Staatenverhältnisses entgegen. Das Verhältnis der Staaten zueinander ist nicht nur destruktiv oder indifferent, sondern auch durch das wechselseitige Interesse aneinander und von dem Verlangen nach Anerkennung geprägt und schließt deswegen auch eine Anteilnahme an dem ein, was innerhalb der Grenzen eines Staates passiert. Nicht nur Gegeneinander oder Nebeneinander, sondern auch Füreinander und Miteinander. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig klarzustellen, dass der Schein der Diffamierung der Idee eines ewigen Friedens, den die zitierte Passage über die philosophische Idee des Krieges erweckt, sich nicht bestätigen lässt.62 Hegel verwirft Kants Idee eines ewigen Friedens keineswegs, sondern hebt lediglich hervor, dass sie die „Einstimmung der Staaten voraus[setzt]“63. Eine solche Einstimmung ist aber nicht nur unter den gegenwärtigen Bedingungen, sondern auch bis auf Weiteres eine sehr unwahrscheinliche Angelegenheit. Dass militärische Supermächte etwa durch ein Veto im UN-Sicherheitsrat Resolutionen blockieren können, die eigene Aggressionsakte verurteilen sollen, belegt, dass man die Hoffnung auf friedensstiftendes Handeln internationaler Institutionen und Organisationen einstweilen nicht mit zu viel Optimismus verbinden sollte. Das System der internationalen Beziehungen ist kein System der Vernunft, vielmehr bestimmen wesentlich das Kalkül, die Klugheit und der Eigennutz die Verhältnisse der Staaten untereinander: „Indem die Staaten in ihrem Verhältnisse der Selbständigkeit als besondere Willen gegeneinander sind […], der besondere Wille […] aber nach seinem Inhalte sein Wohl überhaupt ist, so ist dieses das höchste Gesetz in seinem Verhalten zu anderen“64

61 Ebd. 62 Taylor meint, die zeitgenössische Skepsis gegenüber Hegel sei – neben der Affirmation von Monarchie und Korporatismus – auch dadurch begründet, dass Hegel „zwei grundsätzliche Ziele des Liberalismus in der internationalen Sphäre ab[lehnt] […], nämlich den ewigen Frieden zwischen den Staaten und den weltweiten Staatenbund“ (Taylor, Hegel, Frankfurt am Main 1983, S.  586). Hier würde ich allerdings widersprechen, m.E. handelt es sich dabei um eine unzulässige Verkürzung und Fehldeutung. Taylor setzt sich mit diesen Aspekten denn auch kaum auseinander und reproziert einfach die – von ihm an anderer Stelle treffend kritisierten – Vorurteile gegen Hegel. 63 Grundlinien, S. 500 (§ 333). 64 Grundlinien, S. 501 (§ 336).

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Sofern sich die Staatsinteressen, wie es nach einer Phase institutioneller Dynamik in den internationalen Beziehungen65 gerade gegenwärtig wieder stärker der Fall ist, auf ihre je eigenen besonderen Belange beschränken, solange damit zu rechnen ist, dass diplomatische Vermittlungsversuche ausgenutzt werden, um sich auf militärische Angriffe vorzubereiten, kann das Staatensystem keine Ordnung gewährleisten, vielmehr bleibt alles in Unordnung, schwankend und zufällig, treten jene „Verwicklungen von außen“ (s.o.) ein, die jederzeit eskalieren und zu Aggressionsakten und bewaffneten Auseinandersetzungen führen können. Über den Bedeutungsverlust des persönlichen Mutes im Zusammenhang moderner Kriege gibt sich Hegel übrigens keinen Illusionen hin, die Entwicklung der Kriegstechnik, insbesondere durch den Einsatz von Distanzwaffen, verändert die Wirklichkeit des Krieges derart, dass „der persönliche Mut als ein nicht persönlicher erscheint“66, die Kampfhandlungen werden mechanischer und abstrakter, auch der Krieg folgt der Logik des von Hegel bereits im Kapitel über die bürgerliche Gesellschaft beschriebenen Prozesses arbeitsteiliger Organisation und Steigerung der Produktion durch Partikularisierung, Vervielfältigung und Abstraktion bis hin zur Automation, die den Produktionsprozess – oder eben auch den organisierten Destruktionsprozess – derart verändert, „dass der Mensch davon wegtreten und an seine Stelle die Maschine eintreten lassen kann“67. IV.

Respekt, Anerkennung und Interesse

Ergeben sich destruktive und gewaltförmige Auseinandersetzungen mit Notwendigkeit aus dem System exklusiver Souveränitäten, in dem die Beziehung zwischen Staaten „die Gestalt eines Geschehens und der Verwicklung mit zufälligen Begebenheiten [hat], die von außen kommen“68, kann dieses System nur dadurch in einen Rechtszustand kommen, können internationale Beziehungen nur dann als Rechtsbeziehungen begriffen werden, wenn es einen Anhaltspunkt dafür gibt, in welchen Sinn innerhalb dieser Beziehungen von einer Berechtigung überhaupt die Rede sein kann. Aus dem feindlichen Gegeneinander oder dem indifferenten Nebeneinander, wie es Hegel im 65

Vgl. Nicole Deitelhoff und Michael Zürn, Lehrbuch der internationalen Beziehungen, München 2016, S. 261 ff. 66 Grundlinien, S. 496 (§ 328). 67 Grundlinien, S. 353 (§ 198). 68 Grundlinien, S. 491 (§ 323).

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Naturrechtsaufsatz beschreibt, kann er sich nicht ergeben. Erforderlich ist eine Form des wechselseitigen Interesses, das Hegel – wenig überraschend – als Anerkennungsbeziehung beschreibt. Sie ergibt sich schon aus dem Begriff der Souveränität selbst, denn im reinen „Für-sich-Sein“69 kann sich Souveränität überhaupt nicht als solche begreifen. „Ein Staat“, schreibt Hegel, „ist gegen den anderen in souveräner Selbständigkeit“ und fährt fort: „Als solcher für den anderen zu sein, d.i. von ihm anerkannt zu sein, ist seine erste absolute Berechtigung“70. Es verhält sich hier mit Staaten auch nicht grundsätzlich anders als mit natürlichen Personen, zwischen denen ein Rechtsverhältnis dadurch zustande kommt, dass sie sich als Personen wechselseitig respektieren.71 Berechtigt sein heißt, führt Hegel für das Verhältnis natürlicher Personen aus, „[d]ass mein besonderer Wille gelte, respektiert werde“72, aber nicht einfach nur, weil er dies oder jenes will, sondern weil und sofern er mich in „[m]eine[r] Allgemeinheit“73 erkennen lässt und sich daher anerkennen lässt. Diese reziproke Form der Erkenntnis und des Anerkennens ist der Ursprung allen Rechts, es entwickelt sich aus dem „Rechtsgebot“, eine Person zu sein und die andern als Personen zu respektieren.74 Bereits in den ersten Passagen zum ursprünglichen Rechtsverhältnis legt Hegel Wert darauf, dass die Respektspflicht sich nicht auf die Pflicht beschränken lässt, andere nicht zu verletzen. Diese Beschränkung ist eine Abstraktion, die den Begriff des abstrakten Rechts ermöglicht, jene – mit Kant zu sprechen – Konstruktion des Rechtsbegriffs75, in dem vom vollständigen Begriff des Rechts abstrahiert ist, um bestimmte Merkmale der Rechtsform besser sehen zu lassen. Aber die Beschränkung der Respektspflicht auf die Nichtverletzungspflicht erschöpft nicht den ursprünglichen und vollen Sinn des Rechts, weil sie nicht den vollen Sinn des Anerkennungsverhältnisses erfasst. Schon die natürlichen Begriffe des Respekts und der Anerkennung 69 Grundlinien, S. 490 (§§ 321, 322). 70 Grundlinien, S. 498 (§ 331). 71 Es versteht sich von selbst, dass es zwischen zwischenmenschlicher und zwischenstaatlicher Anerkennung auch wesentliche Unterschiede gibt. Zu den Besonderheiten der Anerkennung zwischen Staaten s. Axel Honneth, Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Berlin 2010, S. 181-201, der gegen das aus seiner Sicht vorherrschende instrumentalistische Verständnis „für eine stärkere Berücksichtigung der Anerkennungsdimension internationaler Beziehungen“ (Honneth, a.a.O., S. 183) argumentiert. 72 Grundlinien, S. 94 (Anm. zu § 35). 73 Grundlinien, S. 95 (§ Anm. zu Anm. zu § 35). 74 Grundlinien, S. 95 (§ 36). 75 S. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten [1997], Werkausgabe Bd. VIII, hrsg. v. W. Weischedel, 18. Aufl., Frankfurt am Main 2017, S. 340.

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enthalten mehr als bloß die Einstellung der Gleichgültigkeit, von der Kant spricht. Der Gehalt von Respekt und Anerkennung lässt sich nicht lediglich in Verbotsnormen explizieren. In dem ursprünglich-gleichberechtigenden Reziprozitätsverhältnis ergibt sich – so Hegel etwas enigmatisch – „noch etwas ganz andres“, nämlich „sogleich seine Möglichkeit – Reflexion auf höhere Verhältnisse“76. Diese höheren Verhältnisse ergeben sich daraus, dass das „Rechtsgebot – im Verhältnis zu[m] Andern“77 nicht nur respektvolles Desinteresse bedeutet, Wahrung von Abstand, In-Ruhe-lassen, sondern auch Interesse, Anteilnahme und Zuwendung. Der Vertrag, so Hegel, bedeutet eine „Verwicklung mit anderen“78, aber eben nicht jene zufällige Verwicklung, die von außen kommt und irritiert, wie im System der internationalen Beziehungen, sondern vielmehr ergibt sich „eine Identität mit ihnen [den anderen] – nicht bloß sie gehen lassen“79 (S. 97) – und in der typisch elliptischen Form seiner Anmerkungen verdeutlicht Hegel, was er positiv damit meint: „Bin in der Vermittlung, handle wesentlich in Beziehung auf einen Andern, d.i. ich setze etwas – aus Grund der Gemeinsamkeit. Ich tue für ihn – ein Soll, das ihm von mir zugute kommt, ihm von mir wird.“80

Hegel betont, dass diese produktive, fördernde, solidarische Dimension des Rechtsverhältnisses „streng noch nicht hierher gehört“81, also noch nicht in die Darstellung des abstrakten Rechts, dessen Begriff sich ja gerade aus einem Abstrahieren von dieser Dimension ergibt. Aber es lässt sich eben auch nicht – wie es Kant durchaus etwas krampfhaft und unentschieden tut82 – so tun, als gäbe es diese Dimension gar nicht und als spiele sie nicht immer wieder in das 76 77 78 79 80

Grundlinien, S. 97 (Anm. zu § 38). Grundlinien, S. 97 (Anm. zu § 38). Grundlinien, S. 97 (Anm. zu § 38). Grundlinien, S. 97 (Anm. zu § 38). Grundlinien, S.  97 (Anm. zu  § 38). Die zugewandte Seite der zwischenstaatlichen Anerkennung, die Entscheidung, „mit einem anderen Staat eine positive, befürwortende Beziehung einzugehen“ hebt auch Honneth in seinen Überlegungen zum Anerkennungsverhältnis zwischen Staaten hervor, s. Axel Honneth, Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Berlin 2010, S. 186. Er verdeutlicht die Zuwendung allerding an symbolischen Gesten des Respekts vor kollektiven historischen Erfahrungen anderer Gemeinschaften und nicht im Hinblick auf ein Handeln aus dem Aspekt der Gemeinsamkeit. 81 Grundlinien, S. 97 (Anm. zu § 38). 82 Vgl. dazu Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten [1997], Werkausgabe Bd. VIII, hrsg. v. W. Weischedel, 18. Aufl., Frankfurt am Main 2017, S. 341 ff. Die Unentschiedenheit in Kants Begriff vom zweideutigen Recht führt in die Irre, sofern sie nahelegt, Gerechtigkeitsvorstellungen seien nicht übersetzbar in das, was objektiv als Recht erkannt wird.

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Recht hinein. Und das gilt nicht nur für das Rechtsverhältnis zwischen natürlichen Personen, sondern genauso für das Rechtsverhältnis zwischen Staaten. Hegel schreibt hierzu: „Sowenig der Einzelne eine wirkliche Person ist ohne eine Relation zu anderen Personen […], so wenig ist der Staat ein wirkliches Individuum ohne Verhältnis zu anderen Staaten […]. Die Legitimität eines Staats […] ist einerseits ein Verhältnis, das sich ganz nach innen bezieht (ein Staat soll sich nicht in die inneren Angelegenheiten des anderen mischen), – andererseits muss sie ebenso wesentlich durch die Anerkennung der anderen Staaten vervollständigt werden. Aber diese Anerkennung fordert eine Garantie, dass er die anderen, die ihn anerkennen sollen, gleichfalls anerkenne, d.i. sie in ihrer Selbständigkeit respektieren werde, und somit kann es ihnen nicht gleichgültig sein, was in seinem Inneren vorgeht.“83

Über den entwickelten und vollständigen Begriff der Anerkennung gelangt Hegel zu einer Auffassung des Staatenverhältnisses, die jüngere Entwicklungen des internationalen Rechts antizipiert, indem der Begriff impliziert, dass das aus der klassisch-völkerrechtlichen Souveränität abgeleitete Prinzip der Nichteinmischung (vgl. Art. 2 Abs. 7 UN-Charta) nicht uneingeschränkt gelten kann. Durch die Anerkennung verändert sich der Begriff der Souveränität, sie muss der Anerkennung gerecht werden und sich dafür interessieren, dass andere Souveränitäten ihr gerecht werden. Anerkennung kann sich vollständig nur in einem System der Reziprozität ergeben. Welche Handlungspflichten aus diesem System folgen, inwieweit sie gar Interventionspflichten als legitime Einschränkung des Einmischungsverbots begründen können, ist eine offene Diskussion. Dem Text der Grundlinien sind keine konkreteren Hinweise zu entnehmen, ob ihr Verfasser etwa eine moderne völkerrechtliche Diskussion, wie die Entwicklung des Konzepts der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) richtig gefunden hätte, wonach die Staatengemeinschaft sich in die inneren Angelegenheiten von Staaten einmischen darf, die es nicht vermögen, ihre Bevölkerungen vor elementaren Menschenrechtsverletzungen zu schützen.84 Allerdings ist der Text durchaus für eine solche Interpretation 83 Grundlinien, S. 498 f. (§ 331). 84 Vgl. maßgeblich die UN-Resolution  60/1 vom 24. Oktober 2005, https://undocs.org/A/ RES/60/1, Version in deutscher Sprache abrufbar unter https://www.un.org/Depts/german/gv-60/band1/ar60001.pdf. Die Schutzverantwortung lässt sich auf diese Weise mittelbar anerkennungstheoretisch begründen, da staatliche Akteure „die ihnen zugewiesenen Funktionen der außenpolitischen Selbstbehauptung des Staates nicht wahrnehmen [können], ohne dabei stets zu berücksichtigen, ob die Art dieser Funktionserfüllung in Übereinstimmung mit den präsumtiven Erwartungen der Bevölkerung steht“, Honneth, Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, a.a.O., S. 188.

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und Entwicklung des internationalen Rechts offen, insbesondere unter Einbeziehung der dargestellten Philosophie protokontraktualer Reziprozität. Denn die Auffassung, dass die Rechtspflicht als Respektspflicht sich nicht auf eine Nichtverletzungspflicht beschränken lässt, sondern Zuwendung, Solidarität und Hilfe einschließt, lässt sich auch auf die völkerrechtliche Respektspflicht (die zwischenstaatliche Anerkennung) anwenden, so das sich hier weiterführende Argumentationsmöglichkeiten aus dem klassischen Text ergeben. V.

Vom Fortschritt in der Geschichte

Hegels Philosophie der internationalen Beziehungen und des internationalen Rechts ist realistisch und idealistisch zugleich. Realistisch mit Blick auf die Wirklichkeit des Staatenverhältnisses, denn „[i]n das Verhältnis der Staaten gegeneinander […] fällt das höchst bewegte Spiel der inneren Besonderheit der Leidenschaften, Interessen, Zwecke, der Talente und Tugenden, der Gewalt, des Unrechts und der Laster wie der äußeren Zufälligkeit, in den größten Dimensionen der Erscheinung – ein Spiel, worin das sittliche Ganze selbst, die Selbstständigkeit des Staats, der Zufälligkeit ausgesetzt wird.“85

Der Vernunft scheint in diesem Spiel der Leidenschaften und Interessen offenbar keine hervorgehobene Rolle zuzukommen und doch ist, argumentiert Hegel, „[d]ie Weltgeschichte […] nicht […] vernunftlose Notwendigkeit eines blinden Schicksals, sondern […] notwendige Entwicklung der Momente der Vernunft“86. Entgegen dem Wortlaut der Passage argumentiert Hegel hier nicht auf dem Boden einer starken Geschichtsteleologie, es geht ihm in erster Linie um eine Zurückweisung fatalistischer oder pessimistischer Geschichtsdeutungen. Denn er geht gerade nicht davon aus, dass die Geschichte in jener Vorstellung des Spiels der Interessen und Leidenschaften, der Gewalt und des Unrechts aufgeht, dass Geschichte ein ewiger Kreislauf ist, aus dem es kein Entrinnen gibt und in dem alles immer wieder kehrt. Vielmehr muss es einen gewissen Fortschritt in der Geschichte, eine Entwicklung zum Besseren, geben, muss sich zumindest die Überzeugung von der Möglichkeit einer solchen Entwicklung begründen lassen. Denjenigen, die das bestreiten, hält Hegel die Idee

85 Grundlinien, S. 503 (§ 340). 86 Grundlinien, S. 504 (§ 342).

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einer „Perfektibilität und Erziehung des Menschengeschlechts“87 entgegen und argumentiert: „Diejenigen, welche diese Perfektibilität behauptet haben, haben etwas von der Natur des Geistes geahnt […]. Aber denen, welche diesen Gedanken verwerfen, ist der Geist ein leeres Wort geblieben sowie die Geschichte ein oberflächliches Spiel zufälliger, sogenannter nur menschlicher Bestrebungen und Leidenschaften.“88

Wenn Geschichte nicht nur ein zufälliges Spiel, sondern auch vernünftige Entwicklung ist, dann kann diese Vernunft – in Abwesenheit eines Globalstaats oder einer Weltregierung – einstweilen nur dadurch sich verwirklichen, „dass Völker zum Vertragsverhältnis innerhalb ihrer und gegen andere kommen“89. Dass diese Vertragsverhältnisse nicht in der Weise durch Zwangsvorkehrungen abgesichert sind wie im innerstaatlichen Recht, ändert nichts an ihrer Verbindlichkeit, vielmehr entspricht es dem ursprünglichen Begriff des Rechts, wie wir gesehen haben, zwanglos zu verpflichten. Auch gehen völkerrechtliche Verträge, eben weil sie Recht begründen, wie alle Verträge, nicht im Begriff einer eigennützigen Abstimmung zu beiderseitigem Vorteil auf, sondern haben, durch das Anerkennungsverhältnis, das sie grundiert, eine Vernunftseite, nach der sie auf die beschriebenen „höheren Verhältnisse“, das Gemeinsame und Allgemeine, letztlich – konsequenterweise – auf eine globale „Architektonik der Vernünftigkeit“ ausgerichtet sind.90 Den Fortschritt in der Geschichte darf man sich nicht so vorstellen, als befinde sich bei der „Entwicklung der Momente der Vernunft“ die Vernunft gleichsam von vornherein in ihrem Element. Oder jedenfalls kann eine Vernunft, die nicht transzendent, sondern wesentlich geschichtlich vermittelt ist, sich nicht instantan ins Werk setzen, sondern bedarf eines längeren Atems, weil in den realen sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen derart starke Kräfte und Mächte der Ungleichheit am Wirken sind, dass die Anerkennung, um wirklich und wirksam zu sein, nicht nur anerkannt, sondern erstritten und erkämpft werden, sich über „Kämpfe des Anerkennens“91 verwirklichen muss, 87 88 89 90

Grundlinien, S. 504 (§ 343). Grundlinien, S. 504 (§ 343). Grundlinien, S. 171 f. (Anm. zu § 81). Die Auffassung von Charles Taylor, wonach Hegels Philosophie nicht auf die Idee eines Weltstaats bezogen werden kann, vgl. Taylor, Hegel, Frankfurt am Main 1983, S. 559 Fn. 165 sowie S. 587, halte ich für falsch, denn die Vernunftform ist notwendig eine globale Form und es ist auch nicht zu sehen, wieso eine Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit dieser globalen Form nicht möglich sein soll. 91 Grundlinien, S. 508 (§ 351).

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so wie es Hegel im Abschnitt über die Geschichte der Sklaverei (§ 57) darlegt. „Kein Herr, kein Sklave – ebenso aber kein Sklave, kein Herr“92. Das lässt sich ganz einfach behaupten oder fordern, aber in Wirklichkeit muss es erkämpft und errungen werden und ist die Verrechtlichung der Beziehungen zumeist ein Ergebnis und nicht die Voraussetzung dieser sozialen und gesellschaftlichen Kämpfe. Hegels Hoffnung auf einen Fortschritt in der Geschichte, auf die Perfektibilität des Menschengeschlechts liegt in der „Verwirklichung des allgemeinen Geistes“93, den er auch als „Geist der Welt“94 bezeichnet. Dem Geist der Welt gegenüber stehen die „Volksgeister“95, die ihrer besonderen Natur nach „beschränkte“96 sind und ihre Beschränktheit überwinden müssen, wenn es Fortschritt in der Geschichte geben soll.97 Das ist natürlich eine Interpretation, denn der Text sagt das nicht ausdrücklich, lässt sich aber nach meinem Eindruck konsistent nur so lesen, wenn man diesen Universalismus oder Kosmopolitismus in ihn hineinliest. Der Text spricht nicht gegen diese Deutung, die punktuell vorgebrachte Kritik am Kosmopolitismus ist nach meinem Eindruck kein Argument gegen Kosmopolitismus überhaupt, sondern nur Kritik am abstrakten Kosmopolitismus, der „sich dazu fixiert, dem konkreten Staatsleben gegenüberzustehen“98. Schärfer und allgemeiner artikuliert sich die Kritik am Kosmopolitismus allerdings im Naturrechtsaufsatz. Die Philosophie der Sittlichkeit, meint Hegel da auf einmal am Ende, „kann […] nicht zur Gestaltlosigkeit des Kosmopolitismus fliehen, noch zu der Leerheit der Rechte der Menschheit und der gleichen Leerheit eines Völkerstaats und der Weltrepublik, als welche Abstraktionen und Formalitäten das gerade Gegenteil der sittlichen Lebendigkeit enthalten“99.

92 93 94 95 96 97

Grundlinien, S. 124 (Anm. zu § 57). Grundlinien, S. 504 (§ 343), i. Orig. kursiv. Grundlinien, S. 503 (§ 340), i. Orig. kursiv. Grundlinien, S. 503 (§ 340), i. Orig. kursiv. Grundlinien, S. 503 (§340). Vgl. Charles Taylor, Hegel, Frankfurt am Main 1983, S.  510 f., wonach die „Volksgeister“ historische Gemeinschaften sind, die „sehr unvollkommen ausdrücken, was die späteren immer angemessener verkörpern“, wobei „[d]ie Antriebskraft der Bewegung […] der Widerspruch zwischen der äußeren Wirklichkeit und dem [ist], was sie verwirklichen soll.“ 98 Grundlinien, S. 361 (§ 209). 99 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Jenaer Schriften 1801-1807, Werke Bd. 2, hrsg. v. Eva Moldenhauer und K. M. Michel, 9. Aufl., Frankfurt am Main 2018 S. 530.

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Eine Begründung, warum das nicht möglich sein soll, findet sich allerdings nicht. Warum die „hohe Idee der absoluten Sittlichkeit“100 nicht auch oder gerade in den von Hegel denunzierten universalen Gestalten zu finden sein sollte, wird von ihm nicht dargelegt und ergibt sich auch nicht aus dem Gesamtzusammenhang seiner Rechtsphilosophie. VI.

Zusammenfassung und Ausblick

Entgegen dem ersten Eindruck lässt sich Hegels Rechtsphilosophie eine substantielle und kohärente Philosophie des internationalen Rechts sowie der internationalen Beziehungen entnehmen, zum Teil sogar eine, die man unmittelbar mit aktuellen Entwicklungen und Diskussionen in Verbindung bringen kann. Gegenwärtige Entwicklungen belegen bedauerlicherweise gerade auch die Aktualität jener Teile von Hegels Überlegungen zum Staatenverhältnis, die darin weniger Vernunft und Solidarität als Eigeninteresse und Gewalt erkennen. Sehr deutlich weist Hegel jedoch pessimistische oder fatalistische Geschichtsdeutungen zurück und begründet die Hoffnung, dass sich die Verhältnisse der Staaten und Völker insgesamt, wenn auch nicht teleologischlinear und unter Einschluss regressiver Episoden oder Phasen, insgesamt zum Besseren hin entwickeln könnten. Da ein Globalstaat oder eine Weltregierung einstweilen nicht in Sicht sind, kann die Geschichte als „Entwicklung der Momente der Vernunft“101 nur dadurch sich entwickeln, dass „Völker zum Vertragsverhältnis innerhalb ihrer und gegen andere kommen“102. Hegels Rechtsphilosophie gibt – wie bereits die Völkerrechtsphilosophie von Grotius – gute Gründe, warum diese Vertragsverhältnisse trotz des institutionellen Mangels an zwingenden Mechanismen als Rechtsverhältnisse zu begreifen sind. Der modernste Zug von Hegels Philosophie des internationalen Rechts ist, dass sich über ihren vollständigen Begriff der Anerkennung begründen lässt, warum sich Staaten – wie Menschen – nicht nur respektvoll in Ruhe lassen sollen, sondern sich notwendigerweise auch füreinander und für das, was in ihnen vorgeht, interessieren müssen und darüber zu Solidarität und Hilfe verpflichtet sind.

100 Ebd. 101 Grundlinien, S. 504 (§ 343). Kursivierung i. Orig. weggelassen. 102 Grundlinien, S. 171 f. (Anm. zu § 81).

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Das Privateigentum im historischen Kontext Eine Auslegung der Rolle vom Eigentumsrecht in der hegelschen Staatstheorie Matteo Rategni

1.

Die allgemeine Architektur des Systems des objektiven Geistes ist seit der ersten Vorlesung, die Hegel 1817 in Heidelberg hielt, unverändert geblieben. Dabei war die wichtigste Neuerung im Vergleich zur ersten Ausgabe der Enzyklopädie die Unterscheidung zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat. Das bedeutet jedoch nicht, dass Hegels politisches Denken in der Zeit zwischen 1817 und 1820 keine bedeutenden, wenn auch unauffälligen, Entwicklungen durchlief. Insbesondere möchte ich zunächst darauf hinweisen, dass es zwei Linien gibt, entlang derer sich das politische Denken Hegels in dieser Zeitspanne verändert. Die erste dieser Entwicklungslinien ist diejenige, entlang derer die Integration des Zweiten Standes in den Staat verläuft. Wenn man die Vorlesungen zwischen 1817 und 1819 vergleicht, kann man feststellen, dass die Art und Weise, wie der Zweite Stand in den Staat integriert wurde, sich signifikant weiterentwickelt hat. In den Heidelberger Vorlesungen, wo die Unterscheidung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat bereits auftaucht, schreibt Hegel: „Die Gesinnung ist nicht wesentlich in der Monarchie.“1 Ebenso: „Haben nun solche Corporationen viele Privilegien so können sie dem Ganzen gefährlich werden, der Zweck von Corporationen muß vom Allgemeinen und für das Allgemeine Ihnen gegeben werden.“2 Die Gesinnung spielt also keine Rolle, denn es kann kein Bewusstsein für die Rolle des Staates in den Korporationen entwickelt werden, deren Zweck von außen, vom Staat, zugewiesen werden muss. Wenn man sich die Vorlesungen des Semesters vor der Veröffentlichung des gedruckten Textes ansieht (1819–1820), ist die Theorie der Gesinnung

1 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, „Vorlesungen über die Philosophie des Rechts“, in: Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft, hg. v. der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften unter der Leitung von F. Nicolin und O. Pöggeler, Hamburg, 1968 ff. (Ab dieser Stelle so abgekürzt: G. W.); G. W. 26,1, S. 167. 2 Ebd. S. 160.

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© Brill Fink, 2024 | doi:10.30965/9783846768358_009

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wesentlich weiterentwickelt. Die Gesinnung ist nun „politisch“ geworden3 und wird innerhalb der Korporationen selbst entwickelt. Im gedruckten Text von 1820 wird dann die Verbindung zwischen Korporationen und politischer Gesinnung nicht nur bestätigt, sondern Hegel schreibt sogar, dass in „dem Korporationsgeist […] die Tiefe und die Stärke des Staates“ ist, die der Staat „in der Gesinnung hat“4. Diese Veränderungen, die hier in ihren Grundzügen skizziert werden, haben meines Erachtens eine eindeutige Bedeutung für die Entwicklung des politischen Denken Hegels: Hegel findet eine zufriedenstellende theoretische Lösung für das Problem, über das er seit seiner Jugend nachgedacht hatte. Man kann sagen, dass das Problem der Integration des zweiten Standes im Jahr 1820 aus seiner philosophischen Sicht endlich gelöst ist. Die andere Linie, entlang derer sich zwischen 1817 und 1820 eine politische Verschiebung in der Systematisierung der Hegelschen Staatstheorie vollzieht, besteht im Gegensatz zur ersten nicht aus einer fortschrittlichen theoretischen Festigung, sondern durch eine geschichtliche Sorge und eine konstante theoretische Schwierigkeit: Das ist die Sorge um die reaktionäre Rolle der feudalen Aristokratie in Preußen. Auch hier kann der Vergleich zwischen den letzten Jahren der Heidelberger Zeit und Hegels Ankunft in Berlin eine wichtige Entwicklungslinie aufzeigen. Solange er in Württemberg ist, scheint Hegel optimistisch, was das Schicksal des Staates angeht. Gerade in Bezug auf Württemberg verfasst Hegel die Schrift, in der er die neue Art der Integration zwischen dem Monarchen und den Ständen lobt, und in der er die Geburt eines ganz neuen Elementes, des politischen, sieht.5 Hegel ist überzeugt, dass das Königreich trotz des Widerstands der alten Stände bald eine Verfassung haben wird. Und genau das geschieht zwei Jahre später, im Jahr 1819. In den Vorlesungsnotizen zur Rechtsphilosophie aus den frühen Jahren der Berliner Zeit (1818–1819) sieht die Situation jedoch anders aus. Hatte Hegel bis zu den Heidelberger Vorlesungen argumentiert, dass die Adligen viel schreien könnten, ihre Privilegien dennoch weggefallen waren und, dass der Staat ihnen 3 Ebd. S.  528. Der Ausdruck „politische Gesinnung“ taucht zum ersten Mal in diesen Vorlesungen auf, denselben Vorlesungen, in denen sich Hegel zum ersten Mal von Montesquieus Monarchie distanziert, die nun als ‚feudal‘ konnotiert ist. Nun, da Hegel die systematische Rolle der Gesinnung entdeckt hat, erscheint ihm das Modell der Monarchie, für das er bis dahin eingetreten war, als fehlerhaft. 4 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin, 1820 (ab dieser Stelle so abgekürzt: Rph.); Rph., § 289 A. 5 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, „Beurteilung der in Druck erschienenen Verhandlungen in der Versammlung der Landstände der Königreichs Württemberg im Jahre 1815-1816“, in: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Heidelberg, 1817, heute in G. W. 15, S. 30-125; hier S. 48.

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Das Privateigentum im historischen Kontext

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keine Entschädigung für die Enteignungen hätte bezahlen müssen6, so ändert sich der Ton bei seiner Ankunft in Berlin auffallend. Es ist eine emblematische Stelle in den Notizen der ersten Berliner Vorlesungen, die diesen Wandel markiert: Der gesamte letzte Absatz des Vorworts zu den Vorlesungen 1818–1819 ist der Erklärung gewidmet, wie das Feudalsystem der Rechtsidee widerspricht, „indem es die Freiheit des Eigenthums und der Person nicht zur vollen Entwicklung kommen läßt.“7 Im Laufe der Vorlesungen 1819–1820 verweist er dann darauf, dass „thörigte Menschen“ sich eine Rückkehr zur Feudalmonarchie wünschen, „während der Kampf der ganzen neuern Zeit darin besteht, das politische Leben von Feudalverhältnissen zu reinigen.“8 Im Gegensatz zum Problem des zweiten Standes scheint Hegel keine zufriedenstellende Lösung für das historisch-politische Problem der feudalen Aristokratie zu finden. Hegels Schwierigkeiten mit dem Junker-Problem werden in der Tat deutlich, wenn man sich den Verlauf der Zusammensetzung der oberen Kammer der Gesetzgebenden Gewalt ansieht. Es ist bekannt, dass in der Rechtsphilosophie aus Gründen der politischen Stabilität nur Familien mit Majoratsrechten in der oberen Kammer sitzen dürfen. Hervorzuheben ist aber auch, dass Hegel in den folgenden Jahren mit zunehmenden Vorbehalten auf dasselbe Thema zurückkam9, bis er in seiner letzten politischen Schrift von 1831 sogar praktische Anleitungen zur Abschaffung des Majoratsrechts und der Privilegien der adligen Familien gab.10 Die Rekonstruktion dieser Entwicklungslinien müsste vertieft werden und würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Sie schematisch zu skizzieren, ist jedoch für den Zweck dieses Beitrages nützlich, da er darin besteht, die in der Rechtsphilosophie enthaltene Theorie des Privateigentums (§§ 41–70) nicht von der Perspektive der ersten Entwicklungslinie aus zu interpretieren, sondern unter Berücksichtigung des Problemhorizonts, der mit der zweiten verbunden ist: die Theorie des Eigentums als zentrales Instrument der rechtlichen Kodifizierung der sozialen und wirtschaftlichen Umwandlung der Verhältnisse auf dem Lande.

6 7 8 9

10

G. W. 26,1, S. 151. Ebd., S. 235. Ebd., S. 538. G. W. 26,3, S. 1456. In den Vorlesungsunterlagen zur Rechtsphilosophie von 1824-25 steht in Bezug auf den Adel: „wenn nun seiner Natur nach ein Verhältniß ein Hinderniß ist, Bestimmungen in sich hat die nicht übereinstimmen mit dem Zweck, so ist es nicht dauerhaft.“ Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, „Über die englische Reformbill“, in: Allgemeine Preussische Staatszeitung, Berlin, 1831; heute in G. W. 16, S. 325-404; hier S. 353-354.

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Die Notwendigkeit, auf dieses Thema zurückzukommen, ergibt sich, weil fast alle Beiträge – damit sind nur Artikel gemeint, denn es gibt keine Monographien zum Thema Eigentum bei Hegel – implizit oder explizit nur den obengenannten ersten Horizont der politischen Probleme als Kontext für ihre Forschung genommen haben, indem sie Hegels Theorie des Privateigentums immer im Zusammenhang mit den Entwicklungen der modernen Aspekte der bürgerlichen Gesellschaft, der sozialen Arbeitsteilung und der einsetzenden Industrialisierung analysiert haben. Dies ist der Fall für Artikel, die zu Klassikern über dieses Thema geworden sind, angefangen mit Ritters Aufsatz von 1961. Hier wird nicht nur das abstrakte Recht, sondern auch das Eigentum, ohne jegliche Problematisierung, als „bürgerlich“ gezeichnet.11 Nachfolgende Beiträge, wie die von Schild oder Stillmann12, befinden sich in der gleichen Interpretationslinie. In all diesen Beiträgen, die selbst von den aktuelleren Wissenschaftlern – wie zum Beispiel Peperzak13 – nicht in Frage gestellt wurden, findet sich, was ich für ein methodologischer Fehler halte: nämlich die Betrachtung der Eigentumsparagraphen ausschließlich unter nichtproblematisierte Bezugnahme auf die wirtschaftliche Tätigkeit des zweiten Standes. Was ich stattdessen hier untersuchen möchte, ist die Möglichkeit, dass die Paragraphen über das Privateigentum eine systematische Funktion nicht so sehr für die rechtliche Kodifizierung des Reichtums der „beweglichen Seite“14 der bürgerlichen Gesellschaft erfüllen, sondern vielmehr den rechtlichen Besitz eines sozial und politisch speziellen Objekts im historischen Kontext der Zeit kodifizieren: das Land, das nicht-bürgerliche Gut par excellence. Ich argumentiere, dass in der Rechtsphilosophie das bäuerliche Privateigentum der Drehpunkt ist, um den sich der bereits erwähnte „Kampf der ganzen neuern Zeit“ dreht, d.h. der Kampf des Staates gegen den reaktionären Widerstand 11 12

13 14

Ritter, Joachim, Person und Eigentum. Zu Hegels ‚Grundlinien der Philosophie des Rechts’ §§ 34-81, 1. Ausgabe 1961, heute in: G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. Siep, Ludwig, S. 55-72; hier S. 62. Schild, Wolfgang, „Begründungen des Eigentums in der politischen Philosophie des Bürgertums. Locke – Kant – Hegel“, in: Das Recht des Menschen auf Eigentum, hg. v. Schwartländer, Johannes und Willoveit, Dietmar, 1983, S. 33-60; Stillman, Peter G., „Person, Property, and Civil Society in the Philosohpy of Right“, in: Hegel Social and Political Thought. The Philosophy of Objective Spirit, hg. v. Verene, Donald Philipp, Hemel Hempstead, 1980; ders., “Property, Contract and Ethical Life in Property in Hegel’s Philosohpy of Right”, in: Hegel and Legal Theory, London, 1991, S. 205-227. Peperzak, Adrian Theodor, Modern Freedom. Hegel’s legal, moral and political philosophy, Durdrecht, 2001, S.  225, Fußnote  2: Stillman “offer an excellent presentation of Hegel’s conception of property and contract right and its relation to the ethical totality.” Rph., § 308.

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Das Privateigentum im historischen Kontext

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der feudalen Aristokratie. In der Tat gibt es zwei Artikel, die in diese Richtung gegangen sind. Rizzi und Salter haben deutlich gemacht, dass die Agrarfrage ein unverzichtbarer Punkt für die Auslegung der Paragraphen zum Privateigentum ist.15 In meinem Beitrag werde ich von ihren Forschungsperspektive ausgehen und zeigen, welche systematischen Konsequenzen es haben kann, wenn man Eigentum in der Rechtsphilosophie in erster Linie als auf Land bezogenes Eigentum versteht. Der nächste Abschnitt dieses Beitrags liefert eine historische Kontextualisierung der politischen Situation in Preußen während der Reformzeit. Der dritte Abschnitt besteht dann aus einer Lektüre der Paragraphen des Privateigentums (§§ 41–70), ausgehend von dem Problem der Agrarfrage. Der vierte Abschnitt konzentriert sich auf die Analyse einiger Passagen über die Sphäre der Sittlichkeit, um die systematischen Implikationen der Theorie des Privateigentums zu deuten. Der abschließende Teil beantwortet die Frage, ob die Interpretation der Hegelschen Eigentumstheorie als auf Boden bezogene Theorie systematische Auswirkungen auf das Verständnis der Eigentumstheorie und des abstrakten Rechts mit sich bringt.

2.

In den Jahren nach der Französischen Revolution veränderte sich der Begriff des Eigentums in dem deutschen Raum in nicht unerheblichem Maße. Um dies zu erkennen, kann man den Begriff des Eigentums, der im Allgemeinen Landrecht 1794 enthalten war, mit der Wendung vergleichen, die der Begriff im Jahr 1801 dank eines Aufsatzes von fulminanter Wirkung von Thibaut erfuhr.16 Wenn im Landrecht unter der Kategorie Eigentum auch die Kategorien der feudalen Herkunft des geteilten Eigentums oder der Lehen selbst auftauchten17, markierte 1801 einen Wendepunkt. Eigentum wurde fortan ausschließlich als eines und ungeteilt verstanden, also im Gegensatz zu den feudalen Kategorien,

15

Rizzi, Lino, Possesso e proprietà nella ‘Filosofia del diritto’, in: Rivista critica di storia della filosofia, luglio-settembre 1980, S. 138-151; Salter, Michael, Hegel and the Social Dynamics of Property Law, in Property Problems: From Genes to Pension Funds, hg. v. Harris, James W., Zuidpoolsingel, 1998, S. 257-73. 16 Deter, Gerhard, Allodifikation, Grundablösung und das Entschädigungsproblem, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, 130. Band, 2013, S. 205-237; hier S. 210. 17 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Berlin, 01. 06. 1794, (ab dieser Stelle so abgekürzt: ALR.), I Teil, 17. und 18. Titel.

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die eine Aufteilung des Besitzes vorsahen.18 Als 1807 die Reformsaison in Preußen begann, war die Kategorie des Eigentums weit von der des Landrechts entfernt.19 Die Betrachtung dieser schematischen Etappen allein würde bei der Lektüre der in den Grundlinien enthaltenen Theorie des Eigentums ohne eine angemessene und vorläufige historische Kontextualisierung große Vorsicht erfordern. Hinzu kommt, dass das Eigentum, insbesondere der Boden, in der preußischen Reformsaison keineswegs eine Nebenrolle spielte. Es ist kein Zufall, dass das Eröffnungsedikt dieser Periode, das Oktoberedikt von 1807, den Landbesitz zum Thema hat und den offiziellen Titel „Edikt den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums so wie die persönlichen Verhältnisse der Land-Bewohner betreffend“ trägt. Obwohl sich die Rechtshistoriker selbst kaum mit dem Allodifikationsprozess in Deutschland beschäftigt haben20, ist die Frage der Landbefreiung im gesamten Vormärz von grundlegender politischer Bedeutung. Huber zum Beispiel kommentiert die Bedeutung des Oktoberedikts mit diesen Worten: „[D]ie Kerninstitute der Privatrechtsordnung, vor allem die Arten und Formen des Grundeigentums und seines Erwerbs, sind zugleich Kerninstitute des Verfassungsrechts.“21 Die Rechtsformen des Landbesitzes waren die Instrumente, mit denen die politische Macht der Feudalherren ein Jahrtausend lang legitimiert worden war. Der Übergang von feudalen Rechtsformen zu bäuerlichem Grundeigentum – die Allodifikation – war der Knotenpunkt im Übergang von der feudalen zur modernen Staatsorganisation. Nicht nur die Beziehungen zwischen Herren und Bauern, sondern auch – und vor allem – die Kerninstitute des öffentlichen Rechts selbst. Die Delegitimierung der Macht der Feudalherren war die Voraussetzung dafür, dass eine Verfassung überhaupt verabschiedet werden konnte. Bekanntlich scheiterte das Reformprogramm in Preußen am Widerstand der Feudalfamilien22, die die Agrarreform nutzten, um ihre Güter in Eigentum umzuwandeln23 und die ihre Macht in den Landgemeinden erhalten24 18 Thibaut, Anton Friedrich Justus, Über dominium directum und utile, in: ders., Versuche über einzelne Theile der Theorie des Rechts, Bd. 2, Jena, 1801, S. 71-110. 19 Es sollte nicht vergessen werden, dass drei Jahre zuvor auch der Code civil des Français verkündet worden war. 20 Deter, Gerhard, Grundablösung und das Entschädigungsproblem, a.a.O., S. 205. 21 Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte: seit 1789. Band 1: Reform und Restauration: 1789 bis 1830, Stuttgart Berlin Köln, 1990, S. 191-192. 22 Lübbe-Wolff, Gertrude, Hegels Staatsrecht als Stellungnahme im ersten preußischen Verfassungskampf, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 1981, Bd. 35, S. 476-501; S. 478. 23 Koselleck, Reinhart, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, München, 1989, S. 498. 24 Huber, Erns Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte, a.a.O., S. 171-172.

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Das Privateigentum im historischen Kontext

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und die das Versprechen des Königs, eine Verfassung zu erlassen, mehrfach zunichtemachten. Nicht nur die Feudalherren, sondern auch die Reformatoren waren sich bewusst, dass die Umgestaltung des Staates in der Befreiung der Bauernschaft und des Bodens lag: „Soll die Nation veredelt werden, so muß man dem unterdrückten Teile derselben Freiheit, Selbständigkeit und Eigentum geben“25, schrieb von Stein im Juni 1807. Der unterdrückte Teil der Nation, der zu dieser Zeit etwa 5/7 der Bevölkerung ausmachte, war die Bauernschaft.26 Dies sind die Worte Altensteins in einem vorbereitenden Dokument für Reformen, das im September 1807 verfasst wurde: „Der Bauernstand ist unter allen Ständen derjenige, welcher keine Vorzüge hatte, auf welchem aller Druck ruhte und dem größtenteils die persönliche Freiheit genommen war. Es ist kaum glaublich, daß in einem Staat, wie dem Preußischen, in der Verfassung solche Spuren der gröbsten Barbarei zurückgeblieben seien, wie dieses der Fall rücksichtlich der Erbuntertänigkeit ist. […] Die Erlangung des Eigentums, eine mildere Fronverfassung pp. wird sich von selbst nach dem Bedürfen ergeben oder einleiten lassen, sobald nur freie Menschen vorhanden sind, die ein Interesse dabei haben. Der Staat gewinnt alle die, welche aus der Erbuntertänigkeit entlassen werden, da sie bisher nicht ihm, sondern dem Herrn, als Sache angehörten.“27

Die Agrarfrage ist nicht nur das Thema, an dem man ansetzen muss, um die Nation zu heben. Ebenso offensichtlich ist die unmittelbare und strukturelle Verbindung der Rechtskategorie des Eigentums mit der Agrar- und Bauernfrage, die ihrerseits den Angriff auf die Besitztümer – und damit auf die Privilegien – der Landaristokratie als unmittelbare Konsequenz hat. Mit anderen Worten, das Eigentum ist zu diesem historischen Zeitpunkt das rechtliche Instrument für die soziale und wirtschaftliche Emanzipation der großen Mehrheit der Bevölkerung und für die Zerschlagung der Machtstrukturen der Feudalaristokratie. Auch Hardenberg brachte im September 1807 den Kern der Sache auf den Punkt: 25 Vom Stein, Heinrich Friedrich Karl, Über die zweckmäßige Bildung der obersten und der Provinzial-, Finanz- und Polizei-Behörden in der preußischen Monarchie, Berlin, 1807 in ders., Briefe und amtliche Schriften, Bd. 2.1, Stuttgart, 1959, S. 380 ff. 26 Tarello, Giovanni, Storia della cultura giuridica moderna. Assolutismo e codificazione del diritto, Bologna, 1976, S. 501-502. 27 Vom Stein zum Altenstein, Karl, Über die Leitung des Preußischen Staats an S. des Herrn Staatsminister Freiherrn von Hardenberg Exzellenz, in Winter, Georg, Die Reorganisation des Preußischen Staates unter Stein und Hardenberg, Bd. I, erster Teil, Leipzig, 1931, S. 364566; hier S. 402-404.

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Matteo Rategni „Das alleinige Vorrecht des Adels zu dem Besitz der sogenannten Rittergüter ist, wie der Herr von Altenstein richtig ausgeführt hat, so schädlich und so wenig mehr für unsere Zeiten und Verfassungen passend, daß die Aufhebung desselben durchaus notwendig ist sowie die aller übrigen Vorzüge, welche die Gesetze bisher bloß dem Edelmann als Gutsbesitzer beilegten.“28

Dies sind die Voraussetzungen, mit denen 1811 durch das Edikt die Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse betreffend und das Edikt zur Beförderung der Landkultur, beide von Hardenberg unterzeichnet und am 14. September verkündet, versucht wurde, die Absichten von 1807 umzusetzen.29 Hardenberg selbst musste jedoch fünf Jahre später, 1816, anerkennen, dass die in den Edikten von 1811 gesetzten Fristen nicht eingehalten worden waren, und zugeben, dass es unmöglich war, die bestehenden Machtverhältnisse zu erschüttern; d.h. die Kontrolle, die die Landaristokratie über die Durchführung der Agrarreform ausübte.30 Ein weiteres Dokument ist jedoch noch zu berücksichtigen, um ein hinreichend vollständiges historisches Bild zu erhalten, damit zur Analyse der Rechtsphilosophie übergangen werden kann. Das Dokument mit dem Titel „Ideen zu einer landständischen Verfassung in Preußen“ wurde von Hardenberg 1819 geschrieben.31 Dieses Dokument ist wichtig, weil es ein Jahr vor der Rechtsphilosophie bezeugt, wie das Eigentum, verstanden als Grundeigentum, ein zentraler Punkt für die Überlegungen zur Erlangung einer Verfassung in Preußen war. Die erste Bedingung, die das Dokument aufführt, damit eine Verfassung verkündet werden kann, ist natürlich das Versprechen des Souveräns. Die zweite Bedingung, die Hardenberg nennt, lautet: „Wir haben lauter freie Eigentümer“. Wir wissen, dass Hardenberg gelogen hat, und dass die Agrarreformen (das wichtigste Instrument zur Schaffung freier Eigentümer in großem Umfang) auf die schiefe Bahn geraten war und drei Jahre später mit seinem Tod scheitern würde. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass das freie Eigentum, nach dem Placet des Souveräns, die wichtigste Voraussetzung für die Verabschiedung einer Verfassung war.

28

Von Hardenberg, Karl August, Über die Reorganisation des Preußischen Staats verfasst auf höchsten Befehl Sr. Majestät des Königs, in Winter, Georg, Die Reorganisation des Preußischen Staates, a.a.O., S. 317. 29 Koselleck, Reinhart, Preußen zwischen Reform und Revolution, a.a.O., S. 490. 30 Ebd., S.  491-492. Vgl. auch Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte, a.a.O., S. 192-193. 31 Von Hardenberg, Karl August, Ideen zu einer landständischen Verfassung in Preußen, in von Treitschke, Heinrich, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Zweiter Teil, Leipzig, 1928, S. 625-627.

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Dieses Dokument wird übrigens auch von Rosenzweig zitiert32, und zwar auf den wenigen Seiten, auf denen er das Thema Privateigentum in der Philosophie des Rechts behandelt. Hier ist es interessant festzustellen, dass es Rosenzweig im Gegensatz zur Literatur der zweiten Jahrhunderthälfte nicht im Entferntesten in den Sinn kommt, eine Verbindung zwischen Privateigentum und dem Zweiten Stand herzustellen. Alle Überlegungen, die Rosenzweig auf diesen Seiten anstellt, zielen auf die Rolle des Bodens beim Übergang von einem Feudalstaat zu einem modernen Staat. Rosenzweig erkennt ausdrücklich an, dass es „grundlegende politische Fragen“ gibt, die mit der Eigentumsfrage zusammenhängen, und dass Hegel sogar der erste ist, der diese Debatte in den Bereich der Rechtsphilosophie gebracht hat.33 Angesichts dieser Überlegungen ist es nicht leicht zu erklären, warum sich die Literatur zum Thema Eigentum bei Hegel seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur auf den vom Zweiten Stand angehäuften Reichtum konzentriert hat. Das Problem der Allodifikation und seine politischen Implikationen waren zu Hegels Zeiten das Verfassungsproblem des Staates. Der Prozess der Allodifikation sollte, wie Deter betonte, bis 1918 dauern.34 Und man muss nur einen Blick auf die Schriften des jungen Weber werfen35, um zu erkennen, dass Preußen, insbesondere in den Gebieten östlich der Elbe, auch 70 Jahre nach der Rechtsphilosophie noch weit davon entfernt war, diese Frage gelöst zu haben.36 Wenn man die Theorie des Privateigentums bei Hegel mit dem Bestreben liest, die Modernität dieser Theorie aufzuzeigen, läuft man Gefahr, die eigentliche historisch-philosophische Bedeutung dieser Absätze zu verlieren.

3.

Es wurde zu Recht argumentiert, dass das Staatsrecht der Rechtsphilosophie als „Stellungnahme im ersten preußischen Verfassungskampf“ ausgelegt werden kann.37 Diese Aussage ist nicht so zu verstehen, als sei die Rechtsphilosophie 32 Vgl. auch Kervégan, Jean-François, Hegel, Carl Schmitt. Le politique entre spéculation et positivité, Paris, 1992, S. 273, Fußnote 3. 33 Rosenzweig, Franz, Hegel und der Staat, Frankfurt am Main, 2010, S. 381 und ff. 34 Deter, Gerhard, Grundablösung und das Entschädigungsproblem, a.a.O., S. 214. 35 M. Weber, Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, 1892. 36 Bemerkenswert ist eine Passage, in der Ritter in seinem Artikel über das Eigentum „Maschinen, Traktoren, Elektrostationen“ als „Symbole der Freiheit“ bezeichnet; Ritter, Joachim, Person und Eigentum, a.a.O., S. 67. 37 Lübbe-Wolff, Gertrude, Hegels Staatsrecht als Stellungnahme im ersten preußischen Verfassungskampf, a.a.O.; vgl. auch Kervégan, Jean-François, Hegel, Carl Schmitt, a.a.O., S. 278.

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ein philosophisches Deckmäntelchen für politisch-ideologische Argumente. Entscheidend ist vielmehr, dass in der „Ansehung des […] geschichtlichen Elements im positiven Recht“, wie Montesquieu zeigte,38 die wahrhafte historische Ansicht und der philosophische Standpunkt zusammenfallen. Das abstrakte Recht ist, obwohl es in dem Werk im Vergleich zu den Paragraphen über die Weltgeschichte fast als ihr Antipode erscheint, dennoch nicht ahistorisch zu verstehen. Man denke an die universalistische Theorie der Persönlichkeit: Die theoretische Distanz, die sie von den Formulierungen der Metaphysik der Sitten39 oder vom Preußischen Landrecht selbst (das z. B. die Existenz von „unterthänigen Landbewohnern“ vorsah)40 trennt, ist gleichzeitig eine historische Distanz. Fünfundzwanzig Jahre früher hätte die Hegelsche Theorie der Persönlichkeit noch ganz anders ausgesehen. Generell ist das abstrakte Recht stark vom historischen Kontext geprägt, in dem es verfasst wurde, der wiederum von theoretischen Debatten geprägt war, die über die Grenzen der einzelnen deutschen Staaten hinausgingen und typisch für das Europa nach 1789 waren. Ein Beispiel, das für diesen Beitrag von großer Bedeutung ist, ist die Debatte, die sich um die Legitimität des domium utile und des dominium directum entwickelte:41 Es ging um die Frage, welches von beiden das legitime Recht war, und, allgemeiner ausgedrückt, um die Frage, wie die Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse auf dem Lande vonstatten gehen sollte. Thibaut hat zum Beispiel 1817 zu dieser Frage Stellung genommen. Er vertrat die Meinung, die sofort für die gesamte romanistische Schule kanonisch wurde42, dass das dominium utile als dominium in re aliena zu betrachten sei, d.h. als illegitim und daher ungültig.43 Es ist wichtig, sich über diesen historischen Kontext im Klaren zu sein, da sonst die Bedeutung der Paragraphen über das Eigentum nicht verstanden werden kann. Hegel selbst schreibt: „Die ursprünglichen, d. i. unmittelbaren 38 39

Rph., § 3 A. Kant, Immanuel, Metaphysik der Sitten, 1797, heute in Akademieausgabe, Band VI, S. 203494, hier S. 277. 40 ALR., II Teil, VII Titel, dritter und vierter Abschnitt. Um nur ein Beispiel zu nennen, § 227: „Faules, unordentliches, und widerspenstiges Gesinde, kann die Herrschaft durch mäßige Züchtigungen zu seiner Pflicht anhalten; auch dieses Recht ihren Pächtern und Wirthschaftsbeamten übertragen.“. Vgl. G. Tarello, Storia della cultura giuridica moderna, a.a.O., S. 486-506. 41 Schwab, Dieter, Eigentum, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band  2, hg. v. Brunner, Otto, Conze, Werner, Koselleck, Reinhart, Stuttgart, 1975, S. 65-115; hier S. 70-72; 89-93. 42 Ebd., S. 90. 43 Thibaut, Anton Friedrich Justus, Über dominium directum und utile, in ders., Versuche über einzelne Theile der Theorie des Rechts, (2. Aufl.), Bd. 2, Jena, 1817, S. 266 ff.

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Erwerbungsarten und Titel (§ 54 ff.) fallen in der bürgerlichen Gesellschaft eigentlich hinweg und kommen nur als einzelne Zufälligkeiten oder beschränkte Momente vor“. Und noch: „Das Eigentum beruht nun auf Vertrag“, der die physiologische Form des Warenaustauschs zwischen freien Eigentümern darstellt.44 Hegels Argumente in den Eigentumsparagraphen gehen jedoch weit über das hinaus, was für die Entwicklung der Vertragstheorie funktional ist. Meine These ist, dass viele der in den Paragraphen über das Privateigentum enthaltenen Argumente darauf abzielen, zu zeigen, was in Bezug auf das Eigentum an sich vernünftig ist, und zwar mit besonderem Bezug auf jene – sozialen und rechtlichen – Orte, an denen es am nötigsten war. Es geht also darum, zu klären, was auf dem Lande und in allem, was sich um die Agrarreform und die Auflösung der feudalen Organisation des Bodens dreht, vernünftig ist. „Die Person muß sich eine äußere Sphäre ihrer Freiheit geben, um als Idee zu sein.“45 Dieser Anfangssatz ermöglicht Hegel, das Konzept des Privateigentums und der abstrakten Freiheit in Form einer progressiven Externalisierung der letzteren darstellen zu können. Die systematische Rolle der Eigentumsparagraphen besteht darin, den Willen in die materielle Welt zu übertragen und dadurch die rechtlichen Verhältnisse zu bestimmen. Ich werde nun drei Beispiele betrachten, die aus drei Paragraphen-Gruppen bestehen (§§ 48, 56, 57; 61,62; 66, 67). In jeder von diesen Gruppen geht es darum, eine Kritik an einer oder mehreren Antinomien des formalen Denkens zu entwickeln46 und gleichzeitig eine Stellungnahme zu einem rechtlichen Problem darzustellen, das auch eine Relevanz für den historischen Kontext der Agrarfrage mit sich bringt. 1) Die ersten Antinomien, deren Fehlschluss Hegel aufzeigt, sind die der Trennung von Seele und Körper (§ 48) und von Arbeit und Besitznahme (§ 56–57). Aus rechtlicher Sicht ist eine Rechtfertigung von körperlichen Misshandlungen mit der Begründung, dass die Seele unabhängig vom Schicksal der körperlichen Gliedmaßen frei bleibt, nicht zulässig.47 Hier ist eine erste Stellungnahme zu finden, nämlich die, die darauf abzielt, sich von jeder Legitimierung der Sklaverei, der Leibeigenschaft und ganz allgemein der physischen Ausbeutung der Arbeitenden zu distanzieren: „Nur weil Ich als Freies

44 45 46 47

Rph., § 217. Ebd. § 41. Ebd. § 57 A. Ebd. § 48.

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im Körper lebendig bin, darf dieses lebendige Dasein nicht zum Lasttiere mißbraucht werden“.48 Die Argumentation wird in § 57 fortgesetzt, wo Hegel auf das Thema der notwendigen Besitznahme der Person über ihren eigenen Körper zurückkommt, die durch eine physische und geistige Ausbildung erfolgt: „[E]rst durch die Ausbildung seines eigenen Körpers und Geistes, wesentlich dadurch, daß sein Selbstbewußtsein sich als freies erfaßt, nimmt er sich in Besitz und wird das Eigentum seiner selbst und gegen andere.“49 Einerseits kann der Mensch also nicht zum Lasttier werden, andererseits wird er sich genau durch die Arbeit seines eigenen Willens und des Körpers, in dem er existiert, bewusst. Wo liegt die Grenze zwischen Ausbeutung und Bewusstwerdung? Hegels Antwort lautet: Eine wirkliche Ausbildung findet nur statt, wenn „das Subjektive und Objektive in sich vereinigt“ werden50, d.h. wenn die Arbeit einer Besitznahme entspricht. Am § 56 schreibt Hegel, dass „das Formieren […] die der Idee angemessenste Besitznahme“ ist. Hegels Argument scheint also zu sein“ dass Arbeit nur dann legitim ist, wenn sie eine Formierung ist, d.h. wenn sie zu einer Besitznahme der vorliegenden Materie bringt. Damit Arbeit eine Formierung ist, d.h. eine Vereinigung von Subjektivem und Objektivem und damit der Idee angemessen, muss sie eine Besitznahme, also das legitime Eigentum von dem, woran gearbeitet wurde, implizieren. Die erste Stellungnahme lässt sich daher wie folgt zusammenfassen: Zum Begriff der Person gehört ihre Fähigkeit, zu arbeiten und damit die vor ihr liegende Materie zu formieren. Diese Leistung des Körpers garantiert eine Besitznahme der transformierten Materie. Wie ein Lasttier zu arbeiten, Arbeit ohne Besitz zu ergreifen, führt nicht zur Bildung des eigenen Körpers und Geistes und widerspricht daher dem Begriff der Person: „Der Standpunkt des freien Willens, womit das Recht und die Rechtswissenschaft anfängt, ist über den unwahren Standpunkt, auf welchem der Mensch als Naturwesen und nur als an sich seiender Begriff, der Sklaverei daher fähig ist, schon hinaus.“51 2) Im Abschnitt über den Gebrauch der Sache (§§ 59–64) wird das Verhältnis zwischen Person, Körperleistung (Arbeit) und Eigentum an der Sache weiter bestimmt, und insbesondere in §§ 61–62 nimmt Hegel Stellung spezifisch zur Agrarfrage. Am  § 61 schreibt er: „so ist der ganze Gebrauch oder Benutzung die Sache in ihrem ganzen Umfange, so daß, wenn jener mir zusteht, Ich der 48 49 50 51

Ebd. § 48 A. Ebd. § 57. Ebd. § 56 A. Ebd. § 57 A.

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Eigentümer der Sache bin, von welcher über den ganzen Umfang des Gebrauchs hinaus nichts übrig bleibt, was Eigentum eines anderen sein könnte.“52 Wenn eine Sache vollständig und ausschließlich von nur einer Person genutzt wird, dann hat und kann diese Sache nur einen Eigentümer haben: denjenigen, der sie nutzt. Bei der Lektüre dieses Paragraphen, mehr noch als bei den vorangegangenen, kommt der Verdacht auf, dass der Bezug auf den Boden für Hegel nicht nur ein privilegierter Fall des Eigentumsrechts ist, sondern dass der Boden und die sozialen Beziehungen auf dem Lande vielmehr den Gegenstand bilden, um welchen herum die Theorie des Privateigentums selbst konzipiert wird.53 Dieser Eindruck bestätigt sich im folgenden Paragraphen (und noch einmal in § 63, wo die Anmerkung dem Lehenträger gewidmet ist), der mit einem Hinweis auf das freie, volle Eigentum endet. Selbst dieser letzte Verweis bezieht sich auf die Notwendigkeit54, das geteilte Eigentum zu überwinden, eine Kategorie, die die feudale Organisation des Bodens bezeichnete. Tatsächlich greift die Anmerkung in die Debatte ein, die in jenen Jahren darüber geführt wurde, wie der Übergang von feudalen Rechtskategorien, die die Landbesitzverhältnisse regelten, umgesetzt werden sollte. Hegel vertritt den Standpunkt, dass das dominium utile, wenn es die exklusive Arbeit an einem Stück Land bezeichnet, das einzige legitime Eigentumsrecht ist. Somit kann in diesem Fall das dominium directum, d.h. das Herrschaftsprivileg, Rechte auf demselben Boden geltend zu machen und somit Steuern in Naturalien oder in Geld zu erheben, nicht gelten. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass nach Hegel derjenige, der das Recht hatte, den Acker zu nutzen und ihn ausschließlich bearbeitete, der einzige rechtmäßige Eigentümer sein musste; und es blieb nichts übrig, was jemand anderes in Besitz nehmen konnte. So schreibt Hegel dazu in den Vorlesungsnotizen zur Philosophie des Rechts im ersten Jahr in Berlin: „Wenn das dominium utile sämtliche Benutzung umfaßt, so ist es das principale und das dominium directum eigentlich nichts.“55 3) Die dritte Stellungnahme, die ich hier betrachten möchte, betrifft ein Unrecht, das nach Hegel an der Persönlichkeit begangen werden kann. Das 52 53

54 55

Ebd. § 61. Genau dies ist die These des bereits erwähnten Artikels von Rizzi aus dem Jahr 1980 und auch der Standpunkt von Rosenzweig, wenn er sich zu diesem Teil der Rechtsphilosophie äußert. Zum § 61 und der Bezug auf die Agrarfrage, vgl., z. B., G. W. 26,3, S. 1142: Den Notizen nach sind alle die Beispiele Hegels für diesen Paragraph den Ackern und der Landwirtschaft bezogen. In der gleichen Richtung geht die Anmerkung zu Rph., § 46. G. W. 26,1, S. 262.

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ist das Unrecht der Entfremdung der gesamten Produktion einer Person: „Von meinen besonderen, körperlichen und geistigen Geschicklichkeiten und Möglichkeiten der Tätigkeit kann ich einzelne Produktionen und einen in der Zeit beschränkten Gebrauch von einem anderen veräußern“. Hegel betont hier, dass die Entfremdung nicht einmal dann als legitim angesehen werden kann, wenn ein Mensch den Wunsch hat, sich von seiner gesamten Produktion oder von seiner ganzen „durch die Arbeit konkrete[n] Zeit“ zu entfremden. Wenn ich mich von meiner gesamten Zeit und Persönlichkeit entfremden wollte, ist das Verhältnis in keiner Weise legitim und besteht in einem „Unrecht“, „das ich und der andere meinem Begriff und Vernunft angetan hat, die unendliche Existenz des Selbstbewußtseins als ein Äußerliches behandeln [zu] lassen und behandelt zu haben.“56 Hegel betont hier erneut, dass es ihm darum geht, bereits im abstrakten Recht die Antinomien des formalen Denkens zu überwinden: „Es ist dasselbe Verhältnis wie oben,  § 61, zwischen der Substanz der Sache und ihrer Benutzung; wie diese, nur insofern sie beschränkt ist, von jener verschieden ist, so ist auch der Gebrauch meiner Kräfte von ihnen selbst und damit von mir nur unterschieden, insofern er quantitativ beschränkt ist; – die Totalität der Äußerungen einer Kraft ist die Kraft selbst, – der Akzidenzen die Substanz, – der Besonderungen das Allgemeine.“57 Dies sind drei Beispiele für den philosophischen und rechtlichen Standpunkt, den Hegel in den Paragraphen über das Privateigentum vertritt. Aus rechtlichphilosophischer Sicht geht es darum, die Antinomien des formalen Denkens zu überwinden und den Begriff der Person in einer der Idee angemessenen Weise zu denken; aus historischer Sicht geht es darum, zu beschreiben, wie der entscheidende Übergang der Beziehungen auf dem Lande ablaufen soll, indem man ins Detail geht, wie die Idee genau dort verwirklicht werden soll, wo es am schwierigsten ist, sie zu verwirklichen; nämlich in den sozialen Beziehungen auf dem Lande. Die auf diesen Seiten dargelegte Theorie des Privateigentums hat den Begriff der Person so weit entwickelt und bestimmt, dass sie nicht nur das Instrumentarium liefert, um die Situationen der Sklaverei oder Leibeigenschaft de jure für unrechtmäßig zu erklären, sondern auch Ausbeutungsverhältnisse de facto, wo sie üblich waren und bleiben würden: zu Hegels Zeiten, wie die Dokumente der Reformer belegen, vor allem auf dem Lande.

56 57

Rph., § 66 A. Ebd. § 67 A.

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4.

Die Verfolgung der Spur des Landes in der Sphäre der Sittlichkeit im Lichte der in den Abschnitten über das abstrakte Recht hervorgehobenen Stellungnahmen kann dazu beitragen, einige für den systematischen Aufbau der Rechtsphilosophie relevante Fragen zu erhellen. Es gibt zwei Stellen in dem Werk, an denen Hegel auf den ersten Stand zurückkommt: Es sind  § 203, d.h. der erste Paragraph über die soziale Zusammensetzung des Systems der Bedürfnisse, und die Paragraphen 305–307, in denen Hegel die institutionelle Funktion und die soziale Zusammensetzung der Oberkammer beschreibt. Ein erster Vorteil einer Lesart des Privateigentums, die die historische Dimension berücksichtigt, besteht darin, dass sie einen wichtigen Aspekt klären kann: In § 203 und den §§ 305–307 bezieht sich Hegel nicht auf dasselbe soziale Subjekt.58 Abgesehen davon, dass Hegel selbst nach den Vorlesungsnotizen von 1824–25 auf diesen Punkt hinweist59, liegt der Grund für die NichtIdentität zwischen diesen beiden sozialen Gruppen, obwohl sie beide zum ersten Stand gehören, in der Rechtsnatur des Besitzes, die schon bei der Analyse der §§ 61–62 erwähnt wurden. Eine der Konsequenzen der Stellung, die Hegel in diesen Paragraphen in Bezug auf das dominium utile und das dominium directum einnimmt, ist in der Tat, dass das Majoratsrecht nicht legitimerweise unter die Kategorie des Eigentumsrechts subsumiert werden kann. Derjenige, der ein Majoratsrecht hat, ist höchstwahrscheinlich auch derjenige, der ein dominium directum über sein eigenes Land hat, d.h. ein dominium, das, wenn es vor das dominium utile derjenigen gestellt wird, die dasselbe Land exklusiv bewirtschaften, erlöschen muss.60 Weitere Gründe für die Unmöglichkeit, das Majoratsrecht als Eigentum zu betrachten, sind erstens, dass es weit davon entfernt ist, eine 58

59

60

Diese Frage ist keineswegs von vornherein entschieden. Vgl. z. B.  Peperzak, der eine andere Position vertritt als die hier vertretene: A. T. Peperzak, Modern Freedom, a.a.O., S. 450 (Kommentar zum § 203): “The first class comprises the hereditary owners of large tracts of land (the so-called Junkers). The soil is their main resource and their products are obtained by the cultivation of nature. Their existence is ruled by the regularities and contingencies of nature, to which their work must adjust”. G. W. 26,3, S. 1456: „Es sind zwei Stände, der eine, der welcher auf das Sittliche der Familie angewiesen ist, und in Ansehung der Subsistenz auf den Grundbesitz, einerseits der kleine Besitzer, der Bauern- M stand, andererseits der Adel, der große Grundbesitzer, der ausserdem noch privilegirt ist und dieser ist es worum es sich handelt“. In den Vorlesungen 24-25 sagt Hegel dann ausdrücklich, dass das Majoratsrecht das Recht auf Eigentum aufopfert. G. W. 26,3, S. 1457: „Es ist dieß eine Last, ein Unrecht gegen die Familie, das Recht des freien Eigenthums wird aufgeopfert und damit 35 die Gleichheit der Liebe zu den Kindern.“

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äußere Freiheitssphäre darzustellen, da das Majoratsrecht die Willkür seines Trägers verhindert; zweitens widerspricht das Majoratsrecht der Eigenschaft des Privateigentums als Vermögen der Familie, das frei auf die Kinder verteilt werden kann.61 Liest man die ersten Zeilen des  § 203 im Lichte dieser Überlegungen, so wird deutlich, dass der erste Stand im System der Bedürfnisse und der erste Stand des Oberkammers zwar beide zum substantiellen Stand gehören, aber gleichzeitig zwei verschiedene Gruppen sind.  § 203 lautet: „Der substantielle Stand hat sein Vermögen an den Naturprodukten eines Bodens, den er bearbeitet – eines Bodens, der ausschließendes Privateigentum zu sein fähig ist und nicht nur unbestimmte Abnutzung, sondern eine objektive Formierung erfordert.“ Diese Passage steht im Gegensatz zur juristischen Terminologie der Paragraphen 305–307, wo niemals das Land der Majoratsherren als Eigentum definiert wird, sondern als „Vermögen“, „Besitz“, „Erbgut“.62 Diese Unterscheidung wirft eine weitere doppelte Frage auf, deren Beantwortung zur Klärung zweier weiterer Aspekte beitragen kann. 1) Wenn der Bauernstand nur in  § 203 auftaucht, welche ist dann seine gesellschaftliche Rolle in der Rechtsphilosophie? 2) Wenn das Majorat nach dem abstrakten Recht der Rechtsphilosophie selbst illegitim ist, warum rechtfertigt Hegel seine Existenz innerhalb der Einrichtungen des Staates? Die Bauern haben in der Rechtsphilosophie keine politische oder soziale Funktion. Hegel gibt in § 203 einen Hinweis darauf. Die Bauern behalten „die Weise einer weniger durch die Reflexion und eigenen Willen vermittelten Subsistenz und darin überhaupt die substantielle Gesinnung einer unmittelbaren, auf dem Familienverhältnisse und dem Zutrauen beruhenden Sittlichkeit.“ Ihr sittlicher Horizont ist der der Familie und der privaten Beziehungen. Ihre wirtschaftliche Tätigkeit liegt knapp über dem Existenzminimum, ihr Grad an gegenseitiger Abhängigkeit ist fast nicht vorhanden.63 Aus diesen Gründen und wegen des primitiven Charakters ihres Wirtschaftslebens nehmen sie, obwohl sie Teil des Systems der Bedürfnisse sind, an keiner der sozialen Organisationen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft teil, in der es möglich ist, eine Gesinnung zu entwickeln, die höher ist als die der Familienbeziehungen. Sie kommen nicht dazu, eine politische Gesinnung zu entwickeln und sind folglich völlig vom politischen Leben ausgeschlossen. Natürlich steht es ihnen 61 62 63

Rph., § 306. Vgl. Rph., §§ 305-307. G. W. 26,1, S. 114: „Auch ist nur eine geringe Vermittlung die in das System der Befriedigung der Bedürfnisse eintritt. Die Familie selbst bereitet die Handwerkszeuge, die Kleidung etc. Die Subsistenz hängt nicht von der Arbeit aller andern und dem Bedürfniß aller anderen ab“.

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frei, einen anderen Stand einzunehmen und so am politischen Leben teilzunehmen, aber es ist ausgeschlossen, dass Bauern als solche direkt in den staatlichen Institutionen vorkommen können. Es spielt keine Rolle, wieviel Eigentum sie besitzen. Sie müssen Eigentum besitzen, um als Personen zu sein, aber obwohl sie es besitzen, sind sie von der politischen Tätigkeit ausgeschlossen. Hegel lehnt die „französischen Abstraktionen von bloßer Anzahl und Vermögensquantum“64 ab, die dem Liberalismus lieb und teuer sind.65 Wer nicht an einer gesellschaftlichen Ausbildung teilnimmt, kann keine politischen Rechte haben.66 Universalismus im abstrakten Recht garantiert nicht den allgemeinen Zugang zu politischen Rechten. Die andere Frage ist, wie es möglich ist, die Stellungnahme des abstrakten Rechts mit dem ausschließlich aus Majoratsherren bestehenden oberen Kammern zu vereinbaren. Diese Spannung, wie im einleitenden Absatz erwähnt, findet keine Lösung in der Rechtsphilosophie 1820. Hegel betont erneut, dass dieser Stand eine Notwendigkeit für die politische Stabilität des Staates ist.67 Die Dinge ändern sich (vielleicht als Folge von Hardenbergs Tod 1822 und den Ängsten vor der Julirevolution 1830) in den Vorlesungen von 1824–25 und dann in der Schrift über das Reformbill 1831. In den Vorlesungen stellt Hegel die Hypothese auf, dass eine Institution, die den Zielen des historischen Fortschritts des Geistes zuwiderläuft, nicht sehr dauerhaft sein wird.68 In der Schrift von 1831 erklärt Hegel dann, wie bereits erwähnt, unter dem politischen und literarischen Deckmantel, über England zu schreiben, sogar, wie es möglich wäre, dem Majoratsrecht ein Ende zu setzen.69

64 65 66

67 68 69

G. W. 15, S. 45. Vgl. Kervégan, Jean-François, Hegel, Carl Schmitt, a.a.O., S. 277. Das abstrakte Recht selbst muss, wenn es in der bürgerlichen Gesellschaft konkretisiert wird, für die Landbevölkerung einfach sein und die Sphäre der Rechtspflege so wenig wie möglich berühren. Vgl. G. W. 26,3, S. 1334: „Das Privatrecht ist in diesem Stande, wie in allen ein gemeinschaftliches wesentlich, der Stand des langen, dauernden Besitzes bedarf indessen nicht der vielen Gesetze, der weitläuftigen Rechtspflege, wie der Städter der noch immer wieder Unterschiede macht um sein Recht zu vertheidigen, so wird natürlich die Rechtspflege äusserst weitläuftig. […] Jener Stand [der Bauernstand] will einfaches Recht, auf einfache Weise, er will daß entschieden werde. Es giebt zwar auch prozeßsüchtige Bauern, wie z. B. in der Schweiz, aber im Allgemeinen ist ihnen diese Weitläuftigkeit der ausgebildeten Rechtspflege ein Fremdes, sie verlangen einen einfachen Urtheilsspruch. Es ist nichts schlimmer, nichts mehr Unrecht, als wenn man die Landbesitzer in die Hände der Advokaten giebt. Es ist ein grosser Umstand daß jeder Stand nach seinem Geiste eine Form der Rechtspflege haben muß.“ Rph., § 307. G. W. 26,3, S. 1456. G. W. 16, S. 353-354.

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Die letzten Worte der Schrift 1831 sind im Übrigen ein guter Kommentar zu Hegels Ängsten vor dem Jahrzehnt, das auf die Rechtsphilosophie folgte, und erklären seine zunehmende Entfernung von der Idee einer oberen Kammer, die nur aus Majoratsherren besteht. Der Agraradel war weit davon entfernt, die politische Stabilität des Staates zu schützen, sondern verhinderten die Umsetzung von Reformen mit dem immer größer werdenden Risiko, dass gerade wegen der fehlenden Reformen eine Revolution ausbrechen würde. Abgesehen von diesen zukünftigen Linien, die hier nur kurz angedeutet werden, ist es wichtig festzuhalten, dass das abstrakte Recht der Rechtsphilosophie bereits den Grundstein dafür gelegt hatte, dass das Majoratsrecht eine illegitime Ausnahme innerhalb des Staates war, die nur unter dem Gesichtspunkt der politischen Stabilität zu rechtfertigen war. Die Theorie des Privateigentums erfüllt also aus staatlicher Sicht zwei Funktionen in der Rechtsphilosophie: Die erste besteht darin, die Grundlage für den Schutz des bäuerlichen Standes zu schaffen, der, ausgeschlossen von den Bildungsmechanismen der bürgerlichen Gesellschaft, nur im Privatrecht einen rechtlichen Rahmen finden kann. In diesem Sinne ist das Hegelsche Recht revolutionär, weil es fünf Siebtel der Bevölkerung seiner Zeit als vollwertige (Privat-)Bürger schützen kann. Die zweite Funktion, die das abstrakte Recht erfüllt, besteht darin, die rechtlichen Grundlagen dafür zu schaffen, dass die Umwandlung der Feudalmonarchie in eine konstitutionelle Monarchie gegen den Widerstand der Feudalaristokratien in einer vernünftigen Richtung erfolgen kann. Und das, obwohl Hegel 1820 der Meinung war, dass er eben dieser Aristokratie eine politische Rolle für die Stabilität des Staates noch zuweisen musste.

5.

In einer Passage aus dem Elend der Philosophie schrieb Marx: „Eine Definition des Eigentums als eines unabhängigen Verhältnisses, einer besonderen Kategorie, einer abstrakten und ewigen Idee geben wollen, kann nur sein als eine Illusion der Metaphysik oder der Jurisprudenz.“70 Man kann vermuten, dass Hegel mit dem impliziten Hinweis des Marxschen Satzes einverstanden gewesen wäre, der sich nicht so sehr von dem methodologischen Hinweis unterscheidet, den Hegel selbst von Montesquieu ableitet: philosophische und historische Hinsicht als eine und dasselbe zu betrachten. 70

Marx, Karl, Das Elend der Philosophie, 1847, heute in Marx-Engels-Werke, Bd. 4, Berlin, 1959, S. 165.

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Das Privateigentum im historischen Kontext

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Hegel liefert eine allgemeine Theorie des Eigentumsrechts, die aber zugleich untrennbar mit den in ihrem historischen Kontext konkret bestimmten Rechtsproblemen verbunden ist. Dies gilt sowohl für die Neuerungen, die bleiben sollten (die universalistische Theorie der Rechtsfähigkeit) als auch für das, was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Rechtstheorie an Interesse verlieren sollte (die Debatte über den Übergang vom geteilten zum freien und vollen Eigentum). In dieser Hinsicht kann die theoretische Bedeutung dieser Formulierungen nicht durch eine Destillation der Theorie aus der Geschichte entstehen. Im Gegenteil, die Eigentumstheorie erhält bei Hegel gerade deshalb eine universelle Bedeutung, weil sie historisch bestimmt ist. Die Operation, die Hegel bei der Behandlung der typischen rechtlichen Fälle des Übergangs von der feudalen Organisation des Bodens zum Regime des freien Eigentums durchführt, kann nur historisch verstanden werden, und doch trägt sie theoretische Bedeutungen in sich, die über die historische Periode hinausgehen. Die Hegelschen Behauptungen, die identifiziert wurden, sind zumindest die folgenden: die Identität zwischen Persönlichkeit, Körper, Arbeit, Besitznahme und Ausbildung des eigenen Körpers und Geistes; die Identität zwischen dem ausschließlichen Gebrauch (verstanden als Arbeit) einer Sache und der Sache selbst; die Identität zwischen der Totalität der Zeit (und der Arbeit) und der Persönlichkeit selbst. Diese Auslegung macht die Theorie des Privateigentums zu einem Element der Überwindung der feudalen Organisation des Staates, aber nicht notwendigerweise zu einem Instrument, das von Hegel für die Wirtschaftstätigkeit des Zweiten Standes entworfen wurde, sondern zu einem, das sich auf das Leben auf dem Lande und die größere, unterdrückte Bevölkerungsschicht bezieht. Aus diesem Grund glaube ich, dass es möglich wäre, nützliche Elemente zu finden, um eine Operation fortzusetzen, die von Kervégan in einem wichtigen Artikel von 1987 durchgeführt wurde. Er vertrat die These, dass die Hegelsche Staatstheorie mit einem Rechtsstaat vereinbar ist und dass Hegel versucht hat, sie durch die Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates zu integrieren.71 Ich glaube, dass die Hypothese von Kervégan völlig richtig ist, und dass jedoch die Integration des Rechtsstaats bei Hegel nicht nur in den Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates zu finden ist, sondern auch in den Paragraphen, die dem Privateigentum gewidmet sind. Auf der Grundlage der hier vertretenen Interpretation des Hegelschen Privateigentums wäre es vielleicht möglich, den Begriff der Persönlichkeit in Anlehnung an Hegel so weiterzuentwickeln, dass in ihn und damit in die 71 Kervégan, Jean-François, Hegel et l’État de droit, in: Archives de Philosophie, 50, 1987, S. 55-94; hier S. 77 ff.

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Gruppe der persönlichen (oder universellen) Rechte auch das aufgenommen wird, was die Rechtsstaatstheorien nach der Rekonstruktion von Kervégan traditionell als soziale Rechte bezeichnet haben (z. B. das Recht auf Arbeit).72 Dies ist nur eine Forschungshypothese, aber vielleicht besteht ein Vermächtnis des Hegelschen abstrakten Rechts darin, dass es den Weg zur Überwindung einer weiteren – und einer der schwierigsten – Antinomien des formalen Denkens gewiesen hat: die zwischen persönlichen und sogenannten sozialen Rechten.

72

Vgl. ebd., S. 63.

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Sittlichkeit und Nachhaltigkeit in einer Postwachstumsgesellschaft Konrad Ott 1.

Leitidee

Die leitende Annahme eines Forschungsprojektes,1 das im Titel dieses Aufsatz steht, lautet, dass (alternde) Gesellschaften, die das physische Ausmaß ihrer Produktions- und Konsumptionssphäre einschließlich ihrer klimawirksamen Emissionen auf ein nachhaltiges bzw. naturverträgliches Maß reduzieren wollen, wahrscheinlich keine dauerhaft hohen BIP-Wachstumsraten mehr generieren können (oder wollen). Solche Gesellschaften müssen sich somit selbst als Postwachstumsgesellschaften institutionalisieren, d.h. einrichten. Hierfür gibt es keine historischen Vorbilder. In einer vernunftbasierten und freien Abkehr von der Wachstumsorientierung des Industriezeitalters, die auch die wesentlichen Wachstumstreiber einbegreift, liegen aber auch Reformpotentiale. Es wird hypothetisch vorausgesetzt, dass freiheitliche, demokratische, dezentrierte und heterarchische Gesellschaften selbstkritisch, lernfähig und reformierbar sind. Empirisch bestätigen lässt sich dies anhand der Reformprogramme in den Systemen von Wissenschaft, Recht, Bildung, Wirtschaft und Politik, die seit den 1970er Jahren vollzogen wurden.2 Die Intuition, von der ich mich leiten lasse, kann titelartig überschrieben werden als „Transformation zur (starken) Nachhaltigkeit in sittlicher Freiheit“. Sie soll durch eine systematische Verbindung dreier Komponenten theoretisch eingeholt werden. Diese Komponenten sind a) eine „tiefe“ anthropozentrische Umweltethik, b) eine Konzeption „starker“ Nachhaltigkeit und c) eine an Hegel anknüpfende, normativ gehaltvolle („kritische“) Gesellschaftstheorie. Anhand von Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (1821) sollen die vielfältigen Optionen für guten Wandel in den Sphären des „Rechten“ ausgelotet werden. Die Fokussierung auf die eigene Gesellschaft rechtfertigt sich dadurch, dass auch eine globale Transformation der Initiative einzelner 1 Das Projekt wird von der DFG gefördert und steht in enger Kooperation mit zwei anderen Forschungsvorhaben, die von Ludger Heidbrink (Kiel) und Tine Stein (Göttingen) geleitet werden. 2 Popp, Reinhold, Ott, Konrad: Die Gesellschaft nach Corona. Wien: LIT 2020, S. 93-111.

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© Brill Fink, 2024 | doi:10.30965/9783846768358_010

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politischer Gemeinwesen bedarf, welche bereit und fähig sind, Vorreiterrollen zu übernehmen.3 Dass wohlhabende und freiheitliche Staaten für diese Rolle prädestiniert sind, ist „opinio communis“. 2.

Ethische Voraussetzungen

Es wäre falsch, eine Umweltethik oder eine Nachhaltigkeitstheorie in die „Grundlinien“4 oder in Hegels System hineinlesen zu wollen, obschon sich Ansätze hierfür finden. So spricht Hegel von der „Formierung des Organischen“ (§ 56). Er hat dabei die „Bearbeitung der Erde, Kultur der Pflanzen, Bezähmen, Füttern und Hegen der Tiere“ im Auge, denkt wohl auch an Zuchtformen, wenn er schreibt, dass die Tätigkeit des Menschen „nicht als ein Äußerliches bleibt, sondern assimiliert wird“ (§ 56). Die Bearbeitung des Ackerbodens erfordert eine „objektive Formierung“ (§ 203). Hegel rechnet die Schonzeiten für das Wild zu den „verschiedenartigsten Gestalten“ hinzu, die eine Formierungspraxis empirisch annehmen kann. So kann man argumentieren, dass auch andere Praktiken wie etwa Aufforstung, Flächenumwandlung, Ausweisung von Naturschutzgebieten, Renaturierungsmaßnahmen etc. unter diesen weiten Begriff der Formierung der organischen Natur fallen. Wenn wir Totholz nicht mehr aus den Wäldern entfernen und Nistkästen aufhängen, formieren wir Natur. Der Mensch selbst ist seiner „unmittelbaren Natur“ nach ein „Natürliches, seinem Begriff Äußeres“ (§ 57), der sich von der Naturbestimmtheit emanzipieren, d.h. zu Freiheit bilden muss. Diese Selbst-Bildung ist keine Formierung der äußeren Natur.5 Hegel thematisiert die Formierung der Natur und die praktischen Zugangsweisen jedoch nicht explizit normativ oder axiologisch.6 Daher versuche ich nicht, eine implizite Umweltethik und/oder

3 SRU (Sachverständigenrat für Umweltfragen): Für eine neue Vorreiterrolle. Umwelt­gutachten 2002. Stuttgart: Metzler-Poeschel, 2002. 4 Alle Paragraphenangaben beziehen sich auf die Ausgabe des siebten Bandes der von Moldenhauer und Michel edierten Werkausgabe: Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1821): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Werkausgabe Bd. 7. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1972. 5 Zwar sagt Hegel auch, dass der Mensch „sich selbst formieren müsse“ (§ 57). Diese Selbstformierung gehört für Hegel allerdings „in die Geschichte vor Freiheit“, d.h. man könnte sie mit der These der Selbstdomestikation des Menschen durch die Sesshaftwerdung während der Neolithisierung in Verbindung bringen. 6 Man kann Hegels Naturphilosophie als eine Theorie von Zugangsweise zu und Umgangsweisen mit Natur interpretieren. Neben der epistemischen Zugangsweise gäbe es demzufolge auch praktische Zugangsweisen. Reusswig, Fritz: Hegel und der Klimawandel. Zur gesellschaftlichen Relevanz einer dialektischen Naturphilosophie heute. In: Müller, Stefan

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Nachhaltigkeitstheorie Hegels zu rekonstruieren, sondern trage sie an Hegels „Grundlinien“ von außen heran. Im Rahmen der von Habermas und Apel entwickelten Diskurstheorie praktischer Vernunft habe ich je eine Konzeption von Umweltethik und Nachhaltigkeit ausgearbeitet,7 die grundlegend abzuändern ich keine Veranlassung sehe. Die Diskursethik impliziert ein Recht auf Rechtfertigung,8 dem ich für beide Konzeptionen in der gebotenen Kürze entsprechen möchte, bevor ich mich Hegel zuwende. 2.1 Umweltethik Es wurde vielfach gezeigt, dass – vor dem (laut Hardmeier/Ott missverstandenen9) Hintergrund des sog. biblischen Unterwerfungsauftrages (Genesis 1) – das Vernunftpotential möglicher Mensch-Natur-Beziehungen in der frühen Moderne (so etwa bei Descartes, Bacon und Marx) einseitig auf das Ziel der theoretischen Naturerkenntnis und praktischen Naturbeherrschung fixiert wurde. Dadurch konnte der menschliche Naturumgang nur noch nach den Mustern objektiver Beobachtung und instrumentellen Handelns gedeutet werden. Dieses vereinseitigte instrumentelle Handlungsmuster führte im Verlauf der neueren Geschichte zu einer Ausweitung und Intensivierung der Naturnutzung,10 zu massiven Degradierungen von und Verlusten an Naturgütern (Arten, Ökosystemdienstleistungen) bis hin zur Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen von Menschen und höheren Tieren. Die Umweltethik möchte die instrumentelle und szientistische Vereinseitigung des menschlichen Naturumgangs korrigieren, ohne dass bei diesen Korrekturen die Natur wiederverzaubert würde. Die Umweltethik kann die Welt der belebten planetarischen Natur („Biosphäre“) nicht retten, aber darlegen, warum diese Welt es wert ist, geschützt und gerettet zu werden. Sie stellt ihrem eigenen Anspruch nach im Medium (Hg.): Jenseits der Dichotomie. Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialpsychologie. Wiesbaden: Springer VS, 2013, S. 71-111. 7 Ott, Konrad: Umweltethik zur Einführung. Hamburg: Junius, 2010; Ott, Konrad: Mapping, Arguing, and Reflecting Environmental Values: Toward Conceptual Synthesis. In: Lysaker, Odin (Ed.): Between Closeness and Evil. A Festschrift for Arne Johan Vetlesen. Oslo: Scandinavian Academic Press, 2020, S. 263-292; Ott, Konrad, Döring, Ralf: Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit. Marburg: Metropolis, 2011; Ott, Konrad: Zur Dimension des Naturschutzes in einer Theorie starker Nachhaltigkeit. Marburg: Metropolis, 2015. 8 Forst, Rainer (2007): Das Recht auf Rechtfertigung. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2007. 9 Hardmeier, Christof, Ott, Konrad (2015): Naturethik und biblische Schöpfungserzählung. Stuttgart: Kohlhammer, 2015. 10 So schon die Beiträge in Thomas, William (Ed.): Man’s Role in Changing the Face of The Earth. Chicago: University of Chicago Press, 1956.

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wertbezogener (axiologischer) und moralischer (deontischer) Analysen ein breit aufgefächertes Orientierungswissen hinsichtlich verantwortbarer und gelingender Mensch-Natur-Interaktionen und gesellschaftlicher Naturverhältnisse bereit. Die Umweltethik setzt bei ihren argumentativen Bemühungen ontologisch voraus, dass es Naturwesen realiter „gibt“ und die Rede von Natürlichkeit sinnvoll bleibt,11 obschon in der heutigen Welt viele Naturwesen mit menschlichen Praxisformen vermittelt, d.h. graduell überformt sind. Natur ist begrifflich nicht mit Wildnis gleichzusetzen. Auch überformte Naturgebilde können schutzwürdig sein (wie etwa die Lüneburger Heide). Die Umweltethik dichotomisiert Mensch und Natur also nicht, sondern untersucht deren Vermittlungen. Die basalen umweltethischen Argumentationsmuster können je einzeln analysiert und synthetisch als Diskurszusammenhang (auch: Argumentationsraum) verstanden werden. Vorausgesetzt werden muss lediglich, dass werthafte Naturerfahrungen sprachlich artikuliert und konzeptionell geordnet werden können.12 Naturwerte können attributiv und ethisch analysiert werden. Die attributiven Analysen führen zur Bestimmung von schützenwerten Naturgütern, auf die sich diese Wertungen beziehen („Realdimension“), während sich die ethische Reflexion auf die Gründe bezieht, aufgrund derer etwas Naturwüchsiges als wertvoll und schützenswert gelten soll („Geltungsdimension“). Man kann die umweltethischen Werthinsichten in sechs Kategorien gliedern: a) Angewiesenheitswerte (Ressourcen), b) kulturell-eudaimonistische Werte (Naturgenuß), c) Zukunftsverantwortung (Nachhaltigkeit), d) (existentielle) Tugenden, e) moralische Selbstwerte (Inklusionsproblem) und e) ökosophische Weltbilder (Tiefenökologie). Diese Kategorien schließen einander nicht aus, können also in unterschiedlichen Variationen vertreten werden. Am Ende der Betrachtung einer Werthinsicht drängt sich immer eine Frage auf, deren Beantwortung in eine andere Kategorie führt. Angewiesenheitsargumente machen geltend, dass Menschen als leiblich verfasste Wesen auf einen kontinuierlichen Metabolismus mit Naturstoffen angewiesen sind, zu dessen Aufrechterhaltung auch ein pfleglicher Umgang mit natürlichen Ressourcen und Umweltmedien zählt. Für Umweltpolitik geht es hierbei um Luftreinhaltung, um den Schutz der Gewässer, der Wälder, der Böden und der genetischen Vielfalt von Rassen und Sorten. Das zugehörige 11 12

Lie, Svein Anders Noer (2016): Philosophy of Nature. Rethinking Naturalness. New York: Routledge, 2016. Ott, Konrad, Reinmuth, Karl Christoph: Integrating Environmental Value Systems: A Proposal for Synthesis. In: Beckmann, Volker (Ed.): Transitioning to Sustainable Life on Land. Transitioning to Sustainability Series 17. Basel: MDPI Books, 2021

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präskriptive ökonomische Grundkonzept ist eine bioökonomische Kreislaufwirtschaft mit minimalen Emissionen und Abfällen. Aber geht es nur um das bloße Überleben oder nicht vielmehr auch um ein reiches, glückendes und sinnerfülltes Leben? Eudaimonistische Werte machen geltend, dass Naturerfahrungen wesentlich zu einem reichen, gelingenden und sinnerfüllten Leben hinzugehören.13 Diese Werte gliedern sich auf in unterschiedliche Weise von Naturgenuss (Alexander von Humboldt) wie etwa naturästhetische Erfahrungen,14 Heimatgefühle angesichts vertrauter Landschaften sowie Erholung und Genesung in der Natur. Diese Werte vermitteln sich mit naturverbundenen Praktiken wie Gärtnern, Wandern, Segeln, Tauchen usw. Die Naturphänomenologie bietet eine philosophische Methode, Arten und Weisen des Naturgenusses sprachlich zu artikulieren.15 Naturphänomenologie macht sinnlich-leibliche Erfahrung zu einem „Reallabor“ der Naturwahrnehmung. In solchen Erfahrungen können Individuen sich der Natur aussetzen bis hin zu Punkten, in denen die Natur ihre abweisende, gleichgültige, ja erbarmungslose Seite hervorkehrt. Die Frage drängt sich auf, ob zukünftige Personen für diese Werte empfänglich sein dürften. Die Werte beider Kategorien (Angewiesenheit, Naturgenuss) müssen in eine intergenerationelle Perspektive übertragen werden, wie sie von Jonas16 angemahnt wurde. Es geht dann um die Kunst, langfristig zu denken17 und um die Frage, auf welche Naturausstattung und Klimaverhältnisse zukünftige Generationen legitime Ansprüche haben könnten, auch wenn wir ihre individuellen Präferenzen nicht kennen können. Diese Frage führt in Theorien und Konzepte von Nachhaltigkeit und in die Handlungsfelder des Klimawandels, der Land- und Forstwirtschaft, der Renaturierungsökologie, des Meeresschutzes einschließlich der Fischerei und der Aquakultur.18 Die Werte und Verpflichtungen der ersten drei Kategorien führen zu der Frage, welche Art Mensch man selbst im Zeitalter des Anthropozän sein möchte. Dies ist eine Frage der Selbstachtung und der Tugendethik. 13

Krebs, Angelika: Ethics of Nature. Berlin: De Gruyter, 1999; Ott, Konrad: On the Meaning of Eudemonic Arguments for a Deep Anthropocentric Environmental Ethics. New German Critique, Vol. 128 (2016), S. 105-126. 14 Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991. 15 Böhme, Gernot, Schiemann, Gregor (Hg.): Phänomenologie der Natur. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1997, im Anschluss an Hermann Schmitz. 16 Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt/M.: Insel, 1979. 17 Klauer, Bernd, Manstetten, Reiner, Petersen, Thomas, Schiller, Johannes: Die Kunst langfristig zu denken. Baden-Baden: Nomos, 2013. 18 Zu den Potentialen einer nachhaltigen Aquakultur siehe die Beiträge Ott, Konrad, Schulz, Carsten, Schulz, Rüdiger (Hg.): Nachhaltige Aquakultur. Marburg: Metropolis, 2020.

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Diese Frage fächert sich auf hinsichtlich unterschiedlicher Einstellungen in Ansehung von Natur und wird damit zur Umwelttugendethik.19 Hege und Pflege, Schonung, Rücksicht, Mäßigung, aber auch freudige Zuwendung, vertiefte Lebensbejahung20 und Dankbarkeit für die guten Dinge im Leben sind einige solcher Haltungen. Die Umwelttugendethik vermittelt sich hier mit den Praktiken der Umwelt- und Naturbildung. Die Zustimmungswürdigkeit zu Regelwerken und die Würdigung und Gewichtung von umweltethischen Argumenten könnten (zumindest psychisch-motivational) relativ zu Grundhaltungen sein. Die betrachteten vier Kategorien sind anthropozentrisch. Das Verständnis dieser Kategorien erhellt, dass Menschen sich keineswegs als Wesen verstehen müssen, die gierig und kurzsichtig die Natur plündern. Menschen dürften womöglich als Erbschaft der Evolution auch eine biophile Neigungsstruktur besitzen,21 die allerdings in der Moderne unterdrückt oder als „Romantik“ belächelt wurde, sich aber mit Hilfe der Naturphänomenologie freilegen lässt.22 Aber könnte es nicht sein, dass es Gründe gibt, Naturwesen rein um ihrer selbst willen zu schützen? Die dieser Frage entsprechende Kategorie der moralischen Selbstwerte führt über die Anthropozentrik hinaus. Das sog. Inklusionsproblem, d.h. die Frage nach dem (möglichen) moralischen Selbstwert von Naturwesen ist ein ontologisch-ethisches Grundproblem. In der Physiozentrik werden unterschiedliche Kriterien direkter moralischer Berücksichtigungswürdigkeit vertreten. So werden Empfindungsfähigkeit (Sentientismus), spürendes Gewahren (Zoozentrik), teleologische Verfasstheit (Biozentrik), Selbstorganisation (Ökozentrik) und Existenz (Holismus) als Kriterien geltend gemacht. Die Ausweitung der „moral community“ um unterschiedliche Naturwesen (Wirbeltiere, Pflanzen, Gene, Arten, Ökosysteme, Biodiversität) steht in der Spannung zwischen Unter- und Überbestimmung. Ethisch betrachtet, sind auch Überbestimmungen zu vermeiden. Eine plausible Lösung des Selbstwertproblems dürfte darin liegen, die Kriterien der Empfindungs- und der Kommunikationsfähigkeit sowie des Interesses zu einem gradierbaren

19 20 21

Cafaro, Philip, Sandler, Robert: Virtue Ethics and the Environment. Berlin: Springer, 2010. Schweitzer, Albert: Kultur und Ethik, München 1923. Fromm, Erich: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Stuttgart: DVA, 1973; Wilson, Edward O.: Biophilia. Harvard: Harvard University Press, 1984; Ott, Konrad: Menschenbilder und Anthropologie in der Umweltethik. In: Zichy, Michael (Hg.): Handbuch Menschenbilder. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2023, S. 1-19. 22 Ott, Konrad: Naturphänomenologie will betrieben werden. Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie Vol. 7 (2023), im Erscheinen.

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Konzept von Weltoffenheit zu verknüpfen.23 An diese Lösung, die man als „gradualistische Zoozentrik“ bezeichnen kann, schließt sich eine Kasuistik an, die von Schimpansen und Walen über Libellen und Spinnen bis hin zu Käfern reicht. Vertretbar sind auch Lösungen, die (starke) Biophilie mit (schwacher) Biozentrik zu einer existentiellen Grundhaltung der Selbstachtung verknüpfen, Leben zu schonen und zu fördern, für diese Haltung aber keinen universellen Begründungsanspruch erheben.24 Wichtig ist die Gradierbarkeit von Selbstwert anhand der Ausprägung bestimmter Kriterien.25 Kann es nun jenseits der Physiozentrik noch „geistigere“ Positionen geben? Religiöse, spirituelle und „ökosophische“ Naturdeutungen und -zugänge gelten in der Tiefenökologie als Möglichkeiten, Auswege aus der Naturkrise der Moderne zu finden.26 So wurde das Seyns-Denken des späten Heidegger tiefenökologisch gedeutet.27 In diesem Sinne ist es möglich, neue Interpretationen religiöser Traditionen vorzulegen.28 Allerdings droht in den diversen Strömungen auch die befürchtete Wiederverzauberung der Natur und eine eklektizistische Esoterik, die nach philosophischen Standards keineswegs „tief“ ist. Zusammenfassend gesagt, dürfte hinter eine aufgeklärte und „tiefe“ Anthropozentrik, die die Zukunftsverantwortung, die reichhaltige Sphäre der eudaimonistischen Werte, die Umwelttugendethik, die Biophilie-Hypothese und eine Aufgeschlossenheit für die mögliche Zuerkennung von moralischem Selbstwert für Naturwesen in sich birgt, diskursiv kaum noch zurückgegangen werden können. Die Faustformel hierfür mag lauten: „tiefe Anthropozentrik plus X“. Dieses Orientierungswissen kann an unterschiedliche naturschützerische Traditionen anknüpfen. Die Idee und das Konzept der Nachhaltigkeit sind 23

Ott, Konrad: A Modest Proposal of How to Proceed in Order to Solve the Problem of Inherent Moral Value in Nature. In: Westra, Laura, Bosselmann, Klaus, Westra, Richard (Eds.): Reconciling Human Existence with Ecological Integrity. London: Earthscan, 2008, S. 39-60; Ott, Konrad: Kommunikation, Sprache und das Inklusionsproblem der Umweltethik. Zeitschrift für Semiotik, Band 37, Heft 3-4 (2015), S. 151-170. 24 Wetlesen, Jon: The Moral Status of Beings who are not Persons. Environmental Values Vol. 8 (1999), S. 265-292. 25 So darf es eine Rolle spielen, ob ein empfindungsfähiges Lebewesen zu einer Art zählt, die evolutionär eine r- oder eine K-Strategien der Reproduktion lebt. Es wäre kurios, wenn eine Lösung des Inklusionsproblems forderte, lieber einen Wal zu essen als viele Sardellen. Die Kasuistik ist allerdings von Widersprüchlichkeiten durchzogen. 26 Hendlin, Yogi: Tiefenökologie. In: Ott, Konrad, Dierks, Jan, Voget-Kleschin, Lieske (Hg.): Handbuch Umweltethik. Stuttgart: Metzler, 2016, S. 195-202. 27 Foltz, Bruce: Inhabiting the Earth. New Jersey: Humanities Press, 1995. 28 Siehe die Beiträge in Deane-Drummond, Celia, Bergmann, Sigurd, Vogt, Markus (Eds.): Religion in the Anthropocene. Eugene: Cascade, 2017; Hardmeier, Christof, Ott, Konrad: Naturethik und biblische Schöpfungserzählung. Stuttgart: Kohlhammer, 2015, zur biblischen Tradition.

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eine dieser Traditionen. Grob lässt sich sagen, dass die Umweltethik eher naturschützerisch, die Nachhaltigkeitstheorie eher naturalwirtschaftlich orientiert ist. 2.2 Nachhaltigkeit Die Nachhaltigkeitsidee ist eine normative Theorie der in Naturverhältnisse eingebundenen Wirtschaftsformen in Langfristperspektive.29 Sie hat sich in jüngerer Vergangenheit in konkurrierende Konzeptionen verzweigt. Es lassen sich a) sozialethische, b) ökonomische und c) ressourcenbezogene („ökologische“) Konzepte unterscheiden. Die sozialethischen Konzepte gehen auf den Bericht der WCED (1987) zurück und haben sich in den Sustainable Development Goals (SDG) niedergeschlagen. Sie zielen auf die Beförderung menschlichen Wohlergehens im globalen Maßstab ab. Die SDG sind hinsichtlich ihrer Ziele und Unterziele allerdings von Widersprüchen zwischen wirtschaftlichen sowie sozialethischen Zielen und den verbliebenen Umweltzielen (Klima, Biodiversität, Ozean30) durchzogen. Daher ist der SDG-Prozess zwar UN-politisch unhintergehbar, bleibt aber als Zielkatalog theoretisch unbefriedigend. Ökonomische Konzepte behandeln die Erhaltung gesellschaftlicher Kapitalbestände und Nutzenniveaus in intertemporaler Perspektive. Unter Kapitalien werden Bestände verstanden, deren Gebrauch Nutzen (Wohlfahrt) stiftet. Mittlerweile wird in der Ökonomik Naturkapital als eigenständige Kategorie von Kapital anerkannt. Entscheidend für die theoretische Diskussion über intertemporale Fairness sind aus ökonomischer Sicht die Wahl der Diskontrate, Annahmen über Substitutionselastizitäten, die Berechnung von Spar- und Investitionsquoten sowie Vorstellungen (Vermutungen, Annahmen) hinsichtlich der Präferenzen, der Einkommenseffekte und der Nutzenfunktionen zukünftiger Personen(gruppen). Wertschemata wie der „Total Economic Value“ und die „Ecosystem Services“ können erfassen (und monetarisieren), wie Personen Natur faktisch anhand ihrer jeweiligen Präferenzen bewerten. Vorsorgegrundsätze wie etwa ein „Safe Minimum Standard“ können als Beschränkungen gegenwärtiger Wohlfahrtsmaximierung eingeführt werden. Insgesamt hat sich die Umweltökonomik zu einem ethik-affinen Konzept von „inclusive wealth“ 29

Ott, Konrad: Nachhaltigkeit. In: Heidbrink, Ludger, Lorch, Alexander, Rauen, Verena (Hg.): Praktische Wirtschaftsphilosophie. Handbuch Wirtschaftsphilosophie Bd. 3. Wiesbaden: Springer, 2021, S. 305-320. 30 Zu SDG  14 „Life below Water“ siehe Neumann, Barbara, Ott, Konrad, Kenchington, Richard (2017): Strong sustainability in coastal areas: A conceptional interpretation of SDG 14, Sustainability Science, Vol 12 (2017): S. 1019-1035.

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fortentwickelt, das mit einer anthropozentrischen Umweltethik etliche Konsenszonen hat. Ressourcenbezogene („ökologische“) Konzepte ziehen die Umweltethik und die Gerechtigkeitstheorie als zwei Quellen von Normativität heran. In der Gerechtigkeitstheorie kann man mit Rawls31 annehmen, dass jede Generation verpflichtet ist, eine faire Hinterlassenschaft zu bilden. Aber wieviel an Natur sollte eine solche Hinterlassenschaft beinhalten? Warum tropische Primärwälder, Korallenriffe, Elefanten, Sequoia-Bäume, Lerchen, Fledermäuse usw. erhalten? Konzeptionell wesentlich für den Streit um Natur in intertemporalen Hinterlassenschaften ist die Kontroverse um „starke“ und „schwache“ Nachhaltigkeit. Der Kern der Kontroverse betrifft die Annahmen hinsichtlich der Substitutionselastizität diverser Naturkapitalien. Die Frage nach Substituierbarkeit muss hinsichtlich a) des technischen Könnens, b) des kulturellen Wollens und c) des moralischen Dürfens gestellt werden. Starke Nachhaltigkeit, die die Umweltethik als eine Quelle von Normativität anerkennt, möchte den Geltungsanspruch einlösen, dass Naturkapitalien und kultiviertes Naturkapital nur begrenzt substituiert werden können (technische Betrachtung), dass viele Menschen auf positive Naturerfahrungen nicht zugunsten artifizieller Pseudo-Natur verzichten möchten (eudaimonistische Betrachtung) oder dass die Substitution moralisch fragwürdig ist (etwa durch Vernichtung von Habitaten schützenswerter Lebewesen und Arten). Auf diese Weise können substantielle Gründe für die Wahl des Konzepts „starker“ Nachhaltigkeit formuliert werden.32 Der Grundsatz einer Landethik33 konvergiert mit „starker“ Nachhaltigkeit. Wenn man Aldo Leopolds Landethik als Grundlage einer nachhaltigen LandBewirtschaftung auffasst,34 und wenn man Leopolds berühmten Grundsatz („A thing ist right if it tends to preserve the integrity, stability, and beauty of the biotic community“) konzeptionell auf die Höhe der heutigen Ökologie hebt, dann kann man fordern, dass eine stark nachhaltige Land- und Meer-Nutzung a) auf die umfassende Erhaltung der Fruchtbarkeit („Produktivität“), b) der Resilienz und c) des Reichtums („Diversität“) der Naturgüter zu verpflichten

31 32

Rawls, John: A Theory of Justice. Oxford University Press, 1971, § 44. Ott, Konrad: On Substantiating the Conception of Strong Sustainability. In: Döring, Ralf (Ed.): Sustainability, natural capital and nature conservation. Marburg: Metropolis, 2009, S. 49-72. 33 Im Sinne Aldo Leopolds, in: ders. (1949): A Sand County Almanac. New York, Oxford: Oxford University Press, 1997. 34 Norton, Bryan: Aldo Leopold. In: Ott, Konrad, Dierks, Jan, Voget-Kleschin, Lieske (Hg.): Handbuch Umweltethik. Stuttgart, 2016, S. 85-90.

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ist.35 Für diese konzeptionelle Synthese aus starker Nachhaltigkeit und Landethik ist Naturschutz essentiell.36 Die Produktivität bezieht sich auf die Fruchtbarkeit eines Landes, über deren Veränderung in der Zeit sich wissenschaftlich operationalisierte Aussagen treffen lassen (Bodenwertzahlen, Feuchtigkeitsgehalt, Ernten usw.). Die Resilienz bezieht sich auf die Fähigkeit von Naturräumen, auf langfristige allmähliche Veränderungen, auf Anomalien und auch auf Extrema reagieren zu können. Resilienz lässt sich durch Landbaumaßnahmen beeinflussen; so kann der Waldbau vorsorgend gegen Waldbrände agieren und der Wasserhaushalt kann auf Trockenzeiten eingestellt werden. Diversität kann einmal (naturalistisch) nach der Seite der biotischen Vielzahl interpretiert werden; dann kann man Alpha-, Beta- und Gamma-Diversität als Messgrößen einführen. Diversität kann aber auch, da Leopold von „Schönheit“ sprach, (kulturalistisch) als Chiffre für die Vielfalt eudämonistischer Wertbezüge genommen werden. Dieser normative Grundsatz in der Tradition Leopolds und die Constant Natural Capital Rule (CNCR), wie sie Hermann Daly37 vorgeschlagen hat, werden zum Konzept differenzierter Landnutzung spezifiziert. Es lässt sich, naturschutzgeschichtlich betrachtet, bis hinter Wolfgang Haber auf Hans Schwenkel zurückverfolgen. Schutz, Hege und Pflege, produktive Landnutzung und humanökologisch zuträgliche Siedlung sollen gleichermaßen zu ihrem Recht kommen. Es bedarf hierzu der Landesplanung.38 Die Konzeption starker Nachhaltigkeit vergewissert sich a) der Traditionen, in denen naturverträgliche Wirtschaftsweisen im Bereich der Landnutzung konzipiert wurden, klärt b) das Regelwerk, dessen Befolgung einen solchen Umgang in Gegenwart und Zukunft gewährleistet, definiert c) Qualitätsziele und d) erforscht Interaktionen zwischen (kultivierten) Naturkapitalien und menschlichen Wirtschaftsformen (Industrie, Land- und Forstwirtschaft, Fischerei usw.). Konzeptionell weiterführend ist die sog. Beständeperspektive,39 die u. a. die Rolle der Urteilskraft für Nachhaltigkeitspolitik betont. Weiterführend ist auch das Positionspapier des Deutschen Komitees für Nachhaltigkeitsforschung,40 in dem das Problem unterschiedlicher räumlicher und zeitlicher Skalen von Nachhaltigkeitspolitik analysiert wird. Das 35 Böhm, Frederike, Ott, Konrad: Impacts of Ocean Acidification. Marburg: Metropolis, 2019. 36 Ott, Konrad, Zur Dimension des Naturschutzes in einer Theorie starker Nachhaltigkeit. Marburg: Metropolis, 2015. 37 Daly, Herman: Wirtschaft jenseits von Wachstum. Salzburg: Pustet, 1999. 38 Haaren, Christina von (Hg.): Landschaftsplanung. Stuttgart: Ulmer, 2004. 39 Klauer, Bernd, Manstetten, Reiner, Petersen, Thomas, Schiller, Johannes: Die Kunst langfristig zu denken. Baden-Baden: Nomos, 2013. 40 Jacob, Daniela et al.: German Committee Future Earth: Research Priorities for Sustainability Science. Position Paper. Hamburg: GERICS, 2022.

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Skalenproblem macht allerdings auch auf die Möglichkeit aufmerksam, dass es in einer zukünftigen Welt schlimmstenfalls nur wenige Inseln von Nachhaltigkeit auf einem geplünderten Planeten geben könnte, was dann neue, vor allem migrationsethische Fragen nach sich zöge. Länder, die schon jetzt Einwanderungsländer sind, würden für Zuwanderung noch attraktiver, wenn sie zu den „Inseln der Nachhaltigkeit“ zählten. Auf diese Problematik kann hier nicht eingegangen werden. Zusammenfassend gesagt, konnte die Idee der Nachhaltigkeit zu einem theoretischen Konzept starke Nachhaltigkeit spezifiziert werden, das wiederum zu einem robusten Theorienetz verknüpft und erfolgreich auf praktische Fragen angewendet wurde.41 Wir wissen mittlerweile, wie wir, mit Hegel gesagt, Natur (nicht) formieren sollten. 2.3 Gesellschaftstheorie Luhmann42 wies zurecht auf das gesellschaftstheoretische Defizit der Umweltbewegung hin, das häufig durch moralische Emphase und politischen Protest kompensiert wurde. Einer normativ interessierten Gesellschaftstheorie fiele somit die Aufgabe zu, zwischen umweltethischem Orientierungswissen und Nachhaltigkeitstheorie einerseits und den Errungenschaften und systemisch differenzierten Funktionsweisen moderner Gesellschaften andererseits zu vermitteln. Der Begriff der Errungenschaft bezieht sich auf Institutionen, die die persönliche Freiheit der Einzelnen, die Demokratie als Staatsform und die allgemeine Wohlfahrt sichern. Diese Trias darf nicht als selbstverständlich und unverlierbar vorausgesetzt werden. Die Idee einer Transformation in sittlicher Freiheit strebt also die Vermittlung freiheitlichen und wohlhabenden Daseins mit umweltethischen Werten und nachhaltigkeitstheoretisch begründeten Regeln und Zielen an. Dies erfordert die Wahl einer Gesellschaftstheorie, die an der Verwirklichung von Freiheit ausgerichtet ist, Vermittlungen denken kann und Errungenschaften moderner Gesellschaften bewahren möchte. Gesellschaftstheorie unterstellt, dass sich moderne Gesellschaften trotz ihrer Komplexität einem aufs Ganze gehenden theoretischen Zugriff nicht prinzipiell entziehen. Sie waren seit ihren Anfängen im 19. Jh. von normativen Erkenntnisinteressen mitbestimmt. In diesem Sinne sehe ich mich in der Tradition der Kritischen Theorie. Die Grundlage der „alten“ Kritischen Theorie war allerdings eine Version des Marxismus der 1920er Jahre, wie ihn Karl 41 42

Etwa bei Ott, Konrad, Kerschbaumer, Lilin, Köbbing, Jan Felix, Thevs, Niels: Bringing Sustainability Down to Earth: Heihe River as a Paradigm Case of Sustainable Water Allocation. Journal for Agricultural and Environmental Ethics Vol. 29 (2016), S. 835-856. Luhmann, Niklas: Ökologische Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1986.

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Korsch und Georg Lukács vorgelegt hatten. Ihn zu übernehmen, wäre dogmatisch. Ökonomische Analysen im engeren Sinne finden sich in der „alten“ Kritischen Theorie nur in den Arbeiten von Friedrich Pollock und Hendryk Großmann. Die Kritische Theorie suchte in der Nachkriegszeit den Kontakt zur ökonomischen Theoriebildung (etwa zum Keynesianismus) nicht mehr und hat zudem das Erbe Hegels ausgeschlagen. Der Schritt „von Hegel zu Marx“ wurde in Frankfurt allezeit vorausgesetzt. Diese Voraussetzung teile ich nicht mehr43 und möchte daher die Tradition Kritischer Theorie auf eine revisionistische Weise fortsetzen, indem ich in systematischer Absicht auf Hegel zurückgreife. 3.

Hegels Rechtsphilosophie als gesellschaftstheoretischer Rahmen

G. W. F. Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (1821) rekonstruieren begrifflich, wie sich die Idee der Freiheit in unterschiedlichen Sphären des Rechts, für Hegel: des Rechten verwirklicht. Die „Grundlinien“ sind in ideengeschichtlicher Perspektive reformistisch. Sie sind der Versuch, die Ideen der preußischen Reformen (1806–1821) philosophisch in dem Moment aufzuheben, als diese Reformzeit sich ihrem Ende zuneigt. In diesem Sinne beginnt die Eule der Minerva ihren Flug in der Dämmerung. Mit „Grau in Grau“ lässt sich ja Hegel zufolge immerhin noch erkennen und begreifen. Die „Grundlinien“ sind eine Konzeption substantieller Freiheit auf dem Boden der modernen Welt, die ihren Ausgang von der Überwindung des Willkür-Voluntarismus nimmt. „Der freie Wille, der den freien Willen will“ (§  27) ist für Hegel die geistige Idee der modernen Welt, die auch in einer nachhaltigen Postwachstumsgesellschaft institutionell verbürgt werden muss. Wir müssen die Naturkrise in Freiheit überwinden. In diesem Sinne kommen „öko-autoritäre“ Lösungswege, wie sie aufgrund apokalyptischer Bedrohungsängste immer wieder vertreten werden,44 nicht in Betracht. Wirkliche Freiheit steht für Hegel zu vielerlei Verbindlich- und Verantwortlichkeiten nicht im Widerspruch, sofern diese diskursiv einsichtig gemacht, d.h. gerechtfertigt werden können. Insofern setzt jeder hegelianische Ansatz eine Kritik eines 43 Dies liegt daran, dass ich die zelluläre Analyse der Wertform der Ware, an der sich der Anspruch bemisst, den Marx im „Kapital“ erhebt, für einen (grandiosen) Irrweg halte, der das Wesen der kapitalistischen Wirtschaftsweise nicht enthüllt, sondern dämonisiert. Hier folge ich Jürgen Schampel (Schampel, Jürgen: Das Warenmärchen. Königstein: Anton Hain 1982). 44 Auch bei Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt/M.: Insel, 1979.

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liberalistischen Freiheitsbegriffs und eine Konzeption einsichtiger Selbstbindung voraus. Ethisch wird Hegel häufig als Aristoteliker verstanden. Besser können die „Grundlinien“ jedoch als eine Deontologie rekonstruiert werden, da es Hegel um Pflichten innerhalb bestimmter Sphären des Richtigen geht (§ 148). Recht und Moral enthalten Pflichten und zu Beginn des dritten Teils der „Grundlinien“ sagt Hegel, dass alle Bestimmungen der Sittlichkeit für das Individuum „Pflichten (sind), seinen Willen bindend“ (§ 148). Hegel entwickelt insofern eine objektive ethische Pflichtenlehre, die ohne die Rede von Pflicht auskommt, die nur ein „Nachsatz“ (§ 148) zu den aufgewiesenen notwendigen Bestimmungen wäre. In diesem Sinn setzt Hegel das Projekt der kantischen Deontologie fort, in der die Freiheit „ratio essendi“ der Moralität ist. „Die Idee des Rechts ist die Freiheit, und um wahrhaft aufgefaßt zu werden, muß sie in ihrem Begriff und in dessen Dasein zu erkennen sein“ (§ 1 Z). Die Gesellschaft differenziert sich auf dem Boden der modernen Welt unter der Idee der Freiheit in Sphären, die durch ihre jeweiligen normativen Implikaturen, Anerkennungsweisen, Ethosformen und Regelwerke bestimmt sind. Diese Bestimmungen sind das eigentümlich „Richtige“ bzw. „Rechte“. „Jede Stufe der Entwicklung der Idee der Freiheit hat ihr eigentümliches Recht, weil sie das Dasein der Freiheit in einer ihrer eigenen Bestimmungen ist“ (§ 30). Wenn Hegel vom Unterschied zwischen Recht, Moral und Sittlichkeit spricht, so meint er, worauf er selbst hinweist (§ 30), das Recht im engeren Sinne des formellen Rechts. Die Moral, die drei Sphären der Sittlichkeit, ja sogar die Weltgeschichte (§ 33 Z) haben ihr eigenes Recht, „weil jede dieser Gestalten Bestimmung und Dasein der Freiheit ist“ (§ 30). Terminologisch ist es günstiger, vom Recht im engeren Sinne weiterhin als (formellem und positiven) Recht zu sprechen, vom Recht im weiten, für Hegel eigentlicheren Sinn dagegen als „das Rechte“ oder „Richtiges“. Etwa in dem Sinne, wie wir im Alltag sagen: „recht so“ oder „so ist es recht und billig“. Hegel ist somit der erste Differenzierungstheoretiker, da er unter der Idee der Freiheit fragt, wie sich das Rechte in unterschiedlichen Sphären jeweils darstellt, und zugleich der erste Rollentheoretiker, weil er fragt, was es jeweils bedeutet, die Rolle einer Rechtsperson, eines moralischen Subjekts, eines Familienmitglieds, eines Wirtschafts- und eines Staatsbürgers einzunehmen und auszuüben. Soziale Rollen werden nicht gespielt, sondern sollen von Individuen ausgefüllt werden. Dabei ist Hegel Anerkennungstheoretiker, der Anerkennungsverhältnisse innerhalb einzelner Sphären (Rechtspersonen und Wirtschaftsbürger erkennen einander als solche an), aber auch die transversalen Konflikte (Wirtschaft- versus Staatsbürger, moralisches Subjekt versus Staatsbürger, Familienmitglied versus Rechtsperson) rekonstruiert. Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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Damit ist folgende Aufgabe der Vermittlung gestellt: Gesetzt, a) dass die Idee der vernünftigen Freiheit nach wie vor für uns Bestand und Gültigkeit hat, b) dass die einzelnen Sphären des Rechten je ihr eigenes Rechtes haben, c) dass die axiologischen und normativen Gehalte von Umweltethik und Nachhaltigkeitstheorie anerkennungswürdig sind, so müssen diese Gehalte mit Freiheit und dem jeweils Rechten in neue Verhältnisse gebracht werden – und zwar so, dass diese Verhältnisse freien und vernünftig denkenden Wesen zur „zweiten Natur“ (§ 4) werden könnten. Diese Aufgabe der Vermittlung muss mit der Methode Hegels brechen, die vorgibt, der „Entwicklung der Idee als eigener Tätigkeit ihrer (! KO) Vernunft“ nur zuzusehen, „ohne seinerseits eine Zutat hinzuzufügen“ (§ 31). Dieser angeblich rein „theoretischen“, d.h. frei beiwohnend-zuschauenden Methode war nie zu trauen;45 die gestellte Aufgabe erschöpft sich darin, diskursive Vorschläge zur Vermittlung zu unterbreiten und damit (im Sinne Hegels), die Idee der Freiheit, die vom Ausgangspunkt des abstrakten Begriffs aus „immer in sich reicher“ wird (§ 32 Z), um Bestimmungen zu bereichern, die angesichts der Naturkrise für denkende Wesen nicht mehr „weggedacht“ werden können. Methodisch muss also ein Durchgang („discurrere“ = „durchlaufen) durch die Sphären von Recht, Moral und den drei Formen der Sittlichkeit (Familie, Wirtschaft, Staat) unternommen werden. Dieser Durchgang kann im folgenden Abschnitt freilich nur in skizzenhafter Form erfolgen. Eine geplante Monographie soll 2025 publiziert werden. Jede Sphäre des Rechten, nämlich a) das formelle Recht, b) die Moral, c) das (familiäre) Gemeinschaftsleben, d) die bürgerliche Wirtschaftsgesellschaft und e) die Staatlichkeit sind auf ihre Reformierbarkeit hin zu einer nachhaltigen Postwachstumsgesellschaft zu untersuchen. Eine Transformation wäre in einer hegelianischen Perspektive „groß“ genau dann, wenn sie alle Sphären zum Tanzen bringen könnte, ohne ihren Eigensinn zu beschädigen. 4.

Hegels Grundlinien heute

Es geht nunmehr um wirkliche Vermittlungen der Einsichten von Umweltethik und Nachhaltigkeitstheorie, die ursprünglich im Medium moralischer Forderungen entwickelt wurden, mit den Sphären des Rechten. Eine solche Theoriearbeit ist bislang trotz vieler Beiträge zur sog. Transformationsforschung nicht geleistet worden, da die philosophische Hegel-Forschung an 45 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1966.

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Nachhaltigkeitsthemen kaum Interesse nimmt,46 während die Nachhaltigkeitsforschung einen Rückgriff auf Hegel47 kaum jemals in Betracht gezogen hat. Der Rückgriff auf Polanyi48 gibt nur den Titel der „Great Transformation“, aber übersieht das Problem, dass alle bisherigen „großen“ Transformationen weder beabsichtigt noch geplant waren, sondern sich über Jahrhunderte49 oder, wie die neolithische Transformation, über Jahrtausende hinweg vollzogen.50 soll die anstehende Transformation eine ihrer selbst bewusste, d.h. wissentliche und willentliche sein. Erschließen sich die vergangenen großen Transformationen nur im historischen Rückblick, soll die anstehende den Akteuren umfassend „präsent“ sein. In diesem Sinne ist von „transformation by design“ die Rede. Dies verlangt, die letztlich historische Betrachtungsweise Polanyis durch eine Theorie zu ersetzen, die die Gegenwärtigkeit des Geistes denken kann 4.1 Das formelle Recht und Art 20a GG Werte der Natur werden immer dann in gesellschaftlich verbindlicher Form gewürdigt, wenn sie in umweltrechtliche Regelwerke überführt werden. Ich sehe Hegel als Rechtsphilosoph in dem Sinne, dass er generell die juridische Vermittlung gesellschaftlicher Verhältnisse rekonstruiert.51 Institutionalisiert ist für Hegel alles, was rechtlich mitbestimmt ist. Diese Vermittlungsarbeit sehe ich im modernen Umweltrecht am Werk. Das Recht bezog sich zu Hegels Zeiten auf Nutzungsberechtigungen der Wälder, Jagdrecht, Fischgründe, Lebensmittelkontrolle, Abfallbeseitigung, Brandschutzverordnungen und dergleichen. Derartige Formierungspraxis, die Hegel dem Sachenrecht zuschlug und der „Polizei“ zuwies, ist mit Blick auf das moderne Umweltrecht ordnungsrechtlich neu zu begreifen. Das Beispiel der Windmühle, das Hegel im § 56 gibt, ist instruktiv; die Windmühle ist eine „Form zur Benutzung der Luft“. So könnte man den rezenten Ausbau der Windenergie, der durch Gesetze wie das EEG gefördert wurde, ebenfalls als Formierungspraxis verstehen, die Auswirkungen auf das Landschaftsbild hat. Hegels Beispiel der Schonzeiten für Wild lässt sich 46

Die Ausnahme ist Vieweg, Klaus: The Idealism of Freedom – For a Hegelian Turn in Philosophie. Leiden/Boston: Brill, 2020. 47 Die Ausnahme ist Reusswig, Fritz: Natur und Geist. Frankfurt/M.: Campus, 1994. 48 Polanyi, Karl (1944): The Great Transformation. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1978. 49 Polanyi, Karl (1944): The Great Transformation. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1978. 50 Robb, John: Material Culture, Landscapes of Action, and Emergent Causation. A New Model for the Origins of the European Neolithic. Current Anthropology, 54 (6) (2013), S. 657-683. 51 Mertens, Stefan: Die juridische Vermittlung des Sozialen. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008.

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erweitern auf andere Formen der Schonung, der Hege und Pflege, wie sie für den Naturschutz bestimmend sind. Durchaus im Sinne des hegelschen Staatsverständnisses kam es nach Hegel zu einer Theoretisierung des „Zwecks im Recht“ (Jhering), d.h. von Finalprogrammen, die auch als Staatsaufgaben verstanden werden können. Rechtsgeschichtlich betrachtet, erkannten Juristen dem Heimatschutz die Rolle einer Staatsaufgabe zu.52 Die Regulierung naturnutzender Praktiken (wie etwa das gewerbsmäßige Sammeln von Blumen) zählten zu den Tätigkeitsfeldern der ersten „Staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege“.53 Nicht zu vergessen ist die Sozialhygiene-Bewegung, die für sichere und gesundheitlich annehmbare Arbeits- und Wohnverhältnisse eintrat. Allerdings wurde von Juristen immer befürchtet, dass das Recht durch die Aufgabe, Naturnutzung zu reglementieren, an seine Grenzen stoßen werde. Ein Beispiel waren die preußischen Verunstaltungsgesetze von 1907, die nie zur Anwendung gelangten. Heute fragt man nach der adäquaten Regulierungsdichte im Waldbau.54 Das Umweltrecht sichert einen wesentlichen Aspekt der öffentlichen Ordnung und der Daseinsvorsorge. Die Materien des Umweltrechts haben a) eine untergesetzliche (Verordnungen, Richtlinien), b) eine einzelgesetzliche (Waldgesetz, Naturschutzgesetz, Tierschutzrecht u. a.) und c) eine verfassungsrechtliche Dimension. In der verfassungsrechtlichen Dimension ist (über Hegel hinausgehend) die Lehre von den Staatszielen und -aufgaben zu rekonstruieren und mit Blick auf den Art. 20a GG (Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen) zu spezifizieren.55

52

Heyer, Karl: Denkmalpflege und Heimatschutz im deutschen Recht. Berlin: Heymanns, 1912. 53 Eine Übersicht über die Geschichte des staatlichen Naturschutzes findet sich in Frohn, Hans  W., Schmoll, Friedmann: Natur und Staat: Staatlicher Naturschutz in Deutschland 1906-2006. Münster: Landwirtschaftsverlag, 2006. 54 Ott, Konrad: Waldreichtum. Zeitschrift für Europäisches Umwelt- und Planungsrecht Vol. 19 (1) (2021), S. 73-88. 55 Die Weimarer Verfassung enthielt einen Artikel, der den Schutz und die Pflege der Naturdenkmäler (Conwentz, Hugo: Die Gefährdung der Naturdenkmäler und Vorschläge zu ihrer Erhaltung. Berlin: Bornträger, 1904) und der Landschaft als Staatsaufgaben stipuliert. „Die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft genießen den Schutz und die Pflege des Staates“ (Art.  150). Allerdings wurde dieser Artikel zum Leidwesen der Naturschützer nicht mit einem Reichsnaturschutzgesetz unterlegt. Erst unter den Bedingungen der Diktatur wurde 1935 das Reichsnaturschutzgesetz erlassen, das nach dem Kriege in der Form von Landesgesetzen weiterhin galt. Dies zeigt, dass ein Verfassungsartikel, der einzelgesetzlich nicht unterlegt ist, an sich wenig bewirkt. In der Bundesrepublik wurden die Einzelgesetze erst seit den späten 1960er Jahren reformiert.

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Art. 20a wurde erst 1993 in die Verfassung des Grundgesetzes aufgenommen.56 Er schließt auch den Tierschutz ein, dem damit Verfassungsrang zukommt.57 Der Klimaschutz hat durch das Urteil des BVerfG von 2021 an verfassungsrechtlicher Bedeutung gewonnen, auch wenn die Urteilsbegründung an entscheidenden Punkten fragwürdig ist.58 Staatsrecht, Nachhaltigkeitstheorie und die umweltethischen Argumente der Zukunftsverantwortung und des Schutzes empfindungsfähiger Mitgeschöpfe vermitteln sich in einer einzelgesetzlich anschlussfähigen Deutung dieser Staatszielbestimmung, die alle staatlichen Gewalten zum umweltpolitischen Handeln auffordert. Ich interpretiere Art. 20a GG wie folgt: Art 20a GG zählt zu den Verfassungsreformen im Gefolge der staatlichen Einheit 1990. Jede Verfassungsänderung ist ein bedeutsamer Rechtsakt. Wenn der Verfassungsgeber mit den Zuständen von Umwelt, Natur und Landschaft auf den Niveaus des Jahres 1993 zufrieden gewesen wäre, so hätte er keine Staatszielbestimmung in die Verfassung aufnehmen müssen. Also darf man unterstellen, dass er die Umweltsituation als insgesamt unbefriedigend ansah. Diese Beurteilung haben 1993 viele Bürger geteilt. Etwas, das (axiologisch) als unbefriedigend beurteilt wird, darf nicht noch schlechter, sondern soll besser werden. Somit lässt sich ein generisches Verschlechterungsverbot fordern: Schlechter als damals (1993) darf es (ceteris paribus) nie wieder werden. Dies impliziert eine umweltpolitische 56 Geddert-Steinacher, Tatjana: Staatsziel Umweltschutz: Instrumentelle oder symbolische Gesetzgebung. In: Nida-Rümelin, Julian, von der Pfordten, Dietmar (Hg.): Ökologische Ethik und Rechtstheorie. Baden-Baden: Nomos, 1995, S. 31-52. 57 Caspar, Johannes, Schröter, Michael: Das Staatsziel Tierschutz in Art. 20a GG. Bonn: Köllen, 2003. 58 Das BVerfG hat in seinem Beschluss von 2021 dem Gesetzgeber an sein Bemühen gemahnt, „den Temperaturanstieg möglichst auf 1.5°C zu begrenzen“ (BVerfG, Beschl. v. 24. März 2021 – 1 BvR 2656/18, 1 BvR 78/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20 [Klimaschutz], Rn. 196). Diese Pflicht sei die Konkretion von Art 20a GG. Damit wird gesagt, dass die Verfassung des Grundgesetzes auch globale Ziele zu erreichen auffordert. Im Beschluss des BVerfG von 2021 steht dann ein in seiner Bedeutung unterschätzter Satz: „Gerade weil der Staat das ihm in Art 20a GG auferlegte Klimaschutzgebot nur in internationalem Zusammenwirken umsetzen kann, darf er für andere Staaten keine Anreize setzen, dieses Zusammenwirken zu unterlaufen. Er soll durch sein eigenes Handeln auch internationales Vertrauen stärken (…)“ (a.a.O., Rn. 204). Man nimmt also die Berechnungen des SRU zum deutschen carbon budget, die schärfer nicht sein könnten (6.7 Gt) und interpretiert eine Zielverfehlung als einen „Anreiz“ an andere Staaten, ihre Ziele nicht zu erfüllen. Dies überschätzt den Einfluss der deutschen Klimapolitik auf die Klimapolitik anderer Staaten. Glaubt Karlsruhe wirklich, dass andere Staaten ihre Emissionen davon abhängig machen werden, ob Deutschland 2040 oder 2050 klimaneutral sein wird? Dieses Verbot, „Anreize zu setzen“, ergibt sich m.E. aus Art 20a GG nicht. Es handelt sich nicht um eine Verfassungsinterpretation, sondern um Annahmen über den COP/MOPProzess, die politikwissenschaftlich nicht begründet sind.

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Darlegungslast, wenn Umweltstandards gesenkt, Umweltbehörden abgebaut oder Schutzziele abgeschwächt werden. Da menschliche Eingriffe fortwähren, ergibt sich die Notwendigkeit von Regulierungen, die allmählichen „Statusquo-minus“-Entwicklungen entgegenwirken wie etwa die Eingriff-AusgleichRegelung. Diese abzuschaffen, wäre mit Art. 20a GG nicht vereinbar. In der vorgeschlagenen Interpretation dürfte das System der Schutzgebiete nicht deutlich verkleinert werden; bestimmte verbotene Stoffe dürften nicht wiederzugelassen werden; Standards guter fachlicher Praxis dürften nicht gesenkt werden. Der Begriff eines Staatsziels verweist darüber hinaus auf einen Verbesserungsauftrag, der freilich legislative Spielräume belässt. Dies betrifft vor allem Sektoren, bei denen sich substantielle Verbesserungen nur über längere Zeiträume hinweg einstellen (Gewässer- und Bodenschutz, Waldbau, Klimaneutralität). Es wäre aber nicht im Sinne des Verbesserungsauftrages, wenn einem Ziel (wie dem Klimaschutz) alle übrigen Ziele (Artenschutz, Meeresnaturschutz) untergeordnet würden. Durch diese Interpretation von Art. 20a GG erhält die Praxis der „Formierung der Natur“ (Hegel) eine normative Ausrichtung. Der Zweck einzelner Umweltgesetze ist an Art 20a GG rückgebunden. Somit sind Verfassungsrecht und Nachhaltigkeit vermittelt und zwar so, dass sich diese generische Vermittlung in den Besonderheiten der Einzelgesetze und auch der untergesetzlichen Ebene konkretisierend fortsetzt. In den Einzelgesetzen muss Art 20a GG zum Dasein kommen. Gerade wenn man Art 20a GG nicht als symbolische Umweltpolitik verkennt, sondern als Auftrag, die BRD zu einem Staat mit guten Umweltgesetzen zu machen, so bedarf es keiner weiteren Verfassungsartikel zu Klimaschutz, Bodenschutz, Gewässerschutz, Waldschutz usw., sondern vielmehr beharrliche Arbeit an der Fortbildung diverser einzelner Gesetze und ihrer Umsetzung.59 (Wie sich Umweltethik und Rechtstheorie vermitteln lassen, zeigt der immer noch lesenswerte Band von NidaRümelin und Dietmar von der Pfordten.60)

59 Allerdings ist Rechtspolitik im Übergang zur Postwachstumsgesellschaft nicht nur auf das Umweltrecht einzuschränken. Verhindert werden muss die Wiederkehr von Delikttypen, die aus armen Gesellschaften bekannt sind. In manchen Ländern müssen eingeschlagenes Holz, reife Weintrauben an Reben, Wäsche auf der Leine, Baustellengerätschaften, Kupferleitungen, Hühner und Großvieh umfassend gegen Diebstahl (und Raub) gesichert werden. Auch an Schmuggel wäre zu denken, wenn bestimmte Artikel stark besteuert würden. Der Rückgang der Kriminalität darf durch Postwachstumspolitik nicht umgekehrt werden. 60 Nida-Rümelin, Julian, von der Pfordten, Dietmar (Hg.): Ökologische Ethik und Rechtstheorie. Baden-Baden: Nomos, 1995.

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4.2 Die Umweltmoral In moraltheoretischer Hinsicht vertritt Hegel bekanntlich die Auffassung, dass die moralische Subjektivität mitsamt ihrer eigentümlichen Instanz, dem Gewissen, zwar eine unverzichtbare, mithin objektive geistige Gestalt der modernen Welt ist, aber nicht der höchste Standpunkt der praktischen Vernunft sein kann und darf. Nun wird in der zeitgenössischen Ethik vielfach dementgegen vorausgesetzt, der moralische Standpunkt sei die höchste Spitze der praktischen Vernunft. Für Hegel hingegen gilt: „Sittlichkeit steht höher als Moralität, ob man gleich in neueren Zeiten das Gegenteil behauptete“61. Dieser Punkt ist von höchster Aktualität. Von der Warte des (umwelt)moralischen Standpunktes aus werden ja gegenwärtig alle Lebensverhältnisse auf den Prüfstand gestellt (Ernährung, Kleidung, Reisen, Wohnen, Kinderzahl usw.). Der Standpunkt der Moral ist für Hegel der Standpunkt der unendlichen Subjektivität, des Gewissens, des Sollens und der Forderung. Hegel: „Das Selbstbestimmen ist in der Moralität als die reine Unruhe und Tätigkeit zu denken“ (§ 108). Das Gewissen ist niemals ruhig, sondern rührt sich ständig selbst. So ist Moral zugleich unendliche Unruhe und Selbstgewissheit im Gewissen. Die moralische Subjektivität in ihrer inneren Unruhe und Selbstgewissheit ist im Aufstellen immer neuer Forderungen unerschöpflich und entfernt sich dadurch mit Notwendigkeit von der Sittlichkeit, die wesentlich situiert, partikular, mithin endlich und erschöpfbar ist. Der Moral erscheint ihre unerschöpfliche Dynamik des Forderns notwendig als „progressiv“, weil sie ja die Welt zum Besseren verändern will – und nichts als das „Gute“ wollen kann. Der Standpunkt der Moral ist für Hegel der der unendlichen Subjektivität, des Gewissens, der Unruhe, der unbegrenzten Forderungen, aber auch der romantischen Überspitzungen und der Umschläge in Fanatismus. Die Moralität ist für Hegel zugleich „höherer Boden der Freiheit“ und „Untergang in sich“. Die Bestimmungen in § 106 und § 136 wirken widersprüchlich; aber man könnte sie zusammenziehen: „Untergang in das unendliche Für-Sich auf einem höheren Boden der Freiheit“. Diesem „höheren Boden“ korrespondiert gerade aufgrund der Innigkeit der Moral eine Fehlbarkeit sui generis, die sich die Moral nicht eingestehen kann. Der moralische Standpunkt hält sich für die höchste Stufe der praktischen Vernunft und ist doch diejenige Sphäre des objektiven Geistes, die am ehesten in bloß subjektiven Geist zurückzufallen droht, d.h. in Meinungen, Vorstellungen, den „Brei des Herzens“ oder das „inwendige Orakel“ des Gewissens.

61 Enzyklopädie 1812/1813, § 59, zitiert in Westerkamp, Dirk: Anerkannte Sittlichkeit: Hegel in Rawls. Hegel-Jahrbuch 2009, Heft 1, S. 288-297.

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Hegel erkennt die der Moral innewohnenden Tendenzen zum Rigorismus, zur Intransigenz und zur Maßlosigkeit. Ihm stand der Tugendterror Robespierres vor Augen. Das moralische Gewissen ist für Hegel „auf dem Sprunge, ins Böse umzuschlagen“ (§ 139) und es selbst bedarf (letztlich um seiner selbst willen!) der Einbettung in die inhaltlich reicheren Texturen der geschichtlich und kulturell verfassten Sphären der Sittlichkeit. Es sind letztlich die Mitglieder sittlicher Gemeinwesen selbst, die das „perennierende Sollen“ (Hegel) moralischer Forderungen und das Gewebe sittlicher Institutionen unter der Idee der Freiheit in geschichtlichen Konstellationen miteinander abgleichen müssen. Dieser Abgleich kann, so Hegels Pointe, nicht wiederum vom moralischen Standpunkt aus erfolgen, sondern nur „sittlich“. Wenn man glaubte, den Abgleich zwischen Moral und Sittlichkeit wiederum der Moral überantworten zu können, begibt man sich auf Bahnen, die einer intrinsischen Expansionsund Steigerungslogik folgen. Für Hegel müssen die Forderungen der Moral der Bedingung genügen, versittlicht werden zu können. Auf den Feldern der Umweltethik und ihrer Nachbardisziplinen (Klimaethik, Tierethik) werden viele berechtigte moralische Anliegen gemäß einer Logik sich aufstufender Forderungen immer weiter gesteigert, bis sie in Widerspruch zum gelebten Leben auch von Personen geraten, die naturverbunden und ressourcenleicht zu leben gedenken. Die Umweltethik, die positiv die Konzeption einer „tiefen Anthropozentrik plus X“ und eine Synthese aus starker Nachhaltigkeit und Landethik entwickelt hat, darf der Aufgabe nicht ausweichen, ihre eigene Steigerungslogik kritisch zu betrachten, d.h. bei ihrer eigenen Negativität zu verweilen. Die heutige Umweltmoral ist der Standpunkt der Forderung, (ganz) anders leben zu sollen. Sie greift daher mit Notwendigkeit auf die Fragen des guten Lebens über, die früher der Privatsphäre zugerechnet wurden. Umweltmoral spezifiziert sich dabei zu Konzepten und Forderungen von egalitärer Suffizienz, d.h. eines Lebensstils, dessen Verallgemeinerung es erlauben würde, normativ gesetzte planetarische Grenzen einzuhalten.62 Das Argumentationsmuster, das sich auf die Nicht-Verallgemeinerbarkeit von Lebensstilen bezieht, ist genauer zu untersuchen, da es in eine Kritik „imperialer“ Lebensstile und Privilegien einmündet. „Was wäre, wenn alle so leben würden?“ – wie oft hat 62 Eine Übersicht um Suffizienzdiskurs findet sich in Ott, Konrad, Voget-Kleschin, Lieske: Suffizienz: Umweltethik und Lebensstilfragen. In: Beckers, Jens-Ole, Preußger, Florian, Rusche, Thomas (Hg.): Dialog. Reflexion. Verantwortung. Zur Diskussion der Diskurspragmatik. Festschrift Dietrich Böhler. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013, S. 315–344, wobei das Ende des Aufsatzes eine hegelsche Perspektive auf eine freiheitliche und moderate Konsumpolitik eröffnet.

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man das gehört. Vorausgesetzt wird dabei häufig das Konzept der „ecological footprints“, das alle Arten des Naturverbrauchs in Landeinheiten umrechnet. Wenn man auf diese Weise einen engen globalen Umweltraum definiert und diesen fiktiven Raum durch 8–10 Milliarden Menschen egalitär teilt, lebt (fast) jede von uns auf viel zu großen Fuß. Aber diese Berechnungsweise wäre in Hegels Augen abstrakt, da sie die gesamte Naturnutzung in eine einzige Messgröße umrechnet, also homogenisiert. Dadurch werden viele umweltpolitischen Erfolge unsichtbar. Ein methodisch fragwürdiges Konzept verursacht ein notorisch schlechtes Gewissen. Weitergehende Forderungen als die nach Suffizienz stellen physiozentrische Umweltethiken auf. Dies kann exemplarisch an den Forderungen der Tierrechtsbewegung,63 des Biozentrismus,64 des Ökozentrismus65 und des Holismus66 aufgezeigt werden. Schon im egalitären Biozentrismus Taylors ist ein kulturelles bzw. zivilisiertes Leben kaum noch zu rechtfertigen; im Holismus bleibt wenig mehr als schlichte Existenzführung unter dem Gebot, die Interferenz in Natur zu minimieren. Wir sehen in der Physiozentrik also eine Steigerung umweltmoralischer Forderungen, die sich immer weiter vom gelebten Leben entfernen – und genau darin ihren Stolz finden. Der Umschlag ins Böse lag nahe. So hat die radikale Ökozentrik des frühen Callicott „öko-faschistische“ Implikationen, da sie den moralischen Wert auch menschlicher Individuen relativ zum Wohlergehen biozönotischer Gefüge bestimmt (Callicott 1980, S. 326). Steigerungstendenzen lassen sich auch innerhalb der rezenten Klimaethik aufweisen: 1) eigene nationale Emissionen rasch auf Netto-Null senken, 2) Kli­ manotstandspläne nach dem Vorbild einer Kriegswirtschaft entwickeln, um die Ziele umgehend zu erreichen,67 3) Anpassungshilfe auf mehrere hundert Milliarden $ jährlich erhöhen, 4) arme Menschen und Länder von Klimapflichten entlasten68 und 5) unter einem „ability-to-pay“-Kriterium Transfers für globale Dekarbonisierung fordern (Shue 1999), 6) Klimaflüchtlinge (besser:

63 64 65

Regan, Tom: The Case for Animal Rights. Berkeley: University of California Press, 1983. Taylor, Paul: Respect for Nature. Princeton: Princeton University Press, 1986. Callicott, Baird: Animal Liberation: A Triangular Affair. Environmental Ethics, Vol. 2, No 4 (1980), S. 311-338. 66 Gorke, Martin: Eigenwert der Natur. Stuttgart: Hirzel, 2010. 67 Peukert, Helge: Klimaneutralität jetzt. Marburg: Metropolis, 2021. 68 Moellendorf, Darrel: The Moral Challenge of Dangerous Climate Change. Cambridge: Cambridge University Press, 2014; Moellendorf, Darrel: Mobilizing Hope. Oxford: Oxford University Press, 2022.

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climate induced displaced persons69) aufnehmen und einbürgern,70 7) Staatsgebiet an „climate induced displaced persons“ abtreten,71 8) zivilen Ungehorsam üben, 9) die eigene Fortpflanzung einstellen. Dies ist in der Summe eine Art „Savonarola-Programm“. Wer dieses Programm vertritt, setzt Klimaschutz moralisch absolut. Die interne Logik der Tierethik lässt sich ebenfalls als Steigerungslogik darstellen, die sich in sieben Schritten vollzieht72: 1. Tierschutz und Tierwohl auf Grundlage eines graduellen Sentientismus 2. Egalitärer Sentientismus, Anti-Speziesismus73 3. Tierrechte74 4. Steigerung und Ausweitung zu politischen Tierrechten75 5. Radikaler Abolitionismus, der für einen völligen Verzicht auf die Nutzung von empfindungsfähigen Tieren plädiert76 6. Ersetzung des Natürlichen durch das Gerechte: „policing nature“77 7. Eingriffe in Nahrungsnetze und Reproduktionsstrategien, um das Leid in der Natur zu verringern.78

Die an sich berechtigten Anliegen von Suffizienzdiskurs, physiozentrischer Umwelt-, egalitärer Tier- und holistische Klimaethik werden also nachweislich in Extrema gesteigert. Sie schneiden nicht nur in konsumistische Lebensstile ein, sondern fordern die Negation der kulturell etablierten Lebensweise moderner Menschen. Ich glaube, dass Hegel im § 140 ähnliche Steigerungslogiken und Umkipppunkte der Moral behandelt. Am Ende steht bei Hegel die Ironie und die Eitelkeit (§ 139), die sich heute darin zeigt, dass die Ethik ihre 69

Zum Begriff des Klimaflüchtlings siehe Ott, Konrad: ‚Klimaflüchtlinge‘: Zur Komplexität der Begriffsbildung. In: Kersting, Daniel, Leuoth, Marcus (Hg.): Der Begriff des Flüchtlings. Stuttgart: Metzler, 2020. Auch in der Debatte um den Status eines Klimaflüchtlings wird die Extension des Begriffs maximal erweitert. 70 Heyward, Clare, Ödalen, Jörgen: A Free Movement Passport for the Territoriality Dispossessed. In: Roser, Dominik, Heyward, Clare (Eds.): Climate Justice in a Non-Ideal World. Oxford: Oxford University Press, 2016, S. 208-226. 71 Wündisch, Joachim, Dietrich, Frank: Territory Lost – Climate Change and the Violation of Self-determination Rights. Moral Philosophy & Politics 2015, No. 2/1 (2015), S. 83-105. 72 Übersicht in Bode, Philipp: Einführung in die Tierethik. Wien: Böhlau, 2018, kritisch Hiebaum, Christian: Lost in Foundation. Über ‘Speziesismus’ und ‘Anti-Speziesismus’ in der Tierrechtsdebatte. Zeitschrift für philosophische Forschung, Vol. 66 (3) (2012), S. 409-428. 73 Singer, Peter: Animal Liberation. London: Harper Collins, 1990. 74 Regan, Tom: The Case for Animal Rights. Berkeley: University of California Press, 1983. 75 Donaldson, Sue, Kymlicka, Will: Zoopolis. Berlin: Suhrkamp, 2013. 76 Francione, Gary: Animals as Persons. New York: Columbia University Press, 2008. 77 Nussbaum, Martha: Grenzen der Gerechtigkeit. Berlin: Suhrkamp, 2010. 78 Horta, Oscar: Animal Suffering in Nature: The Case for Intervention. Environmental Ethics, Vol. 39 (3) (2017), S. 261-279.

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Forderungen selbst nicht mehr ernst nimmt und Bücher und Artikel primär als Schritte auf dem akademischen Karriereweg nimmt. Der eigentliche Wert der extremen Forderungen wird der Impact-Faktor des Artikels. Die Moral muss vielmehr in kritischer Reflexion auf sich selbst ihr eigenes Maß finden und in Sittlichkeit übergehen (§ 141). „Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute“ (§ 142), das an die Stelle des bloß abstrakt Guten, der Moral, tritt (§ 144). Der moralische Standpunkt ist also nicht die hierarchische Spitze der praktischen Vernunft, sondern hat, mit Hegel gedacht, eine Zwischenstellung. Diese Zwischenstellung klammert die Moral von zwei Seiten ein: einmal von der Seite des rechtlichen Denkens, zum anderen von der Seite der gelebten Sittlichkeit. Diese Zwischenstellung bindet und hegt die Moral ein und wirkt deren Selbstverabsolutierung entgegen. Sittlichkeit ist für Hegel freilich keine abstrakte Negation der Moral, sondern eine Art Resonanzraum für moralische Forderungen und die Sphäre, in der viele frühere moralische Forderungen „aufgehoben“ sind. Sie ist das „Wohinein“ all der Forderungen, die die moralische Subjektivität aufzustellen nicht müde wird. Dieses sittliche Wohinein ist jedoch geschichtlichen Kontingenzen und den „Grammatiken“ von Familienleben, Gemeinschaften und Kulturen, Wirtschaftsleben und Staatlichkeit nicht überhoben, die die Moral nur allzu gern als belanglos abtut („vom moralischen Standpunkt aus irrelevant“). Insofern könnte eine kritische Selbstbesinnung der Moral in ihrer Korrelation zu den drei Sphären der Sittlichkeit (Familie, Wirtschaft und Staat) gegenwärtig wichtiger sein als das Aufstellen immer neuer moralischer Forderungen. Die Inhalte sittlichen Lebens sind dabei nicht einfach konventionell fixiert, sondern durchaus geschichtlich wandelbar. Familie, Gemeinschaft, Kultur 4.3 Für Hegel ist das Familienleben die Stufe der Sittlichkeit in ihrer Unmittelbarkeit. Sie ist mit der Naturseite des Gattungslebens enger verbunden als alle übrigen Sphären des Rechten. Hegel konzipiert die Familie als zentriert um das heterosexuell und (der Idee nach) monogam lebende Ehepaar, wobei der Man der Haushaltsvorstand ist. Hegel erklärt es sogar zur sittlichen Pflicht, „in den Stand der Ehe zu treten“ (§ 162). Hegel unterscheidet Familie im engeren und im weiteren Sinn (§ 172 Z). Dies entspricht der geläufigen Unterscheidung von Klein- und Großfamilie (Clan, Sippe). Die Sphäre des Familiären ist gegenwärtig in einem erweiterten Sinne als Bereich zu verstehen, in der a) die unmittelbare Reproduktion des Lebens (Kinder), b) der Nahbereich empathischer Zuwendung (Liebe) und c) die Erziehung und Bildung der jeweils nachfolgenden Generation gewährleistet werden sollen. Die Einschränkungen dieses Bereichs auf die heterosexuelle, monogame und patriarchale Ehe, wie Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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sie zu Hegels Zeit die Norm war, entfallen. Man kann den Bereich des Familiären schrittweise um Freundschaften und frei gebildete Gemeinschaften erweitern.79 Der Begriff der Familie hat für Hegel drei Aspekte: a) Ehe, b) Familienvermögen und c) Erziehung von Kindern. Die Ehe ist versittlichte Liebe. Die familiäre Sphäre ist reproduktive Lebensführung auch in Formen der Hauswirtschaft, die zu Hegels Zeit noch verbreitet war, in der Hochphase der Wachstumsgesellschaft als überholt galt, aber derzeit neu entdeckt wird. Es handelt sich um eine kulturelle Sphäre spezifischer Praktiken in Arbeit und Interaktion, in der bestimmte Werte und Einstellungen hinsichtlich des „nachhaltigen“ Umgangs mit Nahrung (Kochen, Einmachen, „no food waste“), Kleidung (etwa Abkehr von Modediktaten), Wohnung („tiny house movement“), Transport (Lastenfahrräder), Werkzeug, Garten (Eigenanbau von Nahrung), Haustiere (auch Kleinviehhaltung) etc. vermittelt und angeeignet werden. Was in der Sphäre der Moral bloße Suffizienz-Forderung ist, wird hier wirkliche lokale und kommunitäre Alltagspraxis, gleichsam eine Kulturreform „von unten“ in Analogie zur Lebensreformbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der anti-konsumistischen Strömungen in den 1970er Jahren. Brot backen, gärtnern, kompostieren, saisonale Überschüsse einmachen, Holz einlagern, nähen, weben, gemeinsames Spielen, Geschichten erzählen und Musizieren sind Wiederaufnahmen von oikos-Bezügen, die beim Übergang in die Kleinfamilie der Industriegesellschaft verlorengingen, in der der Haushalt ökonomisch als Konsumfunktion aufgefasst wurde. Bürgerliche Familien bauen über Generationen Vermögen auf, das im bürgerlichen Rechtssystem vererbt werden darf.80 Die proletarische Existenzweise, wie sie Marx vor Augen stand, ist die Negation der bürgerlichen Familie. Für Hegel ist Familienvermögen „gemeinsames Eigentum, so daß kein Glied der Familie ein besonderes Eigentum, jedes aber sein Recht an das Gemeinsame hat“ (§ 171), worüber natürlich Streit, Zwist und Hader entstehen kann. Familienvermögen wird ökonomisch wirklich in Familienunternehmen,

79 Ott, Konrad: Gemeinschaft und Gesellschaft, ‚starke‘ Nachhaltigkeit und Assoziationen freier Menschen. In: Haselbach, Dieter (Hg.): Ferdinand Tönnies und die Debatte um Gemeinwohl und Nachhaltigkeit. Wiesbaden: Springer, 2023, S. 143-164. 80 Das Institut der Erbschaft ist philosophisch deshalb so interessant, weil in ihm alle Sphären des Rechten (Recht, Moral, Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat) konflikthaft präsent sind. Diese intrinsische Komplexität wird abstrakt reduziert, wenn man auf den Einfall verfällt, durch den Tod der Vermögenden würde Vermögen zu herrenlosem Gut (§ 178). In der Verfassung des Grundgesetzes setzt Art 14, 1 der Besteuerung von Erbschaften Grenzen.

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die über die Generationen hinweg in „Finanzholdings von Verwandten“81 übergehen. Familienunternehmungen könnten aktiv zum Gestaltwandel des Kapitalismus beitragen (s. u.). Gemeinschaftsleben erlischt in der Moderne nicht, sondern wandelt sich von Schicksalsgemeinschaften hin zu freiheitlichen Gemeinschaften gleichgesinnter Personen in Vereinen und Verbänden und es geht als genossenschaftliche Produktionsweise in die Sphäre der Ökonomie über.82 Neue Formen der Hauswirtschaft, Nachbarschaften, energieautarke Dörfer, neue Allmenden, Biosphärenreservate, Transition Towns und vielleicht auch neue religiöse Bewegungen sind soziale Bewegungen, die Gemeinschaft und Gesellschaft in neuen Assoziationen freier Menschen vermitteln. Diese Assoziationen könnten das „hartnäckig verhakte Mobile“83 wieder in Bewegung setzen, das Formen guten Lebens in familiären Kreisen, Freundschaften, guten Nachbarschaften, Pflege von Traditionen und kulturelle Praktiken in eine nachhaltige Alltagskultur zusammenführen könnte. Dabei wird es zu vielen Übergängen zwischen Gemeinschaft und Wirtschaft kommen. 4.4 Die Wirtschaftsgesellschaft Hegel hat als erster deutscher Philosoph die philosophische und ethische Bedeutung des Wirtschaftens erkannt und die Klassiker der britischen Nationalökonomie rezipiert (Adam Smith, David Ricardo). Die „Staatsökonomie“ (§ 189) macht, so Hegel, dem objektiven Geiste Ehre, da sie zu einem Gewimmel von Zufälligkeiten die „einfachen Prinzipien der Sache, den in ihr wirksamen und sie regierenden Verstand herausfindet“ (§ 189). „Dieses Notwendige hier aufzufinden, ist Gegenstand der Staatsökonomie, einer Wissenschaft, die dem Gedanken Ehre macht, weil sie zu einer Masse von Zufälligkeiten die Gesetze findet“ (§ 189 Z).84 Hegel spricht von einer „Ähnlichkeit“ mit dem Planetensystem, dessen Gesetze erkannt werden könne. Es handelt sich bei diesen Gesetzen gleichwohl nicht um Naturgesetze, aber auch 81 Hermann-Pillath, Carsten: Analytische Dualismen bei Tönnies und deren Relevanz für eine kritische Wirtschaftswissenschaft. In: Haselbach, Dieter (Hg.): Ferdinand Tönnies und die Debatte um Gemeinwohl und Nachhaltigkeit. Wiesbaden: Springer, 2023, S. 29-66, 49. 82 Ott, Konrad: Gemeinschaft und Gesellschaft, ‚starke‘ Nachhaltigkeit und Assoziationen freier Menschen. In: Haselbach, Dieter (Hg.): Ferdinand Tönnies und die Debatte um Gemeinwohl und Nachhaltigkeit. Wiesbaden: Springer, 2023, S. 143-164. 83 Jürgen Habermas: Die Philosophie als Platzhalter und Interpret. In: ders.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1983, S. 9-28, die MobileMetapher findet sich auf S. 27. 84 Für Hegel müssen diese Gesetze erfassen, dass „alle Zusammenhänge hier rückwirkend sind“ (§ 189 Z). Hegel-intern ist man an die Kategorie der Wechselwirkung verwiesen, während man heute ökonomisch von „dynamischer Betrachtungsweise“ spricht.

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nicht um positiv gesetzte Rechtsnormen. Insofern sind sie weder physei noch thesei, sondern ein Drittes sui generis.85 Hegel sieht realiter die Heraufkunft einer weltgeschichtlich neuen Gestalt des Wirtschaftens, die sich von der feudalen Agrargesellschaft immer deutlicher abhebt: Industrialisierung, die auch die Landwirtschaft erfasst (§ 203 Z). Die bürgerliche Wirtschaftsgesellschaft zeigte sich in der Frühindustrialisierung in ihrer rohen Unmittelbarkeit, wodurch die Negativität der Lebensbedingungen des Proletariats erscheint, über die Engels sich in der „Lage der arbeitenden Klasse in England“ entsetzte.86 Eine höhere Stufe in der Form der Unmittelbarkeit eines freien Arbeitsmarktes kann bedrückender und härter sein als ein Leben in spätfeudalen Zunftverhältnissen. Menschen, die insgesamt freiheitlich und vernünftig existieren wollen, wollen auch als wirtschaftende Personen in ihren diesbezüglichen Freiheiten geehrt und anerkannt werden: einen Beruf der eigenen Wahl ergreifen, Verträge schließen, Gewerbe treiben, Geschäfte eröffnen, handeln, vermieten, kündigen, kaufen, Kredit nehmen usw. Ökonomisch freie Menschen können sich ihres wirtschaftlichen Verstandes ohne Leitung anderer bedienen. Hegel versteht die wirtschaftliche Sphäre auch als Ort bürgerlicher Freiheit jenseits von Leibeigenschaft, Feudalismus und Zunftordnung, die zur allmählichen Hebung des Wohlstandes der Nationen und ihrer Bevölkerungen führt, und die damit als wesentliches Moment von Sittlichkeit gelten darf. Wohlstandsmehrung ist auch etwa Rechtes. Der Genuss des Eigentums ist für Hegel das erste Dasein der Freiheit. Wirtschaften ist bei Hegel eine Weise der Vergesellschaftung durch Arbeit (§ 196), Austausch und Konsum. „Alles Partikulare wird (…) ein Gesellschaftliches“ (§ 192 Z). Man erwirbt in der durch Voranschreiten der Arbeitsteilung geprägten bürgerlichen Gesellschaft von anderen Personen Mittel zum Lebensunterhalt und steuert durch eigene Arbeit Mittel für andere bei. Alle Bedürfnisse werden künstlich. „Es wird ein Bedürfnis daher nicht sowohl von denen, welche es auf unmittelbare Weise haben, sondern vielmehr durch solche hervorgebracht, welches durch sein Entstehen einen Gewinn suchen“ (§ 191). Gewinnstreben ist in dieser Sphäre nichts zu Verübelndes. In der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft werden die Eigeninteressen rationaler Wirtschaftsbürger als legitime Handlungsmotive anerkannt. Diese 85

Damit sind wirtschaftsphilosophische Fragen aufgeworfen: Welchen epistemischen Status können sie (nicht) beanspruchen? Wie verhält sich der vernünftige freie Wille zu ihnen, so es sie denn „gibt“? Kann man sie politisch außer Kraft setzen? Würden sie in einer kommunistischen Wirtschaftsweise nicht mehr gelten? Gälten dann andere? 86 Engels, Friedrich (1845): Die Lage der arbeitenden Klasse in England. MEW Bd.  2, Berlin 1972, S. 225-506.

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Sphäre ist daher Sittlichkeit in ihrer negativen Form (Hegel: „Entzweiung“), da das Eigeninteresse, moralisch betrachtet, der Standpunkt des intelligenten Egoismus ist. Es scheint, als fielen wir in dieser Sphäre geistig in den Egoismus zurück, den wir als Rechtspersonen, als moralische Subjekte und als Mitglieder von Familien hinter uns gelassen zu haben glauben. Die ökonomische Sphäre ist für Hegel daher Sittlichkeit in ihrer negativen Gestalt. Die Negativität der Sittlichkeit kann extreme reale Formen annehmen. Das Sittliche ist „in seine Extreme verloren“ (§ 184 Z). Als dominiert vom Prinzip des privaten Eigennutzes ist die Sphäre der Wirtschaft seit ihren Anfängen der moralischen Kritik ausgesetzt, da sie immer auch ein „Schauspiel (…) sittlichen Verderbens“ bietet (§ 185). Ein solches „Schauspiel“ ist für Hegel Wesen und Schein zugleich, also eine dialektische Figuration. Marx hingegen nimmt dieses Schauspiel für das Wesen der kapitalistischen Marktwirtschaft. Für Marx ist es die Sphäre der Ausbeutung, des Betrugs, der Übervorteilung und der Maßlosigkeit. Aber diese moralische Betrachtungsweise der Negativität ist einseitig. Diese Sphäre der Negativität ist für Hegel allerdings notwendig und sie bewirkt mehr Gutes als ihre abstrakte Negation. Sie setzt Energien frei, die Produktivkräfte zu entwickeln und motiviert zur Produktion von Waren, die dann durch Märkte zu Gütern werden, die Gebrauchswerte stiften. Hegel erkennt, dass das, „was die Engländer comfortable nennen, (…) etwas durchaus Unerschöpfliches und ins Unendliche Fortgehendes ist“ (§ 191). Durch die voranschreitende Arbeitsteilung schlägt die „subjektive Selbstsucht in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen um“ (§ 199). Dieser Umschlag, den Adam Smith mit der Metapher der unsichtbaren Hand fasste, ist bei Hegel die List der ökonomischen Vernunft. Das eigensüchtige Gewinnstreben, als Motiv betrachtet, bereichert eben auf Dauer nicht nur einige Wenige, sondern die Mehrheit der Bevölkerung. Der „durch seine Arbeit vermittelte Erwerb (…) erhält und vermehrt“ das „allgemeine, bleibende Vermögen (§ 199). Das „allgemeine Vermögen“ ist ein Bleibendes, das sich mehren lässt, d.h. Produktivkräfte, Kapitalstöcke, Arbeitsproduktivität, Warenproduktion und Wohlstand wachsen. „Wenn die bürgerliche Gesellschaft sich in ungehinderter Wirksamkeit befindet, so ist sie innerhalb ihrer selbst in fortschreitender Bevölkerung und Industrie begriffen“ (§ 243). Der Einstieg in die Wachstumsökonomie erfolgt zu Hegels Lebzeiten. Für Hegel ergibt sich durch das Wimmeln eigennütziger Willkür hindurch eine emergente Ordnung, die eine steigende Zahl von künstlichen Bedürfnissen befriedigt, die Teilung der Arbeit vorantreibt, viele Annehmlichkeiten verschafft, die Versorgung mit Waren und Dienstleistungen massiv verbessert, die Früchte der kollektiven Arbeit allerdings nicht gleichmäßig verteilt und dadurch gerade aufgrund des allgemeinen Reichtums die Armut zu Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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einem „quälenden“ Problem werden lässt. Auf der einen Seite kommt es zur „Anhäufung von Reichtümern“ (§ 243), auf der anderen Seite wächst „die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse“ (§ 243). Allgemeines Vermögen, Wohlstand und Ungleichheit steigen. Die Armut, die nun im Gegensatz zum Reichtum steht, wird zum quälenden Problem. „Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende“ (§ 244). Dies liegt daran, dass „im Zustand der Gesellschaft (…) der Mangel sogleich die Form eines Unrechts“ gewinnt (§ 244). Dieses Problem erweist sich ökonomisch als unlösbar, sofern die Ungleichheiten an Einkommen und Vermögen auf jeder Stufe der Wohlstandsentwicklung als moralischer Skandal empfunden werden, auch wenn absolute Armut (fast) verschwindet und in relative Armut übergeht. Dies gilt bis auf den heutigen Tag etwa bei der Festlegung von Armutsrisikoschwellen. Hegel sieht, dass die Logik des modernen Wirtschaftens unvermeidlich Ungleichheiten hervorbringt, weshalb er es für eine Forderung des „leeren Verstandes“ hält, den Ungleichheiten „der Geschicklichkeit, der Vermögen und (…) der Bildung“ die moralische „Forderung der Gleichheit“ (§ 200) entgegenzusetzen. Diese Forderung des abstrakten Verstandes wird gegenwärtig wieder laut. Man kann Hegel so verstehen, dass er nach Institutionen sucht, die dem quälenden Problem der Armut abhelfen könnten, die er allerdings in seiner Gegenwart weder in der christlichen Armenfürsorge noch in englischen Arbeitshäusern finden konnte (§ 242, § 245). Der heutige Wohlfahrtstaat wäre Hegel utopisch erschienen. Es ist mit Hegel anzunehmen, dass im Übergang zu einer nachhaltigen Postwachstumsgesellschaft die Probleme von Mangel und Armut nicht einfach verschwinden werden; es sei denn, man hofft auf neo-kommunistische Lösungen. Nicht zufällig dominieren in der DegrowthBewegung anti-kapitalistische Strömungen.87 Ich selbst habe mich von diesen Strömungen abgegrenzt,88 für die eine Postwachstumsgesellschaft auf den Pfeilern a) Grundsicherung, b) Umverteilung, c) Reduzierung der Ungleichheit (Einkommensbegrenzung, Substanzbesteuerung), d) Abwicklung nutzloser 87 Rätz, Werner, Egan-Krieger, Tanja von (Hg.): Ausgewachsen. Hamburg: VSA, 2011, Adler, Frank, Schachtschneider, Ulrich: Green New Deal, Suffizienz oder Ökosozialismus. München: Oecom, 2010, Muraca, Barbara: Gut Leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums. Berlin: Wagenbach, 2014, Schmelzer, Matthias, Vetter, Andrea: Postwachstum/ Degrowth zur Einführung. Hamburg: Junius, 2019. 88 Ott, Konrad: Vier Pfade ins Postwachstumszeitalter. Vorgänge Nr. 195 (2011), S. 54-69, Ott, Konrad: Variants of de-growth and deliberative democracy: A Habermasian proposal. Futures Vol. 64 (2012), S. 571-581.

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Industrien, e) Gebrauchswertorientierung der Produktion und f) kollektives Eigentum an Produktionsmitteln beruht. Könnte nicht gerade die Sphäre, die dem Prinzip des Eigennutzes, der Konkurrenz und dem Gewinnstreben unterliegt, Beiträge zur Transformation in Richtung Nachhaltigkeit und gar Postwachstum leisten? Dieser Gedanke ist für viele kontraintuitiv. Ist diese Sphäre in ihrer Funktionslogik nicht so essentiell auf ressourcenzehrendes BIP-Wachstum und auf hohe externe Umwelteffekte fixiert, dass eine Postwachstumsgesellschaft nur im Widerstand gegen die Logiken von Markt und Kapital errungen werden kann? Viele legen ein Unvereinbarkeitstheorem zugrunde: Nachhaltigkeit oder Kapitalismus. Dieses Theorem beruht jedoch auf der Logik abstrakter Gegensätzlichkeit, nicht auf konkreter Dialektik. Es dringt wirtschaftstheoretisch nicht tief in die dynamischen Logiken von Markt, Investition, Branchenstrukturen, Konsum, Sparraten usw. ein und es denkt nicht langfristig genug. Es unterschätzt Markt und Kapital. Die Sphäre des Wirtschaftslebens war und ist zweifellos für viele Umweltprobleme entscheidend (mit)verantwortlich, sie lässt sich aber auch auf vielfältige Weise für einen veränderten Umgang mit begrenzten natürlichen Ressourcen öffnen. Mit Luhmann89 gesprochen, kann sie umprogrammiert werden. Dies betrifft einmal die Rahmenordnung der diversen Umweltgesetze und -verordnungen (Rückbezug zum Recht), zum anderen auch die Konzeption „nachhaltiger“ Konsumption (Rückbezug zur Moral und zur Familie), unternehmerische Initiativen wie „Corporate Social Responsibility“ und einem veränderten Investitionsverhalten unter sich ändernden Rahmenbedingungen. Während die linke Degrowth-Bewegung die systemische Kopplung aus Märkten, Privateigentum, Investitionen, Lohnarbeit und Konkurrenz primär als entfremdendes Gehäuse der Hörigkeit sieht, sieht man in hegelianischer Perspektive vielfältige Möglichkeiten der Übergänge in eine langfristige „grüne“ Welle (sog. Kontratief-Zyklus). Viele Ansätze etwa im Bereich der sog. Bioökonomie gehen in diese Richtung. Wie genau sich erneuerbare Energien, Bioökonomie, Gesundheitsökonomie, Digitalisierung, die Produktion von „ecosystem services“ in diesem neuen Kontratief-Zyklus genau zueinander verhalten werden, lässt sich im Detail nicht prognostizieren; klar ist nur, dass sich dieser Zyklus von der fordistischen und der fossilen Ära des Industriekapitalismus deutlich unterscheiden wird. Sieht man in längerfristiger Betrachtung, dass die Ungleichheit im 20. Jahrhundert bis 1990 in allen westlichen Ländern zurückging,90 bis sie nach 1990 wieder stieg, so könnten in diesem neuen Zyklus Ungleichheiten auch abgebaut werden. 89 90

Luhmann, Niklas: Ökologische Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1986. Milanovic, Branko: Global Inequality. Cambridge/Mas.: Belknap, 2016.

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Für Hegel muss der Eigennutz sowohl freigesetzt und gewürdigt als auch staatlicherseits reguliert und administriert werden. Die Notwendigkeit einer rechtlichen Rahmenordnung steht außer Frage. Diese Rahmenordnung wird aber in der Wirtschaftsethik, etwa in der Homann-Schule, aus der Perspektive von „homines oeconomici“ konzipiert, die in ihrer Interessenverfolgung zwar möglichst gut geschützt, aber auch möglichst wenig eingeschränkt werden wollen. In hegelscher Sicht muss die Rahmenordnung hingegen Momente aus anderen Sphären des Rechten integrieren können. Sie würde dann zum grünen Ordoliberalismus. Hegel hat im § 232 ein, wenngleich rudimentäres Verständnis von externen Effekten entwickelt. Der Schaden und das Unrecht, das durch „Privathandlungen“ entstehen kann, darf nicht geduldet werden. Während es für den einzelnen Egoismus rational ist, zu externalisieren, darf eine Wirtschaftsordnung Externalisierungsstrategien nicht dulden. Daher darf nicht auf Kosten anderer Akteure (einschließlich zukünftiger Generationen und Menschen in anderen Weltregionen) gewirtschaftet werden. Allerdings gibt es nicht nur negative, sondern auch positive externe Effekte wirtschaftlicher Tätigkeit, die gefördert werden könnten und sollten („spill over“, „trickling down“). Festzuhalten ist ein Externalisierungsverbot. Nicht das Gewinnstreben an sich, sondern das (aus dem Utilitarismus stammende) Maximierungsideal ist ein Kardinalproblem ökonomischen Handelns. Gewinnmaximierung kann ökonomisch als Axiom der Produktionsfunktion gesetzt und rechtlich als Ziel von Aktiengesellschaften festgelegt werden. Dieses Axiom fördert die Neigung, externe Effekte zu produzieren. Es ignoriert die Anliegen der „stakeholder“ und begünstigt eine „shareholder“-Mentalität. Börsengänge bedeuten, sich diesem Ideal zu fügen. Es belohnt (bei hohen Diskontraten) Kurzfristgewinne. Dieses Maximierungsideal führt in der Konsequenz zur Forderung nach Abbau von Sozial- und Umweltstandards. Dieses Ideal taugt, als Maxime betrachtet, nicht zu Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung und es schließt eine innere Versittlichung innerhalb der Ökonomie aus. Die Ethosformen wirtschaftlichen Handelns („Fleiß“, „Ehrbarkeit“, „Anstand“, „Fairness“) liegen quer zum Maximierungsideal. Es kommt also darauf an, die Rolle des Unternehmers vom Maximierungsideal abzukoppeln. Eine anständige Unternehmerin unterstellt sich dem Maximierungsideal nicht. Unter dieser Voraussetzung und in einer an Schumpeter angelehnten Theorie könnte Unternehmertum mit der Transformationsperspektive vermittelt werden. Unternehmertum hat in Deutschland keinen guten Ruf mehr. Sich mit einer Geschäftsidee selbständig zu machen, gilt fast schon als moralisch anrüchig. Ein freies, in umweltethischer Perspektive aufgeklärtes und Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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in wirtschaftsethischer Perspektive versittlichtes Unternehmertum wäre ein wesentliches Moment der Transformation zur Postwachstumsgesellschaft. Die Konzeption eines neuen Unternehmertums91 kann mit der Praktik des ethisch-ökologischen Firmenratings92 und eines an Nachhaltigkeitszielen orientierten Investitionsverhaltens verknüpft werden, das auch Formen von De-Investment einschließt. Investieren kann auch bedeuten, Kapital aus „fordistischen“ Branchen abzuziehen. Das betriebliche Wachstum in bestimmten Branchen könnte mit einem volkswirtschaftlichen Postwachstum verträglich sein, wenn im Gefolge „schöpferischer Zerstörung“ (Schumpeter) rohstoffund energieintensive Branchen an volkswirtschaftlicher Bedeutung verlieren. Die fossile Ära der kapitalistischen Warenwirtschaft neigt sich ihrem Ende zu. Diese Gestalt des Wirtschaftens lässt sich nicht mehr verjüngen. Der Kapitalismus aber ist, wie Marx wusste, ein höchst wandelbares Wesen, das in vielen Varianten zu existieren vermag, solange man ihm den Lebensatem nicht politisch abschnürt. 4.5 Staatlichkeit und deliberative Demokratie Die Sphäre der Staatlichkeit (inneres Staatsrecht) wurde von Hegel insgeheim republikanisch gedacht.93 Für Hegel, der die Französische Revolution feierte, ist politische Freiheit lebenspraktisch wirklicher als die moralische Autonomie (Kant). Mit Hegels Idee der politischen Freiheit ist letztlich nur das Konzept des Staatsbürgers, nicht das eines Untertanen vereinbar. Hegel musste allerdings unter dem Damokles-Schwert der Karlsbader Beschlüsse in seinen Äußerungen vorsichtig sein. Darin liegt die Doppelbödigkeit der hegelschen Staatsrechtslehre, die viele Missverständnisse hervorrufen musste. Es geht Hegel um die Vermittlung von Staatlichkeit („der“ Staat) und Freiheit. Der Staat ist die politische Instanz, „in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt“ (§ 258). Frei ist nicht der Staat an sich selbst, sondern immer nur seine „Glieder“. Als Instanz höchster Freiheit ist der Staat die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (§ 257). Hegel will keinen idealen Staat nach dem Vorbild der „Politeia“ ausmalen, will aber die Staatsidee „für sich“ betrachten. „Bei der Idee des Staates muß man nicht besondere Staaten vor Augen haben, nicht besondere Institutionen, man muss vielmehr die Idee (…) für sich betrachten“ (§ 258 Z). Aus der Idee des Staates lässt sich das Moment 91 Ziegler, Rafael, (Hg.), An Introcution to Social Entrepreneurship, Cheltenham: Edward Elgar, 2009; Ziegler, Rafael et al.: Social Entrepreneuership in the Water Sector. Cheltenham: Edward Elgar, 2014. 92 Hoffman, Johannes, Scherhorn, Gerhard, Ott, Konrad: Ethische Kriterien für die Bewertung von Unternehmen – Frankfurt-Hohenheimer Leitfaden. Frankfurt: IKO, 1997. 93 Vieweg, Klaus: Hegel. Philosoph der Freiheit. München: Beck, 2019.

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des Irdischen nicht tilgen: „Der Staat ist kein Kunstwerk, er steht in der Welt, somit in der Sphäre der Willkür, der Zufalls und des Irrtums; übles Benehmen kann ihn nach vielen Seiten defigurieren“ (§ 258 Z). Wir können die Möglichkeit der „Defiguration“ der Idee von Staatlichkeit festhalten, die die weltliche Existenz des Staates in seiner Negativität ist. Der Begriff der Defiguration setzt freilich die Idee eines „guten“ Staates als Maßstab voraus. Zwei Maßstäbe sind bei Hegel identifizierbar: Staatlichkeit muss erstens die außer-politischen Freiheiten der anderen Sphären des Rechten und des absoluten Geistes (Kunst, Religion und Wissenschaft) respektieren (§ 273 Z) und zweitens eine neue und höchste Form der Freiheit konstituieren, nämlich die politische Freiheit selbst. Dieser zweite Maßstab kann der Debatte nicht ausweichen, wer letztlich der Souverän im Staate sei: der Fürst oder das Volk. Hegel unterscheidet zwei Varianten des Gedankens der Volkssouveränität. Dem „verworrenen Gedanken“ liegt die „wüste Vorstellung des Volkes“ zugrunde. Man könnte sie auch als die „völkische“ Variante bezeichnen, die sich auf den Volkswillen in seiner Unmittelbarkeit beruft. Das Volk, als Masse betrachtet, ist für Hegel kein Staat (§ 279). Die zweite Variante versteht unter Volkssouveränität die „Form der Republik, und zwar bestimmter der Demokratie“ (§ 279). Die Demokratie ist somit die theoretisch klare Form des Republikanismus. Hegel verweist in § 279 zur Kritik der Demokratie zurück auf den Zusatz von § 273. Aber § 273 Z lässt die Demokratie als Staatsform ausdrücklich zu. Dort heißt es, das Prinzip der neueren Welt sei die Freiheit und alle wesentlichen Seiten der Freiheit müssten zu ihrem Recht kommen. „Von diesem Standpunkt ausgehend, kann man kaum die müßige Frage aufwerfen, welche Form, die Monarchie oder die Demokratie, die bessere sei. Man darf nur sagen, die Formen aller Staatsverfassungen sind einseitige, die das Prinzip der freien Subjektivität nicht in sich zu ertragen vermögen und einer ausgebildeten Vernunft nicht zu entsprechen wissen“ (§ 273 Z). Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Demokratie unter diesen zwei Kriterien besser abschneidet. Hegel hatte allerdings noch kein reales Beispiel einer dauerhaft erfolgreichen Demokratie vor Augen. Die Französische Republik schlug in Tugendterror um als einer Defiguration. Vielleicht erweist sich, so Hegels mögliche Vermutung, die Demokratie als Staatsform als unbeständig und geht aus immanenten Gründen in Oligarchie oder Tyrannis über. Hegel fordert von einer Staatsform Beständigkeit, da die Bürgerschaft überwiegend in ruhigen Zeiten leben möchte und der Staat das private Wohlergehen der Bürger nicht aus dem Auge verlieren darf. Die Abfolge der Staatsformen ist häufig gewaltförmig und kann zu Bürgerkriegen führen, die Hegel (wie Luther und Hobbes) als größtes politisches Übel fürchtet. Rein normativ mag die Staatsform der Demokratie überlegen scheinen; aber praktisch hat sie zu Hegels Zeit ihre Wirklichkeit noch nicht erwiesen. Hegel hätte also Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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normativ zugunsten der Demokratie argumentieren müssen, was ihm aus immanent-philosophischen wie äußerlich-kontingenten Gründen widerstrebt haben mochte. Die Sphäre des Staatlichen kann gegenwärtig nur demokratietheoretisch rekonstruiert werden. Hierbei konkurrieren ökonomische, systemtheoretische, agonale und deliberative Konzepte von Demokratie. Ökonomische Konzepte nivellieren den Unterschied zwischen Wirtschafts- und Staatsbürger*innen. Agonale Konzepte, die auf Carl Schmitt und/oder Karl Marx zurückgreifen, können die wechselseitige Anerkennung der Staatsbürger letztlich nur als Freund-Gegner/Feind-Verhältnisse bzw. als Klassenkämpfe denken (und politische Rede nur als Propaganda). Systemtheoretische Konzepte sehen die Neuerung des modernen politischen Systems darin, dass es sich (nach außen hin) nicht mehr als hierarchische Spitze aller übrigen Systeme versteht, (nach innen hin) die Spitze in Regierung und Opposition verdoppelt94 und den Wechsel durch den Operationsmodus von fairen Wahlen prozessiert. Dadurch entsteht im historischen Vergleich mehr Demokratie als jemals zuvor, wenngleich der Oszillationsbereich politischer Programmatiken geringer wird. Im Geiste Hegels wäre eine deliberative Republik der gemeinsamen Beratung über politische Ziele und Regelwerke im Rahmen einer Verfassung. Die Zuordnung Hegels zu einem deliberativ-republikanischen Konzept des Politischen lässt sich aus seinen Ausführungen zum Beamtenstand entnehmen, in dem Sachverstand dominiert. Hegels Staatsverständnis schließt die Einbindung von „Korporationen“ ein, die heute als Wirtschaftsverbände, Vereinigungen freier Berufe, Wohlfahrtsorganisationen, Gewerkschaften, Umweltverbände, Stiftungen usw. tätig sind. Hegel begrüßte eine bürgerliche Mitwirkung auf zunächst kommunaler Ebene und er bietet ein aktuelles Bild der öffentlichen Meinung, die sowohl geachtet als auch verachtet zu werden verdient. Hegel hoffte auf die allmähliche „Fortbildung der Verfassung“. „Die Verfassung ist also, aber ebenso wesentlich wird sie, das heißt, sie schreitet in der Bildung fort“ (§ 298 Z). Dieses Fortschreiten braucht Zeit. „Nach langer Zeit kommt auf diese Weise zu einem ganz anderen Zustand als vorher“ (§ 298 Z). Die Fortbildung der Verfassung kann sich auch innerhalb der Staatsform der Demokratie vollziehen. Heutige Konzepte deliberativer Demokratie, die normativ auf der wechselseitigen Voraussetzung von Demokratie und Individualgrundrechten beruhen,95 können ein realistisches Modell der politischen Sphäre zugrunde

94 95

Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2000, S. 164 f. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1992.

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legen. Zu unterscheiden ist im Anschluss an Habermas96 a) die Sphäre der Zivilgesellschaft mitsamt den Vereinen und Verbänden, b) ein „Zwischenreich“97 deliberativ verfasster Gremien, Ämter, Behörden, Foren usw., das zwischen der Zivilgesellschaft und c) dem professionalisierten und demokratisch legitimierten Kern des politischen Systems (Parlament, Regierung, Ministerien) vermittelt. Das deliberative Zwischenreich – in Analogie zur Beamtenschaft als dem „substantiellen Stand“ bei Hegel – kann als Garant einer institutionalisierten diskursiven Vernünftigkeit gelten. Für Hegel war der „allgemeine Stand“, d.h. die Beamten die Instanz von Sachverstand und Vernunft. Sie sind für Hegel „gesetzgeberisch“ tätig, was bei Hegel aber eher „Gesetzesvollzug“ und Entscheidungsvorbereitung meint. Aus kantischer Sicht wiederum klärt sich die Öffentlichkeit selbsttätig auf. An beide Instanzen der Vernunft (Öffentlichkeit, Beamtenschaft) kann man anknüpfen. Meine These ist, dass in der modernen Demokratie das deliberative Zwischenreich98 die Funktionen ausübt, die Hegel exklusiv der Beamtenschaft zuwies: Vorbereitung kollektiv bindender Entscheidungen mit hoher Akzeptabilität (=Zustimmungswürdigkeit) für die gesamte Bürgerschaft.99 Dies gilt auch im Umweltbereich. Institutionalisierte Gremien im Umweltbereich (wie etwa SRU, WBGU, RNE, DRL) betreiben wissenschaftlich abgestützte Politikberatung und finden nicht selten Gehör, wenngleich häufig mit Zeitverzug. Entgegenzutreten ist der populistischen Auffassung, die parlamentarische repräsentative Demokratie sei aufgrund bestimmter Strukturmerkmale (wie der Kürze der Legislaturperioden) zu erfolgreicher langfristiger Nachhaltigkeitspolitik außerstande. Insgesamt machen demokratische Regime eine vergleichsweise deutlich bessere Umweltpolitik als autoritäre Regime. Im Zwischenreich bilden sich die Konsenszonen heraus, derer langfristiges Umwelthandeln bedarf. Eine mögliche zusätzliche Qualifikation der deliberativen Demokratie als „environmental deliberative democracy“ muss aus Sicht der gesamten Bürgerschaft als „Fortbildung der Verfassung“ (Hegel) zustimmungswürdig sein. Aber was spricht für eine solche Qualifikation? Genügt es nicht zu sagen, dass Umwelt-, Klima- und Naturschutz wichtige inhaltliche Themen seien. Genügt nicht Art 20a GG? Ein Argument für diese Fortbildung liegt in der triadischen Struktur eines politisch verfassten Gemeinwesens (Verfassung, Bevölkerung, 96 Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1992, Kap. VIII. 97 Ott, Konrad: Deliberative Zwischenreiche und Umweltpolitik. Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 22 (2014), S. 289-312. 98 Ott, Konrad: Deliberative Zwischenreiche und Umweltpolitik. Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 22 (2014), S. 289-312. 99 Die Unterscheidung zwischen faktischer Akzeptanz und diskursiver Akzeptabilität setze ich voraus.

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Territorium), zu der auch dessen Territorialität gehört. Dass die terrestrischen Landflächen des Planeten (und die Küstenzonen) in Territorialstaaten aufgeteilt wurden, ist das Ergebnis der Ordnung, die am Ende des 30jährigen Krieges 1648 konstituiert wurde. Eine globale Ordnung jenseits der Staatenwelt mag man erträumen oder fordern; aus einer hegelianischen Perspektive ist die Ordnung einer Staatenwelt ein Tatsachenprinzip. Territorialität ist ein zweites Tatsachenprinzip.100 Nach der Seite der Tatsächlichkeit ist Territorialität von kontingenter Geschichte geprägt; Grenzen wurden im Verlauf der Geschichte verschoben. Dem demokratischen Staat sind territoriale Zugewinne durch Kolonialisierung und Krieg untersagt; diese Arten des Wachstums kommen nicht mehr in Betracht. Territorialität ist somit endlich, d.h. räumlich begrenzt und nicht vermehrbar. Territorialität bedeutet als Begrenztheit auch die Existenz von Außengrenzen und das Recht der Territorialstaaten, Grenzregime zu institutionalisieren, die Zutritte ge- oder verwehren.101 Der Raum ist eine transzendentale und daher allgemeine Kategorie; Territorialität ist ein Allgemeines, das schon auf Besonderheiten verweist: „Erdstriche“, „Landschaften“, „Bioregionen“. Territorien sind besondere regionale Landstriche, die in die Einzelheiten von Orten und Plätzen übergehen. Neutral mag man von Erdregionen sprechen. Ein Territorialstaat übergreift in der Regel mehrere Erdregionen. Über seine Territorialität ist dem Staat ein immanenter Bezug zu Umwelt, Klima, Landschaft und Natur eingeschrieben. Dieser territoriale Naturzusammenhang wurde im Industrialismus bis aufs Äußerste strapaziert und er wird sich im Klimawandel so verändern, dass Anpassungsstrategien zentrale Politikfelder werden. Das Territorium des Staates ist nicht abstrakte Fläche, sondern ein Geflecht aus Naturräumen, deren „Formierung“ unter den Auspizien von Umweltethik und Nachhaltigkeit steht. Diese Dimension der Territorialität des Staates fehlt bei Hegel, obwohl sie ein Moment der Staatsidee ist. Das Verhältnis von Staatlichkeit und Territorialität tritt gerade im Naturschutz deutlich hervor. Territorialstaaten beherbergen unterschiedliche Naturräume mitsamt schützenswerten Naturgütern, die von partikularen Gemeinwesen aus unterschiedlichen Motiven heraus geschützt und gepflegt werden. Da der Naturschutz in einer nachhaltigen Postwachstumsgesellschaft ein wichtiges Politikfeld sein muss,102 kommt dem eine hegelsche Perspektive zugute, die die natürlichen und landschaftlichen Besonderheiten bestimmter 100 Sensu Hönigswald, Richard (1937): Philosophie und Sprache. Darmstadt: WBG, 1970. 101 Walzer, Michael: Spheres of Justice. New York: Basic Books, 1983. 102 Ott Konrad: Zur Dimension des Naturschutzes in einer Theorie starker Nachhaltigkeit. Marburg: Metropolis 2015.

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Territorien und die Geschichten ihrer Formierung als solche würdigen kann. Der Klimaschutz ist vielleicht auch deshalb so dominant geworden, weil er aufgrund seiner globalen Dimension von allen Umweltproblemen am besten zu einer kosmopolitischen Ethik passt. Der Naturschutz hingegen bleibt immer raum- und standortgebunden. Naturschutz bezieht sich realiter („de re“) auf partikulare Naturformationen, die häufig Eigennamen tragen (Bodetal, Spessart, Rügen). Hegel hat das Recht der Besonderheit betont. Darin liegt das kommunitaristische Moment des hegelschen Denkens, für den Patriotismus eine Tugend war, die sich weniger in heroischen Akten zeigt als im dauerhaften Einsatz. Mit dem politischen Liberalismus ist es zwanglos vereinbar,103 dass in bestimmten politischen Kollektiven besondere naturschützerische Traditionen kritisch angeeignet und gepflegt werden können. In Deutschland darf eine entsprechende Traditionspflege nicht naiv sein; sie muss eine politische Geschichte des Naturschutzes voraussetzen, die die Zeit von „Blut und Boden“ nicht ausspart. Freilich zeigen sich Grenzen territorialer Lösungen angesichts globaler Umweltprobleme (Klimawandel, Meeresversauerung). Hier verbindet sich das äußere Staatsrecht mit der internationalen Umweltpolitik. Zweifellos rechnet Hegel der realistischen Schule zu.104 Wenn Hegel schreibt, dass die Staaten zwar miteinander Verträge schließen, zugleich aber souverän über ihren Verträgen stehen (§ 330), so unterschätzt er aufgrund der Erfahrungen seiner Gegenwart die langfristige Wirksamkeit des Völker(vertrags)rechts. Die völkerrechtliche Sphäre der internationalen Umweltregime (UNFCCC, CBD, CITES, Ramsar-Abkommen, UNCLOS) hat sich etabliert. Die prosaischen Realitäten zäher Verhandlungen sollten die langfristigen Wirklichkeiten solcher Regimebildungen nicht überblenden. Somit sind Nationalstaaten aufgefordert, Beiträge zur Umsetzung und Fortbildung internationaler Umweltregime zu leisten und an den Übergängen von Konventionen zu wirksamen Protokollen mitzuwirken. Allerdings wird auswärtige Politik immer auch damit rechnen müssen, dass bestimmte Mächte primär interessenbasierte Geopolitik betreiben und genau wissen, wo die Schwächen von politischen Gebilden wie der EU liegen.

103 Sagoff, Mark: The Economy of the Earth. Cambridge: Cambridge University Press, 1988, Kap. 6, 7. 104 Schmiedl-Neuburg, Hilmar: Normative Theorien der Internationalen Beziehungen. Norderstedt: Books on Demand, 2005, S. 184-186.

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Fazit und Ausblick

Durchläuft man die Sphären des Richtigen in hegelscher Perspektive unter der leitenden Fragestellung, so sieht man gute und richtige Zukünfte für eine Gesellschaft, die vor der Transformation in eine nachhaltige Postwachstumsgesellschaft keine bange Furcht zu haben braucht. Es drohen weder Verluste an Freiheit noch dramatische Einbußen an Wohlfahrt, wenngleich das Verhältnis zwischen Lebensstandard und –qualität sich ändern dürfte. Recht, Moral, Familie, Gemeinschaften, Wirtschaft und Staat können auf je ihre Weise mutige, ja sogar schöne (im Sinne von Arne Naess: „beautiful actions“) Beiträge zu einer „fröhlichen“ Transformation leisten. Dabei kann es zu vielen transversalen Konkretionen („concrescere“: zusammenwachsen) kommen. Dass Quantitäten in neue Qualitäten umschlagen können, ist jeder Hegelianerin geläufig. Für Hegel wird nie etwas Großes ohne Leidenschaft getan. Die Leidenschaften, die mit der in Aussicht gestellten Transformation verbunden sind, dürfen jedoch keine Furien sein, die uns in Schrecken versetzen. Die Grundhaltung im Anthropozän und angesichts der Entwicklungen in seinen Indikatoren (Bevölkerung, Klimawandel, Wasser, Landwirtschaft, Entwaldung, Migration, Massensterben von Arten usw.) sollte die einer tiefen Sorge um die Zukunft sein.105 Sorge kann übergehen in Fatalismus, Verzagtheit, Furcht und Zorn. Hegel warnt gleich zu Beginn der Grundlinien vor dem politischen „Fanatismus der Zertrümmerung aller bestehenden gesellschaftlichen Ordnung“ (§ 5), der vorgibt, die Zerstörung diene nur dem Aufbau einer besseren Welt. Wut, Hass, Angst, Panik und verwandte Gefühlslagen passen jedenfalls nicht gut zu Klugheit, Urteilskraft, Augenmaß und Vernunft, derer wir in der Transformation bedürfen. Viele meinen, die Größe einer Transformation erfordere revolutionären Aktivismus: zivilen Ungehorsam, Rebellion, Widerstand, Verweigerung, Erkämpfen von Freiräumen. Mit Hegel kann man eine bürgerlich-reformistische Alternative anbieten, die auf anspruchsvollen normativen Grundlagen ruht und auf zivilen Wandel setzt. Die Verhältnisse zwischen Umweltethik, Nachhaltigkeitstheorie, der Idee der Freiheit und den Inhalten der Sphären des Rechten sollten jedenfalls sichtbar geworden sein. Die Perspektive ist die einer „Versöhnung“ zwischen freiheitlichem Dasein und dem Schutz von Natur. In vernünftiger Freiheit könnten wir die abwertende Distanz zur Natur, in der wir uns in der Moderne 105 Ott, Konrad: Verantwortung im Anthropozän und Konzepte von Nachhaltigkeit. In: Sierra, Rosa, Grisoni, Anahita (Hg.): Nachhaltigkeit und Transition: Konzepte. Frankfurt/M.: Campus, 2017.

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eingerichtet haben, auch wieder verringern. Wenn diese Versöhnung geistig überzeugt, wird sie wirklich werden wie alles Vernünftige. In § 30 ist von der „Heiligkeit“ des Rechts die Rede. Diese seltsame und missverständliche Rede von der Heiligkeit des Rechts erschließt sich aus § 132: „Was ist das Heilige? – was die Menschen zusammenhält. (…) Was das Heiligste: was auf ewig die Geister einig und einiger macht“ Hegel spielt hier auf einen Distichon Goethes an: „Was ist heilig? Das ist’s, was viele Seelen zusammen Bindet“. Es gibt für Hegel etwas „Heiliges“ in der Sphäre des objektiven Geistes, nämlich die Bindungen, die die soziale Kohäsion ausmachen. Wer diese auflösen möchte, wird auch für Natur und Umwelt nicht viel Gutes bewirken.

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Gibt es unrechtes Recht?

Über positives Recht, Unrecht und richtiges Recht bei Kelsen, Radbruch und Hegel Folko Zander Die Frage nach der Legitimation positiver Gesetze hat eminente politische Bedeutung. In diesem Aufsatz soll es nicht um spezifische Legitimation nach Zwecken gehen – inwieweit ist Gesetz X geeignet, den Zweck Y zu bewirken –, sondern darum, ob Recht an einem ihm wesentlichen Wert ausgerichtet sein muss, um sich überhaupt als Recht zu qualifizieren. Dabei geht es nicht um die Frage, ob Recht und Moral voneinander unabhängig sind, also sich unabhängig voneinander darstellen und begründen lassen – die sogenannte Trennungsthese. Es soll nicht bestritten werden, dass Recht moralisch beurteilt werden kann (auch wenn moralisch schlechtes Recht immer noch Recht ist), wie es ja auch nach ökonomischen, sozialen, ja ästhetischen Kriterien beurteilt werden kann. Es soll vielmehr bestritten werden, dass es keine überpositive Instanz gibt, nach der Recht bestimmt werden kann. Das Recht des nationalsozialistischen Deutschlands war ja nicht nur unmoralisch, es war zu großen Teilen überhaupt kein Recht, es war nicht nur ungerecht (aus moralischer Perspektive), sondern Unrecht (aus rechtlicher Perspektive). Es war dies nicht nach Maßgabe eines das Recht transzendierenden Naturrechts, sondern nach Maßgabe des Rechts selbst. Drei Zugänge auf das Problem sollen vorgestellt werden. Hans Kelsens Reine Rechtslehre gilt zwar gemeinhin als rechtspositivistisch und wäre somit kein Kandidat, das in diesem Aufsatz benannte Problem (nämlich aus welchen Gründen und unter welchen Bedingungen ein Recht als Unrecht gelten darf) zu erhellen. Die Reine Rechtslehre nimmt jedoch eine Mittelstellung zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus ein, ist Normativismus, ohne Rechtsmoralismus zu sein.1 Allerdings lässt sich mit ihr die Frage nach dem richtigen Recht gar nicht stellen. Unrecht lässt sich nach Kelsen nur innerhalb eines positiven Normsystems nachweisen. Da positives Recht nicht selbst innerhalb eines 1 Vgl. Matthias Jestaedt, Hans Kelsens Reine Rechtslehre. Eine Einführung, in: ders. (Hrsg.), Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik (fortan: Reine Rechtslehre), Tübingen 2008, S. XI–LXVI (S. XXXII) sowie ders. und Oliver Lepsius, Der Rechts- und Demokratietheoretiker Hans Kelsen – Eine Einführung, in: Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, hrsg. v. Matthias Jestaedt und Oliver Lepsius, Tübingen 006, S. VII– XXIX (S. XVI).

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© Brill Fink, 2024 | doi:10.30965/9783846768358_011

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umfassenderen Normsystems gedacht werden kann, d.h. einem natur- oder vernunftrechtlichen Rahmen, ist Recht keiner weiteren Bewertung zugänglich, außer eben der, Recht zu sein, weshalb „die Ordnung der Sowjetrepublik ganz ebenso als Rechtsordnung begriffen werden soll wie die des faschistischen Italiens oder die des demokratisch-kapitalistischen Frankreich“2. Staaten eigens als Rechtsstaaten zu legitimieren wird daher „unmöglich“, „weil jeder Staat ein Rechtstaat sein muß: sofern man unter ‚Rechtstaat‘ einen Staat versteht, der eine Rechtsordnung ‚hat‘“ (RRL, S. 136). Während Kelsen Normen allein an Rechtstatbestand und Rechtsfolge orientiert, die wiederum aus einer nicht weiter vermittelten Grundnorm abgeleitet werden, definiert Gustav Radbruch das Recht als „die Wirklichkeit, die den Sinn hat, dem Rechtswerte, der Rechtsidee zu dienen“, wobei die Rechtsidee mit Gerechtigkeit identifiziert wird.3 Während Kelsen es für unmöglich erklärt, „Normen für menschliches Verhalten in der Vernunft zu finden“4, und absolute Gerechtigkeit für ein „irrationales Ideal“ hält,5 und er deshalb bezüglich der inhaltlichen Zwecksetzungen des Rechts Relativist ist – denn es gibt nach ihm keine rationale Maßgabe, einen Zweck vor den anderen auszuzeichnen –, scheint der Relativismus bei Radbruch eingeschränkt, da zur formalen Rechtsidee der Gerechtigkeit die Zweckmäßigkeit hinzutreten muss, um den Inhalt des Rechts zu gewinnen.6 Inhaltlich werthaltig können aber nur „menschliche Einzelpersönlichkeiten, menschliche Gesamtpersönlichkeiten, menschliche Werke“7 sein, woraus sich für Radbruch eine „rechtsphilosophische Parteienlehre“8 ergibt. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts nun ist das älteste der hier auf die Frage nach dem richtigen Recht hin analysierten Werke. Anders als bei 2 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik (Studienausgabe der 1. Auflage 1934), hrsg. u. eingel. v. Matthias Jestaedt, Tübingen 2008, S. 36. Fortan im Haupttext nach dem Zitat in Klammern als RRL, gefolgt von Seitenzahl ausgewiesen. 3 Vgl. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie. Studienausgabe (fortan im Haupttext nach dem Zitat in Klammern als RP, gefolgt von Seitenzahl ausgewiesen), hrsg. v. Ralf Dreier und Stanley L. Paulson, Heidelberg, München, Landsberg, Frechen, Hamburg 2003, S. 34. 4 Hans Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, Stuttgart 2020, S. 43. 5 Vgl. Ebd., S.  45. Das bedeutet allerdings auch, dass nicht einmal von einem moralischen Standpunkt ein Rechtssystem als unmoralisch oder moralisch qualifiziert werden kann. Given his value irrationalism, Kelsen cannot give a sense tot he distinction between ‚morally right‛ and ‚morally wrong‛ – there is no (objective) criterion of ethical correctness against which the legitimacy of legal order can be judged.“ Frank Haldemann, Gustav Radbruch vs. Hans Kelsen: A Debate on Nazi Law, in: Ratio Juris. Vol. 18 No. 2 June 2005, S. 162–78 (S. 174). 6 Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 54. 7 Ebd., S. 55. 8 Vgl. Ebd., S. 63-72.

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Kelsen, der die Möglichkeit ihrer Erkenntnis verneint, und bei Radbruch, der sie mit der Idee des Rechts identifiziert, was ich im ersten und zweiten Teil des Aufsatzes zeigen werde, wird Gerechtigkeit nicht explizit eine zentrale Rolle in Hegels Rechtsphilosophie zugewiesen.9 Zentral für Hegel ist die Idee des Rechts, Idee aber nicht im Radbruchschen Sinne, dass Recht auf sie hin orientiert wäre, sondern vielmehr, dass Recht sich aus einer begrifflichen Notwendigkeit heraus logisch auf die Rechtsidee hin entfalten lässt, dass im Begriff des freien Willens Bestimmungen zu finden sind, die weit über die traditionelle Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit hinausgehen und sohin Kriterien an die Hand geben, richtiges Recht zu identifizieren. Dabei ist dies richtige Recht nicht etwas, woran sich positives Recht zu orientieren hätte, keine Kopfgeburt des Naturrechts. Sondern das Recht entfaltet sich historisch stets als positives Recht, das allerdings in seinem geschichtlichen Auftreten die Widersprüche, die sich aus den unvollkommenen, da noch nicht vollständig positiv gewordenen Rechtsbestimmungen, hat überwinden müssen.

Hans Kelsens relativistische Reine Rechtslehre

Rechtliche wie moralische Normen gehören nicht zur Natur, entziehen sich also kausalgesetzlichen Zusammenhängen. Allerdings kann Recht durch die moralische Kategorie der Gerechtigkeit erfasst werden. Das nützt jedoch nicht viel, denn diese ist „überhaupt nicht durch rationale Erkenntnis erreichbar“ (RRL, S. 26), da die „Logifizierung eines von vorneherein logosfremden Objekts“ auf Tautologien wie den ganz inhaltslosen kategorischen Imperativ führe, hinter denen sich der Grundsatz der Identität verberge. (Vgl. RRL, S. 27) Recht als solches hat nach Kelsen nichts mit Gerechtigkeit zu tun, in ihm verwirklicht sich auch kein „ethisches Minimum“. (Vgl. RRL., S. 32) Sondern einer rationalen Erfassung zugänglich seien stattdessen „Interessen und Interessenkonflikte“, die in einer Interessenordnung gelöst werden durch Entscheidung für eine Partei oder durch Kompromiss. (Vgl. RRL, S. 28) Kelsen versteht die Reine Rechtslehre vor allem als Methode der Ideologiekritik, das Verständnis des Rechts soll von all dem entlastet werden, welches nur der Legitimität eines 9 Trotzdem ist der Begriff der „Gerechtigkeit“ für seine Rechtsphilosophie zentral (vgl. Klaus Vieweg, Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München 2012; Claudia Wirsing, Hegel, Justice, in: Encyclopedia of the Philosophy of Law and Social Philosophy, hrsg. v. Mortimer Sellars und Stephan Kirste, Dordrecht 2022 (i.E.)), sie reduziert sich allerdings nicht auf die Moral und wird nicht (wie in anderen Gerechtigkeitstheorien) über Verteilung von Gütern bestimmt, sondern definiert sich über den Begriff der Sittlichkeit im Staat, und damit über das Verhältnis von Individuum und (bürgerlicher) Gesellschaft.

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bestehenden Staates dient und das Verständnis des Rechts verwirrt. Die Reine Rechtslehre „will das Recht darstellen, so wie es ist, ohne es als gerecht zu legitimieren oder als ungerecht zu disqualifizieren“ (RRL, S. 29). Zwar handelt die Reine Rechtslehre von Normen und nicht von kausalen Wirksamkeiten. Sie sind als ein Sollen aber rein formal, und zwar in Form von hypothetischen Urteilen, in denen ein Rechtstatbestand mit einer Rechtsfolge verknüpft, und dies einer Person zugerechnet wird, wohingegen Kausalgesetzlichkeit ein Müssen evoziert und hier nicht von Belang ist. Dies Sollen ist gänzlich heteronom, das Recht an die Autonomie der Person zu knüpfen, hat laut Kelsen nur die ideologische Funktion, der inhaltlichen Gestaltung des Rechtes zugunsten des Privateigentums eine Schranke zu setzen. (Vgl. RRL, S. 54ff.) Ein Recht „hat“ eine Person in Form von Berechtigungen, aus denen sich bestimmte Ansprüche von Rechtssubjekten gegenüber anderen Personen ableiten, welche diesen Rechtssubjekten gegenüber aufgrund ihrer Ansprüche verpflichtet sind. Diese Berechtigungen sind nicht über- oder vorstaatlich, sondern können über die Pflicht hergeleitet werden: „Eine Berechtigung liegt dann vor, wenn unter die Bedingung der Unrechtsfolge eine auf diese gerichtete, in der Form einer Klage oder Beschwerde abzugebende Willensäußerung des durch den Unrechtstatbestand in seinen Interessen Verletzten aufgenommen ist.“ (RRL, S. 60) Aus Pflicht folgt also Anspruch, nicht aus Anspruch Pflicht. Unrecht selbst kann nur innerhalb einer Rechtsordnung erfolgen und wird positiv durch einen Unrechtstatbestand ausgewiesen, auf die sich dann „der im Rechtsatz als Folge statuierte Zwangsakt richtet“ (RRL, S. 38). Ähnlich wie bei Hegel ist Unrecht kein Grenzbegriff, sondern im Unrecht „bewährt sich die Existenz des Rechts, die in seiner Geltung besteht: in dem Sollen des Zwangsakts als der Unrechtsfolge“ (RRL, S.  39). Aber anders als Hegel sieht Kelsen in einer Normwidrigkeit keinen Widerspruch, da die Figur „a soll, non-a ist“ keinen solchen darstelle, und schlägt die Bezeichnung des „teleologischen Gegensatzes“ vor. (Vgl. RRL, S. 42) Sozial erwünschtes Verhalten verdankt sich so einer sekundären Norm: nämlich einer das „zwangsvermeidende Verhalten statuierende[n] Norm“ (RRL, S. 42). Hierbei wird der Mensch nicht mit Haut und Haar vom Staat verschlungen, gehört nicht zur Gänze der Rechtsordnung an, „sondern nur mit einzelnen seiner Handlungen oder Unterlassungen […], soweit diese eben durch die Normen der Gemeinschaftsordnung geregelt werden“ (RRL,S. 64),10 er schrumpft so als Person zum bloßen „Zurechnungspunkt für die als Pflichten und Rechte normierten Tatbestände“ (RRL, S. 65). Nicht 10

Vgl. Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (2. Aufl. 1929), in: ders., Verteidigung der Demokratie, S. 149-228 (S. 163). Fortan im Haupttext nach dem Zitat in Klammern als WWD, gefolgt von Seitenzahl ausgewiesen.

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nur, dass es keine überpositiven Menschenrechte gibt, es fehlt auch der Adressat, dem sie anerkannt werden könnten, denn vom Standpunkt der Rechtsgemeinschaft gibt es keine unabhängigen Individuen. (Vgl. RRL, S. 70). Normen bilden ein System, wenn die Geltung dieser Normen „auf eine einzige Norm als Grund dieser Geltung zurückgeführt werden kann“ (RRL, S. 73): einer Grundnorm. Aus einer Grundnorm ableitbar zu sein zeichnet moralische Normensysteme aus. Moralische Normen stehen in einem inhaltlichen Zusammenhang, nicht jede Norm qualifiziert sich als moralische Norm. So aber Rechtsnormen, die als rein formell jeglichen Inhalt annehmen können. Dementsprechend ist der „als ‚Staat‛ bezeichnete Zwangsapparat“ bloßes sozialtechnisches Mittel zu verschiedenen Zwecken „und kann ebenso wie zur Aufrechterhaltung eines Ausbeutungsverhältnisses zu dessen Milderung, ja zu dessen gänzlicher Aufhebung, d.h. zum Schutze eines Gemeineigentums an den Produktionsmitteln dienen“.11 Rechtsnormen gelten, indem sie durch eine bestimmte Regel erzeugt worden sind, einer Grundnorm. In der Darstellung der Grundnorm zeigt sich der Neukantianismus Kelsens, da er sie „per analogiam“ der Kantischen Erkenntnistheorie anwendet, als Antwort auf die Frage der Reinen Rechtslehre, wie eine „nicht auf meta-rechtliche Autoritäten wie Gott oder Natur zurückgreifende Deutung des subjektiven Sinns gewisser Tatbestände als ein System in Rechtssätzen beschreibbarer objektiv gültiger Rechtsnormen möglich“12 ist. Auch Rechtsnormensysteme kennen eine Grundnorm, welche hier allerdings die Grundregel ist, „nach der die Normen der Rechtsordnung erzeugt werden“ (RRL, S.  75). Erzeugt, nicht deduziert: die Rechtsordnung ist als solche rein voluntativ und auf die Grundnorm nicht inhaltlich verpflichtet, es kommt nur darauf an, dass die Erzeugung jeder Norm „der Grundnorm entsprechend vor sich gegangen ist“. (RRL, S. 75) Staaten als unrecht zu qualifizieren ist mithin gar nicht mehr möglich, da das innerstaatliche Normensystem nicht Teil eines umfassenderen Normensystems ist. Sollte es in der Reinen Rechtslehre so etwas wie Unrecht geben, so könnte vermutet werden, dann kann das nur ein solches Recht sein, das eben nicht der Grundnorm entsprechend erzeugt worden ist. Aber dem ist nicht so: Auch ein verfassungswidriges Gesetz gilt zunächst, da die Grundnorm ja vor allem die Geltung der Gesetze des von ihr ausgehenden Normensystems will. Verfassungswidriges Recht bleibt deshalb so lange in Geltung, bis es durch eine dafür von der Verfassung vorgesehene Instanz „vernichtet“ wird. (Vgl. RRL, S. 95) Unrichtiges oder ungültiges Recht kann so nach 11 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S. 25. 12 Ders., Reine Rechtslehre, 2. vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Wien 1960, S. 205.

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Kelsen nicht für eine Sekunde existieren, da es, auch als verfassungswidriges Recht, gelten muss, bis es schließlich durch Aufhebung beispielsweise eines Verfassungsgerichts mit seiner Geltung auch seine Verfassungswidrigkeit verliert. Da das Normensystem sozial unerwünschtes Verhalten mit einem Zwangsakt belegt, jedes von ihm nicht erfasste Verhalten aber freistellt, ist es immer vollständig; wird die Vollstreckung einer Norm in einem konkreten Fall von der verantwortlichen Instanz als unzweckmäßig oder ungerecht empfunden, was auf eine Lücke im Normensystem hindeute, die der Gesetzgeber, wäre ihm die Möglichkeit dieses konkreten Falls bewusst gewesen, geschlossen hätte, so bedeutet diese Lücke indes „nichts anderes als die Differenz zwischen dem positiven Recht und einer für besser, gerechter, richtiger gehaltenen Ordnung“ (RRL, S. 111), zwischen positiven Recht und „Wunschrecht“, (RRL, S. 113) welche Differenz sich nicht objektiv feststellen lässt, da diese für richtiger gehaltene Ordnung schließlich nicht positiv gesetzt ist. Nur auf den ersten Blick kann es für inkonsequent gehalten werden, wenn Kelsen trotz der absoluten Relativität der Grundnormen für eine konkrete Staatsform optiert: die Demokratie. Aber das ist so überraschend nicht: Gäbe es absolute Werte, würde dies gerade für eine autokratische Staatsform sprechen, denn „was kann es gegenüber der alles überragenden Autorität des AbsolutGuten anderes geben als den Gehorsam gegenüber demjenigen, der, im Besitz des Absolut-Guten, dieses weiß und will“. (WWD, S. 224) Aus einer relativistischen Perspektive müssen Meinungen über Werte prinzipiell als gleichwertig eingeschätzt werden,13 und die Demokratie verschafft ihnen die Möglichkeit, miteinander in den „freien Wettbewerb um die Gemüter der Menschen sich geltend zu machen“14. Kelsen geht in diesem Relativismus so weit, in der Demokratie auch explizit demokratiefeindliche Werte zuzulassen, Feinden der Demokratie also die Möglichkeit zu geben, die Majorität zu erlangen und die Demokratie ganz demokratisch abzuschaffen. „Eine Demokratie, die sich gegen den Willen der Mehrheit zu behaupten, gar mit Gewalt sich zu behaupten versucht, hat aufgehört, Demokratie zu sein.“ D.h. eine radikale Demokratie muss nach Kelsen auch solche Formen der Kritik zulassen, die sich gegen die Demokratie richten; damit allerdings gegen die Voraussetzung ihrer Artikulation, wie zu zeigen sein wird. Und weiter: „Eine Volksherrschaft kann nicht

13 Dieser Relativismus wird von Frank Haldemann, Gustav Radbruch vs. Hans Kelsen: A Debate on Nazi Law, treffenderweise „value irrationalism“ genannt, der es nicht erlaube, zwischen „morally right“ und „morally wrong“ zu unterscheiden, was seine Verteidigung der liberalen Demokratie „theoretically flawed“ mache (S. 174). 14 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Auflage, S. 226.

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gegen das Volk bestehen bleiben.“15 Die Tatsache, dass der erstzitierte Satz im Original gesperrt ist und die Quintessenz des letzten Abschnittes des zitierten Aufsatzes formuliert, zeigt die Wichtigkeit dieses Gedankens für Kelsen, der dennoch wie eine Empfehlung zum Selbstmord aus Angst vor dem Tode aussieht. Immerhin äußert Kelsen diese Gedanken, als die Demokratie in weiten Teilen Europas kurz vor dem Untergang stand oder bereits untergegangen war, was von ihm reflektiert wird durch die Bemerkungen, es gebe „auch Dankbarkeit für eine Idee, die über das Grab ihrer Verwirklichung hinausgeht“16, und man müsse „seiner Fahne treu bleiben, auch wenn das Schiff sinkt“17. Aber nach Kelsens Verständnis muss Freiheit auch bedeuten können, sich gegen sich selbst zu richten und – ganz demokratisch – eine autokratische Regierung zu wählen. Das ist insofern verwunderlich, als Demokratie eine Methode ist, Freiheit politisch zu verwirklichen. Das Votum für die Freiheit ergibt sich daraus, dass für Kelsen die Erkenntnis einer absoluten Wahrheit unmöglich ist. Die konkurrierenden Werte treten so in einen „Wettbewerb um die Gemüter des Menschen“, wobei das dabei in Anschlag gebrachte Majoritätsprinzip dafür sorgt, dass, „wenn schon nicht alle – so doch möglichst viele Menschen frei sein, d.h. möglichst wenig Menschen mit ihrem Willen in Widerspruch zu dem allgemeinen Willen der sozialen Ordnung geraten“ (WWD, S.  159), wobei der Wille der Minorität nicht einfach übergangen wird, sondern einen Kompromiss mit dem Majoritätswillen eingeht, als eine „Resultante“ der „außereinanderstoßenden politischen Willensrichtungen“ von Majorität und Minorität“, (WWD, S. 196) und wobei durch die demokratische Methode der Erzeugung der Sozialen Ordnung dem Werterelativismus institutionell Rechnung getragen wird insofern, als auch „die Minderheit, weil nicht absolut im Unrecht, nicht absolut rechtlos, jederzeit selbst zur Mehrheit werden kann“ (WWD, S. 227). Hierbei sorgt das Prinzip der repräsentativen Demokratie zur Bildung von Parteien, welche die prinzipiell anarchistische und antisoziale Freiheit des Einzelnen gleichsam zähmt, divergierende Interessen zu einer Parteienrichtung vereinheitlicht, die dann durch Diskussion und Kompromiss dazu führt, dass die antisoziale Freiheit des Einzelnen so herabgemildert wird, dass ein sozialer Gleichgewichtszustand durch ein „Sich-gegenseitig-vertragen“ (WWD, S. 202) erreicht wird. Dies ist mit dem ursprünglichen Widerwillen „gegen die Qual der Heteronomie“ (WWD, S. 154) in Einklang, wohingegen es in einer „realen 15 Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932), in: ders., Verteidigung der Demokratie, S. 229-237 (S. 237). 16 Ebd., S. 231. 17 Ebd., S. 237.

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Autokratie der Diktatur“ nur noch gelte, „die gemeinsame Last der Herrschaft zu ertragen“. (WWD, S. 202). Kelsen behauptet, es gebe keine absoluten Werte und keine absolute Wahrheit. Das macht aus seinem Relativismus einen dogmatischen Skeptizismus, denn entweder muss diese Aussage auf sich selbst angewandt werden, dann ist sie selbst eine Meinung unter vielen und Folgerungen aus ihr müßig. Wird indes diese Aussage nicht auf sich selbst angewandt, wird sie selbstwidersprüchlich. Das hat Folgen für Kelsens Denken. Es kann über die Wertvorstellungen der Individuen nichts gesagt werden, was allgemeine Verbindlichkeit hätte – das wären ja absolute Werte. Folglich kommt für Kelsen Freiheit nur als Willkürfreiheit in den Blick, Willkürfreiheit verstanden in dem Sinne, dass es über den Inhalt dieser Freiheit nichts zu sagen gibt, welches aus ihr selbst folgte. Deshalb ist möglicher Inhalt der Freiheit etwas, was sich sowohl gegen die Freiheit des Einzelnen als auch gegen die freiheitsverbürgende Demokratie richten kann18. Wenn jeder Wahlakt für oder gegen eine antidemokratische Partei gleich demokratisch und zu respektieren ist, so ergibt sich das Problem nicht nur durch die Verabsolutierung des Entscheidungsverfahrens der Demokratie zulasten ihres Grundprinzips, wie Horst Dreier meint19. Wenn Willkürfreiheit darin liegt, dass das Willkürsubjekt selbst für Beliebiges votieren kann, unter das Beliebige aber auch aufgenommen wird, dass das Willkürsubjekt nicht mehr für Beliebiges votieren kann, dann löscht sich das Willkürsubjekt selbst aus. Diese Option muss der Freiheit also entnommen werden, und damit wird ein anderer Freiheitsbegriff nötig. Daran anschließend entwickelt Kelsen die notwendigen Bestimmungen der Demokratie nicht aus dem Freiheitsbegriff, sondern hält sich an äußerliche Erfordernisse ihrer Umsetzung in sozialen Gebilden. Damit begibt er sich aber jedes Kriteriums, an dem die Angemessenheit einer mutmaßlich demokratie- und somit freiheitsförderlichen Institution oder eines mutmaßlich demokratischen oder rechtlichen Gesetzes an dem Begriff der Freiheit gemessen werden könnte. „Gesetz ist Gesetz“, lautet die Formel, wobei die Frage sich aufdrängt, ob nicht noch mehr zu einem Gesetz gehört als 18

Das zeigt sich besonders beim ungelösten Problem der gänzlichen Nichtberücksichtigung des Willens der Minorität. Diese kann zwar die Mehrheit zu Kompromissen überreden, notwendig ist das aber nicht. Vgl. Hans Boldt, Demokratietheorie zwischen Rousseau und Schumpeter. Bemerkungen zu Hans Kelsens „Vom Wesen und Wert der Demokratie“, in: Max Kaase (Hrsg.), Politische Wissenschaft und politische Ordnung. Analysen zur Theorie und Empirie demokratischer Regierungsweise, Wiesbaden 1986, S. 217-232 (S. 226). 19 Vgl. Horst Dreier, Kelsens Demokratietheorie. Grundlegung, Strukturelemente, Probleme, in: https://www.jura.uni-wuerzburg.de/fileadmin/02160100/Elektronische_Texte/Kelsen. pdf, S. 101.

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der Konnex eines Tatbestandes mit einer Tatfolge. Das bringt Rechtsgesetze in die Nähe von Naturgesetzen, aus dem Sollen wird ein Müssen, wenn der Mensch Rechtsgesetze nicht als Gesetze seiner Freiheit rational anerkennen kann, sondern ihnen als unverfügbare Gegebenheit ausgesetzt ist. Es hilft da wenig, wenn bemerkt wird, all dies hindere nicht, „einer Norm die rechtsethische oder naturrechtliche Verbindlichkeit abzusprechen“,20 wie Ralf Dreier meint. Denn was soll diese Konzession im rechtlichen Sinne bedeuten? Wenn ein rechtsethisches Urteil ein Urteil der Moral über Recht ist, dann ist zu bemerken, dass sich moderne Rechtstaaten gerade dadurch auszeichnen, sich nicht am Spiel bloß subjektiver Meinungen über Moral zu beteiligen, sondern dass sie ihnen gegenüber neutral sind und gegenüber zustimmender oder ablehnender moralischer Wertung gleichgültig zu sein haben. Wenn sich der Staat allerdings einem schlechthin unmoralischen Prinzip ausliefert und entsprechende Gesetze erlässt, interessiert nicht deren mangelnde moralische Qualität, sondern deren fehlende Rechtsnatur. Die Rassengesetze als unmoralisch zu werten wäre eine degoutante Untertreibung, weil die Herausforderung ja gerade in ihrer objektiven rechtlichen Qualifikation bestand und hier eine grundsätzliche Entscheidung erforderlich war, nicht bloß subjektive moralische Entrüstung. Was schließlich die naturrechtliche Wertung betrifft, so ist ihre Relevanz von Rechtspositivisten von vorneherein ausgeschlossen, weil diese nach ihrem Verständnis eine Wertung außerhalb eines bestehenden Normensystems erforderte und sie eine Kritik aus der Immanenz eines positiven Normensystems für unmöglich hielten.

Gustav Radbruch zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht

Gustav Radbruch ist vor allem durch die nach ihm benannte Formel bekannt, wonach zwar auch inhaltlich ungerechtes und unzweckmäßiges Recht „Vorrang“ vor der Gerechtigkeit habe, es sei denn, „der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit“ erreiche ein so unerträgliches Maß“, „daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‛ der Gerechtigkeit zu weichen“ habe. Und weiter: [W]o Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges Recht‛,

20 Ralf Dreier, Sein und Sollen. Bemerkungen zur Reinen Rechtslehre Kelsens, in: Juristenzeitung, 27. Jg., H. 11/12, S. 329-355 (S. 333).

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vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“21 Radbruch nennt solches Gesetz „gesetzliches Unrecht“, und grenzt es vom unrichtigen Recht insofern ab, als in diesem Gesetze zwar in einem objektiv unerträglichen Widerspruch zur Gerechtigkeit zu stehen mögen, subjektiv aber noch eine Orientierung an ihr zu erkennen ist. Dass ungerechtes und unzweckmäßiges Recht zu befolgen ist, leuchtet ein; im Gesetzgebungsprozess ist es normal, dass handwerklich schlechte oder unzweckmäßige Gesetze zustande kommen, sei es, dass in ihm Gesetzesinitiativen durch Einfluss verschiedener berechtigter Interessegruppen verwässert werden, sei es, dass die Zweckmäßigkeit aufgrund unzureichender Informationen, die in ihn eingeflossen sind, verfehlt wird: In allen diesen Fällen ist es um der Geltung des Rechts willen notwendig, dass auch solche Gesetze befolgt werden. Die Frage stellt sich aber, ob so unscharfe Begriffe wie Gerechtigkeit und Gleichheit geeignet sind, Gesetze daran zu messen, denn sie lassen zunächst unbeantwortet, in Hinsicht auf welchen Inhalt von Gerechtigkeit zu sprechen ist und unter welchen Aspekt Gleichheit missachtet wird. Deswegen soll nun versucht werden, diese Formel anhand der Rechtsphilosophie Radbruchs besser zu verstehen und gesehen werden, ob und inwiefern Radbruch mit der Formel „dem Naturrecht ein Türchen“22 öffnete. In der Einleitung wurde schon angeführt, dass das Recht für Radbruch diejenige Wirklichkeit ist, die den Sinn hat, der Rechtsidee zu dienen, der „Basissatz der Radbruchschen Rechtsphilosophie“23. Dabei ist Rechtswissenschaft nicht wertblind wie die Naturwissenschaft, auch nicht bewertend wie die Wertphilosophie in ihren Zweigen Logik, Ethik und Ästhetik, sondern wertbeziehend, sie untersucht Kultur als eine Gegebenheit, die den Sinn hat, Werte zu verwirklichen. Kultur und das Recht als Kulturtatsache sind also in einer dualistischen Spannung zwischen Wirklichkeit und Sollen. Die im Recht zu verwirklichende Idee ist die Rechtsidee. Die Rechtsidee wird bestimmt als Gerechtigkeit, aus der unmittelbar die Gleichheit als privatrechtliche ausgleichende und die diese bedingende öffentlich-rechtliche austeilende Gerechtigkeit folgt. (Vgl. RP, S. 34ff.). Der Formalität jener Rechtsidee eingedenk führt Radbruch den Gedanken der Zweckmäßigkeit ein. (Vgl. RP, S. 54) Durch sie sprechen sich Sollenssätze inhaltlich aus. Da aber Sollenssätze nur durch Sollenssätze begründbar sind, sind letzte Sollenssätze – wie Kelsens Grundnorm – nicht beweisbar, 21 Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: ders., Rechtsphilosophie, S. 211-135 (S. 216). 22 Klaus Adomeit, Der Rechtspositivismus im Denken von Hans Kelsen und Gustav Radbruch, in: Juristen-Zeitung, 58. Jg., H. 4, S. 161-166 (S. 164). 23 Robert Alexy, Gustav Radbruchs Rechtsbegriff, in: Martin Borowski (Hrsg.), Modern German Non-Positivism, Tübingen 2019, S. 7-18 (S. 10).

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axiomatisch, „nicht der Erkenntnis, sondern nur des Bekenntnisses fähig“ (RP, S. 15); Radbruch zeigt sich so als Relativist. Dementsprechend können Zwecke nur auf drei verschiedene Gruppen von Werten gehen, nämlich auf Individualwerte, Kollektivwerte und Werkwerte (Vgl. RP, S. 55), deren Rangordnung nicht ausgemacht werden kann, von denen nach Radbruchs rechtsphilosophischer Parteienlehre die Individualwerte von Liberalismus und Sozialismus, die überindividuellen Werten von Konservativismus oder Autoritarismus24 (vgl. RP, S.  63–72), Werkwerte nur von „partiellen Rechtsgemeinschaften“ wie Universitäten oder religiösen Orden angestrebt werden. Wenn die Gerechtigkeit auf diese Werte als Zwecke verpflichtet werden kann, können sie dann als Maß für Ungerechtigkeit diesen? Das wäre dann der Fall, bildeten diese Werte die Gesamtheit aller mit der Gerechtigkeit verträglichen Werte. Dann aber müsste das faschistische Italien als von Radbruch aufgeführtes Beispiel als gerecht gelten. In ihnen sind allerdings alle denkmöglichen Werte klassifiziert, auch gegeneinander unverträgliche, weshalb sich aus ihnen kein objektiver Gerechtigkeitsbegriff beziehen lässt, sondern nur auf den jeweilig zu verwirklichenden Wert bezogene positive Normierungen. Radbruch schränkt seinen Relativismus also nicht etwa ein, er bleibt auf der Linie Kelsens, und die Zweckidee vermag nicht Gesetze als unrecht oder „richtiges Recht“ zu bestimmen. Allerdings leitet Radbruch aus dem konstatierten Relativismus eine weitere Rechtsbestimmung ab: die Rechtssicherheit. „Das Recht als Ordnung des Zusammenlebens kann nicht den Meinungsverschiedenheiten der Einzelnen überlassen bleiben. Es muss eine Ordnung über allen sein.“ (RP, S.  73) Die Rechtsicherheit wiederum erfordert die Positivität des Rechts, da nicht „festgestellt“, sondern nur „festgesetzt“25 werden kann, was gerecht ist, aber dieses Festgesetzte muss dann eben auch „durchgesetzt“ werden. (Vgl. RP, S. 73) Der Gedanke der Rechtsicherheit leitet über zu Radbruchs Anerkennungslehre, die vielleicht verstehen hilft, was das das Kriterium für richtiges Recht ist, es von unrichtigem Recht und Unrecht zu unterscheiden. Die Geltung des Rechts kann sich nicht allein auf Macht gründen, weil in diesem Fall „der Spartanermoral gemäß, Nichtertapptwerden Nichtgefehlthaben“ (RP, S.  80) hieße. Als Haltung des Normunterworfenen wird nicht Gehorsam, 24 In einer Randnotiz Radbruchs zur Rechtsphilosophie heißt es: „Statt ‚Überindi­ vidualistisch‘ sagt man besser ‚Autorität‘.“ 25 Dies könnte man als Radbruchs Grundnorm beschreiben, deren normative Natur von ihm jedoch nicht weiter beschrieben wird. Vgl. Martin Borowski, Begriff und Geltung des Rechts bei Gustav Radbruch. Gegen die These seiner naturrechtlichen Bekehrung, in: ders., Stanley  L.  Paulson (Hrsg.), Die Natur des Rechts bei Gustav Radbruch, Tübingen 2015, S. 230-265 (S. 260, Fn. 142).

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sondern Pflicht verlangt, und diese beruht auf der „willigen oder widerwilligen“ Anerkennung der Machtunterworfenen. „Ein Wollen kann ein Müssen hervorbringen, wenn es von der Macht zu zwingen begleitet ist, niemals aber ein Sollen“. (RP, S 46) Dass er mit einer widerwilligen Anerkennung nicht nur Folgsamkeit aus Angst meint, zeigen Radbruchs Beispiele, wie sie klassisch in der Moralphilosophie verwendet werden. So verletzt „der Dieb fremdes Eigentum, um eigenes Eigentum zu begründen, anerkennt also im Grundsatz die Rechtseinrichtung des Eigentums und damit folgerichtig alles, was zum Schutz dieses Eigentums notwendig ist – also auch seine eigene Strafwürdigkeit.“ (RP, S. 81) Man sollte meinen, dass Radbruch die Geltung des Rechts an dessen Vernünftigkeit koppelt – es muss als anerkannt unterstellt werden, „was man folgerichtig nicht nicht anerkennen kann“ (RP, S. 81), womit sich die Anerkennungslehre als das „wahre [vernünftige?, F.Z.] Interesse der Rechtsunterworfenen“ an der Geltung des Rechts entpuppt. Da stellt sich allerdings Radbruchs Relativismus quer: Da die Frage nach den Rechtszwecken die Menschen in Parteien spaltet, muss dieser Widerstreit durch einen „autoritativen Machtspruch“ beendet werden, und Radbruch gesteht ganz in Manier Carl Schmitts26 jedem die Setzung des Rechts zu, dem dieses auch „gegenüber jeder widerstrebenden Rechtsanschauung möglich ist“ (RP, S. 82). Maßgebend hierbei ist die Autorität, die im Widerstreit der Meinungen Frieden schafft: „Das Recht gilt nicht, weil es sich wirksam durchzusetzen vermag, sondern es gilt, wenn es sich wirksam durchzusetzen vermag, weil es nur dann Rechtsicherheit zu gewähren vermag.“ (RP, S. 83) Also auch bei Radbruch Autorität, nicht Wahrheit. Selbst wenn man konzediert, dass die so sich durchsetzende Autorität kein Müssen durchsetzt, sondern ein Sollen, indem die Durchsetzung der Autorität eine Erwirkung ihrer Anerkennung durch die Machtunterworfenen bedeutet, so verbürgt diese Anerkennung keine Anerkennung aus Vernunftgründen, führt also zu keinem (rationalen) Wollen, sondern lässt auch andere Motive zu, irrationale oder solche der Klugheit (φρόνησις). Es kann also nicht gesagt werden, dass Geheimbefehle wie die zu den Euthanasiemorden in Nazideutschland deshalb kein geltendes Recht gewesen wären, weil sie als verschleiertes Unrecht nicht zur Kenntnis durch die Bevölkerung gekommen seien als erste Bedingung ihrer Anerkennung, denn die Bevölkerung hätte selbst im Fall der Kenntnisnahme gleichgültig diese Verbrechen hinnehmen können, wie sie es auch im Fall der Verbrechen gegen die 26

Eine Notiz in Radbruchs Handexemplar seiner Rechtsphilosophie stellt den Bezug zu Schmitt sogar explizit her, vgl. Zong Uk Tjong, Über die Wendung zum Naturrecht bei Gustav Radbruch, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 56, Nr. 2 (1970), S. 245-264 (S. 252).

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Juden und andere getan hat27. Dass somit auch aus seiner Anerkennungslehre kein Kriterium für „gesetzliches Unrecht“ gefunden werden kann, liegt auf der Hand. Allerdings ist es gerade der Relativismus, der dem Gesetzgeber Grenzen zieht und zum Liberalismus verpflichtet: Der Machthaber kann zwar „dem Machtkampfe, nicht aber dem Meinungskampfe der Rechtsansichten ein Ende setzen“, der Relativismus fordere, diesem Meinungskampfe „freies Feld“ zu lassen (RP, S. 82, Fn. 6), denn die ob der Frage nach der Wahrheit der Rechtsansichten verstummende theoretische Vernunft setzt gerade die praktische Vernunft frei. Radbruchs Kronzeuge ist demnach nicht Pilatus, sondern Lessings Nathan. (Vgl. RP, S. 18) Radbruch ist darin konsequenter als Kelsen, der eine demokratische Abschaffung der Demokratie zulässt. Darin allerdings ein aus dem Relativismus entwickelten gegen den Relativismus gerichtetes Sollen herzuleiten, wie es Michael Herbert vorschlägt28 unter Bezug auf Radbruchs Aufsatz, nämlich ein Sollen zum Kampf gegen die Überzeugung des Kontrahenten und gleichzeitig ihre Achtung angesichts der Unbeweisbarkeit dieser Überzeugung und der Unmöglichkeit ihrer Widerlegung leidet an der Inkonsequenz, Unbeweisbarkeit wie Unmöglichkeit der Widerlegung absolut vorauszusetzen – das wäre aber kein Relativismus mehr und machte aus jeder politischen Überzeugungsarbeit ein fruchtloses Unterfangen. Konsequenter wäre eine Ansicht, wonach das positive Recht angesichts eines „wissenschaftlich deutlich erkennbaren“ Naturrechts „erlöschen müßte wie der entlarvte Irrtum vor der enthüllten Wahrheit“ (RP, S. 81f.), der Relativismus sich also selbst einschlösse. Die gibt der Nachsatz zu diesem Zitat für unrichtiges Recht sogar explizit zu: „[F]ür die Geltung erweislich unrichtigen Rechts läßt sich keine Rechtfertigung erdenken.“ Es hat Versuche gegeben, die „Natur der Sache“ oder die „Stoffbestimmtheit der Idee“ als weiteren den Machthaber bindenden Tatbestand bei Radbruch nachzuweisen. Die Natur der Sache bezeichnet den Stoff des Rechtes in seiner wesentlichen Eigengesetzlichkeit, als vorrechtliche Tatsächlichkeit, der sich das Recht zu fügen hat. Diese schränke den Relativismus ein und gebe ein Kriterium für Recht und Unrecht.29 Allein können Gesetze nicht auf der Natur der Sache als ihrem Geltungsgrund beruhen, weil „Sollenssätze nur aus anderen Sollenssätzen deduktiv abgeleitet, nicht auf Seinstatsachen induktiv 27 28 29

Vgl. ebd., S. 258. Vgl. Michael Herbert, Radbruch’sche Formel und gesetzgeberisches Unterlassen. Eine philosophische und methodologische Untersuchung, Baden-Baden 2017, S. 39f. Vgl. Karl Engisch, Gustav Radbruch als Rechtsphilosoph, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. 38, No. 3 (März 1950), S. 305-316 (S. 311f).

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gegründet werden können“ (RP, S. 14). So könne die Natur der Sache nur dazu dienen, den schroffen Dualismus zwischen Wert und Wirklichkeit, Sollen und Sein „etwas zu entspannen, aber nicht, ihn aufzuheben“30. Radbruch tut sich schwer, ein angemessenes Kriterium zu finden, das mit dem Nationalsozialismus akut gewordene Problem des Unrechts begrifflich zu fassen, zumal dieser ja mit Radbruchs Lehre als einen überindividualistischen Rechtszweck verfolgend zu deuten erlaubt sein kann bzw. seine Idee des Rechts an ihm auszurichten behauptet. Ihm einen Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip nachzuweisen ist naheliegend und zutreffend, aber dies erscheint nicht als zureichend, um das volle Ausmaß des nationalsozialistischen Unrechts zu fassen, denn sie ist direkte Folge der Gerechtigkeit; diese aber „eine leere Kategorie, die sich mit dem mannigfachsten Inhalt erfüllen kann“ (RP, S. 97). So heißt es im kleinen Aufsatz „Fünf Minuten Rechtsphilosophie“, Gerechtigkeit heiße „an gleichem Maße alle messen“31. Entsprechend bleibt das Unrechtskriterium viel zu weit, wenn er schreibt, dass die Ehrung der Ermordung politischer Gegner und Andersrassiger einerseits, die mit grausamsten Strafen belegte gleiche Tat an den „eigenen Gesinnungsgenossen“ weder der Gerechtigkeit noch dem Recht Genüge tue.32 Denn man wird sich schwerlich dazu entschließen können, die konsequente Ehrung von beidem Recht oder Gerechtigkeit zu nennen. Radbruch bleibt also nur der Rekurs auf ein Minimalnaturrecht als eine materiale Ausgestaltung der Idee der Gerechtigkeit, womit Radbruch seinen Vorkriegsstandpunkt nicht revidiert, sondern ergänzt. Denn nur mit diesem lässt sich die Nichtanwendbarkeit des für die Nürnberger Prozesse von vielen in Anschlag gebrachten Rückwirkungsverbot begründen,33 indem so nämlich gezeigt werden kann, dass, wie Radbruch in einem Nachkriegsaufsatz schreibt, „der Inhalt des angeblich zurückwirkenden Rechts schon vorher in freilich nicht positiv gefaßter Form gegolten habe, gegolten habe als

30 Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, Göttingen 1959, S. 23, zit. nach Zong Uk Tjong, Über die Wendung zum Naturrecht bei Gustav Radbruch, S. 256. 31 Gustav Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie, in: ders., Rechtsphilosophie, S. 209-210 (S. 209). 32 Vgl. ebd. 33 Dazu einschlägig die Debatte zwischen H. L. A. Hart und Lon Fuller: Herbert L. A. Hart, Positivism and the Separation of Law and Moral, in: Harvard Law Review, Vol.  71, No.  4 (Feb., 1958), S. 593-629 (deutsch: Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral, in: ders., Recht und Moral. Drei Aufsätze. Aus dem Englischen übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von Nortbert Hörster, S. 14-57, sowie die Entgegnung von Lon Fuller, Positivism and Fidelty to Law. A Reply to Professor Hart, in: Harvard Law Review, Vol. 71, No.  4 (Feb., 1958), S.  630-672. Vgl. zur Hart Fuller-Debatte ausführlich Peter Cane, The Hart-Fuller Debate in the Twenty-First Century, Oxford 2010.

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Naturrecht, Vernunftrecht, kurzum als übergesetzliches Recht“34. Um dem Gewicht zu verleihen, stellt Radbruch im selben Aufsatz Suggestivfragen, ob denn das deutsche Volk und die Täter „so von allen guten Geistern verlassen“ gewesen seien, das Unrecht der „Anstaltsmorde“, der nationalsozialistischen Justizmaschine, der Deportation mit der für die Bevölkerung erkennbaren Ermordungsabsicht nicht erkannt zu haben? War nicht das Bewusstsein der Strafwürdigkeit mit der Einsicht in dieses Unrecht verbunden?35 Er schließt, dass der „ganze Rechtsboden, auf dem der Nationalsozialismus zu stehen vorgab, kein Rechtsboden war“36. Warum dies so ist, dies vermag Radbruch indes nicht, trotz der schreienden Evidenz des nationalsozialistischen Unrechts, mit begrifflichen Mitteln in gebotener Schärfe zu erfassen.

Hegels positives Vernunftrecht

Auf den ersten Blick muss es abwegig erscheinen, Hegel bei der Frage nach dem richtigen Recht zu Rate zu ziehen. Dies jedoch nur, wenn man nicht die vielen Vorurteile erkennt, durch die Hegels Rechtsdenken verstellt ist. Am einfachsten scheint noch jenes Vorurteil entlarvt werden zu können, nach dem Hegel jedem Rechtssystem im Allgemeinen, dem preußischen Staat seiner Zeit im Besonderen mit dem Diktum des Vernünftigen alles Wirklichen gleichsam eine Indemnitätsbescheinigung ausgestellt zu haben schien. Das ist nicht nur falsch, sondern das Gegenteil der Hegelschen Lehre, was schnell klar wird nach einem Blick auf seine Attacke auf die historische Rechtsschule in der Einleitung in die Grundlinien der Philosophie des Rechts37, auf den Wortlaut jenes Diktums, aus dem hervorgeht, dass Staaten den strengen Vorgaben der Denkbestimmung der Wirklichkeit und der Vernunft zu genügen haben, wie er sie in seiner Wissenschaft der Logik dargestellt hat, und auf seine Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie, die im Grunde nichts anderes als eine Kritik und ineins Verfalls- und Entwicklungsgeschichte weltgeschichtlicher38 Staaten sind. 34 Gustav Radbruch, Zur Diskussion über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, in: Süddeutsche Juristen-Zeitung, Jahrg.  2, Sondernummer. Humanitätsverbrechen und ihre Bestrafung (März 1947), S. 131-136 (S. 135). 35 Vgl. ebd. 36 Ebd., S. 136. 37 Fortan im Haupttext nach dem Zitat in Klammern als GPR, gefolgt von Paragraphennummer oder Überschrift ausgewiesen. 38 Hegel sieht das subsaharische Afrika nicht als Teil der Weltgeschichte, da es dort nicht zur Staatenbildung gekommen ist, ebenso stehen China und Indien nur an der Schwelle zur Weltgeschichte, da dort die starken naturhaften Elemente eine geistige Entwicklung bislang verhindert haben.

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Abwegig scheint das Vorhaben auch, wenn auf den Inhalt der Hegelschen Rechtsphilosophie gesehen wird. Geht es bei Kelsen und Radbruch um Recht im engeren Sinn, bietet die Rechtsphilosophie Hegels nichts weniger als eine Sozialontologie, die neben dem abstrakten Recht Fragen der Moralphilosophie, der Soziologie, der Volkswirtschaftslehre sowie der Geschichtsphilosophie thematisiert. Gleichwohl zeigt die Antwort auf die Frage nach dem Grund dieser Themenbreite den Vorzug von Hegels Herangehensweise: Ihm geht es nicht um das Wesen rechtlich verfasster Staaten allein, sondern um das Wesen von Freiheit schlechthin. Dabei unterscheidet sich sein methodischer Ansatz grundlegend von der Kant verpflichteten Methode Kelsens und Radbruchs. Nicht um die Bedingung der Möglichkeit objektiv gültiger Rechtsnormen (Kelsen) oder eines einzelnen rechtlichen Werturteils (Radbruch, vgl. RP, S. 16), sondern um die Folgen der Wirklichkeit von Freiheit geht es ihm. Die transzendentale Herangehensweise Kelsens und Radbruchs ist regressiv: Es wird von einem Gegebenen (einer Wirklichkeit oder Tatsache) oder Vermuteten ausgegangen und es werden dessen Daseinsbedingungen offengelegt, die durch nichts als ihre Folgen beglaubigt werden, von denen ausgegangen wurde, und die bei Strafe eines unendlichen Regresses keiner weiteren Begründung – denn jede Begründung heischt eine weitere Begründung – fähig sind. So haben Normen nach Kelsen eine Grundnorm als transzendentale Voraussetzung, und so hängen Wertvorstellung bei Radbruch nicht von etwas Erkannten ab, sondern verdanken sich einem keiner weiteren rationalen Begründung fähigen Bekenntnis. Dabei ist dem Sollen der Rechtsidee bei Radbruch wie der Norm bei Kelsen keinerlei nach rationaler Notwendigkeit überprüfbares Kriterium der Gerechtigkeit zu entnehmen, allenfalls (bei Kelsen) die Entsprechung einer Norm mit der aber ebenfalls nur positiv gesetzten Methode ihrer Erzeugung. Um rational notwendige Bestimmungen der Freiheit zu gewinnen geht Hegel progressiv vor, nicht nur regressiv: Er zeigt notwendige Begriffsentfaltungen des freien Willens auf, der dabei die Bedingungen seiner Möglichkeit freilegt. Auf diese Weise hat er „die rechtstheoretische Frage, was Recht ist, untrennbar mit der praktischen Frage, welches Recht gerecht ist, verknüpft“39. Die Darstellung von Kenneth Westphal ist also unzureichend, nach der „‘Morality’ is the necessary presupposition for the legitimacy and stability of principles and practices sketched in ‘Abstract Right’“, wonach sich dann zeige, dass Sittlichkeit die 39

Dietmar von der Pfordten, Die Rechtsidee bei Kant, Hegel, Radbruch, Stammler und Kaufmann, in: Value Pluralism, Tolerance and Law, hrsg. von Shing-I-Liu, Taipeh 2004, S. 333379, zit. nach: http://www.rechtsphilosophie.uni-goettingen.de/Volltexte/Rechtsidee.pdf, S. 14

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„necessary presupposition for effective and focussed moral reflection“ sei,40 denn es ergibt sich nirgends die Notwendigkeit, nach der das eine das andere hervorgebracht hat – Sittlichkeit wird hier als Bedingung der Möglichkeit von Moralität einfach vorausgesetzt. Hegels Verfahren kann hier nur skizziert werden.41 Der freie Wille ist notwendig allgemein (GPR, §5), da er wie bei Kant autonom ist, Gesetzmäßigkeit, auch eigene, Besonderheit aber nicht zulässt, es sei denn, das Allgemeine greift in diesem Fall auf das Besondere über (GPR, §6) und ist mit ihm in „Einzelheit“ (GPR, §7): Niemand wird Anstand nehmen, einen besonderen Willen mit einem allgemeinen, nämlich autonomen Willen zu identifizieren, so wie niemand der Banane absprechen wird, Obst zu sein, ohne dabei jeweils die Gattung auf die Art festzulegen. Als Wille besondert er sich als Eigentum besitzende Person, die, eben weil sie durch ihr besonderes Eigentum nicht festgelegt ist, darüber kontraktuell mit anderen verfügen kann. Über diese Interaktion mit anderen macht sie die Erfahrung des gesetzmäßigen, reziproken, eben allgemeinen Charakters dieser sozialen Beziehung – sie kann anderen Personen Unrecht tun, d.h. sie ihrer Personalität nicht entsprechend behandeln und sich selbst diesem Unrecht ausgesetzt finden: Respektiert sie nicht anderer Person Eigentum – befangen oder unbefangen – setzt sie das Institut des Eigentums selbst und damit sich als Person nichtig, widerspricht sich also selbst. Sie kann nicht Person sein und andere nicht als Personen behandeln, denn sie selbst ist eine andere Person: Aus Recht wird Unrecht. Dieser Widerspruch gründet darin, dass die Person in ihrer Interaktion auf eine gesetzmäßig verfasste, also allgemeine soziale Welt bezogen ist. Darin liegt, dass ihre Absicht ihr objektiv zugerechnet werden kann, ebenso wie im Vorsatz objektive Handlungsfolgen, ebenso kann ihr Handeln normativ bewertet werden, und zwar von 40 Kenneth  R.  Westphal, Normative Constructivism. Hegel’s Radical Social Philosophy, in: Sats – Nordic Journal of Philosophy, Vol.  8, No.  2, S.  7-41 (S.  33). Ein weiteres Missverständnis ist, Hegel sei es methodisch um das Aufzeigen von Pathologien zu tun gewesen, die sich bei der konsequenten Verwirklichung einseitiger Rechtsbegriffe notwendig einstellten: „The decisive argument runs as follows: if either of the two ideas of individual freedom is treated as an absolute, be it in the form of a legal demand or equated with moral autonomy, the social reality itself will undergo some pathological dislocations that are a certain, almost “empirical” indication that the limits of legitimacy have been transgressed.“ Axel Honneth, The Pathologies of Individual Freedom: Hegel’s Social Theory, Princeton: Princeton 2010, S.  23. Was Honneth als Pathologien beschreibt, gehört dem Recht selbst an, ist also gar nicht zu vermeiden: Erst mit dem Recht kommt das Unrecht in die Welt, erst mit der Moralität das Böse; beide werden als notwendige Folge der Rechtsidee abgeleitet. Außerhalb des Rechts ist der Mensch nicht böse oder kriminell, sondern im Stande der Unschuld. 41 Ausführlicher in: Folko Zander, Die Logik des Zwangs bei Kant und Hegel, im Erscheinen.

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ihr selbst wie von anderen. Letzteres sorgt für einen weiteren Widerspruch, wie Hegel im Moralitätskapitel zeigt: Wird dies nämlich nicht berücksichtigt, nämlich die objektive Seite des Handelns zugunsten reiner Subjektivität vernachlässigt, löscht sich die handelnde Subjektivität durch die Unterdrückung anderer Subjektivität selbst aus. Der reziproke, allgemeine, gesetzlich verfasste Handlungsraum ist auch der Handlungsraum anderer Subjekte, jedoch macht das böse handelnde Subjekt die Erfahrung, selbst ein anderes Subjekt zu sein, also als Subjekt zu handeln und sich damit als Subjekt zu annihilieren. Im abstrakten Recht kann noch nichts geboten werden, denn es gibt keine weitere Bestimmung als die, die Freiheit des Willens nicht anzutasten; das Problem der Moralität ist aber: Wie kann ich positiv handeln, mich also auf einen geteilten Handlungsraum, also auf den Willen anderer beziehen? Einen Hinweis, wie diese Frage zu beantworten ist, zeigt der Widerspruch, in welche sich die Moralität ohne objektives Handlungskriterium verrennt:42 Das moralische Subjekt trennt reflexiv sein subjektives Gewissen vom zu verwirklichenden Guten, auf welches es als handlungsorientierend verwiesen ist. Dabei verkennt das Subjekt seine Subjektivität als zufällige Partikularität, das Objektive als Gutes als eine ihm gegenüberstehende Äußerlichkeit. Diese Objektivität vermag indes nicht handlungsleitend zu sein und verweist das Subjekt wiederum auf sein Gewissen als handlungsorientierend. Das Gewissen des Subjekts schlägt um in die Objektivität des Guten; diese, da bestimmungslos, gerät hinwiederum zum bloßen Belieben der Subjektivität. Dass Hegel aus dieser Not heraus auf die Gesetze tatsächlicher positiver Staaten verweist und das Gewissen des Subjekts diesen unterwirft43 ist jedoch ein Vorurteil, wenn auch ein verbreitetes. Dieser Widerspruch, dass das Subjektive zum Objektiven gerät und umgekehrt, löst sich jedoch auf, werden Subjektivität und Objektivität als sich wechselseitig bestimmend und in einer Einheit, mithin als selbstbestimmend gedacht. Denn tatsächlich aber führt dieser Widerspruch der auf das Allgemeine bezogenen Subjektivität und der Objektivität auf die wahrhafte rechtliche Verfasstheit als ihren Grund, die Hegel „Sittlichkeit“ nennt. In dieser kommt es darauf an, die Subjektivität des moralischen Gewissens mit der Objektivität der sittlichen Welt – nämlich der anderen moralischen Subjekte – auszugleichen. Subjektivität ist Selbstbestimmung, ist Denken, welches sich selbst zur Objektivität bestimmt – jede Begründung, jedes Argument, jede Zwecksetzung geschieht innerhalb der Rationalität und 42 43

Hegels Argumentation basiert hier auf dem Abschnitt „Die Idee des Guten“ der Begriffslogik und kann hier leider nur verkürzt wiedergegeben werden. So z. B. Christian Iber, Hat Moralität in Hegels Konzeption der Sittlichkeit eine Chance?, in: Hegel-Jahrbuch, Jg. 2008, H. 1, S. 130-136 (S. 135f.).

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bedarf keiner äußeren Beglaubigung.44 Der Bürger ist nicht, wie im klassischen Liberalismus, als Individuum selbstbestimmend, sondern er bestimmt sich als vernünftiger zur Individualität. Die Forderung der Objektivität an das Subjekt ist mithin nicht so zu verstehen, „als ob das Subjekt neben den andern Subjekten seine Freiheit so beschränkte, daß diese gemeinsame Beschränkung, das Genieren aller gegeneinander, jedem einen kleinen Platz ließe“.45 Es geht nicht um tatsächliche Subjekte und deren zu berücksichtigende Befindlichkeiten, nicht um Gemeinsamkeit, sondern um die Allgemeinheit der objektiven Vernunft selbst, die jeder Citoyen verkörpert. Die objektive Welt muss von den Subjekten als objektiv gültige anerkannt werden können. Das „Recht des subjektiven Willens“, dass das, „was er als gültig anerkennen soll, von ihm als gut eingesehen werde“ (GPR, §132) bleibt ihm auch in der Sittlichkeit unbenommen, muss aber an den bestehenden Institutionen und Gesetzen ausgerichtet werden, denn „das Recht des Vernünftigen als des Objektiven an das Subjekt bleibt dagegen fest stehen“ (ebd., Anmerkung).46 Andererseits: „Wer in dieser Wirklichkeit handeln will, hat sich eben damit ihren Gesetzen unterworfen und das Recht der Objektivität anerkannt.“ (GPR,  §132) Dazu muss die Objektivität allerdings in positive Gesetze überführt werden (vgl. GPR, §211). Die Objektivität des Staates wird betätigt durch die Subjekte, welche wiederum den Grund der Möglichkeit dieser Betätigung im Staat haben. Dass damit nicht die wertblinde Norm Kelsens und die Leerformel der Gerechtigkeit bei Radbruch durch einen wolkigen Begriff der Vernunft ersetzt wird, lässt sich daran erkennen, dass dem Recht mit dem Vernunftkriterium notwendige Bestimmungen eingeschrieben werden können, und zwar über die Vermittlung des subjektiven mit dem objektiven Recht. Diese ist von nun an Hegels „Grundfrage“.47 Die sich in den Gesetzen und Institutionen des Staates ausdrückende substantielle Freiheit ist so unauflöslich mit der individuellen Freiheit verflochten, 44

Es ist irreführend, bei Hegel von „kommunikativer Freiheit“ zu sprechen (wie Axel Honneth, The Pathologies of Individual Freedom, passim). Vernunft ist nicht durch Kommunikation vermittelt, sondern ihr Vorliegen die Voraussetzung kommunikativer Vermittlung, durch die sie lediglich aktualisiert wird. Ebenso kann ich andere nicht als vernünftig anerkennen, wenn ich zuvor nicht die Vernunft anerkannt habe. 45 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt am Main 1986, S. 56. 46 Über die Schwierigkeiten dieses Ausgleichs in der modernen Strafrechtsdebatte, wenn objektive Kriterien, an denen subjektive Ansprüche gemessen werden, selbst unter den Verdacht der Ungerechtigkeit geraten, siehe Alexander Somek, Erziehung durch Recht, in: ders., Moral als Bosheit. Rechtsphilosophische Studien, Tübingen 2021, S. 65-83 (S. 69ff.). 47 Vgl. Pavo Barišić, Freiheit und Menschenrechte bei Hegel, in: Hegel-Jahrbuch, Jg. 2000, H. 1, S. 139-148 (S. 140).

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Folko Zander „so daß weder das Allgemeine ohne das besondere Interesse, Wissen und Wollen gelte und vollbracht werde, noch daß die Individuen bloß für das letztere als Privatpersonen leben, und nicht zugleich in und für das Allgemeine wollen und eine dieses Zwecks bewußte Wirklichkeit haben.“ (GPR, §260)

Woraus folgt, dass das „besondere Interesse“ mit dem „Allgemeinen in Übereinstimmung gesetzt werden“ soll (GPR, §261). Ist dies erreicht, entsteht eine politische Gesinnung, ein „zur Gewohnheit gewordene[s] Wollen“, ein Zutrauen, dass das substantielle und besonderes Interesse im Staat bewahrt ist (vgl. GPR, §268). Im Staat ist nichts anderes als die Prozeduralität verwirklicht, in welcher Freiheit als Staat hergestellt wird; der Staat wird so zu einem Verfahren politischer Willensbildung, ohne auf andere inhaltliche Ziele festgelegt zu sein als auf die Vermittlung der besonderen Willen mit ihren Neigungen und ihrem Zugang als moralische Wesen auf das Allgemeine der Willensbestimmungen, und auf diese allgemeine Willensbestimmungen selbst als die Gesetze der Vermittlung der besonderen Willenszwecke, welche Vermittlung selbst ein Zweck ist, ohne den der erste nicht vollzogen werden kann. Daraus ergibt sich auf die Frage nach dem richtigen Recht in diesem Staate: Geheime oder willkürlich auslegbare Gesetze wären ebenso Unrecht wie Gesetze, die das Recht des Individuums verletzen auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum (denn wie könnte es ein solches Gesetz anerkennen?), welche die Subjektivität seiner Moralität missachten, also gegen die Freiheit des Gewissens verstoßen; ebenso aber ist andererseits die tätige Verabsolutierung subjektiver Privatmoral (allerdings in diesem Falle staatlich sanktioniertes) Unrecht. Gleichwohl muss im Staat dafür Sorge getragen werden, dass die Bürger in ihrer subjektiven moralischen Vorstellung respektiert werden. Sittlichkeit bedeutet eben nicht, eine Moral zur verbindlichen zu erklären und ihr gesetzliche Form zu geben. Vielmehr muss der Staat dafür Sorge tragen, dass die Bürger ihre Besonderheit als dem Allgemeinen gemäße ausagieren können. Schafft er dies nicht, belässt er die Bürger in ihrer Abhängigkeit von nur Besonderem. Diskriminierung aufgrund eines unverfügbaren Merkmals wäre eine solche illegitime Besonderheit. Hegels Staat ist daher freilich willküreinhegend, aber keine Zwangsveranstaltung. Zwar sind in ihm Rechte mit Pflichten gekoppelt als deren Kehrseite, aber als freiheitsermöglichend können Pflichten schlecht mit Zwang gleichgesetzt werden. Es ist daher folgerichtig, dass Hegel, auch hier entgegen dem Vorurteil, eine ganze Reihe von Rechten entwickelt, die man Menschenrechte zu nennen nicht scheuen sollte, da sie sich alle aus dem Begriff des freien Willens entwickeln lassen und nicht etwa nur Bürgerrechte sind, die gewährt werden können oder auch nicht – die Gleichheit der

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Person48 (GPR §209), das Recht auf Eigentum (GPR, §41ff.), auf Zurechnung (GPR, §115ff.), Kinderrechte (GPR, §174ff.), das Recht, vor Gericht zu stehen (GPR, §219ff.), das Notrecht auf Subsistenz (GPR, §127), das Recht des Rechtsbrechers auf Bestrafung (GPR, §99ff.) und dgl. mehr. Das Individuum hat im Staat seine „Befreiung teils von der Abhängigkeit, in der es in dem bloßen Naturtrieb stehet“, so wie von der „Gedrücktheit“ als moralisch reflektierendes Wesen hat. (GPR, §149) Letzteres bedeutet nicht, dass ihm der Staat die Last der moralischen Reflexion abnimmt. Es bedeutet vielmehr, dass er prinzipiell staatliche Institutionen als gut bejahen kann, und zwar aus subjektiver Einsicht, nicht als bloßes Hinnehmen eines Gegebenen. Das Sittliche wird so zur dem Subjektiven „adäquate[n] Existenz“ (GPR,  §152), gegen die das moralische Bewusstsein sich nicht mehr empören muss, sondern dem es in Zutrauen und aus Gewohnheit folgen kann.

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„Es gehört der Bildung, dem Denken als Bewußtsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit, daß Ich als allgemeine Person aufgefaßt werde, worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist.“ (GPR, §209, korrespondierend GPR §270, Fn. 1) Hans Friedrich Fulda, Menschenrechte – Plädoyer für einen kantischen Ansatz zu ihrer begrifflichen Bestimmung, Begründung und Gliederung im Hinblick auf Hegel, in: Stefan Lang, Lars-Thade Ulrichs: Subjektivität und Autonomie. Praktische Selbstverhältnisse in der klassischen deutschen Philosophie, Berlin 2013, S. 95-126, schreibt dazu „[E]in Versuch, die zitierten Äußerungen zum Ausgangspunkt für eine Philosophie der Menschenrechte zu nehmen, stünde vor einer unüberwindlichen Schwierigkeit: Die Äußerungen beziehen sich nur auf Menschen in der präzis als solche gedachten Bürgerlichen Gesellschaft, die ihrerseits expressis verbis nur eine besondere Sphäre des Zusammenlebens von Menschen unter Voraussetzung moderner, politisch verfasster Staaten ist.“ (S. 121f.) Dazu ist anzumerken, dass Hegel von der Geltung des Menschen als allgemeiner Person spricht, welches Gelten von der Bildung abhängig gemacht ist. An sich ist dieses Prinzip schon im abstrakten Recht entwickelt. Dies kann aber nicht bedeuten, in diesen Äußerungen nicht den Kern der Menschenrechte ausgesprochen zu sehen. Die fehlende Geltung von Menschenrechten in einem Staat sagt nichts gegen deren Rechtsnatur, im Gegenteil. Die Geltung von Sklaverei oder Rassendiskriminierung wirft ja gerade ein Schlaglicht auf das Menschenrecht auf Freiheit und Gleichheit, welches im günstigen Fall einen Bildungsprozess initiiert, dies Unrecht abzuschaffen. – Henning Ottmann, Die Geschichte des politischen Denkens. Von den Anfängen bei den Griechen bis auf unsere Zeit, Bd. 2.1: Die Römer, Stuttgart/ Weimar 2002, weist darauf hin, dass Hegel mit diesem Satz auf Paulus verweist: „Jetzt gilt nicht mehr Jude und Grieche, Sklave und Freier, Mann und Weib“ (Gal 3,28). Zugleich mache „seine Erinnerung deutlich, daß es der fast 2000-jahrigen Arbeit der Geschichte bedurfte, bis die verheißene Freiheit und Gleichheit in der Französischen Revolution als politische Forderung proklamiert und in der bürgerlichen Gesellschaft und im modernen Staat Wirklichkeit geworden ist.“ (S. 219).

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Hegels Methode ist eine monistische und vermeidet die Probleme des (neo)kantianischen Methodendualismus Radbruchs, zwischen Wirklichkeit und Wert unterscheiden zu müssen, letzteren aber zu unbestimmt zu lassen. Damit gehen aber drei Eigentümlichkeiten einher: Da Hegels Methode den regressiven Ansatz mit einem progressiven verschränkt, und dadurch die Notwendigkeit autonomer Begriffsentwicklung hin zur Rechtsidee aufzeigt , muss sie einen eigentümlichen Wirklichkeitsbegriff beanspruchen, der zu Missverständnissen Anlass gibt. Dieser sei mit einer Paraphrase aus dem §143 der „kleinen Logik“ vorgestellt: Die Idee sei „überhaupt nicht etwas so Ohnmächtiges, dessen Realisierung nach unserem Belieben erst zu bewerkstelligen oder auch nicht zu bewerkstelligen wäre“, sie ist vielmehr das „schlechthin Wirkende zugleich und auch Wirkliche“. Das Wirkliche sei von der bloßen Erscheinung zu unterscheiden darin, dass sie „das durchaus Vernünftige ist“; dem Nichtvernünftigen ist somit die Wirklichkeit abzusprechen. Auf die Idee ist das Recht notwendig hin orientiert durch die notwendigen Begriffsentfaltungen, die oben skizziert wurden, über welche Begriffsbestimmungen durch ihre Endlichkeit auf Widersprüche getrieben werden, deren Auflösung eine neue Bestimmung freilegt. Eine endliche Bestimmung hat ihr Ende an einer weiteren, die nicht thematisiert wird, die sich aber gerade deshalb begriffsnotwendig aufdrängt. Wenn Recht in seiner Abstraktheit gedacht wird, schlägt es in Unrecht um und eröffnet eine neue Bestimmung des freien Willens, die Moralität, aus der heraus Recht und Unrecht überhaupt erst begründet werden können. Hegels Methode ergreift den Menschen nicht nur in seiner Punktualität als Normzurechnungspunkt, sondern begreift ihn in allen Aspekten seiner Freiheit, wobei er erklären kann, wieso Gerechtigkeitsvorstellungen, die Ärgernisse der Rechtspositivisten, überhaupt im Recht eine Rolle spielen. So werden Privatrecht, Moralität, Ökonomie und Staatswissenschaft als Momente des freien Willens auseinander entwickelt und ineinander integriert. Dies hat aber eine weitere Konsequenz: Wirklichkeit ist nicht nur die Kategorie, welche die Wirksamkeit von Denkbestimmungen erklärt, andere Denkbestimmungen notwendig hervorzubringen. Sie ist zudem der Grund der Instantiierung dieser Bestimmungen in der Wirklichkeit: Menschen agieren vernünftig; wenn sie Denkbestimmungen zur Kategorisierung ihrer Umwelt in Anspruch nehmen, sind sie der in der Logik entwickelten Dependenz und Entwicklungsnotwendigkeit dieser Kategorien verpflichtet. Das führt zu Hegels Generalthese, dass nämlich Denkbestimmungen in ihrer geschichtlichen – sei es welt-, sei es kunst-, sei es philosophiegeschichtlichen – Entwicklung mehr oder weniger ihrer logischen Entwicklung folgen. Die Kraft des Geistes treibt Geschichte voran. Hegel tritt so dem „Atheismus der sittlichen Welt“ entgegen, wonach im „geistigen Universum“ keine Vernunft anzutreffen sei, es Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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gelte vielmehr aus der „tausendjährige[n] Arbeit der Vernunft“ zu lernen, welches im „Erfassen des Gegenwärtigen“ bestehe. (Vgl. GPR, Vorrede) Hegels entwickelt seine Rechtsphilosophie deshalb nicht als klassisches Naturrecht durch die Konstruktion eines seinsollenden Idealstaates, sondern durch das Nachvollziehen des Vernünftigen in positiven Gesetzen bestehender Staaten. Demnach ist Hegels Rechtsphilosophie keine Konstruktion, sondern eine Rekonstruktion. Das erklärt, warum Hegel in der Rechtsphilosophie Beispiele aus der Weltgeschichte anführt. Wenn allerdings Freiheit ihre Bestimmungen erst sukzessive freisetzt, der Staat aber in der Rechtsphilosophie erst gegen Ende der Deduktion auftaucht, müsste Staatlichkeit erst ein geschichtlich junges Phänomen sein. Dem widerspricht Hegel aber, insofern er Staatlichkeit zur Bedingung geschichtlicher Entwicklung macht.49 Erst als freier Wille ist der Mensch einer geistigen Entwicklung fähig, und erst im Staat ist er frei. Wie kann das aber sein, dass das, was als Ziel der Deduktion ausgemacht wird, zugleich ihre Bedingung ist? Diese Frage kann jetzt beantwortet werden: Hegels Rechtsdeduktion zeigt das Wirkliche, also das geistig Wirksame positiver Staaten auf. Er entwirft nicht naturrechtlich ein Ideal, an dem positive Staaten und positives Recht gemessen werden, sondern er zeigt, was in positiven Rechtssystemen diese erst zu Rechtssystemen macht. Nicht das subjektive Wunschbild des Philosophen ist also maßgebend, vor dem sich die Wirklichkeit zu rechtfertigen hätte, sondern das Recht in seiner Selbstwirksamkeit als Geistiges selbst. „Die erste Produktion eines Staates ist herrisch und instinktartig. Aber auch Gehorsam und Gewalt, Furcht gegen einen Herrscher ist schon ein Zusammenhang des Willens.“50 Wo die Willkür in die Pflicht genommen wird, da ist schon Freiheit, wenn auch eine unvollkommene. Diese Unvollkommenheit zeigt sich darin, dass geschichtliche Völker sich staatlich auf ein „Prinzip“ hin organisiert haben, welches einer Willensbestimmung der Rechtsphilosophie entspricht – im antiken Rom war es beispielsweise das Privatrecht, das seine begriffliche Entsprechung im abstrakten Recht findet, und um welches auch der Staat herum organisiert war, allerdings eben noch nicht als der moderne Staat der Rechtsphilosophie. Ob der Endlichkeit dieser Prinzipien finden diese Staaten ihr Ende; gerade in der Vollendung der Durcharbeitung ihres Prinzips erlischt ihre Dynamik zur „Langeweile“,51 die „Vollführung“ des Prinzips wird dem Volk indes zum „bitteren Trank“,52 ein neues Prinzip entsteht, 49 50 51 52

Vgl. ebd., S. 66. Ebd., S. 65. Vgl. ebd., S. 100. Ebd., S. 104.

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welches mit dem alten in den Gegensatz tritt. Dies hat tragischen Charakter, da beide Prinzipien einander sowohl für sich als Recht als für das andere als Unrecht erscheinen. So ist die Bemerkung Hegels zu verstehen, wonach die, welches sich dem neuen Prinzip widersetzen, in „moralischen Werte höher als diejenigen, deren Verbrechen in einer höheren Ordnung zu Mitteln verkehrt worden sind, den Willen dieser Ordnung ins Werk zu setzen“: Die Verteidiger der alten Ordnung verteidigen ein „von Gott verlassenes Recht“53. Eine weitere Eigentümlichkeit der Hegelschen Methode ist die Aufhebung der Trennung von Sein und Sollen. Die – Hegelsche – Wirklichkeit exekutiert in ihrer notwendigen Entfaltung ein Sollen. Nicht erst der Idealstaat ist ein Gesolltes, vor dem die Wirklichkeit noch entfernt ist und dem sie nach der These der Trennung von Sein und Sollen nie entsprechen kann, sondern die tatsächlich vorhandene Person, der tatsächlich vorhandene Staat und der seine Rolle im Staat wahrnehmende Bürger sind Gesollte. Denn „in der Wirklichkeit selbst steht es nicht so traurig um Vernünftigkeit und Gesetz, daß sie nur sein sollten“54. Was sich freilich nicht auf ein Sollen berufen kann sind soziale Gebilde, die eben nicht durch Selbstentfaltung von Freiheitsbestimmungen entstanden sind und somit nur „faule Existenz“ haben.55 Hier bleibt die Trennung von Sein und Sollen bestehen. – In der Seinslogik findet sich die abstrakteste Analyse des Sollens. In ihr zeigt er, dass sich Denkbestimmungen zwar voneinander isolieren lassen – Etwas ist nicht Anderes, zwischen Etwas und Anderem liegt das „nicht“ als Grenze; dass sie sich aber nichtsdestotrotz ineinander verändern – indem beide einander negieren, sie selbst aber in nichts als dem Negationssinn des jeweils anderen bestehen, wird Andersheit getilgt, die Grenze wird zur Schranke, die Denkbestimmung erreicht ihre Bestimmung, in eine höhere überzugehen, das bloß Gesollte dieser Bestimmung wird mithin ausgeführt – eine Bewegung, die in immer weiter modifizierter Form die ganze Wissenschaft der Logik durchzieht und für eine systematische Einheit der Denkbestimmungen sorgt, die somit in der freien Verfügung jedes rationalen Wesens liegen, die sich entsprechend geschichtlich die soziale Welt nach diesem organischen System erschaffen haben.

53 Ebd., S. 91. 54 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein (1832), Hamburg 1990, S. 133. 55 Wenn ein errichtetes Haus seinem Bauplan entspricht, dieser aber dem nach besten Wissen und Gewissen arbeitenden Ideen des Architekten, dann ist es, „wie es sein soll“. Schieben sich aber Bereicherungsmotive des Architekten zwischen Plan und Durchführung oder fehlt ihm die nötige Expertise, dann gerät das Haus zur „faulen Existenz“ (und stürzt bald ein).

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In seiner Kritik am bloßen Sollen würdigt Hegel das Erreichte des Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit und nimmt es in Schutz; seine Sollenskritik dient so als „Regressbremsung“ (Odo Marquard).56 Zwar hat der moderne Staat die „Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.“ (GPR, §260) Das heißt aber nicht, dass seine Stärke jeder Bedrohung gewachsen ist, zumal der moderne Staat riskiert, diesem Extrem zum Opfer zu fallen und die Besonderheit nicht in die substantielle Einheit zurückführen zu können. Recht nur als Müssen oder Sollen zu begreifen, verstellt den Blick darauf, dass nur der subjektive Wille, das individuelle Wollen es ist, welches die substantielle Einheit erhält und das Recht davor bewahrt, Unrecht zu werden.

56 Vgl. Odo Marquard, Hegel und das Sollen, in: Philosophisches Jahrbuch  72 (1964/65), S.  103-119 (S.  105) der die Kritik an Hegels Sollenskritik als Prozessbremsung (vgl. ebd., S. 108), als Hinnahme des schlechthin Gegebenen, zurückweist mit dem Argument, dass Hegels Philosophie Wirklichkeit eben nicht als Unmittelbares, Unverfügbares begreift, sondern als Vermitteltes (vgl. ebd., S. 110f), was ihn geradezu in Gegensatz bringt zu den auf Hegel folgenden „vermittlungsblinden Philosophien der Tatsachen“ (ebd., S. 117) wie u. a. dem Positivismus.

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Zum Gedenken an Christoph Jamme Jörg Philipp Terhechte Liebe Trauerfamilie, liebe Trauergemeinde, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Nachricht, dass unser Kollege Professor Dr. Christoph Jamme völlig überraschend verstorben ist, hat alle Mitglieder der Leuphana Universität Lüneburg tief betroffen gemacht. Erst wenige Tage zuvor hatte er mir noch geschrieben – eine Nachricht voller Tatendrang und Ideen, wie man sie häufig von ihm bekam. Die Universität verliert mit Christoph Jamme einen ihrer profiliertesten Wissenschaftler, einen Philosophen, der in seinem Feld Großes geleistet hat, einen Universitätslehrer, der seine Studierenden mit Begeisterung und immensen Einsatz begleitet hat, und einen Kollegen, der sich leidenschaftlich für die Belange der Universität in vielen verantwortungsvollen Ämtern eingesetzt hat.

I.

Christoph Jamme wurde 1953 in Stuttgart geboren und wurde nach einem Studium der Philosophie, Germanistik sowie Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Ruhr Universität Bochum mit seiner Dissertationsschrift „Ein ungelehrtes Buch: Die philosophische Gemeinschaft zwischen Höderlin und Hegel in Frankfurt“ 1981 promoviert. Er war dann einige Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hegel-Archiv der Ruhr Universität, wo er sich auch 1990 mit der weithin beachteten Schrift „Gott hat an ein Gewand. Grenzen und Perspektiven der philosophischer MythosTheorien der Gegenwart“ habilitiert hat. 1994 erfolgte die Berufung auf die Professur für Geschichte der Philosophie an die Friedrich-Schiller-Universität Jena,1 1997 dann auf den Lehrstuhl für Philosophie am Fachbereich Kulturwissenschaften der damaligen Universität Lüneburg. Sie bildete seitdem seine * Ansprache im Namen der Leuphana Universität Lüneburg im Trauergottesdienst in St. Michaelis, Lüneburg, am 14. Mai 2021. Die Fußnoten wurden ergänzt. 1 In dieser Zeit begründete Jamme gemeinsam mit Klaus Vieweg die Reihe „jena-sophia“, in der nun auch der vorliegende Band erscheint.

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© Brill Fink, 2024 | doi:10.30965/9783846768358_012

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akademische Heimat und war wichtige Basis für seine vielfältigen Aktivitäten und Projekte.

II.

Christoph Jamme hat die Leuphana geprägt. Hier ist etwa auf sein reiches und wirkungsvolles Engagement für unsere Universität, in der die Gemeinschaft der Lernenden und Lehrenden eine besondere Bedeutung hat, hervorzuheben. So hat er viele Jahre das sog. „Verstehens-Modul“ im Leuphana-Semester geleitet, in dem alle Erstsemester-Studierende gemeinsam studieren und im besten Sinne der akademischen Freiheit aus einer Vielzahl von Kursen wählen können. Es überrascht nicht, dass er hier viele Jahre das „Verstehens-Modul“ leitete, bildete doch die Möglichkeiten und Bedingungen menschlicher Erkenntnis eines seiner Grundthemen. Er war zudem langjähriger Dekan der Fakultät für Kulturwissenschaft sowie Mitglied des Senats der Leuphana. In allen diesen Ämtern hatte seine Stimme zweifellos ein besonderes Gewicht. Trotz dieses vielfältigen Engagements für seine Universität ist unverkennbar, dass für Christoph Jamme die Wissenschaft im Vordergrund stand. Er ist uns schon deshalb ein Vorbild, weil er gezeigt, dass man in einer Universität Ämter ausfüllen kann, ohne an wissenschaftlicher Strahlkraft zu verlieren. Davon zeugen nicht nur bedeutende Publikationen, sondern auch seine Präsenz in der Lehre und bei der Förderung des akademischen Nachwuchses.

III.

Was machte Christoph Jamme als Wissenschaftler aus? Aus meiner Perspektive ist dies der Zug zum großen Thema, der sich in seinen Schriften eindrucksvoll zeigt. Wenn wir ehrlich sind, ist dieser Zug voller Gefahren und häufig zum Scheitern verurteilt. Nicht so bei Christoph Jamme. Sein Werk umspannt hierbei ein weites Feld: Die Phänomenologie, die Kulturphilosophie, Philosophie und Literatur, Philosophie des Mythos und der Aufklärung und vor allem die Geschichte und Nachwirkungen des Deutschen Idealismus. Neben seinen Qualifikationsarbeiten – die weit mehr als das waren – stechen zahlreiche Publikationen heraus, die die Wirkungsmacht des Deutschen Idealismus herausgearbeitet haben, wie etwa das vierbändige Werk „The Impact of Idealism“, das er für Cambridge University Press miteditiert hat. Ich kann mich noch erinnern, wie er mit der ihm eigenen Leichtigkeit bei einem Workshop für Neuberufene in Celle über dieses Projekt berichtet hat. Wir Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

Zum Gedenken an Christoph Jamme

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Jüngeren spürten sisyphusartige Herausforderungen; er hat sie mit Bravour gemeistert. Die grundsätzlichen Einsichten von Christoph Jammes Arbeiten sind hierbei von höchster Aktualität und werden diese Aktualität in unserer unübersichtlichen Welt auch nicht verlieren. Schon in seiner Habilitationsschrift hat er darauf hingewiesen, dass die Menschen die Rätselhaftigkeit der Welt nur durch das Erzählen von alten (Mythos) und neuen Geschichten (Kunst) ertragen können. Hier zeigt sich ein Grundmotiv seiner Philosophie – die Verbindung von Altem und Neuen. Nach Christoph Jamme ist „Eine definitive Weltdeutung (…) nicht (mehr) möglich; möglich sind aber symbolische Weltdeutungen. (…) In Kunstwerken, Riten und Mythen werden mittels eines nicht-diskursiven und dennoch rationalen Symbolmodus menschliche Vorstellungen und Empfindungen gestaltet, die von der Sprache nicht oder nur unzulänglich ausgedrückt werden können.“2

Die Aufgabe der Philosophie besteht deshalb darin, dem „Reflexionspotential der Sinne gerecht zu werden und dieses mit Stimmen der Vernunft zu verbinden.“3 Die Verbindung von Mythos und Vernunft hat Christoph Jamme immer wieder beschäftigt. Erst kürzlich hat er im Rahmen eines Sammelbandes, der bald erscheinen wird, zum Zusammenhang von Mythos und Recht betont, dass die Verrechtlichung vieler Lebensbereiche an die Stelle alter mythischen Erzählungen getreten sei. Übrig bliebe womöglich eine „Gesellschaft“, die durch zerklüftete Einzelinteressen den sozialen Zusammenhalt verliert. „Über dieses Problem lohnt es sich nachzudenken, weil wir heute mehr denn je vor der Frage stehen, was eine Gesellschaft zusammenhält.“4

2 Christoph Jamme, „Gott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart Frankfurt a. M. 1991, S. 300 f. 3 Jamme, „Gott an hat ein Gewand“, a.a.O., S. 301. 4 Christoph Jamme, Recht und Kultur, in: Jörg Philipp Terhechte (Hrsg.), Rechtsgespräche. Recht im Kontext von Innovation – Entrepreneurship – Nachhaltigkeit – Kultur – Europa. Kolloquium anlässlich der Verleihung des Dr. jur h.c. der Leuphana Law School an Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Andreas Voßkuhle, Baden-Baden 2022, S. 51 f. (52).

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IV.

Christoph Jamme wird uns angesichts dieser monumentalen Herausforde­ rungen fehlen. Seine wichtigen intellektuellen Impulse, seine Philosophieentwürfe, seine Grenzgänge zwischen Poesie und Philosophie und Reflexionen über Staat und Gesellschaft sowie die Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis bleiben uns Verpflichtung und auch Kompass in einer Welt, die durch alte und neue Unübersichtlichkeiten geprägt wird. Er hat hier vieles erhellt und wichtige Brücken zwischen Tradition und Zukunft geschlagen. Wie könnten wir ihn mehr würdigen, als diese Brücken zu beschreiten?

Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

Verzeichnis der Autoren Ino Augsberg ist Inhaber des Lehrstuhls für Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Jochen Bung ist Inhaber der Professur für Rechtsphilosophie und Strafrecht an der Universität Hamburg. Jean-François Kervégan ist emeritierter Professor der Philosophie an der Universität Paris 1 PanthéonSorbonne und Honorary Senior Fellow an dem Institut Universitaire de France. Zdravko Kobe ist Professor für Philosophie an der Philosophischen Fakultät der Universität in Ljubljana. Mansoor Koshan ist Doktorand an der Universität Hamburg und Rechtsreferendar in Kiel. Christian Krijnen ist Associate Professor am Department of Philosophy an der Vrije Universiteit Amsterdam. Konrad Ott ist Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie und Ethik der Umwelt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Matteo Rategni promovierte im Februar 2023 in Philosophie (Pavia-Jena) und ist derzeit als independent researcher tätig. Pirmin Stekeler-Weithofer ist Seniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Leipzig. Jörg Philipp Terhechte ist Vizepräsident der Leuphana Universität Lüneburg und ebendort Inhaber der Professur für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht sowie Regulierungsund Kartellrecht. Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

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Verzeichnis der Autoren

Klaus Vieweg ist Professor (em.) für Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dan Wielsch ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Rechtstheorie an der Universität zu Köln. Folko Zander ist Privadozent für Philosophie am Institut für Philosophie der FriedrichSchiller-Universität Jena.

Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8

Ino Augsberg, Mansoor Koshan, Jörg Philipp Terhechte, and Klaus Vieweg 978-3-8467-6835-8