Hegel - 200 Jahre Wissenschaft der Logik 9783787325269

Vierundzwanzig international renommierte Hegel-Forscher bewerten im zweihundertsten Jahr nach Erscheinen des ersten Band

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Hegel - 200 Jahre Wissenschaft der Logik
 9783787325269

Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung Der Herausgeber
Einleitung
Der Eine Begriff Als Das Freie Und Die Manifestationen Der Freiheit Des Geistes
Der Anfang Vor Dem Anfang
Der Anfang Von Hegels Logik
Hegels Dialektik – Eine Methode?
Die Logik Der Negation Bei Hegel
Das Sein »innerhalb Seiner Selbst«: Qualität Und Quantität
Von Quantitativ-qualitativen Verhältnissen Zum Entwickelten Fürsichsein Als Begriff Des Maßes
Die Entwicklung Der Kategorie Des Maßes In Seiner Realität Und In Seinem übergang Zum Wesen
Grund Und Begründung
Die Logik Des Zufalls
»wirkliche Freiheit« Hegels Wesenslogischer Freiheitsbegriff
Subjektivität Und Objektivität: Die Unterscheidung Des Begriffs
Die Idee Als Einheit Von Begriff Und Objektivität
Logik Und Metaphysik
Dialektisch-spekulative Logik Und Transzendentalphilosophie
Hegels Jenaer Auseinandersetzung Frage Nach Der Möglichkeit Synthetischer Urteile A Priori
Die Reelle Definition Als Form Spekulativer Erkenntnis
Hegels Kritik Am Geometrischen Beweis Und Sein Holismus
Hegels Absoluter Idealismus Als Antwort Auf Drei Grundprobleme Des Naturalismus?
Hegels Logik Als Materialbegriffl Iche Strukturtheorie Der Bedeutung
Logik Und Psychologie: Das Logische Und Die »natur« Unseres Geistes
Ein Logisches, Nicht Metaphysisches Denken Der Handlung
Der Staat Als Ein System Von Drei Schlüssen
»die Logik Ist Das Geld Des Geistes.«
Hegel, Luhmann Und Die Logik Der Selbstreferenz
Siglenverzeichnis
über Die Autoren
Personenregister

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Deutsches Jahrbuch Philosophie Band 5

Deutsches Jahrbuch Philosophie Herausgegeben im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Philosophie Band 5

F E L I X M E I N E R V E R L AG



H A M B U RG

Hegel – 200 Jahre Wissenschaft der Logik Herausgegeben von ANTON FRIEDRICH KOCH , FRIEDRIKE SCHICK , KLAUS VIEWEG UND CLAUDIA WIRSING

F E L I X M E I N E R V E R L AG



H A M B U RG

Für die freundliche Förderung der Tagung geht der Dank an die Fritz Thyssen Stiftung, das Kolleg Friedrich Nietzsche der Klassik Stiftung Weimar, die Deutsche Gesellschaft für Philosophie und die Universitäten Tübingen, Heidelberg und Jena.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-2526-9 ISBN eBook: 978-3-7873-2719-5

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2014. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Werk­ druck­papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

I N H A LT

Vorbemerkung der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Klaus Vieweg Einleitung: Goethe und Hegel in Weimar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Hans Friedrich Fulda Der eine Begriff als das Freie und die Manifestationen der Freiheit des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

A N FA N G

UND

METHODE

DER

LOGIK

Rolf-Peter Horstmann Der Anfang vor dem Anfang. Zum Verhältnis der Logik zur Phänomenologie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Stephen Houlgate Der Anfang von Hegels Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Michael Wolff Hegels Dialektik – eine Methode? Zu Hegels Ansichten von der Form einer philosophischen Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Robert B. Pippin Die Logik der Negation bei Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

SUJETS

DER

LOGIK – SEINSLOGIK

Tommaso Pierini Das Sein »innerhalb seiner selbst«: Qualität und Quantität . . . . . . . . . . . . . .

111

Günter Kruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von quantitativ-qualitativen Verhältnissen zum entwickelten Fürsichsein als Begriff des Maßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123

Friedrike Schick Die Entwicklung der Kategorie des Maßes in seiner Realität und in seinem Übergang zum Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

6

Inhalt

SUJETS

DER

LOGIK – WESENSLOGIK

Claudia Wirsing Grund und Begründung. Die normative Funktion des Unterschieds in Hegels Wesenslogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

Folko Zander Die Logik des Zufalls. Über die Abschnitte A und B des Kapitels »Wirklichkeit« der Wesenslogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

Ralf Beuthan »Wirkliche Freiheit« – Hegels wesenslogischer Freiheitsbegriff . . . . . . . . . . . .

189

SUJETS

DER

LOGIK – BEGRIFFSLOGIK

Anton Friedrich Koch Subjektivität und Objektivität: Die Unterscheidung des Begriffs . . . . . . . . . . .

209

Christian Georg Martin Die Idee als Einheit von Begriff und Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

ASPEKTE A) L O G I K , M E TA P H Y S I K

UND

DER

LOGIK

T R A N S Z E N D E N TA L P H I L O S O P H I E

Elena Ficara Logik und Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245

Angelica Nuzzo Dialektisch-spekulative Logik und Transzendentalphilosophie. . . . . . . . . . . . .

257

Kai-Uwe Hoffmann Hegels Jenaer Auseinandersetzung mit der Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

275

B) L O G I K , E P I S T E M O L O G I E

UND

SPRACHPHILOSOPHIE

Brady Bowman Die reelle Definition als Form spekulativer Erkenntnis: Zum Zusammenhang von Geometrie und logischer Wissenschaft bei Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

293

Inhalt

7

Weimin Shi Hegels Kritik am geometrischen Beweis und sein Holismus . . . . . . . . . . . . . .

309

Christian Spahn Hegels absoluter Idealismus als Antwort auf drei Grundprobleme des Naturalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

321

Pirmin Stekeler-Weithofer Hegels Logik als materialbegriffliche Strukturtheorie der Bedeutung . . . . . . .

339

C) L O G I K

UND

PHILOSOPHIE

DES SUBJEKTIVEN UND OBJEKTIVEN

GEISTES

Holger Hagen Logik und Psychologie: Das Logische und die »Natur« unseres Geistes . . . . . .

361

Jean-François Kervegan Ein logisches, nicht metaphysisches Denken der Handlung . . . . . . . . . . . . . . .

379

Klaus Vieweg Der Staat als ein System von drei Schlüssen. Hegels logische Grundlegung der Staatskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

391

D) G R U N D G E D A N K E N

DER

LOGIK

IN NEUEN

KONTEXTEN

Michael Quante »Die Logik ist das Geld des Geistes.« Zur Rezeption der Hegelschen Logik im Linkshegelianismus und der Kritik der politischen Ökonomie . . . . . . . . . .

413

Angelika Kreß Hegel, Luhmann und die Logik der Selbstreferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

433

ANHANG Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

459

Über die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

461

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

463

Vorbemerkung der Herausgeber

Dieser Sammelband führt die Beiträge zur internationalen Tagung »200 Jahre Hegels Wissenschaft der Logik« zusammen, die vom 26. bis 29. September 2012 in Weimar stattfand. Veranstaltet wurde die Tagung vom Kolleg Friedrich Nietzsche der Klassik Stiftung Weimar, von den Universitäten Jena, Tübingen und Heidelberg und der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Die Herausgeber dieses Bandes danken zuerst der Klassik Stiftung Weimar, ihrem Präsidenten, Hellmut Seemann, sowie dem Kolleg Friedrich Nietzsche und seinem Leiter, Rüdiger Schmidt-Grépály. Weiterhin geht großer Dank an die Fritz Thyssen-Stiftung für ihre großzügige Förderung dieser internationalen Tagung und der vorliegenden Publikation. Ebenfalls danken die Veranstalter der Deutschen Gesellschaft für Philosophie und ihrem Präsidenten Michael Quante für die Aufnahme ins offizielle Programm der Gesellschaft und die Möglichkeit, dieses Buch als Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Philosophie zu publizieren. In Vorbereitung und während der Tagung haben Christoph Streckhardt, Johannes Korngiebel, Andreas Sandner und Peter Mair geholfen. Unser Dank gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien, Südkorea, Taiwan und den USA. Auch sei Giulia Pontefisso und Sebastian Stein für ihre Übersetzungsarbeit herzlich gedankt. In bewährter zuverlässiger Manier kümmerte sich Johannes Korngiebel um die Durchsicht und die technische Fertigstellung der zu veröffentlichenden Beiträge. Anton Friedrich Koch, Friedrike Schick, Klaus Vieweg und Claudia Wirsing Jena, im Frühjahr 2014

Einleitung Goethe und Hegel in Weimar Klaus Vieweg

Hegel in Weimar zu feiern, scheint vielleicht etwas heikel und vermessen und dazu ausgerechnet die 200. Wiederkehr des Erscheinens des ersten Teiles von Hegels Wissenschaft der Logik – der Geheimrat Goethe hätte es wohl ein ›Wagstück‹ genannt. Die Resultate dieser Hegelisch-infernalischen Provokation, eines wahrlich teuflischen Vorhabens, sind in diesem Band versammelt. Der absolute Geist kehrte mal wieder zum Urphänomen zurück, ins Haus am Frauenplan, wo der Dichterfürst den Imperator der Philosophie öfters zum intellektuellen Plausch empfangen hatte. Für diese 200-Jahrfeier der Wissenschaft der Logik könnte auch eine der wohl interessantesten Stimmen zur Jahrhundertfeier für Goethe aus dem Jahre 1932 zu Wort kommen, José Ortega y Gasset und sein brillanter Essay Um einen Goethe von innen bittend.1 Daran anschließend wäre der Titel dieser kleinen Einleitung schon am Anfang zu ändern, der jetzt lauten müsste: Um einen Hegel von Jena aus nach Weimar hereinbittend. Ortega vermutete, dass er selbst an »einer ungerechtfertigten Antipathie gegen Weimar leide« und fügte doch folgende Legitimation an: »Stellen sie sich vor, realisieren Sie, wie die Engländer sagen –, was die Universität Jena in den Jahren 1790-1825 bedeutete. Haben Sie gehört, mein Freund? Jena! Jena!« Er habe »diesen Namen nie hören können ohne einen Schauer der Ehrfurcht. Das Jena dieser Zeit bedeutet einen unerhörten Reichtum an den edelsten geistigen Anregungen. Ist es nicht ein furchtbares Zeichen für die Undurchdringlichkeit Weimars, daß Jena, von dem es zwanzig Kilometer entfernt ist, auch nicht im Geringsten darauf abfärben konnte?«2 Nun gab es mit Sicherheit wechselseitige Anregungen zwischen Klassik und Idealismus und wenigstens ein gewisses ›Abfärben‹ der Goetheschen Gedankenwelt auf den in Jena entstandenen Deutschen Idealismus und auch auf Hegel, ein ›Abfärben‹, was bis zu Hegels vehementer Fürsprache für die Goethesche Farbenlehre reichte. Auch gibt es Ortega zufolge nur eine einzige Methode, die Klassiker zu retten: nur insofern wir sie ohne Umstände zu unserer eigenen Rettung gebrauchen, d. h. wenn wir »von ihrer Eigenschaft als Klassiker absehen, sie uns zu uns heranziehen und vergegenwärtigen, indem wir neues Leben in sie einströmen lassen.«3 In Ortegas Goethe-Aufsatz heißt es dazu ganz Hegelisch: »Hic rhodus, hic salta. Hier ist das Leben, hier gilt es zu tanzen.«4 1 Ortega y Gasset, José: Um einen Goethe von innen bittend. In: ders.: Ästhetik in der Straßenbahn. Berlin 1987, 167-201. 2 Ebd., S. 198 f. 3 Ebd., S. 200. 4 Ebd., S. 172.

12

Klaus Vieweg

Erforderlich sei ein Zusammendenken von Vernunft und Leben, eine Kritik der lebendigen Vernunft.5 Dieses probate Verfahren müsse auch dazu führen, die durch den ›humusarmen Topf eines Liliputhofes entstandenen sterile Glasglocke von Weimar‹ etwas öffnen zu helfen. Denn Goethe ist ein Feuer, das viel Holz braucht, aber in Weimar gibt es keinen zureichenden Brennstoff. Es sei, so der spanische Kritiker, ein bloß geometrischer Ort, ein Großherzogtum der Abstraktion.6 Da die mit Hegel Vertrauten aber wissen, dass es nicht die Philosophen sind, die bloß abstrakt denken, sondern einzelne Marktfrauen, beschränkte Gaffer bei Hinrichtungen und manche analytische Philosophen, sollte eine erneute Beschäftigung mit Hegel gewagt werden. Denn selbst wenn Hegel irre, so trage er Ortega zufolge »wie ein zupackender Löwe stets einen guten Brocken zuckender Wahrheit in den Zähnen mit fort«.7 Ein solcher heute zu schnappender Brocken, eine solche fette Beute ist ohne Zweifel die Wissenschaft der Logik, deren Erster Band – die Lehre vom Sein – vor 200 Jahren in Nürnberg erschien. Diese logische Wissenschaft verstand Hegel als die rein spekulative Philosophie, als die eigentliche neue Metaphysik, als Aufhebung der überkommenen Logik und Metaphysik. Diese Charakteristik beinhaltet natürlich eine fulminante Provokation, denn damals wie heute wird unablässig der Tod der Metaphysik verkündigt. Die heutigen Marktschreier der Philosophie versuchen sich mit immer lauterem Getöse und mit immer billiger werdenden Gebetsmühlen zu überbieten und in aller Selbstherrlichkeit einen Hegel, den sie nie gründlich studiert haben, in die Rumpelkammer der Philosophie zu verbannen; verraten dabei aber bloß ihre eigene Unwissenheit. Eine Kultur ohne Metaphysik, ohne logische Wissenschaft gleiche Hegel zufolge einem Tempel ohne sein Allerheiligstes. Die Wissenschaft der Logik gilt als erstes Moment des ganzen Systems, als dessen Fundament, und zwar diese neue, eben eine nicht gang und gäbe Logik,8 eine Logik als immanente Entwicklung des Begriffs, eine Logik, die ›in dem Element der reinsten Abstraktion die Turmbauten der grundlegenden Bestimmungen aufschichtete‹. Das höhere logisch-metaphysische Geschäft müsse dazu dienen, den Gedanken zur Wahrheit und Freiheit zu erheben. Es sei – so Hegel – der ›schwerste philosophische Gegenstand überhaupt und deshalb würdig, 77-mal durchgearbeitet zu werden‹ – dieser Band möge dazu einen respektablen Beitrag leisten und sich gegen den ›lauten Lärm des Tages und die betäubende Geschwätzigkeit‹ behaupten, gegen die heute dominante bleierne Mittelmäßigkeit des Denkens. Goethe hätte diesem Anliegen wohl sehr beigepflichtet, der ›chromatische‹ Freund aus Berlin könne seine Philosophie zwischen Subjektivität und Objektivität situieren und behaupten, er könne als großer Forscher und als bedeutender Verallgemeinerer gesehen werden – ›in den Grundgedanken und Gesinnungen‹ stimme er, Goethe, mit 5

Ebd., S. 180. Ebd., S. 190 f. 7 Ortega y Gasset, José: Hegel und Amerika. In: Ästhetik in der Straßenbahn, S. 147–166, hier: 162. 8 Vgl. die Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 272: »Wie der Begriff und dann in concreter Weise die Idee sich an ihnen selbst bestimmen und damit ihre Momente abstract der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit setzen, ist aus der Logik, – freylich nicht der sonst gäng und gäben – zu erkennen.« (GW 14.1, 225). 6

Einleitung

13

Hegel überein. Unter der herben Schale des absoluten Idealismus liege der süße Kern eines in seiner Konsequenz staunenswerten philosophischen Gebäudes. Bereits im ersten Dezennium des 19. Jahrhunderts gab es verschiedene Treffen des Dichters mit dem Philosophen, ob an der Ilm, an der Saale oder bei gemeinsamen Ausflügen etwa nach Lauchstädt. Schon 1801 besuchte Hegel Goethe in Weimar und brachte durchaus spannende Nachrichten aus der ›Stapelstadt des Wissens‹ mit. Neue philosophische Gedanken aus der Fabrik erster Prinzipien, aus dem Rom der Philosophie, geisterten jetzt in Goethes Residenz umher. Der philosophische Erstling die Differenzschrift von 1801, ein Paukenschlag, mit dem Hegels akademische Laufbahn begann, ziert noch heute die Goethesche Bibliothek, natürlich neben dem philosophischen Jahrtausendwerk aus der Feder des Jenaer Hegel, der 1807 publizierten Phänomenologie des Geistes. Auch in den anschließenden Jahren brach der gute Draht zwischen den beiden ›Phänomenologen‹ nicht ab, das Haus am Frauenplan und die Saalestadt erlebten manches ›Gipfeltreffen‹ von Literatur und Philosophie. Man disputierte über Geologie und Botanik, über die Farbenlehre und die Arbeiten des norwegischen Naturphilosophen Henrik Steffens, besonders im Sommer und Herbst 1806 ging es ›um philosophische Gegenstände‹: Der wegen des drohenden Kriegsausbruchs zwischen Frankreich und Preußen »trüben Aussichten ungeachtet, ward nach alter akademischer Weise mit Hegel manches philosophische Kapitel durchgesprochen«, so Goethe kurz vor der Schlacht von Jena und Auerstedt im Oktober 1806.9 Auf Hegels Reise nach Berlin im Jahr 1818 wurde in Weimar nur kurz Station gemacht: ›wie sehr‹ – so Goethe – ›hätte ich eine längere Unterhaltung gewünscht‹.10 Im Herbst 1821 sendete Goethe dem Berliner Denker ein gefärbtes Trinkglas11 mit der berühmten Widmung: »Dem Absoluten empfiehlt sich schönstens zu freundlicher Aufnahme das Urphänomen«.12 Der Philosoph beschrieb dann das Glas als Weltbecher und verwies auf Dionysos und den bacchantischen Taumel. Goethe schätzt in Hegel – neben dem Weingenießer – besonders den vehementen Verteidiger seiner Farbenlehre, die bekanntlich für den Geheimrat höchsten Stellenwert besaß. Die beiden Koryphäen waren sich ungeachtet ihrer in mancher Hinsicht differenten Weltsichten durchaus nahe: 1826 wurde in der Nacht vom 27. zum 28. August – den Geburtstagen – in Berlin ein Doppelfest zu Ehren beider gefeiert. Vor fast genau 185 Jahren, Mitte Oktober 1827 besuchte der inzwischen in Berlin äußerst erfolgreich wirkende Denker wieder den poetischen Olympier in Weimar, man ging nach Belvedere, zum Jagdschloss Ettersburg und flanierte an der Ilm, über Paris und Moliere plaudernd, natürlich auch über die Farben. Hegel hatte ein mit seiner Widmung versehenes Exemplar der zweiten Ausgabe seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften als Geschenk seinem ›vieljährigen und höchstverehrten Freunde‹ mitgebracht. Goethe, so berichtet er, sei »überhaupt der alte, d. h. immer 9

Nicolin, Günther (Hg.): Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Hamburg 1970, S. 75. Bonsiepen, Wolfgang: Bei Goethe in Weimar. In: Hegel in Berlin. Preußische Kulturpolitik und idealistische Ästhetik. Hg. v. Otto Pöggeler. Berlin 1981, S. 173. 11 Ebd., S. 175. 12 Brief Goethes an Hegel vom 13. April 1821. In: Briefe von und an Hegel. Hg. v. Johannes Hoffmeister. Bd. 2. Hamburg 1953, S. 257 f., Nr. 384. 10

14

Klaus Vieweg

junge, etwas stiller, – ein solches ehrwürdiges, gutes, fideles Haupt, daß man den hohen Mann von Genie und unversiegbarer Energie des Talents darüber vergißt.« ›Wir sind‹ – fügte der Philosoph hinzu – ›als alte treue Freunde kordat zusammen, nicht um des Rühmens und der Ehre willen‹.13 Köstlich bleibt der Bericht von einem Gespräch zwischen Goethe und seiner Schwiegertochter Ottilie, die bei Hegel eine »völlig neue Nomenklatur« hörte, eine »sich geistig überspringende Ausdrucksweise, seltsam philosophische Formeln des immer lebhafter demonstrierenden Mannes«, was den Titan von Weimar gar völlig verstummen ließ. Auf des berühmten Schwiegervaters Nachfrage, wie ihr der Gast gefallen habe, soll Ottilie eine Antwort gegeben haben, die eine Facette der 200-jährigen Wirkungsgeschichte des Hegelschen Denkens durchaus trefflich charakterisiert: »Eigen! Ich weiß nicht, ist er geistreich oder wirr.« Daraufhin soll der Dichterfürst süffisant gelächelt haben: »Nu, nu! Wir haben mit dem jetzt berühmtesten modernen Philosophen, mit – Georg Wilhelm Friedrich Hegel, gespeist.«14 ** Dieser immer noch berühmteste moderne Philosoph war im Herbst 2012 wieder mal in Weimar zu Gast, an zwei berühmten Orten: im Weimarer Schloss und im Goetheschen Hause am Frauenplan. Ohne Zweifel gefiel dies dem Geheimrat in doppelter Weise: der Löwe des philosophischen Geistes hatte erneut kräftig zugepackt und die alten treuen Freunde Goethe und Hegel waren endlich wieder einmal zusammen im schönen Weimar.

13 14

Bonsiepen: Bei Goethe in Weimar, S. 176 f. Ebd., S. 178.

Der eine Begriff als das Freie und die Manifestationen der Freiheit des Geistes

Hans Friedrich Fulda

Freiheit, deren Begriff Kant in der Vorrede seiner zweiten Kritik als »den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft« bezeichnet hatte,1 war schon Mitte der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts für Schelling, den Freund Hegels und genialen, jungen Jenaer Kollegen Fichtes, und wenig später wohl auch für Fichte selbst nicht nur »Schlußstein«, sondern das »A und O aller Philosophie«.2 Doch Freiheit als solches Alpha und Omega adäquat zu denken und ihren Gedanken überzeugend zu rechtfertigen, das blieb seit 1795 und das ganze erste Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hindurch eine unerledigte Aufgabe – wenn nicht sogar das zentrale Problem eines überzeugenden, kantisch-nachkantischen Idealismus, wie er zunächst in Jena seinen akademischen Mittelpunkt hatte. Fast zur gleichen Zeit hatte Goethe seinen Egmont veröffentlicht.3 Aber auch danach blieb es für ihn – bis etwa 1812 – eine unerledigte Frage, wie der Held dieses Dramas, der nach seinen eigenen Worten für die Freiheit stirbt,4 als einer darzustellen sei, der seine Freiheit vor allem lebt; und die Frage war nicht zuletzt deshalb so lange aktuell, weil Schiller sich mit Goethe hierüber in einem nie aufgelösten Zwist befand.5 Wenn anlässlich einer Tagung über Hegels zweihundert Jahre alt werdende Wissenschaft der Logik eine diesem Werk geltende Abhandlung zu veröffentlichen ist, die aus einem Vortrag im Festsaal des Weimarer Stadtschlosses hervorgehen, also konzipiert werden sollte im Gedanken ans Umfeld nicht nur der seinerzeitigen Förderung und Erhaltung der Universität Jena, sondern auch des dortigen Goetheschen Wirkens, dann kann das Thema wohl nur dem Begriff ›Freiheit‹ gelten. Zu untersuchen ist, wie das Wortfeld ›frei‹ in der Hegelschen ›Logik‹ gedacht wird, aber auch als grundlegendes Bedeutungspotential fürs Freiheitsverständnis in der gesamten, daraus hervorgegangenen Systemphilosophie angelegt ist. Soweit, so gut, was den Gegenstand der vorliegenden 1

Kant, Immanuel: KpV, S. 4. Vgl. Brief Schellings an Hegel vom 4. Februar 1795. In: Briefe von und an Hegel. Hg. v. Johannes Hoffmeister. Bd. 1. Hamburg 1952, S. 22 und Fichtes Entwurf eines Briefs (an Jens Baggesen?) vom April oder Mai 1795. In: GA III/2, S. 298. 3 Goethe, J. W. v.: Egmont. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Leipzig 1788. 4 Ebd., Fünfter Aufzug, Schluß. 5 Über Näheres zur Vorgeschichte, Deutung und Rezeption des Dramas finden sich vorzügliche Informationen in Goethe, J. W. v.: Werke (Hamburger Ausgabe). Hg. v. Erich Trunz. Bd. 4. München 1990, S. 614–645. Zur Bedeutsamkeit, die das Thema ›Freiheit‹ in Goethes Egmont hat, vgl. meinen Aufsatz: Frei sein – in lebendiger Vernünftigkeit und unter objektiv-rechtlichen Normen. In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 11 (2013), S. 265–290. 2

16

Hans Friedrich Fulda

Abhandlung betrifft. Wie aber soll ein kurzer Tagungsbeitrag hierüber seinem ebenso hoch abstrakten wie weitläufigen, von so gewichtigen Assoziationen umlagerten Sachthema gerecht werden – und das nicht nur angesichts der selbst schon überkomplexen Wissenschaft der Logik, sondern auch hinsichtlich der Rolle, welche dieses Werk für Auskünfte über Freiheit in der sogenannten Realphilosophie Hegels spielt? Und wie soll allem, was dabei auszuführen ist, so Rechnung getragen werden, dass einerseits Erwartungen von Hegel-Experten erfüllt, andererseits aber auch vielseitige Laien-Interessen befriedigt werden, welche durch Bekanntgabe des Jubiläums geweckt worden sein mögen? Ein Pfad, der in dieses Aufgaben-Dickicht einzudringen erlaubt und wohlbehalten wieder aus ihm herauszuführen verspricht, fordert gewiss von jedem, der ihn betritt, erst einmal dem einen – Hegelisch verstanden – rein logischen Begriff und seiner Entwicklung gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, dann aber von hier aus das Wesen des Geistes überhaupt als Freiheit, die sich manifestiert und dabei verwirklicht, zu thematisieren und die Freiheitsverwirklichung zuletzt an einigen exemplarischen Manifestationen zu verdeutlichen. Die dabei leitende Hoffnung ist, dass sich auf diese Weise die einzigartige Vielfalt der Bestimmungen begreifen lässt, welche bei Hegel nicht nur den reinen Begriff als das Freie auszeichnen, sondern auch die Bedeutung jener Bestimmungen in zahlreichen, realphilosophisch zu denkenden Vorkommnissen von Freiheit fassbar werden lassen. Hieraus ergibt sich der dreigliedrige Aufbau des Vorliegenden.

I. Der eine Begriff als das Freie Für Hegel ist im Unterschied zu Kant und Fichte das exemplarisch Freie nicht ein rein praktisches Bewusstsein oder Selbstbewusstsein, das wir haben, und auch nicht dessen jeweiliges »Ich« und »Subjekt«, welches zumindest jeder von uns ist, wer auch immer sonst noch es sein mag, oder aber nicht sein kann. Das ursprünglich und vor allem anderen Freie ist vielmehr der eine Begriff selbst, wie er sich einer ›Wissenschaft der Logik‹ im unaufhaltsamen Überschreiten aller metaphysischen Grundbegriffe des Realen sowie Wirklichen konsequenterweise ergibt, nicht aber einer kurzschlüssigen, von der Reflexion aufs eigene »Ich« ausgehenden Abstraktion verdankt: der eine Begriff nämlich, dessen Abhandlung das ganze letzte der drei Bücher füllt, aus denen die Hegelsche ›Logik‹ besteht. Im Kontext des hier zu bearbeitenden Themas ist das wohl der bedeutendste der Schritte, welche Hegel getan hat, indem er über die vor ihm hervorgetretene kantisch-nachkantische Freiheitsphilosophie hinausging und Freiheitsbestimmungen der früheren, »vormaligen« Metaphysik korrigierte. Denn der eine, reine Begriff, wie ihn die von Hegel konzipierte ›Logik‹ abhandelt, ist eine sehr komplexe Konfiguration von Gedankenbestimmungen mit einer ihnen innewohnenden Dynamik und aus ihr hervorgehenden Prozessualität, die sich durch zahlreiche Glieder und Unterstrukturen von jeweils noch einmal eigener Dynamik hindurchzieht. Die Stadien dieser Prozessualität machen alle zusammen die eine Entwicklung des einen Begriffs aus. Aber sie haben – und der eine Begriff hat in ihnen – die höchsten Begriffe der älteren Metaphysik nebst allen ihnen vorhergegangenen begrifflichen Bestimmungen, die sich schon in sie

Der eine Begriff als das Freie und die Manifestationen der Freiheit des Geistes

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aufgehoben haben, sich untergeordnet, ja »unterworfen«6 und vor allem deren Fundamentalität sowie Selbständigkeit hinter sich gelassen. So kommen den Bestimmungen, deren Herausarbeitung sich der für Hegel »vormaligen« Metaphysik verdankt, im Kontext des einen, reinen Begriffs und seiner Entwicklung nur noch untergeordnete Rollen zu: Wenn nicht sogar bloß die von irgendwie »Beiherspielendem«, so einerseits insbesondere diejenige inhärenter Momente (wie z. B. der in Freiheit aufgehoben enthaltenen Wechselwirkungs-Notwendigkeit, die zur Freiheit »erhoben« ist, sowie der ebenfalls zur Freiheit gewordenen Zufälligkeit) (GW 11, 408 f.); andererseits aber die Rolle der Abwehr von Missverständnissen durch ausdrückliche Abgrenzung. Jedenfalls begrenzen die dem reinen Begriff vorhergegangenen logischen Bestimmungen so, wie sie in der vormaligen Metaphysik gedacht wurden, den einen, reinen Begriff nicht in seine Tiefe hinein. – Was aber, genau, hat das mit frei sein zu tun?7 Ein Überblick übers Ganze der Hegelschen Auffassung von philosophischer Wissenschaft, der innerhalb solcher Wissenschaft freilich nur ein Rückblick, außerhalb davon aber nur einleitend sein kann, gestattet wohl zu sagen: In der allumfassenden Perspektive des sich philosophierend betätigenden absoluten Geistes erscheint die philosophische Wissenschaft, wie Hegel sie in Konkurrenz mit anderen philosophischen Bemühungen und in Abhebung von älterer Philosophie nicht zuletzt innerhalb seiner ›Logik‹ betreibt, »als ein subjectives Erkennen, dessen Zweck die Freyheit und es selbst der Weg ist, sich dieselbe hervorzubringen.« (Enz § 576, GW 20, 570) In dieser die ›Logik‹ als erste und letzte Wissenschaft thematisierenden Perspektive ist der eine, rein logische Begriff schon insofern das Freie, als er von der Dominanz sowie universellen Grundlegungsfunktion der Bestimmungen sowohl vormaliger Metaphysik und ihrer Erkenntnisvoraussetzungen als auch spezifischer Erkenntnisvoraussetzungen der Transzendentalphilosophie befreit ist; befreit nämlich vom sogenannten Begriff des Seienden als solchen und von dessen Bestimmungen, aber auch von Fixierung auf ein »seienderweise« (ὄντως) oder »in Wahrheit« Seiendes; ferner: von der Fundamentalbestimmung ›Wesen‹ sowie vom diametralen Gegensatz zwischen Wesen und Erscheinung mit den ihnen darin zukommenden Bestimmungen, ja, selbst von den basalen Bestimmungen der Wirklichkeit, wenn diese nach der Weise vormaliger Metaphysik gedacht wird als etwas, das vorausgesetztem, wesenhaft Seiendem zukommt – und zwar sowohl dann, wenn die Wirklichkeit dabei einem oder dem einen Absoluten zugedacht wird, als auch dann, wenn sie ausgesagt wird über etwas, bezüglich dessen sich Möglichkeit im Gegensatz zu Unmöglichkeit sowie Notwendigkeit im Gegensatz zu Zufälligkeit voneinander abheben; ebenso aber für den Fall, dass Wirklichkeit in spezifischen Verhältnissen wie denen zwischen Substanz und Akzidenz, kausal Bewirkendem und Bewirktem oder in Wechselwirkung miteinander Stehendem gedacht wird. Last but not least jedoch auch im Fall der Wirklichkeit einer – sei’s spinozistisch, sei’s im Sinne der Leibnizschen Monadologie verstandenen – absoluten Substanz und ihrer Kausalität, oder aber ihrer im 6

Vgl. GW 12, 14. Die folgenden beiden Absätze berücksichtigen einen Einwand, den Michael Wolff gegen die Vortragsfassung der vorliegenden Abhandlung erhoben hat. 7

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Hans Friedrich Fulda

Wechselwirkungsverhältnis stehenden kausalen Notwendigkeit und Zufälligkeit. In Bezug auf all das nämlich ist vom einen, reinen Begriff zu sagen: Die Dunkelheit der im Causalverhältnisse stehenden Substanzen für einander, ist verschwunden denn die Ursprünglichkeit ihres Selbstbestehens ist in Gesetztseyn übergegangen und dadurch zur sich selbst durchsichtigen Klarheit geworden; die ursprüngliche Sache ist diß, indem sie nur die Ursache ihrer selbst ist, und diß ist die zum Begriffe befreyte Substanz. (GW 12, 16) Vielleicht darf man daher in philosophiehistorischer Perspektive, die unvermeidlicherweise auch eine des absoluten Geistes und der darin als subjektives Erkennen erscheinenden Wissenschaft ist, vom schon in der ›Logik‹ zu thematisierenden Begriff behaupten, dieser habe sich mit derartig befreiter Substanz zugleich befreit zu sich selbst. Schon im Kontext des Übergangs von der Notwendigkeit zur Freiheit am Ende der Wesenslogik heißt es ja mit einem Seitenblick auf Spinoza anmerkungsweise, das Denken der Notwendigkeit sei »das Zusammengehen Seiner im Andern mit Sich selbst« und sei die Befreiung, welche nicht die Flucht der Abstraction ist, sondern in dem andern Wirklichen, mit dem das Wirkliche durch die Macht der Nothwendigkeit zusammengebunden ist, sich nicht als anderes, sondern [als] sein eigenes Seyn und Setzen zu haben. (Enz § 159 A, GW 20, 176) Und schon der Haupttext der Wissenschaft der Logik hatte behauptet, dadurch dass die Wechselwirkung nur die Kausalität selbst ist und die Ursache nicht nur eine Wirkung »hat«, sondern »als Ursache mit sich selbst in Beziehung« steht, sei die Causalität zu ihrem absoluten Begriffe zurückgekehrt, und zugleich zum Begriffe selbst gekommen. (GW 11, 408) Wenn dies schon aus der Perspektive der ›Logik‹ als erster Philosophie zu sagen ist, diese Logik aber auch im absoluten Geist und als letzte Philosophie metaphilosophisch gedacht sowie von Vorgänger- und Konkurrentendisziplinen abgegrenzt werden muss, so wird man kaum umhin können zuzugeben: Der Befreiungsprozess, welcher thematisiert wird im Fortgang von der Gedankenbestimmung ›Wechselwirkung‹ zu deren Ergebnis, dem einen reinen Begriff, führt nicht nur die Kausalität mit ihrer Notwendigkeit und Zufälligkeit zur Freiheit und befreit dabei nicht nur die absolute Substanz und Ursache, indem er über beide hinausgeht zum einen, rein logischen Begriff, ohne freilich schon deshalb im Letzteren den »Befreier« zu solcher Befreiung zu haben. Vielmehr wird die stattfindende Befreiung, wenn all dies geschieht, dann auch vom einen – zuvor nur noch nicht thematisch gewesenen, aber schon zugrunde liegenden – Begriff oder, genauer gesagt, vom bloßen »Begriff an sich« zum »Begriff selbst« führen müssen; und wird das aktive Subjekt der Befreiung (zumindest in der als subjektives Erkennen erscheinenden, zum absoluten Geist gehörenden und metaphilosophisch bestimmten Wissenschaft) der allen Wesensbestimmungen schon zugrunde liegende, wenngleich erst im Prozess der Befreiung sich als solches Subjekt ergebende, eine Begriff selbst sein müssen,

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sodass mindestens in dieser Perspektive am Ende gesagt werden muss, der eine, reine Begriff selber befreie sich zu sich selbst. Allerdings muss man dabei auch zugeben: Dies wird im immanenten Fortgang, welchen die ›Logik‹ als erste Wissenschaft vom Wesen zum Begriff nimmt, über den einen Begriff noch nicht behauptet; und es kann an dieser Stelle verfahrensimmanent noch gar nicht behauptet werden. Auch kann sich die ›Logik‹ in diesem Stadium ganz immanenten Fortgangs noch nicht expressis verbis von der »vormaligen« Metaphysik distanzieren, wie auch eine »immanente Widerlegung« des Spinozismus oder der Kantischen transzendentalen Logik (oder der Fichteschen Transzendentalphilosophie) hier streng genommen noch nicht erfolgen kann. Kritische Äußerungen zum Spinozismus und zu Kants transzendentaler Logik sind von Hegel wohlweislich späterer, metaphilosophischer Auskunft über die ›Logik‹ sowie – zuvor – anmerkungsweiser Begleitung des immanenten Darstellungsgangs vorbehalten worden, bzw. auf einleitende Bemerkungen zur subjektiven Logik beschränkt geblieben, während die Darstellung des Inhalts der Gedankenbestimmungen und der förmlichen Bewegung derselben vom Wesen zum Begriff ohne Markierung eines Bruchs mit aller vormaligen Metaphysik erfolgt. Aber wenigstens Hegels einleitende Ausführungen zur Logik des Begriffs8 sollten klar machen, dass mit der immanenten Darstellung längst nicht alles zur Sprache gekommen ist, was metaphilosophisch übers Verhältnis der Seins- und Wesens- zur Begriffslogik und über den Ausgangspunkt der letzteren in Abgrenzung gegenüber innerlogisch Vorhergegangenem sowie in Distanzierung von konkurrierenden oder historisch vorausgegangenen fundamentalphilosophischen Unternehmungen anderer Autoren gesagt werden muss. Das Wenige, was oben zu Hegels eigenen Formulierungen hinzugefügt wurde, verträgt sich jedenfalls sehr gut mit allem, was sich bereits dem Haupttext der ›Logik‹ und – zusätzlich – Hegels anmerkungsweise begleitenden Äußerungen hierzu sowie den einleitenden Ausführungen zur subjektiven Logik und Lehre vom Begriff9 entnehmen lässt. Wenn zuzugeben ist, was in den letzten beiden Absätzen geltend gemacht wurde, darf daher gesagt werden: Der rein logische Begriff ist schon als einer, der sich zu sich selbst befreit hat, exemplarisch das Freie. – Er ist damit ferner das Freie im Sinn eines Einen, das ganz mit sich einig und ganz bei sich selbst ist. Insofern bleibt die von Fichte her naheliegende Bestimmtheit ›Bei-sich -selbst-sein‹10 als Charakteristikum von Freiheit erhalten, obwohl sie nicht mehr allererst einem sogenannten Ich=Ich zukommt, sondern bereits dem einen, rein logisch bestimmten Begriff. Doch darüber hinaus ist dieses Bei-sich-selbst-sein nun in sich mehrdimensional bestimmt, wie sich im Gang 8 Vgl. GW 12, 1 ff.; insbes. 14–16,1; 17,2–25,1; 27,2 f. (Die Ziffern hinter den Seitenangaben markieren hier wie im Folgenden die Absätze im Text). 9 Vgl. den Titel des zweiten Bandes der Wissenschaft der Logik. 10 Vgl. J. G. Fichtes Analyse des gedanklichen Gehalts der grundlegenden Feststellungen »Ich bin Ich« und »Ich bin« in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794, § 1, Nr. 4.–9. mit § 5, 3. Fußnote, und §§ 8, II. sowie 9, 1. und 10, 25.; ferner mit Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen von 1795, § 3 VII. B.; § 4, Schlußbemerkungen; insbesondere aber auch mit Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus den Jahren 1801/02. Hg. v. R. Lauth und P. K. Schneider. Hamburg 1977, §§ 5–12.

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der Entwicklung des einen Begriffs ergibt: zunächst nämlich als Bei-sich-selbst-sein, welches der eine Begriff als Allgemeines, Besonderes und (begrifflich) Einzelnes in sich selbst ist, aber auch als Sich-bestimmen-zu…, in welchem der Begriff »spontan« von sich selbst ausgeht und dabei ein Sich-bestimmen zu sich selbst ist. Aber nicht nur das. Schon im ersten Hauptstadium seiner Entwicklung ist der Begriff mit seinem In-sichbei-sich-selbst-sein auch Vermittlung seiner Bestimmungsmomente miteinander und nicht zuletzt mit sich selbst. Beides aber, Selbstbestimmen und Vermittlung, ist der Begriff auch unter eigener Norm, also »autonom«; und das vor allem hinsichtlich seiner elementaren Bestimmungsmomente ›Allgemeinheit‹, ›Besonderheit‹ und (rein begrifflich bestimmte) ›Einzelnheit‹. Schon mit diesen Zusatzbestimmungen zum Bei-sich-selbstsein haben wir weitere Charakteristika des Freien, die sich in vergleichbarer Differenziertheit weder bei Kant noch bei Fichte noch gar bei Schelling finden. Aber das ist längst nicht alles, sondern betrifft nur die erste Phase im ersten von drei Stadien der Begriffsentwicklung. Mit Bedacht wurde soeben gesagt, der eine Begriff sei »nicht zuletzt« Vermittlung seiner mit sich selbst. Gerade nämlich, indem der Begriff seine Momente ›Allgemeinheit‹, ›Besonderheit‹ und ›Einzelnheit‹ miteinander, mit sich und dabei sich mit sich selbst in einem disjunktiven »Schluß der Notwendigkeit« vollständig vermittelt, kommt es zu einer Vermittlung »durch Aufheben der Vermittlung« (GW 12, 126) und damit zu einer hierdurch entstandenen, neuen Unmittelbarkeit: derjenigen der Objektivität des Begriffs, von welcher aus der Begriff sich in seinem bisherigen, ersten Entwicklungsstadium als Subjektivität bestimmt. Mit dem zweiten Entwicklungsstadium aber ist das Sichbestimmen des Begriffs als des Freien nicht zuende. Es beginnt nur ein zweiter Entwicklungsabschnitt: derjenige, während dessen der eine Begriff in seinem Anderen bei sich selbst ist. Auch das gehört zur Freiheit des Freien: Beisichselbstsein (des Begriffs) in seinem Anderssein (und -werden) sowie, eben deshalb, in seinem Anderen zu sein. Und auch diese Freiheitsbestimmung wurde vor Hegel von keinem der kantisch-nachkantischen Idealisten gedacht. Nicht weniger als im ersten Entwicklungsstadium ist auch dieses Beisichselbstsein mehrdimensional zu denken, nun aber phasenweise, die eine Dimension von der anderen abgehoben: Zunächst als Beisichselbstsein in mechanischen Verhältnissen, Prozessen und dynamischen Zusammenhängen, die jedoch nicht schon als in Naturereignissen exemplifiziert genommen werden und darum auch konsequent ohne die typisch metaphysischen Bestimmungen ›Substanz, Akzidenz, Ursache, Wirkung, Wechselwirkung‹ exponiert sind; dann – ebenso ohne typisch vormalig metaphysische Bestimmungen sowie Bestimmungsvoraussetzungen und ohne die Voraussetzung von Natur, in welcher diese Bestimmungen »vorkommen« – objektive Verhältnisse und Geschehnisse, wie sie zu Hegels Zeit vornehmlich als chemische betrachtet wurden: Indifferenz, Neutralität, Basalität oder Verwandtschaftlichkeit von Stoffen im Verhältnis zueinander; ferner Spannungen und Reaktionen zwischen den Bestandteilen sowie Prozesse der Vereinigung und Trennung, schließlich aber der Herstellung eines stabilen Zustandes, in welchem sich die Bestandteile dann (miteinander) befinden. Charakteristisch für dieses Stadium der Entwicklung ist, dass der Begriff in bloßer Subjektivität, aus deren beisichseiendem Selbstbestimmen die Stadien doch hervor- und von einem zu anderen fortgehen, nun sich in derart Ob-

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jektivem so vertieft, dass er darin vorübergehend »versenkt« ist (GW 12, 30,2). Sein freies Selbstbestimmen und Beisichselbstsein im Anderssein ist somit nun weithin unscheinbar geworden und nur noch für das spekulativ begreifende, extrem Gegensätzliches in sich fassende Denken erkennbar. Aber auch das – sich so zu versenken und phasenweise versenkt zu sein – gehört zum Begriff als dem Freien und zu seiner Freiheit. Die Freiheit geht darin nicht schlicht verloren, sondern wird vorübergehend zu einem bloßen Potential oder nur immanent darin Tätigen. Weil dies nur eine vorübergehende Phase ist, taucht sie im weiteren beisichseienden Selbstbestimmen des Begriffs alsbald in neuer Weise wieder auf: Sie wird beim Fortgang der Objektivitätsbestimmungen des Begriffs zum Zweck in einer sich als letztes Stadium der Objektivität ergebenden, aber noch zu dieser gehörenden, äußeren Teleologie. Dieser Zweck ist nun ausdrücklich wieder der objektive freie Begriff (GW 12, 153,2),11 sodass der Freiheit des Freien nun auch das Charakteristikum, als Zweck zu sein, zuzusprechen ist; genauer: im Anderen seiner selbst als Zweck bei sich selbst zu sein. Als ausgeführter und dadurch dem Prozess seiner Ausführung immanent gewordener, zur »freyen konkreten Einheit« gediehener hebt sich der Zweck (GW 12, 166,3)12 (als der einer inneren Teleologie) vom bloß Objektiven wieder ab. Er existiert nun »frey gegen das Object und dessen Proceß« und ist »sich selbst bestimmende Thätigkeit« (ebd.). In einem weiteren, wiederum als Vermittlung durch Aufheben von Vermittlung zu denkenden Schritt gelangt er damit zu einem letzten, dritten Stadium der ganzen Entwicklung des Begriffs als des Freien: zu demjenigen der Idee als einer Einheit des einen Begriffs, in welcher dieser zur Übereinstimmung mit sich in seiner Objektivität kommt bzw. schon gekommen ist und insofern auch seine Wahrheit (als Übereinstimmung des Begriffs mit sich selbst) nicht nur gewinnt oder hat, sondern auch ist. Diese Wahrheit des Begriffs vollzieht sich zunächst als die Idee des Lebens, die als rein logische Idee durchaus nicht die Natur voraussetzt und sich auch nicht nur in naturalem Leben exemplifiziert finden wird. Vielmehr ist auch das Leben des Geistes eine bedeutende Exemplifikation dieser Idee.13 In einer zweiten Phase der Entwicklung ihres Begriffs vollzieht sich die Idee als Idee des Erkennens, und zwar zunächst als die Idee des Wahren (in welcher der Begriff als Subjektivität sich zur Adäquation mit sich als Objektivität bringt) und dann als die Idee des Guten (als welche umgekehrt das subjektiv Gute sich im Objektiven durchsetzt und dieses Objektive zur Adäquation mit sich bringt). Die dritte Phase schließlich, als die absolute Idee, hat zum Ausgangspunkt, dass die beiden Prozesse der Idee des Erkennens abgeschlossen und miteinander vereinigt sind, womit sich auch ihre je besonderen Zwecke dem nunmehrigen Realisierungsprozess ganz immanent gemacht haben. Dieser Realisierungsprozess aber hat sich bereits als Aufeinanderfolge aller inhaltlichen, rein logischen Gedankenbestimmungen vollzogen. Der umfassende Inhalt des Logischen liegt also bereits vor. Zusätzlich zu ihm kommt daher

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Vgl. Enz § 203 f., GW 20, 208 f. Vgl. Enz § 209, GW 20, 213. 13 Vgl. dazu vom Verf.: Das Leben des Geistes. In: Hegel-Jahrbuch. Das Leben Denken. I. (2006). Berlin 2006, S. 27–35. 12

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nun »das Allgemeine seiner Form« zur Darstellung, d. i. »[d]ie Methode«, und zwar als »der sich selbst wissende, sich als das Absolute, sowohl Subjective als Objective, zum Gegenstande habende Begriff« (GW 12, 237,2 f.). Von ihr aber, bzw. ihm wird nicht nur gezeigt, welches ihre bzw. seine besonderen, aufeinanderfolgend zum Zuge kommenden, begrifflichen Bestimmungen sowie »Momente« sind, die den jeweiligen Inhalt nach einem ihnen eigenen Rhythmus in Bewegung versetzen, sondern auch, wie sich die Methode aufs Ende des Realisierungsprozesses hin zusammen mit dem Inhalt »erweitert« zum System des Logischen (ebd., 249,2–252,2). So wird das Freie, als Beisichselbstsein des Begriffs in seinem objektiven Anderssein, am Ende der Entwicklung zum Beisichselbstsein in einem Anderssein seiner, das mit dem Begriff völlig eins geworden und womit umgekehrt auch der Begriff in seiner Subjektivität zur perfekten Adäquation gekommen ist. Doch nicht einmal das ist das Ende vom erhabenen Lied der Freiheit, das hier gesungen wird. Zur vollen Übereinstimmung beider Seiten – des Inhalts und der Form des Logischen – gehört nämlich auch, dass die absolute Idee, welche diese Adäquation ist, am Ende ihres internen Prozesses alle ihre begrifflichen Bestimmtheiten – d. h. sowohl diejenigen, durch welche sich der Begriff selbst in seiner ganzen Entwicklung auszeichnet, als auch die seiner durchsichtig klaren Konstitution vorhergegangenen, ehemals dogmatisch-metaphysisch genommenen Bestimmtheiten – ja, sogar »sich selbst«, »frey entläßt, ihrer absolut sicher und in sich ruhend.« (GW 12, 253,2) Auch die freie Entlassung der absoluten Idee in ihre Äußerlichkeit zeichnet die Freiheit des Freien aus, das der eine Begriff ist, und ist also eine für sie charakteristische Bestimmtheit. Von ihr allerdings hatten die vorhegelischen kantisch-nachkantischen Freiheitsphilosophien keine Ahnung. Mit ihr, die man auch als Sich-Öffnen des Begriffs und damit des exemplarisch Freien zu einem ganz Anderen bezeichnen könnte, kommt es noch einmal, aber in wieder anderer Weise als bisher zu Freiheit als einem (aus sich selbst sich selbst bestimmenden und vermittelnden sowie vermittelten) Beisichselbstsein im Anderen. Was das fürs Sich-manifestieren von Freiheit bedeutet, wird in den folgenden Abschnitten auszuführen sein. Zuvor aber sollte übersichtlich zusammengefasst, verdeutlicht und um wenige Folgebestimmungen ergänzt werden, was sich bisher ergab. Was also haben wir in der nun zweihundert Jahre alt werdenden Wissenschaft der Logik bezüglich des einen Begriffs als des Freien registriert; und was davon können wir nur bei Hegel finden? Es ist trivial, dass werdendes oder gewordenes ›frei sein‹ begrifflich eng zusammenhängt mit ›befreien‹ oder ›befreit‹. Ohne dass es eigens betont wurde, sollte im oben Dargelegten aber auch deutlich geworden sein, dass der eine Begriff in jenem Befreien, mit welchem er zu sich selbst als dem exemplarisch Freien kommt, sich von demjenigen, wovon er sich damit befreit, nicht schlechthin trennt und das Betreffende erst recht nicht gänzlich beseitigt. Das Befreien ist vielmehr dessen »Unterordnung« bzw. »Unterwerfung«, die das Untergeordnete als (mindestens) beiherspielendes, oder aber implizites, jedenfalls zunächst unauffälliges Moment enthält und somit nach einer »freien Entlassung« auch wieder aus der Unscheinbarkeit und Unterordnung hervortreten lassen kann. Trivial ist ferner, dass zu ›befreien‹ auch ein ›frei werden‹ und zu ›frei werden‹,

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ein ›sich öffnen‹ und dann ›offen sein für…‹ gehört. Darüber hinausgehend finden wir schon im vorhegelischen deutschen Idealismus bemerkt, dass fürs frei sein von Freiem ein – aus dem Selbstsein kommendes und unter der eigenen, selbstgegebenen Norm stehendes – Sich-Bestimmen zu etwas gehört, das seinerseits mit einem Zweck und dessen Realisierung verbunden sein mag; wahrscheinlich ist auch schon registriert, dass für all das ein Beisichselbstsein konstitutive Voraussetzung ist. Singulär aber und nur von Hegel aufgedeckt ist eine ganze Reihe weiterer Bestimmungen des exemplarisch Freien. Nämlich: a. dass das ursprünglich und exemplarisch Freie der eine Begriff ist; b. dass sein Beisichselbstsein nicht nur eines des Freien in sich selbst ist, sondern zusätzlich auch Beisichselbstsein in seinem Anderen; und c. dass das sich von sich aus Bestimmen nicht nur eines zur eigenen, selbstgegebenen Norm sowie unter ihr zu einem Zweck und dessen Ausführung ist, sondern zusätzlich dazu, ja vorrangig, auch schlüssige Vermittlung; und diese insbesondere auch als eine, die das Freie mit sich selbst vollzieht; und d. dass bei solcher Vermittlung das Beisichselbstsein (in sich selbst und im Anderen) auch eines im Anders-werden und Sich-anders-werden des Freien ist; desgleichen e. dass das sich von sich aus Bestimmen gerade in solch ausgezeichneter Vermittlung auch ein sich Aufschließen und Öffnen ist, und zwar sowohl in Bezug auf eigenes Anderes, d. h. auf eine dem Freien eigene Objektivität, als auch im Fortgang zu äußerem Anderen, in welchem das Freie dann ebenfalls bei sich selbst ist; und f. dass das Freie so bei sich selbst nicht nur in seinem Ursprung sowie ursprünglichen Setzen ist, sondern auch in der ganzen Ausführung eines zur Objektivität gehörenden Zwecks, der seinerseits auch ein sowohl dem Ursprung als der Ausführung als auch seinem Ausgeführtsein im äußeren Anderen immanenter Zweck sein kann. – Die sechs eigens aufgelisteten Bestimmungen dürften den Kerngehalt des einen, rein logischen Begriffs als des exemplarisch Freien ausmachen. Mindestens fünf weitere Bestimmungen treten jedoch hinzu; nämlich g. dass das Ausführen dabei auf einem langen Weg durch ein sich Versenken des Freien in dieses sein Anderes hindurchgeht und dass hierzu auch ein zu sich selbst Zurückkommen und sich Wieder-gewinnen gehört; wobei dies aber so geschieht, h. dass darin die subjektive Seite des Begriffs und dessen Objektivität in beiden Richtungen zur Adäquation miteinander kommen und dabei auch der Begriff zur Adäquation mit sich selbst gelangt. Diese Adäquation impliziert aber des Weiteren, i. dass der Begriff sich am Ende seiner Selbstadäquation dazu öffnet, sich selbst und den ganzen begrifflichen Gehalt seiner rein logischen Bestimmungen – d. h. ebenso der ihm selbst vorausgegangenen wie auch der ihn als solchen ausmachenden sowie der sich aus ihm innerlogisch entwickelnden – frei zu entlassen zur Realität des Realen überhaupt, wobei im Realen jeweilige logische Bestimmungen noch einmal neue Zusammenhänge bilden und der Begriff darin ebenfalls sein Beisichselbstsein und beisichselbst bleibendes Anders-werden sowie Sich-anders-werden zu erweisen hat und erweisen kann. – Ohne dass es oben eigens erwähnt wurde, versteht sich bei all dem des Weiteren,

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j. dass sowohl das erste, innerlogisch anders- und sich-anders-werdende Beisichselbstsein des Begriffs in seinem Anderen als auch, mehr noch, dasjenige, womit der Begriff die Grenzen der ›Logik‹ überschreitet, mit erheblichen Ambivalenzen des Freiheitsbegriffs verbunden ist sowie mit Gefahren für den Begriff, sich zu verlieren oder seiner selbst zu entfremden. Die grundsätzliche Frage bezüglich des frei Entlassenen wird daher sein, wie seine Bestimmungen und Bestimmungsverläufe sich im Realen zu welchen Teilen sowie auf welchen Verlaufsebenen miteinander und mit zusätzlichen begrifflichen Bestimmungen verbinden. k. Auf jeden Fall haben wir es, schon jetzt erkennbar, zu tun mit einer großen Mannigfaltigkeit von Bestimmungen, Bestimmtheiten und Weisen des Freien, frei zu sein. In dieser Mannigfaltigkeit gibt es natürlich für das Freie zahlreiche Bezugspunkte, auf welche das Freisein jeweils ausgerichtet ist oder sich zu konzentrieren hat; aber auch andere Punkte, in welchen seine Freiheit enden oder sich verlieren kann, wenn es endlich Freies ist. In summa: Wahrlich nicht wenig Originelles hat uns Hegels Lehre vom einen Begriff als dem Freien an Aufschluss über Freiheit zu bieten! Doch was daran bringt uns in die Nähe der begrifflichen Bestimmung ›manifestieren‹, die zur spekulativen Logik der Wirklichkeit gehört? Was hat es mit dem Verb »sich manifestieren« auf sich, wenn es vom Begriff als dem Freien oder wenigstens von zu ihm Gehörigem gebraucht werden soll? Das ist nun erst einmal grundsätzlich zu erwägen, bevor einzelne Manifestationen von Freiheit des Geistes aufgesucht und ihre Zusammenhänge verdeutlicht werden können. II. Ort, Art und Weise, Freiheit zu manifestieren Die freie Entlassung des begrifflichen Gehalts der absoluten Idee erlaubt und erfordert es, jeweils wieder rein logische Bestimmungen, aus deren Überschreiten sich in der Logik der eine Begriff als das Freie ergab, eigens zum Zuge kommen zu lassen, obwohl sie dieser Begriff gerade als untergeordnet von sich abgehoben hatte. Zugleich aber erlaubt die freie Entlassung dann auch, von den Ausdrücken »frei«, »befreien«, »Freies«, »Freiheit« einen Gebrauch zu machen, bei welchem bezüglich der damit bezeichneten Sachverhalte Freiheit nur im einen oder anderen kontextuellen, jedenfalls aber einseitigen, gemessen am einen Begriff als dem exemplarisch Freien unvollkommenen, aber auch zusätzlich bestimmten Sinn angesprochen ist. Das wird seitens unserer gemeinsamen Sprache und ihrer gedanklichen Verarbeitung schon dadurch nahegelegt, dass es im Ensemble von Bestimmungen der vormaligen Metaphysik, und zwar vor allem im Bereich des Wesens, seiner Erscheinungen und des Wirklichen, wenn man diese Bestimmungen nur zu »begreifen« beginnt, Vorformen dessen gab, was im Sinn des einen Begriffs Freies ist. Eine solche Vorform ist z. B. diejenige eines selbständig Wirklichen, das nur unter seinem eigenen Gesetz steht oder aus der Notwendigkeit seiner eigenen Natur existiert, wie sich das Spinoza als definiens von Freiheit dachte.14 Solche Vorformen des 14

Vgl. Spinoza, Baruch de: Ethica [1677]. Pars prima, definitio VII.

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eigentlich Freien lassen sich mit den entsprechenden, uns vertrauten Ausdrücken besonders dann bezeichnen, wenn es sich um Bezeichnungen im Kontext von Teilschritten oder Teilergebnissen sich realisierender Freiheit im vollen, begrifflichen Sinn handelt. Die Bezeichnung ist gerechtfertigt durch die jeweilige Bedeutung, die sie in ihrem Bezug auf den einen Begriff hat. Damit aber öffnet sich uns nun gleichsam ein Fenster zu einem höchst differenzierten, begreifenden Erfassen enorm zahlreicher, partieller Exemplifikationen von irgendwie Freiem oder seiner Freiheit. Ein generelles Indiz für Beispiele hierzu sind Wendungen wie »frei (bloß) der Form nach«, »frei (auch) dem Inhalt nach«, »frei (bloß) an sich« oder »frei (bloß) für sich«, oder aber »an und für sich frei«; aber auch gar nicht eigens terminologisch geprägte Wendungen wie »frei von […]« oder »befreit zu […]«. Immer bleibt der eine Begriff hierbei der innere Bildner und das Korrektiv, das den eingeschränkten Sinn der betreffenden Rede zu erkennen gibt und uns so davor bewahrt, das darin Bezeichnete für frei oder Freies im vollen Sinn oder gar für frei par excellence zu halten und damit zu missdeuten. Doch was genau hat all dies mit ›sich manifestieren‹ und ›Manifestationen‹ von Freiheit zu tun? Um sich das klar zu machen, beachte man, was im zweiten Buch der Logik, also innerhalb der Logik des Wesens nachgewiesen wurde, nun aber an den frei entlassenen begrifflichen Bestimmungen zu berücksichtigen ist, sofern je spezifische unter ihnen zunächst im Ganzen der (physischen) Natur vorkommen und deren Bestimmungen sind: Zu diesen Bestimmungen gehört vor allem auch diejenige des Wirklichen und seiner spezifischen Weise, »wirklich«, d. h. (zumindest potentiell) wirkend, zu sein. Die allgemeine Weise seines Wirkens nämlich ist nicht bloß die von Erscheinen oder gar nur Scheinen. Sie ist vielmehr gerade die von Manifestieren, in welchem sich – anders als beim Erscheinen oder gar Scheinen – das Wesen des Wirkenden unaufhaltsam und vielleicht sogar voll geltend macht und zeigt. Das betreffende Wesen wird – oder macht sich – darin manifest, was allerdings nicht nur plötzlich eintreten, sondern auch in einem langen, durch zahlreiche Zwischenstadien oder Verzögerungen führenden Prozess geschehen kann. Zudem gilt: In der genuinen, lateinischen Bedeutung heißt »manifestus« so viel wie unser »handgreiflich«. Es hat also in seinem Bedeutungsgehalt eine erhebliche Nähe zu »Be-greifen« und damit auch zu »Begriff« – eine erheblich größere Nähe jedenfalls als die Bezeichnung bloßen Erscheinens oder gar Scheinens von Wesen. Andererseits aber – ja, im Gegensatz dazu – manifestiert sich in allen Manifestationen der bloßen, physischen Natur gerade noch nicht das Wesen oder Wesentliche des Freien tout court, das der eine Begriff ist, und auch nicht irgendein Wesen, das kurzerhand die Freiheit ist. Vorformen von frei sein, wie sie freilich in der Natur (als natura naturata) auftreten mögen, wie z. B. der »freie Wuchs« eines »freistehenden« Baumes, sind allemal – schon für Kant – bestenfalls »Freiheit in der Erscheinung«, keinesfalls aber Weisen wirklicher und sich manifestierender Freiheit. Erst im Realitätsbereich des Geistes bekommen wir es mit dem Wesen zu tun, welchem sich manifestierende, also wirkliche Freiheit zuzusprechen ist. Doch was sich bloß irgendwie manifestiert, das kann sich auch darin manifestieren, dass es sich zurückzieht, sich tarnt oder (sich und/ oder auch anderes) täuscht. Und es wird sich derart manifestieren, wenn solches zum eigenen Wesen des betreffenden Wirklichen gehört, was dann freilich nicht ausschließt,

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sondern sehr wahrscheinlich macht, dass auch bloße Erscheinungen dieses Wesens täuschen. Beides jedoch – bloß Freiheit in der Erscheinung zu sein, wie auch, sich nur auf eine Weise zu manifestieren, die täuscht – schließt der Hegelsche Begriff des Geistes für dessen Wesen aus. Denn das Wesen des Geistes ist nicht nur »formell die Freiheit, die absolute Negativität des Begriffs als Identität mit sich« (Enz § 382, GW 20, 382). Vielmehr ist die Bestimmtheit des Geistes in diesem Wesen zusätzlich, dem Inhalt nach, »die Manifestation«. Diese Manifestation aber ist offenbarend,15 und zwar offenbart der Geist dabei »nicht Etwas« (ebd., § 383); sondern »seine Bestimmtheit und Inhalt ist dieses Offenbaren selbst. Seine Möglichkeit ist daher unmittelbar unendliche, absolute Wirklichkeit.« (ebd.) Hier also begegnet uns zum ersten Mal die Freiheit als Wesensbestimmung eines Realen; und sie begegnet uns sogleich als das Wesen desjenigen Realen, welches der Geist überhaupt im Unterschied zur ganzen Natur ist und das in der Freiheit nicht nur seine konstitutive Bestimmtheit hat, sondern zugleich die mit seiner gesamten Potentialität vereinigte, nicht mehr von außen begrenzte, sondern »unendliche«, schlechthin durch sich bestimmte und sich offenbarend manifestierende Wirklichkeit ist. Die Realisierung der Möglichkeit hierzu findet nicht an irgendeinem Anderen ihre Grenze, die das Realisierungsergebnis beim Zurückkommen aus der Natur allemal nur endlich machen, nicht aber zu einem gänzlich durch, in und aus sich selbst bestimmten Wirklichen werden lassen würde. Genau genommen zeichnet sich das Wesen des Geistes jedoch begrifflich noch durch ein drittes Charakteristikum aus: Zusätzlich zur formellen Bestimmtheit seines Wesens, die Freiheit zu sein, und zur inhaltlichen Bestimmung – offenbarende Manifestation zu sein, welche absolute Wirklichkeit ist – vollzieht der Geist nämlich diese Wirklichkeit hinsichtlich ihrer formellen und inhaltlichen Bestimmtheit, indem er sie beim Zurückkommen des Begriffs aus der Natur offenbarend gewissermaßen ver-wirklicht, und zwar in einer drei Stadien durchlaufenden, aber gestuften Entwicklung (ebd., §§ 384 f.). Während der ersten beiden Stadien dieser Entwicklung befindet sich der Geist auf einer Stufe, auf welcher sein Freiheit-Offenbaren ein »Setzen der Natur als seiner [d. h. des Geistes] Welt; […und] zugleich Voraussetzen der Welt als selbstständiger Natur ist.« Unter solcher Voraussetzung stehend kann der Geist freilich nur ein endlicher sein, welcher in der Natur noch sein Anderes hat und womit sein Begriff nicht schon gänzlich aus der Natur zu sich selbst zurückkommt oder gar zurückgekommen ist. Insofern ist der Geist damit auch noch nicht in jeder Hinsicht als Möglichkeit »unmittelbar unend15 Der hier von Hegel gebrauchte Ausdruck »offenbaren« ist missverständlich, wenn man ihn nicht mit dem oben im ersten der eingerückten Zitate zur Sprache gekommenen Fortgang von »Dunkelheit« im Kausalverhältnis zur »sich selbst durchsichtigen Klarheit« einer ursprünglichen Sache, die nur die Ursache ihrer selbst ist, aufs engste verbunden denkt. Ins klassisch Griechische übersetzt dürfte als das sprachliche Äquivalent dazu gewiss nicht »ἀποκαλύπτειν« (d. h. bis dahin Verhülltes »enthüllen«) gelten, sondern ausschließlich »δηλόειν« (d. h. »kund tun«, »klar machen«), da nach Auskunft der philosophischen Wissenschaft der logische Inhalt, der schon vor dem Offenbaren zur Sprache kam, ja nur »frei entlassen« worden ist, nicht aber etwas (z. B. von Gott) verhüllt wurde, das nun enthüllt werden könnte. Jede Assoziation von »Apokalypse« wäre also abwegig. Es geht nur um den Begriff bzw. den Geist als »Zurückkommen aus der Natur« (vgl. Enz § 381, GW 20, 382).

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liche, absolute Wirklichkeit«. Wohl aber entwickelt er sich zu solcher, deren Möglichkeit er auch jetzt schon unmittelbar ist und womit er auch schon als endlicher sein Wesen, Freiheit zu sein, im Sinne eines Beisichselbstseins im Anderen manifestieren kann. Die Entwicklung vollzieht sich auf dieser Stufe jedoch in zwei aufeinanderfolgenden Stadien: zunächst so, dass der Geist als subjektiver »in der Form der Beziehung auf sich selbst ist«; dann hingegen so, dass er objektiver Geist ist »in der Form der Realität als einer von ihm hervorzubringenden und hervorgebrachten Welt, in welcher die Freiheit als vorhandene Notwendigkeit ist«. Erst hingegen ein das Wesen des Geistes als die Freiheit Offenbaren, welches im Begriff selbst stattfindet sowie ein »Erschaffen« der Welt »als seines [d. h. des Geistes] Seyns« ist und in welchem der Geist »die Affirmation und Wahrheit seiner Freiheit sich gibt«, zeichnet den Geist schließlich als absoluten aus und verwirklicht ihn auf einer letzten Entwicklungsstufe – »in an und für sich seyender und ewig sich hervorbringender Einheit der Objectivität des Geistes und seiner Idealität oder seines Begriffs«. Diese triadische Einteilung wird der Schlüssel zu allem sein, was im Folgenden über verschiedene Weisen zu sagen ist, in denen der Geist die sein Wesen ausmachende Freiheit manifestiert. Offenkundig hat dabei jedoch die Differenzierung des Geistes in einen subjektiven, objektiven und absoluten auch noch mit den oben unterschiedenen drei Stadien der Entwicklung des reinen Begriffs zu tun.

III. Manifestationen von Freiheit im subjektiven, objektiven und absoluten Geist Wenn mit der Entwicklung des einen, reinen Begriffs die soeben umrissene Entwicklung des Geistbegriffs oberflächlich assoziiert wird, könnte allerdings leicht die Suggestion entstehen, es gehe in begrifflicher Hinsicht schlicht darum, die Struktur jener Entwicklung dieser anderen zu applizieren bzw. die eine für die andere als Schablone, Raster, Modell oder Schema zu gebrauchen. Immerhin kommt es ja beide Male von Subjektivem über dessen Objektivität zur Idee desjenigen, was sich so entwickelt. Doch so richtig dies ist, im Verhältnis beider Entwicklungen kann es sich nicht um eine schematische Anwendung vorgegebener Bestimmungen des einen, reinen Begriffs auf den Geist und seine Entwicklung handeln. Für den Geist überhaupt jedenfalls, sowie für seine obersten Besonderungen ›subjektiver‹, ›objektiver‹ und ›absoluter‹ Geist, sind die rein logischen Bestimmungen des einen Begriffs keine Kategorien im Kantischen Sinn. Das zeigt sich am Inhaltlichen der Bestimmungen sofort. Läge ein bloßer Anwendungsfall und ein Schema vor, logische Bestimmungen darauf zu applizieren, so müsste das erste Stadium der Entwicklung des Geistbegriffs bzw. die Abhandlung des subjektiven Geistes sogleich mit einem Gegenstück zum einen, einfachen und reinen Begriff als dem Freien beginnen und dürfte in seinem Fortgang noch nichts von der Objektivität des innerlogischen Begriffs enthalten. Während des zweiten Stadiums hingegen, also mit dem objektiven Geist, müsste die Freiheit zunächst eine in die Objektivität des Geistes »versenkte«, in ihr nur noch potentiell oder höchstens verborgen tätige sein; und sie müsste aus dieser Versenkung erst mühsam wieder auftauchen. Im dritten Stadium schließlich müsste –

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aber erst in diesem Stadium dürfte auch – die sich manifestierende Freiheit, welche das Wesen des Geistes ist, mit dessen subjektiv-geistiger Seite der objektiv-geistigen ebenso wie mit dieser der subjektiv-geistigen Seite von Anfang an, also auch unmittelbar, adäquat und als in derartiger Adäquation beider Seiten befindlich bestimmt sein. Doch kaum etwas von all dem finden wir in Hegels Philosophie des Geistes, wo in ihr – vor den abschließenden, metaphilosophischen Partien der ganzen Systemphilosophie – von befreien, befreit, frei-sein bzw. frei-werden oder Freiheit sowie von subjektivem, objektivem und absolutem Geist die Rede ist. Zum Beispiel ist der Geist während des ersten Entwicklungsstadiums, d. h. als subjektiver, zwar »in der Form der Beziehung auf sich«, und wird für ihn das, was sein Begriff ist: dass »sein Seyn diß ist, bei sich, d. i. frey zu seyn« (ebd., § 385, GW 20, 383). Aber die Entwicklung beginnt bei anthropologisch thematisierter, seelischer Naturbestimmtheit, wie insbesondere dem einfachen Mitleben einzelner Menschen oder Populationen höherer Lebewesen überhaupt mit Gegebenheiten und zyklischen Veränderungen der umgebenden Natur. An solchen Zuständen und Zustandsveränderungen der natürlichen und naturbestimmten Seele lässt sich etwas als frei oder als durch Freiheit ausgezeichnet allenfalls im negativen Sinn bezeichnen: Dann nämlich, wenn es sich, z. B. in der vorausgesetzten Natur befindet und dabei zusätzlich zu seiner seelischen »Idealität« auch eine vom Seelischen »freie Existenz« hinter beseelten Naturbestimmtheiten hat;16 oder wenn auf der Gegenseite beim Greis, dessen zur Gewohnheit gewordene Gelassenheit eine Freiheit von den beschränkten Interessen und Verwicklungen der äußerlichen Gegenwart ist (Enz, § 396, GW 20, 393).17 Erst über die Entwicklung der fühlenden Seele kann, aufs Entwicklungsende hin vorgreifend, in positivem Sinn gesagt werden, das »erst formelle Fürsichseyn« derselben sei »zu verselbstständigen und zu befreien« (ebd., § 403, GW 20, 401). Aber nur die in der Entwicklung des subjektiven Geistes folgende wirkliche Seele hat »an ihrer Leiblichkeit ihre freie Gestalt, in der sie sich fühlt und sich zu fühlen gibt« (ebd., § 411, GW 20, 419); und erst wenn sie »in ihrer Aeußerlichkeit erinnert in sich und unendliche Beziehung auf sich« ist, ist dies ihr Fürsichsein eines »der freien Allgemeinheit« und ist sogar »das höhere Erwachen der Seele zum Ich« eines Bewusstseins (ebd., § 412, GW 20, 420 f.). Nun endlich befinden wir uns wenigstens in der Perspektive auf das »Ich, als freie Subjectivität gegen die Bestimmtheit« (ebd., § 415 A, GW 20, 423). Aktualiter aber ist das Ich bloßen Bewusstseins nur »die reine abstracte Freiheit für sich«, die »ihre Bestimmtheit, das Naturleben der Seele, als eben so frei, als selbstständiges Object« aus sich »entläßt« (ebd., § 413, GW 20, 421). Offenkundig ist auch hier weder das eine noch das andere, als »frei« Bezeichnete der reine Begriff in seiner spontanen Selbstbestimmung und vollständigen Selbstvermittlung, die zu neuer Unmittelbarkeit seiner in begrifflicher Objektivität führt. Das Entwicklungsziel des Geistes als Bewusstsein besteht zwar darin, die Gewissheit seiner selbst, die das Bewusstseins-Subjekt hat und ist, »zur Wahrheit zu erheben«, d. h. zu einer vollen, inhaltlichen Übereinstimmung mit sich selbst (ebd., 16 17

Vgl Enz § 391 (GW 20, 390) im Gegensatz zu § 392 A (GW 20, 391). Vgl. auch ebd., §§ 402 A (GW 20, 400); 410 + A (GW 20, 415–419).

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§ 416, GW 20, 423). Aber auf dem Weg zu diesem Ziel ist zunächst von frei sein, befreien und Freiheit weiterhin in bloß negativem oder zumindest sehr begrenztem Sinn die Rede (ebd., §§ 421, 425, 429, GW 20, 426, 428, 429 f.); unmittelbar danach aber nur als von jemandes selbstbewusstem »Trieb, sich als freies Selbst zu zeigen, und für den andern als solches da zu sein« (ebd., § 430, GW 20, 430).18 Auch wenn dieser Trieb schließlich in einem »allgemeine[n] Selbstbewußtseyn« seine Befriedigung finden mag, ist die »freie Einzelnheit«, die »absolute Selbstständigkeit hat«, nur ein »Erscheinen des Substantiellen«,19 das »auch vom Substantiellen getrennt« sein und »für sich in gehaltleerer Ehre, eitlem Ruhm, u.s.f. festgehalten werden« kann (ebd., § 436 +A, GW 20, 432 f.). – Allererst als Vernunft und vernünftiger Geist, der »sich zur Wahrheit der Seele und des Bewußtseyns bestimmt« hat, – also zu Beginn des letzten Teils der Lehre vom subjektiven Geist – ist der Geist nun eindeutig darauf ausgerichtet, den »über die Natur und natürliche Bestimmtheit, wie über die Verwicklung mit einem äußerlichen Gegenstande« erhobenen »Begriff seiner Freiheit zu realisiren« (ebd., §§ 439 f., GW 20, 434 f.). Aber auch jetzt noch ist das anfangs bloß Ziel,20 und im Fortgang dahin kommt es weiterhin nur zu Bestimmungen spezifisch unvollkommenen und einseitigen frei Seins oder Tätigseins.21 Nur dem Ende des ganzen ersten Stadiums in der Entwicklung des Geistes billigt Hegel die Bestimmung zu, nicht nur »subjektiver« Geist zu sein, sondern kurzerhand: »Der freie Geist«. Von diesem Geist – eines an und für sich freien Willens, der »freie Intelligenz ist« – wird dann aber sogleich dargelegt, dass, warum und als was er in seiner durch Aufheben von Vermittlung vollständigen Vermitteltheit mit sich selbst zugleich unmittelbar objektiver Geist ist (ebd., §§ 481 f., GW 20, 476). Nicht unbeachtet bleiben sollten dabei jedoch zwei weitere, gewichtige Punkte. Zum einen ist der subjektive Geist als der freie selber bereits »an sich die Idee« (ebd., § 482, GW 20, 476), weil er als subjektiver Geist die durchgängig von ihm unabhängige und insofern selbständige Natur nicht nur voraussetzte, sondern in voraussetzendem Bezug auf sie auch eine – sozusagen immanente – Objektivität in sich trug, mit der seine Selbstbeziehung nun, im an und für sich freien Willen freier Intelligenz, zur Adäquation gekommen ist.22 Der Fortgang von dieser Intelligenz zum objektiven Geist ist daher nur formal korrekt beschrieben als einer, der über vollständige Vermittlung (durch Aufheben dieser) zu neuer Unmittelbarkeit führt. Inhaltlich aber wäre er damit, also nach dem Modell eines Fortgangs vom reinen Begriff selbst zu dessen Objektivität, unzulänglich bestimmt. Zum andern war jedoch keine der vorigen, geistphilosophischen Verwendungen der Ausdrücke »frei« und »befreien« eine bloß metaphorische. Die Verwendungen waren vielmehr allesamt sozusagen »anaphorisch«: Die in ihnen gebrauch18

Vgl. ebd., § 431–433 (GW 20, 430 f.). Mit anderen Worten: die hier in Rede stehende freie Einzelheit ist bloß Erscheinen jener sich offenbarend manifestierenden Wirklichkeit, die (vgl. ebd., §§ 382–384, GW 20, 382 f.) den allgemeinen Inhalt des formell als Freiheit bestimmten Wesens des Geistes überhaupt ausmacht. 20 Vgl. ebd., § 442 (GW 20, 436 f.). 21 Vgl. ebd., §§ 443, 447 (GW 20, 437 f, 443 f.); 452, 453 A (447 f.); 456, 458 (450, 451 ff.); 468, 469 A, 472 A (465 ff, 469 f.); 476, 478 473 f.). 22 Vgl. ebd., § 385, unter I (GW 20, 383). 19

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ten Ausdrücke verwiesen auf das höchste, exemplarisch Freie; ja, sie trugen schrittweise wieder zu ihm hinauf auf einem Weg, der schließlich zu ihm gelangen wird und mit dem freien Geist erstmals in eine für den subjektiven Geist größtmögliche Nähe zu ihm gekommen ist. Nur muss sich auch dies noch im weiteren Fortgang bekräftigen. Wenn man es recht bedenkt, hatten wir dazu in der Philosophie des Geistes bisher nicht so sehr am einen Begriff als dem exemplarisch Freien das antizipierende Regulativ, sondern vor allem am Begriff des Geistes überhaupt sowie an den anfänglichen Bestimmungen von dessen Entwicklung – insbesondere aber an der Bestimmung, offenbarendes Manifestieren von Freiheit als Wesen des Geistes beim Zurückkommen desselben aus der Natur zu sein.23 Die Ausdrücke für diese komplexe Bestimmung, die etwas Prozessuales bezeichnen (»offenbarendes Manifestieren«, »Wesen des […]«, »Zurückkommen aus […]«), verweisen allesamt in die Wesenslogik, genauer: sie verweisen aufs Manifestieren als Wirkensweise des im wesenslogischen Sinn Wirklichen und wegen des Partizips »offenbarend« auf die Phase der letzten Schritte seines Fortgangs in die Begriffslogik. Wird dies beachtet, und wird zudem am angekündigten Offenbaren registriert, dass der so bezeichnete Prozess sich in drei Stadien, aber im Fortgang vom zweiten zum dritten Stadium durch prinzipielle Änderung gestuft vollzieht, so ist zu erwarten, dass der Geist erst an seinem äußersten Ende wieder zum einen, reinen Begriff und in ihm zu jener unendlichen, absoluten Wirklichkeit gelangen kann, deren Möglichkeit und auf solche Ver-wirklichung hinwirkende Wirklichkeit er gleichwohl von Anfang an ist; dass er hingegen als subjektiver und objektiver Geist seine größtmögliche Nähe zum reinen Begriff allenfalls dann erreichen kann, wenn er zugleich ans Ende des betreffenden Entwicklungsstadiums kommt, während der Anfang aller drei Stadien und zwei Stufen des offenbarenden Manifestierens vom einen, reinen Begriff in seinem entsprechenden Entwicklungsstadium weit entfernt sein muss. Diese Erwartung würde sich bei näherer Inspektion des zweiten und dritten Entwicklungsstadiums bestätigen und dabei noch präzisieren lassen. Entscheidend für den Fortgang innerhalb der drei Stadien, welche die Entwicklung des Geistes durchläuft, dürften daher nicht so sehr die Bestimmungen der ebenfalls triplizitär gegliederten Entwicklung des einen, reinen Begriffs mit der ihnen eigenen Dynamik sein, sondern vor allem die Vorgaben, welche mit dem Begriff des Geistes überhaupt bzw. mit seiner obersten Spezifikation direkt verbunden sind. Doch um der Umfangsgrenzen für das Vorliegende willen ist hier eine Schritt für Schritt vorgehende Verifikation der insoweit wenigstens plausibilisierten Erwartung und der sich daraus ergebenden Vermutungen zu unterlassen. Wichtiger als sie ist zweifellos eine nähere Auskunft darüber, wie Hegels Darstellung systematischer Philosophie des Geistes (in der Enzyklopädie) das mannigfaltige Sich-Manifestieren von Freiheit präsentiert und welche Rolle dabei die je speziellen Kontexte der Geistphilosophie spielen. Denn in ihnen wird der Ausdruck »Freiheit« natürlich nicht nur vom Geist überhaupt bzw. seinem Wesen gebraucht, und wird kei23

Wichtige Hinweise auf die epistemologische Funktion, welche Hegels innerlogische Ideenlehre dabei gleichwohl besitzt, gibt Wildenauer, Miriam: Epistemologie freien Denkens. Die logische Idee in Hegels Philosophie des endlichen Geistes. Hamburg 2004, S. 278 f.

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neswegs nur das Wesen des Geistes überhaupt mit Freiheit identifiziert, die sich offenbarend manifestiert. Es ist daher auch eigens zu überlegen, was der eine oder andere besondere, kontextuelle Gebrauch des Ausdrucks »Freiheit« besagt und was dessen spezielle Bedeutungskomponenten mit Manifestation zu tun haben. Ganz generell fällt an Hegels enzyklopädischer Geistphilosophie auf, dass darin anlässlich der zahlreichen Verwendungen des Ausdrucks »Freiheit« die allgemeine Bedeutung dieses Ausdrucks fast nie erläutert wird,24 der Ausdruck selbst jedoch niemals auf eine Weise gebraucht ist, welche sich mit der Freiheitsbestimmung in der anfänglichen Exposition des Geistbegriffs nicht verträgt. Man hat also guten Grund anzunehmen, dass der Bedeutungskern, welchen der Ausdruck in all diesen Verwendungen enthält, derselbe bleibt wie derjenige, welchen schon die ›Logik‹ am einen Begriff als dem exemplarisch Freien aufdeckte: die komplexe Bedeutung ›Beisichselbst-sein (und -bleiben) im (sich) Anders-werden und Anders-sein sowie in entsprechendem Anderen‹. Freilich aber ist in den meisten der zahlreichen geistphilosophischen Verwendungen das fürs exemplarisch Freie kennzeichnende Zusammentreten und eine Prozessuale-Einheitbilden der vielen Facetten rein logisch bestimmten Beisich-seins und -bleibens nicht mitzudenken. Stattdessen kommt es zu zusätzlichen, kontextuell begründeten Bedeutungskomponenten. Wie wäre sonst die ganze Vielfalt begrifflicher Bestimmungen, die das System des rein Logischen in sich trägt, frei entlassen, aber frei Entlassenes daraus auf eigene Weise mit gewissen anderen logischen Bestimmungen sowie mit weiteren, nicht rein logischen, wohl aber begrifflichen Bestimmungen verbindbar – ja, erkennbarerweise realiter verbunden? Doch worin bestehen dann die zusätzlichen und in den jeweiligen Kontexten variierenden Bestimmungen der Freiheit, und inwiefern sind auch sie Bestimmungen sich manifestierender Freiheit? Um hierüber Rechenschaft ablegen zu können, sollte man berücksichtigen, (1.) wovon jeweils Freiheit im positiven Sinn – d. h. nicht bloß im Sinn eines privativen frei-seins von etwas – ausgesagt wird, worin sie sich dabei befindet oder womit sie hierbei sogar identifiziert wird; (2.) worin jeweils der spezifische Charakter der ausgesagten Freiheit besteht; und (3.) welche wichtigen Akzente, Aspekte oder Merkmale somit im Hinblick auf mögliches Sich-manifestieren von Freiheit jeweils zu beachten sind, sich aber – hoffentlich – auch finden.25 (1.) Wie schon angedeutet beziehen sich die Ausdrücke »Freiheit« und »frei«, wenn sie nicht bloß zur Bezeichnung einer Privation dienen, in der Lehre vom subjektiven Geist außer auf diesen Geist selbst26 zunächst auf die leibliche Gestalt einer wirklichen Seele und die Allgemeinheit des Fürsichseins dieser sowie, anschließend, besonders deutlich auf das Ich bloßen Bewusstseins und um seine Anerkennung kämpfenden Selbstbewusstseins; dann hingegen auf Vernunft, wie sie Thema philosophischer Psy-

24 Die einzigen, mir unter die Augen gekommenen Ausnahmen finden sich in Enz §§ 389 A (GW 20, 388 f.), 549 A,3 (528) und 552 A,1 (530 f.), also charakteristischerweise jeweils in Anmerkungen zum Haupttext. 25 Wer nicht so weit, wie es von der Sache her geboten erscheint, ins stachliche Detail Hegelscher Gedanken eindringen mag, sollte von hier sogleich zu Abschnitt (3.) übergehen. 26 Vgl. z. B. Enz §§ 385, I. und 513 (GW 20, 383 und 494 f.).

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chologie ist;27 darin schließlich aber auf Vernunft als an sich freien, danach an und für sich freien Willen einer praktisch erkennenden Intelligenz, die in solcher Tätigkeit dann auch wirklich freier Wille und hiermit sogleich in Einheit mit theoretischer Intelligenz der freie subjektive Geist ist.28 In der Lehre vom objektiven Geist dagegen ist dasjenige, mit dessen Freiheit wir es zu tun haben, zunächst die einzelne Person als Inhaberin von Recht und Rechtsansprüchen abstrakten Rechts sowie das Eigentum derartiger Personen.29 Im Anschluss daran ist es dann das vereinzelte moralische Subjekt, und zwar ebenso in seiner Innerlichkeit wie auch in der davon ausgehenden äußeren, willentlichen und zu verantwortenden Handlung.30 Schließlich ist es die Sittlichkeit einer Sitte, die abstraktes Recht und Moralität, aber auch bereits subjektiven und objektiven Geist in sich vereinigt; und ist es auf ihrer Basis – nunmehr innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft – jede rechtlich selbständige Person im System formell-rechtlicher Bestimmungen, welche für die betreffende Person rechtlich mit justizieller Feststellung und notfalls Erzwingung verbunden sind. Hieran anschließend ist das als frei Bezeichnete oder durch Freiheit zu Charakterisierende dann die Rechtsperson als Bürger, aber auch als die begriffsgemäß verfasste und gesetzmäßig organisierte sowie entsprechend personifiziert tätige Staatsmacht im politischen Staat.31 Die politisch verfasste Sittlichkeit ist daher zunächst diejenige eines einzelnen Staats und seiner inneren Verhältnisse – der politischen Gewalten untereinander sowie zwischen diesen und den einzelnen Staatsbürgern samt ihren gesellschaftlichen Institutionen. Sie ist dann Sittlichkeit in den äußeren Verhältnissen zwischen einzelnen Staaten als freien Völkerindividuen, aber auch – im Unterschied dazu – die konkrete Sittlichkeit eines jeweiligen Volksgeistes. Schließlich hingegen ist sie die Sittlichkeit eines Weltgeistes, dessen höchstes, ja absolutes Recht sich über alle jeweilig beschränkten Völkergeister hinweg durchsetzt, während ein dem Weltgeist immanenter, denkender Geist die Endlichkeit alles Objektiv-Geistigen von sich abstreift und sich selbst zum Wissen in seiner Wesentlichkeit erhebt, dabei zuletzt jedoch zum Wissen gelangt, welches der absolute Geist ebenso ist wie von sich ist und hat.32 In der enzyklopädischen Abhandlung dieses absoluten Geistes hingegen bezieht sich die Rede von Freiheit zunächst auf die »schöne«, für die klassisch-antike Kunst substantiell gewesene Sittlichkeit, die sich allerdings schnell selbst zerstört hat und mit sich auch diese Kunst vergehen ließ; dann bezieht sich die – hier auffällig verhaltene33 – Rede von Freiheit auf das inhaltlich adäquate Wissen absoluten Geistes, der als geoffenbarte, christliche Religion in freilich epistemisch immer unvollkommen bleibender Form der Vorstellung »für den Geist« ist. Schließlich aber geht der Ausdruck 27

Vgl. ebd., §§ 413, 424, 431 f.; 440 ff (GW 20, 421 f., 427 f., 430 f. und 434 ff.). Vgl. ebd., §§ 469, 472 A,2; 480–482 (GW 20, 466, 469 f. und 475 ff.). 29 Vgl. ebd., §§ 483–488 (GW 20, 478–481). 30 Vgl. ebd., §§ 503, 509 (GW 20, 488 f. und 492). 31 Vgl. ebd., §§ 513–515; 523, 529, 532; 538 f., 541 f., 544 (GW 20, 494 f., 498, 501 ff., 505, 508 ff., 514 ff. und 517 ff.). 32 Vgl. ebd., §§ 538 f., 540 f.; 544; 548, 550, 552 (GW 20, 508 ff., 513 ff., 517 ff., 523, 529 ff.). 33 Nur in der Anmerkung zu ebd., § 571 (GW 20, 554), aber auf Religion und Philosophie zugleich bezogen, wird zweimal das Adjektiv »frei« gebraucht, das Substantiv »Freiheit« dagegen nie. 28

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»Freiheit« auf das philosophische Denken in diesem Geist und darin am Ende auf den als philosophische Wissenschaft vollzogenen Begriff sowie das seiner Tätigkeit gemäße begreifende Erkennen, welches, ganz zuletzt, wieder dasjenige spekulativer Logik ist.34 (2.) In Entsprechung zur großen Mannigfaltigkeit all dieser Bezugsrelata, welche die Ausdrücke »Freiheit« und »frei« in systematisch-geistphilosophischer Verwendung und in ihrem zu dieser Verwendung gehörendem Sinn haben, ist auch der spezifische Charakter hierin zugesprochener Freiheit vielgestaltig. Bereits die sprachlichen Wendungen, in denen der Charakter jeweils angesprochen wird, sind zahlreich. Soweit sie nicht lediglich in Bezeichnung des jeweiligen Relats bestehen, haben sie oft die Gestalt adjektivischer und/oder präpositionaler oder pronominaler Zusatzausdrücke zum Substantiv »Freiheit«. Außer durch adjektivische Zusatzausdrücke können die Spezifizierungen auch pointierend erfolgen, indem eine Äußerung auf dies oder jenes zur betreffenden Freiheit Gehörende konzentriert ist, wie etwa auf den Inhalt dieser Freiheit oder auf etwas Bestimmtes in ihm; ebenso gut kann die Konzentration etwas hervorheben, worin die Freiheit sich befindet oder was mit ihr geschieht (oder prinzipiell nicht geschieht), oder aber geschehen ist, bzw. was von ihr auszusagen, womit sie gleichzusetzen oder sogar zu identifizieren ist.35 Natürlich kann die Hinzufügung auch die sprachliche Form haben, dass der Ausdruck »Freiheit« im genitivus subjectivus dazu gebraucht wird. Zudem aber mag der Ausdruck »Freiheit« – ebenso gut wie im genitivus subjectivus oder als grammatisches Subjekt einer Aussage gebraucht – mit dem partitiv oder qualifizierend oder sogar identifizierend verwendeten »als […]« verbunden werden. An (realisierten) Möglichkeiten der Spezifizierung jeweils in Rede stehender Freiheit ist somit kein Mangel. Wie die wichtigsten der solchermaßen bezeichneten, besonderen Weisen von Freiheit in der Entwicklung des Geistes aufeinander folgen, wurde für den subjektiven Geist bereits oben36 skizziert. In der Abhandlung des objektiven Geistes folgt hierauf zunächst (1) die abstrakt rechtliche Freiheit der einzelnen Person sowie des privaten Eigentums und rechtlichen, oder aber rechtswidrigen Handelns derselben, deren Recht durchaus nicht in Einschränkung von Freiheit besteht, sondern lediglich Begrenzung von Willkür impliziert, im Übrigen aber vor allem Dasein der Freiheit freien, subjektiven Geistes »im Aeußerlichen« ist (Enz §§ 496, 502+A, GW 20, 485, 488). Als Nächstes folgt (2) die »subjective oder moralische Freiheit«, die »vornehmlich« »im europäischen Sinne Freiheit heißt.« (ebd., § 503 A, GW 20, 489) Die Instabilität im Innersten des allein auf die Spitze seiner selbst gestellten Gewissens und dessen unzulängliche Abwehr des Bösen werden jedoch erst überwunden im Sittlichen. Integriert in ihm ist (3) »die subjective Freiheit als der an und für sich allgemeine vernünftige Wille, der in dem Bewußtseyn der einzelnen Subjectivität sein Wissen von sich und die Gesinnung, wie seine Bethätigung und unmittelbare allgemeine Wirklichkeit zugleich als Sitte hat,« sodass darin »die selbstbewußte Freiheit zur Natur geworden« ist,

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Vgl. ebd., §§ 557, 560; 562 f.; 571 f.; 575 f. (GW 20, 543 f., 545, 546 ff., 553 ff. und 569 ff.). Vgl. ebd., §§ 469, 502, 513; 503, 549; 472 A + 480 (GW 20, 466, 487 f., 494 f., 488 f., 524 ff., 469 ff und 475). 36 Siehe Absatz zwei im dritten Hauptteil des Vorliegenden. 35

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was freilich auch zu verstehen gibt, dass es mit dem »Zurückkommen« des Begriffs aus der Natur noch nicht allzu weit her sein kann. Die »frei sich wissende Substanz« dieser »Natur« hingegen ist »die absolute Einheit der Einzelnheit und der Allgemeinheit der Freiheit« (vgl. ebd., §§ 513–515, GW 20, 494 f.). Eigens abgehoben von den prinzipiellen Bestimmungen dieser substantiellen Einheit konkretisiert und stabilisiert sich in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft die abstrakt rechtliche Freiheit durch extreme Besonderung der sittlichen Substanz in viele (kollektive oder vereinzelte) Personen (3 a) zu deren »selbstständiger Freiheit« in einem »durch natürliches Bedürfniß und freie Willkühr vermittelten Systeme«, in welchem das »Princip der zufälligen Besonderheit« als »die für sich feste Bestimmung der Freiheit zunächst das formelle Recht« hat. Das »feste Allgemeine« ist dabei nicht nur »als das Geltende« zum Bewusstsein gebracht, sondern auch in der Form positiv-rechtlicher Gesetze institutionalisiert und in justizieller Rechtspflege am Werk – mit der Bestimmung, »nur die abstracte Seite der Freiheit der Person in der bürgerlichen Gesellschaft zur Nothwendigkeit zu bethätigen.« (vgl. ebd., §§ 529–532, GW 20, 501–505) Doch nicht schon in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern erst im individuellen politischen Staat sprechen (3 b) die »Gesetze […] die Inhalts-Bestimmungen der objektiven Freiheit aus.« Die politische Verfassung ist die »Gliederung der Staatsmacht« und ist (3 c) »die existirende Gerechtigkeit« als (α) »die Wirklichkeit der Freiheit in der Entwicklung aller ihrer vernünftigen Bestimmungen«. Unter denen bringt »die hohe Entwicklung und Ausbildung der modernen Staaten die höchste concrete Ungleichheit der Individuen in der Wirklichkeit hervor«; hingegen wird »durch die tiefere Vernünftigkeit der Gesetze und Befestigung des gesetzlichen Zustandes um so größere und begründetere Freiheit bewirkt«, welche die Ungleichheit »zulassen und vertragen kann«. Dabei kann jedoch (β) die »politische Freiheit […] im Sinne einer förmlichen Theilnahme des Willens und der Geschäftigkeit auch derjenigen Individuen, welche sich sonst zu ihrer Hauptbestimmung die particulären Zwecke und Geschäfte der bürgerlichen Gesellschaft machen, an den öffentlichen Angelegenheiten des Staates […] auf allen Fall nur einen Theil« der Verfassung »ausmachen«. Dass hingegen »die Geschäfte der allgemeinen Interessen des Staats in ihrem nothwendigen Unterschiede auch von einander geschieden organisirt seyen, diese Theilung ist« (γ) »das eine absolute Moment der Tiefe und Wirklichkeit der Freiheit; denn diese hat nur so[weit] Tiefe als sie in ihre Unterschiede entwickelt und zu deren Existenz gelangt ist. […] Aber eben so sehr muß die Theilung, die zur freien Totalität fortgegangene Ausbildung der Momente, in ideelle Einheit, d. i. in Subjectivität zurückgeführt seyn.« (vgl. ebd., §§ 538–542, GW 20, 508–516) Doch nicht nur der an und für sich allgemeine, vernünftige Wille, der seine Betätigung und unmittelbare allgemeine Wirklichkeit zugleich als Sitte hat, ist zur Natur gewordene selbstbewusste Freiheit. Vielmehr ist auch jeder bestimmte, politisch verfasste, wirkliche Volksgeist in der – durch sein je besonderes Prinzip bestimmten – Entwicklung seines Bewusstseins (3 d) »seine Freiheit als Natur«. Mit der besonderen Geschichte aber, die er innerhalb seiner hat, geht er »in die allgemeine Weltgeschichte über, deren Begebenheiten die Dialektik der besonderen Völkergeister […] darstellt.« Die Bewegung, als welche sich diese Dialektik vollzieht, ist dabei »der Weg zur Befreiung der geistigen Substanz, die That, wo-

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durch der absolute Endzweck der Welt sich in ihr vollführt«. Das »allein Bewegende« in dieser Geschichte hingegen ist der allgemeine Geist, der sich darin »auch zum äußerlich allgemeinen, zum Weltgeist, wird«. Dieser bewegende Geist aber wird schlicht bezeichnet als (3 e) »die Freiheit, d. i. die durch seinen Begriff bestimmte Entwicklung«. Seine Bestimmung sei »die wirksame Vernunft, d. i. der sich bestimmende und realisierende Begriff selbst, – die Freiheit« (vgl. ebd., §§ 548, 549+A,3; 552 A,1, GW 20, 523, 528 f., 530 f.). An dieser Stelle der Entwicklung des Geistes überhaupt kommt also dessen (sich vermutlich so manifestierende) Freiheit erstmals zu jener Freiheit tout court zurück, die den einen Begriff als das exemplarisch Freie auszeichnet. Weder Hegels Fortgang vom allgemeinen, im Weltgeist denkenden objektiven zum absoluten Geist noch die anschließende Exposition des Begriffs dieses Geistes kann hier expliziert werden.37 Zusätzlich zum wenigen, das hierzu oben angedeutet wurde, gilt es jedoch zu beachten, dass der Geist als absoluter seinem Begriff nach vor allem Wissen ist – und zwar Wissen seiner selbst sowie in je verschiedenen Vollendungsgestalten, zuletzt aber in einer, die solches Wissen nicht mehr in der Form sinnlicher Anschauung und nicht in Form der Vorstellung oder der Vorstellung verhafteten Denkens hat, sondern das Wissen nur noch in der Form begrifflichen, ja, zum Begriff als solchem befreiten Denkens vollzieht. Die Realität nämlich, welche der Begriff des absoluten Geistes im Sich-selbst-Wissen besitzt, hat von Anfang an »die nothwendige Seite, daß die an sich freie Intelligenz in ihrer Wirklichkeit zu ihrem Begriffe befreit sey, um die dessen würdige Gestalt zu seyn.« (ebd., § 553, GW 20, 542) Dieser Notwendigkeit ist auch in der christlichen, »geoffenbarten Religion« noch nicht voll Rechnung getragen. Erst das von aller Vorstellungsform befreite, »freye Denken, welches seine unendliche Bestimmung zugleich als absoluten, an und fürsichseyenden Inhalt, und ihn als Object hat, in welchem es ebenso frey ist«, vollzieht jene Notwendigkeit in einer ihrem immanenten Zweck adäquaten Gestalt – in derjenigen einer Philosophie, die ihrem Begriff entspricht. Darin ist dann das freie Denken einschließlich seiner subjektiven Seite »selbst nur das Formelle des absoluten Inhalts.« (ebd., § 571 A, GW 20, 554) Der Begriff von sich hingegen, welchen die so konzipierte Philosophie am Schluss ihrer systematischen Entfaltung erfasst, bestimmt sich fort in drei Schlüssen, deren Termini ›das Logische‹, ›die Natur‹ sowie ›der Geist‹ sind, und gelangt damit zur Idee der Philosophie, welche selbst der dritte dieser Schlüsse ist. In ihm – bzw. in ihr – erlangt das Sich-Wissen des absoluten Geistes jene Freiheit, auf welche dessen Begriff von Anfang an ausgerichtet war. Der Schluss ist ein Schluss der Notwendigkeit »in der Idee«. Im ersten dieser drei Schlüsse hatte »die Vermittlung des Begriffs […] die äusserliche Form des Uebergehens, und die Wissenschaft die des Ganges der Notwendigkeit, so daß nur in dem einem Extreme die Freyheit des Begriffs als sein Zusammenschließen mit sich selbst gesetzt ist«, im Logischen nämlich als dem Geistigen bzw. in der ›Logik‹ als letzter Wissenschaft. Der zweite Schluss hingegen war »der Schluß der geistigen Reflexion in der Idee«. In ihm »erscheint«, wie schon zitiert, »die Wissenschaft […] als ein subjectives Erkennen, 37 Auskunft dazu gibt mein Aufsatz: Hegels Begriff des absoluten Geistes. In: Hegel-Studien 36 (2003), S. 167–198.

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dessen Zweck die Freyheit und es selbst der Weg ist, sich dieselbe hervorzubringen.« Im dritten Schluss hingegen bestimmt das »Sich-Urtheilen der Idee in die beyden Erscheinungen«, welche die beiden vorhergehenden Schlüsse ausmachen, diese Erscheinungen »als ihre (der sich wissenden Vernunft) Manifestationen« (Enz §§ 574–577, GW 20, 569 ff.).38 Das Generalthema ›Freiheit‹ hält uns also durch die gesamte systematische Philosophie des Geistes hindurch in Atem. Gerade in deren Abschluss kommt es noch einmal – wenn nicht sogar nun erst voll – zum Tragen. (3.) Was, zu guter Letzt, haben all die vielen Weisen von Freiheit, frei sein oder Befreiung, die dabei zur Sprache kommen, mit Sich-manifestieren zu tun, und zwar so, dass sie sich in ein den ganzen Geist umfassendes Manifestieren jener Freiheit einfügen, die das Wesen des Geistes ist? – Aufs Ende der systematischen Entwicklung des Geistes bezogen ist das nun leicht zu sehen: Der letzte Satz des letzten Paragraphen der Enzyklopädie sagt selbst das hierzu Entscheidende von den beiden Erscheinungen, mit welchen sich der spekulative Begriff der Philosophie zu deren Idee entwickelt und zu welchen einerseits die Freiheit des Begriffs (als dessen Zusammenschließen mit sich selbst), andererseits aber die Freiheit als Zweck und Hervorbringung subjektiven philosophischen Erkennens gehören: dass das »Sich-Urtheilen der Idee« in die beiden Erscheinungen eben diese Erscheinungen – aber mit ihnen auch die beiden Weisen von Freiheit – »als ihre […] Manifestationen« bestimme, d. h. als Manifestationen der Idee der Philosophie. Zweifellos nämlich müssen die Erscheinungen und was zu ihnen gehört, um als solche Manifestationen bestimmt werden zu können, sich auch schon irgendwie manifestiert haben, und das nicht zuletzt auf Seiten dessen, wovon die damit zu ihrem systematischen Ende gelangende Philosophie in ihrem ganzen vorhergegangenen Verlauf handelte. Auf jeden Fall aber müssen sich jene Weisen von Freiheit manifestiert haben als Freiheit sowohl im einen wie auch im anderen Sinn. Das aktiv Bestimmende ist dabei nach Auskunft des Paragraphen freilich in letzter Instanz die Idee der Philosophie als Subjekt-Objekt zu deren Begriff. Aber sie enthält als solches ja nicht nur deren subjektives Wissen bzw. das subjektive Wissen, welches der absolute Geist freilich auch ist; sondern in Adäquation hiermit gerade auch das darin als Manifestation Gewusste, d. h. den ganzen objektiven Inhalt, von welchem längst die Rede war.39 Dem besagten Bestimmen als Manifestationen musste also ein Sich-manifestieren (von was auch immer) vorausgehen; und zu demjenigen, wovon als sich manifestierend Gewusstem schon die Rede war, gehörte auch Freiheit mindestens in den beiden angesprochenen Weisen, höchstwahrscheinlich aber nicht nur in ihnen. Deren Manifestiert-werden und 38 Näheres zum dritten Schluss in meiner Abhandlung: Der letzte Paragraph der Hegelschen ›Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften‹. In: Hegels enzyklopädisches System der Philosophie. Von der ›Wissenschaft der Logik‹ zur Philosophie des absoluten Geistes. Hg. v. H.-Chr. Lucas, B. Tuschling und U. Vogel. Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, S. 481–506; zu allen drei Schlüssen: Nuzzo, Angelica: Hegels Auffassung der Philosophie als System und die drei Schlüsse der ›Enzyklopädie‹. In: Hegels enzyklopädisches System der Philosophie, S. 459–480. 39 So wurde beispielsweise bereits am Ende der Philosophie des objektiven Geistes, unmittelbar vor der Exposition des Begriffs des absoluten Geistes, gesagt, dieser Geist manifestiere sich zuerst in der Religion (vgl. Enz § 552 A, 8, GW 20, 538). Von der geoffenbarten Religion hingegen heißt es sogar, ihr offenbarendes Wissen sei »schlechthin Manifestieren« (ebd., § 564, GW 20, 549 f.).

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dabei Sich-manifestieren im absoluten Geist sollte also nicht mehr fraglich sein, wenngleich es in den beiden zuletzt angesprochenen Weisen erst nun, am Ende der ganzen Systemphilosophie, als ein solches bestimmt wird. Soweit die Manifestation derjenigen Weisen von Freiheit, welche für den absoluten Geist spezifisch sind. Doch wie verhält es sich mit den Weisen von Freiheit, welche zuvor, d. h. in der Darstellung des objektiven und subjektiven Geistes, zur Sprache gekommen sind? Beim Versuch, diese Frage direkt aus dem Hegelschen Enzyklopädie-Text zu beantworten, kann man sich eine Enttäuschung nicht ersparen: In Bezug hierauf und auch im engeren Kontext der Abhandlung jener Freiheitsweisen redete die Enzyklopädie kaum einmal von manifestieren, Manifestation oder sich manifestieren.40 Man sollte das nicht für bloßen Zufall halten oder auf Nachlässigkeit des Autors bzw. ausschließlich auf den Grundriss-Charakter der Enzyklopädie zurückführen. Viel wahrscheinlicher ist, dass der Autor sich hiermit, seinem Vorbegriff von Philosophie folgend, strikt an den bloßen Begriff der Philosophie hält, ohne dessen Entwicklung – zuletzt zur Idee der Philosophie und in ihr – vorwegzunehmen.41 Doch es genügt schon eine – gewiss zur Erscheinung der philosophischen Wissenschaft als subjektives Erkennen gehörende – Reflexion auf die logischen Bestimmungen der Wirklichkeit, um einzusehen, dass jedenfalls diejenigen Weisen von Freiheit, welche in der Darstellung längst aufgetreten und Weisen wirklicher Freiheit sind,42 ebenfalls sich manifestierende sein müssen, weil es zu allem 40 In Hegels enzyklopädischer Darstellung der Philosophie des endlichen Geistes ist ein prominentes Vorkommnis des Verbs »manifestieren« Bestandteil einer Anspielung auf ein Gleichnis Spinozas, mittels dessen Hegel die Rede vom Ich eines Bewusstseins erläutert (vgl. Enz § 413, GW 20, 421 f. und Spinoza: Ethica, II, prop. XLIII, scholium), worin aber das Verb »manifestieren« genau genommen nicht auf Bewusstsein, sondern auf das zum Vergleich herangezogene Licht bezogen wird. Vom Ausdruck »Manifestation« hingegen macht die Enzyklopädie in zweimaliger, nicht bildlicher Verwendung – und wie schon zu Beginn der ganzen Philosophie des Geistes auf dessen Entwicklung bezogen – Gebrauch zu Beginn der Lehre vom subjektiven Geist als Thema philosophischer Psychologie: Das Fortschreiten dieses Geistes sei Entwicklung, insofern dessen Wissen »rein nur der formelle Uebergang in die Manifestation und darin Rückkehr in sich« sei. Die Endlichkeit dieses Geistes aber bestehe darin, dass seine Vernunft »sich nicht zur vollen Manifestation im Wissen gebracht hat« (vgl. Enz §§ 442, 441, GW 20, 435 f.). Auch das ist wahrlich noch kein ausreichender Beleg dafür, dass die vielen Freiheitsweisen im endlichen Geist für Hegel allemal Weisen sich manifestierender Freiheit sind. 41 Es könnte jedoch auch eine verhängnisvolle Spätfolge des etwas irritierenden Umstandes vorliegen, dass Hegels Logik des Wesens in Bezug auf Wirklichkeit und auf mancherlei Wirkliches innerhalb dieser subtil differenzierten, logischen Sphäre die Ausdrücke »manifestieren« und »Manifestation« zwar häufig gebrauchte; dass er bei ihrem Gebrauch auch durchaus zwischen verschiedenem Manifestierten und Manifestierenden – sowie zwischen reflexivem und nicht oder nicht ausdrücklich reflexivem Manifestieren – deutlich unterschied, dabei aber nie expressis verbis differenzierte zwischen Weisen zu manifestieren, die sich im Manifestieren selbst voneinander unterscheiden. Schon die oben vorgenommene Differenzierung zwischen Manifestieren überhaupt und offenbarendem versus (noch) nicht offenbarendem, sondern, z. B., täuschendem Manifestieren, beruhte bereits auf Interpretation. In der Lehre vom Geist hingegen ist dessen Bestimmtheit von vorne herein aufs offenbarende Manifestieren ausgerichtet (vgl. ebd., § 383, GW 20, 382). Auch das könnte Grund dafür sein, dass innerhalb der Stadien der Entwicklung des endlichen Geistes beide Male der Ausdruck »Manifestation« erst auf die Endphase des jeweiligen Stadiums bezogen gebraucht wird. 42 Nämlich alle in der Sphäre der Sittlichkeit ausgemachten, also die oben unter (2.) registrierten und als (3 a) bis (3 e) nummerierten Freiheitsweisen.

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Wirklichen, also auch zu allen Weisen wirklicher Freiheit, gehört, sich zu manifestieren. In Anbetracht der ausdrücklich so bezeichneten wirklichen Freiheit im Sittlichen dürfte das für alle Freiheitsweisen des sittlichen objektiven Geistes gelten, zumal wir es hier, im Staat, mit Verwirklichung der Freiheit und mit dann entwickelter Freiheit zu tun haben, die auch in subjektive Freiheit zurückgeführt ist.43 Besonders eindringlich aber und in besonders großer Nähe zu offenbarendem Manifestieren dürfte das Gesagte gelten für die Weise, in welcher der allgemeine, die Weltgeschichte bewegende und in ihr denkende Geist seine Freiheit ist: als die wirksame Vernunft nämlich, ja sogar als der sich bestimmende und realisierende Begriff selbst. Vielleicht darf man des Weiteren sagen: Die der Sittlichkeit vorausgehenden Weisen abstrakt rechtlicher und moralischer Freiheit, denen für sich genommen nicht ausdrücklich Wirklichkeit zugesprochen wird, sind auch – und werden im Gang der Darstellung erkannt als – integrale Momente im Sittlichen; sie werden also im sittlichen objektiven Geist wenigstens mit-manifestiert. Nicht weniger mit-manifestiert, wenn auch wohl noch vermittelter, sind im Sittlichen die Freiheitsweisen des subjektiven Geistes, unter ihnen aber insbesondere diejenige des freien Geistes. Für dessen Sich-mit-Manifestieren spricht dabei zusätzlich, dass zuletzt, wie gesagt, an der Idee der Philosophie – sofern sie Erscheinungen, welche deren Begriff noch anhaften, als ihre Manifestationen bestimmt – das Kennzeichen ›sich wissende Vernunft‹ herausgehoben wird. Denn sich wissende Vernunft zu sein, das zeichnet schon den freien Geist als solchen aus, der ja bereits »an sich die Idee« ist, wenngleich er, so ausgezeichnet, auch noch ein endlicher und bloß in Beziehung auf sich selbst befindlicher ist, dessen Vernunft es »nicht zur vollen Manifestation im Wissen gebracht hat« (Enz § 441, GW 20, 436). Allerdings ist er auch »wirklich freier Wille« und als solcher vermutlich nicht nur mit-manifestiert im Sittlichen. Was es damit auf sich hat, muss hier auf sich beruhen bleiben.44 Gleichwohl lässt sich nun das Ganze der zahlreichen Besonderungen von Freiheit im subjektiven, objektiven und absoluten Geist, wie er sich in Hegels Enzyklopädie darstellt, so deutlich überblicken, dass man entdecken kann, was deren Manifestationen 43

Vgl. Enz §§ 541 A, 542 A, GW 20, 514 ff. Einen Sonderfall unter den Freiheitsweisen des subjektiven Geistes stellt ferner die wirkliche Seele mit der freien Gestalt ihrer unmittelbar-leiblichen Äußerungen dar. Als vom Freien eines Wirklichen, also auch von wirklich Freiem müsste schon von solcher leiblichen Gestalt der wirklichen Seele eine Freiheitsweise behauptet werden dürfen, die sich direkt manifestiert, nicht aber nur mit komplexerem als deren Moment mit-manifestiert, und das zudem von einer Reflexion aus, welche vielleicht sogar unabhängig ist vom obigen Ausgangspunkt der Aufdeckung mannigfaltiger Manifestationen endlichgeistiger Freiheitsweisen: dem Erscheinen subjektiven Erkennens im sich zur Idee entwickelnden Begriff der Philosophie. Um über diesen schwierigen Punkt mehr Klarheit zu gewinnen, als es Hegels Enzyklopädie in einer der uns vorliegenden Fassungen erlaubt, bedürfte es wohl der Einsicht, dass das – anthropologische – Frei-sein der leiblichen Gestalt einer wirklichen Seele deutlicher, als es bei Hegel der Fall ist, in die – zur Psychologie gehörende – Lehre von der als freier Geist freien Intelligenz so hätte integriert werden müssen, dass deren Einheit von theoretischer und praktischer Intelligenz durch ein drittes, genuin ästhetisches Moment vervollständigt worden und infolge davon auch Hegels Begriff des objektiven Geistes noch über die Sphäre des Rechts (im weitesten Sinn) hinaus zu erweitern gewesen wäre. Angeregt von Ulrich Pothast und in Auseinandersetzung mit seinem Konzept lebendiger Vernünftigkeit habe ich Überlegungen angestellt, die dahin zielen (Vgl. Fn. 5 dieses Aufsatzes). 44

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in ihrer Abfolge mit der Manifestation jener Freiheit zu tun haben, welche das Wesen des Geistes überhaupt ist. Die Besonderungen werden so präsentiert, dass sie in ihrer Abfolge alle zusammen eine Reihe bilden, welche die Entwicklung des ganzen Geistes bestimmt und dabei ausgerichtet ist auf Freiheit als Zweck jenes Erkennens, das samt seiner Ausführung in der Entwicklung des Begriffs der Philosophie als subjektives Erkennen erscheint, dann aber in der Idee der Philosophie und von dieser Idee als ihre Manifestation bestimmt wird. Zumindest das Manifestieren, welches hiermit angesprochen ist, hat als Prozess offenbarend manifestierenden Charakter und ist befreiend sowie ein Sich-Manifestieren der Freiheit; insbesondere aber führt es aus der Erscheinung bloß subjektiven Erkennens zum Begriff als solchem zurück. Da zuvor schon in der ganzen Reihe zahlreiche Weisen von Freiheit aufgetreten sind und sich als manifestierend oder wenigstens mit-manifestierend in die Entwicklung des Geistes eingefügt haben, ist daher wohl auch zuzugestehen, dass sie allesamt beitrugen zu einem offenbarenden Manifestieren und Zurückführen des Geistes in den Begriff als solchen und zuletzt sogar in den Begriff als rein logischen; Letzteres aber selbst dann, wenn in einigen von ihnen die Freiheit oder ihr Wissen noch nicht zu voller Manifestation gelangt war. Näher besehen geschieht das manifestierende »Zurückführen« so, dass es in jedem der drei Stadien der Entwicklung des Geistes an ein für dieses Stadium spezifisches und nur ihm mögliches Ende gelangt, von welchem aus zunächst kein Schritt weiterer Manifestation stattfindet, sondern nur ein Schritt des Fortgangs spekulativ begreifender Erkenntnis, der allein aufgrund des begrifflich Logischen im Geistigen erfolgt und zum neuen Stadium bzw. Abschluss des letzten Stadiums der Systemphilosophie führt sowie nach Abschluss dieser in andere philosophische Aktivität als die systemphilosophische gelangen lässt. Eine der wichtigsten Pointen des Fortgangs in der Entwicklung des Geistes und ihrer systemphilosophischen Erkenntnis besteht gerade aus dieser – in verschiedenen Fortgangsschritten je spezifischen – Verbindung wesenslogischer Bestimmungen wie ›Manifestation‹ und begriffslogischer wie ›Begreifen‹.45 Die Pointe zugestanden gilt auch, dass alle in die Reihe gehörenden Manifestationen sich zusammenfügen zum umfassenden Sich-Manifestieren jener Freiheit, welche das Wesen des Geistes ist. Alle Manifestationen in toto geben eine für den ganzen Geist in seiner Entwicklung spezifische Dynamik zu erkennen und bestätigen so die zu Beginn der Lehre vom Geist nur antizipatorische Behauptung über dessen Entwicklung und ihre Stadien. Zugleich bekräftigen sie damit auch die anfangs unvollkommen begründete Behauptung, die Bestimmtheit des Geistes sei die Manifestation, in welcher der Geist nicht etwas offenbart, sondern Bestimmtheit und Inhalt dieses Offenbaren selbst ist. Der Erfolg dieser Bekräftigung nämlich hängt davon ab, ob die Reihe der zahlreichen Manifestationen in den Begriff als solchen und in seine rein logische Bestimmtheit sowie Dynamik zurück gelangt. Erst hierin nämlich kann das Zurückkommen des Geistes aus der Natur seinen Abschluss finden. In diesem Abschluss können nun die vielen Weisen je spe45

Eine genaue Untersuchung dieser Verbindung müsste auch den subtilen Bedeutungszusammenhängen zwischen den semantischen Wurzeln der Ausdrücke »manifest«, »manifestieren«, »Manifestation« und »Hand«, »handeln«, »Handlung« sowie »begreifen« bzw. »Begriff« nachgehen.

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zifischer Freiheit mit ihrem Manifestieren selbst noch die übrigen zunächst nur antizipatorisch gewesenen Behauptungen über Freiheit als sich offenbarend manifestierendes Wesen des Geistes bestätigt werden. Denn keine bloße Behauptung, sondern spekulativ begreifende Erkenntnis war bereits die zu Beginn der enzyklopädischen Philosophie des Geistes getroffene Feststellung, der Geist habe sich »als die zu ihrem Fürsichsein gelangte Idee ergeben« und diese sei ihre Identität »zugleich nur als Zurückkommen aus der Natur«. Indem sich dieses Zurückkommen nun vollendet, erfolgt die Bestätigung und wird schließlich das Ende der Hegelschen Systemphilosophie des Geistes mit deren Anfang zusammengeschlossen. Soviel zu den Manifestationen der Freiheit des Geistes in dessen Entwicklung. Wie aber steht es dann mit dem Sich-Manifestieren des einen, logischen Begriffs als des Freien? Nach den obigen Ausführungen muss man zweifellos einräumen, dass von einem solchen Manifestieren nur am Ende der ganzen systematischen Geistphilosophie die Rede sein kann. Da aber gerade an diesem Ende das Logische als das Geistige zum Thema wird und dabei die Wissenschaft der Logik mit ihrem Inhalt als diesem Logischen auch die Stellung der letzten philosophischen Wissenschaft erhält, in welcher der Geist definitiv aus der Natur zu sich selbst zurückkommt, muss man wohl auch sagen: Am äußersten Ende dieses Endes, nämlich in der Idee der Philosophie, bestimmt und manifestiert sich der eine, rein logische Begriff, der das exemplarisch Freie ist, als das Freie »par excellence«, indem er die Freiheit dieses Freien manifestiert. Und er schließt dabei – in der Mitte des Schlusses, welcher die Idee der Philosophie ist – sogar sich als der eine Begriff der Logik qua letzter Wissenschaft mit sich als dem exemplarisch Freien der Logik qua erster Wissenschaft zusammen. Die Freiheit dieses Freien ist also nicht mehr nur, wie bei Schelling und Fichte, das A und O der Systemphilosophie. Sie ist auch die Mitte, die das Ganze dieser Philosophie vereinigt.

A NFANG

UND

M ETHODE

DER

L OGIK

Der Anfang vor dem Anfang Zum Verhältnis der Logik zur Phänomenologie des Geistes Rolf-Peter Horstmann

Der Titel meines Vortrags lautet ›Der Anfang vor dem Anfang. Zum Verhältnis der Logik zur Phänomenologie des Geistes‹. Die Formel vom Anfang vor dem Anfang ist nicht von mir, sondern sie ist von den Veranstaltern vorgegeben worden. Auf den ersten Blick wirkt diese Formel irritierend oder manifest sinnlos. Was soll es heißen, vor dem Anfang anzufangen? Wie soll man das ›vor‹ in der Formel verstehen? Räumlich, wie etwa in ›der Eingang vor dem Eingang‹? Klingt nicht sehr vielversprechend, wenn es um Sinn geht. Zeitlich, wie etwa in ›das Sterben vor dem Sterben‹? Klingt auch nicht gerade sehr sinnträchtig. Vielleicht logisch in dem Sinn, in dem man sagt, dass die Prämissen vor der Konklusion stehen? Auch diese Lesart klingt eigenartig. Und überhaupt: macht es semantisch Sinn, einen Anfang vor ihm selbst anfangen zu lassen? Auch damit kann man Schwierigkeiten haben. Alles dies verwirrt. Und dennoch: wenn man ein wenig darüber nachdenkt, merkt man, dass den Veranstaltern ein Kompliment gebührt. Dies deshalb, weil die Formel vom Anfang vor dem Anfang in beneidenswerter Undeutlichkeit tatsächlich alles das ausdrückt, was das Verhältnis von Logik zu Phänomenologie zu einem so undurchsichtigen Problem hat werden lassen. Sie macht nämlich darauf aufmerksam, dass man, wenn es um dieses Verhältnis geht, zwei verschiedene Perspektiven einnehmen kann, in deren jeder die Rede vom Anfang eine doppelte Rolle spielt. Man kann auf dieses Verhältnis aus der Perspektive der Logik sehen, man kann es aber auch aus der der Phänomenologie betrachten. In beiden Fällen bleibt die Rede vom Anfang vor dem Anfang zwar perplex, sie gibt aber zu zwei vollständig verschiedenen Arten der Perplexität Anlass. Thematisiert man die Frage nach dem Verhältnis zwischen Logik und Phänomenologie von der Phänomenologie aus, so wird man sich darüber wundern, wieso denn der anfängliche, erste Teil eines Systems der Wissenschaft – und als ein solcher wird die Phänomenologie auf dem Titelblatt angezeigt – zugleich nicht der Anfang der Wissenschaft, also dessen, was später Wissenschaft der Logik heißt, sein soll. Geht man die Frage nach diesem Verhältnis von der Logik aus an, wird man sich darüber verwundern, wie denn die voraussetzungsfreie Exposition dessen, was Hegel den ›Begriff selbst der Wissenschaft überhaupt‹ (GW 11, 15), also Logik, nennt, mit der ›der Anfang der Wissenschaft gemacht werden‹ (GW 11, 33) muss, sich mit einer vorgängigen Disziplin, Phänomenologie genannt, verträgt, der die ›Deduktion‹ des Begriffs der Wissenschaft (GW 11, 20) als Leistung zugeschrieben wird. Gegeben diese Situation wird man gut daran tun, der Frage nach dem Verhältnis von Logik zu Phänomenologie eine doppelte Aufhellungsbemühung zu widmen: man wird

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sich nämlich fragen müssen, (1) wie sieht dieses Verhältnis vom Standpunkt der Phänomenologie aus gesehen aus und (2) wie sieht es vom Standpunkt der Logik aus gesehen aus. Ich werde im Folgenden beiden Fragen nachgehen – natürlich in der gebotenen Oberflächlichkeit und unter der Voraussetzung, dass sowohl die Grundzüge der Hegelschen Systementwicklung als auch die Architektonik des Hegelschen Systems bekannt sind. Ausdrücklich möchte ich auch darauf aufmerksam machen, dass ich den genannten Fragen als Fragen der Hegel-Forschung nachgehe, deren Beantwortung nicht unbedingt irgendeinen zeitgenössischen philosophischen Diskurs bereichern muss.

I. Phänomenologie und Logik Ich beginne mit der Diskussion des Verhältnisses von Phänomenologie und Logik vom Standpunkt der Phänomenologie aus gesehen. Zunächst gilt es daher zu sagen, was der Standpunkt der Phänomenologie ist. Doch schon hier beginnen Schwierigkeiten, die sowohl historischer als auch systematischer Art sind. Wie spätestens seit dem Buch von E. Förster über Die 25 Jahre der Philosophie1 wieder zum Bewusstsein gekommen ist,2 hat die äußerst merkwürdige Entstehungsgeschichte dessen, was uns als Phänomenologie des Geistes vorliegt, einen gewissen Einfluss darauf, was man als den von ihr eingenommenen Standpunkt, und das soll hier heißen: was man als die ihr von Hegel zugemutete philosophische Leistung anzusehen hat. Auf die Einzelheiten dieser Geschichte kann hier nicht eingegangen werden. Folgende Hinweise müssen genügen: Bekanntlich muss man die uns vorliegende Phänomenologie als ein hybrides Produkt ansehen, das das Ergebnis der Revision und Weiterentwicklung eines Projekts ist, welches die Etablierung eines neuen Begriffs der Wissenschaft zum Gegenstand hat. Dieses Projekt hat Hegel bereits seit dem Beginn seiner Jenaer Zeit beschäftigt. Der Sache nach ist es motiviert durch zwei Überzeugungen. Die erste geht dahin, dass eine von der gesamten abendländischen Tradition signifikant unterschiedene Auffassung von dem, was Denken ist, und wie es sich zum Sein verhält, nötig ist, wenn man ein adäquates Verständnis der Wirklichkeit erreichen will. Kriterien für Adäquatheit sind u. a. Vermeidung einer pluralistischen Ontologie und Akzeptanz der Lehre von dem sich realisierenden Begriff. Die zweite Überzeugung besagt, dass diese nicht-traditionelle Auffassung von Denken keineswegs in unseren alltäglichen Weltinterpretationen einen Rückhalt findet, sondern dem keineswegs abschätzig bewerteten sogenannten ›gemeinen Menschenver1 Förster, Eckart: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion. Frankfurt 2011. 2 Bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war das Schicksal der Phänomenologie ein allgemein beliebter Diskussionsgegenstand. Vgl. z. B. Haering, Theodor Lorenz: Hegel. Sein Wollen und sein Werk. Eine chronologische Entwicklungsgeschichte der Gedanken und der Sprache Hegels. 2 Bde. Leipzig, Berlin 1929–1938; Fulda, Hans Friedrich: Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik. Frankfurt 1965 und Pöggeler, Otto: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Freiburg 1973 sowie Trede, Johann Heinrich: Phänomenologie und Logik. Zu den Grundlagen einer Diskussion. In: Hegel-Studien 10 (1975), S. 173–209.

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stand‹, der später in der Zeit der Phänomenologie dann auch terminologisch als ›natürliches‹ (manchmal auch ›gebildetes‹) ›Bewusstsein‹ auftritt, äußerst fremd, unverständlich und abwegig erscheint. Diese Auffassung muss deshalb erst einmal einem solchen Verstand bzw. Bewusstsein in einer Weise nahe gebracht werden, die jeden Zweifel an ihrer Korrektheit im Keim erstickt. Beide Überzeugungen zusammengenommen haben Hegel während der gesamten Jenaer Zeit veranlasst, nach Wegen zu suchen, wie sich die Notwendigkeit und damit die Alternativlosigkeit des neuen Denkens für einen normal gebildeten Zeitgenossen zwingend erweisen lässt. Verschiedene dieser Versuche sind mehr oder weniger (meistens weniger) schlecht dokumentiert. Sie alle lassen sich zu dem Projekt einer Einleitung in die Wissenschaft zusammenfassen, deren kathartisches bzw. therapeutisches Ziel es ist, das normale (natürliche, gebildete, gesunde) Bewusstseinssubjekt auf den Standpunkt der Wissenschaft, also des ›richtigen‹ (neuen) Denkens zu führen. Einen dieser Versuche einer Einleitung stellt nun die Phänomenologie des Geistes dar, die selbst als Nachfolger einer in sie integrierten Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins angesehen werden muss. Bis zu diesem Punkt lässt sich alles einigermaßen ordentlich rekonstruieren. Von hier an wird die Sache allerdings kompliziert. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass relativ unklar ist, was man denn nun als die Wissenschaft anzusehen hat, in die die Einleitung – ob als Phänomenologie oder als Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins genommen – einleiten soll. Ist diese Wissenschaft das, was einige Jahre später als die Wissenschaft der Logik erscheinen wird? Ist sie das, was auf dem Titelblatt der Phänomenologie als System der Wissenschaft bezeichnet wird? Oder ist es eher ein bestimmter Begriff von Wissenschaft, der auf der neuen Auffassung von Denken basiert und sich als System realisiert, der durch eine Einleitung seine ›Rechtfertigung‹ (GW 11, 20) erhalten haben soll? Doch ist die Unklarheit bezüglich dessen, worin eingeleitet werden soll, nicht der einzige Komplikationsfaktor, wenn es um die Rolle der Phänomenologie als Einleitung geht. Noch komplizierter wird die Angelegenheit dadurch, dass nicht einmal klar ist, ob die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins, die man auf Grund der Entstehungsgeschichte der Phänomenologie als deren erste Hälfte oder als RumpfPhänomenologie verstehen muss,3 und die dann veröffentlichte Phänomenologie dasselbe Einleitungsziel haben. Daher wird man bei der Frage nach dem Einleitungsziel die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins und die gedruckte Phänomenologie des Geistes getrennt betrachten müssen. Was die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins betrifft, so legt die Druckgeschichte der Phänomenologie des Geistes nahe, sie als die erste Hälfte eines Buches zu betrachten, dessen zweite Hälfte – einer ziemlich ungesicherten Interpretation zufolge – eine Logik enthalten sollte.4 Diese erste Hälfte hat wohl mit dem Abschluss des Ver3 Zu den Einzelheiten der Entstehungsgeschichte vgl. Förster: Die 25 Jahre der Philosophie, S. 345 ff. 4 Festzuhalten ist, dass sich keine expliziten Hinweise – weder in Briefen oder anderen Verlautbarungen Hegels, noch in den Berichten von Gabler, Rosenkranz und Karl Hegel – darauf finden lassen, dass der bis Ostern 1806 nicht an den Verleger abgelieferte zweite Teil des im Entstehen begriffenen Buches irgendetwas thematisieren sollte, was mit einer Logik (in welchem Sinne auch immer) zu tun

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nunft-Kapitels geendet, genauer – wenn man einer ebenso originellen wie gewagten Deutung von Förster folgt5 – mit einer Version des Vernunft-Kapitels, das als letzten Abschnitt ein ›C. Die Wissenschaft‹ genanntes Unterkapitel enthalten hat, ein Kapitel, über das wir eigentlich wenig bzw. kaum etwas wissen. Aus Gründen, über die immer noch zu recht viel spekuliert wird, hat Hegel nach dem bereits vollzogenen Druck dieser ersten Hälfte (Ostern 1806) sehr zum Ärger des Verlegers seine Pläne geändert: statt das dem Verleger (nach Meinung mancher) vertraglich zugesicherte Manuskript einer Logik als zweiter Hälfte des Buches zu liefern, mutiert die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins innerhalb von sechs Monaten durch Selbstverdopplung zur Phänomenologie des Geistes. Was diese Mutation veranlasst hat, ist, wie gesagt, umstritten. In der Regel werden der Phänomenologie immanente Motive angeführt, die etwas mit ihrem methodischen Zuschnitt oder mit vermeintlichen Defiziten ihrer systematischen Leistung zu tun haben. Doch andere Gründe sind auch erwägenswert. Zu ihnen gehören vor allem solche, die mit der anscheinend vorgesehenen Logik zusammenhängen. Was wissen wir von ihr? Was können wir über sie vermuten? Hier beginnt die Sache erstaunlich unklar zu werden. Eines nur ist sicher: es kann sich nicht um die Wissenschaft der Logik gehandelt haben. Denn diese beginnt erst fünf Jahre später, das Licht der Welt zu erblicken. Wenn also die Phänomenologie in ihrer Rumpfgestalt als Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins tatsächlich in eine Logik einführen sollte, so muss man erst einmal einen Kandidaten für diese Logik finden. Nun ist es durchaus so, dass Hegel zur Zeit der Abfassung der Phänomenologie über eine Logik verfügt, besser: über etwas verfügt, was er in der Zeit vor der Phänomenologie ›Logik‹ genannt hat. Doch bekanntlich war diese Logik selbst als eine Einleitung, nämlich in die sogenannte ›Metaphysik‹, konzipiert. Hat es Sinn anzunehmen, dass die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins, also die Rumpf-Phänomenologie, als eine Einleitung in eine Einleitung konzipiert war? Nicht wirklich. Daher gibt man die Ansicht, die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins/Rumpf-Phänomenologie solle in eine Logik genannte Disziplin einführen, besser erst einmal auf, wenn man unter dieser Logik die in die Metaphysik einleitende Disziplin versteht. Dass dies auch dann ratsam ist, wenn man unter ›Logik‹ etwas anderes (z. B. wie in der Vorrede), die »spekulative Philosophie« (GW 9, 30) versteht, wird auch durch die folgenden drei Beobachtungen nahe gelegt: (1) Im gesamten Text sowohl der Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins als auch der Phänomenologie wird eine Logik im Sinne einer zum Hegelschen philosophischen Unternehmen zentral gehörenden Disziplin, im Sinne also von »der Wissenschaft«, kein einziges Mal erwähnt. Es wäre schon extrem merkwürdig, wenn Hegel irgendeine besondere Beziehung zwischen der Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins und einer Logik hätte lehren wollen, dass er diese Logik nicht mit einem Wort erwähnt. (2) Zur Zeit der Abfassung der Phänomenologie, also schwerpunktmäßig 1806, kündigt Hegel zwei Vorlesungen an, in dehat. Es ist eher aus Mangel an Alternativen, dass man es vorerst ruhig bei dieser Vermutung belassen kann. Was sollte auch sonst in dem zweiten Teil gestanden haben? 5 Förster: Die 25 Jahre der Philosophie, S. 348 ff.

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nen von einer Logik die Rede ist. Da ist zunächst die Vorlesungsankündigung für das SS 1806. Sie lautet: »Philosophiam speculativam s. logicam ex libro suo: System der Wissenschaft, proxime prodituro«. Diese Vorlesung – sie ist wahrscheinlich mit der von Rosenkranz und Gabler bezeugten Vorlesung zu identifizieren, in der Hegel zum ersten Mal eine Phänomenologie vorgetragen hat – hat anscheinend gegen Ende Mai begonnen.6 Diese Ankündigung birgt ihre eigenen Rätsel, die etwas mit der Charakterisierung der Logik als spekulativer Philosophie zu tun haben. Sie gibt aber keinen Anlass anzunehmen, dass dieser Logik irgend-etwas als Einleitung oder Hinführung vorausgegangen sein muss. Es ist vielmehr sogar offen, ob das hier als »demnächst erscheinend« angekündigte »System der Wissenschaft« tatsächlich von einer Phänomenologie-ähnlichen Abhandlung begleitet worden ist. Im Umkehrschluss gilt natürlich, dass man dieser Ankündigung auch nicht entnehmen kann, dass so etwas wie eine Phänomenologie in die dort erwähnte Logik einführen oder zu ihr hinführen sollte. Die zweite Vorlesungsankündigung ist die vom WS 1806/07. Hier der Wortlaut: »Logicam et Metaphysicam s. philosophiam speculativam, praemissa Phenomenologia mentis ex libri sui: System der Wissenschaft, proxime proditura parte prima«. Auch diese Ankündigung ist äußerst eigenartig, vor allem wenn man bedenkt, dass ihre deutsche Fassung (»Spekulative Philosophie oder Logik und Metaphysik mit vorangegangener Phänomenologie des Geistes Herr Prof. Hegel nach seinem Lehrbuch«) im Intelligenzblatt der Jenaer Allgemeinen Literatur Zeitung am 20.9.1806 erschien,7 zu einem Zeitpunkt also, von dem wir gemeinhin nicht nur annehmen, dass Hegel die Unterscheidung zwischen Logik und Metaphysik schon längst aufgegeben hat, sondern zu dem er auch schon weit in der Umgestaltung der Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins zur Phänomenologie fortgeschritten sein muss. Wie dem auch sei – auch diese Ankündigung kann nicht als Indiz dafür gewertet werden, dass die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins bzw. die Phänomenologie zu einer Logik hin- bzw. in sie einführen sollte. (3) Die dritte Beobachtung, die hier von Bedeutung ist, betrifft das, was Hegel in der Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins tatsächlich über ihren Status sagt. Hier ist man endlich einmal auf gesichertem Pflaster, weil man sich auf das, was in der ausgeführten Phänomenologie ›Einleitung‹ heißt, beziehen kann, also auf das, was bereits gedruckt gewesen ist, ehe aus der Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins die Phänomenologie des Geistes wurde. Hegel ist in diesen einleitenden Passagen hinreichend deutlich: Die vorgelegte Darstellung kann, so Hegel in Absatz 5 der Einleitung, als der Weg des natürlichen Bewusstseins zum wahren Wissen genommen werden. Es gehe, so Hegel in Absatz 6, »um die ausführliche Geschichte der Bildung des Bewusstseins selbst zur Wissenschaft«. Und in Absatz 16 findet sich bekanntlich die Formulierung, die die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins als den »Weg zur Wissenschaft« vorstellt. Ob diese hier in der ›Einleitung‹ erwähnte Wissenschaft eine Logik ist, bleibt vollständig offen. Diese drei Beobachtungen zusammen mit dem Umstand, dass offenbar kein 6

Vgl. den Brief Hegels an Niethammer vom 17.5.1806. In: Briefe von und an Hegel. Hg. v. Johannes Hoffmeister. Bd. 1. Hamburg 1952, S. 108. 7 Vgl. ebd., S. 463.

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überzeugender Kandidat für eine Logik zu finden ist, in die eine Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins hätte einführen können, deuten relativ eindeutig darauf hin, dass für Hegel die Aufgabe der Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins, also der Ur- oder Rumpf-Phänomenologie, darin bestand, auf den Standpunkt der sogenannten ›Wissenschaft‹ zu führen, wobei diese Wissenschaft zwar irgendetwas mit einer Logik zu tun haben mag, keineswegs aber exklusiv mit der Logik als spekulativer Philosophie, von der in der Vorrede zur Phänomenologie die Rede ist, oder gar mit der Wissenschaft der Logik identifiziert werden kann.8 Wie steht es nun mit der gedruckten Phänomenologie? Soll sie in eine Logik einleiten bzw. einführen? Wie bereits erwähnt, hilft uns der Text der Phänomenologie, also das, was hinter dem Zwischentitel I. Wissenschaft der Phänomenologie des Geistes zu stehen kommt, nicht weiter, weil auf den dem Zwischentitel folgenden 765 Seiten von einer Logik (im Hegelschen Sinn) kein einziges Mal die Rede ist. Man ist wieder verwiesen auf die Vorlesungsankündigen und die Texte, die sowohl einen direkten Bezug auf die Phänomenologie haben als auch ungefähr zur Zeit der Entstehung der Phänomenologie verfasst worden sind (letzteres ist wichtig, um sich nicht durch spätere Selbstinterpretationen Hegels irritieren zu lassen). Über die Vorlesungsankündigungen ist das Notwendige bereits ausgeführt worden. Es ist höchstens noch zu ergänzen, dass auch die Ankündigung Hegels für das SS 1807 wieder eine Vorlesung über ›Logik und Metaphysik mit vorangehender Phänomenologie des Geistes‹ in Aussicht stellt, also

8 Weder der Text der Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins, noch die Vorlesungsankündigungen und die Briefe geben also einen eindeutigen Hinweis darauf, dass dieses Werk in seiner ursprünglich konzipierten Form in eine ›Logik‹ genannte Disziplin einführen sollte. Leider kann man auch, wie bereits erwähnt (vgl. Fn. 4), den Berichten über die Vertragsquerelen, die Hegel mit dem Verleger der Phänomenologie auszustehen hatte, nicht viel entnehmen. Festzuhalten ist nur, dass in ihnen nirgends von einer Logik als einem zweiten Teil des von Hegel avisierten Manuskriptes die Rede ist und dass auch die spätere Titelformulierung ›System der Wissenschaft‹ nur in den lateinischen Versionen der Vorlesungsankündigungen seit dem SS 1806 vorkommt. Dies mag hinreichend sein, um anmerkungsweise und in Stichworten eine kleine Spekulation zu erlauben (zum Material vgl. neben Förster: Die 25 Jahre der Philosophie auch Theunissen, B.: Hegels Phänomenologie als metaphilosophische Theorie. Diss. Berlin 2012). Was wäre von folgendem Szenario zu halten? Hegel plant tatsächlich um Ende 1805 ein Buch, das eine Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins zusammen mit einer Logik enthält. Zu diesem Zeitpunkt sieht Hegel noch keinen Anlass, die für seine damalige Systemarchitektur typische Unterscheidung zwischen einer Logik und einer Metaphysik aufzugeben. Diese Logik, die man sich als wohl weitgehend identisch mit der Logik der Jenaer Systementwürfe II (1804/05) vorstellen kann, hat bekanntlich eine Einleitungsfunktion, nämlich in die Metaphysik, würde aber bereits zum System der Wissenschaft gehören. Der geplante Band würde also nach Hegels ursprünglicher Idee (1) eine Erhebung auf den Standpunkt der Wissenschaft durch das Durchlaufen des Weges der Erfahrungen enthalten, die das Bewusstsein mit seinen verschiedenen epistemischen Einstellungen zu Gegenständen macht. Diese Erhebung geht der Wissenschaft vorher (das ›praemissa‹ der Vorlesungsankündigungen), ohne unbedingt eine Einleitung in das System sein zu müssen. Und (2) hätte das geplante Buch eine Einleitung in den ersten Teil der Wissenschaft bzw. des Systems enthalten sollen, nämlich in die Metaphysik, in der die Hegelschen Versionen der traditionellen metaphysica specialis bzw. der Kantischen transzendentalen Dialektik (Seele, Welt, Gott) als Grundlagen für eine Natur- und Geistesphilosophie vorgestellt werden. Die Darstellung des gesamten Systems, bestehend aus Metaphysik, Natur- und Geistesphilosophie, wäre dann einem zweiten Buch vorbehalten gewesen.

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immer noch nicht nur eine Logik ankündigt, obwohl er bereits (in der lateinischen Fassung der Ankündigung) auf die Phänomenologie mit Druckort und -jahr verweist. So bleiben nur die Texte selbst. Hier handelt es sich hauptsächlich um zwei: einmal um die Vorrede und dann um die Selbstanzeige der Phänomenologie. Zunächst etwas ausführlicher zur Vorrede. Sie ist bekanntlich als letztes Textstück der gedruckten Phänomenologie an den Verlag geliefert worden (Mitte Januar 1807).9 Es ist daher zu vermuten, dass Hegel sich in ihr zu dem äußert, was er als Leistung der Phänomenologie ansieht. Dies tut er tatsächlich ausführlich, wenn auch einigermaßen enigmatisch, hauptsächlich in den Absätzen 26 bis 38 der Vorrede. Um es gleich vorwegzunehmen: auch der Vorrede zufolge führt die Phänomenologie nicht in das, was Hegel hier »Logik oder spekulative Philosophie« (GW 9, 30) nennt, ein, sondern sie ist Erhebung des Individuums oder des Bewusstseins auf den Standpunkt der Wissenschaft. Was ist mit ›Standpunkt der Wissenschaft‹ und mit ›Erhebung‹ gemeint? Mit dem Terminus ›Wissenschaft‹ bezeichnet Hegel keine Disziplin, sondern das Medium der Explikation eines Sachverhalts, von dem gilt, dass es die systematische Darstellung der Entwicklung (oder Realisierung) des Sachverhalts aus dem, was Hegel seinen ›Begriff‹ nennt, erlaubt. Nachklänge dieses medialen Gebrauchs von ›Wissenschaft‹ haben wir noch in seiner adjektivischen Verwendung, z. B. wenn wir von einer ›wissenschaftlichen Erklärung‹ im Unterschied zu einer ›biographischen‹ oder ›theologischen‹ sprechen. Die Wissenschaft ist für ihn insofern ein ›Äther‹ (Absatz 26) bzw. ein ›Element‹ (ebd.). In diesem Elemente ›das Wahre‹ auszudrücken, ist die Aufgabe des ›Systems der Wissenschaft‹ (Absatz 5 f.). Das Wahre ist das, was Hegel in der Vorrede, weitgehend synonym, den Geist, das Absolute, das Wirkliche nennt (Absatz 25). Da die Wissenschaft die Darstellung des Wahren im Modus der systematischen Entfaltung seines Begriffs ist, und da das Wahre der Geist ist, kann Hegel auch sagen: »Der Geist, der sich so als Geist weiß, ist die Wissenschaft« (ebd.). Damit ist nicht gemeint, dass der Geist mit diesem Medium der Explikation identisch ist oder nichts anderes als dieses Medium (d. i. ›die Wissenschaft‹) ist, sondern dass er nur dann Geist ist, wenn er sich in diesem Medium, diesem ›Element‹ systematisch expliziert, weil er nur dann sich als Geist weiß, wenn er den Prozess der Realisierung seines Begriffs durchläuft (vgl. den dem letzten Zitat folgenden Satz: »Sie [die Wissenschaft – R.P.H.] ist seine [des Geistes – R.P.H.] Wirklichkeit und das Reich, das er sich in seinem eigenen Elemente erbaut.«). Vor dem Hintergrund dieses Begriffs von Wissenschaft muss man die Rede vom ›Standpunkt der Wissenschaft‹ sehen: ihn einzunehmen bedeutet, in der Lage zu sein, diesen Prozess der Selbstrealisierung des Geistes im Modus der Wissenschaftlichkeit nachvollziehen zu können, d. h. so, dass man »die Notwendigkeit und Ausbreitung« (Absatz 34) der inhaltlichen Bestimmungen des Geistes »zum organischen Ganzen« begreift. Dieser Begriff von Wissenschaft, den Hegel hier vorstellt, ist, wie im Rahmen einer Vorrede nicht anders zu erwarten, hochgradig abstrakt, terminologisch idiosynkratisch und in der Sache reine Metaphysik. Dennoch hat diese eher extravagante Weise der Einführung dieses Begriffs rhetorisch ihren guten Sinn, weil sie unmittelbar verständ9

Vgl. den Brief Hegels an Niethammer vom 16.1.1807. In: Briefe von und an Hegel, Bd. 1, S. 136.

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lich macht, warum man den Standpunkt der so bestimmten Wissenschaft sich erst erarbeiten muss, warum er kein ›natürlicher‹, ›selbstverständlicher‹ Standpunkt ist. Die Vorstellung, dass man Wissenschaft als systematischen Prozess der Selbstrealisierung des Geistes anzusehen hat, ist zunächst sogar so befremdlich, dass das, was Hegel hier ›natürliches Bewusstsein‹, den ›ungebildeten Standpunkt‹ bzw. das ›besondere Individuum‹ nennt, eine solche Vorstellung für »das Verkehrte der Wahrheit« (Absatz 26) hält und sich dieser Wissenschaft nicht ›anvertrauen‹ will. Es muss daher in gewisser Weise gezwungen werden, diesen Begriff von Wissenschaft anzuerkennen. Dies geschieht dadurch, dass der dieser Wissenschaftsauffassung eigentümliche Begriff des Wissens als der allein akzeptable Wissensbegriff demonstriert wird. Diese Demonstration leistet die Phänomenologie des Geistes. Sie stellt das »Werden der Wissenschaft überhaupt oder des Wissens« (Absatz 27) dar. Hegel hält nun in der Vorrede ausdrücklich fest, dass bei dieser Darstellung, der Phänomenologie also, nicht die Logik »das Ziel« sei, sondern »die Einsicht des Geistes in das, was das Wissen ist« (Absatz 29). Die Logik, so Hegel hier, ist zwar ein notwendiger Bestandteil der Exposition des Geistes, nachdem er diese Einsicht erreicht hat (Absatz 37), sie setzt aber selbst bereits den Begriff von Wissenschaft voraus, auf dessen Standpunkt uns die Phänomenologie bringen soll. Es ist daher, wenn auch vielleicht nicht vollständig falsch, aber doch durch Verkürzung eher irreführend, Hegel die Ansicht zuzuschreiben, die Phänomenologie führe in die Logik ein. Ein kurzer Blick in die wahrscheinlich von Hegel selbst verfasste Anzeige des Werkes in verschiedenen Journalen bestätigt diese Einschätzung. Hier ist ebenfalls nicht auf die (oder eine) Logik, sondern wieder auf die »Wissenschaft, als dem Resultat des Ganzen« hingewiesen. Die weiteren Bemerkungen der Selbstanzeige machen darüber hinaus deutlich, dass Hegel die Logik nur als einen Teil der Wissenschaft ansieht, die durch zwei weitere Teile, nämlich eine Natur- und eine Geistesphilosophie, zum System der Philosophie vervollständigt werden muss. Das Verhältnis von Hegels Phänomenologie des Geistes (sowohl in ihrer ursprünglichen als auch in ihrer ausgeführten Form) zu seiner Wissenschaft der Logik von dem Standpunkt aus betrachtet, den er zur Zeit der Abfassung der Phänomenologie einnahm, ist also kein sehr gradliniges. Zwar ist die Phänomenologie Einführung, Hinführung, Weg zu etwas anderem, aber dieses andere ist nicht die Logik als Teil des Systems, sondern ein- und hingeführt werden soll in eine neue Weise des Denkens, in eine neue Konzeption von Diskursivität. Eigentlich ist auch nichts wirklich anderes zu erwarten, wenn man sich die vielfältigen Versuche vergegenwärtigt, die Hegel in der Jenaer Zeit vor der Phänomenologie unternommen hat, eine überzeugende Rechtfertigung dessen, was er ›spekulatives Denken‹ nennt, zu finden. Ich kann auf diese Versuche hier nicht eingehen.10 Sie alle deuten aber darauf hin, dass für den Hegel dieser 10 Vgl. Horstmann, Rolf-Peter: Hegels Ordnung der Dinge. Die Phänomenologie des Geistes als ›transzendentalistisches‹ Argument für eine monistische Ontologie und seine erkenntnistheoretischen Implikationen. In: Hegel-Studien 41 (2006), S. 9–50 und ders.: Die Phänomenologie, der intuitive Verstand und das neue Denken. Zu Försters Vollendung der Hegelschen ›Entdeckungsreisen‹. In: Übergänge – diskursiv oder intuitiv? Essays zu Eckart Försters ›Die 25 Jahre der Philosophie‹. Hg. v. Johannes Haag und Markus Wild. Frankfurt 2013, S. 307–320.

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Jahre das Programm einer Einleitung immer mit der Freilegung eines Horizontes verbunden ist, vor dessen Hintergrund sich der ›wahre‹, ›realitätserschließende‹ Prozess eines Denkens abspielt, dessen Regeln und Manifestationen nicht mit den Mitteln überkommener Reflexionsmuster thematisiert werden können. Dieses ›reale Denken‹ (ein Hegelscher Terminus!) folgt zwar auch logischen Gesetzen, die sich im Rahmen einer ›spekulativen‹ Logik als notwendig erweisen lassen, sie sind jedoch in ihrer Notwendigkeit erst begreiflich zu machen, nachdem ein anderer Standpunkt als der des ›unwissenschaftlichen‹ Bewusstseins eingenommen werden kann. Und um die Gewinnung dieses anderen und neuen ›Standpunkts der Wissenschaft‹, der nicht identisch mit dem Standpunkt der Logik ist, sondern von dem aus gesehen das Projekt einer spekulativen Logik überhaupt erst Sinn ergibt, geht es in allen Jenaer Einleitungskonzeptionen, ob sie nun von Hegel als Logik bezeichnet worden sind (vgl. die Jenaer Logik, Metaphysik und Naturphilosophie von 1804/05) oder überhaupt keinen besonderen Titel hatten (vgl. die Differenz-Schrift), also auch in der Phänomenologie. Dies wenigstens ist das, was ich bis hierher habe zeigen wollen.

II. Logik und Phänomenologie Nun zu der ganz anderen Frage nach dem Verhältnis von Phänomenologie und Logik vom Standpunkt der Logik aus gesehen. Auch hier gilt es zunächst, die Frage ein wenig zu spezifizieren, weil Hegel 1) sich auch nach dem Erscheinen der Phänomenologie an verschiedenen Weisen, eine Logik zu konzipieren, versuchte und 2) verschiedene Weisen erprobte, die Phänomenologie in ein Verhältnis zu einer ›Logik‹ zu bringen. Was den ersten Punkt betrifft, so ist offensichtlich, dass er sich über die Art der Thematisierung dessen, was ab 1812 als Wissenschaft der Logik kodifiziert wird, lange sehr unklar gewesen ist. Ein auch nur oberflächlicher Blick in die Notizen und Diktate für seine einschlägigen Gymnasialkurse belegt dies deutlich.11 Bekanntlich ist ja auch mit der Publikation der Wissenschaft der Logik die Entwicklung der Hegelschen Logik keineswegs abgeschlossen. Die verschiedenen Logik-Fassungen im Rahmen der ersten drei Auflagen der Enzyklopädie, ja selbst noch die späte Überarbeitung der Seinslogik sind ja keineswegs nur Kurzfassungen oder redaktionelle Überarbeitungen der Wissenschaft der Logik. Und auch der zweite Punkt wird nicht nur durch die Notizen und Diktate zu den Kursen am Gymnasium gut bestätigt,12 sondern ist auch leicht zu erhärten durch die Enzyklopädie und durch die zweite Auflage der Seinslogik, in der Hegel der Phä11

Vgl. insbesondere die Geisteslehre als Einleitung in die Philosophie, Diktat 1808/09, und die Philosophische Enzyklopädie, Diktat 1809/10, in der die Logik eingeteilt ist in 1) ontologische Logik, 2) subjektive Logik, 3) Ideenlehre. Diese Texte befinden sich in: GW 10, 1. 12 Hegel scheint in seiner Nürnberger Zeit dazu tendiert zu haben, die Inhalte der Phänomenologie, die er bis zum Anfang des Geist-Kapitels behandelt hat, in eine in die Philosophie einleitende GeistLehre zu integrieren; Vgl. neben den in Fußnote 11 erwähnten Texten auch das Schülerheft Meinel zur Psychologie von 1811/12 (GW 10, 2, 523 ff.) sowie Hegels explizite Erklärung zur Behandlung phänomenologischer Inhalte in dem Privatgutachten für Niethammer vom Oktober 1812 (GW 10, 2, 823 ff.).

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nomenologie in einer Fußnote ja tatsächlich den Status des ersten Teils des Systems der Wissenschaft abspricht. Wenn also jetzt nach dem Verhältnis von Phänomenologie und Logik vom Standpunkt der Logik aus gefragt wird, so ist diese Frage hier unter der gewichtigen Beschränkung angesprochen, dass dieses Verhältnis ausschließlich von dem Standpunkt aus betrachtet wird, den Hegel in der ersten Auflage der Wissenschaft der Logik einnimmt. Zunächst ist festzuhalten, dass Hegel sowohl in der Vorrede als auch in der Einleitung der ersten Auflage ausdrücklich bestätigt, was oben als Ergebnis der Betrachtung der Phänomenologie vorgetragen worden ist: Hegel macht erneut deutlich, das er die Phänomenologie nicht als Einleitung in die Logik (auch nicht die Wissenschaft der Logik) verstanden wissen will, sondern als Hinführung auf den Standpunkt der Wissenschaft bzw. als Hervorbringung des Begriffs der Wissenschaft (vgl. GW 11, 20). Von dieser Wissenschaft soll gelten, dass sie in verschiedenen Formen auftritt, deren eine (und erste) die Logik als sogenannte ›reine‹ (GW 11, 21) bzw. ›formelle‹ (GW 12, 25) Wissenschaft ist. Insofern scheint sich die Perspektive, unter der er die Beziehung von Phänomenologie und Logik gesehen haben will, nicht groß geändert zu haben. Er kann sogar eine relativ unproblematische Interpretation dieses Verhältnisses geben, die ziemlich neutral gegenüber den sehr unterschiedlichen Auffassungen ist, die Hegel von der Zeit der Abfassung der Phänomenologie bis hin zur Veröffentlichung (des ersten Bandes) der Wissenschaft der Logik von den Inhalten und der Form einer Logik gehabt zu haben scheint. Gemäß dieser Interpretation, die Hegel vermeintlich auch stichwortartig in der Notiz zur Überarbeitung der Phänomenologie von 1831 ausführt, ist die Phänomenologie das »Voraus, der Wissenschaft«, also das, was der Wissenschaft zum Zwecke der Hervorbringung ihres Begriffs vorausgeht, hat aber keinen Einfluss auf und ist auch nicht abhängig von der genetischen Exposition13 dieses Begriffs in der Form des Systems. Die genetische Exposition des Begriffs der Wissenschaft in Systemform, also das, was Hegel auch die (selbst-explikative) Entwicklung des Begriffs der Wissenschaft nennt, ist dann ein ganz neues Unternehmen, dessen erster Teil aus bestimmten Gründen die Wissenschaft der Logik ist, deren interne Struktur und Verlaufsform nichts mit irgendwelchen Ergebnissen phänomenologischer Prozesse zu tun hat. Unter dieser Interpretation gehört die Phänomenologie nicht deshalb (als erster Teil, wie deren Titelblatt behauptet) zum System der Wissenschaft, weil sie den Begriff der Wissenschaft entwickelt – dies geschieht erst durch seine Realisierung als System –, sondern weil sie als ›Voraus‹ ihn skeptisch/didaktisch etabliert. Diese wahrscheinlich von Hegel gewünschte Lesart ist allerdings im Allgemeinen aus Gründen, an denen Hegel keineswegs unschuldig ist, nur unter einer entscheidenden Verkürzung, oder besser gesagt: nur unter Unterlassung einer entscheidenden und offensichtlichen Differenzierung wahrgenommen worden und hat in einer problematischen Form durchaus bei Vielen ein wohlwollendes Verständnis gefunden.14 Diese Unterlassung besteht daran, dass 13

Dies ist ein Hegelscher Terminus, den er allerdings nur zur Charakterisierung der Verlaufsform des logischen Prozesses verwendet (vgl. GW 12, 11). 14 Auch in der Literatur ist diese eher problematische Deutung auf bemerkenswert große Zustim-

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man nicht hinreichend zwischen dem Standpunkt der Wissenschaft und dem, was man den ›Standpunkt der Logik‹ nennen könnte, unterscheidet, bzw. darin, dass man diese beiden unterschiedenen Standpunkte miteinander identifiziert. Dass die Identifikation dieser beiden Standpunkte nicht weit führt, zeigt sich schon daran, dass Viele mit der auf der Unterlassung basierenden Deutung nicht sehr glücklich geworden sind. Sie führt nämlich auf vor allem drei Fragen, die immer wieder Anlass zu einer gewissen Ratlosigkeit gegeben haben, wenn es um die Klärung des Verhältnisses zwischen Phänomenologie und Logik vom Standpunkt der Wissenschaft der Logik aus betrachtet geht. Sie sind: (1) Was reguliert den phänomenologischen Prozess? (2) Wenn es stimmt, dass – wie in der Überarbeitungsnotiz angedeutet – die »Logik, hinter dem Bewusstsein« steht, wie lässt sich der Verdacht vermeiden, dass die Begründung der Unvermeidlichkeit des Standpunkts der Wissenschaft durch den phänomenologischen Prozess zirkulär ist? (3) Wenn die Phänomenologie ein Beispiel der wissenschaftlichen Methode »an einem konkreteren Gegenstand« (GW 11, 24) ist, wie kann sie dann eine Rechtfertigungsfunktion übernehmen? Zu jeder dieser Fragen lassen sich lange Abhandlungen verfassen, was hier natürlich unterbleiben soll. In Kürze daher nur Folgendes: Was die erste Frage betrifft, so darf man sie in unserem Kontext nicht ›at face value‹ nehmen, also als Frage danach, wie man in der Phänomenologie z. B. von den Ausführungen zur Wahrnehmung zu denen zu Kraft und Verstand kommt. Wenn es um eine Einschätzung des Verhältnisses von Phänomenologie und Logik geht, wird mit der Frage nach dem, was den phänomenologischen Prozess reguliert, nicht nach der Weise gefragt, wie Phänomenologie-immanent der Ablauf des phänomenologischen Prozesses organisiert ist, sondern danach, was zur Beglaubigung der operativen Mittel angeführt werden kann, die den phänomenologischen Prozess leiten. Zu diesen operativen Mitteln zählen vor allem der Negations-Operator, aber auch – nicht weniger prominent – die Weise, in der die Begriff-Gegenstand-Beziehung konzipiert ist (Gegenstände sollen immer realisierte Begriffe sein), und der für die Entwicklung des phänomenologischen Prozesses in Anspruch genommene Notwendigkeitsbegriff. Sollte sich nicht zeigen lassen, dass man diese von Hegel für den inner-phänomenologischen Ablauf benutzten methodischen Elemente auch ohne Rückgriff auf letztlich in der Wissenschaft der Logik bereitgestellte Ressourcen plausibilisieren kann, wird es tatsächlich sehr schwierig, der Phänomenologie eine eigenständige Hinführungsleistung (von Hegel in der Einleitung der Wissenschaft der Logik, wie anfangs bereits bemerkt, eine ›Deduktion‹ genannt) auf den Standpunkt der Wissenschaft, verstanden als den Standpunkt der Logik, zuzusprechen. Ähnlich lässt sich die zweite Frage als Ausdruck eines Unbehagens an der Möglichkeit der friedlichen systematischen Koexistenz von Phänomenologie und Wissenschaft der Logik verständlich machen. Die Rede von »Logik, hinter dem Bewusstsein« (verstanden im Sinne von: es ist die Logik, die den Prozess der Entwicklung des Bewusstseins zum absoluten Wissen und damit zum Standpunkt der Wissenschaft leitet) scheint ja geradezu ein Eingeständnis zu sein, dass ohne impliziten mung gestoßen und wird auch heute noch vertreten, in den letzten Jahren besonders deutlich z. B. durch Jaeschke, Walter: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule. Stuttgart 2002, S. 176–180.

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Rekurs auf Mittel, die in der Logik ihre ratio essendi haben und dort ihre Rechtfertigung finden, der ganze phänomenologische Prozess der methodischen Absicherung entbehrt und sein Ergebnis, der Standpunkt der Wissenschaft (wiederum verstanden als identisch mit dem Standpunkt der Logik), nur um den Preis eines Begründungszirkels erreicht werden kann. Und auch die Rede von der Phänomenologie als von einem Beispiel, durch die die dritte Frage motiviert ist, macht es nicht gerade einfach, die Phänomenologie als eigenständiges (d. h. von der Wissenschaft der Logik unabhängiges) Rechtfertigungsmedium für die Unvermeidlichkeit des Standpunkts der Wissenschaft (gleich Standpunkt der Logik) zu akzeptieren. Schließlich leuchtet nicht unmittelbar ein, dass Beispiele eine Rechtfertigungsfunktion haben können. Fragen, wie diese, sind dann kaum abzuweisen, wenn man den Standpunkt der Wissenschaft mit dem der Logik (also dem der Wissenschaft der Logik) identifiziert. Sie scheinen alle darauf hinauszulaufen, dass Hegel letztlich keineswegs eine sehr glückliche Hand gehabt hat mit der Integration der Phänomenologie in ein System der Wissenschaft, das zwar nicht identisch ist mit einer Wissenschaft der Logik, wohl aber mit ihr beginnen muss.15 Doch ist das wirklich so? Nicht, wenn man – wie Hegel – den Standpunkt der Wissenschaft von dem der Logik unterscheidet! Die Situation bezüglich des Verhältnisses von Wissenschaft der Logik und Phänomenologie, die Hegel vor Augen hat, stellt sich dann so dar: Als intendiertes Ergebnis der Phänomenologie kann er relativ unkontrovers die Einsicht in Anspruch nehmen, dass alles das, was in irgendeinem Sinne als Gegenstand (oder als Phänomen) aufgefasst werden kann, sich als begrifflich verfasst erwiesen hat. Nur diese Einsicht hat den Status der Wissenschaft.16 Für Hegel bedeutet diese Einsicht in das, was Wissenschaft ist: »Sie [die Wissenschaft – R.P.H.] enthält den Gedanken, insofern er ebensosehr die Sache an sich selbst ist, oder die Sache an sich selbst, insofern sie ebensosehr der reine Gedanke ist« (GW 11, 21). Sie (diese wissenschaftliche Einsicht) ist deshalb die Grundlage aller (Hegelschen) Wahrheit und d. h. (wiederum in Hegelscher Manier aufgefasst) aller Realität. Gedanken sind Sachen und umgekehrt – dies das grundlegende metaphysische Credo Hegels, und die Phänomenologie soll dieses Credo ›demonstriert‹ haben. Nun beginnt eine vollständig andere Untersuchung, die Hegel mit gutem Grund als eine in einem neuen Sinne metaphysische versteht. In einem neuen Sinn metaphysisch deshalb, weil sie über die traditionelle Metaphysik im Sinne der Ontologie hinausgeht, indem sie sowohl die Logik, als auch Objektivierungsweisen dynamischer Prozesse in15

Die Gründe, warum das System mit der Logik beginnen muss, haben nichts mit der Phänomenologie, sondern mit Hegels Auffassung von der konzeptuellen Verfassung der Wirklichkeit zu tun, eine Auffassung, die allerdings durch die Phänomenologie als unvermeidlich demonstriert worden sein soll. Auch hierzu müsste sehr viel mehr gesagt werden, was aber natürlich hier nicht geschehen kann. 16 Diese Einsicht wird allerdings als phänomenologischer Prozess unter der Vorgabe erzeugt, dass es für den common-sense einen »Gegensatz des Bewusstseins« gibt (GW 11, 21), von dem man sich befreien muss. Hegel: »Die reine Wissenschaft setzt somit die Befreiung von dem Gegensatze des Bewusstseins voraus« (ebd.). Diese Befreiung des Bewusstseins ist das spezifisch Phänomenologische. Das Ergebnis dieser Befreiung hat aber nichts mehr mit dem Bewusstsein zu tun, sondern ist der »Begriff der Wissenschaft« (GW 11, 20), die es allein mit »dem Wahren« zu tun hat und die insofern einen metaphysischen, genauer: einen ontologischen Inhalt oder Gegenstand hat.

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tegriert. Der Umstand, dass Gedanken Sachen (und umgekehrt) sind, gibt nämlich noch nicht die Spur einer Auskunft darüber, wie diese Gedankensachen oder diese Sachgedanken verfasst sind. Nach Hegel müssen sie alle aufgefasst werden als sich jeweils auseinander organisch entwickelnde Manifestationen einer ihnen zugrunde liegenden begrifflichen Struktur, die Hegel »Idee« nennt. Ihm zufolge gibt es nichts zwischen Himmel und Erde, was nicht eine mehr oder weniger vollständige Manifestation dieser Idee zunächst im natürlichen, dann im geistigen – also dem psychischen, sozialen und kulturellen – Medium ist. Dies im Detail auszuführen ist die Aufgabe und das Ziel der »beiden realen Wissenschaften der Philosophie« (GW 11, 8), nämlich der Philosophie der Natur und der Philosophie des Geistes. Beide setzen also die Idee voraus. Nun gilt natürlich für die Idee dasselbe, was von allem anderen gilt: auch sie ist eine Gedankensache oder ein Sachgedanke, d. h. sie hat Sein. Auch sie manifestiert eine begriffliche Struktur, nur ist diese begriffliche Struktur nicht in etwas anzutreffen, was ihr als etwas anderem zugrunde liegt, sondern in ihr selbst. Umgangssprachlich könnte man sagen, dass sie die Manifestation ihrer selbst ist oder als Manifestation ihrer selbst existiert. Dies alles führt auf das, was Hegel den ›Begriff der Idee‹ nennt. Um nun den Begriff dieser existierenden begrifflichen Struktur auszuführen, d. h. um zu verstehen, worin diese Struktur besteht, muss man den Prozess verfolgen, durch den sie sich entwickelt. Da das Ergebnis dieses Entwicklungsprozesses die Idee ist, von der als Gedankensache/ Sachgedanken gilt, dass sie ist, existiert, real ist, wird Hegel diesen Prozess auch als den der Selbstrealisierung des Begriffs der Idee beschreiben. Was den Verlauf dieses Prozesses betrifft, muss wiederum beachtet werden, dass auch er – wie alle anderen ›wissenschaftlichen‹ (wir befinden uns ja auf dem Standpunkt der Wissenschaft!) Prozesse – die unterschiedlichen Zustände/Stadien/Formen, die in dieser Selbstrealisierung auftreten, als sich auseinander generierend ausweisen muss. Wäre dem nicht so, hätte das Postulat der Notwendigkeit der Zustände/Stadien/Formen keine Basis. Die Darstellung dieses Prozesses der Selbstrealisierung des Begriffs der Idee nennt Hegel bekanntlich ›Logik‹. Sie ist auf Grund ihrer Funktion der Teil des Systems der Wissenschaft, mit dem die Wissenschaft zu beginnen hat. Dieser hier in wahrscheinlich wenig hilfreicher Kürze angedeutete Abriss der von Hegel intendierten Systemarchitektonik, was das Verhältnis von Phänomenologie und Logik vom Standpunkt der Wissenschaft der Logik aus betrachtet betrifft, teilt das Schicksal aller Skizzen: um zu überzeugen, müsste ein solcher Abriss sich in vielfältiger Weise konkretisieren lassen, sodass am Ende nicht etwa nur eine Karikatur, sondern ein gelungenes Bild entsteht. Dies hier zu leisten, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Als eine notwendige Bedingung dafür, dass wenigstens die Aussicht besteht, aus dieser Skizze ein gelungenes Bild machen zu können, kann allerdings die Einlösung der Forderung angesehen werden, auf ihrer Grundlage die in den drei oben genannten Fragen angelegten Zweifel an der Möglichkeit eines systematisch verträglichen Miteinander von Phänomenologie und Logik zurückzuweisen. Dies soll nun abschließend geschehen. Hier, zur Erinnerung, die drei Fragen noch einmal: (1) Was reguliert den phänomenologischen Prozess? (2) Wenn es stimmt, dass – wie in der Überarbeitungsnotiz angedeutet – die »Logik, hinter dem Bewusstsein« steht, wie lässt sich der Verdacht vermeiden,

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dass die Begründung der Unvermeidlichkeit des Standpunkts der Wissenschaft durch den phänomenologischen Prozess nicht zirkulär ist? (3) Wenn die Phänomenologie ein Beispiel der wissenschaftlichen Methode »an einem konkreteren Gegenstand« (GW 10, 24) ist, wie kann sie dann eine Rechtfertigungsfunktion übernehmen? Folgt man der oben vorgestellten Skizze, weist keine dieser Fragen auf irgendwelche systematischen Probleme hin, über die Hegel sich ernsthaft hätte Gedanken machen müssen. Was (1) betrifft, so sind die operativen Mittel, die in der Phänomenologie zum Einsatz kommen, keineswegs der Logik geschuldet, sondern sie sind Mittel, deren Rechtfertigung darin besteht, dass sie so etwas wie (Hegelsche) Wissenschaft allererst ermöglichen. Sie sind insofern weder im Rahmen der Phänomenologie, noch in dem der Logik einer Begründung fähig, sondern sind – wie Hegel oft genug betont17 – Bedingungen dafür, dass sich Sachverhalte »im Element der Wissenschaft« als Entwicklungsprozesse darstellen lassen können. Was (2) betrifft, so wird man Hegel sagen lassen können, dass man besser daran tut, das »hinter« konsekutiv, also im Sinne von ›nach‹ (und nicht als den Bewusstseinsprozess methodisch und begrifflich organisierend) zu verstehen. Dies deshalb, weil erst die bereits angesprochene Überwindung des »Gegensatzes des Bewusstseins« auf einen Standpunkt führt, der eine Logik ermöglicht. Versteht man nämlich das »hinter« in diesem konsekutiven Sinn, vergegenwärtigt sich Hegel in dieser späten Notiz eigentlich nur das, wovon er zur Zeit der Abfassung der Phänomenologie überzeugt gewesen ist: der ›Standpunkt der Wissenschaft‹, der kein sogenannter ›natürlicher‹ Standpunkt ist, muss sich erst dem Bewusstsein durch den phänomenologischen Prozess erschließen, und erst dann kann die Darstellung der welt-konstituierenden begrifflichen Prozesse begonnen werden, die den Gegenstand der Logik ausmachen. Die Logik kommt daher hinter dem Bewusstsein (und seinen verschiedenen Auffassungen von dem, was ›das Wahre‹ ausmacht) zu stehen. Ihre Darstellung wird erst durch das Durchlaufen des Bewusstseinsprozesses ermöglicht. Und was schließlich (3) betrifft, so schließt der Umstand, ein Beispiel für die wissenschaftliche Methode zu sein, eine Rechtfertigungsfunktion für die Wissenschaft (nicht: für die Logik) nicht aus. So wie nämlich ein Weg, den man zurücklegt, um ein Ziel zu erreichen, dann wenn man es auf diesem Weg erreicht, ein Beispiel dafür ist, wie dieses Ziel zu erreichen ist, so ist auch das Ziel als ein erreichbares gerechtfertigt durch den zurückgelegten Weg. Ein Beispiel kann daher durchaus eine Rechtfertigungsfunktion haben, ohne bereits das, was gerechtfertigt werden soll, in Anspruch zu nehmen. Eine ähnliche Überlegung wird von Hegel auch benutzt, wenn er am Ende der Einleitung in die Phänomenologie den »Weg zur Wissenschaft selbst schon Wissenschaft« (GW 9, 80) sein lässt. Soviel zu dem, was sich in sehr groben Zügen über das Verhältnis von Phänomenologie des Geistes zu der ihr nachfolgenden Logik sagen lässt, wenn man es sowohl vom Standpunkt der Phänomenologie als auch, davon unabhängig, von dem der Wissenschaft der Logik aus betrachtet. Zusammenfassend lässt sich, glaube ich, sagen, dass Hegel von keinem der beiden Standpunkte aus gesehen Anlass gehabt hat, das Ver17 Vor allem in der Vorrede (GW 9, 22 ff., 47 ff.) und der Einleitung (GW 9, 73 f.) der Phänomenologie, aber auch in der Einleitung zum ersten Band der Wissenschaft der Logik (GW 10, 24 f.).

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hältnis von Phänomenologie und Logik als besonders problematisch anzusehen. Dies schon und vor allem deshalb nicht, weil er offensichtlich Phänomenologie und Logik gar nicht direkt aufeinander beziehen, sondern einen direkten Bezug nur zwischen Phänomenologie und dem System der Wissenschaft herstellen wollte. Dass die Logik dessen ersten Teil darstellt, macht sie nicht zum einleitungs- oder hinführungswürdigen Gegenstand – es ist vielmehr ›die Wissenschaft‹, die der Einleitung oder Hinführung bedarf. Dennoch gibt es Gründe, warum Hegel nach der Publikation der Wissenschaft der Logik (also nach 1816) das Phänomenologie-Projekt als Einleitung in bzw. Hinführung auf den Standpunkt der Wissenschaft aufgibt. Sie hängen mit der Konzeption der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriss als Gesamtdarstellung des Systems zusammen, die Hegel anscheinend unmittelbar nach Abschluss der Wissenschaft der Logik auszuarbeiten begonnen hat. Da diese Darstellung unter der Voraussetzung arbeitet, dass der ›Standpunkt der Wissenschaft‹ bereits eingenommen ist, muss und kann sie den ›Weg zur Wissenschaft‹ als eine eigenständige Betrachtung nicht mehr integrieren. Das Bewusstsein, dessen vielfältige Weisen des Objektbezugs Gegenstand der Phänomenologie ist, kann daher nur noch als eine Form der Manifestation der ›Idee‹ bzw. des ›Geistes‹ thematisiert werden. Genau dies geschieht auch in der Enzyklopädie, wobei es noch einige Zeit dauert, ehe der Titel Phänomenologie des Geistes den Sprung in das Inhaltsverzeichnis der Enzyklopädie schafft – in deren erster Auflage wird der bewusstseinsspezifische Inhalt der ursprünglichen Phänomenologie noch unter dem Begriff ›Bewusstsein‹ als Unterabteilung eines Teils der Philosophie des Geistes ausgeführt. Die Einzelheiten des Schicksals der Phänomenologie des Geistes in der Zeit nach der Wissenschaft der Logik können jedoch nicht mehr unter der obskuren und dennoch erhellenden Frage nach einem ›Anfang vor dem Anfang‹ verhandelt werden. Sie hätten den Gegenstand einer Frage nach einem ›Anfang ohne Anfang‹ zu bilden. Die Beantwortung dieser Frage mag einer anderen Veranstaltung vorbehalten bleiben.18

18 Für Hinweise und hilfreiche Anmerkungen bin ich Dina Emundts und Eckart Förster zu Dank verpflichtet.

Der Anfang von Hegels Logik Stephen Houlgate

I. Das reine Sein Wie bekannt, fängt die Hegelsche Logik mit dem reinen Sein an. Der Ausdruck »reines Sein« ist hier auf zweierlei Weise zu verstehen. Einerseits beginnt Hegel mit dem einfachen Gedanken des Seins; andererseits bringt dieser Gedanke das Sein selbst in seiner Unmittelbarkeit vor unsere intellektuelle Anschauung. Die Hegelsche Logik ist daher von Anfang an nicht nur eine Logik, sondern auch eine Ontologie oder Metaphysik. Wichtig ist zu bemerken, dass das Sein zunächst weder als Natur, noch als Substanz oder Existenz zu denken ist, welche Bestimmungen alle eine komplexe logische Struktur haben. Noch ist das Sein als das Sein von Etwas oder als Kopula eines Urteils zu begreifen. Das Sein ist als reines, einfaches Sein zu konzipieren, »ohne alle weitere Bestimmung« (GW 21, 68). Im Laufe der Hegelschen Logik wird sich zwar das Sein als Existenz, Substanz und zuletzt Natur erweisen. Es wird sich also herausstellen, dass es letzten Endes kein reines Sein gibt, weil das Sein nur in der Form der Natur – und dann des Geistes – vorhanden ist. Am Anfang aber dürfen wir die Natur nicht bloß voraussetzen, weil wir als völlig selbstkritische Denker mit dem Wenigsten anfangen müssen, was das Sein überhaupt sein kann.1 Dies Wenigste ist eben das reine Sein. Uns obliegt es dann, zu entfalten, was sonst, wenn überhaupt etwas, in diesem reinen Sein enthalten ist. In der Wissenschaft der Logik deutet Hegel darauf hin, dass die Eleaten – »vorzüglich Parmenides« – zuerst den Gedanken ausgesprochen haben: »nur das Seyn ist, und das Nichts ist gar nicht« (GW 21, 70; siehe auch 81–2). Doch gibt es einen subtilen Unterschied zwischen der Parmenideischen und der Hegelschen Auffassung des Seins. Parmenides zufolge gibt es nur das Sein, und das Nichts ist nicht. In diesem Sinne steht das Sein ganz allein da, denn es fehlt ein Nichts, worauf sich das Sein beziehen könnte. Dennoch unterscheidet sich das Sein explizit vom Nichts. Überdies gehört dieser Gegensatz zum Sein selbst: das Sein ist nicht bloßes Sein, sondern Sein-im-ausdrücklichenGegensatz-zum-Nichts-das-es-nicht-gibt. Gerade deswegen bleibt das Sein der Veränderung enthoben: denn es geht weder aus dem Nichts hervor, noch in das Nichts über. Im Gegenteil »als Selbiges im Selbigen verharrend ruht es in sich selbst und verharrt so standhaft alldort«.2 Parmenides fährt fort: »die starke Notwendigkeit hält es [das Seiende] in den Banden der Schranke«. Durch diese Schranke oder Grenze, sagt er, 1

Vgl. Houlgate, Stephen: The Opening of Hegel’s Logic. From Being to Infinity. Indiana 2006, S. 24–28. 2 Diels, Hermann (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Berlin 1903, S. 124.

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ist das Seiende abgeschlossen nach allen Seiten hin, vergleichbar der Masse einer wohlgerundeten Kugel […]. Es darf ja nicht da und dort etwa grösser oder schwächer sein. Denn da gibt es weder ein Nichts, das seine Vereinigung aufhöbe, noch kann ein Seiendes irgendwie hier mehr, dort weniger vorhanden sein als das Seiende, da es ganz unverletzlich ist.3 Die Schranke bewahrt das Sein daher vor dem Nichts, hält es vom Nichts frei. Sie gehört aber zum Sein selbst. Obwohl es also kein Nichts gibt, bezieht sich das Sein ausdrücklich auf das Nichts, denn es unterscheidet sich vom letzteren durch eine innere Notwendigkeit. Im Gegensatz zu Parmenides denkt Hegel das Sein in seiner reinen Unmittelbarkeit, ohne die negative Beziehung zum Nichts in das Sein einzubauen.4 Das Sein unterscheidet sich Hegel zufolge explizit weder vom Nichts, noch vom Wesen, noch von der Bestimmtheit. Es wird schlicht und einfach als reines Sein begriffen. Wie Hegel schreibt, ist das Sein »nur sich selbst gleich, und auch nicht ungleich gegen anderes, hat keine Verschiedenheit innerhalb seiner, noch nach Außen« (GW 21, 68–9). Der gänzliche Mangel jedes ausdrücklichen Unterschiedes von etwas Anderem – sogar vom Nichts – ist der Reinheit und Einfachheit des Seins wesentlich. »Durch irgendeine Bestimmung oder Inhalt, der in ihm unterschieden, oder wodurch es als unterschieden von einem anderen gesetzt würde«, bemerkt Hegel, »würde es nicht in seiner Reinheit festgehalten«, denn in jenem Fall wäre es nicht als reines Sein, sondern als Sein-im-Gegensatzzum-Nichts verstanden. Nach Hegel also ist das reine Sein notwendig unbestimmt. Es hat keine bestimmte Identität gegenüber etwas Anderem, nicht einmal gegenüber dem Nichts, sondern ist reine »unbestimmte Unmittelbarkeit« (GW 21, 68). Es sei bemerkt, dass Hegel das Sein weder als Un-bestimmtheit, noch als Un-mittelbarkeit definieren kann, denn eine solche Definition würde einen Gegensatz zu etwas Anderem dem Sein selbst einverleiben (siehe GW 21, 55–6). Das Sein darf nur als unbestimmt beschrieben werden. Es ist als reines unbestimmtes Sein zu beschreiben, eben weil seiner Definition jegliche Bestimmtheit und jeglicher Unterschied fehlt. Diese Betrachtungen sollte man im Sinne behalten, wenn man das Satzfragment, womit der Paragraph über das Sein anfängt, liest: »Seyn, reines Seyn, – ohne alle weitere Bestimmung« (GW 21, 68). Die Worte »ohne alle weitere Bestimmung« dienen nicht dazu, das Sein als unbestimmt zu definieren: sie bauen das Nichtbestimmtsein nicht in das Sein ein. Würden sie das tun, so würden sie das Sein in ein negatives Verhältnis zur Bestimmtheit setzen und somit die Reinheit des Seins untergraben. Welche Rolle spielen also Hegels Worte? Sie dienen dazu, die Reinheit des Seins zu bewahren, dadurch dass sie es von aller Bestimmung freihalten, einschließlich der Bestimmung, die darin besteht, unbestimmt zu sein. 3

Ebd., S. 125. Vgl. Henrich, Dieter: Hegel im Kontext. Frankfurt am Main 19714, S. 77 f.: »ohne eine Beziehung aufeinander«. 4

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Am Anfang seiner Logik denkt Hegel das Sein zunächst als reines Sein. Dann fügt er die Worte »ohne alle weitere Bestimmung« hinzu, um uns davon abzuhalten, das Sein weiter zu bestimmen. Unsere Aufgabe ist es also, das reine Sein zu denken und dann sofort aufzuhören. Auf diese Weise werden wir das Sein von aller Bestimmtheit und allem Gegensatz zu Anderem freihalten. Das Sein wird wohl als unbestimmt beschrieben, aber es wird nicht als Un-bestimmtheit definiert. Definiert wird es, wenn man hier überhaupt von einer Definition sprechen kann, nur als einfaches Sein. Wie Dieter Henrich deutlich gemacht hat, wird eine ähnliche Funktion von anderen Ausdrücken im ersten Paragraphen über das Sein ausgeübt.5 Das Sein, so Hegel, soll »nicht ungleich gegen anderes« sein, noch eine »Verschiedenheit innerhalb seiner, noch nach Außen« haben (GW 21, 68–9). Diese Ausdrücke laden uns nicht dazu ein, den Begriff des Nicht-von-etwas-Anderem-verschieden-seins in das Sein einzubauen; sondern sie fordern uns dazu auf, jeden Gedanken von der Ungleichheit und der Verschiedenheit aus dem Sein zu verbannen und somit das Sein rein zu denken. Dieser Punkt ist äußerst wichtig. Hegel ist sich wohl bewusst, dass wir reflektive Wesen sind, die die Welt durch begriffliche Gegensätze verständlich machen. Am Anfang der Logik jedoch müssen wir das Sein ohne solche Gegensätze denken. Hegel zufolge, wird es uns gelingen, dies zu tun, wenn wir vorsichtig mit unserer Sprache umgehen. Wir müssen reflexive Ausdrücke, wie »gleich«, »ungleich« und »verschieden«, sowie alltägliche Wörter wie »ohne« und »alle«, gebrauchen, nicht um das Sein als etwas Anderem Entgegengesetztes zu denken, sondern um es frei vom allem Gegensatz zu halten. Nur so, meint Hegel, werden wir entdecken können, als was das Sein, rein durch sich selbst zu sein, sich entpuppen wird. Der Gedanke, dass wir gewisse Bestimmungen beiseitesetzen müssen, um das Sein rein zu behalten, taucht auch anderswo in der Logik auf. Zur Logik werden wir durch die in der Phänomenologie des Geistes auseinandergelegte Entwicklung des Bewusstseins geführt (siehe GW 21, 54–5).6 Wir wissen daher, dass der Gedanke des reinen Seins durch diese vorangehende Entwicklung vermittelt wird. Wenn wir aber das Sein in seiner Reinheit denken sollen, müssen wir davon abstrahieren, dass solches Sein vermittelt wird, und es als absolut unmittelbar auffassen. Nur so kann der Gedanke des Seins, zu dem wir durch die Phänomenologie geführt werden, den wahren Anfang der Logik darstellen: Diß reine Seyn ist die Einheit, in die das reine Wissen zurückgeht […]. Diß ist die Seite, nach welcher diß reine Seyn, diß Absolut-Unmittelbare, eben so absolut Vermitteltes ist. Aber es muß ebenso wesentlich nur in der Einseitigkeit, das Rein-Unmittelbare zu seyn, genommen werden, eben weil es hier als der Anfang ist. (GW 21, 59) Der andere Weg in die spekulative Logik besteht darin, alle »Voraussetzungen oder Vorurtheile« in einem freien Akt der Abstraktion aufzugeben (GW 20, 117 [§ 78]). Noch 5

Ebd., S. 85 f. Für meine Interpretation der Phänomenologie des Geistes vgl. Houlgate, Stephen: Hegel’s Phenomenology of Spirit. London 2013. 6

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einmal aber müssen wir den Gedanken, dass das Sein das Resultat eines vorhergehenden Prozesses ist, vom Sein selbst fernhalten. Sonst fassen wir das Sein als vermittelt auf, nicht als das rein Unmittelbare, wie es der Begriff des Anfangs erfordert. In Hegels Worten, »beym Seyn als jenem Einfachen, Unmittelbaren wird die Erinnerung, daß es Resultat der vollkommmenen Abstraction, also schon von daher abstracte Negativität, Nichts, ist, hinter der Wissenschaft zurückgelassen« (GW 21, 86). Hegel weist darauf hin, dass das Sein in der Wesenslogik als explizit vermittelt gedacht wird. Am Anfang der Logik jedoch muss das Sein in seiner einfachen Unmittelbarkeit gedacht werden. Um dies zu tun, müssen wir zuerst von all dem abstrahieren, was mit dem Sein gewöhnlich verbunden wird, und dann zweitens davon abstrahieren, dass das reine Sein so verstanden ein Resultat der Abstraktion ist. Nur dadurch führt der Prozess der Abstraktion zum Gedanken des reinen, unmittelbaren Seins.7 Viele Philosophen leugnen, dass es so etwas wie Unmittelbarkeit geben kann. Ja Hegel selbst behauptet, »daß es Nichts gibt, nichts im Himmel oder in der Natur oder im Geiste oder wo es sey, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält, als die Vermittlung« (GW 21, 54). In einer wahrhaft kritischen Philosophie aber dürfen wir nicht einfach voraussetzen, dass dies der Fall sei; ja wir dürfen gar nichts über das Sein und das Denken voraussetzen. Uns obliegt es also, mit dem Sein in seiner anfänglichen Unmittelbarkeit und Reinheit anzufangen. Uns wird es gelingen, das Sein in seiner Reinheit zu denken, wenn wir reflexive Begriffe und andere Wörter gebrauchen, um alle anderen Gedanken vom Sein fernzuhalten. Dadurch denken wir das Sein, nicht als explizit unbestimmt, sondern ganz einfach – »ohne alle weitere Bestimmung«. Unsere Aufgabe als Philosophen besteht dann darin, festzustellen, was, wenn überhaupt etwas, von diesem Sein abzuleiten ist. II. Sein und Nichts Nachdem er mit dem Gedanken des reinen Seins begonnen hat, überrascht uns Hegel mit der Behauptung, dass das Sein, eben weil es so unbestimmt ist, dem Nichts gleichzusetzen ist: »Das Seyn, das unbestimmte Unmittelbare ist in der That Nichts, und nicht mehr noch weniger als Nichts« (GW 21, 69). Das heißt auf keinen Fall, dass wir von vornherein nur das Nichts im Blick haben und gar nicht das Sein gedacht haben. Wir fangen in der Tat mit dem Sein an; jedoch, wegen seiner durchgängigen Unbestimmtheit, erweist sich das Sein nichts zu sein. Wie Hegel selbst es ausdrückt, »verschwindet« das Sein in dem Nichts (GW 21, 69). An diesem Punkt weicht Hegels Verständnis des Seins grundsätzlich von dem Parmenideischen ab. Parmenides fasst, wie wir gesehen haben, das Sein von Anfang an im expliziten Gegensatz zum Nichts auf: das Sein ist, während das Nichts nicht ist. Überdies ist dieser Gegensatz zwischen Sein und Nichts absolut: das Sein geht weder aus dem Nichts hervor, noch in das Nichts über, sondern es bleibt immer nur Sein. Das Sein ist

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Vgl. Houlgate: The Opening of Hegel’s Logic, 88–93.

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und erweist sich nie als etwas anderes als Sein zu sein. Es ist »ungeboren«, »unvergänglich«, »unerschütterlich und ohne Ende«.8 Hegel begreift das Sein hingegen für sich, ohne es explizit dem Nichts oder sonst etwas gegenüberzustellen. Das reine Sein ist also nach Hegel nicht explizit vom Nichts unterschieden, sondern ganz und gar unbestimmt. Es ist das reine Sein ohne die Schranke, die, nach Parmenides, »es rings umzirkt«.9 Dank seiner Unbestimmtheit jedoch verliert sich das Sein im Nichts. Der Gegensatz zwischen Sein und Nichts, den Parmenides für absolut hält, verschwindet auf diese Weise vor unseren Augen. Hegel hält das Verschwinden des reinen Seins im Nichts für etwas höchst Einfaches. Wie er es ausdrückt, »weil das Seyn nur als unmittelbar gesetzt ist, bricht das Nichts an ihm nur unmittelbar hervor« (GW 21, 86). Einige weitere Bemerkungen sind aber nötig, um gewissen Missverständnissen vorzubeugen. Zuerst ist Henrichs Behauptung zuzustimmen, dass »Sein« und »Nichts« nicht bloß verschiedene Worte oder Namen für eine einheitliche Sache seien.10 Es gibt einen unmittelbaren Unterschied zwischen Sein und Nichts selbst: sie sind »nicht dasselbe«, sondern »absolut unterschieden« (GW 21, 69). Das reine Sein wird nicht explizit als Sein-im-Gegensatz-zum-Nichts definiert; dennoch ist das Sein in seiner einfachen Unmittelbarkeit als reines Sein das reine Gegenteil des Nichts. Umgekehrt, wie es in der ersten Ausgabe der Wissenschaft der Logik heißt: »das Nichts ist hier die reine Abwesenheit des Seyns, das nihil privativum« (GW 11, 53). Dadurch, dass es sich als das Nichts erweist, verschwindet das Sein daher »in seinem Gegentheil« (GW 21, 69).11 Zweitens geht das Sein logisch, durch sich selbst, in das Nichts über. Laut Hegel, sind es nicht bloß wir, die das Sein dem Nichts gleichsetzen, weil wir es für leer und bestimmungslos erachten. Wenn das der Fall wäre, würde das Sein selbst unverändert bleiben, uns aber als nichtig vorkommen: wir würden das Sein als Nichts erfahren. Wir würden uns vom Gedanken des Seins zu demjenigen des Nichts bewegen, aber das Sein selbst würde nicht eigens in seinem Gegenteil verschwinden. Der Übergang vom Sein ins Nichts am Anfang der Hegelschen Logik wird auf eben diese Weise von Schelling verstanden. In seinen Münchner Vorlesungen »Zur Geschichte der neueren Philosophie« (1833–4) stellt Schelling diesen Übergang auf folgende Weise dar: nachdem ich das reine Seyn gesetzt, suche ich etwas in ihm und finde nichts, denn ich habe mir selbst verboten, etwas in ihm zu finden dadurch eben, daß ich es als das reine Seyn, als das bloße Seyn überhaupt gesetzt habe. Nicht also etwa das Seyn

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Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, S. 122. Ebd., S. 124. 10 Henrich: Hegel im Kontext, S. 78. 11 Es trifft also nicht zu, wie Henrich behauptet, dass das Nichts »keinesfalls als die Negation von Sein aufgefaßt werden« darf (ebd., S. 88). Henrich hat aber Recht, wenn er darauf besteht, dass Sein und Nichts ohne explizite Beziehung aufeinander aufzufassen sind (ebd., S. 77 f.). 9

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selbst findet sich, sondern ich finde es als das Nichts, und spreche dieß in dem Satz aus: das reine Seyn ist das Nichts.12 So aber wird der Anfang der Hegelschen Logik falsch verstanden. Die spekulative Logik soll darlegen, wie die Kategorie des reinen Seins – und dabei das Sein selber – durch ihre eigene immanente Entwicklung zu weiteren Kategorien führt. Da dies der Fall ist, können wir nicht vom Sein zu weiteren Bestimmungen durch unsere Erfahrung und unser Denken des reinen Seins geleitet werden. Wie Henrich erläutert, »wenn die Logik die Gedankenbestimmungen für sich und auseinander entwickeln will, so kann die Reflexion auf ihr Gedachtsein nicht als Movens ihres Fortschrittes gelten«.13 Die Reflexion darauf, wie etwas gedacht oder erfahren wird, gehört zu einer phänomenologischen Untersuchung des Denkens oder Bewusstseins, gar nicht aber zu einer rein logischen Untersuchung der Kategorien und ihrer immanenten Entwicklung. Drittens, hat Schelling den ersten Übergang in der Hegelschen Logik auf eine weitere Weise missverstanden. Ihm zufolge identifiziert Hegel das Sein mit dem Nichts nur deswegen, weil das reine Sein noch nicht das Sein in seinem wahren Sinne ist. Mit dieser Interpretation schließt Schelling an einige Zeilen in Hegels Enzyklopädie an, worin Hegel behauptet, die Sache sei »noch nicht in ihrem Anfang« (GW 20, 127 [§ 88 A 3]). Schelling beachtet jedoch nicht, was Hegel in der Logik selbst über den Begriff des Anfangs sagt. Hegels Hauptidee ist folgende: der Begriff des Anfangs selbst kann nicht der wahre Anfang sein, weil er kein erstes sein kann. Der Anfang als Anfang verstanden ist notwendig der Anfang von etwas. Er verbindet also in einem »ein Erstes und ein Anderes«, das noch zu entwickeln ist, und somit enthält er ein »Fortgegangenseyn« (GW 21, 62). Mit dem Gedanken des Anfangs anzufangen, bedeutet daher, nicht mit einer ersten Unmittelbarkeit zu beginnen, sondern von vornherein über den Anfang selbst hinaus zu sein. Mit anderen Worten, ist es schon zu wissen, dass etwas im Werden ist, und somit ist es schon angefangen zu haben. Aus diesem Grunde kann man keinen reinen Anfang mit dem Gedanken des Anfangs machen. Man muss eher vom Gedanken des einfachen Seins ausgehen, das sich nicht von vornherein als Anfang von etwas zu erkennen gibt and daher nicht über sich hinausweist auf etwas, das noch nicht vollständig da ist. Obwohl es also wahr ist, dass die Sache »noch nicht in ihrem Anfang« ist, enthält der Gedanke des reinen Seins, womit Hegel seine Logik anfängt, keine Spur des »noch nicht«. Es enthält keinen Gedanken von etwas, das sich entwickelt, aber noch nicht da ist; noch spielt der Gedanke des »noch nicht« eine Rolle im Übergang vom Sein zum Nichts. In Hegels Darstellung geht das Sein in Nichts über, nicht weil es noch nicht das wahre Sein ist, sondern schlicht und einfach, weil es völlig unbestimmt ist. Laut Schelling jedoch spielt der Gedanke des »noch nicht« eine entscheidende Rolle in diesem ersten Übergang. Nach seiner Interpretation »würde der Satz: das reine Seyn ist das 12

Schelling, F.W.J.: Ausgewählte Schriften. Hg. v. Manfred Frank. 6 Bde. Frankfurt am Main 1985, Bd. 4, S. 549 f. 13 Henrich: Hegel im Kontext, S. 82.

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Nichts, nur soviel heißen: das Seyn ist hier – auf dem gegenwärtigen Standpunkt – noch das Nichts«. Der Satz: »das reine Seyn ist noch das Nichts« heißt aber: »es ist noch nicht das wirkliche Seyn«.14 Das reine Sein ist also dem Nichts gleichzusetzen, weil ihm dasjenige fehlt, was zum wirklichen Sein gehört. Indem er den Anfang der Hegelschen Logik auf diese Weise uminterpretiert, beraubt Schelling die Logik der Immanenz, die sie, Hegel zufolge, vor allem auszeichnet. Das reine Sein verschwindet nicht aus eigenem Antrieb im Nichts, sondern es erweist sich das Nichts zu sein, nur weil wir in ihm dasjenige vermissen, was wir dem wirklichen Sein zuschreiben.15 Nach Hegel verläuft die spekulative Logik immanent, weil ihr »die gänzliche Voraussetzungslosigkeit« vorausgeht (GW 20, 118 [§ 78 A]); nach Schelling hingegen setzt diese Logik von vornherein das »wirkliche Seyn« voraus, und ohne diese Voraussetzung würde sie sich nie von der Stelle bewegen. Die »Nöthigung« vom Sein aus zu anderen Kategorien fortzuschreiten, hat laut Schelling, ihren Grund nur darin, daß der Gedanke an ein conkreteres, inhaltsvolleres Seyn schon gewöhnt ist, also mit jener mageren Kost des reinen Seyns, in dem nur überhaupt ein Inhalt, aber kein bestimmter gedacht wird, sich nicht zufrieden geben kann; […] das stillschweigend Leitende dieses Fortgangs ist doch immer der terminus ad quem, die wirkliche Welt, bei welcher die Wissenschaft zuletzt ankommen soll.16 Wir gehen vom Sein zum Nichts über, nur weil wir noch nicht da sind, wo wir endgültig hin gelangen möchten. Schellings Kritik an Hegels Logik hat einen wichtigen Einfluss auf andere Kritiker Hegels, wie Feuerbach, Kierkegaard und Engels, ausgeübt.17 Sie verdreht aber den Hegelschen Gedankengang. Schelling schreibt Hegel folgendes Argument zu. Das Sein ist rein und unbestimmt; es bedarf aber mehr als reines Sein, um Sein überhaupt zu haben; es bedarf Bestimmtheit, Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit, oder was Schelling »wirkliches Seyn« nennt. Da Letzteres im reinen Sein fehlt, bleibt das reine Sein in unseren Augen nichts; das reine Sein ist daher dem Nichts gleichzusetzen, weil ihm gerade das fehlt, was erfordert wird, um mehr als reines Sein zu sein. So aber verläuft Hegels Argument mitnichten. Laut Hegel selber braucht das Sein nicht mehr als reines Sein zu sein, um Sein überhaupt zu sein: das reine Sein ist selber Sein in seiner Unmittelbarkeit. Das reine Sein ist daher nicht schon Nichts, weil ihm das wirkliche Sein fehlt; auch ohne solches wirkliche Sein ist das reine Sein Sein. Das reine Sein verschwindet in Nichts aus einem anderen Grunde. Es verschwindet, weil es gerade in seiner Reinheit als Sein derart unbestimmt ist, dass ihm nichts als reines Sein auszeichnet und es somit nicht einmal das reine Sein ist, das es ist. Es ist so unbestimmt, dass es schlicht und einfach nichts ist.

14 15 16 17

Schelling: Ausgewählte Schriften, Bd. 4, S. 551. Ebd., S. 547 f. Ebd., S. 547 f. Vgl. White, Alan: Absolute Knowledge: Hegel and the Problem of Metaphysics. Ohio 1983, S. 7.

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Hegel zufolge erweist sich das Sein also, Nichts zu sein, nicht darum, weil ihm die Bestimmtheit fehlt, die zum konkreten, wirklichen Sein gehört, sondern weil ihm die minimale »Bestimmtheit« fehlt, die ihm den Charakter des reinen Seins überhaupt verleihen würde. Daher ist das Nichts, zu dem das Sein wird, nicht die Abwesenheit des konkreten, bestimmten Seins, sondern, wie es in der ersten Ausgabe der Wissenschaft der Logik heißt, »die reine Abwesenheit des Seyns« (GW 11, 53). Präziser formuliert, ist das Nichts wohl die Abwesenheit des bestimmten Seins, aber nur weil es die Abwesenheit von Sein überhaupt ist, nicht umgekehrt.18 Der Schlüssel zum Verständnis des Anfangs der Hegelschen Logik ist folgender einfache Gedanke: das reine Sein ist so unbestimmt, dass es nicht einmal das reine Sein ist, das es ist, und daher in Nichts verschwindet. In Hegels eigenen Worten (aus der zweiten Ausgabe der Wissenschaft der Logik), »weil das Seyn das Bestimmungslose ist, ist es nicht die (affirmative) Bestimmtheit, die es ist, nicht Seyn, sondern Nichts« (GW 21, 86). Schelling, einer der einflussreichsten Kritiker Hegels, geht an diesem Punkt blind vorbei und sieht gar nicht, warum das Sein zum Nichts wird.

III. Nichts und Sein Gewöhnlich wird das Nichts als die Abwesenheit von etwas verstanden. In der spekulativen Logik hingegen ist das Nichts nicht bloß als die Abwesenheit von etwas, sondern als die reine Abwesenheit von Sein überhaupt, konzipiert. Doch ist das Nichts nicht als die explizite Negation des Seins, oder »Nicht-sein«, zu begreifen. Später in der Logik, wenn wir den Gedanken des Daseins erreichen, wird das Nichts auf eben diese Weise bestimmt. Das unmittelbare Resultat des Verschwindens des Seins jedoch ist nicht ein Nichts, das sich ausdrücklich negativ auf das Sein bezieht, sondern ein Nichts, dem das Sein ganz und gar fehlt. Solches Nichts ist nichts überhaupt – das reine, einfache Nichts, ohne weitere Bestimmung. Oder wie Hegel selbst erklärt: es ist zunächst nicht um die Form der Entgegensetzung, d. i. zugleich der Beziehung zu thun, sondern um die abstracte, unmittelbare Negation, das Nichts rein für sich, die beziehungslose Verneinung, – was man, wenn man will, auch durch das bloße: Nicht ausdrücken könnte (GW 21, 70). Wichtig ist auch zu betonen, dass Hegel unter »Nichts« nicht bloß eine leere Form des Seins versteht: das Nichts ist nicht bloß der leere Raum, der da ist, aber keinen materiellen Inhalt hat.19 Unter »Nichts« versteht Hegel das absolute, unvermischte Nichts, worin gar keine Spur des Seins zu finden ist. Hegel weist aber sofort daraufhin, dass, dank seiner Reinheit als absolutes Nichts, dem Nichts eine Unmittelbarkeit zukommt: das Nichts ist eben nichts als das Nichts und ist darin unmittelbar es selbst, »die abstracte, unmittelbare Negation«. Dank dieser Unmittelbarkeit aber erweist sich das Nichts als 18 19

Vgl. Houlgate: The Opening of Hegel’s Logic, S. 279. Henrich: Hegel im Kontext, S. 77: »Meinen wir Nichts, so meinen wir nicht Leersein von Gehalt«.

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reines Sein: denn an dieser Stelle in der Logik ist unter »Sein« nur die unbestimmte Unmittelbarkeit zu verstehen. »Nichts ist somit dieselbe Bestimmung oder vielmehr Bestimmungslosigkeit, und damit überhaupt dasselbe, was das reine Seyn ist« (GW 21, 69). Das Nichts ist die reine Abwesenheit des Seins: reines Nichts ohne jegliche Spur des Seins. Doch in seiner Reinheit als Nichts, ist es »einfache Gleichheit mit sich selbst« und daher unmittelbar es selbst. Folglich, wie Hegel es in der Enzyklopädie ausdrückt, ist das Nichts, »als dieses unmittelbare sich selbstgleiche, ebenso umgekehrt dasselbe, was das Seyn ist« (GW 20, 124 [§ 88]). Das Sein verschwindet in Nichts dank seiner reinen Unbestimmtheit; das Nichts verschwindet dann in dem Sein dank seiner unbestimmten Unmittelbarkeit, d. h. dank seiner Reinheit als Nichts. Jedes in seiner absoluten unqualifizierten Reinheit hört also auf, es selbst zu sein und verschwindet »in seinem Gegentheil« (GW 21, 69). Die erste Lehre der Hegelschen Logik ist daher diese: die Reinheit hebt sich unmittelbar auf; in Wahrheit also gibt es keine Reinheit – weder reines Sein, noch reines Nichts. Das rein Affirmative und rein Negative werden jedoch nicht durch ihr Anderes untergraben, sondern jedes negiert sich selbst (siehe GW 21, 93). Im Paragraphen über das Nichts in der Logik scheint Hegel zu behaupten, dass das Nichts nur deswegen zum Sein wird, weil Nichts »ist (existirt)« in unserem Anschauen oder Denken (GW 21, 69). Man sollte aber nicht vergessen, dass die Hegelsche Logik keine phänomenologische Analyse dessen anbietet, was geschieht, wenn wir das Sein und das Nichts denken. Die Logik legt vielmehr dar, als was sich das Sein und das Nichts logisch durch sich selbst zu sein erweisen. Zwar tritt das logische Schicksal des Seins und des Nichts durch unser Denken zutage, eben weil Hegels Ontologie die Form einer Logik annimmt. Die logische Entwicklung, die Hegel nachvollzieht, ist aber kein Produkt unseres Denkens. Im Gegenteil wird sie durch das Sein and das Nichts selbst hervorgebracht, und sie wird bloß durch unser Denken explizit gemacht. Die Entwicklung der Kategorien in der Logik wird also nicht durch unser Denken bestimmt, sondern umgekehrt: unser Denken selber wird durch die den Kategorien immanente Eigendynamik vorangetrieben.

IV. Sein und Nichts als unmittelbar unterschieden Am Anfang des Paragraphen über das Werden in der Wissenschaft der Logik schreibt Hegel: »Das reine Seyn und das reine Nichts ist also dasselbe« (GW 21 69). Jedes erweist sich als sein Anderes und es stellt sich heraus, dass es keinen festen Unterschied zwischen ihnen gibt: »jedes der beyden ist auf gleiche Weise das Unbestimmte« (GW 21, 79). Doch besteht Hegel auch darauf, dass das Sein und das Nichts »absolut unterschieden« sind (GW 21, 69). Wichtig ist, die Natur dieses Unterschiedes näher zu erläutern. Laut Hegel kann dieser Unterschied nicht weiter definiert oder bestimmt werden: er ist »unsagbar« (GW 21, 79). Hegel fordert seine Gegner dazu auf, anzugeben, worin dieser Unterschied besteht; aber er behauptet zugleich, dass dies unmöglich sei, weil

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weder das Sein noch das Nichts eine Bestimmtheit hat, wodurch es vom Anderen unterschieden werden könnte: jedes ist genauso unbestimmt wie das Andere (GW 21, 79– 80). Der Unterschied zwischen dem Sein und dem Nichts liegt daher nur »im Meynen« (GW 21, 79). Es gibt keinen bestimmten Unterschied zwischen ihnen, dennoch sollen sie unterschieden sein. In der Enzyklopädie wiederholt Hegel seine Behauptung, dass der Unterschied zwischen dem Sein und dem Nichts »eine bloße Meynung« sei (GW 20, 124 [§ 87 A 2]). Doch läuft diese Behauptung Gefahr, den wahren Standpunkt Hegels zu verschleiern, denn er will ja gar nicht sagen, dass der Unterschied zwischen dem Sein und dem Nichts bloß von uns gemacht wird. Das Sein und das Nichts sind selber »absolut unterschieden« (GW 21, 69). Das Sein ist das reine beziehungslose Sein ohne alle weitere Bestimmung; als solches aber ist es das reine Gegenteil des Nichts: das Sein ohne jegliche Spur des Negativen. Ebenso beziehungslos ist das reine Nichts; als solches aber ist es das reine Gegenteil des Seins. Daher, schreibt Hegel: »Ebenso richtig, als die Einheit des Seyns und Nichts, ist es aber auch, daß sie schlechthin verschieden sind«, und zwar nicht nur für uns, sondern unmittelbar an ihnen selbst (GW 20, 125 [§ 88 A 1]). Der Unterschied zwischen dem Sein und dem Nichts existiert nicht bloß in subjektiver Meinung, sondern er ist ein unmittelbarer Unterschied, der zum Sein und Nichts selber gehört. Weder das Sein, noch das Nichts ist ausdrücklich in sich selbst das Ausschließen des Anderen, wie dies beim Positiven und Negativen in der Wesenslogik der Fall ist (siehe GW 11, 273). Dennoch schließt jedes das Andere in der Tat aus, weil es unmittelbar es selbst allein ist. Wie Hegel es in der Enzyklopädie ausdrückt, »Seyn und Nichts sind der Gegensatz in seiner ganzen Unmittelbarkeit, d. h. ohne daß in dem einen schon eine Bestimmung gesetzt wäre, welche dessen Beziehung auf das Andere enthielte« (GW 20, 125 [§ 88 A 1]). Der Unterschied zwischen den beiden ist also nicht bloß für uns, sondern er ist ein unmittelbar logischer und ontologischer Unterschied: das Sein ist reines, einfaches Sein, und das Nichts im Gegenteil ist die reine Abwesenheit des Seins. Doch ist dieser unmittelbare Unterschied zugleich unhaltbar. Ja, er verschwindet, sobald er gedacht wird, sobald er ist. Die Wahrheit ist daher, dass »der Unterschied derselben« – des Seins und des Nichts – »ist, aber eben so sehr sich aufhebt und nicht ist« (GW 21, 79). Dieser Unterschied hebt sich auf, weil das Sein und das Nichts in ihrem jeweils Anderen verschwinden und so dasselbe zu sein sich erweisen. Dieses Verschwinden macht explizit, dass der unmittelbare Unterschied zwischen Sein und Nichts ein gänzlich unbestimmter Unterschied ist. Das Sein und das Nichts sind absolut unterschieden, aber zugleich völlig unbestimmt. Ihrem Unterschied fehlt also auch jegliche Bestimmtheit. Diese Unbestimmtheit des unmittelbaren Unterschiedes manifestiert sich als die Unhaltbarkeit und Unbeständigkeit des Unterschiedes. Das Sein und das Nichts sind wohl verschieden, aber auf eine ganz unbestimmte Weise, d. h. derart, dass jedes unmittelbar in das Andere übergeht. Die Dialektik am Anfang der Logik fördert also einen Widerspruch zutage, der dem rein unmittelbaren Unterschied angehört. Dieser Unterschied ist keine bloße Fiktion, sondern ein logischer und ontologischer Unterschied. Er ist aber völlig unbestimmt,

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weil seine Relata völlig unbestimmt sind. Aus diesem Grunde ist er ein verschwindender, sich selbst aufhebender Unterschied. Dieses Verschwinden gehört daher zum Sein und Nichts selbst. Es ist auch keine Fiktion, sondern die wahre Natur des reinen Seins und Nichts selbst – die Dynamik, die von der reinen Unmittelbarkeit untrennbar ist, und der Hegel den Namen »Werden« verleiht. Bemerken sollte man aber, dass der unmittelbare Unterschied zwischen Sein und Nichts in ihrem Verschwinden in einander nicht einfach entfernt wird. Dieser Unterschied wird bewahrt, oder wiederhergestellt, in seinem Verschwinden selbst. Er erhält sich, gerade weil jedes in seinem absolut Anderen verschwindet. Das Sein und das Nichts verschwinden in einander, und in diesem Sinne verschwindet auch der Unterschied zwischen ihnen: sie erweisen sich genau dieselbe Unbestimmtheit zu sein. Doch erweisen sie sich dasselbe zu sein, nur darum weil jedes in seinem Anderen verschwindet: jedes verschwindet in demjenigen, das ganz anders als es selbst ist. In diesem Sinne bleibt der Unterschied zwischen Sein und Nichts in ihrem Verschwinden erhalten. Ja, nur insofern sie noch absolut unterschieden bleiben, kann das eine in dem Anderen völlig verschwinden. Das Sein verschwindet, weil es in das Nichts übergeht, worin gar keine Spur vom Sein zu finden ist; und das Nichts verschwindet gleichermaßen, weil es in das Sein übergeht, dem keine Spur des Negativen anhaftet. Der unmittelbare Unterschied zwischen Sein und Nichts ist daher auf doppelte Weise widersprüchlich: denn er ist ein Unterschied, der, indem er ist, unmittelbar verschwindet, und in diesem Verschwinden selbst sich selbst erhält. Das wahre Verschwinden des unmittelbaren Unterschiedes zwischen Sein und Nichts kann daher nicht in dem andauernden Prozess des Verschwindens bestehen, denn durch diesen Prozess, worin sie in einander verschwinden, wird jedes wiederhergestellt. Das wahre Verschwinden dieses Unterschiedes, worin das reine Sein und Nichts nicht sofort wieder auftauchen, muss also darin bestehen, dass sie in ihrer Ununterschiedenheit oder Einheit verschwinden. In solcher Einheit ist der unmittelbare Unterschied zwischen Sein und Nichts nicht mehr im Verschwinden, sondern verschwunden. Das wahre Verschwinden des reinen Seins und Nichts führt daher zu seinem »Verschwundenseyn«, einem Resultat, das Hegel das »Daseyn« nennt (siehe GW 21, 93–4). Hegel ist sich wohl bewusst, dass der Anfang seiner Logik gegen den verständigen Satz vom Widerspruch verstößt. Der Verstand, in der Gestalt z. B. von Parmenides verkörpert, hält an dem klaren, definitiven Unterschied zwischen Sein und Nichts fest, und widersteht dem Gedanken, dass sie je in einander übergehen könnten. In der Hegelschen Darstellung aber hat die dialektische Umkehrung des Seins und des Nichts in einander nichts Geheimnisvolles an sich. Seiner Ansicht nach ist diese Dialektik logisch notwendig: das Sein und das Nichts verkehren sich in einander, weil sich der unmittelbare Unterschied zwischen ihnen, der keine Fiktion ist, als ein unbestimmter, unbeständiger, verschwindender Unterschied erweist. Hier am Anfang der Logik steht also der unerfahrene Leser Hegels vor der größten Herausforderung an seine herkömmlichen Annahmen über das Denken und das Sein. Spätere Kategorien werden viel komplizierter und schwer verständlicher sein, als das Sein und das Nichts; die Dialektik, die Hegel im Kern des Seins erblickt, tritt

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aber zuerst hier zutage. Einige Leser werden in dieser Dialektik eine Quelle der tiefsten Einsicht finden; andere werden an ihr sicherlich Anstoß nehmen. Letztere sollten aber bedenken, dass es Hegel gar nicht darum geht, die herkömmlichen Prinzipien des Denkens mutwillig zu verwerfen (wie ihm, z. B. Karl Popper vorwirft).20 Ihm geht es einfach darum, die dem Sein immanente Dynamik zur Schau zu bringen, die seiner Meinung nach hervortritt, wenn man seine Aufmerksamkeit auf das Sein in seiner Reinheit und Unmittelbarkeit, ohne unkritisch übernommene Voraussetzungen und Vorurteile, wirft. Diese Dynamik mag wohl der dem Verstande bekannten Welt widerspechen; laut Hegel aber ist sie in der Tat dieser Welt immanent. Sich gegen diese Dynamik zu stemmen, heißt, sich unkritisch dem Standpunkt von Parmenides und Spinoza hinzugeben, den Hegel als »Identitätssystem« bezeichnet (GW 21, 71). Die Grundvoraussetzung dieses Systems ist die, dass das Sein und das Nichts jedes seine Identität erhält und in seiner Reinheit entweder affirmativ oder negativ bleibt. Mit anderen Worten, »Seyn ist nur Seyn, Nichts ist nur Nichts« (GW 21, 71). In Hegels Augen bietet dieses System die einzige Alternative zur spekulativen Philosophie: entweder erkennt man die Dialektik im Sein an, oder man hält fest an der abstrakten Identität. Es gibt keine dritte Möglichkeit. An einer Stelle jedoch scheint Hegel selbst diese Dynamik zu verleugnen, denn er schreibt, »daß das Seyn in Nichts, und das Nichts in Seyn,– nicht übergeht, – sondern übergegangen ist« (GW 21, 69). Seine Ausdrucksweise soll hier aber nicht andeuten, dass das Sein und das Nichts nicht in einander verschwinden. Sie soll auf die Unmittelbarkeit hinweisen, mit der jedes in seinem Anderen verschwindet: sobald jedes ist und gedacht wird, ist es verschwunden. Hegel betont den wesentlich dynamischen Charakter des Seins und des Nichts sowohl in der Enzyklopädie als auch in der Wissenschaft der Logik: die Wahrheit, die in der spekulativen Logik enthüllt wird, ist, »daß das Seyn das Uebergehen in Nichts und das Nichts das Uebergehen ins Seyn ist« (GW 20, 128 [§ 88 A 5]; siehe auch GW 21, 80). Hingewiesen sei hier darauf, dass das Sein und das Nichts nicht nur in einander übergehen, sondern dass jedes selber das Übergehen und das Verschwinden seiner selbst ist. Dieses Verschwinden nennt Hegel »das Werden« (GW 21, 69–70). Nach Hegel also gibt es weder reines Sein, noch reines Nichts, denn beide sind in Wahrheit nur das Werden. An diesem Punkt aber werde ich aufhören. Die Logik entwickelt sich noch weiter; wir aber werden es für heute beim Anfang der Logik belassen müssen.21

20 Popper, Karl: The Open Society and its Enemies. 2 Bde. London5 1966, Bd. 2, S. 40: »the reason why he [Hegel] wishes to admit contradictions is that he wants to stop rational argument, and with it scientific and intellectual progress«. 21 Die weitere Entwicklung der Logik bis zur Kategorie der »wahren Unendlichkeit« habe ich anderswo auseinandergelegt; siehe Houlgate: The Opening of Hegel’s Logic, S. 284–435.

Hegels Dialektik – eine Methode? Zu Hegels Ansichten von der Form einer philosophischen Wissenschaft Michael Wolff

I. Was Hegel ›Dialektik‹ nennt, spielt in seiner Philosophie bekanntlich eine wichtige Rolle, aber was nennt er Dialektik? Was ist Dialektik für ihn? Wird ihre Rolle richtig verstanden, wenn man sie als seine philosophische Methode bezeichnet? Gibt es überhaupt eine dialektische Methode in Hegels Philosophie? – Da in der Hegel-Literatur, spätestens seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts,1 immer wieder von einer solchen Methode gesprochen wird und es bis heute fast allgemein üblich ist, was Hegel ›Dialektik‹ nennt, für seine Methode zu halten, mag man diese Frage abwegig finden. Aber ich möchte sie stellen; denn es lässt sich kurz erklären, warum es sinnvoll ist, sie aufzuwerfen: Nirgendwo in Hegels Originalschriften ist ausdrücklich die Rede von ›dialektischer Methode‹ oder von Dialektik als Methode.2 Allein schon diese Tatsache sollte Anlass sein zu fragen, ob man dem üblichen Verständnis von Hegels Dialektik eine haltbare Grundlage in seinen Schriften geben kann. Schauen wir uns zunächst Textstellen an, die verständlich machen, wieso das übliche Verständnis aufkommen konnte. Solche Stellen sind spärlich, und besonders spärlich sind sie da, wo man sie am ehesten zu suchen hätte, nämlich in Hegels Wissenschaft der Logik. Diese macht ja das Thema ›Methode‹ zu ihrem ganz speziellen Inhalt, und sie hat es offensichtlich damit zu tun, dieses Thema mit Dialektik in Verbindung zu bringen. Aber wie stellt Hegel diese Verbindung her? Was etwa hat sie mit dem zu tun, was er eine ›dialektische Betrachtung‹ nennt. Genau zweimal kommt diese Wortverbindung im Text der Großen Logik vor.3 In beiden Fällen ist eine bestimmte Betrachtung logischer Formen gemeint, die in Kants 1 Siehe Trendelenburg, Adolf: Logische Untersuchungen. 1. Bd., Berlin 1840, S. 23–99; ders.: Die logische Frage in Hegel’s System. Leipzig 1843; Erdmann, Johann Eduard: Grundriss der Logik und Metaphysik. Halle 1841, S. 10 und 165; Fischer, Kuno: Logik und Metaphysik, oder Wissenschaftslehre. Stuttgart 1852, § 21 und § 106; Rosenkranz, Karl: Wissenschaft der logischen Idee. Zweiter Teil: Logik und Ideenlehre. Königsberg 1859, S. 264 ff.; Michelet, Carl Ludwig: Historisch-kritische Darstellung der dialektischen Methode Hegels. Leipzig 1888. 2 Die Behauptung, Hegel habe »die Methode der Entwicklung ›dialektische Methode‹ genannt« (Fischer, Kuno: Logik und Metaphysik, oder Wissenschaftslehre. Zweite, völlig umgearbeitete Auflage. Heidelberg 1865, § 69, 190), lässt sich anhand von Hegels Originalschriften nicht belegen. 3 Die abkürzende Bezeichnung ›Große Logik‹ soll sich hier, wie in der Hegel-Literatur üblich, auf Hegels Hauptwerk Wissenschaft der Logik beziehen, dessen erste Auflage in drei Bänden zwischen den Jahren 1812 und 1816 erschienen ist, von denen nur der erste Band eine zweite Auflage erhielt, die 1832

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Vernunftkritik fehle. Die erste Stelle befindet sich in der ›Einleitung‹ (GW 11, 19 Zeile 8, GW 21, 31 Zeile 23),4 die zweite im Kontext der Schlusslehre (GW 12, 107 Zeile 36–37); die erste Stelle betrifft logische Formen allgemein, die zweite handelt von der »dialectischen Betrachtung des Schlusses«. Das Wort ›Betrachtung‹ ist nun allerdings nach allgemeinem Sprachgebrauch kein Synonym für ›Methode‹: Etwas so oder so betrachten heißt noch lange nicht, einer bestimmten Methode zu folgen. Was Hegels Rede von ›dialektischer Betrachtung‹ mit Methode zu tun hat, ist daher eine Frage, die einer genaueren Untersuchung bedarf. Ich werde auf sie in diesem Aufsatz zurückkommen, sobald ich den dafür nötigen Überblick über Hegels Wortgebrauch geschaffen habe. Wörter wie ›Verfahren‹ und ›Behandlung‹ werden schon eher synonym mit ›Methode‹ gebraucht. So scheint wenigstens Hegel einmal ›Behandlung‹ anstelle von ›Methode‹ zu gebrauchen, wenn er in seiner Ersten Vorrede zur Wissenschaft der Logik erklärt, es gehe ihm in dieser Wissenschaft um einen »neuen Begriff wissenschaftlicher Behandlung« (GW 11, 7, GW 21, 7). Er spricht aber nirgendwo von einer dialektischen Behandlung. Ausnahmen hiervon gibt es nur an einer vereinzelten, wenig aussagekräftigen Stelle im Jenaer Logik-Entwurf von 1804/05 (GW 7, 111 Zeile 25), sowie an mehreren Stellen der Nachschriften seiner Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie (die nicht als Hegels Veröffentlichungen zählen dürfen). Hier wird die Wortverbindung ›dialektische Behandlung‹ ausschließlich gebraucht zur Beschreibung von Varianten antiker Dialektik. Erwähnenswert ist in dieser Hinsicht eine aus den Nachschriften stammende Bemerkung, die posthum in den ersten Zusatz zu § 81 der Kleinen Logik aufgenommen wurde.5 Sie handelt von Platons ›dialektischer Behandlung‹ von ›Verstandesbestimmungen‹ und stimmt der Sache nach überein mit dem, was das letzte Kapitel der Wissenschaft der Logik über Platon und dessen Verdienste um die Entwicklung einer wissenschaftlichen Methode in der Philosophie sagt (GW 12, 241–243). Dieser Text wird meist so verstanden, als wäre aus Hegels Sicht Platons Ausdruck ›dialektische Methode‹ (διαλεκτικὴ μέθοδος)6 ein passender Name für die Methode einer als Wissenschaft auftretenden Philosophie. Aber befördert wird dieses Verständnis nur dadurch, dass Hegel bereit ist, der dialektischen Behandlung von Verstandesbestimmungen durch Platon einen wichtigen Platz in der Geschichte der Logik einzuräumen. Der posthum herauskam. Die Akademie-Ausgabe der Gesammelten Werke (GW) Hegels enthält die erste Auflage in den Bänden 11 und 12, die zweite (unvollständige) Auflage in Bd. 21. 4 Belegstellen aus beiden Auflagen des ersten Bandes der Wissenschaft der Logik gebe ich hier und im Folgenden immer und nur dann an, wenn es sich um wenigstens annähernd gleichlautende Stellen handelt. 5 Die abkürzende Bezeichnung ›Kleine Logik‹ verweist hier, wie in der Hegel-Literatur üblich, auf den Text des unter dem Titel ›Wissenschaft der Logik‹ stehenden ›Ersten Teils‹ (= §§ 19–244) der Enzyklopädie nach der dritten Auflage von 1830. Den Paragraphen dieses Textes sind in der sogenannten Freundesvereinsausgabe der Werke Hegels (Berlin, 1832–1845) erläuternde ›Zusätze‹ beigefügt worden, die ausschließlich auf Kompilationen aus Vorlesungsnachschriften beruhen, die nicht zuverlässig Hegels Aussagen wiedergeben. TWA 8 enthält den Text der Kleinen Logik mit Zusätzen, nach dem ich hier zitiere. 6 Platon: Politeia, Buch VII, 533 c.

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›neue Begriff wissenschaftlicher Behandlung‹, den Hegel verspricht, soll jedoch offensichtlich über Platon hinausgehen. Dieser neue Begriff soll sich ja, nach Auskunft der Einleitung zur Wissenschaft der Logik, auf eine ›wissenschaftliche Methode‹ beziehen, die die Philosophie für sich als Wissenschaft »bisher« noch gar »nicht gefunden« habe (GW 11, 24. 30 f., GW 21, 37. 23). Was aber meint Hegel, wenn er in dieser Einleitung die aufzusuchende wissenschaftliche Methode ankündigt mit den Worten, sie sei eine »Methode, die im Dialektischen lebt« (GW 11, 27, GW 21, 41)? – In bloß metaphorischer Einkleidung scheint diese Ankündigung schlicht von dialektischer Methode zu reden und zu belegen, dass Dialektik für Hegel eine Methode ist. Aber ein solcher Beleg ist sie nicht wirklich. Sie gibt eher ein Rätsel auf. Warum sollte Hegel eine Metapher einfügen, wo eine Metapher überflüssig ist? Der Umstand, dass Hegels Begriffslogik vom Leben nicht nur metaphorisch redet, sondern den Begriff des Lebens (im Abschnitt ›Das Leben‹, GW 12, 179–191) vielmehr als logische Kategorie behandelt, lässt außerdem vermuten, dass Hegels Rede von einer ›im Dialektischen lebenden‹ Methode keine Metapher enthält, sondern eine Beziehung zwischen Dialektik und Methode andeuten soll, die ein Ausdruck wie ›dialektische Methode‹ gar nicht erfaßt hätte. Eine angemessene Interpretation von Hegels diesbezüglicher Redeweise wird man nur erreichen können, wenn man auch solche Stellen aus Hegels Werk mit heranzieht, die offensichtlich ganz unverträglich sind mit der Ansicht, Hegel habe Dialektik vorzugsweise für eine Methode gehalten. Zu diesen Stellen gehört insbesondere der Methodenparagraph der Grundlinien der Philosophie des Rechts (§ 31 und § 31 A [GW 14, 46 f.]). Dieser Paragraph sagt in seinem Haupttext aus, dass die in der Rechtsphilosophie zu befolgende Methode »aus der Logik vorausgesetzt werde«, und in einer beigefügten Anmerkung lässt er den definitionsartigen Satz folgen: Das bewegende Prinzip des Begriffs, als die Besonderungen des Allgemeinen nicht nur auflösend, sondern auch hervorbringend, heiße ich die Dialektik. (GW 14, 47) Der Zusammenhang von Dialektik und Methode ergibt sich in diesem Satz daraus, dass er von einer Bewegung handelt und diese als ›Auflösung und Hervorbringung von Besonderungen des Allgemeinen durch den Begriff‹ beschreibt. Von dieser Bewegung ist auch im Haupttext des Paragraphen die Rede. Dort wird sie als ›Entwicklung des Begriffs aus sich selbst‹ erwähnt und als »immanentes Fortschreiten und Hervorbringen seiner Bestimmungen« bezeichnet (GW 14, 46). Dialektik ist demnach nicht die so bezeichnete Bewegung selbst, sondern das Prinzip, von der sie ausgeht. Dialektik, als ›bewegendes Prinzip‹, ist daher auch nicht Methode. Denn ›Methode‹ nennt Hegel in diesem Paragraphen das ›Wie‹ dieser Bewegung oder auch das Wissen, wie sie verläuft. Deshalb sagt er, aus der Logik werde hier die Methode vorausgesetzt. Aus der Logik werde nämlich (das Wissen) vorausgesetzt, wie in der Wissenschaft der Begriff sich aus sich entwickelt und nur ein immanentes Fortschreiten und Hervorbringen seiner Bestimmungen ist. (GW 14, 46)

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Die Auskünfte, die Hegel hier darüber gibt, was in seinen Augen Begriffsentwicklung ist, mögen im einzelnen schwer verständlich sein. Aber so viel ist jedenfalls klar, dass für ihn Dialektik und Methode zwar aufs engste miteinander zusammenhängen, Dialektik aber (als ›bewegendes Prinzip des Begriffs‹) keine Methode, sondern Prinzip von etwas ist, dessen Selbstentwicklung in der philosophischen Wissenschaft stattfindet, und zwar so, dass in ihr das (gewußte) Wie (d. h. die Art und Weise) dieser Entwicklung deren ›Methode‹ heißt. Hinsichtlich der Beziehung, die demnach zwischen Dialektik und Methode besteht, haben sich Hegels Ansichten zwischen 1812 und 1831 offensichtlich nicht geändert. Man findet nämlich die in der Rechtsphilosophie von 1821 gegebene Beschreibung dieser Beziehung sinngemäß wieder in beiden Ausgaben der Wissenschaft der Logik von 1812 und 1832. Dort heißt es jeweils bereits in der ›Einleitung‹, »die wahrhafte Methode der philosophischen Wissenschaft« falle in die »Abhandlung der Logik« und sei »das Bewußtseyn über die Form der innern Selbstbewegung ihres Inhalts« (GW 21, 37, GW 11, 24). Was hier einleitungshalber (und daher mit vorläufiger Vagheit) »innere Selbstbewegung« des Inhalts der Logik genannt wird, weist voraus auf das, was im Haupttext beider Bücher der Wissenschaft der Logik ›Exposition‹ (beziehungsweise ›Entwicklung‹) des Begriffs genannt wird. Mit dieser Benennung wird angedeutet, dass das, was Hegel den Begriff nennt, »an sich« der Gegenstand ist, dessen innere Bewegung und Entwicklung die Logik insgesamt abzuhandeln habe. Die philosophische Methode wird hier daher, ganz ähnlich wie in der Rechtsphilosophie von 1821, als das gewußte Wie, nämlich als »das Bewußtseyn der Form« der Begriffsentwicklung bezeichnet. Demnach ist klar, dass die philosophische Methode für Hegel (jedenfalls seit 1812) keineswegs zusammenfällt mit dem, was er Dialektik nennt. Vielmehr beschreibt er die Methode der Logik als (Wissen von der) Form der Bewegung ihres Inhalts, wohingegen er die Dialektik als den Grund dieser Bewegung beschreibt. So heißt es in seiner Einleitung zur Großen Logik: Der »Inhalt« des Systems der Logik habe »an ihm« die Dialektik, »welche ihn fortbewegt« (GW 11, 25, GW 21, 38). Ähnlich wie in der Rechtsphilosophie von 1821 wird mit dieser Formulierung die Dialektik als bewegendes Prinzip aufgefaßt, und damit als etwas, von dem die philosophische Methode zwar irgendwie abhängt, das aber nicht mit ihr zuammenfällt. Die Frage, welchen Sinn es hat und wie es zu erklären ist, dass Hegel Dialektik und Methode (als Grund beziehungsweise Form einer Bewegung) mit Hilfe des Begriffs der Bewegung aufeinander bezieht, ist nicht leicht zu beantworten. Bevor ich dies versuche, ist es aber nötig, eine Auskunft Hegels heranzuziehen, die es einem noch aus anderen Gründen schwer macht, ihm eine dialektische Methode zuzuschreiben. Sie betrifft, was Hegel ganz allgemein ›das Dialektische‹ nennt. Nach dieser Auskunft ist »das Dialektische« »der Form nach« eine von drei ›Seiten‹ oder ›Momenten‹ des ›Logischen‹ (GW 20, 118 [§ 79], GW 13, 24 [§ 13]).7 Zur Erläuterung dieser Auskunft muß man auf ihren Kontext eingehen, der sich am Ende des ›Vorbegriffs‹ zur Kleinen Logik (in den §§ 78 bis 82) beziehungsweise fast gleichlautend im ›Vorbegriff‹ zur Heidelberger En7 GW 20 enthält den Enzyklopädie-Text nach der Auflage von 1830 (ohne Zusätze), GW 13 den der ersten Auflage von 1817, genannt Heidelberger Enzyklopädie.

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zyklopädie von 1817 (dort in den §§ 13 bis 16) befindet. Oberflächlich gelesen scheint dieser Kontext eine Deutung nahezulegen, nach der Hegel sagen will, ›das Dialektische‹ sei ein Unterscheidungsmerkmal und wesentliches Moment seiner Methode. Nach dieser Deutung entspräche es durchaus Hegels Intentionen, wenn man seine Methode ›dialektisch‹ nennen würde. Aber diese Deutung beruht auf Mißverständnissen. Hegel zählt in § 79 des ›Vorbegriffs‹ (GW 20, 118) drei ›Seiten‹ oder ›Momente‹ des ›Logischen‹ auf, nämlich außer dem ›dialektischen‹ Moment das sogenannte ›abstrakte‹ (oder ›verständige‹) und das ›spekulative‹ Moment; »das Dialektische«, so hebt Hegel im selben Kontext außerdem hervor, sei »ein wesentliches Moment der affirmativen Wissenschaft« (§ 78 A.). Diese Formulierungen scheinen zu bestätigen, dass Hegel ›das Dialektische‹ als wesentliches Unterscheidungsmerkmal der Methode philosophischer Wissenschaft ansieht. Denn mit affirmativer Wissenschaft ist die Philosophie als Wissenschaft gemeint. Aber als ihr ›wesentliches Moment‹ betrachtet Hegel das Dialektische nur insofern, als sie das Gegenstück zu einer ›negativ‹ genannten Wissenschaft ist. Als solche bezeichnet Hegel (im selben Paragraphen) den ›Skeptizismus‹, der eine »durch alle Formen des Erkennens durchgeführte, negative Wissenschaft« sei (§ 78 A.). Die Bezeichnung des Skeptizismus als Wissenschaft erinnert an Kants Charakterisierung des Skeptizismus als eines ›Grundsatzes szientifischer Unwissenheit‹ (Kritik der reinen Vernunft, A 424, B 451).8 Als negative Wissenschaft bezeichnet Hegel den Skeptizismus hier nämlich deshalb, weil dieser zwar (wie die Philosophie als ›affirmative‹ Wissenschaft) ›das Dialektische‹ in Begriffen ›aufzeige‹ (§ 81 A.), dadurch aber nicht zu Wissen, sondern nur zum Mangel an Wissen, d. h. zur Unwissenheit gelange. Was Hegel ›das Dialektische‹ nennt, ist daher in seinen Augen kein wesentliches Moment (oder Unterscheidungsmerkmal) bloß der ›affirmativen‹ Wissenschaft. Hegel sagt sogar, dass ›das Dialektische‹ den Skeptizismus ›ausmache‹, und zwar mache es ihn insofern aus, als er es vom Moment ›des Spekulativen‹ ›absondere‹ (§ 81 A.). Vom Skeptizismus soll sich nach Hegels Ansicht die Philosophie als affirmative Wissenschaft nur dadurch unterscheiden, dass das Denken in ihr ein positives Resultat hat und daher das Moment ›des Dialektischen‹ in ihr nicht isoliert vorkommt. Als Moment kommt es in ihr nämlich nur vor, nicht insofern sie eine bestimmte Methode anwendet, sondern insofern sie als logische Wissenschaft eine Untersuchung von Denkbestimmungen ist und diese den ›Inhalt‹ des ›Logischen‹ ausmachen (GW 13, 24–25 [§ 13, § 17]). Es sind daher diese Bestimmungen, von denen Hegel annimmt, dass sie ihrer »Form« nach (d. h. als Bestimmungen des Denkens) die Momente des Abstrakten, Dialektischen und Spekulativen enthalten. Demnach sind mit den drei ›Momenten des Logischen‹ formale Momente des Inhalts der affirmativen Wissenschaft, keineswegs aber Momente der Methode dieser Wissenschaft gemeint.9 8 Die Buchstaben A und B verweisen hier und im Folgenden wie üblich auf die Ausgaben der Kritik der reinen Vernunft von 1781 beziehungsweise 1787. 9 Im Gutachten für Niethammer (›Über den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien‹) von 1812 heißt es dementsprechend, dass der ›philosophische Inhalt‹ 1. abstrakt, 2. dialektisch und 3. spekulativ sei. Gemeint ist freilich der Inhalt der Philosophie als einer philosophischen Wissenschaft, d. h. als einer nach (affirmativ-)wissenschaftlicher Methode abgehandelten Disziplin. Deshalb drückt sich Hegel

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Dass Hegel ›das Dialektische‹ nicht als Moment seiner Methode betrachtet hat, wird vollends klar, wenn man seine Ausführungen am Ende der Wissenschaft der Logik (in ihren verschiedenen Versionen des Abschnitts ›Die absolute Idee‹) mit heranzieht. Hier handelt er der Reihe nach ab, was er nun selber ausdrücklich ›die Momente‹ der ›Methode‹ dieser Wissenschaft nennt.10 Diese treten bei ihm unter den Bezeichnungen ›Anfang‹, ›Fortgang‹ und ›Ende‹ auf. Momente der Methode sind sie genau insofern, als sie der Reihe nach die Frage betreffen, wie in einer philosophischen Wissenschaft anzufangen, fortzugehen beziehungsweise zum Ende zu gelangen ist. Als Fragen nach dem Wie der Entwicklung des logischen Inhalts betreffen sie genau das, was Hegel unter der ›wahrhaften Methode der philosophischen Wissenschaft‹ versteht, deren ›Exposition‹ in deren ›Abhandlung‹ selbst falle (GW 21, 37, GW 11, 24). Dementsprechend werden diese Fragen am Ende der Wissenschaft der Logik auf die Methode bezogen, die in ihr selbst befolgt wird und von der darüberhinaus gezeigt werden soll, dass sie die allgemeine Methode und allgemeine Form philosophischer Wissenschaften ist, von denen die Logik nur ein Beispiel, allerdings ein prototypisches Beispiel ist. Hegel nennt diese Methode am Ende seiner Logik (GW 20, 229 [§ 238], GW 13, 108 [§ 186]) ›spekulative Methode‹. Dies kann nicht bedeuten, dass ›das Spekulative‹ eines der Momente dieser Methode wäre und dass es berechtigt wäre, sie ebenso nach einem der beiden anderen ›Momente des Logischen‹ zu benennen. Denn als MethodenMomente betrachtet Hegel nur diejenigen des Anfangs, Fortgangs und Endes. Die Rede von ›spekulativer Methode‹ kann vielmehr nur andeuten, dass es sich um die Methode der Philosophie als ›affirmativer Wissenschaft‹ handeln soll. Dementsprechend nennt Hegel die Methode seiner Philosophie viel häufiger einfach ›wissenschaftliche Methode‹ und die philosophische Wissenschaft, für die sie gebraucht wird, ›spekulativ‹.

II. Diese Terminologie ist keine völlig neue Erfindung Hegels, sondern sie geht auf Kant zurück. Der diesbezügliche Zusammenhang mit Kant ist aufschlußreich, wenn man genauer verstehen will, wie sich bei Hegel das sogenannte Dialektische zum Spekulativen und die Dialektik zur spekulativen Methode verhält. Um dieses Verständnis wird es mir in dem nun folgenden mittleren Teil dieses Aufsatzes gehen.

hier so aus: »Der philosophische Inhalt hat in seiner Methode und Seele drei Formen; 1. ist er abstrakt, 2. dialektisch, 3. spekulativ. Abstrakt, insofern er im Elemente des Denkens überhaupt ist; aber bloß abstrakt dem Dialektischen und Spekulativen gegenüber ist er das sogenannte Verständige, das die Bestimmungen in ihren festen Unterschieden festhält und kennenlernt. Das Dialektische ist die Bewegung und Verwirrung jener festen Bestimmtheiten, – die negative Vernunft. Das Spekulative ist das positiv Vernünftige, das Geistige, erst eigentlich Philosophische.« (GW 10, 830) – Zu Hegels Verwendung des Ausdrucks ›Seele‹ siehe den Schluss dieses Aufsatzes. Zu seiner Verwendung des Ausdrucks ›das Geistige‹ in diesem Zusammenhang vergleiche man den vorletzten Absatz seiner (zur ungefähr gleichen Zeit abgefassten) Vorrede zur ersten Auflage der Wissenschaft der Logik (GW 11, 7–8). 10 Siehe zum Beispiel Enz § 238, GW 20, 229.

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An markanter Stelle, nämlich auf den beiden letzten Seiten seiner Kritik der reinen Vernunft (A 855 f., B 883 f.) kommt Kant auf die Methoden der Philosophie zu sprechen, die er dort einteilt in wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Methoden. Dabei will er unter Methode ganz allgemein »ein Verfahren nach Grundsätzen« verstehen (A 855, B 883). Für nichtwissenschaftlich (Kant nennt es »naturalistisch«) hält er ein Verfahren, das von dem Grundsatz ausgehe, es lasse sich »durch gemeine Vernunft ohne Wissenschaft«11 hinsichtlich philosophischer, insbesondere metaphysischer Fragen »mehr ausrichten« als durch »Speculation«. Die Ausrichtung auf Spekulation ist nach dieser Formulierung genau dasjenige, was nach Kant das wissenschaftliche (»scientifische«) Verfahren der Philosophie vom nichtwissenschaftlichen unterscheidet. Für Kant gehört auch die Vernunftkritik, als systematisch verfahrende philosophische Wissenschaft, ausdrücklich zur Spekulation, auch wenn diese »mehr dazu« diene, »Irrthümer abzuhalten, als Erkenntniß zu erweitern« (A 851, B 875). Zur Spekulation gehört demnach auch das, was Kant den »kritischen Weg« nennt. Von ihm behauptet er am Schluss seiner Kritik, er sei »allein noch offen«, nachdem sowohl die ›dogmatische Methode‹ der Wolffschen Metaphysik als auch das ›skeptische‹ Verfahren David Humes gescheitert sei (A 856, B 884). Es entspricht Kants Wortgebrauch, dass Jäsche in seiner Ausgabe von Kants Logik die Methode wissenschaftlicher Vernunfterkenntnis ›spekulative Methode‹ nennt.12 Eben dieser Wortgebrauch ist es, dem sich Hegel anschließt. Im Unterschied zu Jäsche allerdings, der zwischen philosophischer und mathematischer Vernunftwissenschaft hinsichtlich ihrer Methode keine Grenze zieht, nähert Hegel sein Methodenverständnis der Bedeutung an, die Kant den Ausdrücken ›Spekulation‹ und ›spekulative Wissenschaft‹ (B 110) verliehen hat. Denn diese bezieht Hegel mit Kant nicht auf Mathematik, sondern nur auf Philosophie, nämlich auf systematische Vernunfterkenntnis »aus Begriffen« (A 837, B 865), d. h. nur auf diejenige Wissenschaft, die auf Begriffen a priori beruht (B 109) und zu deren ›Entwurf‹ das System der Kategorien (nach § 11 [B 109 f.]) den ›Plan‹ liefere. Insofern die Bezeichnung ›spekulative Methode‹ nach diesem Verständnis nichts anderes bedeutet als die Methode spekulativer Wissenschaft, knüpft Hegel mit ihr an Kants Terminologie an. Um nun genauer zu verstehen, welche Rolle Hegel der Dialektik in Bezug auf die Methode spekulativer Wissenschaft zuschreiben möchte, muß man sich klargemacht haben, dass es gute Gründe für ihn gibt, Kants Behauptung nicht für das letzte Wort zu halten, allein der ›kritische Weg‹ stehe noch offen. Kant hatte den ›kritischen Weg‹ bezeichnet als »Fußsteig«, den man als Leser seines Hauptwerks »durchzuwandern« habe, um zur Einsicht zu gelangen, dass das Bedürfnis nach einer Metaphysik, die als Wissenschaft auftreten kann, »zur völligen Befriedigung zu bringen« ist, künftige Metaphysik daher möglich ist, nur nicht nach herkömmlicher Methode (A 856, B 884; vgl. B XVf.). Kant hatte hier unterschieden zwischen dem ›kritischen‹ Weg und dem auf diesem Weg zu erreichenden Ziel eines künftig zu errichtenden (transzendentalphilosophischen) Systems einer spekulativen Wissenschaft, die an die Stelle bisheriger Metaphy11 12

Hervorhebung von mir, M.W. Immanuel Kant´s Logik [hg. v. Gottlob Benjamin Jäsche]: AA 9, 27.

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sik zu treten habe (A XXI, B XXIIf.). Dementsprechend hatte Kant wiederholt darauf hingewiesen, dass seine Vernunftkritik über die Methode, die das künftige spekulative System zu befolgen habe, noch keine direkte Auskunft gebe, wohl aber dazu anleite, das ›bisherige Verfahren‹ der Metaphysik ›umzuändern‹ (B XXII).13 Hegel konnte daher, ohne mit Kant in Widerspruch zu geraten, mit einigem Recht behaupten, es sei die Methode bisher »noch nicht gefunden«, durch welche die Philosophie zur spekulativen Wissenschaft werde (GW 21, 37, GW 11, 24). Sein Hauptziel sei es, diese Methode zu entwickeln. Will man verstehen, welche Rolle die Dialektik in Bezug auf dieses Ziel spielt, sollte man beachten, dass bereits Kant ihr eine Rolle in der ›Umänderung‹ des ›bisherigen Verfahrens der Metaphysik‹ zugeschrieben hatte. Hierbei ist es wichtig zu sehen, dass die Kritik der reinen Vernunft den Namen ›Dialektik‹ auf zweierlei Weise verwendet. Einerseits bezieht sie ihn auf den als ›Transzendentale Dialektik‹ bezeichneten Teil ihrer Elementarlehre. Andererseits verwendet sie ihn zur Bezeichnung eines Mittels der Kritik am ›bisherigen Verfahren der Metaphysik‹, bezieht aber diese Bezeichnung nur auf einen Teil der ›Transzendentalen Dialektik‹, nämlich nur auf die ›Transzendentale Antithetik‹, in der die so genannte »Antinomie der reinen Vernunft« untersucht werden soll (A 421, B 448). Man findet diese zweite Verwendungsweise nur in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft.14 Darin bezeichnet Kant das Mittel, mit dem seine Vernunftkritik dem bisherigen, unkritischen Verfahren der Metaphysik die Grundlage entziehen soll, als ein »Experiment der reinen Vernunft«; was Kant in diesem Zusammenhang »die Dialektik« nennt, spielt in diesem Experiment eine entscheidende Rolle (B XXI). Kant nimmt an, dieses Experiment bestätige seine erkenntniskritische und gegen die Metaphysik gerichtete Hauptthese, nach der sich die Gegenstände menschlicher Erkenntnis nach unseren Begriffen richten, statt dass sich umgekehrt menschliche Erkenntnis nach ihren Gegenständen richte. Kant betrachtet diese Bestätigung als das Ergebnis eines quasi-experimentellen Beweises, der von einer versuchsweise angenommenen Hypothese, nämlich der erkenntniskritischen Hauptthese, ausgehe und diese dadurch bestätige, dass ihre 13 Kant stellte sich jedoch vor, dass das künftige System einer Metaphysik, die als Wissenschaft werde auftreten können, eine Verbindung von ›kritischem Verfahren‹ und ›dogmatischer‹, nach dem Vorbild Christian Wolffs verfahrender ›Methode‹ werde vornehmen müssen: »In der Ausführung also des Plans, den die Kritik vorschreibt, d. i. im künftigen System der Metaphysik, müssen wir dereinst der strengen Methode des berühmten Wolff, des größten unter allen dogmatischen Philosophen, folgen, der zuerst das Beispiel gab (und durch dies Beispiel der Urheber des bisher noch nicht erloschenen Geistes der Gründlichkeit in Deutschland wurde), wie durch gesetzmäßige Feststellung der Principien, deutliche Bestimmung der Begriffe, versuchte Strenge der Beweise, Verhütung kühner Sprünge in Folgerungen der sichere Gang einer Wissenschaft zu nehmen sei, der auch eben darum eine solche, als Metaphysik ist, in diesen Stand zu versetzen vorzüglich geschickt war, wenn es ihm beigefallen wäre, durch Kritik des Organs, nämlich der reinen Vernunft selbst, sich das Feld vorher zu bereiten: ein Mangel, der nicht sowohl ihm, als vielmehr der dogmatischen Denkungsart seines Zeitalters beizumessen ist, und darüber die Philosophen seiner sowohl als aller vorigen Zeiten einander nichts vorzuwerfen haben. Diejenigen, welche seine Lehrart und doch zugleich auch das Verfahren der Kritik der reinen Vernunft verwerfen, können nichts andres im Sinne haben, als die Fesseln der Wissenschaft gar abzuwerfen, Arbeit in Spiel, Gewißheit in Meinung und Philosophie in Philodoxie zu verwandeln« (B XXXVIf.). 14 Zum Folgenden vergleiche man: KrV, B XVI–XXII.

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Verneinung widerlegt werde durch den negativen Ausgang des Experiments, nämlich durch den Auftritt der in der Antinomie der reinen Vernunft enthaltenen Widersprüche. Damit weist Kant der antithetischen Dialektik eine Hauptrolle in der Bestätigung seiner erkenntniskritischen Hauptthese zu. Da diese These unvereinbar ist mit dem ›bisherigen Verfahren der Metaphysik‹, Beweise führen zu wollen für die unbedingte und uneingeschränkte Geltung von Kategorien, kann man auch sagen, dass die antithetische Dialektik eine Hauptrolle spielt in Kants Kritik an dem, was Hegel die ›Unbefangenheit‹ dieses metaphysischen Verfahrens nennt (GW 20, 69 [§ 26]). Die Kritik der reinen Vernunft ist daher ein »Traktat von der Methode […] der Wissenschaft«, als den Kant sie in ihrer zweiten Vorrede (B XXII) bezeichnet, nur insofern, als sie eine antithetische Dialektik enthält. Vergleicht man Hegels Terminologie mit Kants Wortgebrauch, so fällt auf, dass es nur dessen engerer, auf die Antithetik bezogener Gebrauch von ›Dialektik‹ ist, an dem sich Hegel orientiert, wenn er erklärt, worin das ›dialektische Moment des Logischen‹ besteht. Es bestehe nämlich genau darin, dass sich in jeder der in der Logik zu betrachtenden Denkbestimmungen ›die Antinomie befindet‹ (GW 20, 85 [§ 48 A.]). Nach dem ›Vorbegriff‹ (GW 20, 119 [§ 81]) ist das »dialektische Moment« das »eigene Sichaufheben« endlicher Bestimmungen und »ihr Übergehen in ihre entgegengesetzten« Bestimmungen. Eben darin, dass Hegel das Dialektische hier ganz allgemein mit der Entgegensetzung endlicher Bestimmungen in Zusammenhang bringt, zeigt sich die Ausrichtung seiner Terminologie an der Antithetik der transzendentalen Dialektik. Diese Ausrichtung hängt damit zusammen, dass es auch aus Hegels Sicht Kants Antithetik war, die zu einer Umänderung des ›unkritischen‹ und (wie Hegel es nennt) ›unbefangenen Verfahrens‹ (GW 20, 69 [§ 26]) der vorkantischen Metaphysik Anlass gegeben hat. Aus seiner Sicht hat Kant mit ihr vor allem Anlass gegeben zu einer Untersuchung, die sowohl in der vorkantischen Metaphysik als auch von Kant selbst versäumt worden sei und die Hegel als Aufgabe einer wissenschaftlichen Philosophie ansieht. Diese Aufgabe besteht nach seiner Beschreibung darin, die reinen Denkbestimmungen (zu denen Kants Kategorien gehören) »ihrem eigenthümlichen Inhalte und Werthe nach« zu untersuchen (GW 20, 70 f. [§ 28]), d. h.: sie »an und für sich« einer »Betrachtung« zu unterziehen, wie sie in Ansätzen schon bei Platon vorkomme (GW 12, 243 f.; vgl. GW 20, 84 Zeile 21–26 [§ 48 A.] und GW 20, 82 Zeile 19–23 [§ 46 A.]). Kants antithetische Dialektik habe zu einer solchen Untersuchung dadurch Veranlassung gegeben, dass sie die Aufmerksamkeit auf den Inhalt der Kategorien gelenkt habe.15 Diesen Inhalt hält Hegel für die wahre Ursache des Auftritts von Antinomien (GW 20, 84 [§ 48 A.], GW 12, 243–244). Nach seiner Ansicht entspringen diese Antinomien nämlich nicht (wie Kant annahm) aus einer fehlerhaften Anwendung der Kategorien, sondern aus ihrem semantischen Inhalt, genauer gesagt aus dem, was Hegel das ›dialektische Moment‹ 15 Damit, dass Hegel Kant das »Verdienst« zuschreibt, »den Anstoß« zu einer »Betrachtung der Denkbestimmungen an und für sich« gegeben zu haben (GW 12, 243 f.), will er ihm nicht, wie Walter Jaeschke anzunehmen scheint, das Verdienst zugeschrieben haben, selbst eine solche Betrachtung erwogen zu haben. Siehe hierzu des näheren: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule. Hg. v. Walter Jaeschke. Stuttgart 2003, S. 229.

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reiner Denkbestimmungen nennt. Hegel verlangt deshalb von einer wissenschaftlichen Philosophie, dass sie durch eine Untersuchung des Inhalts dieser Bestimmungen nachweist, dass sie in entgegengesetzte Bestimmungen ›übergehen‹, also ein ›dialektisches Moment‹ enthalten. Eine solche Untersuchung ist keineswegs dasselbe wie das, was Hegel ›dialektische Betrachtung‹ nennt. Eine dialektische Betrachtung ist in einer solchen Untersuchung nur enthalten, und zwar insofern, als sie das ›dialektische Moment‹ an Denkbestimmungen aufzuzeigen und in Betracht zu ziehen hat. Die geforderte Untersuchung muß sich nämlich auch auf die beiden anderen ›Momente des Logischen‹ beziehen. Erst die Untersuchung aller drei Momente ist imstande, die bloß dialektische Betrachtung über das Niveau des Skeptizismus zu heben und in die Behandlung reiner Denkbestimmungen mit positivem Resultat zu verwandeln. Gemäß ihrem ›abstrakten Moment‹ (GW 20, 118 [§ 80]) müssen diese Bestimmungen in ihrer Abstraktion (d. h. als reine Bestimmungen) für sich genommen und nach ihrer festen Bestimmtheit (d. h. nach ihrer semantischen Unterschiedenheit voneinander) in Betracht gezogen werden. Gemäß ihrem ›spekulativen‹ Moment (GW 20, 120 [§ 82]) müssen sie so in Betracht gezogen werden, dass auch »das Affirmative« aufgefaßt wird, »das in ihrer Auflösung und ihrem Übergehen«, also in ihrem ›dialektischen Moment‹, »enthalten ist«. Zwar lassen sich die abstrakt-verständige und die dialektische Betrachtungsweise Hegel zufolge voneinander und von der spekulativen Betrachtungsweise absondern. Wie diese Absonderung stattfinden kann, hat er in seinem Unterrichtsgutachten von 1812 für Immanuel Niethammer des näheren beschrieben16 und in seinen Nürnberger Gymnasialkursen zur Logik vorexerziert.17 Aber diese Absonderung beruht, wie Hegel ausführt (GW 20, 118 [§ 79 A.]), ihrerseits nur auf einem einseitigen, abstrakt-verständigen Auseinanderhalten der drei Bestimmungsmomente. So kann die einseitig dialektische Betrachtung, als nichtspekulative Untersuchung, über den Skeptizismus (GW 20, 118 f. [§ 78 A.]) nicht hinausführen; sie führt zwar ihrerseits über die einseitige Verstandesansicht reiner Denkbestimmungen hinaus, wie sie für die ›vormalige Metaphysik‹ charakteristisch gewesen sei, aber sie bleibt im Skeptizismus (d. h. einer bloß negativen Wissenschaft) stecken, weil sie für sich genommen so ausgelegt werden kann, dass sie nur zur ›Auflösung‹ reiner Denkbestimmungen führt und ihnen jeden – auch jeden endlichen – Erkenntniswert nimmt. Zu positivem Erkenntnisinhalt kann die Untersuchung reiner Denkbestimmungen nach Hegels Ansicht erst führen, wenn sie auch ihr drittes Moment erfaßt, das eben deshalb ›spekulativ‹ heißt. Als Inhalt der spekulativen Wissenschaft macht es diese und die spekulative Methode zu dem, was sie sind. Ebenso wie der Unterschied zwischen spekulativer und dialektischer Methode ist allerdings der Unterschied zwischen dem ›dialektischen‹ und ›spekulativen Moment des Logischen‹ in der Hegel-Literatur umstritten. Hegel wird vorgeworfen, ›das Dialekti-

16

GW 10, 831 f. Siehe z. B.»Mittelklasse Logik: Geisteslehre Manuskript 1808/09« (GW 10, 29–60) und »Mittelklasse Philosophische Vorbereitungswissenschaften: Logik. Fragmentarisches Manuskript 1810/11« (GW 10, 157–182). 17

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sche‹ nicht konsequent genug unterschieden zu haben von dem, was er ›das Spekulative‹ nennt; er verwende »teils einen engen teils einen weiten Begriff« des Dialektischen; denn nicht überall behalte er die »Restriktion« des Dialektischen »auf das Negative« bei, sondern lasse an anderer Stelle die Differenz zwischen ihm und dem Spekulativen (als dem ›Affirmativen‹ oder ›Positiven‹) »verschwinden«.18 Zum Beleg dient eine Stelle der Einleitung zur Wissenschaft der Logik, aus der die Aussage entnommen wird, im »Dialektischen« bestehe »das Speculative«.19 Achtet man genauer auf den Text, steht allerdings nur da: »In diesem Dialektischen, wie es hier genommen wird, […],« »besteht das Speculative« (GW 21, 40–41, GW 11, 27). Hegel verweist mit ›diesem Dialektischen‹ ausdrücklich auf das zuvor erwähnte ‹Negative‹ (40 bzw. 27), nämlich auf das negative ›Resultat‹ (40 bzw. 27) des Sichaufhebens entgegengesetzter Bestimmungen. Dieses Resultat habe man, so heißt es dort, nicht nur nach seiner ›abstract-negativen Seite‹ (40 bzw. 27) zu nehmen; vielmehr müsse es auch ›in seiner positiven Seite aufgefaßt‹ (40 f. bzw. 27) werden. In dem so ›genommenen‹ Dialektischen bestehe ›das Speculative‹. Mit anderen Worten: Nicht das Dialektische als solches bezeichnet Hegel als das Spekulative; sondern er sagt nur, man habe das Dialektische so zu ›nehmen‹, dass in dem negativen Resultat, das es ist, (d. h. im Sichaufheben und Übergehen), auch ein positives Resultat gefunden werden kann); ›das spekulative Moment‹ besteht demnach im ›dialektischen Moment‹, sofern man dieses nicht isoliert betrachtet, sondern mit dem positiven Resultat zusammennimmt, das im negativen enthalten ist.20 Hegel behält also auch hier seine Unterscheidung zwischen dem dialektischen und spekulativen Moment des Logischen bei. Seine Forderung, das Dialektische nicht isoliert, sondern so zu nehmen, dass auch ein positives Resultat in ihm zu finden ist, ist nicht inkonsequent, sondern im Gegenteil eine Konsequenz aus seiner Ansicht, dass die Momente des Logischen, »in ihrer Wahrheit betrachtet«, nicht »abgesondert auseinandergehalten werden« und nicht »sämtlich unter das erste Moment, das Verständige, gesetzt« werden dürfen (GW 20, 118 [§ 79 A.]). Was dies für die Momente des Dialektischen und Spekulativen bedeutet, bringt auch schon der ›Vorbegriff‹ in seiner allgemeinen Erklärung des Begriffs des ›Spekulativen‹ zum Ausdruck. Denn dort heißt es (wie schon erwähnt), »das Affirmative« sei in der »Auflösung« und im »Übergehen« reiner Denkbestimmungen in ihre entgegengesetzten Bestimmungen bereits »enthalten« (GW 20, 120 [§ 82]). Diese Aussage besagt sinngemäß genau dasselbe wie Hegels wiederholte Aussage, im Dialektischen sei das Spekulative, oder im Negativen sei das Positive zu ›fassen‹ (GW 21, 40–41, GW 11, 27 sowie GW 12, 245 ff.);21 es dürfe daher »bey der abstract-negativen Seite des Dialectischen« nicht stehen geblieben werden, sondern das Resultat der dialektischen Betrachtung sei auch »in seiner positiven Seite« aufzufassen (GW 21, 40, GW 11, 27).

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Jaeschke: Hegel-Handbuch, S. 229. Jaeschke verweist auf GW 21, 40 f. Man vergleiche die hier in Rede stehende Passage GW 21, 40–41 mit § 82 A. in GW 20, 120. Siehe auch GW 21, 38 und GW 11, 25.

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Was ist mit diesem Fassen des positiven Resultats im negativen Resultat gemeint? – Nun, ein nur negatives Resultat liegt nach Hegels Ansicht genau dann vor, wenn die geforderte Untersuchung dabei stehen bleibt, das Übergehen und die mit ihm verbundene Auflösung einzelner Denkbestimmungen aufzuzeigen. Gefordert ist indessen eine fortgesetzte Untersuchung reiner Denkbestimmungen. Nach Hegels Ansicht zeigt diese in ihrem Resultat, dass entgegengesetzte Denkbestimmungen auch wechselseitig ineinander übergehen. Sie weisen daher, wie Hegel feststellt, einen ›doppelten Übergang‹ auf, von dem der zweite eine »Rückkehr« zum Ausgangspunkt des ersten ist (GW 21, 320). Nimmt man daher jeweils beide Übergänge zusammen, lassen sie unmittelbar erkennen, dass entgegengesetzte Denkbestimmungen zusammengehören und eine bestimmte (oder näher zu bestimmende) Einheit bilden. Diese muß daher ihrerseits zum Gegenstand logischer Untersuchung gemacht werden können und sich als spekulative Betrachtung von der dialektischen Betrachtung unterscheiden lassen. Dementsprechend sagt Hegel an einer nur wenig beachteten (und nur in der Ausgabe von 1832 vorkommenden) Stelle seiner Wissenschaft der Logik: Diese Bemerkung über die Nothwendigkeit des doppelten Uebergangs ist von großer Wichtigkeit für das Ganze der wissenschaftlichen Methode. (GW 21, 320) Für das Ganze der wissenschaftlichen Methode der Philosophie ist diese Bemerkung aus zwei Gründen wichtig. Erstens erklärt sie, was das Fassen des Positiven im Negativen bedeutet, was es also bedeutet, wenn Hegel in seiner allgemeinen Erklärung des spekulativen Moments sagt, ›das Affirmative‹ werde an Denkbestimmungen aufgefaßt dadurch, dass ihre »Einheit« »in ihrer Entgegensetzung« aufgefaßt wird (GW 20, 120 [§ 82]). Da es auf der Bestimmtheit (d. h. auf dem semantischen Inhalt) reiner Denkbestimmungen beruht, dass sie ineinander übergehen und sich gegenseitig aufheben, diese Aufhebung also nicht beruht auf ihrer Anwendung auf Gegenstände als Dinge an sich, ist sie nicht wie der negative Ausgang von Kants Vernunftexperiment zu behandeln, nämlich nicht so, dass auf die Richtigkeit einer vorausgesetzten Hypothese zurückzuschließen ist, nach der reine Verstandesbegriffe generell nur subjektiven Erkenntniswert haben. Vielmehr erzwingt die doppelte Selbstaufhebung entgegengesetzter Denkbestimmungen eine spekulative Betrachtung, nach der sie, in ihrer sich aufhebenden Bestimmtheit, als Momente einer weniger abstrakten Einheit, als sie selber sind, genommen und neu bestimmt werden müssen. Zweitens weist Hegels Bemerkung darauf hin, dass die Betrachtung des ›dialektischen Moments‹ reiner Denkbestimmungen zwar grundlegend, aber nicht hinreichend ist für das Zustandekommen spekulativer Wissenschaft. Sie muß in eine spekulative Betrachtung übergehen, weil das ›dialektische Moment‹ seinerseits (aufgrund des doppelten Übergangs) übergeht in ein ›spekulatives Moment‹.

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III. Hiermit sollte nun hinreichend klargeworden sein, dass das, was Hegel ›das Dialektische‹ nennt, weder selbst eine Methode noch das Moment einer Methode, sondern lediglich etwas ist, was eines Nachweises an reinen Denkbestimmungen durch logische Untersuchung bedarf. Diesen Nachweis versteht Hegel als zwar notwendigen, aber keineswegs hinreichenden Beitrag zum ›Ganzen‹ der Methode einer spekulativen Wissenschaft. Für sich genommen ende dieser Nachweis geradewegs im Skeptizismus. Nun sollte bereits im ersten Teil dieses Aufsatzes klargeworden sein, dass auch das Wort ›Dialektik‹ von Hegel nicht so gebraucht wird, als bezeichnete es eine Methode. Wohl aber bestimmt der oben zitierte Methodenparagraph der Grundlinien der Philosophie des Rechts (§ 31 A.) Dialektik als ›bewegendes Prinzip‹, das für die wissenschaftliche Methode philosophischer (und in erster Linie logischer) Untersuchung grundlegend sein soll. Am Ende dieses Aufsatzes will ich daher auf die Frage zurückkommen, welchen Sinn es hat und wie es zu erklären ist, dass Hegel Dialektik und Methode mit Hilfe des Begriffs der Bewegung aufeinander bezieht. Zunächst erinnert der Umstand, dass Hegel den Ausdruck ›Prinzip‹ hier mit wissenschaftlicher Methode in Zusammenhang bringt, daran, dass Kant den Begriff der Methode erklärt hatte, indem er diese (wie erwähnt) als ›Verfahren nach Grundsätzen‹ und dementsprechend an anderer Stelle als ›Verfahren nach Prinzipien‹ definiert.22 Nach Hegels Ansicht kann die Dialektik indessen kein Prinzip im Sinne eines Grundsatzes und die Methode der spekulativen Wissenschaft kein Verfahren nach Grundsätzen sein. Schon nach dem ersten Satz von § 1 seiner Enzyklopädie steht für ihn fest, dass sich die Philosophie, als spekulative Wissenschaft, von allen anderen Wissenschaften dadurch unterscheidet, dass sie weder ihre Methode noch eine Vorstellung von ihrem Gegenstand als etwas ›Zugegebenes‹ voraussetzen kann. Vielmehr vertritt er die Ansicht, dass die Begriffe dessen, was spekulative Wissenschaft und ihre Methode sind, zum Inhalt dessen gehört, was diese Wissenschaft zu untersuchen, zu rechtfertigen und zu entwickeln hat. Dementsprechend gehört es zu den vorrangigen Zielen der Wissenschaft der Logik, den Begriff der Methode zu entwickeln. Der in ihrer Einleitung angekündigte ›neue Begriff wissenschaftlicher Behandlung‹ reiner Denkbestimmungen muß der Begriff von einer Methode sein, nach der sich dessen eigene notwendige Entwicklung vollzieht. Daher kündigt Hegels Logik ihre Methode an als eine solche, die mit ihrem Inhalt zusammenfällt.23 Diese Methode kann als solche kein Verfahren nach vorausgesetzten

22 So schreibt Kant in der KpV, wissenschaftliche Methode sei dasjenige »Verfahren nach Principien der Vernunft, wodurch das Mannigfaltige einer Erkenntnis allein ein System werden kann« (AA 5, 151). 23 In seiner Vorrede zur ersten Ausgabe der Enzyklopädie schreibt Hegel, die »gegenwärtige Darstellung« sei »eine neue Bearbeitung der Philosophie nach einer Methode«, »welche noch, wie ich hoffe, als die einzig wahrhafte, mit dem Inhalt identische, anerkannt werden wird« (GW 13, 5). Vgl. GW 21, 27 und 38 sowie GW 11, 15 und 25.

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Grundsätzen sein, sie muß vielmehr von solchen Voraussetzungen unabhängig sein. Sie wird von Hegel daher ›absolute Methode‹ genannt.24 Es würde den Rahmen meines Themas sprengen, wollte ich ausführlicher auf den Begriff der absoluten Methode eingehen. Ich will mich daher darauf beschränken zu erklären, in welchem Sinne die absolute Methode eines ›Prinzips‹ fähig und bedürftig ist. Ausgangspunkt meiner diesbezüglichen Erklärung ist die Beobachtung, dass sich Hegel in seinem Gebrauch der Begriffe des Dialektischen und der Dialektik an der antithetischen Dialektik Kants orientiert. Kant seinerseits war in der Gestaltung dieser Dialektik (worauf indirekt schon ihr Name ›Antithetik‹ hinweist)25 dem Vorbild des pyrrhonischen Skeptizismus gefolgt. Dieses Vorbild hatte er selber kenntlich gemacht, dadurch dass er das Verfahren, zwei einander entgegengesetzte Aussagen (Thesis und Antithesis) einander gegenüberzustellen und ihrem Widerstreit gleichsam als neutraler Beobachter »zuzusehen«, als »sceptische Methode« bezeichnete (A 424, B 451). Dieses Verfahren entspricht einem Verfahren, das Sextus Empiricus als das Entgegensetzen einer Aussage (λόγος) gegen eine andere gleichwertige Aussage (ἴσος λόγος) bezeichnet hat.26 Anders als das antithetische Verfahren Kants beruht aber das Verfahren der pyrrhonischen Skepsis, das Sextus beschreibt, nicht auf der vorausgesetzten Einteilung von Prädikaten gemäß einer Kategorientafel. Vielmehr beruht es nach Sextus auf einem ›Prinzip‹ (ἀρχή), das sich auf jeden vorgegebenen λόγος beziehen soll. Sextus bezeichnet es als ›oberstes Prinzip‹ des Skeptizismus (σκεπτικὴς συστάσεως); nach seinen Worten (die übrigens Hegel in seinem Skeptizismus-Aufsatz von 1802 im griechischen Wortlaut wiedergibt (GW 4, 208)) besagt es, »jedem λόγος« sei oder werde »ein gleichwertiger (ἴσος) λόγος entgegengesetzt (ἀντικεῖσθαι)«.27 Man kann das Verfahren, das diesem Prinzip folgt und eben dadurch sich von Kants Variante einer ›skeptischen Methode‹ unterscheidet, ebensogut wie diese Variante mit dem konfrontieren, was Hegel ›dialektische Betrachtung‹ reiner Denkbestimmungen nennt. Diese Betrachtung zielt ja, wie erwähnt, ab auf den Nachweis, dass antithetische Beziehungen zwischen gleichwertigen Aussagen, wie sie in Kants Dialektik und im Skeptizismus behandelt werden, auf das Ineinanderübergehen des semantischen Inhalts entgegengesetzter Denkbestimmungen zurückzuführen sind. Ihre Entgegensetzung kommt demnach nicht dadurch zustande, dass ein Grundsatz befolgt wird, aus dem sich ergibt, dass bestimmte Aussagen einander gegen24

GW 11, 8, GW 21, 8, GW 12, 240–241 und 249–250. Sextus Empiricus hat den Skeptizismus definiert als »antithetische Fähigkeit« (ἀντιθετικὴ δύναμις). Siehe dessen Pyrrhonische Hypotyposen, I, 8, hier zitiert nach der Ausgabe von R. G. Bury: Sextus Empiricus with an English Translation in Four Volumes. Vol. I. Outlines of Pyrrhonism. Cambridge Mass. 1976, S. 6. 26 Ebd. I, 12, S. S. 8. 27 Ebd. – Nach Sextus’ Auskunft ist dieses ›Prinzip‹ auf zweierlei Weise zu verstehen, nämlich erstens als ein Satz, der ein »menschliches Widerfahrnis« (ἀνθρώπειον πάθος) wiedergibt, das es rechtfertigt zu sagen, es »scheine« einem so, dass es zu jeder Argumentation (λόγος) eine gleichwertige entgegengesetzte Argumentation gibt (ebd. I, 203, S. 120), und zweitens als eine (aus einem derartigen Widerfahrnis resultierende) Handlungsmaxime, nach der sich Skeptiker vornehmen: »Laßt uns jeder Argumentation eine gleichwertige Argumentation entgegensetzen« (ebd. I, 204, S. 120 ). So oder so verstanden, ist dieses Prinzip kein dogmatisch vorausgesetzter Grundsatz. 25

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überzustellen und mit gleichstarken Argumenten zu beweisen sind. Für die von Hegel geforderte Untersuchung reiner Denkbestimmungen braucht kein solcher Grundsatz vorausgesetzt zu werden. Die ›dialektische Betrachtung‹ des semantischen Inhalts dieser Bestimmungen besteht nach Hegels Ansicht vielmehr darin, ihren mehr oder weniger abstrakten Bedeutungsgehalt zu untersuchen und dadurch nachzuweisen, dass sich ihre feste semantische Bestimmtheit nicht halten lässt, so dass ein Übergang in entgegengesetzte Bestimmungen stattfindet. Die Fortsetzung dieser Untersuchung hat an ihrem Ende zu erweisen, dass dieser Übergang, als ›dialektisches Moment‹, allgemein die ›Natur‹ endlicher Verstandesbestimmungen ausmacht. Man kann daher sagen, dass auf dieser allgemeinen Natur die Möglichkeit eines wissenschaftlichen Verfahrens beruht, das den Namen ›absolute Methode‹ verdient. Man kann auch sagen, dass das, was diese Methode ermöglicht, ihr Prinzip ist; nur ist es Prinzip nicht im Sinne eines vorausgesetzten Grundsatzes, sondern im Sinne einer aristotelischen ἀρχὴ κινήσεως. Deren Erkenntnis kann erst am Ende einer Untersuchung erreicht sein, und sie hat mit dem Prinzip der pyrrhonischen Skepsis gemeinsam, dass sie das Resultat von Untersuchung ist. Dass Hegel so gedacht hat und Dialektik für ihn eine Art Bewegungsprinzip gewesen ist, lässt sich an seinen Texten zeigen. So heißt es im ›Vorbegriff‹ zur Kleinen Logik (GW 20, 119 [§ 81 A.]): »In ihrer eigenthümlichen Bestimmtheit«, d. h. verstanden als ›bewegendes Prinzip‹ gemäß der Definition des Methodenparagraphen der Grundlinien der Philosophie des Rechts (§ 31 A.),28 »ist die Dialektik die eigene, wahrhafte Natur der Verstandesbestimmungen«. Nach dieser Definition ist Dialektik das Prinzip derjenigen logischen Bewegung, auf die sich die logische Untersuchung reiner Denkbestimmungen beziehen muß. Gemeint ist mit dieser Bewegung das Übergehen und Sichaufheben. Auf diese Bewegung bezieht sich die in Rede stehende Definition nun allerdings mit Hilfe einer Terminologie, die dem letzten Teil der Wissenschaft der Logik (der so genannten ›Lehre vom Begriff‹) entnommen ist: Dialektik sei, so heißt es dort, »das bewegende Prinzip des Begriffs, als die Besonderungen des Allgemeinen nicht nur auflösend, sondern auch hervorbringend.« Zur Erläuterung dieser Definition wäre es nötig, auf Hegels ›Lehre vom Begriff‹ einzugehen. Dazu fehlte mir in diesem Aufsatz der nötige Raum. Es sei aber angemerkt, dass der Gebrauch begriffslogischer Terminologie in dieser Definition schon als solcher einen wichtigen indirekten Hinweis enthält. Er verweist darauf, dass das als Dialektik definierte Prinzip nichts ist, was schon beim Eintritt in die Wissenschaft der Logik als etwas schon Zuzugebendes vorausgesetzt würde. Die Einsicht in das, was Hegel die ›Natur‹ endlicher Denkbestimmungen nennt, kann nur ein Endergebnis logischer Untersuchung sein. Von Hegels Dialektik-Definition fällt nun auch Licht auf seine Erklärung der ›absoluten Methode‹ als einer Methode, die »im Dialektischen lebt«. Für Aristoteles ist die ἀρχὴ κινήσεως lebender Körper die Seele. Sie ist Prinzip ihres Lebens als einer besonde-

28 In dem sonst fast gleichlautenden § 15 der Enzyklopädie von 1817 (siehe GW 13, 26 ff.) fehlt noch der auf die Dialektik-Definition des § 31 A. der Grundlinien von 1821 anspielende Satzteil »In ihrer eigenthümlichen Bestimmtheit«. Die zweite Auflage der Enzyklopädie von 1827 enthält diesen Satzteil (siehe GW 19, 92).

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ren Art von Selbstbewegung.29 Nach diesem Vorbild bestimmt Hegel (und zwar gleich im Anschluß an die Dialektik-Definition seiner Grundlinien (§ 31 A.)) das bewegende Prinzip, das die Dialektik ist, als »die eigene Seele des Inhalts [des Denkens], die organisch ihre Zweige und Früchte« hervortreibe. Er deutet hiermit an, dass das Prinzip der absoluten Methode ein Prinzip von Selbstbewegung ist. Dies bedeutet: Aufgrund dieses Prinzips formt sich die spekulative Wissenschaft als ein sich selbst organisierendes System. Dementsprechend heißt es auch in § 81 A. des ›Vorbegriffs‹ (GW 20, 119): »Das Dialektische« mache in diesem System »die bewegende Seele des Fortgehens« aus und sei »das Princip, wodurch allein immanenter Zusammenhang und Nothwendigkeit in den Inhalt der Wissenschaft kommt.« Demnach beruht die absolute Methode auf einem Prinzip der Selbstorganisation, das ihren Fortgang bestimmt. Hegels Begriffslogik behandelt das Leben als Form von Selbstorganisation. Von der absoluten Methode zu sagen, sie ›lebe im Dialektischen‹, bedeutet dementsprechend nichts anderes, als dass ihr Prinzip ein Prinzip von Selbstorganisation ist. – Was immer man von Hegels Ansichten über Dialektik und Methode am Ende der Lektüre dieses Aufsatzes halten mag, – es ging mir in ihm darum zu zeigen, dass das übliche Verständnis dessen, was Hegel ›Dialektik‹ nennt, falsch oder jedenfalls irreführend ist. Denn Hegel bezeichnet mit diesem Ausdruck keine Methode. Auch ist das ›dialektische Betrachten‹ in Hegels Augen keineswegs etwas, was den Gang seiner Methode beeinflussen würde. Darum nennt er dieses Betrachten mit einem von Kant entliehenen Ausdruck ein bloßes ›Zusehen‹ (Grundlinien § 31 A. [GW 14, 47]). Dabei denkt er an einen Betrachter, der (anders als der pyrrhonische Skeptiker oder der Transzendentalphilosoph) keinem Streit zwischen entgegengesetzten Standpunkten zusieht, sondern nur sieht, wie sich reine Denkbestimmungen von selbst bewegen und so den Fortgang der absoluten Methode bestimmen. Die Frage, worin diese Methode als solche besteht, gehörte nicht zum Thema meines Vortrags. Zu ihrer Beantwortung würde es denn auch nicht genügen, nur Hegels Ansichten über ihren Fortgang wiederzugeben. Denn zur Methode der spekulativen Wissenschaft gehört nach Hegel nicht nur das Wie (d. h. die ›Weise‹)30 ihres Fortgangs, sondern auch das Wie ihres Anfangs und Endes. Natürlich steht es jedem frei, dialektisch zu nennen, was Hegel den Fortgang der Methode nennt. Unproblematisch ist diese Benennung, wenn man mit ihr bloß meint, dieser Fortgang sei bestimmt durch das als Dialektik bezeichnete Bewegungsprinzip. Irreführend wird diese Benennung aber dann, wenn man zugleich am üblichen Verständnis von Methode festhält, nach dem sie etwas ist, das schon bekannt und akzeptiert sein muß, bevor von ihm ein berechtigter Gebrauch gemacht wird. Bei einem solchen Verständnis würde man übersehen, dass nach Hegels Ansicht sowohl die Dialektik als auch die Methode, die durch sie bestimmt ist, zum Inhalt dessen gehören, was erst mit ihrer Hilfe erkennbar ist. 29

Aristoteles: De anima II, 4. Siehe hierzu auch Hegels Kommentar in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie (TWA 19, 202). 30 Zur Verwendung dieses Ausdrucks siehe GW 12, 238.

Die Logik der Negation bei Hegel Robert B. Pippin

I. Das Problem Hegel hat die Tendenz, außergewöhnliche Aussagen über den Begriff zu machen, den er manchmal »Negation«, manchmal »Negativität« und gelegentlich »das Negative« nennt. Die Frage, was damit gemeint sei, ist zur Quelle der radikalsten Kritik seines gesamten philosophischen Ansatzes geworden. So wird ihm vorgeworfen, dass er logische Negation mit tatsächlicher, in der Welt stattfindender Opposition verwechsele; dass er davon ausgeht, dass sich alles in der Welt Befindliche selbst widerspreche und dass im Falle von sich widersprechenden Urteilspaaren beide akzeptiert werden können; oder, noch einfacher ausgedrückt, dass seine Aussagen über Negation und Widersprüchlichkeit nicht auf kohärente Weise verstanden werden können. Auch muss ein jeder HegelInterpret der Tatsache ins Auge blicken, dass Hegel den Begriff der Negation in zahlreichen Zusammenhängen auf unterschiedliche Weise verwendet hat. Wir müssen daher zu Beginn die zahlreichen Zusammenhänge genauer betrachten, bevor wir verstehen können, was ihre Gemeinsamkeiten sein könnten (falls es überhaupt welche gibt). Im Folgenden möchte ich daher einen weitgefassten Überblick verschaffen und dabei den Beginn einer Interpretation der Logik der Negation in der Wissenschaft der Logik anbieten. Die wichtigsten Bedeutungsdimensionen der Negation lauten wie folgt: Zuerst gibt es die Aussage, dass das Denken selbst als eine »verneinende« Aktivität verstanden werden sollte. Dies bedeutet zweierlei. Erstens bezieht es sich auf die angeblich »negative« Dimension des Aktes des Urteils selbst; zweitens hat es mit der Frage zu tun, warum Hegel denkt, dass irgendein individueller Akt der Bestimmung (oder der Prädikation) selbst als eine Art des Negierens verstanden werden sollte. Es ist uns sicherlich nicht intuitiv verständlich, was die Aussage S ist P mit diesen beiden Bedeutungen der Negation zu tun haben könnte. Der zweite Sinn ist vertrauter: Warum und wie der bestimmte Inhalt eines Begriffs in erster Linie im Kontrast verständlich ist, d. h. in negativer Beziehung auf, und somit in Abhängigkeit von dem, was es nicht ist. (In der Seinslogik, wo dies das operative Verständnis der spekulativen Negation ausmacht, ist dies ein Kontrast zwischen Gegensätzen; Quadrat mit Nicht-Quadrat oder Kreis; und nicht nur mit allem, was »nicht quadratisch« ist.) Auch dies ist intuitiv ein schwieriges Problem: warum sollte etwas wie die Tatsache, dass S S ist und somit nicht Nicht-S, irgendetwas mit Opposition oder Dialektik zu tun haben? Und dann gibt es da noch das komplizierte Problem des Widerspruchs.

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II. Denken als Negieren In der Jenaer Phänomenologie hatte Hegel bereits von der »ungeheure[n] Macht des Negativen« (GW 9, 27) gesprochen und sie lediglich mit der »Energie des Denkens, des reinen Ichs« (GW 9, 27) identifiziert. In der ersten Ausgabe der Wissenschaft der Logik, in einer in der Überarbeitung von 1831 weggelassenen Anmerkung, bezeichnet er die Negation als »das wahrhaft Reale und Ansichseyn«, und merkt an, dass diese Negativität die »abstracte Grundlage aller philosophischen Ideen, und des speculativen Denkens überhaupt« ist. Erst in unserer Zeit, der »neuere[n] Zeit«, hätten wir begonnen, dies zu verstehen (GW 11, 77). Wenn er im letzten Band der Logik dieses »neuere« Verständnis kommentiert, betont er seine überragende Wichtigkeit ebenso deutlich wie seine Ausführungen schwierig zu verstehen sind. Die betrachtete Negativität macht nun den Wendungspunkt der Bewegung des Begriffes aus. Sie ist der einfache Punkt der negativen Beziehung auf sich, der innerste Quell aller Thätigkeit, lebendiger und geistiger Selbstbewegung, die dialektische Seele, die alles Wahre an ihm selbst hat, durch die es allein Wahres ist; denn auf dieser Subjectivität allein ruht das Aufheben des Gegensatzes zwischen Begriff und Realität und die Einheit, welche die Wahrheit ist. (GW 12, 246) Dabei fällt ein bestimmter Aspekt, auf den Hegel sich hier bezieht, besonders seine Bestimmung von Negativität als »der Energie des Denkens, des reinen Ichs« (GW 9, 27) und sein deutlicher Verweis auf »Subjektivität«, durchgehend in der Logik1 auf. An anderen Stellen betont er z. B., dass er sich auf den apperzeptiven Charakter des Urteilens als auf jenes bezieht, das erklärt, warum der Akt des Urteilens selbst sowohl den Status von etwas inhärent »Negativem« als auch von etwas Positivem hat.2 Urteilen ist auch das Bewusstsein des Urteilens; Handeln ist das Bewusstsein des Handelns. Urteilen ist somit nicht ein geistiges Ereignis, das einfach so stattfindet; Ich urteile; und ich urteile im Bewusstsein, dass ich urteile. Handeln ist nicht eine bloße körperliche Bewegung; Ich handele; und zwar in dem Bewusstsein, dass ich eine bestimmte körperliche Bewegung initiiere. In jedem Fall ist es ein Akt, und nicht zwei.3 In der Wissenschaft der Logik möchte Hegel das Problem des ontologischen Status der »Negativität«, des Nichtseins, d. h. dessen, was nicht die Fülle oder Gegenwart des »positiven Seins« ist, »logisch« und nicht »phänomenologisch« behandeln. Doch sind dies immer noch verschiedene Arten von Abhandlungen über den gleichen Gegenstand. So einfach wie möglich ausgedrückt, sprechen wir hier sowohl von der logischen Struktur des (apperzeptiven) intentionalen Bewusstseins, als auch vom ontologischen Status des Handelns selbst. Was es bedeutet zu sagen, dass die Verständlichkeit eines jeden Bewusstseinsin1 Siehe GW 20, 81, §45; GW 21.145; GW 12.17 (»Der Begriff, insofern er zu einer solchen Existenz gediehen ist, welche selbst frey ist, ist nichts anderes als Ich oder das reine Selbstbewußtseyn.«); und GW 12, 18, was die deutlichste Passage ist. 2 Siehe die Passage der Berliner Phänomenologie, die unten zitiert wird in Anm. 6. 3 Siehe Rödl, Sebastian: Self-Consciousness. Cambridge 2007 und meinen Aufsatz: The Significance of Self-Consciousness in Idealist Logic. In: Proceedings of the Aristotelian Society. Im Erscheinen.

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halts aus Hegels (kantischer und nach-kantischer) Perspektive kein vollkommen »positives« Phänomen ist, lässt sich am besten durch Kontrastierung veranschaulichen. Wenn sie so (»vollkommen positiv«) wäre, würde Subjektivität so etwas wie ein bloß komplexer Registrierungs- und Beantwortungsapparat sein (mit dem gleichen ontologischen Status wie ein Thermometer)4. Dabei soll dies »logisch« und somit nicht als ein Problem des wahrnehmenden oder erfahrenden Bewusstseins selbst verstanden werden. Es stellt also keine Aussage, die auf Wahrnehmung beruht und somit kein empirisches Urteil über die Welt (»dort ist ein rotes Buch auf dem Tisch«) dar – es könnte keine solche Aussage sein, wenn sie bloß einer Wahrnehmungsepisode abgerungen wäre.5 Man ist »nicht« einfach vollkommen in der Gegenwart der Welt gefangen und steht »nicht« vollkommen und bloß reaktiv den Stimuli der Sinnlichkeit gegenüber. Dieses »Nicht« ist der Anfang (aber sicherlich nicht das Ende) aller logischen Angelegenheiten der Negation, die in Hegels Philosophie auftreten – und zwar sowohl auf phänomenologischem als auch auf logischem Niveau. Indem ich irgendein derartiges Urteil fälle, »negiere« ich die bloße Unmittelbarkeit oder Gegebenheit des Inhalts der Wahrnehmung, d. h. ich negiere sie als unmittelbar und zufälligerweise gegeben, und lege mich auf eine Art Position bezüglich dessen fest, was es gibt, und damit bezüglich dessen, was der Fall ist. (vgl. GW 13, 23 f., §12) Das Denken ist so eine »Negation.« (Man könnte sagen: Man nimmt eine Position ein, im Gegensatz zu: Man wird in einen Zustand gebracht.) Und da jedes Denken sich als bloßes ›Scheinen, dass etwas der Fall ist‹ erweisen könnte, ist diese Möglichkeit für die Tatsache verantwortlich, dass es von Anfang an ein Urteilen ist. Die Tatsache, dass ein Urteil als solches inhärenterweise, also aufgrund seiner Natur Urteil zu sein, möglicherweise selbst-verneinend ist, anstatt bloß anderweitig bestimmt zu sein, bedeutet nicht, dass ein Urteil einfach etwas »Anderes« ist als ein rein positiver Antwort- bzw. (Reaktions-)Mechanismus. Das Potential für solch eine Selbstverneinung ist konstitutiv für seine Möglichkeit, ein Urteil zu sein. Dies bedeutet natürlich nicht, dass jedes Urteil eine Qualifizierung innehat, derer man sich auch bewusst ist; als ob die wahre, logische Form eines jeden Urteils das geradezu lächerlich zögerliche »Ich bekräftige, dass P der Fall ist; aber, soweit ich weiß, könnte ich auch falsch liegen« sei. Die konstitutive Eigenschaft, auf die in einer philosophischen Logik geachtet wird, ist die Tatsache, dass Urteile möglicherweise auf Gründe und Revisionen reagieren, und zwar einfach aufgrund ihrer Eigenschaft, Urteile zu sein. Die Tatsache, dass sie falsch kategorisiert werden, wenn sie als »vollkommen positiv« behandelt werden oder etwa als bloß geistige Ereignisse angesehen werden, bedeutet nicht, dass sie im Gegensatz dazu in einer bestimmten »Domäne« 4

Quines Position wäre eine Instanz so eines »Positivismus« – ebenso wie jeder wissenschaftliche Naturalismus in der Epistemologie. 5 Da sowohl für Kant als auch für Hegel die Wahrnehmung Begriffe involviert, ist sie auch apperzeptiv, aber auf ihre eigene Weise. Die zwei Modalitäten der Verwirklichung begrifflicher Kapazitäten sind sowohl unterschiedlich als auch verknüpft, aber es bedarf einiger Erklärung, wie sich diese Unterschiede und Kontinuitäten verhalten. Siehe McDowell, J.: Having the World in View: Essays on Kant, Hegel, and Sellars. Cambridge 2009 und Pippin, R.: Concept and Intuition: On Distinguishability and Separability. In: Hegel-Studien 40 (2005), S. 25–39.

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des nicht-Seins »angesiedelt sind«. Vielmehr bedeutet es einfach, dass die Behauptung, dass etwas der Fall ist, keine ist, falls sie nicht bereits, auf Grund ihrer Existenz, zur Revision offen steht. Dieses ist der Sinn von »nicht vollkommen positiv«, den Hegel vermitteln möchte. In einer Passage aus der Berliner Phänomenologie (d. h. dem Abschnitt über Phänomenologie aus der Berliner Enzyklopädie) ist die Verbindung zwischen dem phänomenologischen Punkt und der logischen Struktur des Urteils offensichtlich, selbst wenn die genaue Bedeutung dieser Verbindung es nicht ist: Ich ist nun diese Subjektivität, diese unendliche Beziehung auf sich, aber darin liegt, nämlich in dieser Subjektivität, die negative Beziehung auf sich, die Diremtion, das Unterscheiden, das Urtheil. Ich urtheilt, dieß macht dasselbe zum Bewußtsein, stößt sich von sich ab, dieß ist eine logische Bestimmung.6 Indem ich ein handelnder Akteur bin, reagiere ich nicht nur kausal auf Neigungen und Begierden; auch hier gibt es keine »Vollkommenheit des positiven Seins«. Ich unterbreche oder verneine das bloß positive Sein (was ich zu tun geneigt bin, was ich als das erfahre, was ich tun will), indem ich überlege und mich entschließe, was ich tun soll. Keine dieser Neigungen kann als ein Handlungsgrund gelten, außer wenn sie als Teil einer Maxime akzeptiert wird, also als Teil eines allgemeinen Grundsatzes, den man für Handlungen dieser Art hat. (Oft ist dies ein impliziter »Handlungsgrundsatz«, der vielleicht als solcher nie im Bewusstsein vorkommt, der aber trotzdem verinnerlicht und in dem manifest ist, was der Handelnde tut.) Wenn Hegel uns also in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes daran erinnert, dass wir »Substanz« »auch als Subjekt« denken müssen, meint er damit nicht, dass wir das Subjekt bloß als Attribut der Substanz oder als eine Erscheinung dessen, was ansonsten grundlegenderweise Substanz bleibt, oder als ein Epiphänomen der Substanz denken sollen. Im spekulativen Idealismus geht es vielmehr darum, die Substanz als nicht-nur-Substanz (also nicht als das, was ich »die Vollkommenheit des positiven Seins« genannt habe) zu denken, d. h. als die Verneinung der bloßen Substanz als solcher; sondern ebenso ist das Subjekt als Substanz zu denken, d. h. als das, was nicht-bloßes-Subjekt ist (wie es Fichte vorschlägt). Diese Forderung ist sehr anspruchsvoll. Hegels Ansatz steht dabei dem aristotelischen Denken sehr nahe: Subjektivität (Denken und Handeln im Einklang mit Normen) ist das typische amArbeiten-sein (energeia, Hegelsche Wirklichkeit) der biologischen Lebensform, welche die menschliche Vernunft-reaktive Substanz darstellt; das meint auch Aristoteles, wenn 6 Hegel, G.W.F.: The Berlin Phenomenology. Hg. u. übers. v. M. J. Petry. Berlin 1981, S. 2. So macht Hegel das Argument, von dem er glaubt, dass Fichte es macht. Um mehr über die Beziehung zu Fichte und diese Angelegenheit zu erfahren, siehe Pippin, R.: Fichte’s Alleged One-Sided, Subjective, Psychological Idealism. In: The Reception of Kant’s Critical Philosophy. Fichte, Schelling and Hegel. Hg. v. Sally Sedgwick. Cambridge 2000, S. 147–170 und ders.: Back to Hegel: Slavoj Žižek, Less than Nothing. Hegel and the Shadow of Dialectical Materialism. In: Mediations Journal of Marxist Literary Group.26 (2013), Nr. 1–2, S. 7–28. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie sagt Hegel, dass das Wesentliche im Denken ist, dass es »von der Negation abhängt« (zitiert nach: Rohs, P.: Form und Grund. Interpretation eines Kapitels der Hegelschen Wissenschaft der Logik. Bonn 1982, S. 38).

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er sagt: Wenn das Auge Körper wäre, wäre das Sehen seine Form, d. h. es wäre seine besondere Art und Weise zu arbeiten. Dieses Arbeiten wird vollkommen missverstanden, wenn man glaubt, dass es einen zur Annahme einer besonderen, z. B. immateriellen, Substanz zwingt. Jenes Arbeiten oder am-Arbeiten-sein also, das Hegel »Subjekt« nennt, sollten wir daher im Aristotelischen Sinne als energeia verstehen; jedoch werden wir damit nur einen Teil des Weges hinter uns bringen und müssen deshalb unseren Blick nun Hegels logischer Behandlung dieses Problems zuwenden.

III. Synthese und Ur-teilen Um uns einen weiterreichenden Überblick über Hegels Ansatz zu verschaffen, müssen wir uns auf bildliche Weise vorstellen, wie er Kants grundlegendes Modell des »Verständlichmachens« (bzw. das, was Hegel dafür hält) umdreht. Anstatt den fundamentalen Akt des Verstehens im Sinne einer Synthese von unabhängigen, ursprünglich beziehungslosen, atomaren Elementen zu denken, in dem entweder etwas Einzelnes unter einen Begriff subsumiert wird, oder ein Begriff innerhalb eines anderen situiert wird, sollten wir uns selbst so verstehen, dass wir sowohl in der Erfahrung, als auch in der logischen Reflektion mit dem »Ganzen« beginnen und niemals mit erfahrungsbedingten oder logischen subsententialen Einzelheiten oder Atomen.7 Der Akt des Verständlichmachens beginnt mit einer Art von ursprünglichen und intern komplexen Einheiten, die ausgedrückt und unterschieden werden müssen um verständlich zu sein. Jedoch verliert die Artikulation dabei die ursprüngliche aber unausgedrückte Einheit, die nicht vollständig in prädikativer Weise ausgedrückt werden kann und die wiederhergestellt werden muss: »das Urteil ist insofern die ursprüngliche Teilung des ursprünglich Einen« (GW 12, 55).8 Dies erklärt teilweise den Aufbau des Anfangs der Logik. Die maximal unbestimmte, allumfassende und alles-einschließende Einheit (von allem überhaupt), das »Sein«, muss durch eine »Negation« solcher Unbestimmtheit bestimmt werden (dies wird sich,

7 Siehe die abschließenden Bemerkungen von Wolff, Michael: Der Begriff des Widerspruchs in der ›Kritik der reinen Vernunft‹. In: Probleme der Kritik der reinen Vernunft. Hg. v. B. Tüschling. Berlin 1984, S. 178–202, hier: 201 sowie Sedgwicks Hervorgebung des Organizismus (Sedgwick, S.: Hegel’s Critique of Kant: From Dichotomy to Identity. Oxford 2012, bes.: Kapitel 2). 8 Dies ist das Vermächtnis Hölderlins in Hegels Denken, welches Henrich so gewissenhaft nachvollzog (vgl. Henrich, Dieter: Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794– 1795). Stuttgart: 2004). Hegel fährt mit der Behauptung fort, dass das synthetische Verständnis der Einheit des Urteilens für solche Urteile angemessen ist, die »bloße Vorstellungen« involvieren. Aber er macht auch die gegenteilige Aussage in einer begrifflich dichten Passage – dies jedoch nur schemenhaft. Hier ist eine Formulierung: »[D]as Prädikat dagegen als das Allgemeine erscheint als diese Reflexion über ihn oder auch vielmehr als dessen Reflexion in sich selbst, welche über jene Unmittelbarkeit hinausgeht und die Bestimmtheiten als bloß seiende aufhebt, – als sein Ansichsein. Insofern wird vom Einzelnen als dem Ersten, Unmittelbaren ausgegangen und dasselbe durch das Urteil in die Allgemeinheit erhoben, so wie umgekehrt das nur an sich seiende Allgemeine im Einzelnen ins Dasein heruntersteigt oder ein Für sich seiendes wird.« (GW 12.57–58)

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angesichts seiner absoluten Unbestimmtheit, als nicht möglich erweisen).9 Das Anliegen der Seinslogik ist es also, diejenigen logischen Kapazitäten auszuloten, die nötig sind, um bestimmte Einzelheiten in ihrer Einzelheit verständlich zu machen. Bestimmtes Sein (Dasein) ist (oder lassen Sie uns vorläufig, dem Argument zuliebe, annehmen, dass Hegel dies überzeugend gezeigt hat) die notwendige Negation (oder weitere Bestimmung) der bloßen Unbestimmtheit (Sein). Bestimmtes Sein ist selbst entweder aufgrund einer besonderen Art von Negation bestimmt, die Hegel Anderssein nennt; oder aber aufgrund kontrastierender Beziehungen zu anderen Individuen oder anderen Begriffen.10 Diese Kontraste werden auf Basis »qualitativer« und »quantitativer« Prädikate gemacht, indem Quantitäten auf eine Art und Weise »gemessen« werden, die ihre Beziehung dem qualitativen Unterscheiden zugänglich macht. Das grundlegende Argument des ersten Buches der Logik lautet also, dass es (innerhalb der Seinslogik) keine wirkliche Erklärung davon gibt, warum ein Ding jene Eigenschaften hat, die es nicht verlieren kann ohne aufzuhören, es selbst zu sein. Folglich gibt es keine Erklärung der bestimmten Beziehungen zwischen dem Einzelnen und seinen mannigfaltigen Eigenschaften. (Diese Lage ist vergleichbar mit der, die sich zwischen dem Kapitel über die Wahrnehmung und dem Kapitel über das Verstehen in der Phänomenologie des Geistes ergibt.) Dies wird eine »Bewegung« in Richtung der Wesenslogik nötig machen, in der ein Ding nicht auf negative Weise mit anderen Dingen oder mit seinen logischen Gegenteilen kontrastiert wird, sondern in der es als selbstverneinend beschrieben wird. Ein Wesen ist anders als (»es ist nicht«) seine bloßen Erscheinungen, aber es muss sich selbst in seinen Erscheinungen zeigen und kann nur mit Verweis auf die Erscheinungen bestimmt werden (die schließlich seine Erscheinungen sind, und ihm somit nicht »gleichgültig« gegenüber stehen, wie dies in der Seinslogik die »Verschiedenheit« ausgemacht hat).11

IV. Logische Bewegung Ich möchte vorschlagen, dass der Begriff eines logischen »Fortschritts« – bzw. einer »Bewegung« in der Logik von einem Inhalt zum anderen – im Lichte einer Annahme verstanden werden sollte, die nur mittels einer ganzheitlichen Untersuchung verteidigt werden kann: Laut dieser ist Hegels Logik als eine Beschreibung der notwendigen Elemente des Verständlichmachens bzw. des erfolgreichen Beschreibens zu verstehen. Im 9 Und die größere Allgemeingültigkeit, die benötigt wird, damit ein Prädikat in der Bestimmung funktioniert, ist hier offensichtlich nicht möglich. Dies ist das Argument, auf das Aristoteles sich stützt um dem Sein den Status des höchsten Genus abzusprechen. 10 Dies ist keine Differenzierung. Es könnte keine Differenzierung sein von allem, was es nicht ist, sondern nur von Begriffen entgegengesetzten Prädikaten; d. h. für Dinge, die Dingen »entgegengesetzt sind«. Mehr davon in Kürze. 11 Darum rahmt die Wesenslogik die Frage nach der richtigen Denkweise über die Beziehung zwischen einem Akteur und ihren Handlungen ein, wie Yeomans, C.: Freedom and Reflection. Hegel and the Logic of Agency. Oxford 2012 richtigerweise feststellt. Ich werde mich damit tiefer auseinandersetzen in: Pippin, R.: Hegel’s ›Logic of Essence‹. In: Schelling-Studien I. (2013),S. 73–96.

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Lichte dieser Annahme stellt solch ein Fortschritt eine immer erfolgreichere Darstellung der Bestimmtheit derjenigen begrifflichen Ressourcen dar, die notwendig sind, um so eine Beschreibung zu leisten. Wie bereits angemerkt, bedarf solch eine Lesart einer Untersuchung in Buchlänge um als erfolgreich verteidigt gelten zu können. Außerdem kann sie leicht missverstanden werden (und wurde es auch). Dementsprechend muss sowohl ein Kontext beschrieben als auch eine gewisse Einschränkung gemacht werden. Der Kontext ist Kantischer Natur. Kants berühmteste und wichtigste Innovation in der Logik hat mit der allgemeinen Logik im Sinne einer apriorischen Reflektion über die Beziehungen von Ideen zu tun. Kants Perspektive ist die einer Kritik vergangener Aussagen über eben diese reflexive Aktivität. Logik nahm bei Kant die Form an, viel mehr zu sein als das bloße Untersuchen angemessener Inferenzformen, aber sie war viel weniger als eine Beschreibung der Gesetzmäßigkeiten, die das Denken befolgt bzw. befolgen sollte (wie in der Port Royale Logik), oder als eine Kategorisierung einer grundlegend-ontologischen Struktur (wie in Wolff’schen Logikansätzen). Stattdessen beschreibt die Logik laut Kant die Bedingungen der Möglichkeit einer jeden möglichen Bedeutung und handelt somit von mehr als nur wahrheitsfunktionalen Propositionen (wie bei Frege). Sie beinhaltet z. B. auch Imperative und ästhetische Urteile. Die oben erwähnte Einschränkung hat mit der Beziehung zwischen der so verstandenen Logik und der Wirklichkeit zu tun. Hegels weitreichendste Beschreibung seines eigenen Projektes gibt er dabei in §24 der Enzyklopädie. Die Logik fällt daher mit der Metaphysik zusammen, der Wissenschaft der Dinge in Gedanken gefaßt, welche dafür galten die Wesenheiten der Dinge auszudrücken. (GW 20, 67) Ein weiterer Aspekt dessen, was diese Logik beinhaltet, nämlich dass sie die Stellung von Metaphysik einnehmen sollte, macht es offensichtlich, dass Hegel tatsächlich mittels von Kant eingeführten Begriffen denkt und wird in einem Zusatz in der Naturphilosophie beschrieben: […] denn Metaphysik heißt nichts anderes als der Umfang der allgemeinen Denkbestimmungen, gleichsam das diamantene Netz, in das wir allen Stoff bringen und dadurch erst verständlich machen. (TWA 9, § 246, 20 Z) Nichts von all dem impliziert, dass Hegel entweder nur daran interessiert ist, »wie wir über die Dinge denken müssen« oder dass er nicht an der Wirklichkeit selbst interessiert ist, oder dass er die Wirklichkeit auf das beschränkt, was wir verstehen können, und somit wieder eine Unterscheidung zwischen Ding-an-sich und Erscheinung einführt.12 12 Dies war eine weit verbreitete Fehlinterpretation von Pippin, R.: Hegel’s Idealism: The Satisfactions of Self-Consciousness. Cambridge 1989. Ich habe dort versucht zu zeigen, was ich als die richtige Beschreibung von Hegels eigenen Metaphysikverständis halte in: Pippin, R.: Logik und Metaphysik: Hegels Reich der Schatten. Curtius Vortrag. Wird veröffentlicht von der Universität Bonn. Dort setzte ich mich auch mit dem ebenfalls weitverbreiteten Fehlurteil auseinander, laut dem man mit der Betonung des apperzeptiven Charakters des Urteils als einer logischen Wahrheit, die Hegel so regelmäßig

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Diese beiden Missverständnisse fassen die Bedingungen des Verständlich-machens als Spezies-spezifische Fähigkeiten. Hegel stellt jedoch klar und deutlich fest, dass er nicht so über das Verständlichmachen denkt. Vielmehr begreift er es als konstitutiv für jede mögliche Verständlichkeit. Hegel würde niemals behaupten, dass dies für das »Verständlichmachen von Dingen« irrelevant ist oder etwa von ihm verschieden sei. Bei Kant hat sich die Logik als eine Beschreibung der Bedingungen des möglichen Verständnisses herauskristallisiert, d. h. als diejenigen Unterschiede und Beziehungen, ohne die Verständnis nicht möglich wäre. Die Fragen, die im Zuge von Hegels »Erweiterung« von Kants Logik entstehen, lauten demnach: Wie bestimmen wir, was diese Bedingungen sind und wie können sie legitimerweise auf das beschränkt werden, was das Vermeiden des logischen Widerspruchs erlauben wird, d. h. inwiefern kann der Vorwurf der »Leere«, den Kant diesen Formen gegenüber macht, tatsächlich aufrecht erhalten werden?13 Dies – die Untrennbarkeit der Fragen, d. h. die Tatsache, dass wir das Verständlichmachen nicht verständlich machen können, ohne dass die Arten und Weisen des Verständlichmachens tatsächlich die Dinge so verständlich gemacht haben, wie sie sind, – dies ist es, worauf Hegel sich bezieht wenn er sagt, dass die Logik Metaphysik ist bzw. dass der Begriff das An-und-für-sich-Sein ist.14 Sobald wir beispielsweise die Rolle von ›Wesen‹ und ›Erscheinung‹ als Weisen des Verständlichmachens begreifen, haben wir damit Wesentliches und Erscheinungen verständlich gemacht, und damit auch die Welt, in der sie unabdinglich sind. (Wir haben damit nicht die artenspezifischen Eigenschaften menschlicher Verständlichmacher [human sense-makers] verständlich gemacht, sondern die mögliche Verständlichkeit der Welt nachvollzogen.) Wir können also durchaus das Denken von dem Gedachten unterscheiden (die Welt ist kein Gedankenkonstrukt; Denken ist diskursive Aktivität; die Welt ist keine diskursive Aktivität). Dabei können wir immer noch darauf bestehen, dass die Welt »so eine Art von Ding ist, das gedacht werden kann.«15 So läuft z. B. die tiefgründig (sogar Heideggerisch) klingende Aussage, dass es bei Hegel keine ontologische Lücke zwischen dem Denken und der Welt gibt, auf die Tatsache hinaus, dass »man z. B. denken kann, dass der Frühling begonnen hat, und dass genau der gleiche Sachverhalt, nämlich macht, das »Subjektivieren« der Logik riskiert, oder das Verwechseln seines Projektes mit dem der Phänomenologie. Diese Verwirrung begann mit Henrich, Dieter: Anfang und Methode der Logik. In: ders.: Hegel im Kontext, Frankfurt a.M. 1971, S. 73–94 und wurde kürzlich wiederholt von: Houlgate, S.: The Opening of Hegel’s Logic: From Being to Infinity. West Lafayette 2006. 13 Das Wichtigste ist dabei dies: Kant dachte, er habe eine Art und Weise entdeckt, die bloß logische Möglichkeit von »wirklicher« Möglichkeit (oder logisch möglichem Sinn, von »wirklich« möglichen Sinn) zu unterscheiden, und dies, indem man sich auf die reinen Formen der Anschauung beruft. Hegel hat diese Vorstellung abgelehnt, aber er sieht seine Logik nicht als von Reflexionen über das bloß logisch Mögliche angetrieben. Woher kommt also sein Begriff des »wirklich« Möglichen? 14 Dies lässt sich auf verschiedene Weise ausdrücken: Man kann nicht sagen, dass wir unser Verständlichmachen der Dinge verstehen, außer wenn wir verständlich machen, wie wir Dinge verständlich machen. Ansonsten würden wir verstehen, wie wir beim Verständlichmachen scheitern. Dieses Projekt ist zwar möglich, ist aber auf parasitäre Weise vom ersteren abhängig. 15 McDowell, John: Mind and World. Cambridge 1994, S. 27–8.

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dass der Frühling begonnen hat, der Fall sein kann.«16 Was ich denke, wenn ich weiß (d. h. wahrhaftig denke), dass etwas der Fall ist, ist das, was der Fall ist. Es läuft somit auf eine Art Binsenweisheit hinaus, wenn man die Angelegenheit auf Kantische Art und Weise formuliert und behauptet, dass »die Form des Denkens die Form der Dinge ist.«17 Die Hauptschwierigkeit tritt nicht bezüglich dessen auf, was ich weiß, wenn ich weiß was der Fall ist, sondern wie ich in der Lage sein kann zu wissen, was der Fall ist – entweder empirisch betrachtet (weil ich die Vorboten des Frühlings sehe) oder, besonders dann, wenn die Aussage lautet, dass a priori gesehen, jedes Ereignis einen Grund hat. So formuliert Hegel: Die ältere Metaphysik hatte in dieser Rücksicht einen höheren Begriff von dem Denken als in der neuern Zeit gäng und gäb geworden ist. Jene legte nemlich zu Grunde, daß das, was durchs Denken von und an den Dingen erkannt werde, das allein an ihnen wahrhaft Wahre sey; somit nicht sie in ihrer Unmittelbarkeit, sondern sie erst in die Form des Denkens erhoben, als Gedachte. Diese Metaphysik hielt somit dafür, daß das Denken und die Bestimmungen des Denkens nicht ein den Gegenständen Fremdes, sondern vielmehr deren Wesen sey, oder daß die Dinge und das Denken derselben, (– wie auch unsere Sprache eine Verwandtschaft derselben ausdrückt, –) an und für sich übereinstimmen, daß das Denken in seinen immanenten Bestimmungen, und die wahrhafte Natur der Dinge, ein und derselbe Inhalt sey. (GW 21, 29) Wie wir noch sehen werden, wird es sich als wichtig herausstellen (zumindest für Hegel), dass diese Beschreibung einer »Identität« (»ein und derselbe Inhalt«) auf philosophisches bzw. spekulatives Denken zutrifft; also auf ein Denken, das sich mit »wahrem Sein« oder »der Wirklichkeit« beschäftigt. Daher stammt auch die Identität innerhalb des Unterschiedes von Sein und Denken, dem Herzstück des Hegelschen Rationalismus.18 Dies bedeutet, dass es eine Art grundlegendes Argument innerhalb der Darstellung der Bestimmtheit im Verständlichmachen gibt, das, obwohl es in jeder der drei unterschiedlichen »Logiken« anders auftritt, trotzdem ausreichend durchgehende Eigenschaften innehat, um die beständige Rede von der dialektischen Methode zu rechtfertigen. Dieser Prozess bzw. dieses Argument bzw. diese Methode beinhaltet eine Beziehung zwischen dem, was Hegel die Selbstbeziehung nennt – manchmal nennt er dies auch die »Identität« einer Art begrifflichen Inhalts, der in der fraglichen Bestimmung involviert ist – und der internen »Negation« dieser Selbstgenügsamkeit (d. h. der Darstellung der Abhängigkeit dieser Bestimmtheit von einer kontrastierenden Beziehung zu Entgegen16

Ebd., S. 27. Dies ist eine Formulierung, die Sebastian Rödl und John McDowell bevorzugen. 18 Siehe diese Formulierung aus der Phänomenologie des Geistes: »Diese Kategorie nun oder einfache Einheit des Selbstbewußtseyns und des Seyns hat aber an sich den Unterschied; denn ihr Wesen ist eben dieses, im Andersseyn oder im absoluten Unterschiede unmittelbar sich selbst gleich zu seyn. Der Unterschied ist daher; aber vollkommen durchsichtig, und als ein Unterschied, der zugleich keiner ist.« (GW 9, 134) 17

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gesetzten oder von einer anderen Art von Gegensatz, wie etwa dem Gegensatz zu den Erscheinungen oder zu dem, was Hegel An-und-für-sich-Sein nennt), und schließlich der erfolgreichen Negation dieser Negation.19 Innerhalb dieses immer noch vagen Bildes der unbestimmten Einheit und der bestimmten Negation dieser Einheit haben wir festgestellt, dass Hegel unmissverständlich sagen möchte, dass jegliche »erste« Bestimmung solcher Art auch als logisch problematisch angesehen werden muss. Noch wissen wir nicht in welcher Weise dies problematisch ist, und warum. In der Seinslogik hat dies etwas mit der Beziehung zwischen der »internen« Bestimmtheit eines Begriffs und der Beziehung zwischen dieser und seiner externen Abhängigkeit von Ausschlussbeziehungen mit Entgegengesetzten zu tun. Dies führt zu jenen Gegensätzen, die wir benötigen – z. B. den Gegensätzen zwischen den Begriffen des Einen und des Vielen in der Logik der Qualität, oder zu dem Gegensatz zwischen der Kontinuität und der Trennung (Diskretion) in der Logik der Quantität – beide werden gebraucht, können aber unter der Annahmen der Seinslogik noch nicht erfolgreich begriffen werden. Zwar müssen sie gegensätzlich sein, jede aber scheint auch ein »Moment« der Verständlichkeit des Anderen zu sein. (Kontinuität muss Kontinuität von eigenständigen, d. h. voneinander getrennten Momenten sein; und jede Trennung wiederum tritt nur innerhalb von Kontinuitäten auf; all dies ist entscheidend für die Art und Weise, in der Hegel die kantischen Antinomien begreift.) So gelangen wir zu der seltsamen Aussage, dass Negation (gegensätzliches Unterscheiden) selbst negiert werden muss. Die ursprüngliche Negation, z. B. die zwischen Kontinuität und Trennung, ist also in ihrer einfache Negation unzureichend (jedes ist nicht das, was das andere ist), weshalb dieses Verständnis von Negation negiert werden muss. Oder, mit Blick auf die Seinslogik, muss das Modell der Negation, die im allgemeinen »negative« Beziehung zwischen einem Individuum und den Bestimmungen aufgrund derer es mit dem, was nicht ist, kontrastiert wird, selbst negiert werden – sie kann nicht so stehen bleiben, wie sie ist, sondern sie muss neu überdacht werden. Wie sich herausstellt, bedeutet dies, dass wir einen anderen Denkansatz benötigen, und zwar einen mit einer anderen Logik. Dieser Denkansatz muss die Beziehung zwischen einem Ding – verstanden als Substrat und somit als etwas »Wesentliches« – und seinen »Erscheinungen« beschreiben. Im Gegensatz zu Kant kann dieses Wesentliche nicht unerkennbar sein (es ist also kein bloßes Ding-an-Sich), ohne dass die Position in die bloße Unbestimmtheit zurückfällt. Hier ist die bestimmte Verständlichkeit nicht eine Funktion von Beziehungen zu Anderen, sondern sie ist nun eine Selbstbeziehung zwischen dem Wesen und seinen Erscheinungen. Sie beschreibt, wie es sich »zeigt« bzw. wie es sich selbst manifestiert. All diese Erscheinungen sind nicht, was ein Wesentliches »wesentlich« ist. Doch, wenn Hegel Recht haben sollte, dass »das Wesen erscheinen muss« um als das bestimmt zu sein, was es ist, dann muss diese Negation (Erscheinungen sind nicht das Wesen) »ne19 Dies bedeutet natürlich nicht, dass sogar diese vage Aussage ohne weitere Erklärung sinnvoll ist; oder dass, wie Falk, H.-P.: Das Wissen in Hegels Wissenschaft der Logik. München 1983, S. 47 zeigte, wir sogar sagen könnten, dass Selbstbeziehung und Identität das Gleiche sind. Dies folgt allein aus dem Grund, dass, wie Falks feststellt, Entitäten sich nicht selbst zu sich selbst beziehen; es ist also eine Metapher von Hegel, aber wofür?

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giert« werden und das Wesentliche muss in seiner eigenen Möglichkeit verstanden werden, d. h. im Lichte seines grundlegenden »Begriffs«. Diese Aussagen stellen eine Zusammenfassung von mehreren hundert Seiten der Logik dar, aber der mir zunächst wichtigste Gedanke lautet, dass all dieses Bestimmen einen apperzeptiven Versuch darstellt, Prädikate zuzuteilen bzw. Dinge zu bestimmen. Somit kann jede dieser Bestimmungen immer einer reflexiven Bewertung unterzogen werden, die feststellt, ob der Inhalt erfolgreich bestimmt wurde. Darum sagt man über die Negation (Hegel hätte einfach »Selbst-Bewusstsein« oder Apperzeption sagen können), dass sie »die Energie des Denkens, des reinen Ich« sei. Dies ist die wichtigste interpretative Behauptung zum Status der Negation in Hegels Logik, die ich hier machen möchte. Jede Bestimmung von jeder Art von Inhalt in der Logik stellt die Negation einer inakzeptablen Unbestimmtheit dar, die man auf positive Weise begreifen können muss (nämlich als Negation der Negation), damit die Bestimmung als verständlich gelten kann. Dieser Gedanke ist in jedem Moment der Logik zugänglich, da wir mutmaßliche Rollen im Rahmen des Urteilens untersuchen, die, wenn überhaupt, auf selbstbewusste Weise zugewiesen werden. Am Anfang der Seinslogik war der Bestimmungsversuch (mittels gegensätzlicher Beziehungen zu anderen Einzelheiten) nicht erfolgreich. Dies haben wir herausgefunden, und daher dachten wir in eine Richtung, die uns zu dieser ähnlichen Position-Negation-Negation der Negationstriplizität bringen würde. So soll also die Reflexion darüber, was es heißen würde, überhaupt etwas verständlich zu machen, oder wie bei Kant die Reflexion über den Urteilsbegriff selbst, auf diese Art eine Mannigfaltigkeit an notwendigen Momenten von Bestimmungsakten in sich einschließen. Die Vorstellung, so viel Inhalt aus einem so spärlichen Anfang zu erhalten, ist durchaus erstaunlich. Dies wird besonders deutlich, wenn man die enorme Rolle bedenkt, die ein seltsam »dialektisch« anmutendes Verständnis von Negation in diesem Zusammenhang spielt.

V. Negation und spekulative Wahrheit Wir können uns diesem Sachverhalt auch auf andere Weise nähern, nämlich indem wir uns Hegels Unterscheidung zwischen so etwas wie Richtigkeit bzw. Korrektheit (etwa wenn ich sage, dass es draußen regnet und es tatsächlich regnet), und spekulativer Wahrheit ins Gedächtnis rufen. Er definiert die letztere nicht als das »Übereinstimmen von Begriff und Wirklichkeit«, sondern als des Begriffs »Übereinstimmen mit sich selbst.« (Ein Beispiel wäre: Das Wesentliche »muss selbst scheinen, damit es seine Erscheinung ist und nicht ist«). Darauf wird sich in Beispielen wie etwa dem »wahren Haus« bezogen, das seine Bestimmung als Haus am besten erfüllt.20 Hegel gibt weitere Beispiele, wie etwa das des »wahren Freundes«. All dies bezieht sich auf die sogenannte 20 Dies ist eines von Hegels sehr frühen Beispielen aus seiner Philosophischen Propädeutic aus der Nürnberger Zeit, wahrscheinlich 1809.

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»ontologische« Vorstellung von Wahrheit, und nicht auf eine Korrespondenz- oder Kohärenztheorie. Wichtig ist hierbei das sehr allgemein gehaltene Modell, das Hegel zur Verfügung stellt, um die Rolle der »Negation« innerhalb der spekulativen Philosophie zu verstehen. Dieses Modell beinhaltet zwei verschiedene Bedeutungen darüber, was das Sein eines Dinges ist und was es nicht ist. Beim ersten handelt es sich um die vertraute Art und Weise, in der von einem geschwächten Pferd gesagt werden kann, dass es ein Pferd ist, aber kein wahres Pferd, d. h., es ist nicht »wirklich« das, was ein Pferd sein sollte. In genau diesem Sinn, z. B. mittels irgendeiner der begrifflichen Bestimmungen der Seinslogik, ist jede Bestimmung nur diese eine Bestimmung und keine andere, wie z. B. im Fall der Begriffe der »Endlichkeit« oder »Diskretion«. Hegel will also zeigen, dass mit den Ressourcen einer Seinslogik, z. B. die Kategorie der Endlichkeit (d. h. mit seinem spezifischen Inhalt) nicht in Isolation als genau diese einfache, bestimmte Endlichkeit begrifflich bestimmt werden kann. Sie ist Endlichkeit, aber sie ist nicht all das, was über Endlichkeit gesagt werden muss, um erfolgreich als eben diese21 bestimmt zu sein. Ihr Begriff stimmt nicht mit sich selbst überein. Dies wird deutlicher im Kontrast mit den reflexiven Urteilen in der Wesenslogik. Diese sind nicht etwa Urteile wie: »Dies ist ein Pferd« oder »die meisten Schwäne sind weiß«, sondern so etwas wie (um Hegels Beispiele aus der Enzyklopädie zu benutzen), »Diese Pflanze ist heilsam« (sie ist nicht zufällig heilsam, sondern als das Ding, das sie ist); oder »dieses Instrument ist nützlich« (es tut, was das Instrument tun soll); oder »diese Form der Strafe dient der Abschreckung« (sie tut, was Strafe tun soll.) Wie wir sehen werden, sind wertende Urteile wie »diese Handlung ist gut« oder »dies ist ein schlechtes Haus« paradigmatische Beispiele für Urteile innerhalb der Begriffslogik. Sie spezifizieren nicht ein Ding auf qualitative Art, indem sie es von anderen Dingen unterscheiden; sie identifizieren nicht die Erscheinungen, die das »Wesen« eines Dinges zeigen; vielmehr verstehen sie den Inhalt ›im Lichte seines Begriffs‹. (Wie bereits angedeutet, geht es der Logik nicht um diese Urteile als solche, sondern um metabegriffliche Bestimmungen ihrer Möglichkeit, d. h. es geht um ihre innerliche Angewiesenheit auf qualitative Negation, Endlichkeit, Wesenhaftigkeit, Erscheinung, Allgemeinheit, oder den ganzen Inhalt der Logik.) Dabei ist es besonders wichtig und schwierig nachzuvollziehen, warum Hegel davon ausgeht, dass eine typische Bestimmung in der Seinslogik – etwa die qualitative Bestimmung wie in den obigen Beispielen – nicht auf angemessene Weise das Sein des Dings als das, was es ist, bestimmt; warum sogar eine wesentliche Prädikation (»Wölfe jagen im Rudel« im Gegensatz zu »manche Wölfe sind grau«) das Ding auch nicht auf angemessene Weise bestimmt; aber dass »dieses Haus ist ein gutes Haus« oder »diese Strafe wirkt abschreckend« (oder, angenommen, »dies ist ein feiner Wolf«) es tatsächlich er21 Hegel sagt zwar solche Dinge, wie etwa in der Philosophie des Rechts: »Wahrheit in der Philosophie heißt das, dass der Begriff der Realität entspreche« (TWA 7, §21 Z), aber dies ist eine Aussage, die im Lichte einer Annahme gemacht wird mit der dieses Buch beginnt, nämlich, dass der Begriff sich seine Wirklichkeit »gibt«. Diese Aussage ist schwer nachvollziehbar, aber sie ist kompatibel mit der allgemeinen Perspektive der spekulativen Wahrheit, laut der die Wahrheit darin besteht, dass »der Begriff mit sich selbst übereinstimmt.«

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folgreich bestimmen. Dabei fällt es schwer, die Kontinuität und damit die steigende Angemessenheit in dieser angeblichen Reihe zu sehen, anstatt nur drei verschiedene Arten bestimmender Prädikation. In diesem Zusammenhang gibt es sogar einen noch allgemeineren Sinn, in welchem die Negation relevant ist. Denn jede begriffliche Bestimmung provoziert ein besonderes Verständnis begrifflichen Bestimmens an dem entsprechenden Punkt in der Logik. (In der Seinslogik ist es das Verstehen des Gegenteils eines Begriffs als seines »Anderen«; d. h. als etwas, das sich auf »äußerliche« Weise bezieht bzw. als etwas, das, wie Hegel sagt, »äußerlich« unterschieden ist.) Doch ein jedes so geartetes Verständnis eines Begriffs, obwohl es ein Verständnis der begrifflichen Bestimmtheit ist, ist gleichzeitig auch keines. Denn es involviert nicht, was »ein Begriff (oder eine Kapazität für begriffliche Bestimmung) wirklich ist.« Dies steht der Logik erst am Ende zur Verfügung.

VI. Negation und Widerspruch Die seinslogische Bestimmung produziert diese negative Konsequenz, weil Endlichkeit hier in abstraktem Kontrast zu seinem Gegenteil, dem Nicht-Endlichen oder Unendlichen gedacht wird. Dies geschieht unter der Annahme, dass die Endlichkeit aufgrund ihrer Eigenschaft, Endlichkeit zu sein, d. h. nur dieser Begriff zu sein und nur als solcher markiert zu werden, dasjenige ausschließt und somit dem gegenübersteht, was nichtendlich, also unendlich ist. Hegel will jedoch, dass wir zumindest anerkennen, dass diese negative Bestimmung wesentlich für die Bestimmtheit ist, welche wiederum notwendig ist um Endlichkeit überhaupt erst ab- und eingrenzen zu können. (Sonst gäbe es nichts zu negieren, und wenn es etwas gäbe, wäre die Negation, in Hegels Worten, »äußerlich« und würde nicht die Bestimmtheit des Dings konstituieren.)22 Allgemein gesprochen, muss man also sagen, dass ein Ding – in diesem Fall ein grundlegender Begriff oder eine Kategorie – sein Gegenteil »einschließt«. Genauer gesagt, schließt es die Beziehung zu seinem Gegenteil ein, um das sein zu können, was es ist. Keiner dieser »Momente« der Negation beinhaltet den Widerspruch im Aristotelischen Sinne, da »ist« und »ist nicht« – wenn sie von dem gleichen Ding zur gleichen Zeit gesagt wer22 Wenn man die Angelegenheit so ausdrückt, wiederholt man eine alte Kritik an Hegel. Die bekannteste ist wahrscheinlich die von Trendelenberg, F.: Die logische Frage in Hegels System: Zwei Streitschriften. Lepizig 1843, S. 12–19. Sie besagt, dass er Prädikatnegation mit tatsächlichem »Gegensatz« zwischen den Dingen verwechselt, wie etwa wenn kollidierende, sich bewegende Objekte, positive und negative Magnetpole etc. »entgegengesetzt« sind. Was könnte Hegel meinen, wenn er sagt, dass die Bestimmtheit eines Begriffs die negative Beziehung zu seinem Gegensatz beinhalten muss, und dies daher, weil jede »Sache« dem »entgegengesetzt« ist, was sie nicht ist. Die Kritik (laut der Hegel »Widerspruch« mit »Widerstreit« verwechselt) tritt wieder auf in Patzig, G.: Widerspruch. In: Handbuch der philosophischen Grundbegriffe. Hg. v. H. Krings, H.M. Baumgartner und Ch. Wild. München 1974, S. 1694–1702, und Taylor, Charles: Hegel. Cambridge 1795, S. 234. Sie wurde auf effektive Weise widerlegt von: Wolff, Michael: Der Begriff des Widerspruchs. Eine Studie zur Dialektik Kants und Hegels. Königstein 1981 und ders.: Über Hegels Lehre vom Widerspruch. In: Probleme der Hegelschen Logik. Hg. v. Dieter Henrich. Stuttgart 1986, S. 107–28. Mehr darüber in Kürze.

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den – nicht auf gleiche Art und Weise gemeint sind. Doch aus vielerlei Gründen möchte Hegel einen so analysierten Zustand als einen »Widerspruch« bezeichnen, und es gibt durchaus gute Gründe, diesen Ausdruck auch so zu verwenden.23 (Dies ist tatsächlich der Fall, denn selbst wenn Hegel vorsichtiger mit seiner Terminologie umgehen würde, wäre der Widerspruch als solcher auf den Status einer »Bestimmung der Reflektion« innerhalb der Wesenslogik beschränkt. Unaufgelöste »Gegensätze« in der Seinslogik be-inhalten eine unaufgelöste Inkonsistenz zwischen unabhängiger Selbstgenügsamkeit, und Abhängigkeit von Kontrasten mit dem, was ein Ding komplementiert.)24 Wie Michael Wolff uns erinnert, nehmen wir in allerlei Kontexten keinen Anstoß an der sogenannten »Existenz« von Widersprüchen. Auch machen wir solche Aussagen wie etwa, dass ein Mann sich »widerspricht« oder dass einer Aussage durch die Wirklichkeit »widersprochen« wird oder dass es wirklich »performative Widersprüche« gibt. Es ist in diesem weitergefassten Sinne, dass Hegel diese Resultate »widersprüchlich« nennt.25 Der eher technische, »reflexive« Sinn von Widerspruch tritt erst später in der Wesenslogik auf. Ein Versuch, den Inhalt eines Begriffs unter bestimmten Annahmen über Bestimmtheit überhaupt zu bestimmen, kann nur gelingen, wenn solchen Annahmen widersprochen wird (wenn sie nicht auf konsistente Weise zur gleichen Zeit gehalten werden können) und die Annahmen somit revidiert werden müssen. Im einfachsten Sinne lässt sich dies so beschreiben: Wenn man sich den Prozess als Person vorstellt, kann dem, was jemand zu sagen beabsichtigt, also dem, was er sagen möchte, durch 23

Eine verbreitete Darstellung von Hegels Position ist daher ziemlich irreführend. Es ist wahr, dass die Identität einer Sache das involviert, »was es ist in seiner Beziehung zu dem, was es nicht ist« [what it is in its very relation to what it is not]. (Bowman, B.: Hegel and the Metaphysics of Absolute Negativity. Cambridge 2013, S. 94). Aber diese Beziehung ist nicht sein was-es-nicht-ist und dies impliziert auf keine Weise »Gegensatz« in einem formallogischen Sinn. Etwas anderes zu sagen als, dass die Tatsache, dass ›S‹›P‹ ist, »involviert«, dass es nicht nicht-P ist, würde ein Widerspruch sein. Man kann also nicht den Schluss ziehen, dass »endliche Dinge und endliche Bestimmungen im Allgemeinen ihr Sein oder ihre Identität im einem entgegengesetzten anderen haben und sie deshalb sind (d. h. haben ihr Sein) was sie nicht sind (d. h. durch ihr nicht-Sein)« [finite things and finite determinations generally have their being or identity in an opposed other and thus are (i.e. have their being) what they are not (i.e. by virtue of their non-being)]. (Ebd., S. 94). Viele Ausdrücke in solchen Aussagen bedürfen der Verstärkung (»haben ihr Sein, oder »durch ihr nicht-Sein«) aber die allgemeine Aussage, dass Bestimmtheit der negativen Exklusion bedarf, hat nichts damit zu tun, dass etwas »ist was es nicht ist.« Es gibt tatsächlich einen Widerspruch wenn z. B. ein Leibnizianer denkt, dass die Identität einer Entität vollkommen durch das Bedenken von internen, nicht-relationalen Eigenschaften etabliert werden kann und dann, während er dies denkt, sich auf relationale Eigenschaften beruft, sogar auf ausschließende Eigenschaften, um diese Entität erfolgreich zu identifizieren. Doch dies ist genau die Art von Widerspruch, die ich auch bespreche. 24 Dies unterscheidet sich immer noch von der Angelegenheit in der Begriffslogik. Der Begriff des Begriffs ist ein Begriff unter den vielen Begriffen, die es gibt; er ist auch ein besonderer Begriff; er ist anders als alle anderen. Aber er ist auch allgemein identisch mit der Begrifflichkeit aller anderen Begriffe, und in diesem Sinn ist er mit allen anderen Begriffen identisch. Diese »Differenz und gleichzeitige Identität« ist anders als die Seinslogik des Anderssein, und anders als die reflexive Bestimmung des Widerspruchs. 25 Wolff: Der Begriff des Widerspruchs, S. 22–24. Wolffs allgemeiner Punkt, nämlich, dass das Sprechen von einem objektiven Widerspruch ein »Paronym« ist, verdient mehr Besprechung, als hier geleistet werden kann. Siehe auch ders.: Über Hegels Lehre vom Widerspruch, S. 112 ff.

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das »widersprochen« werden, was tatsächlich gesagt wird, oder durch das, über das er herausfindet, dass er es sagen muss oder kann.26 Hegel selbst bezieht sich auf dieses Verständnis der selbstnegierenden Entwicklung der Logik ganz am Schluss, wenn er eine erinnerungsartige Beschreibung seiner eigenen Methode gibt. Dort merkt er an, dass die abstrakte Behandlung der allgemeinen Momente der Methode auf das »Meinen« bzw. die Bewusstseinslosigkeit von demjenigen zurückzuführen sei, womit sich die Methode eigentlich befasst (GW 12, 240).27 Sie kann nicht sagen, was sie sagen will. Wie Rüdiger Bubner anmerkt, handelt es sich dabei um einen Mangel an Übereinstimmung zwischen der Darstellung und dem, was verständlich gemacht werden soll (der Sache), was wiederum den »Prozesscharakter der Logik«28 erklärt. Tatsächlich provoziert Hegel am Anfang der Logik die Assoziation seines Vorhabens mit einer ziemlich alltäglichen Bedeutung des praktischen Widerspruchs, nämlich dann, wenn er versucht die Radikalität des anfänglichen Moments der reinen Unbestimmtheit und Unmittelbarkeit zu erklären: Soll aber keine Voraussetzung gemacht, der Anfang selbst unmittelbar genommen werden, so bestimmt er sich nur dadurch, daß es der Anfang der Logik, des Denkens für sich, seyn soll. Nur der Entschluß, den man auch für eine Willkühr ansehen kann, nemlich daß man das Denken als solches betrachten wolle, ist vorhanden (GW 21, 56).29 Wozu man sich in diesem hochgradig hypothetischen Sinne »entschlossen« hat (denken wir z. B. an das reine Denken), stattet uns mit einer weiteren Bedeutung der Rolle des Negativen aus, und zwar wenn man es daran bemisst, was man dabei geschafft (oder eher nicht geschafft) hat. Diese Beobachtungen sind zwar alle noch ein wenig figurativ, aber sie führen uns, so möchte ich wenigstens behaupten, auf die richtige Spur. Noch abstrakter ausgedrückt, versucht Hegel uns eine allgemeine Erklärung darüber zu geben, warum dies passieren sollte, und diese hat normalerweise mit der Un-

26 Vgl. Bubner, R.: Strukturprobleme dialektischer Logik. In: Idealismus und seine Gegenwart. Hg. v. Guzzoni u. a. Hamburg 1976, S. 36–52. Laut dieser allgemeinen Analogie, wie Bubner anmerkt, beginnt man mit der »Unmittelbarkeit« der Absicht; diese wird negiert durch die konkrete Bestimmtheit dessen, was gesagt werden kann, d. h. seine Vermittlung; und man kann sagen, dass man tatsächlich anerkennt, was intendiert war indem man anerkannte, was nicht ausgedrückt wurde, als man es sagte – laut Hegels komplexer Terminologie ist dies eine Rückkehr zu einer vermittelten Unmittelbarkeit. Dies ist eine Art allgemeines Modell, das Hegel für die Beziehung zwischen Absicht und Tat in seiner Theorie der Handlung benutzt. Siehe Pippin, R.: Hegel’s Practical Philosophy: Rational Agency as Ethical Life. Cambridge 2008. 27 DiGiovanni, der Übersetzer der neuesten Übersetzung der Wissenschaft der Logik, übersetzt »Meinen« als »Vermessenheit.« 28 Bubner: Strukturprobleme dialektischer Logik, S. 45. Er beschreibt den Punkt auch als die »Diskrepanz zwischen Anspruch und Leistung.« (ebd., S. 49). 29 Indem er so einen Anfang »willkürlich« oder gewollt nennt, betont Hegel die praktische Natur des Moments. Dass man überhaupt etwas als Inhalt denken sollte, ist nicht eine Konklusion einer Inferenz und muss nicht so gesehen werden, als ob sie auf einer Annahme beruht. Es genügt einfach, so ein Projekt zu unternehmen: Überhaupt etwas auf kohärente Weise als Objekt des Denkens zu erfassen.

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trennbarkeit von »Position« und »Negation« innerhalb der Bestimmung30 zu tun. Diese grundlegende und einfache Idee von Hegels »Gegensatz« des Denkens mit sich selbst, ist leicht nachvollziehbar, und trotzdem macht er letztlich viel Aufhebens darum. Die einfachste und sogar triviale Auffassung dieser Idee lautet einfach, dass wenn z. B. nichts Lebendiges jemals stürbe, die Vorstellung, dass irgendetwas lebe, leer wäre. (Der Inhalt der Vorstellung des Lebendigen ist nur innerhalb solch eines Gegensatzes ein Inhalt.) Wenn nichts jemals still stände und alles immer in Bewegung wäre, würde die Vorstellung der Bewegung keinen wirklichen Halt finden. Wenn es nichts Beklagenswertes gäbe, gäbe es auch nichts Lobenswertes. Oder in Hegels spekulativsten Beispiel: Wenn alles nur das wäre, was es ist und sonst nichts (»keine Entität ohne Identität«), dann hätte die Vorstellung der Identität selbst keinen Inhalt. Bestimmte Identität braucht irgendeine Art der Selbstunterscheidung um als Identität verständlich zu sein. Sonst wären wir nicht in der Lage, den Unterschied zwischen »A« und »A=A« zu verstehen (und den müssen wir verstehen). Demzufolge ist die Bestimmung von einem jeden Ding gleichzeitig – und nur dadurch – auch ein bestimmter Ausschluss und kann nur durch diesen Ausschluss bestimmt sein. Dies trifft auch gegenteilig zu. Die Tatsache, dass die Seele nicht sterblich ist, bestimmt gar nichts, solange sie nur die Zuschreibbarkeit dieses Prädikats ausschließt. Was hier die Seele ist, ist nur »irgendwo anders« im logischen Raum, d. h. irgendwo anders als im »sterblichen Raum«. Mit dieser Bestimmung wollen wir sagen, dass die Seele nicht-sterblich ist, oder dass sie unsterblich ist, also etwas, das ewig lebt. Dieser Gedankengang brachte Kant dazu, unter qualitativer Bestimmung nicht nur eine Prädikatsnegation zu verstehen, sondern so etwas wie Ausdruck- oder Gegensatznegation bzw. »unendliche« Urteile in der Tabelle der Urteilsfunktionen und qualitative »Beschränkung« in der Tabelle der Kategorien.31 Weil auf vielerlei Art diese Abhängigkeit von Gegensätzen und Ausschließung ignoriert wird und Begriffe in Isolation betrachtet werden, entspricht die Denkabsicht nicht dem Erfolg und die Darstellung schafft es nicht, die Sache einzufangen. Was wir selbstverständlich noch verstehen müssen, ist Hegels Vorschlag, uns die Beziehung zwischen jeglicher interner Selbstbeziehung und dem, was etwas bestimmterweise nicht ist, zu veranschaulichen; und warum, d. h., unter welcher Annahmen, dies zum Problem beim bestimmten Identifizieren eines jeden untersuchten Begriffes wird. Dies alles zur Einleitung. Diese Beschreibung ist zu abstrakt und hoch, um uns weiterzuhelfen. Es scheint z. B., auch ohne weitere Ausführung zur eben vorgestellten bestimmten Negation, noch immer der Fall zu sein, dass das Basismodell der Negation um die es geht, tatsächlich die Prädikat- oder Satznegation ist, als ob die fragliche Bestimmung die Aussage sei, »Das Endliche ist nicht das Unendliche« oder »Es ist nicht der Fall, dass das Endliche das Unendliche ist.« Dies kann ziemlich irreführend sein.32 Auch hat man die Tendenz, den Fokus auf die erstbesten Beispiele, die man in 30 Dies ist die logisch gesehen abstrakteste Version des gleichen Punktes, um den es bei Kant geht: die Unterscheidbarkeit und doch Untrennbarkeit von Begriff (Negation) und Intuition (Position). 31 Siehe die Diskussion in Redding, P.: Analytic Philosophy and the Return of Hegelian Thought. Cambridge 2007, S. 93–101. 32 Es gibt einen allgemeinen Sinn, in dem die Eröffnungsdarstellung als ein Modell für das Folgende

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der Seinslogik findet, zu richten, und auch das kann irreführend sein.33 Das Thema der Negation in der Logik weist zwar viel Kontinuität auf aber es ändert sich auch in der Wesenslogik und in der Begriffslogik. Hegels eigener Assoziation zwischen allgemeiner und transzendentaler Logik treu bleibend, sollten die bisher besprochenen Überlegungen also nicht als Angelegenheiten formaler Klarheit innerhalb einer Reflektion über die Logik des Urteilens verstanden werden. Wie Hegel insistierte, studieren wir nicht, wie wir über Angelegenheiten denken (oder sprechen oder gar wie wir dies tun »müssen«). Es geht vielmehr um »jegliche mögliche Verständlichkeit« und somit geht es um das in-seiner-Verständlichkeit-Sein, oder wie er es einfach ausdrückt, es geht um die Sache; nicht darum, »unsere Art und Weise« verständlich zu machen. Oder, um ein kürzeres, deutlicheres Beispiel davon zu nennen, was Hegel als eine zu »abstrakte« Unterscheidung zwischen logischer Form und Inhalt bezeichnet, soll der Widerspruch »auf bloß formale Weise« erklärbar sein, und zwar als eine Angelegenheit innerhalb der allgemeinen Logik – im Kantischen Sinne. Laut Kants zahlreichen Erläuterungen läuft dies auf ~(p & ~p) hinaus. Oder, in prädikativer Form ausgedrückt: ~ ((S is P) & (S is ~P)). Aber (und hier findet sich die Quelle eines der enthusiastischsten Komplimente Hegels an Kant) Kant selbst hatte in den mathematischen Antinomien bewiesen, dass das, was formal nach einem Widerspruch aussieht (und was, tatsächlich, formal ein Widerspruch ist), p und ~p, kein Widerspruch sein muss. Nicht, wenn wir die Verbindung zwischen »dem Begriff« und »der Sache selbst« 34 auf angemessene Weise verstehen. Wenn die Sätze lauten »die Welt hat einen Anfang in der Zeit« und »die Welt hat keinen Anfang in der Zeit«, dann ist es nicht der Fall, dass wenn einer der beiden wahr ist, seine Negation falsch sein muss, und umgekehrt. Sie können in diesem Fall Gegensätze und nicht Widersprüche sein, d. h. sie können beide falsch sein, wie in Kants eigenem Beispiel, das er bemüht, um seine Position in den Antinomien zu erklären. (Genau so können Unter-Gegensätze beide wahr sein, aber nicht beide falsch.) In Kants Beispielen, wenn das Subjekt das ist, was er das Weltall, d. h. die Totalität der Welt nennt, dann ist die Disjunktion »die Welt-Totalität bewegt sich« oder

genommen werden kann. Doch muss sie auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau formuliert werden: Die Unhaltbarkeit von fixiertem und unabhängigen Inhalt, wie Wolff, Michael: Hegels Wissenschaft der Logik. (Im Erscheinen). 33 Es ist wahr, wie Pinkard, T.: Hegel’s Dialectic. The Explanation of Possibility. Philadelphia 1988, S. 26, darlegt, dass laut Hegel der Anfang »der Grund der ganzen Wissenschaft« sei (21,56). Sogar noch deutlicher: »So ist der Anfang der Philosophie, die in allen folgenden Entwicklungen gegenwärtige und sich erhaltende Grundlage, das seinen weiteren Bestimmungen durchaus immanent bleibende« (21, 58). Aber dies kann bedeuten: Es folgt aus der Einsicht, dass kein Anfang mit bloßem Sein gemacht werden kann und dem Anerkennen, dass ein solcher Anfang »Dasein« sein muss. Diese These über die Rolle von Bestimmtheit ist, was »überall immanent bleibt«. Ich lese Hegel so, dass er dies in GW 21, 102–103 sagt. 34 Wie Brandom sagt, nur in dem formalen Modus ausgedrückt, der Begriff »fängt nicht mehr ein, als einen abstrakten Schatten des wichtigen Phänomens« [fails to capture more than an abstract shadow of the important phenomenon]. (Brandom, Robert: Hegel and Analytic Philosophy. 2012: http://www. pitt.edu/~brandom/currentwork.html, S. 17).

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»die Welt-Totalität bewegt sich nicht« das Gleiche wie das Nennen von Gegensätzen. Folglich greift das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten nicht. Gleiches gilt für den noch einfacheren Fall »der Stein riecht gut« und »der Stein riecht nicht gut«35. Da Steine keinen Geruch haben, sind beide Urteile falsch.36 Was aber wäre dann ein nicht-formeller Begriff von Negation, einer, der nicht auf die Funktion einer logischen Konstanten beschränkt wäre bzw. einer, der philosophische Arbeit verrichten soll?

VII. Wirklicher Widerspruch Wir untersuchen die Negationsformen, die laut Hegel in der Möglichkeit bestimmter Verständlichkeit in verschiedenen Kontexten, d. h. unter verschiedenen Bestimmtheitsannahmen, gelten. Grob zusammengefasst, sind diese »Bestimmtheitsarten« in Aussagen wie, erstens »Sokrates ist weiß« oder »Rosie ist ein Hund« oder »Kupfer ist ein elektrischer Leiter« ausgedrückt; zweitens, finden sie sich in Aussagen wie »so eine Pflanze ist heilsam«, »diese Strafe ist wirksam« oder »Wölfe jagen im Rudel«; und drittens, finden sie sich in dem, was Hegel als richtige »Urteile« bezeichnet, wie etwa »das ist ein gutes Haus« oder »das ist schlecht für Pferde,« und »diese Handlung ist gut«. Angeblich werden zahlreiche Begriffe höherer Ordnung in diesen möglichen Bestimmungen vorausgesetzt diese reichen von »Endlichkeit« bis »Wesen« und »Gesetz« bis »Allgemeinheit«, »Leben« und sogar bis »Methode«. Keine dieser Kategorien kann als empirisch abgeleitet verstanden werden; sie werden von jeder empirischen Bestimmung vorausgesetzt (auf verschiedene Arten, in verschiedenen Kontexten) und ihr Inhalt ist eine Frage von beidem: Sowohl »internen« selbst-bezogenen »Momenten« als auch »äußerlicher« Abhängigkeit von Beziehungen zu gegensätzlichen oder anderweitig »negativen« »Momenten«. Der Inhalt einer wahren Aussage ist das, was der Fall ist, und so sind diese konstitutiven Momente einer jeden möglichen verständlichen Aussage auch »Formen der Wirklichkeit«. Jede zustimmungsfähige Aussage (verschiedener Art) muss ein Ausdruck solcher begrifflicher Verständlichkeitsspezifikationen sein. Diese Verständlichkeitsbedingungen konstituieren die Möglichkeit verständlicher Wahrheitsträger (Urteile). Dabei sind die Formen der Verständlichkeit die Formen dessen, was wahr sein könnte, obwohl sie nicht die Frage beantworten, was eigentlich in einem besonderen Fall wahr ist. Was wir wissen wollen ist beides: Erstens, etwas über die für Differenzierung notwendigen, materiellen Beziehungen des Ausschlusses, die höhergeordnete Begriffe mit Inhalt zu versehen, und zweitens, warum es unter den spezifischen Annahmen einer jeden »Logik« beim Spezifizieren dieser internen und äußerlichen Beziehungen ein inhärentes Problem geben sollte, d. h. eine unvermeidliche Inkonsistenz oder Antinomie.

35

Kant, Immanuel: KrV, A503/B531; Wolff: Der Begriff des Widerspruchs, S. 193 ff. Wolff, Michael: Über das Verhältnis zwischem logischem und dialektischem Widerspruch. In: Hegel-Jahrbuch (1979), S. 340–48, hier: 341–2; Wolff: Der Begriff des Widerspruchs. Eine Studie zur Dialektik Kants und Hegels, Königstein 1981, S. 13 ff. 36

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Dies bereitet uns auf eine kurze Rückschau auf die »Realität des Widerspruchs« in Hegels Ansatz vor. Michael Wolff bietet uns einen einleuchtenden Zugang zu diesem Problem an. Wolffs Hauptanliegen in seinem wichtigsten Werk zu diesem Thema ist der Status des Widerspruchs in Hegels dialektischer Logik, wobei dieser durch sein Verhältnis zu Kants Verständnis der Dialektik erhellt wird. Der Widerspruch als solcher ist eine Bestimmung der Reflexion, ein Moment der Logik des Wesens, und wir brauchen mehr Vorwissen um diesen Kontext zu besprechen. So haben wir uns z. B. noch nicht dem Thema des Status der »Negation der Negation« in Hegels spekulativer Logik angenähert. Aber im Einklang mit dem weitreichenderen Überblick, den wir hier verschafft haben, finden sich ein paar allgemeine erinnerungswürdige Punkte, die Wolff angemerkt hat. Notorischerweise sieht Hegel den Widerspruch im Besonderen und im Allgemeinen den Status der Negation und der Negativität als etwas Wirkliches an und nicht bloß als das Resultat einer logischen Operation an einem Prädikat oder an einer Proposition. Laut Wolff existieren zwei wichtige Kontexte, die man erwägen muss um zu verstehen wie Hegel dazu kommt, so etwas zu behaupten. Erstens müssen wir uns Kants Unterscheidung zwischen logischem Widerspruch, dialektischem Widerspruch (paradigmatisch in den Antinomien) und dem, was Kant als wirkliche Entgegensetzung verteidigte, ins Gedächtnis rufen. Kant versuchte, das Erstere vollkommen im Lichte seiner Doktrin der Analytizität zu definieren. Am offensichtlichsten wird dies im Beispiel der Bekräftigung und des Bestreitens des gleichen Sachverhalts bezüglich des gleichen Subjekts zur gleichen Zeit (in anderen Worten, durch das Leisten logisch falscher Aussagen). Dialektische Widersprüche waren jedoch Illusionen, nur scheinbare Widersprüche. Dieser Ansatz ist offensichtlich für Hegel interessant, besonders im Hinblick auf seine unterschiedliche Sichtweise des Ursprungs der Erscheinung eines Widerspruchs. So führte Kant an, dass im Falle der mathematischen Antinomien (der ersten zwei) eine Art Kategorienfehler über das Subjekt der Antinomien die wahre Lösung der Antinomien maskiert. Diese Verwirrung bezog sich auf »die Welt« und besagte, dass sie solch eine Art von Objekt ist, das einen Anfang in der Zeit und im Raum haben könnte, und außerdem, dass sie eine »komplexe Substanz« sei, d. h., sie könnte so eine Art von Objekt sein, das aus einfachen Teilen, oder aus unendlich teilbaren Teilen bestehen könnte. Nach einer Analyse sind diese beiden Thesen in Wirklichkeit Gegensätze, und können daher beide falsch sein (und sind es auch), obwohl beide nicht gleichzeitig wahr sein können. Man kann über die Welt nicht sagen, dass sie entweder einen Anfang hat oder nicht; man kann über eine komplexe Substanz nicht sagen, dass sie entweder aus einfachen Teilen besteht, oder dass die unendlich teilbar sei. Im Falle der dynamischen Antinomien, nach angemessener Reflexion über den Inhalt der Aussage, können wir eine Verwirrung seitens des Denkers darüber feststellen, ob der Inhalt als ein Ding an sich verstanden wird oder als eine Erscheinung. Sobald das geklärt wurde, können wir sehen, dass diese beiden untergeordnete Gegensätze sind und sich somit nicht widersprechen; sie können nicht beide falsch sein, aber sie können beide wahr sein (und sie sind es). In beiden Fällen erhalten wir angeblich den indirekten Beweis der Wahrheit des transzendentalen Idealis-

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mus. Die gleiche Art der Klarstellung eines nur scheinbaren Widerspruchs ist auch auf gegenwärtige »Dualaspekt«-Interpretationen dieses Idealismus anwendbar. Laut dieser Lesart derjenigen Textstellen, die sie zu unterstützen37 scheinen, kann der Eindruck erweckt werden, dass die Position einem Widerspruch anheim fällt. Dasselbe Objekt ist aus einer Perspektive in der Lage, spontane Kausalketten hervorzurufen, und aus einer anderen Perspektive ist es notwendig bedingt. Dies ist angeblich nur ein scheinbarer Widerspruch, und wird als solcher erkannt, sobald wir wissen, wie man Erscheinungen und Dinge an sich als zwei verschiedene, mögliche »Aspekte« (falls wir dies können) unterscheidet. Laut Hegel ist dies ist nicht die Art und Weise, auf die Freiheit und Notwendigkeit als komplementär und somit als nicht widersprechend verstanden werden können aber »reflexive Auflösungen« wie diese werden im Fahrwasser Kants angeboten. (D. h., es mag andere »Kontextualisierungen« als diese geben, aufgrund derer das, was als Widerspruch erscheint, als nur scheinbar entlarvt wird besonders mag es andere Arten und Weisen geben auf welche die »beide wahr«-Strategie der Unterkategorien illustriert werden kann.)38 Laut Wolff ist es jedoch auch für das Verständnis der Annahmen, die Hegels Ansatz zu Grunde liegen, wichtig, dass Kant ein früher Verteidiger von Newtons Theorie der Beziehungen von Gegensätzen in der Natur, oder der positiven und negativen Größen (seit seinem frühen Essay über das Thema von 1763) war. Laut dieser Theorie kann ein Objekt im Ruhezustand sein, weil ihm eine motivierende Kraft fehlt, aber es wäre falsch, alle diese negativen Möglichkeiten zu erwägen. Ein Objekt kann auch ruhen, weil eine andere Kraft seiner motivierenden Kraft entgegen wirkt. Kritiker wie Crusius verabscheuten die Idee von Kräften, die positive und negative Werte haben.39 Aber Kant verstand, dass solche »Werte« (und hier findet sich wieder ein wichtiger Präzedenzfall für Hegel) in Beziehung auf einander stehen, und nicht absolut gelten. Er realisierte, dass sie relative Werte und sogar auf willkürliche Weise umdrehbar waren. Beim Zusammenstoß von zwei Körpern wird die Beschleunigung des einen sich verändern – und zwar um das Maß jener Kraft, die seiner Bewegung entgegen wirkt (d. h. sie »negiert«). In dem gleichen Sinn können Schulden von hundert Dollar nicht einfach als Mangel an hundert Dollar verstanden werden. Vielen Leuten fehlen hundert Dollar, aber sie haben keine Schulden. Die Schulden sind eine »Negation« von, sogar im Widerspruch mit, einem Kredit von hundert Dollar. Wolff zeigt auch, dass Entwicklungen in der Mathematik, von denen Hegel durchaus wusste, seine Reflexionen über die Realität der Negation beeinflussten. Denn Mathematiker begannen gerade zu verstehen, dass negative Zahlen nicht mittels des Modells der Subtraktion verstanden werden können; oder, auf Hegelsche Weise ausgedrückt, dass es anscheinend etwas »Positives« an negativen Zahlen gab, z. B. in ihren Summen (– 4 + – 5 = – 9 kann nicht erklärt werden, wenn das negative Zeichen auf Subtraktion

37

Kant: KrV, A35/B51 und A360. Vgl. Wolff: Über das Verhältnis zwischem logischem und dialektischem Widerspruch, S. 342 über den »reflexionslogischen« Charakter des »Substrats« um den es geht. 39 Ebd., S. 343. 38

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beschränkt wird. Der Begriff des Addierens von »subtrahierten Quantitäten« ergibt keinen Sinn).40 Also, in dem Sinn, in dem wir logische Gegensätze als sich einander gegenüberstehend und als nicht gleichgültig besprochen haben (die Tatsache, dass ein Pferd ein Säugetier ist, bedeutet nicht, dass ihm die Eigenschaften von Reptilien fehlen, es schließt sie aus, kann sie nicht einmal haben), kann die Wirklichkeit so eines Gegensatzes – d. h. die Unmöglichkeit eines Verständlichmachens, sogar nur eines Beschreibens, ohne zuzugeben, dass es so eine Wirklichkeit gibt – als mit den angestellten Überlegungen kompatibel gesehen werden. In weitem Sinne (Hegels Sinn) kann es somit als eine Form des Widerspruchs verstanden werden, dass die qualitative Bestimmung eines Dinges seinen Gegensatz ausschließt oder ihm »widerspricht«. Dies ist nicht der Sinn von Widerspruch, der die Logik durchzieht, aber es gibt uns genug Hintergrundwissen um (a) einzusehen, dass Hegel weder verrückt ist weil er sagt, dass »alles widersprüchlich ist« 41 noch dass er ein mystischer Heraklitanhänger wäre und um (b) eine Analyse der besonderen Stellen solcher Negation von Unbestimmtheit und dann der Negation solch einer Negation in den wichtigen Übergangsstellen in der Logik zu ermöglichen. Dies wäre jedoch auf jeden Fall ein Thema für zukünftige Abhandlungen. (Aus dem Amerikanischen von Sebastian Stein)

40

Ebd., S. 347 ff. Wolff: Der Begriff des Widerspruchs, S. 198, und das allgemeine Prinzip: Immer wenn Hegel den Satz des Widerspruchs zu verneinen scheint, verneint er jegliche formalistische Vorstellung, dass das Gesetz bedingungslose Gültigkeit habe. Dies widerspricht dem, was nicht als solches, formalerweise, ausgedrückt werden kann, wie im Beispiel der Idee der Antinomien als Gegensätze und Untergegensätze. Siehe auch einen ähnlichen Punkt, der durchgehend in Redding: Analytic Philosophy and the Return of Hegelian Thought über die Unauslöschbarkeit des »Kontextes« in solchen, vermeintlich formalen, Bestimmungen betont wird. 41

S UJETS

DER

L OGIK – S EINSLOGIK

Das Sein »innerhalb seiner selbst«: Qualität und Quantität Tommaso Pierini

I. Das Sein in der Wissenschaft der Logik In der Wissenschaft der Logik kommt der Begriff von Sein in mehreren Zusammenhängen vor. Bekanntlich verbindet Hegel mehrere logischen Bestimmungen mit dem Sein. Außerhalb des Seins selbst gibt es u. a. das Dasein, die Existenz, die Objektivität, die absolute Idee. Diese stellen »verschiedene Arten des Seins« (GW 11, 324) dar. Hegel nennt sie auch im Hinblick auf die Methode »mehrere Formen der Unmittelbarkeit« (GW 12, 130). Daraus wird bereits ersichtlich, dass der Begriff von Sein einen inhaltlichen und einen methodischen Aspekt aufweist. Im ersten Buch Die Lehre vom Sein betitelt es jeweils das ganze Buch, das erste Kapitel des ersten Abschnitts und der Sache nach auch den ersten Paragrafen des ersten Kapitels »A. [Sein]« (GW 21, 68), wobei Hegel wahrscheinlich mit Absicht darauf verzichtete, den ersten Paragrafen explizit zu betiteln. Vermutlich wollte er schlicht mit der Sache und nicht noch mit einer Einteilung anfangen, da er in mehreren Vorbemerkungen erläutert hatte, warum diese Einteilungen und Vorbemerkungen nicht zum Ganzen der philosophischen Wissenschaft gehören können. Erst im Nachhinein zeigt sich die Einteilung als wohl begründet. Wir können somit noch ein Stück weit über sie nachdenken. Ihr entspricht Hegels Unterscheidung von drei Hinsichten des Seins, wie es in der Seinslogik vorkommt. Im ersten Paragrafen geht es um das »Sein« als Anfang, als »abstrakte Unbestimmtheit« (GW 21, 66); im ersten Kapitel um den Nachweis, dass es sich in Wahrheit als bestimmtes Sein aufzeigt; im ganzen ersten Buch darum, dass es zum Schein und Wesen wird. Bezüglich des Seinsbegriffs behandeln die Rekonstruktionen oft die philosophische Problematik des Anfangs und die Argumentation im ersten Kapitel. Der Anfang besteht bekanntlich im unbestimmten Sein. Überraschenderweise bietet die »Allgemeine Einteilung des Seins« (ebd.) eine leicht abweichende Beschreibung der Reihenfolge, in der die Hinsichten von Sein auftauchen. Da heißt es: Das Sein ist zuerst gegen Anderes überhaupt bestimmt; Zweitens ist es sich innerhalb seiner selbst bestimmend; Drittens, indem diese Vorläufigkeit des Einteilens weggeworfen ist, ist es die abstrakte Unbestimmtheit und Unmittelbarkeit, in der es der Anfang sein muss. (ebd.) Nach dieser Beschreibung ist das Sein als Anfang nicht »zuerst«. Es ist nicht einmal ein Zweites, sondern ein Drittes. Das erste Sein stellt das Sein im Unterschied zum Wesen (und zum Begriff) dar, das zweite bezieht sich auf die Unterscheidungen »innerhalb seiner selbst« (ebd.), das dritte auf das anfängliche, bestimmungslose Sein. Konfrontiert

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man diese Sequenz mit dem Gang der Seinslogik, so sieht man, dass in der Einteilung die drei Hinsichten in fast umgekehrter Reihenfolge auftreten. Im Haupttext geht der Gang vom unbestimmten Sein über seine Bestimmung bis hin zum Wesen, in der Einteilung schreiten wir vom Unterschied zum Wesen über die Bestimmung des Seins zum unbestimmten Sein fort. Diese Umkehrung überrascht auch, wenn man bedenkt, dass die Wissenschaft der Logik voraussetzungslos sein möchte. Was kann ein Anfang vor dem Anfang nun heißen? Ich lasse nun die verwickelte Problematik des Bezugs zwischen der Wissenschaft der Logik und der Phänomenologie des Geistes beiseite. In der Sache gehe ich davon aus, dass die Voraussetzungen, die uns zum Auftakt der Wissenschaft hinführen, merkwürdige vorläufige Gedanken darstellen, die nachher innerhalb der Logik gerechtfertigt werden. Ich möchte diese Umkehrung vertiefen, weil sie mit dem Begriff von Sein eng verbunden ist. Daraus lassen sich auch weitere Schlüsse zum Verlauf der Wissenschaft der Logik ziehen. Zunächst ist das Sein, sagt Hegel, gegen Anderes und das Wesen bestimmt, dann »innerhalb seiner selbst bestimmend«. Es handelt sich um die Bestimmung von Sein und darum, wie sich Sein von anderen Gegenständen unterscheidet. Das, was das Sein auszeichnet, hängt mit dem traditionellen Problem zusammen, dass sich das Sein anders als die Gattungen von Gegenständen nicht von außen ausdifferenzieren lässt. Bei den traditionellen Gattungen wird die Gattung »Säugetier« z. B. vom Delfin prädiziert. Zugleich wird die Gattung nicht von den Spezifikationen des Delfins, etwa von seiner Schwimmfähigkeit oder seinem schnabelartigen Maul ausgesagt. Man kann etwa sagen, dass ein Säugetier, das schwimmen kann und ein schnabelartiges Maul besitzt, ein Delfin ist, und des Weiteren noch, dass ein Delfin ein Säugetier ist. Jedoch lassen sich sein schnabelartiges Maul und seine Schwimmfähigkeit nicht als Säugetiere beschreiben. Die Differenz, welche die Gattung der Säugetiere spezifiziert, ist nicht in ihr implizit, sie kommt ihr gleichsam von außen zu. »Sein« hingegen wird sowohl vom Gegenstand als auch von seinen Eigenschaften prädiziert, von den Gattungen als auch von deren spezifischen Differenzen. Alles »ist«. Selbst die winzigsten Unterscheidungen am Gegenstand »sind« noch. In diesem merkwürdigen Verhalten liegt die negative Determination von Sein, dass es sich nicht wie üblich ausdifferenzieren lässt. Die erste Hinsicht des Seins, die den Unterschied des Seins gegen Anderes festhält, besteht also darin, dass es sich nicht gegen Anderes bestimmen lässt. Daraus kann man zweierlei folgern. Einerseits lässt sich, indem jegliche unangemessenen Ausdifferenzierungen vom Sein fern gehalten werden, sagen, dass es Unbestimmtheit ist. Andererseits kann man auch behaupten, dass es innerhalb seiner selbst bestimmt ist, insofern jegliche Unterscheidungen von Sein es selbst sind. Letzteres, die zweite Hinsicht von Sein, gehört mit der ersten zusammen, denn sonst könnte man die angesprochene negative Determination nicht angeben, nämlich nicht aufweisen, worin der Unterschied des Seins zu den üblichen Dingen besteht. Das Sein muss, wenn überhaupt, aus sich selbst heraus bestimmt werden, das ist seine positive Determination, die Selbstbestimmung. Da jedoch die erste und die zweite Hinsicht in der angegebenen Form von einer Denkweise herrühren, welche die Differenz anders konzipiert, als es für das Sein nötig wäre, können sie nicht ohne weiteres in den Begriff des Seins aufge-

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nommen werden. Sie stellen zunächst vorläufige Hinsichten dar. Insofern die unangemessenen Differenzen entfernt werden, kommt nur die dritte Hinsicht zum Vorschein, das Sein als Bestimmungslosigkeit. Was von der Selbstbestimmung, von jenem Selbstsein, Bei-sich-Sein des Seins auch im Anderen, übrig bleibt, ist die Selbstgleichheit, die Gleichheit »nur« (GW 21, 68) mit sich, die das anfängliche Sein betrifft. Diese Selbstgleichheit und die Unmittelbarkeit, die daraus gewonnen wurde, dass die Vermittlung mit dem Anderssein negiert, aufgehoben wurde, machen die methodischen Charakteristika von Sein aus, und zwar auch über die Seinslogik hinaus. Das anfängliche Sein in seiner ungebrochenen, unvermischten Einheit findet Hegel bekanntlich in Parmenides und den Eleaten wieder. In den Anmerkungen macht Hegel deutlich, dass der Gang der Seinslogik einen Weg von Parmenides hin zu Parmenides darstellt. Ich werde darauf zurückkommen. Wenn ich nun das Resultat des ersten Kapitels »Sein« kurz zusammenfassen darf, so zeigt sich darin, dass diese Bestimmungslosigkeit nicht stabil ist, sie geht von der Unbestimmtheit zu einer Bestimmung über. Das Sein »wird« (ausdrücklich) zum bestimmten Sein, terminologisch zum Dasein. Dadurch wird das Problem, wie sich das Sein ausdifferenzieren lässt, wieder akut. Die Frage besteht also darin, wie das Sein innerhalb seiner selbst strukturiert ist. Die angeschnittene negative Determination von Sein hilft dabei, die Richtung der Frage zu präzisieren. Wenn sich das Sein nicht von außen ausdifferenzieren lässt, muss ihm eine innere Kontinuität zugesprochen werden. Gilt dies von jeglichen Differenzen, so ist eine Unerschöpflichkeit der Bestimmungen zu konzipieren. Dem Sein können keine äußeren Grenzen auferlegt werden. In diesen kontinuierlichen Rahmen soll Bestimmtheit im Sinne der Begrenzung hineinkommen, ohne dass die Selbstgleichheit unterbrochen wird. Dieses Problem, Gleichheit mit sich und Differenz, Kontinuität und Grenze zusammenzubringen, ist das nächste Ziel der Seinslogik. Nur zeigt sich im Laufe des Gedankengangs, dass diese Strukturierung, sofern sie innerhalb der Lehre vom Sein zu finden ist, über das Sein hinausführt. Indem das Sein sich in sich vertieft, geht es über sich selbst hinaus und zum Wesen über. Damit wird das Verhältnis von Sich-selbst-Gleichheit und Bestimmtheit zu einer Hauptfrage der Wissenschaft der Logik überhaupt. Aus der Vogelperspektive gesehen, beschäftigt sich der erste Abschnitt der Seinslogik mit der Untersuchung der Bestimmtheit, der zweite Abschnitt mit der erlangten Gleichheit mit sich als Gleichgültigkeit gegenüber der Bestimmtheit, während der dritte Abschnitt beide zusammenbringt, ausgehend vom Begriff des Maßes als einer qualitativ »sich auf sich beziehenden Äusserlichkeit« (GW 21, 323). Darin vollzieht sich Hegel zufolge der Schritt über die Seinslogik hinaus. »Es liegt in dem Maße bereits die Idee des Wesens, nämlich in der Unmittelbarkeit des Bestimmtseins identisch mit sich zu sein« (GW 21, 326). Mehr noch: Das griechische, selbst noch unbestimmte Bewusstsein, dass alles ein Mass hat, so dass selbst Parmenides nach dem abstrakten Sein die Notwendigkeit als die alte Grenze, die allem gesetzt ist, eingeführt, ist der Anfang eines viel höheren Begriffs als die Substanz (GW 21, 325).

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So weist der Gedanke einer Einheit von Selbstgleichheit und Bestimmtheit über die objektive, auf die subjektive Logik hinaus, da, wo der Begriff der Selbstbestimmung eine angemessene Behandlung finden wird. Während in der Seinslogik das Sein am Anfang steht und eine Vertiefung seiner in sich stattfindet, stellt es sich in der Wesens- und Begriffslogik als ein Ergebnis dar, es wird wiederhergestellt. Die methodischen Charakteristika von Sein, Gleichheit mit sich und Unmittelbarkeit bleiben konstant, dennoch kommen sie später als Ergebnisse einer Vermittlung vor, die sie in eine höhere Form von Sein wiederherstellt. Kurzum: Man geht in der Seinslogik mit Parmenides über Parmenides hinaus, und zwar um des Seins willen. Nun werde ich mit diesem Blickwinkel die ersten zwei Abschnitte der Seinslogik, Qualität und Quantität, angehen, sofern sie respektiv mit der Bestimmtheit und der Selbstgleichheit zu tun haben. Zusammenfassend: Die Unterscheidung der Seinslogik in Qualität und Quantität fußt auf dem Begriff des Seins, in seiner Selbstgleichheit auf der Differenz, darin, dass es nicht von außen ausdifferenziert werden kann, und in der Unmöglichkeit, es als völlige Bestimmungslosigkeit festzuhalten und zu stabilisieren. Im ersten und im zweiten Abschnitt werden Qualität und Quantität, Bestimmtheit und Selbstgleichheit getrennt voneinander behandelt. Insofern ihre Ergebnisse den Übergang der einen in die andere darstellen, zementiert dieser Wechselbezug die Einheit der Bestimmtheit und der Selbstgleichheit, die am Ende des ersten Kapitels Sein bloß als Desiderat und als Aufgabe ausgedrückt werden konnte. Jedoch ist diese Aufgabe nicht bewältigt, solange die Wissenschaft der Logik nicht zum Abschluss gekommen ist. Daher befestigt der Wechselbezug von Qualität und Quantität die angesprochene Einheit ex negativo, ohne ihre konkrete Form angeben zu können. Dabei sind die zwei Wege, die den wechselseitigen Übergang konstituieren, von Wichtigkeit. Darauf werde ich mich konzentrieren. Der Gedanke der Grenze spielt dabei die Hauptrolle.

II. Die Grenze der Qualität Das bestimmte Sein nennt Hegel Dasein. Die Daseinslogik ist vielleicht das bekannteste Stück aus diesem Werk. Ich werde mich nur kursorisch darauf beziehen und möchte lediglich auf den Begriff der Grenze eingehen. Dieser stellt einen kritischen Punkt in der Seinslogik dar. Immer wieder kommt Hegel darauf zurück. Eine Qualität charakterisiert sich nach der Daseinslogik durch den Zusammengang von Etwas und Anderem. Bestimmtheit ist begrenzend. Sie gibt eine Grenze im positiven sowie im negativen Sinne an. Ein Etwas ist innerhalb seiner Grenze, und sie ist da, wo es aufhört, zu sein. Das Fürsichsein hat die Grenze verinnerlicht. Als Fürsichseiendes, als das Eins ist es »die ganz abstrakte Grenze seiner selbst« (GW 21, 151). Die Quantität ist »eine Grenze, die ebenso sehr keine ist« (GW 21, 173). Das Maß vergleicht Hegel, wie gesagt, mit der parmenideischen Grenze. In der Daseinslogik ist der Begriff der Grenze durch drei Gesichtspunkte festgelegt. Erstens fixiert die Grenze die Qualität des jeweiligen Etwas, sei es das eine Etwas oder das andere. Sie definiert und unterscheidet beide. Daher ist die Grenze für das Etwas

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positiv und negativ, sie erweist sich wie das Werden als eine doppelte Bestimmtheit, als doppelköpfig. Zweitens unterscheidet sich die Grenze noch von dem einen sowie von dem anderen Etwas. Sie gehört nicht vollständig zu dieser oder jener Seite der Grenze. Daher stellt sie eine Andersheit sowohl für diese als auch für jene Seite dar. Sie ist »nicht nur Nichtsein eines Anderen, sondern des einen wie des anderen Etwas, somit [Nichtsein] des Etwas überhaupt.« (GW 21, 114) Drittens erweist sich die doppelte Bestimmtheit der Grenze als ein Widerspruch, da sie an einem Etwas als seine Qualität sowohl sein Sein als auch sein Nichtsein bildet. Diese Doppelung, die die Grenze charakterisiert, betrifft auch die nachfolgenden Denkbestimmungen. So wird die Bestimmtheit beim Endlichen, das die Grenze nun an sich hat, seine Schranke und das Sollen. Des Weiteren gilt die Doppelung auch für das Hinausgehen des Endlichen über sich, den Wechselbezug des Endlichen und des Unendlichen sowie deren Widerspruch. Die Auflösung besteht in der Beschreibung einer inneren Dynamik, in der das Endliche und das Unendliche zusammengehen. Das wahrhaft Unendliche macht die erste Form aus, in der das Problem der Grenze zu einem ersten Ausgleich kommt. Das Fürsichsein, »das unendliche Sein« (GW 21, 144), ist die erste Denkbestimmung, die die Grenze verinnerlicht hat, denn es hat nicht nur die Bestimmtheit, wie das Endliche, sondern auch den Gedanken der inneren Dynamik in sich. Dem Fürsichsein soll keine Andersheit mehr im Wege stehen. Alles wird im Fürsichsein verinnerlicht. In ihm sind alle fremden Denkbestimmungen als solche ausgelöscht worden. Dies beschreibt Hegel als eine negative Selbstbeziehung. Nun macht die Verinnerlichung des Fremden als eines verschwindenden Moments das Aufheben aus. Keine Bestimmtheit ist mehr da. »Es ist nur eine Bestimmung vorhanden, die Beziehung-aufsich-selbst des Aufhebens.« (GW 21, 150) Die Darstellung der Dynamik des Fürsichseins basiert auf dieser Selbstbeziehung und darauf, dass diese Bestimmung wieder als eine seiende verstanden wird. Die Dynamik wird jedoch Hegel zufolge dadurch erschwert, dass sie sich auf zwei Ebenen zu bewegen hat. Sie findet immer noch auch im Rahmen der Bestimmtheit statt. Damit ist diese Selbstbeziehung eine Qualität, wobei die Abhandlung schon über die Daseinslogik hinweg sein müsste. Die Dynamik besteht also in der Aufhebung der Qualität, dem nachfolgenden Setzen des Aufhebens als Qualität, ihrem Abstoß, ihrer Wiederaufhebung, und so fort. Die negative Selbstbeziehung, die keine weitere Bestimmtheit hat, ist als Kategorie schiere Einheit, das Eins. Als Denkbestimmung sollte es zugleich auch die Negation einer daseienden Denkbestimmung, also, wie vorher erwähnt, als Grenze beschrieben werden. Das Eins als negative Selbstbeziehung »die ganz abstrakte Grenze seiner selbst« (GW 21, 151). Vier Punkte beschreiben das Eins, die ersten zwei, insofern es als Negativität, die anderen zwei, insofern es als seiende Bestimmtheit artikuliert wird. Erstens soll das Eins als Negation von allem Anderssein als unveränderlich gelten. Somit wird die Dynamik, die es entwickelt, nicht als eine Form des Werdens geschildert. Dennoch ist zweitens das Eins prozesshaft, was implizit in der Rede von der Grenze seiner selbst schon enthalten ist. Drittens hat es, wenn man die Negation der Bestimmtheit als Bestimmtheit vorstellt, doch die Inhaltslosigkeit zum Inhalt, das Leere. Diese stellt eine andere Charakterisierung als das Einssein dar und wird mit daseinslogischer Operation

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zu einer anderen Kategorie neben dem Eins. Dadurch wird, immer noch ausgehend vom daseinslogischen Rahmen, das Einssein zu einer Bestimmtheit. Als solche entfernt sie sich von der eigenen Struktur als Eins. Andererseits bleibt sie dennoch eins, sie entfernt sich also vom Einssein auch nicht. In dieser Hinsicht einer negativen Selbstbeziehung unterscheidet sich das Eins von sich selbst. Es stößt sich von sich ab und setzt noch ein Eins, eine Vielheit von unveränderlichen Eins. Dieses Abstoßen nennt Hegel Repulsion. Sie macht die Dynamik des Eins aus, die kein Werden ist. Wichtig ist dabei, dass Hegel den partiellen Rückfall in die Daseinslogik von Etwas und Anderem auch aus dem Gedanken der negativen Beziehung auf sich herleitet. Denn diese Selbstbeziehung ist Einheit unter Ausschluss jeglicher Eigenschaften, somit auch seiner als negativer Selbstbeziehung. Dadurch, dass sie sich konstituiert, gibt sie sich zugleich preis. Und sie tut dies nicht dadurch, dass sie ihre Struktur gänzlich aufgibt, sondern indem sie das Einssein vervielfältigt, perpetuiert. Die Grenze, die als Pseudoetwas die vielen Eins zueinander haben, das, was sie auseinander hält, ist das Vakuum. Das Leere wurde jedoch von Hegel als eine Form von Nichts eingeführt, die aus der Negation aller Qualitäten entstand. Daher ist die Grenze der Vielen »das reine Nichtsein« (GW 21, 157). Der Gedanke der Grenze wurde vom Eins verinnerlicht. Somit übernahm es auch ihre doppelköpfige Bestimmtheit und den Widerspruch. »Die Repulsion des Einen von sich selbst ist die Explikation dessen, was das Eins an sich ist« (ebd.), nämlich: sie ist ein ebenso einfaches Beziehen des Eins auf Eins als vielmehr die absolute Beziehungslosigkeit der Eins; jenes nach der einfachen, affirmativen Beziehung des Eins auf sich, dieses nach eben derselben als negativen. Aus dieser Doppelung entwickelt sich Hegel zufolge der Widerspruch, der die Vielheit als Replikationsprozess des Einsseins erzeugt. Wir sagten bereits, dass es bei dem Problem der Doppelung der Bestimmtheit auf die Form der Dynamik ankommt. Nun zeigt sich, dass die negative Selbstbeziehung als Repulsion nicht für das letzte Wort gehalten werden kann. Das zusätzliche Explizitmachen dessen, was die Repulsion noch beinhaltet, führt nun zur Kategorie der Quantität. Die Repulsion ist kein Abstoßen im Sinne von Wegstoßen oder Loswerden. Denn die negative Selbstbeziehung stellt noch eine Beziehung her. Die Replikation der vielen Eins hebt ihre Identität, ihre »Ununterschiedenheit« (GW 21, 162) nicht auf. Daher steht das Abgestoßene noch in »Verbindung« (GW 21, 163) mit dem Abstoßenden. Da in der negativen Selbstbeziehung das Eins sich von sich selbst repelliert, bleibt in der Repulsion auch die Ununterschiedenheit bestehen. In der Repulsion ist nun auch die Gegendynamik, die mit der Identität des Ununterscheidbaren zusammenhängt, implizit. Hegel nennt sie Attraktion. Sie zeigt sich als das einfache affirmative Beziehen des Eins auf Eins, während die Repulsion als Negation die absolute Beziehungslosigkeit des Eins betrifft. Attraktion und Repulsion machen somit die zwei untrennbaren Seiten der negativen Selbstbeziehung aus. Ihre Dynamik erbt das Problem der Doppelung der Bestimmtheit, ohne seinen Widerspruch aufzulösen. Die Dynamik der negativen Selbstbeziehung besteht eben in der Darstellung dieses Widerspruchs. Was folgt, ist die

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»Haltungslosigkeit« dieser Dynamik, »das Zusammensinken oder vielmehr das Mitsich-Zusammengehen in die einfache Unmittelbarkeit« (GW 21, 165). Daraus resultiert Hegel zufolge die Kategorie der Quantität. Die Grenze des Etwas bestimmte das, was es ist und was es nicht ist. In ihr ging es über sich hinaus. Indem dieses Hinausgehen absorbiert wurde, blieb das Eins des Fürsichseins da, das nur eine bloße Grenze als qualitative Bestimmtheit darstellt. Dadurch verwickelt sich das Eins aufgrund seiner qualitativen Bestimmtheit in eine widerspruchsvolle doppelte Dynamik, die es affirmiert und zugleich negiert. Dies führte zur Tilgung auch der letzten qualitativen Bestimmtheit und zum Kollaps der Qualität. Zurückgelassen wird eine Grenze, die keine qualitativen Unterscheidungen mehr aufzeigen kann. Sie gibt nicht mehr an, was ein Gegenstand ist oder nicht ist. Sie erweist sich als »eine Grenze, die ebensosehr keine ist« (GW 21, 173). Jedoch handelt es sich noch um eine Grenze. Wenn in der Daseinslogik das Verhältnis von Etwas und Anderem die erste Form von Andersheit ausmachte, so war die Grenze anders als beide. Diese Andersheit zweiter Stufe öffnete die Tür für den Übergang über die daseinslogische Bestimmtheit hinaus. Befreit davon, bleibt nur die bestimmungslose Grenze. In dieser Hinsicht können die Hauptbeschreibungen dieser Grenze resümiert werden. Als Grenze, die von qualitativen Charakterisierungen losgelöst wird, ist sie ihnen äußerlich. Ihr ist das Qualitative ebenso gleichgültig wie sie diesem. Daraus ergibt sich die Äußerlichkeit der Quantität gegenüber der Qualität. Hier findet keine Attraktion oder Repulsion der Bestimmtheit statt. Es geht nur um die ungehinderte Kontinuität »der vielen Eins« (ebd.). Somit wird das Eins zu einer Grenze, die ebenso sehr keine ist, in zweierlei Hinsichten: da sie der Qualität nun äußerlich und gleichgültig, und weil sie kontinuierlich ist. Diese kontinuierliche Äußerlichkeit macht die Kategorie der Größe aus. Als solche stellt sie eine Form der Gleichheit mit sich dar.

III. Die Quantität und die Grenze zur Qualität Der Abschnitt Die Grösse ist überraschend lang im Vergleich zur Kürze der begrifflichen Darstellung des Inhalts. Die Länge ist bekanntlich in der zweiten Auflage der Wissenschaft der Logik dem Zuwachs der Anmerkungen geschuldet, die sich näher mit mathematischen Themen beschäftigen. Die begriffliche Darstellung ist dagegen kurz, da es in diesem Abschnitt nicht darum geht, ganz neue Gedankenfiguren zu entwickeln. Es wird vor allem darauf fokussiert, was alles in der Genese der Quantität schon enthalten ist. Indem die Quantität auseinander gelegt wird und, um es hegelisch zu formulieren, das gesetzt wird, was an sich schon vorhanden ist, geht die Quantität zur Qualität über. Der Begriff der Grenze ist noch einmal entscheidend. Die Qualität, insofern sie daseinslogisch auf das Verhältnis von Etwas und Anderem zentriert ist, wird von Hegel dadurch definiert, dass sie ihre Bestimmtheit in einem Anderen hat. Ein Hauptmerkmal von ihr ist die Zweiheit, die Entzweiung der Denkbestimmungen. Das liegt nun hinter dem jetzigen Stand. Aber der Gedanke der Grenze, die hier im Begriff der Äußerlichkeit aufbewahrt wurde, ist in sich doppelseitig und tendiert von sich aus zur Entzweiung.

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Jedoch wird die Größe zunächst als kontinuierliche Äußerlichkeit, als jene Kontinuität und Selbstgleichheit festgehalten, die das Sein charakterisierte. Und sie wird von keiner Grenze eingeengt. »Die reine Quantität« (GW 21, 176) ist aber nicht das reine Sein. Sie enthält als Äußerlichkeit ein Prinzip der Unterscheidbarkeit und der Begrenzung in sich. Die Quantität hört wegen ihrer Kontinuität durch diese innere Grenze nicht auf. Darin liegt nun Hegels Punkt. Je mehr die Entwicklung der Quantität diese Grenze und ihre Doppelköpfigkeit einholt, desto mehr geht sie zur Qualität über. Die Grenze nimmt verschiedene Gestalten an. »Unmittelbar hat […] die Grösse in der Kontinuität das Moment der Diskretion« (GW 21, 177). Diese stellt eine eingehüllte Grenze dar. Sie ist durch das Einssein, durch den Gedanken des quantitativen Eins charakterisiert, das abzählbar ist. Kontinuität und Abzählbarkeit gehören »unmittelbar« zur Kategorie der Quantität. Daraus ergibt sich eine erste Unterscheidung, wie es auch in der Mathematik unterschiedliche Bereiche gibt, die eben die diskrete, d. h. abzählbare oder die kontinuierliche, stetige Größe untersuchen. Hegel beschreibt nun die diskrete Quantität als »ein Dasein und ein Etwas« (GW 21, 191). Daher enthält die diskrete Größe den Schritt zur expliziten »Begrenzung« (ebd.), d. h. von der diskreten Größe zu einer diskreten Größe, von der Quantität zu einer Quantität. »Eine Quantität« nennt Hegel das »Quantum, – die Quantität als ein Dasein und Etwas.« (GW 21, 193) Das Kontinuierliche und das Diskrete bilden dann die zwei Momente der Zahl. Es handelt sich um die Anzahl, eine bestimmte Menge, auf der Seite der Diskretion und um die Einheit, die die unterschiedlichen Zahlen gemeinsam haben, auf der der Kontinuität. Das Einssein kommt hier sowohl der Einheit als auch der Anzahl zu. Die Aufgabe besteht nun darin, zu sehen, wie sie sich unterscheiden. Beim Fürsichsein gibt die Struktur des Eins Anlass zu einer Dynamik der Repulsion. Hier findet sie nicht statt, sondern Kontinuität. Daher bildet sich ein ungebrochenes Verhältnis von Eins und Vielem. Dieses Verhältnis lässt sich anders deuten, je nachdem, welches Moment der Zahl vorgezogen wird. Nimmt man die Anzahl heraus, so stellt sich dieses Verhältnis als eine Einheit von Vielen dar. Die Anzahl bestimmt das Quantum als eine Zahl (»Ein Zwei, Ein Zehn, Ein Hundert usf.«, GW 21, 195). Die Einheit hingegen stellt es als eine »Vielheit der Eins« (ebd.) dar. Das Vereinheitlichende, das Einssein kann sowohl nach oben in der Anzahl, oder nach unten in der Einheit gesetzt werden. Ebenso kann die Grenze nach oben oder nach unten, sprich: in der Anzahl oder in der Einheit gesucht werden. Hegels Punkt ist jedoch zunächst, dass die Bestimmtheit des Quantums (die Grenze, das Einssein) durch das besprochene diffuse, kontinuierliche Verhältnis von Eins und Vielen dem Quantum selbst äußerlich bleibt. Hegel zufolge ist dies nicht verwunderlich, denn es handelt sich um die Quantität des Quantums, um die »eigene Äusserlichkeit« der Zahl (GW 21, 195). In dieser Hinsicht geht die Grenze des Quantums mit seiner Kontinuität und Äußerlichkeit einher. Eine bestimmte Größe kontinuiert sich in eine andere. Das Quantum befindet sich »in absoluter Kontinuität […] mit seinem Anderssein« (GW 21, 217). Der Unterschied zur bloßen undifferenzierten Quantität besteht nun darin, dass hier die Kontinuität und

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die Äußerlichkeit durch die Natur des Quantums festgelegt wurden. Das Quantum ist in sich äußerlich, in das Andere hinausgehend. Es enthält in sich als Grenze die Überschreitung der Grenze. Die Grössenbestimmung kontinuiert sich so in ihr Anderssein, dass sie ihr Sein nur in der Kontinuität mit einem Anderen hat; sie ist nicht eine seiende, sondern eine werdende Grenze. (GW 21, 217) Dies führt zum Nachweis des quantitativen unendlichen Progresses. Denn das Andere, von dem hier die Rede ist, ist selbst ein Quantum und als solches wiederum eine werdende Grenze, ein sich selbst äußerliches Quantum, das zu einem Anderen wird, das noch die Struktur des Quantums hat, usf. Die Unendlichkeit, die sich in diesem Prozess zeigt, muss als Folge der Kontinuität der Größe für eine quantitative gehalten werden. Zwei Hauptcharakteristika kommen ihr zu. Sie soll erstens als unbegrenzt betrachtet werden. Als begrenzt wäre sie ein Quantum und nicht die Unendlichkeit. Zweitens muss sie aus demselben Grund unerreichbar bleiben. Es besteht immer ein Unterschied zwischen der größten Größe (oder der kleinsten) und der Unendlichkeit. So stellt sie eine »Aufgabe« und ein »Jenseits« (GW 21, 220) dar. Mit der Unterscheidung von Diesseits und Jenseits ergibt sich eine für das Dasein typische Dualität. Jedoch bleibt es nicht dabei. Denn die Unendlichkeit als ein Jenseits des Quantums macht seine Andersheit aus. Das Quantum kontinuiert sich doch in das Anderssein, da es »in seiner Negation bei sich selbst« ist. So holt das Quantum das Unendliche ein und produziert somit ein neues Jenseits, den unendlichen Progress. Die Auflösung, die Hegel gibt, expliziert die doppelte Negation, die im Prozess stattfindet. Das Quantum wird negiert (erste Negation) und das Jenseits desselben wird negiert (zweite Negation). Die Betrachtung der doppelten Negation kann in zwei Weisen enden. Sie stellt das Bei-sich-selbst-Sein im Anderen fest, das die Quantität und das Quantum selber sind. Dieses Ergebnis führt aber nicht über den unendlichen Progress hinaus. Oder man deutet den Bezug zu diesem Jenseits qualitativ, als Ausdruck einer qualitativen Grenze. In dieser Hinsicht hat das Quantum seine Bestimmtheit in einem Jenseits als einem anderen Quantum. Das entspricht der Stufe des Daseins und bildet die erste Negation. Die zweite Negation konstituiert dann das Fürsichsein, die Selbstbeziehung des qualitativen Eins. Diese qualitative Interpretation versperrt sich der bloß quantitativen Deutung, weil letztere das Bei-sich-Sein im Anderen als durch die eigene Struktur geprägt sieht, die den Progress perpetuiert. Die quantitative Struktur deckt das eigentliche Ergebnis. Daher kann Hegel sagen, dass das Unendliche, dieses Jenseits »in der Tat nichts anderes als die Qualität« ist. Dennoch hat sich mit der Unterscheidung eines begrenzten und eines unbegrenzten Quantums auch in der quantitativen Deutung eine Doppelung ergeben, die im Begriff des Quantums selbst enthalten ist. Der nächste Schritt macht die quantitative Behandlung dieses Verhältnisses aus. Hier geht es um zwei sich aufeinander beziehende Größen, die in einer dritten den Ausdruck ihres Verhältnisses finden. Die dritte Größe nennt Hegel den Exponenten und charakterisiert ihn als die »Grenze« (GW 21, 311–12) des Verhältnisses. Beim Exponenten handelt es sich um eine Kon-

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stante k im Verhältnis direkter bzw. indirekter Proportionalität von zwei Variablen x, y. Letztere beschreibt Hegel auch als die zwei Momente der Zahl, d. h. als Einheit und Anzahl. Das umgekehrte Verhältnis verdeutlicht auf besondere Weise, was hier mit Grenze gemeint ist. Die Konstante ist das Produkt der zwei Variablen. Sie stellt erstens irgendeine Größe dar. Zweitens ist sie als Produkt die Totalität, die das Verhältnis der zwei Variablen zusammenfasst. Deren Beziehung zu ihr hat drittens die Form eines Progresses, derart, dass die eine Größe desto kleiner ist, je größer die andere. Viertens drückt die Konstante gegenüber ihrer Faktoren ein Jenseits aus: »So als Grenze ihres gegenseitigen Begrenzens ist [der Exponent] ihr Jenseits, dem sie sich unendlich nähern. Aber das sie nicht erreichen können.« (GW 21, 316) Daher hält Hegel die Konstante für das Unendliche, das fünftens ebenso als ein Diesseits angesehen werden muss, da es »das simple Quantum des Exponenten« (ebd.) ist. Das umgekehrte Verhältnis enthält zwei verschiedene Faktoren, die ihre Einheit in einer dritten Größe haben. Das Verhältnis wird qualitativ, da die Variablen ihre Einheit in einem Anderen haben, das sie begrenzt und bestimmt. Der weitere und letzte Schritt besteht in der Umformung dieses Verhältnisses in eine Selbstbeziehung. Die zwei Faktoren werden nun gleichgesetzt, somit wird eine Zahl in die Potenz erhoben und das Ergebnis dieser Operation eindeutig festgelegt. Es handelt sich um das Verhältnis einer Zahl zu sich selbst, das eine andere Größe produziert, die von der ersten Zahl bestimmt ist. Hegel zufolge drückt sich damit die »Bestimmtheit oder Qualität« (GW 21, 319) des Quantums aus, da das Potenzverhältnis das eine Quantum von anderen unterscheidet. Daher macht dieses Verhältnis eine Form des Bei-sich-Seins im Anderen aus, die Quantität und Qualität vermittelt. In Hegels Lehre vom Sein soll das Sein innerhalb seiner selbst ausdifferenziert werden. Die Aufgabe besteht darin, Differenz, Bestimmtheit im Sein einzuführen, ohne dass sie vom Außerhalb des Seins kommt, sodass es zerbricht. Bestimmtheit soll etabliert und zugleich auch in der Einheit eingeholt, affirmiert und negiert werden. Der Gedanke der Grenze steht im Zentrum dieser doppelten Aufgabe. Ein Bei-sich-Sein im Anderen muss erreicht werden, in dem die drohende Dualität der Grenze entschärft wird. Der Wechselbezug von Endlichkeit und Unendlichkeit zeigt, dass das Bei-sichSein im Anderen dynamischer Natur ist. Gesucht wird eine dynamische Einheit. Im Kapitel Das Fürsichsein erreicht der Gedankengang eine qualitative Einheit, das Eins. Es handelt sich um eine bestimmte Einheit, denn das unveränderliche Eins kann vom Anderen unterschieden werden, ohne direkt in die Andersheit unterzugehen. Jedoch stellt die Dynamik der negativen Selbstbeziehung das noch zu lösende Problem dar. Diese problematische Struktur wird im Abschnitt Die Grösse durch den Gedanken der quantitativen Kontinuität überholt. Allerdings fehlt der Quantität die bestimmte Einheit, da sie in der Äußerlichkeit des quantitativen Bestimmens aufgelöst ist. Wird die bestimmte Einheit in der Kontinuität erreicht, dann ist der Rahmen der quantitativen Äußerlichkeit gesprengt und die Kategorie der bloßen Quantität verlassen. Die Denkfigur des Bei-sich-Seins im Anderen kann weder durch die Kategorie der Qualität noch durch die der Quantität angemessen dargestellt werden.

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Durch diese Wendungen hat sich der Gedanke der Grenze weiter entfaltet. Er ging von der Endlichkeit über die Äußerlichkeit zum Maß. Darin kündigt sich eine andere Weise des Bei-sich-Seins im Anderen an, die darin besteht, dass eine bestimmte Einheit sich in das Andere kontinuiert und darin mit sich selbst gleich bleibt. Diese Einheit nennt Hegel dann Selbstbestimmung.

Von quantitativ-qualitativen Verhältnissen zum entwickelten Fürsichsein als Begriff des Maßes Günter Kruck

Hegels lapidare Auskunft am Beginn des Kapitels zum Maß in der Wissenschaft der Logik besteht im Verweis darauf, dass im Maß »abstract ausgedrückt, Qualität und Quantität vereinigt [sind].« (GW 21, 323) Schon mit dieser Formulierung ist angezeigt, dass für Hegel offenbar im hier zu kommentierenden Abschnitt zum Begriff des Maßes die Entwicklung der Sache an ihr selbst im Vordergrund steht und Hegel daher vom Konkreten eher abzusehen gedenkt. Weil es vornehmlich um das Begreifen der Sache des Maßes als solcher geht, ist von konkreten Maßen mit Maßeinheiten und Maßzahlen selbst zu abstrahieren. Was will man aber von einer solchen Behandlung des Maßes erwarten, wo doch als Auskunft für die begriffliche Bestimmung schon im Auftakt die lediglich dürre Bestimmung der Einheit von Quantität und Qualität genannt wird. Ist also am Anfang der Bestimmung des Maßes aufgrund der mit der Bestimmung selbst verbundenen schlichten oder einfachen Auskunft nicht schon das Ende der Bestimmung im Sinne einer letztgültigen Auskunft über das Maß erreicht? Liegt mit der vorgestellten begrifflichen Bestimmung des Maßes nicht schon die letzte begriffliche Auskunft über die Sache selbst aufgrund der genannten ›abstrakten‹ begrifflichen Fassung vor? Als weiterreichende Vermutung könnte man auf diesem Hintergrund annehmen, dass die rudimentäre Bestimmung des Maßes als Denkbestimmung daher gerade auf konkretes Anschauungsmaterial angewiesen ist, oder sogar argumentativ stärker, dass das Maß in seiner Entwicklung notwendig auf solches Material zurückgreifen muss. In der angesichts des Umfangs des Kapitels eher paraphrasierenden Kommentierung der entsprechenden Paragrafen der Enzyklopädie und der Passagen der Wissenschaft der Logik folgt dieser dem Maß gewidmete Beitrag dem Hegelschen Anspruch, die Logik des Maßes als Darstellung seines Begriffs vorzustellen. Der Rekurs auf materiale, naturphilosophische Zusammenhänge konkret der Rückgriff auf die Physik und die Chemie wird dabei zumindest insoweit zurücktreten, als die begriffliche Genese des Maßes in begründungstheoretischer Hinsicht nicht des genannten Anschauungsmaterials bedarf. Damit ist nicht bestritten, dass die vorliegenden Materialien und ihr Eintrag in die Logik des Maßes natürlich Hegels Darstellung vor allem im Übergang von der ersten (1812) zur zweiten Auflage (1832) der Seinslogik auch argumentativ verändert haben. Behauptet wird mit der vorgestellten Behandlung aber schon, dass die Logik des Maßes grundsätzlich ohne das integrierte, konkrete Anschauungsmaterial auch in ihren Übergängen auskommt und somit für sich der induk-

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tiven Bestätigung durch das Anschauungsmaterial weder generell noch im Einzelnen bedarf.1 Mit der damit vorausgesetzten und zugleich hier nun zu erläuternden abstrakten ersten begrifflichen Bestimmung des Maßes als Einheit von Quantität und Qualität ist auch mit Hegel zu sagen: »Alles, was da ist, hat ein Maaß« (GW 21, 330). Wie eben alles, was da ist, ein Maß hat, so ist auch nichts ohne Quantität und Qualität zu denken. Kommen beide Bestimmungen also in der genannten abstrakten Voraussetzung als Denkgesetz für das Denken von etwas überein und ist das Maß damit für sich die unterstellte universelle und quantitativ-qualitative Prämisse eines jeden Denkens der Dinge, so ist im Kommentar nun anhand der Hegelschen Ausführungen zu untersuchen, wie das Maß dieser Prämisse aufgrund seiner argumentativen Fassung gerecht wird bzw. was das konkret für die begriffliche Entwicklung des Maßes bedeutet. Eine solche erläuternde Kommentierung liegt auch deshalb nahe, weil Hegels versichernde Auskunft für das Maß als Einheit von Qualität und Quantität, die als 1 Mit dieser Intention und These unterscheidet sich der vorliegende Beitrag vor allem von der Grundsatzbehauptung, die Ulrich Ruschig für das Maß im Rückgriff besonders auf die Chemie vertritt. Nach Ruschigs Generalthese heißt das in seiner Diktion: »Hegel erklärt das von ihm im und für den ›Fortgang‹ herbeizitierte Material zum lediglich illustrierenden Beispiel für eine im Begriff gegründete und auch unabhängig von den Beispielen zu konstruierende Entwicklung. Dies ist, wie eingehend an den Übergängen gezeigt werden wird, falsch: Ohne die Beziehung auf das Material, d. i. für sich genommen, scheitern die Übergänge – die ›Entwicklung des Maaßes‹ käme nicht vom Fleck.« (Ruschig, Ulrich: Hegels Logik und die Chemie. Fortlaufender Kommentar zum »realen Mass«. Bonn 1997, S. 16). Für Ruschig bestätigt sich also für das Maß am Beispiel der Chemie, dass Hegels behauptete Unabhängigkeit der Logik als Entwicklung der Sache bzw. des Gedankens an ihr oder an ihm selbst nicht ohne naturphilosophische Inhalte – im erwähnten Fall besonders eben der Chemie – auskommt. Entgegen dieser Behauptung wird für den hier zu kommentierenden Abschnitt gerade das Gegenteil als These angenommen und im Sinne der Einzelkommentierung auch durchgeführt: Das Maß ist als Kategorie in seiner Bestimmung auch in den Übergängen der einzelnen Maßbestimmungen ohne realphilosophische Gehalte verständlich, auch wenn in den hier zu kommentierenden Abschnitten die Chemie gegenüber der Physik zurücktritt. Eine zu Ruschig modifizierte Variante des Verhältnisses von Logik und Realphilosophie vertritt Pirmin Stekeler-Weithofer als These in seinem Kommentar zur Enzyklopädie: Am Beispiel des Maßes ausgedrückt, gibt es »keine abstrakten Quantitäten (Zahlen usf.) ohne reale (›qualitative‹) Repräsentanten. Den reziproken Ausdruck: ›Umschlagen von Quantität in Qualität‹ gebraucht Hegel dann bei der Besprechung des Haufenparadoxes […] [da] es [in diesem Fall] keine eindeutig bestimmbare minimale Anzahl von Haaren [gibt], die nötig wären, damit wir einen Menschen nicht als ›kahlköpfig‹ klassifizieren.« (Stekeler-Weithofer, Pirmin: Hegels Analytische Philosophie. Die Wissenschaft der Logik als kritische Theorie der Bedeutung. Paderborn u. a. 1992, S. 11 f.). Hegels Logik wird damit als kritische Theorie der Bedeutung interpretiert, die die gedachten Voraussetzungen des Begreifens der Dinge als realen Repräsentanten (kritisch) hinterfragt und daher eine bipolare Anlage aufweist. Die Denkbestimmungen entsprechen realen Verhältnissen im Begreifen der Dinge als deren gedachten Rekonstruktionen. Die Denkbestimmungen und die ›realen Dinge‹ tauchen so konsequent auch in der Logik als wechselseitig sich erhellende logische Momente auf. Dass die Gedankenbestimmungen an ihnen selbst eine gegenstandskonstitutive Bedeutung haben, wird mit der vorliegenden Deutung der immanenten Entwicklung des Maßes an ihm selbst nicht bestritten. Bestritten wird hingegen schon, dass Hegels Logik beides, die Denkbestimmungen ›als abstrakte Quantitäten‹ und die realen Repräsentanten als ›Qualitäten‹, zusammenfasst. Es geht für die Logik im Ganzen und für das hier zu kommentierende Maß in seinen ersten Bestimmungen darum, die jeweiligen Gedankenbestimmungen an ihnen selbst als eigene Sache in ihrer logischen Konsistenz zu untersuchen und darzustellen.

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begriffliche Bestimmung den Ausgangspunkt für die vorzulegenden rekonstruktiven Überlegungen darstellt, zumindest eine unmittelbare Rückfrage provoziert: Wie ist eine Einheit von Qualität und Quantität vorstellbar, da sich beide als solche doch gegenseitig ausschließen, weil sie offenbar gegeneinander bestimmt sind? Ist nämlich etwas durch seine Qualität das, was es eben ist und ist die Quantität die dagegen äußerliche, gleichgültige Bestimmtheit, dann muss das Maß als die Einheit zweier wechselseitig exklusiver Bestimmungen begründet werden. Hegels erste Antwort auf diese Frage und erste Erläuterung der Bestimmung des Maßes besteht darin, das Maß unmittelbar als qualitatives Quantum zu bestimmen: Wird das Maß als unmittelbar bestimmtes Quantum genommen, ist es als sich auf sich beziehende Äußerlichkeit und ›äußerliches Zählen‹ von etwas im Unterschied zur Qualität selbst qualitativ. Als selbst zufällige und willkürliche Größe ist das Quantum als Maß für das Etwas konstitutiv, weil eine bestimmte quantifizierende Angabe das Etwas qualitativ identifiziert. Als beliebige Quantität ist das Maß eine bestimmte Angabe, die sich nicht nur nicht grenzenlos gleichgültig gegen das verhält, was mit ihr bezeichnet oder gemessen wird. Das Maß ist in seiner äußeren Angabe erstens (1) vielmehr unmittelbar spezifisches Quantum, es ist damit als äußeres qualitativ, insofern das Maß über ›das Sein‹ oder das ›Nicht-Sein‹ von etwas bestimmt. Als ein solches grundsätzlich spezifisches Quantum bestimmt, ist das Maß zweitens (2) näher an ihm selbst zu betrachten: Als selbst qualitative Auskunft über etwas ist das Maß in sich bestimmt und von der Sache unterschieden. Es besteht aus der Zuordnung von Anzahl und Einheit. Hegel nennt diesen zweiten Schritt des Maßes daher das ›Spezifizieren‹ der äußeren Seite seiner Gleichgültigkeit gegen die Qualität als interne Bestimmung des Maßes gegenüber dem Gemessenen, das seinerseits nur als spezifisches Quantum oder quantitativ-qualitative Einheit existiert. Das Maß ist dabei als äußeres (spezifizierendes) Quantum und als ›ansichseiende Bestimmtheit‹ (als spezifisches Quantum des Gemessenen) unterschieden. Der Unterschied im Maß (zwischen spezifizierender Quantität und ansichseiender Bestimmtheit eines quantitativ-qualitativ bestimmten oder spezifischen Quantums) ist der Unterschied des Maßes, insofern die Anzahl und die Einheit eines Maßes zueinander als Unterschiedene ins Verhältnis gesetzt werden müssen. Als unmittelbar Unterschiedene sind Anzahl und Einheit als Voraussetzungen des Maßes im Maß selbst reflektiert zueinander in Beziehung zu bringen, wenn sie die mit ihnen beanspruchte quantitativ-qualitative Auskunft über etwas (im Sinne der ersten Bestimmung des Maßes) wirklich geben wollen. In dieser Form ist das Maß die Regel als Verhältnis von äußerer Angabe und qualitativer Bestimmung zugleich. Ein solches spezifiziertes Maß gewinnt seine Spezifikation vor allem aufgrund des Unterschieds von und damit zugleich der Beziehung zu anderen Maßen, über die damit spezifizierend (mit und durch die Regel) Auskunft gegeben wird. Die im Maß unmittelbar unterschiedenen Momente, die äußere quantitative Bestimmung des Maßes und seine ansichseiende qualitative Bestimmung, sind drittens (3) selbst als Qualitäten in der Regel und ihrem Verhältnis zu einer vorausgesetzten Maßeinheit für beide unterstellt. Für sich ist das Maß in seiner entwickelten begrifflichen Form eine quantitative Angabe qualitativer Art, die ganz unterschiedliche, qualitativ-

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quantitative Maßeinheiten nach dem Muster der Regel und der durch sie bestimmten und gemessenen Größe miteinander quantifizierend und zugleich qualitativ in Beziehung setzt. I. Bedenkt man das Verhältnis von Quantität und Qualität im Maß unter der Prämisse, dass alles sein Maß hat als Erläuterung der ersten Bestimmung des Maßes, dann gilt diese Auskunft des Wieviel im Unterschied zum Wovon erstens unter folgenden Bedingungen als Voraussetzungen für das Denken. Die abstrakte Auskunft des Wieviel Wovon ist daran gebunden, dass die konkrete Bestimmtheit als Qualität oder Maßeinheit für etwas zur Quantität als Maßzahl oder Anzahl unmittelbar in Beziehung gesetzt ist. Beide, Maßeinheit und Maßzahl oder Qualität und Quantität, verhalten sich dabei zunächst scheinbar gegeneinander unabhängig, sind aber auch unmittelbar aufeinander bezogen. Was als Maßzahl und was als Einheit gewählt wird, ist nicht voneinander abhängig, steht aber in einem unmittelbar näher zu erläuternden Zusammenhang. Beide werden für sich im Maß vorausgesetzt. Von Kilogramm bis Zentimeter und von ganzen arabischen Zahlen bis zu Dezimalzahlen reicht die Palette, in der Qualitäten als Bestimmtheiten einer Einheit zum Vielfachen ihrer Anzahl als unterstellte Größen in ein unmittelbares Verhältnis zueinander gesetzt werden können. Diese Gleichgültigkeit von Qualität und Quantität als äußerliche Seite ihres Verhältnisses, bei der die Quantität eine ›bloß‹ veränderliche Größe, ein äußeres Mehr oder Weniger einer Bestimmtheit (Qualität) abgibt, ist aber nur die eine Seite. Sie zeigt das Maß selbst als prinzipiell veränderliche Größe und als äußerlicher Maßstab einer Sache, die durch ihn in Maßzahl und Maßeinheit qualifiziert wird. Die Sache selbst erscheint damit als Unabhängige in ihrer Bestimmtheit durch das Maß als (äußeres oder gleichgültiges) Quantum. Hegel schreibt dazu: »Ein Maaß, als Maaßstab im gewöhnlichen Sinne, ist ein Quantum, das als die an sich bestimmte Einheit gegen äusserliche Anzahl willkührlich angenommen wird.« (GW 21, 330) Eine an ihr selbst willkürlich unter bestimmten Bedingungen festgelegte und damit qualifizierte Einheit (z. B. Meter, Kilogramm etc.) wird als Quantum quantifiziert durch die Anzahl im Sinne ihrer Anwendung also zum Maß einer Sache und steht dieser als eigene Qualität gegenüber. Das Maß ist auf der anderen Seite aber als das so für sich Bestimmte nicht nur Resultat einer willkürlichen Wahl und Zuordnung von Maßzahl und Maßeinheit im Sinne eines äußeren Maßstabs einer Sache: Alles Daseyn hat eine Größe, und diese Größe gehört zur Natur von Etwas selbst; sie macht seine bestimmte Natur und sein Insichseyn aus. Etwas ist gegen diese Größe nicht gleichgültig, so daß wenn sie geändert würde, es bliebe was es ist, sondern die Aenderung derselben änderte seine Qualität. Das Quantum hat als Maaß aufgehört

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Grenze zu seyn, die keine ist; es ist nunmehr die Bestimmung der Sache, so daß diese, über diß Quantum vermehrt oder vermindert, zu Grunde ginge. (GW 21, 330) Wie jedes Existierende seine bestimmte Größe hat und eine Größenveränderung eine Veränderung der Natur des Etwas bedeutet, also qualitative Auswirkungen hat, so ist das Maß gerade als äußerlicher Maßstab die Grenze, die entscheidet, ob es sich noch um dieselbe Sache handelt oder nicht. Das Maß ist damit in seiner Gleichgültigkeit gegen das Qualitative (der Sache) als das lediglich quantitative Maß selbst von bestimmter Qualität für die Sache, es ist spezifisches Quantum. Das Maß ist nicht mehr nur eine beliebige (quantitative) Größe aus Anzahl und Einheit, sondern die entscheidende Spezifikation unter der als Maßstab zu entscheiden ist, ob die Bestimmung der Sache getroffen ist, oder ob es sich aufgrund des zugrunde liegenden Maßes um eine andere Sache handelt. In diesem Kontext verhandelt Hegel die antiken griechischen Sophismen des Haufens und des Kahlen: Daß aber eine als bloß quantitativ erscheinende Veränderung auch in eine qualitative umschlägt, auf diesen Zusammenhang sind schon die Alten aufmerksam gewesen, und haben die der Unkenntniß desselben entstehenden Collisionen in populären Beyspielen vorgestellt; unter den Nahmen des Kahlen, des Hauffens sind hierher gehörige Elenchen bekannt, d. i. nach des Aristoteles Erklärung, Weisen, wodurch man genöthigt wird, das Gegentheil von dem zu sagen, was man vorher behauptet hatte. Man fragte: macht das Ausrauffen Eines Haares vom Kopfe oder einem Pferdeschweiffe kahl, oder hört ein Hauffe auf ein Hauffe zu seyn, wenn ein Korn weggenommen wird. Diß kann man unbedenklich zugeben, indem solche Wegnahme nur einen und zwar selbst ganz unbedeutenden quantitativen Unterschied ausmacht; so wird Ein Haar, Ein Korn weggenommen, und diß so wiederholt, daß jedesmal nach dem, was zugegeben worden, nur Eines weggenommen wird; zuletzt zeigt sich die qualitative Veränderung, daß der Kopf, der Schweiff kahl, der Hauffe verschwunden ist. Man vergaß bey jenem Zugeben nicht nur die Wiederholung, sondern daß sich die für sich unbedeutenden Quantitäten (wie die für sich unbedeutenden Ausgaben von einem Vermögen) summiren, und die Summe das qualitativ Ganze ausmacht, so daß am Ende dieses verschwunden, der Kopf kahl, der Beutel leer ist. (GW 21, 331 f.) An den zitierten Beispielen wird deutlich, dass das scheinbar rein äußerliche Mehr oder Weniger eines Quantums einer Qualität gerade als ›bloß‹ veränderliche Größe und Maß selbst eine qualitative Bestimmung oder Auswirkung hat. Das äußerliche Hin- und Hergehen an einer Grenze, wie Hegel das Quantum als veränderliche oder gleichgültige Größe in der Abhängigkeit von der unterstellten Qualität beschreibt, findet nämlich seine eigene Grenze ›spätestens‹ bzw. im ›Extremfall‹ im Untergehen von etwas. Im äußerlichen Hin- und Hergehen an der Bestimmtheit der Qualität wird das Quantum selbst qualitativ, auch wenn diese Qualität der Verminderung des Quantums (oder seiner Vermehrung) scheinbar unmittelbar nicht zu bemerken ist. Übersetzt man dies in die im Zitat genannten Beispiele, dann ist der Kopf und der Schweif kahl bzw. der Haufen kein Haufen mehr respektive der Beutel als Börse leer, weil kein Haar mehr den Kopf

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ziert und der Schweif ein Stummel geworden bzw. der Haufen über die Reduktion der gemessenen Körner eben verschwunden und der Beutel durch entsprechende Ausgaben leer geworden ist. Was am Ende für das Quantum an den genannten Beispielen deutlich wird, ist dessen qualitative Auswirkung, auch wenn sie unmittelbar nicht sichtbar ist und die Qualität der jeweiligen Sache unangetastet zu bleiben scheint. Genau darin unterscheiden sich aber die Beispiele von der begriffenen Sache des Maßes als ›spezifisches Quantum‹, weil das Quantum als Bestimmung einer Sache unmittelbar qualitativ ist, auch wenn diese grundsätzliche Einsicht im Alltag anhand der Beispiele nur bedingt zu gelten scheint und diese anderes – also ein ›bloß‹ quantifizierendes Verständnis des Maßes – nahelegen. Auch bei den genannten Beispielen gilt aber der Hegelsche Satz, dass die Eule der Minerva erst in der Dämmerung fliegt, dass also die insinuierte Qualitätslosigkeit des Maßes und die Reduktion des Maßes auf ein äußerliches Quantum sich an der unterstellten Qualität der Börse, des Haufens und des Schweifes als Ganzen eben doch unmittelbar qualitativ auswirkt und geltend macht; auch hier gilt damit, dass das Maß als spezifisches Quantum an den genannten Beispielen als Ganzen (und in ihrer Qualität als ›Summe‹ von Haaren, Körnern oder Geld) eben doch unmittelbar qualitativ ist, wie dies für das spezifische Quantum ebenfalls gilt, auch wenn es genau in derselben Hinsicht aufgrund des Unterschieds der Quantität von der Qualität zunächst nicht so scheint.2 2 Alexander von Pechmann hebt in seinem detaillierten Kommentar zu diesen Abschnitten der Logik besonders zwei wesentliche Aspekte hervor: 1. Das Umschlagen der Quantität in die Qualität dürfe nicht mit dem Maß identifiziert werden, sondern komme nur einigen Maßbestimmtheiten, dem spezifischen Quantum und der Knotenlinie, zu. 2. Es muss beim spezifischen Quantum das spezifische Quantum im engeren Sinn von dem im weiteren Sinn unterschieden werden. Während das spezifische Quantum im engeren Sinn unmittelbar mit der Qualität verbunden ist, ist das spezifische Quantum im weiteren Sinn gleichgültig gegen die Qualität auf zweifache Weise: Als Schranke ist das Quantum unendlich von der Qualität unterschieden und so gleichgültig zur Qualität; als Grenze ist das Quantum endlich von der Qualität unterschieden. Beispiele für das zuletzt Genannte sind die Sophismen der antiken Welt, insofern eine Grenze erreicht werden muss, an der das Quantum sein qualitatives Umschlagen zeigt. Das unendlich von der Qualität unterschiedene Quantum im Sinne der Schranke zeigt die prinzipielle Trennung des Quantums von der Qualität an, seine Äußerlichkeit, die ein Beleg für die zuerst genannte Bemerkung ist, dass im Maß Quantität und Qualität nicht in jeder Bestimmung ineinander umschlagen, sondern eine Gleichgültigkeit der Quantität gegen die Qualität bleibt. (Pechmann, Alexander von: Die Kategorie des Maßes in Hegels »Wissenschaft der Logik«. Einführung und Kommentar. Köln 1980). Sowohl der eine wie der andere Aspekt sind aber durch die vorgelegte Interpretation nicht gedeckt: Die Trennung der Quantität von der Qualität als (unendliche) Schranke zwischen beiden, ist eine abstrakte Vorstellung des Maßes, die Hegel im Kapitel des Maßes zu überwinden trachtet, insofern die begrifflichen Bestimmungen an ihnen selbst reflektiert in ihrem Verhältnis zueinander entwickelt werden und gerade in ihrer jeweiligen Bestimmung eben notwendig aufeinander angewiesen sind. Dass es das spezifische Quantum im weiteren Sinn nur als spezifisches Quantum im engeren Sinn gibt, zeigen auch die Beispiele der antiken Welt, insofern die ›scheinbaren‹ Grenzen zwischen Quantität und Qualität (jenseits der behaupteten grundsätzlichen Schranke) gerade keine Grenzen sind. Erweist sich damit die Quantität gerade in ihrer genauso unmittelbaren Unterschiedenheit von der Qualität immer als (unmittelbar) qualitativ, dann ist auch ›ein Umschlagen‹ der beiden Bestimmungen als Beschränkung auf zwei bestimmte Maßverhältnisse im Hegelschen Sinne nicht begründbar. Im Gegenteil zeigt sich das sogenannte ›Umschlagen‹ von Quantität und Qualität in den verschiedenen Kapiteln auf je unterschiedliche (und jeweils näher zu kommentierende) Weise.

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Mit den beiden benannten Seiten des Maßes als erster näherer Bestimmung ist das Maß gegen seine äußerliche Seite im Verhältnis zur Sache mit der Sache selbst verbunden. Das Maß ist damit spezifische Qualität von etwas und ›an sich bestimmte Größe‹. Es ist im Ausgang von der Gleichgültigkeit seiner Bestimmung zur gemessenen Sache oder zur Qualität als bloßes Quantum zugleich qualitativ und Maß einer Sache und damit von quantitativ-qualitativer Natur.3

II. Zum Maß einer Sache gehört als zweiter Schritt in der Entwicklung des Maßes, dass die beiden genannten Momente der Quantität und der Qualität in ihrer Einheit als spezifisches Quantum zugleich unterschieden werden müssen: In einem ersten Schritt war das Quantum gerade in seiner Gleichgültigkeit gegen die Qualität damit von der Qualität abhängig, aber auch ein Maß für sie. Das Quantum gibt als spezifisches Quantum an ihm selbst eine bestimmte qualitative Auskunft über die Sache, die mit ihr gemessen wird und ist so als Maßangabe über sie mit ihr identisch. Zur Einheit mit der Sache als qualitative ›gemessene‹ Information über sie gehört es aber zum Maß, dass das Maß genau in derselben Hinsicht, in der es mit der Sache eins ist, von ihr und als Maß unterschieden werden muss. Als Maß der Sache ist das Maß als solches gerade von der Sache unterschieden und für sich selbst etwas. Das quantifizierte Maß ist in der Angabe der Anzahl einer bestimmten Einheit als Qualität (oder ansichseiender Bestimmtheit des Quantums) das Maß für etwas von dem es unterschieden ist. Die Angabe der Anzahl der Kilogramm, Meter, Volt oder Grad Celsius als Einheiten, die selbst willkürlich (quantitativ-qualitative) zusammengesetzte und vorausgesetzte Größen sind, ist eine äußerliche Zuordnung einer quantitativen zu einer qualitativen Größe. Dieses äußerliche Tun ist für Hegel aber auch ein spezifisches Bestimmen der äußerlichen Größe des Maßes (gegenüber der Sache). In der reinen, d. h. zahlenmäßig arithmetischen äußerlichen Zuordnung sind damit Anzahl und Einheit gerade in ihrem äußerlichen Zueinander als unabhängige vorausgesetzte und selbst nicht abgeleitete in (wie er in der ersten Fassung der Seinslogik schreibt) »wesentlicher Beziehung auf die andre. Die Regel ist somit das Maaß als diese reflectirte Einheit seiner sich unterscheidenden Momente.« (GW 11, 194) Gibt also die Regel einerseits an, in welchem äußerlichen Verhältnis Anzahl und Einheit im Maß zueinander stehen, so sind beide mit genau dieser Angabe im Sinne ihrer 3

Hegels Begriff der ›Größe‹ ist genau in diesem Sinn im Kontext des Maßes der Begriff für die Einheit einer quantitativen Bestimmung, die als quantitative zugleich qualitative Auswirkungen hat. Der Begriff der ›Größe‹ ist so seiner begrifflichen Bestimmung nach mit dem des Maßes (als Einheit von Quantität und Qualität) identisch, unterscheidet sich von ihm zugleich aber in dieser Hinsicht, insofern diese ›generelle‹ Bestimmung dessen, was ein Maß ist, immer nur als einzelne, einfache, unveränderliche (was die gewählte Einheit – Meter, Kilogramm etc. – betrifft) und damit für sich (zunächst scheinbar) absolute Bestimmung im Sinne ›nur einer Größe‹ zu haben ist, die (der Anzahl nach) quantifiziert ein Maß für etwas ist.

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Einheit wesentlich aufeinander bezogen oder gegeneinander bestimmt, d. h. allgemein keine Anzahl ohne Einheit und keine Einheit ohne Anzahl oder im Besonderen diese Anzahl mit dieser Einheit und jene Einheit mit jener Anzahl. Die Regel ist damit nach Hegel die quantifizierte gemessene Auskunft, in welchem äußerlichen Verhältnis sich Anzahl und Einheit zueinander verhalten, als reflektierte Bestimmung und Angabe zu diesem Verhältnis als Maß einer Sache, die vom Maß genauso unmittelbar unterschieden ist, wie das Maß als ihr Maß eine Auskunft über die Sache (im ersten Schritt) gibt. In der Diktion der Hegelsche Logik nach ihrer Ausgabe von 1832: Die Regel oder der Maaßstab, von dem schon gesprochen worden, ist zunächst als eine an sich bestimmte Grösse, welche Einheit gegen Quantum ist, das eine besondere Existenz ist, an einem andern Etwas, als das Etwas der Regel ist, existirt – an ihr gemessen, d. i. als Anzahl jener Einheit bestimmt wird. (GW 21, 333) Die Regel ist so der Maßstab als eigene quantifizierte Größe, die für ein anderes quantitativ-qualitatives Etwas das Maß der Bestimmung von dessen Maß ist. Diese Angabe ist als äußerliche Angabe der reflektierten Vermittlung des gemessenen Etwas (als quantitativ-qualitatives Etwas oder spezifisches Quantum) nötig, weil die für das Etwas selbst vorausgesetzten Quantitäten (der Anzahl) und Qualitäten (der Einheit) als unterschiedene in ihrem zueinander zur Begründung genau dieses oder jenes Maßes als dessen Erläuterung vermittelt werden müssen. Diese Vermittlung kann selbst nur durch das Maß vollzogen werden, da die Erläuterung der Vermittlung des Unterschieds zwischen der Anzahl und der Einheit eines Etwas ein Maß (eine Regel) verlangt, insofern das Messende (in seiner Anzahl und Einheit) von einem Etwas als Gemessenes seinerseits wiederum nur durch eine (zweite) Anzahl und Einheit als seiner eigenen Bestimmung entsprechend intern auf sich bezogen werden kann. Die Anzahl und die Einheit des Gemessenen sind also als unterschiedene unmittelbar bezogene Momente eines Maßes reflektiert nur mit dem Mittel des Maßes, der Anzahl und der Einheit, regelhaft aufeinander zu beziehen. Der unmittelbare Unterschied im Maß zwischen Anzahl und Einheit ist also nur durch das Maß selbst reflektiert zu vermitteln, wenn an dieser Stelle kein unsachgemäßer (dem Maß nicht entsprechender) Gedanke oder ein Bezug auf realphilosophische Inhalte stehen soll, der die Logik des Maßes von etwas anderem als der eigenen Gedankenentwicklung abhängig machte. Die Regel löst nach diesem Verständnis den im Maß selbst liegenden Begründungsanspruch ein, insofern sie die im Maß unmittelbar in Beziehung gesetzten Quantitäten und Qualitäten (allerdings zunächst nur quantitativ) reflektiert aufeinander bezieht. Die Regel ist dabei als ›äußerlicher Maßstab‹, als reine ›äußerliche Größe‹ und als ›das Gleichgültige‹ gegen die Qualität eben als ›äußerliches Quantum‹ und ›das Qualitative‹ bestimmend zugleich in ihrer Quantität qualitativ.4 Als quantitative Angabe zum ur-

4 Das entsprechende Zitat Hegels aus der Logik von 1832 lautet hierzu: »Das Maaß ist specifisches Bestimmen der äusserlichen Grösse, d. i. der gleichgültigen, die nun von einer andern Existenz überhaupt an dem Etwas des Maaßes gesetzt wird, welches zwar selbst Quantum, aber im Unterschiede von solchem das Qualitative, bestimmend das bloß gleichgültige, äusserliche Quantum, ist« (GW 21, 333).

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sprünglichen Verhältnis von Anzahl und Einheit hat die Regel ihre eigene Qualität gegenüber dem durch sie näher bestimmten Verhältnis des (ersten) Maßes aus Quantität und Qualität, dem spezifischen Quantum.5 Liegt so im äußerlichen Verhältnis von Anzahl und Einheit für eine Größe als erster Spezifikation des Maßes zugleich ihre wesentliche (aus begründungstheoretischer Hinsicht notwendige) qualitative Spezifikation, dann kann das so spezifizierte Maß zu anderen genauso vorausgesetzten und damit unterstellten Maßen als zweite Spezifikation (und Entfaltung der ersten Spezifikation) in Beziehung gesetzt werden. Dieser Bezug ist zunächst ein rein quantifizierter, der als solcher auch eine qualitative Aussage über das der Regel entsprechende Maß ist, das beide (die Regel und das erste Maß) als selbständige Quanta wechselseitig voraussetzt. Bestimmte Einheiten sind demzufolge Maße mit Anzahl und Einheit und quantifiziert-qualitative Verhältnisse in der Folge der Regel und ihres Verhältnisses zu einem ersten Maß. Wie die Regel dabei für die Spezifikation eines ersten Maßes einsteht, so sind beide als Maße auf diesem Hintergrund als reziprok ineinander übersetzbare Maßverhältnisse zu begreifen. Enger am logischen Gedanken des Maßes ausgedrückt: Das Quantitative, das sich damit im spezifizierten Maß als Unterschied zur reflektierten Maßbestimmung aus Anzahl und Einheit geltend macht und zu deren Begründung geltend machen muss, ist die Voraussetzung dieser reflektierten Maßbestimmung in ihrer Unabhängigkeit. Das spezifizierte Maß oder ein spezifiziertes Maß kann als Maß im Sinne seiner quantitativen Bestimmung des Verhältnisses von Anzahl und Einheit eines ersten Maßes selbst als (unabhängige und selbst vorausgesetzte) quantifiziert-qualitative Einheit gelten. Als von dieser ersten Maßbestimmung unabhängige eigene quantitative Bestimmung ist sie in ihrer Quantität qualitativer Art und als Regel eben die ›bestimmende Größe‹ zur Erläuterung der bloß vorausgesetzten ersten Maßbestimmung. Die Abhängigkeit der ersten Maßbestimmung in der Vermittlung ihrer Anzahl und ihrer Einheit durch die Regel ist aber nur die eine Seite der begründungstheoretischen Bestimmung der in der ersten Maßeinheit vorausgesetzten Momente der Anzahl und der Einheit. Die zweite Seite betrifft die mit der Regel als Erklärung einer ersten Maßeinheit vorausgesetzte Abhängigkeit der Regel von der ersten Maßeinheit: Als Regel gilt die Regel als unabhängige Größe nur, indem sie durch die ihr vorausgesetzte Maßeinheit ›gesetzt‹ oder bedingt ist. Die Unabhängigkeit der Regel und die Abhängigkeit der vorausgesetzten Maßeinheit in der Sache des Maßes korrelieren also der Abhängigkeit der 5

Diese Deutung der Regel erlaubt es, die Regel sowohl in ihrer logischen Funktion als auch als logische Kategorie im Rahmen der Bestimmung(en) des Maßes zu verstehen. Dieses Verstehen der Regel ist damit nicht nur im Sinne eines ›äußerlichen Tuns‹ als Anwendung (oder Messung) und damit durch ihre logische Funktion im Blick auf unterstellte Quanta, die durch eine Regel vermittelt werden, enggeführt. Der Regel kommt insofern im Rahmen der Argumentation der Logik im Maß eine konstitutive Bedeutung zu. Diese konstitutive Bedeutung wird in dem detaillierten Kommentar von Alexander von Pechmann für die Regel als Kategorie im Rahmen der Logik und nicht nur in der Beschränkung auf ihre Funktion nur bedingt ausgeführt. Damit sind die ersten Bestimmungen des Maßes, das spezifische Quantum, die Regel und das spezifizierende Maß, für sich zwar adäquat kommentiert, die logischen Übergänge als Entwicklung des Gedankens des Maßes an ihm selbst werden damit aber nur indirekt (und nicht explizit) nachvollziehbar (Pechmann: Die Kategorie des Maßes).

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Regel von der ihr vorausgesetzten Maßeinheit und damit deren Unabhängigkeit von der Regel. Die Regel und die vermittelte Maßeinheit zeigen sich so gegenseitig als abhängige und unabhängige zugleich in der Rücksicht als quantitativ-qualifizierte Größen und sind damit je für sich absolute Größen als Maßeinheiten (aus Anzahl und Einheit). Für die durch das spezifizierte Maß der Regel abhängige Seite fasst Hegel diesen Gedanken unter dem Begriff des ›maßlosen Quantums‹: Ein Quantum kann nur maßlos sein, weil es keine Grenze hat. Die Grenze, an der Hin- und Hergegangen werden kann, die also der Maßlosigkeit erkenntnistheoretisch Einhalt gebietet, ist für das Quantum nur durch die Qualität gegeben. Die Qualität, die dem maßlosen Quantum als Grenze entgegentritt, ist mit der Regel verbunden. Das maßlose Quantum ist von der Regel als Qualität begrenzt. Nun ist das maßlose Quantum, das der Regel als qualitatives Maß vorausgesetzt ist, nicht bloß ein Quantum, sondern selbst – entsprechend der Grundeinsicht der ersten Maßbestimmung – immer ein spezifisches Quantum; ein Quantum also im Sinne einer quantitativ-qualifizierten Größe. Die Abhängigkeit des bloß maßlosen Quantums von der Regel als unabhängiger, die die Grenze dieses Quantums abgibt, zeigt sich zugleich als Unabhängigkeit, weil das maßlose Quantum als Voraussetzung der Regel als Quantum ›gesetzt‹ ist. Als Quantum ›gesetzt‹ heißt aber, dass es als Quantum für sich eine von der Regel unabhängige Qualität hat und so selbst im Sinne des spezifizierten Quantums als Quantum zugleich qualitativ zu begreifen ist. Was sich dabei erkenntnistheoretisch als logische Abfolge in der näheren Fassung des Maßes aufgrund der Grundbestimmung der Einheit von Quantität im Unterschied zur Qualität ergibt, lässt sich am Ende des zweiten Punktes, des spezifizierten Maßverhältnisses, daher wie folgt ausdrücken: »Das Maaß ist so das immanente quantitative Verhalten zweyer Qualitäten zu einander.« (GW 21, 337) Wie ein Maß aus Anzahl und Einheit nur spezifiziert für sich bestimmt (und ihm entsprechend gemessen) ist, wenn ihm ein unterschiedenes Maß gegenübertritt, so treten damit zwei Qualitäten nebeneinander, deren Verhältnis in einem (dritten) Maß als beiden immanente und ihnen zukommende Größe ausgedrückt werden kann. Der mit der Regel verbundene Gedanke zweier sich gegenseitig bestimmender abhängiger und unabhängiger absoluter Größen ist also der Gedanke, dass diese beiden Qualitäten ineinander als Maßeinheiten übersetzt werden können und sich so ›immanent‹ (als unterschiedene aber in Beziehung gesetzte Maßeinheiten) zueinander verhalten. Werden beide Größen als Qualitäten begriffen, braucht es dazu gemäß der Regel dann eines Dritten, um deren ›Immanenz‹ auszudrücken. Das Maß als Größe des Vergleichs der beiden Qualitäten ist damit einerseits den beiden äußerlich, andererseits selbst von qualitativer Natur. Es ist von qualitativer Natur, weil es als Maß den beiden verglichenen Qualitäten eigen ist (ihnen zukommt) und es ist ihnen äußerlich, weil beide Qualitäten die Voraussetzung ihres Vergleichs sind und ihr Verhältnis im Dritten auf quantitative Art (wie zunächst in der Regel) ausgedrückt wird, die selbst allerdings gerade darin qualitativ ist. Als Maß ist diese Größe des Vergleichs der beiden Qualitäten damit einerseits Variable, insofern sie von beiden

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(vorausgesetzten) Qualitäten abhängt (bloße Zahl oder Anzahl), andererseits Funktion zugleich, insofern sie das bestimmende qualitative Maß als Angabe der beiden Qualitäten (im Sinne der Einheit) ist.6 Hegels Beispiel ist an dieser Stelle u. a. die Temperatur als Größe unter der bzw. mit der zwei Körper in ihrem Verhältnis zueinander verglichen und an sich selbst in Beziehung gebracht werden können: Um ein Beyspiel anzuführen, so ist die Temperatur eine Qualität, an der diese beyden Seiten, äusserliches und specificirtes Quantum zu seyn, sich unterscheiden. Als Quantum ist sie äusserliche Temperatur und zwar auch eines Körpers als allgemeinen Mediums, von der angenommen wird, daß ihre Veränderung an der Scala der arithmetischen Progression fortgehe und daß sie gleichförmig zu- oder abnehme, wogegen sie von den verschiedenen in ihr befindlichen besondern Körpern verschieden aufgenommen wird, indem dieselben durch ihr immanentes Maaß die äusserlich empfangene Temperatur bestimmen, die Temperatur-Veränderung derselben nicht der des Mediums oder ihrer untereinander im directen Verhältnisse entspricht. Verschiedene Körper in einer und derselben Temperatur verglichen, geben Verhältnißzahlen ihrer specifischen Wärmen, ihrer Wärme-Capacitäten. Aber diese Capacitäten der Körper ändern sich in verschiedenen Temperaturen, womit das Eintreten einer Veränderung der specifischen Gestalt sich verbindet. In der Vermehrung oder Verminderung der Temperatur zeigt sich somit eine besondere Specification. Das Verhältniß der Temperatur, die als äusserliche vorgestellt wird, zur Temperatur eines bestimmten Körpers, die zugleich von jener abhängig ist, hat nicht einen festen Verhältnißexponenten; die Vermehrung oder Verminderung dieser Wärme geht nicht gleichförmig mit der Zuund Abnahme der äusserlichen fort. – Es wird hiebey eine Temperatur als äusserlich überhaupt angenommen, deren Veränderung bloß äusserlich oder rein quantitativ sey. Sie ist jedoch selbst Temperatur der Luft oder sonst specifische Temperatur. Näher betrachtet würde daher das Verhältniß eigentlich nicht als Verhältniß von einem bloßen quantitativen zu einem qualificirenden, sondern von zwey specifischen Quantis zu nehmen seyn. Wie sich das specificirende Verhältniß gleich weiter bestimmen wird, daß die Momente des Maaßes nicht nur in einer quantitativen und einer das Quantum qualificirenden Seite einer und derselben Qualität bestehen, sondern im Verhältnisse zweyer Qualitäten, welche an ihnen selbst Maaße sind.7 (GW 21, 335 f.) 6

Der Begriff der Funktion und der Begriff der Variablen sind dabei als mathematische Explikationen eines logischen Verhältnisses zu verstehen. Von diesem Kontext her lässt sich die genannte Zuordnung sachlich auch umdrehen: Wie die Funktion einerseits die einzelne, einfache, unveränderliche und damit für sich absolute Bestimmung im Blick auf die in ihr verwendeten (und daher abhängigen) Variablen ist, so ist sie andererseits in ihrer Funktion als Funktion von den Variablen abhängig, die damit nicht nur als Zahlen oder Anzahlen, sondern selbst als Qualitäten zu begreifen sind, die die Funktion nur ›quantitativ‹ (als Regel) zusammenbindet. Die Funktion und die Variable sind somit als mathematische Äquivalente unter der Prämisse des geschilderten logischen Zusammenhangs jeweils sowohl quantitativ als auch qualitativ zu verstehen. 7 Hegel stellt in seiner zweiten Auflage diesen Teil des Maßes unter den Titel ›Spezifizierendes Maß‹ und untergliedert diesen zweiten Abschnitt B im ersten Kapitel (›Die spezifische Quantität›‹) in

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Die Temperatur ist in Hegels Beispiel einerseits die vorausgesetzte und unterstellte äußere Größe mit der zwei Körper als Qualitäten in ihrer Abhängigkeit voneinander aufgrund ihrer jeweiligen allgemeinen körperspezifischen Eigenart und ihrem besonderen Wärmezustand in ein ›regelhaftes Verhältnis‹ zueinander gebracht werden können. Die Temperatur ist andererseits aber auch in genau dieser äußeren Hinsicht die Angabe als Maß für die in ihr ausgedrückte Eigenart als qualitativer Natur der beteiligten Körper und damit selbst qualitativ. Es ist die spezifische Wärmekapazität eines Körpers, dessen Temperatur erstens von dem Körper selbst abhängt, der sich dadurch verändert. Diese Veränderung ist allerdings zweitens von dem den Körper umgebenden zweiten Körper und seiner Temperatur abhängig, insofern der Anstieg oder das Absinken der Temperatur des Körpers durch die Temperatur des umgebenden Körpers bedingt ist. In dieser Hinsicht ist die Temperatur der äußere Vergleichspunkt zweier Körper im Blick auf ihren jeweiligen spezifischen Wärmezustand. Das spezifische Verhältnis der Wärmekapazität zweier Körper in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und ihrer Veränderung ist in dieser Form daher auch nicht rein quantifiziert in einer arithmetischen Folge (als Drittes zu den beiden Körpern) zu fassen. Ist die Temperatur der dem jeweiligen Körper eigene Maßstab seiner Veränderung, der sich mit entsprechender Temperaturzu- bzw. abnahme ändert und gilt dies in gleicher Weise für einen diesen ersten umgebenden zweiten Körper, dann ist diese Relation nicht nur eine quantitative Angabe zu beiden Körpern, sondern eine qualitative Auskunft über deren Verhältnis im Blick auf ihre gegenseitige Temperaturabhängigkeit. Das spezifizierte Maßverhältnis ist damit eines, in dem sich zwei quantitative Qualitäten gegenübertreten, die als solche in einem unmittelbaren qualitativen Bedingungsverhältnis zueinander stehen, das gemessen, d. h. quantitativ ausgedrückt werden kann und das zugleich damit eine qualitative Auskunft über die im Verhältnis stehenden Qualitäten gibt. In diesem entwickelten Sinn spricht Hegel vom Fürsichsein im Maße als Begriff eben für das Verhältnis zweier quantitativer Qualitäten.8 a. Die Regel, b. Das spezifizierende Maß und c. Verhältnis beider Seiten als Qualitäten. Im Unterschied hierzu firmiert derselbe Abschnitt B in der ersten Auflage unter der Überschrift ›Die Regel‹. Unter dieser Überschrift gliedert er diesen Abschnitt durch die Punkte 1. Die qualitative und quantitative GrößenBestimmtheit, 2. Qualität und Quantum und 3. Unterscheidung beider Seiten als Qualitäten. Die Erklärung hierfür ist, dass Hegel offensichtlich dem Begriff der ›Regel‹ 1812 noch zugetraut hat, die Einheit ›zweier Qualitäten‹ in ihrer Beziehung zueinander zu bezeichnen, während 1832 unter Aufnahme des Gedankenganges der logischen Entwicklung des Maßes dieser Abschnitt unter dem Titel des ›spezifizierenden Maßes‹ firmiert. Diese Änderung wird durch die Rekonstruktion der Argumentation unterstützt, insofern es von der Sache her tatsächlich um eine Betrachtung des Verhältnisses zweier Qualitäten als Spezifikation des Maßes geht und ›die Regel‹ sich zu dieser Argumentation an sich als ›sekundärer‹ (logisch ›vorgängiger‹) Begriff zeigt, auch wenn er in der vorliegenden Darstellung als Kommentar hervortritt; dies aber nur, um die Verbindung der beiden Ausgaben der Logik anzuzeigen. 8 Auch beim dritten Abschnitt des ersten Kapitels differieren die unterschiedlichen Ausgaben der Logik: Während Hegel 1812 diesen Abschnitt ›C. Verhältnis von Qualitäten‹ nennt, wird er eben 1832 mit ›C. Das Fürsichsein im Maße‹ betitelt. Während die Überschrift von 1812 die verhandelte Sache näher beschreibt, hält die Überschrift von 1832 das definitorische Ende der bisherigen Gedankenentwicklung zum Begriff des Maßes fest, bevor Hegel anschließend zum zweiten Kapitel im Rahmen des

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III. Wie dabei das Zueinander der beiden unterstellten Qualitäten, die im Maß miteinander in Beziehung gesetzt werden, gedacht werden muss, behandelt Hegel also drittens unter der Überschrift ›Das Fürsichsein im Masse‹. Dabei steht das Fürsichsein als Begriff (wie schon bei seiner ersten Einführung im Rahmen der Bestimmtheit der Qualität) für die Einsicht, dass zur Bestimmung von etwas der unmittelbare Bezug auf anderes als Benennung des Unterschieds zur Definition des etwas hinzugehört. Diese allgemeine erkenntnistheoretische Auskunft wird unter den Bedingungen des Maßes nun so spezifiziert, dass Hegel angibt, was der Bezug auf anderes für die Bestimmtheit des Maßes bedeutet: Wie Qualität und Quantität (als jeweils ihr anderes) aufeinander bezogen und damit durch ihr anderes bestimmt sind, so ist das Maß als Einheit nur im Unterschied zu anderem (zu Maßen oder Dingen) bestimmt. Es ist nur so an ihm selbst, in seinem Fürsichsein, zu begreifen. Im Fürsichsein des Maßes legt Hegel also eine Reflexion vor, in der Quantität und Qualität als Bestimmungen des Maßes unter der Voraussetzung ihrer jeweiligen grundsätzlichen gedanklichen Bezogenheit aufeinander in ihrem bestimmten Verhältnis zueinander im Unterschied zu anderem expliziert werden, bevor im realen Maß die Einlösung dieser grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Bestimmung dargelegt wird. Was gilt nun als definitive Auskunft Hegels hinsichtlich des Maßes für sich in seiner erkenntnistheoretischen Grundsbestimmung der Einheit von Qualität und Quantität? Wie ist das Maß im Sinne seines Fürsichseins bestimmt? Der Ausgangspunkt ist dabei das spezifizierte Maßverhältnis, in dem zwei Qualitäten unmittelbar in einer Größe, die als äußerer Vergleichspunkt zugleich eine Bestimmung der Qualitäten ist, in ein Verhältnis gesetzt werden. Als Punkt des Vergleichs quantitativer und qualitativer Art gibt die Größe das andere ab, durch das die beiden Qualitäten als quantifizierte ihr Fürsichsein, ihre Bestimmung haben. Die Qualitäten sind daher nur an ihnen (an sich) selbst bestimmt, indem sie für sich im Unterschied zu anderen in einer Quantität, die zugleich eine qualitative Auskunft enthält, zu diesen anderen in Beziehung gesetzt werden. Genau dies leistet das für beide behauptete Maß nach dem Vorbild der Regel als quantifizierte Übersetzung der einen in die andere Qualität, die als Regel in diesem Sinn zugleich eine qualitative Bestimmung der ins Verhältnis gesetzten Qualitäten ist. Die Größe als Punkt des Vergleichs selbst ist dabei für sich ihrerseits durch den (zweifachen) Bezug auf die Qualitäten bestimmt: Im Unterschied zu den Qualitäten ist sie zunächst als äußerliche zugleich quantitativ auf diese als andere (und vorausgesetzte) bezogen.

Maßes, das unter dem Titel ›Das reale Maß‹ im Unterschied zum Begriff des Maßes (im ersten Kapitel) steht, übergeht. Die These für den vorliegenden Beitrag ist, dass Hegel im Begriff des Fürsichseins den eigentlichen Begriff des Maßes nach der Betrachtung quantitativ-qualitativer Verhältnisse entwickelt. Wenn also nach einem entwickelten Begriff des Maßes in der Wissenschaft der Logik gefahndet wird, dann lässt sich dieser im Fürsichsein des Maßes finden.

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Das Maß als Feststellung einer Qualität ist für sich also zunächst auf die vorausgesetzten Qualitäten, die gemessen werden, bezogen, es lässt sich als unmittelbare Angabe der unmittelbaren Beziehung der Qualitäten begreifen und wird so als unmittelbar bestimmtes Quantum ausgedrückt. Erläutert an dem bereits erwähnten Beispiel zur Temperatur: bedeutet 1 Grad Temperaturerhöhung an dem einen Körper, dass sich der zweite Körper um 2 Grad erwärmt, so ist das unmittelbar bestimmte Quantum als Quotient 1 zu 2 oder 1/2. Das unmittelbar bestimmte Quantum als solches ist, wenn es auch als Maaßmoment sonst an sich in einem Begriffszusammenhang begründet ist, in der Beziehung zu dem specifischen Maaße als ein äusserlich gegebenes. Die Unmittelbarkeit, die hiermit gesetzt ist, ist aber die Negation der qualitativen Maaßbestimmung; dieselbe wurde vorhin an den Seiten dieser Maaßbestimmung aufgezeigt, welche darum als selbstständige Qualitäten erschienen. Solche Negation und das Zurückkehren zur unmittelbaren Quantitätsbestimmtheit liegt in dem qualitativbestimmten Verhältnisse insofern, als das Verhältniß Unterschiedener überhaupt deren Beziehung als Eine Bestimmtheit enthält, die hiermit hier im Quantitativen, unterschieden von der Verhältnißbestimmung, ein Quantum ist. Als Negation der unterschiedenen qualitativbestimmten Seiten ist dieser Exponent ein Fürsichseyn, das Schlechthin-bestimmtseyn; aber ist solches Fürsichseyn nur an-sich; als Daseyn ein einfaches, unmittelbares Quantum, Quotient oder Exponent als eines Verhältnißes der Seiten des Maaßes, diß Verhältniß als ein directes genommen; aber überhaupt die als empirisch erscheinende Einheit in dem Quantitativen des Maaßes. (GW 21, 342) Wie auch immer das unmittelbare Quantum als Maß (eines jeden Maßes als Begriff) an sich legitimiert ist, ob z. B. als Ur-Meter für sich, d. h. ›einfach‹ oder aus der Kombination unterschiedlicher Maßeinheiten, als Maß ist es das äußerliche Festhalten eines Vergleichspunktes zu den Gemessenen, deren spezifische Qualität in diesem Punkt negiert ist. Es werden nämlich nicht die Qualitäten an sich aufeinander bezogen, sondern diese werden nur in einem Verhältnis quantitativ unmittelbar ausgedrückt, was sie als solche (Qualitäten) negiert. Deren Verhältnis als Quotient festgehalten oder als ›eine‹ Bestimmtheit fixiert, ist für sich als Bestimmtheit, die durch die Qualitäten bedingt ist, von diesen nach dieser Seite abhängig. Für sich ist der Punkt des Vergleichs vorausgesetzter Qualitäten nur der Exponent als Zahl oder Anzahl von Qualitäten, die er von der Basis oder von den ihm vorausgesetzten Qualitäten erbt. Für sich ist das unmittelbare Quantum nur die empirisch erscheinende Einheit eines Vergleichs von Qualitäten als Maß, die es ›an-sich‹ hat. Der Punkt des Vergleichs ist daher in dieser Hinsicht seiner Bestimmung nach für sich nur an ihm selbst durch den Bezug auf anderes, die bezogenen und durch ihn ausgedrückten Qualitäten, bestimmt. Mit dieser Bestimmung des Maßes ist aber nur die eine Seite seiner Bestimmung im Sinne seines Fürsichseins genannt. Hier haben wir es nur mit dieser Begriffsbestimmtheit zu thun; diese ist, daß jener empirische Coefficient das Fürsichseyn in der Maaßbestimmung ausmacht, aber nur

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das Moment des Fürsichseyns, insofern dasselbe an sich und daher als unmittelbares ist. Das andere ist das Entwickelte dieses Fürsichseyns, die specifische Maaßbestimmtheit der Seiten. (GW 21, 343) Die zweite Seite des Maßes als dessen entwickeltes Fürsichsein ist die der spezifischen Maßbestimmtheit: Als unmittelbares Quantum enthält das Maß die vorausgesetzten Qualitäten so an ihm selbst, dass es als deren Ausdruck genau darin selbst qualitativ ist. Als Quotient oder Exponent eines Fremden ist es in dieser seiner Quantität zugleich qualitativer, eigener, einzelner Ausdruck als dessen Einheit. An sich ist das Maß als Quantum bezogen auf die ihm vorgängigen Qualitäten. In diesem Fürsich-Bestimmtsein ist das Maß als unmittelbares Quantum zugleich als qualitative Einheit für sich gegen die ihm vorausgesetzten Qualitäten, aber auch gegen andere Maßeinheiten bestimmt. Erläutert nochmals an dem bereits erwähnten Beispiel zur Temperatur: Als Temperaturquotient des Körpers a und b ist das festgehaltene Quantum für sich jenseits seiner begrifflich-definitorischen Einführung eine qualitativ spezifizierte Maßeinheit, die gegen die jeweils in die Messung eingegangenen Temperaturen der beteiligten Körper und ihre Korrelation eine eigene Einheit ausmacht, die sich zudem von anderen Maßen derselben oder anderer Körper unterscheidet und nur so für sich ist, was sie ist. Das unmittelbare Quantum und das spezifizierte Maß sind damit die beiden Seiten des Maßes, die das Maß als solches in seinem Fürsichsein ausmachen. Wie das unmittelbare Quantum dabei als solches für sich spezifiziertes Maß ist, so ist das spezifizierte Maß für sich nur eines als quantifiziertes. Das unmittelbare Quantum ist gerade als unmittelbarer Ausdruck der Bezogenen Ausdruck von deren Qualität und damit selbst qualitativ bestimmt; genauso ist das so spezifizierte Maß umgekehrt als Qualität nur eines, das in einer quantitativen Anzahl seinen Ausdruck findet, da doch Qualitäten gemessen und so zueinander in Beziehung gebracht werden. Diese wechselseitige Verwiesenheit der beiden Bestimmungen im Fürsichsein des Maßes macht das Maß zu jener negativen Einheit von der Hegel in seiner Wissenschaft der Logik spricht: Es ist eine Einheit, die in der Bestimmung grundsätzlich sowohl auf die Definition ihrer Bedingungen als auch auf die damit untersuchten Gegenstände als Qualitäten angewiesen ist. Dieses ›An-sich‹ als quantitative Angabe von den Bezogenen und den Bedingungen her macht das ›Für-sich‹ als qualitative Auskunft des Maßes – relativ zur eigenen Quantität in der Genese – aus. Dieser negativen Seite als Verwiesenheit auf sein Anderes in zweifacher Hinsicht, das zum Maß gehört, entspricht die zweifache Bestimmung des Maßes als quantitative Messung ausgedrückt im unmittelbaren Quantum, das in seiner spezifischen Eigenart selbst eine qualitative Angabe ist. Auch hier ist das Eine des unmittelbaren Quantums nicht ohne das Andere, die Einheit, zu haben. Beide sind für sich nur in ihrer Abhängigkeit voneinander und der Abhängigkeit von den eigenen Bedingungen ihrer eigenen Geltung als Maß zu verstehen. Erst dadurch wird klar, was Hegel meint, wenn er vom Maß als der Einheit von Quantität und Qualität spricht.

Die Entwicklung der Kategorie des Maßes in seiner Realität und in seinem Übergang zum Wesen Friedrike Schick

In diesem Beitrag geht es darum, die Logik der Entwicklung der Kategorie des Maßes herauszuarbeiten, der das zweite und das dritte Kapitel des letzten Abschnitts der Seinslogik gewidmet sind. Der Nachvollzug wird darauf konzentriert bleiben, die Entwicklung auf der allgemeinen, d. h. der Ebene des Logischen oder, was hier dasselbe besagt, des Kategorialen herauszuarbeiten. Vom angebotenen Stoff her ist diese Entscheidung mit einer Beschränkung verbunden, bietet der Text doch eine ganze Reihe von Fallbeispielen und -diskussionen aus dem konkreteren Stoff der Wissenschaften – vor allem, aber nicht nur aus dem Feld der Chemie –, anhand derer jeweils erreichte logische oder kategoriale Bestimmungsstände exemplifiziert werden. Genau genommen ist nicht einmal unbesehen davon auszugehen, dass sich der hier ausgeklammerte Stoff zur Logik des Maßes selbst tatsächlich nur wie das Exempel zum exemplifizierten Allgemeinen verhält. In seiner großangelegten Untersuchung zum zweiten Kapitel des Maßabschnitts vertritt Ulrich Ruschig in diesem Punkt jedenfalls die entgegengesetzte These: Ohne die Beziehung auf das Material, d. i. für sich genommen, scheitern die Übergänge – die ›Entwicklung des Maßes‹ käme nicht vom Fleck. Jedoch ›gehen‹ die Übergänge gerade mit dem von Hegel meist in die Anmerkungen verbannten Material, das also in Wahrheit konstitutiv für die ›Entwicklung des Maßes‹ ist. 1 Wenn im Folgenden der je konkrete Stoff ausgeblendet wird, so heißt das nicht, dass dieser kritische Einspruch schlicht übergangen werden sollte. Im Gegenteil ist es gerade angesichts seiner lohnend, zuzusehen, was sich auf der allgemeinen Ebene des Logischen selbst gewinnen – oder eben nicht gewinnen lässt.2 1 Ruschig, Ulrich: Hegels Logik und die Chemie. Fortlaufender Kommentar zum »realen Maß«. In: Hegel-Studien Beiheft 37 (1997), hier: S. 16. 2 Verwiesen sei an dieser Stelle auf einen weiteren ausführlichen Kommentar zu Hegels Behandlung der Kategorie des Maßes in der Wissenschaft der Logik, der seinerseits deren Verhältnis zu naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Theorien einbezieht, nämlich auf Pechmann, Alexander von: Die Kategorie des Maßes in Hegels »Wissenschaft der Logik«. Köln 1980. Für Hegels Theorie der Verbindung im Rahmen der Logik des Maßes konstatiert auch Pechmann eine »Vermengung von logischen mit natürlichen Begriffen« (ebd., S. 158); anders als Ruschig möchte er jedoch zeigen, dass die Logik des Maßes, von der Vermengung gereinigt, durchaus ihre eigene Entwicklung hat. – Zum weiteren Umkreis des mit dem zweiten Kapitel des Maßabschnitts angesprochenen Themas des Verhältnisses von Hegels philosophischer Theorie der Chemie und dieser selbst vgl. auch Engelhardt, Dietrich von: Wissenschaftliche Chemie um 1800 und Hegels Philosophie der Chemie im Rahmen der zeitgenössischen Wissenschaft und Philosophie der Natur. Dissertation. Heidelberg 1968. Zum Stand der Chemie zur Zeit um 1800 vgl.: Durner, Manfred: Theorien der Chemie. In: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Historisch-

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I. Das reale Maß Das zweite Kapitel des Abschnitts zum Maß, »Das reale Maß«, umfasst drei große Etappen: »A. Das Verhältnis selbständiger Maße«, »B. Knotenlinie von Maßverhältnissen« und »C. Das Maßlose«. Beginnen wir mit einer Kurzvorstellung der drei Etappen, die uns erst einmal über die Ableitungsaufgaben oder -ansprüche orientieren soll, um deren (Ein-)Lösung es dann gehen wird: (A) Die erste Etappe nimmt im Ausgangspunkt das Maß in der Bedeutung auf, ein regelmäßiges quantitatives Verhältnis zweier Qualitäten zueinander zu sein, in dem die qualitative Natur eines Etwas bestimmt ist, eines Etwas, das ebendarum als selbständig gelten kann, weil es ein solches, ihm spezifisch zukommendes internes Maß hat. (Als Beispiel führt Hegel die Bestimmung eines Stoffes durch sein spezifisches Gewicht an.) Sogleich aber rückt Hegel auch das reale, das praktische Verhalten zweier und mehrerer solcher selbständiger Etwas zueinander in den Blick und bestimmt von da aus das Maß weiter wie folgt: Das Maaß ist bestimmt zu einer Beziehung von Maaßen, welche die Qualität unterschiedener selbstständiger Etwas, geläuffiger: Dinge ausmachen. (GW 21, 345) (Das zentrale Beispiel, das Hegel hier heranzieht, ist der Chemie seiner Zeit entnommen: Proportionalitäten von Säure-Base-Verbindungen, die Neutralisation.) »Durch ein Maß bestimmt sein« definiert sich dann neu: dadurch, in welchen quantitativen Proportionen das Etwas einer Art mit – zunächst einem, dann aber sogleich: einer Reihe anderer – Etwas eine Verbindung3 eingeht, in der die internen Maße der Ausgangselemente durch ein neues internes Maß abgelöst sind. (B) In der zweiten großen Etappe rückt die »Knotenlinie von Maßverhältnissen« in den Blick. Dabei geht es um Bestimmungssequenzen, in denen progressive GrößenverKritische Ausgabe. Im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. v. Hans Michael Baumgartner. Reihe 1, Bd. 5/9. Ergänzungsband: Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften 1797–1800. Stuttgart 1994, S. 3–374, hier: besonders 9–56. 3 Ein Wort zu Hegels Terminologie: Im zweiten Maß-Kapitel setzt Hegel in prominenter Rolle Termini ein, die der zeitgenössischen Chemie entstammen: »Neutralität« gehört dazu, »Wahlverwandtschaft«, aber auch »Verbindung« spielt deutlich auf den entsprechenden chemischen Terminus an. Für den hier unternommenen Versuch, so weit wie möglich der Fährte der logischen Bestimmungen für sich zu folgen, ist die Aufnahme dieser Terminologie nur unter der Bedingung sinnvoll, dass zwischen einem engeren und einem weiteren Sinn dieser Termini unterschieden wird. (Zum sachlichen Desiderat dieser Unterscheidung vgl. Pechmann: Die Kategorie des Maßes, S. 159 f.) Der engere Sinn ist der buchstäblich chemische. Der weitere Sinn hingegen gehört genuin der Logik an und bezeichnet jeweils eine bestimmte Konstellation qualitativ-quantitativer Verhältnisse im Allgemeinen. In diesem allgemeinen Sinn sind sie zu nehmen, wenn es um die Theorie der Kategorie als solcher geht. »Verbindung« bezeichnet dann den Prozess der gegenseitigen Spezifikation zweier vorausgesetzter Maße (ohne Ansehung des konkreten Gegenstandsfeldes), »Neutralität« das Resultat solcher Spezifikation unter der Hinsicht, dass die Eigenart der Ausgangselemente darin kein apartes Dasein mehr hat, und »Wahlverwandtschaft« den Sachverhalt, dass ein solches Resultat als etwas qualitativ Eigenständiges zu fassen ist, das in seinem Verhalten zugleich seine Nichtgleichgültigkeit gegenüber seinen Bildungsfaktoren zeigt.

Die Entwicklung der Kategorie des Maßes

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änderungen (versinnbildlicht in den linearen Sequenzen einer Knotenlinie) unterbrochen werden durch qualitative Veränderungen oder Qualitätssprünge (versinnbildlicht in den »Knoten« der Linie). (Ein bekanntes Beispiel für diese Bestimmungsform stellen etwa die Übergänge zwischen den Aggregatzuständen von Wasser dar.) Die Form der Knotenlinie knüpft Hegel dabei an die Schlussbestimmung der ersten Etappe an: den mit dem Terminus »Wahlverwandtschaft« belegten Befund, dass die Reihe von Maßverhältnissen Verhältnisse ausschließenden Charakters enthält. (C) Die dritte Etappe des realen Maßes überschreibt Hegel mit dem Titel »Das Maßlose«. »Maßlos« fungiert hier zunächst als nur relative Charakterisierung: Von der Warte eines spezifischen (gleich: qualitativen) Maßverhältnisses aus gesehen, nimmt sich das Verlassen dieses Verhältnisses (der Schritt von einem Knoten zum nächsten) als Verlust des Maßes aus. Nur relativ ist diese Charakterisierung, insofern das Verlassen eines Maßverhältnisses der Übergang zu etwas qualitativ Neuem, einem neuen Maßverhältnis, ist. Im Fortgang aber soll sich etwas zeigen, das das Attribut des Maßlosen in einem absoluten oder allgemeinen Sinn verdient: das in der Form abwechselnd quantitativer und qualitativer Fortbestimmungsreihen Zugrundeliegende, das Substrat, von dem her sich auch noch einmal die »Knoten«, die qualitativ selbständigen Etwas bzw. die sie bestimmenden Maßverhältnisse, zu Zuständen, zu Modi ein und desselben depotenzieren. In diesem Resultat ist dann schon vorgezeichnet: Die Bestimmung von etwas in Termini von Maßverhältnissen kann nicht das letzte Wort sein: »Dieser Verlauff ist ebensowohl die realisirende Fortbestimmung des Maaßes, als sie das Herabsetzen desselben zu einem Momente ist.« (GW 21, 372) Um auch unter Verzicht auf einen detailschrittigen Kommentar nachvollziehen zu können, ob und, wenn ja, wie diese Bestimmungsabfolge eine stringente logische Entwicklung der Kategorie des Maßes darstellt, orientieren sich die folgenden Überlegungen an drei Leitfragen: 1. Was spricht dafür, von der Bestimmung eines Etwas durch ein internes Maß zu einer relativen Bestimmung desselben Etwas durch sein Verhalten und seine Beziehung zu gleich- und andersartigen Etwas überzugehen? Warum kommt es der Kategorie des Maßes selber zu, diesen spezifischen Sinn einer außenrelativen Bestimmung anzunehmen? 2. Inwiefern gehört es zur Logik solcher »Verbindung selbständiger Maßverhältnisse«, dass ihrem Resultat die Charaktere der Ausschließlichkeit und des Ansichbestimmtseins – kurz: der Charakter von etwas qualitativ Neuem – zugeordnet werden können? 3. Wie ergibt sich von hier aus der Schluss auf ein Substrat von Maßverhältnissen, relativ zu dem diese selbst als Modi oder Zustände rekategorisiert werden?

I.1 Vom selbständigen Etwas zur Verbindung unterschiedener Etwas Den hier nur aufzunehmenden Ausgangspunkt bildet das Resultat des ersten Kapitels des Maßabschnitts: Ein Etwas sei bestimmt durch das Größenverhältnis zweier quali-

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tativer Faktoren, die zu diesem Etwas selbst gehören.4 Der Zielpunkt hingegen lautet: Was etwas ist, das ist durch die quantitativen Verhältnisse, durch die Proportionen, bestimmt, in denen es sich mit selbständig daseienden anderen Etwas zu qualitativ Neuem verbindet. Dass es diese Bestimmungsform überhaupt gibt, zeigt uns der Paradefall der chemischen Neutralisation. Aber wir sind, mit Hegel, noch nicht zufrieden mit der Feststellung, dass es sie gibt: uns interessiert, ob und wie die Kategorie des Maßes selbst sich aus der vorigen Form zu dieser Form spezifiziert. Der Vergleich jenes Ausgangspunkts mit diesem Endpunkt wirft ja eine echte Frage auf: Der Schritt von einer Bestimmungsform, in der das Etwas durch ein ihm zukommendes direktes Größenverhältnis bestimmt wird, hin zu einer Bestimmungsform, in der das Etwas durch einen quantitativ spezifizierten Umkreis seines Verhaltens zu anderem bestimmt wird, scheint sich ja erst einmal von der absoluten, d. h. nur auf dieses selbst bezogenen Bestimmung eines Etwas zu entfernen, die absolute Bestimmung durch die Reflexion in anderes, rein relative Bestimmungen, zu ersetzen. Und dagegen lässt sich prima facie einwenden: Wie sich eine Sache zu anderem und anderen verhält, das unterstellt, ersetzt also nicht ihre interne Bestimmung. Schaffen wir uns der leichteren Vorstellbarkeit und Darstellbarkeit halber einen abstrakten Fall, das Schema eines Falles: Gegeben sei ein Etwas namens a, das durch die einzelne Proportion 3x pro 1y charakterisiert sei, wobei x und y für ein bestimmtes (nicht: variables) Paar qualitativer Faktoren stehen; diese Proportion gelte fix von a – mit der Änderung der Anzahl von x allein verändere sich also nicht das Verhältnis, sondern Größenveränderungen im Zähler mögen sich proportional zu solchen im Nenner verhalten. Nun ist klar: Wenn das Spezifische unseres a solcherart in ein Größenverhältnis gelegt ist, ist a nach der Art der beteiligten Größen anderem gleichgesetzt – nämlich allem, was ebenfalls ein Verhältnis von x-pro-y aufweist. Von allen ihm darin Gleichen ist a dann unterschieden eben durch den für es spezifischen Zahlenwert (den »Exponenten«) des Verhältnisses, in unserem Fall: durch die 3. Seine qualitative Besonderheit ruht dann im Vergleich zu seinen x-pro-y-Artgenossen allein auf einem quantitativen Unterschied. Diese Bestimmungsform weist damit zwei ebenso zusammengehörige wie divergierende Seiten auf, die Hegel am Exponenten des Verhältnisses auseinandersetzt: Dieser Exponent ist das specifische Quantum des Etwas, aber er ist unmittelbares Quantum und dieses, damit die specifische Natur von solchem Etwas, ist nur in der Vergleichung mit andern Exponenten solcher Verhältniße bestimmt. Er macht das specifische An-sich-bestimmtseyn, das innere eigenthümliche Maaß von Etwas aus; aber indem dieses sein Maaß auf dem Quantum beruht, ist es auch nur als äusserliche, gleichgültige Bestimmtheit, und solches Etwas ist dadurch, der innerlichen Maaßbestimmung ungeachtet veränderlich. (GW 21, 347)

4 Zur Entwicklung der Kategorie des Maßes bis zu diesem Punkt vgl. den vorangehenden Beitrag von Günter Kruck im vorliegenden Band.

Die Entwicklung der Kategorie des Maßes

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Im Beispielschema »3x pro 1y« ist das Unterschiedene, Eigentümliche von a in die 3 gelegt – in Abgrenzung von Bestimmungsalternativen, die in der Bestimmungsform selbst angelegt sind.5 Die tatsächliche, die einzelne Besetzung des allgemeinen Verhältnisses, das durch die qualitativen Dimensionen dieses Maßes definiert ist, verhält sich damit gleichgültig gegen dies Verhältnis. Die Form »x pro y« selber ist offenbar empfänglich für von ihr her irgendwie bestimmte Quanta. In der generischen Rahmenbestimmung oder dem, worin a bestimmt ist, – nämlich: ein Verhältnis der und der qualitativen Faktoren zu sein – ist a damit als veränderlich gesetzt. »Veränderlichkeit« bedeutet dann ebendies: Die 3 ist eine von vielen möglichen Konkretisierungen des Verhältnisses von x zu y. Darin, wie unser a in diesem generischen Rahmen bestimmt ist, lag aber ebenso: In »3x pro 1y« ist im Bezug auf a selbst nicht irgendeine mögliche quantitative Besetzung genannt, sondern a’s interne Maßregel. Für a ist die 3 keine beliebige, sondern die maßgebliche Besetzung. Was aber kann das noch heißen? In welchem Sinn ist 3x pro 1y nicht beliebig für a? Dessen qualitative Natur war ja erst einmal selbst einfach durch »3x pro 1y« bestimmt. Zugleich drückt die Aussage »a ist 3x pro 1y« in diesem Zusammenhang keine bloße Ausdrucksersetzungsregel oder stipulative Definition aus, sondern dem Anspruch nach eine Sachbestimmung von a. Gesucht ist also die Hinsicht, die solche Aussagen nichttautologisch zu lesen erlaubt. Einen solchen nicht-tautologischen Sinn erhält das Festhalten am Maßcharakter der Proportion für a an dieser Stelle genau dann, wenn a in seinem realen Verhältnis zu anderem genommen wird. Das ihm zukommende Verhältnis fungiert dann nicht mehr nur als vergleichsweiser Unterschied, sondern auch und in erster Linie als maßgeblich dafür, wie sich a zu anderem verhält. Über dieses »Andere« lässt sich von den erreichten Befunden zu unserer Bestimmungsform auch schon etwas sagen: Das Andere, zu dem es als veränderlich sich verhalten kann, ist […] ein Quantum, das zugleich ebenso Exponent solchen specifischen Verhältnißes ist. Es sind zwey Dinge von verschiedenem inneren Maaße, die in Beziehung stehen, und in Verbindung treten (GW 21, 347). Wenn das interne Maßverhältnis von a nun maßgeblich für Veränderungen sein können muss, dann sind diese Veränderungen eben auch solche von Maßverhältnissen. So ergibt sich: Maßverhältnisse selber sind veränderlich – durch reales In-Beziehung-Treten von Instantiierungen verschiedener solcher Maßverhältnisse. Weshalb aber soll das Etwas nun seine spezifische Eigenart nicht in einem einzelnen solchen Verhältnis zu anderem Etwas haben, sondern erst in einer Reihe solcher Verhältnisse? Das Argument dafür liegt darin, dass es nach Voraussetzung zum Ansichbestimmtsein eines Etwas auf der gegebenen logischen Stufe gehört, eines unter mehreren generisch Gleichen zu sein, die sich voneinander in der bestimmten Besetzung desselben qualitativen Verhältnisses unterscheiden. Es sind also Angehörige solcher 5

Über Realisierungsmöglichkeiten in inhaltlich konkretisierten Fällen ist damit nichts behauptet.

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Reihen, die in Spezifikationsbeziehungen eintreten. Die einzelne Beziehung zu einem Element einer ihm gegenüberstehenden Reihe drückt dann das Spezifische des internen Maßverhältnisses von a nur in einseitig relativer Weise aus und erhält seinen vollständigen Ausdruck erst in der Beziehung auf alle Varianten der gegenüberstehenden Reihe. Was heißt es auf dem erreichten Stand, ein selbständiges Etwas zu sein? Selbständigkeit heißt hier nicht, durch nichts und niemanden in etwas anderes überführt werden zu können, sondern bezeichnet den Umstand, dass sich die als die eigene Natur der Sache vorausgesetzten internen Maßverhältnisse in realen Beziehungen zu anderen Sachen in ihrer spezifischen Weise im Resultat spezifizierend geltend machen. Die Besonderheit, das Eigene, soll seinen vollständigen Ausdruck erhalten in einer – selbst als vollständig anzunehmenden – Reihe von Maßverhältnissen, deren Pole Mengeneinheiten zweier in ihren Maßen aufeinander bezogenen Sachen bilden. Dieser neue Stand lässt sich wieder in einem Beispielschema vorstellig machen: a verbinde sich mit l oder mit m oder n zum Resultat 1z in den Verhältnissen 5a+2l, 3a+4m, 2a+1n. l, m, n, z gegeben, hat a seine eigentümliche Bestimmung dann in den Verhältniszahlen 5:2, 3:4, 2:1. Worin drückt sich dann die Eigenart eines Etwas aus? Darin, wieviel es von ihm braucht, um im Verein mit bestimmten gegebenen Quantitäten bestimmter anderer Etwas ein Etwas von eigenem internem Maß hervorzubringen. Es zeichnet sich ab, dass diese Bestimmungsform nicht darauf geeicht ist, direkt die Frage zu beantworten, was a ist. Antwortet man auf die Frage, was a sei, damit, in welchen Proportionen es sich mit l, m, n zu Varianten von z verbinde, hat man ein die Definition von a unterstellendes Definiens angegeben. Nichtsdestoweniger ist die Eigenart von a im Rahmen seiner unterstellten Reihe an dieser Stelle in der bestimmten quantitativen Besetzung von Verbindungsproportionen festgehalten. Dass es selbst darin nur relativ gefasst ist, wird sich im letzten Teil als Grund des Übergangs zum Wesen herausstellen.6 6

Man kann fragen, wie sich die bisher vorgestellte Argumentation zu den Einwänden verhält, die gegen Hegels Umgang mit der Bestimmungsform der »Verbindung« erhoben worden sind. Der zentrale Punkt ist dabei stets der Befund einer unzulässigen Vermischung des Logischen mit dem Realen. So etwa Ruschig: »Der Übergang zur Bestimmung des Maßes als Reihe von Maßverhältnissen, wiewohl von Hegel als logischer Übergang prätendiert, unterstellt einen realen Vorgang – das ›Vereinigen‹ […] – und ein Resultat dieses ›Vereinigens‹ – die ›Verbindung‹ […].« (Ruschig: Hegels Logik und die Chemie, S. 66) – Ist es so, dass Hegel hier ein reales Verhältnis an die Stelle eines logischen setzt? Dass die Verbindung zweier qualitativ bestimmter Etwas, um die es hier geht, eine reale ist, trifft gewiss zu. Es geht nicht nur darum, zwei Etwas miteinander zu vergleichen, sondern um eine Verbindung, die die beiden buchstäblich miteinander eingehen. Nur scheint mir das keine Einmischung von etwas anderem in die Theorie kategorialer Formen zu sein, sondern ein Schritt in deren Entwicklung. Das zeigt sich nach dem vorigen, wenn man fragt, was darin impliziert ist, dass etwas als durch ein internes Maßverhältnis Bestimmtes ein selbständiges Etwas ist, was also diese Bestimmungsform mit der Selbständigkeit des solcherart Bestimmten zu tun hat. Seine Selbständigkeit ist darin erst einmal verschwunden: Indem etwas nur durch die quantitative Besetzung eines Verhältnisses bestimmt ist, ist es qualitativ allen gleichgesetzt, die durch dasselbe Verhältnis bestimmt sind, und stellt sich insofern als eine qualitativ gleichgültige Variante von etwas, also erst einmal als unselbständig dar. Dass es darin gleichwohl das Attribut der Selbständigkeit verdient, kann nur gelten, wenn seine bestimmte quantitative Besetzung zugleich nicht gleichgültig, keine bloß quantitative Variation ist. Real mit anderen ins Verhältnis gesetzt

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I.2 Verbindungen zu qualitativ Neuem Zweytens sind die dadurch entstehenden directen Verhältniße, an sich bestimmte und ausschliessende Maaße, (Wahlverwandschaften); indem aber ihr Unterschied von einander zugleich nur quantitativ ist, so ist ein Fortgang von Verhältnißen vorhanden, der zum Theil bloß äusserlich quantitativ ist, aber auch durch qualitative Verhältniße unterbrochen wird, und eine Knotenlinie von specifischen Selbstständigen bildet. (GW 21, 346) Überlegen wir, was im Anschluss an den in I.1 erreichten Stand über das Resultat solcher wechselseitigen Spezifikationen zu sagen ist. Zweierlei lässt sich dann zeigen: Die Resultate werden zum einen ihrerseits durch Maßverhältnisse charakterisiert sein, »die an sich bestimmt und ausschließend« sind, und zum anderen wird das für sie Charakteristische zugleich nur quantitativer Art sein. Die erste Seite ergibt sich, wenn man bedenkt, dass, was für die gedachten Ausgangselemente einer Verbindung von Maßverhältnissen gilt, spiegelbildlich auch für deren Resultate gelten muss: Achtet man auf a hier und auf l, m, n da mit der Perspektive ihrer Verbindbarkeit zu z – sozusagen in der Generaloptik: ›Alles eine Frage der Proportion!‹ –, dann muss, damit aus den Regularitäten der Verbindbarkeiten für die Bestimmung von a (und von l, m, n) etwas erhellt, z seinerseits etwas anderes sein als bloß das jeweilige Aggregat von soundsoviel a + soundsoviel l usw. Dies Andere ist eine Einheit im Resultat, die ihrerseits qualitativer Art sein muss. z kann nicht nur die äußerliche Disjunktion zu seiner Definition haben, 5a+2l oder 3a+4m oder 2a+1n zu sein, sondern muss sich von den Elementen seiner Bildung als etwas Eigenes unterscheiden – in diesem Sinn: an sich bestimmt und ausschließend sein. Wenn die Proportionen von a:l, a:m, a:n wirklich spezifizierende Maßverhältnisse und in diesem Sinn ›sprechend‹, bestimmend für a sein sollen, dann muss auch der gemeinsame Bezugspunkt, das resultierende z, seinerseits etwas qualitativ Selbständiges sein. Und auf dem erreichten Stand heißt, an sich bestimmt und ausschließend sein, nach wie vor: sein eigenes Maß haben und dies im Verhalten zu anderen Dingen mit ihren Maßen geltend machen.7 zu sein, kommt dann ins Spiel als die Art und Weise, wie sich die qualitative Bedeutung jenes prima facie bloß quantitativen Unterschieds zeigt. 7 Es ist wiederum eine eigene, hier nur anzuzeigende Frage, wie sich der eben vorgestellte Schritt zu in bestimmten Gegenstandsbereichen konkretisierten Formen verhält, hier: zur Form der Wahlverwandtschaft, die die für Hegel zeitgenössische Chemie kennt. Dort wird mit »Wahlverwandtschaft« das Sonderverhältnis bezeichnet, in dem bestimmte Säuren und bestimmte Basen im Rahmen der allgemeineren Neutralisationsproportionen zueinander stehen, ein Sonderverhältnis, das sich darin geltend macht, dass eine bestimmte Säure ein schon bestehendes Neutralisationsprodukt aus ihrer »wahlverwandten« Base und einer anderen Säure aufzulösen vermag und sich an deren Statt mit jener Base verbindet – wie Ottilie die Ehe von Charlotte und Eduard in Goethes menschlichem »Wahlverwandtschafts«Laboratorium. (Vgl. Hegels Anmerkung unter C [GW 21, 354–363]; Pechmann: Die Kategorie des Maßes, S. 180–184; Durner: Theorien der Chemie, S. 15–24; Ruschig: Hegels Logik und die Chemie, S. 143–188) – Wofür die chemische Wahlverwandtschaft von Hegel als Beispiel herangezogen wird, ist das Moment des Qualitativen in Verhältnisreihen des Typs, wie sie oben im abstrakten Beispielschema

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Auf der anderen Seite gilt aber nach wie vor: z ist das Verbindungsprodukt von 5a+2l oder 3a+4m oder 2a+1n. Ob ein Produkt mit z’s spezifischen Eigenarten herauskommt oder ein anderes, ist – a, l, m, und n gegeben – tatsächlich nur eine quantitative Frage, eine Frage der Proportion. Wir erhalten so in der Tat als eigene Form des Bestimmtseins von Etwas: ein qualitatives Ansichbestimmtsein, das seine eigenen Maßbestimmungen mit sich führt und das zugleich auf quantitativen Verhältnissen der Faktoren seiner Bildung beruht. Nach dieser zweiten, seiner Entstehungsseite genommen, ist es von anderen seinesgleichen nur durch die Reihe der bestimmten Zahlenwerte der qualitativ gleich besetzten Proportionen unterschieden, während es nach der ersten Seite als selbständiges Ding mit seinem eigenen qualitativen Kopf und seinen eigenen Verhältnissen des Spezifizierens und Spezifiziertwerdens gefasst ist. Der Fortschritt, den Hegel durch die Betrachtung des Resultats im Unterschied zu der von Ausgangselementen erhält, lässt sich so fassen: Auf beiden Seiten wiederholt sich, zunächst, das Doppelseitige einer Bestimmungsform in Termini des Maßes: ein Etwas, das einerseits seine eigenen Maßverhältnisse hat und andererseits durch Verhältnisse von Maßverhältnissen – durch seine Verhältnisse zu anderem – bestimmt ist. Über die Wiederholung hinaus hat sich mit dem Blick auf das Resultat ergeben: Die Maßverhältnisse, die Etwas an sich hat, sind ihrerseits als Resultat von Spezifikationen, wechselseitigen Modifikationen vorausgesetzter Maße festgehalten. Was im Ausgangspunkt des Verhältnisses selbständiger Maße als unmittelbare Voraussetzung fungierte, tritt hier als selbst durch Spezifikation Vermitteltes auf.

I.3 Der Schluss auf das Zugrundeliegende oder das Substrat Setzen wir noch einmal bei der logischen Form des Terminus ad quem der Verbindung selbständiger Maßverhältnisse ein. Von diesem Resultat gelten nach dem vorigen nebeneinander zwei Ansichten: Erstens: Es ist etwas qualitativ Eigenes, und zweitens: Wie und was es ist – das ist auch wiederum nichts anderes als eine Angelegenheit der bestimmten Proportion, in der sich zwei ihrerseits qualitativ Eigene miteinander verbinden. z ist ›doch nur‹ das qualitative Äquivalent zur Proportion 5:2 für a und l. Wo von etwas diese beiden Ansichten gleichberechtigt nebeneinander gelten, muss es etwas Zugrundeliegendes geben, das weder mit a noch mit l noch mit z zusammenfällt und das den relativen wie den internen Maßverhältnissen aller drei zugrunde liegt. ›Irgendwie‹ sind 5a und 2l das gleiche wie 1z – aber nicht: dasselbe a oder dasselbe l oder dasselbe z. Anders ausgedrückt: Gesondert in 5 Portionen a und 2 Portionen l da »(5a+2l) / (3a+4m) / (2a+1n)« vorgestellt wurden: dass, was sich zunächst rein als austauschbar gemäß bestimmten Proportionen, als Frage der rechten Menge, darstellt – (5a+2l) ist gleich (3a+4m) –, zugleich Züge der Nichtaustauschbarkeit durch Vorzugs- und Nachrangigkeitsbeziehungen zeigt. Dieser Gedanke fällt mit dem oben vorgestellten Schritt nicht zusammen, und es wird im Folgenden auch nicht der Versuch unternommen, ihn abzuleiten. Was die folgende Schlussreihe zeigen soll, ist vielmehr, dass die entscheidenden allgemeinen Schritte einander auch dann folgen, wenn diese besondere Wendung nicht einbezogen wird.

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zu sein und ungetrennt in einer Portion z da zu sein, sind offenbar zwei Formen, zwei Weisen, da zu sein – dann aber für etwas, was in diesen beiden Weisen da ist, ohne mit nur einer von beiden Weisen gegen die andere identisch zu sein: Das quantitative Hinausweisen über sich zu einem Andern, als anderem Quantitativen geht unter in dem Hervortreten eines Verhältnißmaaßes, einer Qualität, und das qualitative Uebergehen hebt sich eben darin auf, daß die neue Qualität selbst nur ein quantitatives Verhältniß ist. Diß Uebergehen des Qualitativen und des Quantitativen in einander geht auf dem Boden ihrer Einheit vor, und der Sinn dieses Processes ist nur das Daseyn, das Zeigen oder Setzen, daß demselben ein solches Substrat zu Grunde liegt, welches ihre Einheit sey. (GW 21, 371) Die zugehörige zweite Seite zu diesem Identischen, das Maßverhältnissen zwischen qualitativ Unterschiedenen zugrunde liegt, ist dann die Herabstufung des zuvor als qualitativ eigenständig Geführten und seiner Qualitäten zu Zuständen, zu Modi von etwas: Die »gegeneinander gleichgültige[n] Totalitäten fürsichseyenden Daseyns« sind nun »nur als Knoten eines und desselben Substrats bestimmt. Damit sind die Maaße und die damit gesetzten Selbstständigkeiten zu Zuständen herabgesetzt. Die Veränderung ist nur Aenderung eines Zustandes und das Uebergehende ist als darin dasselbe bleibend gesetzt.« (GW 21, 371) Wie sich dieses Bestimmungsverhältnis von Substrat und Modus noch in Termini des Maßes zum »Werden des Wesens« mausert, wird nun unser Thema.

II. Das Werden des Wesens Das dritte Kapitel des Maßabschnittes gliedert sich in die drei Unterkapitel »A. Die absolute Indifferenz«, »B. Die Indifferenz als umgekehrtes Verhältnis ihrer Faktoren« und »C. Übergang in das Wesen«. Der erste Bestimmungsschritt (A) fasst die Richtungsanzeige auf das oder ein »Substrat«, die sich im vorigen ergeben hatte, im Ausgangspunkt negativ. In dieser negativen Fassung verdient das sich abzeichnende Substrat die Charakterisierung »Indifferenz«, der Gleichgültigkeit gegen quantitatives, qualitatives und maßförmiges Bestimmen und Bestimmtsein. Den Zielpunkt dieses Bestimmungsschritts bildet hingegen die These, dass just das Vergleichgültigte für das Substrat selbst nicht schlechthin gleichgültig sein kann. Der zweite Bestimmungsschritt (B) verfolgt die Konsequenzen für die unterstellten beteiligten Qualitäten, deren quantitatives Verhältnis und die begrifflichen ›Rückkopplungseffekte‹ zwischen ihrem quantitativen und ihrem qualitativen Verhältnis. Die Eingangsbestimmung heißt: Als interner Charakter des Verhältnisses von Qualitäten ist die Indifferenz zunächst einmal als quantitativ umgekehrtes Verhältnis zweier qualitativer Faktoren zu fassen. Die Zielbestimmung hingegen lautet: Denkt man nur das quantitative Verhältnis als ein umgekehrtes und hält die Faktoren selbst ihrer Qualität nach als gegeneinander selbständige fest, ergibt sich ein Widerspruch – der im dritten großen Schritt (C) seine Auflösung in einer Einheit finden soll, »welche die nicht mehr nur indifferente, sondern die in ihr selbst immanent ne-

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gative absolute Einheit zum Resultate und Wahrheit hat, welche das Wesen ist.« (GW 21, 377) Wieder lässt sich der begreifende Nachvollzug an drei entsprechenden Leitfragen orientieren: 1. Weshalb verdient es die sich abzeichnende zugrundeliegende Einheit einerseits, an dieser Stelle im Ableitungsgang »Indifferenz« und sogar »absolute Indifferenz«8 genannt zu werden – und was unterscheidet sie dann noch und doch vom Nirwana der reinen, der unbestimmten Unmittelbarkeit? 2. Warum rückt nun umgekehrte Proportionalität qualitativer Faktoren in den Blick – und worin besteht und wie ergibt sich der von Hegel diagnostizierte Widerspruch darin? 3. Wie löst sich dieser Widerspruch und welches Licht fällt von dieser Auflösung auf den Begriff des Wesens?

II.1 Zur Indifferenz innerhalb der Kategorie des Maßes Fragt man auf dem zuvor erreichten Stand, von welchem kategorialen Typ das jenen quantitativ-qualitativen Bestimmungsformen Zugrundeliegende sei, so fällt die Antwort fürs erste negativ aus: Es selbst ist offenbar nicht vom Typ eines selbständig bestimmten Etwas, das seine qualitative Natur bestimmten Maßverhältnissen qualitativer Faktoren verdankt und diese seine Natur in realen Beziehungen mit ebensolchen anderen Etwas geltend macht; denn auf dem gegebenen Stand sind solche selbständigen Etwas herabgestuft zu Modi von etwas, um dessen Natur es nun gerade geht. Es scheint sich aber auch nicht um eines der Momente zu handeln, die in die kategoriale Fassung des bestimmten Etwas auf dem erreichten Stand eingehen: nicht um eine bestimmte Qualität oder Quantität, auch nicht um ein bestimmtes Maß – ist das Zugrundeliegende doch als dasjenige eingeführt, was bleibt, wenn Qualitäten und Quantitäten und qualitätsbegrenzende Maßverhältnisse wechseln. So scheint es vorderhand weder Bestimmung noch Bestimmtes zu sein – das rein Bestimmungsindifferente. Allerdings säßen wir einer hypostasierenden Täuschung auf, wenn wir es so fassen wollten. Das Zugrundeliegende so zu fassen, fiele ja damit in eins, die selbständig bestimmten Etwas, die Qualitäten, die Quantitäten und die Maßverhältnisse ungerührt auf die eine Seite einer Einteilung zu stellen, das Zugrundeliegende auf die andere – und darin hätten wir vergessen, dass sich das Maßverhältnis selber in die Doppelansicht wesentlich zusammengehöriger qualitativer Selbständigkeit und quantitativer Unselbständigkeit auseinandergelegt hat. Das Zugrundeliegende kann also nicht etwas sein, was dagegen gleichgültig in ein anderes Denk-Fach abgelegt werden könnte. Als dasjenige, wovon das Zugrundeliegende frei, was es nicht ist, wären die vorigen Bestimmungsformen ja einfach in ihren Ausgangsfassungen prolongiert. Die Termini »Indiffe8 Zum darin angedeuteten Bezug zu Schelling siehe Pechmann: Die Kategorie des Maßes, S. 234, Fn. 2.

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renz« und »Substrat« oder »Zugrundeliegendes« legen dieses Abtrennungsverständnis nahe – aber es bliebe ein Missverständnis, wollte man sie im Sinn dieser Trennung verstehen. Daraus ergibt sich eine einfache Folgerung: Die Einheit im Unterschied selbständiger Maße – qualitativer Unterschiede, die sich als Funktionen quantitativer, umgekehrt: quantitativer Unterschiede, die sich als qualitativ ›geladen‹ zeigen – muss auch die Einheit dieses Unterschieds sein. Und wenn die Einheit auf dem gegebenen Stand Indifferenz, Gleichgültigkeit, gegenüber den Bestimmungen dieses Unterschieds enthält, so wird sich auch dies an der Art und Weise des Unterschiedenseins zeigen. Von dieser Überlegung motiviert, wendet sich der nächste Bestimmungsschritt zurück zu den Unterschieden und Unterschiedenen, um deren Einheit es geht – nun aber mit neuer Akzentuierung: Wir wissen nun, dass auf beiden Seiten qualitativ-quantitativer Unterschiede in einer Weise dasselbe steht. Was für ein Typ von Einheit, Unterschied und Verhältnis von Qualität und Quantität ist das dann?

II.2 Zur umgekehrten Proportionalität qualitativer Faktoren Im Ausgangspunkt haben wir hier zunächst die folgende Bestimmungskonstellation vor uns: Zwei als qualitativ bestimmte selbständige Etwas – nennen wir sie a und b – gelten zugleich in ihren unterscheidenden Eigenarten als Funktionen eines quantitativen Unterschieds unterstellter qualitativer Faktoren – nennen wir diese wieder x und y. Was nun hinzukommt, ist die Rückreflexion des Befundes, dass auf jeder der beiden Seiten a und b dasselbe steht, auf die quantitativen und die qualitativen Unterscheidungen, die diese Konstellation aufbauen. Was heißt es für die quantitative Unterscheidung? (Mit ihr beginnt Hegel an dieser Stelle, weil der Unterschied zwischen a und b nun eben als einer gefasst ist, in dem ein von ihm unberührt Identisches sich kontinuiert [vgl. GW 21, 374].) Quantitativ genommen bedeutet die Wiederkehr desselben in einer quantitativen Unterscheidung die Annahme eines Gesamtquantums, das nicht nur Resultat seiner Summanden, sondern auch deren absolute Voraussetzung und Grenze darstellt: ein Ganzes, das selbst unveränderlich den Teilungsverhältnissen seiner Teilquanta zugrunde liegt. Dieser Schritt lässt das Verhältnis von x und y als ein »umgekehrtes« bestimmt sein: Das Gesamtquantum als Voraussetzung fixiert, ist, x gegeben, y als Differenz, als das negative Komplement von x bestimmt. Für die qualitative Unterscheidung heißt die Aufnahme des Identitätsbefundes: In a und b kehren jeweils x und y wieder, und zwar so, dass die eine, die a-Seite, durch das Überwiegen von x über y, die andere, die b-Seite, durch das Überwiegen von y über x bestimmt ist. Nun ist Hegels These, dass dieses ganze Bestimmungsverhältnis einen Widerspruch enthält. Einfach zusammengefasst, soll er darin bestehen, dass x und y, die nach dieser Ansicht im umgekehrten Verhältnis zueinander stehen, nach ebendieser Ansicht zugleich im direkten Verhältnis zueinander stehen müssten. Worin liegt das Argument für diese These? Es liegt darin, dass x und y in dieser Ansicht qualitativ als wesentlich mit-

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einander verbunden zu denken sind – also nicht nach Art zweier selbständiger Dinge oder Maße, die sich, wenn sie in reale Beziehung kommen, miteinander in spezifischer Weise zu einem qualitativ neuen selbständigen Ding verbinden, sondern als wesentlich gegeneinander unselbständige qualitative Faktoren. Der Zusammenhang zwischen x und y ist in dieser Ansicht nach dieser Seite genommen nicht mehr nur einer der Möglichkeit von Verbindung, sondern einer des An-sich-Verbundenseins. Nun sind beide als des quantitativen Unterschieds, des Mehr und Minder, fähig gedacht. Wie ist – einfach im bisher entwickelten Bestimmungsrahmen – so ein An-sich-Verbundensein quantitativ auszumünzen? Ebendarin, dass die Zu- oder Abnahme des einen Faktors auch die entsprechende des anderen bedeutet. Wenn x nur sein kann, indem auch y ist, dann kann von x doch auch nicht mehr vorhanden sein als von y – jenes Mehr von x wäre der durch den wesentlichen Zusammenhang beider nicht mehr gedeckte Überschuss, ein Sein von x, das selbständig gegenüber y wäre: Darum nun aber, weil ihre Quantitativität schlechthin von dieser qualitativen Natur ist, reicht jede nur so weit, als die andere. Insofern sie als Quanta verschieden seyn sollten, ginge die eine über die andere hinaus und hätte in ihrem Mehr ein gleichgültiges Daseyn, welches die andere nicht hätte. Aber in ihrer qualitativen Beziehung ist jede nur insofern die andere ist. (GW 21, 376) Keine Lösung wäre es, dieses Ergebnis der direkten Kovarianz nun gegen die Annahme des umgekehrten Verhältnisses ausspielen zu wollen: »in dieser Gleichheit beyder aber ist keines vorhanden, denn ihr Daseyn sollte nur auf der Ungleichheit ihres Quantums beruhen« (GW 21, 377). Worin x und y im gegebenen Rahmen wesentlich verbunden sind, ist ja nicht zuletzt ihre Rolle im ganzen Bestimmungsverhältnis; und darin sind sie eingeführt als Faktoren, deren quantitative Ungleichverteilung qualitative Differenzen erklären soll.

II.3 Zur Auflösung des Widerspruchs Wo genau liegt der Grund für diesen Widerspruch, im selben Zusammenhang von denselben x und y einander ausschließende Verhältnisse aussagen zu müssen? – Er liegt in der folgenden, beiden Seiten des Widerspruchs gemeinsamen Voraussetzung: ›Wenn sich zwei qualitativ Unterschiedene zugleich als identisch zeigen, dann sind die zwei entweder in Wahrheit qualitativ identisch, und ihr Unterschied ist dann dementsprechend nur quantitativer Art, oder sie sind in Wahrheit qualitativ unterschieden, und dementsprechend kann ihre Identität dann nur quantitativer Art sein.‹ Das erste Glied dieser ausschließend gedachten Alternative begegnete uns in der Art und Weise, wie a und b bestimmt waren: Was sich einerseits als robuster qualitativer Unterschied ausnimmt, zeigt sich andererseits, tiefer gesehen, als Wiederkehr ein und desselben; ebendarum ist der Unterschied selber nicht noch einmal als qualitativer, sondern als quantitativer zu fassen (hier nämlich: als Ungleichverteilung zugrunde liegender qualitativer Faktoren innerhalb eines quantitativ fixen Rahmens).

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Das zweite Glied dieser Alternative kam vor in der Art und Weise, wie x und y bestimmt waren: Qualitativ waren sie bis zuletzt als einfach unterschieden festgehalten – das eine, was das eine, das andere, was das andere ist –, und der wesentliche Zusammenhang ihrer: dies, dass sie »irgendwie« oder »irgendworin« auch identisch sind, verlagerte sich in der letzten Überlegung zügig ins Quantitative: die Identität solcher, die zugleich als qualitativ unterschieden fixiert bleiben sollen, kann nur die quantitative Identität, also die Gleichheit sein. Was sich am skizzierten Widerspruch zeigt, ist dann der Befund, dass dieses Verlagerungswesen – die Delegation des Unterschieds respektive der Identität aus dem qualitativen ins quantitative Feld – nicht das letzte Wort, nicht die abschließend gültige Antwort auf die Frage sein kann, was es heißt, etwas Bestimmtes zu sein. Positiv formuliert, lautet das Ergebnis dann: Die Identität qualitativ Unterschiedener wie der Unterschied qualitativ schon als identisch Gesetzter verweist zurück auf einen inhaltlichen Zusammenhang der beteiligten Bestimmungsgründe (hier: unserer Faktoren x und y, mittelbar der Ausgangsdinge a und b). Die Identität Unterschiedener macht offenbar nicht halt vor der Definition oder der qualitativen Natur von etwas. Die Beziehung auf anderes zeigt sich, weder nur das qualitative Anderssein noch nur das Eingebundensein in eine gemeinsame quantitative Regel, ein Maß also, zu sein. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wo sich zwei qualitativ Bestimmte als in ein gemeinsames Maß eingebundene Faktoren zeigen, da ist auch anzunehmen, dass sie in dem, was sie selber sind, aufeinander verweisen – eines das andere in seiner eigenen einfachen, allgemeinen Definition, seinem Was-Sein, im Schilde führt.

III. Vom Maß zum Wesen – und ein kurzes Fazit Dass diese Überlegung nicht mehr zu einem neuen Stand innerhalb der Entwicklung der Kategorie des Maßes führt, sondern über sie hinaus, liegt schon im Gesagten: Für alle Bestimmungsformen, die Varianten, Fortbestimmungen der Kategorie des Maßes sind, gilt unisono die Einheit von Qualität und Quantität auf unmittelbare Weise. Lassen wir dazu die Varianten innerhalb des realen Maßes noch einmal in abgekürzter Weise Revue passieren: Am relativen Ausgangspunkt lautete die Antwort auf die Frage, was es heißt, ein bestimmtes Etwas zu sein: ›Ein bestimmtes Etwas zu sein, heißt, zugrundeliegende Bestimmungsfaktoren in einer bestimmten Proportion zu realisieren oder an sich zu haben.‹ Im nächsten Schritt bereicherte und veräußerlichte sich die Antwort auf diese Frage: ›Ein bestimmtes Etwas zu sein, heißt, aufgrund intern unterstellter Maßverhältnisse in quantitativ geordnete Verbindungen mit anderen bestimmten Etwas von kommensurablem Typ eingehen zu können.‹ Im letzten Schritt innerhalb der vorgestellten Rekonstruktion lautete die Antwort: ›Ein bestimmtes Etwas zu sein, heißt, ein Modus, eine Variante von etwas zu sein, das durch die quantitative Ungleichverteilung unterstellter qualitativer Faktoren in einem festen Rahmen bei eigener Konstanz Variation zulässt.‹

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In all diesen Varianten des Maßes blieben die elementaren Bestimmungseinheiten Verhältnisse von Qualität und Quantität. Worauf die Entwicklung solcher Verhältnisse verweist, ist aber selbst kein solches Verhältnis von Qualität und Quantität mehr, das dann wiederum als einfaches Bestimmungselement in einen reicheren Bestimmungszusammenhang eingesetzt werden könnte. Es ist vielmehr das Desiderat, den Grund solcher Verhältnisse in der Natur der beteiligten Faktoren zu eruieren. Der Grund für dieses Desiderat liegt, wie gezeigt werden sollte, tatsächlich einfach in der verhältnisweisen Bestimmungsform des Maßes. In ihr sind Korrelationen quantitativer und qualitativer Bestimmungen fixiert – qualitative Eigenart und qualitative Veränderung werden gefasst als Funktionen quantitativer Verhältnisse und quantitativer Veränderungen (freilich nicht reiner, sondern solcher von ihrerseits qualitativen Faktoren). Was die Bestimmungsform des Maßes selbst nicht leistet, ist die inhaltliche Beziehung zwischen dem qualitativen und dem quantitativen Bestimmungsregister, deren unmittelbares Bezogensein sie ist und entwickelt. In diesem Licht lässt sich dann auch die Schlusspassage des Maßabschnitts, mit der zugleich die ganze Seinslogik schließt, verstehen. Sie lautet: Damit ist das Seyn überhaupt und das Seyn oder die Unmittelbarkeit der unterschiedenen Bestimmtheiten ebenso sehr als das Ansichseyn verschwunden, und die Einheit ist Seyn, unmittelbare vorausgesetzte Totalität, so daß sie diese einfache Beziehung auf sich nur ist, vermittelt durch das Aufheben dieser Voraussetzung, und diß Vorausgesetztseyn und unmittelbare Seyn selbst nur ein Moment ihres Abstossens ist, die ursprüngliche Selbstständigkeit und Identität mit sich nur ist, als das resultirende, unendliche Zusammengehen mit sich; – so ist das Seyn zum Wesen bestimmt, das Seyn, als durch Aufheben des Seyns einfaches Seyn mit sich. (GW 21, 382 f.) Wir kamen her von Bestimmungskonstellationen, in denen die Behauptung der einfachen Identität von etwas immer auch neben seine Bestimmung in qualitativen, quantitativen und Maßverhältnissen zu stehen kam. Was nun »verschwunden« ist, ist nicht die eine dieser beiden Seiten auf Kosten der anderen, sondern das unvermittelte Nebeneinander beider Seiten. Wie die jeweils in Rede stehende Sache in solchen an ihr schon eruierten Bestimmungen eine, eins mit sich ist, das ist die Frage des Wesens – die darin die seinslogischen Bestimmungen ebenso sehr voraussetzt wie nicht als bloße Voraussetzungen bestehen lässt. Beziehen wir den hier vorgeschlagenen Gang noch einmal auf die Frage zurück, ob denn die Logik des Maßes wirklich aus sich, auf dem Abstraktionsniveau einer Theorie der Kategorien oder Bestimmungsformen, fortschreiten und auf diesem Weg den allgemeinen wesenslogischen Typ von Bestimmung erreichen kann: Wenn die vorgestellten Schritte triftig gewesen sind, so lässt sich diese Frage bejahen. Die Bestimmungsform des Wesens hat dann zugleich ein erstes Profil erhalten, in dem sich abzeichnet, wohin die logische Reise nun gehen wird: Nach dem Ausgang der Seinslogik wird es in den nächsten Etappen um den Unterschied und die Beziehung zwischen qualitativ, quantitativ und relational charakterisierenden Ausgangsansichten auf der einen Seite und Formen ihrer Rückführung auf Erklärungsgründe auf der anderen Seite zu tun sein.

S UJETS

DER

L OGIK – W ESENSLOGIK

Grund und Begründung Die normative Funktion des Unterschieds in Hegels Wesenslogik Claudia Wirsing

I. Einführung in die Logik des Wesens Zu Anfang sollen einige grundlegende Bestimmungen dessen, was das Gebiet der Logik des Wesens ausmacht, benannt werden, um den Raum des Übergangs zwischen der Logik des Seins und der Logik des Wesens zu umreißen. Dabei kommt es darauf an, jenseits der Vielfalt möglicher intratextueller und intertextueller Beziehungen, den Blick scharf auf einige wenige tragende Pfeiler der gedanklichen Architektur der Wesenslogik zu richten: Was ist es, dass den selbst wesentlichen Unterschied zwischen der Seins- und der Wesenslogik ausmacht? (eine Frage, die bereits verlangt, wesentlich denken zu können!) In welcher Weise ist das Wesen der Weg »des Hinausgehens über das Seyn« bzw. »des Hineingehens in dasselbe« (GW 11, 241), sodass in ihm »das Seyn […] nicht verschwunden« (GW 20, 143 [§ 112]), sondern vielmehr mit sich selbst vermittelt ist? Vielleicht ist es hilfreich, mit der lapidarsten Bemerkung zu diesem Unterschied zu beginnen. Sie findet sich in einem Zusatz am Ende der Seinslogik in der Enzyklopädie, und dort heißt es: »Im Sein ist alles unvermittelt, im Wesen dagegen ist alles relativ.« (TWA 8, 230 [§ 111, Z]) Dieser einfache Unterschied von Vermittlungslosigkeit und Vermittlung, demzufolge Kategorien in der Form des Wesentlichen wesentlich ›vermittelt‹ sind, reicht natürlich nicht aus, wenn nicht genauer bestimmt ist, was hier ›Vermittlung‹ im Besonderen heißt. Schließlich war das Übergehen der Kategorien ineinander und damit eine Art von Vermittlung auch die tragende Methode, um den Fortgang in der Seinslogik zu gewährleisten. Folglich kann Vermittlung in dieser begrifflichen Unschärfe nicht Alleinstellungsmerkmal der Wesenslogik sein. Die einfache Zuschreibung von Vermittlung oder Vermittlungslosigkeit an die Kategorien genügt nicht, um Sein und Wesen zu unterscheiden, wenn dafür diese Zuschreibungen (von Vermittlung und Vermittlungslosigkeit) nicht in neuer Weise vorgenommen werden. Die Wesenslogik ist deshalb von dem Gedanken getragen, dass die Bestimmung von Etwas als »wesentlich« eine andere Begriffsarchitektur, genauer eine andere semantische Infrastruktur eben dieser Bestimmungen voraussetzt, als die Bestimmungen des Seins. Die traditionelle Metaphysik unterscheidet das Wesen dadurch vom Sein, dass es als etwas »hinter diesem Seyn« (GW 11, 241) Liegendes begriffen sowie im Unterschied von ›wesentlich‹ und ›unwesentlich‹ vom Sein unterschieden wird. Hegel kritisiert gleich zu Beginn diese Abstraktion des Wesens als Rückfall in die Sphäre seinslogischen Den-

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kens, aus dem es sich doch erhoben meinte.1 Denn wo das Wesen so gedacht wird, dass es als »Negation der Sphäre des Seyns« (GW 11, 245) das Produkt einer äußerlichen Reflexion ist und dem Sein gegenübersteht, fällt es in das »reine Seyn« (GW 11, 241) des Anfangs zurück: Wesen ist dann das, was übrigbleibt, wenn alles bestimmte Sein hinweggedacht ist, und damit nur Schellings Absolutes als unbestimmter, leerer Inbegriff von Allem übrig bleibt.2 Zwei Forderungen leiten sich aus dieser Kritik des traditionellen Wesensbegriffes an einen ›verbesserten‹ Begriff des Wesens ab. Zum einen muss das Wesen aus sich selbst entwicklungsfähig sein. Als »Absolutes« darf es nicht durch eine ihm äußerliche Reflexion als »Product, ein gemachtes« (GW 11, 242) erscheinen, sondern muss das, was es ist, durch sich selbst sein. Zum anderen darf dem Wesen das Bestimmtsein überhaupt nicht verlorengehen, sondern muss ihm vielmehr in einer anderen Form als dem Sein, nämlich als Selbstbestimmung, zukommen. Der Ausdruck für die neue Gesamtformation des Wesens, welche diese Forderungen zusammenbringt, ist »Anundfürsichsein«, das Hegel als »absolutes Ansichseyn« (GW 11, 242) begreift. Was aber ist ein absolutes Ansichsein? Gerade an dieser Bestimmung zeigt sich, wie in der Logik des Wesens die basalen Strukturentscheidungen der Seinslogik völlig reformuliert werden: Der seinslogisch abstrakte Gegensatz von Ansichsein und Sein-für-Anderes wird wesenslogisch in ein integratives absolutes Ansichsein transformiert. »Absolutes Ansichsein« wäre seinslogisch gedacht ein nicht prozessierbarer Widerspruch in sich. »Ansichsein« meint dort nämlich die in sich bestimmungslose Einheit einer Bestimmung, ihre Unmittelbarkeit und Sichselbstgleichheit im Gegensatz zum »Für-Anderes-Sein«. »Für-Anderes-Sein« meint die äußerliche Beziehung der unmittelbaren Bestimmungen zu anderen unmittelbaren Bestimmungen, wodurch sie überhaupt erst bestimmt werden (omnis determinatio est negatio). Würde im abstrakten seinslogischen Gegensatz von Ansichsein und Für-Anderes-Sein das letztere wegfallen, weil das Ansichsein »absolut« gesetzt wäre, dann bliebe nur die bloße, bestimmungslose und verabsolutierte Unmittelbarkeit des Ansichseins selbst übrig. Diese aber kann hier im Wesen, wie die Kritik an Schellings Indifferenzmetaphysik gezeigt hat, gerade nicht gemeint sein. Folglich muss »absolutes Ansichsein« eine fundamentale Veränderung in sich bergen, um den Abstraktionen der seinslogischen Form zu entkommen. Diese Veränderung nun besteht in der Integration des Für-Anderes-Sein in das Ansich-sein. Das Ansichsein des Wesens ist dort absolut, wo ihm die Negativität als Beziehung auf Unterschiedenes und damit die Bestimmtheit selbst nicht mehr als äußer1 Grundlegend zur Wesenslogik und ihrem Programm ist immer noch die ausführliche Studie von Iber, Christian: Metaphysik absoluter Relationalität. Eine Studie zu den beiden ersten Kapiteln von Hegels Wesenslogik. Berlin, New York 1990, S. 58–68. Die wichtige Literatur zur Wesenslogik verzeichnet der Band: G.W.F. Hegel. Wissenschaft der Logik. Hg. v. Anton Friedrich Koch und Friedrike Schick. Berlin 2002 (=Klassiker Auslegen, Bd. 27); vgl. darin v. a. Schmidt, Thomas M.: Die Logik der Reflexion. Der Schein und die Wesenheiten, S. 99–117 sowie der von Michael Quante herausgegebene Kommentar zur Wissenschaft der Logik (Hamburg, in Vorbereitung); vgl. darin v. a. Dina Emundts, Dietmar Heidemann und Michael Quante. 2 Vgl. Iber: Metaphysik absoluter Relationalität, S. 32–36.

Grund und Begründung

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liche Beziehung zukommt. Vielmehr wird sie als »Vertiefen des Seyns in sich selbst« (GW 20, 174 f.) zum Moment der unmittelbaren Einheit. Damit wird das Wesen zu einer autonomen logischen Struktur, deren Einheit gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass sie einzig als Zusammenhang innerer Unterschiede, d. h. als »absolute Negativität« (GW 11, 245) funktioniert. »Absolute Negativität« zeigt sich darin, wie Unterschiedensein wesentlich für das Wesen wird, und darin, wie diese Negativität wiederum im Selbstbezug als sich negierende Negativität zur Form der Einheit des Wesens gerinnt. Daraus folgt vor allem, dass die Selbstbeschreibung der Kategorien der Wesenslogik, d. h. das im Zusammenhang ihrer Bestimmungen codierte Selbstverständnis, entscheidend erweitert wird. Mindestens zwei Ebenen – natürlich als Momente eines Zusammenhangs – lassen sich von nun an in jeder Unterschiedsbeziehung von kategorialen Bestimmungen markieren: 1. Der seinslogische Gegensatz von Selbstidentität und Bezogensein auf Anderes bleibt bestehen, und zwar dort, wo die Beziehung auf Anderes wesenslogisch stets das Bezogensein auf das eigene Nichtsein, den Schein, meint: Positives ist Positives, weil es nicht Negatives ist. Erst in der Logik des Begriffs ist hier die Einheit erreicht, welche »das Zusammengehen Seiner im Andern mit Sich selbst« (GW 20, 176) und damit das freie Insichsein bildet. 2. Zugleich jedoch bedeutet die Integration der Negativität in das Ansichsein, dass jeder Unterschied von nun an in der Metaperspektive der Subjektivität3 reformuliert bzw. um diese Codierungsebene erweitert wird. Die Form des Unterscheidens von Bestimmungen im Wesen ist die des reflexiven Selbstbezuges des Sich-von-sich-Unterscheidens des Wesens, oder der »absolute Unterschied« (GW 11, 262). Der Bezug jeder Bestimmung auf eine andere ist als Bezug auf ihr Anderes in der Form des eigenen Nichtseins immer zugleich der Unterschied, den die Bestimmung als Selbstbeschreibung an sich selbst – und nicht wie in der Seinslogik als äußerliche Reflexion sich gegenüber – hat. Eben darin liegt die Identität des Wesens als innere Beziehung auf sich: nämlich in einer Folge von Selbstunterscheidungen sich auf sich permanent zu beziehen. Das macht die »Reflexionsdialektik« des Wesens aus: In ihr gehen nicht mehr, wie noch im Sein, Kategorien durch eine äußerliche Reflexion auf ihre dialektische Verknüpfung in andere Kategorien über. Sondern in ihrem eigenen Bedeutungsgehalt ist die Reflexionsbeziehung auf ihr Entgegengesetztes integriert, sodass beide stets gleichursprünglich gesetzt sind und sich damit wechselseitig voraussetzen. Dergestalt ist das Wesen die »Wahrheit des Seyns« (GW 21, 241): Denn erst mit dieser subjektförmigen Ebene der Selbstbeschreibung geht das, was seinslogisch die Bestimmungen ausgemacht hat, ihnen aber als Wissen äußerlich blieb, auch in ihren Begriff ein. Das »Bewußtseyn über die Form der innern Selbstbewegung ihres Inhalts« (GW 21, 37) als »Sichwissen« (GW 21, 16) wird damit in den Beziehungen, die in 3 Subjektivität muss hier im Raum der Logik streng und emphatisch »antisubjektivistisch und antipsychologisch« (Iber: Metaphysik absoluter Relationalität, S. 134) verstanden werden. Sowohl im Zusammenhang des Selbstverhältnisses kategorialer Beziehungen in ihrer Relation auf ihr Nichtsein als Anderes als auch in Bezug auf den Begriff der »Reflexion« überhaupt als Grundstruktur wesenslogischer Beziehungen ist primär ein rein logisches Strukturmuster von Subjektivität – und keine Art von Selbstbewusstsein in Form eines Ich – gemeint.

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die Bestimmungen eingehen, zur Beschreibung der Bestimmungen von sich selbst. Die Wesenslogik denkt also den generativen Charakter der Beziehungen zwischen den Kategorien als Raum ihres Bestimmtseins in die Selbstbeschreibung der Kategorien hinein. Den Wesensbestimmungen ist es immanent, sich wechselseitig in sich selbst durch sich selbst aktiv hervorzubringen, und nicht nur wie im Sein passiv und äußerlich ineinander überführt zu werden. Damit wird ein Begriff des Wesens als autogenerative autonome Struktur gewonnen, die den logischen Zusammenhang folgerichtig als Format von Subjektivität weiterentwickelt. Strukturelle Subjektivität als Format des Logischen, auch wenn sie sich erst in der »Subjektiven Logik« des Begriffs voll und damit eigentlich ausbildet, indem sie in sich selbst zurückfindet, ist bereits für die Logik des Wesens von elementarer Bedeutung.

II. Die Logik der Reflexionsbestimmungen: Identität, Unterschied, Widerspruch Die im Vergleich zu anderen Teilen der Logik größere Bedeutung, die der Wesenslogik seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts in der Forschung zugewachsen ist, hängt sicher zu einem beträchtlichen Teil mit der Frage nach dem ersten Kapitel zusammen, d. h. mit der Frage nach seiner Stellung und Funktion innerhalb der Wesenslogik wie der Logik im Ganzen. Z. B. ist dabei gefragt worden, warum hier, noch vor der Erörterung der Reflexionsbestimmungen des Wesens, in der Diskussion des Verhältnisses von Wesentlichem und Unwesentlichem (Schein), erneut ein Gegeneinander von Ansichsein (Wesen) und Beziehung-auf-Anderes (Schein) diskutiert wird. Denn dieses war doch eigentlich schon am Ende der Seinslogik und mit Beginn der Wesenslogik überwunden worden. McTaggert hat folgerichtig in seinem Kommentar zur Logik (1910) deshalb die Struktur der Enzyklopädie, die ja erst mit der ersten Reflexionsbestimmung einsetzt, als Korrektur dieser Abschweifung gelesen.4 Demnach wäre das erste Kapitel ein fast unnötiger Fremdkörper für den Argumentationsgang des Wesens. Zum anderen hat vor allem Dieter Henrich die Unterscheidung von setzender, äußerer und bestimmender Reflexion als esoterisches Methodenkapitel der gesamten Logik verstanden.5 Nach Henrich werden dort nämlich bestimmte Schwierigkeiten der exoterischen Methodenerörterung im Schlussteil der »absoluten Idee« bereits reflektiert. Demnach wäre 4

McTaggart, John E.: A commentary on Hegel’s logic (1910). Reprint. Bristol 1990, S. 99: »The three categories of the triad of Show – Essential and Unessential, Show, and Reflection, find no place in the Encyclopedia, where the Doctrine of Essence starts with the category of Identity. In this the later work seems to me much superior to the earlier.« Freilich übersieht McTaggert hier, dass Hegel daran gelegen ist, aufzuzeigen, über welche Stufen eines ungenügenden Wesensverständnisses, die sich historisch in der ›traditionellen‹ Metaphysik nachweisen lassen, der angemessene Begriff des Wesens sich allererst emporzuarbeiten hat. Im Gegensatz von »Wesentlichem« und »Unwesentlichem« zu Beginn der Wesenslogik werden diese quasi seinslogischen Verständnisse des Wesens verhandelt und kritisiert, um die Bühne für den aus Hegels Sicht einzig wahren Begriff wesenslogischer Verhältnisse im Begriff der »absoluten Reflexion« zu erarbeiten. 5 Henrich, Dieter: Hegel im Kontext. Frankfurt am Main 41988, S. 122 f.

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das erste Kapitel der Wesenslogik der fast wichtigste Abschnitt bezüglich der Denkweise für die gesamte Logik, auch wenn er natürlich nicht einfach als Erörterung der »Gesamtmethode« der Logik verstanden werden darf.6 Dieses Problem der dialektischen ›Methode‹, ob es sich überhaupt um eine solche handelt,7 die Logik des Scheins sowie die sich daraus ergebende Logik der Reflexionsformen (setzende – äußere – bestimmende Reflexion), sowie ihre Durchführung sind aber Themen, deren Komplexität hier in keiner Weise eingeholt werden kann. Ich setze deshalb an dem ›Resultat‹ des ersten Kapitels, dem Begriff der »Reflexionsbestimmung« an, um zu erläutern, welche Formen der Logik des Wesens Hegel mit diesen eigentlich entwickelt. Als »Reflexionsbestimmung« versteht Hegel die neue Einheit von Selbstbeziehung (Unmittelbarkeit) und Beziehung-auf-Anderes (Vermittlung), welche den bestimmten Kategorien das Gesetz ihrer Entwicklung vorgibt. Diese Einheit ist die einer Konjunktion, die »die Unterschiede als selbstständig annimmt, und zugleich auch ihre Relativität setzt; – beides aber nur neben- oder nacheinander durch ein Auch verbindet und diese Gedanken nicht zusammenbringt, sie nicht zum Begriffe vereint.« (GW 20, 145 [§ 114]) Zwar ist also die Einheit von Selbstbeziehung und Beziehung-auf-Anderes, Identität und Negativität noch nicht im Sinne des Begriffs verwirklicht, d. h. ihr Unterschied und ihre Einheit sind selbst noch nicht wirklich vereinigt. Aber es ist doch sichergestellt, dass zur Selbstbeschreibung einer Bestimmung ihre Beziehung auf ihr Nichtsein, ihre Negation gehört. »[D]ie Reflexionsbestimmung ist an ihr selbst die bestimmte Seite, und die Beziehung dieser bestimmten Seite als bestimmter, das heißt, auf ihre Negation« (GW 11, 257). Die Bestimmtheit einer Identität (d. h. die »bestimmte Seite« einer Beziehung) ist demnach wesentlich eben die Beziehung, welche sie auf ihre Negation einnimmt. Das Positive ist eben die negative Beziehung auf das Negative, weil es nicht das Negative ist.8 Identität und Unterschied ergeben sich daraus als erste reine Reflexionsbestimmungen, welche den Zusammenhang eben jener Form bilden, den die Kategorien des Wesens inhaltlich verschieden ausfüllen.9 Damit aber gewinnt die Erörterung der Reflexionsbestimmungen eine ebenso grundsätzliche Funktion für die Logik insgesamt, wie es laut Henrich die Überlegungen im Scheinkapitel darstellen. Denn ohne Zweifel sind doch Identität (Gleichsein-mit) und Unterschied (Verschiedenseinvon) in ihren jeweiligen Beziehungen die Grundformen, also gewissermaßen Kategorien zweiter Ordnung, für alle vorhergehenden und alle folgenden kategorialen Bestimmungen in Seinslogik, Wesenslogik und Begriffslogik. Die Erörterung von Identität und Unterschied bildet also eine Art Gravitationszentrum der Wissenschaft der Logik, das Bewusstsein ihrer Denkhandlungen der Erzeugung von Kategorien auseinander. Mit der »Identität« ist die Bestimmung der unmittelbaren Einheit des Seins wesenslogisch reformuliert: als reflektierte Beziehung auf sich ist etwas identisch, wenn es mit sich übereinstimmt. Hegel geht es in Bezug auf die Erörterung der Identität vor 6

Vgl. ebd., S. 148 f. Vgl. hierzu den Beitrag von Michael Wolff in diesem Band. 8 Vgl. zur Logik der Negation ausführlicher den Beitrag von Robert B. Pippin in diesem Band. 9 Vgl. ausführlich zu den Stufen von Identität und Unterschied Iber: Metaphysik absoluter Relationalität, S. 269–513. 7

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allem darum, die Formen ihrer bloß abstrakten Verwendung als wesentliches Merkmal der Verstandesphilosophie herauszuarbeiten. Denn wenn es natürlich gerade für Hegel gilt, dass das Absolute das mit sich Identische ist, so liegt doch in der Abstraktion dieser Bestimmung als einzelnes Gesetz die Leerheit theoretischen Denkens überhaupt begründet. Die Abstraktion von Unterschieden macht deshalb die ›Verstandesidentität‹ aus, welche durch verschiedene Verfahren entstehen kann: als äußerliche Negation des Unterschieds überhaupt (Weglassen des Unterschieds und Markierung der Identität), als analytische Reduktion der Unterschiede auf eine Bestimmung (Fokussierung eines Unterschieds, der als Bestimmung gesetzt wird) oder auch als Zusammenziehung des Mannigfaltigen in eine Bestimmung (Zusammenziehen aller Unterschiede zu einer Bestimmung) (vgl. GW 20, 146 f. [§ 115]). Am Beispiel des daraus abgeleiteten »Satzes der Identität«, der besagt dass alles mit sich identisch bzw. nichts zugleich es selbst und zugleich seine Negation sein kann, nimmt Hegel die bereits in der »Vorrede« zur Phänomenologie des Geistes geäußerte Kritik an der Subjekt-Prädikat-Struktur des Wissens auf (GW 9, 20 f., 36 f., 42–46). »Solches identische Reden widerspricht sich […] selbst« (GW 11, 264), weil »diese Sätze mehr, als mit ihnen gemeynt wird, nemlich dieses Gegentheil, den absoluten Unterschied selbst, enthalten« (GW 11, 265). Denn anders als in der reinen Unmittelbarkeit, liegt in der Bedeutung von »Identität« bereits der notwendige und wesentliche Bezug auf ihre Negation im Unterschied. Schließlich bezieht die Form der Identität Unterschiedenes aufeinander, um es als identisches zu setzen: Der Unterschied ist ihr immer schon und notwendig eingeschrieben, weshalb seine Unterdrückung in der ›Ideologie‹ absoluter Identität, die den Unterschied aus sich ausschließt, zur logischen Implosion der Kategorie selbst führt. Wo also die Verstandesphilosophie die Reflexionsbestimmungen wieder in die Form von Aussagen bringt, um ihre Gültigkeit als Gesetze zu bestimmen, fällt sie gewissermaßen auf die Ebene seinslogischen Wissens zurück. Weil die Wesenslogik im Ganzen die Logik des »reflectirenden Verstandes« (GW 20, 145 [§ 114]) ist, der die Unterschiede gegeneinander fixiert, ist sie durch die ständige Korrektur bestimmt, Isoliertes wieder aufeinander zu beziehen und In-eins-Zusammengezogenes wieder aufzutrennen. Die Beziehung des absoluten Unterschieds in sich, auch wenn sie bereits prinzipiell zur Selbstbeschreibung der Kategorien der Wesenslogik gehört, ist zugleich in ihnen weder zuende gedacht noch auf vollständig wahre Weise entfaltet. Das wahre Format des Unterschieds geht in den wesenslogischen Verhältnissen durch den Verstandesgebrauch, der sich an ihnen zeigt, immer wieder verloren. Wie Unterschiede jeweils identisch sind und Identität sich als Einheit Unterschiedener begreifen lässt, ist in den wesenslogischen Begriffen weder in eine dem Begriff entsprechende vollständige Selbstbeschreibung gebracht noch in eine vollständige Entsprechung von Realität und Selbstbeschreibung überführt. Identität und Unterschied sind »das Ganze und sein eignes Moment« (GW 11, 266), insofern sie jeweils eigentlich ebensosehr das Andere sind, ohne mit diesem jedoch zusammenzufallen. D. h.: Identität und Unterschied sind jeweils Momente aneinander; ihre jeweilige Identität ist die Einheit ihrer selbst und des Anderen. Denn Identität ist nur eine von Unterschiedenem; und Unterschiedenes ist nur als je mit sich Identisches

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voneinander unterscheidbar. Damit ist die Logik der Reflexionsbestimmungen gewissermaßen an ihrem Kernstück angelangt: ist doch die Relativität als die herrschende Bestimmung in der Sphäre des Wesens Resultat des gesetzten Unterschieds. Der Unterschied in dieser Form »ist als die wesentliche Natur der Reflexion und als bestimmter Urgrund aller Thätigkeit und Selbstbewegung zu betrachten.« (GW 11, 266) Deshalb verwendet Hegel viel Sorgfalt darauf, ihn in Stufen zu unterscheiden, denen eben das Prinzip der inneren Verbindung von Unterschied und Identität als Maßstab zugrunde liegt. Die Form, welche das Grundgerüst des reinen wesenslogischen Unterschieds bildet, ist der »absolute Unterschied« als »die sich auf sich beziehende Negativität, somit Abstoßen seiner von sich selbst« (GW 20, 147 [§ 116]). Damit sind verschiedene Dimensionen derselben Beziehung markiert, welche die reinen Reflexionsbestimmungen an sich haben: 1. Identitätslogisch die Weise, wie sich Identität vom Unterschied als von sich selbst unterscheidet. Beide sind, wie wir gesehen haben, gemeinsame Momente einer Einheit, die sich in dem Unterschied von Identität und Unterschied auf sich selbst bezieht. Das ist das allgemeine Verhältnis der Reflexionsbestimmung überhaupt: Identität unterscheidet sich vom Unterschied als von ihrem Anderen und damit von sich selbst als Negiertes. 2. Als »absolute Negativität« ist damit die Bewegung bezeichnet, mit der sich das Verhältnis der Negation auf sich selbst anwendet und damit in die Unmittelbarkeit einer neuen Einheit negiert (Negation der Negation). Das reflexionslogische Verhältnis ist selbst ohne bestimmte Relata das Subjekt des negativen Selbstbezuges. Positives und Negatives sind als reine Relationen zu denken: Ihre Bestimmung besteht nur im wechselseitigen Bezugnehmen aufeinander. Erst am Schluss der Wesenslogik, im Kapitel zur »Wirklichkeit« treten wieder unmittelbare, d. h. beinahe vollständig seinshafte Substrate auf (Substanz/Akzidenz, Ursache/Wirkung), die zugleich reflexionslogische Selbstbeziehungen eingehen. Das wiederum hängt damit zusammen, dass im Übergang zur Logik des Begriffs die beiden Dialektikformen des Seins und des Wesens, also Übergangs- und Reflexionsdialektik zusammengeführt werden: als »Einheit des Seyns und Wesens, einfache Unmittelbarkeit, welche absolute Negativität ist.« (GW 11, 391) Rainer Schäfer hat gezeigt, wie sich dabei innerhalb der Wesenslogik die verschiedenen Dialektikformen (Reflexionsdialektik – Erscheinungsdialektik – Manifestationsdialektik) auseinanderhalten lassen.10 Als »absolute Negativität« ist das Wesen eine autonome Begriffsstruktur, welche ihre Bestimmungen dadurch in sich selbst erzeugt, indem sie sich negativ auf sich selbst bezieht: Gerade eben darin und nur darin, sich permanent als »In-sich-Scheinen« zu negieren und in dieser Negation Bestimmungen zu generieren, liegt die Unmittelbarkeit des Wesens. 3. Diese Form des absoluten Unterschieds wird schließlich zur Metakategorie aller bestimmten wesenslogischen Kategorien, an sich selbst die Bestimmung zu haben, unterschieden zu sein, und sich auf

10

Schäfer, Rainer: Die Dialektik und ihre besonderen Formen in Hegels Logik. Entwicklungsgeschichtliche und systematische Untersuchungen. Hamburg 2001, S. 295–329. Vgl. TWA 8, 308 [§ 161, Z].

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diesen Unterschied als auf ihr Nichtsein zu beziehen. Hierin gewinnt der Unterschied in der Wesenslogik seine normgebende Funktion. In der Verschiedenheit als »unmittelbarer Unterschied« (GW 20, 148 [§ 117]) sind die Unterschiedenen nur auf äußerliche Weise aufeinander bezogen. Identität sind sie nur je an sich, denn gegeneinander sind sie gleichgültig. Ihre Relativität fällt in eine ihnen äußerliche Technik der Vergleichung, welche erst Identität (Gleichheit) und Unterschied (Ungleichheit) herstellt. Da diese Technik eine äußerliche Reflexion ist und mit dem Unterschiedenen selbst nichts zu tun hat, kann sie auf alles und jedes angewendet werden und gibt so den für Hegel ärmlichen Methodenbegriff aller vergleichenden Wissenschaften ab. Die Entgegensetzung (Gegensatz) hingegen hat in ihrem Begriff der Unterschiedenen bereits realisiert, dass dieser Bezug aufeinander weder äußerlich noch gleichgültig ist. Das Unterschiedene hat im Anderen »nicht ein Anderes überhaupt, sondern sein Anderes sich gegenüber« (GW 20, 149 [§ 119]): Damit ist zum einen die negative Beziehung auf das Andere zum Moment der Selbstbeschreibung geworden. Zum anderen hat sie erst hier eine hinreichende Bestimmtheit erlangt: Nicht irgendein Anderes wird hier zum Unterschiedenen in Beziehung gesetzt, sondern ein ganz Bestimmtes, nämlich sein Anderes als das eine ihm Entgegengesetzte, das nur seine ganz bestimmte Negation ist. Die Elemente des Unterschieds binden sich so aneinander durch das Possessivpronomen: Ihre Identität, die sich gerade im Unterschied verwirklicht, ist nun explizit die eines Selbstverhältnisses. Der Widerspruch als dritte Stufe bringt diese Beziehung gänzlich ins Bewusstsein des Unterschieds hinein. Positives und Negatives sind dasselbe: das »Scheinen seiner im andern« und das »Setzen seiner als des andern« (GW 11, 283). Der Widerspruch ist das Bewusstsein des Sowohl-als-auch-Verhältnisses des Gegensatzes, in welchem jedem Unterschiedenen sowohl der Einschluss als auch der Ausschluss des Anderen zukommt. Sowohl reicht das Negative ins Positive hinein, weil das Positive seine Bestimmung schlechthin nur in negativer Beziehung auf das Negative hat; als auch das Positive selbständig gegen das Negative ist, weil es dieses gänzlich aus sich ausschließt. »Die Entgegengesetzten enthalten insofern den Widerspruch, als sie in derselben Rücksicht sich negativ auf einander beziehende oder sich gegenseitig aufhebende und gegen einander gleichgültige sind.« (GW 11, 288) Genau genommen, ist der Widerspruch so keine neue Stufe nach Verschiedenheit und Gegensatz: Vielmehr ist er eine Art Metaebene des Gegensatzes, das (Selbst-)Bewusstsein der sich widersprechenden Beziehungen, die im Gegensatz in ein Verhältnis gebracht sind. Das Widersprüchliche des Gegensatzes ist der äußerste Punkt, bis zu welchem sich der Unterschied entfaltet. Denn hier sind Identität und Unterschied so weit in ihre extreme Anspannung gesetzt, dass sie sich in ihrer Wahrheit, und das heißt in ihrer Einheit Realität geben müssen, d. h. in eine Bestimmung aufheben, welche sie als Momente einer Einheit integriert. Der Durchgang durch die Reflexionsbestimmungen bis hier hat damit als Ergebnis in der Entfaltung des immanenten Selbstverhältnisses des Unterschieds das wesentliche Prinzip alles Seienden aufgedeckt: »Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten.« (GW 11, 287) Dieses Prinzip des lebendigen Seienden nun hebt sich unmittelbar in das Prinzip formaler Rationalität überhaupt, den Grund,

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auf: als Zeichen dafür, wie für Hegel das Begreifen lebendiger Realität ihrer Gründung in Begründungsverhältnissen entspricht.11 Alles, was ist, ist in sich widersprüchlich; genau darin ist alles was ist zugleich begründet.

III. Die Bestimmung des »Grundes« Der Grund als reflexionslogische Bestimmung stellt gewissermaßen eine Schneise innerhalb der Wesenslogik dar.12 Mit ihm ist die Erörterung der reinen Reflexionsbestimmungen abgeschlossen, d. h. der wesenslogischen Bestimmungen, deren Sein einzig in der negativ-dialektischen Relationalität liegt und die ohne Bezug auf vorausgesetzte substrathafte und unmittelbare Relata auskommen. Mit den nächsten Schritten nach dem Grund, den Kategorien der Existenz und des Dings, erfolgt dann nämlich vollends die »Wiederherstellung der Unmittelbarkeit oder des Seyns« (GW 20, 152 [§ 122]) im Rahmen des Wesens. D. h. die absolute Negativität vollzieht sich nun an Seiendem und stellt das Selbstverhältnis seinshafter Unmittelbarkeit dar. Die zweite Hälfte der Wesenslogik nach dem Grund führt also schrittweise die Logik des Seins (Unmittelbarkeit) und des Wesens (Relativität) zusammen, damit die Begriffslogik beide wiederum aufhebend integrieren kann. Die Wesenslogik als Mittelteil der Logik insgesamt vollstreckt so ihr zentrales Prinzip der Negativität auch an sich selbst: Ihr erster Teil ist durch ein »Nicht-mehr-nur« des Seins, ihr zweiter Teil durch ein »Noch-nicht« des Begriffs gekennzeichnet. Ihre Funktion ist es, Übergang zu sein, indem in ihr zuerst die Defizite des Seins aufgearbeitet und danach diese Aufarbeitung vor dem bereits aufscheinenden Hintergrund des Begriffs als ebenso defizitär erscheint. Ein wichtiger sprachlicher Unterschied bei Hegel, der einen wesentlichen Unterschied in den logischen Sachen kennzeichnet, ist die von Michael Theunissen herausgearbeitete Differenz von »dasselbe sein« und »nichts anderes als«-sein13. Wenn etwas bei Hegel »nichts anderes als« etwas anderes ist, dann ist es nämlich nicht einfach dasselbe wie dieses: Es ist in Wahrheit dieses andere Etwas, sodass die Relation beider die Wahrheit über das eine wie das andere bedeutet. In dieser Hinsicht sind die Refle11 Im Folgenden konzentriere ich mich auf die rationalitätstheoretische bzw. epistemologische Komponente des Grundes und lasse die ontologische Dimension unbeachtet, die selbstverständlich auch enthalten ist. 12 Ich lasse hier die genaue argumentative Entwicklung der Logik des Grundes über die Schritte des »formellen«, »realen« und »vollständigen Grundes«, die sich m. E. mit den Reflexionsformen (setzende, äußere, bestimmende Reflexion) parallelisieren lassen, beiseite und konzentriere mich nur auf das Resultat der Entwicklung der Kategorie des Grundes und seine systematischen Konsequenzen. Zum Grund in Hegels Wesenslogik vgl. Iber: Metaphysik absoluter Relationalität, S. 485–498; Rohs, Peter: Form und Grund. Interpretation eines Kapitels der Hegelschen Wesenslogik. Bonn 1969. Kruck, Günter: Die Logik des Grundes und die bedingte Unbedingtheit der Existenz. In: G.W.F. Hegel. Wissenschaft der Logik. Hg. v. Anton Friedrich Koch und Friedrike Schick. Berlin 2002 (=Klassiker Auslegen, Bd. 27), S. 119–140. 13 Theunissen, Michael: Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik. Frankfurt am Main 21994, S. 364; vgl. Iber: Metaphysik absoluter Relationalität, S. 86.

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xionsbestimmungen überhaupt, das heißt die Logik ihrer Form, nichts anderes als der Grund, d. h. der Grund ist nichts anders als das wahre Verhältnis von Identität und Unterschied: Der Grund ist die Wahrheit über das, was Reflexionsbestimmungen logisch darstellen, und damit die Wahrheit über das Wesen, wie es sich in der reinen reflexionslogischen Relationalität von reflektierten Bestimmungen ausprägt. Günter Kruck hat diesen Aspekt in seinem Kommentarartikel zum Grund-Kapitel der Logik prägnant und umfassend herausgearbeitet. Das leibnizsche »Prinzip des zureichenden Grundes«, in seiner Wahrheit verstanden, bringt die reine reflexionslogische Einsicht zum Ausdruck, dass für jedes bestimmte Etwas prinzipiell ein Bestimmungsgrund angebbar sein muss, der festlegt, weshalb dieses erste Etwas so ist und nicht anders14. In der Kategorie des Grundes kommt das Wesen dergestalt zu seiner Wahrheit, dass der Grund nicht nur eine, nämlich die letzte der Reflexionsbestimmungen ist, sondern er ist »die wesentliche Bestimmtheit«15 überhaupt. In der Kategorie des Grundes artikuliert sich nämlich die Wahrheit darüber, wie sich Bestimmungen überhaupt im Verhältnis der Wesentlichkeit wahrhaft aufeinander beziehen. Die bis zu diesem Punkt erarbeitete Form reflektierter Bestimmungen im Verhältnis von Identität und Unterschied, wie sie sich letztlich im »Widerspruch« formuliert findet, erhält somit erst im »Grund« ihren eigentlichen, wahren Sinn. Denn im Widerspruch als letzte Stufe der Erörterung der Reflexionsbestimmungen von Identität und Unterschied beschreibt Hegel, dass reflektierte Bestimmungen durch ein widersprüchliches Sowohl-als-Auch gekennzeichnet sind: Jede Bestimmung ist das, was sie auf bestimmte Weise ist, indem sie für sich, d. h. gegen ein Anderes abgesetzt ist; zugleich aber ist dieses Fürsichsein einzig dadurch erreicht, dieses Andere an sich zu haben: »Das Negative soll eben so selbständig, die negative Beziehung auf sich, für sich seyn, aber zugleich als negatives schlechthin diese seine Beziehung auf sich, sein Positives, nur im Andern haben.« (GW 20, 151 [§ 120]) Die reflektierte Form des Bestimmungswissens im Wesen beschreibt so den Umstand, dass jede Bestimmung ihr Bestimmtsein nur im negativen Bezug auf ein Anderes hat, das sie deshalb zur gleichen Zeit aus sich ausschließt und in sich einschließt, ohne eine von diesem negativen Fremdbezug völlig freie Substanz der Selbstidentität wie in den seinslogischen Bestimmungen zu haben. Damit ist die Form selbstbezüglicher Negativität als Struktur reflexionslogischen Bestimmtseins erreicht: Der negative Bezug von Etwas auf sein Gegenteil ist an sich selbst negiert, weil das Gegensätzliche zum eigenen Inhalt der Identität wird. Günter Kruck hat das in ein einleuchtendes Beispiel gesetzt: »Der Baum ist als Baum nur etwas, weil seine Identität dadurch fixiert werden kann, daß er nicht Blume ist, daß er also durch das Nicht-Blume-Sein bestimmt ist. Indem aber diese Bestimmtheit die Bestimmtheit des Baumes ausmacht, ist dieses Gesetztsein (das Sein-durch-Anderes) ebenso sehr verschwunden; es ist nämlich zur Bestimmtheit des Baumes selbst geworden.«16 Die Wahrheit dieses Widerspruchs ist das Verhältnis des Grundes: Bestimmungen, die sich in 14 15 16

Vgl. Kruck: Die Logik des Grundes, S. 123. Ebd., S. 125. Ebd., S. 126.

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dieser reflektierten, rein relationalen Weise bestimmend aufeinander beziehen, treten in das Verhältnis ein, füreinander den wesenhaften Grund ihres Bestimmtseins darzustellen. Gerade in ihrem Unterschied sind so beide Bestimmungen identisch, weil sie ihre Identität nur im Unterschied zueinander besitzen. Freilich, auch das ist entscheidend, braucht es vom Bestimmungswissen zum Grundwissen einen weiteren Schritt, der darin besteht, die konstitutive normgebende Kraft der Relationalität überhaupt im wesenslogischen Verhältnis als eine sich direktional verengende zu verstehen. Denn wo im bloßen Bestimmungswissen »die Bestimmtheit von etwas im Rekurs auf irgendeinen Unterschied von anderem erhoben werden kann«17, da fordert die Beziehung von Grund und Begründetem, dass beide stärker in ihrer jeweiligen individuellen Substanz aneinander gebunden sind: Der bloße Unterschied von Etwas zu irgendeinem Anderen enthält noch nicht die Notwendigkeit, dass dieses Andere auch Grund oder Begründetes für dieses Etwas sein kann. Hegel gebraucht hier die starke Formulierung, dieses Andere müsse »sein Anderes« bzw. »sein Entgegengesetztes« sein: »Als sich auf sich beziehender Unterschied ist er gleichfalls schon als das mit sich identische ausgesprochen, und das Entgegengesetzte ist überhaupt dasjenige, welches das Eine und sein Anderes, sich und sein Entgegengesetztes, in sich selbst enthält. Das In-sich-seyn des Wesens so bestimmt ist der Grund.« (GW 20, 151 [§ 120]) Pointiert können wir festhalten: Jeder Unterschied macht zwar ein Bestimmungsverhältnis aus, aber ein bloßes Bestimmungsverhältnis noch lange Begründungsverhältnis im engeren Sinne, denn nicht jeder Unterschied begründet sogleich einen Begründungszusammenhang. Zu sagen »Der Baum ist nicht Blume«, bedeutet noch nicht, dass sie einander auch begründen müssen, nur weil sie sich unterscheiden. Erst dort, wo etwas sich widerspricht, d.h der Unterschied ein bestimmender und somit normsetzender ist, entsteht eine Begründung von Etwas in Bezug auf sein Entgegengesetztes, durch welches es begründet wird. So stehen Widerspruchsverhältnisse, zumindest an dieser Stelle, immer auch in Begründungsverhältnissen. Das Wesen ist mithin dort Grund, wo es die gesamte Form eines Verhältnisses beschreibt, in der zwei Bestimmtheiten reflexionslogisch sich in ihrem Unterschied durch das jeweils Andere konstituieren: aber so, dass sie in die Relation füreinander wirklich wesentlicher Reflexionselemente treten, die den substantiellen normativen Kern ihres Bestimmtseins ausmachen – eben als Grund und Begründetes. Grund und Begründetes konstituieren sich in ihrem Unterschied derart durch den jeweils anderen, dass sie unmittelbar aufeinander durchsichtig sind, vom einen auf das Andere sogar unmittelbar geschlossen werden kann, weil sie füreinander ihr Anderes – und nicht nur irgendein Anderes – sind. Die Norm ihrer Verwendung, so könnte man sagen, ergibt sich erst in ihrem Begründungsverhältnis, dem Bezug auf ihr anderes. Als »absoluter Grund« ist mithin bei Hegel eben die Gesamtformation dieses reflexionslogischen Verhältnisses des Grundes bezeichnet: Grund ist in diesem Sinne nicht bloß der eine Pol im Verhältnis von Grund – Begründetem, sondern die gesamte Struktur. Möglich ist dies begrifflich deshalb, weil beide Pole gemäß der bereits erörterten Form wesenslogisch-reflektierter 17

Ebd., S. 125.

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Bestimmungen sowieso jeweils ein Element des Verhältnisses und zugleich auch das Ganze des Verhältnisses sind, d. h. »das Ganze und sein eignes Moment« (GW 11, 266): indem »jedes so für sich ist, als es nicht das Andere ist« (GW 20, 149 [§ 119]), und sie sich so jeweils gegeneinander an sich haben. Dieses Zugleichsein von Moment und Ganzem bildet erst die volle Identität des Grundverhältnisses aus. Er ist deshalb »das Wesen als Totalität gesetzt« (GW 20, 152 [§ 121]), weil in ihm der ganze Zusammenhang von Selbstbezug und Unterschied, Einheit und Gegensatz als Momente einer Bestimmung erscheint. Im Grund wird das Verhältnis der Reflexion vollends zur Form des Insichseins des Wesens. Als »Wahrheit« der reinen Reflexionsbestimmungen, d. h. als ihre Vollendung, überschreitet der Grund diese zugleich, weil er in seiner Einheit die Unmittelbarkeit des Seins wieder herstellt. Identität und Unterschied bilden nicht mehr nur bloß eine negative Beziehung. Der Grund ist vielmehr in ihrer Einheit das mit sich identische Wesen, dessen Unmittelbarkeit eben in der Negativität des reflexionslogischen Unterschieds besteht. Begründetsein nämlich heißt, dass »Etwas […] sein Seyn in einem andern hat« (GW 20, 152 [§ 121]), nämlich das Begründete im Grund. Der reflexionslogische Unterschied von Begründetem und Grund aber ist zugleich die Identität beider als Grund: Denn das »Begründete und der Grund sind ein und derselbe Inhalt« (TWA 8, 248, § 121, Z). Deshalb ist der »Unterschied zwischen beiden […] der bloße Formunterschied der einfachen Beziehung auf sich« (ebd.): Grund ist die »Reflexion-insich, die eben so sehr Reflexion-in-Anderes und umgekehrt ist.« (GW 20, 152 [§ 121]) Was als Grund unterschieden vom Begründeten ist, ist zugleich die Einheit beider. Die Einheit des absoluten Grundes ist der Unterschied zwischen sich und dem Begründeten als Unterschied seiner von sich selbst. Das Wesen des Grundes ist Grund und Begründetes zugleich. Das vom Grund unterschiedene Begründete ist der Grund selbst als sich von sich selbst unterscheidender und in diesem Unterschied sich mit sich vermittelnder. Fichtes Unterscheidung von »Unterscheidungsgrund« und »Beziehungsgrund« aus der Grundlage wird von Hegel aufgenommen:18 Grund ist das, was sich im Unterscheiden von Grund und Begründetem auf sich selbst bezieht. Der Grund ist im Begründeten ganz bei sich und gewinnt sich überhaupt erst, weil er Grund nur darin sein kann, ein Begründetes hervorzubringen.

18 Das antithetisch-synthetische Verfahren leistet bei Fichte die Ausdifferenzierung des Systems und stellt den widersprüchlichen Motor dar, durch den die Dialektik ihre Dynamik erhält. Während das antithetische Verfahren versucht aufgrund eines »Unterscheidungsgrundes« das Entgegengesetzte im Gleichen aufzusuchen (zwei Gleiche sind in mindestens einem Merkmal unterschieden), sucht das synthetische Verfahren aufgrund eines »Beziehungsgrundes« das Gleiche im Entgegengesetzten auf (zwei Entgegengesetzte sind in mindestens einem Merkmal gleich). Vgl. Fichte: GA I, 2, 272.

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IV. Die begriffliche Norm des Denkens: Rechtfertigung, Grund und Wahrheit Hegels Bestimmung des Grundes ist besonders interessant vor dem Hintergrund der langen Diskussion um Rationalität überhaupt und der Frage, ob die Rechtfertigungsbedingung der hinreichende Maßstab dafür ist.19 Die Beziehung zwischen Rechtfertiger und Gerechtfertigtem, Grund und Begründetem bildet demnach das Grundmuster von Rationalität überhaupt: als Unterschied, dessen Einheit darin besteht, ein sprechender Unterschied zu sein, d. h. argumentative und persuasive Evidenzverhältnisse zwischen beiden zu etablieren. Die Kategorie des Grundes wäre demnach scheinbar in der Wesenslogik der Ort, wo Rationalität im engeren Sinn zum Element der Selbstbeschreibung der Kategorien wird. So bildet sich im Grund in einer Nussschale Hegels holistische Überzeugung ab, dass nur ein begründeter Zusammenhang von Wissen überhaupt Wissen heißen darf. Zugleich aber zeigt Hegel gerade hier auch auf, dass im bloßen Gegebensein von Gründen überhaupt – dort also, wo sie den bloß formalen Vorgaben dessen, was es heißt ein Grund zu sein, entsprechen – Rationalität im emphatischen Sinn von Wahrheit noch nicht vorliegt. Damit nun meint Hegel gerade nicht den Unterschied, welcher zwischen Wahrheit und Rechtfertigung heute in manchen Theorien gemacht wird:20 Wahrheit (zumindest die nicht bloß formallogische) ist demnach ein irgendwie geartetes, wie auch immer über Aussagen und ihre Beziehungen vermitteltes und normativ reguliertes Verhältnis zur Welt,21 Rechtfertigung ein Verhältnis von Überzeugungen zu anderen Überzeugungen.22 Deshalb hängen Rechtfertigungen davon 19

Kritisch zur Idee, Rationalität und Rechtfertigung gleichzusetzen: Schnädelbach, Herbert: Über Rationalität und Begründung. In: Philosophie und Begründung. Hg. v. Forum für Philosophie Bad Homburg. Frankfurt am Main 1987, S. 67–84. Als Überblick der gegenwärtigen Diskussionen zum erkenntnistheoretischen Problem von Gründen und Rechtfertigung vgl. weiterhin Grundmann, Thomas (Hg.): Erkenntnistheorie. Positionen zwischen Tradition und Gegenwart. Paderborn 22003. 20 Vgl. Baumann, Peter: Erkenntnistheorie. Stuttgart, Weimar 2002. 21 In dieser höchst pauschalen Bestimmung ist natürlich weder die Komplexität der darunter zusammengefassten Positionen noch die Gegenposition einer rein kohärentistischen Wahrheitskonzeption angemessen erfasst; vgl. dazu als Überblick Enders, Markus/Szaif, Jan (Hg.): Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit. Berlin, New York 2006. Zugleich soll jedoch mit dieser Formulierung mein Zweifel an einer Wahrheitstheorie, die gänzlich auf einen wie auch immer vermittelten Gegenstandsbezug bzw. auf den Unterschied von Aussagesystem und Gegenstandssystem, zwischen dem »logischen Raum der Gründe« und dem »logischen Raum der Natur« (Sellars, McDowell), verzichtet, durchaus zum Ausdruck kommen. In meiner Dissertation untersuche ich im Anschluss an Hegel die logische Notwendigkeit, eine vom logischen Raum der Gründe unterschiedene und dennoch nicht anders als an sich selbst begrifflich bestimmte Realität zu denken. 22 Ich schließe hier an Quines »Netz« von Überzeugungen [web of belief] als Strukturform von Rationalität überhaupt an: »The dogma of reductionism survives in the supposition that each statement, taken in isolation from its fellows, can admit of confirmation or infirmation at all. My countersuggestion […] is that our statements about the external world face the tribunal of sense experience not individually but only as a corporate body.« (Quine, Willard V. O.: Two Dogmas of Empiricism. In: From a Logical Point of View. Cambridge/Mass. 1953, second reviced version 1961, S. 41) »The totality of our so-called knowledge or beliefs […] is a man-made fabric which impinges on experience only along the edges. […] Reevaluation of some statements entails reevaluation of others, because of their

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ab, wovon wir sonst noch überzeugt sind (was wir jeweils weiterhin für wahr halten), und eine These kann sehr gut gerechtfertigt sein, ohne wahr zu sein, und eine wahre These sehr schlecht oder möglicherweise sogar überhaupt nicht gerechtfertigt.23 Hegels Konzeption von Wahrheit und Wissen hingegen verbietet es erst einmal von vornherein, die Übereinstimmung von Wissen mit unmittelbaren zufälligen Gegebenheiten der Welt für Wahrheit zu halten: vielmehr wäre damit nur »Richtigkeit« gemeint. »Richtigkeit […] betrifft überhaupt nur die formelle Übereinstimmung unserer Vorstellung mit ihrem Inhalt, wie dieser Inhalt auch sonst beschaffen sein mag. Dahingegen besteht die Wahrheit in der Übereinstimmung des Gegenstandes mit sich selbst, d. h. mit seinem Begriff.« (TWA 8, 323, § 172, Z; vgl. GW 20, 186 f. [§ 172]) Wahrheit ist also die Entsprechung von »dem gesetzten Begriffe und der ihm entsprechenden Realität« (GW 20, 187 [§ 172]), d. h. es geht um die adäquate Entfaltung des begrifflichen Kerns einer Sache in die Wirklichkeit dieser Sache hinein. In Bezug auf die Logik ist so erst die absolute Idee »alle Wahrheit« (GW 20, 228 [§ 236]), weil sich erst in ihr Form und Inhalt des Logischen auf vollständige Weise entfaltet und in einer, seiner Selbstbeschreibung gemäßen Weise konkret im Begriff verwirklicht hat. Damit aber fällt für die Erörterung der Rationalität des Grundes der oben gemachte, heute geläufige Unterschied von Wahrheit und Rechtfertigung weg. Wahrheit ergibt sich – auch jenseits bloß formallogischer Verhältnisse im engeren Sinn, um die es Hegel ja gerade nicht geht – für Hegel sozusagen »kohärentistisch« rein in der dialektischen Beziehung von Bedeutungsgehalten und nicht durch eine Übereinstimmung mit Beobachtungsdaten; d. h. sie fällt in dieser Hinsicht mit Rationalität im heutigen Verständnis zusammen.24 logical interconnections – the locical laws being in turn simply certain further statements of the system, certain further elements of the field.« (ebd., S. 42) Das Feld erlaubt grundsätzlich gegenüber jeder sinnlichen Erfahrung auch jede Aussage aufrechtzuerhalten oder zu revidieren, d. h. keine sinnliche Erfahrung hat die direkte Kraft der Veränderung von Aussagezusammenhängen. Egal wie stark oder schwach eine sinnliche Erfahrung ist, ob sie in das System des Wissen eingebaut wird, regelt das System intern ganz alleine. Luhmanns Begriff der ›strukturellen Kopplung‹ wäre hier ein guter Vergleichspunkt: Sinnliche Erfahrungen führen nur Irritationen in das Feld des Wissens ein. (Zu einem Vergleich zwischen Luhmann und Hegel vgl. den Beitrag von Angelika Kreß in diesem Band) Wie diese Irritationen dann aber im Netz der Aussagen umgesetzt werden, liegt einzig an wissensinternen Regeln, die nicht der Erfahrung, sondern (hier bei Quine) der Nützlichkeit gehorchen. Ebenso verhält es sich generell auch bei Brandom: Erfahrungen gehorchen den Regeln oder Normen der grundlegenden begrifflichen Inferenzen, um überhaupt formulierbar zu sein. 23 Vgl. Brandoms Diskussion der Gewissheitstheorien/Verlässlichkeitstheorien (Robert B. Brandom: Articulating Reasons: An Introduction to Inferentialism. Cambridge/Mass., London 2000, S. 97–122, sowie ders.: Making It Explicit: Reasoning, Representing, and Discursive Commitment. Cambridge/ Mass. 1994, S. 206–213). 24 Michael Quante: Die Wirklichkeit des Geistes. Studien zu Hegel. Berlin 2011, S. 161: »Hegel erhebt mit seiner ›Wissenschaft der Logik‹ den Anspruch, die ›Kategorien, logischen Formen, Reflexionsbestimmungen und Grundbegriffe der Wissenschaften als ein System der Implikationen von Bedeutungen‹ darzustellen, das sich mittels der Bestimmungen von Identität und Differenz selbst erzeugt und inhaltlich bestimmt. Dieses holistische Netzwerk von Denkbestimmungen, deren Gehalt jeweils durch die Stellung im gesamten Bedeutungsgefüge festgelegt ist, generiert sich selbst nach einem komplexer werdenden, aber auf einer gleichbleibenden Struktur beruhenden Verfahren.« Vgl. zum Kohärentismus in Hegels Wahrheitsbegriff auch ebd., S. 23.

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Trotzdem sind Gründe an sich, auch wenn sie Begründung tatsächlich leisten, für Hegel noch keine vollentwickelte Wahrheit und damit in gewissem Sinne überhaupt keine: Nur weil etwas wie auch immer begründet ist – d. h. anerkanntermaßen durch irgendwelche Gründe abgesichert –, ist damit nicht notwendig seine Wahrheit verbürgt; und das obwohl Hegel den Unterschied von externalistischer Wahrheit und internalistischer Rechtfertigung doch zugleich eingezogen hat. Diese Kritik am bloßen Grund-sein von Etwas wiederum hängt mit dem Unterschied zusammen. Denn dieser Unterschied ist in der Bestimmung des Grundes trotz des Seins- und Einheitsmomentes noch so stark, d. h. bestimmend gesetzt, dass er den Zusammenhang von Grund und Begründetem in gewisser Weise noch dem Zufall überantwortet – auf jeden Fall aber einer strengen Notwendigkeit entzieht, die Hegel am Ende der Wesenslogik als Verkehrsform der Wahrheit und dann vor allem in der Begriffslogik im »Schluss der Notwendigkeit« hypostasiert. Hegel kritisiert den Zusammenhang des Grundes nicht, weil er jenseits des nach außen gerichteten Wahrheitsverhältnisses stattfindet und mit diesem nur indirekt in Beziehung steht, sondern weil der Grund inadäquat der Notwendigkeit der Wahrheit gegenüber ist. Damit ein Grund ein wahrer Grund ist, muss er viel mehr als ein bloßer Grund oder auch ein guter Grund sein. Ohne einen an und für sich bestimmten Inhalt, der ihn als genau diesen einen immanent bestimmt, und so den Zusammenhang des wahren Wissens errichtet, bleibt er der Möglichkeit preisgegeben, so oder anders sein zu können, weil er in anderen Kontexten und Beurteilungsperspektiven veränderlich erscheint. Denn aufgrund des Unterschieds und seiner Funktion gehört es für Hegel zur Bestimmung des Grundes, entgegengesetzte Gründe »für und wider denselben Inhalt« (TWA 8, 250, § 121, Z) zu ermöglichen, also bspw. »für das Unsittliche und Widerrechtliche nicht minder als für das Sittliche und Rechtliche Gründe aufzufinden« (TWA 8, 251, § 121, Z): »Alles, was in der Welt verdorben worden ist, das ist aus guten Gründen verdorben worden.« (TWA 8, 251, § 121, Z) Hier zeigt sich, dass also auch an sich Falsches gute Gründe hervorbringen kann und diese nicht bloß dem Wahren vorbehalten sind. Da aber seiner Bestimmung des Grundes an sich diese Möglichkeit, gute Gründe für das Wahre und für das Falsche zu finden, wesentlich ist, hört der Grund zugleich auf, bloßer Grund zu sein, wo er in den notwendigen Bestimmungszusammenhang der Wahrheit übergeht. Indem etwas also bloß begründet wird, geht es auch zugrunde. Seine Wiederauferstehung in der Wahrheit ist notwendig daran geknüpft, über die Grenzen der Rechtfertigung in ihrem Möglichkeitssinn hinaus in das Reich der Notwendigkeit einzuziehen. In diesem sind Gründe in den Verhältnissen von Bedingung und Sache direkt aufeinander ausgerichtet, sodass Grund und Folge notwendig einander hervorbringen: nicht umsonst ist für Hegel die »absolute Wahrheit der Ursache« (GW 20, 171 [§ 153]) in der strengen Notwendigkeit des Kausalitätsverhältnisses wesenslogisch erst bei sich angekommen. Dem heute so betonten Spiel der Gründe, der kontextualistischen Basis von Begründung und der Vielstimmigkeit diskursiver Begründungshandlungen als Eckpfeiler des Raums von Rationalität, mit dem zugleich »Wahrheit« verbürgt sein soll, werden so bei Hegel eine Absage erteilt.

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Bezüglich dieser Absage denke ich vor allem an Robert Brandoms inferentialistische Semantik, die sich bekanntermaßen durchaus in die Nachfolge Hegels stellt,25 indem sie einen objektiven, holistischen, semantischen Idealismus propagiert. Dabei ist zum einen überdeutlich, inwiefern Brandom immer wieder den Anschluss an Hegel herstellt. Denn das Zentralprinzip dessen, was Brandom »expressive Vernunft« nennt und als »wichtigste Form menschlicher […] Rationalität«26 kennzeichnet, ist es ja, »das [sie das], was implizit in der Praxis enthalten ist, als Prinzip explizit zu machen« versteht.27 Gerade darin aber liegt gewissermaßen auch das Bewegungsprinzip und die Methode der Logik Hegels: das, was die Kategorien tun, und das, was sie als Inhalt (Prinzipien) von sich in ihrer Selbstbeschreibung wissen, ineinander zu überführen.28 Die Praxis, d. h. die »Realität« ihrer dialektischen Beziehungen, wird im Gang der Logik mehr und mehr expliziert, d. h. zu Wissen in ihrer Selbstbeschreibung: eben diese Fähigkeit aber wird bei Brandom zum wichtigsten Baustein von Vernünftigkeit überhaupt. Gerade die logischen Begriffe zeigen somit auf ideale Weise Brandoms Grundeinsicht auf, die sich auch bei Hegel findet, dass Begriffe nicht durch das was sie als einzelne Begriffe repräsentieren bestimmt sind, sondern durch die Rolle, die sie in der Praxis der schrittweisen Explikation der Grundgehalte im holistischen Zusammenhang spielen.29 Das entspricht Hegels Programm, die »Bedeutung« der Kategorien durch ihre rein immanente dialektische Entwicklung – und nicht durch Repräsentation äußerer Tatsachen oder Beobachtungen – zu konstituieren. Hegels Wissenschaft der Logik ist daher durchaus als Ausführung der expressiven Vernunft verstehbar: indem das, was die Kategorien tun (d. h. was sie als semantische Praxis immer schon sind), in ihrem Entwicklungsgang immer deutlicher und vollständiger in ihre explizite bzw. expressive Selbstbeschreibung eingeht, und so die Gehalte ihres ›Tuns‹ immer mehr zu ihrem eigenen begrifflichen Gehalt werden. Auf der anderen Seite aber ergibt sich meines Erachtens gerade hier ein Problem mit Brandoms Hegel: nämlich wenn man die quasi absolute Norm ins Auge fasst, die für Brandom mit jedem Begriffsgebrauch überhaupt immanent verbunden ist. Denn für Brandom ist »begrifflich gehaltvoll« gleichbedeutend mit »inferentiell«: Etwas ist dann und nur dann ein begrifflicher Gehalt, d. h. entspricht der Norm der Inferenz, wenn es »die Rolle sowohl von Prämissen als auch von Konklusionen in Inferenzen spiel[t]«,30 25 Vgl. Brandom: Articulating Reasons, S. 34 f. Vgl. auch Robert B. Brandom: Skizze eines Programms für eine kritische Hegellektüre. Empirische und logische Begriffe im Vergleich. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Neue Wege der Forschung. Hg. v. Reinhart Hiltscher und Stefan Klingner. Darmstadt 2012, S. 39–67. 26 Robert B. Brandom: Hegelianischer Pragmatismus und soziale Emanzipation. Ein Gespräch mit Robert Brandom. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2 (2008), S. 305–326, hier: S. 314. 27 Brandom: Hegelianischer Pragmatismus, S. 306. Vgl. auch Brandom: Articulating Reasons, Introduction, S. 1–44, und konzis bspw. S. 56 f. 28 Henrich beschreibt diese operative Methode der Logik ganz ähnlich, wenn auch in anderen Termini (Henrich, Dieter: Hegels Logik der Reflexion. In: ders.: Hegel im Kontext. Neuauflage. Frankfurt am Main 2010, S. 95–158, hier: S. 150 f.). 29 Vgl. Brandom: Articulating Reasons, S. 164–166. 30 Brandom: Hegelianischer Pragmatismus, S. 310.

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d. h. wenn es entweder Grund oder Begründetes in Bezug auf einen anderen Gehalt sein kann.31 Diese Norm der Inferenz für begriffliche Gehalte jeder Art, die Brandom als »begriffliche Normativität« bzw. »conceptual norms«32 bezeichnet und allen anderen Formen der Normativität (moralische, politische) gegenüber als grundlegende ansieht, soll nun gerade in der Logik selbst Gegenstand des Nachdenkens sein; diese »begriffliche Normen« meint Brandom auch in Hegel zentral finden zu können: »Hegel is not always read as adressing the topics I see as central to his work – primarily regarding the nature of conceptual norms and conceptual content. But when he is so read, he turns out to have a great deal of interest to say.«33 Die Logik, so Brandom, expliziere den holistischen Zusammenhang »reflexive[r] Begriffe«,34 indem sie das »logische Vokabular« [logical vocabulary]35 entfalte, mit dessen Hilfe wir expressiv denken können: d. h. mit dem wir begriffliche Gehalte erzeugen können. Demnach sind die Kategorien der Logik die Explikation jener »inferentiellen Praktiken«, mit denen wir überhaupt Gehalte explizit machen können: d. h. jener Grundbegriffe, die jene grundlegenden inferentiellen Praktiken des Denkens explizieren, mit denen wir überhaupt irgend etwas Bestimmtes sagen, d. h. explizit machen können.36 Das Kapitel zum Grund aber, in meiner Lesart, scheint hier eine Art Einspruch darzustellen, den ich bereits angedeutet habe. Denn Brandom macht immer wieder klar, dass inferentiell gegliedert sein, d. h. ein begrifflicher Gehalt zu sein, heißt, in das »Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen« [the game of giving and asking for reasons]37 einzutreten. Begrifflicher Gehalt ist das, was neben den besonderen Normen bestimmter Sprachspiele (Sprachspiel des »Ich«, Sprachspiel der Gemeinschaft etc.) der einzigen allgemeinen Norm, nämlich die Rolle von Gründen einzunehmen, gehorcht. Gründe [reasons] unterliegen zwar natürlich im Brandom’schen (und Sellars’schen) Sinne durchaus den Normen einer strengen Vernünftigkeit von sowohl formalen als auch materialen Argumentations- und Schlussbedingungen. Insofern sind Brandoms ›reasons‹ [im Sinne von Gründen] formal – auch im Sinne der Mehrfachbedeutung von »reason« als »Grund« und »Vernunft« – eher Hegels »subjektiver Logik« zuzuordnen. Das Irritierende dabei ist allerdings, dass schon der Begriff eines »Spiels« einen Rest an Willkür, Zufälligkeit und Unbestimmtheit suggeriert, der ohne Methode und die 31

Vgl. Brandom: Articulating Reasons, S. 165. Brandom: Hegelianischer Pragmatismus, S. 317, bzw. generell als Zentralbegriff in Articulating Reasons (S. 26, 29, 33; 44; 81; 207) und Making it Explicit (insb. S. 52–55; 63; 529; 584–607; 604; 607; 631; 645 f. 593; 697). 33 Brandom: Articulating Reasons, S. 207, Fn. 16. 34 Hiltscher, Reinhart: Hegels systematische Philosophie in der jüngeren Forschung. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Neue Wege der Forschung. Hg. v. Hiltscher und Klingner, S. 9–21, hier: S. 19. 35 Brandom: Hegelianischer Pragmatismus, S. 315 bzw. generell in Articulating Reasons (exemplarisch S. 19–22; 37). 36 Zu dieser generellen Funktion der Logik überhaupt bei Brandom, die er in »Hegelianischer Pragmatismus und soziale Emanzipation« auf Hegels Logik anwendet, vgl. Brandom: Articulation Reasons, S. 19–22. 37 Brandom: Hegelianischer Pragmatismus, S. 310; exemplarisch und konzis Brandom: Articulating Reasons, S. 189–196. 32

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von Hegel geforderte durchgehend-strenge Notwendigkeit auskommt, und deren Funktion bzw. Struktur eben viel eher dem entspricht, was Hegel kritisch im Kapitel zum »Grund« darstellt.38 Folglich kann es für Brandom auch kein »Vokabular [geben], das insofern endgültig ist, als es unrevidierbar und unersetzbar ist«,39 weil jeder Gehalt notwendig veränderbar in verschiedenen Begründungszusammenhängen ist. Für Brandom ist damit der Raum von Wahrheit (den er selbst durchaus in der »subjektiven Logik« verorten würde) streng genommen auf den Raum von Gründen eingeschränkt und geht nicht über diesen hinaus: Was ›wahr‹ ist und was nicht, kann bei ihm nur im Spiel der Gründe ermittelt werden und bleibt insofern grundsätzlich revidierbar und veränderbar.40 »Wahrheit« ist für Brandom keine »besonders interessante oder geheimnisvolle Eigenschaft« von Überzeugungen: sie besteht bloß in der Handlung, die »Behauptung zu billigen« [endorsing the claim oneself].41 Wahrheit wird demnach als sozial regulierter normativer Status intersubjektiver Anerkennung von Gründen verstanden, die in nichts anderem besteht als der Handlung, Behauptungen anderer zu teilen und sie damit dem Status der Wahrheit zu unterstellen. Nicht mehr der epistemische Zustand einer Behauptung, sondern bloß die »normative Haltung« [normative stance]42 eines Subjekts macht den Kern von Wahrheit aus. Gerade aber diese Norm diskursiver Praktiken, die für Brandom der Logik im Ganzen zugrunde liegt, weil alle ihre Kategorien für ihn nichts anderes sind als Explikationen dieser Norm des Begründungszusammenhangs, wird von Hegel meines Erachtens im Grund-Kapitel äußerst kritisch behandelt. Die Notwendigkeit der Wahrheit und damit das eigentliche Normativ des logischen Denkens ist viel eher das Verhältnis von Ursache und Wirkung, Bedingung und Folge aus dem Wirklichkeitskapitel: damit aber eine Art von Beziehung, die sich von der Möglichkeit eines Andersseins von Gründen, wie sie Brandom letztlich doch betont, und der bloß normativen Haltung eines sozialen Subjekts diesen Gründen gegenüber, stark unterscheidet. Das eigentliche Normativ also, auf welches Hegels Logik zielt, stellt sich in ihrem Verlauf immer mehr als die nicht-soziale, gleichwohl auch nicht-repräsentationalistische Notwendigkeit der Wahrheit heraus. Diese ist charakterisiert durch eine besondere Art des Gründens, in

38 Vgl. auch den ähnlich gelagerten »Raum der Gründe« im Habermas’schen Diskurshandeln: Habermas, Jürgen: Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken. Berlin 2012, S. 24, 55, 57 (Anm. 3), 74. Habermas’ Theorie der kommunikativen Vernunft stellt gerade den Versuch dar, zu erklären, wie argumentative Gründe, »die mit Hilfe mehrerer Beschreibungssysteme und im Lichte wechselnder Theorien verschieden interpretiert werden können und deshalb keine ultimative Grundlage bieten«, trotzdem vor der Relativität instrumentellen Gebrauchs geschützt werden können, um den objektiven und nicht vollständig relativistischen »zwanglosen Zwang des besseren Argumentes« nicht aus den Augen zu verlieren (Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1, Frankfurt am Main 21982, S. 46 f.). 39 Brandom: Hegelianischer Pragmatismus, S. 314. 40 »[I]nferentialists […] start with a notion of content as determining what is a reason for what, and understand truth and representation as features of ideas that are not only manifested in but actually consist in their role in reasoning.« (Brandom: Articulatiing Reaons, S. 47) 41 Ebd., S. 119. 42 Ebd., S. 178.

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welcher ein bestimmter Inhalt sich in die notwendigen Beziehungen seiner Elemente unterscheidet, in diesen und durch diese sich auf alternativlose (d. h. nicht-zufällige) Weise als eben dieser begründet findet und in der Einheit dieser Beziehungen sich wahrhaft erhält. Brandom wie Hegel verstehen Wahrheit als Normativität im starken Sinn: Wo diese jedoch bei Brandom ›bloß‹ als soziales Regelsystem der Billigung von Behauptungen im intersubjektiven Dialog fungiert, denkt Hegel die Normativität objektiv als eine der strengen logischen Notwendigkeit des Begriffs, sich selbst Realität zu geben, ohne jedoch diese naiv-realistisch von den sozialen Sinngebungsregeln und ihren historischen Transformationen abzukoppeln.43 Dem bloßen Gründen aber in seiner reinen formalen Indifferenz und Relativität bzw. Zufälligkeit, wie sie in der Wesenslogik entwickelt wird, eignet für Hegel eine Offenheit zu, die in eben jenem Spielraum des Unterschieds gründet, der für heutige Rechtfertigungstheorien so bedeutsam ist. Dieser aber macht die bloße Form des Gründens für Hegel letztlich ungeeignet dafür, die Norm dafür zu sein, wie sich die Kategorien in definitiver Wahrheit auseinander entwickeln und dabei immer mehr von sich wissen. An der Bestimmung des Grundes wird so deutlich, inwiefern die Kraft des Unterschieds zum Ende der Wesenslogik hin zum einen immer weiter eingeschränkt werden muss, andererseits als Kraft des Bestimmens zu immer weiterer Entfaltung gelangt – allerdings im Rahmen der Norm des Begriffs.

43 Robert Pippins Kritik an Brandoms Hegelbild geht bezüglich eines wesentlichen Aspekts in eine ganz ähnliche Richtung wie die hier skizzierte: Pippin zeigt an Hegel auf, dass »Hegels Interesse an einem grundlegenden und historischen Wandel von konstitutiv-normativen Verbindlichkeiten« (=Kategorien), die Kant »als empirisch unantastbar bezeichnen würde« (Pippin, Robert: Brandoms Hegel. In: Hegel in der neueren Philosophie. Hg. v. Thomas Wyrwich, Hamburg 2011, S. 367–406, hier S. 375), stets von der operativen Norm einer »Lücke« her gedacht ist: »eine Lücke zwischen demjenigen, was Hegel (subjektive) Gewißheit nennt, und dem, was er als ›Wahrheit‹ bezeichnet.« (ebd.) Der soziale und geschichtliche Wandel grundlegender normativer Strukturen (bei Pippin »dichte normative Begriffe«, ebd., S. 376), die als Instanzen der »Sinnabhängigkeit« (ebd., S. 372) der Begriffe einer objektiven Welt von »konstitutiv-normativen Verbindlichkeiten« (ebd., S. 375) fungieren, wird von einer Norm von Wahrheit gesteuert, die zwar zum einen »praxis-intern« ist (ebd.), also innerhalb der Begriffs- und Handlungsregeln einer Zeit (und nicht mit Blick auf ein »Ding an sich«) verhandelt wird. Diese Norm der Wahrheit aber überragt zum anderen auch die bloße Zufälligkeit und Relativität des jeweiligen sozialen Normensystems. Denn sie ist Ausdruck einer sich entwickelnden Totalität, die den »Verlust des normativen Zugriffs des Begriffs« innerhalb eines historischen Zustands als Entwicklung hin zur völligen Entsprechung, Integration, Ausdifferenzierung und Funktionsfähigkeit der normativen Regeln und Strukturen begreift. In der Norm dieses Ziels verliert zuletzt jeder Rest des Gegensatzes zwischen »objektiv-gegenstandszugehörig« und »subjektiv-sozial« – und damit jede Zufälligkeit und Relativität von Wahrheit – seinen Sinn. Diese starke Norm einer Wahrheit, auf die sich die normativen Begriffe hin entwickeln, benötigt eine ebenso starke Norm von Begründungszusammenhängen, in der Begründungen nicht wieder durch andere oder gar gegensätzliche Begründungen ablösbar oder wie bei Brandom grundsätzlich revidierbar sind. Demensprechend kritisiert Pippin an Brandoms inferentiellem Holismus, dass dieser nicht dazu in der Lage ist, eine externe Kritik an der Autorität von Normen innerhalb eines Sozialsystems angemessen zu begründen, oder zu erklären, welchen »Wert« die Kritik an solchen Normen jeweils konkret hat (ebd., S. 388): Eben weil ihm eine solche starke und doch zugleich dynamische Norm der Wahrheit fehlt.

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V. Ausblick: Der Unterschied in der Erscheinung Folgerichtig ist es ein zentraler Gesichtspunkt des Kapitels zur »Erscheinung«, den in den Reflexionsbeziehungen immer wieder heraustretenden, sich fixieren wollenden Unterschied einzuebnen: d. h. ihn in die Unmittelbarkeit und Identität rückzubeziehen, aus der er sich freizumachen sucht. Das Verstandesdenken, welches das Organ der Wesenslogik ist, muss sich auf dem Weg zum Begriff selbst in den Griff bekommen. Die wesenslogische Reflexion sucht deshalb verstärkt danach, den Einheitsgrund ihrer Prozeduren des Entgegensetzens aufzufinden und den Unterschied des Wesens als gänzlich integrierten zu verstehen. So muss der Unterschied von Wesen und Erscheinung gegen seine eigene Tendenz gedacht werden, nämlich als Gegensatz von Wesentlichem und Unwesentlichem zu erscheinen. Denn die Erscheinung ist das Wesen selbst als existierendes, d. h. sich in der Erscheinung mit sich selbst zusammenschließendes. Das Wesen reflektiert sich in der Erscheinung in sich, d. h. das Andere des Scheins ist ihm zur Unmittelbarkeit seines eigenen Daseins geworden, und nicht mehr nur bloß als Wesenloses gegenübergestellt. Die bloße Reflexion-in-Anderes wie zwischen Wesen und Schein ist folglich nun inneres Moment eines Selbstverhältnisses, in welchem das Wesen in der Erscheinung ganz bei sich ist, ohne dass der Unterschied von Wesen und Erscheinung deshalb ausgelöscht wäre. Gleiches gilt für die reflektierten Unterscheidungen von Materie und Form sowie Inhalt und Form, die als Stufen des »Gesetzes« der Erscheinung auftreten. Ihr jeweiliger Gegensatz ist nur auf wahre Weise entwickelt, wo die Gleichgültigkeit gegeneinander wie in Materie und Form zu einem Verhältnis unmittelbarer, in sich reflektierter Einheit findet: Inhalt ist nur als Umschlagen der Form in ihn. Vollends in den Formen des wesentlichen Verhältnisses geht diese Eindämmung der Negativität des Unterschieds in die Selbstbeschreibung der Unterschiede ein. Ganzes und Teil, Kraft und Äußerung, Innen und Außen können nur als jeweils »Ein und Dasselbe« begriffen werden, das als »konkrete Identität« eines Ganzen den Unterschied nurmehr in sich hat. Die Unmöglichkeit, den Unterschied jetzt noch als fixierten oder als bloß negativen zu begreifen, wird daran deutlich, wie »Innen« und »Außen« als Formbestimmungen des Wesens überhaupt nicht mehr voneinander abgelöst werden können, ohne sich auch in der Ablösung zur Einheit zu bilden. Die Gravitation ihrer Identität ist dabei so stark, dass aus dem abstrakten Unterschied sofort die abstrakte Identität beider folgt: Wo das Innerliche im Unterschied zum Äußerlichen fixiert wird, ist es zugleich ein nur Äußerliches, d. h. dem Wesen unangemessen Fremdes und Unentwickeltes. Die Art und Weise, wie sich die leeren Abstraktionen von Innen und Außen unmittelbar an sich selbst aufheben, zeigt an, dass nun am Ende der Wesenslogik der Übertritt in eine Sphäre vollzogen wird, in der schlechthin die Identität von Wesen und Erscheinung, Identität und Unterschied nicht mehr verschwiegen, verdeckt oder aufgehoben werden kann: Die Wirklichkeit. Fortan wird der Unterschied selbst seine Funktion nunmehr in Bezug auf die unmittelbare Einheit finden, welche sich in ihm verwirklicht und gerade darin mit sich selbst zusammenschließt.

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VI. Zusammenfassung Die im Folgenden nur skizzenhaft und ergebnisbezogen umrissenen Thesen haben sich als Gelenkstellen meiner Diskussion der ersten Hälfte der Wesenslogik herausgestellt: (1) Fortbestimmen und Unterschied: Ich habe zunächst die Frage gestellt, wie wir das Fortbestimmen von Kategorien in der Logik überhaupt zu verstehen haben. Fortbestimmen bedeutet, dass Kategorien sich durch verschiedene Fortgangskräfte an die Stelle vorhergehender Kategorien setzen. Dabei habe ich versucht zu zeigen, dass der »Unterschied überhaupt« die letztlich für alle Teile der Logik zentrale (methodische) Reflexionsbestimmung ist, die (a) die verschiedenen Formen des Fortgangs bzw. die Beziehungsformen der Kategorien untereinander und zu sich selbst bestimmt und (b) deren Verhältnis zwischen Selbstzuschreibung und Realität markiert. Der Übergang der Kategorien in der Seinslogik erfolgt durch eine äußere Reflexion, d. h. die verschiedenen Momente sind als von einander äußerlich Unterschiedene an sich gegeneinander gleichgültig. Der Unterschied der seinslogischen Kategorien in der Form von »Etwas« und »Anderem« ist daher ein endlicher (Seinslogik als ein »Uebergehen […] in Anderes«, GW 20, 177 [§ 161]). Der Übergang der Kategorien in der Wesenslogik erfolgt durch eine bestimmte Reflexion, d. h. die gegensätzlichen Momente sind als voneinander Unterschiedene sich gegenseitig bestimmend als ihr Gegenteil und in Form des eigenen Nichtseins, das in das Selbstsein als negative Beziehung integriert ist; der Unterschied der wesenslogischen Kategorien in der Form von »Positivem« und »Negativem« ist daher ein absoluter (Wesenslogik als »Scheinen in Anderes«, GW 20, 177 [§ 161]). Das Fortbestimmen in der Begriffslogik erfolgt innerhalb der eigenen Entwicklung des Begriffs selbst, d. h. die widersprüchlichen Momente enthalten als Gegensätzliche das Andere affirmativ in sich selbst, sie sind jeweils sie selbst und ihr Anderes (»Entwicklung«, GW 20, 177 [§ 161]). Der Unterschied ist erst hier vollständig in der Einheit des Begriffs aufgehoben. (2) Selbstzuschreibung und Realität: In einem zweiten Schritt habe ich angedeutet, inwiefern diese Beziehungsformen das Verhältnis von Selbstzuschreibung und Realität, ›Wissen‹ und ›Tun‹ einer Kategorie bestimmen. Selbstbeschreibung oder Selbstexplikation meint das ›Wissen‹, das eine Kategorie von sich hat, d. h. die Bestimmungen, die sie an sich selbst hat, die sie sich selbst quasi ›zuschreibt‹: d. h. die durch eine Definition expliziert werden würden, und um die die Kategorie daher ›weiß‹. Mit ›Realität‹ ist hier hingegen das ›Tun‹ der Kategorien gemeint, bzw. genauer: die ihrem expliziten begrifflichen Tun impliziten Bedeutungsverhältnisse, welche die bloß statische Selbstzuschreibung von bestimmten Eigenschaften überschreiten. Der Widerspruch zwischen Selbstzuschreibung und Realität ist dabei der Motor des Fortgangs der Kategorien: Sich substantiell nur identisch in sich selbst zu haben und durch eine bloß äußerliche Reflexion auf andere Kategorien bezogen zu sein, macht die Selbstbeschreibung seinslogischer Bestimmungen aus. Das aber, was beispielsweise hingegen das »Sein« semantisch an Bestimmungen in Szene setzt, indem es gemäß seiner Selbstbeschreibung als bloßes Gegenteil vom »Nichts« verstanden wird, produziert einen begrifflichen ›Überschuss‹ gegenüber der Selbstbeschreibung, durch welchen es ins »Werden« übergehen muss.

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Auch, wenn also bestimmte Beziehungen auf andere Kategorien noch nicht zur Selbstbeschreibung einer Kategorie gehören, so gehören sie doch sehr wohl zu deren Realität und machen die Kategorie gewissermaßen semantisch ungleichzeitig mit sich selbst. Die Unterscheidung zwischen Selbstbeschreibung und Realität erfüllt dabei ein Dreifaches: (i) Sie garantiert, dass das Fortgehen der Kategorien, auch, wenn es nur äußerlich festgestellt wird, trotzdem in den Kategorien selbst begründet ist. (ii) Das, was die Kategorien von sich ›wissen‹ (Selbstbeschreibung) und das, was ihre Realität ausmacht (was sie tun und wie sie implizit bereits funktionieren), tritt in den Seinskategorien noch stark auseinander, kommt sich in den Wesenskategorien näher, und ist in der »Subjektiven Logik« schließlich deckungsgleich, wo sie in der »absoluten Idee« zusammenfallen. Deshalb macht es Sinn, dass am Anfang der Logik das Bewusstsein in der Realität schon voll ausgebildet ist. Die Kategorien entwickeln sich zum Ende hin so, dass sie ihrer Realität, die immer schon voll ausgebildet ist, in der Selbstbeschreibung immer mehr entsprechen. (iii) Genau dieser Unterschied macht Hegels Wahrheitsbegriff aus, denn wahr im vollen Sinne ist eine Kategorie, wenn sie tut, was sie weiß und wenn sie weiß, was sie tut. Eben dies ist es, was Hegel meint, wenn er sagt, dass ›der Begriff sich selbst Realität geben‹ muss. Es muss die Aufgabe einer jeden Kategorie sein, ein explizites Wissen ihrer zunächst impliziten Realität zu erlangen; dass das, was eine Kategorie ihrer (begrifflichen) Realität nach ist, ihrem ›Wissen‹, d. h. ihrer Selbstzuschreibung nicht äußerlich bleibt. Ziel muss es schließlich sein, die vollen realen Implikationen, also das, was eine Kategorie ist, in die Selbstzuschreibung bzw. Selbstexemplifizierung völlig zu integrieren. (3) Grund: Ich habe anschließend eine Interpretation des »Grundes« in der Wesenslogik gegeben, und dabei dreierlei aufzuzeigen versucht: (i) Unterschied und Grund: (a) Der Grund stiftet die Identität von etwas Anderem (Begründetem), indem er dieses begründet; denn Grund heißt, dass Etwas seine wesentliche Bestimmung in etwas Anderem hat, das damit die Identität dieses Etwas stiftet. (b) Der Grund ist dabei durch einen doppelten Selbstbezug gekennzeichnet: Zum einen begründet der Grund sich dabei selbst als Grund, indem er etwas Anderes begründet. Zum anderen ist das Begründete, welches der Grund begründet, der Grund selbst. Somit ist alles, was ein Grund ist, zugleich begründet, und als was begründet ist, zugleich ein Grund. Dieses Moment des Unterschieds im Grund aber ist auch dafür verantwortlich, dass verschiedene bis gegensätzliche Gründe für oder gegen einen Inhalt möglich sind. Der Begriff des Grundes, so gedacht, ist wesenslogisch nämlich nur ein bloß formaler, d. h. er kann aus sich selbst keinen bestimmten Inhalt erzeugen; oder mit anderen Worten: er setzt keine Normen seiner Verwendung, z. B. um gute von schlechten Gründen zu unterscheiden. Deshalb ist auch der Satz vom zureichenden Grund einer, der die Kategorie des formellen Grundes der Wesenslogik überschreitet, denn zureichende wahre Gründe sind solche, die normativ und essentiell hinreichend für eine Sache sind und deshalb eine willkürliche Variation je nach Kontext nicht erlauben. In der Bestimmung des Grundes, wie Hegel ihn in der Wesenslogik entfaltet, zeigt sich wie normativ unzureichend für ihn die bloß formale Bestimmung des Begründens für einen Begriff gehaltvoller Rationalität ist.

Grund und Begründung

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(ii) Rechtfertigung und Wahrheit – Möglichkeit und Notwendigkeit: Die epistemische Schlussfolgerung aus den bisherigen Erörterungen lautet daher: Gründe können, bloß formal betrachtet, mit je gleichem Recht immer anders sein und auch gegensätzliche Gegenstände wiederum gegensätzlich begründen. Nach Hegel aber gibt es in der strengen Wahrheit keinen Verhandlungsspielraum, sondern notwendige Bedingungsverhältnisse. Es geht in ihr folglich nicht um kontextualistische Unterschiede: die Qualität und unbedingte Geltung von wahren Gründen hängt nicht von Kontexten ab, in denen sie verwendet werden. Der heute oftmals gemachte Unterschied zwischen Wahrheit und Rechtfertigung (Gründen) – Wahrheit als Übereinstimmung mit der Welt; Rechtfertigung als Übereinstimmung von Überzeugungen – ist nicht der, den Hegel machen würde, weil auch Wahrheit für Hegel ein konsistenter Zusammenhalt von Bedeutungsgehalten ist, nicht eine bloß ›richtige‹ Übereinstimmung mit kontingenten Sachverhalten (was ›der Fall ist‹). Für Hegel bestünde demzufolge der Unterschied zwischen Wahrheit und (bloß formaler) Rechtfertigung viel eher bezüglich der modalen Modi von Möglichkeit und Notwendigkeit. Gründe rein an sich selbst betrachtet und aus ihrer engen Bindung an die Notwendigkeit des Begriffs gelöst, sind stets der Vielzahl von epistemischen, sozialen, historischen etc. Möglichkeiten ihrer Verwendung und Beurteilung unterstellt, weil sie einen essentiellen Grund der Unbestimmtheit in sich tragen, der wiederum, wie gezeigt worden ist, mit der Leitkategorie des Unterschieds zusammenhängt. Wahrheit hingegen ist notwendig und singulär; verschiedene Wahrheiten bzw. Wahrheitsbegründungen gibt es im Hegelschen Sinne nicht. Je weiter der Grund sich aber in Richtung Wahrheit verschiebt, desto kausalistischer und damit notwendiger wird auch der Rechtfertigungszusammenhang, den er in Szene setzt. Dies sehen wir bereits am Ende der Wesenslogik in den notwendigen Beziehungen von Bedingung (Ursache) und Folge (Wirkung) (vgl. Abschnitt V). Deshalb habe ich angedeutet, inwiefern Hegel mit einem solch emphatischen und geltungstheoretisch strengen Wahrheitsbegriff einem sonst in zahlreichen Perspektiven durchaus ›Hegelianischen‹ Denker wie Robert Brandom entgegensteht und nicht einfach umstandslos, d. h. ohne genaue Modifikationen und Paramaterbestimmungen der Bezugnahme, als ›Vorbild‹ in Anspruch genommen werden darf. (iii) Diese Interpretation führte mich zu rationalitätstheoretischen Überlegungen im Anschluss an Robert B. Brandoms Idee von »begrifflicher Normativität« bzw. »conceptual norms«. Es hatte sich angedeutet, dass Hegels Kritik des rein formalen Begriff des Grundes in der Wesenslogik zumindest eben jenen Rest an Unbestimmtheit und Offenheit, der sich in der Relativität und Kontextualität des »Spiels der Gründe« manifestiert, als für die Wahrheit des Begriffs ungenügend erachtet – auch wenn er einen kohärentistischen Wahrheitsbegriff vertritt, für den Wahrheit und Rechtfertigung strukturell und prinzipiell weitaus enger verwandt sind als im adäquationistischen Wahrheitsbegriff (»Richtigkeit« bei Hegel), für den Wahrheit und Rechtfertigung durch Gründe einen strukturellen wie kategorialen Unterschied beschreiben.

Die Logik des Zufalls Über die Abschnitte A und B des Kapitels »Wirklichkeit« der Wesenslogik Folko Zander

Worum geht es im Kapitel »Die Wirklichkeit« der Wesenslogik? Auf den ersten Blick scheint Hegel hier die Modalitäten zu verhandeln. Laut Kant lassen sich aus einer ersten dichotomischen Einteilung des problematischen »Gegenstandes überhaupt« in Möglichkeit und Unmöglichkeit weitere dichotomische Einteilungen ableiten. Aus der Unmöglichkeit eines Gegenstandes – er ist nicht und er kann nicht sein – lassen sich keine weiteren Ableitungen treffen, wohl aber aus der Möglichkeit. Mit der Möglichkeit eines Gegenstandes ist nur ausgesagt, dass etwas sein kann. Dieses Seinkönnen lässt sich weiter differenzieren in etwas, das ist, unausgemacht, ob es auch nicht sein kann: das Dasein, und in etwas, das nicht ist: das Nichtsein. Das Dasein wiederum kann entweder auch nicht sein, dann wäre es das Zufällige, oder aber es kann als Notwendiges nicht nicht sein. Damit wäre die Einteilung der Modalitäten vollendet, die aber durch entsprechende Kombination noch ausgebaut werden könnte.1 Allein der Kontext verrät, dass es Hegel hier um mehr geht. Das Kapitel ist Teil eines Abschnitts, der ebenfalls den Titel »Die Wirklichkeit« trägt. Dieser wird eingeleitet vom Kapitel »Das Absolute«, und schon ein Blick auf die Binnenüberschriften zeigt, dass zunächst das Absolute, dessen Auslegung, Attribut und Modus thematisch sind. Hegel leitet den Abschnitt »Wirklichkeit« also mit einer Kategorie ein, die er dem Begriff der Substanz bei Spinoza entsprechend findet. Der Abschnitt entwickelt im Anschluss an die Modalitäten im dritten Kapitel »Das absolute Verhältniß« Substantialität, Kausalität, schließlich Wirkung und Gegenwirkung, also etwas, was Kant als Relationskategorien diskutiert. Überraschender noch als die Ableitung der für die Erfahrung laut Kant so wichtigen Relationskategorien aus einer Kategorie, die, ebenfalls laut Kant, »den Begriff, dem sie als Prädikat beigefügt werden […] nicht im mindesten vermehren«,2 dürfte die Tatsache sein, dass es die Kategorie der Wechselwirkung ist, die den Übergang zum Begriff und zur subjektiven Logik notwendig macht, und dass Hegel die Schwierigkeit des für das Wirklichkeitskapitel zentralen Begriffes der Notwendigkeit darin begründet sieht, »weil sie der Begriff selbst ist«, dessen Momente aber »in sich gebrochen« und »übergehend« (Enz § 147, GW 20, 167) sind.

1

Die Darstellung folgt hier Bröcker, Walter: Das Modalitätenproblem. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 1 (1946), S. 35–46, bes. 35–37. 2 Kant: KrV, A219/B266.

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Offensichtlich unternimmt Hegel im Kapitel »Wirklichkeit« zweierlei: Zum einen die Ableitung der Kategorien der Modalität. Zum anderen aber dies in einer Weise, die verrät, was es mit ihnen eigentlich auf sich hat. Denn in der oben gemachten kurzen Systematisierung blieb ja völlig offen, was unter »Sein« und »Seinkönnen« eigentlich zu verstehen ist. Dies zu beantworten ist wichtig, weil die Kategorie der Wirklichkeit und die aus ihr entwickelten Kategorien der Möglichkeit, Notwendigkeit und Zufälligkeit von besonderer Bedeutung für die gesamte Philosophie Hegels sind und ihre Auffassung in der »gang und gäben« Weise den Zugang zu ihr verstellen muss und zu den gängigen Missverständnissen führt. Ungeachtet seiner großen Bedeutung ist dieser Abschnitt außerordentlich sperrig, weshalb sich eine Argumentanalyse vor große Hürden gestellt sieht. Dies unterstreicht der Umstand, dass Hegel selbst sein Hauptwerk als stark überarbeitungswürdig angesehen hat; in welchem Maß, zeigt schon ein oberflächlicher Vergleich der Seinslogik von 1812 mit der überarbeiteten Fassung von 1832. Eine Argumentanalyse kann nur erfolgreich sein, wenn beherzt der hermeneutische Entschluss gefasst wird, in Hegels Text einen skizzenhaften Entwurf zu sehen, dessen Argumente nicht rekonstruiert, sondern allererst konstruiert und ausgearbeitet werden müssen. Damit eine solche Interpretation, die mangels Buchstaben »aus dem Geiste« erfolgt, dennoch dem Text angemessen bleibt und nicht beliebig wird, müssen dabei vorher von Hegel entwickelte Argumente ausgemacht und für die fragliche Stelle als maßgeblich identifiziert und appliziert werden. I. Die Zufälligkeit der Wirklichkeit Die Abschnitte A und B des Kapitels »Wirklichkeit« der Wesenslogik tragen die Titel: »Zufälligkeit oder formelle Wirklichkeit, Möglichkeit und Nothwendigkeit« und »Relative Notwendigkeit oder reale Wirklichkeit, Möglichkeit und Nothwendigkeit«. Hieraus sind schon wichtige Informationen zu entnehmen. Erstens wird angezeigt, dass die Zufälligkeit und die relative Notwendigkeit die Hauptakteure der jeweiligen Abschnitte sind, aus denen heraus die formelle bzw. die reale Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit erst verständlich gemacht werden können. Wenn dies so ist, sagt das zweitens, dass Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit aufeinander verweisen, als Momente dessen, aus dem heraus sie zu verstehen sind. Drittens gibt es dasjenige, was Hegel unter dem Titel Wirklichkeit verhandelt, in Graduierungen, die aus einer unmittelbaren Grundfigur (die wieder das Ergebnis früherer Vermittlungen ist) entwickelt werden. 1) Wirklichkeit als Möglichkeit. Das zunächst Unvollkommene, Formelle verdankt die Wirklichkeit ihrem unmittelbaren Auftreten. Als unmittelbar ist die Wirklichkeit »Seyn oder Existenz überhaupt« (GW 11, 381), umfasst also die grundlegende seinslogische Bestimmung sowie die Wahrheit dieser Bestimmung, das »Seyn, das aus dem Wesen hervorgeht« (ebd., 324). Zugleich aber, und dies ist das Ergebnis früherer Vermittlung, ist die Wirklichkeit »Formeinheit« des Ansichseins und der Äußerlichkeit. Darauf folgt der Satz: »Was wirklich ist, ist möglich« (ebd., 381). Was nun das Mögliche – zu-

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nächst – bedeutet, ist, wie immer bei Hegel, daraus zu ersehen, aus welcher Denkform es hervorgegangen ist. Hier ist es das Ansichsein. Allerdings ist das Ansichsein nun so zu denken, dass es nicht das Andere des Äußeren ist, das Gesetz, das auf welche Weise auch immer die Welt der Phänomene steuert. Sondern es ist in dieser Welt selbst verortet, die auf diese Weise nicht nur unmittelbar als gewärtig angesehen werden muss, sondern zugleich als diese selbst tätig hervorbringend, als Vermögen. 2) Möglichkeit als Potentialität. Hegel nennt die Möglichkeit nun die »reflectirte Wirklichkeit«. Diese sei »formell«, da »nur« »die Bestimmung der Identität mit sich oder des Ansichseyns überhaupt« (ebd., 382). Unter dieser Identität kann offenkundig nicht jene des Zusammenstimmens »mit den formalen Bedingungen einer Erfahrung überhaupt« im Sinne Kants gedacht sein,3 denn Hegel kann die Modalitäten nicht als Verhältnis der Objekte zum Erkenntnisvermögen denken, da dies eine Unterscheidung von Subjekt und Objekt voraussetzt, die in der Wissenschaft der Logik nicht mehr gemacht wird. Vielmehr wird das »Ansichseyn überhaupt« hier verstanden als die »Bestimmung der Identität mit sich«. Die Möglichkeit kann Möglichkeit nur sein, wenn sie sich nicht widerspricht. Etwas in sich Widerspruchsvolles kann nicht Wirklichkeit werden und nicht Möglichkeit sein. Einem unbefangenen Leser dürfte es zunächst nicht klar sein, weshalb ein viereckiges Dreieck oder ein verheirateter Junggeselle nicht mit sich identisch und somit unmöglich sind. Vor der Konstellation von Ansichsein und Wirklichkeit dieses Ansichseins (die sich auch nicht ändert, wenn nun beide in der Wirklichkeit verortet sind) lässt sich dieser Gedanke jedoch erhellen: Zwar mag es Möglichkeitsbereiche von Dreiecken und solche von Vierecken geben. Diese mögen sich entsprechend exemplifizieren lassen: Der Möglichkeitsbereich von Dreiecken durch ein wirkliches (z. B. rechtwinkliges) Dreieck, der von Vierecken durch ein wirkliches Viereck (z. B. ein Quadrat). Hier läge die genannte Identität und formelle Möglichkeit vor. Der Möglichkeitsbereich von Dreiecken lässt sich jedoch nicht durch ein Viereck instanziieren. Dies wäre das Vorliegen von Nichtidentität und Unmöglichkeit. Es zeigt sich jedoch, dass die Identität der formellen Möglichkeit zur Nichtidentität umschlägt, wird sie konsequent zu Ende gedacht. Das von Hegel bereitgestellte Argument lässt sich in etwa so wiedergeben: Gesetzt, die Möglichkeit dieser Wirklichkeit ist als A inhaltlich bestimmt, dann wäre der Ausdruck der Identität mit sich A=A. Inhaltliche Füllung aber kann nur durch Determination stattfinden. A müsste also durch B, C usw., kurz durch ⌐A determiniert werden. Auf diese Weise wäre aber das Mögliche als A und als ⌐A bestimmt, somit ein nicht mit sich Identisches, ein Unmögliches. Dieser paraphrasierte Text kann aber als Argument nicht befriedigen. Es mag zugestanden werden, dass eine Möglichkeit in der Bestimmtheit A nur vorliegen kann, wenn sie durch andere Bestimmtheiten B, C, D, kurz: ⌐A zu A bestimmt wird. Diese Bestimmung kann aber völlig unbeschadet der Identität von A und A erfolgen. Mag 3

Ebd., A220/B267.

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das Ansich der Farbe Gelb zu seiner Determination alle anderen Farben nötig haben, um dann durch eine gelbe Blume verwirklicht zu werden, es wird durch diese Determination jedoch zu keiner anderen Farbe außer Gelb. Aber allein dadurch ließe sich der Widerspruch konstruieren, der in Hegels Text konstatiert wird. Soll sich der Interpret nicht dazu versteigen, Hegel einen solchen Patzer zu unterstellen, bleibt nichts, als diese Skizze Hegels, die nur auf ein Argument verweist statt eins zu liefern, zu einem solchen auszuführen: a) Das Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit wurde oben als das einer Identität angesprochen. Liegt diese vor, so kann zu Recht von Möglichkeit gesprochen werden; liegt sie nicht vor, wandelt sich die Möglichkeit in Unmöglichkeit. Hier erhebt sich die Frage: Identität wovon? Denn es ist ja evident, dass Identität nur hinsichtlich von Bestimmungen ausgesagt werden kann. Als eine solche Bestimmung A wurde die Möglichkeit oben erprobt. b) Aber schon Hegels Worten ist ja zu entnehmen, dass eine Bestimmung A nur vorliegen kann, wenn sie qua Negation von anderen Bestimmungen dazu determiniert wird. Neben die Identität in der Bestimmung A=A, als welche die Möglichkeit ausgesprochen wurde, treten nun die Identitäten B=B, C=C usf. Die formelle Möglichkeit, die durch die Identität ausgedrückt werden sollte, scheint aber nun durch ihre Bestimmung verloren zu gehen. Denn es gibt nun nur noch die »Möglichkeit-von-A«, die »Möglichkeit-von-B« usw. Da Möglichkeit ihrem Begriffe nach aber eine Vielheit von Bestimmungen in sich vereinigen muss, können letztgenannte nicht mit Recht Möglichkeiten genannt werden. c) Möglichkeit kann als Möglichkeit nur gerettet werden, wenn sie als invariante Identität ihrer variablen Bestimmungen gefasst wird. Dies führt zu einem neben dem »omnis determinatio est negatio« wichtigsten Grundgedanken der Hegelschen Philosophie: dem der Reziprozität oder der Gleich-Gültigkeit. Von einer Möglichkeit als Identität kann dann nur gesprochen werden, wenn das Ansichsein A mit gleichem Rechte in der Bestimmung B, C, D usw., kurz: ⌐A vorliegt. Und damit ist der von Hegel intendierte Gedanke gerechtfertigt, auch in der formellen Möglichkeit eine Unmöglichkeit zu haben. Auch in einer zweiten Hinsicht ist die Möglichkeit eine Unmöglichkeit, und zwar gerade darin, dass sie Möglichkeit ist. Hegel wählt dafür die Worte, die Möglichkeit sei »das Ansichseyn, bestimmt, als nur ein gesetztes oder eben so sehr als nicht an sich zu seyn.« (GW 11, 382) Als »verhältnißlose[r] unbestimmte[r] Behälter für Alles überhaupt« (ebd., 382) ist sie eben in der Bestimmung A als möglicher nur dann, wenn auch die Bestimmung ⌐A als mögliche bestimmt ist. Bezogen nun auf die Wirklichkeit, die sie antizipiert, ist sie aber nur Ansichsein der einen Wirklichkeit A, zu der sie wird. Wird aber die Wirklichkeit A bezogen auf die Bestimmungen ⌐A, die sich nicht realisieren, so muss die Möglichkeit in dieser Hinsicht betrachtet werden als nicht das Ansich von A, als Nur-Möglichkeit von ⌐A, das eben nicht realisiert wurde, was mit dem geläufigeren Ausdruck Potentialität bezeichnet werden könnte. Damit aber ist die Möglichkeit ebenso Ansichsein als A wie Nichtansichsein als ⌐A, und so ist die Möglichkeit bestimmt als der »Widerspruch, der sich aufhebt« (ebd.,

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383) und das Reflektierte als »das sich aufhebende Refletirte« (ebd.), somit auch das Unmittelbare und somit zur Wirklichkeit geworden. Dies ist keinesfalls das Eingeständnis, dass sich die Gedankenfigur der Wirklichkeit und Möglichkeit in Widersinn verrannt habe und so ein neuer Ansatz gesucht werden müsse. Dies verstieße gegen die Hegelsche Methode, den Widerspruch als notwendigen Widerspruch der Gedankenbestimmung ernst zu nehmen. In diesen überleitenden Bemerkungen macht Hegel lediglich eine Bestandsaufnahme, um zu zeigen, wie Wirklichkeit und Möglichkeit tatsächlich zu denken sind. Die Wirklichkeit ist also das Reflektierte, das sich von Wirklichkeit in Möglichkeit und von Möglichkeit in Wirklichkeit Setzende. Als Wirklichkeit ist sie einerseits die Möglichkeit einer neuen, tatsächlich gesetzten Wirklichkeit, deren Ansichsein sie ist, wie sie zugleich Möglichkeit dieser Wirklichkeit nur sein kann, indem sie andere Wirklichkeiten nicht realisiert, in dieser Hinsicht nicht Ansich ist. Ebenso kommt die Wirklichkeit von einer ebensolchen Wirklichkeit her, die als Möglichkeit zugleich sie gesetzt hat wie sie andere nicht gesetzt hat. 3) Die Zufälligkeit. Diese neue Form der Wirklichkeit ist die gesetzte Einheit von Wirklichkeit und Möglichkeit. Als solche verwirklicht sie die Möglichkeit in ihrer Schrumpfform der Nur-Möglichkeit, der Potentialität, der nicht realisierten Möglichkeit, zur Zufälligkeit, dem Sein, das nach traditioneller Vorstellung ebenso nicht sein kann, bei Hegel aber die paradoxe Bestimmung erfährt, ebenso zu sein wie nicht zu sein. Zwar wird das Wirkliche im Möglichen integriert und ist so nicht mehr Übergehen in Anderes, wie noch am Anfang der Seinslogik und wie in eindrücklichen Bildern am Anfang der Phänomenologie des Geistes beschrieben, aber sie wird nur bestimmt zu irgendeiner Wirklichkeit irgendeiner Möglichkeit. Dies ist wichtig, um Hegels Satz nicht misszuverstehen, nach dem alles »Mögliche überhaupt ein Seyn oder Existenz« habe (ebd.). Damit ist nicht etwa ausgedrückt, dass es Einhörner und türkische Kaiser auf dem Papstthron gebe. Es ist nur gesagt, dass das »Mögliche überhaupt« ein Sein hat. Es ist also hier eher eine Bestimmung der Wirklichkeit ausgesprochen, formell zunächst als Mögliches überhaupt zu existieren, als Zufälligkeit. Diese Zufälligkeit wird nun von Hegel gleichsam statisch beschrieben, um dann die ihr immanente Dynamik zu erörtern, die im Befund, die Möglichkeit sei »der Widerspruch, der sich aufhebt« (ebd.), bereits enthalten ist. Das Zufällige ist nun »ein Wirkliches, das zugleich nur als möglich bestimmt, dessen Anderes oder Gegentheil eben so sehr ist« (GW 11, 383 f.). Dieser Satz muss wörtlich genommen und aus der Bestimmung der Möglichkeit, der Widerspruch zu sein, der sich aufhebt, begriffen werden. Ein Wirkliches kann nur möglich sein und zugleich wirkliches bleiben, wenn es andere Wirklichkeit ist. Wenn von der Wirklichkeit A als einer Zufälligkeit gesprochen wird, dann wird darin ausgesagt, dass A als Zufälliges ebenso B ist. Da das wirklich Gewordene nicht seinen ganzen Möglichkeitsraum verwirklicht, also etwas zurücklässt, was zu dem wirklich Gewordenen sich nicht als Ansich verhält, wird es von diesem Nicht-Ansich gleichsam dementiert. (Der intuitivere Satz, A hätte ebenso B sein können, sagt von A mehr aus, als bloß Zufälligkeit zu sein, nämlich Zufälligkeit in der notwendigen Bestimmung von A zu sein, wovon weiter unten).

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Das Momentsein des formell Wirklichen und formell Möglichen am zunächst als absolute Form bestimmten Wirklichen zeigt sich darin, dass jedes selbst die Bestimmung hat, in das andere überzugehen. Das Zufällige wird so zur »absolute[n] Unruhe des Werdens dieser beyden Bestimmungen« (ebd., 384): a) Jede unmittelbare Wirklichkeit, getrennt von der Möglichkeit, als grundlose, also irgendeine, kann auch anders sein, irgendeine andere, ist also zugleich möglich. b) Möglichkeit als unmittelbar, getrennt von der Wirklichkeit, ist nicht anders zu fassen als »Seiendes überhaupt«, ist also zugleich wirklich. »Unruhig« wird die Zufälligkeit durch ihren paradox anmutenden Charakter: Indem sie wirklich ist, manifestiert sie zugleich das Mögliche, dies so durch das Wirkliche manifestierte Mögliche manifestiert aber zugleich das Wirkliche, und zwar als Zufälliges. II. Die Notwendigkeit der Zufälligkeit Jedoch lässt es die differenziert charakterisierte Zufälligkeit überraschenderweise zu, hier den Übergang in die Kategorie der Notwendigkeit zu sehen: Als Unruhe, also das unmittelbare Umschlagen von Wirklichkeit und Möglichkeit ineinander, ist der Begriff Zufälligkeit angebracht. Als Umschlagen aber der Möglichkeit und Wirklichkeit ineinander kann von Notwendigkeit gesprochen werden. Die formelle Wirklichkeit ist identisch mit der formellen Möglichkeit. Insofern kann von der Figur der Zufälligkeit gesagt werden, sie sei eine Existenz, die durch die Möglichkeit selbst gegeben ist, als die Möglichkeit gar nicht anders gedacht werden kann denn als Zufälligkeit, in dieser aber die Möglichkeit als wirklich gesetzt ist. Insofern geht die »Unruhe des Werdens« der Bestimmungen der Möglichkeit und Wirklichkeit »mit sich selbst zusammen« (ebd.), ist also ebenso Identität (Notwendigkeit), wie sie Nichtidentität (Zufälligkeit) ist. Die Wirklichkeit als »in ihrem Unterschiedenen, der Möglichkeit« (GW 11, 386), mit sich identische hat in dieser Identität eine Weiterung erfahren, die es erlaubt, sie nun als Notwendigkeit zu benennen. 1) Der Inhalt der Wirklichkeit. Mit der Ableitung der Notwendigkeit erscheint aber der ganze Bereich der Wirklichkeit in einem neuen Licht. Die Zufälligkeit als formelle Wirklichkeit musste einer als Inhalt identifizierbaren Wirklichkeit entbehren. Denn jeder bestimmte Inhalt musste als möglicher einem anderen Inhalt weichen, der bestimmte Inhalt als von einer Möglichkeit gesetzt wurde unmittelbar durch einen anderen bestimmten Inhalt, gesetzt vom Nicht-Ansich, dementiert usf. Das wie aus dem Nichts gewordene Zufällige verschwand so in einem anderen Zufälligen, welches ebenfalls als wie aus dem Nichts entstanden erschien. Indem aber das die Wirklichkeit dementierende Mögliche als mit diesem identisch erkannt ist, kann überhaupt so etwas wie Inhalt entstehen, der nun, nicht mehr als Widerspruch verkannt, »mannichfaltiger Inhalt überhaupt« (ebd., 383), die formelle Wirklichkeit somit zur realen Wirklichkeit fortbestimmt hat. Wenn nämlich das Wirkliche das Mögliche manifestiert, dieses aber nun in einem Negationssinn erscheint, welcher das Wirkliche nicht mehr dementiert, sondern determiniert (s. o.), so ist erst durch diese Determination an eine inhaltsvolle Wirklichkeit zu denken.

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Der Weg zum Verständnis dieser Gedankenfigur wird verstellt, wenn unter dem Reich des Möglichen das des Irrealen verstanden wird. Als solches könnte es alles Mögliche enthalten. Ein solches von der Wirklichkeit abgegrenztes Reich des Möglichen kann jedoch, selbst unter der Voraussetzung, es dürfe nichts in sich Widersprechendes bergen, nicht als solches bezeichnet werden. Denn als Mögliches ist es ja erst durch das Wirkliche bestimmt, es ist möglich erst in Bezug auf die Wirklichkeit. Wenn jemand behauptet, er hätte die Möglichkeit, aus dem Stand zwei Meter zu springen, so wird dies als sein Vermögen erst dann akzeptiert werden, wenn er es durch die Tat beglaubigt. Wird nun auf der anderen Seite das Reich des Wirklichen vom Reich des Irrealen getrennt, so wäre eine solche Tat, also ein Sprung von zwei Metern aus dem Stand, ein bloßer isolierter Tatbestand. Zu einer Wirklichkeit, also einer realisierten Möglichkeit wird erst dann gelangt, indem sie durch das Mögliche bestimmt wird. Jemand ist aus dem Stand zwei Meter weit gesprungen: Er ist also nicht stehengeblieben, nicht hingefallen, nicht aus dem Zimmer gegangen. Gesetzt, es hätten nur diese Optionen bestanden: Stehenbleiben, Hinfallen, aus dem Zimmer gehen, aus dem Stand zwei Meter weit springen, so wird deutlich, dass die Wirklichkeit einer Möglichkeit durch die Negation von Optionen determiniert wird. Umgekehrt wird die Möglichkeit durch die so gesetzte Wirklichkeit determiniert: Er ist nicht stehengeblieben, nicht hingefallen, nicht aus dem Raum gegangen. Diese drei Bestimmungen, was er hätte tun können, liegen nun als Potentielles sozusagen im Rücken der Tat. Hegel nutzt, wie so oft, die Mehrdeutigkeit von Wirklichkeit, um das so erreichte Inhaltsvolle zu beschreiben. Anders als das in diesem Kontext herbeizitierte Ding mit seinen Eigenschaften, dessen Substrat die vielen Eigenschaften nicht in sich vermitteln konnte, vermag dies die Wirklichkeit in ihrer Vielgestalt. »Was wirklich ist, kann wirken; seine Wirklichkeit gibt Etwas kund durch das, was es hervorbringt.« (GW 11, 385 f.) Erst hier ist begrifflich eingeholt, wie das Absolute sich selbst manifestiert, und zwar als Wirken, wobei das inhaltlich Gewirkte zugleich eine inhaltliche Bestimmung des Absoluten selbst ist, nämlich als Bestimmung dessen, was das Absolute vermag. 2) Die reale Möglichkeit als reale Notwendigkeit. Nun lässt sich die inhaltsvolle Wirklichkeit betrachten als eine hervorgebrachte. Dabei ist die reale Wirklichkeit selbst dieses Hervorbringen: Sie ist so reale Möglichkeit. Als solche verweist sie auf die »Bestimmungen, Umstände, Bedingungen einer Sache«, »um daraus ihre Möglichkeit zu erkennen«. (ebd., 386) Das so gefasste Ansichsein einer Sache ist die »daseiende Mannigfaltigkeit von Umständen, die sich auf sie beziehen.« (ebd.) Die Wirklichkeit ist also unter einem Doppelaspekt zu sehen: Einmal als Wirklichkeit, die von einer Möglichkeit kündet, die sie hervorgebracht hat, das andere Mal als Wirklichkeit, die selbst Möglichkeit ist, also Wirkendes, das im Vermögen ist, Anderes hervorzubringen. Wirklichkeit und Möglichkeit sind Formunterschiede, die in ihrer Existenz, dem Inhalt, als gleich-gültig zusammengehen. Das Mögliche hat sich nun an dieser gleichgültigen Existenz zu manifestieren. Hier wiederholt sich eine kategoriale Bewegung, die schon oben gezeigt wurde: Das unmittelbare Wirkliche als zugleich reales Mögliches kann als Mögliches nur gefasst werden, wenn es nicht sein eigenes Mögliches ist, denn als Wirklichkeit A kann sie nicht als

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Möglichkeit angesprochen werden, wenn diese ebenfalls auf A festgelegt wäre. Sie ist Möglichkeit nur dann, wenn sie die Möglichkeit einer anderen Wirklichkeit ist. Als reale Möglichkeit ist sie aber zugleich wirklich. Das bedeutet, dass die Wirklichkeit in Anderes aufgehoben werden muss, um zugleich Möglichkeit sein zu können – was nicht bedeutet, dass nicht zwei identische Zustände aufeinander folgen können, aber eben nur als Alternativen in sich bergende Möglichkeit. So wird die »zerstreute Wirklichkeit« das »Ganze von Bedingungen«, nämlich zu anderen Wirklichkeiten. In diesem beständigen Anderswerden ist nun der mit dem Möglichen gegebene Widerspruch so in das Konzept des Wirklichen integriert, dass es dessen Identität nicht mehr aufsprengt, aber das Wirkliche als Mögliches zu einem Transitorischen umprägt. Es ist leicht zu ersehen, dass und wie aus dieser Figur einer »Unruhe des Werdens« die Kategorie der realen Notwendigkeit gewonnen wird. Das Wirkliche als zugleich Potentielles ist dies und kann dies nur sein, insofern es nicht in seiner Einfachheit bleibt, sondern eine Mannigfaltigkeit von Optionen aufschließt. Diese sind aber Optionen nur dann, wenn eine von ihnen zu einer neuen Wirklichkeit wird. Das Potentielle als etwas, das »aufgehoben werden soll« (ebd.), ist so sich verändernde Wirklichkeit. Nur ist die so gesetzte neue Wirklichkeit ebenso neue Möglichkeit, nämlich einer anderen Wirklichkeit, usf. Dieses Aufheben von realer Möglichkeit in reale Wirklichkeit und umgekehrt ist nun eine Möglichkeit, die nicht anders als wirklich gedacht werden kann. Sie ist Möglichkeit, indem sie wirklich ist. 3) Abhängigkeit der Notwendigkeit von der Zufälligkeit. Interpretationsbedarf besteht nun allerdings bei Hegels Aussage, »was real möglich ist, das kann nicht mehr anders sein; unter diesen Bedingungen und Umständen kann nicht etwas anderes erfolgen«. (GW 11, 383) Wird dies so aufgefasst, als determiniere eine als wirklich gesetzte Möglichkeit alle ihr folgenden Wirklichkeiten, so könnte sie nicht mehr als Möglichkeit aufgefasst werden. Reale Möglichkeit ist sie ja eben genau dann, wenn sie eben anders sein kann und daher sich in diese andere Wirklichkeit hinein verwirklichen muss. Bleibt übrig, dass die reale Möglichkeit unter dem Aspekt der Wirklichkeit nicht mehr anders sein kann und Notwendigkeit wird. Die reale Möglichkeit ist Notwendigkeit insofern, als sie die sich aus ihr eröffnenden Perspektiven zu einer verengt und so verwirklicht. Die »Negation der realen Möglichkeit ist ihre Identität mit sich, indem sie so in ihrem Aufheben der Gegenstoß dieses Aufhebens in sich selbst ist« (ebd., 388). Diese Identität, die sich von der Vielheit der Möglichkeiten abstößt, ist es, die als Notwendigkeit angesprochen wird. Wenn Hegel also äußert, dass, was real möglich sei, nicht mehr anders sein könne, so ist also damit nicht gemeint, dass aus einer Möglichkeit A notwendig eine Wirklichkeit B folgen müsse. Es ist nicht mehr gesagt als: Wenn ein Möglichkeitsraum A, B, C sich zu einer Wirklichkeit B vereinzelt, sind dann A und C als Wirklichkeiten ausgeschlossen. Das B, zu dem sich die Möglichkeit verwirklicht hat, ist auch nicht, wie ein naheliegender Einwand lauten könnte, etwas Zufälliges. Denn zufällig ist ein Wirkliches dann, wenn es A und ⌐A zugleich ist (als alles Mögliche, das ein Dasein überhaupt hat, s. o.). Wenn Hegel so korrekt verstanden ist, so kann Notwendigkeit von einem Sachverhalt nur retrognostisch und retrospektiv ausgesagt werden, nicht prognostisch und prospektiv. – Wird beim Würfeln eine Eins geworfen, so ist nun

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der logische Wortschatz umfangreich genug, um den Würfel als inhaltsvolle Wirklichkeit anzusprechen, nämlich als Gegenstand, dessen obere Augenzahl eins beträgt und der die Möglichkeit gehabt hat, dass die obere Augenzahl zwei bis sechs hätte betragen können. Dass die Zahl die Eins ist, ist zufällig, da sie die Eins ist, ist sie notwendig. Da sie als Eins wirklich geworden ist, erwirkt sie die Möglichkeit, in einem anderen Wurf sich zu einer Augenzahl zu verwirklichen und fünf weitere Möglichkeiten auszuschließen. Mit der Zufälligkeit ist zugleich die Notwendigkeit gegeben, mit der Wirklichkeit zugleich die Möglichkeit, und die Identität letzterer Bedingung der inhaltsvollen Wirklichkeit. Allerdings hat die so bestimmte Notwendigkeit eine Voraussetzung, die sie noch nicht eingeholt hat, und die sie zu einer bloß relativen Notwendigkeit macht: die Zufälligkeit. Von dieser ist sie begrifflich abhängig, ohne sie aus sich heraus erklären zu können. Hegel fasst zusammen: Die reale Wirklichkeit ist gefasst als »Mannigfaltigkeit existierender Umstände«. »Umstand« kann ein unmittelbares Sein sinnvollerweise nur dann genannt werden, wenn in ihm schon eine andere Wirklichkeit antizipiert ist, dessen Umstand sie ist. Sie ist also unmittelbar bestimmt als auf diese andere Wirklichkeit bezogen. Damit aber ist sie reale Möglichkeit. Die Einheit dieser Bestimmungen zeigt sich also als positive Identität des Möglichen in einem Wirklichen: Das Wirkliche ist als Umstand bestimmtes Wirkliches. Die Wirklichkeit ist aber existierender Umstand, Möglichkeit, nur insofern sie »unmittelbares Umschlagen […] in ihr Gegentheil« (ebd.) ist. Als Möglichkeit unter dem Aspekt, sich zur Wirklichkeit bestimmt zu haben, kann sie nicht anders sein; als diese Wirklichkeit ist sie aber Möglichkeit nur, insofern sie Möglichkeit eines anderen ist. Sie ist also in der Wirklichkeit als aus der Möglichkeit geworden mit sich identisch, A=A, aber in der Wirklichkeit Möglichkeit nur, insofern sie andere Wirklichkeit antizipiert, A= ⌐A. In der letzten Hinsicht ist sie Zufälligkeit. Da diese aber Voraussetzung ist der Wirklichkeit im ersten Aspekt, die nicht anders sein kann, ist das A=A der Notwendigkeit von dem A= ⌐A der Zufälligkeit abhängig, relativ. (Hier wäre der oben genannte Ausdruck angebracht, nachdem ein Sachverhalt A ebenso B hätte sein können. Dass der Sachverhalt A wirklich ist, spricht seine Notwendigkeit aus, dass er ebenso hätte B sein können, seine Abhängigkeit von der Zufälligkeit.) Diese Relativität lässt den notwendigen, aus der Möglichkeit heraus gesetzten Inhalt nur als bestimmten Inhalt überhaupt fassen. Der Aspekt der Beschränktheit dieses Inhalts ist es, der erlaubt, nicht nur die Zufälligkeit als Voraussetzung der Notwendigkeit zu sehen, sondern in der relativen Notwendigkeit eine Einheit von Zufälligkeit und Notwendigkeit. Die Interpretation muss hier abbrechen mit dem Hinweis, dass im Abschnitt C »Absolute Notwendigkeit« die Notwendigkeit ihre Abhängigkeit von der Zufälligkeit verliert, indem sie selbst es ist, die sich als zufällig bestimmt. Es soll zum Abschluss auf einige Besonderheiten des Kapitels »Wirklichkeit« hingewiesen werden: Erstens ist für Hegel die Kategorie der Möglichkeit auf das Wirkliche orientiert, und zwar in dem strengen Sinne, dass ein Mögliches, dass nicht realisiert wird, schlichtweg kein Mögliches ist. Das kann nach dem oben Erörterten nicht mehr in dem Sinne missverstan-

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den werden, dass alles Mögliche realisiert wird. Wäre dies der Fall, so wäre es niemals Mögliches gewesen. Denn Mögliches ist Mögliches in Bezug auf die Wirklichkeit nur dann, wenn seine Optionenvielfalt zugunsten der Verwirklichung einer Option beschränkt wird. Dass hier der logische Grund für einige prägnante Entscheidungen Hegels in seiner praktischen Philosophie liegt – es sei nur verwiesen auf seine Kritik an der schönen Seele –, liegt auf der Hand. Zweitens kann, entgegen verbreiteten Klischees, gar nicht genug betont werden, dass die Untilgbarkeit der Möglichkeit jeden Determinismus in Hegels Philosophie ausschließt und für einen schwachen Notwendigkeitsbegriff sorgt. Notwendigkeit kann nur post hoc ausgesagt werden; die Wissenschaft ist rückwärtsgewandt, die Eule der Minerva beginnt erst bei einbrechender Dämmerung ihren Flug. So erweist auch die Kategorie der Zufälligkeit die Offenheit des Hegelschen Systems, in dem es gerade nicht darauf ankommt, Schreibfedern zu deduzieren und der empirischen Wissenschaft in der Einsamkeit der Studierstube Konkurrenz zu machen. Das Zufällige muss philosophisch ernst genommen werden, aber nicht ernster, als es ist. Dies gilt auch im Praktischen: Gerade die Akzeptanz des Zufälligen durch seine Integration in das Wirkliche erlaubt es Hegel, den Zufall nicht als Bedrohung zu überhöhen, worauf schon Dieter Henrich hingewiesen hat.4 Vor allem wird mit dem Zufälligen das Willkürliche und damit ein wesentliches, obschon für sich keinesfalls hinreichendes Moment des Hegelschen Freiheitsbegriffs erst begreifbar.

4 Vgl. Henrich, Dieter: Hegels Theorie über den Zufall. In: ders: Hegel im Kontext. Frankfurt am Main 1971, S. 158–186, hier: 172 f.

»Wirkliche Freiheit« – Hegels wesenslogischer Freiheitsbegriff Ralf Beuthan »Ein Huhn ist ein Tier mit einem Inneren und einem Äußeren. Zieht man das Äußere ab, bleibt das Innere übrig. Zieht man das Innere ab, bekommt man die Seele zu Gesicht.« (Godard, 1962)

I. Der Hegelsche Dreh: Freiheit als Prinzip der Wirklichkeit Hegel hätte es sicher gefallen, wie Godard – vor 50 Jahren und 150 Jahre nach Erscheinen der Seinslogik – in der Geschichte der Nana S. (»Vivre sa Vie«) mit einer CommonSense-Vorstellung spielt: Godard scheint eine gängige Vorstellung zu übernehmen, und konterkariert sie dann, lässt durch eine kleine Wendung etwas überraschend anderes sehen. Er folgt zunächst der einfachen Vorstellung, dass eine phänomenale Wirklichkeit (ein Huhn) ein Äußeres (z. B. ein beobachtbares eierlegendes, gefiedertes Lebewesen) ist, zu dem ein Inneres gehört; doch seine zunächst harmlos anmutenden Abstraktionsschritte brechen mit der Suggestion, dass sich die ›Seele‹ im unsichtbaren ›Inneren‹ des ›Huhns‹ befinde. Er brüskiert die Common-Sense-Vorstellung mit der Behauptung, dass die ›Seele‹ erst jenseits, oder besser: diesseits der Innen/Außen-Opposition sichtbar werde. An diesem Godardschen Dreh hätte Hegel seine Freude gehabt. Auch wenn er die Sache am Ende wohl anders gesehen hätte. Folgt man Hegels wesenslogischer Argumentation – was ich im Folgenden tun werde –, dann stellt sich der Hegelsche Dreh so dar: Das, worum es ›im Kern‹ geht – bei Godard die ›Seele‹, bei Hegel die ›Freiheit‹ – wird nicht sichtbar, wenn ich die Innen/Außen-Opposition destruiere oder transzendiere, sondern wenn ich diese Opposition als konstitutive Elemente einer Identitätsstruktur begreife. Der Hegelsche Dreh ist der, dass er das Wesentliche – die Freiheit – weder einfach in das ›Innere‹ der äußeren Wirklichkeit noch in eine jenseitige Wirklichkeit verlegt, sondern als komplexe Identitätsstruktur der Wirklichkeit selbst entwickelt. Freiheit ist für Hegel entschieden »wirkliche Freiheit« (GW 19, 135). Wie das näher zu verstehen ist, soll im Folgenden ein Stück weit untersucht werden. Im Kontrast zu Godards irritierender (weil gegen den Common-Sense gerichteter) Transzendenzthese sei hier schon mal eine andere, vielleicht nicht weniger befremdliche Intuition angedeutet: Freiheit ist der Wirklichkeit immanent. Ich werde im ersten Schritt zunächst den systematischen Ort bzw. die Funktion und Programmatik der Wesenslogik innerhalb der Hegelschen Logik konturieren, um so den begrifflichen Zusammenhang in den Blick zu bekommen, in dem Hegel (a) das Verhältnis von Innen und Außen und (b) darauf aufbauend eine Konzeption der Wirklichkeit entwickelt, welche (c) in einer Freiheitstheorie kulminiert.

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II. Vorbemerkung zur Wesenslogik Hegel entwickelt den Begriff von Wirklichkeit in seiner maßgeblichen Form im Rahmen der Wesenslogik. Wir finden ihn desnäheren im Abschnitt »Die Wirklichkeit« – dem dritten und letzten Abschnitt der Wesenslogik. Bereits der logische Ort der ›Wirklichkeit‹ in der Architektur der Wissenschaft der Logik lässt erahnen, dass der hier formulierte Wirklichkeitsbegriff funktional eingebunden ist in einen übergreifenden Entwicklungsgang. Mindestens zwei funktionale Aspekte, die mit dem logischen Ort verbunden sind, müssen genannt werden (dabei ist natürlich schon die allgemeine Hegelsche Prämisse über den theoretischen Status seiner Logik vorausgesetzt):1 (i) Die Wesenslogik stellt als das zweite von drei Büchern das vermittelnde Bindeglied zwischen der Seinslogik am Anfang und der Begriffslogik am Ende dar.2 Es kommt damit der Wesenslogik erstens die Funktion zu, das kategoriale System, das die seinsspezifischen Begriffe wie »Qualität«, »Quantität« etc. als notwendige Denkbestimmungen entwickelt, als integrales Moment eines weitergehenden, komplexeren begrifflichen Systems auszuweisen, das alle »objektiven« Denkbestimmungen als Momente einer sogenannten »subjektiven Logik« erkennen lässt. Mit anderen Worten: Alle denknotwendigen Begriffe, ohne die es weder Denken noch Gegenstände gibt, fundieren schlussendlich in einer (sowohl Subjektivität als auch Objektivität) umfassenden Struktur der Selbstbezüglichkeit (= »Idee«). Und der entscheidende Schritt über die ›bloß‹ objektsprachlichen Begriffe hinaus, hin zur Struktur der Subjektivität – dieser Schritt wird mit der Wesenslogik gegangen. (ii) Damit ist auch schon der zweite Aspekt angezeigt: Der ›Wirklichkeit‹ kommt die Funktion zu, die für ein (im weitesten Sinne) ›objektsprachliches‹ Vokabular konstitutiven Begriffe in eine Begriffsstruktur zu überführen, in der die zuvor implizite Selbstbezüglichkeitsstruktur als »Freiheit« expliziert werden kann. – D. h.: (i) Die Wesenslogik hat erstens als Ganze die Funktion, die Sphäre der »objektiven Logik« mit der Sphäre der »subjektiven Logik« zu vermitteln (jene in diese zu transformieren). (ii) Dem letzten Abschnitt der Wesenslogik, der »Wirklichkeit«, kommt dabei zweitens eine Schlüsselfunktion zu, nämlich den alles entscheidenden Schritt von einer an »Notwendigkeit« und »Zufälligkeit« orientierten Gegenstandssemantik (der »objektiven Logik«) hin zur »Freiheit« (der »subjektiven Logik«) zu gehen. Daran, dass das »Wesen« zunächst als »Grund der Existenz«, dann als »Erscheinung« und schließlich als »Wirklichkeit« bestimmt wird, lässt sich ablesen, dass die Denkbestimmungen des »Wesens« nicht nur die Vorstellungen der Unmittelbarkeit (die für die Seins-Kategorien leitend waren) gleichsam mit einem Hintersinn unterlegen und die Vorstellungen der Unmittelbarkeit nur als abgeleitete, sekundäre oder vordergrün1 Darin liegt: Der Wirklichkeitsbegriff ist als logische Kategorie primär als eine notwendige Denkbestimmung behandelt, d. h. als ein Begriff, den wir denken müssen, sofern wir überhaupt denken. Dabei ist freilich nicht zu vergessen, dass die logischen Denkbestimmungen für Hegel insgesamt nicht als ›bloße‹, ›formale‹ oder ›subjektive‹ Denkbestimmungen misszuverstehen sind, sondern geradezu von paradigmatischer Sachhaltigkeit sind. 2 »Das Wesen steht zwischen Seyn und Begriff und macht die Mitte derselben und seine Bewegung den Uebergang von Seyn in den Begriff aus« (GW 11, 243).

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dige erscheinen lassen. Die Bestimmungen des Wesens werden vielmehr auch sukzessive wieder in Richtung einer seinsartigen Unmittelbarkeit zurückgeführt. Am Ende dieser Entwicklung geht die Bedeutung des »Wesens« darin auf, dass es sich ohne opaken Hintersinn unmittelbar »manifestiert«, d. h. »wirklich« ist. Hegel fasst die zwei Schritte im gesamten Entwicklungsgang der »objektiven Logik« kurz mit zwei programmatischen Formeln zusammen: (1.) Die Seinslogik zeigt: »Das Seyn ist das Wesen« (GW 11, 323) (= ›Das Unmittelbare ist das Vermittelte‹); und die Wesenslogik zeigt umgekehrt: »Das Wesen ist das Seyn« (ebd.) (= ›Das Vermittelte ist das Unmittelbare‹). Aber auch wenn diese Formeln die allgemeine Tendenz des jeweiligen logischen Gedankengangs anzeigen – der springende Punkt, der die Wesensbestimmungen von Anfang an in Bewegung setzt und am Ende die ganze Sphäre objektsprachlicher Kategorien in einem unerwarteten oder zumindest ungewöhnlichem Licht erscheinen lässt – dieser Punkt kommt so noch gar nicht in den Blick. – Wo ist er? Und was wird am Ende den ganzen Unterschied machen und alle seinsartigen Relationen (zuletzt: die »Notwendigkeit«) in ein System von Relationen übersetzen, welches Hegel als »Reich der Freiheit« bezeichnet? – Einer alten kriminalistischen Redewendung folgend könnte die Antwort lauten: Cherchez la réflexion. Soll heißen: Um den Grundzug der wesenslogischen Bestimmungen, ihre Entwicklung und vor allem ihr Ende verstehen zu können, muss man auf die jeweils leitende Struktur von Reflexivität achten.

III. Der logische Weg zur Wirklichkeit als Selbstentfaltung der Reflexion In dem Moment, da die Denkbestimmungen nicht mehr einfach als unmittelbare Bestimmungen genommen werden, also nicht mehr als solche Bestimmungen, bei denen sich zwar de facto eine genealogische Verbindung zu anderen zeigen lässt, aber bei denen die Relationen zu anderen Bestimmungen de jure bedeutungslos sein sollen, – in dem Moment, da im Unterschied dazu alle unmittelbaren Bestimmungen nur noch als vermittelte Bestimmungen, d. h. wesentlich in Relation zu anderen gedacht werden, da betreten wir die logische Sphäre des Wesens. In der Sphäre des Wesens wird das Sein entschieden relational gedacht. Alles was ist, steht hier unter einer doppelten Perspektive: es wird (1) als Unmittelbares und (2) zugleich als Vermitteltes (= durch ihre Relation zu anderem bestimmte Unmittelbarkeit) gesehen. Genauer: Die (um im kriminalistischen Jargon zu bleiben) ›Identität‹ wesenslogischer Bestimmungen oder ›wesenslogischen Seins‹ ist durch eine doppelte Beziehungsstruktur gekennzeichnet, nämlich durch (1) Selbstbeziehung und (2) Alteritätsbeziehung. Noch etwas genauer: Die ›Identität‹ wesenslogischen Seins ist die »Beziehung auf sich selbst, nur indem sie Beziehung auf Anderes ist« (GW 19, 111; Herv. v. mir, R.B.). Mit anderen Worten: Die Relation zu anderen Bestimmungen wird nicht mehr als Aspekt der Genealogie ausgeklammert, sondern gehört nun zum semantischen Kern der jeweiligen Bestimmungen. Diese doppelte Beziehungsstruktur, in der etwas das ist, was es ist, indem es nur durch eine Beziehung auf anderes auf sich selbst bezogen ist, fasst Hegel mit dem Begriff der »Re-

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flexion« zusammen. »Reflexion« ist der Leitbegriff – mindestens – der Wesenslogik.3 In dem Moment, da die »Reflexion« – also diese doppelte Beziehungsstruktur – die kategoriale Szenerie bestimmt, bewegen wir uns in der Sphäre des Wesens.4 Auch wenn Hegel mit der Einführung seines Reflexionsbegriffs am Anfang der Wesenslogik noch lange nicht bei den eingangs angedeuteten Reflexionsbegriffen »Innen« und »Außen« ist – man sieht leicht, dass er mit der reflexionslogischen Doppelstruktur von »Reflexion in sich« und »Reflexion in anderes« bzw. von ›Selbstbeziehung‹ und ›Alteritätsbeziehung‹ die Innen/Aussen-Oppostion mindestens präfiguriert hat. Explizit wird sie aber erst auf der Schwelle zum Wirklichkeitsbegriff. D. h. explizit wird die Innen/Außen-Opposition erst, nachdem er die sogenannten »Reflexions-Bestimmungen« (GW 11, 258–290) (die »Wesenheiten«: »Identität«/«Unterschied«) zunächst (über den Begriff des »Widerspruchs«) im Begriff des »Grundes« (GW 11, 290–322) zusammengeführt und von dort aus in verschiedenen Varianten als Relation von Grund und Begründetem weiterentwickelt hat, bis er schließlich mit dem Begriff der »Existenz« (GW 11, 322) eine neue kategoriale Ebene – die »Erscheinung« (GW 11, 323–368) – erreicht hat, auf der die wesensspezifische Vermittlungs- oder Reflexionsbewegung wieder, wie Hegel sagt, zur »Unmittelbarkeit des Seyns« zurückgeführt wurde. Auf dieser kategorialen Ebene bedeutet »Unmittelbarkeit« aber weder einfach »Sein«, dessen Unbestimmtheit die später wesenslogisch als »Reflexion« entfaltete »Negativität« derart ausblendete, dass es nicht einmal vom »Nichts« unterscheidbar war; noch bedeutet »Unmittelbarkeit« etwas wie »Dasein«, dessen Bestimmtheit noch nicht 3 Die zentrale Rolle des wesenslogischen Reflexionsbegriffs ist bekanntlich vor allem von Dieter Henrich herausgestellt worden (Henrich, Dieter: Hegels Grundoperation. In: Der Idealismus und seine Gegenwart. Festschrift für Werner Marx. Hg. v. Ute Guzzoni. Hamburg 1976, S. 208–230); vgl. auch Hackenesch, Christa: Die Logik der Andersheit. Eine Untersuchung zu Hegels Begriff der Reflexion. Frankfurt am Main 1987. Ich möchte die Diskussion darüber, ob es der methodische Zentralbegriff der Hegelschen Philosophie ist – Jaeschke hat dies beispielsweise gegen Henrich in Frage gestellt (vgl. Jaeschke, Walter: Hegel-Handbuch: Leben-Werk-Schule. Stuttgart/Weimar 2003, S. 240) – ausklammern. Dass der Reflexionsbegriff am Anfang der Wesenslogik u. a. noch nicht den vollen Sinn der Subjektivität einzuholen vermag, der am Ende der Begriffslogik ausformuliert wird, ist von Martin Wendte (Gottmenschliche Einheit bei Hegel. Eine logische und theologische Untersuchung. Berlin/New York 2007, S. 79 f.) betont worden. Zur Rolle des Reflexionsbegriffs für die Konzeption der »Dialektik« vgl. insbesondere Rainer Schäfers instruktive Arbeit Die Dialektik und ihre besonderen Formen in Hegels Logik: Entwicklungsgeschichtliche und systematische Untersuchungen. Hamburg 2001. 4 Zur Wesenslogik insgesamt vgl. den nach wie vor hilfreichen Kommentar von Schmidt, Klaus J.: Georg W. F. Hegel. Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Wesen. Einführender Kommentar. Paderborn 1997. – An dieser Stelle mag der Hinweis reichen, dass man sich den Schritt von der Seins- zur Wesenslogik vereinfacht so vorstellen kann: Die Seinslogik betrachtet die Bestimmungen mit einem ›Spotlight‹, in dem etwas in hellem Licht unmittelbar und kontextlos erscheint; dagegen wird im wesenslogischen Licht der ›Reflexion‹ die ganze kategoriale Bühne im expressiven ›Low Key‹-Verfahren ausgeleuchtet, so dass jede Bestimmung im Verhältnis zu Anderem gesehen und begriffen werden kann. Aber es ist ein dramatisches Licht, das die Differenzen – mit Hegel gesprochen: die »Negativität« – betont und Spannungen aufdeckt, die im Sein zuvor verborgen waren. Die Begriffslogik wird später die kategoriale Bühne gleichsam im ›High Key‹-Verfahren ausleuchten, in dem sich jene Kontraste (nicht aber die Unterschiede) in einem sich gleichmäßig verteilenden Licht auflösen. (In diesem Licht wird jede Bestimmung in ihrer Kontinuität zu anderen Bestimmungen erkennbar.)

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als Moment eines Vermittlungszusammenhangs, sondern erst als unmittelbar »seyende Bestimmtheit« (GW 19, 100) gedacht wurde. Die Unmittelbarkeit der »Existenz« bedeutet demgegenüber vielmehr, dass ihre Bestimmtheit ganz aus der »Negativität der [doppelten] Reflexion« (GW 11, 341) her gedacht wird, d. h. diese Unmittelbarkeit ist nicht nur bestimmte Unmittelbarkeit (»Dasein«), sondern »reflectierte Unmittelbarkeit« (GW 11, 341). Genauer: Das, was sie bestimmt oder bestimmt (unterschieden) sein lässt, ist die absolute Negativität der Reflexion – eine sich in der doppelten Beziehungsstruktur auslegende Vermittlungsbewegung. Mit der »Existenz« ist gleichsam die zuvor von Hegel als Beziehung von Grund und Begründetem ausbuchstabierte Vermittlungsbewegung als mit sich identische Einheit hervorgegangen – herausgesetzt – und als ein vom »Grund« Unterschiedenes (›Grundloses‹) scheinbar an die Stelle des Begründeten getreten. Doch anders als die abhängige Instanz des Begründeten hat die »Existenz« die Vermittlungsbewegung nicht schlicht außer sich, sondern ist einfach diese selbst, und zwar in der Form der Unmittelbarkeit. Die Verhältnishaftigkeit des Grundes (die Auslegung der Doppelstruktur der Reflexion in Grund/Begründetes) ist der »Existenz« nicht äußerlich, sondern gleichsam mit ihr ›vereinfacht‹, in die Einfachheit der Existenz kontrahiert.5 Akzentuiert man mit Hegel die konstitutive Bedeutung wesenslogischer Reflexion für den Begriff der »Existenz«, dann tritt sogleich auch wieder die der Reflexion eigene »Negativität« hervor. D. h. die Unmittelbarkeit der »Existenz« ist zwar auch und wieder eine ›seiende Unmittelbarkeit‹ (vgl. Wiederherstellung des Seins im Wesen: »Das Wesen ist Sein«), aber »ihr Bestehen« (GW 11, 342) ist ein »Moment« der reflexionslogisch ausformulierten absoluten Negativität. D. h. ihr »Bestehen« bzw. »Sein« ist nur eine Phase, ein transitorisches Moment, in jener reflexionslogischen »Bewegung von nichts zu nichts zu sich selbst zurück« (GW 11, 341), welche Bewegung zuvor das Wesen als »Schein« bestimmte. Nur, dass dieser »Schein« jetzt – eingedenk seiner wiedergewonnenen seienden Unmittelbarkeit – darüber hinaus als »realer Schein« (GW 11, 341) gedacht werden kann. Wenn jene »haltlosen Momente« der Reflexion die »Gestalt unmittelbarer Selbstständigkeit« (GW 11, 342) haben, dann bewegen wir uns auf dem angedeuteten zweiten wesenslogischen Level, welches Hegel unter dem Begriff der »Erscheinung« (GW 11, 323–368) zusammenfasst. (Der Übergang von der bloßen »Existenz« bzw. dem Primat ›seiender Unmittelbarkeit‹ zur »reflectierten« oder »wesentlichen Existenz« der »Erscheinung« bzw. zum Primat der Vermittlung wird über den Begriff des »Dinges« konzipiert, indem die darin gedachten »selbständigen Materien« als ein »Bestehen« gefasst werden, das nur in der »fremden Selbständigkeit« (des Dinges), also in der »Negation« ihrer Selbständigkeit ein »Bestehen« hat und mithin ein auf die »absolute Negativität« verweisender »Widerspruch« ist.) Auf der Ebene der »Erscheinung« entwickelt Hegel die wiedergewonnene seinsartige Unmittel-

5 Damit macht Hegel zugleich deutlich, dass für ihn Wesen und Existenz nicht zweierlei sind, sondern dass die ›grundlose‹ Existenz, an der die »äußerliche Reflexion« der Begründungspraktiken abperlt, nichts anderes ist, als eine Identitätsform des Wesens. Vgl. dazu bereits: Lakebrink, Bernhard: Kommentar zu Hegels Logik in seiner Enzyklopädie von 1830. 2 Bde. Freiburg 1979. Bd. 1, S. 249 f.

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barkeit (»Existenz« und »Ding«) weiter. Die Stoßrichtung ist dabei, die Einfachheit der »Existenz« in Richtung der wesensartigen bzw. reflexionslogischen Verhältnishaftigkeit aufzulösen. Der entscheidende Entwicklungsschritt auf der Ebene der »Erscheinung« ist dann der, dass die doppelte Beziehungsstruktur der Reflexion – die »Reflexion in sich« und die »Reflexion in anderes« – zu jeweils eigenen relationalen Systemen bzw. »Welten« oder »Totalitäten« ausgeweitet werden. Das bereits auf dem ersten Level (»Schein«) eingeführte reflexionslogische Doppel einer in die Unmittelbarkeit zurücklaufenden Bewegung (Reflexion in sich) und einer in der Vermittlung fortlaufenden Bewegung (Reflexion in anderes) wird auf der Ebene der »Erscheinung« zu »zwei Welten« entfaltet, wobei eben »die eine als in sich, die andere als in anderes reflectierte [Welt] bestimmt ist« (GW 11, 369). Und erst hier, da das Reflexionsdoppel nicht mehr nur als dinghafte Unmittelbarkeit mit beiher spielender Vermittlung figuriert, sondern sich in »zwey Totalitäten« (ebd.) auslegt, erst hier tritt die eingangs angekündigte Innen/ Außen-Relation auf den Plan. »Das Verhältnis des Äußern und Innern« (GW 11, 364–368) markiert die letzte Entwicklungsstation auf der Ebene der »Erscheinung«, also auf der Ebene, wo sich insgesamt gesehen die wesenslogische doppelte Reflexionsstruktur (bzw. die Vermittlungsbewegung »absoluter Negativität«) erneut zu Begriffen seinsartiger Unmittelbarkeit (wie »Ding« und »erscheinende Welt«) formiert hat. Darüber, dass der Begriff der »erscheinenden Welt« auch den Begriff einer »an-sich seienden Welt« (WL 133) mit sich führt und sich mithin die reflexive Form in zwei unmittelbare und selbständige ›Inhalte‹ auslegt, gewinnt Hegel ferner auch den Begriff einer »Formeinheit« (GW 11, 352; Herv. v. mir, R.B.) jener »Inhalte« bzw. »Welten«. Mit anderen Worten: Auf der Ebene der »Erscheinung« wird das anfängliche Reflexionsdoppel zum begrifflichen Doppel zweier Welten und schließlich zu dem »wesentliche[n] Verhältnis« (GW 11, 353) des einen »Universum[s]« (GW 11, 352) fortbestimmt. Entscheidend, weil unterscheidend: Die Reflexionsbegriffe des »wesentlichen Verhältnisses« – wie: Ganzes/Teile, Kraft/Äußerung und Innen/Außen – sind anders als die anfänglichen Reflexionsbestimmungen – wie Identität/Unterschied, Positives/Negatives – jeweils als »Totalitäten« gedacht, und zwar so, dass der jeweils selbständige Inhalt als »bestehend« (existierend) und als »aufgehoben«, d. h. als Moment einer Einheit gedacht wird. Hegel wiederholt hier noch einmal seinen Grundgedanken: Die »Reflexion in anderes ist Reflexion in sich selbst« (GW 11, 353). D. h. die Beziehungsstruktur, die das Existierende als Abhängiges (»gesetztes«, »aufgehobenes«), als Moment einer übergreifenden Einheitsstruktur ausweist, ist zugleich diejenige, die dem Existierenden sein Bestehen gibt. Hegel betont also mit dem Ende der »Erscheinung« eine »Formeinheit«, in der die Seiten ihrem Inhalt nach als jeweils selbständig gedacht werden und zwar als Momente dieser »Formeinheit«. Damit kündigt sich eine Einheitsbeziehung zwischen dem »Wesen« als reiner Vermittlungsbeziehung bzw. reflexiver Relationalität und dem unvermittelten Sein (= zur Einfachheit kontrahierten Unmittelbarkeit) an – oder kurz: zwischen »Wesen« und »Existenz«. Die Einheitsbeziehung wird dann mit dem Begriff der »Wirklichkeit« ausformuliert – die Begriffe der »Erscheinung« leisten die strukturelle Vorarbeit. – Wie?

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Und wie leistet insbesondere die Innen/Außen-Relation genau dieses, die Verhältnishaftigkeit ›zweier Welten‹ tatsächlich als ein »Universum« erkennbar werden zu lassen? Zunächst ist zu sehen, dass die sich mit dem »wesentlichen Verhältnis« der »Erscheinung« andeutende Identitätsvorstellung »noch nicht vollkommen« (GW 11, 353) ist: Die selbständigen Relata sind zwar durch ihre konstitutive »Reflexion in andere« Momente einer »negativen Einheit« (ebd.) (d. h. durch eine Alteritätsstruktur erzeugte Einheit) – haben nur in und durch dieselbe ein Bestehen –; aber diese Einheit ist unter dem Primat der jeweilig selbstständig Existierenden eben nicht als solche »realisiert« (GW 11, 354), sondern wird nur als »ein inneres« (GW 11, 354) gedacht, das sogleich auf die »Seite« fällt und sich gegen eine andere Seite bestimmt, das ›Äußere‹. Wie man an der ersten Gestalt des »wesentlichen Verhältnisses« gut erkennen kann, bestimmt sich die mit der »negativen Einheit« zu denkende »Totalität« oder »Formeinheit« eben noch nicht als das eine »Universum«, sondern tritt als das »Ganze« unmittelbar auf die Seite und scheint ferner um der Selbstständigkeit der Elemente willen, die es vereint, diesen dann ganz äußerlich zu bleiben. In diesem Sinne beginnt Hegel die Ausarbeitung des »wesentlichen Verhältnisses« mit dem »Verhältnis des Ganzen und der Teile« (GW 11, 354–359), an welchem er hervorhebt, dass die Einheitsbeziehung (»Ganze« bzw. »reflectierte Unmittelbarkeit«) den Bezogenen (»Teile« bzw. »seiende Unmittelbarkeit«) äußerlich ist. Und erst das »Verhältnis der Kraft und ihrer Äusserung« (GW 11, 359–364) entwickelt Hegel als diejenige »Einheit des Ganzen« (GW 11, 358), »welche die Beziehung des selbständigen Andersseins« ist, ohne »dieser Mannigfaltigkeit ein Äußerliches […] zu sein« (ebd.). Am Begriff der »Kraft« expliziert Hegel die »negative Einheit« als die Identität von »Äußerlichkeit« und »Innerlichkeit«. Sie ist nun als dasjenige Innere (=Kraft) gedacht, das nur durch und in seiner Äußerung ist. Die Innen/Außen-Differenz tritt damit am Ende der »Erscheinung« als eine Verhältnishaftigkeit auf, in der die Einheitsbeziehung die Führung übernommen hat und nicht mehr nur eine Aggregation für sich bestehender Teile ist. Im Ausgang von der Überlegung, dass der Begriff der »Kraft« nur hinsichtlich der »Äußerung« vollständig gedacht wird, mit ihm also Innerlichkeit und Äußerlichkeit an sich identisch sind, expliziert Hegel jetzt diese Identität als eine Form der Unmittelbarkeit, die in der Sache nicht mehr auf die eine oder andere Seite tritt. Das »Verhältnis des Äussern und Innern« (GW 11, 364–368) gilt nunmehr nicht als Differenz selbständiger Seiten, sondern als bloße Formdifferenz an einer, wie Hegel sagt, »gediegene[n] Einheit beider als inhaltsvoller Grundlage« (GW 11, 365). Wie am Kraft-Begriff ausformuliert, referiert die Innen/Außen-Differenz am Ende nur auf ein solches Inneres, das sich nicht nur durch die »reflektierte Einheit« mit sich vermittelt, sondern eben diese Einheit ist. Mit anderen Worten: Das Innere ist selbst die ganze Vermittlungsbewegung. Diese Einheit wird jetzt als »absolute Sache« (ebd.) gefasst, an der die Innen/Außen-Differenz nur ein »leerer durchsichtiger Unterschied« oder »Schein der Vermittlung« (ebd.) ist. Mit der »absoluten Sache« steht die »Erscheinung« auf der Schwelle zur »Wirklichkeit« – Schauen wir von hier aus nochmal einmal kurz zurück: (1) Zunächst: Verglichen mit dem Anfang der »Erscheinung« hat sich nun das »Wesen« nicht nur wieder zur »seiende[n] Unmittelbarkeit« (»Existenz«) kontrahiert, son-

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dern es hat überdies alle Unmittelbarkeit – mit anderen Worten: alles Bestehende – als Bezogenes innerhalb einer ›realen‹ Beziehungsstruktur rekonfiguriert. Was ist, ist die »reflektierte Einheit« bzw. Beziehung der »absoluten Sache«. Alle wesentlichen Unterschiede (= Unterschiede ›im Ganzen‹) sind zum »Schein« der reinen Bestimmtheiten in der einen und einfachen Vermittlungsbewegung restringiert. Diese einfache Vermittlungsbewegung macht sich gegen den Unterschied der Bestimmtheiten als einfaches Sein der »absoluten Sache« geltend. (2) Ferner: Verglichen mit dem Anfang der Wesenslogik, dem »Schein«, in dem die Vermittlungsbewegung der »Reflexion« jeden Begriff in sich auflöste, in dem sich eine »seiende Unmittelbarkeit« andeutete, gilt nun am Ende der »Erscheinung« der Primat einer komplexeren Fassung der Unmittelbarkeit, der »absoluten Sache«, in der jetzt ihrerseits jede Vermittlungsbewegung versenkt scheint. Und schauen wir jetzt in die andere Richtung – in Richtung »Wirklichkeit« und darüber hinaus, in Richtung »Begriffslogik«: Das mit Ende der »Erscheinung« erreichte Komplexitätsniveau kulminierte in der These der Identität von Innen und Außen. D. h. die begriffliche Entwicklung des »wesentlichen Verhältnisses« zeigte, dass die reflexionslogisch differenzierten »Seiten« nicht nur »bestehen« (wie schon die »Existenz«), sondern als »Seiten Einer Totalität« (GW 11, 368) inhaltsidentisch sind: Jede Seite ist dieselbe Totalität bzw. »absolute Sache«. Der Unterschied der Seiten ist ›nur‹ die Formdifferenz, durch die sich die Sache zu sich als Inhaltsidentität vermittelt. Doch das »Übergehen beider ineinander« (GW 11, 368) wird von Hegel ferner einerseits (a) als »unmittelbare Identität« der Seiten an der einen grundlegenden »absoluten Sache« expliziert und anderseits (b) als »vermittelte Identität« der Seiten, insofern jede durch die Reflexionsbewegung, d. i. durch die andere Seite nicht nur selbst eine Seite, sondern das ganze Verhältnis ist (ebd.). Hegel fasst diese sich zum »Sein« der »absoluten Sache« entfaltende Reflexionsbewegung knapp so zusammen: »die Totalität [d. i. der Inhalt] vermittelt sich […] durch die Form oder die Bestimmtheit mit sich selbst, und die Bestimmtheit [d. i. Form] vermittelt sich durch ihre einfache Identität [d. i. Inhalt] mit sich.« (GW 11, 368) – Kurz gesagt: Innen und Außen sind jetzt als identisch gesetzt. – Damit ist ein gutes Stück des Weges gegangen, der mit der programmatischen Formulierung »Das Wesen ist das Sein« angezeigt war. Das »Wesen« hat sich zum »Sein« der »absoluten Sache« bestimmt. Doch der nun daran anschließende Weg ist nicht nur eine Weiterentwicklung des seinsartigen Wesens, hin zu einem vollentwickelten Begriff der »Wirklichkeit«, sondern überdies – wie Hegel jetzt in Erinnerung ruft – ein »Werden zum Begriff« (GW 11, 366). Damit wird jetzt auch auf dem letzten Wegstück der eigentliche, von mir eingangs so genannte Hegelsche Dreh thematisiert: Die mit dem Ende der »Erscheinung« reflexionslogisch formulierte Identitätsstruktur von Innen und Außen wird zur Grundbestimmung der »Wirklichkeit«; und die weitere Entwicklung ist nicht nur die Explikation des Wirklichkeitsbegriffs, sondern eben auch die Inauguration des Freiheitsbegriffs.6 6 Da hier viele Begriffe – wie z. B. der Begriff des Individuums, der Handlung, der Person etc. – noch gar nicht ausgeführt sind, die üblicherweise und auch für Hegel im Weiteren für die Diskussion des Frei-

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IV. Entwicklungsstufen der »Wirklichkeit« IV.1 Wirklichkeit als Manifestation des Absoluten Die durch die Verhältnishaftigkeit der »Erscheinung« herausgearbeitete »Einheit des Inneren und Aeussern« (GW 11, 369) ist für Hegel der Kern dessen, was unter dem Begriff der »Wirklichkeit« gedacht wird. Näher: Insofern am Ende des »wesentlichen Verhältnisses« die Identität beider nicht nur qua inhaltlicher »Grundlage« oder »Sache«, sondern auch hinsichtlich der Formdifferenz (= den formalen Bestimmungen Inneres/Äußeres) als Identität bestimmt werden konnte, wird jetzt diese Einheitsstruktur als »Eine absolute Totalität« (GW 11, 369) gedacht. Mit anderen Worten: Die wesenslogische Doppelstruktur der Reflexion bricht das reflexionslogisch reformulierte Sein nicht mehr auf in »zwei Welten«, sondern kulminiert vielmehr in dem Gedanken der einen »absolute[n] Wirklichkeit« (GW 11, 369). Damit betreten wir – nach dem anfänglichen »Schein« und der »Erscheinung« – eine begriffliche Ebene, auf der einschlägige metaphysische Bestimmungen verhandelt werden, d. h. Denkbestimmungen, mit denen die Wirklichkeit als Ganze und Prinzipierte konzipiert wird. Nicht mehr die Beziehungsstruktur von »Schein« und »Erscheinung«, und natürlich auch nicht einfach empirische Realität, sondern eben »absolute Wirklichkeit« oder pointierter: das »Absolute« (GW 11, 369) steht jetzt auf dem Plan. Schaut man sich die nun betretene begriffliche Ebene makroperspektivisch an, dann wird deutlich, dass die anfängliche Bestimmung der »Wirklichkeit« und ihre Entfaltung (vom »Absoluten« zur »Wirklichkeit« im eigentlichen Sinne) eingebettet ist zwischen zwei Formen der Verhältnishaftigkeit: nämlich zwischen dem gerade skizzierten »wesentlichen Verhältnis« und dem sogenannten »absoluten Verhältnis« (GW 11, 393) am Ende der Wesenslogik. Und beide Relationstypen sind nicht nur Ausdruck einer Komplexitätssteigerung, sondern mehr noch: sie markieren jeweils eine Art Schwellenphase, durch die wir zu einem je anderen Begriffsparadigma, einem andern begrifflichen Grundvokabular geführt werden. – Unter einem zunächst thematischen Fokus können wir diese durch die beiden Relationstypen markierten Übergänge vereinfacht so zusammenfassen: Durch das »wesentliche Verhältnis« (der »Erscheinung«) treten wir in die Begriffswelt der Metaphysik (= Theorie der Wirklichkeit im Ganzen) ein; und durch das »absolute Verhältnis« der »Wirklichkeit« treten wir wieder aus der Metaphysik heraus (in Richtung einer Theorie der Freiheit). Unter einem formalen (oder: formalistischen) Gesichtspunkt lassen sich aber beide Übergänge auch einfach interpretieren als die entscheidenden Stufen, durch die schrittweise die konstitutive Zweier-Struktur der Reflexionsbegriffe in eine Dreier-Struktur des »Begriffs« transformiert wird. Anstelle einer detaillierten Rekonstruktion der wesenslogischen »Wirklichkeit« werde ich im Folgenden nur die Grundzüge dieses Wechsels von dem wesenslogischen Dual heitsbegriffs wichtig sind, schlage ich vor, den wesenslogisch eingeführten Freiheitsbegriff zur leichteren Abgrenzung den metaphysischen Freiheitsbegriff zu nennen, um so zu akzentuieren, dass Freiheit hier als ein begriffliches Merkmal der Wirklichkeit konzipiert wird.

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zum begriffslogischen Trial vor dem Hintergrund der Innen/Außen-Relation herausarbeiten. Am Ende des »wesentlichen Verhältnisses« steht, wie gesehen, die ›Identität des Inneren und Äußeren‹. Und damit ist der Begriff der »absoluten Wirklichkeit« angezeigt, an dem Hegel sogleich im Kontrast zur vorangegangen reflexionslogischen Dynamik und noch ganz im Sinne der Programmatik: »Das Wesen ist das Sein« die einfache Identität aller Relata hervorhebt – ein gleichsam inständiges Bestehen, dass sich in keinen Vermittlungsprozess mehr auflöst, weil es eben alle Vermittlung in sich zur einfachen Identität zusammengezogen hat: Das »Absolute«, so Hegel, ist die »einfache gediegene Identität« (GW 11, 162). Diese Betonung der scheinbar unantastbaren Inständigkeit lässt leicht übersehen, was Hegel zuvor bereits in Grundzügen entwickelt hatte, nämlich eine Identitätsstruktur, die bereits als ein Plural von Identitätsbeziehungen gedacht war. D. h. in der logischen Konstitutionsgeschichte des Wirklichkeitsbegriffs war bereits eine besondere Form der Differenzierung erkennbar geworden, die hier mit Erreichen des neuen Begriffsniveaus zunächst durch den Identitätsprimat überblendet ist. Denn genau besehen konstituierte sich die Identitätsstruktur, die die »absolute Wirklichkeit« ist, als ein Tripel von Identitätsrelationen, in denen jeweils die Vermittlungsbewegung, die ›Reflexion in anderes‹ in eine spezifische Form der ›Reflexion in sich‹ zurückübersetzt wurde. (i) So war eben das »Verhältnis des Äußeren und Innern« zunächst dadurch bestimmt, dass es von der inhaltlichen Identität der einen »Grundlage« getragen war. (ii und iii) Und ferner war auch die sich auf dieser »unmittelbaren« Identität abspielende Formdifferenz als (»vermittelte«) Identität gedacht worden, und zwar so, dass jede der Seiten als Totalität des ganzen Strukturzusammenhangs in den Blick kam, womit wir eben zwei weitere Identitätsbeziehungen haben, die des »Inneren« (ii) und die des »Äußeren« (iii). Von hier aus ließe sich eine Linie bis zur begriffslogischen Subjekt/ Prädikat-Struktur ziehen. Akzentuiert man aber zunächst nur den in den Identitätsrelationen jeweils enthaltenen strukturellen Unterschied, so finden wir: (i) den Unterschied in sich; (ii) den Unterschied von sich; (iii) den Unterschied von anderem. (Darin zeichnen sich auch die Begriffsmomente ab: (i) Allgemeines; (ii) Einzelnes; (iii) Besonderes). Entsprechend dem bekannten Muster Hegelscher Methodik, werden jedoch nun, auf der neuen Begriffsebene nicht einfach kontinuierlich alle bisherigen Aspekte weiter ausgeführt, sondern das Resultat wird vielmehr auf eine entscheidende Bestimmung hin zugespitzt, nämlich auf die, an der grundsätzlich die jeweils neue und maßgebende begriffliche Ebene erkennbar ist. D. h. hier: Gegenüber der reinen Vermittlung des »Scheins« und gegenüber dem sich in anderes reflektierenden »Bestehen« der »Erscheinung« wird das Bestehen jetzt als Identität aller wesentlichen Unterschiede betont; es ist so eine »Wirklichkeit«, die weder in anderes übergeht, noch in ein anderes scheint. – Mit dem neuen Leitbegriff werden die Karten dann wieder neu gemischt – kurz: vorangegangene Bestimmungen werden jetzt nach einer anderen begrifflichen Regel neu konfiguriert. D. h. grosso modo: Alle reflexionslogische Alterität wird jetzt auf der Basis der Identitätsthese (das Absolute) zu entwickeln sein. Doch unter dem Primat der als »Wirklichkeit« betitelten Identitätsstruktur kommt es zu einem für diese Ebene spezifischen Problem: Die Reflexivität im Sinne der we-

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senslogischen Grundfigur, nach der jede Bestimmung – bestehend oder nicht – immer auch auf anderes bezogen ist, scheint letztlich sinnlos geworden zu sein, wenn sich alle wesentlichen Unterschiede vereint haben und kein »wirklich« Anderes mehr auftreten kann. Denn: ohne Alterität keine Reflexivität.7 Insgesamt kann man das letzte begriffliche Plateau der Wesenslogik unter dem Gesichtspunkt lesen, wie und welche Alteritätsstruktur unter der maßgebenden Identitätsstruktur von Innerem und Äußerem möglich ist. Hegel wird in zwei entscheidenden Schritten (1. »Das Absolute«; 2. »Die Wirklichkeit«) die Alteritätsstruktur als Strukturmoment der »Wirklichkeit« herausarbeiten und damit auch die wesenslogische Programmatik: »Das Wesen ist Sein« erfüllen – und zwar endgültig dann, wenn die Reflexion »reale Reflexion« (GW 11, 380) ist. – Der erste Schritt in Richtung »realer Reflexion« besteht in dem Aufweis, dass die scheinbar nur »äussere Reflexion« (GW 11, 380) die »Aeusserlichkeit des Absoluten« (ebd.) selbst ist. Es ist die »eigene Manifestation« (GW 11, 380) des Absoluten, d. i. eine Äußerlichkeit, worin das Absolute gar nicht aus sich heraustritt in ein Anderes, sondern sich nur darin in sich reflektiert, nur es selbst ist. Diese nunmehr »reflectierte Absolutheit« (GW 11, 380), näher: ihre »Manifestation« zeigt bereits erste Anzeichen des begriffslogischen Charakteristikums der »Entwicklung« an: Denn, wie schon erwähnt, die »Wirklichkeit« geht in ihrer Bewegung nicht über in ein anderes, noch scheint sie in ein anderes, sondern ist in dieser Bewegung zu dem Anderen, ohne ›substanzielle‹ Veränderung, nur es selbst – das Andere ist es selbst in seiner »Manifestation«, und nicht eine hintersinnige »Erscheinung«. Im zweiten Schritt wird darüber hinaus auch das dynamische Moment der Reflexivität manifest. Das was wirklich ist, ist nicht nur Manifestation seiner Positivität, sondern mehr noch: Manifestation seiner Negativität, d. h. seines reflexionslogischen Prozesses als solchen. Damit kommt schließlich die Verhältnishaftigkeit oder Alteritätsstruktur ins Spiel, welche die gesamte wesenslogische Dimension abschließt und transzendiert.

IV.2 Wirklichkeit als Reflexion des Absoluten Ungeachtet der besonderen Bedeutung des ersten Schrittes (»Das Absolute«) für Hegels Kritik an der neuzeitlichen Substanzmetaphysik (Spinoza und Leibniz) und ungeachtet der ohne Frage spannenden Thematik des »Zufalls« innerhalb eines metaphysischen Begriffssettings – betonen möchte ich an dieser Stelle nur das Ende des zweiten Schritts, d. h. die Heraufkunft der reflexionslogischen Negativität im Kontext »absoluter Wirklichkeit«. – Nachdem Hegel unter dem Titel »Das Absolute« den Gedanken eines irreflexiven (= durch keine Äußerlichkeit bzw. Reflexion in anderes vermittelten) Absoluten verhandelt und durch den Gedanken der »eigenen Manifestation« des Absoluten

7 Das Problem der »Existenz«, dass gedankliche Vermittlungsbemühungen als ganz äußerlich an der Realität abperlen, ist hier metaphysisch auf die Spitze getrieben: Das, was die Wirklichkeit im Ganzen und in ihrem Prinzip ist, kann prima facie durch reflexive Bewegungen gar nicht wahrhaft (de re) erfasst werden.

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aufgebrochen hat, entwickelt er im zweiten Schritt unter dem Titel »Die Wirklichkeit« unter Verwendung modaler Kategorien den Gedanken einer »reflektierten Absolutheit« weiter. Das modallogische Setting des Wirklichkeitskapitels (GW 11, 380–392) sei hier nur kurz umrissen: Hegel reformuliert zunächst die »Wirklichkeit« hinsichtlich der bloß seinsartigen »Bestimmung der Unmittelbarkeit« (GW 11, 381) und ferner die »Möglichkeit« als bloße »Reflexion in sich«; die »Notwendigkeit« als eine beide Bestimmungen zusammenführende Konzeption eines sowohl »unmittelbar existierende[n]« als auch »in sich reflektierte[n] Sein[s]« (ebd.); und schließlich rekonstruiert auch er die »Zufälligkeit« als eine »Wirklichkeit« und »Möglichkeit« integrierende Bestimmung, aber im Gegensatz zur »Notwendigkeit« als eine »Wirklichkeit«, in der das »Gesetztsein« bzw. die »Möglichkeit« selbst als »Unmittelbares« gedacht wird, womit es die Vermittlungsbewegung in sich ausgelöscht zu haben schein und als »Grundloses« figuriert, das – als unmittelbare »Möglichkeit« bestimmt – zugleich so oder auch anders hätte ausfallen können. Indem er herausstellt, dass die »Notwendigkeit« strukturell mit dem Begriff der »Zufälligkeit« verkoppelt ist (insofern die »Notwendigkeit« der »Sache selbst« sich erst unter Voraussetzung der an sich zufällig existierenden »Bedingungen« realisiert; denn erst »[w]enn alle Bedingungen einer Sache vollständig vorhanden sind, […] tritt sie in die Wirklichkeit« (GW 11, 387)), gewinnt Hegel den Begriff der »absolute[n] Notwendigkeit« (GW 11, 389). Und genau an diesem Begriff am Ende des zweiten Schritts (= »Zweytes Kapitel. Die Wirklichkeit«, GW 11, 380–392) arbeitet Hegel den Gedanken der Reflexivität des Absoluten in prägnanter Weise heraus. Dieser Gedanke ist in thematischer Hinsicht von nicht zu unterschätzender Bedeutung, wie Hegel keineswegs zu betonen versäumt, indem er über die mühselige reflexionslogische Prosa hinaus sehr bildhafte, lichtmetaphorische Ausdrücke verwendet: Der Gedanke der Reflexivität des Absoluten überwindet nicht nur die metaphysische Vorstellungssphäre eines prä- oder gar: irreflexiven Wirklichkeitsprinzips, das sich nur als ›ausströmendes Licht‹ geltend machte; es überwindet nun auch die Vorstellung eines opaken, ›lichtscheuen‹ Wesens, das sich der durch Kontingenz gezeichneten Gegenwart entzieht. Entscheidend für das Verständnis der »absoluten Notwendigkeit« ist die spezifische Zusammenführung der seinstypischen Bestimmung »einfacher Unmittelbarkeit« und der wesenslogischen »absoluten Negativität« oder Vermittlung (vgl. GW 11, 391). Die »absolute Notwendigkeit« ist die »Einheit des Seyns und Wesens« (GW 11, 391), und zwar derart, dass nun die Differenzialität der »Reflexionsbestimmungen« (welche, wie angedeutet, hier anhand der Modalkategorien ausbuchstabiert werden) »als seyende Mannigfaltigkeit« (GW 11, 391) scheinbar vermittlungsloser, »freye[r] Wirklichkeiten« (ebd.) gedacht wird. Die reflexionslogische Alterität ist gewissermaßen zur zusammenhangslosen Alterität zufälliger Wirklichkeiten aufgesprungen. Im Gegenzug wird die reflexionslogische Figur der sich durch die Alterität vermittelnden Einheit – der »Identität des Inneren und Äußeren« – angesichts des Primats der gegeneinander gleichgültigen »freyen Wirklichkeiten« nicht mehr einfach als eine der Alterität zugrundliegende und in sich ruhende »absolute Wirklichkeit« gedacht, sondern als ein

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Prozess. Genauer: Die Einheit der differenten zufälligen Wirklichkeiten figuriert jetzt als »das absolute Umkehren« ihrer seinsartigen Unmittelbarkeit (Wirklichkeit) in ihre Vermittlung (Möglichkeit = ›Reflexion in sich‹ bzw. »Vermittlung-mit-sich«, GW 11, 391). Was ist, sind die »freyen Wirklichkeiten« und das, was ihnen den Prozess macht: ihr ›lichtscheues‹ Wesen. Oder anders: Das, was ist (»freye Wirklichkeiten«), sind erstens die nur in sich reflektierten Zufälligkeiten, deren absolute Selbstvermittlung das Andere zu ihrem »Sein« nur als ein »Nichts« bestimmt sein lässt; womit zweitens die die Differenten durchgreifende Einheit ihrerseits nicht als ein Sein zum stehen kommt, sondern als das »absolute Umkehren« ihres Seins in Nichts – oder kurz: als wesenslogische Variante des »Werdens« (WL 189). Die wesenslogische Einheit zeigt sich hier als das, was sie im Kern ist: absolute Negativität. Und diese manifestiert sich an den »freyen Wirklichkeiten« und durch diese selbst als »blinder Untergang im Andersseyn« (GW 11, 392). Was diesen Wirklichkeiten den Prozess macht, ist letztlich ihre eigene Negativität, welche nun als solche, gegen die Positivität ihres unmittelbaren Seins hervortritt und sich nur als ein ›blinder Prozess der Notwendigkeit‹ an ihnen, die alle Alteritätsbeziehung aufgekündigt hatten, geltend machen kann. Betrachtet man diesen Sachverhalt nun von der anderen Seite, nämlich im Blick auf die sich über jene Zufälligkeiten zu sich vermittelnde Notwendigkeit, dann wird zugleich der wesenslogische Aspekt dieses ›blinden Werdens‹ (= Umschlag von Sein zu Nichts und umgekehrt) deutlicher: Dieses Werden ist eben ein Prozess »absoluter Wirklichkeit«, die den »Zufälligkeiten« den Prozess macht, und an ihnen als ein negativer bzw. reflexiver Prozess hervortritt, indem er die Zufälligkeiten aufhebt, aber zugleich auch voraussetzt und setzt; d. h. das »Werden« ist sogleich wesentlich als »Reflexion« gedacht – oder wie Hegel sagt: das »Übergehen« ist ein »Zusammengehen mit sich selbst« (GW 11, 392). Somit verschiebt sich der Gedanke, der sich an den »freien Wirklichkeiten« orientierte (die wesentlich nicht auf andere bezogen waren) und den Entzug wesenslogischer Vermittlungsstrukturen akzentuierte: Das Wesen ist nun nicht mehr als das »Lichtscheue« bestimmt, das seine konstitutive und einheitserzeugende Relationalität in seinem Sein (»freyer Wirklichkeiten«) verbirgt; sondern das Wesen tritt nur qua Reflexivität des Seins (»Identität des Seyns in seiner Negation mit sich selbst«, GW 11, 392) in seiner Verhältnishaftigkeit eigens hervor: Das »Seyn« wird jetzt »schlechthin als Reflexion« gedacht (GW 11, 393).

IV.3 Reflexionslogische Alterität der Wirklichkeit Mit der zum Ende der »absoluten Notwendigkeit« herausgearbeiteten (»gesetzten«) »Einheit des Seins und der Reflexion« treten wir in die zuvor angekündigte letzte Phase der Verhältnishaftigkeit ein und verlassen damit den im engeren Sinne metaphysischen Bereich, in dem alles entweder in zu viel Licht (»Das Absolute«) oder in zu viel Dunkel (»Die Wirklichkeit«) getaucht war, als dass sich hier die Distinktionen szientifischer

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Prosa richtig entfalten könnten. Dies wird nun anders. Und zwar deshalb, weil die explizierte Reflexivität der Wirklichkeit dazu führt, dass die Wirklichkeit von nun an wesentlich als »Verhältnis« – genauer: als Kausalität gedacht wird. Darin liegt der Gedanke, dass der für das wesenslogisch restituierte Sein bestimmende Identitätsbegriff nicht ohne eine Alteritätsstruktur der Wirklichkeit selbst (und nicht etwa zwischen der »Wirklichkeit« und dem bloßen »Schein«) gedacht werden kann; ferner liegt darin der Gedanke, dass diese Alterität der Wirklichkeit als solcher im Kern ein reflexives Verhältnis ist. Die Wirklichkeit ›manifestiert‹ sich jetzt nicht nur, sondern sie ›legt sich selbst in ihrer Alterität aus‹ (GW 11, 393). Und dann, und nur dann, wenn die Wirklichkeit auch hinsichtlich ihrer Negativität, also im Blick auf die Unterschiede, durch welche sie sich artikuliert, begriffen wird, und wenn dieses Unterscheiden eben auch als ihr Unterscheiden begriffen wird, durch das sie ihre Identität generiert, – dann erfüllen wir in Hegelscher Terminologie die Kriterien des SubstanzBegriffs. D. h.: für Hegel ist die Wirklichkeit, die wir als »Substanz« bestimmen, in keiner Weise ohne Alterität und Reflexivität zu denken. – Damit ist aber auch bereits der weitere Weg angezeigt: Die in der Reflexivität zu denkende Unterscheidung bzw. Negativität wird als eine Selbstunterscheidung der Wirklichkeit zu explizieren sein. Mit anderen Worten: Die Wirklichkeit wird eingedenk ihrer Negativität und Alterität in Richtung Selbstbestimmung entwickelt. Und man ahnt bereits: Von der Selbstbestimmung der Wirklichkeit zur Freiheit werden begrifflich keine großen Sprünge mehr zu machen sein. Doch zunächst gilt es die Verhältnishaftigkeit der Wirklichkeit zu explizieren, welche, da sich die Wirklichkeit qua Selbstverhältnis eben zu nichts verhält, was nicht wirklich ist, ein »absolute[s] Verhältniss« (GW 11, 393–409) ist. Und anders als das »wesentliche Verhältniss« der Erscheinung (mit welchem wir in die »Wirklichkeit« gelangten) ist das »absolute Verhältniss« der Wirklichkeit vor allem so gedacht, dass sich die reflexionslogischen Formunterschiede nicht mehr einfach auf einer sachhaltigen »Grundlage« abspielen, sondern vielmehr so, dass es eben selbst sachhaltige, reale Unterschiede sind, die hier ineinander Umschlagen. Wie am Ende der »absoluten Notwendigkeit« deutlich wurde, ist es die Wirklichkeit selbst, die sich in ihren »freyen Wirklichkeiten« und der daran aufbrechenden Reflexionsunterschiede manifestiert. Aber anders als bei der sich an diesen Wirklichkeiten noch verbergenden ›inneren Notwendigkeit‹ – und ohnehin anders als bei jener »Grundlage« der Formdifferenzen – verschwindet die Prozessualität der Reflexionsbestimmungen bzw. der Vermittlungszusammenhang der differenten Bestimmungen nicht hinter dem Bestehen der Relata, sondern tritt eignes in seiner Negativität hervor: Das »absolute Verhältniss« ist der, wie Hegel sagt, »als Schein gesetzte Schein« (GW 11, 393) der Wirklichkeit. Anhand der Relationskategorien wird Hegel das »Unterscheiden oder Scheinen des Absoluten« (GW 11, 393) ausführen. Schaut man sich die Kaskade von Bestimmungen an, in denen Hegel die Verhältnishaftigkeit der Wirklichkeit schrittweise entfaltet, dann fallen vor allem zwei Merkmale auf – (1) ein innerhalb der wesenslogischen Programmatik naheliegendes, (2) und ein für den weiteren logischen Gang besonders bemerkenswertes Merkmal:

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(1) Naheliegend ist das folgende Merkmal: Mit den Bestimmungen »Substanz/Akzidenz«, »Ursache/Wirkung« und schließlich »Wechselwirkung« von Ursache und Wirkung wird deutlich, dass die mit der »absoluten Notwendigkeit« erreichte Alteritätsstruktur, die zufälligen und gegeneinander gleichgültigen »freyen Wirklichkeiten« nun wesentlich als Momente der »realen Reflexion« und so in den typischen wesenslogischen Konstellationen, d. h. als Doppel von Reflexionsbegriffen gedacht werden. Deutlich wird dabei vor allem die Fortsetzung des wesenslogischen Programms »Das Wesen ist das Sein«, indem jetzt die Reflexionsbegriffe als seiende Bestimmungen höherer Stufe konzipiert sind. (2) Bemerkenswerter ist aber – gesehen auf die gesamte Hegelsche Logik – etwas anderes: Im Kontext des »absoluten Verhältnisses« werden die Formdifferenzen nicht nur als substanzielle Differenzen ausformuliert, sondern die substanziellen Differenzen werden deutlicher als zuvor von einem »Tun« her gedacht. Was wir also in der letzten wesenslogischen Sequenz von Bestimmungen vor allem sehen können ist, wie insgesamt die wesenslogischen Reflexionsbewegungen jetzt eigens als ein »Tun«, und zwar als eine schrittweise höherstufige Form der Aktivität ausbuchstabiert werden. D. h. die Alteritätsstrukturen, um die es am Ende geht, sind wesentlich durch dieses »Tun« generiert. Alterität ist letztlich sogar selbst nichts anderes als eine Alterität von Tätigkeitsaspekten. Man kann das Schlusskapitel der Wesenslogik (= »Das absolute Verhältnis«) etwas zugespitzt so beschreiben: Die »Wirklichkeit« ist nicht mehr nur ›autopoietisch‹ (wie das »Absolute« und die daraus entwickelte »Wirklichkeit«), sondern sie gilt nunmehr als ›autologifizierend‹ (vgl. ›Selbstauslegung‹), und ihre ›Logik‹ (ihre Relationalität) ist das Resultat ihrer ›Praxis‹ (insbesondere eines Prozesses, der seinen Zweck in sich selbst hat). Schauen wir uns das Tun der Wirklichkeit im Überblick an: Das Tun der substanziellen Wirklichkeit (noch nicht zu verwechseln mit den Handlungen von Subjekten) entwickelt sich dabei von der bloßen »Actuosität« (GW 11, 394) der Substanz, die sich in ihrer Akzidentalität als »schaffende« und »zerstörende Macht« (GW 11, 395) geltend macht, fort zur »absoluten Actuosität« der »Ursache« (GW 11, 397), worin die Substanz ihre Alterität verstärkt, nämlich ›sich von sich abstößt‹ und so eine »Wirkung«, d. i. eine andere Substanz generiert. Wir haben es dann aber nicht mehr nur mit der Alterität von gegeneinander ›endlichen Substanzen‹ (vgl. »Das bestimmte Causalitätsverhältniß«, GW 11, 398–404) zu tun, sondern genauer mit zwei korrelierenden Aspekten von Tätigkeit: nämlich Aktivität und Passivität. Und insofern beide hier auf unterschiedliche Substanzen verteilt werden (»Wirkung und Gegenwirkung«, GW 11, 404–407), macht sich darin nicht nur ein »Macht«-Verhältnis (jener ersten Aktuosität), sondern wesentlich auch, wie Hegel hervorhebt, ein »Gewalt«-Verhältnis geltend (vgl. GW 11, 405), in dem die aktive Substanz von außen auf die passive Substanz einwirkt. Insofern Hegel aber noch die »Passivität« als Resultat der »Aktivität« denkt (vgl. GW 11, 408) modifiziert sich das Tun der substanziellen Wirklichkeit schließlich ein weiteres Mal: Das Doppel von aktiver Ursache einerseits und passiver, bewirkter Substanz anderseits, wird jetzt als symmetrisches Verhältnis zweier in »Wechselwirkung«

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(GW 11, 407) stehender Substanzen gedacht, wobei jede Seite beides – aktiv und passiv – ist. Damit hat sich auch das Sein der vormals einander gleichgültigen und zufälligen »freyen Wirklichkeiten« verwandelt in die Reziprozität zweier gleichermaßen aktiver und passiver Substanzen. Und während die »freyen Wirklichkeiten« gleichsam untätig im Prozess des Werdens untergingen (»ergriffen« vom ›lichtscheuen Wesen‹), haben dagegen die tätig gewordenen Substanzen das Werden als das (temporalisierte) Übergehen in Anderes umgebogen in die »Reflexion-in-sich«, haben sich in und durch ihr Tun gleichsam selbst erhalten. Doch das nun generierte Wirkungsverhältnis ist auch kein Gewaltverhältnis mehr. Denn weder wird hier die Aktivität einseitig auf Kosten der Passivität einer anderen Substanz geltend gemacht, noch bewegen wir uns entlang des unbestimmt fortlaufenden Wechsels von Aktivität und Passivität (vgl. »Wirkung und Gegenwirkung«), sondern beide Aspekte sind jetzt integrale Momente jeder Seite innerhalb eines symmetrischen Wechselverhältnisses. Die tätigen, alteritätsproduzierenden Substanzen erreichen hier einen unüberbietbaren Zustand von Aktivität: Eine Aktivität, in der die Substanz sich in ihrem Tun über sich hinaus bezieht auf eine andere Substanz, ohne sich dabei als wirkende Substanz zu verlieren; stattdessen gewinnt und erhält sich – vermittelt über die andere Substanz – die Substanz in ihrer Ganzheit (als passiv und aktiv).

IV.4 Zusammenfassung des Entwicklungsgangs Akzentuiert man den Tätigkeitsaspekt im wesenslogischen Schlusskapitel, dann kann man den Entwicklungsgang insgesamt so skizzieren: Die zuvor mit dem »wesentlichen Verhältnis« der »Erscheinung« erreichte Identitätsstruktur von Innerem und Äußerem, die für den Wirklichkeitsbegriff grundlegend ist, war vor allem als Resultat einer stillgestellten Reflexionsbewegung gedacht. Demgegenüber hat das »absolute Verhältnis« der Wirklichkeit ihr bloßes Offenbar- oder Manifestsein als ein Tun, ihre Identitätsstruktur als eine durch ihre Aktivität erbrachte konzipiert. Die Reflexionsbewegung ist nicht mehr in der Wirklichkeit versenkt, sondern als ihr Tun ›wirklich‹. Das Sein ist mithin nicht nur als Reflexion gedacht, sondern mehr noch in ihrem Tun prozessualisiert. Die dabei ins Verhältnis gesetzten Seienden (»freien Wirklichkeiten«) sind gegeneinander und für sich selbst nur als und durch ihre Aktivität und der mit ihr verbundenen Passivität bestimmt. Und die durch sie vermittelte Identitätsstruktur ist nur die Identität des sich in seine Tätigkeitsmomente (Aktivität/Passivität) ausdifferenzierenden Tuns. Das am Ende der »Erscheinung« erreichte Doppel eines ›grundlegenden‹ Seins, das als »absolute Sache« unberührt blieb vom »Schein« der Vermittlungsbewegung (= Formdifferenz von Innerem/Äußerem) ist am Ende der »Wirklichkeit« – in der »Wechselwirkung« – als Differenzierung des Tuns selbst rekonzeptionalisiert worden: Jene abstrakte (= von ihrer Vermittlungsbewegung abgezogene) Identität der »Sache« wurde so zur Passivität der substanziellen Ursache fortbestimmt; und jene Formdifferenz des »Scheins« hat sich als aktive bzw. »ursachliche Substanz« (GW 11, 409) einerseits und

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als das durch diese gesetzte »Wirkung« anderseits ausgelegt. Insofern Hegel die Kausalität in Richtung der Identität von Aktivität und Passivität entwickelt hatte, kommt er in der »Wechselwirkung« zu einer Identitätsstruktur, die alle drei Instanzen durchzieht, d. h. sowohl die zugrundliegende passive, als auch die ursächliche Substanz und deren gesetzte Wirkung. Jede der durch Tätigkeitsmomente bestimmten Instanzen steht für eine bestimmte Form der Alteritätsstruktur, durch die sie jeweils ihre Identität ›erwirkt‹ haben. D. h.: (i) die passive Substanz ist die ursprüngliche Substanz, die ihr »Gesetzsein in sich selbst erhält und als identisch darin mit sich gesetzt ist« (GW 11, 409) – oder kurz: sie ist das, was in sich unterschieden ist – das »Allgemeine« (ebd.); (ii) die »ursachliche Substanz« ist das, was sich »aus der Bestimmtheit in sich zur negativen Bestimmtheit« reflektiert – oder kurz: sie ist das, was sich von sich unterscheidet – das »Einzelne« (ebd.); (iii) und das Gesetztsein ist, sofern es nur von anderem unterschieden ist, das »Negative als Negatives«, das sein Bestehen in einer durch es differenzierten Positivität hat – die »Besonderheit« (ebd.). Von hier aus stellt sich am Ende die »Wirklichkeit« nicht nur als eine ihre Tätigkeitsaspekte differenzierende Prozessualität dar; sondern die darin entfaltete Identitätsstruktur erscheint so auch als ein Maximum an Alteritätsstruktur: als Unterschied in sich (Allgemeinheit), Unterschied von sich (Einzelheit) und Unterschied von anderem (Besonderheit). Alle drei Alteritätsformen sind Formen der Identität von Reflexion in sich und Reflexion in anderes und mithin Resultat der Differenzierung der ›Einen Reflexion‹ (vgl. GW 11, 409). Wenn alle Alterität des tätigen Selbstverhältnisses der ›Einen Reflexion‹ entwickelt ist, dann tritt sie in eine andere Begriffssphäre ein – in die Sphäre des Begriffs. Und insofern eben alle Alterität hier als Entfaltung eines Selbstverhältnisses bzw. als Selbstbestimmung der Wirklichkeit ausgewiesen wurde, treten wir in eine Sphäre ein, in der keine Alteritätsstruktur mehr als unüberwindbare Fremdbestimmung figurieren kann; d. h. wir treten in das Reich der »Freiheit« ein, mit welchem Terminus Hegel die Wesenslogik beschließt. – Es sei nur angemerkt: Das tätige Selbstverhältnis kulminiert also in einer Tätigkeit, die am Ende alle Alteritätsstufen durchgespielt und ausgefaltet hat und so auf keine weitere Veränderung drängen muss. Ein solches Tun, das weder auf ein externes Produkt noch auf perennierende Veränderung abzielt kann man auch »Theorie« nennen.

V. Grundzüge des wesenslogischen Freiheitsbegriff In Analogie zum anfangs genannten Godardschen Dreh, wonach wir nach einer Folge von Abstraktionsschritten, die »Seele« eines Tieres erkennen, möchte ich jetzt abschließend nochmal Hegels wesenslogischen Dreh hervorheben. Mit Hegel könnte man sagen: ›Die Wirklichkeit ist ein Tier mit einem Inneren und einem Äußeren. Zieht man das Äußere ab, bleibt nichts übrig. Durchdenkt man beides, entdeckt man die Freiheit.‹

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Behält man nun auch noch den wesenslogischen Entwicklungsgang im Blick, dann lässt sich die in diesem Bild benannte Freiheit der Wirklichkeit durch eine Reihe von begrifflichen Zusammenhängen argumentativ stützen:8 i. Dafür, dass das Sein nicht nur in seiner Bestimmtheit, sondern durch seine Bestimmtheit sogar noch als Freiheit gedacht werden soll, – dafür argumentiert Hegel seit Beginn der Wesenslogik bzw. seit dem »Schein« über den Nachweis, dass der Begriff des Seins letztlich die Struktur der Selbstbezüglichkeit enthält. – Das erste Freiheitsargument kann vereinfacht auf die Formel gebracht werden: ›Fremdbeziehung impliziert Selbstbeziehung‹. ii. Ferner wird mit der »Erscheinung« die sich in der Selbstbeziehung ankündigende Freiheit als eine Identitätsstruktur von Fremd- und Selbstbeziehung konkretisiert (vgl. Übergang zur »Wirklichkeit«). – Das zweite Freiheitsargument lautet kurz: ›Selbstbeziehung ist eine Identitätsstruktur in der Fremdbeziehung‹. iii. Und drittens wird (vgl. »Wirklichkeit«) die in der Identitätsstruktur mitzudenkende Alteritätsstruktur als Produkt einer wesentlich tätigen Wirklichkeit entwickelt. – Das dritte Argument folgt, vereinfacht gesagt, dem Gedanken: ›Freiheit ist tätige Selbstbeziehung‹ (bzw. ›Freiheit ist wirkliche Freiheit qua Praxis‹). iv. Und viertens wird mit Ende der Wesenslogik die sich durch die praktisch bestimmte Wirklichkeit entwickelte Identitätsstruktur als ein unüberbietbares Maximum an Alteritätsstrukturen ausgewiesen. – Das vierte Freiheitsargument folgt der Einsicht: ›Freiheit ist Identität durch maximale Alterität‹ bzw. ist mit anderen Worten diejenige Praxis, die Theorie geworden ist.

8 Dass die Hegelsche Entfaltung der »Wirklichkeit« nicht nur Argumente für einen metaphysischen Freiheitsbegriff enthält, sondern auch einen begrifflichen Raum schafft, um die (z. B. kulturelle) Alterität von Wirklichkeitskonzeptionen zu begreifen, sei hier wenigstens angemerkt. Der Reiz, sich in diesem Raum zu bewegen, besteht dann vor allem darin, dass auch dort Übergänge gedacht werden könnten, wo oft mit einem gutgemeinten Kulturrelativismus das Denken aufhört. Dies hoffe ich an anderer Stelle ausführen zu können.

S UJETS

DER

L OGIK – B EGRIFFSLOGIK

Subjektivität und Objektivität: Die Unterscheidung des Begriffs Anton Friedrich Koch

I. Vorbemerkungen zu Sein, Wesen und Begriff Die Grundunterscheidung in der Sphäre des Seins ist die von Qualität und Quantität, in der Sphäre des Wesens die von Wesen und Erscheinung, in der des Begriffs die von Subjektivität und Objektivität. Ihre Aufhebungen sind im Sein das Maß, im Wesen die Wirklichkeit, im Begriff die Idee. Diesen Aufbau von Hegels Wissenschaft der Logik zeichnet die Abfolge der Texte dieses Bandes nach. Im gegenwärtigen geht es um den Begriff, näher zunächst um dessen Unterscheidung in Subjektivität und Objektivität. Doch stellen wir erst einmal alle drei Hauptunterscheidungen im Überblick nebeneinander. Dazu muss ich kurz noch einmal an die beiden vorangegangenen erinnern. Das Absolute oder der logische Raum ist zunächst Qualität, dann Quantität. Im Bereich der Qualität gilt, dass Etwas mit seiner Qualität eins ist. Es gibt hier noch keine Unterscheidung von Substrat und Zustand, Ding und Eigenschaft, Subjekt und Prädikat. Die qualitätslogischen Gegebenheiten sind Qualia, logische Qualia, versteht sich, nicht die sinnlichen Qualia des Empirismus. Für solche Gegebenheiten gilt, dass mit ihrer Qualität sie selbst sich verändern, und zwar radikal: Sie gehen unter zugunsten einer jeweils neuen, anderen Gegebenheit. Und so ist es ja auch in Ordnung, wenn wir an die gewöhnliche, nichthegelsche Logik der Identität denken. Denn für die Identitätslogik ist der Satz von der Nicht-Identität des Unterscheidbaren zentral: Wenn von a etwas gilt, was von b nicht gilt, sind a und b verschiedene Entitäten. In unserer konkreten Lebenswelt finden wir dies so aber de facto nicht vor. Nehmen wir Sokrates. Erst sitzt er, dann erhebt er sich und steht. Erst hat er die Bestimmung, ein Sitzender zu sein, dann die Bestimmung, ein Stehender, nicht ein Sitzender zu sein. Also müsste der sitzende Sokrates unserer Identitätslogik zufolge numerisch verschieden von dem stehenden Sokrates sein. De facto aber ist er mit ihm identisch. David Lewis hat wegen dieser Aporie die These vertreten, die wahren logischen Subjekte unserer Prädikationen seien nicht die wandelbaren Dinge und Personen, sondern dünne zeitliche Teile oder Scheiben von ihnen.1 Nicht Sokrates sitzt, sondern eigentlich nur ein zeitlicher Teil von ihm, und nicht er steht, sondern eigentlich nur ein anderer zeitlicher Teil von ihm. Ohne dass Lewis sich das klargemacht hätte, hat er damit die Hegelsche Logik der Qualität starkgeredet. Denn in deren Bereich findet sich tatsächlich noch nichts, was im Wandel identisch bliebe.

1

Vgl. Lewis, David: On the Plurality of Worlds. New York, Oxford 1986, S. 203 f.

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Mit der Quantität tritt dann das Seltsame und doch Wohlvertraute ein, dass eine Sache dieselbe bleibt, wenn ihre Bestimmungen variieren. Allerdings betrifft dies zunächst nur quantitative Bestimmungen. Ein Kind, etwa der kleine Sokrates, wächst. Seine Größe variiert, aber er bleibt derselbe. Bei quantitativen Bestimmungen lassen wir uns das gefallen; aber auch bei qualitativen Bestimmungen kommen wir schließlich nicht umhin, es uns gefallen lassen zu müssen, wie das Beispiel des sich erhebenden Sokrates zeigte. Für diese Problematik ist nun die Maßlogik zuständig, die uns erklärt, wie qualitative Bestimmungen quantitativ fundiert sein können und infolgedessen dann ebenso äußerlich sind wie diese. So wird die Sache – in der WdL nichts Geringeres als das Absolute – zum Substrat von wechselnden Zuständen, d. h. von Qualitäten, gegen deren Wechsel die Sache so gleichgültig ist, als wären es quantitative Bestimmungen. In dieser Hinsicht geht das Maß über die Qualität hinaus. Aber es geht auch über die Quantität hinaus, denn umgekehrt gibt es diejenigen Fälle, in denen die Identität einer Sache an einem bestimmten Quantum hängt: Ein ständig verkleinerter Acker wird irgendwann zum Beet. So viel zur Sphäre des Seins. Die Hauptunterscheidung des Wesens ist die zwischen dem Wesen als Reflexion in ihm selbst (1813) bzw. dem Wesen als Grund der Existenz (1830) auf der einen Seite und der Erscheinung auf der anderen.2 Es ist dies eine Dualität von a) Selbstvermitteltem, in sich Reflektiertem, tendenziell Verborgenem und b) einer Außenseite, die unmittelbar zugänglich ist. Auch diesen Grundsachverhalt kennen wir unabhängig von Hegel, aus dem Verfahren der theoretischen Wissenschaften, die das Wesen einer Sache beschreiben, indem sie theoretische Entitäten postulieren wie Moleküle, Atome, subatomare Teilchen. Wasser etwa ist seinem Wesen nach H2O und Gold das Element mit der Atomzahl 79. Aber die Wirklichkeit erschöpft sich weder in den manifesten Phänomenen noch in den theoretischen Entitäten, sondern ist deren Einheit, wie immer diese in concreto zu denken sein mag. Wilfrid Sellars denkt sie als Zukunftsprojekt, wenn er lehrt, dass unser »manifestes Weltbild« Erscheinung sei und dass unsere wissenschaftlichen Theorien, die auf das An-sich-Seiende zielen, sich noch nicht zu einem alternativen Weltbild fortentwickelt haben. Erst in ferner Zukunft wird nach Sellars die Einheit von Erscheinung und An-sich erreicht werden, im sogenannten wissenschaftlichen Weltbild.3 Während so bei Sellars die Einheit von An-sich und Erscheinung als eine Art Wissenschaftsfiktion firmiert, ist sie für Hegel gegenwärtige Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Substanz. Aber die Substanz ist in ihrem Wirken noch von blinder Notwendigkeit durchzogen. Zwar neigen wir zu der Auffassung, das Faktische sei das Kontingente, und das Vernünftige sei das Notwendige. Aber nicht erst Quine und Kripke haben 2 Die beiden Jahreszahlen beziehen sich auf die erste und die letzte veröffentlichte Version der Wesenslogik, a) als zweites Buch der großen Logik: Die Lehre vom Wesen, 1813, und b) als zweite Abteilung der kleinen Logik in der dritten Auflage der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, 1830. 3 Zu der Unterscheidung zwischen dem »manifest image of man in the world« und dem »scientific image« vgl. Sellars, Wilfrid: Philosophy and the Scientific Image of Man. In: ders.: Science, Perception and Reality. London 1963, S. 1–40.

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Zweifel an dieser Auffassung gesät, sondern schon von Hegel konnten wir lernen, dass Notwendigkeit nicht nur der Gegenbegriff zu Kontingenz ist, sondern als solche, als blinde ἀνάγκη, selber noch deren Grenzfall. Sobald die Notwendigkeit jedoch als eingesehene, aufgeklärte, vernünftige ihre opaken, kontingenten Reste abstreift und (hegelisch gesprochen) in ihre Wahrheit kommt, hört sie auf, Notwendigkeit zu sein und verklärt sich zur Freiheit. Von der Freiheit als der durchsichtig gewordenen Notwendigkeit handelt die Begriffslogik in ihren drei Abschnitten »Subjektivität«, »Objektivität« und »Idee«. Mein Thema sind die ersten beiden Abschnitte mit ihren zwei mal drei Kapiteln »Begriff«, »Urteil«, »Schluß« und »Mechanismus«, »Chemismus«, »Teleologie«. Das Absolute soll also, nachdem es sich aus der Dunkelheit der Substanz zum freien, durchsichtigen Begriff gelichtet hat, zunächst auftreten als der Begriff rein als solcher. Dieser soll sich dann selbst verlieren und sich in einer Urteilung in zwei Extreme zerlegen, nämlich in das Subjekt und das Prädikat des Urteils, äußerlich verbunden durch die Kopula. Die Kopula soll sich drittens aus seinslogischen Anfängen über wesenslogische Zwischenstufen wieder zur Höhe des Begriffs hinaufentwickeln, so dass schließlich die beiden Extreme durch einen Begriff verbunden sind, nämlich im Schluss, mit dem der Begriff aus seiner Urteilung zu sich zurückkehrt, allerdings nur, um sogleich Objekt zu werden. Das Absolute qua Objekt zerlegt sich sodann in viele distinkte, gleichgültige Objekte, die in äußerlichen, mechanischen Beziehungen stehen, und emanzipiert sich aus dieser Äußerlichkeit über die Zwischenstufe des Chemismus hin zur Teleologie, die de facto mit dem Lebendigen in die Welt kommt. Das ist eine ungeheuer breite und tiefe Thematik für einen kurzen Vortrag. In den beiden folgenden Hauptteilen meiner Ausführungen möchte ich daher nicht viel mehr tun, als zunächst ein Bedenken gegen die Hegelsche Konzeption der Begriffslogik zu formulieren und es dann, so gut es geht, zu zerstreuen.

II. Ein Bedenken gegen die Hegelsche Konzeption der Begriffslogik Wenn die WdL logisch-ontologische Verhältnisse untersucht wie die von Qualität, Quantität und Maß und die von Wesensgrund, Erscheinung und Wirklichkeit, so mag das ungewöhnlich sein, verglichen damit, in welchen philosophischen Disziplinen heute derlei Verhältnisse thematisiert werden (Ontologie, Philosophie der Logik, Philosophie der Mathematik und Wissenschaftstheorie). Bei Hegel fällt das alles in die Zuständigkeit einer einzigen Grunddisziplin, eben der WdL. Diese untersucht das Absolute und seinen Prozess oder, wie man auch sagen kann, den logischen Raum und seine prätemporale, logische Evolution, und zwar noch unabhängig davon, dass der logische Raum und die logische Zeit für unsere Vorstellung nur als physischer Raum und physische Zeit gegeben werden können. Vom physischen Raum-Zeit-System aber handelt erst die Realphilosophie. Die skizzierte Hegelsche Konzeption einer Logik ist, wie gesagt, zwar ungewöhnlich, eher eine ontologische, kategorientheoretische als eine eng logische Konzeption, aber wenn man sich einmal auf sie einlässt, wird man nichts weiter dabei finden, dass der

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logische Raum in seiner Evolution als Qualität, dann als Quantität, dann als Maß, darauf als in sich reflektiertes Wesen, als Erscheinung und schließlich als Wirklichkeit und Substantialität auftritt. Der Trott unserer Erwartungen wird jedoch durchbrochen mit der Begriffslogik und deren Unterscheidung von Subjektivität und Objektivität. Das Absolute hat sich vom qualitativen Sein bis zur Substanz und dann, mit dem Übergang zur Begriffslogik, zum transparenten Begriff und zur freien Subjektivität entwickelt. Das klingt nach konventionellem Idealismus, der das Absolute zu guter Letzt als begriffliche Subjektivität, eine Art res cogitans, begreift. Die Hegelsche Logik, die als Ontologie begann, hätte demnach doch noch die Kurve zur Logik als der Theorie des subjektiven Denkens gekriegt. Und sagt nicht Hegel selbst, dass er mit der Begriffslogik in denjenigen Bereich eintritt, der traditionell in der formalen Logik abgehandelt wurde, in den Bereich unserer Begriffe, Urteile und Schlüsse? Aber nun kommt die Überraschung: Mit dem zweiten Abschnitt der Begriffslogik schlägt das Pendel der Untersuchung scheinbar wieder nach der Gegenseite, der ontologischen, aus. Denn plötzlich wird die Objektivität zum Thema gemacht und tritt das Absolute auf als das Objekt bzw. als eine Mannigfaltigkeit von distinkten Objekten. Man würde sagen können, es trete auf als res extensa, wenn die Ausdehnung, der Raum, nicht der Realphilosophie angehörte. Begeht Hegel hier einen Missgriff, indem er, statt beim Thema »Diskurs« zu bleiben, auf den objektiven Gegenstandsbereich des Diskurses, also auf die Seite der Anwendung, schielt und Themen vorwegnimmt, die ihren Ort erst in der Philosophie der Natur haben? Bleiben wir noch ein wenig bei diesem Verdacht. Die seinslogische Dualität von Qualität und Quantität war ein qualitativ-quantitativer Unterschied am Sein, das als Substrat zugrunde lag. Die wesenslogische Dualität von Wesensgrund und Erscheinung war ein Unterschied der Reflexion am Wesen bzw. an der Substanz. So weit, so gut. Doch nun, mit dem Übergang zur Begriffslogik, scheint sich die Dualität zu einem Dualismus verschärft und verhärtet zu haben, so, als sei gar nicht mehr von dem singulären Absoluten die Rede, sondern von entgegengesetzten, ungleichen Bereichen des logischen Raumes, zuerst von einem logischen Vorläufer der res cogitans (Subjektivität), dann von einem logischen Vorläufer der res extensa (Objektivität). Für ihre Einheit, die sogenannte Idee, scheint dieser Dualismus nichts Gutes zu verheißen; sie dürfte recht forciert und künstlich ausfallen. Auf den ersten Blick sind der subjektive Diskurs und sein objektiver Gegenstandsbereich in der Tat zwei getrennte Thematiken. Der Diskurs sind wir, die Subjekte, und zwar in Gestalt unserer Begriffe, Urteile und Schlüsse. Deren Gegenstandsbereich andererseits bilden die Objekte, die der Vorstellung in Raum und Zeit gegeben werden. Wer wollte da nicht sogleich an einen Dualismus von Sprache und Welt, Begriffsschema und Realität denken? Mit diesem Dualismus wäre tatsächlich die Systematik der Wissenschaft der Logik empfindlich gestört, weil dann Materien, die der Naturphilosophie angehören, eben die Formen der Objektivität, ohne sachliche Legitimation schon vorweg behandelt würden. Die Begriffslogik insgesamt soll ja nach Hegels Konzeption die subjektive Logik sein und an die Stelle der traditionellen formalen Logik treten, während die Seins- und die Wesenslogik zusammen die objektive Logik bilden und die Ontologie

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und die Transzendentalphilosophie beerben sollen. Ein Abschnitt »Objektivität« muss, so gesehen, als Fremdkörper in der Begriffslogik erscheinen. Doch diese Bedenken gehen ins Leere. Es findet in der Begriffslogik beim Übergang von der Subjektivität zur Objektivität kein Themenwechsel, kein Sprung von der Seite der Sprache zur Seite der Welt statt. Vielmehr wird ein und dieselbe Realität, nämlich der ganze logische Raum, zunächst als Diskurs und dann als Totalität von Objekten betrachtet. Gleich zu Beginn des Abschnittes »Objektivität« sagt Hegel, der Übergang von der Subjektivität zur Objektivität sei derjenige, den die Metaphysik im ontologischen Argument als den Übergang vom Begriff Gottes zu seinem Dasein konzipiert habe. Dies ist ein immanenter Übergang im Begriff Gottes, nicht der Übergang zu einem neuen Thema; denn der Begriff Gottes soll dem ontologischen Argument zufolge ja das Dasein Gottes logisch enthalten und es einzusehen erlauben. Gleichermaßen immanent müssen wir uns also den Fortgang von der Subjektivität zur Objektivität denken. Das ist Hegels Anspruch. Ich gehe nun dazu über, diesen Anspruch zu legitimieren, indem ich zeige, dass die Begriffslogik und ihre Hauptunterscheidung in Kontinuität mit dem Ganzen der Logik stehen. Immer ist von dem singulären Absoluten die Rede und von dessen logischer Evolution.

III. Subjektivität und Objektivität Wie soll ein und dasselbe Absolute einmal Begriff, Urteil oder Schluss und das andere Mal mechanisches, chemisches, teleologisch-protobiologisches Objekt sein können? Ich will diese Frage nicht in abstracto, sondern möglichst konkret beantworten, indem ich die sechs einschlägigen Kapitel der Begriffslogik Revue passieren lasse und zu jedem kurz meine Anmerkungen mache.

a) Der Begriff Wir müssen unterscheiden zwischen dem Begriff im logischen Raum und dem Begriff als logischem Raum. Der Begriff im logischen (und physischen) Raum ist der zu freier Existenz gediehene Begriff, der reines Selbstbewusstsein und je individuelle Persönlichkeit ist.4 In der Persönlichkeit tritt das Begriffliche explizit hervor und setzt sich eigens. Doch an sich vorhanden ist es schon in der vorpersonalen Realität. Kants transzendentale Deduktion der Kategorien in der Kritik der reinen Vernunft5 zehrt von diesem Sachverhalt. Kant geht aus von der Synthesis, die wir im diskursiven Denken vollziehen, und zeigt, dass deren Aspekte, umgeformt in Prädikate von Objekten, im Realen schon objektiv vorhanden sind, als dessen allgemeine kategoriale Struktur. Die kategoriale Struktur lässt sich nicht rezeptiv erkennen, wie Hume zu Kants Zufriedenheit gezeigt 4 5

Vgl. GW 12, 17. Vgl. Kant, Immanuel: KrV, §§ 15–27 der zweiten Auflage, B 129–169.

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hatte; den Tieren bleibt sie also verborgen. Wir Menschen aber können und müssen sie in spontaner Synthesis ins Reale projizieren, dies jedoch in einer konservativen Projektion, die nichts abschneidet oder hinzufügt, sondern nur dasjenige am Realen eigens setzt und zum Vorschein bringt, was an sich dort schon vorhanden ist. Darin besteht ja die objektive Gültigkeit der Kategorien, dass wir sie dem Realen nicht aufpfropfen, sondern dass dieses sich von selbst immer schon wie von Wunderhand nach unseren reinen Verstandesbegriffen gerichtet hat. Hegel hat diesen Aspekt der Kantischen Deduktion, die Pointe von deren zweitem Beweisschritt,6 nicht gesehen, sondern Kant stets eines subjektiven Idealismus verdächtigt, zu Unrecht, wie ich glaube. Zu Recht hingegen darf er sich seinerseits einer transzendentalen Deduktion überhoben fühlen, denn er geht umgekehrt vor als Kant. Er beginnt nicht beim Begriff im logischen Raum, d. h. beim reinen Selbstbewusstsein, sondern beim Begriff als logischem Raum, und dies nicht dezisionistisch, sondern weil die Systematik der logischen Theorie es verlangt. Der Begriff als logischer Raum ähnelt dem wahrhaft Seienden bei Platon, dem Ideenkosmos, dessen Topologie der Dialektiker bestimmt, indem er dihairetische Baumstrukturen entwickelt, in denen die Ideen jeweils ihren Platz finden.7 Der Hegelsche Begriff qua logischer Raum ist die dihairetische Baumstruktur als Singularetantum und rein für sich betrachtet, ohne äußere, vorgegebene Inhalte. Er ist zunächst allgemein und geht in ungetrübter Reinheit durch seine Unterschiede hindurch. In seinen Unterschieden hat er sich aber zugleich auch besondert. Die dihairetische Baumstruktur weist nach oben ins Allgemeine und nach unten ins Besondere. Sie weist, was das Besondere angeht, aber auch nach der Seite, denn jedes Allgemeine ist, sofern es unter einem höheren Allgemeinen steht, auch ein Besonderes und einem anderen Besonderen koordiniert. Der Abschluss der Baumstruktur nach oben ist das Allgemeine als solches, der Abschluss nach unten das Letztbesondere, das in der dihairetischen Baumstruktur zugleich das Einzelne ist. (Im Ideenkosmos gilt der Sache nach, auch wenn Platon kein Theorem daraus macht, wie später von den aristotelischen Intelligenzen und den scholastischen Engeln, dass unterste Arten zugleich Individuen sind.) So ist der Begriff qua logischer Raum die umfassende Baumstruktur des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen und dabei selber sowohl Allgemeines als auch Besonderes als auch Einzelnes. Allerdings ist diese Betrachtung des logischen Raumes tendenziell unergiebig und gehört (wie Hegel selber bemerkt) mehr unserer äußeren Reflexion denn der Sache an. Die Sache selbst, d. h. der logische Raum, entwickelt sich, indem der etwas freischwebende, nach allen Seiten hin offene Begriff, wenn er als Einzelnes in sich zurückkehrt und sich abschließt, seine dihairetische Struktur unterdrückt und damit sich selbst verliert und als Einzelnes außer sich und in Wirklichkeit tritt.8 »Seine Rückkehr in sich ist daher«, sagt Hegel, »die absolute, ursprüngliche Theilung seiner, oder als Einzelnheit ist er als Urtheil gesetzt.« (GW 12, 52)

6 7 8

Vgl. ebd., §§ 22–26 der zweiten Auflage, B 146–165. Das dihairetische Verfahren wird vom Gast aus Elea im Sophistes vorgeführt. Vgl. GW 12,51.

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b) Das Urteil Auch das Urteil kommt doppelt vor, sprachseitig in unserem Reden und Denken und zuvor schon weltseitig in den Tatsachen als den Wahrmachern unserer Rede. »[A]lle Dinge sind ein Urtheil« (Enz § 167, GW 20, 183), lesen wir bei Hegel, nämlich Einzelne mit allgemeinen Naturen bzw. Allgemeine in Vereinzelung. Hierin liegt die relative Berechtigung einer Tatsachen-Ontologie, die aber kein letztes Wort ist, sondern im zweiten Abschnitt der Begriffslogik einer Objekt-Ontologie weichen muss. Tatsachen stehen in logischen, inferentiellen Beziehungen zueinander, wie das Kapitel über den Schluss explizit machen wird, Objekte nicht; sie sind distinkte Einzelne gegeneinander. Der ganze logische Raum als Urteil lässt sich historisch erläutern als eine Steigerung der aristotelischen Lehre von der Substanz als τί ἦν εἶναι, als Wesenssachverhalt.9 Der Wesenssachverhalt wird nicht durch einen Terminus, sondern durch ein Urteil erfasst, durch den λόγος, welcher ὁρισμοός, Definition, ist.10 In der Definition wird von einem zugrundeliegenden generischen Moment eine spezifische Differenz ausgesagt. Frage: »Was ist der Mensch?« Antwort: »Dieses Lebewesen ist vernunftbegabt.« Das Lebewesen fungiert in der Definition des Menschen als Subjekt, die Vernunftbegabung als Prädikat. Das Wesen des Menschen, seine wahre Substanz, ist demnach keine Sache, sondern ein Sachverhalt: der Wesenssachverhalt oder die Wesenstatsache des Menschen. Gesteigert ins Absolute wird daraus die Hegelsche Lehre, dass der logische Raum, sofern er Urteil ist, Subjekt-Prädikat-Struktur hat, abstrakt genommen zunächst die Struktur: Das Einzelne ist allgemein, bei der es allerdings nicht bleiben wird, weil das Urteil sich weiterentwickelt. Auf die Details können wir kaum eingehen. Genüge es zu sagen, dass der Begriff in seiner Urteilung in zwei Extreme auseinanderfällt, die durch die Kopula verbunden sind. Die Extrempositionen des Urteils, Subjekt und Prädikat, werden durch Begriffe besetzt, die Kopula aber zunächst durch unmittelbares, qualitatives Sein: »S ist P«. Dies ist das qualitative Urteil oder Urteil des Daseins, das als positives, dann als negatives und zuletzt als unendliches Urteil auftritt. Eingebettet in seinen eigenen begriffslogischen Rahmen fällt der Begriff hier auf das Niveau der Seinslogik zurück – zum Glück für die logische Theoriebildung; denn sonst wäre die Begriffslogik zu Ende, kaum dass sie begonnen hat. Die Entwicklung des Urteils besteht dann darin, dass die Kopula sich von ihren seinslogischen Anfängen über zwei wesenslogische Zwischenstufen zu ihrer begriffslogischen Vollendung aufschwingt. Man muss zugeben, dass die Sache hier ein wenig nach Mogelei riecht. Hegel hat einerseits die Kantische Urteilstafel mit der Einteilung der Urteile nach den vier Hinsichten der Qualität, Quantität, Relation und Modalität11 vor Augen und weiß sich andererseits seinem eigenen durchgängigen Dreierschema als dem Organisationsprinzip der WdL und des philosophischen Systems im Ganzen ver9 10 11

Vgl. Aristoteles: Metaphysik, Z 6. Ebd., Z 12 und H 6. Vgl. Kant: KrV, § 9, A 80/B 95.

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pflichtet. Wie also beides auf einen Nenner bringen? Ein Trick tut es, über dessen Berechtigung ich nichts sagen werde. Ich will die Sache einfach so stehen lassen, wie Hegel sie präsentiert. Das Wesen, sagt er, ist die mittlere Sphäre zwischen Sein und Begriff und qua mittlere die Sphäre des Dualismus. Das anfängliche Wesen, die bloße Reflexion, ist noch recht seinsnah, das abschließende Wesen, die Notwendigkeit der Substanz, hingegen schon begriffsnah, und kraft dieser Zweiseitigkeit kann das Wesen zwischen Sein und Begriff vermitteln. (Aber nur hier, beim Urteil, das auch seinerseits ein Mittleres und Zweigeteiltes ist, baut Hegel die Zweiseitigkeit der Mitte zusammen mit den beiden Extremen zu einer veritablen Vierfachheit aus.) Und so heißt denn das Urteil, das auf das Urteil der Qualität folgt, nicht, wie man denken könnte, Urteil der Quantität – das wäre eine seinslogische Benennung –, sondern Urteil der Reflexion. Zwar werden unter dieser Benennung dann doch die Quantitäten – das singuläre, das partikuläre und das universelle Urteil – abgehandelt; aber nicht dies ist nach Hegel der springende Punkt, sondern der reflexionslogische Wert der Kopula, dem die Art des Prädikates entspricht. Im qualitativen Urteil hatte die Kopula seinslogischen Wert und waren die Prädikate okkurrente, qualitative Bestimmungen, z. B. »Die Rose ist rot«. Nun, im Urteil der Reflexion, werden dispositionale Bestimmungen prädiziert: Der Mensch ist (als ganzer, in sich reflektierter) sterblich; Salz ist (als ganzes, …) wasserlöslich; Stahl ist elastisch usw. Aus diesem Umstand soll sich dann erst ergeben, dass sich das Urteil der Reflexion in das singuläre, das partikuläre und das universelle Urteil ausdifferenzieren muss. Es folgt drittens das Urteil der Relation, das Hegel »Urteil der Notwendigkeit« nennt. In ihm wird eine Sache auf ihre Substanz und Natur hin betrachtet, als Exemplar einer Gattung oder einer Art, zunächst im kategorischen, dann im hypothetischen und zuletzt im disjunktiven Urteil. Interessanterweise bleibt die Bipolarität des Urteils, seine Subjekt-Prädikat-Struktur, auch im hypothetischen und im disjunktiven Urteil in Kraft. Im hypothetischen Urteil vertritt das Antezedens das Subjekt und das Konsequens das Prädikat, und im disjunktiven Urteil liegt eine Gattung, A, als Subjekt zugrunde und wird mittels eines disjunktiven Prädikates, B oder C oder D, vollständig in ihre Arten auseinandergelegt: A ist B oder C oder D. Damit ist die Höhe des Begriffs an sich schon wieder erreicht, so gut das zu den Bedingungen der Urteilung geht. Es folgt aber viertens noch das Urteil des Begriffs, das als assertorisches, problematisches und apodiktisches Urteil auftritt. Mit ihm wird beinahe schon der Schluss vorweggenommen und die Urteilung des Begriffs, sein Rückfall auf das Niveau der Seins- und Wesenslogik, überwunden. Nur äußerlich bleibt noch die Dualität von Subjekt und Prädikat bestehen. Doch eigentlich hat hier die Kopula schon den Wert eines Mittelbegriffs zwischen Unterbegriff (vormals Subjekt) und Oberbegriff (vormals Prädikat) angenommen. Ausdrücklich verhält es sich dann so im Schluss.

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c) Der Schluss Auch der Schluss kommt sprachseitig als menschliche Tätigkeit und weltseitig als Struktur der Dinge vor: »Alles ist ein Schluß« (Enz § 181 A, GW 20, 192), sagt Hegel. Dies lässt sich wiederum von Aristoteles her erläutern. Die Definition einer Sache nämlich, sofern sie den Grund der Sache erkennen lässt, hat, wie Friedrike Schick in ihrem Buch über Sache und Notwendigkeit anhand von Aristoteles’ Zweiten Analytiken gezeigt hat, eine syllogistische Tiefenstruktur.12 Die Definition muss begründet werden und gibt, indem sie es wird, den Wesensgrund der Sache zu erkennen. Das τί ἦν εἶναι, die Wesenstatsache, ist inferentiell artikuliert. Steigert man dies ins Absolute, so wird man den ganzen logischen Raum als einen Schluss begreifen müssen. Unter diesem Blickwinkel erweist er sich als zugänglich für das Spiel des Gebens und Forderns von Gründen. Sofern wir mit pragmatistisch orientierten Theoretikern wie Sellars und Brandom annehmen, dass wir das Reale erkennen, indem wir das Spiel der Gründe spielen, betrachten wir das Reale als einen Schluss bzw. als ein System vom Schlüssen; und diese Art der Betrachtung hat zweifellos ihre tiefe Berechtigung, obwohl auch sie noch nicht das letzte Wort in der Sache des Absoluten ist. Im Schluss hat sich der Begriff aus seinem Selbstverlust und seiner Urteilung vollends wiederhergestellt, und in der Entwicklung des Schlusses vom Schluss des Daseins über den Schluss der Reflexion zum Schluss der Notwendigkeit wird diese Wiederherstellung auf die Spitze getrieben, bis in dem, was »der Schluß des Begriffs« zu heißen hätte, aber statt dessen »Objektivität« heißt, der Begriff an seiner völligen Wiederherstellung und Realisierung zu viel des Guten bekommt. Wenn im disjunktiven als dem letzten Schluss sich die Extreme und die Mitte vollkommen miteinander ausgleichen und der Begriff wieder erreicht ist, kollabiert er wegen der Deckungsgleichheit der drei Termini alsbald in sein Anderes und wird – unter Abstreifung seiner Konzeptualität, Propositionalität und Inferentialität – zum Objekt. In der Anmerkung zu § 193 seiner Enzyklopädie räumt Hegel ein, dass »dieser Uebergang […] vom Schlusse […] in das Object« auf den ersten Blick »fremdartig« scheinen mag, und beruft sich gegen diesen Anschein auf die übliche Verwendung des Ausdrucks »Objekt«, der zufolge ein Objekt »ein concretes in sich vollständiges Selbstständiges« sei (Enz § 193 A, GW 20, 200). Das lateinische »Objekt« soll also anders als das deutsche »Gegenstand« kein Korrelationsbegriff sein. Das heißt, dass das Absolute zwar Objekt, nicht aber Gegenstand sein kann, denn zum Gegenstand, nicht jedoch zum Objekt, gehört ein Anderes, für das der Gegenstand ein Gegenstand ist. In verbis simus faciles. Sei also, wie Hegel will, das Objekt Totalität. Seine Totalität ist dann die des Begriffs, obschon dies am Objekt zunächst unkenntlich ist. Wir haben nichts als ein »unmittelbares unbefangenes Object«, »worein der Begriff aus seiner Vermittlung

12

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Aufschlussreiche Hinweise dazu gibt Schick, Friedrike: Sache und Notwendigkeit. Würzburg

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übergegangen ist« (ebd.). So sind wir von der Tatsachen-Ontologie zur Objekt-Ontologie fortgeschritten.

d) Der Mechanismus Hegel charakterisiert das Objekt als den »absolute[n] Widerspruch der vollkommnen Selbstständigkeit des Mannichfaltigen, und der eben so vollkommnen Unselbstständigkeit [der Unterschiedenen]« (Enz § 194, GW 20, 204). In seiner Selbständigkeit ist jedes der vielen Unterschiedenen, was jedes andere ist, und insofern befinden sich alle unbeschadet ihrer – mit Leibniz zu reden – Fensterlosigkeit in vollkommener Harmonie. An Leibniz erinnert in der Anmerkung zu § 194 auch Hegel selber: »Die Definition: das Absolute ist das Object, ist am bestimmtesten in der Leibnizischen Monade enthalten«. Allerdings mag man zweifeln, ob die Verwandtschaft von Objekt und Monade tiefgeht; denn die Monaden sind (in den Organismen) jeweils in Stufen um Zentralmonaden gruppiert, bilden also hierarchisch zentrierte, nicht bloße, Aggregate. Die Objekte hingegen, in die das Hegelsche Objekt zerfällt, sind auf der Stufe des formellen Mechanismus bloße Aggregate und diese ihrerseits wieder Objekte. Mit der Erwähnung des Mechanismus ist schon die Einteilung der »Objektivität« in Mechanismus, Chemismus und Teleologie berührt. Wir haben hier den logischen Kern der Hegelschen Naturphilosophie vor uns, noch unabhängig von der äußeren Stellenmannigfaltigkeit des Raumes und der Zeit. Mit der Hegelschen Naturphilosophie indes müssen wir vorsichtig umgehen; sie ist weniger verlässlich als seine Logik. Denn der Fortschritt von der traditionellen Syllogistik zur modernen Prädikatenlogik ist zwar beeindruckend, aber die Syllogistik wurde dadurch nicht falsifiziert, sondern eingebettet, ergänzt, vertieft. Die Naturwissenschaft der Hegelzeit hingegen ist in vielerlei Hinsichten überwunden und falsifiziert worden. Immerhin ist, wie ich glaube, die Hegelsche Einteilung in ihrer Grobstruktur nach wie vor aktuell, und vermutlich zeitlos aktuell. Ich schlage kurzerhand vor, mit dem Mechanismus die Makrophysik zu assoziieren, mit dem Chemismus die Mikrophysik und die Chemie (die über der Mikrophysik – vielleicht – superveniert), mit der Teleologie eine Protobiologie (denn die Lehre vom Leben gehört bei Hegel bereits in die Logik der Idee) und andererseits eine Philosophie der Artefakte. Wenn man so verfährt, wird man noch am ehesten von Hegels Überlegungen zur Objektivität profitieren können. Betrachten wir zunächst kurz den Mechanismus bzw. das Makrophysikalische. Das Absolute qua Gegenstand der Physik kennen wir heutzutage in zwei inkompatiblen Versionen, die in der physikalischen Theoriebildung nicht zusammengeführt werden konnten: der makrophysikalischen Version in der Relativitätstheorie und der mikrophysikalischen in der Quantentheorie. Die Makrophysik ist gegenstandsneutral, was sie für die Rolle qualifiziert, die Hegel dem Mechanismus zugedacht hat. Gegenstandsneutral ist sie insofern, als sie keine neuen, theoretischen Entitäten einführt, sondern die gewöhnlichen Objekte betrachtet, wenn auch nur in dem kontrapossiblen Grenzfall, in dem sie sich in Massepunkte (Newton) oder, bei vierdimensionaler Be-

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trachtung, in punktförmige »Ereignisse« (Einstein) verflüchtigt hätten. Massepunkte und punktförmige Ereignisse sind Objekte nur in einem schwachen, formalen Sinn, aber an ihnen ist nicht verborgen, sondern gesetzt, dass sie nicht in concreto vorkommen können. Allen Theoretikern ist klar, dass die Gleichungen der Makrophysik in aller Strenge nur für den kontrapossiblen Grenzfall gelten, für konkrete Objekte hingegen nur näherungsweise und umso genauer, je mehr jene Objekte sich Massepunkten bzw. punktförmigen Ereignissen annähern. In der Betrachtung, die Hegel die mechanistische nennt, steht uns dieser Sachverhalt vor Augen. Das Reale zerfällt hier in distinkte Objekte, Massepunkte in letzter, kontrapossibler Konsequenz, deren je spezifische Bestimmungen keine Rolle spielen.

e) Der Chemismus Die Mikrophysik andererseits tritt im Postulieren ihres Teilchenzoos gegenstandsparteiisch auf und in ontologische Konkurrenz zum natürlichen Weltbild. Aber sie selbst untergräbt auch wieder, mit Quine zu reden, »die Partikularität des Partikels«,13 d. h. den ontologischen Status ihrer Teilchen, Einzeldinge zu sein. Quine bezieht sich auf Ergebnisse der Quantenstatistik, die darauf hindeuten, daß für Elementarteilchen das logische Prinzip der identitas indiscernibilium (»Wenn alles, was auf x zutrifft, auch auf y zutrifft, so ist x mit y identisch.«) nicht mehr gilt, und resümiert: Nicht nur scheint es daher so, als seien Elementarteilchen ganz verschieden von Körpern, sondern anscheinend gibt es solche Bewohner der Raumzeit gar nicht, und wir sollten von den Raumzeitstellen a und b lieber nur sagen, sie seien in bestimmten Zuständen, statt, sie seien von zwei Dingen besetzt.14 Vielleicht also – ich will dazu keine These vertreten – führt auch die Mikrophysik nicht wirklich neue, theoretische Entitäten ein. Doch wenn es die Mikrophysik nicht tut, wenn ihre Teilchen nur halbseidene Bewohner der Raumzeit sind, so wird doch spätestens in der Chemie eine Ebene des Realen erreicht, auf der die halbseidenen Teilchen sich zu veritablen theoretischen Entitäten wie Atomen und Molekülen ausgewachsen haben. Aus dem Mikrophysikalischen ginge insofern beim Übergang ins Atomare und Molekulare schließlich doch der Chemismus hervor, auf den Hegel sich bezieht. Freilich müsste im Sinne Hegels dann behauptet werden, dass sich die Chemie prinzipiell nicht auf Physik reduzieren lässt. Zwei Möglichkeiten, diese Behauptung zu substantiieren, bieten sich nach dem Vorigen an: Entweder müsste man zeigen, dass das Chemische sich entgegen vermuteter Supervenienz eben doch nicht auf das Mikrophysikalische zurückführen, oder, dass die Quantentheorie sich nicht mit der Theorie der Schwerkraft zu

13

Quine, Willard V.: Pursuit of Truth. Cambridge (Mass.), London 21992, S. 20 (meine Übersetzung, A.F.K.). 14 Ebd., S. 35 (meine Übersetzung, A.F.K.).

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einer einheitlichen Physik vereinigen lässt. In beiden Fällen bin ich zuversichtlich, dass ein entsprechender Nachweis gelingen kann.

f) Die Teleologie »Der Zweck«, sagt Hegel, »ist der in freie Existenz getretene, für-sich-seyende Begriff, vermittelst der Negation der unmittelbaren Objectivität.« (Enz § 204, GW 20, 209) Das klingt bereits nach Philosophie des Geistes, aber so weit sind wir noch nicht. Vielmehr weist Hegel selbst darauf hin, dass schon das Leben als solches durch Zweckmäßigkeit, und zwar innere Zweckmäßigkeit, geprägt ist: Beim Zwecke muß nicht gleich […] an die Form gedacht werden, in welcher er im Bewuß[t]seyn als eine in der Vorstellung vorhandene Bestimmung ist. Mit dem Begriffe von innerer Zweckmäßigkeit hat Kant die Idee überhaupt und insbesondere die des Lebens wieder erweckt. Die Bestimmung des Aristoteles vom Leben enthält schon die innere Zweckmäßigkeit und steht daher unendlich weit über dem Begriffe moderner Teleologie, welche nur die endliche, die äußere Zweckmäßigkeit vor sich hatte. (Enz § 204 A, GW 20, 210) Die endliche, äußere Zweckmäßigkeit finden wir im Planen und Handeln diskursiv denkender, endlicher Subjekte; die innere Zweckmäßigkeit charakterisiert den lebendigen Organismus als solchen, da in ihm jedes Organ um des Ganzen (und somit auch um jedes anderen Organes dieses Ganzen) willen da ist. Interessanterweise fährt Hegel an der zitierten Stelle fort: Bedürfniß, Trieb sind [die] am nächsten liegenden Beispiele vom Zweck. Sie sind der gefühlte Widerspruch, der innerhalb des lebendigen Subjects selbst Statt findet […]. Die Befriedigung stellt den Frieden her zwischen dem Subject und Object, indem das Objective […] nach […] seiner Einseitigkeit aufgehoben wird, durch die Vereinigung mit dem Subjectiven. […] Der Trieb ist so zu sagen die Gewißheit, daß das Subjective nur einseitig ist und keine Wahrheit hat, eben so wenig als das Objective. Der Trieb ist ferner die Ausführung von dieser seiner Gewißheit […]. (Enz § 204 A, GW 20, 210) Hier betrachtet Hegel nun doch wieder, wie es auch der logischen Systematik entspricht, den formellen, äußeren Zweck, und zwar in seiner einfachsten Vorform, wie er im Lebendigen vorkommt, sofern es schlicht der Sinneswahrnehmung fähig ist. Zu dieser gehört, wie schon Aristoteles lehrte15 und Kant zu Beginn der dritten Kritik bekräftigte,16 als unabtrennbare subjektive Innenseite der wahrgenommenen dinglichen Sinnesqualitäten das nicht objektivierbare Gefühl der Lust und Unlust, die Dualität von Freude und Schmerz, ἡδονή und λύπη, Angenehmem und Unangenehmem. Wenn nun eine gegebene 15 16

Vgl. Aristoteles: De anima II 3, 414b 4–6, und III 7, 431a 17. Vgl. Kant: KdU, § 7, S. 18 f. der zweiten Auflage von 1793.

Subjektivität und Objektivität: Die Unterscheidung des Begriffs

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Anschauung schmerzvoll und eine alternative Vorstellung der Einbildungskraft lustvoll ist, so ist der Trieb zu letzterer der gefühlte Widerspruch zwischen dem faktischen Zustand der Objektivität und dem subjektiv erwünschten Zustand. Unter dem Stichwort »Teleologie« haben wir uns den logischen Raum folglich als die Sphäre desjenigen Widerspruchs zu denken, der als Trieb gefühlt und durch triebgesteuerte, dann auch planvolle Tätigkeit tendenziell behoben wird. Ich habe hier die Kontinuität der Begriffslogik über ihren Unterschied der Subjektivität und der Objektivität hinweg wie auch überhaupt die Kontinuität der WdL als Evolutionstheorie des logischen Raumes betont. Zu zeigen und zu beurteilen, wie es weitergeht zum glücklichen oder weniger glücklichen Ende in der Idee, war nicht mehr mein Thema.

Die Idee als Einheit von Begriff und Objektivität Christian Georg Martin

Von geläufigen Ansichten, was eine Idee ist, unterscheidet sich Hegels Auffassung am auffälligsten dadurch, dass eine Idee ihm zufolge nichts darstellt, was wir uns machen oder haben könnten, sondern was wir sind, obwohl zu dem, was wir sind, gehören mag, uns davon eine Idee im landläufigen Sinn zu machen. Ist die Idee aber keine wie auch immer geartete Vorstellung, kann der Versuch einer Erläuterung und Rechtfertigung von Hegels Ideenlehre auch nicht an ein gängiges Vorverständnis anknüpfen, sondern muss sich ganz an Hegels eigene Auskunft halten, was unter »Idee« zu verstehen sei.1 Der folgende Versuch einer solchen Erläuterung und Rechtfertigung nimmt Hegels formelhafte Kennzeichnung der Idee als »Einheit des Begriffs und der Objektivität« (GW 12, 174) zum Leitfaden.2 Da unmittelbar jedoch keineswegs verständlich ist, was Hegel unter »Begriff« und »Objektivität« versteht, soll in den ersten beiden Teilen des Beitrags erst einmal begriffslogisch Anlauf genommen werden, bevor die Idee im dritten Teil selbst zum Thema wird.3 Dabei wird sich die Schwierigkeit ergeben, dass die Wendung »die Idee«, anders als der bestimmte Artikel es nahe legen mag, kein Allgemeines bezeichnet, das unabhängig von der Reihe seiner besonderen Ausprägungen fassbar wäre. Deshalb bleibt nichts anderes übrig, als diese Reihe im vierten Teil, wenn auch nur oberflächlich, durchzugehen. Dabei kann und soll das Augenmerk nicht auf den besonderen Gliedern der Reihe für sich liegen, sondern auf ihrem Zusammenhang. Zwar könnte es von da her scheinen, als sei »die« Idee nichts anderes als die Reihe besonderer Ideen. Dagegen soll im Schlussteil gezeigt werden, dass es in letzter Instanz überhaupt nur eine Idee gibt, die Hegel nicht umsonst »absolut« nennt.

1 Zwar weist Hegel gelegentlich auf eine Verwandtschaft zwischen seiner eigenen Ideenkonzeption, derjenigen des (späten) Platon (vgl. GW 21, 34), Aristoteles’ Begriff des Lebens und der Seele (vgl. GW 20, 210 und GW 12, 195) sowie Kants Begriff innerer Zweckmäßigkeit (GW 20, 210) hin. Gemeinsam ist diesen Begriffen, sich nicht auf bloße Vorstellungen, sondern auf Organisationsformen zu beziehen, die einer Sache Einheit geben und sie zugleich in ihrer besonderen Beschaffenheit begreiflich werden lassen. Da Hegel seinen eigenen Begriff der Idee jedoch weder mit einem der genannten Begriffe identifiziert noch der Meinung ist, was er unter einer Idee verstehe lasse sich grundsätzlich nur im Rückgang auf philosophiegeschichtliche Vorläufer begreifen, nimmt der vorliegende Beitrag auch keinen derartigen philosophiegeschichtlichen Umweg, sondern versucht Hegels Ideenlehre direkt aus ihrem (begriffs)logischen Zusammenhang heraus darzustellen. 2 Vgl. auch GW 20, 215. 3 Zu Hegels Konzeption des subjektiven und objektiven Begriffs siehe auch den Beitrag von Anton Koch im vorliegenden Band.

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I. Der (subjektive) Begriff Verdichtet gesprochen zeigt der Übergang von der sogenannten »objektiven« zur »subjektiven« Logik, dass Bestimmtheit weder unmittelbar vorliegen noch einfach in vorhandenen Verhältnissen zwischen Dingen bestehen kann, sondern an eine Artikulation durch die zu selbstbezüglichem (Sich)Bestimmen als solchem gehörigen Formen des Urteils und Schlusses gekoppelt ist und insofern wesentlich semantischen Charakter hat. Gehören zu Bestimmtheit nämlich materiale Ausschluss- und Folgebeziehungen, deren unmittelbares Vorhandensein die objektive Logik als Schein erweist, setzt das Vorliegen von Bestimmtheit ein spontanes Einheits- und Artikulationszentrum voraus, das solche Beziehungen in Urteils- und Schlussformen, die seiner Spontaneität entspringen, zu artikulieren vermag. Hegel wiederholt zu Beginn der Begriffslogik jedoch nicht einfach Kants Einsicht, dass die wahrheitsfähige Artikulation von Bestimmtheit die Möglichkeit der Selbstzuschreibung von Artikulationsakten an ein reines epistemisches Aktzentrum voraussetzt. In der Begriffslogik unternimmt Hegel es vielmehr zu zeigen, dass reines selbstbezügliches Sichbestimmen sowohl Quelle der reinen Formen der Artikulation von Bestimmtheit ist (und sich diese auf rationale Weise aus seinem Begriff entfalten lassen) als auch Garant des durch diese Bestimmbaren. Der Begriff im Hegelschen Sinne ist somit zugleich einheitlicher Ursprung der logischen Formen des Bestimmens wie Garant einer Sphäre wahrheitsfähiger Bestimmbarkeit durch die Formen des Bestimmens – und zwar ist er eines verständlicherweise nur im Zusammenhang mit dem anderen.4 Die Logik des subjektiven Begriffs exponiert demgemäß den wesentlich semantischen Aspekt von Bestimmtheit durch Entfaltung der zu reinem Sichbestimmen gehörenden Formen des Begriffs, Urteils und Schlusses. Dagegen wird die Logik des objektiven Begriffs nachweisen, dass Bestimmtheit zugleich einen wesentlich welthaften Aspekt haben muss, insofern die urteilende und schließende Artikulation von Bestimmtheit eine Sphäre voraussetzt, der die ontologische Form nicht-willkürlicher Bestimmbarkeit durch die semantischen Formen des Bestimmens zukommen muss. Diese Sphäre kann von sich her nur cum grano salis gemäß der Formen des Begriffs, Urteils, und Schlusses bestimmt sein, da Bestimmtheit andernfalls doch unmittelbar vorhanden sein müsste, was der Übergang zur Begriffslogik bereits ausgeschlossen hat. Die Logik der Idee macht schließlich den internen Zusammenhang von subjektivem und objektivem Begriff deutlich, indem sie den wesentlich pragmatischen Charakter von Bestimmtheit aufweist. Demgemäß kann es eine Artikulation von Bestimmtheit durch Bestimmen der Sphäre objektseitiger Bestimmbarkeit gemäß der semantischen Formen des Bestimmens nur im Rahmen einer gemeinsamen Bestimmungspraxis von Zentren selbstbezüglichen (Sich)Bestimmens geben, die leibhaftig innerhalb der Sphäre verankert sind, die

4 Ausführlich entfaltet habe ich die hier angedeuteten Überlegungen zur Rolle des Begriffs als Quelle der logischen Formen des Bestimmens wie als Garant von Bestimmbarkeit in Martin, Christian Georg: Ontologie der Selbstbestimmung. Eine operationale Rekonstruktion von Hegels ›Wissenschaft der Logik‹. Tübingen 2012, S. 185–221.

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sie gemäß der semantischen Formen des Bestimmens erkennend artikulieren und handelnd gestalten. Der begriffslogische Weg zu diesem Resultat ist jedoch weit. Denn mit »subjektivem Begriff« ist zunächst nichts weiter gemeint als die Form selbstbezüglichen Sichbestimmens – ein Singularetantum – das weder als Selbstbewusstsein eines endlichen Subjekts aufzufassen noch mit einem transzendenten göttlichen Subjekt zu identifizieren ist. Die welt- und praxisgebundene Implementierung dieser »absoluten Form« setzt Hegel nämlich nicht einfach voraus, sondern leitet sie aus dem Begriff dieser Form her. Die ersten Schritte dieser Herleitung führen auf Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit als drei Gestalten selbstbezüglichen Sichbestimmens, von denen hier im Vorblick auf Hegels Ideenlehre nur die ersten beiden erörtert werden sollen. Als reines Sichbestimmen markiert der Begriff, noch unangesehen der Bestimmtheit, mit der er sich aus sich heraus anreichert, ein durch Zusatz von Bestimmungen Erweiterbares, das selbst noch ganz unbestimmt und insofern das schlechthin Allgemeine ist. Seinem resultativen Aspekt nach ist der Begriff dagegen Besonderes, nämlich durch Zusatz von Bestimmungen Spezifiziertes. Da Bestimmtheit nach Hegel notwendig an Ausschlussverhältnisse gekoppelt ist, ist das Besondere ein logisches Pluraliatantum. Demgemäß unterscheidet Hegel zwischen zwei besonderen logischen Formen von Besonderheit, nämlich bestimmter Allgemeinheit und Besonderheit im engeren Sinne.5 Bestimmte Allgemeinheit liegt vor, wo spezifizierend hinzugesetzte Bestimmtheit in das Allgemeine als dasjenige aufgenommen ist, was sich im Zuge der Variation von Bestimmtheit durchhält, und ist somit wesentliche Bestimmtheit oder bestimmter Begriff.6 Besonderheit im engeren Sinne meint dagegen außer dem Allgemeinen gesetzte und insofern variable oder akzidentelle Bestimmtheit. Hegels begriffslogische Auffassung von Allgemeinheit zeichnet sich gegenüber üblichen Auffassungen von Allgemeinheit offenbar dadurch aus, dass sich das Besondere aus dem Allgemeinen nicht durch Zusatz von ihm unabhängiger Differenzen ergeben, sondern sich die Disjunktion der besonderen Formen eines Allgemeinen aus diesem selbst »entwickeln« lassen soll.7 Terminologisch lässt sich demgemäß zwischen »abstrakter Allgemeinheit«, die unabhängig vom Bezug auf ihre besonderen Arten feststeht, welche aus ihr allein auch nicht zu gewinnen sind, und »konkreter Allgemeinheit« unterscheiden, deren besondere Formen zu ihr selbst gehören und aus ihr entfaltet werden können.8 Die Vorstellung eines Pokals ist in diesem Sinne abstrakt, weil sich angeben lässt, was ein Pokal ist, ohne auf besondere Arten von Pokalen Bezug zu nehmen und sich solche Arten auch nicht allein aus dem »Begriff« des Pokals entwickeln lassen. Konkrete Allgemeinheit tritt in verschiedenen Formen auf, die hier »essentielle«, 5

Vgl. GW 12, 35. Vgl. GW 12, 36. 7 Vgl. zu dieser Eigentümlichkeit von Hegels Konzeption der Allgemeinheit die konzisen Erläuterungen in Friedrike Schick: Allgemeinheit. In: Hegel-Lexikon. Hg. v. Paul Cobben u. a. Darmstadt 2006, S. 120–122. 8 Hegel gebraucht die Wendungen »abstrakte« und »konkrete Allgemeinheit« in unterschiedlichen Bedeutungen und Zusammenhängen. Eine für den hier relevanten Sinn einschlägige Belegstelle findet sich im Zusammenhang mit Hegels Überlegungen zum disjunktiven Urteil, vgl. GW 12, 80–81. 6

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»serielle« und »fokale« Allgemeinheit genannt und darum genauer betrachtet werden sollen, weil sie für ein angemessenes Verständnis der Idee unmittelbar von Bedeutung sind. Das essentiell Allgemeine ist ein Allgemeines, das nicht unabhängig vom Bezug auf Ausprägungen bestimmt ist, die asymmetrisch als angemessen beziehungsweise unangemessen charakterisiert sind.9 So gehört etwa zum Begriff des Rechnens insofern der Bezug auf richtiges Rechnen, als Rechnen nur möglich ist, wenn normalerweise richtig gerechnet wird; und was Rechnen ist, lässt sich nur verstehen, wenn verstanden wird, dass es zu Rechnungen als solchen gehört, richtig zu sein, obwohl faktisch nicht alle Rechnungen richtig zu sein brauchen. Der Begriff der Rechnung ist somit essentiellallgemein. Während die einzelnen begriffslogischen Kategorien als konkrete Bestimmungen essentiell-allgemein sind, zeichnet sich ihr Zusammenhang durch eine Form konkreter Allgemeinheit aus, die »seriell« genannt werden kann. Serielle Allgemeinheit liegt vor, wo besondere Bestimmungen auftreten, die sich nicht als Resultat des Zusatzes unabhängiger Differenzen zu einem Allgemeinen verstehen lassen, das diesen besonderen Bestimmungen als identisches Glied gemeinsam ist und insofern »generisch« genannt werden kann. Solche Bestimmungen können dennoch besondere Formen eines Allgemeinen bilden, wenn sie eine intern zusammenhängende Reihe ausmachen. Das seriell Allgemeine ist so nichts als der interne Zusammenhang einer solchen Reihe. Das erste Glied dieser Reihe muss zugleich ihr Prinzip sein, nämlich die Ressourcen bereitstellen, aus denen sich die anderen herleiten lassen. Denn ergäben sie sich durch Zusatz unabhängiger Differenzen, wären sie Arten dieses ersten Glieds als eines abstrakt Allgemeinen. Das erste Glied und Prinzip einer seriell-allgemeinen Reihe von Bestimmungen zeichnet sich damit insofern durch selbstbezügliche Operationalität aus, als sich die weiteren Reihenglieder allein durch Operationen gewinnen lassen müssen, die durch das erste Reihenglied selbst mitgegeben sind. Dabei kann dieses erste Glied in seine Nachfolger nicht unverändert eingehen, weil es sonst generischen Charakter hätte, was im Zusammenhang serieller Allgemeinheit gerade ausgeschlossen sein soll. Nur wenn jeder Vorgänger in seinen Nachfolger innerhalb der Reihe nicht unverändert, sondern modifiziert eingeht, hat die Reihe kein generisch-allgemeines Glied, dessen Arten die anderen Reihenglieder sind.

9 Den Terminus »essentielle Allgemeinheit« übernehme ich von Ford, Anton: Action and Generality. In: Essays on Anscombe’s »Intention«. Hg. v. Anton Ford und Jennifer Hornsby. Harvard 2011, S. 76–105. Ford unterscheidet vor einem aristotelischen Hintergrund instruktiv zwischen akzidenteller, essentieller und kategorialer Allgemeinheit (ebd., S. 82–95). Den ersten beiden Formen entspricht, was im vorliegenden Beitrag »abstrakte« bzw. »essentielle« Allgemeinheit genannt wird. Unter »kategorialer Allgemeinheit« versteht Ford den internen Zusammenhang von Bestimmungen, die nicht durch Zusatz von Differenzen zu einer identischen Gattung gewonnen werden können. Allerdings lassen seine Ausführungen unterschiedliche Möglichkeiten offen, worin dieser interne Zusammenhang stattdessen besteht. Die im vorliegenden Beitrag getroffene Unterscheidung von »fokaler« und »serieller« Allgemeinheit buchstabiert zwei derartige Möglichkeiten aus.

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Ein Beispiel serieller Allgemeinheit, das Hegel aus dem zweiten Buch von Aristoteles’ De anima kennt, ist die Reihe der Vielecke in der euklidischen Ebene.10 Der Begriff des Vielecks kann darum nicht abstrakt allgemein sein, weil er nicht durch Zusatz unabhängiger Differenzen spezifizierbar ist, da jede mögliche Differenz wie etwa dreiseitig selbst schon der die Gattung implizierende Artbegriff wäre. Der Begriff des Vielecks ist damit gar nicht unabhängig von der Reihe besonderer Vielecke bestimmt, sondern nur der Titel für deren internen Zusammenhang. Dessen Prinzip und erstes Glied ist das Dreieck, insofern sich alle beliebigen Vielecke aus ihm durch Selbstanwendung, d. h. durch Kombination von Dreiecken mit Dreiecken gewinnen lassen. Dabei geht das Dreieck in seine Nachfolger nicht unverändert, sondern bloß in Potenz, nämlich als Möglichkeit des Ausgrenzens von Dreiecken ein.11 Andernfalls wären alle Vielecke Arten von Dreiecken. Wie sich zeigen wird, zeichnet sich auch die Reihe begriffslogischer Kategorien durch serielle Allgemeinheit aus. Für unser Thema ist dies darum von Bedeutung, weil somit auch die Idee kein Allgemeines sein kann, das unabhängig von der Reihe seiner besonderen Gestalten feststeht. Anders als die Reihe der Vielecke hat diejenige der begriffslogischen Kategorien aber nicht nur ein Prinzip, die selbstbezügliche Operationalität reinen Sichbestimmens, sondern auch einen Endpunkt. Sie zeichnet sich deshalb noch durch eine andere, gelegentlich »fokal« genannte,12 Form konkreter Allgemeinheit aus, die Hegel als Pros-Hen-Beziehung ebenfalls von Aristoteles kennt,13 nämlich die interne Beziehung von Bestimmungen ohne gemeinsame Gattung auf eine Zentralbestimmung, von der sie in einem klärungsbedürftigen Sinn abhängen. Auf essentielle Allgemeinheit kommt Hegel der Sache nach im Zusammenhang mit dem Begriffsurteil ausführlich zu sprechen. Das Begriffsurteil ist darum eine Form des Urteils, also eine Weise zu urteilen, die zum Urteilen als solchem gehört, weil das Urteilen über besondere Hinsichten einer Sache voraussetzt, dass das Beurteilte einen globalen Charakter hat, der diesen besonderen Hinsichten Einheit verleiht und als bestimmter Begriff der Sache somit eigens in einem Urteil thematisch werden kann − eben dem Urteil des Begriffs. Weil der bestimmte Begriff das ist, was besondere Beschaffenheiten zu Beschaffenheiten einer Sache macht, muss sich eine Sache mit Hinblick auf ihren Begriff auch als Einheit beurteilen lassen. Ein Urteil, das seine Sache nicht nur nach gewissen Aspekten sondern als Einheit beurteilt, kann somit aber nur darin bestehen, zu explizieren, wie der bestimmte Begriff der Sache ihre besonderen Beschaffenheiten in die Einheit eben dieser Sache zusammenhält und diese Einheit über ihre Verwicklung mit anderem hinweg garantiert. Das Begriffsurteil hat damit explanatorischen Charakter, insofern es die Einheit der Sache in ihren besonderen Beschaffenheiten mit Bezug 10 Vgl. Aristoteles: De anima II, 3 (414b20–29). Hegel nimmt auf diese Stelle affirmativ Bezug in: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (TWA 19, 203). 11 Vgl. ebd., 414b29–34 und Hegels Kommentar (TWA 19, 204). 12 Vgl. Owen, Gwilym Ellis Lane: Logic and Metaphysics in Some Earlier Works of Aristotle. In: Plato and Aristotle in the Mid-Fourth Century. Hg. v. Ingemar Düring und Gwilym Ellis Lane Owen. Göteborg 1960, S. 163–190. 13 Vgl. etwa Aristoteles: Metaphysik IV, 2 (1003a33–1003b6).

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auf ihren Begriff als Grund dieser Einheit verständlich werden lässt − dadurch, dass es die Sache als Entsprechung ihres Begriffs und ihrer besonderen Beschaffenheiten – oder kurz: der Realität – sehen lässt. Das Begriffsurteil erklärt seine Sache damit nicht aus etwas anderem, sondern aus ihr selbst und hat insofern den Charakter einer absoluten Erklärung. Nun hatte sich mit der Besonderheit bereits eine Form von Bestimmtheit ergeben, die außer dem Begriff als bestimmtem Allgemeinen gesetzt ist und ihm daher zwar angemessen sein kann, aber nicht muss. Alles Einzelne kann seinem Begriff in seinen besonderen Beschaffenheiten somit angemessen sein oder nicht. Entsprechend hat das logisch vollständig entfaltete Begriffsurteil die Form: Dieses F ist seinem Begriff vermöge seiner besonderen Beschaffenheit B angemessen beziehungsweise unangemessen − oder kurz: Dieses F, so und so beschaffen, ist wahr beziehungsweise falsch. Dabei gebraucht Hegel die Ausdrücke »wahr« und »falsch« in einem technischen Sinn als logisch attributive Adjektive,14 welche die Entsprechung oder Nichtentsprechung zwischen den besonderen Beschaffenheiten einer Sache und ihrem bestimmten Begriff ausdrücken. Dieser bestimmte Begriff ist damit aber ein essentiell Allgemeines, nämlich eine Bestimmung, der es wesentlich ist, angemessene und unangemessene Ausprägungen haben zu können. Offenbar kann eine Sache ihrem Begriff jedoch nicht vollkommen unangemessen sein, weil der Begriff der Sache das ist, was ihren besonderen Beschaffenheiten Einheit verleiht und, sofern er dies überhaupt nicht täte, eben auch nicht der Begriff dieser Sache wäre. So kann etwa die tatsächliche Verfassung eines Lebewesens seiner artspezifischen Lebensform nur in bestimmten Hinsichten zuwiderlaufen, wenn sie ihr in anderen Hinsichten angemessen ist, und von dem Menschen, dem nicht nur ein Bein oder eine Hand, sondern, wie in Daniil Charms makabrer Prosaminiatur, Rumpf und Glieder zumal fehlen, kann mit gutem Grund nicht weiter die Rede sein.15 Semantisch ist der Begriff einer Sache daher, wie man sagen könnte, kein nulldimensionaler Begriff, der fixe Kriterien der Subsumtion unter ihn festlegt, denen entweder entsprochen wird oder nicht, sondern ein »eindimensionaler« Begriff, der ein durch Subsumtionsund Angemessenheitsbedingungen markiertes Intervall aufspannt. Die Erfüllung von Subsumtionsbedingungen ist notwendig dafür, dass überhaupt eine Instanz des Begriffs vorliegt, während Angemessenheitsbedingungen Umstände festlegen, unter denen es sich um eine ihrem Begriff entsprechende und insofern »wahre« Instanz handelt. Subsumtions- und Angemessenheitsbedingungen können nun in dem Sinn miteinander verschränkt sein, dass Einzelnes die Angemessenheitsbedingungen nur unterbie14 Zur Unterscheidung von logisch attributiven und prädikativen Adjektiven vgl. Geach, Peter: Good and Evil. In: Analysis 17 (1956), S. 33–42, hier 33. Das Charakteristikum eines logisch prädikativen Adjektivs besteht nach Geach darin, dass die Prädikation einer aus einem Adjektiv »A« und einem Nomen »N« bestehenden Nominalphrase »A N« sich logisch aufspalten lässt in eine Prädikation von »A« und eine Prädikation von »N«. So fungiert beispielweise »rot« in »ist ein rotes Buch« als logisch prädikatives Adjektiv, weil sich die Phrase im Zuge der Prädikation aufspalten lässt in »ist rot« und »ist ein Buch«. Logisch attributive Adjektive sind dadurch ausgezeichnet, dass eine derartige Aufspaltung nicht (ohne Bedeutungsveränderung) möglich ist. So lässt sich etwa die Phrase »ist eine falsche Dollarnote« nicht auflösen in »ist eine Dollarnote« und »ist falsch«. 15 Vgl. Charms, Daniil: Fälle. Stuttgart 2010, S. 3.

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ten kann, sofern es mit solchem zusammenhängt, was sie erfüllt. Diesen Zusammenhang der Unterbietung und Erfüllung von Angemessenheitsbedingungen nenne ich im Folgenden die »Verschränkung« der Entsprechung und Nichtentsprechung von Begriff und Realität. Insofern nicht alles schon von Hause aus seinem Begriff entspricht, kann ein Begriffsurteil, das eine solche Entsprechung behauptet, nur darum explanatorischen Charakter haben, weil es kein Zufall, sondern der aus logischen Gründen nicht weiter erklärungsbedürftige Normalfall ist, dass etwas seinem Begriff entspricht, insofern es Nichtentsprechung überhaupt nur im Zusammenhang mit Entsprechung geben kann, wie schon am Beispiel des Rechnens angedeutet. In Begriffsurteilen sind ein klassifikatorisches, ein deskriptives und ein intern-evaluatives Moment offenbar unauflöslich miteinander verknüpft. So drückt das Urteil »Dieses F, so und so beschaffen, ist wahr« die Klassifikation eines Einzelnen als F aus, die nicht ohne Bezug darauf erfolgen kann, was es heißt ein wahres oder falsches F zu sein. Dies zu erkennen setzt voraus, diejenigen Beschaffenheiten an der Sache zur Abhebung zu bringen, welche sie zu einer guten oder schlechten Instanz ihres Begriffs machen. Die evaluative Komponente des Begriffsurteils ist intern, insofern sie die Sache nicht im Hinblick auf einen ihr äußerlichen Maßstab bewertet, sondern im Hinblick auf dasjenige, was sie selbst überhaupt erst zu der Sache macht, die sie ist.16 Das Begriffsurteil hat somit aber scheinbar bloß eingeschränkten Skopus, da Hegel zufolge nur im Organischen und Geistigen ein Auseinandertreten von Begriff und Realität möglich ist.17 So kann eine Katze das, was sie ist, nämlich eine Katze, anscheinend auf angemessenere oder unangemessenere Weise sein und entsprechend etwa gedeihen oder kränkeln, während Schwefel, insofern er Schwefel ist, dies nicht auf angemessenere oder unangemessenere Weise sein kann. Dennoch führt Hegel das Begriffsurteil noch vor dem logischen Übergang zur Objektivität ein und scheint damit anzunehmen, dass auch zum urteilenden Bezug auf beliebige Objekte – und nicht nur auf Organisches und Geistiges – die Möglichkeit von Begriffsurteilen gehört. Der vermeintliche Widerspruch lässt sich durch den Hinweis auflösen, dass zwar auch im Zusammenhang mit Anorganischem eine Angemessenheit oder Unangemessenheit von Sache und Begriff möglich, jedoch keine sachinterne Angemessenheit oder Unangemessenheit ist. Ein Kristall, der die ihm zuzuordnende Kristallstruktur nur gebrochen realisiert, weicht bloß von einem für die Ansetzung des betreffenden Kristalltyps relevanten Muster ab, ohne darum sich selbst in irgendeiner Weise unangemessen zu sein. Entsprechend kann Hegel sagen, der Begriff sei im Objekt »versenkt« (GW 12, 30), während beseeltes und vernünftiges Leben die Entsprechung oder Nichtentsprechung von Begriff und Realität an ihm selbst hat, insofern es sie am eigenen Leibe zu spüren bekommt oder weiß. Während in Begriffsurteilen über anorganische Objekte die intern evaluative Komponente also bloß epistemischen Charakter hat, erhält der Begriff, indem sein Unterschied zur Realität 16

Vgl. zur Sache Rödl, Sebastian: Interne Normen. In: Institutionen und Regelfolgen. Hg. v. Gerhard Schönrich und Ulrich Balzer. Paderborn 2002, S. 177–92. 17 Vgl. GW 20, 470.

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an der Sache selbst hervortritt und für sie selbst wird, den Charakter internen Sollens. Dass dieses Sollen intern ist, heißt nichts anderes, als dass der Maßstab, dem die Sache entsprechen soll, nirgendwoher genommen ist als aus dem, was sie überhaupt erst zu einer Sache macht – ihrem Begriff, und dass dieser Maßstab nicht nur äußerlich, sondern von ihr selbst an sich angelegt wird. Die Quelle internen Sollens liegt für Hegel dabei nirgendwo anderes als im Begriff qua selbstbezüglichem Sichbestimmen, zu dem es gehört, sich Vorgaben machen zu können, denen seine Realität nur partiell entspricht, und gründet nicht, wie nach aristotelischem Verständnis, in einer objektseitig einfach als vorhanden angesetzten Natur der Sache.

II. Die Objektivität Die logische Form des Urteils setzt, wie angedeutet, eine Sphäre der Bestimmbarkeit voraus, die Hegel »Objektivität« nennt, weil mit dem Urteil als Form des Explizierens von vornherein der Bezug auf einen in Urteilen explizierbaren Spielraum mitgegeben ist.18 Dabei kann dieser Spielraum − das »Objekt überhaupt« (GW 20, 200) oder die »objektive Welt« (GW 20, 200) − von sich her nicht einfach bestimmungslos sein, weil sich sonst gar nicht zwischen richtigen und falschen Urteilen unterscheiden ließe. Die Bestimmtheit des Spielraums der Objektivität kann jedoch, insofern von ihrer Beurteilung abstrahiert wird, keine Bestimmtheit durch ausschließende Bezüge auf anderes sein, da solche Bezüge an eine Artikulation in der Form des Urteils gekoppelt sind, sondern muss vielmehr Bestimmtheit durch sich sein. Damit kann kein objektseitiges Vorhandensein diskreter Bestimmtheit gemeint sein, das sich bereits in der Seinslogik als Schein erwiesen hat, weshalb die Sphäre der Objektivität nicht schon von sich her in diskrete Gegenstände oder Tatsachen zerfallen kann, die im Urteilen nur abgespiegelt werden. Die Sphäre der Objektivität muss vielmehr ein Spielraum nicht-willkürlicher Ausgrenzbarkeit von Objekten und Tatsachen vermöge der logischen Formen des Begreifens, Urteilens und Schließens sein, ohne schon von sich her eindeutig in diskrete Einheiten zu zerfallen. Mit anderen Worten muss das Objekt überhaupt den Charakter eines inhomogen organisierten Kontinuums haben. Da das Objektkontinuum nicht schon von sich her in diskrete Gegenstände und Tatsachen zerfällt, können solche aus ihm nur gemäß reiner Objektbegriffe zur Abhebung gebracht werden, die das Denken nirgendwo anders her beziehen kann als aus sich selbst und die Hegel in der Logik des objektiven Begriffs entwickelt. Insofern das Objektkontinuum eine Sphäre des Bestimmtseins-durch-sich markiert, kann es von sich her keinen Bestimmtheitszuwachs erfahren. Da der subjektive Begriff gemäß der seriellen Allgemeinheit begriffslogischer Bestimmungen im objektiven als seinem Nachfolger jedoch als untergeordneter Aspekt erhalten sein muss, muss auch zur Objektivität ein Aspekt der Selbstanreicherung mit 18

Andernfalls wäre das Urteil eine bloß subjektive Form des Denkens, was nicht mit Hegels Anspruch in Einklang zu bringen wäre, mit dem Eintritt in die »Logik« sei die problematische Voraussetzung der bloßen Subjektivität des Denkens aufgegeben worden (vgl. GW 21, 45).

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Bestimmtheit gehören. Da sie einen absoluten Bestimmtheitszuwachs als solche jedoch gerade ausschließt, kann sich solche Selbstanreicherung in ihr nicht unfundiert, sondern nur fundiert, nämlich auf der Grundlage vorgegebener Bestimmtheit, und nicht global, sondern nur lokal, nämlich trotz absoluter Nichtzunahme von Bestimmtheit, geltend machen. Die Sphäre der Objektivität ist damit eine Sphäre der lokalen Selbstorganisation von Bestimmtheit. Mit den Formen des mechanischen, chemischen und teleologischen Objekts meint Hegel eine Reihe reiner Begriffe auf einander aufbauender Organisationstypen angeben zu können, denen gemäß das Objektkontinuum in entsprechend zunehmend bloß lokalem Maßstab artikuliert werden kann. Damit, dass Hegel Mechanismus, Chemismus und Teleologie in einer »Logik« abhandelt, hat er sich den Vorwurf eingehandelt, die logische Form »inhaltlich« zu »belasten«.19 Dieser Vorwurf setzt voraus, dass der Begriff des Objekts abstrakt-allgemein, nämlich unabhängig von seinen besonderen Arten fassbar ist und letztere in einer »Logik« nichts zu suchen haben. Da ein Objekt aber keine an sich selbständige Entität ist, sondern ein organisierter Ausschnitt des Objektkontinuums, der vermöge reiner, zum Denken als solchem gehöriger und daher nicht-willkürlicher Auszeichnungsleistungen als selbständige, wiederidentifizierbare Einheit ansetzbar ist, kann der Begriff des Objekts kein abstrakt-allgemeiner Begriff sein.20 Denn weil nicht-willkürliches Auszeichnen organisierter Ausschnitte des Objektkontinuums kein beliebiges Auszeichnen von Ausschnitten im Allgemeinen sein kann, sondern nur bestimmtes Auszeichnen gemäß bestimmter Begriffe, ein bestimmter Begriff aber ein besonderer ist, kann es keinen Begriff des Objekts überhaupt geben, der von der Reihe besonderer Objektbegriffe unabhängig wäre. Der Vorwurf, Hegel habe in seiner Logik des objektiven Begriffs die logische Form inhaltlich belastet, läuft daher ins Leere. Denn wenn der Begriff des Objekts ein logischer Begriff ist, sind es auch die besonderen Objektbegriffe, die Hegel in der Logik entfaltet, weil der Begriff des Objekts als seriell-allgemeiner nichts anderes ist als der interne Zusammenhang dieser Begriffe. Wenn Hegel vom »Objekt überhaupt« (GW 20, 200) spricht, meint er daher auch nicht den vermeintlich abstrakt-allgemeinen oder generischen Begriff des Objekts, son-

19 Vgl. Hösle, Vittorio: Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, Hamburg 1988, S. 245–47. Der Sache nach erhebt diesen Vorwurf bereits Trendelenburg, Friedrich Adolf: Logische Untersuchungen. Leipzig 31870, S. 77–78. Für eine Verteidigung von Hegels Abhandlung der Kategorien des Mechanismus, Chemismus und der Teleologie in seiner Wissenschaft der Logik vgl. Stekeler-Weithofer, Pirmin: Gehört das Leben in die Logik? In: Sich in Freiheit entlassen. Natur und Idee bei Hegel. Hg. v. Helmut Schneider. Frankfurt am Main 2004, S. 157–188. 20 Als abstrakt-allgemein präsentiert sich insbesondere Kants Konzeption des Objekts als »das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist« (KrV, B137), an die Hegel in der Einleitung zur Begriffslogik anknüpft (vgl. GW 12, 18). Insofern Robert Brandom ein Objekt als dasjenige bestimmt, im Hinblick worauf Eigenschaften inkompatibel sein können (vgl. Brandom, Robert: Tales of the Mighty Dead. Cambridge 2002, S. 182), folgt er eher dem abstrakt-allgemeinen Objektbegriff Kants als dem seriell-allgemeinen Hegels. Hegel ist nämlich der Auffassung, was »Begriff« im Zusammenhang mit einer Konzeption des Objekts als Einheit von Mannigfaltigem heiße, lasse sich nur verstehen im Durchgang durch die Reihe derjenigen Formen von Einheit, die er in der Wissenschaft der Logik als Mechanismus, Chemismus und Teleologie abhandelt.

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dern ein Singularetantum, nämlich den Horizont der Bestimmbarkeit, aus dem überhaupt erst Objekte in der Mehrzahl zur Abhebung gebracht werden können. Die Begriffe des mechanischen, chemischen und teleologischen Objekts markieren somit weder besondere Arten des Objekts noch reale Prädikate: Wenn wir sagen, etwas sei eine chemische Substanz oder ein Organismus, legen wir keinem vorgegebenen Objekt eine Bestimmung bei, sondern artikulieren die Voraussetzung solchen Beilegens, welche den Spielraum möglicher Urteile über das betreffende Objekt festlegt. Da sich das Objektkontinuum, wie angedeutet, durch lokale Zunahme an Organisiertheit auszeichnen muss, markieren die reinen Objektbegriffe auf einander aufbauende Stufen solcher Organisiertheit. Mechanisches, chemisches und teleologisches Objekt lassen sich dabei formell als unmittelbares, vermitteltes und selbstvermittelndes Objekt unterscheiden. Die charakteristische Unmittelbarkeit des mechanischen Objekts wird am leichtesten durch Abgrenzung von der Vermitteltheit des chemischen deutlich. Dieses ist insofern wesentlich auf Vermittlung bezogen, als es selbst überhaupt nur durch den Bezug auf Prozesse seines Hervorgehens aus und seines Zusammentritts mit und zu besonderen anderen bestimmt ist, während das mechanische Objekt durch Prozesse charakterisiert ist, in denen es entweder bloß Zustandsveränderungen durchmacht oder spurlos in anderen verschwindet, ohne sich mit diesen zu verbinden. Das teleologische Objekt schließlich, mit dessen eigenmächtiger Ansetzung im vorliegenden Beitrag nur ein Aspekt von Hegels Teleologiebegriff erfasst wird, nämlich der auf die innere Zweckmäßigkeit bloßen Lebens bezogene, ist insofern selbstvermittelnd, als es überhaupt nur dadurch als ein Objekt bestehen kann, dass es einen seinem Begriff qua artspezifischer Lebensform gemäßen Zustand durch Austausch mit dem umgebenden Objektkontinuum permanent wiederherstellt, sich also, wie Hegel einmal sagt, nur erhält, indem es »sich bekommt«.21 Wenn Hegel behauptet, der Begriff sei innerhalb der Sphäre der Objektivität »versenkt« (GW 12, 30), ist damit offenbar gemeint, dass die einheitsgebende Form einer Sache und die realen Bestimmungen, denen sie Einheit gibt, innerhalb dieser Sphäre gar nicht auseinandertreten können. Eine Unterscheidung von beidem findet, wenn überhaupt, nicht im Objekt statt, sondern nur außer ihm, etwa mit Blick auf theoretische Objektparadigmata. Entsprechend gibt es etwa keine an sich guten oder schlechten Kristalle oder Sonnensysteme, sondern allenfalls solche, die von einem Lehrbuchparadigma abweichen oder ihm entsprechen. In Gestalt von Organismen scheint es jedoch bereits innerhalb des Objektkontinuums zu einem solchen Auseinandertreten kommen zu können, insofern ein funktionsuntüchtiger Organismus einer ist, der dem, was ihn zu dem macht, was er ist, nicht vollauf entspricht. Als Allgemeines tritt sein Begriff, selbst wenn wir diesen als genetisches Programm in einem Teil des Organismus repräsentiert sehen wollen, dennoch nirgendwo am Organismus selbst hervor. Von interner Unangemessenheit funktionsuntüchtiger Organismen kann daher auch nur im Hinblick auf deren kontrafaktische Abhängigkeit von der Funktionstüchtigkeit anderer Organismen gesprochen werden, mit denen sie in einem Generationszusammenhang stehen. 21

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Logik (1831). Hamburg 2001, S. 211.

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Der Begriff des Organismus oder teleologischen Objekts weist damit aber über sich hinaus. Denn ein solches Objekt ist seinem Begriff konstitutiv unangemessen, weil es etwas ist, das nur mit Blick auf ein bestimmtes Allgemeines, dem es mehr oder weniger entsprechen kann – nämlich seine artspezifische Lebensform – als selbststvermittelnde Einheit aus dem Objektkontinuum abhebbar ist, ohne dass dieses Allgemeine an ihm irgendwo vorfindlich wäre. Wenn zum Begriff des teleologischen Objekts somit der Bezug auf eine Entsprechung von Begriff und Realität gehört, eine solche Entsprechung durch es selbst aber nicht gedeckt sein kann, markiert der Begriff des teleologischen Objekts etwas, das es als Objekt nur im Zusammenhang mit solchem geben kann, was an ihm selbst die Entsprechung von Begriff und Realität ist, statt bloß äußerlich auf sie bezogen zu sein. So weist der Begriff des teleologischen Objekts über sich hinaus auf die Idee als »Einheit von Begriff und Realität« (GW 12, 176).

III. Die Idee Hegels Rede von der »Einheit« von Begriff und Realität bezeichnet offenbar ein Verhältnis zwischen Sache und Begriff und drückt entsprechend aus, dass an einer Sache die einheitsgebende Form hervortritt, der diese Sache vermöge ihrer besonderen Bestimmungen entsprechen kann oder nicht. Eine solche Form kann an einer Sache selbst aber nur hervortreten, wenn die Entsprechung oder Nichtentsprechung mit Bezug auf ihre Form für die Sache selbst besteht. Der Begriff, von dem in Hegels Einheitsformel die Rede ist, muss daher der subjektive Begriff als selbstbezügliches Sichbestimmen sein, das sich als Idee zugleich integrierend auf ihm sachseitig entsprechende Bestimmtheit bezieht. Die Idee markiert somit die Vollzugsform von beseeltem Leben und Geist, von Zentren präreflexiv und reflexiv selbsthaften Lebens, für welche die Angemessenheit oder Unangemessenheit von integrativer Form und bestimmtem Seins selbst bestehen kann.22 Damit sind wir scheinbar wieder bei der Entsprechung von Begriff und Realität angelangt, von der bereits im Zusammenhang mit dem Begriffsurteil die Rede war. Hegel betont jedoch, die Idee sei genauer nicht als Einheit des Begriffs und der Realität, sondern der Objektivität zu bestimmen.23 Wie gezeigt, markiert diese ein inhomogen organisiertes Kontinuum, das angemessen gemäß der Formen des mechanischen, chemischen und teleologischen Objekts artikulierbar ist, wenngleich zunehmend bloß lokal. Da die Idee all diese Formen voraussetzt, kann die Einheit von Begriff und Objektivität zunächst keine globale, sondern nur eine punktuelle Entsprechung markieren. Mit »Idee« ist somit zunächst nur die Vollzugsform von Zentren selbstbezüglichen Sichbe22 Erst leibhaftige Zentren selbstbezüglichen (Sich)Bestimmens sind keine an sich unselbständigen Ausschnitte des organisierten Objektkontinuums, die von uns gemäß nicht-willkürlicher Auszeichnungsleistungen aus diesem abgehoben und als selbständige Einheiten − Objekte − angesetzt werden können, sondern zeichnen sich als selbstbezügliche Einheiten von sich her als selbständige Einzelne − Individuen − aus. 23 Vgl. GW 12, 176.

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stimmens gemeint, die lokal in und aus dem Objektkontinuum hervortreten und sich in einem teleologisch organisierten Ausschnitt desselben – ihrem Leib − auf sich beziehen – d. h. die Verfasstheit lebendiger Individuen. Noch ein weiterer Unterschied zwischen der Einheit von Begriff und Objektivität und derjenigen von Begriff und Realität ist von Bedeutung. Im Zusammenhang seiner Urteilslehre hatte Hegel nämlich konstatiert, dass eine Sache ihrem Begriff nicht nur in einem gewissen Maß entsprechen muss, sondern ihm als endliche auch in einem gewissen Maß nicht entspricht und insofern, wie er sagt, »in sich gebrochen ist in ihr Sollen und ihr Sein« (GW 12, 88). Nun scheint von diesem Bruch aber nicht mehr die Rede zu sein, da die Idee allein als Entsprechungsverhältnis bestimmt ist. Deswegen fällt die zu einer Sache gehörige Nichtentsprechung von Begriff und Realität aber nicht einfach unter den Tisch, sondern die Logik der Idee buchstabiert nur die schon angedeutete Einsicht aus, dass eine einzelne Sache nur dann durch solche Nichtentsprechung in einer bestimmten Hinsicht charakterisiert sein kann, wenn sie mit anderem zusammenhängt, das durch Entsprechung in eben dieser Hinsicht geprägt ist. Unter dem Titel »Idee« betrachtet Hegel das Verhältnis von Begriff und Realität somit gar nicht mehr im Hinblick auf ein Einzelnes, das seinem Begriff zufällig mehr oder weniger entspricht, sondern als systemischen Zusammenhang, zu dem solche Entsprechung notwendig gehört.24 Hegel kann die Idee daher auch schlicht den »adäquaten Begriff« nennen (GW 12, 173). Wie sich zeigen wird, zeichnen sich die besonderen Stufen der Idee aber jeweils noch durch Aspekte konstitutiver Nichtentsprechung von Begriff und Objektivität aus, aufgrund derer sie logisch auf ihren Nachfolger hinausweisen. Selbst die verbesserte Formel »Einheit von Begriff und Objektivität« führt laut Hegel in die Irre, insofern sie nahe legt, die Idee lasse sich aus selbständigen Bestandteilen zusammengesetzt begreifen, während die Teilausdrücke der Formel an sich nur unselbständige Aspekte bezeichnen, die intern auf einander bezogen sind. Zur Idee gehört insofern kein dualistischer, sondern ein geerdeter Begriff leibhaftigen seelischen und geistigen Seins, ohne dass mit ihm die Zurückführung solches Seins auf bloße Objektivität vereinbar wäre.25 Die Idee markiert somit irreduzible Vollzugsformen, in denen das Aufscheinen von subjektseitigem Ineinander – d. h. von Bedeutung im weitesten Sinne des Wortes – an objektseitige Äußerlichkeit gekoppelt ist, die sich umgekehrt nur dank solchen Aufscheinens diskret gliedert. Die Idee hat so zwar notwendige Bedingungen in der mechanischen, chemischen und teleologischen Organisiertheit des Objektkontinuums außer sich, die jedoch darum 24 Vgl. etwa GW 12, 175: »Die endlichen Dinge sind darum endlich, insofern sie die Realität ihres Begriffs nicht vollständig an ihnen selbst haben, sondern dazu anderer bedürfen – oder umgekehrt, insofern sie als Objekte vorausgesetzt sind, somit den Begriff als eine äußerliche Bestimmung an ihnen haben«. 25 Eine solche Zurückführbarkeit ist durch Hegels Begriff der Idee deshalb ausgeschlossen, weil die Objektivität nur Moment, nicht Fundament der Idee ist. Dass sie letzteres nicht ist, ergibt sich daraus, dass zur Idee zugleich selbstbezügliches Sichbestimmen als ihr integratives Moment gehört, das für den Hervortritt diskreter, selbstvermittelnder Einheiten aus dem Objektkontinuum verantwortlich ist und als solches nicht in Begriffen objektseitigen, nomologisch geregelten Bestimmtseins verstanden werden kann.

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keine hinreichenden Bedingungen sind, weil sich das integrative Moment der Subjektivität oder selbstbezüglichen Sichbestimmens, das zu Zentren beseelten und geistigen Lebens gehört, aus objektseitigem Sein nicht erklären lässt. Die Idee markiert als Inbegriff der Vollzugsformen beseelten und geistigen Lebens in einer Welt damit die konkrete Verfasstheit von solchem, was nicht aus anderem erklärbar, sondern nur aus sich heraus verstehbar und insofern unbedingt ist. Anders als der subjektive Begriff oder unfundiertes Sichbestimmen markiert die Idee nicht bloß die Form, sondern die selbständige Gestalt von Subjektivität und Freiheit, nämlich leibhaftiges, damit aber zunächst abhängig-selbständiges Sichbestimmen innerhalb eines gemeinsamen Spielraums seiner Realisierung. Zu den besonderen Stufen der Idee gehören dabei besondere Stufen von Freiheit. Mit »Freiheit« sind dabei die Arten und Weisen gemeint, auf die leibhaftige Zentren selbstbezüglichen Sichbestimmens die Fremdheit des Objektkontinuums durch Herbeiführen von Entsprechungsverhältnissen überwinden – sei es assimilatorisch durch Verzehr, theoretisch durch begreifende Artikulation objektseitigen Seins oder praktisch durch dessen Gestaltung zu einer gemeinsamen, bedeutungstragenden Welt. Die besonderen Stufen der Idee zeichnen sich dabei jeweils durch einen Spielraum konstitutiver Entsprechung und einen Spielraum konstitutiver Nichtentsprechung von Begriff und Realität aus. Mit der Rede vom »Spielraum konstitutiver Entsprechung« ist das durch Subsumtions- und Angemessenheitsbedingungen markierte Intervall minimaler und maximaler Entsprechung gemeint, das zur jeweiligen Stufe der Idee gehört und im Lebendigen etwa durch die Koordinaten des Mangels und seiner Befriedigung oder der Krankheit und der Gesundheit, im Theoretischen durch die Koordinaten des Irrtums und der Erkenntnis beziehungsweise des Richtigen und Falschen und im Praktischen durch diejenigen der Absicht und ihrer Realisierung sowie des Bösen und Guten markiert wird. Dabei gehört zur Dimension konstitutiver Entsprechung jeweils eine stufenspezifische Verschränkung der Entsprechung und Nichtentsprechung. Mit der Rede vom »Spielraum konstitutiver Nichtentsprechung« von Begriff und Realität ist dagegen gemeint, dass zur jeweiligen Stufe nicht nur ein Aspekt möglicher Nichtentsprechung gehört, der sich im Einzelnen real als Unterbieten der Angemessenheitsbedingungen ausprägen kann, sondern ein Aspekt logisch notwendiger Nichtentsprechung. Diese hat ihren Grund darin, dass eine besondere Stufe der Idee überhaupt nur eine Teil-, aber keine Vollentsprechung von Begriff und Objektivität markiert. Der Aufweis der konstitutiven Nichtentsprechung von Begriff und Objektivität an besonderen Stufen der Idee ermöglicht somit den immanenten logischen Übergang von einem Reihenglied zum nächsten. Denn wenn der jeweiligen Stufe selbst intern ein Moment der Nichtentsprechung eingeschrieben ist, gehört zu ihr ein Moment der Unangemessenheit, das von sich her auf eine Stufe hinausweist, auf der diese Unangemessenheit beseitigt ist.

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IV. Die Stufen der Idee Dass Hegel Aristoteles’ Behauptung, die Formen beseelten Lebens seien keine Arten einer gemeinsamen Gattung, die unabhängig von ihnen fassbar wäre,26 emphatisch zustimmt,27 deutet, wie bereits nahe gelegt, darauf hin, dass er die Idee als Inbegriff solcher Formen seinerseits ebenfalls nicht als abstrakt Allgemeines begreift. Demgemäß spricht er auch nicht von verschiedenen »Arten«, sondern von besonderen »Stufen« der Idee.28 Insofern zu diesen Stufen jeweils ein Aspekt konstitutiver Nichtentsprechung von Begriff und Objektivität gehört, die Idee selbst jedoch schlicht als ihre Entsprechung bestimmt ist, können diese Stufen in der Tat keine Arten der Idee als generisch Allgemeinem sein – ebenso wenig wie reines und unreines Gold besondere Arten von Gold sind. Denn in dasjenige, was durch Unterbietung eines Maßstabs bestimmt ist, kann dieser Maßstab natürlich nicht zugleich abschlagslos eingehen. Eben dies wäre jedoch verlangt, sollte der Maßstab das generisch Allgemeine zu den ihn unterbietenden Formen sein. Können die Stufen der Idee damit nicht durch abstrakte, sondern nur durch serielle Allgemeinheit verknüpft sein, kann auch das erste Reihenglied keine Teilentsprechung von Begriff und Realität markieren, die in ihren Nachfolger unverändert einginge. Denn die Entsprechungen, welche für die besonderen Stufen der Idee konstitutiv sind, stehen dann analog zur Reihe der Vielecke nicht in einem additiven, sondern in einem Modifikationsverhältnis: A tritt in seinem Nachfolger B nicht als A, sondern durch B modifiziert auf, weshalb B keine Art von A ist.29 Zwar markieren alle Stufen der Idee somit Formen des Lebens, doch bildet animalisches oder bloß selbsthaftes Leben ebenso wenig eine Art vegetativen oder selbstlosen Lebens wie vernünftiges Leben eine Art animalischen Lebens. Hegel betont entsprechend im Zusammenhang mit seiner Auslegung von De anima, dass eine niedrigere Stufe des Lebens in der höheren nicht als solche erhalten bleibe, sondern nur als »ein Ideelles, Inhärierendes an ihr, wie ein Prädikat am Subjekte«.30 Die Vollzugsform der niedrigeren Formen wird innerhalb der höheren also nicht nur um Vollzugsformen ergänzt, sondern durch diese modifiziert, wobei real ebenso die Möglichkeit des Rückfalls auf eine niedrigere Stufe besteht wie die Möglichkeit, ein Lebendiges abstraktiv bloß als Instanz der niedrigeren Stufe zu betrachten. Aus dem Verkennen der seriellen Allgemeinheit des Lebensbegriffs ergibt sich ein Schichtenmodell des Lebendigen, wonach selbstloses, bloß selbsthaftes und vernünftiges Leben durch eine gemeinsame Grundschicht von Vollzügen bestimmt sind, zu denen auf den höheren Stufen bloß weitere hinzukommen. Dagegen beharrt Hegel darauf, dass es keine solche Grundschicht gibt, da etwa die Nahrungsaufnahme des lebendigen Individuums durch dessen Sensibilität oder die Wahrnehmung der Person durch ihre

26

Vgl. Aristoteles: De anima II, 2 (413a22–25) sowie Topik VI, 10 (148a29–31). Vgl. TWA 19, 203. 28 Vgl. etwa Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I. Frankfurt 1969, S. 387 (§ 236 Z = TWA 8, 387) und GW 12, 154. 29 Vgl. Aristoteles: De anima II, 3 (414b20−34) sowie TWA 19, 204. 30 TWA 19, 204. 27

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Denkfähigkeit informiert ist und sich daher nicht nach Art der animalischen verstehen lässt.31 Da es bei dem nun in Angriff zu nehmenden Durchgang durch die besonderen Stufen der Idee nur darum geht, die Idee als seriell und fokal allgemeinen Ordnungszusammenhang seelisch-geistiger Vollzugsformen in den Blick zu bringen, können diese Stufen nur oberflächlich, nämlich nicht um ihrer selbst willen, sondern bloß im Hinblick auf ihren immanenten Zusammenhang mit den anderen betrachtet werden. Demgemäß ist jeweils die für eine Stufe konstitutive Entsprechung von Begriff und Objektivität aufzuweisen, zu zeigen, inwiefern ihr Vorgänger modifiziert in sie eingeht, und nachzuweisen, dass zu ihr selbst eine konstitutive Nichtentsprechung von Begriff und Objektivität gehört, die logisch auf ihren Nachfolger hinausweist. Der Übergang vom teleologischen Objekt zur Idee hatte sich daraus ergeben, dass ein Organismus zwar nur durch seine Entsprechung oder Nichtentsprechung im Hinblick auf eine artspezifische Lebensform als selbstvermittelnde Einheit ausgezeichnet ist, dieser bestimmte Begriff an ihm selbst aber gar nicht als solcher auftritt. Daher wies der Begriff des teleologischen Objekts auf die Idee des Lebens als Form des Lebendigen hinaus, an dem und für das die Entsprechung oder Nichtentsprechung von Begriff und Objektivität selbst hervortritt und das damit auch kein Organismus oder teleologisches Objekt ist, sondern ein lebendiges Individuum. Die Idee des Lebens markiert somit die Verfassung von Lebendigem, das in einem teleologisch organisierten Ausschnitt des Objektkontinuums unmittelbar derart auf sich bezogen ist, dass für es selbst ein Verhältnis von Begriff und Objektivität besteht. Dass dieses Verhältnis unmittelbar für es besteht, bedeutet, dass es zwar für es besteht, ohne als solches für es zu bestehen. Ein lebendiges Individuum ist damit ein leibhaftiges, durch einen bestimmten Begriff als artspezifische Lebensform bestimmtes Zentrum präpropositionalen Sichbestimmens, das in einem teleologisch organisierten Ausschnitt des Objektkontinuums auf sich bezogen ist und die Entsprechung oder Nichtentsprechung von Begriff und Objektivität, die es ist, als Empfindung von Schmerz oder Befriedigung selbst am eigenen Leib zu spüren bekommt. Die Idee des Lebens markiert damit die Verfassung präreflexiv selbsthaften oder, unrein gesprochen, animalischen Lebens. Dass mit dem Titel »Idee des Lebens« dessen Vollzugsform und nicht etwa diejenige des Lebendigen überhaupt bezeichnet ist, kann nur dann als terminologisch unglückliche Verengung erscheinen, wenn man fälschlich annimmt, es gebe einen abstrakt-allgemeinen, generischen Begriff des Lebens, und zugleich übersieht, dass zu demjenigen, was Hegel »Idee« nennt, ein Moment selbstbezüglichen Sichbestimmens gehört, das bloß vegetativem Leben gerade abgeht. In die Idee des Lebens geht die Form des teleologischen Objekts insofern modifiziert ein, als es zu lebendigen Individuen als solchen gehört, sich in einem teleologisch organisierten Ausschnitt des Objektkontinuums auf sich beziehen, wobei ihre Assimilation und Reproduktion durch präreflexive Selbstbestimmung geprägt und daher an Nahrungssuche und geschlechtliche Fortpflanzung gekoppelt sind. Zur Selbstvermittlung 31

Vgl. zu Letzterem etwa GW 21, 10 f.

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des lebendigen Individuums gehört es somit wesentlich, in spontanen Vollzügen assimilierend auf sinnlich einbezogenes objektseitiges Sein überzugreifen und auf diese Weise einer als Mangel empfundenen Nichtentsprechung von intraorganismischem Sein und Sollen abhelfen zu können. Gegenüber dem bloßen Leben zeichnet sich das beseelte zugleich durch eine für es konstitutive Verschränkung der Entsprechung und Nichtentsprechung von Begriff und Objektivität aus. Denn im Zusammenhang beseelten Lebens ist die als Schmerz empfundene Nichtentsprechung, insofern ihr der Trieb zu ihrer Beseitigung entspringt, selbst konstitutiv für die Aufrechterhaltung ihrer Entsprechung. Im Unterschied zum Organismus stellt das lebendige Individuum diese Entsprechung nämlich nicht nur permanent wieder her, sondern diese Wiederherstellung ist über das Sich-geltend-Machen von Nichtentsprechung vermittelt. Die für die Idee des Lebens konstitutive Nichtentsprechung von Begriff und Objektivität besteht darin, dass für das lebendige Individuum zwar ein Verhältnis von Begriff und Objektivität besteht, jedoch nicht als Verhältnis, sondern nur unmittelbar als Empfindung von Schmerz und Befriedigung. Das lebendige Individuum ist somit ein Verhältnis, das zwar für sich ist, ohne für sich als Verhältnis zu sein. Zur Idee des Lebens gehört so eine konstitutive Unangemessenheit von Begriff und Objektivität, da das, was das lebendige Individuum für sich ist, dem, was es an sich ist, nicht entspricht, weshalb es sich konstitutiv entgeht. Die Idee des Lebens weist damit immanent über sich hinaus auf eine Form von Leben, das sich auf sich als Verhältnis von Begriff und Objektivität bezieht – die Idee des Erkennens. Die Idee des Erkennens markiert demgemäß die Vollzugsform leibhaftig in das Objektkontinuum eingebetteter Zentren selbstbezüglichen Sichbestimmens, die ihre Vollzüge als solche zu reflektieren vermögen und deren Vollzüge damit propositional artikuliert sein müssen. Für die Idee des Erkennens ist somit urteils- und schlussmäßig artikuliertes Ausgreifen leibhaftiger Selbstbestimmungszentren auf das Objektkontinuum konstitutiv. Insofern solches Ausgreifen begrifflich artikuliert ist, kommt es nicht einfach als Vollzug eines Individuums in Betracht, sondern als etwas, was allgemeine Geltung beanspruchen und haben kann. In der Idee des Erkennens tritt diejenige des Lebens damit insofern modifiziert auf, als die zum Erkennen gehörenden Vollzüge zwar Vollzüge lebendiger Individuen sind, deren Bezug auf das Objektkontinuum sinnlich und triebhaft vermittelt ist, ihre Geltung aber unabhängig von der Individualität und Partikularität solcher Vollzugszentren haben. Als propositional artikulierte Vollzugsform leibhaftig in das Objektkontinuum eingebetteter Selbstbestimmungszentren, die auf jenes bestimmend ausgreifen, markiert die Idee des Erkennens nicht bloß theoretische, sondern ebenso sehr praktische Vollzüge, deren spezifische Formen Hegel terminologisch unter anderem als »theoretische« und »praktische« Idee unterscheidet.32 Die Notwendigkeit beider Formen des Erkennens ergibt sich daraus, dass selbstbezügliches Sichbestimmen, das über seine Sensibilität auf das Objektkontinuum bezogen und leibhaftig in diesem verwurzelt ist, sowohl 32

Vgl. GW 12, 199 und GW 12, 230.

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eine Explikation objektseitig vorgegebenen Seins anzielen und erreichen als auch objektseitige Bestimmtheit, die von ihm artikulierten propositionalen Gehalten entspricht, erst zum Vorliegen bringen kann. Insofern es sein Verhältnis zu objektseitigem Sein als solches reflektiert, gehört es zum theoretischen Erkennen, sein Explikationsverhältnis zu sinnlich einbezogenem objektseitigem Sein als vermittelt und damit als Ergebnis von Vollzügen zu wissen, bei denen etwas dazwischen kommen kann und die damit fehlbar sind. Entsprechend gehört zur theoretischen Idee eine verschachtelte Verschränkung der Entsprechung und Nichtentsprechung von Begriff und Realität. Denn anders als im beseelten Leben sind Entsprechung (das heißt hier: Erkenntnis) und Nichtentsprechung (das heißt hier: Irrtum) überhaupt nur möglich, wo die Möglichkeit beider reflektiert wird. Der Mangel oder die für die theoretische Idee konstitutive Nichtentsprechung von Begriff und Objektivität besteht darin, dass solches Erkennen seine Entsprechung zu objektseitigem Sein diesem gegenüber nur als nachgeordnet begreifen kann. Denn es setzt eine Sphäre erkennend bestimmbaren Seins voraus, die an sich gerade nicht durch eine Entsprechung von Begriff und Objektivität geprägt ist. Damit ist die Idee als theoretisches Erkennen, wie Hegel sagt, nur für, aber nicht an sich die Idee,33 weil das Erkennen zwar für sich eine solche Entsprechung ist, außerhalb dieser jedoch ein Sein ansetzt, das an sich nicht durch eine derartige Entsprechung charakterisiert ist. Die theoretische Idee weist darum immanent über sich auf die praktische hinaus, weil es zu ihr gehört, ihre Vollzüge als irrtumsanfällig und damit als rechtfertigungsbedürftig zu wissen. Rechtfertigen ist aber eine Tätigkeit, die notwendig Handlungscharakter hat, da sie nicht bloß ein spontaner Vollzug sein muss, sondern ein Vollzug, der nur als Realisierung von Absichten möglich ist. Zwar hat theoretisches Erkennen als solches nicht notwendig Handlungscharakter, insofern etwa die Artikulation des Urteils dass p zwar ein spontaner Vollzug ist, jedoch nicht die Realisierung der Absicht zu urteilen dass p sein kann, weil diese »Absicht« unmittelbar ihre eigene Ausführung wäre. Da Erkennen sich aber als rechtfertigungsbedürftig wissen muss und Rechtfertigen ein Handeln, nämlich die Ausführung von Rechtfertigungsabsichten, ist, liegt in seinem Begriff der logische Bezug auf das Handeln als Realisieren von Absichten. Die praktische Idee macht den Mangel der theoretischen wett, eine explikative Entsprechung zu markieren, die sinnlich einbezogenes, objektseitiges Sein voraussetzt, dessen Bestimmtheit im Urteilen nur artikuliert wird, statt dass die Entsprechung in einem Urteilen gründet, das die ihm entsprechende Realität selbst erst herbeiführt. Näher betrachtet hebt die praktische Idee die theoretische auf, insofern zum Handeln eine eigene, wahrheitsfähige Form des Urteilens gehört, dessen Angemessenheit jedoch keine Angemessenheit an objektseitiges Sein, sondern gegenüber leibhaftiger Selbstbestimmung als solcher ist, insofern zu dieser selbst bestimmte unbedingte Zwecke gehören, deren Realisierung nach Hegel das Gute ist.34 Anders als das theoretische Erkennen ist das Handeln mit der Artikulation eines Urteils jedoch grundsätzlich nicht am Ziel, 33 34

Vgl. TWA 8, 387 (§ 236 Z). Vgl. GW 20, 227.

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sondern hat dieses noch zu realisieren. Die praktische Idee zeichnet sich gegenüber der theoretischen daher durch eine noch einmal verwickeltere Verschränkung der Entsprechung und Nichtentsprechung von Begriff und Objektivität aus. Denn diese betrifft sowohl das Verhältnis besonderer Zwecke zum Guten wie das Gelingen oder Fehlschlagen ihrer Realisierung. Im Unterschied zur theoretischen Idee, der objektseitiges Sein als maßgebliche Voraussetzung urteilender Entsprechung gilt, gehört es zur praktischen Idee, die Maßgabe solcher Entsprechung allein im Sichbestimmen zu suchen, das die Welt seinen Zwecken gemäß zu machen hat. Zur praktischen Idee gehört damit aber ihre eigene Form der Nichtentsprechung von Begriff und Realität, insofern auch sie einen Spielraum objektseitigen Seins voraussetzt, der ihren unbedingten Zwecken jedoch gleichgültig und fremd gegenüberzustehen scheint, ohne dass sich diese Gleichgültigkeit und Fremdheit durch das Handeln je zum Verschwinden bringen ließe.

V. Die absolute Idee Der Übergang vom Erkennen zur absoluten Idee vollzieht sich laut Hegel durch die Einsicht, dass der vermeintliche Gegensatz zwischen dem Guten und einer ihm gleichgültig gegenüberstehenden Welt in letzter Instanz nicht besteht, insofern sich die Idee als die objektive Welt weiß.35 Ich möchte zunächst eine Lesart dieser Behauptung, die man die »stoische« nennen könnte, zurückweisen. Der stoischen Lesart zufolge wird der Gegensatz zwischen der Welt und dem Guten, demzufolge dieses als unbedingtes, jedoch nicht angemessen realisierbares Sollen, jene als perennierend Gleichgültiges erscheint, durch die Erkenntnis überwunden, dass dieser Gegensatz bloß aus der Perspektive endlichen Handelns besteht, das an seiner Fähigkeit zur Vollbringung des Guten verzweifelt, dass solches Verzweifeln selbst aber nur in einer Welt möglich ist, in der das Gute aus absoluter Perspektive bereits angemessen realisiert ist. Der Übergang zur absoluten Idee bestünde so in der Einsicht, dass alles schon so ist, wie es sein soll. Was sich als Gleichgültigkeit, als Übel und als Böses darstellte, könnte in einer Welt, die so ist, wie sie sein soll, allenfalls scheinhafte Oberfläche oder raue Schale des substantiell guten Kerns sein. Der Übergang zur absoluten Idee würde es, so gelesen, unternehmen, die Hegel häufig zur Last gelegte Erhebung des Faktischen zur unüberbietbaren Wirklichkeit des Vernünftigen auch noch logisch zu nobilitieren. Dass diese Lesart hermeneutisch unangemessen ist, ergibt sich daraus, dass Hegel weder behauptet, die Idee sei schlichtweg alles, noch das, was ihr als Falsches, Gleichgültiges und Böses entgegenstehe, sei, der essentiellen Allgemeinheit der Idee gemäß, nur im Zusammenhang mit dem Wahren und Guten als dessen Begleitumstand möglich, der als unwesentlich zu vernachlässigen sei. Hegel behauptet jedoch nicht, dass alles Objektive die Idee sei, sondern dass die Idee das Objektive, nämlich das sei, was nur 35 Vgl. etwa: Vorlesungen über die Logik (1831), S. 222: »Die absolute Idee ist die Idee, für welche die objektive Welt die Idee ist«.

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durch sich selbst bestimmt ist und daher kein Ende nimmt, während alles, was selbst nicht die Entsprechung von Begriff und Objektivität ist, als Endliches ein Ende nehmen und in letzter Instanz verschwinden muss.36 Diese Behauptung lässt sich ein Stück weit ausbuchstabieren, indem die logische Genese der absoluten Idee aus dem Zusammenspiel von theoretischer und praktischer Idee betrachtet wird. Jene setzt in Gestalt objektseitigen Seins ein Wirkliches voraus, das nicht wahr ist, während diese in Gestalt des Guten ein schlechthin Wahres voraussetzt, das nicht wirklich werden kann. Der Bezug von theoretischer und praktischer Idee aufeinander − und dieser Bezug ist die absolute Idee − hebt laut Hegel beide Mängel zugleich auf. Als Einheit von theoretischer und praktischer Idee markiert dieser Bezug offenbar so etwas wie ein »Erkennen des Handelns«, das zugleich ein »Handeln des Erkennens« ist. Dabei meint »Erkennen des Handelns« ein Erkennen, das nicht mehr gegenstandsbezogen auftritt, sondern in der Erkenntnis weltbezogener Erkenntnis- und Handlungsvollzüge − kurz: in der Selbsterkenntnis der Idee − besteht. Dass das Erkennen des Handelns zugleich ein »Handeln des Erkennens« sei, bedeutet, dass die Selbsterkenntnis der Idee sich als absolute, nämlich selbstbezügliche Praxis vollzieht, die Hegel real in Kunst, Religion und Philosophie verwirklicht sieht.37 Die absolute Idee markiert damit die Vollzugsform geistigen Sichverstehens oder die Selbstartikulation leibhaftig verkörperten, unbedingten Sichbestimmens als unbedingtes Sichbestimmen. Durch ihre Selbsterkenntnis enthüllt sich die absolute Idee für sich als das Unvergängliche, da schlechthin Gültige und sich selbst Angemessene. Damit ist offenbar nicht gemeint, alles sei wahr und gut, sondern nur, dass allein das, was Entsprechung von Begriff und Objektivität ist, ohne Ende ist, während alles andere als Endliches ein Ende nehmen und verschwinden muss. Böse könnte man diese Lesart die »utopische« nennen. Der Eindruck des Utopischen lässt sich jedoch durch Betrachtung dessen zurückweisen, was im Erkennen und im Handeln geschieht. Wahre Erkenntnis und gutes Handeln sind nämlich Vollzüge, die ein schlechthin Geltendes artikulieren beziehungsweise einem unbedingten Sollen angemessen sind und insofern keine immanente Grenze haben. Sie haben darum keine solche Grenze, weil schlechthin Geltendes seiner Artikulation und schlechthin Gesolltes seiner Realisierung selbst keine Grenzen setzt und entsprechende Vollzüge daher nur äußerlich abgebrochen werden können − im Gegensatz zu Vollzügen wie Zähneputzen oder Schuhebinden, die ihr Ziel außer sich haben und mit dessen Erreichen notwendig ans Ende kommen, damit aber immanent endliche Vollzüge sind.38 Wird in von sich her unendlichen Vollzügen − dem wahren Erkennen und guten Handeln − aber punktuell solches artikuliert und realisiert, was unbedingte Geltung und unbedingten Wert hat, und kann derartiges nirgendwo unabhängig von diesen Vollzügen seinslogisch vorhanden sein, so muss es in jedem Erkennen und Handeln etwas geben, was mit dem Ab36

Vgl. etwa GW 12, 236. Vgl. ebd. 38 Zu der hier relevanten Aristotelischen Unterscheidung von kinesis und energeia vgl. etwa Aristoteles: Metaphysik IX, 6 (1048b18–34). Zu Hegels Deutung von Aristoteles’ Bestimmung des Höchsten als reine energeia vgl. etwa TWA 19, 158–64. 37

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bruch dieses Erkennens und Handelns selbst nicht endet, obwohl noch jedes Erkennen und Handeln, das wir real kennen, zum Abbruch kommt. Zur absoluten Idee gehört damit die Erkenntnis, dass immanent unendliche, sich in der Artikulation von schlechthin Gültigem sammelnde Erkenntnis- und Handlungsvollzüge das einzig Unvergängliche sind. Die reine Energeia solcher Vollzüge, die sich im schlechthin Gültigen und Guten sammeln, kann es gemäß der seriellen Allgemeinheit der Idee jedoch nicht unmittelbar, sondern nur im Durchgang durch Vollzugsformen geben, in denen die Entsprechung und Nichtentsprechung von Begriff und Objektivität miteinander verschränkt sind, und ist daher als reine Vollendung ein Resultat, das nur im Zuge des Endens und Verschwindens begriffslogischer Endlichkeit − der Nichtentsprechung von Begriff und Realität − ungebrochen hervortritt. Die absolute Idee ist damit aber nicht nur in einem eingeschränkten Sinn, nämlich im Rückblick auf die Logik, sondern auch im Vorblick auf die Realphilosophie als »Methode« (GW 12, 237) zu charakterisieren, nämlich als Wegbewusstsein, und markiert so die Selbstvergewisserung geistigen Lebens, insofern dieses seinen Weg als Bewährung und Sammlung zu unvergänglichen Leben begreift. Dass die absolute Idee auch in diesem Sinn Methode ist, setzt voraus, dass eine Entsprechung von Begriff und Objektivität zwar immer schon punktuell vollbracht, ihre Vollentsprechung aber nur als sich vollbringend gewusst werden kann. Die Vollentsprechung von Begriff und Objektivität ist demzufolge zwar das einzige, was in letzter Instanz bleibt, aber auch nur dies, weil das Unendliche nichts unmittelbar Vorhandenes ist, sondern nur im Durchgang durch die Nichtentsprechung von Begriff und Realität und das Verschwinden solcher Endlichkeit hervortreten kann. Diese Deutung der absoluten Idee ist weder theologisch noch profan. Denn ihr zufolge kann mit der Vollentsprechung von Begriff und Objektivität weder ein personaler Gott gemeint sein, der es sozusagen immer schon in die Ewigkeit geschafft hat, da die Vollentsprechung nur im Durchgang durch das Endliche und sein Vergehen möglich ist, noch markiert die absolute Idee ein bloßes Ideal, dem gegenüber die profane Wirklichkeit das schlechthin Bleibende ist. Hegels Ideenlehre lässt sich somit nicht dadurch Popularität sichern, dass man die Ideen des Lebens und Erkennens als verdichte Einsichten in den natürlich verwurzelten Praxischarakter menschlichen Erkennens und Handelns begreift und die scheinbar überspannten Dinge, die Hegel von der absoluten Idee behauptet, dabei unter den Tisch fallen lässt – und zwar deshalb nicht, weil es nach Hegel in letzter Instanz gar nicht mehrere, sondern nur eine Idee gibt, nämlich die absolute. Alle anderen Stufen der Idee markieren nur deren durch Aspekte der Nichtentsprechung von Begriff und Objektivität geprägte Vorgestalten, die ihr ebenso notwendig logisch und real vorausgehen wie sie sich in sie auflösen. In Hegels Variante der Fabel Nietzsches von den Tieren, die einmal in einem Winkel des Weltalls das Erkennen erfanden, bis sie kurz darauf starben und wieder Ruhe einkehrte, stirbt so am Ende das Weltall und nicht das Erkennen. Denn »alles Übrige«, so Hegel, »ist Irrtum, Trübheit, Meinung, Streben, Willkür und Vergänglichkeit; die absolute Idee allein ist Sein, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit, und ist alle Wahrheit« (GW 12, 236).

A SPEKTE A) L OGIK , M ETAPHYSIK

UND

DER

L OGIK

T RANSZENDENTALPHILOSOPHIE

Logik und Metaphysik Elena Ficara

I. Einleitung Im Folgenden werde ich argumentieren, dass der Kern der Frage nach dem Verhältnis von Logik und Metaphysik bei Hegel Aristotelisch ist und dass in diesem Aristotelischen Kern auch die Bedeutung der Hegelschen Konzeption für gegenwärtige Diskussionen über die Grundlagen der Logik und der Metaphysik liegt.1 In meinem Beitrag werde ich zunächst Hegels Thesen zum Verhältnis von Logik und Metaphysik erörtern, die an vielen verschiedenen Stellen seines Werkes (im Brief an Niethammer vom 23. Oktober 1812, in der Vorrede zur Wissenschaft der Logik von 1812, in der Einleitung in die Wissenschaft der Logik und im Vorbegriff der Enzyklopädie u. a.) zerstreut sind. Dann werde ich auf die Ursprünge dieser Konzeption in der Aristotelischen Philosophie, insbesondere im IV. Buch der Metaphysik hinweisen. Abschließend werde ich auf die Bedeutung der Hegelschen Auffassung für gegenwärtige Diskussionen hinweisen. II. Hegel Im Brief an Niethammer vom 23. Oktober 1812 bemerkt Hegel, dass die Metaphysik eine Wissenschaft ist, mit der man »heutzutage in Verlegenheit zu sein pflegt«. Im Rahmen der in den Gymnasien unterrichteten philosophischen Fächer scheint sie »leer auszugehen«, da stattdessen Psychologie und Logik unterrichtet werden. Gleichwohl betont er, dass sie im Rahmen des Logik-Unterrichts jedoch vollständig präsent ist: 1

Wenn man behauptet, dass der Kern der Frage nach dem Verhältnis von Logik und Metaphysik bei Hegel Aristotelisch ist, stellen sich die Fragen: »Was für ein Aristoteles?«, »Was für einen Aristotelismus?«. Ich beziehe mich auf den Hegelschen Aristotelismus, der klar in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie zur Geltung kommt. Für Hegel ist die Aristotelische Philosophie nicht der Platonischen entgegenzusetzen. Aristoteles ist vielmehr der Philosoph, der die Platonische Idee in Bewegung gesetzt und gezeigt hat, dass die Herakliteische Bewegung ihrerseits »perennierend« ist (TWA 19, 153). Verra, Valerio: Hegel e la lettura speculativa della ›Metafisica‹ di Aristotele. In: Su Hegel. Hg. v. Claudio Cesa. Bologna 2007, S. 349–370, hier: 350 f. weist darauf hin, dass der Zugang Hegels und der Hegelschen Schule zu Aristoteles eine völlig neue Epoche der Aristoteles-Forschung bestimmt habe. Michelet habe – in Anknüpfung an Hegels Interpretation – entschieden für die Überwindung der traditionellen Deutung gekämpft, der zufolge Aristoteles ein »nicht spekulative[r] Empiriker« gewesen wäre. Zu Hegels Aristoteles-Deutung vgl. auch Berti, Enrico: Le principe de non-contradiction formulé par Aristote a-t-il été critiqué par Hegel? In: Proceedings of the World Congress on Aristotle. Athen 1982, S. 13–22; Movia, Giancarlo (Hg.): Hegel e Aristotele. Cagliari 1995; Düsing, Klaus: Ontologie bei Aristoteles und Hegel. In: Hegel-Studien 32 (1997), S. 61–92; Ferrarin, Alfredo: Hegel and Aristotle. New York 2001.

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Nach meiner Ansicht des Logischen fällt ohnehin das Metaphysische ganz und gar dahinein. Ich kann hiezu Kant als Vorgänger und Autorität citiren. Seine Kritik reducirt das seitherige Metaphysische in eine Betrachtung des Verstandes und der Vernunft. Logik kann also nach kant´schem Sinne so genommen werden, daß außer dem gewöhnlichen Inhalt der sogenannten allgemeinen Logik, die von ihm als transcendentale Logik bezeichnete, damit verbunden und vorausgeschickt wird; nämlich dem Inhalte nach die Lehre von den Kategorien, Reflexions-Begriffen und dann den Vernunftbegriffen. – Analytik und Dialektik. – Diese objektiven Denkformen sind ein selbstständiger Inhalt, die Parthie des aristotelischen Organon de categoriis, – oder die vormalige Ontologie. Ferner sind sie unabhängig vom metaphysischen System; – sie kommen beim transcendentalen Idealismus eben so sehr vor, wie beim Dogmatismus; dieser nennt sie Bestimmungen der Entium, jener des Verstandes. (GW 10.2, 825 f.) Schon Kant hatte darauf aufmerksam gemacht, dass Metaphysik und Logik zusammenfallen, und insbesondere die Metaphysik auf die Logik zurückgeführt (das Metaphysische wird bei ihm – so Hegel – zu einer Betrachtung des Verstandes). Die Logik enthält seit Kant, neben den Inhalten der allgemeinen Logik, auch das, was traditionell zum Gebiet der Metaphysik gehörte, nämlich die Kategorien (wie Quantität, Qualität, Relation) und darüber hinaus Reflexionsbegriffe (wie Identität und Unterschied) und Vernunftbegriffe. So wird in der Kantischen Logik die Materie behandelt, die auch die Aristotelische Logik, insbesondere Aristoteles’ Organon der Kategorien, ausmachte. Hierbei handelt es sich um Grundbegriffe, die in jeder Philosophie, in einer dogmatischmetaphysischen genauso wie in einer transzendental-idealistischen, betrachtet werden. Nicht primär im Unterschied zu Aristoteles, sondern im Gegensatz zur vorkantischen Metaphysik, betont Kant, dass die Grundbegriffe eben als Begriffe zum Gebiet des Denkens, also der Logik, und nicht des Seienden, also der Metaphysik/Ontologie, gehören. Sie sind Funktionen bzw. Determinationen des Denkens, und nicht – wie dies beispielsweise bei Wolff und Baumgarten der Fall war – Qualitäten bzw. Eigenschaften, die man von einem Ding aussagt. Hier tritt die spezifisch transzendentale Perspektive Kants klar in den Vordergrund. Sie impliziert, dass Thema und Gegenstandsgebiet der Philosophie als Transzendentalphilosophie (im Sinne Kants, aber auch Fichtes) das Denken, und d. h. spezifisch logisch ist. Die Philosophie ist somit im spezifischen Sinne Denken über das Denken (Wissenschaftslehre). Dies impliziert bei Hegel jedoch keineswegs (aber auch bei Kant nicht) eine antimetaphysische Einstellung.2 In der Vorrede zur Wissenschaft der Logik von 1812 betont Hegel, dass es ein Faktum ist, dass das Interesse an Form und Inhalt der vormaligen Metaphysik verloren ist, und wiederholt, dass dies Faktum »merkwürdig« sei. Genauso wie es merkwürdig ist, 2 Für die Interpretation der Aristotelischen Metaphysik als »dialektische Metaphysik« vgl. Berti, Enrico: Aristotele. Dalla dialettica alla filosofia prima. Padua 1977. Zum Begriff der skeptischen und kritischen Metaphysik bei Kant vgl. Tonelli, Giorgio: Kant und die antiken Skeptiker. In: Studien zu Kants philosophischer Entwicklung Hg. v. H. Heimsoeth, D. Henrich, G. Tonelli. Hildesheim 1967, S. 93–123, hier: 94 ff.

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wenn einer Gemeinschaft die Wissenschaft ihres Staatsrechts, ihre Gesinnungen, Gewohnheiten und Tugenden unbrauchbar geworden sind, so ist es merkwürdig, wenn eine Gemeinschaft ihre Metaphysik verliert, d. h. wenn der Geist, der sich mit seinem Wesen beschäftigt, »kein wirkliches Daseyn mehr in demselben hat« (GW 11, 5). »[E] in gebildetes Volk ohne Metaphysik« so Hegel ist genauso merkwürdig wie ein »sonst mannichfaltig ausgeschmückte[r] Tempel ohne Allerheiligstes« (ebd., 6). In diesen Passagen weist Hegel auf die Absurdität des Vorhabens hin, sich von der Metaphysik befreien zu wollen, bzw. sich für sie nicht zu interessieren. Eine Gemeinschaft, die kein Interesse an ihren Gewohnheiten und Tugenden mehr hat, bildet eine Absurdität, weil sie kein Interesse zeigt an dem, was sie zu einer Gemeinschaft macht. Der Geist, der sich mit seinem Wesen beschäftigt – wie es in der Logik der Fall ist – und davon ausgeht, dass sein Wesen kein Dasein hat, ist absurd, da er das Objekt seines Interesses vernichtet. Ein vollständig und mannigfaltig mit Ornamenten ausgeschmückter Tempel ohne Gott ist merkwürdig, weil ihm das fehlt, was den Tempel erst zu einem Tempel macht. Grund dieser seltsamen Abdankung der Metaphysik ist – so Hegel – die exoterische, populäre Version der Kantischen Philosophie, »daß der Verstand die Erfahrung nicht überfliegen dürfe, sonst werde das Erkenntnißvermögen theoretische Vernunft, welche für sich nichts als Hirngespinste gebähre« (ebd., 5) die eine Art Rechtfertigung gebildet hat, um sich wissenschaftlich nicht mehr mit dem spekulativen Denken zu beschäftigen. Die populäre Version der Kantischen Philosophie fasst das theoretische bzw. spekulative Denken (das Kant und Hegel auch »rein« nennen und als Denken auffassen, das nur mit sich selbst beschäftigt ist) als »Hirngespinst« auf. D. h. sie entnimmt ihm jegliche Realität. In der Einleitung in die Wissenschaft der Logik behandelt Hegel die Frage nach dem Verhältnis von Logik und Metaphysik im Kontext einer Bestimmung der Art des Denkens, die das spezifische Themengebiet der Logik ausmacht und im Rahmen einer Kritik an den formalistischen und subjektivistischen Auffassungen des Denkens. Die kritische Philosophie – so Hegel – machte zwar die Metaphysik zur Logik, sie bliebe jedoch bei einer bloß subjektiven Auffassung der logischen Bestimmungen (GW 11, 22). Die antike Metaphysik hatte eine andere, für Hegels Logik entscheidende Konzeption des Denkens. Sie ging davon aus, dass nur dasjenige wirklich ist, was gedanklich erfasst ist und dass das Denken den Boden ausmacht, auf dem wir erst etwas als seiend erfassen können. Hegel erwähnt diesbezüglich Anaxagoras’ Nous und Platons Idee. Laut Anaxagoras ist der Nous, d. h. der Gedanke, das Prinzip der Welt und »das Wesen der Welt« sei »als der Gedanke zu bestimmen« (ebd., 21). Laut Platon hat etwas »nur in seinem Begriffe […] Wirklichkeit« (ebd., 21 f.). Die objektive, und nicht psychologisch subjektive Konzeption des Denkens, die für das Verständnis der Hegelschen Konzeption des Verhältnisses von Logik und Metaphysik entscheidend ist, ist jedoch – so Hegel in der Einleitung – bereits in der üblichen Auffassung der Logik angelegt: man [kann] sich auf die eigenen Vorstellungen der gewöhnlichen Logik berufen; es wird nemlich angenommen, daß z. B. Definitionen nicht Bestimmungen enthalten, die nur ins erkennende Subject fallen, sondern die Bestimmungen des Gegenstandes,

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welche seine wesentlichste eigenste Natur ausmachen. Oder wenn von gegebenen Bestimmungen auf andere geschlossen wird, wird angenommen, daß das erschlossene nicht ein dem Gegenstande Aeusserliches und Fremdes sey, sondern daß es ihm vielmehr selbst zukomme, daß diesem Denken das Seyn entspreche. – Es liegt überhaupt bey dem Gebrauche der Formen des Begriffs, Urtheils, Schlußes, Definition, Division u.s.f. zum Grunde, daß sie nicht bloß Formen des selbstbewußten Denkens sind, sondern auch des gegenständlichen Verstandes. (GW 11, 22) Die gewöhnlichen logischen Gesetze sind nicht bloß subjektiv sondern Objektivitätsstiftend, d. h. sie dienen dazu, das, was ist, angemessen zu erfassen. Die logische Form des Modus Ponens, zum Beispiel, sollte im Idealfall dazu dienen, einen Horizont der Allgemeingültigkeit herzustellen. Wenn ich schließe und behaupte: »Alle konservativen Politiker lügen, Mitt Romney ist ein konservativer Politiker daher lügt er« erhebe ich den Anspruch, den Gegenstand dessen, was ich sage (in diesem Fall Mitt Romney und seine Wahrhaftigkeit bzw. Unwahrhaftigkeit) angemessen zu erfassen. Ich erhebe darüber hinaus den Anspruch, dass das, was ich behaupte, von allen anerkannt wird, und dass es wahr ist. In dem Vorbegriff der Enzyklopädie betont Hegel die objektive Natur der Gedanken und erklärt, dass sie den Grund ausmacht, warum Logik und Metaphysik zusammenfallen: Die Gedanken können nach diesen Bestimmungen objective Gedanken genannt werden, worunter auch die Formen, die zunächst in der gewöhnlichen Logik betrachtet und nur für Formen des bewußten Denkens genommen zu werden pflegen, zu rechnen sind. Die Logik fällt daher mit der Metaphysik zusammen, der Wissenschaft der Dinge in Gedanken gefaßt, welche dafür galten die Wesenheiten der Dinge auszudrücken. (Enz § 24, GW 20, 67) Die Logik fällt mit der Metaphysik zusammen weil man in dem Moment, in dem man nachdenkt (d. h. schließt, argumentiert, definiert), Dinge erfasst. Also sind die Denkformen, die in der Logik betrachtet werden, zugleich Arten und Weisen, Dinge und ihre wesentlichen Merkmale auszudrücken und die Metaphysik, die als Wissenschaft vom Wesen der Dinge aufgefasst werden kann, stimmt mit der Logik überein, die als die Wissenschaft des gültigen Schließen definiert werden kann. In der Tat betont Hegel dass: »indem der Gedanke sich von Dingen einen Begriff zu machen sucht, dieser Begriff […] nicht aus Bestimmungen und Verhältnissen bestehen kann, welche den Dingen fremd und äußerlich sind« (ebd.). An weiteren Stellen seiner Werke thematisiert Hegel die Frage nach dem Verhältnis von Logik und Metaphysik. Im § 12 der Vorlesungen über Logik und Metaphysik aus dem Sommersemester 1817, betont er, dass nicht nur die Formen des Denkens, sondern auch ihre Wahrheit die Materie der Logik ausmachen. »Die Logik ist für uns eine natürliche Metaphysik. Jeder, der denkt hat sie. Die natürliche Logik folgt nicht immer den Regeln die man in der Theorie für Logik aufstellt; diese treten die natürliche Logik oft mit Füssen« (GW 23.1, 19).

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Hegel unterscheidet zwischen der Logik als natürliche Metaphysik und der Logik als Theorie der logischen Gesetze. Auch in der Vorrede zur zweiten Auflage der Wissenschaft der Logik weist er auf das Versenkt-Sein der logischen Gesetze in der Natur des Menschen hin, und insbesondere in der Sprache, und betont, dass es die Aufgabe sei, die Denkformen zum Bewusstsein zu bringen, sie zu thematisieren. Dies ist zugleich die Aufgabe der logischen Theorie. Wenn wir z. B. sprechen, verwenden wir bestimmte Denkmuster, etwa den disjunktiven Syllogismus (die Tür ist geöffnet oder geschlossen, sie ist nicht geschlossen, also ist sie geöffnet) ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Die Logik besteht nun darin, diese Muster zu erkennen und zum Gegenstand der logischen Theorie zu machen. Manchmal, so Hegel, zertritt die logische Theorie die Logik als natürliche Metaphysik, weil sie Regeln fixiert, die sie als für alle Sachzusammenhänge gültig annimmt, Regeln, die jedoch nicht in der natürlichen Metaphysik angelegt sind. So erkennt die Logik im Ausgang von der natürlichen Logik der Sprache (der natürlichen Metaphysik) z. B. die gültige Form des disjunktiven Syllogismus »p oder q, nicht p also q« und verkennt, dass sie nicht immer zu schlüssigen Argumenten führt, sondern erst dann, wenn sie in der Realität und in dem Verhältnis der Ausdrücke zur Wirklichkeit verankert wird. Wenn das Argument »die Tür ist geöffnet oder geschlossen, sie ist nicht geöffnet, also ist sie geschlossen« gültig und schlüssig ist, ist dennoch das Argument, das ebenfalls auf der Form des disjunktiven Syllogismus beruht »Du bist für die Israelis oder für die Palästinenser, Du bist nicht für die Israelis, also bist Du für die Palästinenser« nicht schlüssig, weil sich die Prädikate »für die Israelis sein« und »für die Palestinenser sein« in unserer Sprache anders verhalten als die Prädikate »geöffnet« und »geschlossen sein« und weil es nicht wahr ist, dass man entweder für die Israelis oder für die Palästinenser ist und es keine dritte Möglichkeit gibt.3 Eine Logik, die starr davon ausgeht, dass die Gesetze, die sie fixiert, die Norm der Wahrheit sind, zertritt die natürliche Logik und Metaphysik der Sprache, weil sie von der Bedeutung und der Wahrheit der Ausdrücke keine Rechnung trägt.4 Am Anfang der Behandlung der Ersten Stellung des Gedankens zur Objektivität in der Enzyklopädie erwähnt Hegel die Unbefangenheit der Einstellung, der zufolge durch

3 Das Beispiel wird von Franca D’Agostini (Verità avvelenata. Buoni e cattivi argomenti nel dibattito pubblico. Turin 2010, S. 31) verwendet, um den Unterschied zwischen Gültigkeit (validity) und Schlüssigkeit (soundness) von Argumenten zu verdeutlichen. Dass die von der Logik isolierten gültigen Formen auch zu nicht schlüssigen Argumenten führen ist eine Ansicht, die typisch für die Diskussionen im Bereich der gegenwärtigen Philosophie der Logik ist, die aber bereits auf die antike Philosophie zurückgeht. Sextus Empiricus führt sie auf Pyrrhon zurück, der sie benutzte, um das gesamte logische Unterfangen als gescheitert zu erklären. Vgl. Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Frankfurt am Main 1985, S. 187–202. 4 Nuzzo, Angelica: La logica. In: Hegel. Hg. v. Claudio Cesa. Roma-Bari 1997, S. 39–82, hier: 47, erläutert, dass die Ausdrücke »natürliche Logik« und »Wissenschaft der Logik« auf Kant zurückgehen. Nuzzo (ebd., S. 49) betont auch, dass die spekulative Logik Hegels nicht primär als ein Instrument aufgefasst wird, um korrekt zu denken und die Wahrheit zu erlangen, sondern vielmehr das Ziel hat, die natürliche Logik zum Bewusstsein zu bringen, die das Wesen des Denkens in seiner Wahrheit ausmacht. Deswegen wird sie nicht einfach »Logik«, sondern »Wissenschaft der Logik« genannt.

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das Nachdenken die Wahrheit erkannt wird, die typisch für jede Form von Metaphysik ist. Die erste Stellung ist das unbefangene Verfahren, welches noch ohne das Bewußtseyn des Gegensatzes des Denkens in und gegen sich den Glauben enthält, daß durch das Nachdenken die Wahrheit erkannt, das, was die Objecte wahrhaft sind, vor das Bewußtseyn gebracht werde. (Enz § 26, GW 20, 69) Die metaphysische Einstellung, der zufolge man durch das Nachdenken die Wahrheit erlangt, thematisiert nicht, dass man sich durch das Nachdenken auch irren kann und die Wahrheit nicht finden muss (dass es einen Gegensatz zwischen Nachdenken und Wahrheit geben kann). Das Denken, das über seinen Gegensatz bewusstlos ist, kann – so Hegel – sowohl wahrhaft spekulativ sein (und hierbei ist die Aristotelische Philosophie gemeint) als auch in »endlichen Denkbestimmungen, d. h. in dem noch unaufgelösten Gegensatz verweilen« (hierbei ist die vorkantische Deutsche Metaphysik gemeint, die in der Ersten Stellung des Gedankens zur Objektivität kritisiert wird). Im Rahmen der Diskussion der atomistischen Philosophie im Zusatz zum § 98 der Enzyklopädie bemerkt Hegel, dass man der Metaphysik – d. h. der Zurückführung der Natur auf Gedanken – dadurch nicht entgehen kann (wie die atomistischen Philosophen seiner Zeit, die von Metaphysik nichts hören wollen), dass man sich der Atomistik in die Arme wirft. Das Atom ist in der Tat selbst ein Gedanke. Somit ist die Konzeption der Materie als aus Atomen bestehend selbst eine metaphysische Auffassung. »Reine, pure Physiker« schreibt Hegel sind in der Tat nur die Tiere, da diese nicht denken, wohingegen der Mensch, als ein denkendes Wesen, ein geborener Metaphysiker ist. Dabei kommt es dann nur darauf an, ob die Metaphysik, welche man zur Anwendung bringt, von der rechten Art ist, und namentlich, ob es nicht, anstatt der konkreten, logischen Idee, einseitige, vom Verstand fixierte Gedankenbestimmungen sind, an welche man sich hält und welche die Grundlage unseres theoretischen sowohl als unseres praktischen Tuns bilden. (Enz § 98 Z, TWA 8, 207) Ähnlich wie an dieser Stelle liest man im Zusatz zum § 246 der Naturphilosophie: Das, wodurch sich die Naturphilosophie von der Physik unterscheidet, ist näher die Weise der Metaphysik, deren sich beide bedienen; denn Metaphysik heißt nichts anderes als der Umfang der allgemeinen Denkbestimmungen, gleichsam das diamantene Netz, in das wir allen Stoff bringen und dadurch erst verständlich machen. Jedes gebildete Bewußtsein hat seine Metaphysik, das instinktartige Denken, die absolute Macht in uns, über die wir nur Meister werden, wenn wir sie selbst zum Gegenstande unserer Erkenntnis machen. (Enz § 246 Z, TWA 9, 20) Die Metaphysik bezeichnet somit laut Hegel die Struktur der Gedanken (den Umfang der allgemeinen Denkbestimmungen, das diamantene Netz), die dazu dienen, das, was ist, angemessen zu erfassen. Außerdem betont Hegel die Unmöglichkeit, sich von der so verstandenen Metaphysik zu befreien: Ob wir es wollen oder nicht, ist die Metaphysik

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mit uns, da unsere Aussagen und Gedanken ontologische Verpflichtungen notwendig mit sich führen. Auch der Atomist, der sich von der Metaphysik befreien will, ist ein Metaphysiker, da das Atom ein Gedanke ist, eine Struktur, durch die wir das, was ist, erfassen. Das Problem ist daher – so Hegel – nicht die Metaphysik, sondern die Art der Metaphysik (d. h. des Gedankengefüges), derer man sich bedient, um die Welt zu erfassen. Die vormalige, vorkantische Metaphysik hatte zwar mit Recht das Denken als Instrument zur Erkenntnis des Seins gebraucht (z. B. und paradigmatisch in den ontologischen Gottesbeweisen), sie war jedoch von starren Vorstellungen, und nicht von der »konkreten, logischen Idee« geleitet. Sie hatte nicht auf die natürliche Logik und Metaphysik der Sprache, sondern vielmehr auf starre Kategorien vertraut. Zusammenfassend lassen sich folgende Grundthesen fixieren, die die Grundzüge der Hegelschen Konzeption des Verhältnisses von Logik und Metaphysik ausmachen: 1. Durch Kant wird die Metaphysik als Zusammenstellung der Bestimmungen der entium zur Logik als Zusammenstellung der Bestimmungen des Denkens. Dies ist der Sinn der transzendentalphilosophischen Wende, die in Hegels dialektisch-spekulativer Logikkonzeption aufrechterhalten bleibt. 2. Das Denken, das in der Logik untersucht wird, ist objektives, und nicht subjektivpsychologisches Denken. In dieser objektiven Natur des in der Logik untersuchten Denkens ist der Zusammenhang zwischen Logik und Metaphysik begründet. Es handelt sich hierbei um eine Auffassung, die die explizite Anknüpfung Hegels an die Griechische und antike Tradition vor Augen führt. 3. Die Logik ist einerseits Theorie über die logisch-metaphysischen Formen und deren Gültigkeit, und andererseits natürliche Logik und Metaphysik, d. h. das Netz von Theorien über die Natur dessen, was ist, das bewusstlos in jedem Menschen wirksam ist und das durch kritische Reflexion explizit gemacht werden und so zur Logik und Metaphysik als Theorie führen kann. 4. Es ist unmöglich, sich von der Metaphysik befreien zu wollen. Auch der Versuch, die Metaphysik zu beseitigen, ist von metaphysischen Stellungnahmen in Bezug auf das, was ist, geleitet. 5. Das Problem ist nicht die Metaphysik, sondern die Art der Metaphysik, deren wir uns in unserem Denken und Handeln bedienen. Die Thesen 1. bis 5., die die Hegelsche Konzeption des Verhältnisses von Logik und Metaphysik ausmachen, sind in Aristoteles’ Philosophie angelegt.

III. Aristoteles Im IV. Buch der Metaphysik betont Aristoteles, dass sich die Erste Philosophie (die später Metaphysik genannt worden ist) mit den grundlegenden logischen Prinzipien beschäftigt, und dass diese Prinzipien »Ursachen und Prinzipien einer an sich existierenden Natur sein müssen«.5 Hier formuliert Aristoteles das grundlegende logische und 5

Aristoteles: Metaphysik IV, 1003a 26–28.

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ontologische Prinzip, das man heute den »Satz vom zu vermeidenden Widerspruch« bzw. kürzer »Satz vom Widerspruch« nennt. Demzufolge ist es nicht möglich, dass etwas ist und zugleich nicht ist, dass einem Gegenstand gleichzeitig und in derselben Hinsicht eine Eigenschaft und ihre Negation zukommt. Davon ausgehend führt Aristoteles eine Reihe von indirekten Beweisen dieses Prinzips vor. Das, was mich hier interessiert, ist nicht die Rekonstruktion der Argumente für oder gegen die Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch,6 sondern eine Betrachtung der Konzeption der in den Schriften zur Metaphysik untersuchten »Wissenschaft«, wie sie sich aus der Behandlung im IV. Buch ergibt. Im zweiten elenktischen Beweis für die Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch fordert Aristoteles den Gegner auf, bloß etwas für sich und die anderen als geltend zu bezeichnen. Indem der Gegner dies tut, kommt die Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch unmittelbar zum Vorschein. Der Satz vom Widerspruch ist gültig, weil ich etwas bezeichne, wie z. B. »Weimar«; annehme, dass es etwas bezeichnet; es definiere z. B. als »die viertgrößte Stadt Thüringens« und ich mich beim Nennen und Definieren nach dem richte, was ist. Wenn meine Definition das Wesen der Sache trifft, dann kann diese Definition nur wahr und nicht auch nicht-wahr sein, weil die Sache eins ist, d. h. so und nicht auch »nicht so« ist. Die Definition »Weimar ist die viertgrößte Stadt Thüringens« ist wahr, und es ist nicht möglich, dass die Aussage »Weimar ist die viertgrößte Stadt Thüringens« wahr und zugleich nicht wahr ist, weil der Inhalt des Aussagesatzes eins ist und mit der Wirklichkeit übereinstimmt: Weimar ist die viertgrößte Stadt Thüringens. So behauptet Aristoteles im IV. Buch der Kategorien auch, dass die Wahrheit der Aussage im Sein begründet ist. Er schreibt: wenn er Mensch ist, ist der Ausdruck wahr, mit dem wir sagen, dass er Mensch ist. Und es lässt sich umkehren, denn wenn der Ausdruck wahr ist, mit dem wir sagen, dass er Mensch ist, ist er Mensch. Der wahre Ausdruck ist niemals Ursache dafür, dass der Sachverhalt ist, der Sachverhalt allerdings scheint irgendwie Ursache dafür, dass der Ausdruck wahr ist.7 In der Ersten Analytik erläutert Aristoteles ferner, dass die Notwendigkeit der logischen Konsequenz-Beziehung in der Art und Weise angelegt ist, wie die von den Prämissen beschriebenen Sachverhalte sind: »Das Schließen ist eine Rede, in der, nachdem etwas gesetzt worden ist, sich dadurch, daß dieses so ist, etwas von dem Gesetzten Verschiedenes mit Notwendigkeit ergibt«.8 6 Zur Frage nach der Rolle des Satzes vom Widerspruch bei Hegel und Aristoteles vgl. Łukasiewicz, Jan: Über den Satz des Widerspruchs bei Aristoteles. In: Bulletin international de l’Académie des sciences de Cracovie. Classe d’histoire et de philosophie 1/2 (1910), S. 15–38; Berti, Enrico: Contraddizione e dialettica negli antichi e nei moderni. Palermo 1987; Berti, Enrico: La critica di Hegel al principio di contraddizione. In: Filosofia 31 (1980), S. 629–654; Wolff, Michael: On Hegel’s Doctrine of Contradiction. In: The Owl of Minerva, 31/1 (1999), S. 1–22; Ficara, Elena: Dialectic and Dialetheism. In: History and Philosophy of Logic, 34/1 (2013), S. 35–52. 7 Aristoteles: Kategorien 12, 15–19. 8 Aristoteles: Erste Analytik I, 1, 24b18–22.

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Laut Aristoteles ist die Wahrheit der Aussage somit im Wesen der Dinge und das Schließen und dessen Gültigkeit in dem Verhältnis des Denkens zur Realität begründet. Die Tatsache, dass die Dinge so sind/wirklich so liegen zwingt uns für Aristoteles dazu, in einer bestimmten Art und Weise zu denken. Im IV. Buch der Metaphysik kommt die Aristotelische Auffassung der Ersten Wissenschaft als Einheit von Logik und Metaphysik besonders deutlich zum Vorschein. Die Erste Philosophie ist Wissenschaft der ersten Prinzipien, d. h. Untersuchung über die Denkformen und -gesetze wie den Satz vom Widerspruch und den Satz vom ausgeschlossenen Dritten. In diesem Sinne stimmt das Untersuchungsgebiet der Ersten Wissenschaft mit dem Gebiet der Logik überein. Zugleich sind die logischen Formen laut Aristoteles im Sein und in der Übereinstimmung von Denken und Wirklichkeit verwurzelt. Daraus ergibt sich eine besondere Auffassung des Formalen, der zufolge die von der Logik untersuchten Formen nicht leer sind, sondern in der Lage sind und sein müssen, von dem, was wirklich ist, Rechenschaft zu geben. Diese Aristotelische Auffassung wird im Wesentlichen von Hegel geteilt und führt vor Augen, dass die Erste Wissenschaft oder Philosophie Logik (als Analyse der Denkbestimmungen) und zugleich Metaphysik (als Seinslehre) ist. Darüber hinaus lässt sich in Aristoteles’ Methode die Hegelsche These der Verankerung der logisch-metaphysischen Theorie in der natürlichen Logik und Metaphysik und die Verankerung der natürlichen Logik und Metaphysik in der logischen Theorie wiederfinden. Hierin liegt auch die Bedeutung dessen, was Hegel als den spekulativen Empirismus des Aristoteles bezeichnet. Hegel unterscheidet diesbezüglich zwischen Aristoteles’ Philosophieren und den Aristotelischen Bestimmungen, die im Laufe der Jahrhunderte fixiert worden sind. Laut Hegel ist die vorkantische Metaphysik z. B. hinter Aristoteles geblieben. Sie hält an Bestimmungen der Aristotelischen Logik fest (wie z. B. am Satz vom Widerspruch), die im Laufe der Jahrhunderte mehr oder weniger Aristoteles-treu fixiert worden sind, und verfährt dabei nicht Aristotelisch. Aristoteles selbst hat in seinem konkreten Philosophieren nicht dogmatisch an solchen Bestimmungen festgehalten. Er ist vielmehr empirisch verfahren, d. h. er ist der natürlichen Logik und Metaphysik der Sprache gefolgt und hat die Gesetze und logischen Bestimmungen erst aus der Betrachtung des jeweils berücksichtigten konkreten Zusammenhangs entnommen. Demgemäß betont Hegel, dass Aristoteles ein spekulativ-empiristischer Philosoph ist.9 Seine Manier bzw. Methode ist empirisch. Sie besteht in der Beobachtung der Art und Weise, in der Ausdrücke in unserer Sprache verwendet werden. Diese Beobachtung ist jedoch denkend und spekulativ, da sie dazu dient, im Ausgang von der konkreten Betrachtung der Art und Weise, in der Ausdrücke in unserer Sprache verwendet werden, allgemeine Gesetze (wie eben den Satz vom Widerspruch oder die logischen Prinzipien, die logischen Formen und Grundbegriffe) herauszuarbeiten und zu erkennen. Diese Erkenntnis ist spekulativ, weil sie verschiedene und entgegenge-

9

Zur Aristotelischen empiristischen Manier zu philosophieren vgl. TWA 19, 145–149.

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setzte Aspekte in einem Begriff vereint. Somit entspricht die Aristotelische Logik laut Hegel, wenn sie auf den Satz vom Widerspruch beharrt, nicht dem, was Aristoteles in seinen philosophischen Werken tatsächlich tut, nämlich komplexe, heterogene Begriffe zu denken, die nicht einseitig sind und in sich Unterschiede und Gegensätze vereinen. IV. Schluss Die fünf oben isolierten Punkte, die den Kern der Hegelschen Konzeption der Verhältnisse von Logik und Metaphysik ausmachen, und die eine grundsätzliche Kontinuität zur Aristotelischen Konzeption aufweisen, ermöglichen, abschließend Hegels Position im Kontext gegenwärtiger Diskussionen über die Grundlagen der Logik und der Metaphysik zu betrachten. Die Thesen 1. und 2. erweisen sich als substantiell kohärent zum Selbstverständnis der Metaphysik heute. Die Arbeit eines Metaphysikers impliziert die These 1., d. h. die Ansicht, die bereits bei Kant nachweisbar ist, dass unsere Theorien darüber, was es gibt, und über die Grundstrukturen der Realität auf dem Boden der Logik, d. h. durch Analyse der Gültigkeit und Schlüssigkeit des Denkens, durch Begriffsanalyse und Argumentationstheorie klar gemacht und gegebenenfalls kritisiert werden müssen.10 Sie setzt zudem die These 2. voraus, die auf die Antike Auffassung zurückgeht, der zufolge unsere Denkstrukturen das ausdrücken, was wirklich ist und die Formen, die in der Logik untersucht werden, demzufolge nicht leer sind, sondern den Anspruch erheben, wahr zu sein, d. h. das auszudrücken, was wirklich ist.11 Die These der Verankerung der natürlichen Logik und Metaphysik in der Logik als Theorie (These 3.) bedeutet, dass unsere dunklen und unbewussten Theorien darüber, was es gibt, zum Thema gemacht werden und durch die in der Logik untersuchten Begriffe und Gesetze, geprüft und hinterfragt werden sollen. Wir benutzen nämlich die in der Logik aufgestellten Regeln, um zu untersuchen, ob das, was wir über bestimmte Sachverhalte denken, gültig und schlüssig ist. Die Verankerung der Logik als Theorie in der natürlichen Logik und Metaphysik bedeutet, dass im Idealfall die natürliche Logik und Metaphysik der Sprache den Prüfstein der in der Logik als Theorie erforschten Gesetze darstellen soll. Dies impliziert, dass die logischen Gesetze von der Offenheit und Beweglichkeit natürlicher Sprache und von der Bedeutung und Funktion der Grundbegriffe Rechnung tragen und entsprechend offen und flexibel sein sollen. Es bedeutet aber auch, dass die Logik bereit sein muss, die Gesetze, die sie im Ausgang der Betrachtung eines bestimmten Seins-Bereichs aufstellt, in Anbetracht

10 Vgl. hierzu Varzi, Achille: On the Interplay between Logic and Metaphysics. In: Linguistic and Philosophical Investigations 8 (2009), S. 13–36, hier: 13–14: »Because all metaphysical theorizing takes place in language […], and because logic is to a great extent a theory of language, metaphysics can hardly get off the ground without the help of logic«. 11 Macdonald, Cynthia: Varieties of Things. Foundations of Contemporary Metaphysics. London 2005, S. 8–13 betont Aristoteles´ und Kants Einfluss auf die zeitgenössische Metaphysik.

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neuer oder anderer Seins-Bereiche, die andere Gesetze erfordern, zu revidieren und zu ändern. Dies beweist die grundsätzliche Kontinuität der Hegelschen dialektischen LogikKonzeption zu den seit den 1960er Jahren unternommenen Versuchen, die Frege-Russell Logik zu erweitern und Logiken zu begründen, die auch komplexen Sachverhalten – wie z. B. Paradoxien – und Gebieten (wie z. B. vage Prädikate, nicht existierende Gegenstände, abstrakte Gegenstände) Rechnung tragen. In der zeitgenössischen Philosophie der Logik sowie in den nicht-klassischen Logiken geht man nicht von der einen Logik als festen Kanon aus, sondern räumt die Möglichkeit ein, dass logische Gesetze revidiert werden können.12 Diese Ansicht ist spezifisch Hegelianisch, lässt sich aber ansatzweise auch in Kants Unterscheidung zwischen »natürlicher Logik« und »Wissenschaft der Logik«13 sowie in der Aristotelischen, von Hegel gepriesenen spekulativ-empiristischen Methode nachweisen. Die Thesen 4. und 5. verdeutlichen zwei Aspekte, die die Bedeutung des Metaphysikbegriffs betreffen. Hegels These, dass der Mensch – als denkendes Wesen – ein geborener Metaphysiker ist, entspricht der nicht kontroversen Ansicht heutiger Metaphysik, dass Gedanken ontologische Verpflichtungen notwendig mit sich führen.14 Laut Hegel ist auch der Atomist, der sich von der Metaphysik befreien will, ein Metaphysiker, da er denkt, und das Atom ein Gedanke ist, eine Struktur, durch die wir das, was ist, erfassen. So ist das Problem nicht die Metaphysik, sondern die Art der Metaphysik (d. h. des Gedankengefüges), derer man sich bedient, um die Welt zu erfassen. Die einzig gute Metaphysik – so Hegel – sei die logisch-dialektische Idee, d. h. ein Gedankengefüge, das beweglich ist und die skeptische, selbstkritische Instanz enthält. Die heutige Metaphysik versteht sich selbst dementsprechend, d. h. als eine flexible, nicht dogmatische Untersuchung. Auch die physikalistische Metaphysik Armstrongs, die heute diejenige 12 Haack, Susan: Philosophy of Logic. Cambridge 1978, S. 10 schreibt: »The very rigour that is the chief virtue of formal logic is apt, also, to give it an air of authority, as if it were above philosophical scrutiny. And that is a reason, also, why I emphasise the plurality of logical systems; for in deciding between alternatives one is often obliged to acknowledge metaphysical or epistemological preconceptions that might otherwise have remained implicit«. Ähnlich bemerkt Stephen Read (Thinking About Logic. Oxford 1995, S. 2): »There are few books on the philosophy of logic. One reason is a widespread but regrettable attitude towards logic, one of deference and uncritical veneration. It is based on a mistaken belief that since logic deals with necessities, with how things must be, with what must follow come what may, that in consequence there can be no questioning of its basic principles, no possibility of discussion and philosophical examination of the notions of consequence, logical truth, and correct inference«. Vgl. auch Priest, Graham/ Beall, Jeffrey C./Armour-Garb, Bradley (Hg.): The Law of NonContradiction. New Philosophical Essays. Oxford 2004. 13 Vgl. Nuzzo: La logica. 14 Vgl. die Debatte zwischen Russell und Quine über ontologische Verpflichtungen: Russell, Bertrand: On Denoting. In: Mind, 14–56 (1905), S. 479–493 und Quine, Willard V. O.: On What There Is. In: Revue Internationale de Philosophie (1948), wieder abgedruckt in: From a Logical Point of View. Cambridge Mass. 200314, S. 1–19. Diese Debatte wird heute im Rahmen der Diskussion über die Grundlagen der Metaphysik wiederaufgenommen. Vgl. hierzu u. a.: Inwagen, Peter Van: Being, Existence, and Ontological Commitment. In: Metametaphysics. Hg. v. D. Chalmers, D. Manley, R. Wasserman. Oxford 2009, S. 472–506 und McDaniel, K.: Ways of Being. In: ebd., S. 290–319.

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Metaphysik darstellt, die dem Bild der atomistischen Wirklichkeit, das von der zeitgenössischen Physik vertreten wird, am ehesten verpflichtet ist, erkennt, dass dieses Bild modifiziert und revidiert werden kann.15

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Armstrong, David: Sketch for a Systematic Metaphysics. Oxford 2010.

Dialektisch-spekulative Logik und Transzendentalphilosophie Angelica Nuzzo

Im »Allgemeinen Begriff der Logik« (GW 21, 27–49) stellt Hegel das Programm der Wissenschaft der Logik dadurch dar, dass er sich mit jenem Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft beschäftigt, in dem Kant seine »Idee einer transzendentalen Logik«1 zunächst erläutert. Damit ordnet Hegel die spekulative Logik in die gleiche historische Entwicklung ein, in der Kant die allgemeine Logik mit einer neuen transzendentalen Logik integriert.2 Auf diese Weise formuliert Hegel seine eigene Logik in Form einer Problemstellung, die der Kantischen anscheinend ähnlich ist. Hegel richtet sich an Kant aus, distanziert sich aber gleichzeitig von der ganzen Tradition, indem er die Forderung nach einer »totalen Umarbeitung« (GW 21, 35) der Disziplin erhebt und die Notwendigkeit betont, dass »der Standpunct dieser Wissenschaft höher gefaßt werde, und daß sie eine völlig veränderte Gestalt gewinne« (GW 21, 28). Über Hegels Bemerkungen zur Kantischen Erörterung der Logik wird oft von jenen Auslegungen hinweggegangen, die der Frage nach dem Entstehen der Wissenschaft der Logik aus dem Abschluss der Phänomenologie nachgehen. Bezeichnenderweise fällt für Hegel die Beurteilung von Kants transzendentaler Logik oft mit der letzten Frage zusammen. Aber worin besteht die Affinität zwischen der Notwendigkeit, die Unzulänglichkeit der Kantischen Transzendentalphilosophie zu korrigieren, und dem Vorgehen, die Phänomenologie in der Logik zu überwinden? Andererseits zitieren die Kommentatoren Kants die Hegelschen Passagen üblicherweise nur, um sie als Beispiele seines Missverständnisses von Kant zu verwerfen.3 Der Abschnitt der Kritik über die Idee einer transzendentalen Logik ist weit davon entfernt, unumstritten zu sein. Und das vergrößert die Schwierigkeit einer Interpretation von Hegels Deutung dieses Abschnitts, wenn es darum geht, Kants Auffassungen gegen Hegels eigene Position zu stützen. Worin besteht für Kant die Beziehung zwischen allgemeiner und transzendentaler Logik, und welches ist die Fragestellung, von der aus die zwei Arten von Logik beurteilt 1

Kant: KrV, B74–88/A50–64. Die Beziehung zwischen den zwei Arten von Logik ist komplex und die Debatte unter den Kommentatoren ist offen: siehe Pinder, Tillmann: Kants Begriff der Logik. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 61 (1979), S. 309–336; Prauss, Gerold: Zum Wahrheitsproblem bei Kant. In: Kant Studien 60 (1969), S. 166–182; Wolff, Michael: Der Begriff des Widerspruchs in der ›Kritik der reinen Vernunft‹. In: Probleme der Kritik der reinen Vernunft. Hg. v. Burkhardt Tuschling. Berlin 1984, S. 178–226; Paton, Herbert J.: Formal and Transcendental Logic. In: Kant Studien 49 (1957), S. 245–263. Für die Beziehung Hegels zur allgemeinen Logik, siehe Hanna, Robert: From an Ontological Point of View: Hegel’s Critique of the Common Logic. In: The Review of Metaphysics 40 (1986), S. 305–338. 3 Siehe Pinder: Kants Begriff der Logik, S. 309 f.; Baum, Manfred: Wahrheit bei Kant und Hegel. In: Kant oder Hegel? Hg. v. Dieter Henrich. Stuttgart 1983, S. 230–249, hier: 230. 2

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werden?4 Ist die spekulative Logik Nachfolgerin der transzendentalen Logik oder ihre Alternative? Und, wichtiger noch: Beurteilt Hegel die allgemeine und transzendentale Logik nach dem gleichen Maßstab wie Kant, oder verändert er die Problematik vollständig? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der erste Teil des Aufsatzes. Meine Argumentation beruht auf zwei Annahmen. Erstens deute ich die Wissenschaft der Logik als die Darstellung des Selbstbestimmungsprozesses des spekulativen Begriffs, von der Unbestimmtheit des »Seins« bis zur »absoluten Idee«. Diese ist »absolute Form«, d. h. Form, die fähig ist, sich selbst einen Inhalt zu geben, sowie die umfassendste Bestimmung der logischen Wahrheit. Das Programm der spekulativen Logik entsteht aus der scheinbar paradoxen Situation, wonach sich Hegel Kants Idee einer transzendentalen Logik zu Eigen macht, während er gleichzeitig das Prinzip ablehnt, auf dem jene letztendlich beruht. Dieses Prinzip ist die Grundthese des transzendentalen Idealismus. Diese These – und das ist meine zweite Annahme – enthält die folgende Behauptungen: (i) Sinnlichkeit und Verstand sind zwei irreduzible Quellen der menschlichen Erkenntnis; (ii) die Sinnlichkeit zeigt eigene Formen a priori, die für die Gegebenheit der Gegenstände im Erkenntnisprozess verantwortlich sind; (iii) obwohl er mit Spontaneität ausgestattet ist, produziert der Verstand seine Gegenstände nicht.5 Wird diese Grundthese verworfen, werden die Grenzen der Transzendentalphilosophie überschritten und die sich daraus ergebende Forschung wird mit jener unvereinbar. Anders gesagt, ungeachtet dessen, was viele Nachfolger Kants annehmen, ist kein Kompromiss in diesem Punkt möglich: Man kann keiner Transzendentalphilosophie nachgehen und doch den transzendentalen Idealismus ablehnen. Hier begegnen wir der Unvereinbarkeit zwischen dem logischen Programm Kants und dem Hegels. In der Kritik der Urteilskraft, §§ 76–77, entwirft Kant das Szenario, zu dem die Ablehnung des transzendentalen Idealismus führen würde, ein Szenario, das völlig außerhalb der Grenzen der Transzendentalphilosophie liegt. Hier zeigt Kant den Horizont auf, in dem Hegel seine spekulative Logik einordnet: Der anschauende Verstand nimmt den spekulativen Begriff vorweg. Allerdings wende ich mich im zweiten Teil des Aufsatzes einem anderen Kantischen locus zu, und zwar dem transzendentalen Ideal, um zu zeigen, wie entscheidende Formen der Hegelschen Logik durch die dialektisch-spekulative Umwandlung der Logik Kants gewonnen werden.

4 Sedgwick, Sally: The Conditioned Formalism of General Logic in the ›Critique of Pure Reason‹. In: International Philosophical Quarterly 36 (1996), S. 141–153, zeigt, dass die Kritik Wolffs an Kant (›Der Begriff des Widerspruchs‹) nicht stichhaltig ist, weil es ihr nicht gelingt, die verschiedenen Fragestellungen zu unterscheiden, mit denen sich die allgemeine und die transzendentale Logik jeweils befassen. 5 Für eine gründliche Entwicklung dieser These, siehe Nuzzo, Angelica: Ideal Embodiment. Kant’s Theory of Sensibility. Bloomington, 2008; siehe Dies.: ›Kritik der Urteilskraft §§ 76–77‹: Reflective Judgment and the Limits of Transcendental Philosophy. In: Kant Yearbook 1 (2009), S. 143–172 für die Kritik der Urteilskraft.

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I. Allgemeine, Transzendentale, Spekulative Logik In Anlehnung an die Behauptung, dass die logische Wissenschaft, in Unterschied zu anderen Disziplinen, die auf einem schon etabliertem Begriff ihres Gegenstandes aufbauen können, ihren Begriff und ihre Methode erst am Ende ihrer Entwicklung erreicht;6 und in Übereinstimmung mit der Tradition, nach der es üblich war, Logik-Lehrbücher mit einer Geschichte dieser Disziplin einzuleiten, eröffnet Hegel den »Allgemeinen Begriff der Logik« damit, dass er sich Kant widmet. Hegels Ansatzpunkt ist der »bisherige Begriff der Logik« (GW 21, 28 bzw. 46 f.), den er darlegt, indem er Kants Definition der »allgemeinen Logik« paraphrasiert. Wenn die Logik als die Wissenschaft des Denkens im Allgemeinen angenommen wird, so wird dabey verstanden, dass diß Denken die bloße Form einer Erkenntniß ausmache, daß die Logik von allem Inhalte abstrahire. (GW 21, 28) Bringt man diese Passage einmal mit dem Kantischen Text in Beziehung, dann fällt auf, dass Hegel den Unterschied zwischen allgemeiner und transzendentaler Logik auszulöschen scheint, von dem aber die Argumentation Kants abhing. Will man nun diese Identifizierung nicht einfach als ein Missverständnis ablehnen, muss sie irgendwie zweckmäßig für Hegels Behauptung sein, dass die Logik vollständig umgestaltet und auf einen höheren Standpunkt gebracht werden sollte,7 und dass dieser Standpunkt nur durch eine dialektisch-spekulative Umwandlung der Logik erzielt werden kann. In dieser Passage bietet Hegel sowohl ein Bild der allgemeinen Logik, die aus der Perspektive der Transzendentalphilosophie, d. h. in Bezug auf das Problem der Erkenntnis von Gegenständen, beurteilt wird, als auch eine kritische Beurteilung der transzendentalen Logik Kants als immer noch eine Form von allgemeiner Logik, obwohl Kant darauf beharrte, dass die transzendentale Logik eine »besondere« Logik ist.8 Für Kant ist der formale Charakter der allgemeinen Logik nicht auf ihrer Allgemeinheit begründet, d. h. auf dem Abstrahieren von allem Inhalt. Denn die transzendentale Logik ist ebenso formal, dennoch ist sie eine »besondere« Logik.9 Und das ist sie in zweierlei Hinsicht: Erstens ist sie »die Logik des besondern Verstandesgebrauchs«,10 d. h. des Verstandesgebrauchs, wenn der »Ursprung« der Erkenntnis a priori ist und nicht im Gegenstand liegt;11 und zweitens enthält sie »die Regeln über eine gewisse Art von Gegenstände richtig zu denken«,12 d. h. die Regeln des Denkens in Bezug auf Gegenstände möglicher Erfahrung. Diese ›besondere‹ Logik ist noch formal, weil die reinen Begriffe der transzendentalen Logik, anders als die der allgemeinen Logik, »die Form des Denkens eines 6

Vgl. GW 21, 27; Enz § 1, GW 20, 39. Zum Verhältnis zwischen Fragen der Zeit und Hegels eigenem philosophischen System siehe GW 21, 27 f. 8 Kant: KrV, B77/A52. 9 Siehe Pinder: Kants Begriff der Logik, S. 319. 10 Kant: KrV, B77/A52. 11 Ebd., B80/A56. 12 Ebd., B77/A52. 7

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Gegenstandes überhaupt« enthalten.13 Da beide Logiken formal sind, betrifft die diskriminierende Opposition nicht Form und Inhalt (des Denkens), sondern Denken »im Allgemeinen«,14 ohne Bezug auf Gegenstände und auf ihre Unterschiede einerseits,15 und Denken der Gegenstände andererseits. Nur Letzteres ist eine Erkenntnistheorie, denn nur die transzendentale Logik kann Rechenschaft ablegen über den Ursprung unserer Vorstellungen und darüber, wie sich unsere Begriffe auf Gegenstände beziehen können, und somit über die verschiedene Arten von Gegenständen, auf die sich unsere Begriffe beziehen.16 Offensichtlich handelt es sich bei Hegels Unzufriedenheit mit dem formalen Charakter der Logik genau um sein Bedenken über den verfehlten Gegenstandsbezug, welcher für Kant nicht das Gleiche wie Formalismus ist (sowohl die allgemeine als auch die transzendentale Logik sind formal, nur befasst sich Letztere zugleich mit dem Gegenstandsbezug). Da Hegel allerdings Formalismus mit verfehltem Gegenstandsbezug gleichsetzt, führt er allgemeine und transzendentale Logik zusammen. Genau hier unterscheidet sich Hegels Position radikal von der Kantischen. Sowohl für Kant als auch für Hegel abstrahiert die allgemeine Logik in der Tat programmatisch von allem Inhalt – wobei Kant sowohl meint, dass die allgemeine Logik keine Rechenschaft über den Ursprung unserer Vorstellungen ablegt, als auch, dass sie keine Rechenschaft über den Gegenstandsbezug der Begriffe ablegen kann.17 Hegel sieht in diesen zwei Argumenten den Hauptunterschied zwischen allgemeiner und transzendentaler Logik (GW 21, 46 f.). Für Kant abstrahiert die transzendentale Logik nicht vom Inhalt der Erkenntnis – und das ist der Grund ihrer Einführung in die Kritik.18 Hegel dagegen hält die Instanz, der die transzendentale Logik antwortet, d. h. die Notwendigkeit für das Denken, Denken von Gegenständen zu sein, aufrecht, ist aber gleichzeitig der Ansicht, dass Kants Logik letztendlich so allgemein und abstrakt ist wie die formale Logik. Die Letztere ist abstrakt programmatisch, die Erste ist hingegen abstrakt, weil sie auf der Grundthese des transzendentalen Idealismus beruht. Von diesem Sachverhalt leitet sich sowohl Hegels Kritik an der transzendentalen Logik als auch das Argument zugunsten einer dialektisch-spekulativen Logik ab, die allein fähig ist, die wahre Beziehung zur Objektivität und die »reale Wahrheit« zu erlangen, welche Kant für seine Logik beansprucht hatte, aber nicht gewährleisten konnte.

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Ebd., B74 f./A50 f. »Der Inhalt mag sein, welcher er [der Verstand] wolle«, ebd., B77/A53. 15 Ebd., B76/A52: Die allgemeine Logik betrifft den Verstandesgebrauch »unangesehen der Verschiedenheit der Gegenstände auf welche er gerichtet sein mag«. 16 Beispielsweise Gegenstände einer möglichen Erfahrung, intelligible Gegenstände, entia rationis. Siehe Sedgwick: The Conditioned Formalism of General Logic, S. 151. Letztendlich ist das der Grund, warum der Unterschied zwischen synthetisch und analytisch und das Problem von synthetischen Urteilen a priori nur von einer transzendentalen Logik aufgeworfen werden können. 17 Kant: KrV, B78, 79/A54, 55. 18 Soweit der Ursprung dieser Erkenntnis a priori möglich sein soll. Siehe die allgemeine Definition von »transzendental« in Bezug auf die Erkenntnis in ebd., B25/A12 und die entsprechende Stelle (ebd., B80/A56) in der Erörterung der Logik. 14

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In der Tat betrachtet Hegel die von der allgemeinen Logik ausgeführte Abstraktion von allem Inhalt als gleichbedeutend mit dem Bekenntnis der Kantischen Logik zum transzendentalen Idealismus. Die Behauptung ist, dass, soweit die Logik das »Denken im allgemeinen« oder das Denken als »die bloße Form einer Erkenntnis« annimmt, das sogenannte zweyte Bestandstück, das zu einer Erkenntniß gehöre, die Materie, anderswoher gegeben werden müsse, daß somit die Logik, als von welcher diese Materie […] unabhängig sey, nur die formalen Bedingungen wahrhafter Erkenntniß angeben, nicht aber reale Wahrheit selbst enthalten […] könne (GW 21, 28) Die entscheidende Opposition ist nicht die zwischen Form und Inhalt des Denkens. In der Tat bilden die formalen Regeln des Verstandesgebrauchs schließlich den Inhalt der allgemeinen Logik.19 Es geht in der transzendentalen Logik vielmehr um die Trennung zwischen Form und Materie der Erkenntnis. Hier übernimmt Hegel die Kantische Terminologie: Die »Materie« der Erkenntnis ist objektiver Inhalt.20 Obwohl die transzendentale Logik nicht vom Gegenstand als ihrem Inhalt abstrahiert, weil in dieser Logik der »transzendentale« Ursprung eines solchen Inhalts von entscheidender Wichtigkeit ist, so ist doch bedeutsam, dass der Inhalt als »Materie« der Erkenntnis aus einer anderen Quelle stammt als dem Verstand (er ist folglich von ihm »unabhängig« und bleibt auch der Logik fremd). Letztendlich geht es darum, dass der Verstand nach Kant unfähig ist, sich selbst die Materie der Erkenntnis zu geben (d. h. er ist nicht anschauend), sondern er muss sich auf die Sinnlichkeit stützen, damit ihm Gegenstände gegeben werden, d. h., um Gegenstände zu denken.21 Bekanntermaßen führt Kant die zwei Bestandstücke der Erkenntnis zurück zu ihrem Ursprung in das menschliche Erkenntnisvermögen,22 woraus die Einteilung der Kritik in eine transzendentale Ästhetik und eine transzendentale Logik folgt – die Erste als die »Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit«, die Letztere als die »Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt«.23 Schon im Abschnitt »Von der Logik überhaupt« bezieht Kant die Logik auf die Grundthese des transzendentalen Idealismus. Da die »Spontaneität« des Verstandes keinen Gegenstand geben kann, befasst sich seine Tätigkeit mit der Anwendung des Denkens auf durch die sinnliche Anschauung gegebene Gegenstände.24 Diese »Anwendung« des Verstandes muss nach Regeln erfolgen, und diese Regeln sind im Gebiet der Logik thematisiert. Daraus folgt Kants Definition der Logik

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GW 21, 28: Es ist »schon ungeschikt zu sagen, daß die Logik von allem Inhalte abstrahire […]. Dann da das Denken und die Regeln des Denkens ihr Gegenstand seyn sollen, so hat sie ja unmittelbar daran ihren eigenthümlichen Inhalt«. Die Regeln des Denkens sind allerdings keine Materie der Erkenntnis im Sinne der extra-mentalen Gegebenheit der sinnlichen Anschauung. 20 Kant: KrV, B83/A58 f. 21 »[U]nser Verstand ist durch seine Vorstellungen weder die Ursache des Gegenstandes […] noch der Gegenstand die Ursache der Verstandesvorstellungen«. Brief Kants an Marcus Herz vom 21. Februar 1772 (AA X, S. 130). 22 Kant: KrV, B30/A15. 23 Ebd., B77/A52. 24 Ebd., B75/A51.

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als »Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt«.25 Dieser Sachverhalt weist auf den besonderen Charakter der transzendentalen Logik als einer besonderen Logik hin, die sich mit der Erkenntnis von Gegenständen befasst und somit grundsätzlich anders als die allgemeine Logik ist. Für Hegel dagegen macht die Tatsache, dass die Materie der Erkenntnis »unabhängig« vom Denken ist, die Unzulänglichkeit der transzendentalen Logik in der Erfüllung der Bedingungen von »wahrhafter Erkenntnis« deutlich. Genau in dieser Hinsicht erkennt Hegel keinen Unterschied zwischen allgemeiner und transzendentaler Logik, weil beide eines zusätzlichen Elements bedürfen, um dem notwendigen Gegenstandsbezug gerecht zu werden, der für die Wahrheit erforderlich ist und der doch jenseits ihrer Kompetenz bleibt (GW 21, 28). Unter dieser Hinsicht bieten sie beide (und nicht nur die allgemeine Logik, wie von Kant behauptet) nur eine »negative Bedingung« der Wahrheit.26 Sowohl für Kant als auch für Hegel geht es um die alte Frage des Pilatus: »Was ist Wahrheit?«27 Kants Behauptung bei der Unterscheidung zwischen allgemeiner und transzendentaler Logik ist, dass die Forderung nach einem allgemeinen und dennoch materiellen Kriterium der Wahrheit sich selbst widerspricht. Das allgemeine Kriterium der Wahrheit, indem es von jedem Gegenstand der Erkenntnis abstrahiert, bezeichnet die schiere Übereinstimmung des Verstandes mit seinen formalen Regeln, und kann nichts über seine Materie sagen, d. h. es ist kein Kriterium für die Wahrheit der Erkenntnis: »von der Wahrheit der Erkenntnis der Materie nach läßt sich kein allgemeines Kennzeichen verlangen, weil es in sich selbst widersprechend ist«.28 Das materielle Kriterium der Wahrheit, insofern es sich auf die Gegenstände der Erkenntnis in ihrer Besonderheit bezieht, bietet doch eine Bedingung für die Wahrheit der Erkenntnis, mit dem sich nur die transzendentale Logik befassen kann. Das ist allerdings kein allgemeines Kriterium der Wahrheit. Für Kant ist die materielle Bedingung der Wahrheit die Bedingung der möglichen Erfahrung. Bezeichnenderweise geht es nicht nur für Kant, sondern auch für Hegel in der Logik um die Wahrheit der Erkenntnis, insofern sie den Gegenstandsbezug des Denkens impliziert.29 In dieser Hinsicht richtet sich Hegels Logik in der Tat nach der transzendentalen Logik aus. Und dennoch weist die transzendentale Logik, während sie das notwendige Moment des Gegenstandsbezugs zu Recht in den Vordergrund rückt, auf die außerlogische Gegebenheit der sinnlichen Anschauung. Aus diesem Grund verweist die Neuheit von Kants Begriff der Wahrheit in Hegels Augen gleichzeitig auf seine unüberwindbare Grenze – weil »das Wesentliche der Wahrheit,

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Ebd., B77/A52. Siehe Pinder: Kants Begriff der Logik, S. 312 f. Kant: KrV, B84/A59. 27 Jeweils ebd., B82/A57 f.; GW 12, 5 f. und AA XXIV, S. 822 und 983. Siehe Baum: Wahrheit bei Kant und Hegel; Prauss: Zum Wahrheitsproblem bei Kant; Wagner, Hans: Zu Kants Auffassung bezüglich des Verhältnisses zwischen Formal- und Transzendentallogik. ›Kritik der reinen Vernunft‹ A57–64/ B82–88. In: Kant Studien 68 (1977), S. 71–76. 28 Kant: KrV, B84/A59. 29 Siehe Wagner: Zu Kants Auffassung, S. 75, der gegen Prauss (Zum Wahrheitsproblem bei Kant) argumentiert, welcher das Problem auf die »Frage nach dem Wesen der Wahrheit« verschiebt und auf dieser Grundlage behauptet, dass die allgemeine Logik nichts dazu sagen könne. 26

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der Inhalt, ausser ihr liege« (GW 21, 28) – und bleibt dem logischen Denken fremd.30 Und somit besteht die Aufgabe der neuen Logik darin, das wesentliche Moment der Wahrheit für das logische Denken zurückzufordern, nämlich die Objektivität, welche die formale Wahrheit als »reale Wahrheit« konstituiert (GW 21, 28). Nur unter dieser Bedingung kann die Abhängigkeit der Logik von der Anschauung beseitigt werden, ohne dass diese in eine formale allgemeine Logik umgewandelt wird, sondern indem die der transzendentalen Logik eigenen erkenntnistheoretischen Ansprüche beibehalten werden. Die Frage ist allerdings, ob die behauptete Kontinuität mit der transzendentalen Logik eigentlich mit der Art und Weise vereinbar ist, in der Hegel das Moment der Objektivität für das Denken beansprucht. Der Begriff wird für Hegel anschauend und spekulativ, seine Wahrheit gleichzeitig allgemein und materiell. Diese Umwandlung erfordert die Beseitigung der Grundthese des transzendentalen Idealismus, die Hegel hier als die Voraussetzung formuliert, »daß der Stoff des Erkennens, als eine fertige Welt ausserhalb dem Denken […] vorhanden, daß das Denken für sich leer sey, als eine Form äusserlich zu jener Materie hinzutrete, sich damit erfülle, erst daran einen Inhalt gewinne und dadurch ein reales Erkennen werde« (GW 21, 28). Hegel formuliert Kants Grundthese im Sinne von der »vorausgesetzten Trennung […] der Wahrheit und der Gewißheit« (GW 21, 28). Diese Formulierung deckt auf, warum Hegel Kants Transzendentalphilosophie auf eine Linie bringt mit dem in der Phänomenologie dargelegten Standpunkt des Bewusstseins – und offenbart damit die Notwendigkeit, beide innerhalb der spekulativen Wissenschaft zu überwinden. Aber sie erklärt auch, warum das Abhängigkeitsverhältnis, mit dem Kant Verstand und Sinnlichkeit in der Synthesis verbindet – tatsächlich aber ihre Trennung bestätigt –, sich in Hegels Augen leicht zu der Behauptung wandelt, dass das Reale, als Ding an sich, unerkennbar bleibt, bzw. dass die logischen Formen »keine Anwendung auf die Dinge an sich« haben (GW 21, 30). Freilich gibt es für Kant doch eine »Anwendung« der Kategorien auf die Dinge an sich, obwohl keine, die wahre Erkenntnis hervorbringen würde.31 Diese Anwendung ist ausgeschlossen nur unter der von der transzendentalen Logik angebotenen materiellen Bedingung der Wahrheit. Während für Kant dies der Fall ist, weil das Ding an sich kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung ist, beschränkt für Hegel schon das Vorgehen, welches die Materie der Sinnlichkeit ausserhalb des Begriffs (als Erscheinung) stellt, den wirklichen Wahrheitsgehalt des Begriffs und ist demzufolge gleichbedeutend mit dem Postulieren einer Realität, die für ihn undurchdringlich, weil von ihm unbestimmbar ist (das Ding an sich). Der einzige Weg, diese Beschränkung zu beseitigen, ist die Ablehnung der Behauptung, dass »der Stoff des Erkennens, als eine fertige Welt ausserhalb dem Denken« liegt. Das Denken sollte fähig gemacht werden, sich selbst einen Inhalt unabhängig von anderen Quellen zu geben und die Welt als seine Eigene zu beanspruchen. Damit gelangen wir zur These des

30 Als »seinem Anderen« (GW 21, 29). Demzufolge entspricht für Hegel das Kantische Problem der Synthese dem unmöglichen Versuch, das wiederzuvereinigen, was ursprünglich und grundsätzlich getrennt ist. 31 Das sieht Hegel dagegen sehr wohl in: Enz § 46 A (GW 20, 82).

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»objective[n] Gedanken[s]«, welcher nicht nur die »in der gewöhnlichen Logik« (Enz § 24, GW 20, 67) üblicherweise dargestellten Formen, sondern auch Kants Grundthese des transzendentalen Idealismus ersetzt. »Der Ausdruck von objectiven Gedanken«, erläutert Hegel, »bezeichnet die Wahrheit« als »[den] absolute[n] Gegenstand« der Philosophie. Er ist die Bezeichnung für die spekulative Wahrheit, die zum Denken in seiner schöpferischen Kraft gehört, und es ist die Antwort auf die logische »Frage um die Wahrheit und um die Erkenntniß derselben« (Enz § 25, GW 20, 68). Für Hegel drückt die Grundthese des transzendentalen Idealismus Kants »Angst vor dem Object« (GW 21, 35) aus, welche ihn dazu führt, die logischen Bestimmungen als leer und ohne »Materie« zu begreifen, wenn sie nicht auf die Anschauung bezogen werden. Die Kantische Trennung der Erkenntnisvermögen und ihr Verhältnis zur Wahrheit wiederholen die von der Phänomenologie bereitgestellte Trennung von Wahrheit und Gewissheit, Objekt und Subjekt. Im Gegensatz dazu ist die spekulative Logik der Standpunkt, wo »das Logische« »das Rein-Vernünftige« ist (GW 21, 35) – und nicht länger reiner, von der Objektivität getrennter Verstand; nicht mehr vom »Gegensatze des Bewußtseyns« (GW 21, 35, 46 f.) beeinflusstes Denken, sondern die Sphäre von Vernunft-Vernünftigem. Hegels Ablehnung des transzendentalen Idealismus führt ihn zu einer radikalen Neuformulierung der Natur der Vernunft, des Umfangs des Vernünftigen und der Kraft der Dialektik. Kants Einteilung der transzendentalen Logik in Analytik und Dialektik kann nicht mehr aufrechterhalten werden. In der Einleitung zur transzendentalen Logik gründet Kant diese Trennung zwar genau auf den formalen Charakter dieser Logik und auf ihre Abhängigkeit von der durch die Anschauung gegebenen Materie: Die transzendentale Analytik ist eine »Logik der Wahrheit«, die transzendentale Dialektik eine »Kritik des dialektischen Scheins«.32 Die Analytik enthält die formalen Grundsätze, denen keine Gegenstandserkenntnis widersprechen darf, ohne ihren Bezug zur Wahrheit zu verlieren. Aber wenn das Denken die Grundsätze des Verstandes aufrechterhält, und dennoch vorgibt, den Bezug auf die Anschauung entbehren zu können, indem es seine Unabhängigkeit von jener behauptet, dann überschreitet es die Grenzen der möglichen Erfahrung und gerät in Gefahr, »durch leere Vernünfteleien von den bloßen formalen Prinzipien des reinen Verstandes einen materialen Gebrauch zu machen«,33 indem es dadurch über Gegenstände urteilt, die uns nicht gegeben werden können. Den materialen Gebrauch von formalen Grundsätzen (und den dadurch erzeugten Schein) zu entdecken, ist eine Aufgabe, die nur eine transzendentale Logik lösen kann.34 Obwohl die in der Kantischen Dialektik dargestellten Verfahrensweisen 32

Kant: KrV, B87/A62; B88/A63. Ebd., B88/A63. 34 Kants Argumentation gegen Leibniz im Amphibolien-Kapitel führt genau auf diesen Punkt zurück. Kurz gesagt behauptet Kant, dass die Beziehungen, welche Dinge zueinander haben, nicht aus reinen formalen begrifflichen Bestimmungen abgeleitet werden können, weil sie von den Beziehungen abhängig sind, welche die Dinge zu dem einen oder dem anderen unserer Erkenntnisvermögen, d. h. zu Sinnlichkeit oder Verstand haben. Daraus folgt, dass nur eine transzendentale Reflexion (welche den Ursprung unserer Vorstellungen unter Berücksichtigung der Unterscheidung dieser zwei Vermögen erkennt) und keine reine logische Reflexion (welche jede Beziehung zwischen Dingen auf eine Beziehung 33

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der Vernunft dem ähnlich scheinen mögen, was Hegel in seiner Logik versucht, wenn er die Dimension »[des] Rein-Vernünftigen« in den Mittelpunkt stellt, so wird die Grundthese des transzendentalen Idealismus in Kants Dialektik nirgends preisgegeben. Für Kant bestätigt die Dialektik den transzendentalen Idealismus; für Hegel kann die Dialektik der spekulativen Vernunft nur unter der Bedingung beginnen, jenen aufzugeben. Die Beziehung zwischen der Hegelschen und der Kantischen Logik kann in den folgenden Aussagen zusammengefasst werden. Erstens behauptet Hegel, die »objective Logik […] würde zum Theil dem entsprechen, was bei ihm [Kant] die transscendentale Logik ist.« Es handelt sich um eine bedingte »Übereinstimmung«, die mit den zwei Unterschieden zusammenhängt, die Hegel, Kant paraphrasierend, zwischen allgemeiner und transzendentaler Logik feststellt, und zwar, dass Letztere: α. die Begriffe betrachte, die sich a priori auf Gegenstände beziehen, somit nicht von allem Inhalte der objectiven Erkenntniß abstrahire, […] und β. zugleich auf den Ursprung unserer Erkenntniß gehe, insofern sie nicht den Gegenstände zugeschrieben werden könne. (GW 21, 47) Die erste Bedingung nimmt Bezug auf Kants Logik als eine »besondere Logik«, die sich mit der Frage nach der Erkenntnis und der objektiven Wahrheit beschäftigt; Letztere befasst sich mit dem transzendentalen Charakter dieser Logik. Hegels »objektive Logik« pflichtet der ersten Bedingung bei, gibt aber die zweite auf. Die zweite Aussage legt fest, »[d]ie kritische Philosophie machte […] bereits die Metaphysik zur Logik« (GW 21, 35)35 – die transzendentale Logik ist das Ergebnis von Kants kritischer Umwandlung der Metaphysik. Dieses Zugeständnis ist auch bedingt: »[d]ie kritische Philosophie machte zwar bereits die Metaphysik zur Logik, aber […]« (Herv. von mir, A. N.) – was ihre Leistung begrenzt, ist Kants Bekenntnis zum transzendentalen Idealismus. In der Tat umfasst die Kritik das ganze Feld der traditionellen Metaphysik unter den Titel »transzendentale Logik«, soweit die Gegenstände der Metaphysik von dieser Logik kritisch und systematisch hervorgebracht werden. Demnach, in Anlehnung an die erste Aussage, kommt die zweite Aussage zu dem Schluss »[d]ie objective Logik tritt […] an die Stelle der vormaligen Metaphysik« (GW 21, 48). Hier sollte die Vermittlung durch die transzendentale Logik nicht übersehen werden: Die Metaphysik, auf die sich die spekulative Logik bezieht, ist die Metaphysik, die schon der kritischen Umwandlung in die transzendentale Logik unterzogen wurde. Dementsprechend legt Hegel seine objektive Logik als »die wahrhafte Kritik« dar (GW 21, 49). Die dritte Aussage nimmt an, zwischen intellektuellen Vorstellungen reduziert) Rechenschaft über die realen Bestimmungen der Dinge ablegen kann (ebd., B318/A262). 35 Interessanterweise trifft Hegels Beurteilung hier auf die eines Kommentators wie Tonelli (Tonelli, Giorgio: Kant’s Critique of Pure Reason within the Tradition of Modern Logic. In: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses 1974. Berlin/New York 1975, S. 186–191, hier: 186: die Kritik der reinen Vernunft ist »a treatise on Logic as much as on Metaphysics [ein Traktat ebensosehr über Logik als auch über Metaphysik]«); in einer ähnlichen historischen Richtung in noch jüngster Zeit siehe: Pozzo, Riccardo: Kant within the Tradition of Modern Logic: The Role of the ›Introduction: Idea of a Transcendental Logic‹. In: The Review of Metaphysics 52 (1998), S. 295–310.

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dass in Bezug auf die Betrachtung der logischen Formen »an und für sich«, ohne Bezug auf das (transzendentale oder phänomenologische) Subjekt oder auf metaphysischen Substrate, »[d]as einzige Interessante« in Kants Auffassung »in der Kritik der Ideen« vorkommt (GW 21, 48). Dieser wende ich mich jetzt zu.

II. Kants Ideal der reinen Vernunft und Hegels spekulativer Begriff Als Kant »das Ideal überhaupt« einführt, greift er die Bedingung auf, von der die transzendentale Logik in ihrem formalen Charakter abhängt: »reine Verstandesbegriffe« ohne die Bedingung der Sinnlichkeit stellen keine Gegenstände, sondern »die bloße Form des Denkens« vor. In Bezug auf die objektive Realität der Verstandesbegriffe, dürfen die Kategorien »in concreto dargestellt werden, wenn man sie auf Erscheinungen anwendet«.36 Im Gegensatz dazu dürfen die Vernunftideen in keiner Erscheinung in concreto dargestellt werden, weil sie »eine gewisse Vollständigkeit« implizieren, die keine empirische Erkenntnis erlangen kann. Das Ideal ist noch weiter entfernt von der objektiven Realität als die Idee. Kant legt das »Ideal« dar als »die Idee, nicht bloß in concreto, sondern in individuo, d. i., als ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares, oder gar bestimmtes Ding«.37 In Einklang mit der Dissertatio (1770) beruft sich Kant diesbezüglich auf Platon. »Was uns ein Ideal ist, war dem Plato eine Idee des göttlichen Verstandes, ein einzelner Gegenstand in der reinen Anschauung derselben«.38 Während die Gegenstände der Erfahrung durch die synthetische Tätigkeit von Anschauung und Begriff als Erscheinungen bestimmt werden, und während die Vernunftideen nur durch die Verstandesbegriffe bestimmt werden und keine Realität innerhalb einer möglichen Erfahrung haben, verdankt das Ideal seine Bestimmung nur den Vernunftideen; dadurch beansprucht es den schwierigen Status, gleichzeitig einzeln und allgemein, anschauend und begrifflich zu sein. Das wirkt wie ein Paradox – wenn nicht wie eine Unmöglichkeit – innerhalb des transzendentalen Rahmens. Aber Kant korrigiert diesen Eindruck schnell. Während die »schöpferische Kraft« der Platonischen Ideen als eine unhaltbare Annahme verworfen wird, bezeichnet die »praktische Kraft« des Ideals einen wahren Besitz der Vernunft.39 Kant sieht sehr wohl die unklare Stellung des Ideals zwischen diskursivem Begriff und sinnlicher Anschauung. Während das »Ideal der Vernunft« auf »bestimmten Begriffen« beruht, um wie eine bestimmte Regel zu wirken, bringt die Einbildungskraft ein »Ideal der Sinnlichkeit« vor, welches stattdessen unbestimmt und »schwebend« 36

Kant: KrV, B595/A567. Ebd., B596/A568. 38 Das Ideal wirkt als »Urbild« bzw. »Urgrund« von jedem möglichen, im Rahmen der Erscheinungen erstellten »Nachbild« (ebd., B596/A568 – Herv. v. mir, A.N.). Siehe: De mundi sensibilis, § 9. 39 In seiner praktischen Geltung zeigt das Ideal die Bedingung der »Möglichkeit der Vollkommenheit gewisser Handlungen«. In der praktischen Sphäre – und nur in dieser – ist das Ideal ein Modell, welches als Regel bzw. als moralisches Richtmaß für das schrittweise Streben des Einzelnen nach Vollkommenheit dient (KrV, B597/A569). 37

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»im Mittel« verschiedener Erfahrungen und widersprechender Bedeutungen ist. Das ist »das nicht erreichbare Muster möglicher empirischer Anschauungen«,40 welches nie eine allgemeine bestimmte Regel hervorbringen kann, weil die Bestimmung in ihm nie vollständig ist. Das Ziel der Vernunft in seinem Ideal ist stattdessen »die durchgängige Bestimmung nach Regeln a priori«. Das führt die Vernunft dazu, »einen Gegenstand […], der nach Prinzipien durchgängig bestimmbar sein soll«, zu denken, obwohl die hinreichenden Bedingungen der Erfahrung fehlen.41 Der Schlüssel, wodurch Kant das »Ideal überhaupt« innerhalb seiner Transzendentalphilosophie unterbringen kann, liegt wiederum in der Behauptung des transzendentalen Idealismus, wonach Begriff und Anschauung in ihrer Synthese a priori Erkenntnis hervorbringen, aber diese Erkenntnis auf eine Erfahrung einschränken, die nie durchgängig bestimmt ist. Die Synthese bestimmt die Gegenstände als Erscheinungen, nicht als Dinge an sich; sie ist die Bestimmung von gegebenen Gegenständen, und nicht ihre Schöpfung. Da die Vernunftideen und -ideale in concreto in der Anschauung nicht dargestellt werden können, wird kein Gegenstand der Erfahrung durch jene bestimmt. Dennoch folgt daraus nicht, dass Ideale entia rationis sind.42 Der Aufbau dieser Argumentation ändert sich notwendigerweise, wenn die Trennung zwischen einem geistigen und einem sinnlichen Vermögen aufgegeben wird und die schöpferische Einbildungskraft oder die intellektuelle Anschauung in den Mittelpunkt rückt. In solchem Rahmen bewährt sich Kants Ausschluss der »schöpferische[n] […] Kraft«43 der Ideen nicht mehr, da die Anschauung von keiner gegebenen Realität abhängig und nicht sinnlich ist, während der Begriff nicht mehr an und für sich »leer« ist. Ideen erzeugen unmittelbar ihren Gegenstand. Kants Unterscheidung zwischen dem Ideal der Vernunft und dem Ideal der Einbildungskraft wird ebenfalls aufgegeben. Sie werden zu einem kontinuierlichen Zustand, in dem das Ich sich selbst als »schwebend« zwischen einem Zustand der Unbestimmtheit bzw. Bestimmbarkeit und einem Zustand der Bestimmung findet. Somit wird das Ideal der Vernunft, sobald der transzendentale Idealismus aufgegeben wird, entscheidend, um den systematischen Ursprung vieler postkantianischer Stellungen zu verstehen. Das beste Beispiel liefert die Beziehung zwischen dem Kantischen Ideal und dem Hegelschen Programm der dialektisch-spekulativen Logik. In der Enzyklopädie behauptet Hegel, »die logischen Bestimmungen überhaupt können als […] die metaphysischen Definitionen Gottes angesehen werden« (Enz § 85, GW 20, 121). Hier geht es um die Entfaltung eines einzelnen logischen Prozesses, zu welchem sowohl das Unendliche als auch das Endliche gehören, und nicht um die Trennung zweier unterschiedlicher Bereiche wie in der Kantischen Dialektik. Diese Behauptung soll als Dynamisierung des Kantischen transzendentalen Ideals gelesen werden, welches das ontologische Argument der Metaphysik kritisch ersetzt. Eine solche Dynamisierung bringt den spekulativ-dialektischen Nachfolger des Kantischen Ideals hervor, 40

Ebd., B598/A570. Ebd., B599/A571. 42 Ebd., B597/A569: Kant warnt davor, dass die Ideale nicht als reine »Hirngespinste« betrachtet werden sollen; siehe auch ebd., B348/A292. 43 Ebd., B597/A569. 41

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indem sie die Versöhnung zwischen Verstand und Vernunft ermöglicht, welche nun die zwei Momente des dialektisch-spekulativen Prozesses – das Verständige und das Vernünftige – werden.44 In der Wissenschaft der Logik, insofern Hegel die Beziehung zwischen transzendentaler und spekulativer Logik näher ausführt, findet sich die berühmte Behauptung, der »Inhalt« der Logik sei »die Darstellung Gottes […], wie er in seinem ewigen Wesen […] ist«. Er führt diese Formulierung ein, um auszudrücken, dass sich die spekulative Logik voll und ganz in Kants Nachfolge einordnet, weil sie das Problem der transzendentalen Logik aufgreift, d. h. die Frage nach der »Materie«, die der Form des Denkens eigen ist. »Die Logik ist […] als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu fassen. Dieses Reich ist die Wahrheit« (GW 21, 34). Systematik impliziert nun Vollständigkeit; nicht nur eine mögliche Erfahrung, sondern eine »durchgängig bestimmte« Erfahrung. Hier ist der Bezug auf das Kantische Ideal angebracht, auf welchen Hegel in der »Zweiten Stellung des Gedankens zur Objektivität« eingeht. Im Mittelpunkt steht die von Kant abgelehnte Einheit von Begriff und Sein, welche die grundlegende Voraussetzung der Hegelschen Logik bildet, welche aber auch dafür verantwortlich ist, dass die transzendentale Logik eine Verstandeslogik bleibt und unfähig ist, zur spekulativen Vernunft zu gelangen. Dennoch erkennt Hegel im Ideal den Versuch einer wahren »Vereinigung« von Begriff und Sein (Enz §§ 49–51, GW 20, 86–92).45 Der Kern der Kantischen Kritik des ens realissimum liegt in der Darlegung des Zusammenbruchs zweier Grundsätze, welche streng getrennt gehalten werden müssen. Ihren Unterschied zu erkennen ist die spezifische Aufgabe der transzendentalen Logik in der Dialektik; die allgemeine Logik ist völlig blind für ihn.46 Es handelt sich um den logischen »Grundsatz der Bestimmbarkeit« von Begriffen und um den erkenntistheoretischen »Grundsatz der durchgängigen Bestimmung« von Dingen.47 Ihre Identifizierung ist verantwortlich für den im ontologischen Argument verborgenen Fehler. Es gibt aber noch eine zweite Dimension der Kantischen Argumentation, welche darin besteht, die »kritische« Funktion des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung deutlich zu machen, indem über die Erfahrung und ihre Grenze reflektiert wird. Dieser Gebrauch des Grundsatzes, welcher im Opus postumum eine herausragende Rolle spielen wird,48 zeigt die von Hegels Logik eingeschlagene Richtung auf. Während der »Grundsatz der Bestimmbarkeit« lediglich logisch und nur auf die Form der Begriffe bezogen ist, so ist dagegen der »Grundsatz der durchgängigen Be44

Siehe Enz §§ 79 ff., GW 21, 118 ff.; Nuzzo, Angelica: Das Problem eines ›Vorbegriffs‹ in Hegels spekulativer Logik. In: Der »Vorbegriff« zur Wissenschaft der Logik in der Enzyclopaedie von 1830. Hg. v. Alfred Denker und Annette Sell. Freiburg 2010, S. 84–113. 45 Siehe in noch jüngster Zeit: Asmuth, Christoph: Der Empirismus und die kritische Philosophie Kants. Zur zweiten ›Stellung des Gedankens zur Objektivität‹ im enzyklopädischen ›Vorbegriff‹ der spekulativen Logik. In: G. W. F. Hegel. Der ›Vorbegriff‹zur Wissenschaft der Logik in der Enzyklopaedie von 1830. Hg. v. Alfred Denker und Annette Sell. Freiburg 2010, S. 144–165. 46 Hier wiederholt Kant implizit die oben kurz skizzierte Argumentation der Amphibolie. 47 Kant: KrV, B599 f./A571 f. 48 Rohs, Peter: Kants Prinzip der durchgängigen Bestimmung alles Seienden. In: Kant Studien 69 (1978), S. 170–180, hier: 177 ff.

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stimmung« transzendental und betrifft »den Inhalt und nicht bloß die logische Form«, d. h. Dinge.49 Demzufolge beruht Letzterer nicht nur auf dem Satz vom Widerspruch, sondern setzt die »Idee von dem Inbegriffe aller Möglichkeit« bzw. »die Materie zu aller Möglichkeit« voraus.50 In welchem Sinn ist der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung transzendental? Seine (in der Anmerkung zur Amphibolie vorweggenommene) Stellung in der Dialektik macht deutlich, dass jener kein Grundsatz möglicher Erfahrung ist. Er ist vielmehr der Grundsatz einer vollständigen und systematischen Erfahrung, welche unter den Bedingungen des transzendentalen Idealismus unmöglich ist. Diese ist die ›Erfahrung‹, die ein hypothetischer anschauender Verstand machen würde: Wäre eine durchgängige Bestimmung für uns möglich, wäre die Totalität des Realen gegeben, und daraus wären die Erscheinungen ableitbar in ihrer Individualität. Die Aussage »alles Existierende ist durchgängig bestimmt« bedeutet nicht, dass von jedem Paar einander widersprechender Prädikate eines zum Subjekt gehören muss. Vielmehr nimmt sie den »Inbegriff aller möglichen Prädikate von Dingen an und vergleicht das Ding selbst mit jenem »transzendental«. Die Aussage bedeutet, »um ein Ding vollständig zu erkennen, muß man alles Mögliche erkennen, und es dadurch, es sei bejahend oder verneinend, bestimmen«. Indem die durchgängige Bestimmung die Totalität (des Möglichen) voraussetzt, kann sie nie in concreto dargestellt werden. Die Verwechslung der (intensionalen) Bestimmbarkeit des Begriffs mit der durchgängigen Bestimmung eines einzelnen Gegenstandes führt zum Ideal der Vernunft, und zwar zu dem »Begriff von einem einzelnen Gegenstande […], der durch die bloße Idee durchgängig bestimmt ist«.51 Kants polemisches Ziel ist die Leibnizsche Idee des Individuums als notio completa und die Beziehung zwischen diesem Begriff und der Existenz des Dings. Leibnizens Verwechslung zwischen Begriff und Existenz findet sich im ontologischen Argument wieder.52 Kant unterscheidet einen »logischen« oder bloß formalen und einen »transzendentalen« Gebrauch der Negation. Da die logische Negation nicht den Begriff, sondern die Beziehung von Begriffen in Urteilen anbelangt, bringt sie nie eine Bestimmung des Begriffsinhalts ein (sie lässt den Inhalt unbestimmt). Die transzendentale Negation dagegen »bedeutet […] das Nichtsein an sich selbst« genau so wie die Affirmation »Realität (Sachheit)« zeigt.53 Die Negation setzt die Realität voraus als »die Materie, oder den transzendentalen Inhalt, zu der Möglichkeit und durchgängigen Bestimmung aller Dinge«.54 Demnach setzt die durchgängige Bestimmung durch die Idee des Inbegriffs aller Möglichkeit letztendlich ein »transzendentales Substratum« voraus, d. h. die Idee der omnitudo realitatis; die Negation ist die »Einschränkung« der vorausgesetzten Totalität des Seins. Das führt zu dem metaphysischen Begriff des ens realissimum. 49

Kant: KrV, B600/A572. Siehe Longuenesse, Beatrice: Kant and the Human Standpoint. Cambridge 2001, S. 211–235; Grier, Michelle: Kant’s Doctrine of Transcendental Illusion. Cambridge 2001. 50 Kant: KrV, B601/A573. 51 ebd., B601/A573. 52 Siehe im Allgemeinen Henrich, Dieter: Der ontologische Gottesbeweis. Tübingen 1960, Teil II; mehr im Besonderen: Longuenesse: Kant and the Human Standpoint. 53 Kant: KrV, B602/A574. 54 Ebd., B603 f/A575 f.

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Was wir bei Hegel vorfinden, kann als eine ähnliche Bewegung von der Bestimmbarkeit des Begriffs zur durchgängigen Bestimmung des Realen erscheinen.55 Wie wir vorhin gesehen haben, macht sich Hegel Kants Berichtigung der allgemeinen Logik durch die transzendentale Logik zu Eigen, lehnt aber die Bedingung des transzendentalen Idealismus ab. Die Folge davon ist, dass Hegel die Unterscheidung zwischen Begriff und Realität aufgibt und den Begriff nach dem Modell der Anschauung denkt. Indem der spekulative Begriff durchgängig bestimmt und nicht unendlich bestimmbar ist, ist er allgemein und einzeln zugleich; er ist das »concrete Allgemeine«, das zudem in der Idee realisiert ist. Dementsprechend folgt Hegels Darstellung der logischen Bestimmungen nicht der diskursiven, rein formalen Bestimmbarkeit von Begriffen (ihrer Spezifikation), sondern der Bestimmung der realen Dinge. Denn nur Letzteres ist nach dem anschauenden Modell gedacht, wodurch die Totalität in ihren immanenten Teilen eingeschränkt ist und das durchgängig bestimmte Individuum hervorbringt. Nur in diesem anschauenden Modell funktioniert die Negation in der Tat durch »Einschränkung« der vorausgesetzten Totalität, in welcher die Teile dargestellt werden (und nicht unter welcher sie impliziert sind, wie im Fall der Begriffe).56 Während für Kant die zwei Grundsätze separat gehalten werden müssen, damit die Vernunft in keine unauflösbare Dialektik fällt, identifiziert Hegel jene Grundsätze, indem er den transzendentalen Idealismus ablehnt und somit Rechenschaft über die Art und Weise ablegt, in der seine spekulative Dialektik den Begriff und seine Bestimmung durch die »bestimmte Negation« auffasst. Für Hegel geht es in Kants »Anwendung der Kategorien auf das Unbedingte« (Enz § 46 A, GW 20, 82) um die Möglichkeit unserer Erkenntnis von unbedingten Gegenständen. »Erkennen«, erklärt Hegel, bedeute »einen Gegenstand nach seinem bestimmten Inhalte zu wissen«. Die Frage ist, wie das Unbedingte bestimmt werden kann. Sowohl im Falle von endlichen Gegenständen als auch im Falle des »Dings an sich« ist alle »Objektivität« dem Begriff fremd. Während im ersten Fall der Verstand gerechtfertigt ist, indem er sich auf die Anschauung beruft, so wird jedoch die Vernunft, wenn sie die Bestimmung des Dings an sich versucht, »überfliegend (transcendent)« (Enz § 46, GW 20, 82). Wie kann das Denken allein seine Gegenstände bestimmen – und insbesondere jenen »Vernunftgegenstand«, welcher Gott ist57 – ohne transzendent zu werden? »Für den Verstand«, antwortet Hegel, »[ist] alle Bestimmung nur eine Schranke, eine Negation«. Da der Verstand Negation und Affirmation getrennt hält, gilt folglich die ganze Realität, weil ihr die Bestimmung fehlt, als »schrankenlos« und bleibt vollständig »unbestimmt«. Als »Inbegriff aller Realitäten« wird Gott zu einer Abstraktion und auf reine Unbestimmtheit reduziert, in welcher jede Bestimmung fehlt, bis auf die 55

Denn indem er die Aussage vorbringt, »daß die Bestimmtheit Negation ist«, beruft sich Hegel auf Spinozas omnis determinatio est negatio, auf die Einheit von Denken und Ausdehnung der spinozistischen Substanz (GW 21, 101). 56 Siehe Kants drittes Raumargument (Kant: KrV, B39/A25), welches zeigt, dass der Raum kein diskursiver Begriff, sondern eine Anschauung a priori ist: Die Teile des allgemeinen Raums sind »Einschränkungen« des Ganzen und möglich nur »in ihm«. Siehe Kants Logik § 15, A. 57 Enz § 49, GW 20, 86: »Der dritte Vernunftgegenstand ist Gott; […] welcher erkannt, d. i. denkend bestimmt werden soll«.

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abstrakteste und unbestimmteste, nämlich: »Seyn« (Enz § 49, GW 20, 86 bzw. GW 21, 99 f.). Denn das kann genau wegen seiner Unbestimmtheit nicht verhindert werden. Die Aufgabe der Vernunft ist nun, die »Vereinigung« der zwei Seiten, und zwar der »abstrakten Identität« des Begriffs und der Abstraktion des Seins, zustande zu bringen. Eine solche Vereinigung ist in Hegels Wiedergabe Kants Ideal. Letztendlich kritisiert Hegel den ontologischen Beweis genau so wie Kant. Hegels Hauptkritik ist dennoch auf die Transzendentalphilosophie gerichtet und besteht darin, zu zeigen, dass die transzendentale Logik, trotz ihrer Beachtung des Inhalts, auf die gleiche Abstraktion der allgemeinen Logik, d. h. der Metaphysik, zurückfällt, indem sie bestreitet, dass das Denken seinen Gegenstand produktiv bestimmen kann. Im Ideal jedoch erzeugt die Vernunft ihren Gegenstand: Die Gegensätze der schieren Unbestimmtheit und der vollständigen Bestimmung treffen dialektisch aufeinander; der Begriff ist eins mit seiner Realität. Damit wird Kants Ideal auf spekulative Weise in seinen dialektischen Implikationen angeeignet. Kants Ideal geht vom »Abstractum des Denkens aus fort zur Bestimmung, für die nur das Seyn übrig bleibt« (Enz § 51, GW 20, 90). Bestimmung aus der reinen Abstraktion des Denkens heraus ist auch der Weg, welchen Hegels Logik in ihrem Anfang nimmt. Hier wird der »Inbegriff aller Realitäten« innerhalb des »Daseyn[s]« spekulativ übernommen (GW 21, 99). Für Hegel besteht Kants defätistische Schlussfolgerung darin, dass aus der Bestimmbarkeit des Begriffs die vollständige Bestimmung des Dings (Gottes) und somit seine Existenz nicht abgeleitet werden können. Hegels Schlussfolgerung ist im Gegensatz dazu, dass die Opposition zwischen der Abstraktheit des Denkens und der Bestimmtheit des Seins, welche von der transzendentalen Logik richtig erkannt wurde, wesentlich für die Bestimmungsbewegung des logischen Denkens ist. Das ist Hegels Kritik an der Leere der transzendentalen Logik. Kurz gesagt: Hegel entlarvt die Kantische Alternative zwischen dem völligen Zusammenbruch und der radikalen Trennung des Grundsatzes der Bestimmbarkeit des Begriffs und des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung der Dinge, und somit letztendlich zwischen der Metaphysik des ens realissimum und der Illusion einer vollständig bestimmten Erfahrung, als eine falsche Alternative. Die spekulative Logik stellt die Bewegung dar, die vom Einen zum Anderen (vom Sein zur absoluten Idee) kraft der zwischen ihnen herrschenden Spannung führt. Hegels Lösung des Problems der logischen Bestimmung besteht in der Identifizierung der zwei Grundsätze in der Struktur eines Selbstbestimmungsprozesses. Daraus folgen die Struktur des Begriffs und die Tätigkeit der bestimmten Negation als Schlüssel für die logische Entwicklung des »objectiven Gedanken[s]« (Enz § 25 A, GW 20, 68 f.) bis auf die vollständige und einzelne Totalität der absoluten Idee. Der spekulative Begriff ist anschauend und diskursiv zugleich (eine Unmöglichkeit sowohl für Kant als auch für die formale Logik). Er ist einzeln und allgemein auf einmal – indem Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit seine »Momente« sind.58 Der Begriff ist »absolute Form« (GW 12, 25) – Wahrheit als die Totalität und die Einheit von Form und Inhalt: Form, 58 Siehe GW 12, 32. Die dialektische Auffassung der Allgemeinheit als Moment des (einzelnen) Begriffs ersetzt die in der allgemeinen Logik geltende Auffassung der allgemeinen Begriffe.

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die sich selbst einen Inhalt gibt, Inhalt, der sich selbst formt. Der Prozess seiner logischen Bestimmung folgt dem Modell der durchgängigen Bestimmung, welches Kant einzelnen Dingen vorbehält und von Begriffen ausschließt. Logisch gesehen ist die Realität des Begriffs die systematische, durch seine progressive Bestimmung erreichte Totalität.59 Das begriffliche Allgemeine in seiner logischen Realisierung ist das Einfachste und »das reichste in sich selbst« (GW 12, 33) – es ist die einzelne Totalität der Kantischen Anschauung, welche die Diskursivität eines Vermittlungsprozesses beibehält. Die individualisierte Totalität des realisierten Begriffs ist die »absolute Idee«. Das Prinzip der »bestimmten Negation«, welches für den immanenten Fortschritt des logischen Bestimmungsprozesses verantwortlich ist, hebt die Dialektik Hegels in einzigartiger Weise von der allgemeinen und der transzendentalen Logik ab.60 Die Hegelsche Negation funktioniert wie die Kantische transzendentale Negation: Sie ist die »Einschränkung« einer Totalität von Inhalt, aus welchem seine (bestimmten) Teile erzeugt werden. Anders als die logische Negation Kants, welche Urteile betrifft, bezieht sich die dialektische Negation auf die Totalität des (einzelnen) Begriffs. Die Einschränkung, die sie erzeugt, ist gleichzeitig die Verallgemeinerung des Begriffs sowie seine Realisierung und Individualisierung: Sie bringt die umfassende Totalität des Allgemeinen hervor und entwickelt diese Totalität in ein konkretes Individuum. Die Negation ist nicht die abstrakte Auflösung ins Nichts; sie ist vielmehr Negation eines »besonderen Inhalts« (oder »die Negation der bestimmten Sache«) und somit »bestimmte Negation« (GW 21, 38). Die bestimmte Negation wirkt auf einen Begriff insoweit ein, als er bestimmt ist, und nicht insoweit er unbestimmt ist; sie ist die Negation einer Begriffsbestimmung, nicht die Bestimmung seiner unbestimmten (und somit bestimmbaren) Sphäre (wie Kant bezüglich des Grundsatzes der Bestimmbarkeit von Begriffe behauptet). Die bestimmte Negation ist die Negation der Einschränkung des Begriffes, womit die Totalität, zu welcher jener Begriff gehört, wiederhergestellt ist. Somit ist die dialektische Negation erstens Negation einer Negation; und zweitens ist sie die immanente Negation, welche aus der Einschränkung entsteht, die zu einem gewissen bestimmten Inhalt gehört. Es handelt sich nicht um die Handlung einer aeusserlichen Reflexion, welche in das eingreift, was an sich selbst lediglich bestimmbar ist. Für die transzendentale wie für die formale Logik ist die Bestimmung eines unbestimmten und somit bestimmbaren Begriff in Bezug auf das, was er nicht enthält, seine Spezifikation, welche einen Begriff hervorbringt, der intentional reicher, aber nicht extensional höher ist als der ursprünglicher Begriff. Hegels bestimmte Negation erlangt hingegen eine logische Form, die sowohl reicher als auch höher ist, einzelner und allgemeiner als die ursprüngliche. Hegels bestimmte Negation folgt offensichtlich nicht dem Grundsatz der Bestimmbarkeit, sondern dem der durchgängigen Bestimmung. In der »absolute[n] Idee« bringt der Bestimmungspro59 Eine solche Totalität als die verwirklichte »Realisierung« des Begriffs ist die Logik in ihrer ganzen Entfaltung. Diese Auffassung von Begriff erlaubt es Hegel, die Kantische transzendentale Deduktion der Verstandesbegriffe zu kritisieren und sie durch die immanente Entwicklung der Begriffslogik zu ersetzen (GW 12, 20 ff.). 60 Hegel stellt jenes vor als »[d]as Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen« (GW 21, 38).

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zess die Individualität der »Persönlichkeit« und die umfassendste Allgemeinheit »alle[r] Wahrheit« hervor (GW 12, 236). In der absoluten Idee haben wir den realisierten, dialektisch-spekulativen Nachfolger des Kantischen Ideals der reinen Vernunft vor uns. Zum Abschluss: Mein Ziel war es, zu zeigen, wie die zentrale Idee der Hegelschen Logik, und zwar der Gedanke des logischen Selbstbestimmungsprozesses des Begriffs, von der äußersten Unbestimmtheit (und ersten Bestimmung) des Seins bis zur durchgängig bestimmten absoluten Idee, nachvollzogen werden kann in Anlehnung an Hegels Beurteilung der transzendentalen Logik Kants in ihrem Unterschied zur allgemeinen Logik. Hegel macht sich das Programm der transzendentalen Logik zu Eigen, lässt aber seine grundlegende Bedingung, d. h. den transzendentalen Idealismus, fallen. Die Folge ist, dass sich der Begriff nach dem Modell des Kantischen anschauenden Verstandes verhält, in welchem der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung für Begriffe gültig ist, indem er ihre durchgängig bestimmte Realität betrifft (und somit die Möglichkeit einer durchgängig bestimmten Erfahrung bestätigt). Auf der Grundlage dieses Modells wird die begriffliche Diskursivität nicht mehr gegen die real bestimmende Kraft der Anschauung gesetzt; die Allgemeinheit des Begriffs ist nicht mehr getrennt von der Einzelheit der Anschauung. Die Umwandlung, welche die transzendentale Logik dabei erfährt, ist radikal, weil sie sich mit dem Prinzip auseinandersetzt, auf dem die Kantische Transzendentalphilosophie beruht. Und somit sind die zwei Disziplinen letztendlich unvereinbar, trotz Hegels Beharren auf der Kontinuität, welche seine spekulative Logik mit der transzendentalen Logik angeblich behält. (Aus dem Amerikanischen von Giulia Pontefisso)

Hegels Jenaer Auseinandersetzung mit der Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori Kai-Uwe Hoffmann

Auch wenn Hegel am 20. Mai 1808 in Bamberg an Niethammer schreibt, dass er »in Jena zur Logik kaum den Grund gelegt« hat,1 lässt dies keineswegs den Schluss zu, dass die Jenaer Logik keine oder eine vernachlässigbare Bedeutung für die Entwicklung des Logik-Programms hat. Im Gegenteil sollte in einem Band, der aus dem Anlass des Jubiläums der Wissenschaft der Logik erscheint, auch wenigstens etwas über die ersten systematischen Schritte, die Hegel auf diesem Gebiet gemacht hat, gesagt werden. Dieser Forderung möchte ich im Folgenden nachkommen und die Entwicklung der frühen Logik unter einer ganz bestimmten Fragestellung beleuchten, die in dieser Form auf Kant zurückzuführen ist. Kant geht in den Prolegomena von der Prämisse aus, dass die Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori eine fundamentale Bedeutung für die Konzipierung der Metaphysik hat.2 Eine vollständige Auflösung könne nur im Rahmen einer der Metaphysik vorausgehenden Transzendentalphilosophie gewährleistet werden, verspricht Kant. Spricht man dieser Prämisse im Rahmen der Realisierung eines solchen Projekts eine gewisse Gültigkeit zu, dann kommt man nicht umhin, sich zu der Weise der Kantischen Ausführung zu äußern. Hegel hat dies mehrfach in seinen Jenaer Schriften getan, explizit beispielsweise in der von Troxler nachgeschriebenen Vorlesung über Logik und Metaphysik3 sowie in Glauben und Wissen (GW 4, 315–414), wo es ihm u. a. um den Nachweis geht, dass die Konstitution von Urteilen dieser Art bereits auf Aspekte des so genannten vernünftigen Denkens verweist. Auf der Grundlage dieser Prämisse beansprucht Hegel, einem Kant attestierten Problem beikommen zu können, welches darin bestehen soll, dass die gegebenen subjektiven Leistungen nicht vollständig das auszuweisen in der Lage sind, was als objektive Welt bestimmt wird. Mit Problemen, die im Kontext der synthetischen Urteile a priori angesiedelt sind, setzt sich Hegel bereits in der Differenzschrift (GW 4, 1–92) auseinander. Hierzu gehört vor allem die Klärung der Frage, unter welchen Bedingungen eine Übereinstimmung dessen, was unter anderem als ein Verhältnis von Vernunft und Natur bezeichnet wird, beansprucht werden kann. Schon in der Differenzschrift wird diesbezüglich gegen Kant das Argument der Unterbestimmtheit in Stellung gebracht. An Fichtes Konzeption wird hingegen vor diesem Kontext moniert, dass diese den subjektiven Leistungen zu viel zumutet und zugleich nicht in der 1

Hoffmeister, Johannes (Hg.): Briefe von und an Hegel. Bd. 1. Hamburg 1961, S. 230. Vgl. Kant, Immanuel: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik. Hg. v. K. Vorländer. Hamburg7 1993, S. 26. 3 Düsing, Klaus (Hg.): Schellings und Hegels erste absolute Metaphysik (1801–1802). Zusammenfassende Vorlesungsmitschriften von I.P.V. Troxler. Köln 1988, S. 72. 2

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Lage ist, die erhobenen Ansprüche systematisch rechtfertigen zu können. Hegel examiniert zudem in kritischer Manier kausale Erklärungsstrategien, was gewisse substanztheoretische Überlegungen einschließt. In den Jenaer Systementwürfen II4 meint Hegel solche Probleme innerhalb einer Logikkonzeption derart lösen zu können, dass Verhältnisse des Seins und Denkens in Anschlag gebracht werden, die so miteinander in Beziehung zu setzen sind, dass substanztheoretische Überlegungen unmittelbare Implikationen für die Begriffs- und Urteilstheorie erzielen und kausale Erklärungsstrategien systematisch eingefangen werden.

I. Die Differenzschrift Wenn man die Mindestanforderung akzeptiert, dass Kants Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori etwas mit der Konstellation zwischen Verstandesbegriffen und Anschauungsformen im engeren Sinne und mit dem Verhältnis von Transzendentalphilosophie und Naturwissenschaft5 im weiten Sinne zu tun hat, dann wird man nicht leugnen können, dass Hegel sich in der Differenzschrift mit dieser Problematik auseinandersetzt, wenngleich auf eine von der Kantischen Vorgabe zu unterscheidende Weise. Ich möchte zunächst Hegels Standpunkt der Kritik bestimmen und aufzeigen, welche Gründe für ihn ausschlaggebend dafür waren, behaupten zu können, dass spezifische Projekte nicht den Anspruch zu erheben berechtigt sind, die Frage auf eine befriedigende Weise beantwortet zu haben. Hegel bringt seine Unzufriedenheit mit dem Kantischen Projekt bereits in der Vorrede zum Ausdruck, was letztendlich in dem Argument der Unterbestimmtheit mündet. Das Argument ist folgendermaßen aufgebaut: (1) Kant wird unterstellt, dass im Prinzip der Kategoriendeduktion der Kritik der reinen Vernunft die Grundstruktur der von Hegel favorisierten SubjektObjekt-Identität angelegt ist. (2) Kant sei jedoch im Rahmen der Deduktion nicht in der Lage, dieses Prinzip durchzuhalten, einerseits weil kategoriale Formen und Anschauungen von Anfang an in zwei verschiedenen Untersuchungsgebieten verhandelt werden und andererseits auf Grund der Einschränkung objektiv gültiger Urteile auf den Bereich der Erscheinungen. (3) Die Herstellung der Beziehung von Anschauungen und kategorialen Formen interpretiert Hegel als Produktion einer Identitätsbeziehung zwischen Subjekt und Objekt, die bereits in (1) in Anschlag gebracht wurde. (4) Dadurch entsteht aus Hegels Perspektive das zentrale Problem, dass objektive Bestimmungen nur durch die eingeschränkte Anzahl gegebener kategorialer Formen entwickelt werden können. (5) Dies hat wiederum zur Folge, dass eine Diskrepanz zwischen eben diesen Bestimmungen und dem besteht, was als »ungeheures empirisches Reich der Sinnlichkeit und Wahrnehmung« (GW 4, 6) bezeichnet wird, denn auf der Grundlage solcher apriorischen Bestimmungen sei es unmöglich, das mannigfaltig Gegebene vollständig zu bestimmen. (6) Dass die Kantischen Festlegungen nicht ganz unproblematisch sind, lasse 4 5

Hegel, G.W.F.: Logik, Metaphysik, Naturphilosophie (im Folgenden kurz: LMN). In: GW 7. Vgl. Kant: Prolegomena, S. 49 ff.

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sich für Hegel zudem daran ablesen, dass er in der Kritik der Urteilskraft das Argument der reflektierenden Urteilskraft in Anschlag bringt, was aber für Hegel wiederum keinen entscheidenden Beitrag leistet, weil Kant auf dem subjektiven Status der Maxime bestehe. Die »Vernunft«, so das Fazit, ist auf diese Weise nicht »in eine Übereinstimmung mit der Natur gesetzt« (GW 4, 8). Eine nicht minder starke, jedoch weitaus elaboriertere Zurückweisung erfährt Fichtes Ansatz, der mit dem dritten Grundsatz der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre seine Strategie bezüglich der Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori als »Synthesis zwischen den entgegengesetzten Ich und Nicht-Ich, vermittelst der gesetzten Teilbarkeit beider«6 in Stellung bringt. Hegels die Problematik des dritten Grundsatzes und den daraus resultierenden Schwierigkeiten betreffender kritischer Argumentationsgang verläuft nach folgendem Muster: (1) Der Anspruch des dritten Grundsatzes sei hinfällig, da die gesuchte ursprüngliche Identität auf diese Weise nicht herstellbar sei. Dies deshalb, weil die in diesem Grundsatz ausgemachte Synthese ebenfalls nicht der Maßgabe der Vollständigkeit gerecht werde. Eine Synthese von reinem und empirischem Ich, so Hegel, sei auf diese Weise nicht möglich und der erhobene Anspruch bleibt ungerechtfertigt. Diese Schwierigkeit kann weder (a) mit der theoretischen noch (b) mit der praktischen Wissenschaftslehre gehoben werden. Die Behauptung der Unzulänglichkeit von (a) wird damit gerechtfertigt, dass Objekte nicht aus dem reinen Bewusstsein begründet werden können. Grund hierfür ist Fichtes Theorie des Anstoßes, durch welche die Intelligenz als bedingt ausgewiesen und mithin eine vollständige Deduktion der objektiven Welt aus dem reinen Bewusstsein verhindert wird. Auch der Verweis auf (b) ist diesbezüglich unfruchtbar. Statt eine Synthese von Subjekt und Objekt herbeizuführen, fällt Fichtes Lösungsvorschlag, der sich auf eine Forderung bzw. ein Sollen beruft, dem Argument der Iteration zum Opfer, was schließlich die Einlösung der Anforderung der systematischen Geschlossenheit verhindert. (2) An diesem Ort setzt die Kritik am Kausalitätsverhältnis ein. Dieses ist genau dann problematisch, wenn eine Position vertreten wird, die, so Hegel, eine Vernichtung der objektiven Welt impliziert, d. h. wenn »das Objekt ein absolut vom Ich bestimmtes also = Ich wäre« (GW 4, 45) und die Erscheinung zu einem Untergeordneten oder mit anderen Worten zu einem »Bottmäßigem« (GW 4, 33) degradiert werde. Dies verhindert die Möglichkeit einer wahren Synthese zwischen reinem und empirischem Ich, weil es zu einer Art Überforderung jener dem Bereich der Intelligenz zugeschriebenen Leistungen komme. Dem Versuch, das, was als Erscheinung in Anschlag gebracht wird, ausschließlich unter Maßgabe subjektiver Leistungen zu bestimmen, wird unterstellt, eine zweite, ebenfalls notwendige Perspektive zu ignorieren, denn es werde die Möglichkeit ausgeblendet, die Subjekt-Objekt-Identität nicht nur als subjektives sondern auch als objektives Subjekt-Objekt-Verhältnis zu interpretieren, womit nicht mehr gemeint ist als die Notwendigkeit, konzeptuelle Ressourcen der Naturphilosophie zum Einsatz zu bringen. (3) Bezüglich der Kritik der Fichteschen Deduktion der Natur, die im Kontext dieser Problematik angesiedelt ist, greift Hegel auf ein ähnliches Argumen6

Fichte, J.G.: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794). Hamburg 1997, S. 34.

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tationsmuster zurück, und zwar (I) mit Bezug auf Fichtes System der Sittenlehre und (II) in Hinblick auf dessen Grundlage des Naturrechts. (I) Hinsichtlich der Sittenlehre diskutiert Hegel zwei Weisen der Vermittlung von Natur und Freiheit (Intelligenz): (i) Die transzendentale Perspektive, die ein Substantialitäts- bzw. ein Wechselverhältnis ausmacht, ermöglicht eine Synthese auf Grund der Festlegung eines Urtriebes. Die problematische Perspektive (ii) stellt eine Form der Vermittlung dar, die den ins Bewusstsein gehobenen Naturtrieb unter die Gewalt des reflektierenden Subjekts unterordnet, insofern dem Naturtrieb auf subjektiver Ebene keine Wirkmächtigkeit zugesprochen wird, was wiederum zu einem Verhältnis der Botmäßigkeit, also zu einer einseitig unterordnenden kausalen Beziehung führt. Dies motiviert Hegel zu dem Schluss: »Die Natur ist hiermit sowohl in theoretischer als in praktischer Rüksicht ein wesentlich bestimmtes und todtes.« (GW 4, 50) und Fichtes Vernunftbegriff wird degradiert zu einer »todte[n] und tödtende[n] Regel formaler Einheit« (GW 4, 52 f.). Eine Steigerung erfährt die Kritik in der Einschätzung von (II), denn hier zeige sich »die Herrschaft der Reflexion in ihrer ganzen Härte« (GW 4, 53), vorwiegend deshalb, weil die Natur nach einem atomistischen Interpretationsschema ausgelegt wird und eine einseitige Abhängigkeit von den konzeptuellen Ressourcen der subjektiven Intelligenz zu verzeichnen ist, ohne Rekurs auf die entsprechenden naturphilosophischen Bestimmungen. Hegel moniert zusammengefasst Fichtes Lösungsstrategie deshalb, weil er den Leistungen des reinen Ich zu viel zumutet und diesen Anspruch zugleich nicht einlösen kann, da er Theorien ins Spiel bringt, die eine vollständige Begründung aus dem reinen Ich eigentlich verhindern. Auch hiermit ist das Projekt der Herstellung einer Übereinstimmung zwischen Vernunft und Natur vereitelt. Hegels Gegenentwurf ist zu komplex, um ihn hier in allen Details vorstellen zu können. Für das vorliegende Unternehmen genügt es, die Antworten auf das Problem der Unterbestimmtheit und das der Überforderung subjektiver Leistungen, welche wiederum mit den Schwierigkeiten, die im Kontext der Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori auftauchen, in Verbindung stehen, ausfindig zu machen. Wenn nun weder die durch das Kantische Projekt noch durch die von Fichte gelieferten Ressourcen und Erklärungsstrategien genügen, um das im Rahmen eines philosophischen Unternehmens realisieren zu können, was als Subjekt-Objekt-Identität zum Ausdruck gebracht wird, dann kommen wir auf der einen Seite nicht umhin, uns über bestimmte eingenommenen Standpunkte zu verständigen, die dafür die Verantwortung tragen, dass eine Übereinstimmung von Vernunft und Natur nicht beansprucht werden kann, und auf der anderen Seite gilt es, Auskunft darüber zu erteilen, welche systematischen Ansprüche in Anschlag zu bringen sind, so die grundlegenden Thesen Hegels. Bezüglich der Standpunktfrage geht Hegel von zwei Positionen aus, nämlich die der Freiheit und die der Notwendigkeit. Der Standpunkt der Freiheit wird dabei identifiziert mit dem auf der Basis reflexionslogischer Mittel operierenden Wissen, welches den Gegenstandsbereich des Seins auf der Grundlage kategorialer Formen schematisiert, so Hegels Sprachgebrauch. Den Standpunkt der Notwendigkeit, auch bezeichnet als Standpunkt des Seins, nimmt man hingegen ein, wenn man sich auf eine Theorie der transzendentalen Anschauung beruft, die insofern über die Konzeption der empi-

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rischen Anschauung hinausgeht, als behauptet wird, dass eine Trennung von Subjekt und Objekt durch einen Prozess des Bewusstmachens der Identität beider als überwunden gelten kann. Hierbei geht es näher betrachtet um das, was als die Anschauung einer bestimmten als bewusstlos ausgezeichneten Tätigkeit (der Natur) festgesetzt wird. Diese Perspektive führt zu einer Schematisierung der subjektiven Leistungen. Derjenige, der lediglich eine dieser beiden Perspektiven einnimmt, macht sich der Verpflichtung auf ein Dualismen produzierendes Verstandesdenken schuldig. Hegel meint dieses Problem durch eine Theorie des transzendentalen Wissens auflösen zu können, wobei die Intention darin besteht, jene Standpunkte der Freiheit und der Notwendigkeit zu vereinen bzw. als zwei Seiten des Wissens aufzufassen: »Im philosophischen Wissen ist das Angeschaute eine Thätigkeit der Intelligenz und der Natur, des Bewußtseyn und des Bewußtlosen zugleich« (GW 4, 28). Die Theorie des transzendentalen Wissen ist zugleich an fundamentale systematische Ansprüche gebunden, denn das sowohl bei Kant als auch bei Fichte ausgemachte Prinzip der Subjekt-Objekt-Identität führt genau dann zu den genannten Schwierigkeiten, wenn es nicht systematisch ausbuchstabiert wird. Es ist demzufolge eine Wissenschaft zu generieren, welche die ursprünglich angelegte Identität konsequent systemimmanent durchhält und dabei in der Lage ist, den Anspruch legitimieren zu können, dass Strukturen des reflexiven Wissens und der transzendentalen Anschauung derart organisiert werden, dass eine Identität, als Identität bewusster und bewusstloser Aktivitäten, nachgewiesen werden kann. Um ein solches Projekt realisieren zu können, müssen wenigstens folgende Anforderungen in Betracht gezogen werden: (1) Das Identitätsprinzip, das zugleich mit dem Terminus Vernunft in einer bestimmten Weise identifiziert wird, muss zunächst einmal freigelegt werden. (2) Das freigelegte Prinzip ist Garant für einen notwendigen und objektiven Zusammenhang der Komponenten des philosophischen Systems. Dies dadurch, dass die Konstruktion des Systems aus dem Prinzip als Selbstproduktion der Vernunft generiert wird. (3) Hegel meint in der Differenzschrift behaupten zu können, dass, wenn ein System allein aus den durch die Vernunft bereitgestellten Ressourcen entwickelt wird, Formen der unvollständigen Verankerung des Verhältnisses von jenen dem subjektiven Denken und jenen dem Seinsbereich zugewiesenen Bestimmungen in legitimierter Weise als überwunden gelten können, womit letztendlich auch ein Mittel an die Hand gegeben ist, um kausale Erklärungsstrategien, die aus Hegels Sicht zu einer problematischen Unterordnung eines Gegenstandsbereichs führen, zurückzuweisen. (4) Nicht zu übersehen ist, dass Hegel in der Differenzschrift eine Lesart von Spinozas Substanzkonzeption für ziemlich attraktiv hält, welche die als Entgegensetzungen interpretierten Begriffspaare Ursache-Wirkung bzw. Begriff-Sein auf der Basis einer antinomisch konzipierten Philosophie als Vereinigte betrachtet. (5) Eine Stelle aus dem Schelling-Teil gibt zudem Auskunft darüber, welche Funktion dem Substanzbegriff zugedacht wird: »in der Transzendentalphilosophie ist das Subjekt als Intelligenz die absolute Substanz, und die Natur ist Objekt, ein Akzidens, in der Naturphilosophie ist die Natur die absolute Substanz, und das Subjekt, die Intelligenz, nur ein Akzidens.« (GW 4, 68) Hegel rückt in Glauben und Wissen von dieser Konzeption in gewisser Weise ab, hält jedoch an dem grundlegenden Gedanken fest, dass der Substanzbegriff eine wichtige Stellung

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im Kontext der Bestimmung der Beziehung von subjektiven Leistungen und objektiver Welt haben sollte. II. Glauben und Wissen In Glauben und Wissen geht Hegel explizit der Problematik der synthetischen Urteile a priori auf den Grund. Hier liefert er folgende, dem ersten Anschein nach relativ unspektakuläre Antwort auf die Frage, worin der argumentative Kern bezüglich dieser Urteilsformen bestehen soll: »Dieses Problem drückt nichts anders aus, als die Idee, daß in dem synthetischen Urtheil Subject und Prädicat, jenes das Besondere, dieses das Allgemeine, jenes in der Form des Seyns, dieß in der Form des Denkens, – dies ungleichartige zugleich a priori, d. h. absolut identisch ist.« (GW 4, 327) Die strukturell ungleichartigen Untersuchungsgegenstände, von denen hier die Rede ist, werden demnach repräsentiert durch eine Perspektive der Seinsformen, in welcher dem Subjektbegriff eine etablierte Funktion zukommt, und durch eine Perspektive der Denkformen, in der Prädikate eine entscheidende Rolle innehaben. Mit der Bestimmung des Subjekts als Repräsentant der Seinsform und des Prädikats als Repräsentant der Denkform scheint Hegel auf Kants Bestimmung des Urteils als »mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes, mithin als Vorstellung einer Vorstellung«7 zu rekurrieren. Der weitere Verlauf des Kantischen Argumentationsgangs ist in dieser Hinsicht ziemlich aufschlussreich: In jedem Urteil gibt es einen Begriff, unter welchen viele Vorstellungen subsumiert sind, auf welche sich das Prädikat bezieht. Unter diesen vielen Vorstellungen, so Kant weiter, gibt es eine, welche »auf den Gegenstand unmittelbar bezogen wird«.8 Diese Beziehung wird veranschaulicht an dem Urteil Alle Körper sind veränderlich. Kant behauptet nun, dass der Subjektbegriff in diesem Urteil sich auf »gewisse uns vorkommende Erscheinungen« bzw. Anschauungen bezieht und der Gegenstand durch das Prädikat nicht unmittelbar sondern »mittelbar vorgestellt«9 wird. Es wird sich unschwer leugnen lassen, dass Kant damit durchaus Anlass zu einer Vielzahl von Interpretationen liefert. Wie gelangt Hegel nun aber zu seiner Lesart und mithin zur Unterscheidung von Seins- und Denkformen? In einer einschlägigen Stelle des Abschnitts Von der Logik überhaupt bestimmt Kant die Anschauung als etwas, das die »Form, unter welcher etwas angeschaut wird« enthält. Der reine Begriff hingegen beinhaltet »die Form des Denkens eines Gegenstandes überhaupt«.10 Hegel legt den Kantischen Ansatz folgendermaßen aus. Wenn man wie Kant eine empirische statt wie gefordert eine Dualismen überwindende intellektuelle Anschauungsperspektive einnimmt, dann verpflichtet man sich auf eben diese problematischen Formen des Denkens und des Anschauens, die beide wiederum als Anschauungsformen ausgewiesen werden, und zwar als »Identität des Denkens« und als »Identität des Seyns, als Anschauung der Zeit und des Raumes« (GW 4, 327). Hegel erhebt

7 8 9 10

Kant: KrV, B 93. Ebd., B 93. Ebd. Ebd., B 75.

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demnach den Anspruch, dass sich das Problem der strukturellen Ungleichartigkeit der thematisierten Gegenstandsbereiche durch einen Rekurs auf Formen der Anschauungen lösen lasse. Betrachtet man Hegels Äußerungen zur Möglichkeit synthetischer Urteile a priori in Glauben und Wissen, dann wird schnell deutlich, dass er eine Zusatzannahme einer absoluten ursprünglichen Identität einführt, um die Kant unterstellte Unfähigkeit zu einer vollständigen Synthese von Subjekt und Prädikat überwinden zu können. Zudem werden die beiden Urteilskonstituenten interpretiert als Erscheinungsformen der Selbstbesonderung dieser ursprünglichen Identität, welche einer Darstellung bzw. Realisierung bedarf. Dieser Realisierungsprozess fällt jedoch nicht in den Urteilsbereich, sondern kommt im Kontext einer Schlusslogik zur Geltung. Hegel anerkennt damit die nicht zu unterschätzende Leistungsfähigkeit der Urteils- und Schlusslogik für die Lösung der Grundfrage nach den Möglichkeitsbedingungen von Philosophie als Wissenschaft. Er bringt noch ein weiteres Argument in Stellung, insofern er behauptet, dass die soeben angedeuteten Bestimmungen bereits in der Kantischen Philosophie angelegt seien, jedoch dort keine adäquate Umsetzung erfahren würden, wofür u. a. eine für die vorliegende Untersuchung zentrale These zum Einsatz gebracht wird: »der kritische Idealismus bestände demnach in Nichts als in dem formalen Wissen, daß Subject und Dinge, oder das Nicht Ich jedes für sich existiren, das Ich des: Ich denke, und das Ding an sich, nicht als ob jedes von ihnen Substanz, das eine als Seelending, das andere als objectives Ding gesetzt wäre« (GW 4, 331). Entscheidend für die terminologisch durch Fichte geprägte Argumentation ist, dass die Perspektiven der Seins- und der Denkformen in dem kritisierten Projekt nicht systematisch ineinander übergreifen. Die Isolierung beider Untersuchungsbereiche ist ferner darauf zurückzuführen, dass der vorliegende Identitätsanspruch nur partiell, d. h. in diesem Fall auf formeller Ebene eingelöst wird. Dies erfordert nach Hegel eine Lesart wonach dem Ding an sich einige Bestimmungen durch das Subjekt beigelegt werden, wodurch es als Objekt ausgezeichnet werden kann. Diese defizitäre Form der Identitätsproduktion ist deshalb als ein Kausalzusammenhang auszuweisen, weil das Subjekt die Mittel zur Bestimmung des Objektes bereitstellt. Hier greift das Argument der Unterbestimmtheit, das bereits in der Differenzschrift zur Geltung kam, und eng mit dem Argument der strukturellen Ungleichartigkeit verknüpft ist. Eine weitere Inkonsequenz, die Hegel in der defizitären auch gleichfalls als psychologischen Idealismus ausgezeichneten Wissenschaftsform ausmacht, liegt nicht zuletzt darin begründet, dass nicht eindeutig festgelegt wird, in welchen Gegenstandsbereich kategoriale Sachverhalte einzuordnen sind, denn sie werden einmal als ein »Verhältniß meines Denkens, das andremal als Verhältniß der Dinge gesetzt«. Erschwert wird dieser Mangel an Bestimmtheit dadurch, dass die auf beiden Seiten vorliegenden Verhältnisstrukturen in diesem Kontext lediglich als verschiedene Perspektiven der subjektiven Betrachtungsweise zur Geltung kommen. Wenn die Erkenntnis der Mannigfaltigkeit ausschließlich subjektiv-kategorial verfasst ist, dann kann daraus wiederum nur der Schluss gezogen werden, dass »die Objectivität der Kategorieen in der Erfahrung, und die Nothwendigkeit dieser Verhältnisse, selbst wieder etwas zufälliges« (GW 4, 332) sind. Will man jedoch der Identitätsforderung nicht nur formal gerecht werden, so ist eine Evaluation der kategorialen Formen unerlässlich, die Urteilsformen sind auf ihr

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vernünftiges Potential hin zu überprüfen, es ist die gemeinsame Wurzel von Anschauungs- und Denkformen ausfindig zu machen und es ist nachzuweisen, dass sowohl die Konstitution des Subjekts als auch die des Objekts in irgendeiner Weise auf eine Substanztheorie rekurrieren, so Hegels Gegenentwurf zum psychologischen Idealismus. Sieht man einmal von terminologischen Verschiebungen und argumentationslogischen Veränderungen ab, ist nicht zu übersehen, dass auch in der Logik der Jenaer Systementwürfen II der Klärung der Frage besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, auf welche Weise Seins- und Denkformen miteinander in Beziehung gesetzt werden können, ohne auf substanztheoretische Überlegungen verzichten zu müssen.

III. Die Jenaer Systementwürfe II Eine vollständige Untersuchung der Weise, wie Hegel in den Jenaer Systementwürfen II solche Probleme in den Griff zu bekommen meint, die mit der Frage nach der Konstitution synthetischer Urteile a priori in Glauben und Wissen im Zusammenhang stehen, würde eine Untersuchung der Schlusslogik, des Proportionskapitels und der Metaphysikkonzeption verlangen. Ich beschränkte mich lediglich darauf zu zeigen, welche Strategien substanztheoretischer Art fundamentale Implikationen für die Begriffs- und Urteilstheorie haben, womit eine wesentliche Scharnierstelle in Betracht gezogen wird, die relevant ist für die Behauptung der Überwindung der strukturellen Ungleichheit von Sein und Denken. In dem Reinschriftfragment Logik, Metaphysik, Naturphilosophie von 1804/05 bietet Hegel eine erste elaborierte Logikkonzeption an, die deutlich macht, unter welchen Bedingungen die Behauptung der Ungleichartigkeit von Seinsund Denkverhältnissen überhaupt beansprucht werden kann. Hegel bringt hierfür folgende Argumente in Stellung: Wer einen Ansatz vertritt, der zu den Problemen führt wie jener in Glauben und Wissen kritisierte psychologische Idealismus, nimmt eine nichtphilosophische Perspektive ein und verpflichtet sich implizit auf zwei Voraussetzungen: (i) Sowohl jene dem Sein zugeordneten Bestimmungen als auch die den logischen Denkfunktionen zu Grunde liegenden erhalten einen formalen Status, was darauf zurückzuführen ist, dass sie als fürsichseiende, atomare Bestimmungen festgesetzt werden. (ii) Die als nichtphilosophisch ausgezeichnete Erkenntnistheorie bleibt dabei stets hinter dem selbst gesetzten Anspruch zurück und verfällt in ein Dilemma, denn auf der einen Seite soll geklärt werden, unter welchen Umständen objektiv-gültige Erkenntnis möglich ist, und auf der anderen Seite wird festgestellt, dass eine vollständige Identifizierung von erkennendem Subjekt und Mannigfaltigkeit undurchführbar und deshalb problematisch ist. Hegel ist davon überzeugt, dass jeder, der einen derartigen Ansatz verfolgt und sich auf eine Theorie diskreter Momente verpflichtet, stets dem »Bedürfnis der absoluten Einheit aller dieser zusammenhanglosen Bestimmtheiten« (GW 4, 422) unterliegt. Wir kommen demnach nicht an einer Einheitskonzeption vorbei, welche den Status der Diskretheit in Frage stellt und die Momente systematisch integriert. Die Schwierigkeit besteht nun aber darin, diese Idee überzeugend darzustellen. Hegel entscheidet sich in LMN für folgende Lösungsstrategie: Logik und Metaphysik bilden

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zwei zu unterscheidende Gegenstandsbereiche, wobei dem ersten Teil die Aufgaben zukommen, isolierte kategoriale Bestimmungen aufzustellen, die Form der Isolation kritisch zu prüfen und auf ein neues, systematische Einheit garantierendes Niveau durch Aufdeckung von Relationen zu heben, womit zugleich die Überwindung der nichtphilosophischen Position beansprucht wird. Dies geschieht im Kontext von vier Etappen, die der Einfachen Beziehung, den Seins- und Denkverhältnissen und der Proportion zugeordnet werden, wobei die erste Stufe zuständig für die Entwicklung des Begriffs der Unendlichkeit ist, dessen Realisierung in den Verhältnissen ausgeführt wird. Wenngleich am Ende der Logik der Anspruch erhoben wird, die strukturelle Ungleichheit durch die Bereitstellung der absoluten Reflexion überwunden zu haben, wird eine vollständige Begründung der Problematik erst in der Metaphysik geliefert, und zwar auf der Basis einer Konzeption eines höchsten Wesens als absoluter Grund des Ungleichen. Um einsehen zu können, was es für Hegel bedeutet, diese auf den ersten Blick verschiedenartigen Verhältnisse als in irgendeiner Weise gleichartig zu begreifen, konzentriert sich die folgende Untersuchung auf zwei für die vorliegende Problematik entscheidende Sachverhalte: Es ist (I) notwendig, die Konzeption, die mit dem Begriff der Substanz in Anschlag gebracht wird, zu analysieren und (II) ist aufzudecken, in welcher Beziehung die entwickelte Substanzkonzeption zu den Verhältnissen des Denkens, insbesondere (a) zu den Begriffsbestimmungen und (b) zu den Urteilsformen steht. Ad I) Der Zweck des Kapitels Verhältniss des Seyns besteht erstens darin, Substanzverhältnisse, und im Einzelnen den systematischen Zusammenhang der Kategorien der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit zu untersuchen, zweitens kausale Erklärungsstrategien kritisch zu examinieren und drittens Wechselwirkungsverhältnisse auf den Prüfstand zu stellen.11 Im Kontext des Seinsverhältnisses gilt es den Anspruch zu legitimieren, dass die Momente eines Verhältnisses Bedeutung durch die Beziehung derselben untereinander erhalten. Auf der ersten Begründungsebene, dem Substantialitätsverhältnis, heißt dies, einen Widerspruch zwischen Formen der Bestimmtheit anzuerkennen und aufzulösen. Das eine Glied des Widerspruchs, das reine Sein, gilt diesbezüglich als reiner Gegenstandsbereich, in welchem verschiedene Qualitäten gesetzt sind. Dieser Möglichkeitsraum bezeichnet nicht mehr als das gleichgültige Bestehen von einzelnen Bestimmungen. Das zweite Widerspruchsglied behauptet demgegenüber, dass Einzelbestimmungen zwingend in Relation zueinander stehen, was mit dem Vorliegen einer Abhängigkeitsbeziehung begründet wird: Bestimmtheiten bestehen nur »in der Beziehung auf die andere und das Seyn einer jeden ist das Nichtseyn der anderen; es sind schlechthin nicht beyde bestehend, sondern als sich aufhebend, kann die Eine nur bestehen, insofern die andere nicht ist« (GW 7, 39). Der Substanzbegriff in dieser Perspektive zeichnet eine negative Einheit aus, die Hegel als Wirklichkeit bezeichnet. Der Widerspruch zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit macht das aus, was die Substanz in Wahrheit ist, nämlich Notwendigkeit als Beziehung Entgegengesetzter. 11

Dass sich Hegel hier mit den Kantischen Kategorien der Relation und der Modalität auseinandersetzt, ist nicht zu übersehen. Der Kantbezug kann hier jedoch nicht im Einzelnen problematisiert werden.

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Ausgangsbasis der anschließenden Diskussion über das Wesen der Kausalität ist der »Zerfall der Substanz in entgegengesetzte Substanzen« (GW 7, 43). Kausale Erklärungsstrategien sind für Hegel genau dann problematisch, wenn sie den Sachverhalt auf eine oberflächliche Weise angehen. Das Argument der Oberflächlichkeit ruht auf dem Argument der Isolation, was besagt, dass die verhandelten Substanzen als voneinander isolierte Entitäten festgesetzt werden. Hinter diesem Argument stehen zwei Behauptungen und zwar erstens werden hiermit lediglich leere Tautologien in Anschlag gebracht und zweitens kann die Relation nicht als eine notwendige ausgewiesen werden. Die Problematik wird am Beispiel des Verhältnisses zwischen Regen als Ursache und der bewirkten Nässe des Bodens verdeutlicht. Zunächst soll das Argument der Tautologien betrachtet werden und im Anschluss sind die mit der Schwierigkeit der Notwendigkeit in Verbindung stehenden Erklärungen zu erläutern. Leere Tautologien entstehen, wenn beispielsweise das Nasse die Ursache des Nassen ausmacht, also eine Bestimmung »von dem her [kommt], was sie selbst ist«. Das, was es zu erklären gilt, ist bereits vollständig vorhanden bzw. vorausgesetzt. Kausale Erklärungsstrategien behaupten aber etwas anderes, so meint es jedenfalls Hegel deuten zu müssen, denn sie führen ein Täuschungsmanöver durch, indem sie zunächst zwei Substanzen setzen und dann beide kausal aufeinander beziehen. Hegel will dagegen zeigen, dass hier nicht zwei verschiedene Substanzen gesetzt werden, sondern immer nur eine Bestimmung wiederholt wird, also beispielsweise Regen mal als Feuchtigkeit und mal als Nässe ausgezeichnet ist. Einen Sachverhalt kausal erklären heißt dann nicht mehr, als »das Verfolgen dieser Identität oder die Darstellung der Tautologie« (GW 7, 49). Es wird demnach eine Differenz zwischen zwei Substanzen untergeschoben. Ist diese nicht nachweisbar, so haben wir es im eigentlichen Sinne nicht mit isolierten Substanzen zu tun. Dies führt zu der Konfrontation damit, dass der Rekurs auf derartige tautologische Angaben etwas relativ Unbefriedigendes im Kontext einer Untersuchung von kausalen Erklärungsmechanismen zu sein scheint. Der Anspruch, der von isoliert auftretenden Substanzen ausgeht, macht sich einer zweiten Fehleinschätzung schuldig, insofern es nicht gelingt, den Nachweis der Notwendigkeit der Beziehung von Ursache und Wirkung zu erbringen. Hegel meint dies, vorab bemerkt, dadurch bewerkstelligen zu können, dass kausale Erklärungsprozesse eigentlich einer bestimmten Anforderung gerecht werden müssten, nämlich jener, welche behauptet, dass eine »gesetzte Bestimmtheit als eine andere, als Gegentheil ihrer selbst« (GW 7, 49) aufzuzeigen ist. Bestimmungen sollen aus der Substanz selbst heraus erklärbar sein. Das Regenbeispiel zeigt, dass diese Forderung nicht erfüllt ist. Die Substanz des Regens wird zu einer akzidentiellen Bestimmung, eine Eigenschaft des Bodens. Die Substanz kann sich nun aber erst dadurch als das Wirkliche setzen, indem sie die Trockenheit als Möglichkeit negiert. Das Problem ist, dass die Bestimmung der Trockenheit nicht als Möglichkeit im Begriff des Regens gesetzt ist, sondern durch Negation ausgeschlossen wird. Hegel meint behaupten zu können, dass wir weitere Schwierigkeiten bekommen, wenn wir die Kategorien der Möglichkeit und der Wirklichkeit nicht als widersprüchliche substanzimmanente Komponenten auffassen, die bei einem bestimmten Zusammenspiel Notwendigkeit erzeugen. Zu diesen Schwierigkeiten gehört, dass das, was als Negation bzw. als Aufhebung der Möglichkeit in Anschlag

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gebracht wird, nicht mehr ist als eine Debatte über bloße Ortsveränderung, denn wenn der Regen die Feuchtigkeit des Bodens bewirkt, dann macht die Trockenheit des Bodens der neuen Bestimmung Platz. Auch wenn das in gewisser Weise trivial klingt, sollte der Kern nicht übersehen werden, der darin besteht, dass solche Erklärungsstrategien erstens nicht wirklich klar machen können, wie die Prozesse notwendig zusammenhängen und zweitens auf eine genaue Ausweisung komplexer Beziehungen der Kategorien der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit verzichten. Mit der Leugnung der Notwendigkeit in Bezug auf kausale Erklärungsweisen, die auf Verhältnisbestimmungen verzichten, meint Hegel sich zum Teil nun zwar auf Hume berufen zu dürfen. Dies hindert ihn jedoch nicht daran, Hume und in der Folge vor allem Kant als Hauptadressaten der Kritik des Isolationsarguments auszuweisen, insofern es nicht nur auf die Interpretation von Substanzen im engen Sinne bezogen wird, sondern auch andere Sachverhalte betrifft. Insbesondere Kants Theorie der Erfahrung motiviert zu einer ausführlichen Einschätzung, die verschiedene Sachverhalte betrifft: (i) Empfindungen, Wahrnehmungen oder sinnliche Vorstellungen stehen der Notwendigkeit, d. i. der Unendlichkeit des Verhältnisses, gegenüber. (ii) Das nur subjektiv Notwendige, die Verknüpfung von Begriff und Erscheinung, bleibt der objektiven, zufälligen Zusammenstellung entgegengesetzt. (iii) Neben der scharfen Unterscheidung von Erscheinungen und Verstandesbegriffen, die leere Gedankendinge ohne möglichen Wahrheitsanspruch ausmachen, ist die zwischen Erscheinungen und Dingen an sich problematisch. Hegels immer wiederkehrender Kritikpunkt ist der, dass die im Denken a priori vorliegenden Kategorien sowie die produzierten Relationen alles andere als Beziehungen ausmachen, die Aussagen darüber zu treffen berechtigt sind, wie die objektive Welt tatsächlich verfasst ist. Worin besteht hier das konkrete Problem, auf das uns Hegel aufmerksam machen möchte? Den auf der Basis von kategorialen Sachverhalten erzeugten Relationen steht die Bestimmtheit als eine Entgegengesetzte gegenüber. Es liegt ein so genanntes Verhältnis der Fremdheit vor, bei welchem den Bestimmtheiten der Status des atomaren, fixierten Fürsichseins zukommt. Ein solcher Status ist aber nur dann überhaupt erklärbar, wenn erstens davon ausgegangen wird, dass auf beiden Seiten relational verfasste Strukturen, also Verhältnisse, vorliegen, die sich aufeinander beziehen. Zweitens ist davon auszugehen, dass die jeweils vorliegenden Verhältnisse Momente eines Ganzen sind, d. i. in diesem Fall eine bestimmte Struktur, die mit dem verbunden ist, was Hegel als Unendlichkeit bezeichnet. Das Verhältnis der Momente, den Teilen, zum Ganzen ist als eine Unterordnung auszulegen, und dies in einer Weise, dass dadurch die Relation der Teile zum Ganzen eine notwendige darstellt. Werden diese Verhältnisse drittens als beschränkte Diskreta erfasst, dann bedeutet das eigentlich nur eine zufällige Unterordnung der Teile unter das Ganze, was eine Aufgabe der Notwendigkeitsbeziehung zur Folge hat. Damit wird aber nicht nur der Anspruch auf Notwendigkeit aufgegeben. Es kommt auch zu einer Diskontinuität in der Erklärung, wenn der in der Substanztheorie angelegte Gesamtzusammenhang aus dem Blick gerät, denn es bleibt stets ein unbestimmbarer, nicht eingebundener Rest übrig, der außerhalb des Geltungsbereichs der Vernunft liegt, solange die Beziehung nicht als notwendige ausgewiesen werden kann. Die Idee des Gesamtzusammenhangs, von dem hier die Rede ist, kommt in

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der Theorie der Unendlichkeit zur Geltung. Demnach sind Verhältnisse Stufen der Entwicklung des Unendlichen.12 Dies gilt natürlich auch für das Kausalitätsverhältnis, mit dessen Weiterentwicklung im letzten Teil der Ausführung bereits einiges erreicht worden ist, nämlich die »Aufhebung, der ausser ihr gesetzten, für sich seyenden Wirklichkeit« (GW 7, 63). Ziel der Ableitung des Kausalverhältnisses ist es, wie bereits betont, jenen Ansatz zu widerlegen, der ausgeht vom Bestehen diskreter Substanzen. Der Idee des Zusammenfallens vieler Diskreta in eine Einheit, dem Produkt der Kausalität, liegt die Konzeption einer einfachen, noch unentwickelten Substanz zu Grunde, die deshalb zunächst den Versuch der Realisierung des Unendlichen vereitelt, weil der Rückzug auf eine einfache, den Status des Fürsichseins einzelner Bestimmtheiten aufhebende Einheit erkauft ist durch die Abstraktion von einem notwendigen Faktor des Unendlichen auf dieser Ebene, nämlich von der Möglichkeit der Vielheit diskreter Bestimmtheiten. Der Begriff der einfachen Substanz als fürsichseinende Bestimmtheit steht deshalb in einem widersprüchlichen Verhältnis zu seiner Herkunft, durch welche sie bedingt ist. Hiermit befinden wir uns wieder im Prozess der Realisierung der auf der Ausbuchstabierung widersprüchlicher Relationen stehenden Unendlichkeit, der übergeht in die Kategorie der Wechselwirkung. Hierzu sei nur so viel gesagt, dass es letztendlich um den Nachweis einer absolut erfüllten Substanz geht, in welcher die entgegengesetzten kategorialen Bestimmtheiten der Möglichkeit und der Wirklichkeit als wechselseitig ineinander übergehende Momente integriert sind, wobei der Begriff der Erfüllung impliziert, dass Bestimmtheiten als aufgehoben in der Substanz gedacht werden.13 Ad IIa) Nun gilt es zu klären, in welcher Beziehung die Substanzproblematik zu der der Verhältnisse des Denkens, insbesondere zur Begriffstheorie steht. Fragt man sich, welche begriffslogischen Implikationen durch die Substanztheorie erzeugt werden, dann ist man gut beraten, wenn man zunächst die terminologischen Kontinuitäten beobachtet und dann die vorliegenden Verschiebungen auf der Bedeutungsebene beleuchtet. Auf terminologischer Ebene geschieht Folgendes: Hegel liefert uns deutliche Anhaltspunkte dafür, dass die zum Denkverhältnis zugeordneten Begriffe des Allgemeinen und des Besonderen die Brücke zum vorher entwickelten Substanzbegriff schlagen. Im einleitenden Absatz über das Denkverhältnis (vgl. GW 7, 75 f.) wird herausgestellt, dass das Allgemeine als erfüllte Einheit und »gleichgültige Beziehung« der Bestimmtheiten, die eine »negative Einheit« bzw. »Idealität« ausmacht, aufzufassen ist. Das Allgemeine ist das »sich selbstgleiche Einssein« und dessen »Form ist die Substantialität«. Zugleich hat es nicht nur einen formalen Status, sondern »es ist das erfüllte das einfache der so gesetzten Bestimmtheiten«. Das Besondere hingegen wird beschrieben als das »Unterschiedene« (GW 7, 76), d. i. die durch Reflexion aufgehobene Bestimmtheit. Auf einer ideellen Ebene der Reflexion der Seinsverhältnisse wird der Begriff der erfüllten Substanz zum Begriff des Allgemeinen als erfüllter Einheit. Die in der erfüllten Substanz 12 Hegel bestimmt Unendlichkeit als absoluten Widerspruch bzw. als »absolute Reflexion des Bestimmten in sich« (GW 7, 33). 13 Mit der Konzeption der Wechselwirkung ist zugleich der Anspruch verbunden, das Problem der einseitigen kausalen Relation, das im ersten Teil der vorliegenden Untersuchung dargestellt wurde, in den Griff bekommen zu haben.

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aufgehobenen Bestimmtheiten werden gleichgesetzt mit dem Besonderen. Dass sich diese bisher gelieferte oberflächliche Identifizierung nicht ohne Weiteres aufrechterhalten lässt, wird im Folgenden aufgezeigt. Die Intention der Argumentation besteht darin zu zeigen, dass die Beziehung zwischen Allgemeinem und Besonderem zunächst ein einfaches und gegensatzloses Ineinandersein darstellt, womit zugleich die Konzeption des bestimmten Begriffs in Anschlag gebracht wird. Zudem wird eine Bedeutungstransformation von einem gewöhnlichen zu einem reflektierten Verständnis des bestimmten Seins vollzogen. Das gewöhnliche Verständnis kann als eines erfasst werden, das die Bestimmtheiten nicht in ausreichendem Maße analysiert, sondern diese in gewisser Weise als separate ausweist und auch nicht die vorliegenden Beziehungen herausarbeitet. Hegel weist auf dieses Problem bereits im zweiten Abschnitt des ersten Kapitels der Logik hin: »die Gräntze drückt den Begriff der Qualität als das für sich seyn der Bestimmtheiten so aus, daß in ihr die beiden Bestimmtheiten, jede für sich, gleichgültig gegeneinander, aussereinander bestehend gesetzt sind« (GW 7, 5). Auf der Ebene des Seinsverhältnisses, das das gleiche Ziel wie das Begriffskapitel verfolgt, nämlich Sein durch Bedeutungstransformation zu realisieren, kommen wir der Auflösung des Problems zwar näher und können es aus der Perspektive der Substanz-Akzidenz-Relation in Augenschein nehmen, aber wir befinden uns immer noch auf einer untergeordneten Stufe. Dies deshalb, weil Substanz und Akzidenz unterbestimmt bleiben: Der Substanzbegriff ist in diesem Kontext problematisch. Der kritische Ansatz wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, worin die Hauptaufgabe des Seinsverhältnisses bestand, nämlich in der Aufhebung diskreter Bestimmtheiten zu Gunsten eines einheitlichen Zusammenhangs, den die erfüllte Substanz ausmacht. Der zu zahlende Preis bestand darin, dass eine erfüllte Substanz nicht mehr darstellt als eine »Indifferentiirung aller Bestimmtheiten« (GW 7, 75). Die besonderen Bestimmtheiten werden vollständig subsumiert unter den Begriff der Substanz, die zu einer alle Besonderheiten umfassenden Allgemeinheit wird. Auf der Begriffsebene wird nicht mehr mit diesem unreflektierten Substanzbegriff gearbeitet. Der Vorwurf der Unterbestimmtheit trifft gleichfalls die Konzeption der Akzidenz, wenn diese als etwas erfasst wird, dessen Relationen außerhalb des akzidentiellen Bereichs veranschlagt werden. Die Analyse des Akzidentiellen hat dabei nicht nur freizulegen, dass dem Akzidentiellen die Modalitätskategorie des Möglichen zukommt, sondern auch aufzuklären, worin diese besteht, nämlich ausschließlich »in der Beziehung auf anderes« (GW 7, 77), wodurch die Bestimmung erst zustande kommt. Die anschließende Ableitung stellt unter Beweis, dass es Hegel darum geht, zu zeigen, dass ein bestimmter Begriff eben nicht relationslos auftritt, sondern stets an einen Prozess der Reflexion gekoppelt ist und somit als in einem begrifflichen Netz verankert erkannt werden muss. Um also zu verstehen, was es überhaupt bedeutet, wenn man den Terminus bestimmter Begriff verwendet, ist der Begriff der Eigenschaft zu untersuchen und dessen Relationen zum Substanzbegriff sind aufzudecken. Dies geschieht im Kontext der Dialektik des bestimmten Begriffs, die hier nicht im Einzelnen beleuchtet werden soll. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass diese aus der Beziehung zwischen der Bestimmtheit und der Reflexion entwickelt wird und auf eine Theorie der doppelten Subsumtion hinausläuft. Die geforderte Realisierung des bestimmten Begriffs verlangt

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eine Selbstreflektion der Bestimmtheit. Hierbei wird die Substanz unter das Allgemeine, die Eigenschaft, subsumiert und somit absorbiert. Umgekehrt lässt sich die Substanzzuschreibung des Besonderen gleichfalls als Allgemeinheit ausweisen, und dies insofern als die Substanz positive, numerische Einheit im Sinne der »Indifferentiirung aller Bestimmtheiten« (GW 7, 75) ist. Die bei dem Versuch der terminologischen Bestimmung anfänglich stets mitschwingende Unbestimmtheit bezüglich der Festlegung der Relation von Allgemeinem und Besonderem mit Rekurs auf die Wechselwirkung findet hierin ihre Erklärung. Die auf diese Weise in Anschlag gebrachte Bedingung der Möglichkeit zweier entgegengesetzter Subsumtionsakte ist gleichsam Grundlage der Auslegung des Urteils. Ad IIb) Der Rekurs auf die Substanztheorie wird vor allem in der Abhandlung zum Urteil deutlich: »Das Urtheil als der Ausdruck dessen, was der Begriff in Wahrheit [ist,] schließt daher in sich ein negatives Eins; eine Substanz« (GW 7, 80). Auf der Urteilsebene des Manuskripts LMN wird folgende Identifizierung vorgenommen: Die Substanz ist als Besonderes Subjekt, wobei der Substanzbegriff nicht mehr in der niederstufigeren Perspektive des Seinsverhältnisses verwendet wird, denn es liegt ein bereits vollzogener Reflexionsakt auf begrifflicher Ebene vor. Substanz in diesem Sinne ist ein unter das Allgemeine Subsumiertes. Diese Perspektive behauptet zugleich, dass es verschiedene Subjekte gibt, die unter das Prädikat subsumiert werden können. So fallen beispielsweise unter das Prädikat rot unendlich viele mögliche rote Subjekte, die jedoch untereinander nicht zwingend in Beziehung stehen müssen. Ähnlich verhält es sich umgekehrt mit den Prädikaten, werden sie aus der Subjektperspektive betrachtet. Das Allgemeine subsumiert unter die besondere Substanz als Subjekt liefert den Prädikatbegriff. Prädikate sind hier als »allgemeine positive Einheiten« (GW 7, 80 f.) Eigenschaften, die in der negativen Subjekteinheit zwar zusammengefasst sind, aber untereinander ein Verhältnis der Gleichgültigkeit aufweisen. Damit ist nicht mehr gemeint, als dass einem Subjekt verschiedene Prädikate zukommen können, ohne dass die Prädikate notwendig untereinander in Relation stehen. Interessant ist in diesem Kontext Hegels Lösungsvorschlag, der darin besteht, die Gleichgültigkeit bzw. Relationslosigkeit von Subjekten auf der einen Seite und Prädikaten auf der anderen durch Akte der wechselseitigen Subsumtion aufzuheben. Eine der Figuren, die Wesentliches zur Auflösung der vorliegenden Problematik beiträgt, wird entwickelt im Kontext der Wendung Selbsterhaltung durch Bezwingung des Anderen unter sich, worin zugleich das Potential des notwendigen Anderswerdens zum Ausdruck gebracht wird. Hegel leitet diese Wendung auf der Basis folgender Argumentation her: (1) Im Urteil werden Subjekt und Prädikat verbunden. (2) Subjekt und Prädikat stehen jedoch eigentlich in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander, weil die jeweiligen Subsumtionsakte gegeneinander ausgeübt werden. (3) Dies bedeutet im Einzelnen, dass Subjekt und Prädikat Diskreta darstellen. (4) Der Status der Diskretheit einer Seite kann jedoch nur unter der Bedingung beansprucht werden, dass das jeweils Andere nicht diskret ist. (5) Diese Strategie liegt der Konzeption der Subsumtionsakte zu Grunde, insofern als Unterordnungsprozesse die Selbsterhaltung durch Bezwingung des Anderen gewährleisten. (6) Der Aufhebungsprozess verwies bereits im Seinsverhältnis auf das Vorhandensein von Relationen: »denn es

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ist jede [Bestimmtheit] nur in Beziehung auf die andere« (GW 7, 39). Dies gilt ebenso auf urteilslogischer Stufe für Subjekte und Prädikate, jedoch mit einer Zusatzannahme, denn im Bezwungenwerden ist eine Potentialität angelegt. Subsumtion zum Zweck der Selbsterhaltung bietet die Möglichkeit der reflektierten Selbstentwicklung des Subsumierten, was in einer Statusänderung, dem Umschlagen in die entgegengesetzte Bestimmung, mündet. Hegel unterscheidet zwei Subsumtionsakte: Fürsichsein des Prädikats, und Reflexion des Subjekts in sich selbst sowie Fürsichsein des Subjekts, und Realisierung des Prädikats. Ziel der die Urteilsformen durchlaufenden Entwicklung ist schließlich zu zeigen, dass das gewöhnliche Verständnis dessen, was als Subjekt und Prädikat veranschlagt wird, problematisch insofern ist, als der Status der Isolation in Bezug auf beide Urteilskonstituenten nicht aufrechtzuerhalten ist und in keiner Weise gerechtfertigt werden kann. Es gilt vielmehr den Status der unentwickelten Konstituenten zu reflektieren und aufzuzeigen, unter welchen Bedingungen sich die Identitätsforderung realisieren lässt. In diesem Kontext kommt dem Begriff der Mitte eine besondere Funktion zu, denn wenn akzeptiert wird, dass erstens die Funktion der Kopula der gewöhnlichen Betrachtung des Urteils eine Beziehung ausmacht, die nicht vollständig reflektiert ist, zweitens die Analyse eben dieser Beziehung einen Beitrag darüber zu liefern verspricht, wie sich Subjekt und Prädikat zueinander verhalten und man drittens den Anspruch zu erheben berechtigt ist, dass die bereits im bestimmten Begriff angelegten Momente des Allgemeinen und Besonderen in der Konzeption einer entwickelten Allgemeinheit derart integriert sind, dass diese Verbindung mit den Urteilskonstituenten in Beziehung steht, dann meint Hegel behaupten zu können, dass aus der unreflektierten Form der Kopula eine erfüllte Mitte generiert worden ist, durch welche Subjekt und Prädikat notwendigerweise zusammengeschlossen sind. Hiermit hat Hegel eine relativ ausführliche, wenn auch nicht in allen seinen Teilen plausible Antwort darauf geliefert, auf welche Weise das Problem der Beziehung von Subjekt und Prädikat, anzugehen und aufzulösen ist, ohne dabei auf substanztheoretische Überlegungen verzichten zu müssen. Auch wenn hier relevante Komponenten wie die Schlusslogik, die Theorie der Proportion und die Metaphysik nicht in den Blick genommen werden konnten, lässt sich dennoch abschließend einiges über das Gesamtprojekt aussagen. Allein mit der systematischen Voraussetzung einer Logikkonzeption, die das Problem der strukturellen Ungleichheit von Seins- und Denkformen in Angriff nimmt, meint Hegel in den Jenaer Systementwürfen II in der Lage zu sein, aufklären zu können, was in propädeutischer Absicht geleistet werden muss, damit Metaphysik möglich ist. Problematisch ist dabei jedoch nicht, dass der eigentliche Grund der Ungleichheit erst in der Metaphysik angelegt ist, sondern dass die Logik bereits Anleihen bei der Metaphysik macht, um die Überwindung eines nichtphilosophischen Ansatzes erweisen zu können, wodurch letztendlich die Gefahr droht, dass die generierte Identität eigentlich bereits vorausgesetzt wird.

A SPEKTE

DER

B) L OGIK , E PISTEMOLOGIE

L OGIK

UND

S PRACHPHILOSOPHIE

Die reelle Definition als Form spekulativer Erkenntnis Zum Zusammenhang von Geometrie und logischer Wissenschaft bei Hegel Brady Bowman

Ἀγεωμέτρητος μηδεὶς εἰσίτω soll am Eingang zu Platons Akademie gestanden haben: »Kein der Geometrie Unkundiger möge eintreten.« Eine ähnliche Inschrift trägt Hegels Wissenschaft der Logik – nicht freilich auf ihrer ersten Seite etwa als Motto, sondern auf eine weniger offensichtliche, aber nichtsdestotrotz unverkennbare Weise in ihre Textur eingeschrieben. Das jedenfalls ist die These, für die ich im Folgenden argumentieren möchte. Die Geometrie besitzt eine tiefe Affinität zur spekulativen Wissenschaft nach Hegelschem Verständnis, und zwar besteht diese Affinität darin, dass der wissenschaftliche Aufbau der Geometrie letztlich auf demselben Erkenntnisinhalt beruht, wie die spekulative Wissenschaft: Beide suchen das Bestimmtsein überhaupt als Folge und Ausdruck unendlicher Selbstbestimmung zu fassen. Dasjenige, was ausschließlich kraft der eigenen Beziehung auf sich vollkommen und durchgängig bestimmt ist, heißt bei Hegel die Idee. Sie ist als ein sich unabhängig von Raum und Zeit vollständig Individuierendes, d. h. als absolutes Individuum zu verstehen. Ein solches Individuum, dessen vollständige Bestimmtheit oder Realität aus seinem Begriff hervorgeht, nannte Kant mit einem Platonischen Ausdruck das Ideal und identifizierte es mit Gott als ens realissimum. Nun hätte sich Kant gegen den Gedanken verwehrt, die Geometrie habe es in einem ähnlichen Sinne mit dem Ideal zu tun, wie die spekulative Theologie, und zwar aus Gründen, die das Fundament des transzendentalen Idealismus ausmachen – so die spezifische Trennung von Anschauung und Begriff, die Zurückweisung von intellektueller Anschauung als einer dem endlichen Geist zugänglichen Erkenntnisweise und Kants damit zusammenhängende Ablehnung des Gedankens, die geometrische Methode könne der Philosophie in irgendeiner Hinsicht als methodologisches Vorbild dienen.1 In diesen Kontext ist auch Hegels Bemerkung in der Vorrede zur zweiten Auflage der Logik zu verstehen, wo er schreibt: Die Darstellung keines Gegenstandes wäre an und für sich fähig gar streng ganz immanent plastisch zu seyn, als die der Entwicklung des Denkens in seiner Nothwendigkeit; keiner führte sosehr diese Foderung mit sich; seine Wissenschaft müßte darin 1 Siehe z. B. Kant, Immanuel: KrV. In: AA 4, S. 92–93 (B 30 – zur Unterscheidung von Verstand und Sinnlichkeit als zwei getrennter »Stämme« der Erkenntnis), S. 342 (B 72 – zur Abweisung von intellektueller Anschauung im Falle des endlichen Denkvermögens) und (B 753 – zur Ablehnung der Mathematik als methodologisches Vorbild für die Philosophie). Zur Frage der intellektuellen Anschauung siehe ferner: AA 5, S. 401–410.

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auch die Mathematik übertreffen, denn kein Gegenstand hat in ihm selbst diese Freyheit und Unabhängigkeit (GW 21,18). Freilich distanziert auch Hegel sich von dem rationalistischen, am ausführlichsten bei Wolff durchgeführten Projekt einer wissenschaftlichen Philosophie more geometrico. Doch er tut es aus Gründen, die von denen Kants bereits in ihrer Tiefenstruktur abweichen und welche die Geometrie letztlich wieder in die Nähe einer philosophischen Theologie rücken, die demselben Gedanken eines sich durch sich selbst vollständig individuierenden Allgemeinen verpflichtet ist, den Kant schon aus Platon übernahm und als das Ideal bezeichnete. Damit sind einige der Hauptgedanken und Folgerungen erst angedeutet, die ich im Folgenden näher entwickeln möchte. Der Aufsatz gliedert sich in drei Teilen. Im ersten Teil werde ich einige strukturelle Grundvoraussetzungen in Erinnerung rufen, darunter auch Hegels Auffassung der Begriffsbestimmungen als metaphysische Definitionen Gottes. Der lange zweite Teil ist im Ganzem der Auslegung derjenigen Passagen der Begriffslogik gewidmet, in denen sich Hegel mit dem mos geometricus, dessen spekulativer Bedeutung und dessen Grenzen als endlicher Erkenntnisform befasst. Im knappen dritten Teil ziehe ich ein Fazit in Bezug auf das neuplatonische Erbe in Hegels Philosophie der Mathematik.

I. Strukturelle Grundvoraussetzungen I.1 Die Idee des Wahren und die formelle Negativität des Erkennens Hegel erklärt die Struktur, die sich im Verlauf der dialektischen Bewegung manifestiert, wahlweise als eine Triplizität oder als eine Quadruplizität, je nachdem, wie man das negative Moment derselben betrachtet. Nach der triadischen Betrachtungsweise geht die Bewegung von einem anfänglichen Moment der Unmittelbarkeit oder der einfachen Identität zu einem zweiten der Vermittlung oder der Differenz über; indem jedoch dieses zweite, negative Moment der Differenz zugleich die Ausgangsbestimmung in sich enthält und somit die eigene Differenz derselben ist, so stellt sie bereits auch die Einheit beider Bestimmungen dar und mag somit als ein drittes Moment der Identität und Differenz, der Unmittelbarkeit und der Vermittlung aufgefasst werden. Auf das äußere Schema des Schlusskapitels der Begriffslogik angewendet, spiegelt sich diese triadische Struktur in der Folge Leben – Erkennen – absolute Idee wieder. Die zweite Betrachtungsweise (nennen wir sie die quadratische) weicht von der ersten nur darin ab, dass sie innerhalb des zweiten, negativen Moments nochmals zwischen zwei Aspekten der Beziehung unterscheidet. Unter dem einen Aspekt betrachtet, zeigt sich das negative Glied als Beziehung auf das zuerst gesetzte, unmittelbare Glied; diese Beziehung nennt Hegel formelle Negativität (GW 12, 247). Unter dem anderen Aspekt betrachtet, zeigt es sich jedoch als Beziehung auf sich selbst insofern, als es wie eben schon gesagt die eigene, interne Differenz oder Selbstunterscheidung des ersten

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Gliedes ist. Diesen Aspekt der Beziehung nennt Hegel absolute Negativität (ebd.). Auf das Schema des Schlusskapitels angewendet, spiegelt sich diese quadratische Struktur darin wieder, dass das zweite, negative Moment des Erkennens weiter in zwei Phasen unterteilt wird: in das Theoretische (die Idee des Wahren) und das Praktische (die Idee des Guten). Aber wie Hegel zu Recht betont, sind diese Betrachtungsweisen nur äußerlich unterschieden; die zweite legt bloß den Wechsel im Richtungssinn der Beziehung deutlicher auseinander: Das negative Moment des Differierens, das Ausgehen oder Auseinandergehen ist zugleich ein Sich-Herstellen des Identischen, ein Zurückgehen und Zusammengehen mit sich. Mein Interesse gilt nun besonders dem theoretischen Erkennen, aber ehe ich zur näheren Ausführung fortschreite, möchte ich hier eine kurze Übersicht über dessen Verhältnis zum Praktischen anschließen. Das ambivalente Ergebnis von Hegels Darstellung der geometrischen Erkenntnisweise insbesondere wird sein, dass sie ein »subjectives Thun ohne Objectivität« (GW 12, 225) sei. Das besagt zunächst einmal, dass die im geometrischen Beweis erkannte Notwendigkeit eine Notwendigkeit bloß fürs Erkennen ist und keine, die in der Genesis des Objekts immanent enthalten wäre. Wenn wir z. B. die Notwendigkeit eines Lehrsatzes auf dem Weg der reductio ad absurdum einsehen, so liegt der Widerspruch nicht in dem Begriff des Gegenstands selbst, sondern in einer von uns zum Behuf des Beweises beigebrachten, ansonsten willkürlichen Annahme. Ähnliches gilt, wenn wir sonst ein besonderes Verhältnis des Gegenstands als bequemen Ausgangspunkt wählen, um den Beweis von dort aus zu führen. Wir suchen zwar und finden die Notwendigkeit, aber letztlich ist sie eine, die nur unserem bestimmten Tun anhaftet und von der Sache selbst abtrennbar ist, wie man z. B. an der Existenz alternativer Beweisarten leicht erkennen kann. Insofern die Notwendigkeit nur im Beweis als solchem in Erscheinung treten kann, der Beweis aber vom Gegenstand verschieden ist, fällt die Notwendigkeit außerhalb des Gegenstands selbst und in das hiermit bloß subjektive Erkennen. Ambivalent ist dieses Ergebnis deshalb zu nennen, weil es zwar die Äußerlichkeit einer Erkenntnisweise gegenüber der Objektivität bezeichnet, derer sich zu bemächtigen ihr wesentlicher Zweck gewesen ist. Aber zugleich bedeutet diese Zurücknahme der Notwendigkeit in die Erkenntnistätigkeit als solche, dass die Subjektivität an sich »zu dem an und für sich bestimmten, Nicht-gegebenen, und daher demselben als dem Subjecte Immanentem gekommen« (GW 20, 227 [§ 232]) sei. Das Erkennen steht somit einerseits in einer Beziehung bloß formeller Negativität zur äußerlichen Objektivität. Andererseits aber bezieht es sich darin auf sich selbst als eigentliche Quelle der Bestimmtheit an und für sich und geht in dieser absoluten Negativität dazu über, sich diese Äußerlichkeit als ihre eigene Bestimmtheit reell zu geben. Dieses Moment absoluter Negativität bezeichnet im Zusammenhang der Wissenschaft der Logik das Praktische oder die Idee des Guten, die Hegel im unmittelbaren Anschluss an seine Diskussion der Geometrie abhandelt. Richtig betrachtet löst sich also die anfängliche Ambivalenz des Resultats dahingehend auf, dass das theoretische Erkennen an sich bereits die Einheit der Beziehung auf sich und der Bestimmtheit ist, ohne sich gleich selbst als solches zu erkennen. Oder mit anderen, gleichbedeutenden

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Worten: Das endliche, geometrische Erkennen bezeichnet an sich selbst bereits die Einheit von Begriff und Realität und bedarf lediglich einer zweiten, spekulativen Reflexion um in den »realisierten Begriff« oder die absolute Idee überführt zu werden.

I.2 Die logischen Bestimmungen als »metaphysische Definitionen Gottes« Ich möchte mich dem Sachverhalt der Triplizität der Bewegung nun von einer anderen Seite her nähern. Hegel erklärt, die Wissenschaft der Logik könne als eine Reihe von zunehmend adäquaten »Definationen des Absoluten, als die metaphysischen Definitionen Gottes« (GW 20, 121 [§ 85]) angesehen werden. Als Beispiele führt Hegel das reine Sein (GW 20, 123 [§ 86 A]), das Nichts (GW 20, 123 [§ 87 A]) und die Idee (GW 20, 215 [§ 213 A]) an.2 »Näher jedoch,« schreibt er, gelten als Definitionen »immer nur die erste einfache Bestimmung einer Sphäre, und dann die dritte, als welche die Rückkehr aus der Differenz zur einfachen Beziehung auf sich ist« (GW 20, 121 [§ 85]). Diese Erklärung deckt sich offensichtlich mit seinen Ausführungen zur Triplizität bzw. Quadruplizität der dialektischen Struktur, ergänzt sie aber um ein explizit inhaltliches Element. Denn anders als die Betrachtung zur methodischen Form der Wissenschaft der Logik bezieht sich Hegels Aussage zur Definition auf den Sachgehalt, der durch die Methode vergegenwärtigt werden soll. Freilich liegt das Spezifische der Logik darin, dass in ihr Form und Gehalt zusammenfallen, indem der Inhalt die eigene Selbstreflexion und bestimmte Selbstentfaltung der methodischen Form selber ist. Um eben diese selbstreflexive Beziehung von Form und Inhalt soll es nun im besonderen Fall der Definition gehen. Es sei zunächst einmal darauf hingewiesen, dass in der Reihe der Gedankenbestimmungen diejenige der Definition erst im Zusammenhang mit der Idee des theoretischen Erkennens immanent thematisch wird, auch wenn sie von Hegel seit Beginn der Darstellung in äußerlicher Reflexion gebraucht wird. Ich meine deshalb, dass im Abschnitt über das theoretische Erkennen die Wissenschaft der Logik in besonderer, spezifischer Weise selbstreflexiv wird. Und zwar nicht allein durch die Thematisierung der Denkbestimmung »Definition«, sondern vor allem noch in Hegels Ausführungen zum geometrischen Lehrsatz und Beweis als der zweiten oder eigentlich »reellen Definition« (GW 12, 220; 222; 223). Denn im Rahmen des theoretischen Erkennens sind nicht bloß die erste und die dritte Bestimmung erste und zweite Definitionen, sondern sie heißen auch so und werden als solche gesetzt. Indem wir noch an dieser besonderen Selbstreflexivität in Hegels Ausführungen zum theoretischen Erkennen festhalten, möchte ich zugleich auf eine wichtige und in der Tat sehr augenfällige Einschränkung hinweisen. Die Idee des Erkennens bildet insgesamt 2 In der ersten Ausgabe der Seinslogik bezeichnet Hegel auch das Unendliche als die »zweite Definition des Absoluten«, wobei die »erste« Definition das Sein gewesen ist (vgl. GW 11, 78). In der überarbeiteten zweiten Ausgabe sagt er unbestimmter, das Unendliche sei lediglich eine »neue Definition des Absoluten«. – In der Enzyklopädie-Fassung der Logik bezeichnet Hegel außerdem noch das Maß und den Begriff als Definitionen des Absoluten: Vgl. Hegel: TWA 8, 224 [§ 107, Z] bzw. 308 [§ 160, Z].

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das zweite Moment der dialektischen Trias und fällt somit in die Differenz oder Negativität. Näher stellt das theoretische Erkennen wie gesagt die formell negative Beziehung dar, nicht die absolut negative Beziehung auf sich. Dieser Umstand ist interessant und soll zugleich mit der besonderen Selbstreflexivität des Abschnitts festgehalten werden: Das mathematische, oder genauer: das geometrische Erkennen ist die adäquateste Form, in der sich die Idee innerhalb der Endlichkeit geltend macht. Das Erkennen more geometrico ist daher die höchste Weise des endlichen Erkennens und es ist von bedeutenden Philosophen wie Platon und Spinoza als solches erkannt worden, ohne dass sie sich selbst über die Gründe dafür völlig im Klaren gewesen sein mögen. Dieselbe Tatsache spiegelt sich auch darin wieder, dass beispielsweise der Übergang vom Sein zum Wesen anhand einer Betrachtung des Maßes in seinem Übergang zum Maßlosen gemacht wird und der Übergang von der Spinozistischen Substanz zur Freiheit des Begriffs anhand einer Betrachtung der erst später, im geometrischen Erkennen subjektiv reflektierten Notwendigkeit als Grundbestimmung des absoluten Verhältnisses durchgeführt wird. Die Idee des Maßes, die der substantiellen (spinozistischen) Notwendigkeit und der Status der Geometrie als höchste Weise des endlichen Erkennens hängen somit auf eine Weise innerlich zusammen, die von der Architektonik des Werkes angezeigt wird. Mit dieser Feststellung sind meine architektonischen Bemerkungen zum Ort und dem besonderen Status der geometrischen Erkenntnis in Hegels Philosophie abgeschlossen. Sie weisen die Geometrie als höchste Form endlichen theoretischen Erkennens aus und zeigen, dass sie für Hegel ein wichtiges Medium methodologischer Selbstreflexion darstellt. II. Definition – Theorem – Reelle Definition Die Aufstellung der Momente des synthetischen Erkennens: Definition – Einteilung – Lehrsatz, weist den Lehrsatz als die vertiefte oder »zweite Definition« der Definition und somit des synthetischen Erkennens im Ganzen aus. Was das konkret bedeutet, möchte ich jetzt am besonderen Fall untersuchen.

II.1 Hegel gegen Kant: Worin besteht der Vorzug geometrischer Erkenntnis? Kant räumt der mathematischen Erkenntnis im Allgemeinen einen sehr hohen Stellenwert ein, denn aufgrund ihres Ursprungs in der reinen Anschauung soll sie allein unter allen Erkenntnisarten einer zugleich synthetischen und apodiktischen Evidenz fähig sein.3 Überdies lassen sich ihre Gegenstände bereits am Anfang definitorisch vollständig

3 Vgl. KrV, B 740–766. Der Sache nach ist die Unterscheidung zwischen diskursiver philosophischer Erkenntnis und anschaulicher mathematischer Erkenntnis als zwei der Art nach distinkter Erkenntnisformen bereits vorhanden in: Kant, Immanuel: Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral [1764]. In: AA 2, bes. S. 276–283 [§§ 1–4].

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und endgültig festlegen und ihre Lehrsätze sich auf evidente Axiome gründen und in eine streng deduktive Folge bringen (GW 12, 222). Dergleichen sei für eine reine diskursive Erkenntnis, wie die Philosophie sie darstellt, entweder gar nicht oder nur eingeschränkt möglich. Deshalb seien jegliche Versuche vergeblich und bereits im Ansatz verkehrt, die Philosophie nach geometrischem Vorbild (more geometrico) innerlich aufbauen und vortragen zu wollen. Hegel stimmt mit Kant dahingehend überein, dass der mos geometricus im Falle der Spekulation unangebracht sei (GW 12, 226; 228–229). Aber seine Gründe verhalten sich zu denjenigen Kants gerade umgekehrt: Eben weil die Geometrie in der räumlichen Anschauung verwurzelt ist und in der dadurch bedingten Äußerlichkeit verhaftet bleibt, kann sie sich zu derjenigen Sichselbstgleichheit und der dadurch ermöglichten Evidenz niemals erheben, welche der Spekulation allein wesentlich eignet. Darum darf die Geometrie nicht als methodologisches Vorbild gelten. Hierin kommt ein platonischer Zug an Hegels Philosophie der Mathematik zum Vorschein.4 Wie für Platon und insbesondere auch für Proklus, gilt die Ausgedehntheit und Diskretheit geometrischer und arithmetischer Gegenstände auch für Hegel als relativer Mangel. Könnte man die räumlich ausgedehnten Figuren gleichsam »zusammenfalten«, um sie als reine bildlose Einheit zu betrachten, schreibt Proklus, würde der Intellekt eine höhere Einsicht in die an sich einfachen, unteilbaren, unausgedehnten geometrischen Ideen bekommen, welche das eigentliche Wesen der geometrischen Figuren ausmachen.5 Dies zu erreichen ist der Geometrie als solcher verwehrt und bleibt der Dialektik allein vorbehalten, die darum als »Schlußstein« der mathematischen Wissenschaften gilt.6 Auch die Tatsache, dass die Mathematik mit Voraussetzungen behaftet ist, die sie innerhalb ihrer nicht einholen kann, verwehrt ihr den Anspruch darauf, vollkommene, in sich freie und abgeschlossene Wissenschaft zu sein.7 Wir dürfen es als Teil von Hegels platonischem Erbe betrachten, wenn er just dasjenige zu einem Mangel abstempelt, was die Mathematik in Kants Augen zur Wissenschaft kat‹exochen aufsteigen lässt. Im Gegenzug aber müssen wir fragen, worin nach Hegel der besondere Vorzug der Mathematik und vor allem der Geometrie besteht, wenn nicht in der Art ihrer Evidenz und in der streng deduktiven Anordnung ihrer Lehrsätze. Die Antwort wird sich aus der Analyse dessen ergeben, was er die »reelle Definition« nennt. 4 Zum platonischen oder genauer neuplatonischen Hintergrund von Hegels Philosophie der Mathematik siehe Paterson, A.L.T.: Hegel’s Early Geometry. In: Hegel-Studien 39/40 (2005), S. 61–124. 5 Siehe Proklus Diadochus: Kommentar zum ersten Buch von Euklids ›Elementen‹, übersetzt von P. Leander Schönberger. Halle 1945, S. 204: »Wenn es [das geometrische Erkennen] aber einmal imstande wäre, alle Ausdehnung und alle Bilder und die Vielheit zusammenzufalten [sumptúxasa], bildlos und einfach zu schauen und so zu sich zurückzukehren, dann würde es erst so recht die geometrischen Ideen schauen, die ungeteilten, die unausgedehnten, die wesenhaften, deren Inbegriff es ist« (Übersetzung modifiziert). Vgl. Procli Diadochi in Primum Euclidis Elementorum Librum Commentarii. H. v. Gottfried Friedlein. Leipzig 1873, S. 44. Hernach folgt die Seitenangabe der Friedlein-Ausgabe hinter einem Schrägstrich unmittelbar nach dem Verweis auf die deutsche Übersetzung. 6 Platon: Politeia, 534e; vgl. Proklus: Kommentar, S. 192/42. 7 Platon: Politeia, 533c.

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II.2 Hegels »reelle Definition« im Vergleich mit der »Realdefinition« traditioneller Logik Auf eine formale und insofern äußerliche Weise lässt sich die reelle Definition wie folgt erläutern. Ein jeglicher Gegenstand ist insofern konkret, als er eine Vielheit von Bestimmtheiten enthält, durch die er sich von anderen unterscheidet und als derjenige eine, einheitliche Gegenstand erkennen lässt, der er ist. Diese Unterscheidungs- und Erkennungsmerkmale, die traditionell als Bestandteile der nominellen Definition verstanden wurden, stehen nun in einem für den bestimmten Gegenstand charakteristischen Verhältnis zueinander – wie etwa die drei, eine Fläche einschließenden Seiten des Dreiecks oder die Winkelverhältnisse, welche ein Dreieck als rechtwinklig, stumpf- oder spitzwinklig bestimmen. Aber die Tatsache, dass eben diese Elemente in diesen Verhältnissen zusammen aufgenommen und als Merkmale eines einzelnen, einheitlichen Gegenstands aufgefasst werden, ist bis zu einem gewissen Grad willkürlich und beruht auf der unbegriffenen Voraussetzung eben der Einheitlichkeit des betreffenden Gegenstands. Das dieser eben ein Eins ist, darin liegt der zunächst nicht weiter explizierte, unmittelbare Grund des Verhältnisses der Unterscheidungsmerkmale.8 Besonders die rationalistische Tradition hat deshalb eine kognitiv gehaltvollere Art der Definition immer wieder eingefordert – die sogenannte Realdefinition. Diese soll nach Auffassung etwa Spinozas darin bestehen, dass sie uns instand setzt, die Eigenschaften des definiendum aus dessen Wesen abzuleiten und somit die Mannigfaltigkeit des bestimmten Gegenstands als Ausdruck von dessen Einheit zu begreifen.9 Insofern seine solche Einheit durch aktive begriffliche Vereinheitlichung des Mannigfaltigen in einem deduktiven Zusammenhang bedingt ist, leuchtet es unmittelbar ein, wenn man die dergestalt erläuterte Realdefinition als ein synthetisches Erkenntnisprodukt und somit als beweisbaren Lehrsatz charakterisieren wollte. Nun spricht Hegel selbst in diesem Zusammenhang nicht von Nominal- und Realdefinition und wir sollen die von ihm sogenannte reelle Definition auch nicht kurzerhand mit der traditionellen Realdefinition gleichsetzen. Gleichwohl wirft diese traditionelle Definitionslehre einiges Licht auf seinen Gedanken. Die bloße Definition bleibt, so Hegel, »beym allgemeinen Begriff« stehen, wohingegen der Lehrsatz den Gegenstand selbst« in seiner Realität, in den Bedingungen und Formen seines reellen Daseyns« erkennt; daher stellt der Lehrsatz »mit der Definition zusammen […] die Idee dar, welche die Einheit des Begriffs und der Realität ist« (GW 12, 220). Nun ist der Hegelsche Begriff zunächst durch die reine Beziehung auf sich selbst charakterisiert. Diese reine Beziehung auf sich ist es, die in der »ersten« Definition als deren bloße, nicht weiter zu 8 Vgl. Hegels Ausführungen zum analytischen Erkennen und den Übergang zum synthetischen Erkennen (GW 12, 202–208). 9 Vgl. die Diskussion der »vollkommenen Definition« in Spinoza, Baruch de: Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes. Hg. u. übers. v. Wolfgang Bartuschat. Hamburg 1993, S. 85–89 [§ 95–97]; vgl. dazu Garrett, Aaron V.: Meaning in Spinoza‹s Method. Cambridge 2003, S. 144–180; siehe auch Förster, Eckart: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion. Frankfurt am Main 2011, S. 106–108.

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bestimmende Voraussetzung der einheitlichen Identität des definiendum erscheint. Realität bezeichnet im Gegenteil ein Anderssein welches zunächst auch äußerlich an der unterstellten Identität und Selbstbeziehung des definiendum auftritt und als äußerliches Verhältnis verschiedener Bestimmtheiten da ist. Wie die Realdefinition traditioneller Logik, beansprucht Hegels reelle Definition, die Vielheit und Äußerlichkeit der verschiedenen Bestimmtheiten mit der Einheitlichkeit und Wesentlichkeit des einen Gegenstands zu vermitteln. Hegels Konzept einer reellen Definition unterscheidet sich indessen dadurch von der Tradition, dass er das identische Wesen oder den Begriff und die Bestimmtheit oder Realität des Gegenstands relationslogisch als Beziehung-auf-sich, respektive als Beziehung-auf-Anderes artikuliert. Die Aufgabe der reellen Definition lässt sich dadurch bestimmter als die Aufgabe beschreiben, die Beziehung auf Anderes, welche in der bloßen Definition als Verhältnis gegebener Bestimmtheiten vorkommt, als Verwirklichung der Beziehung auf sich zu erkennen. Es geht anders gesagt darum, die Vielheit der sich zueinander bestimmt verhaltenden Momente als Selbstrelation explizit zu reformulieren. Was das genau heißt, möchte ich jetzt am Fall des Pythagoreischen Lehrsatzes vorführen.

II.3 Der Satz des Pythagoras als reelle Definition des Euklidischen Dreiecks Hegel erkennt zu Recht eine Rangordnung unter den Lehrsätzen der Geometrie, indem »einige ihrer Lehrsätze nur einzelne Verhältnisse des Gegenstandes enthalten, andere aber solche Verhältnisse, in welchen die vollständige Bestimmtheit des Gegenstands ausgedrückt ist« (GW 12, 222). Lehrsätze dieser höheren Art erachtet Hegel für Definitionen des Gegenstands, denn ein Satz, der »die Einheit der vollständigen Inhaltsbestimmtheiten« ausdrückt, »ist daher selbst wieder die Definition, aber die nicht nur den unmittelbar aufgenommenen, sondern den in seine bestimmten, realen Unterschiede entwickelten Begriff oder das vollständige Daseyn desselben ausdrückt« (ebd.). Solche Lehrsätze sind es, die Hegel als »zweyte« oder »reelle Definitionen« bezeichnet. Das hauptsächliche Beispiel für eine reelle Definition ist der Satz des Pythagoras, in dessen Beweis das erste Buch der Euklidischen Elemente gipfelt. Um die Bedeutung zu verstehen, welche dem Satz als Ausdruck der Einheit von Begriff und Realität zukommt, gilt es zuerst noch zu sehen, wie im Rahmen der Elemente Begriff und Realität vorher auseinandergetreten sind. Definiert wird das Dreieck als eine von drei gradlinigen Seiten gebildete, ebene Figur; dies ist sein unmittelbarer Begriff. Eigentlich sind nun die ersten Lehrsätze des Buches insgesamt Problemata, d. h. Aufgaben, die darin bestehen, gleiche Längen zu produzieren und insbesondere auch ein gleichseitiges Dreieck zu konstruieren. Man kann daher sagen, dass diese ersten Sätze einen Beweis für das reelle Dasein des Dreiecks darstellen.10 Bereits im vierten Lehrsatz treten jedoch aus Hegels Sicht Begriff und reelles Da10

Vgl. Proklus: Kommentar, S. 330/233–4.

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sein des Dreiecks auseinander. Der Lehrsatz handelt bekanntlich von der Kongruenz zweier Dreiecke, wenn sie zwei jeweils gleiche Seiten haben, die einen gleichen Winkel einschließen.11 Hegel stellt jedoch die manifeste Bedeutung des Lehrsatzes in Frage, derzufolge er das Verhältnis der Gleichheit zwischen zwei verschiedenen Dreiecken bestimmt. Stattdessen liest er ihn als eine Bestimmung dessen, »wie viele Stücke in einem Dreyecke bestimmt seyn müssen, damit auch die übrigen Stücke eines und desselben Dreyecks oder das Ganze bestimmt überhaupt sey« (GW 12, 223). Mit anderen Worten soll es hier rein nur um die Bestimmtheit des Dreiecks gehen, insofern es in seinen verschiedenen »Stücken« sich auf sich selbst bezieht. Die Beziehung auf das andere Dreieck ist bloß deshalb nötig, um die Selbstbeziehung und interne Bestimmtheit an sich erscheinen zu lassen. In Hegels Worten: Daß zwey Dreyecke miteinander verglichen und die Kongruenz auf das Decken gesetzt wird, ist ein Umweg, dessen die Methode bedarf, die das sinnliche Decken statt des Gedankens: Bestimmtseyn, gebrauchen muß. Sonst, für sich betrachtet, enthalten jene Lehrsätze selbst zwey Teile, deren der eine als der Begriff, der andere als die Realität, als das jenen zur Realität Vollendende angesehen werden kann (GW 12, 223). Das ist an sich bereits ein interessanter Zug an Hegels Deutung des Satzes. Der Punkt jedoch, auf den es uns vor allem ankommen soll, ist der Umstand, dass zwei Seiten und der eingeschlossene Winkel schon genügen, um das sich auf sich selbst beziehende Dreieck bestimmt sein zu lassen. Diese Stücke seien, so Hegel, »bereits das ganze Dreyeck für den Verstand […]; die übrigen zwey Winkel und die dritte Seite ist der Ueberfluß der Realität über die Bestimmtheit des Begriffs« (GW 12, 223).12 In diesem Sinn scheidet sich im vierten Lehrsatz der Begriff des Dreiecks oder dessen Beziehung auf sich von der Realität des Dreiecks oder dessen Beziehung auf Anderes (wobei diese Beziehung auf Anderes zunächst eine ist, die am Dreieck selbst stattfindet).13 Die Beziehung des Dreiecks auf sich selbst steht zu dessen eigenem Anderssein an sich selbst – verkörpert

11 Im Wortlaut: »Wenn in zwey Triangeln ABC, DEF, zwey Seiten AB, AC, zweyen Seiten DE, DF, jede für sich, gleich sind […] und ein Winkel BAC, einem Winkel, EDF, gleich ist, der nämlich, den die gleichen Seiten einschließen: so ist auch die dritte Seite BC, der dritten EF gleich; auch sind die Triangel ABC, DEF, selbst einander gleich; und von den übrigen Winkeln sind die, welche gleichen Seiten gegenüber liegen, ABC, DEF; ACB, DFE, ebenfalls einander gleich«, vgl.: Euklids Elemente fünfzehn [sic!] Bücher. Aus dem Griechischen übers. v. Johann Friedrich Lorenz. Halle2 1798, S. 6. 12 Zur neuplatonischen Herkunft der Idee eines »Überflusses« an geometrischen Gegenständen vgl. Paterson: Early Geometry, S. 87, der sie mit Proklus’ Gedanken in Verbindung bringt, mathematische Gegenstände seien ihrem Wesen nach einfach und unausgedehnt. Wie Paterson ebenfalls betont, weicht Hegel darin von Proklus ab, dass er das räumliche Auseinander zum Wesen der geometrischen Gegenstände rechnet. Dennoch steht Hegel erkennbar in der neuplatonischen Tradition, indem er die begriffliche Einfachheit solcher Gegenstände betont und auf die Spannung hinweist, die zwischen dieser Einfachheit und der räumlichen Verschiedenheit der Teile besteht. Der Gegensatz zu Kant, der die mathematische Evidenz in der formalen Mannigfaltigkeit der Anschauung verortet, ist denkbar stark. 13 Den Gedanken einer im Ansichsein selbst stattfindenden, wesentlichen Beziehung auf Anderes führt Hegel im Rahmen der Wissenschaft der Logik zunächst in seiner Betrachtung des »Etwas« ein (GW 21, 102–110).

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in der dritten Seite und den zwei Winkeln – in einer Beziehung der ersten Negation oder der formellen Negativität.14 Wenden wir uns nun dem Satz des Pythagoras zu, mit welchem Euklid das erste Buch beschließt. Das Besondere an diesem Lehrsatz besteht aus Hegelscher Sicht darin, dass hier die Realität des Dreiecks oder dessen Beziehung auf Anderes als Ausdruck von dessen Beziehung auf sich erfasst wird. Was das nun im Einzelnen bedeutet, möchte ich jetzt erläutern; aber zunächst gebe ich die betreffende Stelle bei Hegel wieder: Die völlige Bestimmtheit aber der Grösse des Dreyecks nach seinen Seiten in sich selbst, enthält der pythagoräische Lehrsatz; dieser ist erst die Gleichung der Seiten des Dreyecks, da die vorhergehenden Seiten es nur im allgemeinen zu einer Bestimmtheit seiner Stücke gegeneinander, nicht zu einer Gleichung bringen. Dieser Satz ist daher die vollkommene, reelle Definition des Dreyecks, nemlich zunächst des rechtwinklichten, des in seinen Unterschieden einfachsten und daher regelmäßigsten (GW 12, 223). Diese Idee der Gleichung der Seiten des Dreiecks gilt es nun auszulegen. Bemerken wir zunächst, dass der Lehrsatz nicht unmittelbar die Seiten selbst des Dreiecks miteinander gleichsetzt, sondern deren Quadrate: a2 + b2 = c2. Das wird sich bald als springender Punkt erweisen, denn das Quadrat bildet das mathematische Exponat der allgemeineren Beziehung-auf-sich oder, wie Hegel ebenfalls sagt: der Reflexion-in-sich. Das erhellt weiter, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie Hegel die arithmetische Operation der Potenzierung interpretiert.

II.4 Quadratzahlen und Potenzierung als mathematisches Exponat der Reflexion-in-sich Wie schon die griechischen Mathematiker es taten, assoziiert Hegel Zahlen mit geraden Linien und behauptet z. B. eine grundlegende Entsprechung zwischen dem Postulat der beliebig fortsetzbaren Zählbarkeit und dem Postulat, eine gerade Linie beliebig verlängern zu können.15 Insofern lassen sich die folgenden Überlegungen zur Arithmetik durchaus auch auf bestimmte geometrische Sachverhalte zurückbeziehen. Die Grundoperation der Arithmetik ist das Zählen. Aus dieser Grundoperation such Hegel die anderen elementaren Funktionen der Addition, Subtraktion, Multiplikation, 14 Lehrsatz 4 ist das erste Theorem des ersten Buches. Die drei vorangehenden sind, wie gesagt, Problemata. Der Satz des Pythagoras ist das letzte Theorem des ersten Buches (1.47), wenn man den Lehrsatz 1.48, welcher die Umkehrung des Pythagoras ist, nicht eigens dazuzählt. Der Bogen spannt sich also gewissermaßen zwischen diesen beiden Theoremen. 15 GW 21, 199. Vgl. Euklid: Elemente, S. 3, sowie die Definitionen von »linearen Zahlen«, »Flächenzahlen«, »Kubikzahlen« usw. im 7. Buch (ebd., S. 134). Auch Kant hält implizit an diesem Zusammenhang fest, indem er die Arithmetik in der Form des inneren Sinns (der Zeitvorstellung) wurzeln lässt, diese aber aus der »Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen« hervorgehen lässt, die wir vollziehen, wenn wir eine gerade Linie ziehen (KrV, B 154).

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Division und nicht zuletzt auch der Potenzierung abzuleiten. Die zuletzt genannte Funktion ist für uns die wichtigste, da Hegel sie als eine Art Synthese der anderen betrachtet. Ausgangspunkt ist der Unterschied zwischen zwei Wesensmomenten der Zahl: Anzahl und Einheit. Einheiten lassen sich mehr oder weniger willkürlich festlegen, je nach Art dessen, was gezählt werden soll. Zähle ich etwa Eier, so mag zunächst das einzelne in seiner ungebrochenen Schale eingeschlossene Ei als Einheit gelten und bei jedem neu hinzukommenden Ei erhöht sich die Anzahl um eins. Darin besteht die Addition. Ich kann freilich auch eine beliebige Anzahl Eier als neue Einheit festlegen – z. B. die Anzahl 12 als die Einheit »ein Dutzend.« Nach solchen zusammengesetzten Einheiten zu zählen und aus ihnen neue Anzahlen zu bilden, darin besteht die Multiplikation. Nun kann es aber vorkommen, dass Einheit und Anzahl, die zwei verschiedenen Momente des Zahlbegriffs, sich gleichen – so z. B. wenn ich 2 Paar Schuhe oder 12 Dutzend Eier zähle. In diesem Fall der sogenannten Potenzierung verwirklicht eine einzige Zahl beide sonst unterschiedene Momente des Zahlbegriffs an ihr selbst. Dazu Hegel: Es sind an sich diese Bestimmungen als der wesentliche Unterschied des Begriffs, die Anzahl und die Einheit, vorhanden, welche für das vollständige In-sich-Zurückgehen des Ausser-sich-Gehens auszugleichen sind. In dem so eben Dargestellten liegt weiter der Grund, warum […] die Auflösung der höhern Gleichungen in der Zurückführung auf die quadratische bestehen muß […] – Das Quadrat der Arithmetik enthält nach dem Angegebenen, allein das Schlechthin-Bestimmtseyn in sich; weswegen die Gleichungen mit weitern formellen Potenzen darauf zurückgeführt werden müssen, gerade wie das rechtwinklichten Dreyeck in der Geometrie das Schlechthin-in-sichBestimmtseyn enthält, das im pythagoräischen Lehrsatz exponirt ist, weswegen auch darauf für die totale Bestimmung alle anderen geometrischen Figurationen reduciert werden müssen (GW 21, 202). Ziehen wir ein vorläufiges Fazit: Das Quadrat ist das mathematische Exponat der Reflexion-in-sich als vollständige Selbstbestimmung. Sein besonderer Status als reelle Definition des Dreiecks wächst dem Satz des Pythagoras deshalb zu, weil er die bestimmte Beziehung der drei Seiten des Dreiecks als eine Gleichheit ausdrückt, welche durch die Reflexion der einzelnen Seiten in sich selbst erst zur äußerlichen Erscheinung gelangt, und zwar als deren Quadrate. Genauer kommt zuerst diejenige Seite in Betracht, welche dem von den übrigen zwei Seiten eingeschlossenen rechten Winkel gegenüberliegt: die Hypotenuse. Diese Seite, in sich reflektiert als Quadrat, drückt in positiver Weise die Einheit der übrigen zwei, den rechten Winkel einschließenden Seiten aus: a2 + b2 = c2. Diese Entwicklung der inneren Einheit des Dreiecks gilt deshalb als direkter Ausdruck der Beziehung des Dreiecks auf sich im Medium der Beziehung auf die dem Dreieck andere Figur des Quadrats. Das Andere des Dreiecks – hier das Quadrat – ist in diesem Fall unmittelbar selbst dessen Reflexion-in-sich; der Lehrsatz drückt deshalb die zweite Negation, d. h. die absolute Negativität des Dreiecks aus. Realität und Begriff sind einander gemäß.

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II.5 Ein definitionstheoretischer Einwand und dessen Auflösung Der Hauptteil meiner Auslegung ist damit abgeschlossen. Ich glaube die Evidenz meiner Thesen dadurch aber noch erhöhen zu können, dass ich auf folgendes Problem und seine Lösung hinweise. Der Satz des Pythagoras ist soeben als reelle Definition des Dreiecks überhaupt hingestellt worden. Aber er gilt doch, wie wir wissen, nur für das rechtwinklige Dreieck. Es müsste nun als krasser Fehler gelten, wenn die Eigenschaft einer besonderen Art als Definition des Genus angenommen würde.16 Macht sich Hegel dieses Fehlers schuldig? Er tut es nicht. Und sobald wir seine genauere Auffassung auseinandergesetzt haben, werden wir sogleich auch deren eigentliche Tragweite erkennen. Der Satz des Pythagoras, schreibt Hegel, ist »die vollkommene, reelle Definition des Dreyecks.« Doch präzisiert er sogleich: »nemlich zunächst des rechtwinklichten, des in seinen Unterschieden einfachsten und daher regelmäßigsten« (GW 12, 223). Damit erkennt er die relative Begrenzung dieser reellen Definition auf eine besondere Art des Dreiecks ausdrücklich an. Weil das rechtwinklige Dreieck das einfachste und regelmäßigste ist, so ist auch dessen »Gleichung« die am einfachsten zu bewerkstelligende und auch diejenige, auf die sich alle komplexeren Arten von Dreiecken irgendwie werden reduzieren lassen müssen.17

16 Auch hier ließen sich jedoch Verbindungslinien zu Proklus ziehen, der in Bezug auf das Quadrat erklärt: »Einzig das Quadrat stellt in Hinsicht auf die Seiten sowohl, wie auf die Winkel einen Idealfall dar. Denn jeder der letzteren ist ein Rechter und beansprucht, das Winkelmaß, das weder eine Vergrößerung noch eine Verkleinerung zuläßt. In zweifacher Beziehung also bevorzugt, erhielt es mit Recht den allgemeinen Namen. […] Mit Recht erhielt also das Quadrat, dem Gleichheit der Seiten und Rechtwinkligkeit die letzte Vollendung geben, allein von allen Vierseiten diesen Namen. Denn den vollkommensten Arten legen wir häufig den Namen der ganzen Gattung bei« (Proklus: Kommentar, S. 285/172–3; Herv. v. mir, B.B.). Hier geht es freilich zunächst einmal nur um den Namen des Genus; es wird nicht nahegelegt, dieses durch die Art, auch durch die vollkommenste nicht, zu definieren. Dennoch kommt hier eine Auffassungsweise zum Ausdruck, die sich am paradigmatischen Fall orientiert und andere, weniger »vollkommene« Fälle als Abwandlungen desselben betrachtet. 17 Das rechtwinklige Dreieck mag als Referenzdreieck angesprochen werden. Dies hängt zunächst mit dem besonderen Status des rechten Winkels als solchen zusammen. Proklus bringt ihn mit der pythagoreischen Lehre entgegengesetzten Prinzipien in Verbindung, deren das eine »die Grenze zum Wesen hat und seinen Schöpfungen Ursache ist der Begrenzung, der Identität, der Gleichheit und überhaupt all dessen, was zum besseren Komplex gehört […] und da nun auch die gradlinigen Winkel diesen Prinzipien ihr Sein verdanken, so hat deshalb ganz natürlich die von der Grenze herrührende Idee den rechten Winkel gebildet, der allein der Gleichheit und Ähnlichkeit mit jedem rechten Winkel unterworfen ist und immer fest begrenzt ist, immer derselbe bleibt und weder Vergrößerung noch Verkleinerung zuläßt. […] Auch in dem eigentlichen Seinsbereich gleicht der rechte Winkel dem Wesen; den Akzidentien aber der stumpfe und der spitze Winkel. Denn diese lassen ein Mehr und Minder zu und hören nimmer auf, in unbegrenztem Maße sich zu verändern« (Proklus: Kommentar, S. 258/132 f.). Etwas später erklärt er weiter: »Der rechte Winkel verleiht [den sublunarischen Dingen] das Wesen und bestimmt ihnen das Maß des Seins; und die Idee des rechtwinkligen Dreiecks begründet das Wesen der irdischen Elemente […]« (ebd., S. 282/167). Ähnlich wie im Fall des Quadrats, welches Proklus als Viereck kat‹exochen gilt, darf man das rechtwinklige Dreieck als Referenzdreieck ansprechen, d. h. als dasjenige Dreieck in Bezug worauf alle anderen Arten der Dreiecke eingeteilt werden (zum Verhältnis zwischen dem Winkelgrad und der relativen Seitenlängen als Einteilungsprinzip vgl. ebd., S. 282 f./168).

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Hegel fährt fort, indem er die Schritte zur Verallgemeinerung der Definition benennt und die entsprechenden Euklidischen Lehrsätze identifiziert. Lehrsatz 2.5 stellt die »Reduction« (GW 12, 224) des Rechtecks aufs Quadrat dar, indem seine Fläche als Differenz zweier Quadrate ausgedrückt wird. Die beiden vorletzten Lehrsätze des zweiten Buches (2.12; 13) ergänzen den Satz des Pythagoras, indem sie das Verhältnis der Seiten eines beliebigen Dreiecks als Gleichung der darauf errichteten Quadrate plus oder minus einem auf der Grundseite errichteten Rechtecks. Das zweite Buch schließt dann mit einer Anweisung, wie man ein Quadrat errichtet, welches mit einer beliebigen gegebenen gradlinigen Figur flächengleich ist (2.14). Das dritte Buch schließt wiederum mit dem berühmten Lehrsatz, demzufolge gerade Linien, die sich in einem Kreis beliebig schneiden, dadurch Segmente gleicher Rechtecke bilden (3.35).18 Über diesen Lehrsatz schreibt Hegel: Jene Gleichung zwischen dem Quadrat und dem Rechteck liegt der zweyten Definition des Kreises zugrunde, — die wieder der pythagoräische Lehrsatz ist, nur insofern die Catheten als veränderliche Grössen angenommen werden; die erste Gleichung des Kreises ist in eben dem Verhältnisse der sinnlichen Bestimmtheit zur Gleichung, als die zwey verschiedenen Definitionen der Kegelschnitte überhaupt zueinander sind (GW 12, 224).19 Damit zeichnet Hegel eine Erweiterung des Prinzips über den Bereich derjenigen mathematischen Gegenstände hinaus vor, die Euklid selbst behandelt, um die Theorie von Ellipse, Parabel und Hyperbel ebenfalls darunter zu subsumieren. Diese Hinweise machen deutlich, auf was es ankommt. Eine zweite oder reelle Definition ist in der Geometrie dann erreicht, wenn das Verhältnis der sonst gleichgültigen »Stücke« eines Gegenstands als quadratische Gleichung formuliert werden kann. Da Hegel das Quadrat als mathematisches Exponat der Reflexion in sich versteht, können wir die reelle Definition auch so fassen: Sie drückt die äußere Beziehung auf scheinbar gleichgültig Anderes als Funktion der Beziehung auf sich aus. Das Bestimmtsein überhaupt wird begrifflich in Selbstbestimmung überführt, die Realität des Gegenstands

18 Streng genommen beschließt der Lehrsatz 3.37 das Buch, aber 3.36 und 3.37 sind inhaltlich eng mit 3.35 verwandt. 19 Man vergleiche zum Kontrast den Gebrauch, den Kant von diesem euklidischen Lehrsatz in den Prolegomena macht, wo es ihm lediglich auf die Frage ankommt, »liegt das Gesetz im Zirkel, oder liegt es im Verstand?« (AA 4, 320). Den konkreten Inhalt des Lehrsatzes und dessen systematisches Verhältnis zu weiteren euklidischen Sätzen thematisiert er nicht. Ähnliches gilt von § 62 der Kritik der Urteilskraft, wo Kant denselben Lehrsatz als Illustration der Zweckmäßigkeit ohne Zweck heranzieht, die den geometrischen Grundgebilden eignet (AA 5, 362–363). Auch hier tritt der konkrete Inhalt zugunsten einer eher formalen Betrachtung über das Verhältnis des Lehrsatzes zum subjektiven Erkenntnisprozess zurück. Hegel dagegen richtet seine Diskussion voll auf die spekulative Deutung des geometrischen Inhalts aus. Dass er dies für möglich und wünschenswert hält, hängt mit seiner von Kants Position grundsätzlich abweichenden Überzeugung zusammen, dass – auch wenn der mos geometricus nicht auf die Philosophie übertragen werden darf – Mathematik und Spekulation nicht zwei verschiedene Arten, sondern eher zwei Grade der Erkenntnis bilden.

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wird als den »in seine bestimmten, realen Unterschiede entwickelten Begriff oder das vollständige Dasein desselben« (GW 12, 222) dargestellt. Der Vorzug der Geometrie als Form wissenschaftlicher Erkenntnis besteht also weder in ihrer anschaulichen Evidenz noch in ihrer Fähigkeit deduktiver Strenge bloß als solcher. Er besteht vielmehr in ihrer Ausrichtung auf unendliche Selbstbestimmung, d. h., auf den Gedanken einer Reflexion-in-sich, die als solche bereits die Setzung von Reflexion-in-Anderes, Realitätssetzung ist. Diese Ausrichtung mag in der Mathematik, wie sie sich zunächst geschichtlich gefunden und entwickelt hat, höchst implizit sein; sie mag überdies im Medium räumlicher Figurationen noch nicht einmal vollkommen realisierbar sein. Hegel vermag gleichwohl anhand des Aufbaus und des Inhalts wenigstens der ersten drei Bücher der Euklidischen Elemente aufzuzeigen, dass eine solche Ausrichtung vorhanden ist und strukturbildend wirkt.

III. Vom Ideal der Geometrie zum transzendentalen Ideal: Das Neuplatonische Erbe in Hegels Philosophie der Mathematik Über Hegels Kritik der geometrischen Erkenntnisform geschieht es leicht, dass seine Würdigung derselben verkannt wird. Sicher attestiert er ihr eine unüberwindliche Äußerlichkeit im Hinblick sowohl auf ihre räumlichen Gegenstände als auch auf die Form der Erkenntnistätigkeit selbst.20 Die Geometrie ist mit Voraussetzungen behaftet, deren Benennung als »Gemeinbegriffe« (koinai ennoiai) oder »Axiome« darüber hinwegtäuscht, dass sie schon in der Antike skeptischen Angriffen ausgesetzt gewesen sind.21 Für ihre Beglaubigung sind sie wiederum auf eine Anschauungsform angewiesen, die der freien Selbstbeziehung des Denkens letztlich fremd bleibt.22 Außerdem reduziert sich die Erkenntnistätigkeit in der Geometrie auf das bloß »formelle Schliessen« (GW 12, 226) und beansprucht eine Geltung, die in der faktischen, anschaulich vermittelten Einsicht verbleibt, ohne in die eigene Genesis des Gegenstands eindringen zu können: der geometrische Beweis ist deshalb, wie eingangs schon betont, »ein subjectives Thun ohne Objectivität« (GW 12, 225). Dennoch zeichnet sich die Geometrie vor allen anderen endlichen Erkenntnisformen dadurch aus, dass sie die vollkommene Inhaltsbestimmtheit ihrer Gegenstände als Funktion der Reflexion-in-sich darzustellen vermag. Wir können denselben Gedanken auch so formulieren: Innerhalb ihrer relativ eng gesteckten Grenzen schafft es die Geometrie, aus dem Begriff des Gegenstands, d. h. aus dessen Beziehung-auf-sich, ein vollständig bestimmtes Individuum darzustellen. Nach der einen Seite hin unterscheidet dies die Geometrie von bloß empirischen Erkenntnisweisen, bei denen die »Vereinzelung und Konkretion« ihrer Gegenstände »nur eine Anwendung des Allgemeinen auf

20

Vgl. GW 12, 225–227, 229; siehe auch GW 9, 31–34. Siehe Szabó, Árpád: Die Anfänge des Euklidischen Axiom-Systems. In: Archive for the History of the Exact Sciences 1 (1960/62), S. 37–106, bes. 67–70. 22 Vgl. GW 12, 226 21

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anders woher hereinkommenden Stoff ist; das eigentliche Einzelne der Idee ist auf diese Weise eine empirische Zuthat« (GW 12, 224). Aber nach der anderen Seite hin nähert es die Geometrie an das an, was schon Kant in Anlehnung an Platon als das Ideal bezeichnet. Das kategoriale Erkennen ist für Kant wie eigentlich auch noch für Hegel auf einen von außen hereinkommenden, raumzeitlichen Gehalt angewiesen, um Individuell-Reales zu erfassen; auch die von Kant sogenannten Ideen können höchstens in dem Sinn in concreto dargestellt werden, dass ihnen analoge Strukturen aufgefunden werden, an denen noch viel Kontingentes, der Idee äußerlich Beigemischtes haften bleibt, ohne aus der Idee selbst ableitbar zu sein. Das Ideal ist dagegen die Idee »in individuo, d. i. als ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares oder gar bestimmtes Ding«.23 Dieses Ideal identifiziert Kant mit dem Begriff Gottes als ens realissimum.24 So paradox dies in heutigen Ohren klingen mag, ist die Geometrie so gesehen die Wissenschaft, die unter allen endlichen Erkenntnisformen der Theologie am nächsten kommt. Proklus nimmt in seinem Kommentar zum ersten Buch der Euklidischen Elemente die Verächter der Mathematik aufs Korn, die sich auf Platon und dessen angebliche Ablehnung der Ansprüche der Mathematik auf echte Wissenschaftlichkeit berufen. Nirgends, entgegnet er, habe Platon die Mathematik als unwissenschaftlich verworfen; er habe sie bloß von der reinen, voraussetzungslosen Wissenschaft der Dialektik unterschieden, die zur Erkenntnis des Guten an sich aufsteigt, während die Mathematik wieder zur phänomenalen Welt herabsteigt und darum Voraussetzungen im Rücken hat, die sie selbst nicht mehr einzuholen vermag.25 Ähnliches gilt für Hegel. Er scheint die Mathematik zwar einerseits als »subjektives Tun ohne Objektivität« in dem bereits erläuterten Sinn abzuwerten. Andererseits aber und zugleich bedarf es lediglich einer zweiten, spekulativ orientierten Reflexion, um gerade dieses subjektive Tun als Rückgang in das reale Wissen selbst und somit als eigentliche Quelle und Element der Notwendigkeit zu erkennen. Ja er sieht darin sogar den Übergang zur Idee des Guten ebenfalls vollzogen, womit seine platonisierende, axiologische Überformung spinozistischer Theologie mit Händen greifbar wird. Der Auseinandersetzung mit der Mathematik und insbesondere mit der Geometrie kommt also ein hoher Stellenwert innerhalb des Hegelschen Denkens zu. Er ist weit davon entfernt gewesen, diese Erkenntnisweise, die dem menschlichen Verstand so viel Ehre eingebracht hat, zu verachten. Wenn er sie gleichwohl als Vorbild für die spekulative Wissenschaft abgelehnt hat, so deshalb, weil dasjenige, was ihr in Wahrheit ihren einzigartig hohen Stellenwert verleiht, innerhalb ihrer selbst nicht mehr voll begriffen werden kann: die Ableitung der Realität aus dem Begriff, der Bestimmtheit aus der Selbstbestimmung, der Notwendigkeit aus der Freiheit, kurz: die Konstruktion des Ideals.

23 24 25

KrV, B 596. Ebd., B 599–611. Proklus: Kommentar, S. 185/31.

Hegels Kritik am geometrischen Beweis und sein Holismus Weimin Shi

I. Die Kritik am geometrischen Beweis und am räsonierenden Denken In der Philosophie argumentiert man, um Erkenntnisse vom Gegenstand zu erwerben. Ein Argument fängt mit Prämissen an, die man durch die Betrachtung des Gegenstandes auffindet, und läuft durch eine gültige Schlussfolgerung zu dem Schluss, der die zu erwerbende Erkenntnis des Gegenstandes darstellt. Die Prämissen informieren entweder über den Gegenstand oder darüber, was bezüglich des Gegenstandes nicht der Fall ist, wenn es sich um einen indirekten Beweis handelt. In beiden Fällen geht man von schon erkannten Sachverhalten bezüglich des Gegenstandes zu Aspekten des Gegenstandes, die noch zu erkennen sind, über. Die Prämissen müssen also die Schlussfolgerung dadurch ermöglichen, dass sie in logischen Verbindungen zu dem Schluss stehen. Die Aufsuchung der passenden Prämissen macht den Kontext der Entdeckung aus. Ein Denker ist erfolgreich, wenn er in dem Kontext der Entdeckung die passenden Prämissen findet und damit ein triftiges Argument konstruiert. Hegel scheint jedoch das Defizit des argumentativen Verfahrens gerade darin zu sehen, dass die durch das Argument ermöglichte Erkenntnis des Gegenstandes von einem Kontext der Entdeckung abhängig ist. Bezüglich des Beweises um die Natur des rechtwinkligen Dreiecks macht er geltend: Als Resultat ist zwar das Theorem ein als wahr eingesehenes. Aber dieser hinzugekommene Umstand betrifft nicht seinen Inhalt, sondern nur das Verhältniß zum Subject; die Bewegung des mathematischen Beweises gehört nicht dem an, was Gegenstand ist, sondern ist ein der Sache äusserliches Thun (GW 9, 32).1 Um zu beweisen, dass das Quadrat der Hypotenuse gleich der Summe der Quadrate der beiden übrigen Seiten des rechtwinkligen Dreiecks ist, muss man zusätzlich Hilfslinien ziehen und geometrische Konstruktionen hinzufügen, um Verhältnisse aufzufinden, die als Prämisse des Arguments gelten können. Während man die geschickten Konstruktionen der Geometer bewundert, die schon viele Hunderte von Beweisen des Satzes des Pythagoras aufgestellt haben, sieht Hegel darin eher ein Defizit des Denkens der Geometer, dass es ihre Einfälle sind, die die Beweise ermöglichen. »[D]as ganze Hervorbringen des Resultats ist ein Gang und Mittel des Erkennens« (GW 9, 32) und gehört dem

1

Vgl. ebd.: »Im mathematischen Erkennen ist die Einsicht ein für die Sache äusserliches Thun; es folgt daraus, daß die wahre Sache dadurch verändert wird. Das Mittel, Construction und Beweis, enthält daher wohl wahre Sätze; aber ebensosehr muß gesagt werden, daß der Inhalt falsch ist.«

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Gegenstand nicht. Hegel spricht daher von »dem suchenden Erkennen«, für das die Methode bloß ein Werkzeug ist (GW 12, 238).2 So gesehen steht Hegels Kritik am geometrischen Beweis im Zusammenhang mit seiner Unterscheidung zwischen dem räsonierenden und dem begreifenden Denken. Das räsonierende Denken ist »die Freyheit von dem Inhalt«, während das begreifende Denken den Inhalt sich bewegen lässt und diese Bewegung betrachtet (GW 9, 41). Das räsonierende Denken ist also dem Gegenstand äußerlich. Es verhält sich so, weil es seinen Inhalt als Prädikat auf ein Subjekt bezieht, auf dem als einer Basis die Bewegung des Denkens läuft (ebd., 42). Hegel bezeichnet ein solches Subjekt als ruhend. Hingegen geht in dem begreifenden Denken das ruhende Subjekt zugrunde. Das Subjekt ist vielmehr »der sich bewegende und seine Bestimmungen in sich zurücknehmende Begriff« (ebd.). Hegel bezieht des Weiteren den Unterschied zwischen dem räsonierenden und dem begreifenden Denken auf den zwischen dem Urteil und dem spekulativen Satz: Formell kann das Gesagte so ausgedrückt werden, daß die Natur des Urtheils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des Subjects und Prädicats in sich schließt, durch den speculativen Satz zerstört wird, und der identische Satz, zu dem der erstere wird, den Gegenstoß zu jenem Verhältnisse enthält (GW 9, 43). Der geometrische Beweis ist also das Werk des räsonierenden Denkens, und Hegels Kritik am geometrischen Beweis ist ein Fall seiner Kritik am räsonierenden Denken. Die Kritik am geometrischen Beweis macht deutlich, dass die Äußerlichkeit des Denkens, deren Hegel das räsonierende Denken bezichtigt, das Vorkommen des Kontexts der Entdeckung im Denken bedeutet. Die Ruhe des Urteilssubjekts des räsonierenden Denkens ist ebenfalls im Zusammenhang mit dem Vorkommen des Kontexts der Entdeckung beim Denken zu verstehen. Ein Subjekt ist insofern ruhend, als der Kontext des Denkens, in dem es erkannt wird, nicht von ihm selber bestimmt ist. Hegel stellt die Philosophie dem mathematischen Erkennen gegenüber. Seine Kritik am geometrischen Beweis deutet darauf hin, dass die Philosophie für ihn ein Denken ist, für welches zwei Bedingungen gelten: a. Bedingung des sich bewegenden Begriffs: Das Subjekt des spekulativen Satzes, in dem das Denken vorgeht, ist ein sich bewegender Begriff. b. Bedingung der Nicht-Äußerlichkeit des Denkens: Das Denken ist dem Gegenstand nicht äußerlich. Das kann bedeuten entweder (b1), dass kein Kontext der Entdeckung beim Denken vorkommt, oder (b2) dass der Kontext der Entdeckung dem Denken nicht äußerlich ist. Ohne ein solches Denken wäre seine Kritik an der Äußerlichkeit des räsonierenden Denkens gegenstandslos. Die (a)-Bedingung des sich bewegenden Begriffs scheint nahe zu legen, dass die Philosophie Hegel zufolge den Gegenstand als eine sich vollständig bestimmende Entität aufzufassen hat. Wenn Hegel geltend macht, dass das Urteil 2 Damit verbindet Hegel die Kritik, dass der Schluss, den die suchende Erkenntnis betätigt, »der formelle« ist (GW 12, 238 f.).

Hegels Kritik am geometrischen Beweis und sein Holismus

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»durch seine Form einseitig und in sofern falsch« ist (Enz § 31, A, GW 20, 72), ist die Falschheit des Urteils dieser Interpretation nachmetaphysisch. Denn das Urteil impliziert3 oder verleitet4 zu der Annahme, dass das Prädikat bloß einen von dem Erkennenden erfassten Aspekt des Gegenstandes darstellt und dem Subjekt gegenübersteht.5 Hegel hält dagegen, dass die Wirklichkeit organisch6 bzw. »organologisch« ist.7 Die Prädikate im spekulativen Satz sind demgemäß Momente der Selbstbestimmung des Subjekts. Diese Interpretation liest Hegel metaphysisch und bezieht seine Idee des sich bewegenden Begriffs auf die innere Zweckmäßigkeit des Gegenstandes. So gesehen ist der Ausdruck des sich bewegenden Begriffs nur metaphorisch zu deuten.8 Dieser Lesart zufolge ist das räsonierende Denken äußerlich, weil es verfehlt, der Selbstbestimmung des Gegenstandes zu folgen und sie darzustellen. Dabei wird jedoch nicht berücksichtigt, dass es das Vorkommen des Kontextes der Entdeckung beim Denken ist, was Hegel zufolge das Denken äußerlich macht. Die Kritik der Äußerlichkeit des Denkens betrifft nicht, als was der Gegenstand gedacht wird, sondern die Art und Weise, wie das Denken vorgeht. Auch ein Denken, welches der Selbstbestimmung eines Gegenstandes folgt, ist äußerlich, so lange ein Kontext der Entdeckung beim Denken vorkommt. Zieht man die (b)-Bedingung der Nicht-Äußerlichkeit des Denkens in Betracht, bietet sich unmittelbar die Option (b1) als die Bedeutung der (b)-Bedingung an. So kann

3 Hanna, Robert: From an Ontological Point of View: Hegel’s Critique of the Common Logic. In: The Review of Metaphysics 40 (1986), S. 305–38. 4 Horstmann, Rolf-Peter: Ontologie und Relationen. Bodenheim 1984. 5 Hannas Interpretation ist unter anderem deswegen nicht befriedigend, weil es nicht klar ist, inwiefern man dem Urteil als solchem eine ontologische Position zuschreiben kann. Wenn das Urteil als solches eine ontologische Position implizieren würde, die, wie Hanna meint, die Konkretheit des Gegenstands negiert (Hanna: Hegel’s Critique of the Common Logic, S. 316), dann könnte man die Gegenposition nicht in einem Urteil darstellen, ohne sich zu widersprechen. Das würde aber bedeuten, dass die These, dass der Gegenstand eine konkrete Totalität ist, lediglich aufgrund dessen falsch ist, dass sie behauptet wird. Diese Konsequenz scheint nicht haltbar zu sein. Denn das Urteil ist eine semantische Einheit, in der sich ein Gedanke artikuliert. Ohne diese semantische Einheit, kann der Gedanke der Wahrheit nicht artikuliert werden. So merkt Horstmann über Hegels Kritik am Urteil an, dass es schwer zu sehen ist, »wie man sich über Gegenstände erkennend verständigen kann, wenn nicht mit Urteilen.« Siehe Horstmann: Ontologie und Relationen, S. 52. Will man diese Folge durch die These vermeiden, dass die Wahrheit doch in dem spekulativen Satz zu artikulieren ist, muss man angeben, inwiefern der spekulative Satz syntaktisch vom Urteil zu unterscheiden ist. Hegel ist jedoch der Auffassung, dass der spekulative Satz, weil er auch Satz ist, »die Meynung des gewöhnlichen Verhältnisses des Subjects und Prädicats, und des gewöhnten Verhaltens des Wissens« erweckt (GW 9, 44). Das deutet darauf hin, dass der spekulative Satz syntaktisch vom Urteil nicht zu unterscheiden ist. 6 Waterberg, Thomas E.: Hegel’s Idealism. The Logic of Conceptuality. In: The Cambridge Companion to Hegel. Hg. v. Frederik Beiser. Cambridge 1993, S. 102–129. 7 Horstmann: Ontologie und Relationen, S. 71. 8 So sagt Lauer: »Where, as in the ›formal proposition,‹ the predicates of a subject signify what is ›attributed‹ to the subject by someone thinking, strong language is needed to indicate that in the ›speculative proposition‹ predicates are activities […] of the subject itself.« Siehe Lauer, Quentin: A Reading of Hegel’s Phenomenology of Spirit. New York 21993, S. 327.

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man geltend machen, dass das spekulative Denken ein Denken ist, das sich vom formal-logischen Denken dadurch unterscheidet, dass es den inneren Widerspruch einer Kategorie aufzeigt und die Kategorie in die nächste übergehen lässt. Obgleich das spekulative Denken Methode genannt wird,9 sind sowohl der Widerspruch als auch der Übergang notwendig und die Kategorie wird in dem Sinn intern betrachtet, dass sie selbst bestimmt, zu welcher Kategorie sie übergeht. Auch wenn diese Interpretation in Übereinstimmung mit Hegels Charakterisierung der Dialektik steht, lässt sie meines Erachtens einige Fragen noch offen. Es ist zunächst nicht klar, inwiefern der Übergang von einer Kategorie zu der nächsten intern zu betrachten ist. Man spricht davon, dass eine Kategorie die nächste impliziert oder zur Folge hat, so dass die erstere zu der letzteren übergeht10 oder sie sich zur letzteren entwickelt.11 Ausdrücke wie »implizieren« und »zur Folge haben« stammen aber aus der formalen Logik. In der formalen Logik kann ein Begriff viele andere implizieren und zur Folge haben. Wenn man ein Argument konstruieren will, muss man sich einen impliziten Begriff wählen, der dem Argument angemessen ist. Die Notwendigkeit des Wählens macht den Kontext der Entdeckung aus. Die Relationen von »implizieren« und »zur Folge haben« bezeichnen in der formalen Logik daher keine Verhältnisse, die einem Begriff in dem Sinn intern sind, dass das Bemerken solcher Relationen das Denken dem Gegenstand nicht-äußerlich macht. Ohne dass man genauer angibt, wie diese Relationen in der spekulative Logik Hegels anders zu verstehen sind, ist nicht zu sehen, inwiefern das spekulative Denken dem Gegenstand nicht-äußerlich ist. Weder die metaphysische noch die methodische Interpretation nimmt die zwei Bedingungen wörtlich, die das spekulative Denken Hegel zufolge zu erfüllen hat. Besonders wird die Bedingung des sich bewegenden Begriffs metaphorisch gedeutet, entweder als die teleologische Entwicklung eines Gegenstandes oder als die Bewegung des spekulativen Denkens. Im Folgenden werde ich hingegen eine Interpretation des spekulativen Denkens vorschlagen, die die Idee des sich bewegenden Begriffs wörtlich nimmt. Dabei verstehe ich die (b)-Bedingung der Nicht-Äußerlichkeit des Denkens nicht als (b1), sondern als (b2), wie noch zu erklären ist.

9 Michael Forster betrachtet das spekulative Denken als Hegels dialektische Methode, während Stephen Houlgate betont, dass es lediglich darin besteht, das, was in einer Kategorie implizit vorhanden ist, zu explizieren, um ihrer eigenen Bewegung zu folgen. Siehe Forster, Michael: Hegel’s Dialectical Method. In: The Cambridge Companion to Hegel. Hg. v. Frederik Beiser. Cambridge 1993, S. 130–170; Houlgate, Stephen: The Opening of Hegel’s Logic. West Lafayette 2006. 10 »Hegel’s method in the Logic is to focus on the initial abstraction of pure being and to articulate whatever is entailed or implied by that concept. […] A new category may only be understood to emerge from what is implicit in a previous category – that is, may only emerge as one category turns into another one.« Siehe Houlgate: The Opening of Hegel’s Logic, S. 93. 11 Hegel’s Dialektik »is a method of exposition in which each category in turn is shown to be implicitly self-contradictory and to develop necessarily into the next.« Siehe Forster: Hegel’s Dialectical Method, S. 132.

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II. Die Kritik am Urteil als die Kritik an einer Begriffstheorie Durch die Kritik am Urteil führt Hegel die Idee des sich bewegenden Begriffs ein, dessen Bewegung der spekulative Satz darstellt. Der spekulative Satz ist ihm zufolge ein identischer Satz, der in heutiger Terminologie eigentlich eine Äquivalenzaussage ist, in der das Wesen des Satzsubjekts angegeben wird.12 Merkwürdigerweise warnt Hegel vor der Vermischung der spekulativen und der räsonierenden Weise des Denkens und entsprechend vor der Vermischung des spekulativen Satzes und des Urteils. Wie kann man aber einen identischen Satz für ein Urteil halten? Hegel ist jedoch der Ansicht, dass die Vermischung so oft passiert, dass die Beschwerde über die Unverständlichkeit philosophischer Schriften eigentlich darauf zurückzuführen ist (GW 9, 44 f.).13 Auch hier werde ich Hegel wörtlich nehmen. Dabei ist anzunehmen, dass die Vermischung des spekulativen Satzes und des Urteils von ernstzunehmender theoretischer Relevanz ist. Die Vermischung ist also nicht ein Zeichen der Leichtsinnigkeit oder unzureichender Erkenntnis derjenigen, die die beiden dadurch vermischen, dass sie bikonditionale und konditionale Propositionen nicht unterscheiden können. Daraus lässt sich zunächst die Schlussfolgerung ziehen, dass der spekulative Satz und das Urteil syntaktisch nicht zu unterscheiden sind. Ein und derselbe Satz lässt sich demzufolge syntaktisch sowohl als spekulativer Satz als auch als Urteil ausdeuten. Tatsächlich wurde eine Wesensaussage in der Geschichte als Urteil betrachtet. Christian Wolff nannte sie z. B. das identische Urteil.14 Was hat Hegel dagegen einzuwenden, den spekulativen Satz als ein Urteil zu betrachten? Hegel hält die Ansicht für selbstverständlich: »Das Subjekt ist das, wovon etwas ausgesagt [wird], und das Prädikat ist das Ausgesagte« (Enz § 169 Z, TWA 8, 320). Betrachtet man eine Wesensaussage als Urteil, setzt man demzufolge voraus, dass man über einen Begriff verfügt, der auf eine 12 Das spekulative Denken »findet, da das Prädicat selbst als ein Subject, als das Seyn, als das Wesen ausgesprochen ist, welches die Natur des Subjects erschöpft, das Subject unmittelbar auch im Prädicate« (GW 9, 44). Hegels Beispiel ist: »Gott ist das Seyn.« Der Satz bietet meiner Behauptung, dass der spekulative Satz eine Äquivalenzaussage ist, gewisse Schwierigkeiten, da er ein singulärer Satz zu sein scheint. Dazu habe ich zweierlei zu sagen. Erstens ist »Gott« bei Hegel ein genereller Terminus. So sagt er: »Der unbestimmte Gott ist in allen Religionen zu finden; jede Art von Frömmigkeit (§ 72), die indische gegen Affen, Kühe u.s.f., oder gegen den Dalai-Lama, die ägyptische gegen den Ochsen u.s.w., ist immer Verehrung eines Gegenstandes, der bei seinen absurden Bestimmungen auch das Abstracte der Gattung, des Gottes überhaupt, enthält« (Enz § 573 A, GW 20, 558). In dem ontologischen Beweis wird Gott als die vollkommenste Entität definiert und dabei ist »Gott« ein Begriff, also ein genereller Terminus. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Religion für Hegel ein vorstellendes Wissen des Absoluten ist. »Die Vorstellung von Gott macht somit die allgemeine Grundlage eines Volks aus« (TWA 12, 70). Hegel zufolge beinhaltet die Vorstellung von Gott eine allgemeine Aussage über das, was wahr ist. 13 Andreas Graeser ist der Ansicht, dass Hegel sich dabei irrt: »Kaum ein Leser würde, wie Hegel unterstellt, das Verhältnis zwischen ›Gott‹ und ›das Sein‹ hier als Ding/Eigenschaft-Beziehung ausdeuten.« Siehe Graeser, Andreas: Hegel über die Rede vom Absoluten. Teil 1: Urteil, Satz und spekulativer Gehalt. In: Zeitschrift für philsophische Forschung 44.2 (1990), S. 175–193, hier: 192. 14 Lenders, Winfried: Die analytische Begriffs- und Urteilstheorie von G. W. Leibniz und Chr. Wolff. Hildesheim und New York 1971, S. 115; Mittelstrass, Jürgen: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 4. Stuttgart und Weimar 1996, S. 452.

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als das Subjekt geltende Klasse von Entitäten referiert, von denen etwas als ihr Wesen ausgesagt wird. So referiert man mit dem Begriff des Menschen auf Entitäten, von denen ausgesagt wird, dass sie vernünftige Lebewesen sind. Der Begriff des Menschen muss so strukturiert sein, dass er eine fixierte Klasse von Entitäten als seine Extension bestimmt, während die Angabe, dass Menschen vernünftige Lebewesen sind, von diesem Begriff des Menschen unabhängig ist. Während ein anderes Wesensurteil, z. B. dass der Mensch ein Tier mit Ohrläppchen ist (GW 12, 212), als falsch dem obigen gegenübersteht, referiert der Begriff des Menschen in beiden Urteilen trotzdem auf dieselben Entitäten. Mit der Unterscheidung zwischen realer Definition und nominaler Definition kann man sagen, dass der realen Definition des Menschen die nominale Definition vorhergeht. Man kann meinen, dass der Begriff des Menschen gewisse sinnliche Eigenschaften bezeichnet, wie zweibeinig, haarlos und aufrecht gehend usw., anhand derer die Referenz des Begriffs des Menschen festgelegt wird. Hegel nennt den spekulativen Satz auch philosophischen Satz. Ihm zufolge ist der Gegenstand der Philosophie die Wahrheit.15 Er bezeichnet den Gegenstand auch als »das Wahre«, »das, was in Wahrheit ist« und das Absolute. Den spekulativen Satz als Urteil zu deuten, heißt den Satz für ein Urteil über das Wahre zu halten, in dem das Wesen des Wahren angegeben ist.16 Das Beispiel vom Menschen zeigt, dass man dafür über einen Begriff des Wahren bzw. des Absoluten verfügen muss, der unabhängig von der Angabe seines Wesens in einer Philosophie fixiert, worauf der Begriff »das Wahre« referiert. Mit anderen Worten: Man verfügt über eine nominale Definition des Wahren. Nun ist Hegel der Auffassung, dass dies nicht der Fall ist. Ihm zufolge scheint die Geschichte der Philosophie vielmehr »das Schauspiel nur immer sich erneuernder Veränderungen des Ganzen zu geben, welche zuletzt auch nicht mehr das bloße Ziel zum gemeinsamen Bande haben« (TWA 18, 28). Die Aussage ist um so erstaunlicher, als Hegel auch sagt, dass das Ziel der Philosophie die Wahrheit ist (ebd., 24). Beide Aussagen widersprechen einander nicht, weil Hegel der Auffassung ist, dass es keinen Begriff des Wahren gibt, der dem Begriff des Menschen entspricht und gegenüber unterschiedlichen philosophischen Verständnissen von dem Wahren neutral ist. Denn der Begriff des Wahren ist weder empirisch, so dass man sich nicht auf die für Menschen typische Erfahrung berufen kann, um das Wahre zu identifizieren. Noch kann man das Wahre durch seine Beziehung zur Erfahrung festlegen, da, was diese Beziehung ist, gerade erst durch die Philosophie aufzuklären ist. Demgemäß macht Hegel geltend, dass jede Philosophie »versichere, sie sei die wahre; jede selbst gebe andere Zeichen und Kriterien an, woran man die Wahrheit erkennen sollte« (ebd., 34–5).17 Deutet man eine Aussage 15

»Die Philosophie beabsichtigt das zu erkennen, was unvergänglich, ewig, an und für sich ist; ihr Ziel ist die Wahrheit« (TWA 18, 24). 16 Hegel führt »Das Wirkliche ist das Allgemeine« und »Gott ist das Seyn« als Beispiele für den spekulativen Satz an. Sowohl »das Wirkliche« als auch »Gott« beziehen sich meines Erachtens auf das Absolute. 17 Hegels Konzept der Philosophie ist mit dem von Fichte zu vergleichen. Fichte zufolge strebt die Philosophie, den Grund der Erfahrung zu erkennen, der notwendig außer der Erfahrung liegt. Zwei Optionen sind dabei möglich. Der Idealismus behauptet, dass die Intelligenz an sich der Grund der

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über das Wahre als Urteil, so versteht man Hegel zufolge den Begriff des Wahren nach dem Modell des Begriffs des Menschen, der, wie oben gezeigt, der Angabe des Wesens von Menschen vorhergeht und unabhängig davon auf Entitäten referiert, die als Menschen gelten. Auf dieses Modell des Begriffs bezieht sich Hegel, wenn er vom Urteilssubjekt als ruhend (GW 9, 42 f.) bzw. als fertig gegeben (Enz § 30, GW 20, 71) spricht.18 Hegels Kritik am Urteil ist also eigentlich die Kritik an dem darin vorausgesetzten Verständnis des Begriffs. Damit meint er, dass der Begriff des Wahren anders strukturiert ist. Es ist die Struktur des Begriffs der Wahren, die nun zu erschließen ist.

III. Die Struktur des Hegelschen Begriffs und das spekulative Denken Die Philosophie hat die Wahrheit zu erkennen. Die Wahrheit definiert Hegel ontologisch als die Entsprechung des Gegenstandes mit seinem Begriff. Er spricht demgemäß von wahrem Freund, wahrem Staat und wahrem Kunstwerk (Enz § 24, Z 2 und § 213 Z, TWA 8, 84 ff. und 369 f.). Im Kontrast dazu gibt es auch den unwahren Staat, unwahren Menschen (Enz § 213 Z, TWA 8, 369 f.) und sogar den Leib, der krank und daher unwahr ist (Enz § 172 Z, TWA 8, 323 f.). Es ist allerdings darauf aufmerksam zu machen, dass ein unwahrer Staat immer noch ein Staat ist. Da er ein unwahrer Staat ist, entspricht er seinem Begriff, nämlich dem des Staats, nicht. Da er jedoch trotz seiner Unwahrheit ein Staat ist, muss er unter dem Begriff des Staats fallen und daher dem Begriff des Staats entsprechen. Infolgedessen entspricht ein unwahrer Staat dem Begriff des Staats und entspricht ihm gleichzeitig nicht. Das kann nur bedeuten, dass ein unwahrer Staat seinem Begriff nicht vollkommen entspricht.19 Daraus folgt, dass der Begriff des Staats Hegel zufolge graduelle Unterschiede darüber zulässt, wie eine Entität ihm entspricht. Ein solcher Begriff, der einen Gegenstand wahr machen kann, fungiert daher sowohl als ein Klassifikationsprinzip als auch als ein Bewertungsprinzip. Entsprechend macht Hegel geltend: »Unwahr heißt […] soviel als schlecht« (Enz § 24 Z 2, TWA 8, 86).20

Erfahrung ist, während der Dogmatismus das Ding an sich für den Grund hält. Da der gesuchte Grund außer der Erfahrung liegt, gibt es in der Erfahrung nichts, was entscheiden kann, was der Grund ist. Der Streit zwischen beiden Systemen ist daher »ein Streit über das erste nicht weiter abzuleitende Prinzip.« Und »sie haben gar keinen Punkt gemein, von welchem sie sich einander gegenseitig verständigen und sich vereinigen könnten.« Siehe Fichte, J. G.: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Hg. v. Peter Baumann. Hamburg 1984, S. 12. 18 Die Ruhe des Begriffs bedeutet, dass seine Bedeutung festgelegt und seine Extension dadurch bestimmt ist. Das urteilende Denken ist einem solchen Begriff äußerlich, da der Begriff dem Denken vorhergeht und unabhängig von ihm auf die Entitäten referiert, die der Gegenstand des Denkens ist. 19 »Auch das Schlechte und Unwahre ist nur, insofern dessen Realität noch irgendwie sich seinem Begriff gemäß verhält« (Enz § 213 Z, TWA 8, 369). 20 In dem entwickeltesten Urteils, dem Urteil des Begriffs, drücken die Prädikate, die evaluative Prädikate sind, demzufolge aus, »daß die Sache an ihrem allgemeinen Begriffe, als dem schlechthin vorausgesetzten Sollen gemessen, und in Uebereinstimmung mit demselben ist, oder nicht« (GW 12, 84).

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Dieser Begriff des Begriffs, gemäß dem ein Begriff nicht nur zur Klassifikation dient, sondern zugleich das Bewertungsprinzip ist, unterscheidet Hegels Position von der formalen Logik, für die Begriffe bloß die Funktion der Klassifizierung haben.21 Es ist jedoch nicht der Fall, dass Hegel allen Begriffen beide Funktionen zukommen lässt. Mathematische Begriffe z. B. sind nur klassifizierend, so dass es keinen Sinn macht, ein Dreieck als unwahr gegenüber anderen Dreiecken zu bezeichnen. Mit seiner Kritik am geometrischen Beweis meint Hegel daher nicht, einen alternativen Beweis anbieten zu können. Vielmehr macht er deutlich, dass das Defizit des geometrischen Beweises in seinem Gegenstand liegt (GW 9, 32). Wie muss ein Begriff strukturiert sein, damit er sowohl zur Klassifikation dient als auch ein Bewertungsprinzip ist? Für einen solchen Begriff ist es möglich, dass ein Gegenstand ihm gleichzeitig entspricht und nicht entspricht. Dabei ist ausgeschlossen, dass der Gegenstand dem Begriff in dem Sinne teilhaft entspricht, dass der Gegenstand zwar einigen, aber nicht allen Bestimmungen entspricht, die in dem Begriff enthalten sind. Denn dies würde lediglich zur Folge haben, dass der Gegenstand dem Begriff nicht entspricht. Vielmehr muss es der Fall sein, dass die Art und Weise, wie der Gegenstand dem Begriff entspricht, selber auch die Art und Weise ist, wie er dem Begriff nicht entspricht. Da die besondere Art und Weise, in der ein Gegenstand seinem Begriff entspricht, bestimmt, welcher Art oder Spezies in der Gattung dieser Gegenstand zugehört, liegt die Unwahrheit eines Gegenstandes in der Unwahrheit seiner Art. Dass ein Begriff graduelle Unterschiede der Entsprechung des Gegenstands mit ihm zulässt, ist infolgedessen lediglich unter der Bedingung möglich, dass der Begriff eine Gattung bestimmt, die sich in Arten sondert, die unwahr sein können. Zweierlei ist in diesem Zusammenhang anzumerken. Erstens folgt aus der obigen Analyse, dass ein Begriff, der einen Gegenstand im Sinn Hegels wahr oder unwahr machen kann, der Begriff einer Gattung sein muss, unter welcher einige Arten fallen. Die dreistufige Struktur – das Allgemeine, das Besondere und das Einzelne – ist einem solchen Begriff notwendig. Zweitens muss man neben der Unwahrheit des Gegenstandes auch von der Unwahrheit des Begriffs bzw. der Denkbestimmungen sprechen können, wie Hegel geltend macht (Enz § 24, Z 2, TWA 8, 84 ff.). Der Artbegriff, der eine unwahre Art bestimmt, ist ein unwahrer bzw. falscher Begriff.

21 Ludwig Siep scheint diese Konsequenz vermeiden zu wollen, indem er Hegels Wahrheitsbegriff mit seinem Essentialismus und Holismus zusammenbringt. Der Essentialismus besagt, dass eine Entität wahr ist, wenn sie ihre wesentliche Bestimmung erreicht. Der Holismus bedeutet, dass die jeweilige Entität nur dann ihr Wesen erreicht, wenn sie in bestimmten Relationen zu anderen Entitäten steht. Es sind diese Relationen, die mehr oder weniger entwickelt sein können, die Siep zufolge eine Entität mehr oder weniger wahr machen. Siehe Siep, Ludwig: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels Differenzschrift und zur Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main 2000, S. 68. Wenn aber die Essentialismusbedingung ausreicht, um eine Entität wahr sein zu lassen, wieso ist die Holismusbedingung dafür notwendig? Das kann nur bedeuten, dass die Holismusbedingung selbst ein Teil der Essentialismusbedingung ist. Wenn Siep zugibt, dass eine Entität die Holismusbedingung mehr oder weniger erfüllen kann, muss er auch zulassen, dass die Essentialismusbedingung auch mehr oder weniger erfüllt werden kann.

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Der Artbegriff kann nicht derart aufgefasst werden, dass er den Gattungsbegriff und die differentia specifica in sich enthält. Stünden die Gattung und die Art in diesem Verhältnis zu einander, würde ein Gegenstand seinem Begriff, d. h. dem Gattungsbegriff immer entsprechen. Ein solcher Gattungsbegriff wäre ein abstrakter allgemeiner Begriff, der in der formalen Logik behandelt wird. Der spekulative Begriff muss Hegel zufolge jedoch ein konkretes Allgemeines sein. Als ein Gattungsbegriff kann er also kein Teilbegriff eines Artbegriffs sein. Vielmehr muss er den Gegenstand ebenso konkret wie ein Artbegriff bestimmen. Ein Artbegriff des Staates stellt z. B. vollständig dar, was es mit einem Staat auf sich haben soll. Ebenfalls beinhaltet der spekulative Begriff des Staats als Gattungsbegriff eine vollständig konkrete Bestimmung, also nicht bloß die Merkmale, die in allen Artbegriffen des Staats enthalten sind. Der Gattungsbegriff und der Artbegriff unterscheiden sich bloß dadurch, wie sie einen Staat bestimmen. Wäre dies nicht der Fall, könnte der Gattungsbegriff nicht als das Bewertungsprinzip fungieren, anhand dessen zu entscheiden ist, welche Art von Staat wahr ist. So gesehen steht der Gattungsbegriff nicht bloß über den Artbegriffen, sondern auch neben ihnen und stellt die vollkommenste Art in der Gattung dar. Infolgedessen behauptet Hegel: »Das Allgemeine bestimmt sich, so ist es selbst das Besondere« (GW 12, 38). Dass aber ein Begriff des Staats trotzdem als der Gattungsbegriff gilt, kann nur daran liegen, dass er der wahre Begriff des Staats und das bewertende Prinzip der anderen Begriffe des Staats ist. Hingegen ist ein bloßer Artbegriff ein falscher Begriff. Der Gattungsbegriff negiert dabei die Ansprüche der anderen Begriffe, den Gegenstand wahrhaft darzustellen. In anderen Worten: Der Begriff negiert die anderen Begriffe als Kandidaten des Gattungsbegriffs. In Wirklichkeit ist es diese negative Beziehung des Begriffs auf die anderen, welche die von ihm dargestellte Art mit anderen Arten zu einer Gattung bindet. Denn die Arten sind gemäß dem nun in Frage stehenden Begriff des Begriffs nicht dadurch in eine Gattung gebunden, dass sie gemeinsame Merkmale teilen, die in einem abstrakten Gattungsbegriff zusammenzufassen sind. Wenn es aber keine identische Beziehung ist, die die Arten in eine Gattung bindet, bleibt lediglich die negative Beziehung als die einzige Alternative übrig. Nämlich dadurch, dass ein Begriff anderen Begriffen überlegen und daher vergleichbar ist, gilt er als mit den letzteren zusammengehörend. Diese Struktur des Begriffs ist anhand eines Beispiels zu verdeutlichen. Ein Begriff liegt zunächst als der Begriff des Staats vor. Er gilt als die Definition des Staats und bestimmt, wie es sich mit dem Staat verhält. Eine neue Form der politischen Organisation kann dennoch auftreten und als der Form überlegen betrachtet werden, die durch den vorliegenden Begriff des Staats bestimmt ist. Wenn man einen Begriff des Staats bildet, der die Merkmale zusammenfasst, die den beiden Formen gemeinsam sind, bekommt man einen abstrakten Begriff des Staats. Wenn man aber einen Begriff des Staats konstruiert, der lediglich die neue Form der politischen Organisation als Staat zulässt und mit dem vorhergehenden Begriff nur den gleichen Namen trägt, ist dies ein »geschichtliche[s] Benehmen« (GW 4, 9). Hegel ist gegen beide Optionen. Ihm zufolge bildet sich hingegen der konkrete Begriff des Staats, indem die neue Form der politischen Organisation als eine Art in die

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Gattung des Staats aufgenommen wird und den Gattungsbegriff des Staats dadurch ändert, dass die neue Staatsform nun als die vollkommenste Art des Staats gilt und die vorhergehende Staatsform zu einer unwahren Art herabsetzt. Die Herabsetzung reflektiert den Sachverhalt, dass die neue Form der vorhergehenden gegenüber als überlegen betrachtet wird. Der Begriff des Staats erfährt dabei eine Änderung der Bedeutung. Denn der Begriff referiert auf die Gattung des Staats und die Gattung des Staats erweitert sich dabei. Die schrittweise Erweiterung des Begriffs des Staats wird eine Hierarchie der Arten in der Gattung des Staats hervorbringen, in der jede Art der vorhergehenden gegenüber überlegen und der folgenden gegenüber unterlegen ist. Der Staat ist Hegel zufolge der sich wissende sittliche Geist, der das, was er weiß, vollführt (GW 14.1, 201). Demgemäß liegt dem Staat die Vollführung eines Gedankens zugrunde. Die Erweiterung der Gattung des Staats und die damit einhergehende Änderung des Begriffs des Staats kann daher als ein Prozess des Denkens betrachtet werden. Die obige Analyse ergibt, dass der Hegelsche Begriff, der eine Entität wahr macht, folgendermaßen strukturiert sein muss: 1. Er ist ein Begriff, der zulässt, dass Entitäten ihm in unterschiedlichen Graden entsprechen. 2. Er ist der Begriff einer Gattung, in der der Gattungsbegriff selbst die vollkommenste Art der Gattung darstellt, während die anderen Arten als unwahr gelten. 3. Die Gattung, von der er der Begriff ist, erweitert sich schrittweise durch die Aufnahme der neuen Art. 4. Der Gattungsbegriff ändert sich dabei, indem die jeweils aufgenommene neue Art als die den vorhergehenden Arten gegenüber vollkommenste Art und der Begriff dieser neuen Art als der Gattungsbegriff gilt. 5. Die Arten der Gattung bilden eine Hierarchie, indem jede Art der vorhergehenden gegenüber überlegen und der folgenden gegenüber unterlegen ist. Die Philosophie gibt das Denken eines solchen Begriffs wieder. Der Begriff bewegt sich, indem sich seine Bedeutung ändert (Bedingung [a]). Das Denken dieses Begriffs macht den Kontext der Entdeckung seiner Bedeutung aus.22 Indem sich die Bedeutung des Begriffs in dem Denkprozess ändert und die Änderung in seiner Struktur widergespiegelt wird, ist der Kontext der Entdeckung dem Gegenstand des Denkens, nämlich dem Begriff, nicht äußerlich (Bedingung [b], als [b2] verstanden). Das Denken eines solchen Begriffs erweist sich demgemäß als das spekulative Denken, das Hegel dem räsonierenden Denken gegenüberstellt. IV. Hegels Holismus der Vernunft Die Philosophie befasst sich mit der Wahrheit. Das bedeutet für eine Realphilosophie, dass sie die Wahrheit ihres Gegenstandes zu erkennen hat, z. B. den wahren Staat, die wahre Religion oder das wahre Kunstschöne. Dabei hat eine Realphilosophie der Be22 »Die Geschichte der Philosophie ist die Geschichte der Entdeckung der Gedanken über das Absolute, das ihr Gegenstand ist« (Enz Vorrede zur zweiten Ausgabe [1827], GW 20, 12).

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wegung des Begriffs ihres Gegenstandes zu folgen. Wie ist es jedoch mit der logischen Philosophie, der Wissenschaft der Logik? Was ist ihr Gegenstand? In der Wissenschaft der Logik nennt Hegel den Gegenstand der Philosophie die absolute Idee. Diese ist »der vernünftige Begriff, der in seiner Realität nur mit sich selbst zusammengeht« (GW 12, 236). Damit gibt Hegel zu verstehen, dass der Begriff in der Realität zu erkennen ist. Er macht geltend, dass die Philosophie mit Kunst und Religion denselben Inhalt hat (ebd.). Auch Religion und Staat teilen denselben Inhalt der Wahrheit und unterscheiden sich nur in ihren Formen (GW 14.1, 213 ff.). Demzufolge spiegelt sich der Inhalt der Philosophie, mithin der Inhalt der Religion und der Kunst, in der Struktur des Staats wider. Jedoch sagt Hegel, dass der Gegenstand der Wissenschaft der Logik »nicht die Gestalt eines Inhalts« hat, sondern sich schlechthin als Form zeigt (GW 12, 237). Was kann dieser Inhalt sein? Und warum hat dieser Inhalt für die Philosophie nicht die Gestalt eines Inhalts? In der Kunst wird der Begriff des Kunstschönen gedacht, der bestimmt, was ein wahres Kunstschönes ist. Ebenfalls wird in der Religion der Begriff der Gottheit gedacht, gemäß dem zu bestimmen ist, was der wahre Gott ist, während ein Volk einen Staat nach seinem Begriff des Staats bildet, der angibt, wie ein Staat beschaffen sein soll. In all diesen Sphären geht es um Begriffe, die bestimmen, was in der jeweiligen Sphäre wahrhaft der Gegenstand ist, nämlich das wahre Kunstschöne, der wahre Gott oder der wahre Staat.23 Nun behauptet Hegel, dass ein und dieselbe Bestimmung dessen, was wahr ist, all diesen Gegenständen unterliegt.24 Der wahre Gott, das wahre Kunstschöne und der wahre Staat teilen somit dasselbe Kriterium der Gegenständlichkeit, und insofern haben Staat, Religion und Kunst denselben Inhalt. Das Kriterium der Gegenständlichkeit, also die Form, die den Gegenständen in allen Sphären gemein ist, ist die Wahrheit als solche. Sie ist der Gegenstand der Logik, während sich eine Realphilosophie mit der Wahrheit ihres Gegenstandes befasst. Die Wissenschaft der Logik gilt infolgedessen als eine formale Ontologie, die die Form der Gegenständlichkeit untersucht. Anders 23 Diese Verwendungsweise des Terminus »Gegenstand« ist besonders der folgenden Stelle zu entnehmen: »In der That aber, wenn in der politischen Geschichte Rom oder das deutsche Reich u.s.f. ein wirklicher und wahrhafter Gegenstand und der Zweck sind, auf welchen die Erscheinungen zu beziehen und nach dem sie zu beurtheilen sind, so ist noch mehr in der allgemeinen Geschichte der allgemeine Geist selbst, das Bewußtseyn seiner und seines Wesens ein wahrhafter und wirklicher Gegenstand, Inhalt und ein Zweck, dem an und für sich alle andern Erscheinungen dienen, so daß sie durch das Verhältniß zu ihm, d. h. das Urtheil, in welchem sie unter ihn subsumirt sind und er ihnen inhärirt, allein ihren Werth so wie sogar ihre Existenz haben« (Enz § 549, A, GW 20, 528 f.). Demgemäß ist der Gegenstand das, was wahr ist. 24 So sagt Hegel: »Die Religion ist der Ort, wo ein Volk sich die Definition dessen gibt, was es für das Wahre hält. Definition enthält alles, was zur Wesentlichkeit des Gegenstandes gehört, worin seine Natur auf einfache Grundbestimmtheit zurückgebracht ist als Spiegel für alle Bestimmtheit, die allgemeine Seele alles Besonderen. Die Vorstellung von Gott allein macht somit die allgemeine Grundlage eines Volkes aus« (TWA 12, 70). Hegel führt jedoch keinen Beweis für die Existenz eines allen Sphären des Geistes unterliegenden einheitlichen Prinzips. Vgl. Düsing, Klaus: Dialektik und Geschichtsmetaphysik in Hegels Konzeption philosophiegeschichtlicher Entwicklung. In: Logik und Geschichte in Hegels System. Hg. v. H.-Ch. Lucas und G. Planty-Bonjour. Stuttgart/Bad Cannstatt 1989, S. 140.

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als Kant, der die Erkenntnis auf die mathematischen und naturwissenschaftlichen Gegenstände beschränkt, orientiert sich Hegel in seiner Ontologie eher an geisteswissenschaftlichen Gegenständen. Die Wahrheit als solche bezieht sich also auf die sich in den Sphären des Geistes entwickelnde Gegenständlichkeit. Je nachdem, was für die Wahrheit bzw. das wahrhaft Seiende gehalten wird, werden eine bestimmte Form des Staats, eine des Kunstschönen, eine der Religion usw. als wahr anerkannt. Die Wahrheit ist daher das Prinzip, das eine Welt bestimmt, wobei unter dem Begriff der Welt die Gesamtheit dessen, was wahr ist, zu verstehen ist. Als ein formal-ontologisches Prinzip gilt die Wahrheit sowohl im Theoretischen als auch im Praktischen. Sie ist die Bestimmung dessen, was zu erkennen und was zu tun ist. Hegel charakterisiert die Wahrheit daher auch als die Vernunft.25 Mit der These, dass der Begriff der Wahrheit ein sich bewegender Begriff ist, hebt Hegel hervor, dass es nicht nur eine Art von Vernunft gibt. Die Vernunft ist vielmehr eine Gattung mit mehreren Arten, die jedoch nicht gleichgültig gegeneinander in die Gattung von Vernunft gehören, sondern eine Hierarchie der Vernünftigkeit bilden. Die logischen Kategorien in der Logik sind als Bestimmungen der Wahrheit solche Formen der Vernunft. Hegels holistische Auffassung, dass die Wahrheit das Ganze ist (GW 9, 19), ist infolgedessen ein Holismus der als das formal-ontologische Prinzip geltenden Vernunft. Das holistische Ganze der Wahrheit ist weder ein Alles umfassendes Individuum, noch ein theoretisches Gebilde, das den einzelnen Aussagen in ihm Sinn und Wahrheitswerte gibt, sondern eine Gattung, deren Wesen in unterschiedlichen Graden und Formen in ihren Arten verkörpert wird. Es folgt aus diesem Begriff der Wahrheit, dass die Philosophie wesentlich retrospektiv ist. Denn der Begriff der Wahrheit erschöpft sich in der Form der sich in verschiedenen Sphären des Geistes entwickelnden Gegenstände. Indem die Wahrheit der Gegenstand der Philosophie ist, hat die Philosophie nichts anderes zu erkennen als die Entwicklung der Gegenständlichkeit. Folglich muss diese Entwicklung der philosophischen Erkenntnis vorgehen. Die für Hegels System charakteristische These, dass »die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe […] als die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee« sei (TWA 18, 49),26 ist nicht auf die Natur einer metaphysischen Entität zurückzuführen, die sich in der Geschichte zu erkennen strebt. Sie folgt eher aus der Natur des Begriffs der Wahrheit.

25 Z. B.: »Die an und für sich seyende Wahrheit, welche die Vernunft ist, ist die einfache Identität der Subjectivität des Begriffs und seiner Objectivität und Allgemeinheit« (Enz § 438, GW 20, 433). 26 Vgl. »Dieselbe Entwicklung des Denkens, welche in der Geschichte der Philosophie dargestellt wird, wird in der Philosophie selbst dargestellt, aber befreit von jener geschichtlichen Aeußerlichkeit, rein im Elemente des Denkens« (Enz § 14, GW 20, 56).

Hegels absoluter Idealismus als Antwort auf drei Grundprobleme des Naturalismus? Christian Spahn

Eine breite Mehrheit der gegenwärtigen anglo-amerikanischen Philosophen bekennt sich zur analytischen Philosophie und zu einem Naturalismus. So vage diese Benennungen auch sein mögen, sie bezeichnen zumeist eine bestimmte mehr implizite epistemisch-methodische und eine bestimmte ebenfalls implizite ontologische Festlegung, die eng mit der Ansicht zusammenhängen, dass vornehmlich die Naturwissenschaft als das Paradigma gelungener menschlicher Erkenntnis gilt. Eine wie konkret auch immer geartete Orientierung an ihrer Methode und an ihrer impliziten Ontologie gilt somit als Leitfaden für die Philosophie jener Richtung. Den Erfolg der Wissenschaften gilt es philosophisch zu begreifen und letztlich auch als Vorbild für die Philosophie anzuempfehlen. Eine solche Festlegung gilt als ›Naturalismus‹. In der Regel wird der unbestreitbare Erfolg der Wissenschaften dabei oftmals interpretiert als ein Triumph des logisch-empirischen Denkens gegenüber dem ›spekulativen‹ oder ›meta-physischen‹ Denken: Es ist in diesem Zusammenhang kein Geheimnis, dass die Gründungsväter der modernen analytischen Philosophie sich klar gegen Hegels philosophische Grundposition wenden: Mit Blick auf die Abwendung von G. E. Moore und B. Russell vom britischen Neohegelianismus schreibt Wolfgang Welsch pointiert zur Frage, warum sich jene Philosophie ›analytisch‹ nennt: »›[A]nalytisch‹ bedeutet ursprünglich genau ›anti-hegelisch‹«.1 Dies bedeutet: Die Ablehnung Hegels ist methodisch als Bekenntnis zur Analyse und zur empirischen Verifikation (im Gegensatz zum Hegelschen dialektischen Holismus) und ontisch durch Bekenntnis zu einem Naturalismus oder Physikalismus, also einer dezidiert nicht absolut-idealistischen Ontologie bestimmt. Ebenso ist es jedoch auch kein Geheimnis, dass sich in jüngerer Zeit Bedenken gegenüber der Fruchtbarkeit des Programms des Logischen Empirismus und seiner nachfolgenden Positionen mehren. Ohne Zweifel hat sich seit den 1950er Jahren des letzten Jahrhunderts ein grundlegender Wandel in der analytischen Tradition vollzogen, der zugleich auch eine erneute tentative Hegel-Rezeption in konstruktiv-systematischer, und nicht mehr nur historisch-polemischer Hinsicht ermöglicht hat. Wir begegnen damit dem nun nicht mehr gänzlich ungewöhnlichen Phänomen, dass sich nicht nur ›kontinentale Philosophen‹, sondern zunehmend auch ›analytische‹ 1 Vgl. den instruktiven Aufsatz von Welsch, Wolfgang: Hegel und die analytische Philosophie. In: Jenaer Universitätsreden 15 (2005), S. 145–221, dem ich viele Anregungen verdanke. Erinnert sei ferner an Reichenbachs Bemerkungen zu Hegel als Gegenbeispiel zur wissenschaftlichen Philosophie in: Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philsophie. In: ders. Gesammelte Werke. Hg. v. Andreas Kamlah und Maria Reichenbach. Braunschweig 1977 [1953]. Bd. 1, S. 6–450, insbes. S. 13, 88 f.

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Zunftgenossen produktiv, ohne Angst oder Abscheu, vorsichtig Hegel zuwenden.2 Teilweise sind sogar bedeutende Schritte in der jüngeren Entwicklung der analytischen Philosophie selbst durch eine Hegel-Lektüre inspiriert, teilweise wird unabhängig von einem Eingehen auf Hegel auf diesen verwiesen und eine Verwandtschaft mancher Gedanken gespürt. Sellars etwa bezeichnet seine bahnbrechenden Überlegungen zum ›Mythos des Gegebenen‹ als »Méditations Hegeliènnes«3 und McDowell schreibt: »I would like to conceive this work [Mind and World, C.S.] […] as a prolegomenon to a reading of [Hegel’s] Phenomenology [of Spirit]«.4 Wie ist es zu erklären, dass Hegel, die einstige ungeliebte persona non grata im analytischen Lager, nun mitunter gar zum Stichwortgeber und Inspirator für einige der jüngsten Entwicklungen in der analytischen Philosophie geworden ist? Aus den verschiedenen Problemfeldern der analytischen Philosophie5 möchte ich mich im Folgenden auf einen Problemkreis beschränken, in dem der Bezug zu Hegelschen Argumentationsfiguren am deutlichsten wird, dem Problemkreis der Epistemologie. Die analytische Philosophie stellt keinen metaphysischen oder ontologischen, sondern vornehmlich einen epistemischen Neuanfang dar: Sie fragt, wie sinnvolle philosophische Wahrheitsfindung zu definieren ist? Pointiert zugespitzt soll die These vertreten werden, dass einerseits eine methodische Verkürzung der Vernunft auf den Verstand und in ontischer Hinsicht eine Verkürzung des Begriffs der Realität auf eine ›partikularistisch‹ verstandene Natur sowie eine damit einhergehende dualistische Entgegensetzung von Einzelheit der Natur und Allgemeinheit des Geistes die Ursachen für die zu skizzierenden Probleme des Naturalismus sind. Es soll somit dafür argumentiert werden, dass nicht unbedingt der aktive Rückgriff auf Hegel selbst, aber doch mehr und mehr Hegelsche Motive und Einsichten in der epistemischen Debatte der analytischen Philosophie um sich greifen: Hegels Analyse der Größe und Grenzen des Empirismus zeigen eine erstaunliche Aktualität. Doch hat die derzeitige Annäherung an Hegel ihre deutlichen Grenzen, auf die ebenfalls hinzuweisen sein wird. Es kann maximal von einer vorsichtigen Annäherung, aber nicht von einer Rückkehr zu Hegel gesprochen werden, wie abschließend festzuhalten sein wird.

2 In Deutschland wurden erste Brücken zwischen kontinentaler und analytischer Tradition geschlagen von Apel, Karl-Otto: Wittgenstein und Heidegger: Die Frage nach dem Sinn von Sein und der Sinnlosigkeitsverdacht gegen alle Metaphysik. In: ders. Transformation der Philosophie. Bd. 1. Frankfurt 1976, S. 225–275. 3 Sellars, Wilfrid: Empiricism and the philosophy of mind. Cambridge, Mass. 1997 [1956], S. 45. 4 McDowell, John: Mind and World. Cambridge, Mass. 1996, S. XI (im Folgenden kurz: MW). Neben McDowell ist auch an Brandom, Robert: Making it explicit. Cambridge, Mass. 1994, zu denken. Auf weitere positive Bezugnahmen zu Hegel in der analytischen Tradition – etwa vorsichtig Quine und Rorty – verweist Welsch: Hegel und die analytische Philosophie, S. 5 f. 5 Zu zwei zentralen Problemen des Naturalismus, den Qualia und res moralia, siehe: Tewes, Christian/Spahn, Christian: Naturalismus oder integrativer Monismus? In: Gott und Natur. Hg. v. Kristian Köchy und Petra Kolmer. Freiburg und München 2011, S. 141–185.

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I. Der Beginn der analytischen Philosophie Der Neubeginn der philosophischen Richtung, von der hier zu sprechen ist, greift zunächst durchaus eine traditionelle Unterscheidung auf: Erkenntnis speist sich aus zwei Quellen, den Sinnen (der Erfahrung) und den Konzeptionsleistungen des Verstandes. Die Berufung auf diese beiden Quellen kommt in der Benennung der Tradition als Logischer Empirismus zum Ausdruck.6 Paradigma für gelungene Erkenntnis ist jedoch insbesondere das (natur-) wissenschaftliche Denken. Der philosophische Neubeginn ist damit durch ein zweifaches Sinnesprimat gekennzeichnet: ein Primat der Sinnesmethodologie und der Sinnesontologie, wie nun knapp zu erläutern ist. Wissenschaftliches Denken ist im Idealfall eine durch mathematisch-logisches Denken geschulte Überprüfung von Erkenntnisansprüchen an der Erfahrung unter kontrollierten Bedingungen im Experiment. Empirische Verifizierbarkeit oder Falsifizierbarkeit einerseits und logisch korrekte Ableitungen und Begründungen andererseits stehen damit im Zentrum jener Epistemologie, wobei ein eindeutiger Primat der Sinneserkenntnis besteht: In den Sinnen (und so wurde zunächst argumentiert, vor allem in den unmittelbaren »atomaren« Sinneseindrücken) ist uns die Realität gegeben: Letzte Gewissheiten und Bausteine des Wissens sind die sinnlichen Empfindungen bzw. Sinnesdaten7 oder die einfachen Beobachtungssätze bzw. Protokollsätze.8 Jener Primat der Sinne kommt im Selbstverständnis dieser Richtung als Empirismus zum Ausdruck: Was nicht in den Sinnen ist, ist sinn-los, darüber muss man schweigen. Wittgensteins berühmten Aussagen zufolge sind nur Sätze über empirische Tatsachen wahrheitsfähig. Schon Aussagen über das Verhältnis von Aussagen und Welt sind, insofern sie nicht empirische Aussagen sind, unsinnig.9 Dem entspricht Carnaps Festlegung: Das logische Wissen gibt uns nur formale Tautologien, wahre Erkenntniserweiterung kann nur durch Bezug auf die Erfahrung geschehen. Es erweckt den Verdacht der Sinnlosigkeit, sollte eine Theorie oder ein Ausdruck nicht direkt oder mittelbar auf eine empirische Überprüfung angelegt sein.10 Jenes Sinnkriterium kann durchaus auch mit Hegel als konsequent empiristische Position verstanden werden:

6 Entgegen einem naiven Empirismus, der alle Erkenntnisse ausschließlich auf Sinneseindrücke zurückführen will, ist damit eine zweite Quelle des Wissens, die formale Logik, anerkannt. Für die folgende sehr knappe Darstellung greife ich zurück auf Spahn, Christian: Lebendiger Begriff, begriffenes Leben: Zur Grundlegung der Philosophie des Organischen bei G.W.F. Hegel. Würzburg 2007, S. 23–30. 7 Moore, George Edward: Sense-Data. In: ders. Selected Writings. Hg. v. Th. Baldwin. London 1993 [1910], S. 45–58 bzw. Russell, Bertrand: The Relation of Sense-Data to Physics. In: Scientia 16 (1914), S. 1–27. 8 Carnap, Rudolf: Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft. In: Erkenntnis 2 (1931/32), S. 432–465, eine Theorie, die Carnap freilich später einer Selbstkritik unterzog. 9 Wittgenstein, Ludwig: Tractatus, 4.11, 4.111, 4.12, 4.121, 6.53. 10 Carnap, R.: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. In: Erkenntnis 2 (1931), S. 219–241. Dort heißt es, S. 237: »Die logische Analyse spricht somit das Urteil der Sinnlosigkeit über jede vorgebliche Erkenntnis, die über oder hinter die Erfahrung greifen will.«

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Die consequente Durchführung des Empirismus, in sofern er dem Inhalte nach sich auf Endliches beschränkt, läugnet aber das Uebersinnliche überhaupt oder wenigstens die Erkenntniß und Bestimmtheit desselben, und läßt dem Denken nur die Abstraction und formelle Allgemeinheit und Identität zu. (GW 20, 76) Neben dem methodischen Vorurteil des Primats der Sinne gibt es ein entsprechendes ontisches Vorurteil: den Primat des Partikularen vor dem Allgemeinen. Gegen Hegel gesprochen: Das Einzelne, nicht das Ganze, ist das Wahre. Sicher nicht mehr alle, aber doch ein nicht unbedeutender Teil der ontischen Ansätze jener Schulrichtung neigen, ausgehend von dem Glauben, dass die Welt aus partikularen Entitäten oder Ereignissen zusammengesetzt ist, zu einem Reduktionismus. Stellvertretend für jene Stoßrichtung sei folgende sicherlich typische Einstellung Reichenbachs zitiert: As to the problem of the existence of abstracta, it seems to me that the position of the realists was never a very good one. They insisted on the existence of abstract things, but they were always obliged to defend themselves by placing these things into a special sphere; the sphere of the ›ideas‹ of Plato is the famous prototype of this kind of existence. There is, nevertheless, a strong natural feeling against such a procedure; the human mind needs a certain degree of perversion by sophistic training to be able to find some sense in such terms. The position of the nominalists, who maintained that only concrete things exist, looks much sounder […] The nominalists were right in maintaining that the existence of abstracta is reducible to the existence of concreta.11 Carnaps Aufbau der Welt12 ist ebenso diesem sinnlich-empiristischen Vorurteil verpflichtet wie Russells logischer Atomismus.13 Entsprechend schreibt schon Hegel zum Wesen des sinnlichen Denkens: Der Unterschied des Sinnlichen vom Gedanken ist darein zu setzen, daß die Bestimmung von jenem die Einzelheit ist, und indem das Einzelne (ganz abstract das Atome) auch im Zusammenhange steht, so ist das Sinnliche ein Außereinander, dessen nähere abstracte Formen das Neben- und Nacheinander sind. (GW 20, 63) Auf diesem Atomismus und Reduktionismus aufbauend verkünden Nagel, Oppenheim und Putnam14 programmatisch die Idee der Einheit der Wissenschaften, derzufolge höhere und komplexere wissenschaftliche Theorien durch die Verwendung von Re-Definitionen und von ›Brückengesetzen‹ in die fundamentaleren Wissenschaften – und damit

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Reichenbach, Hans: Experience and prediction. Chicago 1938, S. 94 f. Carnap, R.: Der logische Aufbau der Welt: Scheinprobleme in der Philosophie. Hamburg 1961. 13 Russell, Bertrand: The Philosophy of Logical Atomism [1918]. In: ders. The Philosophy of Logical Atomism and Other Essays. London 1986, S. 157–244. Welsch begreift Russells Atomismus in seiner Entstehungsgeschichte als durchaus dezidiert anti-Hegelsch, vgl. Welsch: Hegel und die analytische Philosophie, S. 7. 14 Oppenheim, Paul/Putnam, Hilary: Unity of Science as a Working Hypothesis. In: Minnesota Studies in the Philosophy of Science 2 (1958), S. 3–36 und Nagel, E.: The structure of science. London 1968. 12

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letztlich in die Physik – übersetzt werden sollen.15 Trotz emergenztheoretischen Gegenentwürfen und Protesten gegen den Reduktionismus16 ist jene Denkrichtung bis heute prominent; sie entspricht dem partikularistisch-atomistischen (anti-holistischen) Vorurteil sowie dem monistischen Impuls des Logischen Positivismus. Ganz so, wie Reichenbach zufolge Aussagen über Abstracta in Aussagen über konkrete Einzeldinge zu übersetzen sind, so gilt die gleiche ontologische Hierarchie für alle Prozesse der Wirklichkeit: In der Welt können höhere Prozesse nicht die Ordnung der Physik durchbrechen, und eine Einheit des Wissens wird oftmals im Sinne einer reduktionistischen Einheit verstanden.17 Aus diesem Primat einer empiristischen Methodologie und partikularistisch-physikalischen Ontologie ergibt sich allerdings ebenfalls stringent, dass es so etwas wie eine rationale Ethik nicht geben kann: Wir erinnern uns, sinnvolle Sätze sind Sätze, die empirisch verifizierbar oder falsifizierbar sind. Hält man jedoch zu Recht an dem Unterschied zwischen Sein und Sollen fest, dann können uns empirische Sätze nur Wissen über die Welt geben, wie sie ist, nicht wie sie sein soll. Normative Ethik verschwindet aus dem Programm der Philosophie. Im Tractatus vermerkt Wittgenstein: »Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. […]« »Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt.«18 Man kann auch diesen Punkt des Empirismus mit Verweis auf Hegels Analyse jener Denkrichtung festzuhalten: Eine wichtige Consequenz hier von [=der empiristischen Ausrichtung, C. S.] ist, daß in dieser empirischen Weise die rechtlichen und sittlichen Bestimmungen und Gesetze sowie der Inhalt der Religion als etwas Zufälliges erscheinen und deren Objectivität und innere Wahrheit aufgegeben ist. (GW 20, 77)

II. Hegelsche Argumentationsfiguren in der Auseinandersetzung mit dem Empirismus und der ›kritischen Philosophie‹ Um zu erklären, inwiefern Hegel wieder Eingang in die systematische Diskussion der Gegenwart just inmitten jener Tradition erhalten hat, sei nun zunächst ein kurzer Blick auf die drei wichtigsten Motive der Hegelschen Auseinandersetzung mit dem Empirismus einerseits und mit der ›kritischen Philosophie‹ andererseits geworfen. Hegel kritisiert, erstens, die Begrenzung der Vernunft auf den sich auf die Erfahrung berufenden 15

So auch Carnaps Idee in Carnap: Die physikalische Sprache als Universalsprache. Einflussreich verteidigt J. Fodor die Autonomie der Spezialwissenschaften gegen die Idee einer reduktionistischen Einheit, siehe Fodor, Jerry: Special Sciences. In: Synthese 28 (1974), S. 77–115. 17 Entsprechend betont Hegel zu Recht: »Der Materialismus, Naturalismus ist das consequente System des Empirismus.« (GW 20, 99). 18 Wittgenstein: Tractatus, 6.42, 6.421, Bei Carnap heißt es: »[…] die objektive Gültigkeit eines Wertes oder einer Norm kann ja […] nicht empirisch verifiziert oder aus empirischen Sätzen deduziert werden; sie kann daher überhaupt nicht (durch einen sinnvollen Satz) ausgesprochen werden.«, Carnap: Überwindung, S. 237. Entsprechend Reichenbach: Aufstieg, S. 310 f. 16

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Verstand, zweitens, den im Empirismus impliziten und in der kritischen Philosophie expliziten Dualismus zwischen Allgemeinheit der Vernunft und Einzelheit der Sinneserfahrung sowie, drittens, den in all jenen Beschränkungen impliziten Dualismus von Subjektivität und Objektivität, Begriff und Natur.

II.1. Hegels Kritik der Beschränkung des vernünftigen Denkens auf empirischen Verstand: Selbstwiderspruch der Grenzziehungen Der fundamentalste Unterschied, so wurde deutlich, zwischen dem Hegelschen Ansatz und dem modernen Logischen Empirismus in methodischer Hinsicht bestand in dem restriktiven empiristischen Sinnkriterium, das unter anderem historisch auch deswegen eingeführt wurde, um die neue Philosophie von spekulativer Philosophie abzugrenzen und sie den Wissenschaften und ihrem Fortschritt anzunähern: Die Vernunft findet hierin, knapp gesagt, ihre Grenzen in den Grenzen des empirischen Verstandes. In diesem fundamentalen Unterschied zu Hegel ist zugleich immer wieder auch eine fundamentale Ähnlichkeit mit dem Kantischen Programm gesehen worden. Sowie der Logische Empirismus mit einem strikten Sinnkriterium den Fortschritt einer wissenschaftlichen Philosophie durch Rückbindung dieser an empirische Erfahrung erreichen wollte, so wollte Kant, beeindruckt von dem Erfolg des »sicheren Ganges der Naturwissenschaften«19 die Philosophie neu fundieren: Das Überfliegen des Verstandes in den Bereich jenseits der Erfahrung gilt es zu beenden. Insofern fällt es nicht schwer, viele der oben skizzierten Theoreme des Beginns der analytischen Philosophie mit der von Hegel kritisierten Kantischen Beschränkung der Vernunft auf den an Erfahrung geschulten Verstand einerseits und dem mit jener Grenzziehung zusammenhängenden »neuen Skeptizismus« andererseits in Verbindung zu bringen,20 so dass es nicht zu verwunderlich ist, dass aufgrund jener strukturlogischen Ähnlichkeit der Situation auch ähnliche Motive – die man Hegelsche Motive nennen kann – erneut kritisch zum tragen kommen. Betrachtet man einige der bekanntesten Motive von Hegels Kritik an »empiristischen Philosophien«, an der »kritischen Philosophie« Kants und am »neuen Skeptizismus« im Überblick, so wendet sich Hegels Kritik immer wieder energisch gegen durchaus verwandte Versuche der Selbstlimitation des menschlichen Erkennens. Hegels verschiedene Argumentationslinien können in folgender Grundeinsicht pointiert zusammengefasst werden: Indem die Vernunft behauptet, gewisse Bereiche nicht erkennen zu können, ist sie, mindestens in manchen Fällen, schon positiv über jene ver19

Vgl. Kant: KrV, B XVff. Während Carnap sich zunächst noch von aller traditionellen Philosophie – und d. h. von Kant und Hegel – abgrenzt, vollzieht Reichenbach in seiner zitierten Schrift Aufstieg eine positive Hinwendung zu Kant: Allerdings wird vor allem das kritische Potential Kants gegen dogmatische Metaphysik, oder besser gesagt gegen Metaphysik überhaupt, aufgegriffen, wobei auf den Transzendentalen Idealismus verzichtet wird. Selbst Strawsons exzellente Kant-Interpretation vernachlässigt den »transzendentalen Idealismus«, vgl. Strawson, Peter F.: Bound of Sense. London 1966. 20

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meintliche Grenzziehungen hinaus. Der Versuch einer Selbstbegrenzung scheitert genau dann, wenn er selbstwidersprüchlich ist. Werfen wir einen kurzen Blick auf zwei bekannte Beispiele für dieses Hegelsche Motiv: Kant etwa konzeptualisiert Hegel zufolge das Ding an sich, das jenseits unserer Erkenntnisfähigkeit liegen soll, als bestimmungslos, aber just eben damit ist eine spezifische Bestimmung von uns angegeben: Das Ding an sich ist bestimmt als unbestimmt, damit aber eben nicht das bestimmungslose, gänzlich unerkennbare Etwas, das es sein soll. Es soll damit jener Bereich charakterisiert werden, der nicht durch uns zutreffend zu charakterisieren ist, aber eben durch jene Bezeichnung glauben wir, jenen Bereich mit unseren hier eigentlich nicht anwendbaren und zuständigen Mitteln zutreffend charakterisiert zu haben. Zu postulieren, dass es einen Bereich jenseits unserer Kategorien gibt, der anders ist als der von uns erfasste Bereich der Erscheinungen, setzt mindestens die zutreffende Anwendung der Begriffe der Existenz, der Andersheit (Negation) und des Unterschieds usf. voraus. Hegels berühmtes Diktum zur semantischen Selbstwidersprüchlichkeit des Konzeptes des Dinges an sich lautet: Die Dinge heissen an-sich, insofern von allem Seyn-für-Anderes abstrahirt wird, das heißt überhaupt, insofern sie ohne alle Bestimmung, als Nichtse gedacht werden. In diesem Sinn kann man freylich nicht wissen, was das Ding an-sich ist. Denn die Frage: was? verlangt, daß Bestimmungen angegeben werden; indem es aber zugleich Dinge-an-sich seyn sollen, das heißt eben ohne Bestimmung, so ist in die Frage gedankenloserweise die Unmöglichkeit der Beantwortung gelegt, oder man macht eine widersprechende Antwort. (GW 11, 64)21 In ähnlicher Weise betont Hegel, dass der »neue (an der kritischen Philosophie geschulte) Skeptizismus« (Hegel denkt dabei vor allem an den ›Vulgär-Kantianismus‹ von Schulze) von der Idee lebt, dass es ein unerkennbares Jenseits ›hinter‹ unseren Vorstellungen und Begriffen gäbe, zu dem wir aber nicht gelangen könnten, weil wir eben nur unsere Vorstellungen und Begriffe haben, die von der Realität unterschieden seien. Objektivität und Subjektivität, Sein und Begriff, seien zu unterscheiden: »Was der neueste Skepticismus immer mitbringt, ist […] der Begriff einer Sache, die hinter und unter den Erscheinungssachen liege.« (GW 4, 220–221). Indem der neue Skeptiker aber diese Annahme trifft, so betont Hegel zutreffend, ist er zugleich über jenen Dualismus von Vorstellung und Gegenstand hinaus, denn er selbst beansprucht ja damit, eine durchaus berechtigte und zutreffende Vorstellungen über unsere Vorstellungen und ihrem Bezug zu den Gegenständen zu haben (Ebd., S. 225). Gäbe es jenen vermeinten Dualismus, so Hegel, könnten wir gar nicht erst die Vorstellung einer Sache haben und damit aber auch nicht eine irgendwie zutreffende Kenntnis darüber, dass es hinter unseren Erfahrungstatsachen noch etwas anderes geben sollte (Ebd.). Die Vernunft kann somit nicht auf diese Art begrenzt werden, sie ist immer schon über jene Limitationen hinausgehend in Anspruch genommen. Hegel verweist in solchen Argumentationsfiguren damit zu21 Ob jenes Argument trifft oder man dieser Attacke mit Verweis auf Kants Konzeption eines »Grenzbegriffs« aus dem Weg gehen kann, soll hier nicht näher diskutiert werden.

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treffend auf den Selbstwiderspruch in all jenen skeptischen Selbstbeschränkungsversuchen. So heißt es zusammenfassend gegen die ›kritische Philosophie‹ gewendet: Es ist darum die größte Inconsequenz einerseits zuzugeben, daß der Verstand nur Erscheinungen erkennt, und andererseits dieß Erkennen als etwas Absolutes zu behaupten, indem man sagt: das Erkennen könne nicht weiter, dieß sei die natürliche, absolute Schranke des menschlichen Wissens. […] Als Schranke, Mangel wird etwas nur gewußt, ja empfunden, indem man zugleich darüber hinaus ist. […] Es ist daher nur Bewußtlosigkeit nicht einzusehen, […] daß das Wissen von Gränze nur seyn kann, insofern das Unbegränzte diesseits im Bewußtseyn ist. (GW 20, 97–98)

II.2. Hegels Argumentation gegen die Unmittelbarkeit der Erfahrung Die erste Kritik Hegels zielt damit also nicht darauf zu kritisieren, dass unser Wissen seinen Ausgangspunkt von der Erfahrung nimmt, sondern sie zielt darauf zu kritisieren, dass die Reichweite unserer Erkenntnis (und damit des sinnvollen Redens) auf den Bereich des sinnlich Erkennbaren zu beschränken sei. Ein weiterer Schritt der Hegelschen Argumentation ist nun nicht nur gegen den Unwillen, über das Sinnliche hinauszugehen und gegen den Wunsch, die Reichweite der Vernunft zu beschränken, gerichtet, sondern gegen die Interpretation des in der Erfahrung Gegebenen, die den naiven Empirismus und das naive sinnliche Bewusstsein kennzeichnet. Der Mangel des empirischen Ausgangspunktes besteht darin, dass er im Modus der Wahrnehmung und der Einzelheit stehen bleiben will, wohingegen er selbst bereits das vermeintlich Einzelne notwendigerweise schon in ein Allgemeines transformiert: »[…] der Empirismus erhebt den der Wahrnehmung, dem Gefühl und der Anschauung angehörigen Inhalt, in die Form allgemeiner Vorstellung, Sätze und Gesetze.« (Ebd., S. 75.) Hegel greift hier zusammenfassend auf seine bekannte Argumentation zu Beginn der Phänomenologie des Geistes zurück, die auf die Widersprüchlichkeit des sinnlichen Bewusstseins abzielt, welches das Sinnlich-Einzelne in seiner Unmittelbarkeit als ›das Wahre‹ ausgeben will. Indem ich aber etwas Einzelnes als konkretes unmittelbares Einzelnes begreifen – oder auch nur wahrnehmen – will, sind schon gleichsam ›im Rücken des Bewusstseins‹ verschiedenste Vermittlungsleistungen erbracht: die Mannigfaltigkeit der (durchaus allgemeinen) Eigenschaften muss zu einem Objekt vereint werden. Sehe ich hier und jetzt vor mir ein rotes Objekt, so sind bereits unterschiedlichste Kategorisierungen vollbracht: Eine implizite Theorie der Zeit (jetzt, nicht vorher oder nachher), des Raumes (hier vor mir), eine Theorie der Farbe, eine rudimentäre Theorie der Objekte, ja selbst eine rudimentäre epistemische Theorie (dies ist eine Wahrnehmung, kein Traum) usf., all dies ist im Spiel bei jeder einzelnen ›unschuldigen‹ Wahrnehmung. Aus dem reinen Sein aber, welches das Wesen dieser [d. h. der sinnlichen] Gewißheit ausmacht und welches sie als ihre Wahrheit aussagt, spielt, wenn wir zusehen, noch vieles andere beiher. […] Unter den unzähligen dabei vorkommenden Unterschieden

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finden wir allenthalben die Hauptverschiedenheit, daß nämlich in ihr sogleich aus dem reinen Sein die beiden schon genannten Diesen, ein Dieser als Ich und Dieses als Gegenstand, herausfallen. Reflektieren wir über diesen Unterschied, so ergibt sich, daß weder das eine noch das andere nur unmittelbar, in der sinnlichen Gewißheit ist, sondern zugleich als vermittelt […]. (GW 9, 64) Hegels Einsicht besteht also darin, gegen den unmittelbaren Charakter einer einfachen sinnlichen Wahrnehmung auf jene Vermittlungsleistungen zu verweisen und sie an dem Standpunkt des sinnlichen Bewusstseins aufzuzeigen. Auch das sinnliche Denken erfasst das Objekt in seinem Sosein nur, indem es dem Einzelnen allgemeine Prädikate zuspricht. Schon an den scheinbar bloß ganz einzelnen ›deiktischen‹ Begriffen »Dieses«, »Hier«, »Jetzt« ist ihre innere Allgemeinheit leicht aufzuzeigen (Ebd., 65 ff.).22 Entsprechend heißt es zusammenfassend in einem Zusatz der Enzyklopädischen Logik: Die Analyse [der sinnlichen Erfahrung im Empirismus, CS.] ist jedoch der Fortgang von der Unmittelbarkeit der Wahrnehmung zum Gedanken, insofern die Bestimmungen, welche der analysierte Gegenstand in sich vereinigt enthält, dadurch daß sie getrennt werden, die Form der Allgemeinheit erhalten. Der Empirismus, indem er die Gegenstände analysiert, befindet sich im Irrtum, wenn er meint, er lasse dieselben, wie sie sind, da er doch in der Tat das Konkrete in ein Abstraktes verwandelt.23

II.3. Der absolut-idealistische Grundgedanke: Kritik des Dualismus von Subjektivität und Objektivität Während in der Tat das Sinnliche auf das Einzelne und Äußerliche geht, stellt die denkende Betrachtung des Sinnlichen eine Umwandlung der Partikularität in die Allgemeinheit dar: Wir heißen jene Wissenschaften […] empirische Wissenschaften von dem Ausgangspunkte, den sie nehmen. Aber das Wesentliche, das sie bezwecken […], sind Gesetze, allgemeine Sätze, eine Theorie; die Gedanken des Vorhandenen. (GW 20, 47) Jene Umwandlung stellt aber, und dies ist das dritte und wichtigste Hegelsche Motiv, das eng mit Hegels absolut-idealistischer Philosophie zusammenhängt, für Hegel keine Verfälschung eines ursprünglich wahren sinnlichen Eindrucks dar, sondern ist im Gegenteil vielmehr eine Reinigung des bloß sinnlichen Eindrucks auf das Wesentliche hin: Zum Behufe einer vorläufigen Verständigung über den angegebenen Unterschied und über die damit zusammenhängende Einsicht, daß der wahrhafte Inhalt unsers Be22

Vgl. auch Enz (GW 20, 65). Enz, TWA 8, 109 f., siehe auch GW 20, 54. Im § 227, Z (TWA 8, 380), heißt es entsprechend: »[D]as Erkennen, welches die Dinge nehmen will, wie sie sind, [gerät] hierbei mit sich selbst in Widerspruch.« 23

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wußtseyns in dem Uebersetzen desselben in die Form des Gedankens und Begriffs erhalten, ja erst in sein eigenthümliches Licht gesetzt wird, kann an ein anderes altes Vorurtheil erinnert werden, daß nämlich, um zu erfahren, was an den Gegenständen und Begebenheiten, auch Gefühlen, Anschauungen, Meinungen, Vorstellungen u.s.f. Wahres sey, Nachdenken erforderlich sey. Nachdenken aber thut wenigstens diß auf allen Fall, die Gefühle, Vorstellungen u.s.f. in Gedanken zu verwandeln. (GW 20, 43) Die Hegelsche Kritik an der Sinnlichkeit, und darauf aufbauend am Empirismus, enthält damit ihre letzte Zuspitzung: Erstens ist das Sinnliche nichts Unmittelbares, schon der Versuch, Einzelheiten kognitiv zu erfassen, bedeutet ihre Vermittlung und ihre allgemeine Seite aufzuweisen.24 Zweitens ist aber dieser Vermittlungsprozess nicht als etwas den Gegenständen bloß Äußerliches zu betrachten. Nur unter der Annahme eines prinzipiellen Dualismus der kritischen Philosophie ist die Verwandlung des Einzelnen in etwas Allgemeines eine Verfälschung des Objektiven in etwas Subjektives. Die zuerst genannten Hegelschen Motive (II. 1) enthalten aber den Keim der Überwindung jenes Dualismus, so Hegels Auffassung: Lediglich unter der nur mit Selbstwiderspruch aufzustellenden These eines Dualismus zwischen Erscheinung und Ding an sich, unserer Vorstellung und der Realität, geraten wir in diese subjektivistischen Aporien. Erst wenn wir also das erste Motiv (II.1) und das zweite Motiv (II.2) zusammennehmen, gelangen wir zu einem vollständigen Verständnis der Hegelschen Position. Es ist dies die vielleicht kühnste post-kritische und post-dualistische These, dass im wahren Gedanken das ›Objektive subjektiv‹ und das ›Subjektive objektiv‹ sei, eine Einheit von Subjektivität und Objektivität erreicht ist, bzw. dass wir, wollen wir einen Realismus beibehalten, damit zu der Einsicht übergehen sollten, dass die ›Welt‹ in ihrem Innersten ›begrifflich‹ ist: Indem Denken als thätig in Beziehung auf Gegenstände genommen wird, – das Nachdenken über etwas, so enthält das Allgemeine als solches Product seiner Thätigkeit den Werth der Sache, das Wesentliche, das Innere, das Wahre. (GW 20, 65–66)25

III. Hegelsche Motive in der Entwicklung der analytischen Philosophie? Wenden wir uns nach jenem Blick auf die Grundkonturen der kritischen Positionierung Hegels zum empirischen Philosophieren wieder der gegenwärtigen Situation zu und zeichnen wir nun sehr knapp einige derjenigen Schritte nach, die ein Abrücken von jenen ersten dezidiert anti-Hegelschen Prämissen des Logischen Empirismus erkennen 24 Gegen manche Fehlinterpretationen ist es wichtig festzuhalten, dass für Hegel natürlich das Partikulare existiert, die Dinge ›sind‹ keine Begriffe. Hegels Auffassung geht dahin, dass die Einzeldinge an sich – obwohl sie vereinzelt existieren – einen allgemeinen Charakter, der ihr inneres Wesen ist, aufweisen. 25 Zur »Unmittelbarkeit« siehe § 74 der Enz (GW 20, 114).

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lassen, ein Abrücken, das durchaus die Distanz zwischen jener Position und dem Hegelschen Ansatz verkleinert. Betrachten wir zunächst die vornehmlich im deutschsprachigen Raum diskutierte Selbstaufhebung des empiristischen Vernunftbegriffs, die wir mit dem ersten Hegelschen Motiv (III.1) in Verbindung bringen können. Sodann ist zweitens die hauptsächlich innerhalb der englischsprachigen Philosophie selbst vollzogene Wende von einer empirischen Vorstellung des Gegebenen zu einem vermittelten Holismus mit dem zweiten Hegelschen Motiv in Verbindung zu bringen: auch in dieser Weiterentwicklung wird eine Nähe zu Hegel gespürt und gelegentlich gar auf diesen hingewiesen, wie einleitend vermerkt wurde (III.2). Drittens und abschließend wird ein Blick zu werfen sein auf den Kampf gegen den Dualismus von Gegebenen und Konzeptionellen, der zwar Ähnlichkeiten mit dem dritten Hegelschen Motiv hat (III.3), wobei allerdings in letzter Konsequenz nicht zu einer objektiv-idealistischen Position übergegangen wird, sondern ein kulturalistisch-pragmatischer Ansatz bevorzugt wird.

III.1. Selbstwiderspruch der Reduktion der Vernunft auf den empirischen Verstand Es ist nun erstens interessant zu bemerken, dass dasjenige Element, das laut obiger Skizze die neue Philosophie methodologisch scheinbar am deutlichsten von Hegel trennt – das Insistieren auf einer Beschränkung der Reichweite des Denkens durch die skizzierte empiristische Sinntheorie – zugleich das Element ist, welches als erstes geschichtlich widerlegt worden ist, und zwar durchaus nicht zufällig aus eben jenen Gründen, die schon Hegel gegen solche Grenzziehungen gelten machte: Es ist widerlegt worden, weil es selbstwidersprüchlich ist. Schon Popper betont in der zweiten Auflage der Logik der Forschung,26 dass die Grenzen des empirisch Verifizierbaren nicht gleichzusetzen sind mit den Grenzen des sinnvollen Sprechens. Warum nicht? Vereinfacht gesagt wurde entdeckt, dass, wenn das Sinnkriterium des Logischen Positivismus gilt, man es wegen seiner Selbstwidersprüchlichkeit selbst nicht als ein sinnvolles Kriterium formulieren kann. Carnaps These etwa, derzufolge nur formallogische (leere) oder empirische Aussagen sinnvolle Aussagen sind, ist selbst keine formallogische Tautologie und in ihrem Anspruch keine empirische Aussage; damit ist sie aber nach den eigenen Kriterien keine sinnvolle Aussage. Diesen bekannten Selbstwiderspruch kann man noch zuspitzen: sie ist gar in ihrem impliziten Anspruch (der Semantik des Wortes »sinnlos« folgend) eine normative Meta-Aussage darüber, welche Aussagen als sinnvoll zu gelten haben, und welche wir daher in der Philosophie verwenden sollten. Da zugleich aber ferner normative Aussagen nicht zum Kanon des neuen wissenschaftlichen Philosophierens gehören können, ist es zudem den eigenen Kriterien zufolge ein sinnloses, nicht wahrheitsfähiges Unterfangen, Philosophie auf die Methodologie des Logischen Empirismus normieren zu wollen.27 Der gleiche Vorwurf ist gegen Wittgen26 27

Popper, Karl: Logik der Forschung. Tübingen 1969. Spahn, Christian: Lebendiger Begriff, S. 60–62. Reichenbach hat diesen Selbstwiderspruch als

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stein erhoben worden: Wittgensteins erwähnte Aussagen, denen zufolge der Satz nicht sinnvoll über sein Verhältnis zur Wirklichkeit sprechen kann, tun ebenfalls entgegen der eigenen Festlegung von sinnhaftem Sprechen genau dies, von dem sie sagen, es sei unmöglich. Allgemeiner: Auch der Tractatus besteht weder aus empirischen Aussagen, noch aus logischen Tautologien oder Kontradiktionen, nicht einmal aus naturwissenschaftlichen Aussagen, die laut Tractatus den Kanon des Sinnvollen darstellen, sondern aus Aussagen, die dem eigenen Sinnkriterium zufolge sinnlos sind.28 Ähnliche Selbstwidersprüche lauern in weiteren Theoremen und Restriktionen des Logischen Empirismus und der nachfolgenden Philosophie. Einige einschlägige Beispiele sollen – dem Überblickcharakter dieses Textes geschuldet – hier nur kurz angeführt werden, um auch beim Leser den berechtigten Verdacht zu erregen, dass jene Selbstwidersprüchlichkeit geradezu ein Familienmerkmal der verschiedensten methodologischen Theoreme jener Richtung ist.29 Vielleicht lässt sich – wozu hier der Raum fehlt – auch Hegels Diktum aktualisieren, demzufolge schon Kant nicht nur vier Antinomien hätte aufstellen können, sondern man fast jeden »Verstandesbegriff« in einen Widerspruch verwickeln kann« (GW 20, 85):30 Um jenen Punkt ansatzweise zu verdeutlichen, seien ein paar mögliche verdächtige Aussagen genannt: So ist zum Beispiel auch das empiristisch-externalistische Sinnkriterium, demzufolge im Idealfall alle »sinnvollen« Termini externalistisch als Termini über Einzeldinge zu fassen sind, wie es Reichenbach diskutiert, selbstwidersprüchlich: Der Terminus »Alle« in jener Aussage selbst kann schon nicht extensional empiristisch gefüllt werden, und der Terminus Einzelding ist selbst ein Allgemeinbegriff, der nicht als etwas Einzelnes existiert und gleichwohl sinnvoll auf jedes Einzelne anwendbar sein muss: Er ist selbst ein Abstracta, dessen Existenz und sinnhafte Verwendbarkeit in Aussagen durch jene Festlegungen aber geleugnet wird.31 Weitere Beispiele sind die Selbstwidersprüchlichkeit der strikt empiristischen Lösung des Induktionsproblems von Popper oder die Selbstwidersprüchlichkeit der Begrenzungen der Typentheorie, derzufolge eine reflexive selbstbezügliche Sprache nicht erlaubt werden könne.32 Neben jenen Beispielen ist aber schließlich die unbedeutend abgetan, vgl. die Einleitung zur Werkausgabe von W. C. Salmon. In: H. Reichenbach. Gesammelte Werke. Bd. 1, S. 23. 28 Siehe zu dieser Kritik insbesondere Hösle, Vittorio: Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. München 1990, S. 74 ff. und Apel: Wittgenstein und Heidegger, S. 230–34. Vergleiche auch die Sätze im Tractatus, in denen Wittgenstein die logische Absurdität der eigenen Aussagen ausspricht: Tractatus, 6.54. 29 Ich übergehe damit die sicherlich notwendige Betrachtung der kritischen Einwände gegen jene Selbstanwendungsargumente. Zu den wichtigsten Einwänden siehe Hösle: Krise, S. 159 f. sowie das Buch von Kuhlmann, Wolfgang: Reflexive Letztbegründung. Freiburg und München 1985. 30 Diese Annahme bildet den Grundstein der Hegelschen Dialektik, die Wandschneider, Dieter: Grundzüge einer Theorie der Dialektik. Stuttgart 1995, S. 29–30, zufolge auf der Ausarbeitung des antinomisch-selbstwidersprüchlichen Charakters der meisten Begriffe des Verstandes beruht. 31 Ausführlich Braßel, Bernd: Das Programm der idealen Logik. Würzburg 2005, S. 40 ff. Er argumentiert dort für den Satz: »Es gibt sinnvoll verwendbare Begriffe, die keine angebbare Extension besitzen« (S. 41). Der Begriff des »Sinnlosen« selbst muss sinnvoll verwendet und verstanden werden können, und kann zugleich keine Extension im empirischen Sinne haben. 32 Zu dieser Kritik an Popper siehe Hösle: Krise, S. 78. Zur Typentheorie siehe Vardy, Peter: Some

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Einsicht Hösles von besonderer Wichtigkeit, dass die Grundthese des Logischen Empirismus, derzufolge es keine synthetischen Sätze apriori gibt, selbst kein empirischer Satz ist und keine formallogische Tautologie. Er ist in seinem Anspruch selbst genau das, dessen Sinnhaftigkeit er bestreitet: er ist selbst ein synthetischer Satz apriori.33 All jene Varianten der Selbstaufhebung strikt empiristischer Begrenzungsversuche der Vernunft verweisen auf ein altes Problem: Die Einsicht Humes, dass aus den Sinnen eben nur Einzelheit, nicht aber Allgemeinheit und Notwendigkeit zu ziehen ist – eine Einsicht, auf die auch Kant und Hegel bestehen und als Grundproblem des Empirismus anerkennen34 – ist nicht zu umgehen. Zugespitzt formuliert: Schon die Aussagen »All unser Wissen stammt aus der Erfahrung« und »Wir haben (notwendigerweise) nur Erfahrungswissen« können als allgemeingültige Aussagen selbst nicht aus der Erfahrung stammen – wir könnten nur sagen, alle bisherigen sinnvollen Aussagen stammen aus der Erfahrung. Nicht gut steht es also um die Idee, dass all unser Wissen formallogisch deduktiv aus Erfahrungen geschlussfolgert werden solle: denn – wie gerade bemerkt – folgt diese Aussage selbst formallogisch korrekt niemals aus Erfahrungen, sondern ist eine Setzung.35 Diese Selbstwidersprüchlichkeit jener empiristischen Theoreme ist im deutschen Sprachraum vor allem von K.-O. Apel,36 V. Hösle, D. Wandschneider, W. Kuhlmann und jüngst von B. Braßel herausgestellt worden, wobei alle diese Philosophen durchaus explizit von den skizzierten analogen Hegelschen Überlegungen inspiriert sind – auch wenn sich freilich solche Selbstwidersprüche auch ohne Hegel-Lektüre aufdecken lassen. Die Hierarchisierung der Vernunfttypen, wie sie Apel in Anschluss an seine Wittgenstein-Kritik vorschlägt,37 weist ebenfalls gewisse strukturlogische Ähnlichkeiten zur Hegelschen Epistemologie auf; Wandschneiders und Hösles Bemühen um eine Fundamentallogik und um eine Wiederbelebung des objektiven Idealismus als Antwort auf diese Begründungsprobleme zielen direkt auf eine Aktualisierung Hegelscher Einsichten.38 Während Hösle, Wandschneider und auch Braßel eine dezidierte Wiederbelebung des objektiven Idealismus fordern, bleibt allerdings festzuhalten, dass in den Theorien

remarks on the relationship between Russell‹s vicious-circle-principle and Russell‹s paradox. In: Dialectica 33 (1979), S. 3–19. 33 Hösle: Krise, S. 74 f. 34 Kant: KrV, B3 ff.; Hegel: Enz (GW 20, 76–77). 35 Mit der Pluralisierung verschiedener möglicher formallogischer Systeme stellt sich zudem die Frage nach der Fundierung der Formalen Logik in einer diese übergreifenden transzendentallogischen Fundamentallogik, wie Wandschneider: Theorie der Dialektik, betont. 36 Apel verweist in Wittgenstein und Heidegger auf Hegel (S. 249) und bezeichnet seine Überlegung als Explikation der »dialektischen Selbstaufstufung der Sprache«. Apel schreibt in an Hegel erinnernden Worten: »daß die Sprache, indem sie eine Grenze zieht, diese Grenze zugleich überschreitet« (ebd.). Doch grenzt sich Apel eben dort auch von Hegels absoluten Ansprüchen zugunsten einer Fundierung in der Lebenswelt ab. 37 Apel: Wittgenstein und Heidegger und ders.: Das Problem einer philosophischen Theorie der Rationalitätstypen. In: Rationalität. Hg. v. Herbert Schnädelbach. Frankfurt am Main 1984, S. 15–31. 38 Vgl. Hösle: Krise und Wandschneider: Theorie der Dialektik.

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von Apel und Habermas zwar eine Überwindung des Vorrangs der rein empiristischen Vernunft gelingt, die erweiterte reflexive Vernunft aber zugleich pragmatisch, und nicht im Sinne Hegels als eine ontische Vernunft verstanden wird. Es ist die Pointe von Apel und Habermas, jene übergeordnete Vernunft intersubjektiv als ideale, in unserem Sprechen antizipierte Kommunikationsgemeinschaft zu verstehen, nicht als eine absolute Vernunft.39 In den anti-empiristischen Motiven mag eine Hegelsche Figur am Werke sein, das Resultat ist ein Sprachspiel-Pragmatismus, der von den Hegelschen Ansprüchen weit entfernt ist. Exakt die gleiche Bewegung und Grenze – Rückgriff auf Hegelsche Motive, Übergang zu einem eher pragmatistischen Resultat – finden wir auch in der nun zu betrachtenden englischsprachigen Weiterentwicklung des analytischen Naturalismus.

III.2. Aufhebung der Unmittelbarkeit des Empirischen und des Gegebenen Während jene oben genannten Reaktionen auf den empiristischen Vernunftbegriff vornehmlich im deutschen Sprachraum anzutreffend sind, ist nun auf die eigentliche Weiterentwicklung im englischen Sprachraum einzugehen. Hier, so wurde schon gesagt, ist vor allem der Wandel in der analytischen Philosophie bedeutsam, der sich in den 1950er Jahren vollzogen hat und der zu den zitierten Erwähnungen von Hegel bei Sellars, Brandom, McDowell und Rorty führt. Diese Entwicklungsschritte lassen sich Wolfgang Welsch folgend als Kritik des Unmittelbarkeitstheorems zusammenfassen: Die empirische Erfahrung als solche kann nicht die Fundierungsleistung für die neue Philosophie erbringen, die ihr zugetraut wurde.40 Schon Carnap hat in seiner These der Sinnlosigkeit des Streits um Realismus und Idealismus die Richtung der weiteren Entwicklung vorgeben: Existenzfragen hängen von der internen sprachlichen Festlegung ab. Was ›existiert‹, ist keine Frage nach einer sprach-unabhängigen Existenz, denn eine solche externalistische Frage ist, da sie für uns nicht empirisch verifizierbar ist, eine sinnlose Frage. Legen wir uns zum Beispiel auf die Sprache der Mathematik fest, dann ›gibt es‹ natürlich Zahlen, insofern wir diese definiert haben und eine Methode besitzen, sie zu generieren und über sie Aussagen zu treffen. Ebenso legen wir in den Wissenschaften definitorisch fest, was Atome, Moleküle usf. sind und was als empirische Verifikation gilt.41 Diesen Gedanken greift Quine auf, indem er in seinem berühmten Essay On what there is festhält, dass dasjenige, was wir als existent betrachten, im Wesentlichen nicht

39 Apel: Transformation und Habermas, Jürgen: Theorie des Kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main 1981. 40 Siehe ausführlich Welsch: Hegel und die analytische Philosophie. Und in kurzer Skizze zu den epistemischen Positionen siehe Spahn, Christian: Prospects of objective Knowledge. In: Interdisciplinary Anthropology. Hg. v. W. Welsch, W. Singer, A. Wunder. Berlin und Heidelberg 2011, S. 55–77, hier: 58–62. 41 Carnap, Rudolf: Empiricism, semantics, and ontology. In: Rev Int Philos 4 (1950), S. 20–40.

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allein von dem Sinnesinput, sondern von unserem Begriffssystem abhängt.42 Wichtig sind Quines Überlegungen, dass es eine vorgängige begriffliche Entscheidung ist, wie wir empirischen Input zu interpretieren haben. Wenn Eingeborene beim Anblick eines Hasen »gavagai« sagen, so ist nicht von vornherein klar, ob sie mit diesem Terminus Hase, Hasenteile, Haseninstanziierung usf. meinen. Erst die Quantifikatoren und identitätsstiftende Prädikate entscheiden über die Ontologie. Von Interesse sind hier nur die Konsequenzen jener Ansicht. Laut Quine können ein und dieselben empirischen Belege für unterschiedliche oder gar widersprechende Systeme verwendet werden.43 Mit Quine vollzieht sich eine erste bedeutende Wende vom direkten verifikationistischen Empirismus zu einem sprach-abhängigen Holismus.44 Im gleichen Sinne betont Quine, dass nicht einzelne Aussagen, sondern immer Theorien, d. h. die Konjunktionen von Aussagen, an die empirische Überprüfung herangetragen werden.45 Der logisch-empiristische Atomismus ist zugunsten eines Begriffsholismus überwunden, auch wenn sich Quine weiterhin als naturalistisch-empiristischen Philosophen versteht. Ein erstes antiHegelsches Moment, das der Betonung der reduktionistisch-empiristischen Analyse im Gegensatz zum begrifflichen Holismus, ist überwunden. Wichtiger noch ist, zweitens, der Essay von Sellars, in dem dieser ›den Mythos des Gegebenen‹ angreift, und den er, wie eingangs zitiert, als Hegelsche Meditation bezeichnet. Eine der wichtigsten Einsichten jenes Essays ist die Preisgabe der Sinnhaftigkeit der Vorstellung eines direkten einzelnen empirischen Sinneseindrucks. In der Sinnlichkeit sind immer schon begrifflich-allgemeine Leistungen des Denkens am Werk.46 Sellars möchte seine Attacken gegen das sinnlich Gegebene durchaus mit Hegels Attacken gegen die sinnliche Unmittelbarkeit in Verbindung bringen.47 Sein wichtigster Punkt ist, dass, wenn Sinnlichkeit im Denken eine ›verifizierende‹ oder ›begründende‹ Funktion haben soll, diese nicht einfach als ›nicht-inferentielles‹ unmittelbares Wissen aufgefasst werden kann. Getreu dem späteren Diktum von Davidson betont auch er, dass nur ein 42

Quine, Willard v. O.: On what there is. In: Rev Metaphys 2 (5) (1948), S. 21–38. Quine, Willard v. O.: Word and object. Cambridge 1960; ders.: Speaking of objects. In: Proceedings and addresses of the American Philosophical Association 31 (1958), S. 5–22; ders.: Ontological relativity. In: J Philos 65(7) (1969), S. 185–212. 44 Siehe instruktiv Koppelberg, Dirk: Die Aufhebung der analytischen Philosophie. Frankfurt 1987. 45 »The unit of empirical significance is the whole of science« (Quine, W. v. O.: Two Dogmas of Empiricism. In: ders.: From a Logical Point of View. Cambridge, Mass. 1990, S. 42). 46 Sellars: Empiricism, S. 32–46, macht dies am Beispiel der Farbwahrnehmung deutlich. Unter Rekurs auf Sellars schreibt McDowell: MW, S. 12, pointiert: »The conceptual capacities that are passively drawn into play in experience belong to a network of capacities for active thought.« 47 Sellars: Empiricism, spricht von »Givenness«»or the Hegelian Term immediacy« [=Unmittelbarkeit], S. 13, und bezeichnet Hegel zurecht als »the great foe of immediacy«, S. 14. Rorty spricht im Vorwort zu diesem Buch über Sellars’ und Brandoms ›prope-Hegelianism‹ (S. 11) und vergleicht ebenfalls Sellars Analysen des Gegebenen mit Hegels Phänomenologie (S. 10). Sellars schreibt: »[…] one couldn’t have observational knowledge of any fact unless one knew many other things as well. […] The point is specifically that observational knowledge of any particular fact, e.g. that this is green, presupposes that one knows general facts of the form X is a reliable symptom of Y. And to admit this requires an abandonment of the traditional empiricist idea that observational knowledge ›stands on its own feet‹.« (Sellars: Empiricism, S. 75 f.). 43

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›belief‹ einen anderen ›belief‹48 begründen kann. Der Versuch, Begründungszusammenhänge mit bloß empirisch-kausalen Ereignissen in Verbindung zu bringen, wird von Sellars zu Recht in die Nähe des Naturalistischen Fehlschlusses49 gebracht. Er wird der Autonomie der Vernunft, d. h. der Tatsache, dass nur Gründe Gründe liefern können, nicht gerecht. McDowell schließlich greift jenen Gedanken auf, und auch er verweist, wie zitiert, einleitend auf Hegels Phänomenologie des Geistes. Er möchte an dem Unterschied zwischen Begründungen (›dem Reich der Gründe‹) und kausalen Vorgängen (›dem Reich der Natur‹) festhalten, und damit ebenfalls die Einsicht von Davidson und Sellars nicht unterbieten.50 Gleichzeitig will er aber nicht den empiristischen Realismus über Bord werfen und sich wie Davidson in eine internalistische Theorie flüchten,51 derzufolge wir in unseren Konzeptionsleistungen gefangen sind und nicht zur Welt außerhalb der Begriffe vorstoßen können. Damit hat McDowell in der Tat die Quineschen Aufforderungen einer ›Naturalisierung‹ der Epistemologie überwunden und hält an der begründungstheoretischen Autonomie des Begrifflichen fest. Seine These ist es mit Sellars, dass eine solche Naturalisierung nicht die Art von Antworten liefert, die zurzeit in der fundamentalen Fragestellung der Epistemologie gefordert sind: Buchstabiert man den Gegensatz des kausalen Reiches der Natur und des Sinnesinputs einerseits und des freien logisch-begrifflichen Schlussfolgerns andererseits aus, so stellt sich die konzeptionelle Frage, wie beim Gegensatz von Kausalität und Begründung empirische Validierung im vollen Sinne des Wortes möglich sein könnte: empirische Inputs, verstanden als etwas Unmittelbares, außerhalb der kategorialen vermittelnden Relationen des Denkens, können keine Rechtfertigungen liefern.52 McDowells Lösung besteht im Versuch der Überwindung des Dualismus von Begriff und Natur bei gleichzeitiger Beibehaltung des besonderen Status begrifflicher Rechtfertigung im Unterschied zu bloß kausal-natürlichen Vorgängen. McDowell möchte seine epistemische These von der ›Unbegrenztheit des Begrifflichen‹ durchaus als im Grunde ›Hegelsch‹ verstehen.53 Wir können vermittels der Begriffe in der Welt sein, wir müssen uns die Realität nicht als ein Jenseits zum Konzeptionellen vorstellen. Der alte logischempiristische Dualismus von begrifflich-konzeptioneller Leistung einerseits und empirisch unmittelbar Gegebenen andererseits ist aufzugeben: In the view I am urging, the conceptual contents that sit closest to the impact of external reality on one’s sensibility are not already, qua conceptual, some distance away from that impact. They are not the results of first steps within the space of reasons […] This makes room for a different notion of givenness, one that is innocent 48

Davidson, Donald: A Coherence Theory of Truth and Knowledge. In: The Essential Davidson. Hg. v. K. Ludwig und E. Lepore. Oxford, New York 2006, S. 225–237, hier: 228. 49 Sellars: Empiricism, S. 19. 50 So schon einleitend in Abgrenzung zum ›bald naturalism‹ (McDowell: MW, S. XIX, XXII). 51 Siehe die Kritik an den ›Gefängnismetaphern‹ von Davidson bei McDowell (ebd., S. 15 f). 52 McDowell: MW, S. XXI und 7: »The attempt to extend the scope of justificatory relations outside the conceptual sphere cannot do what it is supposed to do.« 53 Zum Vergleich mit Hegels Absolutheit des Begriffs siehe McDowell: MW, S. 44, 83.

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of the confusion between justification and exculpation […] Experiences already have conceptual content, so this last step does not take us outside the space of concepts.54 Dazu müssen wir allerdings die Idee des Vorrangs der Unmittelbarkeit und der Unabhängigkeit des empirischen Inhalts vom konzeptionellen Schema aufgeben.55 Auch ohne dass dies hier weiter ausgeführt werden kann, ist die Analogie zu der Hegelschen These, dass das empirisch Unmittelbare der Sinnlichkeit in Wahrheit schon an sich ein begrifflich Vermitteltes ist, deutlich zu erkennen, und McDowells eigener Hinweis auf die Phänomenologie des Geistes nicht unberechtigt.

III.3. Kritik am Dualismus von Begriff und Realität – Beibehaltung des letzten anti-Hegelschen Vorurteils Führen wir uns die Ergebnisse der letzten Abschnitte vor Augen, so haben wir die dem Aufsatz vorangestellte Frage beantwortet. Die Abscheu vor Hegel nimmt in dem gleichen Maße ab, in dem die anti-Hegelschen Festlegungen der Frühphase der analytischen Philosophie fragwürdig und gar überwunden werden und gleichzeitig zumindest im Ansatz das Potential der Hegelschen Attacken gegen die Unmittelbarkeitsphantasien des Empirismus und gegen die Begrenzungsversuche der Vernunft erkannt werden. Letztlich ist damit die vorsichtige Annäherung an Hegel in der Sache begründet, d. h. in den in jeder Epoche gleichen Grundproblemen einer empiristischen Position. Dennoch soll abschließend nicht verhehlt werden, dass jene Annäherung an Hegel seine klaren Grenzen hat. Der bedeutendste Unterschied besteht in Hegels drittem Schritt, der nicht nur epistemischen, sondern ontischen Überschreitung des Dualismus von Begriff und Realität. Hierin bleibt die moderne Philosophie im weitesten Sinne des Wortes ›naturalistisch realistisch‹, insofern sie zumeist einen pragmatistischen kulturalistischen, und nicht einen objektiv-idealistischen Ausweg wählt.56 Die Entdeckung, dass sich auch im Sinnlichen die ›Allgemeinheit des Begrifflichen‹ zeigt, die Entdeckung der Unhintergehbarkeit begrifflicher Konstitutionsleistungen wird trotz jener Erkenntnis, derzufolge das Reale nicht außerhalb des Begrifflichen zu suchen sei, dennoch durchaus immer wieder als eine anti-realistische Einsicht interpretiert.57 Insofern Sprachlichkeit, Begrifflichkeit, 54

McDowell: MW, S.10 f. Dieser Dualismus wurde schon von Davidson attackiert: On the very idea of a conceptual scheme. In: Proceedings and addresses of the American Philosophical Association 47 (1974), S. 5–20, eine Attacke, auf die sich McDowell bezieht. Davidson hält die Trennung zwischen begrifflichem Schema und empirischem Inhalt für das letzte Dogma des Empirismus, das es zu überwinden gilt, wobei für Davidson dann nicht mehr klar ist, ob eine solche Position noch als ›Empirismus‹ bezeichnet werden kann. 56 Vergleiche die zutreffende Kritik an der oftmals bloß pragmatistischen Hegel-Interpretation in der amerikanischen Debatte bei Beuthan, Ralf: Spekulatives Denken und Erfahrung. In: Epoch and Philosophy. A Journal of Philosophical Thought in Korea. XXII, No. 4 (2011), S. 1–43. 57 Siehe Spahn, Christian: Ein anderes Argument für den Realismus. Nagels Ausweichen vor der Ide55

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Allgemeinheit usf. dem partikularistischen Vorurteil der Moderne folgend letztlich doch als bloß subjektiver, sprachlich-gedanklicher Beitrag zu einer in Wahrheit durch Einzelheit gekennzeichneten Wirklichkeit verstanden wird, mehrt sich mit der Einsicht der Unhintergehbarkeit des Begrifflichen der Druck, zu einer bloß internalistischen, d. h. letztlich subjektiv-idealistischen Sicht überzugehen.58 Die philosophisch anspruchsvolle ontologische Idee eines ›objektiven Gedankens‹ bleibt den modernen Ansätzen fremd. Brandom fundiert etwa seinen holistischen Inferentialismus letztlich in einer kulturalistisch-pragmatistisch und geschichtlich verstandenen Sprachgemeinschaft in einem durchaus analogen Sinne, in dem man McDowells Begriff der ›zweiten Natur‹ verstehen kann: Es ist die menschliche Praxis des Gebens von Gründens, die als zweite Natur die Verankerung der menschliche Begründungsleistungen darstellt.59 Dieses Resultat ähnelt damit aber dem sprach-pragmatischen Resultat der Erweiterung der Vernunft, die zuvor (III.1) besprochen wurde. Hegels ontische Grundüberzeugung einer ›Vernünftigkeit der Welt‹ im emphatischen Sinne wird damit, solange der letztlich partikularistisch-physikalistische Naturbegriff unbefragt weiterwirkt, der analytischen Philosophie auch weiterhin fremd und die Annäherung an Hegel nur eine partielle Annäherung an einen immer auch noch fragwürdigen Philosophen bleiben. Ob es jedoch möglich ist, Hegels epistemische Einsichten zu übernehmen, ohne seine ontische Fundierung zu teilen, wäre eine genauere Überprüfung wert.

alismusfalle. In: Perspektiven philosophischer Forschung II. Hg. v. F. Geier, A. Spahn, C. Spahn. Essen 2013, S. 23–51. 58 Man denke an Putnams ›internen Realismus‹, bei dem das Argument der Unmöglichkeit einer God’s eye view, der Unmöglichkeit einer Sicht der Dinge an sich im Unterschied zu Hegel als Argument gegen epistemisch anspruchsvolle Realismen verstanden wird, während Hegel, wie oben gesehen, jenes Argument – weitaus eher zutreffend – gegen den subjektiven Idealismus wendet (vgl. Spahn: Prospects, S. 62 f). 59 McDowell verweist darauf, dass die wissenschaftliche Erkennbarkeit der Natur zumindest darauf hindeutet, dass ›Natur‹ in ihrer inneren Logik oder Ordnungsstruktur dem logischen Denken nicht ganz fremd sein kann, baut diesen Gedanken aber leider nicht weiter aus, sondern fokussiert sich auf die ›zweite Natur‹ des Menschen als Tatsache in der Welt: siehe McDowell, J.: Two Kinds of Naturalism. In: ders.: Mind Value and Reality. Cambridge, Mass. und London 1998, S. 167–197.

Hegels Logik als materialbegriffliche Strukturtheorie der Bedeutung Pirmin Stekeler-Weithofer

I. Kritische Philosophie beginnt mit der Einsicht in die Probleme der logischen Konstitution von Redebereichen und des Urteilens Vielleicht sind die Schlüssel für den Zugang zu Hegels Philosophie noch nicht gefunden. Vielleicht verstehen wir noch nicht, inwiefern seine Metaphysik Logik ist und auch die so genannte Realphilosophie als Analyse der logischen Formen in lokalen Redebereichen zu lesen ist. Für diesen Mangel spricht nicht bloß die allzu große Streuung der vorgelegten Interpretationen, sondern auch die Verzweiflung, in welche die besten Erforscher des Werks Hegels geraten, und das gerade angesichts der von ihnen diagnostizierten ontologisch-ontischen Metaphysik Hegels.1 Von dieser so genannten Geistmetaphysik weiß kein Mensch, was mit ihr gemeint sein soll. Diejenigen, die schon mit Feuerbach oder Marx Hegels Gebrauch des Wortes Geist so verstehen, als spräche er von einem gespenstartigen Wesen, verstehen selbst nicht, wovon die Rede ist, wobei sie auf interessante Weise hinzufügen, dass Hegels Position heute nicht mehr haltbar sei, ohne dass ihnen klar wäre, wovon eigentlich die Rede ist. Dass hier ein Problem der Lesart zumindest naheliegt, ist wohl offenkundig. Jedenfalls werden Hegels Überlegungen und Argumente dabei nicht etwa als radikale Fortsetzung der kritischen Philosophie Kants verstanden, sondern als Abkehr vom Kritizismus und Rückkehr zu einer metaphysischen bzw. im Grunde dogmatischen Überzeugungsphilosophie. Eine andere Art Verzweiflung zeigt sich in der offensiven Verteidigung einer ontischen Metaphysik. Eine solche hat zur Zeit eine gewisse Konjunktur, wobei man mit Aristoteles gern auch Hegel als Schutzpatron anruft. Leider weiß man dabei auch nicht genau, woran man glaubt. Beide Haltungen zu Hegels Metaphysik, die kritische wie die apologetische, sind schon in ihren Prämissen fragwürdig. Es steht sogar schon in Frage, ob man die Metaphysik des Aristoteles und zuvor schon die Ideenlehre Platons begriffen hat, wenn man deren begriffslogischen Sinn übersieht. Erst recht ist offen, wie Hegel an diese anknüpft. Überhaupt ist die Frage erst einmal zu beantworten, ob Hegels Kritik am kritizistischen Autonomismus und damit am idealistischen Subjektivismus in Kants Philosophie nicht absolut notwendig ist. Sie könnte sogar die einzige Möglichkeit darstellen, die Einsichten Kants gegen dessen eigenes Selbstbild und seine eigenen Kommentare zu retten. In einem solchen Fall würde die gesamte Bewegung »Zurück zu Kant« von 1 Das gilt zum Beispiel für Herbert Schnädelbach, aber in gewissen Sinn auch für Rolf-Peter Horstmann und sogar Ludwig Siep und ihre Werke.

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Hermann Cohen und dem Neukantianismus über die neuere, auch von K.O. Apel beeinflusste, Frankfurter Schule nach Jürgen Habermas zumindest die gravierenden Lücken und Mängel in Kants Theoretischer Philosophie und Logik und dann erst recht in der Praktischen Philosophie übersehen und Hegels logische Kritik in ihrer Form nicht verstehen. Die Wiederbelebung Kants in der angelsächsischen Philosophie nach P. F. Strawson ist dagegen noch kaum zu Hegel durchgestoßen, mit nur wenigen Ausnahmen wie in den Ansätzen von Robert Brandom, Terry Pinkard und Robert Pippin. Das liegt vor allem daran, dass man Hegel als Logiker unterschätzt, und zwar schon in der Phänomenologie des Geistes, und im Übrigen nicht auf seine eigene Aussage hörte, dass wahre Metaphysik allgemeine Logik ist. Ich nenne nur einige Probleme, die Hegel bei Kant erkennt. Das gravierendste von allen betrifft die Subjektivität jeden Wissensanspruchs und jeder normativen Bewertung. Dies gilt auch für die Dimension des Wahren im Reflexionsurteil der Form »diese Aussage (von N.N.) ist wahr« oder auch »ich weiß, dass p«, das bekanntlich immer nur eine Versicherung artikulieren kann. Es gilt auch für die Dimension des Guten im Reflexionsurteil der Form »diese Handlung (von N.N. in dieser Situation) ist gut (oder moralisch oder rechtlich erlaubt bzw. geboten bzw. verboten)«. Hinzu kommt die Unklarheit in Kants Rede von einem Ding an sich (selbst betrachtet) oder einem noumenalen mundus intelligibilis, als Folge einer mangelnden Reflexion, was denn der logische Ausdruck »an sich«, griechisch: kath’auto, lateinisch: per se überhaupt bedeuten kann und wirklich bedeutet. Was er sicher nicht bedeuten kann, ist dieses: Wir können kein Ding betrachten und zugleich jede Form der Betrachtung aus seinem Begriff wegabstrahieren, also so über es reden, als würde es gar nicht betrachtet. Analoges gilt für das Denken: Es gibt keinen Gegenstand des Denkens, es gibt auch keinen Referenten einer sprachlichen Bezugnahme, der nicht wesentlich durch das Denken bzw. die Bezugnahme mitbestimmt wäre. Gerade auch die Rede von einem Ding an sich als Grenzbegriff ist unklar und irreführend, suggeriert er doch gerade eine Grenze zwischen dem, was wir wissen können, und dem, was wir nicht wissen können, was es aber dennoch geben könnte. Damit restituiert man mit ihm gerade die Transzendenz und den transzendenten Glauben, den eine Kritik des Wissens und der reinen Vernunft überwinden wollte und sollte. Es ist also nicht etwa so, wie zumindest jede erkenntnistheoretische Lesart Kants suggeriert, dass das Wahrnehmen und das Denken bloß zwei subjektive Formen unseres Zugriffs auf die Dinge wären, so dass wir nie wissen könnten, was die Dinge an sich selbst sind. Vielmehr ist schon die Vorstellung eines Dinges an sich selbst und damit Kants Redeform des Ansich insgesamt in sich widersprüchlich, wenn man sie nicht bloß als eine kommentarsprachliche Rede von der Seite deutet. Denn ein Ding an sich kann gar nicht als ein Ding oder auch nur als Gegenstand sinnvoller Rede bestimmt werden. Der Abstraktor »an sich« ist daher eine Art Negator oder Anihilator. Ein Ding an sich ist einfach gar nichts. Aber es ist erhellend zu sehen, wie ein solcher annihilierender Abstraktor wirkt. Nehmen wir von einem Gegenstand alle seine Relationen weg, und wenn auch nur die Relationen zu uns, heben wir den Gegenstand als Gegenstand auf. Um nun wenigstens in einer Analogie klar zu machen, warum Hegels partiell auf Kant zurückgehende und diesen doch sinnkritisch weit übersteigende Einsicht völlig

Hegels Logik als materialbegriffliche Strukturtheorie der Bedeutung

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richtig ist, dass die vermeintlich bloß epistemischen Relationen des Wahrnehmens und Denkens selbst zur Gegenstandskonstitution gehören, betrachte man den Fall der reinen Zahlen. Dort gehört die Ordnung der Zahlterme klarerweise wesentlich zur Bestimmung ihrer Referenz. Das heißt, ein Term kann nur ein Zahlterm sein, wenn seine Ordnung zu allen Zahltermen festgelegt ist. Die Relation, dass eine Zahl n größer ist als eine andere Zahl m, ist also keine externe oder nachträgliche Relation zwischen zwei schon unabhängig von dieser Relation zuvor bestimmten Gegenständen, sondern die Relation ist selbst wesensbestimmend und daher notwendig, um die Gegenstände in ihrer Identität überhaupt als bestimmt annehmen zu können. Dass etwa 5