Schellings Philosophie der Potenz 1798-1854 9783161619304, 9783161619311, 3161619307

Es gibt wenige Begriffe in Schellings Philosophie, die über die Jahrzehnte ihrer Entwicklung hinweg derart kontinuierlic

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Schellings Philosophie der Potenz 1798-1854
 9783161619304, 9783161619311, 3161619307

Table of contents :
Cover
Impressum
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Teil: Potenzen der Natur und des Geistes (1798–1800)
Kapitel 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798) und im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799)
I. Vorbemerkung zu Schellings ‚Einführung‘ des Potenzbegriffs in die Naturphilosophie
II. Zum Programm der Naturphilosophie 1798/99
1. Zur allgemeinen Charakterisierung der Naturphilosophie
2. Der metaphysische Unterbau der natura naturans
III. Der Textbefund: Semantik und Funktion des Potenzbegriffs innerhalb der naturphilosophischen Schriften von 1798 bis 1800
1. Von der Weltseele (1798)
a) Zur Textlage
b) Stellenevaluation
2. Der Erste Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799)
a) Zur Textlage
b) Stellenevaluation
IV. Die Frage nach den Quellen für Schellings Potenzbegriff
1. John Brown
2. Carl August Eschenmayer
3. Die Mathematik
4. Weitere Quellen und allgemeine Bedeutung um 1800
Kapitel 2: Die weiteren Schriften des Jahres 1799
I. Die Texte von 1799
II. Höhere Potenz
III. Erste, zweite und dritte Potenz
IV. Potenzen (im Plural)
V. Resümee
Kapitel 3: Potenzen in den Komplementärwissenschaften von 1800
I. Die Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses
1. Zum Überblick
2. Systematischer Kontext
3. Erste und zweite Potenz
4. Potenzieren
II. Das System des transzendentalen Idealismus
1. Die Komplementarität von Natur und Geist in den Schriften von 1800
2. Die systematische Bedeutung von ‚Potenz‘ in der Transzendentalphilosophie
3. Resümee und Vorblick
2. Teil: Potenzen des Absoluten – Die Identitätsphilosophie
Kapitel 4: Die Darstellung meines Systems (1801)
I. Die Grundkonzeption des Identitätssystems
II. Potenzen innerhalb des ontologischen Grundschemas des Identitätssystems
III. Potenzen in der Naturphilosophie der Darstellung meines Systems
IV. Weitere Begriffsformen in der Darstellung meines Systems
1. potentia/actus
2. Potenzierung/Depotenzierung
a) ‚Depotenzieren‘ im Anhang zu dem Aufsatz des Herrn Eschenmayer
b) ‚Depotenzierung‘ in der Darstellung meines Systems
3. Resümee
Kapitel 5: Die weitere Entwicklung innerhalb des Identitätssystems bis 1806
I. Die Philosophie der Kunst (1802–1805)
1. Schellings Erklärung des Potenzbegriffs in der Einleitung der Philosophie der Kunst
2. Die systematische Stellung der drei Potenzen in der Metaphysik der Kunst
a) Die reale Folge der Potenzen
b) Die ideale Folge der Potenzen
3. Die weitere Anwendung
II. Bruno (1802)
III. Die Ferneren Darstellungen (1802)
IV. Die Ergänzungen zur zweiten Auflage der Ideen zu einer Philosophie der Natur (1803)
V. Philosophie und Religion (1804)
VI. Das ‚Würzburger System‘ (1804)
1. Die allgemeine Philosophie
2. Die Darstellung der Naturphilosophie im ‚Würzburger System‘
3. Die ideale Welt und ihre Potenzen
VII. Die Aphorismen über die Naturphilosophie (1806)
1. Potenzen in den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie
2. Potenzen in den Aphorismen über die Naturphilosophie
VIII. Resümee
3. Teil: Die Entwicklung einer eigentlichen Potenzenlehre (1809–1821)
Kapitel 6: Die Philosophie des internen Dualismus
I. Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809)
1. Abgrenzung zur Identitätsphilosophie
2. Zur Grundkonzeption der Freiheitsschrift
3. Der Begriff der Potenz in der Freiheitsschrift
a) Potenzen im Sinne der Natur- und Geistphilosophie
b) Der neue Begriff von Potenz und Akt
4. Zusammenfassung
II. Die Stuttgarter Privatvorlesungen (1810)
1. Einleitung
2. Die allgemeine Ontologie der Stuttgarter Privatvorlesungen
3. Der „für das Ganze höchst wichtige Begriff der Potenzen“ (AA II,8, 82/SW VII, 427)
4. Die Naturphilosophie der Stuttgarter Privatvorlesungen
5. Die Theorie des Geistes und des Bewusstseins
6. Potenzen als „Perioden der Selbstoffenbarung Gottes“ (AA II,8, 84/SW VII, 428), d.h. der Geschichte
a) Schöpfung und irdische Menschheitsgeschichte
b) Die Perioden der Ewigkeit
7. Resümee
Kapitel 7: Die Ausbildung einer dynamischen Metaphysik
I. Die Weltalterentwürfe (1811–1815)
1. Textbestand und Thema der Weltalterentwürfe
2. Die allgemeine Ontologie des dritten Weltalterentwurfs
3. Die Potenzenlehre des dritten Weltalterentwurfs
4. Die geschichtliche Potenzenfolge
5. Resümee
II. Die Erlanger Vorlesungen Initia Philosophiae Universae (1820/21)
1. Die Potenzen als Seinkönnen, Seinmüssen, Seinsollen
a) Sein und Können
b) Seinkönnen, Seinmüssen und Seinsollen
2. Die Potenzen als Willensformen
3. Universio und Aktus
4. Die tatsächliche Schöpfung
5. Resümee
4. Teil: Potenzen des Seins in der Spätphilosophie (1827–1854)
Kapitel 8: Das System der Weltalter zur Hinführung
I. Zur Textlage und -auswahl
II. Schellings komprimierte Darstellung im System der Weltalter (1827)
1. Das Programm des Systems der Weltalter
2. Schellings Referate zur Ideal- und Identitätsphilosophie in der 12. und 22. Vorlesung
3. Potenzen als ‚die wahren Urmächte des Seins‘
4. Resümee
Kapitel 9: Potenzen in der Philosophie der Offenbarung (1833–44)
I. Die Aufweisung der Potenzen
II. Die Prinzipien als Potenzen in der Wirklichkeit Gottes
III. Die Schöpfung
IV. Die Welt unter der Bestimmung der Potenzen
V. Resümee
Kapitel 10: Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie (1846–54)
I. Zum Neuansatz der Darstellung der reinrationalen Philosophie
II. Zur Methodik
III. Die Aufweisung der Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie
IV. Zur Frage der prädikatslogischen Interpretation
V. Die Perspektive auf die Wirklichkeit
VI. Resümee: Die Vielfalt der Anwendungen der Potenzen. Offene Probleme
Gesamtresümee
I. Die Grundmodelle von Potenz in Schellings Philosophie
II. Zusammenfassung der Kapitel
Bibliographie
I. Siglen und Werkausgaben:
a) Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph
b) Weitere Werkausgaben
II. Weitere Literatur
III. Lexika
Personenregister
Sachregister

Citation preview

Collegium Metaphysicum Herausgeber/Editors

Thomas Buchheim (München) · Friedrich Hermanni (Tübingen) Axel Hutter (München) · Christoph Schwöbel † (St Andrews) Beirat /Advisory Board

Johannes Brachtendorf (Tübingen) · Douglas Hedley (Cambridge) Johannes Hübner (Halle) · Anton Friedrich Koch (Heidelberg) Friedrike Schick (Tübingen) · Rolf Schönberger (Regensburg) Eleonore Stump (St. Louis)

30

Stefan Gerlach

Schellings Philosophie der Potenz 1798–1854

Mohr Siebeck

Stefan Gerlach, geboren 1968; Studium der Philosophie, Kunstgeschichte und Rechtswissenschaft in Tübingen und Freiburg; Magister Artium in Tübingen; 2008 Promotion; Wissenschaftlicher Leiter der DFG-Projekte zur Handlungstheorie in Schellings Spätphilosophie und zu Schellings Theorie der Potenzen am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen; 2018 Habilitation; 2023 außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Universität Tübingen.

ISBN 978-3-16-161930-4 / eISBN 978-3-16-161931-1 DOI 10.1628/978-3-16-161931-1 ISSN 2191-6683 / eISSN 2568-6615 (Collegium Metaphysicum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von SatzWeise in Bad Wünnenberg aus der Minion gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.

Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist das Resultat eines mehrjährigen Forschungsprojekts, welches die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unter der Projektnummer GE 2244/4 finanzierte; ihr gilt daher mein erster Dank. Besonders danken möchte ich Ulrich Schlösser, dessen vorbehaltlose Unterstützung wesentlich dazu beigetragen hat, dass ich auch meine zweite Schelling-Monografie an seinem Lehrstuhl erfolgreich abschließen konnte. Dabei konnte ich mehrfach Kapitel des Buchs mit ihm und den hervorragenden Gesprächspartnern seines Forschungskolloquiums diskutieren, wodurch es an Schärfe und Profil gewann. Besonderen Dank schulde ich auch den beiden Hilfskräften, die dieses Projekt begleitet haben: Jan-Arne Hirschberger, der viele Artikel und einen Großteil des Buchmanuskripts akribisch Korrektur gelesen hat und Fernando Wirtz, der darüber hinaus zwei meiner Schelling-Artikel ins Spanische übersetzt und mich zudem motiviert hat, zu einem Aspekt des Projekts auf einer Konferenz in Madrid vorzutragen, die Jacinto Rivera de Rosales zum System von 1800 veranstaltet hatte. Danken möchte ich auch Friedrich Hermanni und Thomas Buchheim, die meine Schelling-Forschung von Grund auf motiviert und unterstützt haben und in deren gemeinsam mit Axel Hutter herausgegebener Reihe das Buch nun erscheinen wird. Mehr als sich in Worte fassen lässt, möchte ich zuletzt meiner Frau Natalie danken, die zwei Jahre Pandemie mit unseren Kindern zuhause bewältigte, damit ich den Kopf frei haben konnte, in einem zeitweise völlig verwaisten Institut Schellings Potenzen-Theorie zu rekonstruieren. Tübingen im März 2023

Stefan Gerlach

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1. Teil:

Potenzen der Natur und des Geistes (1798–1800) Kapitel 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798) und im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) Vorbemerkung zu Schellings ‚Einführung‘ des Potenzbegriffs in die Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zum Programm der Naturphilosophie 1798/99 . . . . . . . . . 1. Zur allgemeinen Charakterisierung der Naturphilosophie . . 2. Der metaphysische Unterbau der natura naturans . . . . . . III. Der Textbefund: Semantik und Funktion des Potenzbegriffs innerhalb der naturphilosophischen Schriften von 1798 bis 1800 1. Von der Weltseele (1798) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zur Textlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Stellenevaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Erste Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) . a) Zur Textlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Stellenevaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Frage nach den Quellen für Schellings Potenzbegriff . . . . 1. John Brown . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Carl August Eschenmayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Weitere Quellen und allgemeine Bedeutung um 1800 . . . .

9

I.

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9 11 11 13

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16 17 17 17 22 22 23 33 33 34 37 39

Kapitel 2: Die weiteren Schriften des Jahres 1799 . . . . . . . . . .

44

I. II. III. IV. V.

44 45 49 51 53

Die Texte von 1799 . . . . . . Höhere Potenz . . . . . . . . Erste, zweite und dritte Potenz Potenzen (im Plural) . . . . . Resümee . . . . . . . . . . .

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VIII

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 3: Potenzen in den Komplementärwissenschaften von 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.

Die Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses . . . . . . 1. Zum Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Systematischer Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erste und zweite Potenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Potenzieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das System des transzendentalen Idealismus . . . . . . . . . . . 1. Die Komplementarität von Natur und Geist in den Schriften von 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die systematische Bedeutung von ‚Potenz‘ in der Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Resümee und Vorblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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54

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54 54 56 57 59 67

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67

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70 78

Kapitel 4: Die Darstellung meines Systems (1801) . . . . . . . . . .

83

I. Die Grundkonzeption des Identitätssystems . . . . . . . . . . . . II. Potenzen innerhalb des ontologischen Grundschemas des Identitätssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Potenzen in der Naturphilosophie der Darstellung meines Systems . IV. Weitere Begriffsformen in der Darstellung meines Systems . . . . . 1. potentia/actus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Potenzierung/Depotenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . a) ‚Depotenzieren‘ im Anhang zu dem Aufsatz des Herrn Eschenmayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) ‚Depotenzierung‘ in der Darstellung meines Systems . . . . 3. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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83

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86 94 101 102 102

. . .

103 104 106

2. Teil:

Potenzen des Absoluten – Die Identitätsphilosophie (1801–1806)

Kapitel 5: Die weitere Entwicklung innerhalb des Identitätssystems bis 1806 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 I.

Die Philosophie der Kunst (1802–1805) . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schellings Erklärung des Potenzbegriffs in der Einleitung der Philosophie der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110 112

IX

Inhaltsverzeichnis

2. Die systematische Stellung der drei Potenzen in der Metaphysik der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die reale Folge der Potenzen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die ideale Folge der Potenzen . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die weitere Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bruno (1802) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Ferneren Darstellungen (1802) . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Ergänzungen zur zweiten Auflage der Ideen zu einer Philosophie der Natur (1803) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Philosophie und Religion (1804) . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Das ‚Würzburger System‘ (1804) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die allgemeine Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Darstellung der Naturphilosophie im ‚Würzburger System‘ 3. Die ideale Welt und ihre Potenzen . . . . . . . . . . . . . . . VII. Die Aphorismen über die Naturphilosophie (1806) . . . . . . . . . 1. Potenzen in den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Potenzen in den Aphorismen über die Naturphilosophie . . . . VIII. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115 115 116 118 122 123 125 127 129 130 133 134 135 136 141 144

3. Teil:

Die Entwicklung einer eigentlichen Potenzenlehre (1809–1821) Kapitel 6: Die Philosophie des internen Dualismus . . . . . . . . . 151 I.

Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809) . . . . . . . 1. Abgrenzung zur Identitätsphilosophie . . . . . . . . . . . 2. Zur Grundkonzeption der Freiheitsschrift . . . . . . . . . 3. Der Begriff der Potenz in der Freiheitsschrift . . . . . . . . a) Potenzen im Sinne der Natur- und Geistphilosophie . . b) Der neue Begriff von Potenz und Akt . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Stuttgarter Privatvorlesungen (1810) . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die allgemeine Ontologie der Stuttgarter Privatvorlesungen 3. Der „für das Ganze höchst wichtige Begriff der Potenzen“ (AA II,8, 82/SW VII, 427) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Naturphilosophie der Stuttgarter Privatvorlesungen . . 5. Die Theorie des Geistes und des Bewusstseins . . . . . . .

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151 151 153 161 161 162 166 167 167 168

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172 177 179

X

Inhaltsverzeichnis

6. Potenzen als „Perioden der Selbstoffenbarung Gottes“ (AA II,8, 84/SW VII, 428), d. h. der Geschichte . . . a) Schöpfung und irdische Menschheitsgeschichte . b) Die Perioden der Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . 7. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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185 185 187 189

Kapitel 7: Die Ausbildung einer dynamischen Metaphysik . . . . 190 I.

Die Weltalterentwürfe (1811–1815) . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textbestand und Thema der Weltalterentwürfe . . . . . . . . . 2. Die allgemeine Ontologie des dritten Weltalterentwurfs . . . . 3. Die Potenzenlehre des dritten Weltalterentwurfs . . . . . . . . 4. Die geschichtliche Potenzenfolge . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Erlanger Vorlesungen Initia Philosophiae Universae (1820/21) 1. Die Potenzen als Seinkönnen, Seinmüssen, Seinsollen . . . . . a) Sein und Können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Seinkönnen, Seinmüssen und Seinsollen . . . . . . . . . . 2. Die Potenzen als Willensformen . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Universio und Aktus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die tatsächliche Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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190 190 191 193 198 200 200 202 202 203 206 209 211 213

4. Teil:

Potenzen des Seins in der Spätphilosophie (1827–1854) Kapitel 8: Das System der Weltalter zur Hinführung . . . . . . . . 217 I. Zur Textlage und -auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Schellings komprimierte Darstellung im System der Weltalter (1827) 1. Das Programm des Systems der Weltalter . . . . . . . . . . . . . 2. Schellings Referate zur Ideal- und Identitätsphilosophie in der 12. und 22. Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Potenzen als ‚die wahren Urmächte des Seins‘ . . . . . . . . . . 4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

217 220 220

Kapitel 9: Potenzen in der Philosophie der Offenbarung (1833–44)

229

I. Die Aufweisung der Potenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Prinzipien als Potenzen in der Wirklichkeit Gottes . . . . . . . III. Die Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

230 238 240

222 224 227

XI

Inhaltsverzeichnis

IV. Die Welt unter der Bestimmung der Potenzen . . . . . . . . . . . . V. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245 252

Kapitel 10: Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie (1846–54) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 I. Zum Neuansatz der Darstellung der reinrationalen Philosophie . . II. Zur Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Aufweisung der Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zur Frage der prädikatslogischen Interpretation . . . . . . . . . . V. Die Perspektive auf die Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Resümee: Die Vielfalt der Anwendungen der Potenzen. Offene Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. .

253 255

. . .

257 261 264

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271

Gesamtresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 I. Die Grundmodelle von Potenz in Schellings Philosophie . . . . . . II. Zusammenfassung der Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

274 278

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289

Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

297

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

299

Einleitung Von dem Zeitpunkt an, da Schelling 1798 den Begriff von ‚Potenz‘ erstmals beiläufig innerhalb seiner Naturphilosophie anwendet, bis zu seinem Tod 1854, d. h. für den gewaltigen Zeitraum von über 55 Jahren produktiver philosophischer Arbeit, bleibt ‚Potenz‘ durchgängig, und mit zunehmend sich steigernder Intensität und Bedeutung, Teil des festen begrifflichen Instrumentariums von Schellings Philosophie. Hat er in den ersten Schriften noch gelegentlich erläuternde und ausschmückende Funktion, so ändert sich dies bereits 1799, als Schelling die Idee von organischen Steigerungsstufen in seiner Naturphilosophie mit der Idee einer Reihenbildung von Potenzen verbindet und erhält schon im System des transzendentalen Idealismus zentrale Bedeutung, wo Schelling programmatisch für das ganze Verfahren der Philosophie erklärt, sie sei nichts anderes als ein „beständiges Potenzieren des Ichs“ (AA I,9,1, 146/SW III, 450). Ebenso ist ‚Potenz‘ durchgängig im Kernbereich des Identitätssystems situiert, in welchem es die zentrale Funktion der Vermittlung des Absoluten mit der Vielheit des realen und idealen Seienden erhält, auch wenn die konkrete Ausführung des Identitätssystems und damit auch des darin enthaltenen Potenzbegriffs in den verschiedenen Schriften zwischen 1801 und 1806 deutlich variiert. Mit der Grund/Existierendes-Unterscheidung, die 1809 zum metaphysischen Mittelpunkt der Freiheitsschrift avanciert, verbindet Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen 1810 eine Systematik von Potenzen zu einer metaphysischen Grundtheorie, welche man von diesem Zeitpunkt an als eine Potenzenlehre im eigentlichen Sinne bezeichnen kann. Sie beinhaltet die Idee, dass der gesamte Geist- und Wirklichkeitsraum aus dynamisch aufeinander bezogenen komplementären Letztprinzipien und deren wechselseitig variabler Stellung, genannt ‚Potenzen‘ zu entfalten ist. Diese Lehre bleibt auch zentral für die Weltalter (1811–15) und die Erlanger Vorlesungen (1821), wo sie noch um die Idee eines dynamisch aus den Potenzen entfalteten geschichtlichen Prozesses erweitert wird, und bildet schließlich nicht nur das metaphysische Kernstück der ab 1827 zu datierenden Spätphilosophie Schellings, sondern beherrscht zugleich alle Anwendungsfelder der geschichtlichen Philosophie der Mythologie und Offenbarung. Es gibt nichts, das ihr an systematischer Bedeutung in Schellings reiferer Philosophie auch nur annähernd gleichrangig wäre. 1 1 Hierüber herrscht auch in der Forschung Einstimmigkeit: Sie ist „das Wichtigste und für die philosophische Bedeutung des Systems Entscheidendste“ (Dorner 1860, 101), der „eine[.]

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Einleitung

Die Potenzenlehre ist das Rechtfertigungs- und das Ausführungsprinzip der Spätphilosophie Schellings. Und sie ist vielleicht seine originellste Leistung. Allerdings ist Schellings Philosophie der Potenz auch mit großen Schwierigkeiten behaftet: Einerseits ist die theoretische Last, die Schelling dem Potenzbegriff und seiner späteren Potenzenlehre zu tragen aufbürdet, ungeheuer: Der Potenzbegriff soll nicht nur dazu dienen, die Dimensionen der materiellen Welt in räumlicher und organischer Hinsicht ebenso zu erklären, wie die Dimensionen des Geistigen von seinen ersten Selbstverhältnissen bis hinauf zu seinen höchsten kulturellen Leistungen in Kunst und Philosophie. Er soll auch zeigen, wie die unendliche Mannigfaltigkeit der geistigen und materiellen Welt aus dem Einheitspunkt der Identität heraus entwickelt werden kann. Und aus ihr soll sich schließlich in der späteren Philosophie nicht nur die Herkunft der Welt und die Art und der Inhalt des Geistes Gottes erklären lassen, sondern zugleich der Ursprung und die Wirkungsweise des Bösen in den metaphysischen Konstellationen des Willens und die logischen Grundmuster der Rationalität in den Urteilsformen. Zudem soll durch sie das eigentlich idealistische Programm einer Subjektivitätsphilosophie aus transzendentalen Prinzipien zu Ende geführt werden. Andererseits gilt Schellings Theorie der Potenz und die Potenzenlehre als notorisch dunkel. 2 Dies liegt nicht nur an der Abstraktheit ihres Gegenstandes und daran, dass Schelling nach 1809 kein literarisch zu Ende gearbeitetes Textmanuskript mehr erstellt hat, das auch in der Strenge der äußeren Form dem Anspruch seines Inhalts entspräche. Sondern auch daran, dass Schelling seine Theorie von Potenz und die Potenzenlehre in immer neuen Anläufen vielfach Inhalt, von dem aus sie [die Spätphilosophie Schellings] im Ganzen verständlich wird“ (Hemmerle 1966, 99), ihr „methodisches Rückgrat“ (Grün 1993, 175), Potenz „der entscheidendste[.] Begriff des späten Schelling“ (Barbarić 2012, 316), „das Konzept der Potenz […] der beherrschende Reflexionsbegriff in Schellings Philosophie fast über alle Stadien ihrer Entwicklung hinweg“ (Buchheim 1992, 25), ja darüber hinaus von „hohe[m] philosophische[m] Rang“ (Müller-Bergen 2006, 271). Schelling selbst hat bereits 1810 vom „für das Ganze höchst wichtigen Begriff der Potenzen“ (AA II,8, 82/SW VII, 427) gesprochen. In einem Brief von 1852 nennt er sie „meine Metaphysik“ und Grundlage und Materie sowohl der rationalen als auch der positiven Philosophie (Plitt III, 241). Um größtmögliche Einheitlichkeit zu gewähren, werden alle Zitate Schellings in moderner Rechtschreibung wiedergegeben; Schellings Interpunktation, die oft entgegen den modernen Regeln sinnstiftend gliedert, jedoch beibehalten. Die Zitatnachweise zu Schelling erfolgen parallel aus den Sämmtlichen Werken (SW) und bei Werken, die bis Ende 2021 in der HistorischKritischen Ausgabe (AA) erschienen sind, zusätzlich nach dieser. Sonstige Werke werden mit eigenen Siglen geführt; zum Verzeichnis der Siglen siehe Bibliografie. 2 Auch hierüber herrscht Einigkeit. Z. B.: Die Potenzenlehre ist „das Schwierigste in seinem System und erscheint unserem hergebrachten Denken gar fremdartig“ (Dorner 1860, 101). Der Begriff der Potenz ist „ein unbequemer Begriff “ (Buchheim 1992, 25). Er stellt „seit langem das Kreuz aller Schelling-Forschung dar“ (Barbarić 2012, 315). Dementsprechend ist die Potenzenlehre eine „äußerst schwer zugängliche Lehre“ (Müller-Bergen 2006, 271), „der undurchdringliche Punkt der Spätphilosophie“ (Hemmerle 1968, 30).

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vorgetragen hat und ihre Terminologie und ihre inhaltlichen Bestimmungen eine Entwicklungsgeschichte von mehr als einem halben Jahrhundert mit sich führen, die zudem vielfältige philosophiehistorische Gedankenkonstellationen adaptieren und daher in ihrer Anwendung und Funktion innerhalb eines großen Spektrums von Bedeutungen teils deutlich variieren. Zu den großen Schwierigkeiten einer Rekonstruktion von Schellings Philosophie der Potenz gehört daher, dass es nicht eine Hauptbedeutung von ‚Potenz‘ bei Schelling gibt, bei welcher lediglich zuzusehen wäre, auf welche Art der so festgelegte Begriff in den verschiedenen Systementwürfen seine unterschiedlichen Aufgaben tragen kann. Sondern dass Schelling mit diesem Begriff eine fast unüberschaubare Vielzahl von teils weit auseinanderliegenden Bedeutungen verbindet, zumeist ohne diese explizit zu nennen, so dass viele von ihnen nur über der jeweiligen Erörterungskontext zu rekonstruieren sind. Hierzu gehört schon die Problematik, dass Schelling zunächst in einem funktionalen Sinn von ‚Potenz‘ im Singular spricht, diese Redeweise dann aber durch einen substanziierenden Gebrauch von ‚Potenzen‘ im Plural erweitert, ohne dass die offensichtliche Bedeutungsverschiebung vom einen zum anderen thematisiert würde. Zudem haben Schellings seltene begriffliche Erläuterungen je nur Gültigkeit für die entsprechende Schrift und den gegebenen Kontext. Da Schelling jedoch von Schrift zu Schrift je neu ansetzt, um dieselben Probleme immer wieder neu zu fassen, greift er auch hinsichtlich des Potenzbegriffs von Schrift zu Schrift auf andere Bedeutungen zu, oft genug, indem er ältere Bedeutungen wieder aufgreift, variiert und in neue Problemzusammenhänge integriert. Dabei versucht Schelling oft, sich gerade diese Vieldeutigkeit des Potenzbegriffs zu Nutze zu machen, indem er seine vielfältigen begrifflichen Bestimmungen so kombiniert, dass sie eine Lösung innerhalb gegebener Erörterungskontexte anbieten. Daher ist klar, dass ein wesentlicher Grund für die konstatierte ‚Dunkelheit‘ der Potenzenlehre Schellings daher rührt, dass Schelling einerseits dem Potenzbegriff vielfältigste theoretische Lasten aufbürdet, während andererseits Schellings Semantik des Potenzbegriffs außerordentlich vielfältig ist, weswegen es aussichtslos ist, Schellings Theorie zu rekonstruieren, solange die Bedeutungen des Potenzbegriffs, mit denen Schelling operiert, nicht klar geschieden sind. So bieten sich schon einer ersten kursorischen Sichtung eine Reihe von Hauptbedeutungen dar, die sich ihrerseits z. T. wieder in Unterbedeutungen ausdifferenzieren; viele dieser Bedeutungen sind bereits in der ersten Entwicklungsphase bis 1810 gegeben. Sie seien hier, nicht im Sinne einer Bestandsaufnahme, sondern um hinsichtlich der begrifflichen Vielfalt eine erste Orientierung zu gewinnen, rhapsodisch aufgezählt: 1) Potenz als Reiz, Ursache und Kraft: Dies entspricht dem literarisch ersten Gebrauch des Potenzbegriffs bei Schelling, der 1798 in der Weltseele den Begriff aus der Erregungstheorie der Arzneilehre von John Brown übernimmt (vgl.

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AA I,6, 195/SW II, 505 f.) und dessen Bedeutung von Erregung, Reiz und Stimulanz bereits dort im Sinne von Ursache und Kraft interpretiert. 2) Potenz als Steigerung im doppelten Sinn des sich Steigerns und des Gesteigert-Seins. Im ersten Sinn spricht Schelling in den Jahren um 1800 oft in der sehr weitläufigen Formulierung von ‚Potenzieren‘ (AA I,9,1, 330/SW III, 631) bzw. ‚Potenzierung‘ (AA I,10, 106/SW IV, 103). Im zweiten Sinn mittels des häufig gebrauchten Ausdrucks der ‚höheren Potenz‘ (AA I,7, 220/SW III, 207). In diesem Sinn entfaltet er im Würzburger System von 1804 ein Steigerungsmodell von je drei Potenzen der Natur (Materie/Dynamik/Organismus) als spezieller Naturphilosophie (SW VI, 278 ff.) und der idealen Welt des Geistes (Wissen/Handeln/Kunst) (AA II,7,1, 437/SW VI, 569 f.) und gebraucht weiterhin den Potenzbegriff zur Charakterisierung einer Stufe innerhalb des organischen Modells (AA I,7, 117/SW III, 69; W 273). 3) Zu den Grundbedeutungen gehört auch Potenz als Möglichkeit (vgl. AA I,12,1, 182/SW IV, 451; SW XIII, 231), insbesondere im Zusammenhang eines Gegensatzes von potentia und actus (AA I,7, 135/SW III, 95; SW XIII, 205), verstanden als die Möglichkeit eines Übergangs von einer Potenz des Seins zur Wirklichkeit des Seins (GPP, 436; SW XIII, 79). 4) Eine weitere wesentliche Bedeutung ist die der Potenz als Dominanz. In diesem Sinne ist Schellings häufig gebrauchte Formulierung ‚unter der Potenz von … stehen/gesetzt sein‘ (AA II,8, 120/SW VII, 447; SW XIV, 212) zu verstehen, die Schelling insbesondere zur Charakterisierung von Geschichtsepochen als Geist-Konstellationen, die von einem bestimmten, aus der Potenzenlehre entwickelten Motiv geprägt sind, verwendet. 5) Potenz als Prinzip (SW XII, 268) bzw. (erster) Ursache im Sinne von Ursprung (SW XIII, 348, 400). In dieser für die Potenzenlehre als einer ontologischen Elementartheorie grundlegenden Verwendungsweise spricht Schelling auch von den Potenzen als arché (SW XII, 116). Zuletzt kommen hierzu noch eine Reihe mit Perspektive auf das Gesamtwerk eher seltener von Schelling gebrauchter Begriffe der Potenz, bei welchen die Untersuchung zeigen wird, dass manche von ihnen dennoch eine tragende Bedeutung innerhalb der jeweiligen Werke haben, während andere lediglich kurze Nebengedanken oder Illustrationen Schellings wiedergeben. Hierbei spricht Schelling in etwa von Potenz im Verhältnis von Wesen und Form (AA I,12,1, 154 f./SW IV, 420), von Potenz als Pol (AA I,10, 201/SW IV, 202), als Differenz (AA I,10, 135/SW IV, 134), als Einheit (AA I,12,1, 151 Anm./ SW IV, 416 Anm.), als Begriff (W 76), Persönlichkeit (AA II,10,2, 817/Initia 171), ideeller Bestimmung (AA II,6,1, 111 f./SW V, 365), Gestalt (SW XII, 58) oder Vermittlung (SW XIII, 272). Zu den Schwierigkeiten, die Schellings Philosophie der Potenz(en) mit sich führt, gehört des Weiteren auch, dass nicht nur deren Semantik vielfältig ist,

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sondern, dass auch die Terminologie und Notation der Potenzen uneinheitlich sind und daher gleichfalls der dezidierten Untersuchung bedürfen. So führt Schelling zur Charakterisierung der Potenzen, sofern sie ab 1810 ein aufeinander bezogenes System mehrerer Potenzen bilden, je eigene Bezeichnungen teils in Form von Nummerierungen, teils in Form von Eigennamen, teils in Form von Notationen ein, die mathematischen Kürzeln gleichen. Allerdings werden in den verschiedenen Entwicklungsstufen der Potenzenlehre diese Bezeichnungen immer wieder geändert. So bedient sich Schelling einer mathematisierenden Formelsprache zur Darstellung der Potenzenlehre, die Operatoren wie Gleichung, Bruch oder Quotient zu enthalten scheinen und führt in den Stuttgarter Privatvorlesungen und den Weltaltern die Buchstaben A und B ein, deren spezifische wechselseitige Ordnung als erste und zweite Potenz bezeichnet wird (AA II,8, 82/SW VII, 427). Später bezeichnet Schelling die Steigerungsstufen der ersten Potenz, d. h. ihren jeweiligen Aktualisierungsstatus als A und B (SW X, 313). Außerdem gebraucht er in den Einleitungen zur Philosophie der Mythologie für die Darstellung der Potenzen die Buchstabennotationen als –A, +A, ±A, und A0 (SW XI, 288 ff.; XII, 85) bzw. A, A2 und A3 (SW XI, 391; XII, 84–89, vgl. UF 86) – eine Notation, die umgekehrt bereits 1810 für die Steigerungsstufen der Potenzen gegeben war (AA II,8, 123–126/SW VII, 449–451). Auch Schellings Terminologie der Potenzen kann daher als sehr uneinheitlich bezeichnet werden. 3 Des Weiteren stehen die Potenzen unter einer Vielzahl von teils metaphorischen Charakterisierungen. So charakterisiert Schelling die Dichotomie von erster und zweiter Potenz allein in den Stuttgarter Privatvorlesungen als Gegensatz von Realem und Idealem, Dunkel und Licht, Objekt und Subjekt, auch Prädikat und Subjekt, von Kontraktivem und Expansivem, von Unbewusstem und Bewusstem, von Materie und Geist, von Irrationalem und Rationalen, von Höherem und Niederem, von Mittel und Zweck (AA II,8, 94–113/SW VII, 433–443). Hinzu kommt zuletzt eine Vielzahl historischer Kontexte, die Schelling mit der Idee einer Potenzendualität oder -vielheit verknüpft: So Zuordnungen der ersten und zweiten Potenz zu den antiken Begriffspaaren peras und apeiron (SW XI, 393), monas und dyas (SW XII, 142) oder dynamis (SW XI, 409) und energeia (SW XIII, 104), Schellings mehrfache Anknüpfung an die Vier-Ursachen-Lehre des Aristoteles (GPP 475; SW XII, 112 und XIII, 290) oder an die Lehre vom Ideal der Vernunft in Kants Transzendentaler Dialektik (SW XI, 283).

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Entsprechend Barbarić 2012, 317 mit Anm. 27.

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Angesichts dieser kaum überschaubaren Fülle an Bestimmungen stellt sich die Frage, wie diese interpretativ erschlossen werden können. Hierbei dürfte in jedem Fall klar sein, dass eine solche Fülle disparater Benennungen und Bestimmungen, sofern sie nicht scharf in ihrer Bedeutung auf ihren jeweiligen systematischen und werkgenealogischen Bezugsort eingegrenzt und aus diesem heraus gedeutet werden, zuletzt dazu führen muss, den Potenzbegriff bei Schelling für in sich unverständlich und inoperabel zu halten – was in der Konsequenz dazu führen muss, ihn entweder zu ignorieren oder auf Grund des offenbaren Gewichts, das Schelling diesem Begriff zumisst, sein Werk insgesamt für nicht erhellbar zu halten. Beide Optionen finden sich vielfach in der Geschichte der Schelling-Forschung, kommen aber einer Resignation vor einem tragenden Begriff in Schellings Philosophie gleich. Daher ergibt sich umgekehrt aus der gezeichneten Bedeutung, Tragweite und Schwierigkeit des Potenzbegriffs für Schellings Philosophie die Aufgabe, Schellings Theorie der Potenz in ihrer Ganzheit in seinem Werk ab 1798 hinsichtlich ihrer begrifflichen, d. h. systematischen und semantischen Entwicklung mit hinreichender Genauigkeit zu rekonstruieren und darzustellen. Dabei kann es nicht darum gehen, Schellings Philosophie der Potenz im Licht einer neuen Lesart neu zu deuten oder bestimmte Werke oder Werkphasen Schellings aus einer neuen Auffassung über den Grundbegriff der Potenz heraus neu zu interpretieren. Sondern darum, in einer genauen begrifflichen Untersuchung zunächst Schellings Verwendungsweisen von ‚Potenz‘ zusammenzutragen, in ihrer funktionellen Bedeutung aus den jeweiligen systematischen Erörterungskontexten zu erschließen und in ihren semantischen und systematischen Hauptbedeutungen für künftige Forschungen überblicksstiftend darzustellen. Dies zu leisten ist die Aufgabe der vorliegenden Studie.

1. Teil

Potenzen der Natur und des Geistes (1798–1800)

Kapitel 1

Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798) und im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) I. Vorbemerkung zu Schellings ‚Einführung‘ des Potenzbegriffs in die Naturphilosophie Der Beginn der Aufnahme des Potenzbegriff in Schellings Werk 1798/99 fällt mitten in die fortschreitende Darstellung und Ausführung seiner Naturphilosophie, deren Grundkonzept er 1797 in den Ideen zu einer Philosophie der Natur und 1798 in der Schrift Von der Weltseele bereits dargelegt hatte. 1 In dieser Schrift von 1798 zitiert Schelling zunächst in einem Referat die Erregungslehre des schottischen Mediziners John Brown und dessen Ausdruck ‚erregender Potenzen‘, wodurch der Begriff der ‚Potenz‘ überhaupt innerhalb Schellings publiziertem Werk seine erste Erwähnung findet – ohne ihm dabei allerdings einen eigenständigen Sinn zuzuweisen. Einen solchen entwickelt Schelling erst allmählich in den nachfolgenden Schriften, beginnend mit dem Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie von 1799, in dem Schelling, über Brown hinausgehend, zunächst weitere Bedeutungen von ‚Potenz‘ aufnimmt. Es ist demnach nicht so, dass die Neuterminologie der ‚Potenzen‘ zugleich eine der vielen Zäsuren in Schellings Werk markierte oder zumindest mit einer gewichtigen Systemtransformation einherginge, wie etwa die Einführung einer Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie 1827. Die Einführung des Potenzbegriffs – immerhin eines Begriffs, auf den Schelling in den folgenden 55 Jahren seines Philosophierens nie wieder verzichten wird – kann zunächst gar nicht als Ausdruck eines neuen Gedankens, einer spezifischen Präzisierung oder auch nur einer Detailerweiterung seiner Naturphilosophie angesehen werden. Sondern man muss sie zunächst als eine noch nicht einmal sonderlich bestimmte, sondern eher vage und variable, sprachliche Erweiterung ansehen, als literarische Neueinführung eines Terminus, der Verhältnisse beschreibt, die Schelling zuvor in anderen Worten bereits dargelegt hatte. Der Wortgebrauch der ‚Potenz‘ in der Naturphilosophie vom Frühjahr 1799 hat eher ausschmückenden oder höchstens erläuternden Charakter. Es handelt sich hierbei zunächst weder um eine terminologische Eigenprägung Schellings noch um die Übernahme einer spezifischen oder gar seman1 Eine erste Version der Untersuchungen der ersten drei Kapitel wurde publiziert in Gerlach 2020b.

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Kap. 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798)

tisch festgelegten oder definierten Begrifflichkeit aus dem Werk oder Denken eines anderen. Auch gibt es vor 1802 keine begrifflichen Festlegungen Schellings im Sinne einer Nominaldefinition. Von einer ‚Einführung‘ dieses Begriffs in sein Werk im eigentlichen Sinn kann daher gar keine Rede sein. Sondern Schelling lässt 1799 zunächst einen vieldeutigen Modebegriff in eben dieser Vieldeutigkeit an verschiedenen Stellen in seine Vorlesungen und sein schriftliches Werk einfließen, dessen Bekanntheit er beim Jenaer Publikum offensichtlich voraussetzen durfte, um ihm dann in den nachfolgenden Schriften allmählich eine spezifische Funktion mit einer nach und nach präzisierten Bedeutung in der Naturphilosophie zuzumessen – und ihn dann in dieser Funktion und Bedeutung 1800 im System des transzendentalen Idealismus in die Philosophie des Geistes zu übertragen. Um den hier skizzierten Weg der ‚Einführung‘ des Potenzbegriffs in Schellings Philosophie von 1799/1800 präzise nachzuzeichnen und die Entwicklung von Funktion und Bedeutung des Potenz-Begriffs in dieser Philosophie genau zu verorten, wird folgendermaßen vorgegangen: Zunächst (II.) wird Schellings Naturphilosophie hinsichtlich (1.) ihres Programms und ihres systematischen Aufbaus, wie sie in den Schriften bis einschließlich 1800 zur Darstellung kam, kurz umrissen. Hierbei gilt es insbesondere (2.), die metaphysischen Grundprinzipien einer dynamischen, produktiven Natur und der durch sie erzeugten Naturprodukte als die Rahmentheorie klar zur Darstellung zu bringen, auf welche Schelling dann seine Neuterminologie beziehen wird. In einem nächsten Schritt (III.) wird durch eine genaue StellenEvaluation des Referats zu John Brown in der Weltseele und insbesondere des Ersten Entwurfs zu zeigen sein, in welchen Kontexten und in welchen Bedeutungen er in diesen ersten Schriften von ‚Potenz‘ spricht. Gegen gängige Forschungsmeinungen wird dann (IV.) im Einzelnen zu nachzuweisen sein, dass Schelling hierbei kein feststehendes begriffliches Konzept von ‚Potenz‘ einfach von woanders her übernimmt, weder von Brown noch von anderen. Sondern es wird zu zeigen sein, dass ‚Potenz‘ bereits ein Modebegriff im zeitgenössischen philosophischen Diskurs vor 1799 war, noch ehe Schelling diesen aufgriff und hierdurch die Mode seinerseits noch verstärkte. Dass dieser letzte Schritt, der sich auf die Zeit vor 1799 bezieht, erst nach der Untersuchung des Ersten Entwurfs vollzogen sein soll, hat methodische Gründe: Eine begriffliche Werkuntersuchung sollte stets von einem neutralen Standpunkt aus beim Werk selbst beginnen, um sich nicht voreinnehmen zu lassen von Erkenntnissen über bereits bestehende allgemeine Begriffs-Bedeutungen außerhalb dieses Werks.

II. Zum Programm der Naturphilosophie 1798/99

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II. Zum Programm der Naturphilosophie 1798/99 1. Zur allgemeinen Charakterisierung der Naturphilosophie Schellings Naturphilosophie lässt sich durch vier Grundzüge charakterisieren: sie hat (gegen Fichte) einen realistisch-objektivistischen, (gegen den Empirismus) einen apriorisch-fundamentalistischen, (gegen den Mechanismus) einen dynamischen und (gegen die Atomistik) einen organischen Grundzug. Sie wird realisiert durch einen metaphysischen Unterbau, der ein in sich gedoppeltes Grundmoment einer metaphysischen Urkraft der Produktivität enthält, bei welcher zwei gegenläufige Momente der Expansion und Kontraktion zuletzt die gesamte Dimension des Wirklichen erzeugen. Im Einzelnen: 1) zum Realismus: Einer der wesentlichen Punkte der Ablösung Schellings von den Fichte’schen Voraussetzungen seiner eigenen Frühphilosophie ist Schellings Tendenz in der Naturphilosophie, die Eigenständigkeit der Natur gegenüber den Bedingungen des Geistes zu betonen. Fichte erachtete die Gesetze der Natur als deren metaphysische Bedingungen und diese zugleich als Produkte unseres Geistes, weswegen diese zuletzt „nicht sowohl Gesetze für die von uns unabhängige Natur, als Gesetze für uns selbst sind.“ 2 Für Fichte blieb die Natur – nicht nur in Hinsicht auf ihre Gesetzlichkeit, sondern auch in Hinsicht auf ihre Realität – vom Subjekt abhängig. Eine Natur an sich, außerhalb der subjektiven Bedingungen ihrer Erkenntnis, war für ihn undenkbar. 3 Hiergegen wendet Schelling ein, dass „Begriffe […] nur Schattenrisse der Wirklichkeit“ (AA I,5, 209/SW II, 215) ergäben, so dass, „wenn unser ganzes Wissen auf Begriffen beruhte […], keine Wirklichkeit da [wäre], uns von irgendeiner Realität zu überzeugen“ (AA I,5, 210/SW II, 216). Für Schelling hingegen ist es entscheidend, festzustellen, dass „Materie […] außer uns wirklich“ (AA I,5, 210/SW II, 216) sei. Natur soll als eine außerhalb der Bedingungen der Transzendentalphilosophie eigenständige Wirklichkeit verstanden werden. 4 Schelling selbst hat dies in seinen späteren Münchner Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie als einen Versuch dargestellt, von Fichte ausgehend zu zeigen, dass „auch unter Voraussetzung des Satzes, dass alles nur durch das Ich und für das Ich ist, die objektive Welt begreiflich sei“ (SW X, 95). 2) zum Apriorismus: Schellings Naturphilosophie ist keine Wissenschaftstheorie im Sinne eines Versuchs, den Erkenntnissen der empirischen Wissenschaften den logischen Rahmen ihrer metaphysischen Voraussetzungen zu rekonstruieren oder ihre methodologischen Momente zu bestimmen. Sondern Schellings Naturphilosophie ist von Anfang an „spekulative Physik“ (AA I,7, 2 3 4

Fichte SW I, 64 f. Anm. = GA I,2, 135 f. Anm. Zum Verhältnis Schelling-Fichte in diesem Punkt vgl. Schmied-Kowarzik 2015, 66. Vgl. hierzu Schmied-Kowarzik 2015, 112 f.

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Kap. 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798)

68 Anm./SW III, 6 Anm.) d. h. ein System apriorischer Voraussetzungen, bei welchem alle kategorialen Grundelemente der erscheinenden Welt aus absoluten Setzungen abgeleitet werden. 5 Schon in der Einleitung zu den Ideen von 1797 hat Schelling postuliert, dass „eine Philosophie der Natur […] die Möglichkeit einer Natur, d. h. der gesamten Erfahrungswelt, aus Prinzipien ableiten“ (AA I,5, 69/SW II, 11) solle. Aufgabe der Philosophie ist es demnach, die Natur rekonstruktiv zu erzeugen. Hierbei gilt es, von der empirischen Welt einzelner Objekte vollständig abzusehen und stattdessen die Natur in allen ihren Gestalten von einem absoluten Prinzip her zu deduzieren: „Wir müssen“, beschreibt Schelling dieses Verfahren zu Beginn des Ersten Entwurfs, „was Objekt ist, in seinem ersten Ursprung erblicken. Vorerst also ist alles, was in der Natur ist, […] für uns gar nicht vorhanden. Über die Natur philosophieren heißt die Natur schaffen“ (AA I,7, 78/SW III, 13). Daher nennt Schelling seine Naturphilosophie ab 1799 auch ‚spekulative Physik‘. Sie ist im Gegensatz zur empirischen Physik eine Wissenschaft, die sich „einzig und allein mit den ursprünglichen [nicht-objektiven] Bewegungsursachen in der Natur“ (AA, I,8, 32/ SW III, 275) beschäftigt, während die empirische Physik nur die tatsächlich erscheinenden Bewegungen und damit die Oberfläche und Außenseite (vgl. AA I,8, 33/SW III, 275) der Natur beschreibt. 3) zum Dynamismus: Damit verbunden ist Schellings Grundgedanke einer dynamischen Natur. Denn das apriorische Prinzip, aus welchem sich – wie in der Transzendentalphilosophie der Geist – die Natur soll ableiten lassen, ist Tätigkeit. Sie ist „das Sein selbst“ (AA I,7, 78/SW III, 13). Diese Auffassung von Natur geht im Gegensatz zur mechanistischen Auffassung von vornherein nicht von einer statisch im Raum vorhandenen Materie aus, bei welcher in einem zweiten Schritt in etwa die Bewegungsrelationen hinzu kämen. Sondern Schellings Dynamismus geht aus von einer unendlichen Tätigkeit, durch welche die anschauliche Natur sich „von einem toten Mechanismus“ (AA 1,7, 79/ SW III, 13) in ein „unendlich Werdende[s]“ (AA I,7, 80/SW III, 15) verwandelt. Gegenüber dem Mechanismus hat dies unter anderem den Vorteil, dass das Problem eines ersten Bewegers gelöst scheint. Denn absolute Tätigkeit ist ein solches (ontologisch) erstes Bewegen. Die Annahme einer unendlichen Tätigkeit als Grund der Natur führt dann aber zum Problem, verstehen zu können, wie in der Natur überhaupt diskrete Gegenstände und Stillstand möglich sein können. Diese sind für Schelling Produkte der Hemmung der unendlichen Tätigkeit: In den Hemmungspunkten erscheinen die Regionen und Produkte der Natur als an sich seiende, während sie tatsächlich von der unendlichen Tätigkeit durchflossen bleiben und daher auch je in sich die Anlage zu „einer unendlichen Entwicklung“ (AA I,7, 83/SW III, 19) tragen. Schelling hat dieses 5 Zum Begriff der ‚spekulativen Physik‘, der von 1799 bis 1806 Schellings Naturphilosophie prägt, vgl. Meyer 1985 und Rudolphi 2001, insb. 131–140.

II. Zum Programm der Naturphilosophie 1798/99

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Verhältnis mit dem Bild eines im strömenden Wasser durch ein Hindernis sich bildenden Wirbels zu veranschaulichen versucht: „Der Wirbel ist nicht etwas Feststehendes, sondern beständig Wandelbares – aber in jedem Augenblick neu Reproduziertes. Keine Kraft in der Natur ist also fixiert, sondern in jedem Augenblick durch die Kraft der ganzen Natur reproduziert“ (AA I,7, 276/ SW III, 18, Anm.). 4) zum Organismus: Dieser letzte Gedanke führt zugleich zu Schellings holistischer und organischer Naturauffassung: Sie ist holistisch, weil alle einzelnen Naturgegenstände immer aus „der Idee der Natur als eines Ganzen“ (AA I,6, 68/SW II, 348) heraus verstanden werden müssen. „Zu jedem Produkt“, führt Schelling obige Anmerkung in seinem Handexemplar zum Ersten Entwurf fort, „wirkt die ganze Natur mit“ (AA I,7, 276/SW III, 18 Anm.). Die Art und Weise des Zusammenhangs der gesamten Natur ist der des Organismus. Zu den Grundgedanken der Naturphilosophie Schellings gehört es, dass die Natur durchgehend organisiert ist. Dies bedeutet einerseits, dass Schelling nicht von linearen Ursache-Wirkungsbeziehungen ausgeht, sondern von Wechselverhältnissen, mittels welcher die Naturgegenstände insgesamt verbunden sind. Und andererseits, dass die Verhältnisse von Teilen und Ganzen in den Teilen je wiederkehren, so dass jedes einzelne Element eines Ganzen zugleich als Mikrokosmos dieses Bereichs und der Natur insgesamt angesehen werden kann. 6 Zuletzt ist es bezeichnend für Schellings Naturphilosophie, dass die so gekennzeichneten organischen Verhältnisse nicht lediglich für Organismen im engeren Sinne, also den Bereich des tierisch und pflanzlich Lebendigen, gelten, sondern in einem übergreifenden Sinn für die Natur insgesamt, was auch den anorganischen Bereich der bloßen Stoffe miteinbezieht. In der Schrift Von der Weltseele hatte Schelling diese Idee dahingehend entwickelt, dass „Ein und dasselbe Prinzip die anorganische und organische Natur verbindet“ (AA I,6, 70/ SW II, 350) und daher „die ganze Natur zu einem allgemeinen Organismus verknüpft“ (AA I,6, 257/ SW II, 569).

2. Der metaphysische Unterbau der natura naturans Den metaphysischen Unterbau für Schellings so charakterisierte Naturphilosophie um 1799 soll ein dynamisches Seinsmodell leisten, das im Speziellen zur Konstruktion der Materie dient, das aber zugleich universelle Geltung für 6 Frank 1991, 100 weist auf die Bestimmungen Kants in der ‚Kritik der teleologischen Urteilskraft‘ hin, welche als Quelle für Schellings Auffassung zum Organismus zu gelten haben. Danach zeichnet sich für Kant und Schelling gleichermaßen der Organismus dadurch aus, dass die Teile des Organismus nur möglich sind durch ihren Bezug aufs Ganze, und dass sie ihrerseits von sich selbst und in Bezug zueinander zugleich Ursache und Wirkung sind, so dass zuletzt alle Teile des Organismus in durchgängiger Wechselwirkung stehen, und – die Idee des Mikrokosmos – dass in jedem Teil die Einheit des Ganzen enthalten sei.

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Kap. 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798)

die Natur- und Transzendentalphilosophie besitzt. Unter der ‚Konstruktion‘ eines Begriffes versteht Schelling hierbei, dass er „als Naturerscheinung erklärt werden“ (AA I,6, 186/SW II, 496) solle. 7 Das dynamische Seinsmodell basiert auf dem Kants Naturphilosophie entlehnten Gedanken, dass Materialität in einem statischen Sinn nicht ein an sich Erstes ist, sondern lediglich die zum Stehen gebrachte Bewegung zweier gegenläufiger Kräfte darstellt. Deshalb ist für Schelling auch der korpuskulare Atomismus seiner Zeit zu verwerfen, der die Materie aus letzten feststehenden Partikeln zusammengesetzt versteht. Kant hatte hingegen in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft die Idee entwickelt, dass die Materie als aus zwei ursprünglichen Kräften erzeugt gedacht werden müsse: „Nur eine ursprüngliche Anziehung“, so Kants Idee, kann „im Konflikt mit der ursprünglichen Zurückstoßung einen bestimmten Grad der Erfüllung des Raumes, mithin Materie möglich machen“ 8. Entsprechend schreibt Schelling in der Ersten Einleitung: „Zur Konstruktion der Materie gehören ursprünglich entgegengesetzte Kräfte“ (AA I,7, 140/SW III, 99), die er als eine Kraft der unendlichen Ausbreitung und eine dieser absolut entgegengesetzte Kraft, „welche die unendliche Ausbreitung unmöglich macht“ (AA I,7, 140/SW III, 100) charakterisiert. Wesentlich hierbei ist, dass Schelling diese Kräfte nicht als letzte Momente einer physikalischen Theorie versteht, sondern als metaphysische Kräfte, in denen eine noch fundamentalere präräumliche und prä-zeitliche Grundbewegung sich manifestiert, welche das eigentlich metaphysische Konzept der Natur- und Transzendentalphilosophie bildet. 9 Der metaphysische Grundgedanke von Schellings Naturphilosophie liegt darin, dass ein Unbedingtes weder in der Natur noch im Geist ein bloß vorkommendes, (statisches) „ursprüngliche[s] Sein“ (AA I,7, 78/SW III, 12) sein könne, sondern dass in beiden Fällen das Unbedingte als Tätigkeit, d. h. als absolute und ursprüngliche Tätigkeit angesehen werden müsse. Aus der Perspektive dieser Tätigkeit ist die sichtbare Natur der Physik wiederum nur das Erzeugnis, das „Produkt“ (ebd.), wie Schelling formuliert. Diese „absolute[.] Tätigkeit“ (ebd.) nennt Schelling auch „unendlich […] produktive[.] Tätigkeit“ (AA I,7, 7 ‚Konstruktion‘ ist sehr allgemein Schellings Begriff für das Verfahren der spekulativen Physik. Schelling übernimmt diesen Ausdruck von Kant, der mit ihm das Verfahren der Mathematik, ihre Gegenstände in der reinen Anschauung darzustellen, bezeichnet hatte (vgl. Kant KrV B 742). Schelling hat in einer kleinen Schrift Über die Konstruktion in der Philosophie von 1803 dargelegt, dass beides nur zwei Anwendungsweisen eines einheitlichen Prinzips seien (AA I,12.2, 499/SW V, 134 f.); vgl. hierzu auch Mutschler 1990, 112. 8 Kant AA IV, 518. 9 Vgl. Krings 1985, 120 f. Darin besteht auch ein gewichtiger Unterschied zu Kant: Denn bei Kant entfalten sich die Grundkräfte der Anziehung und Abstoßung innerhalb der apriorischen Anschauungsform des Raumes; bei Schelling hingegen sind sie als ‚metaphysische Kräfte‘ selbst für den Raum konstitutiv.

II. Zum Programm der Naturphilosophie 1798/99

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67/SW III, 5) und prägt hierfür dann vom Herbst 1799 an den Terminus einer „Produktivität der Natur“ (AA I,8, 41/SW III, 284), die er mit Spinozas Ausdruck einer natura naturans gleichsetzt. Im Kontrast hierzu nennt er die erscheinende Natur ‚Produkt‘ oder natura naturata (vgl. AA I,8, 41/SW III, 284). 10 Diese Produktivität der Natur ist das ontologisch Erste, eben „das Sein selbst“ (AA I,7, 78/ SW III, 13). ‚Natur‘ wird damit der Ausdruck für ein zweiseitiges Geschehen, von welchem die physikalisch beschreibbare Erscheinungswelt gleichsam nur die sichtbare Oberfläche darstellt. Dabei lässt sich Schellings Konzeption von Anfang an vom Gedanken einer Parallelität zu den Konstitutionsbedingungen des Geistes leiten: Insofern wir das Ganze der Objekte nicht bloß als Produkt, sondern notwendig zugleich als produktiv setzen, erhebt es sich für uns zur Natur […]. Die Natur als bloßes Produkt (natura naturata) nennen wir Natur als Objekt (auf diese allein geht alle Empirie). Die Natur als Produktivität (natura naturans) nennen wir Natur als Subjekt (auf diese allein geht alle Theorie). Da das Objekt nie unbedingt ist, muss etwas schlechthin Nichtobjektives in die Natur gesetzt werden, dieses absolut Nichtobjektive ist eben jene ursprüngliche Produktivität der Natur. (AA I,8, 41/SW III, 284)

Von dieser metaphysischen Grundkonzeption aus ist die erste metaphysische Frage die, wie es von der absoluten Tätigkeit der Produktivität zur sichtbaren Welt, zur Natur als Produkt komme. 11 Dies entspricht aus der dynamischen Sicht der unendlichen Produktivität dem Problem, zu verstehen, wie diese Tätigkeit in konkreten Objekten zum Stehen gebracht werden könne. Damit die Produktivität der Natur, als einer unendlichen Tätigkeit, schließlich die physikalische Welt als ein erscheinendes Sein hervorbringen kann, bedarf sie eines gegenläufigen und einschränkenden Moments, einer Hemmung. Zentraler konstruktiver Gedanke hierbei ist, dass es sich bei der absoluten Tätigkeit um eine quasi expansive Kraft handeln müsse, dass diese absolute Tätigkeit sich jedoch im Grenzenlosen verlieren und eigentlich nichts sein würde, würde sie nicht durch eine gegenläufige Bewegung (oder Kraft) gehemmt. 12 Da 10 Vgl. Spinoza 1999, 62/63 f. (= I. Teil, Lehrsatz 29). Wie bei Spinoza bezeichnet bei Schelling die natura naturans den Fundamentalbereich desjenigen, das „in sich selbst ist und durch sich selbst begriffen wird“ (Spinoza 1999, 63) und die natura naturata den hiervon abhängigen Bereich alles daraus Folgenden. Im Gegensatz zu Schelling ist bei Spinoza jedoch Gott die natura naturans; woraus folgt, dass Schelling, in dessen Philosophie vor 1801 Gott keine zentrale Rolle spielt, als Erzeugungsmoment der Natur ein eigenes metaphysisches Modell ansetzen muss. 11 Krings 1985 weist auf den Unterschied in der Terminologie zwischen ‚reiner Tätigkeit‘ und ‚Produktivität‘ hin. Letztere ist die reine Tätigkeit, insofern sie schon aufs Produkt bezogen ist. Erstere ist noch leer. Sie ist lediglich „der Begriff einer Ausbreitung ins Unendliche und im Nu“ (124). 12 Vgl. AA I,9,1, 136/SW III, 440: Die Grundkraft wird „ihrer Natur nach positiv sein, so

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Kap. 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798)

nach Voraussetzung die unendliche Tätigkeit das Sein selbst ist, muss jene gegenläufige Bewegung aus ihr selbst entspringen; Schelling konzipiert danach von Anfang an die Dynamik des Seins als eine in sich spanungsreiche gegenläufige Bewegung; als die „Duplizität“ (z. B. AA I,8, 44/SW III, 288) (nicht: Dualität!) einer Grundkraft mit zwei konträren Ausbreitungstendenzen. In den Hemmungspunkten, in denen sich die wechselläufigen Momente hinsichtlich ihrer expansiven und kontraktiven Tendenzen ausgleichen, entsteht das Produkt. 13 Das Problem, wie es angesichts der ursprünglichen unendlichen Tätigkeit überhaupt noch zu etwas Bestehendem, Permanenten kommen könne, löst Schelling dadurch, dass das Permanente für die Natur eine Schranke ihrer eigenen Tätigkeit sei. [Und weiter:] denn wenn dies ist, so wird die rastlose Natur gegen jede Schranke ankämpfen; dadurch werden die Hemmungspunkte ihrer Tätigkeit in der Natur, als Objekt, Permanenz erhalten: Die Hemmungspunkte werden für den Philosophen durch Produkte bezeichnet sein; jedes Produkt dieser Art wird eine bestimmte Sphäre vorstellen. (AA I,7, 82/SW III, 18)

In diesem ontologischen Grundschema findet sich das einzelne Seiende nicht lediglich, es erhält auch seinen kategorialen Ort, insofern sich über verschiedene Grade und Formen der Hemmung verschiedene hierarchisch aufeinander bezogene Stufen des Seienden ergeben. Dieses höchst wichtige Modell findet sich sowohl in der Naturphilosophie in der aufsteigenden Konstruktion der Physik von der puren Materie zu den höchsten Organismen, als auch später in der Transzendentalphilosophie. Es bildet die Rahmentheorie, in die Schelling den Potenzbegriff dann einfließen lässt, um ihm dann immer gewichtigere systematische Funktionen innerhalb dieser Theorie zuzuweisen.

III. Der Textbefund: Semantik und Funktion des Potenzbegriffs innerhalb der naturphilosophischen Schriften von 1798 bis 1800 In den Ideen zu einer Philosophie der Natur von 1797, der ersten eigentlichen naturphilosophischen Schrift Schellings, findet sich in der Ausgabe der SW eine reiche Verwendung des Potenzbegriffs. Allerdings geben die SW die Ideen in der Fassung der zweiten Auflage von 1803 wieder und eine Untersuchung der dass sie, wenn sie durch keine entgegengesetzte eingeschränkt wäre, unendlich sich ausbreiten würde“. Wichtig ist hierbei zu sehen, dass die beiden Grundkräfte nicht lediglich entgegengerichtete Vektoren sind wie im Newton’schen Kräftegleichgewicht. Sondern dass es sich hierbei um qualitativ verschiedene Kräfte oder Momente wie Expansion und Kontraktion handelt (vgl. Krings 1985, 121 f.). 13 Vgl. hierzu Kant AA IV, 508 und 511, wo dieser ausführt, dass eine bloß attrahierende oder bloß repulsierende Kraft je nur leere Räume ohne Materie zurücklassen würde.

III. Der Textbefund: Semantik und Funktion des Potenzbegriffs

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entsprechenden Stellen zeigt, dass ausnahmslos alle Stellen, in denen Schelling in den Ideen von Potenzen spricht, den erweiternden Zusätzen von 1803 entstammen. Umgekehrt heißt dies, dass Schelling diesen Ausdruck 1797 noch nicht gebrauchte. Auch die Akademieausgabe der Ideen, bei welcher in Band I,5 die erste Auflage der Ideen getrennt abgedruckt ist, enthält diesen Begriff nicht. Daher werden jene gewichtigen Passagen der zweiten Auflage der Ideen im entsprechenden zeitlichen Kontext innerhalb des Kapitels über die Identitätsphilosophie (1801–06) untersucht werden.

1. Von der Weltseele (1798) a) Zur Textlage In den drei Auflagen der Weltseele 1798, 1806 und 1809 wurde der identische Haupttext abgedruckt. Dennoch gibt es eine für die gegebene Untersuchung der genetischen Entwicklung des Potenzbegriffs beachtliche Erweiterung: In der zweiten Auflage fügt Schelling vor den Beginn des Haupttextes eine Abhandlung mit dem Titel „Über das Verhältnis des Realen und Idealen in der Natur“ ein, die in den SW mit abgedruckt ist (SW II, 357–378), aber in dem bisher erschienenen Band der Akademieausgabe (AA I,6), die streng chronologisch vorgeht und in diesem Band lediglich die erste Auflage wiedergibt, fehlt. Auch dort spricht Schelling von ‚Potenzen‘ ; sie werden entsprechend der Stellen in den Erweiterungen der zweiten Auflage der Ideen im Kapitel über die Epoche der Identitätsphilosophie behandelt werden. b) Stellenevaluation Schellings erste Erwähnung des Begriffs der ‚Potenzen‘ findet sich innerhalb seiner Erörterungen zur Bestimmung des Begriffs des Lebens zu Beginn des zweiten Teils der Weltseele, mit dem Titel „Über den Ursprung des allgemeinen Organismus“ (AA I,6, 181 ff./SW II, 491 ff.). Hier prüft und verwirft Schelling zunächst die beiden Möglichkeiten, dass der Grund des Lebens entweder lediglich innerhalb der tierischen Materie zu finden sei und auf chemischen Prozessen basiere. Oder, dass er lediglich außerhalb der tierischen Materie zu finden sei und in etwa (in der Theorie der Irritabilität der Muskeln) die Lebensursache in den äußeren Reizungen der Nerven oder der äußeren Zufuhr von lebensnotwendigen Stoffen zu sehen sei. Demgegenüber stellt Schelling fest, dass „der Grund des Lebens […] in entgegengesetzten Prinzipien enthalten [sei], davon das eine (positive) außer dem lebenden Individuum, das andere (negative) im Individuum selbst zu suchen“ (AA I,6, 192/SW II, 503) sei. Hierbei versteht er als das positive Prinzip ein überindividuelles allgemeines Lebensprinzip, während das negative das individualisierende Prinzip jedes einzelnen Lebendigen ist. Dabei gilt: „Das positive

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Kap. 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798)

Prinzip muss Eines, die negativen Prinzipien müssen mannigfaltig sein“ (AA I,6, 195/SW II, 505). Das positive Lebensprinzip muss einerseits kontinuierlichen Einfluss auf den Lebensprozess haben, selbst aber nicht einfach wieder eine Kraft unter anderen Lebenskräften sein. Es ist daher eine „bestimmte[.] Form des Seins“ (AA I,6, 254/SW II, 300), unter welcher die einzelnen (negativen) Naturkräfte zweckmäßig organisiert sind. Schelling nennt dieses positive Lebensprinzip ‚Bildungstrieb‘ und übernimmt dabei einen gängigen Ausdruck, den Johann Friedrich Blumenbach geprägt hatte. 14 Für Schelling ist dies die allgemeine Voraussetzung des Lebens, unter welcher sich in der Vielheit negativer (innerer) Ursachen der Stoffe und Kräfte die einzelnen lebendigen Individuen bilden. Von dieser Stufe der Erörterungen aus bezieht Schelling sich auf den Begriff der ‚Erregbarkeit‘, den der schottische Mediziner John Brown 15 geprägt hatte und der bei Brown die allgemeine Fähigkeit des Lebendigen, auf Reize mit Zuständen erhöhter Erregung zu reagieren, bezeichnete. Die Reize selbst werden in der Schelling zugrunde liegenden deutschen Übersetzung der Abhandlung Browns ‚erregende Potenzen‘ genannt. 16 Nach Brown zeichnen sich Organismen gegenüber toter Materie allein dadurch aus, dass sie „durch äußere Dinge sowohl, als durch gewisse ihnen selbst eigentümliche Verrichtungen auf eine solche Art affiziert werden können, dass die ihren lebendigen Zustand charakterisierenden Erscheinungen […] eine Folge davon sind“ 17, wobei Brown auch die Vermutung ausspricht, dass dieses Prinzip für die Pflanzenwelt gleichermaßen gelte (während Schelling im nachfolgenden Referat stets von ‚tierischer Erregbarkeit‘ spricht). Der kategoriale Unterschied zwischen belebter und unbelebter Materie besteht für Brown danach in der Eigenschaft des Lebendigen, erregt werden zu können. 18 Er nennt dies ‚die Erregbarkeit des Organismus‘ mit der Erregung als ihrer Folge. Brown unterscheidet hierbei die Disposition eines Organismus, d. h. seine Erregbarkeit von den inneren und äußeren Stimulanzien, wie Nahrung und Wärme (äußere) oder Muskelanspannung oder Gefühl (innere), die ihn auf der Basis dieser Erregbarkeit dann tatsächlich erregen. Diese Stimulanzien nennt er die „beiden Klassen von Potenzen (powers)“ 19. Dabei definiert er: 14

Vgl. Blumenbach 1780. Die Physiologie und Medizin John Browns (1735–1788) wurde in den ersten Jahren von Schellings Zeit in Jena intensiv wissenschaftlich diskutiert – sowohl in ständigen medizinischen Vorlesungen von 1797–1801 (vgl. hierzu den ‚Editorischen Bericht‘ zum Ersten Entwurf in AA I,7, 33 f.), als auch in Zeitschriften, wobei Schelling selbst mit Einigen Bemerkungen aus Gelegenheit einer Rezension Brownscher Schriften in der A.L.Z. von 1799 (vgl. AA I,8, 109– 114) in die Diskussion eingriff. 16 Brown 1796, 5 17 Brown 1796, 4. 18 Vgl. Jantzen 1994, 466. 19 Brown 1796, 5. 15

III. Der Textbefund: Semantik und Funktion des Potenzbegriffs

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„Die Eigenschaft des lebendigen Körpers, auf welchen beide Arten von Potenzen wirken, soll Erregbarkeit (excitability), und die Potenzen selbst erregende (exciting) Potenzen genannt werden“. 20 Schelling referiert nun diese Theorie Browns: Der Schottländer Joh. Brown lässt zwar das tierische Leben aus zwei Faktoren (der tierischen Erregbarkeit und den erregenden Potenzen) (exciting powers) entspringen, was allerdings mit unserem positiven und negativen Prinzip des Lebens übereinzustimmen scheint; wenn man aber nachsieht, was Brown unter den erregenden Potenzen versteht, so findet man, dass er darunter Prinzipien begreift, die unserer Meinung nach schon zu den negativen Bedingungen des Lebens gehörten, denen also die Dignität positiver Ursachen des Lebens nicht zugeschrieben werden kann. Gleich im zweiten Kapitel seines Systems nennt er die erregenden Potenzen Wärme, Luft, Nahrungsmittel, andere Materien, die in den Magen genommen werden, Blut, die vom Blut abgeschiedenen Säfte u. s. w.! […]. Man sieht hieraus, dass man dem Schottländer allzuviel zutraut, wenn 20 Brown 1796, 5. Die englischen Ausdrücke in Klammer, die Schelling gleichfalls mitangibt, sind bereits bei der Übersetzung von Pfaff, auf die sich Schelling bezog, und die hier wiedergegeben wird, mitangegeben. Zur Begriffsgeschichte ist hierbei folgendes anzumerken: John Brown hat das Werk, auf das sich Schelling bezieht, zunächst auf Lateinisch verfasst (Elementa Medicinae 1780, 2. Auflage 1784) und dann selbst ins Englische übersetzt (Elements of Medicine 1788) und hierbei umfangreich erweitert. In der lateinischen Version beider Ausgaben spricht er von earum rerum et actionem (Brown 1780, 3); die anschließende Passage lautet: Proprietas, per quam utraeque agunt, Incitabilita dicenda: ipsae Potestates incitantes nominandae (Brown 1780, 4). In der eigenen englischen Übersetzung spricht er von „the two sets of powers“; und weiter: „The property, by which both sets of powers act, should be named Excitability; and the powers themselves, Exiting Powers“ (Brown 1788, 4). Die lateinische Version wurde zuerst ins Deutsche übersetzt von M. A. Weikard 1795 unter dem Titel Johann Browns Grundsätze der Arzneylehre. In dieser Ausgabe übersetzt Weikard earum rerum et actionem mit „äußerliche und innerliche Reize und Verrichtungen“ und potestates mit ‚Kräfte‘ : „Die Eigenschaft, wodurch beide Kräfte wirken, soll Erregbarkeit (incitabilitas): und jene Kräfte sollen erregende Kräfte (potestates incitantes) genennet werden“ (Brown 1795, 3 f.). In der zweiten deutschen Übersetzung von C. H. Pfaff 1796 unter dem Titel John Brown’s System der Heilkunde, auf die sich Schelling in der Weltseele bezieht, wird die englische Übersetzung Browns zugrunde gelegt und ‚powers‘ wird mit ‚Potenzen‘ übersetzt (s. o.). Interessant ist nun, dass die Übersetzung Weikards aus dem Lateinischen 1798 in einer zweiten Auflage erschien und Schelling diese gleichfalls gebrauchte. Und in dieser zweiten Auflage hat Weikard die Übersetzung ‚Kräfte‘ für potestates durch ‚Potenzen‘ ersetzt – ebenso wie Pfaff powers mit ‚Potenzen‘ übersetzt hatte: „Die Eigenschaft“, heißt es nun, „wodurch beide Potenzen wirken, soll Erregbarkeit (incitabilitas): und jene Reize sollen erregende Potenzen (potestates incitantes) genennet werden“ (S. 3). Das heißt, dass das lateinische potestas (Kraft, Macht, Gewalt) zunächst von Brown selbst als power (Kraft, Macht) und von Weikard als Kraft übersetzt wurde, während Pfaff das englische power mit ‚Potenz‘ übersetzt hat, worin ihm Weikard mit der Neuübersetzung von potestas gefolgt ist. Diese beiden Ausgaben, die von ‚erregenden Potenzen‘ sprechen, lagen Schelling vor (vgl. hierzu die Anmerkung in AA I,7, 424). Wodurch Pfaffs Übersetzung und Einführung dieses Terminus motiviert war, ist nicht klar. Eine erste Übernahme findet sich bereits 1797 in der deutschen Übersetzung einer englischen Erläuterung zu Browns System, die gleichfalls den Ausdruck ‚erregende Potenzen‘ für exciting powers gebraucht (vgl. Beddoes 1797, 79).

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Kap. 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798)

man glaubt, er habe sich zu den höchsten Prinzipien des Lebens erhoben; vielmehr ist er auf der niedrigsten Stufe stehen geblieben. (AA I,6, 195/SW II, 505 f.) 21

Weiter führt Schelling an dieser Stelle aus, dass nach seiner eigenen Ansicht „die negativen Prinzipien des Lebens […], als ein Ganzes gedacht […] die Prinzipien der tierischen Erregbarkeit“ (AA I,6, 195/SW II, 505) ausmachen. Tierische Erregbarkeit ist für Schelling selbst wie der Bildungstrieb ein synthetischer Begriff, der „ein mannigfaches negativer Prinzipien, [nämlich] das Gemeinschaftliche […] aller negativen Bedingungen des Lebens, worunter denn auch Browns erregende Potenzen fallen“ (AA I,6, 196/SW II, 506) ausdrückt. Dabei kritisiert Schelling Browns Theorie der Erregbarkeit, welche in der Erregbarkeit selbst nur die passive Disposition tierischer Lebewesen sehe, auf Reize durch Erregungszustände reagieren zu können. Damit weist Schelling, wie angeführt, in drastischen Worten, die Brownsche Theorie in ihrer Substanz zurück. Weder die erregenden Potenzen als nur mechanisch-äußerliche Einwirkungen auf den Organismus noch das Prinzip der Erregbarkeit als bloß passive Disposition desselben können das Prinzip des Lebens erläutern – von der Tatsache ganz abgesehen, dass Brown für das Prinzip der Erregbarkeit selbst wiederum keine Erklärung ihrer Herkunft geben könne. Nur dem äußeren Schein nach sei die zweigeteilte Lebenserklärung Browns der Schellingschen Aufteilung in ein positives und ein negatives Prinzip ähnlich. Tatsächlich gebe Brown nur negative Prinzipien an und verfehle das Lebensprinzip des allgemeinen Organismus völlig. Für die gegebene Fragestellung nach der Bedeutung des Potenzbegriffs bei Schelling selbst ist hier festzuhalten, dass Schelling an dieser Stelle bei seiner ersten Erwähnung lediglich den Brownschen Begriff innerhalb einer Theorie referiert, die er insgesamt für wertlos hält. Das heißt, Schelling entwickelt in der Schrift Von der Weltseele keinen eigenständigen Gebrauch dieses Begriffs. Daher ist hier auch die Semantik von ‚Potenz‘ innerhalb des Brownschen Ausdrucks ‚erregender Potenzen‘ leicht zu bestimmen, die Schelling ohne sichtbare Bedeutungsverschiebungen übernimmt: Brown umschreibt sie als die „äußeren wirkenden Dinge“ 22 und nennt sie auch „reizende Potenzen (stimulant)

21 Eine Randbemerkung: Schelling verweist in der ausgelassenen Stelle falsch auf „J. Brown’s System der Heilkunde, übersetzt von Pfaff S. 3“, wiewohl die Passage sich dort auf S. 4 befindet. Die Akademieausgabe hat die falsche Stellenangabe übernommen (vgl. die Anmerkungen AA I,6, 389 f. zu S. 195, 10 wo die nachfolgend zitierte Passage mit S. 3–5 statt richtig S. 4–6 angegeben ist und 195,20, die Schellings Angabe direkt wiederholt). Der Fehler bei Schelling könnte daran liegen, dass er an dieser Stelle zwar die Pfaff-Übersetzung zitierte, jedoch sich auf die Seiten der Weikard-Übersetzung bezog, wo die Passagen tatsächlich an den angegebenen Stellen stehen (vgl. Brown 1798, 3–6), was darauf hinweisen würde, dass er beide Ausgaben parallel gebrauchte. 22 Brown 1796, 4.

III. Der Textbefund: Semantik und Funktion des Potenzbegriffs

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oder […] Reize[.] (stimuli)“ 23. In Schellings Umschreibungen in den angeführten Stellen sind sie Bedingungen oder Prinzipien. Als solche Reize, Bedingungen oder Prinzipien für das Eintreten von veränderten Zuständen in der biologischen, d. h. physischen Welt gehören sie in das weite Begriffsfeld kausaler Einflussnahme, dem ja die ursprünglichen Ausdrücke potestates und powers im Sinne von Kräften gleichfalls entnommen sind. Interessant ist nun, dass Schelling nach Abschluss der Diskussion um die Brownsche Erregungstheorie, d. h., außerhalb der direkten Auseinandersetzung mit Brown, den Ausdruck der ‚erregenden Potenzen‘ in der Weltseele noch einmal verwendet, was einen eigenständigen Gebrauch und eine Aufnahme dieses Begriffs in das eigene terminologische Repertoire zumindest andeutet. Im nachfolgenden Kapitel über die negativen Bedingungen des Lebensprozesses schreibt Schelling in Hinsicht auf das Verhältnis von Licht und Vegetation: Ich bemerke, dass man deswegen doch irren würde, das Licht für die Ursache der Vegetation zu halten; das Licht gehört nur zu den erregenden Potenzen, nur zu den negativen Bedingungen des Vegetationsprozesses. (AA I,6, 197/ SW II, 507 f.)

An dieser Stelle zeigt sich deutlich Schellings oft angewandtes Verfahren, Begriffe aus spezifischen Kontexten zu entkleiden und mit ihrer Kernbedeutung analogiebildend auf verwandte Kontexte zu übertragen. Denn obwohl Schelling auch hier noch von erregenden Potenzen spricht, sind diese gar nicht mehr direkt auf die Brownsche Erregungstheorie bezogen, welche Schelling ja als eine Theorie der tierischen Erregung referiert hatte, während es hier um Pflanzen geht, bei denen Schelling im Gegensatz zu Brown überhaupt nicht annimmt, dass diese Erregungszustände hätten. Sondern das Licht ist in Hinsicht auf die Pflanze was die erregenden Potenzen in Hinsicht auf tierische Lebewesen sind: äußere Einwirkungen, die die pflanzliche Vegetation bedingen (so wie die erregenden Potenzen die tierische Erregung), ohne diese doch selbst erklären zu können und die auf diese Art (ebenso wie die erregenden Potenzen in Hinsicht auf die tierische Erregung) nur den negativen Bedingungen des Lebens innerhalb der Schellingschen Unterteilung zugehörig sind. Zugleich zeigt diese Stelle, dass Schellings Begriff der ‚Ursache‘ hier nicht dem einer physischen Bedingung entspricht – denn im Gegensatz zur so bezeichneten ‚Ursache‘ sind ja die erregenden Potenzen gerade solche physischen Bedingungen. Sondern Schelling meint mit ‚Ursache‘ hier „die positive, erste Ursache des Lebens“ (AA I,6, 194/SW II 198) selbst, das heißt, das positive Prinzip im Sinne der einen Ur-Sache, die das singuläre Prinzip der Vegetation selbst wäre und für welches er 1798, wie gesehen, das allgemeine Prinzip des Bildungstriebs hält, ebenso wie er in der direkten Diskussion um die

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Brown 1796, 6.

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Kap. 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798)

Brownschen Potenzen davon gesprochen hatte, dass diese nur ‚negative Bedingungen‘ und nicht ‚positive Ursachen‘ seien. Daher ist, wenn man nun nicht lediglich nach dem Wortgebrauch, sondern nach der Semantik des Begriffs der erregenden Potenzen in der Weltseele fragt, festzuhalten, dass Schelling darunter durchaus eine auf einen Organismus einwirkende Kraft versteht, welche den spezifischen Erregungszustand des Organismus initiiert, also eine physische Veränderungsbedingung, was nichts anderes als eine physische Ursache im modernen Sinn ist, wenn man zugleich dessen Gewahr ist, dass Schelling selbst unter ‚Ursache‘ in dieser Schrift etwas ganz anderes versteht.

2. Der Erste Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) a) Zur Textlage Der Erste Entwurf eines Systems der Naturphilosophie ist der erste publizierte Text Schellings, in dem in eigenständiger Bedeutung von Potenzen die Rede ist. Präzise gesprochen ist bei Schelling selbst, sofern er nicht gerade die Theorie erregender Potenzen von Brown referiert, gar nicht von ‚Potenzen‘ die Rede. Sondern er spricht im Ersten Entwurf von ‚Potenz‘ je nur im grammatischen Singular. Daher kommt diesem Text für die Frage nach einer möglichen Ursprungsbedeutung und der genealogischen Begriffsentwicklung hohes Gewicht zu. Hierbei ist zunächst von der zuerst publizierten Originalausgabe auszugehen, welcher zugleich der Haupttext der Sämtlichen Werke und der Akademieausgabe entspricht. Schellings in beiden Ausgaben gleichfalls abgedruckte sehr umfangreiche Eintragungen in sein eigenes Handexemplar, die teils aus mehrseitigen, erläuternden Anmerkungen bestehen, müssen hingegen gesondert behandelt werden, da diese in einem für die frühe Entwicklung des Potenzbegriffs bedeutendem Abstand von möglicherweise bis zu einem Jahr zum Haupttext entstanden sind. Schelling hat den Ersten Entwurf zunächst als Auszüge für seine Vorlesungen über Naturphilosophie im Wintersemester 1798/99 drucken lassen, die Ende Oktober 1798 begonnen haben, und bei denen die ersten Drucke spätestens Mitte November vorlagen. 24 Der Text dürfte im Spätsommer/Herbst 1798 entstanden sein, als Schelling die Vorlesungen zu seiner Professur in Jena vorbereitete. In Buchform erschien er dann nach Abschluss der Vorlesungen im Frühjahr 1799; die Vorrede zu dieser Buchform datiert auf den 20. März 1799. Im Titelblatt der Buchform ist die ursprüngliche Bestimmung im Untertitel „Zum Behuf seiner Vorlesungen“ (AA I,7, 63) erhalten geblieben; dies zeigt, dass 24 Vgl. hierzu und zum Folgenden den ‚Editorischen Bericht‘ der Herausgeber der Akademieausgabe zur Entstehungsgeschichte des Textes, AA, I,7, 13–23.

III. Der Textbefund: Semantik und Funktion des Potenzbegriffs

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Schelling hier schon geplant hat, sie auch für weitere Vorlesungen zu gebrauchen, wie er sie dann in den beiden folgenden Semestern auch tatsächlich hielt. Hierbei trug er Ergänzungen in sein Handexemplar ein, wobei davon auszugehen ist, dass diese in der Hauptsache den Vorlesungen des Sommers 1799 entstammen. 25 Sie gehören damit zeitlich zur Entstehungsphase der im Herbst dieses Jahres erschienenen nachträglichen Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Dies passt auch insofern zusammen, als ja die nachträgliche Einleitung ebenso wie die Eintragungen ins Handexemplar, von denen angenommen werden darf, dass sie in den Vorlesungen des Sommers 1799 mitvorgetragen wurden, jeweils Ergänzungen zum Ersten Entwurf darstellen; wie sich zeigen wird, entsprechen sich sowohl die Häufigkeit des Potenzbegriffs als auch die dort je auftretenden Hauptbedeutungen in den Eintragungen des Handexemplars und der Einleitung, während sie hinsichtlich Häufigkeit und Semantik klar vom eigentlichen Haupttext des Ersten Entwurfs abweichen. Daher wird die Textanalyse die Eintragungen ins Handexemplar erst im Zusammenhang mit der Untersuchung der Einleitung zu seinem Entwurf miteinbeziehen. Miteinbezogen werden soll allerdings mit dem Aufsatz Einige Bemerkungen aus Gelegenheit einer Rezension Brownscher Schriften in der A.L.Z. ein kurzer Text Schellings von 1799, der chronologisch und sachlich im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ersten Entwurf entstanden ist. 26 b) Stellenevaluation 1) Die erste Stelle, an der Schelling innerhalb seines publizierten Werks in einem eigenständigen Sinn – außerhalb der feststehenden und auf Brown bezüglichen Formulierung von ‚erregenden Potenzen‘ – von ‚Potenz‘ spricht, findet sich im ersten Hauptabschnitt des Ersten Entwurfs, den Schelling in einem vorangestellten ‚Grundriss des Ganzen‘ mit „Beweis, dass die Natur in ihren ursprünglichsten Produkten organisch ist“ (AA I,7, 67/SW III, 5) betitelt. In diesem Abschnitt entfaltet Schelling zunächst die Grundprinzipien einer dynamischen Naturphilosophie, bei welcher das Sein der Natur in der unendlich produktiven Tätigkeit liegt. Hierbei entwickelt er den Gedanken einer „dynamischen Atomistik“ (AA I,7, 86/SW III, 22), bei welcher die unendliche Tätigkeit in kleinste, individuelle Momente aufgegliedert wird, die Schelling als „ursprüngliche Aktionen“ (ebd.) bezeichnet und sie als „Natur-Monaden“ (ebd./ SW III, 23) charakterisiert. 27 Die nachfolgenden Erörterungen beziehen sich 25

Vgl. AA I,7, 27–30. Vgl. AA I,8, 96. 27 Zu Schellings Idee einer ‚dynamischen Atomistik‘ im Ersten Entwurf erhellend Bonsiepen 1997, 276 f. Bonsiepen weist auch darauf hin, dass Schellings Konzept von Naturmonaden 26

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Kap. 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798)

dann auf die Frage, wie aus diesen ursprünglichen Aktionen zuletzt wieder das Gesamte der produktiven Tätigkeit und insbesondere die gleichfalls dynamische, „immer werdende“ (AA I,7, 93/SW III, 33), erscheinende Natur in ihren je spezifischen Gestalten entstehe. Dabei entwickelt Schelling hier den Gedanken, dass die je spezifischen Gestalten der Natur (z. B. die Aggregatszustände der Materie) sich durch „Kombination der Elementar-Aktionen“ (AA I,7, 93/SW III, 34) und den proportionalen Verhältnissen dieser Aktionen und ihren jeweiligen Kombinationen verstehen lassen müssen. In den Kontext dieser Erörterungen fällt nun Schellings erster Gebrauch des bloßen PotenzBegriffs; der Absatz soll hier vollständig wiedergegeben werden: Da jede Aktion höchst individuell ist, und da jede sich bestrebt zu produzieren, was sie ihrer Natur nach produzieren muss, so wird dies das Schauspiel eines Streits geben, in welchem keine Kraft ganz siegt, oder ganz unterliegt. Der Egoismus jeder einzelnen Aktion wird sich dem aller übrigen fügen müssen, das was auch zu Stande kommt, ist Produkt der Unterordnung aller unter Eins und Eines unter alle, d. h. der vollkommensten wechselseitigen Subordination. Keine einzelne Potenz würde für sich das Ganze hervorbringen, wohl aber alle zusammen. Das Produkt liegt nicht im Einzelnen, sondern es liegt in allen zusammen, denn es ist ja selbst nichts anderes, als das äußere Phänomen oder der sichtbare Ausdruck jener beständig unterhaltenen Kombination und Dekombination der Elemente. (AA I,7, 99/SW III, 40 f.)

Diese Stelle zeigt zunächst, dass Schelling den Potenz-Begriff an der Stelle seines ersten eigenständigen Gebrauchs nicht eigens einführt oder auch nur skizzierend charakterisiert, sondern dass er über den Kontext der Erörterungen erschlossen werden muss. Hierfür allerdings gibt der Textabschnitt wichtige Hinweise. Augenfällig ist, dass Schelling in dieser Passage ‚Potenz‘ als Parallelformulierung für ‚Aktion‘ und ‚Kraft‘ gebraucht. Denn der Gedanke, dass keine Potenz allein das Ganze hervorbringen kann, ist derselbe wie der, dass die einzelnen Aktionen nur innerhalb ihrer Wechselbeziehungen etwas zustande bringen; dem entspricht auch, dass keine Kraft (für sich) ganz siegt. Unklar ist lediglich, ob Schelling in der Formulierung, in der er den Ausdruck ‚Potenz‘ gebraucht, den Gedanken auf eine Totalität hin erweitert. Denn von einem Ganzen ist nur hier die Rede, während der Erörterungskontext eher Formulierungen gebraucht, die sich auf einzelne Produkte oder das Produkt als Einzelnes beziehen. Allerdings können auch diese in Relation zu den erzeugenden Aktionen als jeweilige Totalitäten verstanden werden. Festzuhalten an dieser ersten Stelle ist in jedem Fall, dass sich über den Erörterungskontext dem Ausdruck der ‚Potenz‘ hier ein kausaler, ein aktiver, ein fundamentaler und ein holistischer Aspekt zuschreiben lässt. weitaus mehr dem Leibniz’schen entspricht als dem vorkritischen Kantischen der Monadologia physica (278).

III. Der Textbefund: Semantik und Funktion des Potenzbegriffs

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So zeigt diese Stelle, dass Schelling mit ‚Potenz‘ hier einerseits etwas Ursächliches, Erzeugendes meint, denn die Potenzen ‚bringen hervor‘. Und dass er sie als aktive Elemente versteht, denn sie entsprechen den einzelnen Aktionen, die ja nichts anderes sind, als die atomisierte dynamische produktive Tätigkeit selbst. Andererseits ist damit auch verbunden, dass Schelling die je ‚einzelne Potenz‘ hier zunächst im fundamentalen Seinsbereich der Produktivität, dem dynamischen metaphysischen Grund der erscheinenden Natur ansiedelt. Und zuletzt wird sichtbar, dass Schelling den Potenzbegriff in einen holistischen und organischen Gedanken einbindet, nach welchem, wie er an derselben Stelle ausführt, jenes Einzelne ein Ganzes nur durch vollständige Verknüpfung mit allen anderen Einzelnen hervorbringen kann. Zwar nicht im grammatischen Ausdruck, wohl aber der Sache nach spricht Schelling hier auch von Potenzen im Plural in der Gegenüberstellung von einzelner Potenz und der Totalität aller. Damit geht auch einher, dass Schelling hier mit ‚Potenz‘ eine je einzelne ontologische Entität versteht, die in der Einzahl oder Vielzahl auftreten kann. Dies ist deswegen bemerkenswert, weil es doch einerseits dem Verständnis von Potenzen als Ursachen oder Kräften bei Brown entspricht, andererseits, wie sich zeigen wird, von Schelling zunächst nicht weitergeführt wird; von einer Fußnotenbemerkung abgesehen, wird Schelling erst wieder in den Schriften von 1800 von ‚Potenzen‘ im Plural sprechen. 2) Im dritten Hauptabschnitt des Ersten Entwurfs versucht Schelling, organische und anorganische Natur voneinander abzugrenzen und zugleich ihre wechselseitigen Relationen zu bestimmen. Hierbei bespricht Schelling erneut die Erregungslehre von John Brown und referiert dessen Ausdruck der „erregenden Potenzen“ (AA I,7, 179/SW III, 154). Wie schon in der Weltseele gebraucht Schelling diesen Ausdruck vielfach als feststehende Wendung im Ersten Entwurf. 28 Allerdings findet nun eine deutlich andere Wertung der Brownschen Erregungstheorie statt, weswegen die Besprechung dieser Theorie im Ersten Entwurf nicht lediglich eine Wiederholung des Referats in der Weltseele darstellt. 29 Denn im genauen Gegensatz zur Schrift des Vorjahrs, wo Erregbarkeit nur scheinbar eine positive Ursache des Organismus gewesen war und Brown nach Schellings Einschätzung das Prinzip des Lebens völlig verfehlt habe, übernimmt Schelling nun den Kern der Brownschen Bestimmung des Lebens, indem er feststellt: „das Wesen des Organismus besteht in Erregbarkeit“ (AA I,7, 172/SW III, 145). In einer Eintragung in sein Handexemplar aus demselben 28

Vgl.: AA I,7, 192, 233–236/SW III, 174, 223–227, 229. Zur Neuwertung der Brownschen Theorie 1799 im Gegensatz zur Weltseele vgl. erhellend den „Editorischen Bericht“ zu Schellings „Bemerkungen zu einer Rezension Brownscher Schriften“ in AA I,8, 96 f. 29

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Kap. 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798)

Jahr bemerkt Schelling dann gar: „Ich kann also nicht umhin zu behaupten, dass die einzig wahren und echten Prinzipien aller organischen Naturlehre zuerst von Brown, insofern er den Grund des Lebens in Erregbarkeit gesetzt hat, sind eingesehen worden“ (AA I,7, 306/SW III, 90 Anm.). In Schellings Vorstellung vom Organismus ist die Erregbarkeit allerdings keine statische Disposition wie bei Brown, welche im Fall äußerer oder innerer Affizierung aktiviert würde. Sondern für ihn zeichnet sich der Organismus dadurch aus, dass er eine „immanente, bloß auf ihr Subjekt gehende Tätigkeit, die aber zugleich notwendig eine Tätigkeit nach außen ist“ (AA, I,7, 178/SW III, 153) beinhaltet. Für Schelling liegt in dieser nach außen gehenden immanenten Tätigkeit in ihrem Berührungspunkt mit der Objektwelt und im Widerstand gegen äußere Tätigkeit nun „zugleich die Rezeptivität für äußere Tätigkeit“ (AA I,7, 179/SW III, 153) begründet. Im neuerlichen Referat der Erregungslehre von Brown erklärt er nun, dass dieser Begriff einer organischen Tätigkeit nach außen, in welcher „Rezeptivität für ein Äußeres notwendig zugleich Tätigkeit nach außen ist […] durch Browns Begriff der Erregbarkeit sehr gut bezeichnet“ (AA I,7, 179/SW III 153) sei. Schelling übernimmt hier also zum einen Browns Idee, dass Erregbarkeit das Wesen des Lebendigen sei, wandelt Browns Theorie der Erregbarkeit aber dahingehend ab, dass er damit ein aktives, immanentes Vermögen des Organismus bezeichnet – während er umgekehrt als die erregenden Kräfte im Gegensatz zu Brown nur äußere gelten lässt. Andererseits stimmt dies aber wieder insofern mit dem Brownschen Ansatz überein, als dieser die Erregungszustände ihrerseits als Wirkungen (effects) der auf den Körper innerlich und äußerlich einwirkenden Reize bezeichnet hatte. 30 Wie schon in der Weltseele, bleibt für Schelling ein zentraler Kritikpunkt an der Lehre Browns, dass dieser das Prinzip der Erregbarkeit zwar aufgestellt, aber nicht seinerseits begründet hat. In der Passage, in der Schelling nun den Ausdruck der ‚erregenden Potenzen‘ Browns im Ersten Entwurf referiert, geht es ihm – unter Anwendung des Brownschen Schemas – darum, dieses zu begründen und Ursachen für die Erregbarkeit selbst zu finden: Es ist also nicht eine Tätigkeit des Organismus selbst, sondern eine höhere, durch ihn selbst, als Mittelglied wirkende Tätigkeit, die Ursache seiner Erregbarkeit ist. Denn durch die Einflüsse seiner Außenwelt (welche Brown als die erregenden Potenzen nennt), kann nur die Erregung, nicht aber die Erregbarkeit selbst erklärt werden. Jene erregenden Einflüsse sind nur die negativen Bedingungen, nicht aber die positive Ursache des Lebens (oder der Erregung) selbst. – Aber nachdem man als erregende Potenzen alle Einflüsse der äußern Natur hinweggenommen, bleibt als Ursache der Erregbarkeit nichts übrig als die Aktion einer höheren Ordnung, für welche die Natur selbst nur ein Äußeres ist. (AA I,7, 179/SW III, 154)

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Vgl. Jantzen 1994 (= AA Ergänzungsband zu Werke Bd. 5–9), 466.

III. Der Textbefund: Semantik und Funktion des Potenzbegriffs

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Bemerkenswert an dieser Stelle in Hinsicht auf die Verwendung des Potenzbegriffs im Ersten Entwurf ist, dass Schelling ihn auch hier, wie schon in der Weltseele in einer pejorativen Hinsicht gebraucht. Wo es Schelling um eine Erklärung der Erregbarkeit als der Wesenskategorie alles Lebendigen geht, sind die erregenden Potenzen von verminderter Bedeutung. Denn sie erklären je nur die faktische Erregung auf der Basis dieser Erregbarkeit. Dies zeigt allerdings, dass Schelling auch hier, trotz aller Aufwertung der Brownschen Theorie, dem Potenzbegriff selbst keinen über das bloße Referat des Brownschen Ausdrucks hinausgehende Bedeutung zumisst. Auch bleibt der Ausdruck der ‚erregenden Potenzen‘ stets auf den Kontext der Brownschen Theorie bezogen. Und wie schon in der Weltseele bleibt auch hier die Bedeutung von ‚erregender Potenz‘ als Kraft, Einfluss und (physischer) Ursache erhalten. Schelling umschreibt die erregenden Potenzen nun als „Einflüsse [der] Außenwelt“ (AA I,7, 179/SW III, 153), als „Einwirkung von außen“ (AA I,7, 234/SW III, 226), als „erregende Kraft“ (AA I,7, 192/SW III, 174) oder wie bei Brown selbst als „Reiz“ (AA I,7, 236/SW III, 229), der die Erregung auslöst. In den Bemerkungen zu einer Rezension Brownscher Schriften verwendet Schelling ‚erregenden Potenzen‘ im Sinne von „erregenden Kräften“ (AA I,8, 111); Schelling wechselt hier im Referat von Brown und der anonym sich auf Brown beziehenden Rezensionsfolge von Johann Stieglitz mehrfach und ohne erkennbaren Bedeutungsunterschied zwischen den Ausdrücken „erregender Potenz“ und „erregender Kraft“ (vgl. AA I,8, 111 f.). Bemerkenswert ist, dass Schelling nun den Begriff der Ursache nicht mehr lediglich im Singular für das positive Prinzip des Lebens gebraucht, sondern auch im Plural für die erregenden Potenzen und damit seinen Sprachgebrauch der moderneren Bedeutung angleicht: „Bei der Konstruktion der Lebenserscheinungen“, führt Schelling aus, „unterscheiden wir also die erste Ursache der Erregbarkeit, von den Ursachen der Erregung“. [Diese sind] „Browns erregende Potenzen“ (AA I,7, 233/SW III, 223). 31 3) Eine dritte Weise, in der Schelling im Ersten Entwurf sich auf die Begrifflichkeit von ‚Potenz‘ bezieht, ist die einer Gegenüberstellung von Akt und Potenz in der Diskussion des Verhältnisses zwischen anorganischen und organischen Stoffen – allerdings in der lateinischen Form actus und potentia. Hier verfolgt Schelling zwei Thesen, bei welchen er in der Diskussion darüber, wie sie sich verbinden lassen, auf das antike Begriffspaar von Akt und Potenz zurückgreift. Die eine These besteht in Übereinstimmung mit der Erregungslehre darin, dass der Organismus in einer inneren Tätigkeit bestehe, welche äußere Reize rezipiere. Die andere These ist die, dass die Eigenschaften des Anorgani31 Vgl. hierzu auch die Parallelformulierung in den Bemerkungen zu einer Rezension Brownscher Schriften, AA I,8, 112, wo er von „der Ursache der Erregbarkeit im Gegensatz gegen die Ursachen der Erregung, welche Brown’s inzidierende Potenzen sind“ spricht.

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Kap. 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798)

schen und des Organischen konträr seien und sich daher das Anorganische über die gegenteiligen Eigenschaften des Organischen bestimmen lassen müsse. Eine dieser konträren Eigenschaften ist für Schelling die, dass sich die Extreme im anorganischen Bereich fliehen, statt sich wie im Organismus zu berühren (vgl. AA I,7, 134/SW III, 94). Hierdurch kommt Schelling des Weiteren zu der Feststellung, dass das Verhältnis dieser anorganischen Materien in einem bloßen Außen- und Nebeneinander bestünde, da diese nicht wie die Organismen verschmelzen könnten; daher sei „die anorgische Natur […] bloß Masse“ (AA I,7, 134/SW III, 94). Hierdurch entsteht aber die Frage nach der Kohäsion und Gravitation der Materie, das heißt danach, wodurch Massen überhaupt zusammen gehalten werden, damit sie nicht bloß auseinanderstreben und sich im Unendlichen verlieren. Für Schelling ist klar, dass hierfür nur eine äußere Ursache in Frage komme, da die Massen in sich keine eigene Tendenz zur Verschmelzung besäßen – welche den Organismen vorbehalten sei. In Fortführung dieses Gedankengangs formuliert Schelling nun: Aber so wäre diese anorganische Masse in Bezug auf jenes Äußere, das jene Tendenz unterhielt, selbst wieder ein Inneres, sonach ein Organisches, d. h. ein, wenn nicht actu doch potentia – Organisches, das nämlich immer organisiert wird und nie organisiert ist. (AA I,7, 135/SW III, 95)

Durch diese Erwägung will Schelling eine Erklärung dafür erreichen, dass zuletzt doch Massen durch sich selbst zusammengehalten werden und nicht wie Gase unendlich auseinanderstreben. Der weitere Gedankengang macht dies deutlich: wenn, so Schelling, durch äußeren Einfluss ein Inneres quasi organisiert würde, dann müsste jenes Äußere im Verhältnis hierzu und in Übereinstimmung mit der ersten These wiederum ein Anorganisches, d. h. eine Masse sein. Dies verbindet sich zuletzt mit der gezeichneten Idee eines allgemeinen Organismus, welcher das Organische und Anorganische gemeinschaftlich umgreift. 32 Von hier aus stellt sich die Frage, welche Bedeutung Schelling hier ‚Akt‘ und ‚Potenz‘ zumisst. Auf den ersten Blick scheint die Antwort sehr einfach; denn Schelling lässt die Erklärung ja unmittelbar folgen. Potentia im Gegensatz zu actus hieße dann hier: ein immer nur (organisch) Werdendes statt eines tatsächlich (organisch) Seienden zu sein. Allerdings scheint dies weder recht auf den klassischen Begriffsgebrauch von actus und potentia zu passen, auf den Schelling hier ja offensichtlich zurück32 Vgl. hierzu AA I,7, 133/SW III, 93: „Da nun die Tätigkeit des ursprünglich Organischen allein durch die entgegenstrebende Tätigkeit seiner Außenwelt erregt wird, diese selbst aber wiederum durch eine (in Bezug auf sie) äußere Tätigkeit unterhalten wird, so wäre das ursprünglich Organische, zusammen mit der Außenwelt, welcher es sich unmittelbar entgegensetzt, wieder gemeinschaftlich entgegengesetzt einem Dritten, d. h. wieder gemeinschaftlich ein Inneres, in Bezug auf ein Drittes Äußeres“.

III. Der Textbefund: Semantik und Funktion des Potenzbegriffs

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greift, als auch auf den gegebenen Erörterungskontext, nachdem die Passage so viel sagen will wie: in Hinsicht auf den Status der Innerlichkeit ist die Masse auf dem gegenwärtigen Erörterungsstandpunkt etwas Organismusartiges – denn nur Organismen besitzen jene Innerlichkeit im eigentlichen Sinn. Sie ist aber nicht tatsächlich selbst ein Organismus im engeren Sinn, da sie im Gegensatz zur Tier- und Pflanzenwelt nie selbst organisierend ist, sondern eben durch ein Äußeres organisiert wird. Dies wiederum lässt sich allerdings nur in Hinsicht auf den allgemeinen Organismus sagen, der Organisches und Anorganisches umgreift. In dieser Hinsicht erhält sie dann ihre Organisationsstrukturen von außen, da sie nicht selbstorganisierend ist, sondern organisiert wird. Das heißt, potentia Organismus-Sein bedeutet hier: nicht aus sich selbst, sondern lediglich auf der Basis eines weiteren äußeren Einflusses in einen organsiationsartigen Zustand kommen. Dieser Gedanke lässt sich noch näher erläutern über ein lateinisches Zitat, das Schelling im Zusammenhang mit der Frage anführt, ob es präformierte Keime gibt – also Keime, die ihrerseits Keime im eigentlichen Sinn, aus denen dann das Lebendige entsteht, präformieren – und bei dem er im Ersten Entwurf bereits das Begriffspaar potentia/actus, allerdings innerhalb eines lateinischen Zitates, gebraucht hatte. Hier zitierte er den englischen Arzt und Entdecker des Blutkreislaufs William Harvey: omnes corporis partes non actu quidem sed potentia insunt germini (AA I,7, 111/SW III, 60) 33 – alle Teile des Körpers sind im Keim nicht als Wirkliche, sondern als Mögliche enthalten. In diesem Modell des Keimes wird mittelbar die ursprünglich aristotelische Verwendungsweise von Akt und Potenz wiedergegeben: Potenz (gr. dynamis) bezeichnet einen Zustand, in dem etwas dem Vermögen (d. h. der Möglichkeit) nach ist, im Vergleich zum Akt (gr. energaia), als dem Zustand, in dem es der Wirklichkeit nach ist. 34 Nun ist der Keim ein in sich bestehender Organismus, der jedoch zusätzlicher äußerer Einflüsse wie Wärme oder Feuchtigkeit bedarf, damit sich die in ihm liegenden Möglichkeiten – in etwa die Teile des Körpers des zukünftigen Tiers im Ei – verwirklichen. Dies: nur unter dem weiteren Einfluss äußerer Umstände und dann auch nur analogisch bzw. auf den allgemeinen Organismus bezogen, Organismus zu sein, scheint der Gedanke zu sein, den Schelling 33

In den Anmerkungen der Akademieausgabe verweisen die Herausgeber in diesem Zusammenhang auf Kants Schrift „Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“ von 1788, wo die Möglichkeit der Entwicklung des Keims entsprechend der klimatischen Bedingungen als „in potentia“ bezeichnet wird (vgl. AA I,7, 385 und Kant, Akademieausgabe Bd. VIII, 173). Anzumerken ist auch, dass Schelling hier dem Sinn gemäß zitiert, da die ursprüngliche Stelle bei Harvey nicht von einem Keim, sondern spezieller von einem Ei spricht, in dem das zukünftige Lebewesen der Möglichkeit nach enthalten ist (vgl. hierzu den Zitatnachweis in AA I,8, 388). 34 Vgl. Aristoteles Metaphysik IX 6, 1048a32–35. Harvey selbst versteht seine Erforschung der Entwicklung des befruchteten Eis als eine Art von Kommentar zu Aristoteles (vgl. hierzu: Jantzen in Ergänzungsband zu AA Werke 5–9, 566 mit Anm. 5).

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Kap. 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798)

geleitet hat, davon zu sprechen, dass die Masse ein „wenn nicht actu doch potentia – Organisches“ (AA I,7, 135/SW III, 95) sei. 4) Eine weitere eigenständige und für Schellings weitere Philosophie höchst wichtige Bedeutung des Potenzbegriffs des Ersten Entwurfs liegt im Ausdruck einer „höheren Potenz“ (AA I,7, 220/SW III, 207). Diese Formulierung verwendet Schelling an zwei Stellen im Zusammenhang mit Erörterungen über das Verhältnis der Stufen des Anorganischen zu denen des Organischen. Hintergrund hierfür ist der in Schellings Naturphilosophie durchgängig enthaltene Gedanke einer Stufenfolge im Aufbau der Wirklichkeit, bei welcher die einheitliche (metaphysische) Grundkraft der Produktivität sich über Hemmungspunkte in die verschiedenen kategorialen Ebenen des Wirklichen entfaltet: „es ist nicht Ein Produkt zwar, aber doch Eine Kraft, die wir nur auf verschiedenen Stufen der Erscheinung gehemmt erblicken“ (AA I,7, 219/SW III, 207). Die Grundelemente dieser verschiedenen Stufen des Erscheinenden sind in der anorganischen Welt: Magnetismus, Elektrizität und chemischer Prozess, als deren gemeinsame Ursache er das Licht ansieht. Ihnen entsprechen in der organischen Welt die Sensibilität, die Irritation und der Bildungstrieb, von welchen gleichsam gilt, dass sie „alle nur Zweige Einer Kraft seien“ (AA I,7, 219/ SW III, 207). 35 Von diesen Überlegungen ausgehend, erörtert Schelling den Zusammenhang der Dimensionen des Organischen und Anorganischen nun näher: Wenn das Licht letzte Ursache alles chemischen Prozesses ist […], so wäre der Bildungstrieb selbst (wie das Organische von dem Anorganischen überhaupt) nur die höhere Potenz des chemischen Prozesses. (AA I,7, 220/SW III, 207; Herv. bei Schelling)

Dabei werden zwei für die weitere Naturphilosophie und den Gebrauch des Potenzbegriffs in ihr höchst bedeutsame Festlegungen getroffen: Dass nämlich das Organische generell, wie Schelling in der Klammer feststellt, die höhere Potenz des Anorganischen sei und dass entsprechend auch einzelne Glieder der je dreistufigen Folgen von Kategorien einander entsprechen. Dies wird auch an der zweiten Stelle deutlich, an welcher Schelling im Ersten Entwurf den Ausdruck ‚höhere Potenz‘ gebraucht. Dort diskutiert er die Stellung des Galvanismus und stellt zunächst fest, dass „die galvanischen Erscheinungen den elektrischen dem letzten Prinzip nach identisch seien“ (AA I,7, 222/SW III, 210). Von hier aus erörtert Schelling dann das Verhältnis von Elektrizität (bzw. Galvanismus) und Irritabilität, die ja je analog die mittleren Stellungen in den je dreigliedrigen Stufenfolgen des Organischen und Anorganischen bilden, und zwar hinsichtlich der Seite derjenigen inneren Tätigkeiten der natura naturans, 35 Eine Unterscheidung von organischen Grundkräften, zu welchen auch Irritabilität und Sensibilität gehört, hat Schelling von C. F. Kielmeyer übernommen, ebenso die Annahme einer Stufenfolge von einer anorganischen zu einer organischen Welt, über welcher zuletzt die geistige Welt situiert ist. Hierzu: Bach 2001, 47 und Förster 1984, 176.

III. Der Textbefund: Semantik und Funktion des Potenzbegriffs

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die sie als Erscheinungen allererst hervorbringen und die Schelling im Ersten Entwurf im Modell eines dynamischen Atomismus ‚Aktionen‘ nennt. Dabei schließt er zunächst aus, dass die Elektrizität unmittelbare Ursache der Irritabilität sei und fährt fort: „Elektrizität ist nur das, was jener höheren (organischen) Aktion in der allgemeinen Natur entspricht. Jene organische Aktion ist selbst auch wieder eine höhere Potenz der galvanischen Aktion“ (AA I,7, 223/SW III, 211). Aus diesen Passagen lassen sich somit mehrere, für die weitere Naturphilosophie und die Anwendung des Potenzbegriffs in ihr wichtige, Aspekte entnehmen: erstens soll es eine Zuordnung der jeweiligen Stufen und der gesamten Folge zwischen dem Anorganischen und dem Organischen geben und zweitens soll diese Zuordnung sowohl im Bereich der natura naturata, also der jeweiligen erscheinenden Naturprodukte, als auch im Bereich der ursprünglichen natura naturans, der ursprünglichen Produktivität und ihrer atomistisch verstandenen einzelnen dynamischen Aktionen geschehen. Die Semantik der Ausdrucksweise einer ‚höheren‘ Potenz ist diesen Stellen allerdings nicht präzise zu entnehmen. Sie wird sich nachfolgend in der Evaluation der vielfältigen Ergänzungen in Schellings Handexemplar zum Ersten Entwurf, die diesen Ausdruck verwenden, und der nachgereichten Einleitung zu seinem Entwurf präziser bestimmen lassen. Klar dürfte zumindest sein, dass es sich beim Ausdruck des ‚Höheren‘ um einen Ausdruck der Dignität und Qualität handeln muss, und dass es sich beim Ausdruck der höheren ‚Potenz‘ innerhalb der „Wechselbestimmung der organischen und anorganischen Natur“ (AA I,7, 81/SW III, 8) um eine höhere Ebene der systematischen Ordnung der Natur, und somit um eine qualitative und nicht bloß quantitative Erhöhung handeln muss. Das wird auch an einer Stelle aus derselben Zeit deutlich, in der Schelling in jenen erwähnten Bemerkungen zu einer Rezension Brownscher Schriften davon spricht, dass durch Browns Prinzip der Erregbarkeit die Medizin „die Wirkungsart der Körper in einer höheren Potenz als der bloß chemischen kennen gelernt“ (AA I,8, 113 – Herv. Vf.) habe. Dies lässt sich durch den Vergleich mit zwei weiteren Stellen, die Schelling in sein Handexemplar des Ersten Entwurfs eingetragen hat, bestätigen, an denen Schelling den Ausdruck einer ‚chemischen Potenz‘ verwendet. So heißt es analog zur Besprechung der Rezensionen in Hinsicht auf Brown, dass durch den Prozess der Erregung „das Produkt zum Produkt einer höheren als der bloß chemischen Potenz erhoben wird“ (AA I,7, 294/SW III, 62 Anm.) und entsprechend, dass „das Leben Produkt einer höheren als der bloß chemischen Potenz“ (AA I,7, 306/SW III, 91 Anm.) sei. In beiden Fällen ist als die bloß chemische Potenz die niedrigere Ordnungsstufe innerhalb der Wechselbeziehungen des Organischen und Anorganischen bezeichnet. Nicht eindeutig hinsichtlich der Potenz-Semantik auflösbar ist hingegen eine letzte Stelle im Ersten Entwurf, bei welcher Schelling am Ende des Werks in der

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Kap. 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798)

Diskussion der „materiellen Bedingungen des chemischen Prozesses“ (AA I,7, 248/SW III, 242) erneut den Ausdruck einer „chemischen Potenz“ (AA I,7, 249/SW III, 243) gebraucht, hier allerdings nicht relational auf eine höhere Potenz des Organischen bezogen. In der Sache geht es hier um die Frage, welchen Voraussetzungen chemische Prozesse unterliegen. Zu diesen Voraussetzungen gehört für Schelling ein Begrenztsein chemischer Prozesse überhaupt, da ansonsten alle Qualitäten der Stoffe ineinander verfließen würden. Solche Grenzen sind die Hemmungspunkte, die die jeweilige Entwicklung zum Stillstand bringen. Auf der Basis dieser Erörterungen stellt Schelling fest: Da das Gehemmtsein etwas lediglich Negatives ist, so muss auch von jenen Hemmungspunkten eine lediglich negative Darstellung möglich sein. Sie werden bezeichnet sein durch das, dessen Zusammensetzung keine chemische Potenz dieser bestimmten Sphäre überwältigen kann, d. h. durch das Indekomponible. (AA I,7, 249/SW III, 243)

Hier scheint Schelling in einem anderen Sinn von chemischer Potenz zu sprechen, denn zuvor. Denn hier ist es nicht die Dimension des chemischen Prozesses allgemein und in Relation zu einer höheren, organischen, sondern Schelling spricht hier offensichtlich von einer sachlichen Mehrzahl chemischer Potenzen (im grammatischen Singular), von denen keine fähig sei, etwas Bestimmtes zu überwinden – eine Gedankenführung, bei welcher ‚chemische Potenz‘ eher im Sinne einer chemischen ‚Kraft‘ gebraucht zu sein scheint und der daher anknüpft an die erste Verwendungsweise, in welcher ‚Potenz‘ eine eigenständige kausale Entität bezeichnete. Allerdings widerspricht ein solcher möglicher mehrdeutiger Gebrauch des Ausdrucks einer ‚chemischen Potenz‘ im Ersten Entwurf der gegebenen semantischen Evaluation aller Stellen, in welchen Schelling in der ersten Auflage dieses Werks von ‚Potenz‘ spricht, keinesfalls, sondern bestätigt diese vielmehr: Als deren hauptsächliches Ergebnis darf festgehalten werden, dass in dem Werk, in dem Schelling zuerst über eine bloße Wiedergabe der Brownschen Theorie hinaus in einem eigenständigen Sinn von ‚Potenzen‘ spricht, er dies in einer vielfältigen (aber damit noch nicht zwangsläufig äquivoken) Weise tut, wobei sich die Hauptbedeutungen über die Beiwörter zumeist klar abgrenzen lassen: ‚Potenz‘ ohne Beiwort kann ‚Kraft‘ bedeuten, so wie die erregenden Potenzen erregende Kräfte, Ursachen oder Reize sind. ‚Höhere Potenzen‘ sind Ordnungsdimensionen im System der Natur, potentia wird in der klassischen Bedeutung von Möglichkeit im Sinne von Verwirklichungsvermögen auf einen actus hin gebraucht.

IV. Die Frage nach den Quellen für Schellings Potenzbegriff

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IV. Die Frage nach den Quellen für Schellings Potenzbegriff Die genaue Stellenevaluation der ersten beiden Schriften, in denen Schelling von ‚Potenzen‘, und insbesondere von ‚Potenz‘ sprach, hat ergeben, dass Schelling nach dem bloßen Referat der Theorie erregender Potenzen bei Brown in der Weltseele sehr rasch dazu überging, von ‚Potenz‘ in verschiedenen, deutlich voneinander divergierenden Bedeutungen und Kontexten zu sprechen. Damit ist im Grunde bereits eine negative Antwort auf die Frage gegeben, ob Schelling zu Beginn seines Begriffsgebrauchs den Potenzbegriff einer ganz bestimmten Theorie entlehnte oder von bestimmten Autoren schlicht übernahm. Insofern dies jedoch ein gängiges Erklärungsmuster in der Schelling-Forschung ist, soll hier noch einmal dezidiert auf die gängigen Behauptungen, Schelling habe den Potenzbegriff entweder von (1.) John Brown oder von (2.) Adolf Carl August Eschenmayer oder schlicht (3.) aus der Mathematik übernommen, eingegangen werden und in einem zweiten Schritt (4.) nach alternativen Quellen und der allgemeinen Verbreitung des Potenz-Begriffs im intellektuellen Jena um 1799 gefragt werden.

1. John Brown Wie gesehen, gebraucht Schelling den Ausdruck ‚Potenz‘ zuerst in der Wiedergabe der Erregungstheorie von John Brown, die er dann in den nachfolgenden Schriften mehrfach erneut intensiv bespricht. Der hierdurch nahegelegte Schluss, Schelling habe seinen eigenen Potenzbegriff daher von Brown übernommen, oder er verwende ‚Potenz‘ zunächst schlicht im Sinne Browns, ist jedoch nicht gültig. 36 Denn einerseits gebraucht Schelling in der Darstellung der Theorie Browns stets dessen spezifisch auf den Kontext der Erregungslehre bezogenes Beiwort ‚erregender‘ Potenzen und überträgt das mit der Brownschen Theorie einhergehende Modell von Kräften oder Ursachen, die Organismen in bestimmte Zustände versetzen, weder dem Namen noch der Sache nach auf andere Theoriebereiche. Die ‚erregenden Potenzen‘ Browns werden stets als solche benannt und bleiben auf den Bereich der Erregungslehre Browns beschränkt. Zwar gebraucht Schelling den bloßen Begriff der Potenz außerhalb des Brownschen Kontextes entsprechend den deutschen Übersetzungen von power gleichfalls im Sinne von Kraft, doch hat weder diese noch die nachgewiesenen weiteren Bedeutungen von ‚Potenz‘ im Ersten Entwurf mit dem Brownschen Begriff und Kontext etwas zu tun. Zudem spricht er stets von den ‚erregenden Potenzen‘ Browns im Plural, während er außerhalb des Kontextes der 36 Vgl. hierzu z. B. Jacobs im ‚Editorischen Bericht‘ der Akademieausgabe zur Einleitung zu seinem Entwurf in AA I,8, 10, wo es heißt, Schelling habe den „Begriff der ‚Potenz‘ im Ersten Entwurf ganz im Sinne der Brownschen Medizin gebraucht“.

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Kap. 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798)

Erregungslehre Browns in den Schriften von 1798/99 bis auf eine Ausnahme ‚Potenz‘ stets im grammatischen Singular gebraucht, und dies selbst dort, wo sachlich durchaus an eine Mehrzahl von Potenzen gedacht sein mag. Hinzu kommt, dass Schelling nach einer kurzen intensiven Phase der Auseinandersetzung mit Brown von 1798 bis 1800 auf dessen Theorie und Begriff ‚erregender Potenzen‘ überhaupt nicht mehr zurückgreift. 37 Davon, dass Schelling seinen Potenz-Begriff schlicht von Brown übernommen habe, kann also keine Rede sein. Er ist zwar der erste bei Schelling greifbare Terminus der ‚Potenz‘, hat aber für seinen eigenen Begriff und für sein weiteres Werk keine signifikante Bedeutung. 38

2. Carl August Eschenmayer Ebenso verhält es sich mit der Behauptung, Schelling habe den Potenzbegriff der Naturphilosophie des Mediziners und Philosophen Carl August Eschenmayer übernommen, wenn auch aus anderen Gründen. Prominent hatte Hegel diese These in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie vorgebracht. Dort heißt es: „Schelling hat diesen Ausdruck der Potenzen eine Zeit lang gebraucht; von Eschenmayer hat er diesen Ausdruck aufgenommen“. 39 In der Schelling-Literatur wurde sie vielfach wiederholt. 40 Diese These ist aber offensichtlich historisch falsch, wenn man sie auf die Herkunft des Potenzbegriffs bei Schelling überhaupt bezieht. Erst in der Phase der Identitätsphilosophie gibt es eine direkte briefliche Auseinandersetzung mit Eschenmayer um das Modell der Potenzen. Diese ist aber in der ersten Phase seiner Naturphilosophie, die auf diesen Ausdruck zurückgreift, noch nicht wirksam; entsprechend war in der bisherigen Evaluation der Begrifflichkeit bei Schelling in der Weltseele und im Erstem Entwurf von Eschenmayer gar keine Rede gewesen. Allerdings gibt es zwei Passagen bei Schelling, die Hegels Zuordnung auf den ersten Blick zu stützen scheinen, wiewohl eine genauere Betrachtung dies nicht 37 Nach den Bemerkungen aus Gelegenheit einer Rezension Brownscher Schriften von 1799 bespricht Schelling noch mehrmals die Brownsche Medizin, allerdings ohne dessen Theorie erregender Potenzen dabei erneut zu erwähnen (Vgl. AA I,8,261/SW III, 658 (1800), AA I,14,164/SW V, 340 (1803) und AA I,15,176/SW VII, 261 (1806)). 38 In diesem Sinne muss auch Grün 1993, 175 widersprochen werden, welcher der Ansicht ist, dass Schellings Ausbildung einer Potenzenlehre „im engsten Zusammenhang steht mit dem um die Wende zum neunzehnten Jahrhundert heftig diskutierten Brownianismus“. 39 Hegel GW 30.1, 455. Hieran ist natürlich bereits falsch, dass Schelling eine Zeit lang diesen Begriff gebraucht habe. Denn er hat nie wieder aufgehört ihn zu verwenden. Vgl. auch die Nachschrift 1819, AA 30.1, 204 f., wo es heißt: „Eschenmayer führte dann den von Schelling aufgegriffenen Ausdruck der Potenzen ein“. 40 Vgl. z. B. Krings 1985, 125; Tilliette 2004, 101; Andries 2011, 49 Anm.; Gloy 2012, 95, Senigaglia 2016, 140; Durner 2009, 16 f. (= ‚Editorischer Bericht‘ zu Bd. 10 der AA).

IV. Die Frage nach den Quellen für Schellings Potenzbegriff

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bestätigen kann. So hat Schelling Eschenmayers Dissertation von 1796 (Principia quaedam diciplinae naturali) und mehr noch deren erweiterte deutsche Fassung Sätze aus der Naturmetaphysik von 1797 schon früh gekannt und geschätzt. Er erwähnt lobend bereits 1797 Eschenmayers im Vorjahr erschienene Dissertation in den Ideen zu einer Philosophie der Natur. Dort heißt es, Eschenmayer sei der Erste gewesen, der es „unternommen ha[be], die Prinzipien der Dynamik, so wie sie von Kant aufgestellt sind, mit echt-philosophischem Geiste, auf empirische Naturlehre, vorzüglich Chemie, anzuwenden“ (AA I,5, 285/ SW II, 313). Dort zitiert Schelling auch die für ihn selbst wichtigsten Passagen aus dieser Dissertation. In diesen Passagen geht es einerseits um Eschenmayers Behandlung der Kantischen Theorie der Entstehung der Materie aus den zwei a priorischen Grundkräften der Attraktion und Repulsion, wie sie Schelling selbst ja in seiner Naturphilosophie angewandt hat. Andererseits um dessen in einer mathematischen Formel ausgedrückten Ansicht, dass sich das Unendlichgroße und das Unendlichkleine wechselseitig neutralisieren, da 1 multipliziert mit 1/1 = 1 ergebe 41. In dieser Passage kommt auch der lateinische Ausdruck potentia vor. Hier spricht Eschenmayer davon, dass sich eine positive und eine negative Gradationsreihe in einem Punkt neutralisieren müssten, der mit „potentiam = 0“ (AA I,5, 285 f. Anm./SW II, 312 Anm.) bezeichnet werden müsste. 42 Während Schelling jedoch Eschenmayers allgemeinen Ansatz einer dynamischen, apriorischen Naturmetaphysik lobt, lehnt er dessen spezifische Konstruktion der Qualitäten der Materie aus Gradationsreihen ab; in den Eintragungen des Handexemplars zum Ersten Entwurf spricht er von Eschenmayers „misslungene[m] Versuch, die Qualitäten und Gradreihen der Qualitäten nach Kantischen Prinzipien mathematisch zu konstruieren“ (AA I,7, 279/ SW III, 25 Anm.). Daher knüpft Schelling in der Naturphilosophie der Jahre 1797–1800 zunächst auch nicht an den mit dieser Theorie Eschenmayers verbundenen Begriff von ‚Potenz‘ als eines Grades innerhalb einer Reihe „nach Analogie einer allgemeinen Zahlenreihe“ 43 an, d. h. auch nicht in Analogie zum mathematischen Sinn von Potenz als einer Vervielfachung eines Faktors; das Schema zweier Reihen, die sich in einem Nullpunkt neutralisieren, wird

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Vgl. Eschenmayer 1796, 8. Eschenmayer sieht sich darin in der Fortführung der Grundlegung einer Naturmetaphysik Kants, die dieser 1786 in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft niedergelegt hat; insbesondere bezieht er sich auf die Theorie, dass die Materie sich einem Zusammenwirken dieser beiden Grundkräfte verdankt (vgl. Kant AA, IV, 465–566; vgl. hierzu auch Durner 1994, 41–44), die, wie gesehen, auch Schelling in modifizierter Form übernommen hat. 42 Eschenmayer 1796, 10 f. In Eschenmayers eigener Übersetzung geht es um einen Punkt der Materie, in dem „die Gradation aufgehoben gedacht wird“ und bei dem deshalb die Materie „in Rücksicht einer Gradation in jedem Punkt zur Potenz = 0 erhoben“ (Eschenmayer 1797, 11) wäre. 43 Eschenmayer 1797, 12.

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Kap. 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798)

dann jedoch in der Identitätsphilosophie (außerhalb der Theorie der Konstruktion der Materie) eine tragende Rolle spielen. Die zweite Stelle, die eine Verbindung von Schellings frühem Potenzbegriff mit Eschenmayer nahelegt, ist eine rückblickende Bemerkung im ‚Kritischen Journal der Philosophie‘ von 1802. Dort verweist Schelling auf Eschenmayers 1797 und 1798 erschienene Bücher und erläutert von diesen aus seinen Gebrauch des Potenzbegriffs in der Einleitung zu seinem System der Naturphilosophie, die anschließend besprochen werden wird. Abgesehen von der Tatsache, dass sich Schelling hierbei explizit nicht auf den Ersten Entwurf bezieht, in dem er zuerst eigenständig von Potenzen spricht, ist es für die gegebene Fragestellung nach einer möglichen Herkunft des Potenzbegriffs relevant, dass es Schelling im Referat Eschenmayers primär um dessen Fassung von Begriffen in mathematischer Formelsprache geht, wie dies Eschenmayer unter anderem getan habe: Die Bezeichnung von Begriffen durch mathematische Formeln (dieselben, welche ich anwende) und durch Potenzen dieser Formeln insbesondere hat Eschenmayer […] gemacht. (AA I,11,1, 142/SW V, 62)

Bemerkenswert hierbei ist, dass Schelling selbst in den Schriften von 1798/99 diese Formelsprache bei der Diskussion und Darstellung seiner Potenz-Theorie gar nicht gebraucht und lediglich, wie sich zeigen wird, in der Einleitung zu seinem Entwurf die Potenzenfolge einfach nummeriert, also von erster, zweiter und dritter Potenz spricht. Wovon Schelling in Bezug auf Eschenmayer hier spricht, ist überhaupt nicht der Potenzbegriff per se als ein mit welcher Semantik auch immer hinterlegter terminus technicus der Naturphilosophie, wie ihn Schelling gebrauchte. Denn es geht nicht um Potenzen selbst, sondern um „Potenzen dieser [mathematischen] Formeln“ (ebd.), d. h. um den mathematischen Ausdruck hochgestellter Exponenten. Eine solche Ausdrucksweise findet sich bei Schelling aber bis 1801 überhaupt nicht. 44 Die mathematischen Formeln mit hochgestellten Potenzen, von denen in Bezug auf Eschenmayer Schelling 1802 bekennt, sie ebenfalls anzuwenden, sind eine Neuerung Schellings, die im Zusammenhang mit der Umgestaltung seines philosophischen Programms zur Identitätsphilosophie 1801 anzusehen ist. Daher ist zu bemerken, dass Schelling an der angeführten Stelle keineswegs positiv an Eschenmayers Potenzenlehre anknüpft, sondern sich allein auf die mathematische Darstellung, wie sie dort stattfindet, bezieht. So schreibt er in der Vorrede zur Darstellung meines Systems der Philosophie mit Bezug auf ebendieses Werk von 1801 (und nicht rückblickend auf frühere Schriften): „Ich habe mich […] sehr häufig der allgemeinen Bezeichnung durch Formeln bedient, wie sie bereits von Herrn Eschenmayer […] angewendet worden ist“ (AA I,10, 115/SW IV, 113). 44

Vgl. z. B. in der Darstellung meines Systems (AA I,10, 150/SW IV, 149).

IV. Die Frage nach den Quellen für Schellings Potenzbegriff

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Entsprechend findet sich im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie zwar die Verwendung der mathematischen Zeichen + und -, sowie des Gleichheitszeichens (vgl. AA I,7, 119 ff./SW III, 71 ff.), nicht aber wie in späteren Schriften hochgestellte Zahlen (Exponenten) als Zeichen für die Potenzierung. Dies bestätigt sich zudem darin, dass einerseits Eschenmayer von Potenzen im Plural spricht, Schelling jedoch bis 1800 nicht. Und dass andererseits Eschenmayer diese Potenzen als Momente innerhalb von Gradreihen versteht, die Schelling ablehnt und zumindest in diesen Jahren bis 1801 nicht in sein eigenes Denken übernimmt. Zusammenfassend lässt sich hier also sagen: Obwohl Eschenmayer bereits 1797 von Potenzen spricht und diese in mathematischen Formeln ausdrückt und obwohl Schelling diese Schriften Eschenmayers früh gekannt hat, ist ein Einfluss Eschenmayers auf Schellings Entwicklung der Potenzenlehre nicht vor 1801 zu bemerken. Auch Schellings rückblickende Stellungnahme von 1802 steht dem nicht entgegen. Ein Einfluss auf Schellings frühe Entwicklung des Potenzbegriffs durch Eschenmayer ist nicht sichtbar. 45 Hegels Behauptung, Schelling habe den Potenzbegriff schlicht von Eschenmayer übernommen, ist demnach nicht haltbar.

3. Die Mathematik Von hier aus lässt sich auch die Behauptung zurückweisen, Schelling habe seinen Potenzbegriff zunächst aus der Mathematik entlehnt, in einem mathematischen Sinn gebraucht oder nach Vorlage der mathematischen Notation gebildet. 46 Hier hat schon die Stellenanalyse der ersten Schriften Schellings, die den 45 Ebenso ist die entsprechende umgekehrte Behauptung, Eschenmayer habe „die Dialektik der Potenzen von Schelling übernommen“, wie sie sich bei Tilliette 2004, 161 findet, natürlich schon aus Gründen der relativen Chronologie unhaltbar. 46 Vgl. hierzu z. B. Baumgartner/Korten 1996, 65, wonach Schelling Potenzverhältnisse „nach einem mathematischen Ausdruck“ gebildet habe. Ebenso hatte schon Justus Schwarz in seinem klassischen Aufsatz zur Potenzenlehre in Schellings Spätphilosophie behauptet, dass für Schellings Frühphilosophie „maßgebend für die Verwendung des Begriffs [der Potenz] die mathematische Operation der Potenzierung, die fortgesetzte Vervielfältigung eines Identischen mit sich selbst, Steigerung bei gleichbleibender Basis“ (1935, 123) sei. Dies hat sich dann in der Forschung vielfältig erhalten; vgl. z. B. Durner 1979, 154, wonach „der Begriff der Potenz […] in der Frühphilosophie, insgesamt gesehen, in einem mathematischen Sinne gebraucht [wird]: als Multiplikation oder Steigerung eines mit sich selbst Identischen“. Desgleichen – wenngleich auf das Identitätssystem von 1801 bezogen – hatte bereits Karl Leonhard Reinhold vorgebracht, Schelling gebrauche die „mathematische Bezeichnung [der Potenzen], um die bestimmte Form des Seins […] auszudrücken“ (Reinhold 1802, 172 f.). Zimmerli 1986, 318 geht davon aus, dass Schelling „den Begriff der Potenz als mathematischen Begriff zumindest durch die Anregung von Eschenmayer, wenn nicht sogar direkt von ihm übernimmt“, und bezieht sich hierbei auf Stellen aus dem Bruno und den Ferneren Darstellungen, d. h. aus dem Jahr 1802, in denen Schelling tatsächlich – und in engem Kontext mit Eschenmayer –

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Kap. 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798)

Potenzbegriff gebrauchen, gezeigt, dass der spezifisch mathematische Sinn, nach welchem Potenzen die (mehrfache) Multiplikation eines Faktors mit sich selbst bedeuten, bis dato überhaupt nicht vorkommt. In Schellings angeführter Stellungnahme zum Gebrauch mathematischer Formeln bei Eschenmayer und sich selbst hingegen, bezieht sich Schelling auf die erst im Sommer 1799 erschienene Einleitung zu seinem Entwurf und spätere Schriften. Hinzu kommt, dass Schelling selbst dort, wo er zur Rechtfertigung seiner Redeweise von den Potenzen auf Eschenmayer und dessen Formelgebrauch verweist, zum Beleg seiner eigenen Auffassung und Darstellungsart Stellen aus der Ersten Einleitung in die Naturphilosophie anführt, in welchen er zwar von erster, zweiter, dritter und höherer Potenz spricht – dies aber erkennbar nicht im mathematischen Sinn einer Multiplizierung mit sich selbst gemeint sein kann. 47 Möglicherweise unterstützt wurde die Ansicht, Schelling habe den PotenzGedanken der Mathematik entnommen, durch Schellings Redeweise, etwas sei „Produkt der ersten […] Potenz“ (AA I,11,1, 142, mit Verweis auf I,8, 72 /SW V, 62 und III, 322). Doch bedeutet wie gesehen der Terminus ‚Produkt‘ in Schellings Naturphilosophie nicht wie in der Mathematik das Ergebnis einer Multiplikation, sondern die erscheinende Wirklichkeit als Ergebnis der nicht-erscheinenden Produktivität. Es ist ein Terminus, den Schelling lange vor Verwendung des Potenzbegriffs mit Beginn seiner Naturphilosophie bereits in diesem Sinne festlegt (vgl. AA I,5, 215/SW II 138 f.). Die Annahme, Schelling habe den Potenzbegriff der Mathematik entlehnt oder im mathematischen Sinn gebraucht, ist daher irreführend und nicht nur für die Zeit seiner Einführung und ersten Entfaltung in den Jahren 1798/1799 falsch. Zwar wird sich zeigen, dass Schelling ab 1801 in der Entwicklung einer Philosophie, bei welcher der Potenzbegriff eine zunehmend zentralere Rolle spielen wird, stärker an Eschenmayer und andere anknüpfen wird, die in dieser Zeit gleichfalls von Potenzen sprechen und diese mit einem der Mathematik entlehnten Formelapparat darstellen ohne sie deswegen jedoch als Potenzen im Sinne der Mathematik zu verwenden. Für die Frage nach der ursprünglichen Herkunft oder Bedeutung des Potenzbegriffs bei Schelling muss ein Zusammenhang mit der Mathematik indes ebenso klar verneint werden, wie für die weitere Entwicklung dieses Begriffs. Noch in seiner letzten großen Schrift, der Darstellung der reinrationalen Philosophie, erklärt Schelling in Hinsicht auf Potenzen von mathematischen Verhältnissen wie den drei Dimensionen des Raumes her entwickelt. Dies lässt aber keine Rückschlüsse auf Herkunft und Gebrauch von 1799 zu. 47 Die heutige mathematische Terminologie der Potenzen, wonach eine Zahl als die n-te Potenz einer anderen bezeichnet wird, wenn diese n-fach mit sich selbst multipliziert wird, war zu Schellings Zeiten längst etabliert. Vgl. unter den Schelling bekannten Werken z. B. Leibniz (Buchenau/Cassirer, Bd. I, 24), wo Leibniz die Zahl 1000 „die dritte[.] Potenz von Zehn“ nennt.

IV. Die Frage nach den Quellen für Schellings Potenzbegriff

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den Potenzbegriff und seine Ordnung innerhalb einer Folge von erster, zweiter und dritter Potenz: „Wegen dieser natürlichen Ordnung haben wir auch von einer ersten, zweiten und dritten Potenz gesprochen, und ohne an eine Analogie mit den mathematischen zu denken [!], sie auch als solche bezeichnet“ (SW XI, 391).

4. Weitere Quellen und allgemeine Bedeutung um 1800 Daher ist es angezeigt, alternativ zu einfachen Zuweisungen zur Herkunft des Terminus ‚Potenz‘ bei Schelling nach dessen allgemeiner Bedeutung und dessen Gebrauch in der Schelling bekannten Literatur seiner Zeit zu suchen. Hierbei muss als eine wichtige Quelle zunächst Friedrich Heinrich Jacobi benannt werden, auch wenn Schelling sich selbst auf diesen im Zusammenhang mit seiner Einführung des Potenzbegriffs nicht bezieht. In dessen mehrfach erweiterter Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, auf die Schelling bereits in der Ich-Schrift 1795 verweist 48 und deren Einfluss auf Schellings Philosophie bekannt ist 49, gebraucht Jacobi den Potenz-Begriff zentral zur Bestimmung der Materie. Dort heißt es in der ersten erweiternden Beilage von 1789: „Das Prinzip, welche Materie heißt, kann auf zweierlei Weise betrachtet werden. Einmal als Potenz; hernach, als Subjekt“ 50. Jacobi benennt hier zuerst die historische Vielfalt und Undeutlichkeit des Potenz-Begriffs, da bei diesem „alle möglichen Wesen auf eine gewisse Weise unter ihren Begriff fallen“ 51 und weist darauf hin, dass eine unter diesem unspezifischen Potenzbegriff gefasste Materie sowohl von Idealisten als auch Materialisten für sich beansprucht werden könne. Sodann spricht er davon, dass ‚Potenz‘ nach einer aktiven und passiven Seite betrachtet werden könne, als „Vermögen zu wirken“ 52 und als Vermögen (Disposition), bewirkt zu werden und weist darauf hin, dass beide Seiten sich nicht nur ergänzen, sondern wechselseitig bedingen – dass demnach Materie, als eine Wirkliche, nicht nur aus einem positiven Prinzip einer allumfassenden Wirkmacht heraus bestimmt werden könne, sondern es zu ihrer Ergänzung eben jener passiven Potenz der Aufnahme als eines „Vermögens, bewirkt, hervorgebracht und erschaffen zu werden“ 53 bedürfe. An dieser Passage ist zunächst bemerkenswert, dass Jacobi bereits 1789 davon spricht, dass der Potenzbegriff in der Philosophie erstens vielfach ge48

AA I,2, 110 Anm./SW I, 185 Anm. Vgl. hierzu die häufige Erwähnung von Jacobis Buch bei Schelling, z. B. AA I,4, 97/SW I, 456 Anm., GPP 374. 50 Jacobi 2000, 206. 51 Ebd. 52 Jacobi 2000, 207. 53 Ebd. 49

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Kap. 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798)

braucht wird und dass dies zweitens auf vieldeutige Weise geschieht. Sodann, dass Jacobi selbst den Begriff in einer Weise gebraucht, die zwei klassische Bedeutungen des Lateinischen potentia in sich vereinigt, die dann auch in Schellings Erstem Entwurf wiederkehren: nämlich Kraft in Hinsicht auf eine Wirkung und Vermögen in Hinsicht auf die reale Entfaltung dieser Wirkung zu sein; der Bedeutungsschwerpunkt in diesem Kontext liegt sicherlich bei Vermögen im Sinne von Disposition, denn nur unter dieser Bedeutung gibt es auch passive Potenzen (passive Kräfte ergeben hingegen keinen Sinn). Eine weitere nennenswerte Bedeutung, die Schelling bekannt war, die aber in den ersten Schriften, die den Potenzbegriff auf Deutsch gebrauchen, keine Verwendung findet, ist die lateinische Grundbedeutung von potentia als Macht. Schelling verwendet diese Form in seiner Magisterdissertation Antiquissimi de prima malorum humanorum origine von 1792. Er gebraucht potentia als Macht hier zunächst zur Beschreibung des allmächtigen Gottes: Deus omnipotens = allmächtiger Gott (AA I,1, 70/SW I, 8 Anm.; Übers. AA I,1, 113), die er im Vergleich zur Ausdrucksweise deus […] potentissimus = machtvollster Gott (AA I,1,70/SW I, 8 Anm.; Übers. AA I,1, 113) diskutiert; desgleichen findet sich in diesem Kontext die Steigerungsform potentiora = „mächtiger“ (AA I,1, 63/ SW I, 3 Anm.). In der Form von potentia gleich Macht übersetzt er in der Ich-Schrift von 1795 auch Spinoza, indem er dessen Lehrsatz 34 aus dem ersten Teil der Ethica anführt. Dort heißt es: Dei potentia est ipsa ipsius essentia (Gottes Macht ist genau seine Essenz). 54 Interessant hierbei ist, dass Schelling Spinoza doppelt ungenau zitiert, indem er sowohl die Stelle falsch angibt als auch in der Wiedergabe des Zitates ungenau ist. 55 Dies könnte darauf hindeuten, dass Schelling hier aus dem Gedächtnis zitierte, was wiederum bedeuten würde, dass ihm eben diese Stelle bei Spinoza sehr vertraut war. Entscheidend jedoch ist, dass Schelling auch hier den lateinischen Begriff der potentia als ‚Macht‘ auffasst. „Die absolute Macht“, referiert Schelling dort mit Bezug auf Spinoza, „ist ihm das Letzte, ja vielmehr das Einzige. […] Ihr Wesen selbst ist nur diese Macht“ (AA I,2, 122/SW I, 196). Auch wenn diese Bedeutung wie gesehen in den naturphilosophischen Schriften um 1798/99 keine direkt nachweisbare Rolle spielt, bleibt doch für die Gesamtfrage der Semantik und Systematik der Potenzbegriffs bei Schelling festzuhalten, dass Schelling selbstverständlich jene lateinische Grundbedeutung bekannt war und er in den frühen lateinischen Schriften aktiven Gebrauch von ihr machte. Es wird hier genau zu beachten sein, in welchen Kontexten Schelling diese Bedeutung von Potenz auch im Deutschen aktiviert. Vorblickend 54

Vgl. Spinoza 1999, 76 mit Übers. 77. Schelling verweist falsch auf Lehrsatz XXXIII statt XXXIV und zitiert ungenau mit Dei potentia est ipsius essentia (AA I,2, 122 f. Anm./ SW I, 196 Anm.). 55

IV. Die Frage nach den Quellen für Schellings Potenzbegriff

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kann gesagt werden, dass für Schelling die Bedeutung von Potenz als Macht, und damit bereits im Lateinischen verwandt, von Herrschaft und Dominanz, spätestens ab seiner mittleren Philosophie (z. B. AA II,8, 120/SW VII, 447) eine zentrale Rolle spielen und diese bis zuletzt beibehalten wird (vgl. SW XIV, 51). Ein letzter wichtiger Beleg für ein begriffliches Umfeld Schellings, in dem von Potenzen in einem philosophischen Sinn die Rede war, bilden die Jenaer Romantiker Novalis und Friedrich Schlegel, mit welchen beiden Schelling nach seinem Umzug nach Jena aufs engste vertraut war. 56 So finden sich im Text Nr. 105 von Novalis’ ‚Logologischen Fragmenten‘ aus dem Frühjahr 1798 folgende Sätze, die zeigen, dass der Begriff des Potenzierens auch im literarischen Diskurs der Jenaer Romantiker eine Rolle spielte. Novalis schreibt dort: Die Welt muss romantisiert werden. […] Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst wird mit dem besseren Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzenreihe sind. 57

Dabei zeigt sich ein hoher Stellenwert des so verstanden Ausdrucks eines ‚Potenzierens‘ bei Novalis bereits darin, dass er die spezifisches Eigenprägung seines Ausdruckes ‚logologisch‘ über den Gedanken einer Potenzierung definiert. Danach bedeutet das Wort logo-logisch „eine romantische Potenzierungsformel, die den transzendentalen Akt des sich selbst durchdringenden, über sein eigenes Tun reflektierenden Geistes bezeichnet. Was die bisherigen Philosophen“, so Novalis weiter, „‚ohne ihr Wissen‘ taten, das tut der romantische Transzendentalphilosoph bewusst und führt damit, mit der ‚Logo-Logie‘, die ‚Revolution‘ der Philosophie herbei“ 58. Es kann nicht als ausgemacht gelten, dass Schelling diese handschriftlichen Aufzeichnungen Novalis’, die erst posthum im 20. Jahrhundert publiziert wurden, unmittelbar kannte. Doch der enge Kontakt mit Novalis und der bei beiden Denkern in diesen Jahren sich entwickelnde hohe Stellenwert des Potenzbegriffs legt es nahe, dass es hierüber einen wechselseitigen Austausch gegeben habe. In spezifischen Fall der zitierten Stellen kann für die Seite Schellings jedoch angenommen werden, dass seine erste Verwendung des Potenzbegriffs sich nicht Novalis verdankt oder von diesem inspiriert worden ist. Denn Novalis’ Begriffsgebrauch – einer verbalen Form des ‚Potenzierens‘ und die Idee einer Potenzenreihe, wie sie auch bereits bei Eschenmayer 1797 vorkommt – tauchen wie gesehen im Ersten Entwurf noch nicht auf. Sie werden jedoch, wie sich zeigen wird, in den weiteren Schriften von 1799/1800 als begriffliche Neuerungen in Schellings Denken eingehen; ebenso wie die Bezeichnung der Selbstdurchdringung in der reflexiven Explikation der transzendental-philosophi56 57 58

Vgl. hierzu auch Nassar 2014, 157. Novalis HKA II, 545. Für diesen Hinweis danke ich Florian Neuner. Novalis HKA II, 509.

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Kap. 1: Der Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798)

schen Tätigkeit als Potenzierung sich in Schellings System des transzendentalen Idealismus wiederfinden wird. Desgleichen finden sich in den Jahren ab 1797 gehäuft und auf sehr unterschiedliche Kontexte bezogen Stellen in den Philosophischen Fragmenten bei Friedrich Schlegel, in welchen dieser von Potenzen im Sinne von Steigerungen oder Transformationen spricht, ohne dass auch hierbei klar würde, inwiefern sich Schelling und Schlegel wechselseitig beeinflusst hätten, da Schellings Kontakt mit Schlegel ab seiner Jenaer Zeit sehr eng war und die meisten jener unveröffentlichten Notizen Schlegels sich nicht genau datieren lassen und somit sich nicht in eine genaue Chronologie der Genese des Potenzbegriffs bei Schelling einfügen lassen. 59 Immerhin findet sich in den diesen Schriften Schlegels bereits 1797 ein Fragment, das von ‚Potenzierung‘ spricht und das belegt, dass von Potenzen im intellektuellen Kontext Jenas bereits vor Schellings Ankunft die Rede war. 60 Da auch hier, wie bei Novalis, von ‚Potenzierung‘ in der verbalen Form die Rede ist, diese sich aber nicht im Ersten Entwurf findet, darf auch hier davon ausgegangen werden, dass es keinen direkten Einfluss von Novalis und Schlegel für Schellings erste Begriffsverwendung von ‚Potenz‘ gegeben hat – dass ein solcher Einfluss für seine weitere Entwicklung in den Jahren 1799/1800 zwar durchaus denkbar, wenngleich auch nicht eindeutig nachweisbar ist. Daher kann in der Frage nach dem Ursprung des Potenzbegriffs bei Schelling allen einseitigen Herkunftszuweisungen eine klare Absage erteilt werden. Schelling hat 1798/99 den Potenzbegriff weder von Brown noch von Eschenmayer noch von den Jenaer Romantikern noch der Mathematik einfach entlehnt und in seine Philosophie integriert. Sondern, wie schon in Jacobis Klage über die Vieldeutigkeit des Potenzbegriffs deutlich wird, war dieser Ausdruck im zeitgenössischen intellektuellen Diskurs der 1790er Jahre bereits in verschiedenen – mutmaßlich auch Schelling bekannten – Bedeutungen gängig. Gegen Ende des Jahrzehnts scheint er sich zu einem Modebegriff auch der Jenaer Romantiker entwickelt zu haben – und innerhalb dieser Modeströmung greift Schelling ihn in verschiedenen Bedeutungsvarianten auf, ohne diese zunächst zu präzisieren. Dass Schelling nicht – und schon gar nicht an der ersten Stelle seines literarischen Gebrauchs – den Potenzbegriff terminologisch oder gar im Sinne einer Nominaldefinition einführt, legt gleichfalls den Rückschluss nahe, dass Schelling diesen Begriff als geläufig bei seinen Lesern und Hörern voraussetzt. Hierzu gehört auch, dass Schelling nur partiell, im Zusammenhang mit der Erregungstheorie von Brown und dem Harvey-Zitat selbst auf Quellen verweist; 59 60

Vgl. z. B. „Naiv ist Natürlich in der zweiten Potenz“ (Schlegel KFSA, XVIII, 128). Vgl. Schlegel KFSA, XVIII, 112: „Die Parodie ist eigentlich die Potenzierung selbst“.

IV. Die Frage nach den Quellen für Schellings Potenzbegriff

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die Herkunft der Bedeutungen der ‚höheren Potenz‘ und der materiellen, ‚chemischen‘ Potenz bleiben hingegen ungenannt. Die Bedeutungsvarianzen des Anfangs und die rasche Übernahme neuer Bedeutungen in den nun zu analysierenden Folgeschriften sprechen zudem dafür, dass Schelling den Bedeutungsreichtum und die Bedeutungsoffenheit des Potenzbegriffs zunächst im Sinne eines begrifflichen Experimentierfelds für verschiedene Anwendungsbereiche nutzte, ehe sich allmählich schärfer umrissene Bedeutungskerne und eindeutigere systematische Anwendungsfelder innerhalb der Natur- und Transzendentalphilosophie der Jahre bis 1800 herausbildeten.

Kapitel 2

Die weiteren Schriften des Jahres 1799 I. Die Texte von 1799 Von Sommer 1799 an beginnt Schelling die im Ersten Entwurf dargelegte und in den Vorlesungen des Sommersemesters 1799 und des nachfolgenden Wintersemesters 1799/1800 vorgetragene Naturphilosophie präzisierend zu ergänzen. Dies geschieht auf zwei parallelen Wegen: einerseits ergänzt er den Text des Ersten Entwurfs, den er in den Vorlesungen vorträgt, umfangreich, indem er in sein eigenes gedrucktes Handexemplar Anmerkungen und Erläuterungen einträgt, die er dann bei den Vorlesungen auf dem Katheder mit vorträgt. 1 Andererseits schreibt Schelling in der zweiten Jahreshälfte 1799 nachträglich eine Einleitung zum Ersten Entwurf, die dann in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift für spekulative Physik im Herbst 1799 unter dem Titel Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie erscheint 2. Beide Texte sind in Hinsicht auf Schellings frühe Entwicklung des Potenzbegriffs und seine systematische Stellung innerhalb seiner Philosophie von großem Interesse, da sich in ihnen nun im Gegensatz zur semantischen Vielfalt im Ersten Entwurf eine deutliche eigene Hauptbedeutung und ein systematisch umrissener Anwendungsbereich herauskristallisiert, der auch für die weiteren Schriften des Jahres 1800 dominant bleiben wird. Damit geht eine Bedeutungssteigerung einher, die sich auch darin zeigt, dass im Gegensatz zum eher sporadischen und verstreuten Gebrauch des Potenzbegriffs im Ersten Entwurf Schelling diesen nun deutlich gehäuft verwendet. Dies zeigt bereits ein bloß quantitativer Vergleich zwischen dem Ersten Entwurf und den nachträglichen Eintragungen ins Handexemplar: den 26 Erwähnungen im Haupttext stehen 31 Erwähnungen in den Ergänzungen gegenüber, obwohl die Eintragungen ins Handexemplar in etwa nur ein Drittel des Textvolumens des Haupttextes 1 Vgl. hierzu den ‚Editorischen Bericht‘ von Schellings Sohn und Nachlassherausgeber K. F. A. Schelling in SW III, 12, Anm., nach welchem die Anmerkungen aus einem „auf dem Katheder benutzten Handexemplar“ Schelling entstammen. Sie sind den Vorlesungsperioden des Sommers 1799 oder des Winters 1799/1800 zuzurechnen (vgl. hierzu den ‚Editorischen Bericht‘ in der AA I,7, 37–40, nach welchem sie „mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Sommer 1799 stammen“ (AA I,7, 40)). 2 Die SW betiteln sie als Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (SW III, 269). Ich werde nachfolgend den Titel in der Form der Erstausgabe und der AA wiedergeben.

II. Höhere Potenz

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umfassen. Ähnliches gilt für die Einleitung zu seinem Entwurf, die in etwa dasselbe Textvolumen der Handexemplareinträge zum Ersten Entwurf umfassen und zusammen mit den auch dort nachgefügten Eintragungen in Schellings Handexemplar vom Herbst und Winter 1799/1800 3 28 Mal den Potenzbegriff erwähnen. Gewichtiger jedoch sind die semantischen und systematischen Verschiebungen. Nur an zwei Stellen in den Eintragungen in sein Handexemplar erwähnt Schelling noch im Kontext mit der Erregungslehre Browns dessen ‚erregende Potenzen‘. Ansonsten gebraucht Schelling den Potenzbegriff in den Eintragungen ins Handexemplar zum Ersten Entwurf ausschließlich in der Form der ‚höheren Potenz‘. Das heißt auch, dass Schelling nun und in den Folgejahren von Potenz im Sinne von Kraft, Ursache, Macht, Möglichkeit oder Vermögen nicht mehr unmittelbar spricht. Sondern dass der nun näher an den Schriften des zweiten Halbjahres 1799 zu erläuternde Sinn von Stufe oder Steigerung in der Form einer ‚höheren Potenz‘ den fortwährenden semantischen Kern bis zu Beginn der Identitätsphilosophie bilden wird, in welchen die Sinne von Kraft oder Ursache höchstens noch gelegentlich als schwache Bedeutungsnuancen eingehen. Diese Grundbedeutung bleibt auch erhalten in den für die Entwicklung des Potenzbegriffs Schellings in Perspektive auf sein Gesamtwerk höchst bedeutsamen Formen einer „ersten Potenz“ (AA I,8, 57/SW III, 303), einer „zweiten Potenz“ (AA I,8, 72/SW III, 322) und schließlich einer „dritten Potenz“ (AA I,8, 69/SW III, 316), die sich erstmals in der Einleitung zu seinem Entwurf finden. Semantik und Systematik dieser beiden Formen innerhalb der Schriften des zweiten Halbjahres 1799 sollen nun nachfolgend näher analysiert werden.

II. Höhere Potenz Der wesentliche systematische Zusammenhang, den Schelling in diesen Texten mittels des Ausdrucks einer ‚höheren Potenz‘ darstellt, ist wie schon in den ersten Passagen, in denen Schelling im Ersten Entwurf diesen Ausdruck gebrauchte, der des Wechselverhältnisses des Anorganischen und Organischen, wobei das Organische sowohl generell, als auch relational in seinen spezifischen Ausformungen die höhere Potenz des Anorganischen ist. So heißt es in einer Anmerkung Schellings im Handexemplar des Ersten Entwurfs: „wir können hier schon ahnen, dass die organischen Kräfte durchaus nur die höhere Potenz gemeiner Naturkräfte seien“ (AA I,7, 335/SW III, 165 Anm.). Die Formulierung dieses Grundgedankens der Naturphilosophie, dass im Organismus die systematischen Verhältnisse der anorganischen Natur in ge3

Vgl. zur Datierung den ‚Editorischen Bericht‘ in AA I,8, 12 f.

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Kap. 2: Die weiteren Schriften des Jahres 1799

steigerter Form wiederkehren, ist das wichtigste Anwendungsfeld des Ausdrucks der ‚höheren Potenz‘ auch in der Einleitung von 1799 und erhält dort hohe systematische Relevanz. Denn, so Schelling, die „dynamische Stufenfolge in der Natur [ist] der eigentliche Gegenstand der Grundaufgabe des ganzen Systems“ (AA I,8, 57/SW III, 302). Insbesondere lässt sie sich näher präzisieren, insofern Schelling die zwei parallelen Stufenfolgen des Organischen und Anorganischen nun als Kategorien ihrer jeweiligen Seinsbereiche der Natur bezeichnet: So deduziert er in der Einleitung zu seinem Entwurf erstmals die „Stufen des dynamischen Prozesses“ (AA I,8, 71/SW III, 320), „Magnetismus, Elektrizität und chemische[n] Prozess [als] die Kategorien der ursprünglichen Konstruktion der Natur (AA I,8, 71/SW III, 321). Des Näheren führt Schelling hier aus, dass jene Kategorien die ursprünglichen kategorialen Erscheinungsweisen der unsichtbaren natura naturans sind. Sie „sind das davon Zurückbleibende, Fixierte, die allgemeinen Schemate der Konstruktion der Materie“ (AA I,8, 71/SW III, 321). Dabei werden diese Stufen als Kategorienfolge in Parallelität zur Stufenfolge der organischen Natur – „der Sensibilität, der Irritabilität und des Bildungstriebs“ (AA I,8, 71/SW III, 321) – gesetzt, allerdings ohne das wechselseitige Verhältnis dieser beiden Stufenfolgen an dieser Stelle durch den Potenz-Begriff zu charakterisieren – was aber an anderer Stelle explizit geschieht, wonach in etwa „der Bildungstrieb nur die höhere Potenz des chemischen Prozesses“ (AA I,8, 75/SW III, 325) ist. In der Allgemeinen Deduktion von 1800 wird es dann programmatisch heißen, dass „die organische Natur nichts anders, als die in der höheren Potenz sich wiederholende unorganische ist“ (AA I,8, 298/SW IV, 4). Hier stellt sich nun die Frage, wie genau das systematische Verhältnis, das Schelling mittels des relationalen Ausdrucks der ‚höheren Potenz‘ des Organischen zum Anorganischen bezeichnet, konstruktiv zu verstehen sei und welche Verschiebungen sich durch den kategorialen Rang der Stufenfolgen in Hinsicht auf die Bedeutung des Ausdrucks der ‚höheren Potenz‘ gegenüber den ersten Erwähnungen im Ersten Entwurf ergeben. In den Einträgen ins Handexemplar findet sich eine interessante Korrektur, insofern Schelling dort in dem eigenen Satz, nach welchem „durch den Galvanismus […] die Elektrizität gleichsam zu einer höheren Funktion erhoben“ (AA I,7, 222/SW III, 210) wird, den Ausdruck ‚Funktion‘ durch ‚Potenz‘ ersetzte (vgl. AA I,7, 346/SW III, 210). Die zeigt zweierlei: einerseits, dass Schelling im Lauf des Jahres seinen Begriffsgebrauch der ‚Potenz‘ nicht nur insofern intensiviert, als er neue Kontexte über Potenzverhältnisse beschreibt, sondern auch insofern, als er direkt Einzelbegriffe wie hier den der ‚Funktion‘ ersetzt und dadurch einen gegebenen Kontext mit einer neuen Bedeutungsdimensionen ausstattet. Andererseits gibt diese Ersetzung auch einen neuen Hinweis auf das semantische Spektrum, in welchem Schelling nun von ‚Potenz‘ spricht, insofern ‚Potenz‘ hier an die Stelle von ‚Funktion‘ rückt, wonach zumindest

II. Höhere Potenz

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von einer Überlappung der Bedeutungen der Begriffe einer Funktion mit dem der Potenz an dieser Stelle auszugehen ist – eine Bedeutung, die sich dann auf den letzten Seiten der Einleitung zu seinem Entwurf wiederfindet, wo Schelling parallel von den höheren Potenzen der Kategorien des Anorganischen und den „höheren Funktionen des Magnetismus […] usw.“ (AA I,8, 75/SW III, 325) spricht. Systematisch ergiebiger ist ein weiterer Nachtrag ins Handexemplar, wonach der Ausdruck für die Konstruktion des unorganischen Produkts auch Ausdruck für die Konstruktion des organischen ist, indem wir die Kategorie von jener nur in der höheren Potenz nehmen dürfen, um sie auf dieses zu übertragen. Es gibt nur Einen Ausdruck für die Konstruktion eines Produkts; es gibt nur Produkte von verschiedener Potenz. (AA I,7, 299/SW III, 79 Anm.)

Kontext dieses Nachtrags ist die Überlegung Schellings, dass es keinen unmittelbaren linearen Übergang der Wirkungen der bloßen Materie und speziell chemischer Mischungen auf den Organismus gebe und geben könne. Das Kausalverhältnis des Chemischen zum Organischen sei nicht durch die chemische Ursache, sondern durch die Beschaffenheit und Eigenart des Organischen geprägt: „die Wirkung ist der Art sowohl als dem Grade nach bestimmt durch die Tätigkeit des Organismus“ (AA I,7, 125/SW III, 78). Dabei betont Schelling die Eigenart des Organismus, der zwar materiell aus chemischen Bestandteilen zusammengesetzt ist, aber nicht auf diese chemische Materialität reduziert werden kann. Das emergente Prinzip, das den Organismus gegenüber dem Bereich der chemischen Materie auszeichnet, ist für Schelling ein immaterielles unbekanntes Lebens-Prinzip, das er hier „Lebenskraft“ (AA I,7, 126/SW III, 80) nennt, jedoch in einer weiteren Ergänzung eingesteht, dass dieser Begriff lediglich als Notbehelf für die Theorie dienen könne, solange nicht seine Reichweite und seine empirischen Anwendungsbedingungen geklärt seien (vgl. AA I,7, 300/SW III, 80 f. Anm.). Innerhalb dieser Problemlage wird nun Schellings Motivation verständlich, konstruktive Gemeinsamkeiten zwischen den Ebenen des Organischen und Anorganischen zu postulieren, um ein Auseinanderfallen der Natur in je einen Bereich organischer und anorganischer Produkte zu verhindern. Wenn, wie Schelling es schon in der Weltseele wollte, Organisches und Anorganisches wechselseitig wiederum in jenem universellen Organismus organisch aufeinander bezogen sein soll, dann müssen deren konstruktive Prinzipen – die Schelling nun ‚Kategorien‘ nennt – ihrerseits organisch aufeinander bezogen sein. Und diesen Bezug, nach welchem in den Teilen das Ganze und dem Ganzen die Teile je nur in verwandelter Form enthalten wiederkehren, drückt Schelling nun mittels des Begriffs der ‚Potenz‘ aus. Danach ist das Organische als Produkt nicht einfach eine höhere Stufe des Anorganischen (im Sinne eines Bereichs bloß höherer Komplexität oder Dignität), sondern ihr Verhältnis ist so organi-

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Kap. 2: Die weiteren Schriften des Jahres 1799

siert, dass die internen Prinzipien des Anorganischen in gesteigerter Form im Organischen wiederkehren. Die Kategorie des Organischen ist „die Kategorie von jener [der anorganischen Konstruktion] nur in der höheren Potenz“ (AA I,7, 299/SW III, 79 Anm.) genommen –, wodurch mit Schelling eine Einheit der konstruktiven Prinzipien bei der Vielheit ihrer Produkte gewährt sein soll. Wesentlich für die Systematik des Potenzbegriffs ist hier, dass Schelling das Wechselverhältnis des Organischen und Anorganischen sowohl auf der Seite der Konstruktion der Natur, d. h. der unsichtbaren natura naturans und ihren metaphysischen Kräften, als auch auf der Seite ihrer sichtbaren Produkte, der natura naturata, als das Verhältnis eines Selben unter verschiedener Potenz zu fassen versucht. Der Ausdruck der ‚höheren Potenz‘ verweist hierbei auf die höhere Komplexitätsstufe des Organischen, das ja das Anorganische in sich integriert und unter einem unbekannten Lebensprinzip in den Bereich des Lebendigen transformiert. 4 Diese Überlegungen Schellings finden sich dann in seiner Einleitung zu seinem Entwurf dort wieder, wo es eben darum geht, die „Aufgabe, die Konstruktion der organischen und anorganischen Natur auf einen gemeinschaftlichen Ausdruck zu bringen“ (AA I,8, 71/SW III, 322), zu lösen. So ist das organische Produkt „nur die höhere Potenz [des anorganischen] und nur durch die höhere Potenz der Kräfte hervorgebracht […], durch welche auch dieses hervorgebracht wird“ (AA I,8, 74/SW III, 325). Hier stellt Schelling erneut fest, dass „der Lebensprozess […] wieder die höhere Potenz des chemischen sein“ (AA I,8, 72/ SW III, 323) müsse und wiederholt, dass allgemein „die organische Natur überhaupt nur die höhere Potenz der anorganischen ist (AA I,8, 59/SW III, 304). Zudem verbindet Schelling hier erneut den Gedanken, dass die organische Welt die höhere Potenz der anorganischen ist, mit der Konstruktion einer je dreigliedrigen Kategorienfolge innerhalb der beiden Bereiche und bezieht ausdrücklich diese je einzeln mittels des Potenzbegriffs aufeinander: „Sensibilität ist nur die höhere Potenz des Magnetismus. Irritabilität nur die höhere Potenz der Elektrizität, Bildungstrieb nur die höhere Potenz des chemischen Prozesses“ (AA I,8, 74 f./SW III, 325). Diesen Gedanken ergänzt Schelling um einen wichtigen Punkt: Dieselben Stufen, welche die Produktion der Natur ursprünglich durchläuft, durchläuft auch die Produktion des organischen Produkts, nur dass diese auf der ersten Stufe schon mit Produkten der einfachen Potenz wenigstens anfängt. (AA I,8, 72/SW III, 323)

4 Damit erweist sich die je höhere Potenz einerseits als Iteration, als Wiederholung der einfacheren auf einer höheren Stufe, so dass „sich auf dem höheren Niveau das niedere, wenn auch leicht modifiziert, wiederhole“ (Hartkopf 1972, 78) – aber es ist nicht lediglich eine Iteration und Modifikation, sondern es geht mit dem Übergang zum Organischen ein emergenter, qualitativer Sprung einher.

III. Erste, zweite und dritte Potenz

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Die Ergänzung betrifft den Gedanken, dass organische Produkte sich nicht unmittelbar der ursprünglichen Produktivität der Natur, d. h., ihrer unsichtbaren, metaphysischen Tätigkeit, verdanken, sondern bereits der sichtbaren, materiellen Welt, also der Produkte der anorganischen Natur – und diese auf deren höchster Stufe, dem Chemismus – bedürfen. Insofern Schelling diese hier Produkte der ‚einfachen Potenz‘ nennt, erweitert er sein Begriffsspektrum und nennt einen wichtigen Gegenbegriff zum Ausdruck der ‚höheren‘ Potenz, der bis dato lediglich der allgemeine Ausdruck einer höheren Wert- oder Komplexitätsstufe, ohne klaren Vergleichspunkt, bezeichnet hatte. Mit ‚einfacher‘ Potenz und ‚höherer‘ Potenz ist hingegen die Zuordnung einer zunächst einstufigen Steigerung zwischen zwei Gliedern benannt, die es erlaubt, auch um weitere Stufen ergänzt zu werden. Wichtig hierbei ist, dass der Ausdruck der ‚einfachen‘ Potenz im Kontrast zur ‚höheren‘ ein klares Licht darauf wirft, dass Schelling mit dem Höheren der ‚höheren‘ Potenz primär an eine Stufe höherer Komplexität und Organisation denkt. Zugleich ist durch diese feste Zuordnung einer einfachen und einer höheren Potenz auch der Grundstein dafür gelegt, aufeinander bezogene Potenzen in einer festen Reihenbildung einer ersten und zweiten – und schließlich auch dritten Potenz zu denken.

III. Erste, zweite und dritte Potenz Der bloße Übergang vom Gedanken eines Gegensatzes zwischen einer höheren und einer einfachen Potenz zur numerischen Reihenbildung einer ersten und zweiten Potenz, ohne dass es hierbei zu einer Bedeutungsverschiebung kommen würde, lässt sich in der Einleitung zu seinem Entwurf literarisch belegen: So spricht Schelling einerseits von der „Materie auf der tiefsten Stufe“ (AA I,8, 57/SW III, 303) und ergänzt in Klammer: „in der ersten Potenz“ (ebd.). Mit dieser Materie auf der tiefsten Stufe meint Schelling die spekulative Entstehung der Materie überhaupt durch das Zum-Stehen-Kommen der doppelten metaphysischen Grundkräfte der Expansion und Kontraktion, also die bloße Existenz von Materie überhaupt. Dort, wo die Wechselkräfte sich nicht völlig ausgleichen, so Schellings Überlegung weiter, könnte die Materie „zur höheren Potenz erhoben werden“ (AA I,8, 58/SW III, 303) – d. h. es entstünden die höheren Materieformen zunächst des Anorganischen in der Stufenfolge der Kategorien. Die numerische Bezeichnung führt er dann auch für die ‚höhere Potenz‘ ein, insofern er diese mit dem Ausdruck einer „zweiten Potenz“ (AA I,8, 59/SW III, 304) gleichsetzt. In diesen wichtigen Passagen treten auch zwei weitere systematische Elemente auf, die Schelling von da an mit der Idee einer Potenzenfolge verbinden wird. Dies ist einerseits der Gedanke der Erhebung, der beinhaltet, dass die je

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Kap. 2: Die weiteren Schriften des Jahres 1799

höhere Potenz nicht einfach eine höhere (unabhängige) Stufe desselben ist, sondern dass die höhere Stufe von der je tieferen aus erzeugt werden kann, insofern sie sich zur höheren Stufe erheben lässt. Dies gilt gleichermaßen für die philosophische Methode der Konstruktion wie für die in ihr konstruierten Ebenen der Produktivität und der Produkte – und für diese wiederum sowohl in Hinsicht auf die dreigliedrige Stufenfolge der kategorialen Formen des Anorganischen und Organischen als auch das Verhältnis der jeweiligen Stufen zwischen Anorganischem und Organischem. Hinsichtlich der Methode führt Schelling in der zuletzt zitierten Passage aus: „Hier […] erhebt sich für uns jene erste Konstruktion zur zweiten Potenz gleichsam“ (AA I,8, 59/SW III, 304); der zurückhaltende Ausdruck ‚gleichsam‘ belegt, dass es diese Passage ist, bei der Schelling erstmals und vorsichtig erwägt, eine nummerierte Potenzenfolge zu benennen. Diese Erhebung von einer ersten zu einer zweiten Potenz geschieht – und darin besteht der zweite systematische Punkt – durch die selbstbezügliche Wiederholung eines konstruktiven Vorgangs, eine ‚Doublierung‘, wie Schelling dies nennt: die organischen Produkte gehen wie gesehen aus anorganischen Produkten hervor, sind also ‚Produkte von Produkten‘ oder „doublierte Produkte, [bei denen] das, was schon Produkt ist, wieder Produkt wird“ (AA I,8, 59/ SW III, 304). Demnach ist „das organische Produkt das Produkt in der zweiten Potenz“ (AA I,8, 61/SW III, 306) – einen Satz, den Schelling hier, nur zwei Seiten nach der ersten vorsichtigen Nummerierung einer Potenzenfolge, bereits als Prinzip aufstellt. Auf den letzten Seiten der Einleitung zu seinem Entwurf gebraucht Schelling schließlich auch mehrfach den Ausdruck einer ‚dritten Potenz‘, allerdings ohne dass es hierbei zu einer festen Reihenbildung, Bedeutungsfixierung oder systematischen Zuordnung käme. Sondern Schelling versucht mittels dieses Ausdrucks die doppelte, je dreigliedrige Reihenbildung der Momente des Anorganischen und Organischen miteinander zu verbinden, so dass der innere systematische Zusammenhang verständlich werden könnte, nach welchem einerseits die Produkte des Organischen die höheren Potenzen der entsprechenden Produkte des Anorganischen, andererseits die jeweilige Stufenfolge der Kategorien beider Reihen sich als Steigerungsstufen verstehen lassen und zuletzt verständlich werden könnte, wie insgesamt das Organische den chemischen Prozess als seine Grundlage haben könnte. Hierbei kommt es zu einer im Letzten nicht klaren Zuordnung, bei welcher Schelling zunächst drei Stufen der Differenz unterscheidet, und bei den sich entgegensetzenden Produkten der dritten Stufe eine „Differenz in der dritten Potenz“ (AA I,8, 69/SW III, 316) diagnostiziert. Diese drei Stufen des dynamischen Prozesses sind aber die Stufen von Magnetismus, Elektrizität und chemischem Prozess. 5 Andererseits be5

Vgl. hierzu SW III, 315–317 mit Anm. 2/AA I,8, 67–69.

IV. Potenzen (im Plural)

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zieht Schelling den Ausdruck einer ‚dritten Potenz‘ hier indirekt auch auf die Stufe des Organischen selbst. So heißt es in den Einleitungssätzen zum letzten Abschnitt der Einleitung zu seinem Entwurf: „Die anorganische Natur ist das Produkt der ersten, die organische das Produkt der zweiten Potenz – (so wurde oben festgesetzt; es wird sich bald zeigen, dass sie Produkt einer noch höheren Potenz ist)“ (AA I,8, 72/SW III, 322). Zuletzt versucht Schelling die Stufenbildung der Natur durch eine stetig wechselnde Folge von Einheit und Entzweiung (Duplizität) zu fassen, wobei er die Stufen der Einheit (Indifferenz) als Potenzen der Indifferenz aufzählt – ein Gedanke, der bereits in die Identitätsphilosophie vorweist. So sieht er im Anorganischen den Magnetismus als Grundstufe der Einheit, die Elektrizität als Grundstufe der Duplizität und schließlich den chemischen Prozess als „Indifferenz […] der zweiten Potenz“ (AA I,8, 73 Anm./SW III, 324 Anm.) 6. Von hier aus sieht Schelling die organische Natur von einer erneuten fundamentalen Duplizität geprägt, nämlich der Geschlechtertrennung, welche ihrerseits nach höherer Einheit verlangt, ohne diese jedoch je erreichen zu können: „Der Widerspruch der Natur ist der, dass das Produkt produktiv (d. h. Produkt der dritten Potenz sein), und dass doch das Produkt als Produkt der dritten Potenz in Indifferenz übergehen soll“ (AA I,8, 73/SW III, 324). Daher ist jene „Indifferenz der dritten Potenz [zuletzt] ein widersprechender Begriff “ (AA I,8, 73 Anm./SW III, 324 Anm.) – ein widersprechender Begriff, der Schelling zuletzt dazu führt, die ursprüngliche Frage nach einem gemeinsamen Begriff für die Konstruktionen des Organischen und Anorganischen als unbeantwortbar zu deklarieren und deren Einheit auf den höheren Organismus, d. h. „die Natur, sofern sie als Ganzes absolut organisch ist“ (AA I,8, 75/SW III, 326) zurückzuverweisen. 7

IV. Potenzen (im Plural) Es ist eine bemerkenswerte begriffliche Tastsache, dass Schelling in der ersten Phase nach Einführung des Begriffs der Potenz zunächst ausschließlich von ‚Potenz‘ im Singular spricht und wie gesehen lediglich zwei Stellen im Ersten 6 Vgl. hierzu Schellings Eintrag in seinen Handexemplar der Einleitung (AA I,8, 82/SW III, 317 Anm.). 7 Es scheint von diesen Feststellungen einer zunächst vagen Einführung des Ausdrucks einer ‚dritten‘ Potenz und des sich daraus ergebenden Musters dreier Potenzen in der Einleitung zu seinem Entwurf verfrüht, diese bereits als ‚Triplizität‘ im Sinne einer festen Drei-Einheit nach einem dialektischen Muster zu fassen, wonach „die Dreistufigkeit jedes Potenzniveaus das genaue Analogon der Dreischrittigkeit des dialektischen Denkens ist“, wie dies bei Hartkopf 1972, 78 geschieht. Richtig ist, dass Schelling das Muster der Triplizität in der weiteren Ausgestaltung der Potenzenlehre beibehält und von der Phase der Identitätsphilosophie bis in die Spätphilosophie als festes, dialektisches Schema gebraucht.

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Kap. 2: Die weiteren Schriften des Jahres 1799

Entwurf, bei denen Schelling negativ formuliert, dass ‚keine Potenz‘ etwas Bestimmtes erzeugen könnte, an eine sachliche Mehrzahl von Potenzen denken lässt. ‚Potenz‘ ist bis dato primär ein Relationsbegriff, nach welchem etwas von etwas anderem die erste, zweite, dritte oder höhere Potenz ist. Wie die Ausdrücke eines Bezugs, einer Funktion oder Steigerung bezeichnen sie nichts ontologisch Selbstständiges, sondern sind nominalisierte Attribute, die Seinsstufen und entsprechende Elemente und Funktionen dieser charakterisieren. Abgesehen vom Referat erregender Potenzen bei Brown, gibt es daher bis dato bei Schelling keine Redeweise von Potenzen im Plural, die diese substantialisieren und eine Auffassung von Potenzen als ontologisch eigenständigen Entitäten nahelegen würde. Nicht einmal zusammenfassend zur ersten, zweiten und dritten Potenz spricht Schelling von einer Mehrzahl von ‚Potenzen‘. Daher kommt einer singulären Stelle in der Einleitung zu seinem Entwurf besondere Bedeutung zu, bei welchem Schelling in einer Fußnote, erstmals unabhängig von Browns Theorie der erregenden Potenzen von ‚Potenzen‘ im Plural spricht. Kontext ist die Frage nach Indifferenz und Gegensatz in Hinsicht auf die Erzeugung neuer Individuen. Dort stellt Schelling die Frage, weshalb „keine Erzeugung neuer Individuen als unter der Bedingung entgegengesetzter Potenzen […] möglich ist?“ (AA I,8, 73 Anm./SW III, 323 Anm.). Hierbei wird sofort deutlich, dass Schelling hiermit eine andere Semantik verbindet, als mit den Formulierungen einer ersten oder zweiten Potenz im Singular. In der anthropologischen Frage nach dem Grund der Geschlechtertrennung beschreibt Schelling diese als eine notwendige „Trennung der Faktoren in verschiedene[.] Produkte[.]“ (AA I,8, 73/SW III, 324) und substantialisiert hierdurch den Ausdruck der ‚Potenz‘ zum Begriff einer individuellen Einheit. Dies findet auch darin Bestätigung, dass Schelling zur Erläuterung dieser Passage auf eine Stelle aus Kants Anthropologie verweist, bei welcher Kant davon spricht, dass die „Fruchtbarkeit in Paarungen durch die Heterogenität der Individuen“ 8 zustande komme. Zudem bringt Schelling hier den Ausdruck der ‚Potenzen‘ wieder in den Kontext von Kräften, den er schon bei den ‚erregenden Potenzen‘ Browns innehatte, der aber in der weiteren Entwicklung des Potenzbegriffs im Singular völlig fehlte. Denn Schelling beschreibt die Frage nach der Erzeugung neuer Individuen aus entgegengesetzten Potenzen als „einen Abgrund von Kräften, in den wir hier hinabsehen“ (AA I,8, 73 Anm./SW III, 323 Anm.). Die entgegengesetzten Potenzen an dieser Stelle sind demnach entgegengesetzte Individuen oder gar direkt die entgegengesetzten Kräfte, die diesen Individuen entstammen und deren Vereinigung die Erzeugung neuer Individuen erklärt. Auch wenn die Analyse einer kurzen Fußnotenbemerkung nicht genügen 8 Kant AA VII, 321. Ich folge bei der Zuordnung dieser Stelle zum Verweis Schellings den Anmerkungen der Akademieausgabe AA I,8, 464.

V. Resümee

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kann, um die Semantik oder gar Systematik eines neuen Begriffsgebrauchs bei Schelling abschließend zu analysieren, so darf doch in Hinblick auf die weiteren Werke, in denen Schelling außerordentlich häufig von Potenzen im Plural sprechen wird, festgehalten werden, dass an jener ersten Stelle auf den letzten Seiten der Einleitung zu seinem Entwurf Schelling von ‚Potenzen‘ als von einer Mehrzahl aufeinander bezogener Individuen oder individueller Kräfte spricht, und nicht von einer bloßen Mehrzahl an sich unselbständiger funktionaler Verhältnisse, welche lediglich eine bestimmte Relation zwischen einzelnen Ebenen, Dingen, Verhältnissen oder Kräften bezeichnet, wie dies der Semantik des Potenzbegriffs im Singular entspricht. Es wird sich hier in der Analyse der weiteren Werke weisen, welche Momente des reichhaltigen begrifflichen Tableaus, das der Potenzbegriff der ersten Schriften bereit hält, in welchen Kombinationen begrifflicher Neuprägungen und Varianten eingehen wird.

V. Resümee Die Auskristallisation der anfänglichen begrifflichen Vielfalt auf eine Hauptbedeutung ‚höherer Potenz‘, in den Schriften des zweiten Halbjahres von 1799, die sich dann auch in den Aufzählungsformen einer ersten, zweiten und dritten Potenz wiederfindet, geht einher sowohl mit einer quantitativen Steigerung des Gebrauchs dieses Begriffs als auch einer systematischen Vertiefung, insofern Schelling nun mittels dieses Begriffs eine der wichtigsten systematischen Neuerungen der Einleitung von 1799, nämlich die Kategorienfolgen des Anorganischen und Organischen in ihrem Wechselverhältnis zu fassen versucht. Auch wenn noch nicht die Rede davon sein kann, dass ‚Potenz‘ bereits zu den Schlüsselbegriffen der Philosophie Schellings vor 1800 gehört, und die grundsätzlichsten metaphysischen Verhältnisse der Naturphilosophie als spekulativer Physik ohne diesen Terminus beschrieben werden können, ist doch festzuhalten, dass Schelling nun das für die Naturphilosophie bedeutsame Verhältnis der anorganischen und organischen Natur nicht mehr nur in der allgemeinen Form darlegt, wonach eben das Organische die höhere Potenz des Anorganischen ist, sondern dass er dieses Verhältnis einer höheren Funktion, Stufe, Organisationsform oder bloß gesteigerter Komplexität nun in den verschiedensten Teilverhältnissen dieser Grundebenen der Natur nachzuweisen versucht und in verschiedenen methodischen Ebenen der konstruktiven Naturphilosophie anwendet. Eine ‚höhere Potenz‘ von etwas sein bedeutet nun nicht lediglich eine vage Steigerung an Wert und Organisationsgrad erhalten zu haben. Sondern auf Grund der nun angewandten Wechselbegrifflichkeit von einfacher und höherer, erster und zweiter Potenz, bedeutet dies nun, eine näher bestimmte Stelle innerhalb der Systematik der sichtbaren und unsichtbaren Natur und der sie rekonstruierenden Naturphilosophie einzunehmen.

Kapitel 3

Potenzen in den Komplementärwissenschaften von 1800 Mit der Allgemeinen Deduktion des dynamischen Prozesses oder der Kategorien der Physik von 1800 schließt Schelling seine erste naturphilosophische Phase ab – diejenige Phase, innerhalb derer Schelling die Naturphilosophie als eine selbstständige Wissenschaft etablierte. In der nachfolgenden identitätsphilosophischen Phase wird Schelling die Naturphilosophie nicht mehr aus sich selbst heraus entwickeln, sondern deren dynamischen Aufbau aus der absoluten Identität, dem Zentrum der Einheitswissenschaft der Identitätsphilosophie entfalten. Die Allgemeine Deduktion nimmt hierbei eine Übergangsstellung ein, insofern sie zwar nochmals die Grundkategorien der Natur aus sich selbst heraus entfaltet, dabei aber bereits dessen gewahr ist, dass sie sich hierbei in einem analogen Prozess zur Entwicklung der Philosophie des Geistes bewegt, deren systematischen Zusammenhang Schelling zeitgleich im System des transzendentalen Idealismus darstellt. 1 Auf der Basis dieses Sachverhalts ist es angezeigt, für die genealogische Darstellung der Entwicklung des Potenzbegriffs in dieser Phase in Anknüpfung an die vorherige Entwicklung innerhalb der Naturphilosophie zunächst die Allgemeine Deduktion zu evaluieren (I.), um sodann unter Berücksichtigung des Programms zweier Komplementärwissenschaften die Übertragung und Behandlung des Potenzbegriffs innerhalb der Transzendentalphilosophie, d. h., im System des transzendentalen Idealismus zu evaluieren (II.).

I. Die Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses 1. Zum Überblick Hauptthema der Allgemeinen Deduktion ist die metaphysische Konstruktion der Materie. Insbesondere versucht Schelling hierbei die Dreidimensionalität des Raumes und der Materie aus einer Dreiheit metaphysischer Kräfte und 1 Vgl. hierzu den ‚Editorischen Bericht‘ in AA, I,8, 280–283, der zeigt, dass beide Schriften komplementär zueinander zu verstehen sind: sie entstehen in parallelen Vorlesungen 1799, werden parallel ausgearbeitet und fast gleichzeitig publiziert. Dabei kann die Allgemeine Deduktion als „Abschluss der frühen Naturphilosophie Schellings“ (AA I,8, 281) angesehen werden, bei welchem Schelling die Naturphilosophie als „Pendant“ (ebd.) zum System von 1800 ausarbeitet.

I. Die Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses

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der entsprechenden Triplizität der Stufen des dynamischen Prozesses herzuleiten. In einem Begleitbrief an Eschenmayer, dem er im Herbst 1800 ein Exemplar der Allgemeinen Deduktion zusendet, verweist Schelling besonders auf seine „Idee, die 3 Stufen des dyn[amischen] Proz[esses] den 3 Dimensionen der Materie gleichzusetzen“ (AA III,2,1, 238/Plitt I, 312). Begrifflich kommt es in den Schriften von 1800 gegenüber den Vorgängerschriften zu Verschiebungen von Gebrauch und Bedeutung des Potenzbegriffs, die nachfolgend im Einzelnen hinsichtlich ihrer Semantik und systematischen Bedeutung untersucht werden. Ein bloß terminologischer Überblick ergibt hierbei Folgendes: 1) Schelling verzichtet nun auf die spezifische Terminologie der ‚erregenden Potenzen‘ im Sinne Browns. 2) Beibehalten hingegen wird der Gebrauch von ‚Potenz‘ im Sinne von Stufe und Dimension; ebenso die Nummerierung dieser Stufen in der Aufzählung einer ersten, zweiten und nun auch dritten Potenz (wobei ‚dritte Potenz‘ lediglich im System des transzendentalen Idealismus, nicht aber in der Allgemeinen Deduktion vorkommt) und die relationale Bezeichnung einer ‚höheren Potenz‘. 3) Zugleich erfährt der Begriff eine Erweiterung. Denn Schelling spricht nun einerseits im § 63, der zur Transzendentalphilosophie überleitet und das Verhältnis der Komplementärwissenschaften beleuchtet, von einer „höchsten Potenz“ (AA I,8, 365/SW IV, 76) im Superlativ, ein Ausdruck, der im System des transzendentalen Idealismus gehäuft vorkommt (z. B. AA I,9,1, 25, 46, 63/ SW III, 331, 356, 373). Andererseits gebraucht Schelling den Potenzbegriff nun nicht mehr lediglich im bloß substantivischen Sinn. Sondern er spricht nun in einem funktionalen, prozessualen, d. h. gleichsam verbalen Sinn von „Potenzieren“ (AA I,8, 326/SW IV, 33) oder „Potenzierung“ (AA I,8, 324/SW IV, 31) – eine Form, die dann in der Transzendentalphilosophie auch explizit die Tätigkeit des Philosophen beschreiben wird (z. B. AA I,9,1, 330/III, 631) – ohne dabei allerdings den Terminus auch in der Form eines grammatischen Verbums zu gebrauchen. Zudem verwendet Schelling diese Form nun auch als Gerundium, um den Vorgang des Potenzierens zu beschreiben, z. B. in der Rede von einer „potenzierenden Kraft“ (AA I,8, 331/SW IV, 39) oder „potenzierende[n] Ursache“ (AA I,8, 343/SW IV, 52) und zudem als Adjektiv in der Form „potenziert“ (AA I,8, 337/SW IV, 45), um das Ergebnis des Vorgangs des Potenzierens zu benennen. 4) Hinzu kommt, dass Schelling nun auch regelmäßig entsprechend jener ersten Erwähnung in einer Fußnote der Einleitung zu seinem Entwurf von „Potenzen“ im Plural spricht (z. B. AA I,8, 351/SW IV, 60) und dass er diese Pluralform nun auch auf die Nummerierung der Potenz anwendet, so dass nun von den „drei ersten Potenzen“ (AA I,8, 362/SW IV, 73) oder den „zweiten Potenzen“ (AA I,8, 342/SW IV, 51) in der Mehrzahl die Rede sein kann.

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Kap. 3: Potenzen in den Komplementärwissenschaften von 1800

2. Systematischer Kontext Erst im zweiten Teil der Allgemeinen Deduktion, beginnend mit den Erörterungen des § 34, fängt Schelling an, den Potenzbegriff in seine systematischen Untersuchungen einzubeziehen. Bis dahin wiederholt Schelling lediglich im § 3 seine bereits dargelegte Position zum grundsätzlichen Verhältnis zwischen Organik und Anorganik, wonach „die organische Natur nichts anderes als die in der höheren Potenz sich wiederholende unorganische ist“ (AA I,8, 298/SW IV, 4). Der Kontext der Erörterungen der §§ 34 ff., in denen Schelling extensiv den Potenzbegriff gebraucht, ist das von Kant herrührende und von Eschenmayer aufgenommene Problem, wie sich die beiden angenommenen Grundkräfte der Attraktion und Repulsion so durchdringen können, dass hierdurch Materie entstehe, also das entscheidende Problem der Erzeugung einer sichtbaren Welt aus deren (unsichtbaren) metaphysischen Konstituenten. Hierbei gilt es, so Schelling, diese Kräfte so zu konstruieren, dass sie „als entgegengesetzte in Einer und derselben Anschauung dargestellt werden“ (AA I,8, 323/SW IV, 31) können. Zur Lösung dieses Problems argumentiert Schelling zunächst gegen Kant, der von der Dreidimensionalität jener Kräfte bereits ausgegangen sei, dass repulsive und attraktive Kraft jeweils als zweidimensionale Kräfte verstanden werden müssten, die in gegenläufiger Spiegelung in allen ihren Punkten zur Deckung gebracht werden können: „Allein wenn man sich die Expansivkraft nach allen Richtungen wirkend denkt, so muss gleichwohl die Attraktivkraft […] ihren negativen Einfluss auch nach allen diesen Richtungen erstrecken“ (AA I,8, 306 f./SW IV, 13). 2 Hierfür konstruiert Schelling in einem ersten Schritt in den §§ 17–19 die Dimension der Fläche aus den Dimensionen des Punktes und der Linie, indem er Linien in allen ihren Punkten in beliebigen Winkeln sich schneiden lässt, wodurch so in der Form sich überlagernder, in alle Richtungen ausstrahlender (oder von allen Richtungen in den Punkten aller Linien sich vereinigender) ebener Linienbündel die Fläche dargestellt werden kann. 3

2 Dieses Argument lässt sich als eine indirekte Auseinandersetzung mit Eschenmayer verstehen, den Schelling hier jedoch nicht nennt. Eschenmayer hatte die Thesen aufgestellt, dass die attraktive Kraft, da sie alles auf einen Punkt zurückziehe, in der Dimension des Punktes, nicht der Linie oder Fläche dargestellt werden müsse. Eschenmayer nannte entsprechend „die Repulsionskraft eine Flächenkraft, die attraktive hingegen eine durchdringende Kraft“ (1797, 14) und führte aus, „dass die erstere drei Dimensionen wirke, die Andere aber nur in einer Dimension“ (1797, 14 f.). 3 Vgl. hierzu Leibniz’ Punkt-Monaden und die hierzu gehörenden mathematischen Schnittpunkt-Erwägungen bei Leibniz; hierzu z. B. die Rekonstruktion bei Busche 2009, 13– 19.

I. Die Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses

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Der nächste konstruktive Schritt von hieraus besteht in der Frage, wie es von den ebenen Linienbündeln der Kräfte zu der Dimension des Raumes komme. Nun stellt sich das Problem in der Form, dass beide Kräfte einerseits strukturell gleich sein müssen, da sie sonst nicht an allen Raumpunkten zur Deckung gebracht werden könnten, aber auch nicht völlig gleichartig sein dürfen, da sie sich sonst durchgängig neutralisieren würden. Das heißt, das schon in den früheren naturphilosophischen Schriften dargelegte Prinzip, dass Materie in Hemmungspunkten der Wechseldurchdringung der metaphysischen Grundkräfte der Produktivität entsteht, wird nun auf der grundlegenderen Ebene der Erzeugung des Raumes als das Problem diskutiert, wie diese Wechseldurchdringung an ebenen Kräftebündeln so sich vollziehen kann, dass – ohne in die drohende wechselseitige Neutralisierung jener Kräfte zu geraten – die Dreidimensionalität erzeugt werden kann, die dann die Materie auszeichnet. Ein Lösungsgedanken hinsichtlich des Teil-Problems einer drohenden Neutralisierung der Kräfte besteht darin, dass die Kräfte zwar geometrisch gleich seien, aber es einen wichtigen strukturellen Unterschied in der „entgegengesetzten Wirkungsweise beider“ (AA I,8, 324/SW IV, 32) gebe: die Repulsivkraft sei ein Kontinuum, die attraktive hingegen wirke nur in die Ferne. Hierdurch könne konstruiert werden, wie Materie an diskreten Stellen, nämlich dort, wo die Fernwirkung der Anziehungskraft auf das Kontinuum der Abstoßungskraft trifft, den Raum erfülle (vgl. AA I,8, 320/SW IV, 27) 4. Schelling formuliert die Problemkonstellation, in deren Lösung dann der Gedanken einer Potenzierung eingeht, folgendermaßen: Es ist nicht bloß eine Konkurrenz der beiden Kräfte, der anziehenden und zurückstoßenden überhaupt, sondern es ist ein bestimmtes Verhältnis beider zueinander in Bezug auf den Raum, was die Materie möglich macht (AA I,8, 319/SW IV, 26).

Die Lösungsstrategie hierfür ist doppelt. Einerseits geht es darum, die Dreidimensionalität aus der Flächigkeit jener Kräfte zu erläutern, andererseits im Zusammenhang hiermit die Materialität, d. h. die bestimmte je diskrete Erfüllung von Raumpunkten nach bestimmten Graten der Anschaulichkeit zu erklären. Für den ersten Teil der Aufgabe, die Raumerzeugung, greift Schelling auf das Modell einer zweiten Potenz zurück; für den zweiten Teil, die Erzeugung der Materie, wird er sich des neuen Ausdrucks der ‚Potenzierung‘ bedienen.

3. Erste und zweite Potenz Für das Problem der Raumentstehung formuliert Schelling zunächst allerdings noch eine weitere Voraussetzung, die darin besteht, dass beide Kräfte „zugleich dynamisch getrennt und für die Anschauung als identisch gesetzt sein“ (AA I,8, 4

Vgl. hierzu auch AA I,9,1,139 f./SW III 443 f.

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Kap. 3: Potenzen in den Komplementärwissenschaften von 1800

323/SW IV, 30) müssen. Diese Identität der Anschaulichkeit bei wechselseitiger Trennung kommt für Schelling in der wechselseitigen Durchdringung der Kräfteflächen zum Tragen, wodurch, wie dies schon in der antiken Mathematik gesehen wurde, der dreidimensionale Raum entsteht; hierbei greift Schelling auf den Ausdruck einer ‚zweiten Potenz‘ zurück. Schelling formuliert den letzten Schritt der Lösung des Problems der Raumerzeugung folgendermaßen: da […] jede dieser Kräfte für sich die Fläche hervorbringt, so wird das Gemeinschaftliche (welches […] als […] ein wirkliches Durchdringen oder Multiplizieren der Produkte durch einander entstehend gedacht werden muss), die zweite Potenz der Fläche oder der Kubus sein müssen. (AA I,8, 324/SW IV, 31)

Hierbei soll der Gedanke einer synthetischen Verbindung der Vielheit des Raumes (in der Mannigfaltigkeit der Raumpunkte) in der Einheit seiner Anschaulichkeit gewahrt sein. In Hinsicht auf die Frage nach der Bedeutung und Systematik der Potenzen in der Allgemeinen Deduktion ist an dieser Stelle festzuhalten, dass Schelling auch hier nicht Potenz im arithmetischen Sinn meint und mit ‚zweiter Potenz‘ nicht das Produkt eines Faktors mit sich selbst bezeichnet wird, sondern der damit verbundene allgemeinere Gedanke einer Vervielfältigung einerseits und einer Steigerung und Dimensionenfolge andererseits gemeint ist. Denn im mathematischen Sinn einer Dimensionenfolge von Punkt zu Linie, Fläche und Würfel, wie sie bereits antik diskutiert wurde, wird die Fläche durch das Quadrat (a2) und der Raum durch den Würfel (a3) dargestellt. 5 Offensichtlich spielt Schelling hierauf an, wenn er den dreidimensionalen Raum an dieser Stelle als ‚Kubus‘ bezeichnet. Es ist aber im arithmetischen Sinn der mathematischen Potenzentheorie nicht der Kubus die zweite Potenz der Fläche, da (a2)2 = a4 ergäbe. Daraus wird erneut ersichtlich, dass Schelling nicht im Sinn der Arithmetik von Potenzen spricht, sondern damit die je nächst höhere Stufe einer Stufenfolge in Relation zur vorherigen meint, so dass in diesem Sprachgebrauch auch gälte, dass z. B. eine siebte Potenz die zweite Potenz einer sechsten wäre. Dies zeigt, dass Schelling auch dort, wo er den Potenzbegriff auf die Diskussion mathematischer (geometrischer) Verhältnisse bezieht, er dieses nicht von der Mathematik her entwickelt, sondern einen bereits etablierten eigenen, höchstens an die Mathematik angelehnten, Begriff lediglich auf die Mathematik bezieht. An die Mathematik angelehnt ist der Begriff hier deshalb, weil er wie in der Mathematik das Resultat einer Selbstanwendung von Prinzipien beschreibt, dass in diskreten Steigerungsstufen resultiert. Doch sind diese bei Schelling qualitativer, nicht quantitativer Art wie in der Mathematik. 6 5 6

Vgl. hierzu Gerlach 2008. Vgl. Gloy 2012, 95 f.

I. Die Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses

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Die Funktion einer höheren (zweiten) Potenz im Kontext der Raumerzeugung fügt sich allerdings nahtlos in das antike Konzept einer Dimensionenfolge vom Punkt zum Raum und einer Erzeugung des Raumes aus der Fläche durch Erhöhung der Dimensionalität. Darin bestätigt sich umgekehrt die hier bereits dargelegte Zentralbedeutung von ‚Potenz‘ um 1799/1800, nämlich die höhere Stufe eines Strukturgleichen oder Gleichartigen zu bedeuten. So bleibt gültig, dass ‚Potenz‘ um 1800 im Kern ein Relationsbegriff zwischen zwei Steigerungsgliedern ist, die Schelling mit ‚erster‘ und ‚zweiter‘ Potenz benennt. Schellings Gebrauch des Ausdrucks einer ‚höheren‘ oder ‚zweiten Potenz‘ an dieser Stelle, an der er zur Lösung des zuvor komplex aufgebauten Problems des Raumes übergeht, zeigt jedoch, dass sich aus seiner Sicht die Semantik und Funktionalität des Gedankens einer zweiten oder höheren Potenz bereits derart gefestigt hat, dass er diese Figur unmittelbar in die zentrale Lösung eines komplexen Problems einfügen kann.

4. Potenzieren Mit der substantivierten Verbform des ‚Potenzierens‘ führt Schelling in den Schriften von 1800 eine terminologische Neuerung ein, insofern in den Schriften von 1799 lediglich von ‚Potenz‘ in einem nominativen Sinn die Rede war. Dabei fällt auf, dass Schelling diese sprachliche Neuerung in den parallel entstandenen Texten der Allgemeinen Deduktion und des Systems des transzendentalen Idealismus mit deutlich unterschiedlicher Häufigkeit gebraucht. So findet der Ausdruck des ‚Potenzierens‘ im System gerade einmal elf Verwendungen, während Schelling im viel kürzeren Text der Allgemeinen Deduktion diesen Ausdruck fast 50-mal gebraucht. Die systematische Bedeutung dieses aktivischen Ausdrucks steht gleichfalls im Zusammenhang mit der gezeichneten Problemlage der Konstruktion von Raum und Materie, die in den §§ 34 ff. allmählich ihrer schrittweisen Lösung zugeführt wird und findet besonders beim zweiten Teil der Aufgabe, der Konstruktion der Materie, Anwendung. Allerdings ist es ein zusätzlicher systematischer Zusammenhang, der hier den Kontext bildet: Schelling versucht nicht nur die Dimensionalität des Raumes aus den dualen Flächenkräften der Produktivität zu erzeugen. Sondern er versucht zugleich zu zeigen, dass die drei-gliedrige Folge der Kategorien der Physik gleichfalls der Dimensionalität der Raumes und der Materie nicht nur äußerlich entspricht, sondern dass beide notwendig und synthetisch miteinander in den Gegenständen der sichtbaren Welt verbunden sind. Demnach versucht Schelling die Aufgabe der Konstruktion der Materie auch im Zusammenhang mit der Konstruktion der Kategorien der Materie so zu lösen, dass die Entwicklung der drei räumlichen Dimensionen den drei Kategorien der (anorganischen Materie) entsprechen soll. Hierbei hatte Schelling in den vorangegangenen Paragrafen bereits dargelegt, dass einerseits „die

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Länge in der Natur nur unter der Form des Magnetismus existieren kann“ (AA I,8, 304/SW IV, 10), bzw. „der Magnetismus nur in der Dimension der Länge wirkt“ (AA I,8, 309/SW IV, 15), andererseits „die Elektrizität […] in Länge und Breite wirke“ (AA I,8, 311/SW IV, 18). Daher gilt es nun, die Konstruktion des Raumes gemäß der klassischen mathematischen Dimensionenfolge vom Punkt zur Linie, Fläche und Raum mit der Aufgabe zu verbinden, zu zeigen, dass der chemische Prozess, den Schelling schon in der Einleitung zu seinem Entwurf als dritte Kategorie der Materie bestimmt hatte, notwendigerweise der räumlichen Dimensionalität entspreche. Denn „der magnetische und elektrische Prozess unterscheidet sich vom chemischen bloß dadurch, dass jener den Körper nur in der Länge, dieser nur in Länge und Breite, der letzte dagegen in allen Dimensionen affiziert“ (AA I,8, 337/SW IV 45). Auch diese Deduktion führt Schelling aus dem Verhältnis von Attraktivkraft und Repulsivkraft. Dabei greift Schelling im dritten Schritt der Konstruktion darauf zurück, dass bereits feststehe, dass „jede dieser Kräfte für sich die Fläche hervorbringen“ (AA I,8, 323/SW IV, 31) könne. Von hier aus ist es dann ein bloß vollendender Schritt, zu zeigen, dass die wechselseitige Durchdringung dieser Flächen der Raum (als zweite Potenz der Fläche) sein müsse. Eben diesen Vorgang der Raumkonstruktion benennt Schelling nun mit dem neuen Terminus des ‚Potenzierens‘. Er ist eine „wechselseitige[.] Potenzierung der beiderseitigen Produktionen durch einander“ (AA I,8, 324/SW IV, 31). In einem weiteren Schritt überträgt er dieses Verfahren vom Raum zur Materie als dem anschauungserfüllten Raum. Daher kann er es in Entsprechung zur Deduktion des Raumes als erwiesen ansehen, dass der Satz: „die Materie entsteht durch ein wechselseitiges Potenzieren der repulsiven und attraktiven Fläche durch einander“ (AA I,8, 326/SW IV, 33) gelte. Erläuternd fügt Schelling hier hinzu, dass „diese Potenzierung [eine] Vereinigung beider Kräfte zu einem gemeinschaftlichen Produkt“ (ebd.) bedeute. Hierdurch wird offensichtlich, dass Schelling hier, an der ersten Stelle des Gebrauchs der aktiven Form des ‚Potenzierens‘/der ‚Potenzierung‘, die Erhebung in eine höhere Dimensionenstufe meint, wie dies klassisch dem dreidimensionalen Raum gegenüber der zweidimensionalen Fläche in der euklidischen Geometrie entspricht. Hierdurch wird auch der naheliegende Zusammenhang zwischen den Ausdrücken des ‚Potenzierens‘/der ‚Potenzierung‘ und dem der ‚zweiten Potenz‘ sichtbar. Potenzieren heißt nichts anderes, als etwas von einer Grundstufe (die Schelling ‚einfache‘ oder ‚erste Potenz‘ nennt) in die nächsthöhere Stufe, die Schelling ‚zweite Potenz‘ nennt, zu erheben. D. h., ‚Potenzieren‘ bedeutet für Schelling in der Allgemeinen Deduktion (noch) nicht, dass etwas innerhalb einer offenen Stufenfolge beliebig gesteigert werden könnte oder dass viele Stufen auf einer Skala zugleich übersprungen werden könnten. Sondern es bleibt im Kern der Relationsbegriff zwischen zwei direkt aufeinander bezogenen Stu-

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fen im Gedanken der konkreten Erzeugung der je höheren aus der je basaleren im Ausdruck der ‚Potenzierung‘ erhalten. Ein zweiter bemerkenswerter Aspekt hierbei ist, dass diese Erhebung an dieser Stelle als eine Selbsterhebung der sich wechselseitig durchdringenden Flächen geschildert wird, so dass das aktive Potenzieren an dieser Stelle keinen Vorgang beschreibt, der von außen an bestehenden Elementen durchgeführt würde, sondern einen, welchen diese Elemente gleichsam an sich selbst durchführen. Potenzierung ist hier ein autonomer Vorgang. Noch nicht deutlich geworden mit dem Wortlaut dieser ersten Passage ist, ob jene ‚Potenzierung‘ genannte Selbstersteigerung der Seite der Natur als Produktivität oder der Natur als Produkt zugerechnet werden muss, da es sich hier gerade um die Konstruktion des anschaulichen Raumes und der anschaulichen Materie aus den unanschaulichen metaphysischen Grundmomenten der Attraktion und Repulsion handelt; die angeführte Formulierung einer „wechselseitigen Potenzierung der beiderseitigen Produktionen“ (AA I,8, 324/SW IV, 31, Herv. Vf.) schafft hierin keine Klarheit, da der Ausdruck der ‚Produktionen‘ sowohl im Sinne des Produzierens als auch im Sinne der hierdurch produzierten Produkte verstanden werden kann. Aus der Sachfrage der Erzeugung der Materie aus den metaphysischen Grundkräften der Produktivität heraus wird allerdings klar, dass jene Potenzierung hier weder bloß den Bereich der einen noch den der anderen Seite trifft, sondern dass damit genau der Übergang von der natura naturans zur natura naturata gemeint ist. Dies wird besonders an der bereits zitierten Stelle deutlich, wonach „jene Potenzierung [die] Vereinigung beider Kräfte zu einem gemeinschaftlichen Produkt“ (AA I,8, 326/SW IV, 33) ist. 7 Damit erhält der Vorgang der Potenzierung allerdings eine herausragende systematische Stellung. Meint dies doch hier den Übertritt in die erscheinende Welt als den gleichsam systematischen Mehrwert, der durch die Zusammenführung zweier Kräfte über deren bloße Addition hinaus in einem emergenten Sinn entsteht. Damit markiert die ‚Potenzierung‘ genannte Wechseldurchdringung metaphysischer Grundkräfte in dieser fundamentalen Konstellation nichts weniger als den Punkt der Wirklichwerdung der Welt. 7

Immerhin dürfte klar geworden sein, dass der Ausdruck des ‚Produkts‘ kein mathematischer ist und weder das Ergebnis einer einfachen Multiplikation noch – wie es im Erörterungskontext eines Ergebnisses der Zusammenführung von Kräften durchaus naheliegend wäre – ein Vektorprodukt meint. Denn in der mathematischen Physik wird seit Newton die resultierende Kraft zweier an einem Punkt angreifenden Kräfte über deren Winkel und Stärke als Kräfteparallelogramm dargestellt und arithmetisch mittels eines sogenannten Vektorprodukts berechnet. Obwohl es im gegebenen Kontext um das gemeinsame Wirken zweier Kräfte geht und Schelling dessen Ergebnis als „Produkt“ bezeichnet, ist hierbei jedoch nicht an ein Vektorprodukt zu denken. Offensichtlich kannte Schelling die Vektorrechnung überhaupt nicht; jedenfalls findet sich der Begriff eines „Vektors“ kein einziges Mal in den Sämmtlichen Werken.

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Kap. 3: Potenzen in den Komplementärwissenschaften von 1800

Ein zweiter wichtiger Bereich, in dem Schelling zentral die Funktion des Potenzierens gebraucht, und der daher die Systematik und Semantik dieses Ausdrucks zu Beginn seiner Einführung um 1800 erläutert, ist die Diskussion der Stellung der Gravitationskraft, insbesondere in Abgrenzung von der Attraktionskraft in den §§ 39–42 der Allgemeinen Deduktion. Dort stellt Schelling zunächst in Übereinstimmung mit Newton fest, dass die Schwerkraft zwar hinsichtlich der Phänomene, insbesondere der proportionalen Anziehung der Massen, „das ursprünglichste Phänomen sei“ (AA I,8, 330/ SW IV, 38), ergänzt dann jedoch gegen Newton, dass sie ihrerseits bloß als ein abgeleitetes Phänomen zu betrachten sei, „wodurch jene konstruierende Kraft sich kund gibt“ (ebd.). Deswegen sei „eine völlige Gleichsetzung der Schwerkraft mit der Attraktivkraft“ (ebd.), wie sie Newton vollzogen habe, als eine „ganz empirische[.] Ansicht“ (AA I,8, 331/SW IV, 39), der die ganze Dimension der spekulativen Physik mangle, zurückzuweisen. Denn bei einer Gleichsetzung von Gravitation und produktiver Attraktivkraft lasse sich die Frage nach deren Rollen bei der Konstitution der Materie nicht mehr sinnvoll formulieren. 8 Demnach sei das Verhältnis klar, dass die Attraktivkraft als eine „höhere dynamische Kraft“ (AA I,7, 271/SW III, 268) unabhängig von der Schwerkraft sein müsse, während umgekehrt die Attraktivkraft „die Schwere möglich mach[e]“ (AA I,8, 330/SW IV, 38), welche daher im Gegensatz zur Attraktivkraft ein abgeleitetes Phänomen sei. Auch die Schwerkraft entsteht für Schelling durch eine synthetische Vereinigung der Attraktiv- und der Repulsivkraft. Sie gehört so als ‚ursprüngliches Phänomen‘, das einerseits die Kategorien des Wirklichen (Magnetismus, Elektrizität und chemischer Prozess) unterläuft, andererseits als zusammengesetzte Kraft mit der Attraktiv- und Repulsivkraft nicht gleichursprünglich ist, zur Seite der höheren, aber noch nicht zur Seite der geschaffenen, sichtbaren Natur. Dies wird im § 41 der Allgemeinen Deduktion deutlich, in welchem Schelling das Verhältnis von natura naturans und natura naturata als das Verhältnis von Prozessen zweier Ordnungen auffasst, bei welchem gilt, dass die Prozesse der sichtbaren Natur in dem Sinne Prozesse zweiter Ordnung sind, als sie die ursprünglichen (metaphysischen Prozesse) der ersten Ordnung in der sichtbaren Welt wiederholen: 8 Der systematische Hauptunterschied beider Kräfte liegt für Schelling abgesehen von ihrem unterschiedlichen metaphysischen Status darin, dass die Gravitationskraft transitiv ist, insofern ein Körper auf einen anderen wirkt, die Attraktivkraft hingegen nicht, da sie überhaupt nicht auf etwas hinaus wirkt, sondern die strenge und umfassende Tendenz bezeichnet, alles auf einen Punkt zusammenzuziehen – d. h. es gibt keine gerichteten Kraftpfeile, die von ihr ausgehen, sondern alle solchen Pfeile würden bei ihr enden. Vgl. hierzu in Auseinandersetzung mit Kant Schellings Eintragungen ins Handexemplar zum Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, AA I,7, 309/SW III, 103 Anm., und entsprechend im Haupttext AA I,7, 140–144/SW III, 99–104.

I. Die Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses

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Nämlich nicht jene ersten Prozesse, sondern nur ihre Wiederholungen in der ihr Produzieren reproduzierenden Natur lassen sich in der Wirklichkeit aufzeigen. Die sichtbare Natur setzt jene Prozesse der ersten Ordnung schon voraus, und muss sie durchlaufen haben, um sich als Produkt darzustellen. (AA I,8, 335/SW IV, 43)

Die Prozesse der ersten Ordnung sind die drei dynamischen Konstruktionsmomente des Raums, der Materie und der Schwerkraft, die „nicht selbst in der wirklichen Natur“ (AA I,8, 335/SW IV, 43) existieren. Insofern Schelling hier als drittes Moment dieser ersten Ordnung die Schwerkraft benennt, weist er ihr über ihre semiphänomenale Natur eine Übergangsfunktion von der höheren in die wirkliche Welt zu: es ist der einzige Prozess der Schwere, der von denjenigen, die ich Prozesse der ersten Ordnung nenne, durch sein Phänomen sich bin in die Sphäre der Erfahrung hinein erstreckt; mit demselben ist aber auch die Reihe geschlossen und es beginnt eine neue Stufenfolge von Prozessen, die ich Prozesse der zweiten Ordnung nenne. (AA I,8, 335/SW IV, 43)

Dies bedeutet, dass Schelling auch die Schwerkraft (bei der „sein Phänomen sich bis in die Sphäre der Erfahrung hinein erstreckt“) an jener Übergangsstelle von der ersten Ordnung (der produktiven Natur) zur Erscheinungswelt der Naturprodukte platziert, die für den Ausdruck des ‚Potenzierens‘ bereits in Hinsicht auf die generelle Konstruktion des Raumes und der Materie einschlägig war. Entsprechend ist eben diese Übergangsfunktion nun die Hinsicht, unter der Schelling den Ausdruck des ‚Potenzierens‘ auch im Zusammenhang mit der metaphysischen Deduktion der Gravitation situiert. Denn als eine Antwort auf die Frage, wie denn die Schwerkraft von der Attraktivkraft abhängig sei, bzw. wie diese jene erzeuge, so dass die Attraktivkraft nicht nur streng intransitiv sich verhalte, sondern zudem auch noch in der Schwerkraft auf Körper wirken könne, gibt Schelling die Erklärung, dass dies „nur durch ihre Aufnahme in eine sie selbst potenzierende Kraft“ (AA I,8, 331/SW IV, 39), nämlich die Schwerkraft, verständlich werden könne. Diese Formulierung lässt sich so verstehen, dass die Attraktivkraft in dem Sinne in die Schwerkraft eingeht, als die Schwerkraft einer Selbstpotenzierung der Attraktivkraft entspringt – ebenso wie der Raum einer Selbstpotenzierung der ‚Flächenkräfte‘ entsprang. Entsprechend nennt Schelling die Schwerkraft auch das „dritte[.] Moment der ersten Ordnung“ (AA I,8, 336/SW IV, 45), das durch eine „wechselseitige Durchdringung der Kräfte“ (AA I,8, 337/SW IV, 45) zustande kommt. Hierdurch lässt sich nun für die Frage nach dem systematischen Anwendungsfeld des Begriffs eines ‚Potenzierens‘ festhalten, dass Schelling diesen innerhalb des Bereichs der Produktivität oder zumindest an einer Übergangsstelle von der Natur als Subjekt zur objektiven Natur situiert, ohne dass allerdings eindeutig würde, ob in dem ‚Potenzieren‘ genau der Überstieg von einem zum anderen enthalten ist, da ja die Schwerkraft, wie gesehen, nur bis an die Phänomene heranreicht, nicht aber selbst schon im Vollsinne phänomenal ist.

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Kap. 3: Potenzen in den Komplementärwissenschaften von 1800

Dass Schelling in der Allgemeinen Deduktion den Potenzbegriff in der Hauptsache zur Charakterisierung des Innenverhältnisses der natura naturans und ihres Verhältnisses zur natura naturata, d. h., des Verhältnisses von höherer zu empirischer Physik gebraucht, wird auch darin deutlich, dass er im Anschluss an das nachgezeichnete Verhältnis zweier Ordnungsreihen, bei welcher die Ordnung der Wirklichkeit das ursprüngliche Produzieren reproduziert, von einer „in der zweiten Potenz produktive[n] Natur […] vor unseren Augen“ (AA I,8, 335/SW IV, 43) spricht. Eben dies entspricht auch der Aufgabe und dem Grundlegungscharakter der Allgemeinen Deduktion. Hierdurch wird zudem ersichtlich, dass Schelling auch in der Allgemeinen Deduktion mit dem Potenz-Verhältnis kein systematisch festgelegtes – bestimmtes und einmaliges – Verhältnis meint, sondern dass sich dieses auch hier variabel auf verschiedene Konstellationen dimensionaler Steigerungsverhältnisse anwenden lässt. So ist bereits das Verhältnis der Attraktiv- zur Schwerkraft nicht dasselbe wie das Verhältnis der Momente des Produzierens erster und zweiter Ordnung, noch weniger natürlich wie das innerweltliche Verhältnis der Momente des Anorganischen und Organischen, welche letztere Schelling ja als je die zweiten Potenzen der leblosen Materie bezeichnete. Für die Steigerung innerhalb der phänomenalen Welt bleibt der entscheidende Punkt hierbei, dass es Prozesse verschiedener Ordnungsstufen gibt, und dass die Prozesse der höheren Ordnung diejenigen der niedereren Ordnung reproduzieren. Daher kann Schelling an der angeführten Stelle die „ihr Produzieren reproduzierende[.] Natur […] die in der zweiten Potenz produktive Natur“ (AA I,8, 335/SW IV, 43) nennen. Diese systematische Variabilität in der Anwendung des Potenzbegriffs in der Allgemeinen Deduktion lässt sich an weiteren Beispielen demonstrieren: So nennt Schelling einerseits das absolute Gewicht die „absolute Schwere der zweiten Potenz“ (AA I,8, 336/SW IV, 45), andererseits entsprechend der Ordnung der Prozessreihen „die konstruierende Kraft des chemischen Prozesses […] die Schwerkraft der zweiten Potenz“ (AA I,8, 337/SW IV, 45). Im anschließenden Satz gebraucht Schelling erstmals die adjektivische Formulierung ‚potenziert‘ und spricht statt der ‚Schwerkraft der zweiten Potenz‘ bedeutungsgleich von der „potenzierte[n] Schwerkraft“ (ebd.), was erneut bestätigt, dass Schelling den Ausdruck des ‚Potenzierens‘ ohne weitere Bedeutungsvarianz als die Erhebung in die zweite Potenz aus der Perspektive des Grundverhältnisses, d. h. der ersten Potenz, meint. Potenzierte Schwerkraft und ‚Schwerkraft der zweiten Potenz‘ – oder „in der zweiten Potenz“ (ebd., Herv. Vf.) bedeuten dasselbe, sofern unter ‚zweiter Potenz‘ die je nächsthöhere Dimension verstanden wird. Entscheidend hierbei ist, dass beim Vorgang der Potenzierung, d. h. der Erhebung in eine höhere Organisationsstufe, der jeweilige dynamische Prozess im Kern nicht verändert wird, sondern dass sich der je selbe durch die Potenzierung in einer höheren Stufe wiederfindet: „die Tätigkeit, welche […] in der

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reproduzierenden (von vorn konstruierenden) Natur sich äußert, [muss] der der produzierenden im Prinzip gleich sein, dann sie unterscheidet sich von ihr nicht der Art, sondern der Potenz nach“ (AA I,8, 336/SW IV, 45). Daher kann Schelling den chemischen Prozess, als die dritte Kategorie des Wirklichen auch die potenzierte Schwerkraft nennen, welche ihrerseits als Synthese von Attraktionskraft und Repulsivkraft die dritte Stelle in der Reihe der ursprünglichen Kräfte einnimmt. Eine weiterer wichtiger systematischer Aspekt ist hierbei bereits angesprochen: dass Schelling den Vorgang der Potenzierung oder der Etablierung einer zweiten Potenz von Etwas in reflexiven Formulierungen zu fassen versucht. So hatte er die prozessuale Ordnung der zweiten Potenz als ein ‚reproduzierendes Produzieren‘ bezeichnet, bei welchem dieselben Prozesse auf der Basis einer bereits vollzogenen dynamischen Erzeugung ein zweites Mal wiederholt werden. Darin ist das Grundverhältnis der Naturphilosophie ausgesprochen, nach welchem die konstitutiven dynamischen Prozesse der unsichtbaren Natur in ihrer dimensionalen Steigerung phänomenalen Charakter erhalten und die sichtbare Welt bilden, in welcher so, wie Schelling formuliert, jene ursprünglichen Konstruktionen sich ‚darstellen‘ (vgl. AA I,8, 337/SW IV, 45). In einer Parallelformulierung nennt Schelling diese Form einer selbstbezüglichen Wiederholung auch eine „konstruierende Tätigkeit der zweiten Potenz, [die] ein Konstruieren des Konstruierens sein soll“ (AA I,8, 337/SW IV, 45). 9 Diese Formulierung ist allerdings deswegen bemerkenswert, weil Schelling den Ausdruck des ‚Konstruierens‘ nicht lediglich für die ‚Tätigkeiten‘ der dynamischen Prozesse der unsichtbaren Natur, sondern auch für die diese rekonstruierende und darstellende Tätigkeit des Philosophen gebraucht. Der programmatische Auftakt der Allgemeinen Deduktion lautete entsprechend: „die einzige Aufgabe der Naturwissenschaft ist: die Materie zu konstruieren“ (AA I,8, 297/SW IV, 3). Allerdings bleibt der Ausdruck schillernd, da durch ihn einerseits das „Selbstkonstruieren der Materie“ (AA I,8, 298/SW IV, 4), andererseits deren Rekonstruktion durch die Philosophie – „unsere[.] Konstruktion“ (AA I,8, 341/SW IV, 50, Herv. Vf.) – bezeichnet ist. Ganz deutlich wird dies in den ersten Paragrafen zur Einleitung zu seinem Entwurf, wo er einerseits die Tätigkeit des Naturphilosophen dadurch beschreibt, dass dieser „in die innere Konstruktion der Natur zu blicken“ (AA I,8, 33/SW III, 276) trachtet, andererseits aber den Vorgang der Naturphilosophie so beschreibt, dass in der „Ableitung aller Naturerscheinungen […] aus einer absoluten Voraussetzung […] sich unser Wissen in eine Konstruktion der Natur selbst, d. h. in eine Wissenschaft der Natur a priori“ (AA I,8, 35/SW III, 278) verwandelt. Dieser Doppel9 Vgl. AA I,8, 338/SW IV, 47, wo er noch im selben Paragrafen das Licht, das er zuvor als eine Tätigkeit des ‚Konstruierens des Konstruierens‘ bezeichnet hatte, nun „das Reproduzieren des Produzierens selbst“ nennt.

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Kap. 3: Potenzen in den Komplementärwissenschaften von 1800

sinn ist auch unmittelbar verständlich, insofern eine Wissenschaft von der Natur nur bedeuten kann, dass in ihr die Momente des Erkennens mit ihrem Gegenstand zur Deckung kommen, d. h., dass ihre Rekonstruktion der Naturprinzipien mit deren Selbstkonstruktion identisch werden soll. Dieser Bedeutungsaspekt einer zweiten Potenz der Konstruktion in Hinsicht auf die Tätigkeit des Philosophen weist bereits auf das Feld der Transzendentalphilosophie vor, bei welcher in der expliziten Selbsterforschung des Geistes gleichfalls methodisch die rekonstruktiven Konstruktionen des Transzendentalphilosophen die unbewusste Selbstkonstitution des Geistes in ihren impliziten Steigerungsformen nachzuvollziehen versuchen. Ein letzter wichtiger Aspekt im Gebrauch der Form des ‚Potenzierens‘ innerhalb der Allgemeinen Deduktion besteht in der Untersuchung der besonderen Funktion des Lichtes, durch welche Schelling anhand des Verhältnisses von Schwerkraft und chemischem Prozess (als potenzierter Schwerkraft) zu erklären versucht, was eine solche Potenzierung bewirken kann. Entscheidend ist hierbei, dass Schelling das Licht in diesem Zusammenhang als eine Kraft versteht, die diese Potenzierung zustande bringt: „das Licht oder die Lichtkraft [ist] die konstruierende Kraft der zweiten Potenz“ (AA I,8, 339/SW IV, 47), d. h. des chemischen Prozesses. Er versteht das Licht hierbei als „zureichende und allgemeine Ursache“ einer „fortwährenden Potenzierung“ (AA I,8, 342/SW IV, 51) – kurz: als „potenzierende Ursache“ (AA I,8, 343/SW IV, 52) –, bei welcher für Schelling zunächst offen bleiben kann, wie (unmittelbar oder indirekt) das Licht diese Funktion zustande bringen kann. Entscheidend ist, dass Schelling hier den abstrakten Vorgang einer Potenzierung mittels eines konkreten Phänomens anschaulich zu machen versucht, dass er von einer Verursachungsbeziehung spricht, bei welcher ein Mittelglied das Steigerungsgeschehen zwischen den beiden Ebenen evoziert und dass er dieses ebenso als eine Kraft auffasst, wie die metaphysischen Grundmomente der Attraktion und Repulsion und deren Entsprechungen in der empirischen Welt. Dabei zeigt diese Erwägung, dass Schelling ‚Potenz‘ und ‚Potenzierung‘ zwar nicht direkt in einem kausalen Sinn gebraucht, nicht als eine Parallelformulierung für Kraft oder Ursache, dass er aber gleichwohl Potenzierungsverhältnisse in einen kausalen Kontext einfügt. Und noch ein wesentlicher Aspekt ist in jener Darlegung der konstruktiven Funktion des Lichts ausgesprochen: Die Potenzierung ist kein einmaliges Geschehen und das Potenzenverhältnis kein diesem folgender statischer Zustand, sondern beides muss als andauernder (‚fortwährender‘) dynamischer Vorgang aufgefasst werden, so wie Schelling bereits das Grundmoment der Schwere als Phänomen „der stets erneuerten Schöpfung“ (AA I,8, 330/ SW IV, 38) bezeichnet hatte. Damit ergibt sich für die Allgemeine Deduktion folgende Systematik der Potenzen: die konstruktiven Grundelemente der unsichtbaren Natur sind Linie, Flä-

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che und Raum, wobei der Raum noch auf dieser Stufe in direkte Verbindung mit Materie und Schwerkraft gebracht wird. Sie sind die Grundmomente der Konstruktion oder ersten Potenzen, wie Schelling sie auch gelegentlich nennt (vgl. AA I,8, 342/SW IV, 50). In der Wirklichkeitsebene sind von diesen „Magnetismus, Elektrizität und chemischer Prozess die zweiten Potenzen“ (AA I,8, 342/SW IV, 51). Als potenzierendes Element zwischen der Materie und dem chemischen Prozess hat Schelling das Licht eingefügt. Die organische Reihe, die kein expliziter Gegenstand der Aufgabe der Allgemeinen Deduktion ist, fügt sich wie in den Schriften von 1799 schon dargelegt, als Reihe darauf noch aufgestufter Potenzen: „Wenn uns die dynamischen Erscheinungen die in der zweiten Potenz produktive Natur darstellen, so erblicken wir sie in der organischen in einer noch höheren Potenz tätig“ (AA I,8, 362/SW IV, 74). Daher verhalten sich Sensibilität, Irritabilität und Bildungstrieb in ihrer Reihenbildung ganz entsprechend so, dass die Folgeglieder die vorhergehenden enthalten: Wie die Fläche die Linie enthält und der Körper Linie und Fläche, so gehen nicht nur der Magnetismus in die Elektrizität und beide in den chemischen Prozess ein, sondern auch in den organischen Produkten sind in der je höheren alle vorhergehenden Dimensionen enthalten (vgl. AA I,8, 362/SW IV, 74). Diese funktionale Abhängigkeit gilt auch in vertikaler Richtung von den je niedrigeren Potenzen zu den je höheren, die dieselben Strukturen in gesteigerter Form reproduzieren. Der Ausdruck einer ‚Funktion‘, den Schelling einst im Handexemplar zum Ersten Entwurf durch ‚Potenz‘ ersetzt hatte, bleibt dabei als Bedeutungsmoment im Begriff der ‚Potenz‘ erhalten. So muss in etwa im Magnetismus, der als die zweite Potenz der Länge bestimmt worden ist, „eine Funktion der Länge“ (AA I,8, 343/SW IV, 51) nachweisbar sein; entsprechendes gilt für die Elektrizität bzw. den chemischen Prozess, deren „Eigenschaften der zweiten Potenz alle Funktionen der Fläche“ (AA I,8, 351/SW IV, 60) bzw. „Funktionen der dritten Dimension“ (AA I,8, 353/SW IV, 62) sein müssen.

II. Das System des transzendentalen Idealismus 1. Die Komplementarität von Natur und Geist in den Schriften von 1800 Im Handexemplar zum Ersten Entwurf von 1799 findet sich bereits eine Bemerkung Schellings, die das Programm einer Parallelität von Natur- und Geistphilosophie in methodischer Hinsicht formuliert: „Der Naturphilosoph behandelt die Natur wie der Transzendentalphilosoph das Ich behandelt“ (AA I,7, 275/ SW III, 12 Anm.). Das Programm eines solchen Parallelismus findet sich dann sowohl im abschließenden § 63 der Allgemeinen Deduktion als auch in der Vorrede des Systems des transzendentalen Idealismus explizit formuliert. So erklärt

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Kap. 3: Potenzen in den Komplementärwissenschaften von 1800

Schelling in der Allgemeinen Deduktion, dass „das Dynamische für die Physik eben das [sei], was das Transzendentale für die Philosophie ist“ (AA, I,8, 364/ SW IV, 75). Entsprechend legt Schelling in der Vorrede zum System des transzendentalen Idealismus dar, dass die eigentliche Motivation zu diesem Werk darin bestanden habe, den „Parallelismus der Natur mit dem Intelligenten […] vollständig darzustellen“ (AA I.9,1 25/SW III, 331), wozu es neben der Darstellung der Natur in der Naturphilosophie eben auch der Darstellung des Geistes in der Transzendentalphilosophie bedürfe. Dieser Parallelismus der Methode und Darstellung hatte sein ontologisches Fundament darin, dass Schelling schon mit Beginn seiner Naturphilosophie 1797 von einer „absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns“ (AA I,5, 107/SW II, 56) ausgegangen war; entsprechend spricht er auch im System von einer „Identität des Dynamischen und Transzendentalen“ (AA I,9,1, 148/SW III, 452), obwohl er die systematische Ausarbeitung und Darlegung dieses Gedankens einer Identität erst in der sogenannten Identitätsphilosophie von 1801 an beginnt. So sind es für Schelling insbesondere verschiedene Verfahrensweisen, die die Natur- und Transzendentalphilosophie kennzeichnen: Beide Wissenschaften unterscheiden sich „durch die entgegengesetzten Richtungen ihrer Aufgaben“ (AA I,8, 30/SW III, 272). Dabei ist es, wie es Schelling schon programmatisch in der Einleitung zu seinem Entwurf 1799 formuliert hat, „Aufgabe der Transzendentalphilosophie, das Reelle dem Ideellen unterzuordnen, […] dagegen Aufgabe der Naturphilosophie, das Ideelle aus dem Reellen zu erklären“ (ebd.). Die Naturphilosophie beginnt mit der Produktivität als dem absoluten Sein und konstruiert von hieraus den gesamten gestuften Kosmos der materiellen Welt mit dem selbstbewussten Menschen als ihrem höchsten Punkt; die Transzendentalphilosophie umgekehrt geht vom Ich als Absolutem aus und führt dieses zum Bewusstsein der materiellen Welt im Wissen von der Natur. Hierbei sind es sieben analoge Grundannahmen, die den inneren Zusammenhang dieser beiden Wissenschaften verbürgen: Erstens gehen beide Wissenschaftsverfahren von einem Unbedingten (Absoluten) als einem absolut Einfachen aus, das Grundlage und Erzeugungsmoment des entsprechenden Weltbereichs ist, innerhalb dessen aber nicht ausgewiesen werden kann. Diese metaphysische Konstitutionsebene nennt Schelling bei der Natur die Produktivität der Natur oder die natura naturans als das ontologische Prinzip der erscheinenden Natur als ihrem Produkt – auch natura naturata genannt. In der Transzendentalphilosophie ist es entsprechend das ursprüngliche, nicht-bewusste, absolute Ich, das die ontologische Ermöglichungsbedingung des empirischen Bewusstseins ist. 10 10 Erhellend hierzu Rudolphi 2001, 127–131. Allerdings sieht Rudolphi eine „unbedingte Produktivität“ (129) innerhalb des Konzeptes der Einleitung zu seinen Entwurf gar als gemein-

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Zweitens enthalten diese ein paralleles Erzeugungsmoment der objektiven Natur und des Bewusstseins. Produktivität und Ich enthalten in sich je ein Doppelmoment, eine „Duplizität“ (z. B. AA I,9,1, 63/SW III, 373), aus welchem sich ihre Gegenstandsbereiche entwickeln lassen. Dieses besteht in der Idee, dass das Absolute sich im Fall der Natur in zwei gegenläufige Grundkräfte der Expansion und Kontraktion aufspaltet, deren Analogon im Fall der Transzendentalphilosophie zwei „entgegengesetzte Tätigkeiten sind, deren eine ins Unendliche geht, die andere sich aber in dieser Unendlichkeit anzuschauen strebt“ (AA I,9,1, 122/SW III, 427). Drittens erzeugt diese Rückführung der ursprünglichen Duplizität auf sich selbst die Momente der Objektivität, d. h., hier die Materie als Gegenstand der Natur, dort das Bewusstsein als „Subjekt-Objekt“ (AA I,9,1, 63/SW III, 373), indem jeweils die hinausdrängende Grundkraft durch ihre eigene, zurückdrängende Seite gehemmt wird. Schelling identifiziert die Bewegungen der Grundkräfte der Natur und die fundamentalen Tätigkeiten des Ichs gar, wenn er schreibt: „Das […] Ich ist […] in einen beständigen Zustand der Expansion und Kontraktion versetzt“ (AA I,9,1, 127/SW III, 432). Hierbei entsteht viertens ein spannungsreiches, gestuftes System verschiedener Seinsmomente, insofern die je über die eigenen Hemmungspunkte hinausdrängende Expansivkraft auf höheren Stufen erneut reflexiv auf sich zurückgeführt wird. Diese Parallelität der metaphysischen Grundkonzeption von Natur und Transzendentalphilosophie gilt daher fünftens auch für die kategoriale Erzeugung der Wirklichkeit. So heißt es am Ende der Allgemeinen Deduktion: „Ich habe in meinem [kurz zuvor erschienenen] System des transzendentalen Idealismus gezeigt, dass den drei Momenten in der Konstruktion der Materie […] drei Momente in der Geschichte des Selbstbewusstseins entsprechen“ (AA I,8, 363/SW IV, 76). Entsprechend heißt es im System selbst, dass die drei Akte der Geschichte des Selbstbewusstseins identisch mit den Momenten der Konstruktion der Materie seien (AA I,9,1, 148–149/SW III, 452). Die Konstruktion auf beiden Seiten ergibt dabei sechstens je eine systematisch geordnete, auseinander sich entwickelnde Stufenfolge des Seienden; in der Transzendentalphilosophie eine „Stufenfolge von Anschauungen“ (AA I,9,1, 25/SW III, 331), in der Naturphilosophie entsprechend eine „dynamische Stufenfolge in der Natur“ (AA I,7, 117/SW III, 69). Hier wie dort gilt, dass jene Stufen sowohl im Prinzipat des Ichs bzw. der Produktivität, als auch im Prinzi-

sames Grundprinzip von Natur- und Transzendentalphilosophie und deren Prinzipien einer freien und bewussten Produktivität auf der Seite des Geistes und einer blinden und bewusstlosen Produktivität auf der Seite der Natur. So sehr dies den systematischen Tendenzen auf der Suche nach einem einheitlichen Prinzip bei Schelling auch schon 1799 entspricht, sehe ich für diese Terminologe doch keine Textgrundlage.

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pierten des tatsächlichen Bewusstseins und der gegenständlichen Natur aufzufinden sind. 11 Zuletzt und siebtens ergibt diese Stufenfolge nicht nur auf der Seite der Natur, sondern auch auf der Seite des Geistes das Ganze und sein Verhältnis zu seinen Teilen in der Form eines Organismus; d. h. Schelling konzipiert nicht nur den Bereich des Lebendigen und des Objektiven im Ganzen organisch, sondern er verwendet diese organische Struktur der Natur zugleich als Strukturmodell des Geistes. 12

2. Die systematische Bedeutung von ‚Potenz‘ in der Transzendentalphilosophie Von hier aus stellt sich nun die Frage nach der Anwendung des begrifflichen Tableaus der ‚Potenzen‘ im System von 1800 (und des darauf bezogenen § 63 der Allgemeinen Deduktion) – d. h. nach ihrer systematischen Funktion. Hierbei ist zunächst festzustellen, dass obwohl Schelling von Potenzen wesentlich extensiver im Paralleltext der Allgemeinen Deduktion spricht, er in der Darstellung der Naturphilosophie innerhalb des Systems des transzendentalen Idealismus, d. h. insbesondere im Kapitel über die Konstruktion der Materie (AA I,9,1, 135–150/ SW III, 440–454), der die zentralen Ergebnisse der Allgemeinen Deduktion zusammenfasst, diesen Begriff so gut wie nicht gebraucht. Allerdings erhält der Ausdruck des Superlativs einer ‚höchsten Potenz‘ dort eine wichtige Bedeutung, wo Schelling die Parallelwissenschaften aus der Perspektive der Naturphilosophie erläutert. Denn dort „gibt die Naturphilosophie zugleich eine physikalische Erklärung des Idealismus und beweist, dass er an den Grenzen der Natur gerade so ausbrechen muss, wie wir ihn in der Person des Menschen ausbrechen sehen“ (AA I,8, 364/SW IV, 76). Aus dieser Perspektive erscheint der Geist als nächsthöhere Stufe in der Folge des Anorganischen und Organischen auf der Seite der sichtbaren Welt. Also ist das Bewusstsein aus der Perspektive der Natur „eine bloße Folge des fortgesetzten Potenzierens der Natur“ (ebd.). Daher verwandelt sich, „wenn die ganze Natur sich bis zum Bewusstsein potenzierte“ (AA I,8, 365/SW IV, 77), im „letzte[n] potenzierende[n] Akt“ (ebd.) der Natur die Natur in Bewusstsein, das heißt: „ihre Qualitäten in Empfindungen, ihre Materien in Anschauungen“ (ebd.). Insofern kann Schelling sagen, dass das „Ich, als mit Bewusstsein begabtes“ (AA I,8, 365/SW IV, 76) die Natur, nur eben „schon in der höchsten Potenz“ (ebd.) ist.

11 Zu den Analogien und Disanalogien in Schellings Natur- und Transzendentalphilosophie von 1799/1800 siehe auch Schwenzfeuer 2012, 93–106, der den Aufbau und die Semantik der Grundbegriffe der Naturphilosophie im Wesentlichen als welche versteht, die von der Transzendentalphilosophie abhängig sind und von dieser in jene implementiert wurden. 12 Vgl. hierzu Frank 1991, 101.

II. Das System des transzendentalen Idealismus

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Das heißt, dass mit dem Blick auf die Transzendentalphilosophie aus der Perspektive der Naturphilosophie Schelling den Geist als eine noch höhere Stufe der Naturorganisation ansieht, als ein erneuter emergenter Überstieg (wie von der unsichtbaren Natur zur sichtbaren), bei dem in einem abschließenden Sinn eine letzte organisch-kategoriale Steigerung (= Potenzierung) auf eine neue Ebene vollzogen wird, welche in einer mehrgliedrigen Folge solcher Steigerungen ‚höchste‘ Potenz genannt werden kann. 13 Insofern so skizzenhaft umrissen ist, inwiefern der Geist eine höhere Potenz der Natur in der Perspektive der Natur ist, gilt es nun zu sehen, wie im System des Idealismus die Natur aus der Perspektive des Geistes konstituiert wird und insbesondere, welche Rolle im Selbstaufbau des Geistes dem Potenzbegriff hierbei zukommt. Daher stellt sich zunächst die Frage nach den Grundannahmen des transzendentalphilosophischen Programms von 1800. Das transzendentalphilosophische Kern-Programm im System von 1800 besteht darin, die Konstitutionsstufen des Bewusstseins und seiner objektiven Gehalte als eine transzendentale Vorgeschichte des Selbstbewusstseins zu rekonstruieren. Dass es eine Vorgeschichte des Selbstbewusstseins gebe, beinhaltet die Annahme, dass das Bewusstsein Stufen seiner Konstitution enthält, die ihrerseits nicht bewusst, jedoch transzendentalphilosophisch rekonstruierbar sind. Diese Rekonstruktion führt Schelling durch drei Epochen seiner Geschichte, d. h. durch drei dem natürlichen Bewusstsein verdeckte, aber philosophisch aufweisbare, in sich und in dieser Folge notwendige und je aufeinander aufbauende Stufen seiner Konstitution. 14 Der Erzeugungsgrund dieser Stufen ist jene ursprüngliche und unbewusste Tätigkeit des Ichs, die Schelling in Analogie zur Produktivität der Natur als eine je ins Unendliche hinausdrängende und dabei sich selbst begrenzende Duplizität als ursprüngliches Subjekt-Objekt konzipiert. 15 Wo die gehemmte transitive Tätigkeit zum Stehen kommt, erzeugen sich die jeweiligen Stufen der Objektivität des Ichs in einem Vorgang der Selbstobjektivierung. In diesen Stufen wird dem Ich je etwas anschaulich, bis es zuletzt auf der höchsten Stufe als Selbstbewusstsein sich selbst anschaulich wird.

13 Vgl. hierzu auch Schmied-Kowarzik 1996, 27, der betont, dass der Geist aus der Sicht der Naturphilosophie als ein Teil der wirklichen Natur angesehen und nachgewiesen werden muss. 14 Vgl. zum Aufbau der theoretischen Philosophie im System Schulz 1996, XXXI–XXXVI und Rivera de Rosales/López Domínguez 2005, insbes. 45–52. 15 Während Schelling in der Naturphilosophie von ‚Hemmung‘ spricht, ist es im System von 1800 eine begrenzende Tätigkeit. Den Prototyp hierfür bildet die Anschauung, die sich anschaut, und insofern in der Anschauung ihres Anschauens ihr Anschauen limitiert (hierzu Krings 1985, 124).

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Schelling unterscheidet hierbei vier Akte des Selbstbewusstseins, als dessen implizite transzendentale Momente, welche der Philosoph in seinem rekonstruierenden Verfahren zu explizieren vermag und welche sich dann im empirischen Bewusstsein darstellen: der erste Akt ist der notwendige Ausgangspunkt der Konstruktion, in welchem das Ich zuerst gesetzt und formal als mit sich identisches Subjekt-Objekt-Verhältnis gefasst wird – ohne dass dies für das Ich selbst sichtbar würde. Im zweiten Akt wird Subjekt und Objekt getrennt, so dass die Objektivität im Subjekt als dessen selbsterzeugte Begrenzung fungiert. In diesem Akt der Selbstanschauung wird das Ich in seiner Begrenzung empfindend, ohne diesen Selbstbezug dabei anzuschauen. Dies geschieht erst im dritten Akt, „wodurch das Ich sich als empfindend zum Objekt wird“ (AA I,9,1, 148/SW III 452). Diesen Akt nennt Schelling „produktive Anschauung“ (AA I,9,1, 161/SW III 462). In einem vierten Akt lässt sich in einer höheren Stufe der Selbstreflexion diese produktive Anschauung wiederum selbst zum Gegenstand der Anschauung machen. Sie ist diejenige Anschauung, „vermöge welcher das Ich sich selbst als produktiv anschaut“ (AA I,9,1, 332/SW III, 632). 16 Mit ihr ist das Selbstbewusstsein als „höchste Potenz des Sich-selbstObjektwerdens“ (AA I,9,1, 63/SW III, 373) erreicht. Wie hier schon sichtbar wird, gebraucht Schelling auch in der Transzendentalphilosophie für die Verhältnisse je höherer Stufen zu niedrigeren im Aufbau des Geistes und der geistigen Welt den Ausdruck der höheren und höchsten ‚Potenz‘. Ebenso gebraucht der den Ausdruck des ‚Potenzierens‘ für die Übergänge von der je tieferen Stufen zur nächsthöheren. ‚Potenzieren‘ bedeutet, „das Ich von einer Stufe der Selbstanschauung zur anderen […] zu führen“ (AA I,9,1, 146/SW III, 450). Die dabei sich bildenden bzw. rekonstruktiv sichtbar werdenden Stufen der Anschauung nennt Schelling auch „Potenzen der Anschauung“ (z. B. AA I,9,1, 25, 193/SW III, 332, 496). Dabei setzt dieser Begriffsgebrauch allerdings erst mit der zweiten Stufe der Selbstanschauung, der Empfindung ein, da die erste Stufe, „als ein Akt der Selbstanschauung überhaupt“ (AA I,9,1, 330–331/SW III 631) rein konstruktiv bleibt und innerhalb des Bewusstseins nicht phänomenal nachweislich ist. Diese zweite Stufe der Empfindung ergibt demnach zugleich die basale Stufe für die nachfolgenden Steigerungen: Schelling nennt sie dementsprechend die ‚erste Potenz‘ in Relation auf die produktive Anschauung als der auf sie bezogenen ‚zweiten Potenz‘ (AA I,9,1, 121/ SW III 426). In einer Erläuterung zum Ausdruck der ‚ersten Potenz‘ der Emp16 Es ist eine naheliegende Frage, inwiefern die ‚Produktivität‘ der Natur, die ‚produktive‘ Anschauung, und die ‚Produktivität‘ im Sinne der geistigen Schöpfungskraft zusammenhängen. Bezüglich der letzten beiden konstatiert Krings 1985, 122 f. eine Doppeldeutigkeit im Begriff der Produktivität. Sie bedeute einerseits reine Hervorbringung. Andererseits bedeute sie „jene Form der Hervorbringung, die sich ihrer selbst als Hervorbringung nicht bewusst ist. Sie wird als produktive Anschauung d. h. als eine ihrer selbst nicht bewusste, gleichwohl hervorbringende Anschauung begriffen“ (123).

II. Das System des transzendentalen Idealismus

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findungen fügt Schelling hinzu: „daher die Einfachheit aller Empfindungen, die Unmöglichkeit, sie zu definieren, denn alle Definition ist synthetisch“ (AA I,9,1, 121/SW III 426). In dieser Passage wird erneut deutlich, dass Schelling die Redeweise von erster, zweiter und höherer Potenz als eine gebraucht, die qualitative – und nicht bloß quantitative – Steigerungsstufen meint. Insbesondere geht es beim Verhältnis von erster und zweiter Potenz um den Kontrast des Verhältnisses von strikter Einfachheit zur Komplexität in Fällen, in denen die Komplexität sich funktionell aus diesem Einfachen aufbaut. Erste und zweite Potenz von Etwas zu sein, bedeutet nach dieser Erläuterung demnach, dass dieses Etwas in der ersten Potenz im Zustand bloßer Einfachheit vorliegt, und zwar in diesem Fall einer strikten metaphysischen Einfachheit, die es nicht einmal mehr erlaubt, dieses als Fall von etwas anderem in seiner spezifischen Differenz zu definieren. Die zweite Potenz hingegen meint den selbstbezüglichen Steigerungsfall, bei welchem das ursprünglich Einfache in ein reflexives Selbstverhältnis getreten ist und dadurch eine Seinsweise und Organisationsstruktur von grundsätzlich anderer Art erhalten hat. Die zweite Potenz ist ein aus demselben Einfachen mittels reflexiver Innenverhältnisse aufgebauter höherstufiger Komplex. Produktive Anschauung als die zweite Potenz ist auf diese Weise ein Anschauen des Anschauens, denn es ist ein Anschauen des Empfindens. – Das Empfinden ist selbst schon ein Anschauen, nur ein Anschauen in der ersten Potenz […]. Das jetzt abgeleitete Anschauen ist also ein Anschauen der zweiten Potenz oder, was dasselbe ist, ein produktives Anschauen. (AA I,9,1, 121/SW III, 426)

An dieser Passage lassen sich drei wichtige Momente, die Schelling mit dem Ausdruck des ‚Potenzierens‘ im System von 1800 verbindet, ablesen: Erstens zeigt sich, dass wie in der Naturphilosophie die zweite Potenz eben eine reflexive Steigerung, d. h. ein reflexives Gesteigert-Sein beinhaltet. Als ein ‚Anschauen des Anschauens‘ ist die produktive Anschauung in dem Sinne Anschauung der zweiten Potenz, als ihr angeschautes Objekt seinerseits Anschauung ist. Damit ist nicht nur gesagt, dass es Prozesse verschiedener Ordnungsstufen gibt, und dass die Prozesse der höheren Ordnung diejenigen der niedereren Ordnung reproduzieren. Sondern es ist darin enthalten, dass die höherstufigen Prozesse in ihrer grundsätzlichen Art und Qualität dieselben Prozesse wie die niederstufigen, nur auf einer höheren Komplexitätsstufe, welche die ursprüngliche Stufe beinhaltet, sind. Bewusstsein als Gegenstand der Transzendentalphilosophie besteht so aus einer die je niederen Stufen in die je nächsthöheren integrierende Folge von Anschauungen, die in ihren komplexen Synthesen die je niederen als Gegenstände ihres Anschauens in sich aufnehmen und so höherrangige Stufen des Bewusstseins erzeugen, auf die sich ihrerseits

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noch höhere Stufen beziehen und jene niederen synthetisch in sich aufnehmen können. Dies bestätigt sich darin, wie Schelling von der „höheren Potenz“ (AA I,9.1 128/SW III, 432) spricht, in die das Ich „als das zur Intelligenz erhobene Ich“ (ebd.) gesetzt wird. Denn dieses zeichnet sich im Gegensatz zu seiner einfacheren Form wiederum durch reflexive Steigerung aus – eine qualitative und axiologische Steigerung, die schon in dem Beiwort ‚erhoben‘ enthalten ist: Das Ich als Intelligenz ist dasjenige, das sich seinen inneren selbstkonstituierenden Bezug in reflexiver Anschauung zum Objekt machen kann, im Gegensatz zum vorphilosophischen Ich, das jenen Bezug (zwischen Ich und Gegenstand) zwar austrägt, ihn aber nicht sich gegenständlich machen kann (vgl. AA I,9.1 129 f./ SW III, 434). Hiermit engstens verbunden ist zweitens der in Schellings Philosophie seit spätestens 1798 kontinuierlich enthaltene Organismus-Gedanke, wonach sich die Formen und Grundbestimmungen eines Ganzen und Komplexen in dessen Teilen wiederfinden. Diese Idee hatte wie gesehen Schelling zuerst in der Schrift Von der Weltseele dahingehend systematisch entwickelt, dass nicht nur der Bereich des Lebendigen, sondern die Natur als Ganze als durchgängig organisiert anzusehen ist. 17 Deshalb fand innerhalb der erscheinenden Natur zwar das erste Potenzverhältnis sich zwischen dem anorganischen und dem organischen Bereich. Die Kategorien des Anorganischen ihrerseits wurden jedoch auf dieselbe Art aus den Grundkategorien der Materie potenziert. Deshalb spricht Schelling nun auch von „unbelebter Organisation“ (AA I,9,1, 188/SW III, 491). Hier zeigt sich, dass Schelling diesen Organismus-Gedanken in die ‚Potenzieren‘ genannten Steigerungs-Übergänge der Natur- und Transzendentalphilosophie einflicht, so dass wiederum „die Intelligenz nur überhaupt organisch“ (AA I,9,1, 188/SW III, 490) richtig aufzufassen ist, wobei eine besondere Pointe darin besteht, dass das Selbstbewusstsein als Selbsterscheinendes nicht nur organisch verfasst ist, sondern zugleich „die Intelligenz […] überhaupt als organisch sich erscheinen“ (AA I,9,1, 192/SW III 494 f.) wird. Dabei wird drittens über das Verfahren des philosophisch rekonstruierenden Nachvollzugs implizit-transzendentaler Stufen, bei welchen die verborgenen Stufungsverhältnisse dem Bewusstsein anschaulich werden, klar, dass die ‚Potenzierungen‘ genannten Übergänge von einer je basaleren Stufe zu einer Reflexionsstufe höherer Ordnung sowohl die Seite des Unbewusst-transzendental-Konstitutiven, als auch die Seite des philosophischen Verfahrens selbst meint. Dieses philosophische Verfahren hatte Schelling in der Naturphilosophie ‚Konstruktion‘ genannt und dabei die Tätigkeit des Naturphilosophen als „eine konstruierende Tätigkeit der zweiten Potenz [d. h., als] ein Konstruieren des Konstruierens“ (AA I,8, 337/SW IV, 45) bezeichnet. Dieses Verfahren 17

Vgl. hierzu Mischer 1997, 158.

II. Das System des transzendentalen Idealismus

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bestätigt Schelling auch hinsichtlich der Transzendentalphilosophie. Alle Konstruktionen der Philosophie sind lediglich „Nachahmungen“ (AA I,9,1, 89/ SW III, 397) der ursprünglichen. In der Transzendentalphilosophie erhält diese Methode im Gegensatz zur Naturphilosophie jedoch eine besondere Pointe. Denn als Selbst-Erforschung des Bewusstseins ist jene rekonstruierende Tätigkeit eine Wiederholung von Tätigkeiten, die im gelingenden Fall in ihm selbst bereits verborgen liegen. Demnach entstehen hier zwei Tätigkeiten des Potenzierens. ‚Potenzieren‘ meint sowohl die Selbst-Erhebung der unbewussten transzendentalen Tätigkeit des Bewusstseins von einer Stufe zur nächsten, als auch das Erheben durch den freien und willentlich nachahmenden Vollzug der philosophischen Rekonstruktion. Da jedoch die Reihe von Handlungen der Rekonstruktion durch die Transzendentalphilosophie die ursprüngliche Reihe zum Erscheinen bringt, gibt es nicht lediglich zwei gleichsam voneinander unabhängige Reihen. Sondern die freie Wiederholung durch die Philosophie muss so vonstattengehen, dass darin die Notwendigkeit der Entwicklung der ursprünglichen Reihe erhalten bleibt und sichtbar wird. Für dieses Verhältnis nun zwischen den je ‚höhere‘ (oder ‚zweite‘) Potenz genannten Stufen beider Reihen, d. h. für den darstellenden Übergang bzw. das darstellende Zur-Erscheinung-Bringen der ersten Reihe durch die zweite gebraucht Schelling erneut den Ausdruck des ‚Potenzierens‘. Explizit nennt Schelling auch den freien Akt, den der Philosoph durchführt, „eine höhere Potenz des ursprünglichen“ (AA I,9,1, 87/SW III, 395) absoluten Aktes des Selbstbewusstseins. Insofern demnach das gleichsam bewusste Zum-Bewusstsein-Bringen vorbewusster Selbstverhältnisse durch Reflexionsbezug je zugleich ein erneutes Durchlaufen der wechselseitig in Potenzverhältnissen stehenden Stufen ist, lässt sich seinerseits auch das Verhältnis von philosophischer Rekonstruktion und transzendentaler Bedingung als das Verhältnis einer höheren Potenz zu ihrer Basis verstehen. Es ist dieses höchst wichtige, dreifache Potenzierungsverhältnis, das die Transzendentalphilosophie des Systems trägt: innerhalb der ursprünglichen Reihe, innerhalb der freien Rekonstruktion und im Verhältnis beider. Es ist demnach das Gesamte dieses dreigliedrigen Verfahrens beinhaltet, wenn Schelling zuletzt die Transzendentalphilosophie als Ganze über ihr Verfahren der Potenzierung dahingehend charakterisiert, dass „der ganze Zusammenhang der Transzendentalphilosophie nur auf einem fortwährenden Potenzieren der Selbstanschauung beruhe“ (AA I,9,1, 330/SW III, 631). 18 Fortwährend ist dieses Potenzieren, da es auf allen Ebenen keinen einmalig vollzogenen und dann abgeschlossenen Zustand bezeichnet, sondern das beständige dynamische Ge-

18 Zur Herkunft der Unterscheidung der Tätigkeiten des Philosophen und seines Objektes bei Fichte vgl. Rivera de Rosales/López Domínguez 2005, 43.

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schehen der Tätigkeiten des Ichs, das nun im unaufhörlichen Fluss seiner Erzeugungen Bewusstsein entstehen und aufrecht erhalten lässt. Nimmt man dies hinzu, erläutert sich Schellings programmatische Formulierung, wonach die Transzendentalphilosophie „nichts anderes [sei] als ein beständiges Potenzieren des Ichs“ (AA I,9,1, 146/SW III, 450) über Schellings Erklärung, dass dies eben bedeute, dass „ihre ganze Methode […] darin [bestehe], das Ich von einer Stufe der Selbstanschauung zur anderen bis dahin zu führen, wo es mit allen den Bestimmungen gesetzt wird, die im freien und bewussten Akt des Selbstbewusstseins enthalten sind“ (AA I,9.1 146/SW III, 450). 19 Zu diesen drei Ebenen, die im System des transzendentalen Idealismus durch je potenzierte Stufen der Anschauung gebildet werden, kommt nun zuletzt (analog zur natura naturata) noch die Ebene der Erzeugnisse bzw. Objekte des Bewusstseins hinzu, die Schelling wiederum als ein in Potenzverhältnissen gebildetes, organisches Ganzes versteht. Dabei besteht hier ein unmittelbarer Zusammenhang mit der Konstruktion der Natur, da die objektive Welt, die dem Bewusstsein erscheint, beginnend mit den raum-zeitlichen Kategorien der Materie, zunächst nichts anderes als diese erscheinende Natur ist. Daher kann Schelling ausführen: Wir können in der Natur jetzt drei Potenzen der Anschauung unterscheiden, die einfache, den Stoff, welche durch die Empfindung in sie gesetzt ist, die zweite, oder die Materie, welche durch die produktive Anschauung gesetzt ist und die dritte endlich, welche durch die Organisation bezeichnet ist. (AA I,9,1, 193/SW III 495 f.)

An dieser Stelle ist nicht nur bemerkenswert, dass Schelling auch in der Geistphilosophie die Potenzen zur Bezeichnung der objektiven Welt gebraucht, sondern auch, dass er hier nun bereits von drei Potenzen spricht, wiewohl er zunächst je an wechselseitige, d. h. duale Potenzierungsverhältnisse gedacht und 19 Tatsächlich reklamiert Schelling diese Methode in einem späteren Brief als seine originäre Leistung. So schriebt er am 2. 6. 1833 an Christoph Heinrich Weiße, der die Entdeckung dieser Methode Hegel zugerechnet hatte: „Was mich betrifft, so bin ich zwar eben so wenig gesonnen, ‚die Methode des Potenzierens‘. d. h. des sukzessiven Objektwerdens des zuvor Subjektiven und fortwährenden Dagegen-Erhöhens des Subjekts, die ich für meine eigene Erfindung zu halten berechtigt bin […] wegzuwerfen“ (Plitt III, 67). Interessanterweise verweist Schelling hierzu aber nicht auf die Passagen des Systems von 1800, sondern auf den § 50 der Darstellung meines Systems von 1801, in welchem zwar auf Methodisches verwiesen, diese Methode aber – wie in der gesamten Darstellung von 1801 – gar nicht ausgeführt wird. Auch kann der im Zitat indirekt enthaltenen Behauptung, Schelling führe die Methode des Potenzierens fort, zumindest nicht explizit zugestimmt werden. Denn sie ist an die Voraussetzungen der Transzendentalphilosophie gebunden, auch wenn, wie zu zeigen sein wird, bestimmte Elemente hiervon in Schellings Interpretation der späteren Potenzentheorie als einer Theorie des Geistes erhalten bleiben. Auffällig und ebenfalls gegen die These eines fortwährenden Gebrauchs dieser Methode sprechend ist zudem die Tatsache, dass Schelling den Ausdruck des ‚Potenzierens‘ außerhalb von Natur- und Transzendentalphilosophie, d. h. nach 1800 so gut wie gar nicht mehr verwendet.

II. Das System des transzendentalen Idealismus

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sie innerhalb der Allgemeinen Deduktion auch nur je so benannt hat. Darin jedoch ist bereits der wichtige Gedanke einer Reihenbildung von Potenzen enthalten, die entsteht, wenn die als ‚zweite Potenz‘ gekennzeichnete Stufe wiederum Gegenstand einer weiteren Potenzierung wird. Wichtig ist es allerdings, klar zu sehen, dass Schelling hier noch nicht (wie in späteren Werken) von einer festgelegten und hierarchischen Folge einer ersten, zweiten und dritten Potenz spricht. So nennt er die vierte Stufe, welche die produktive Anschauung anschaut, welche also „die in der vorherigen Anschauung mitbegriffene zum Objekt hat […] eine ideelle der zweiten Potenz“ (AA I,9,1, 332/SW III, 632) – ideell, weil mit der produktiven Anschauung bereits für das Ich selbst die Stufe des Selbstbewusstseins, d. h. der Intelligenz, erreicht war. Die erste Reihenbildung, die sich im System des transzendentalen Idealismus zeigt, ist ihrerseits relational auf eine willkürlich festlegbare Grundstufe bezogen. Mit Stoff, Materie und Organismus ist die Reihe der Natur aus transzendentalphilosophier Perspektive abgeschlossen, insofern mit dem Organismus im engeren Sinne, d. h. dem Bereich des Lebens, die höchste Stufe der Natur erreicht ist. Allerdings ist mit der Wahrnehmung und Erkenntnis der physikalischen Welt die Reihe der Erzeugnisse der Intelligenz noch nicht abgeschlossen. Denn das höhere Selbstbewusstsein zeichnet sich neben seiner Fähigkeit, von der Natur zu wissen auch noch dadurch aus, dass es zu moralischen und kulturellen Erzeugnissen befähigt ist. Hierdurch ergibt sich eine neue Reihe, die vom Wissen ausgeht und über das Handeln zur Kunst führt. 20 Daher gibt es auf der Seite der Objekte des Geistes zwei Reihen von Potenzen: die erste Reihe ist diejenige, die im Organismus der Natur gipfelt, die zweite diejenige, die mit diesem erst anfängt und welche die ‚Produkte‘ der höheren Intelligenz, nämlich Moral und Kunst umfasst. Ein entscheidender Unterschied dieser beiden Reihen besteht darin, dass in der Reihe der eigentlich geistigen Produkte diese einer reflexiven Objektivierung, in der eine Objektivierung des Ichs selbst enthalten ist, entspringen. Dies wird aus folgender hypothetischer Reflexion ersichtlich: Wenn das Ich fortführe, bloß objektiv zu sein, so könnte sich die Selbstanschauung immerhin ins Unendliche potenzieren, aber dadurch würde doch nur die Reihe von Produkten in der Natur verlängert, nimmermehr aber das Bewusstsein entstehen (AA I,9,1, 332/SW III, 632).

Daher konnte Schelling einerseits in der Einleitung zum System ankündigen, „dass dieselben Potenzen der Anschauung, welche in dem Ich sind, bis zu einer gewissen Grenze auch in der Natur aufgezeigt werden können“ (AA I,9,1, 25, Herv. Vf./SW III, 332, Herv. Vf.), da bis zum Punkt der Vollendung des Ichs als 20 In der Philosophie der Kunst (1802) benennt er diese Stufen dann auch als die erste, zweite und dritte Potenz der ideellen Reihe (AA II,6.1, 124 f./SW V, 380).

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Kap. 3: Potenzen in den Komplementärwissenschaften von 1800

Intelligenz „die Natur mit dem Ich ganz gleichen Schritt hält“ (AA I,9,1, 332/ SW III, 632) und weil die Natur „in der höchsten Potenz wieder nichts anderes als Selbstbewusstsein ist“ (AA I,9,1, 46/SW III, 356). Da die Natur darüber hinaus jedoch nicht zu entsprechenden Leistungen fähig ist, die den Stufen des Handelns und der Kunst entsprechen, ist mit der Konstitution des Selbstbewusstseins die Grenze der Natur erreicht. Denn im Wollen, als der Grundkategorie der praktischen Philosophie, die im „Selbstbestimmen der Intelligenz“ (AA I,9,1, 231/SW III, 533) besteht, wird die Selbstanschauung des Ichs erneut „zur höheren Potenz erhoben“ (AA I,9,1, 232/SW III, 534). Mit der Freiheit des Wollens beginnt, wie Schelling skizzenhaft auf den letzten Seiten des Systems darlegt, „eine neue Stufenfolge von Handlungen, die durch die Natur nicht möglich sind, sondern sie hinter sich zurücklassen“ (AA I,9,1, 333/SW III, 633). Die höchste Stufe dieser Handlungen erreicht die Kunstproduktion des Genies, welche demnach, „die höchste Potenz der Selbstanschauung“ (AA I,9,1, 333/SW III, 634) darstellt. Des Näheren ist es für Schelling hier das Dichtungsvermögen, das „die in der höchsten Potenz sich wiederholende produktive Anschauung“ (AA I,9,1, 326/SW III, 626) ist und welches „in seiner ersten Potenz angeschaut“ (AA I,9,1, 326/SW III, 626, Anm. des Handexemplars) das ursprüngliche „erste Produktionsvermögen der Seele“ (ebd.) ist.

3. Resümee und Vorblick Schelling hat den Gedanken, dass sich Bewusstsein überhaupt in dimensionalen, aufeinander bezogenen Stufen entwickelt, die sich als Potenz-Verhältnisse fassen lassen, im System von 1800 zentral entwickelt. Dabei fällt dem Begriff einer höheren (zweiten) Potenz, wie schon in der Naturphilosophie, eine Schlüsselrolle für das Verständnis des Aufbaus des Geistes in der Transzendentalphilosophie zu. Diese zentrale Rolle bei der Bewusstseinskonstitution wird ergänzt durch das zentrale, ‚Potenzierung‘ genannte Verfahren der Transzendentalphilosophie selbst, jene Bewusstseinsstufen und ihre inneren Konstitutionsverhältnisse durch expliziten methodischen Nachvollzug sichtbar werden zu lassen. Damit lässt sich sagen, dass – auch wenn ‚Potenz‘ quantitativ auf das Ganze des Systems von 1800 bezogen ein eher marginaler Ausdruck bleibt – in systematischer und methodischer Hinsicht der Gedanke von organisch-reflexiven Potenzverhältnissen im Aufbau der geistigen Wirklichkeit und der aktiven Tätigkeit des Potenzierens sowohl auf der Seite der Konstitutionsleistungen des Bewusstseins als auch auf der Seite ihrer transzendentalphilosophischen Explikationen eine zentrale Stellung im System des transzendentalen Idealismus einnimmt. Hinzu kommt, dass Schelling hier zumindest ansatzweise den Gedanken einer über duale Verhältnisse hinausgehenden Pluralität von Potenzen und die damit verbundene Idee einer Reihenbildung von Potenzen entwickelt, die in der Identitätsphilosophie eine tragende Rolle spielen wird.

II. Das System des transzendentalen Idealismus

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Kehrt man nun so vorblickend die Frage nach der Bedeutung der Potenzen im System von 1800 um zu der Frage nach der Bedeutung der Natur- und Geistphilosophie von 1800 für Schellings spätere Potenzentheorie, so fällt ein wichtiger Aspekt auf, der über die Frage, welche Rolle der tatsächliche Begriffsgebrauch der ‚Potenzen‘ im System von 1800 spielt, weit hinausgeht: die gegenläufige Doppelbewegung des Absoluten (sowohl der Natur als auch des Geistes) um 1800 wird als Grundmuster in der Potenzendynamik der Spätphilosophie beibehalten. Dieser übergreifende Zusammenhang soll hier aus der Perspektive der Systeme von 1800 skizzenhaft festgehalten werden: Die doppelläufige Bewegung der Produktivität der Natur und des Ichs in der Funktion des Absoluten, die je darin besteht, dass diese zugleich ins Unbegrenzte hinausdrängen und sich in einer gegenläufigen Bewegung selbst hemmen bzw., begrenzen, wodurch überhaupt erst Objektivität und Reflexivität als Selbst-Objektivierung des Ichs – und damit die Grundbedingungen des Selbstbewusstseins – zustande kommen, findet sich später, als Schelling selbst von einer „Lehre von den Potenzen“ (SW XIII, 316) spricht, im Zentrum dieser Lehre wieder. Dabei modifiziert sich die in den Systemen bis 1800 entwickelte Idee eines absoluten Seins als Anfang der Philosophie in der Spätphilosophie zunächst dahingehend, dass Schelling von gar keinem absoluten Sein mehr ausgeht, sondern dessen metaphysische Ermöglichungsbedingungen erforscht mit der Untersuchung dessen, das „vor dem Sein“ (SW XIII, 204) ist und das daher „Potenz[.] des Seins“ (SW XIII, 246) genannt werden kann. In dieser, gleichsam eine Stufe fundamentaler angelegten Untersuchungssituation der Bedingungen des Absoluten deckt Schelling drei Potenzen des Seins auf, in denen sich das Muster gehemmter Transitivität wiederfindet. So ist es (in der Darstellung der Philosophie der Offenbarung) die Grundeigenschaft der ersten Potenz, terminologisch als „Seinkönnende“ (SW XIII, 204) gefasst, dass sie ein „von sich selbst Unbegrenzte[s]“ (SW XIII, 226) ist, das in seinem Zug ins Sein sich im Sein verlieren würde, würde es nicht zurückgehalten werden von einem zweiten Moment, das – genau wie die Reflexivbewegung des Ichs im System von 1800 – sich dadurch auszeichnet, dass es die unendliche Ausbreitung des ersten Moments begrenzt: Die erste Potenz „muss durch ein anderes begrenzt sein“ (ebd.); und eben dieses „Begrenzende des von sich selbst Unbegrenzten Seinkönnenden wäre das rein Seiende“ (SW XIII, 226) – oder die zweite Potenz. In der wechselseitigen Durchdringung beider schließlich kommt eine dritte Potenz und hierdurch das Absolute zustande. Diese inneren Konstitutionsmomente des absoluten Seins schließlich interpretiert Schelling als gesamte wiederum als Geist bzw. Bewusstsein. 21 Damit 21

Vgl. hierzu ausführlich Gerlach 2016.

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Kap. 3: Potenzen in den Komplementärwissenschaften von 1800

zeigt sich, dass der strukturelle Grundgedanke der Transzendentalphilosophie, Selbstbewusstsein aus der Bewegung innerer Momente des Hinausgehens und Auf-sich-Zurückkommens zu verstehen, in der Potenzenlehre der Spätphilosophie erhalten bleibt. Lediglich die Fragestellung verschiebt sich: Ist es im System von 1800 das zentrale Vorgehen der Transzendentalphilosophie „vom Subjektiven als vom Ersten und Absoluten auszugehen und das Objektive aus ihm entstehen zu lassen“ (AA I,9.1 32/SW III, 342) 22, so ist die Aufgabe der Philosophie der Offenbarung, die Frage nach dem, das vor dem Sein ist, zu beantworten und zu zeigen, wie dieses wiederum zum Sein komme. Es gibt hier also eine Verschiebung der Fragestellung, bei der zentrale Strukturelemente beibehalten werden. Im System von 1800 geht Schelling von einer reinen Tätigkeit als Absolutem aus und zeigt, wie diese die Struktur des Selbstbewusstseins inklusive der zu ihm gehörenden objektiven Welt entwickelt. In der Spätphilosophie geht Schelling nicht einmal von einem Absoluten aus, sondern entwickelt die Seinsmomente gleichsam im luftleeren (metaphysisch voraussetzungsfreien) Raum letztbegründender Potenzen. Insofern sich hier jedoch als Folge (und nicht als Voraussetzung) der Deduktion ein Absolutes als Geist erweist, lassen sich dessen Binnenmomente, die Potenzen des Seins, wiederum in der Sprache der Transzendentalphilosophie als Subjekt, Objekt und Subjekt-Objekt fassen: Durch das Sein-Können frei vom Sein, ist dieses Dritte selbst-Potenz, selbst-Können, insofern reines Subjekt; durch das Sein frei vom Können, ist es insofern gegen das Können selbst-Sein, selbst Objekt; also ist es in einem und demselben Subjekt und Objekt, also überhaupt das unzertrennliche Subjekt-Objekt […], was Subjekt und Objekt sein muss, und also Geist ist. (SW XIV, 354 f.)

Demnach bleibt – und hierin hat das System von 1800 seine eigentliche Bedeutung in Hinsicht auf Schellings spätere Theorie der Potenzen – das dynamische Prinzip einer Selbstkonstitution des Geistes aus Momenten des grenzenlosen Hinausdrängens (Expandierens) und begrenzenden Zurückkehrens (Kontrahierens) und deren Verbindung in einem System organisierter, zum Stehen gebrachter reflexiver Entwicklung als strukturelles Grundmuster der Transzendentalphilosophie bis in die späten und spätesten Potenzenerörterungen erhalten. Nur der Ort und die Bedeutung der Potenzen verschieben sich. Sind diese 1799/1800 als Entfaltungsstufen zunächst der Natur und des Geistes, dann ab 1801 explizit als Dimensionen des Absoluten angelegt, werden sie ab 1810 zu Momenten des als Absolutem gedachten Geistes selbst und erhalten als solche in der Spätphilosophie eine überragende systematische Stellung, insofern sie zuletzt sowohl als Konstitutionsmomente als auch als historische Entfaltungsstufen des Geistes in ihren jeweiligen Stellungen verstanden werden.

22

Vgl. hierzu auch Schulz 1996, XXIX.

2. Teil

Potenzen des Absoluten – Die Identitätsphilosophie

Kapitel 4

Die Darstellung meines Systems (1801) Auch mit der nächsten Schrift, der Darstellung meines Systems der Philosophie, geht eine Verschiebung des begrifflichen Tableaus der ‚Potenzen‘ einher. 1 Vorblickend lässt sich sagen, dass Schelling den Ausdruck des ‚Potenzierens‘ nun so gut wie nicht mehr gebraucht, während ‚Potenz‘ oder ‚Potenzen‘ in einem sowohl relationalen als auch Einzeldinge bezeichnenden Sinn die zentrale Form in dieser Schrift sein wird. Neu hinzu kommen Ausdrücke der ‚Depotenzierung‘ und des ‚Potenzlosen‘, einer ‚niedereren Potenz‘, sowie die formelhaften Kürzel A0, A, A2 und A3 zur Bezeichnung von Potenzverhältnissen.

I. Die Grundkonzeption des Identitätssystems Mit der Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801 beginnt eine neue Werkphase in Schellings philosophischem Schaffen, die Schellings Schriften bis 1806 umfasst. Auch wenn Schelling mehrfach betont hat, dass die hiermit benannte Identitätsphilosophie keine doktrinär neue Philosophie beinhalte, sondern es nur eine neue Darstellungsform dessen sei, das zuvor bereits in der Natur- und Transzendentalphilosophie enthalten gewesen sei, so ist doch die Perspektivenverschiebung dieser neuen Darstellung derart durchgreifend, dass der gängigen Schellingforschung gefolgt werden kann, die in der Identitätsphilosophie eine eigenständige und einigermaßen abgeschlossene Werkphase sieht. 2 Kerngedanke der Identitätsphilosophie, wie Schelling in der ‚Vorerinnerung‘ zur Darstellung meines Systems darlegt, ist es, dass Natur- und Transzendentalphilosophie ein gemeinsames System als Zentrum zugrunde liegt, von welchem die Komplementärwissenschaften ihrerseits nur verschiedenartige je einseitige Darstellungen sind, und dass dieses bisher nur postulierte, nicht aber entfaltete gemeinsame System in der Identitätsphilosophie zur Darstellung gebracht wer1

Eine erste Version dieses Kapitels wurde publiziert in Gerlach 2022. Ich beschränke die Darstellung auf die werkimmanente Stellung des Identitätssystems in Bezug auf die behandelten Vorgängerschriften und verweise für die interessante Frage nach externen Einflüssen auf die Entfaltung des Identitätsgedankens durch Fichte, Reinhold und Bardili auf Lauth 1975, insb. 150–157; zum Einfluss des Briefwechsels Fichte-Schelling 1800/ 1801 zudem auf Baumgartner/Korten 1996, 84–87, Schmied-Kowarzik 2015, 102–114 und Schulz (Hg.) 1968. 2

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Kap. 4: Die Darstellung meines Systems (1801)

den soll. Dieses nennt Schelling in der ‚Vorerinnerung‘ im Gegensatz zum System des Idealismus und der Naturphilosophie nun „mein System der Philosophie“ (AA I,10, 112/SW IV, 110) und betitelt es mit dem Namen eines „absolute[n] Identitätssystem[s]“ (AA I,10, 115/SW IV, 113). Damit ist auch bereits eine Hauptbedeutung des Identitätsgedankens erläutert: Zwischen „Natur- und Transzendentalphilosophie […] als [den] entgegengesetzten Pole[n] des Philosophierens“ (AA I,10, 110/SW IV, 108) liegt als deren gemeinsame Mitte der Bereich dessen, das mit beiden (und sich selbst) identisch ist. Die gemeinsame Mitte ist demnach nicht lediglich die Schnittmenge von Sphären, die an sich doch verschiedenartige Seinsbereiche umfassen. Sondern Schelling meint damit die tatsächliche ontologische Einsheit im Sinne strenger Identität dieser Bereiche, die lediglich perspektivisch-epistemisch und methodologisch auf verschiedene Weise wissenschaftlich zugänglich und darstellbar sind. Schelling nennt diesen Bereich nun auch: „die absolute Vernunft“ (AA I,10, 116/SW IV, 114) bzw. schlicht: „das Absolute“ (AA I,10, 117/SW IV, 115). 3 Schelling demonstriert diesen erläuterungsbedürftigen Gedanken der Identität am Modell einer Linie, bei welcher von einem beliebigen Punkt aus die Erstreckungen nach beiden Seiten sich als zwei Pole auffassen lassen, die sich in jenem Punkt neutralisieren, genauer gesagt: die in jenem Punkt zur Indifferenz gebracht werden; 4 er nennt „diese Linie die Grundformel unseres ganzen Systems“ (AA I,10, 140/SW IV, 138). Als Hintergrund für dieses Modell einer Linie dienen sowohl die Theorie des Hebels (bzw. das Beispiel der Balkenwaage), bei welchem im Schwerpunkt die gesamte Masse als vereint gedacht werden kann, und dessen beide Seiten entweder in relativem Übergewicht zueinander stehen oder sich im Indifferenzpunkt ausgleichen. Den Begriff des ‚Indifferenzpunkts‘ entlehnt Schelling eben diesem naturwissenschaftlichen Modell; tatsächlich bezeichnet er ihn in der Darstellung auch als „Gleichgewichtspunkt“ (AA I,10, 139/SW IV, 137). 5 Andererseits ist es das Vorbild des bipolaren Stabmagneten, der bereits in der Naturphilosophie der Dimension der Linie entsprochen hatte und bei welchem sich nicht nur gleichfalls beide Pole im Mittelpunkt ausgleichen, sondern bei welchem die Bipolarität zudem in jedem Punkt des als Linie gedachten Stabes enthalten ist: „in jeder […] Stelle des Magnets [ist] wieder der ganze Magnet“ (AA I,10, 156/SW IV, 156); ausdrücklich verweist Schelling 3 ‚Das Absolute‘ in der Nominalform ist eine außerordentlich wirkungsreiche begriffliche Neuerung Schellings an dieser Stelle. Zur Begriffsgeschichte erhellend Arndt/Jaeschke 2012, 338 f. 4 Rang 2000, 2 weist darauf hin, dass die Ausdrücke der Indifferenz und Identität, die dem Wortsinn nach dasselbe bedeuten, wobei Indifferenz nur negativ ausdrückt, was Identität positiv sagt, in der Darstellung von 1801 von Schelling synonym gebraucht werden und Schelling erst in späteren Schriften, namentlich dem sogenannten ‚Würzburger System‘ von 1804 hier eine systematisch bedeutungsvolle terminologische Trennung durchführt. 5 Zu den naturwissenschaftlichen Modellen als Hintergrund zur Linien-Darstellung des Identitäts-Systems erhellend Ziche 1996, 204–224.

I. Die Grundkonzeption des Identitätssystems

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dabei auf die „Koinzidenz des Magnets mit der […] konstruierten Linie“ (AA I,10, 153/SW IV, 153). Schelling versteht in diesem Modell einer bipolaren Linie nun den einen Pol als die Seite, in der sich perspektivisch das Subjekt (oder die Idealität und das Erkennen) findet, den anderen als die Seite, in der das Objekt (oder die Realität und das Sein) aufscheinen. Darin spiegelt sich die wissenschaftssystematische Voraussetzung der beiden Komplementärwissenschaften von Natur und Geist wider, die perspektivisch je von ihrem Pol aus auf das Ganze blicken. Dabei ist einerseits ontologisch die gesamte Linie der Seinsbereich der Identität, während es perspektivisch der Bereich des Zentrums ist, welches das Gemeinsame beider ist. Es ist der Bereich, in dem Erkennen und Sein auch perspektivisch zur Deckung kommen, in dem also das System des Wissens und der Vernunft situiert ist – der Vernunft, wie es Schelling definitorisch im ersten Paragrafen der Darstellung festlegt, „insofern sie als totale Indifferenz des Subjektiven und des Objektiven gedacht wird“ (AA I,10, 116/SW IV, 114). Wie Fichte begründet Schelling dabei die Identität der Vernunft nicht nur über das im Erkennen stattfindende Zusammenkommen des Subjektiven und des Objektiven, sondern findet diese Sichselbstgleichheit der Vernunft formal in ihrem obersten Grundsatz, dem Satz der Identität, kurz ‚A = A‘, wieder, insofern sich das A vor dem Gleichheitszeichen als Subjekt, das A hinter dem Gleichheitszeichen als Objekt interpretieren lässt (AA I,10, 124/SW IV, 123). In die logische Form des Urteils, als dem Medium der Erkenntnis, übertragen, bedeutet das A links des Gleichheitszeichens das grammatische Subjekt, das A rechts das Prädikat (vgl. AA I,10, 118/SW IV, 117). 6 Mit der hiermit einhergehenden Struktur von Erkennen und Urteilen soll gewährt sein, dass die Identität nicht lediglich ein blindes, bewusstloses Sein bezeichnet, sondern dass gemäß idealistischen Voraussetzungen die Identität im Zentrum des Systems eine ist, welche, wie Schelling im § 19 formuliert, „nur unter der Form des Erkennens ihrer Identität mit sich selbst“ (AA I,10, 124/SW IV, 122) sich vollzieht. In dieser Selbsterkenntnis ist die aus Schellings Frühschriften bekannte und von Fichte entlehnte Selbstsetzung als Subjekt und Objekt und die Reflexionsstruktur des Bewusstseins als Selbstbewusstsein enthalten. 7 6

Schelling unterscheidet im Übrigen nicht streng zwischen Objekt und Prädikat: Vgl. hierzu AA I,10, 125/SW IV, 123, wo er im § 23 von A als Subjekt und Objekt spricht und dabei auf den § 6 zurückverweist, in welchem vom Objekt gar keine Rede ist, sondern lediglich A als Subjekt und Prädikat genannt wird. Frank 2018, 122–127 weist aber darauf hin, dass Schelling die Unterscheidung von Wesen und Form der Identität so versteht, dass die Form sich im Urteil der Prädikation ausspricht, sich also auf die Satzform bezieht, die die Einheit artikuliert, während es bei der Subjekt-Objekt-Beziehung um „die Sache der wissenden Selbstbeziehung geht“ (122). 7 Mit dieser Zuordnung gehen m. E. jedoch auch unlösbare Schwierigkeiten in den architektonischen Aufbau der Identitätsphilosophie ein. Denn die historisch und sachlich nachvollziehbaren Charakterisierungen des Bereichs der Identität als Vernunft (AA I,10, 117 f./SW IV,

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Kap. 4: Die Darstellung meines Systems (1801)

II. Potenzen innerhalb des ontologischen Grundschemas des Identitätssystems Von dieser grob skizzierten Grundveranlagung des Identitätssystems in seiner ersten Fassung in den §§ 1–50 der Darstellung meines Systems aus, die den allgemeinen Teil dieser Philosophie enthalten, lässt sich nun die systematische Bedeutung der Potenzen in ihr näher bestimmen, die ganz wesentlich mit der Frage zusammenhängt, wie im dargestellten System der Identität und Einheit wiederum Differenz und Vielheit möglich sein soll. Ein zentraler Gedanke hierbei ist, dass zwar Subjekt und Objekt substanziell und qualitativ Eines sein sollen, dass es innerhalb dieser Einheit aber dennoch quantitative Unterschiede geben müsse in Hinsicht auf die Pole der Subjektivität und Objektivität, da sonst alles unterschiedslos in der indifferenten Einheit verbliebe. „Differenz, mithin Unterscheidung beider“, so Schellings entscheidende Überlegung in diesem Punkt, „könnte nur dadurch möglich werden, dass entweder überwiegende Subjektivität oder überwiegende Objektivität gesetzt würde, wodurch dann das A = A in ein A = B (B als Bezeichnung der Objektivität gesetzt) überginge“ (AA I,10, 126/SW IV, 124). Für dieses Verhältnis des Überwiegens zunächst der Objektivität im Ausdruck ‚A = B‘ führt Schelling in der Darstellung meines Systems nun den „allgemeinen Ausdruck der Potenz überhaupt“ (AA I,10, 137/SW IV, 135) ein, der näher „die quantitative Differenz in Bezug auf das Ganze“ (ebd.), bzw. in einer Parallelformulierung, „die überwiegende Objektivität oder Subjektivität […] in Bezug auf das Ganze“ (AA I,10, 142/SW IV, 141) bezeichnet. Zu beachten hierbei ist, dass das Zeichen des Doppelstriches innerhalb dieser Gedankenführung im Gegensatz zur bloß formallogischen Identitätsbezeichnung ‚a = a‘ weder bei ‚A = A‘ noch bei ‚A = B‘ den Sinn eines mathematischen Gleichheitszeichens mit der Bedeutung quantitativer Gleichheit beider Terme hat und haben kann. 8 Schelling spielt vielmehr mit der Form dieser Ausdrücke, 116 f.) und Selbstbewusstsein verschiebt den Indifferenzbereich selbst auf die Seite des Idealen. Möglicherweise ist der unklare systematische Ort für die Vernunft im Identitätssystem auch ein Grund dafür, dass Schellings Begründung der These, das die Identität überhaupt Vernunft sei und nicht etwas anderes, wie Jaeschke/Arndt 2012, 341 richtig anmerken, auch „merkwürdig vage“ bleibt. 8 Eschenmayer hatte Schelling in einem ausführlichen Brief vom 21. 07. 1801 dafür kritisiert, dass in seiner Grundformel „eine Verwirrung durch das (=) Gleichheitszeichen“ (AA III,2,1, 359/Plitt I, 338) entstehe, da damit nur schlichte quantitative Gleichheit ausgedrückt werden könne und keine Beziehung mit einen Übergewichtscharakter, und er hätte damit sicher Recht gehabt, hätte Schelling dieses Zeichen im streng mathematischen Sinne gebraucht, wovon m. E. aber gar nicht die Rede sein kann (vgl. hierzu auch Tilliette 2004, 160 f.). Schelling hätte jedoch sicherlich viele Missverständnisse vermeiden und der Verständlichkeit seiner Philosophie einen guten Dienst erweisen können, wenn er auf den Versuch, ontologische Grundverhältnisse in formelhafter Sprache darzustellen und seiner Philosophie

II. Potenzen innerhalb des ontologischen Grundschemas des Identitätssystems

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um aus ihnen Differenzmomente auf der Basis ursprünglicher Gleichheit zu entwickeln. So versteht Schelling hier bei ‚A = A‘ das Gleichheitszeichen nicht im Sinne einer quantitativen Gleichsetzung, sondern primär als Prädikation innerhalb des Satzes der Identität innerhalb der Aussageform ‚A ist A‘. Im Falle von ‚A = B‘, verstanden als Potenzformel, ist das ‚=‘-Zeichen jedoch überhaupt nicht als Ausdruck irgendeiner Gleichheit, sondern als Verhältniszeichen eines relativen Übergewichts zu verstehen. 9 dadurch eine mathematische Aura und ein Kleid zeitgemäßer Wissenschaftlichkeit überzustülpen, verzichtet oder wenigstens seine Formeln sprachlich eindeutig erklärt hätte. Immer wieder gibt Schelling der Versuchung nach, seine Philosophie dem bloßen Ausdruck nach zu mathematisieren und insbesondere seine Potenzlehre mit der mathematischen Potenz-Funktion und -Notation zu verbinden, obwohl alle systematischen Prämissen seiner Metaphysik der Potenzen dagegen sprechen. So zeigt sich auch hier, dass Schelling (im Gegensatz z. B. zu Eschenmayer) nicht von der Mathematik her denkt und ihm diese innerhalb seines enorm breiten und tiefen Wissenschaftsspektrums im Grunde terra incognita geblieben ist. (Mutschler 1990, 119 diagnostiziert in einem anderen Zusammenhang Schellings „Prätention, zugleich Philosophie und Mathematik zu betreiben“ als ein „Selbstmissverständnis“ (118) und führt aus: „Bestreitet man Schelling diesen Charakter des Mathematischen […], dann verliert seine Naturphilosophie zugleich diesen Charakter des Ungenießbaren, der ihr stark anhaftet“ (119)). In diesem Fall ist auch Hegel darin zuzustimmen, der in Bezug auf Schelling und Eschenmayer angemerkt hatte, dass der Gebrauch mathematischer Formeln „in der Philosophie zu nichts führt“ (Hegel GW 30.1, 455). 9 Rang 2000, 134 Anm. versteht den horizontalen Doppelstrich in der nachfolgend näher erläuterten Formel ‚A = Bþ ‘ als „Band im Sinne der Bindung von Kräften (ähnlich der heutigen molekularen Schreibweise von chemischen Formeln […])“, wonach das relative Übergewicht einer Seite als freie Kraft, die in beiden Seiten enthaltenden gleichen Kräfte als diese bindenden Kräfte verstanden werden können. Diese interessante und den Gedanken des relativen Übergewichts als Potenz nachvollziehbar explizierende Interpretation führt aber mehrere Probleme nach sich: Das erste ist, dass Schelling diesen Gedanken der Bindung erst 1806 in den Aphorismen zur Naturphilosophie darlegt; in der Darstellung meines Systems, in der zuerst Potenz mittels der Formel ‚A = B‘ charakterisiert wird, wie auch in den nachfolgenden Schriften ist von Bindung im Zusammenhang mit dieser Formel überhaupt keine Rede. Hinzu kommt, dass auch der Ausdruck der Kraft zwar in der speziellen Naturphilosophie, nicht aber in die allgemeinen Seinslehre von Schelling in der Darstellung von 1801 gebraucht wird. Immerhin lässt sich das ‚=‘-Zeichen hier bereits als allgemeines Zeichen für Verbindung verstehen, wie dies Schelling fast zehn Jahre später in den Stuttgarter Privatvorlesungen einmal andeuten wird (vgl. AA II,8,112/SW VII, 442, wo Schelling von dem „A = B als dem aus A und B Verbundenen“ spricht). Zweitens spricht im Sinne der Kohärenz gegen diese These, dass Schelling an andern Stellen, insbesondere in der völlig parallelen Verwendung im Satz der Identität, A = A, den Doppelstrich klarerweise im Sinne des Ausdrucks ‚ist gleich‘ verwendet, wenn man die Identität eben auch als Bindung verstehen kann. Rang versucht diese Asymmetrie dadurch zu beheben, dass er nachzuweisen versucht, dass Schelling andererseits den Doppelstrich, und zwar in der Formel ‚A = B‘ auch im Sinne der mathematischen Gleichheit gebraucht habe. Dies würde nach Rang im Sinne der Kräfteinterpretation bedeuten, dass „entgegengesetzt auf ein Substrat wirkende Kräfte von gleicher Größe sich ihrer Wirkungen wechselseitig berauben“ (Rang 2000, 136). Rang betont dabei, dass „der Ausdruck ‚A = B‘ in Schellings Symbolik […] in Übereinstimmung mit den eigentlichen Sinn des Gleichheitszeichens auch als mathematische Gleichung gelesen werden muss“ (Rang 2000, 135). Auf diese Weise hätte das ‚Gleichheitszeichen‘ dann drei Bedeutungen bei Schelling: Prädikation, mathemati-

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Zentral für das Verständnis der Funktion von Potenz innerhalb des Identitätssystems ist nun die in den Erklärungen zum Ausdruck der Potenz zur Sprache kommende Relationalität auf das Ganze. Denn Schelling denkt sich das Verhältnis von Identität und Differenz im Einzelnen und Ganzen so, dass sowohl in jedem Einzelnen als auch im Ganzen immer Identität der Form A = A bestehen bleibt, dass jedoch zugleich hinsichtlich der Stellung des Einzelnen in Bezug auf das Ganze jene ‚Potenz‘ genannte quantitative Verschiebung zu den Polen der Objektivität oder Subjektivität gegeben sein kann. Das Einzelne unter der bestimmten Potenz ist daher nicht an-sich, substanziell auf der Seite eines Seinsbereichs des Objektiven oder Subjektiven. Sondern substanziell gibt es nur die Totalität der Identität, in welcher Subjekt und Objekt ununterscheidbar Eines sind und keine eigenständigen Seinsbereiche des Subjektiven oder Objektiven. Die quantitative Differenz, welche das Einzelne unterscheidbar macht als unter einer bestimmten Potenz A = B stehend, betrifft daher nur das Einzelne als Erscheinung – als Erscheinung im Sinne der natura naturata auf der sichtbaren Oberfläche der in die metaphysische Identität des Ganzen als Vernunft-sich-selbst-Gleichheit integrierten natura naturans, bzw., auf der Seite des Ideellen als Sich-selbst-bewusst-Sein des phänomenalen Geistes. Da es einerseits die zwei Seiten des Objektiven und Subjektiven gibt, in welchen uns „die Dinge oder Erscheinungen […] als verschieden erscheinen“ (AA I,10, 129/ SW IV, 127) und andererseits das quantitative Übergewicht zu der einen oder anderen Seite graduell vielfältig verschieden sein kann, spricht Schelling hier entsprechend der Vielzahl von erscheinenden Dingen von ‚Potenzen‘ im Plural. Demnach ist zu beachten, dass durch diesen Aufbau die Bezeichnung von ‚Potenz‘ in der Darstellung meines Systems zwischen einer relationalen und einer substanziellen Ausdrucksweise changiert. So bezeichnet Schelling einerseits das Verhältnis des quantitativen Übergewichts zwischen A und B, ausgedrückt in der allgemeinen Formel ‚A = B‘, als Potenz (AA I,10, 137/SW IV, 135) – und hierin ist auch die Hauptbedeutung von ‚Potenz‘ in der Darstellung von 1801 zu sehen. Andererseits benennt Schelling aber auch diejenigen Elemente und Attribute der geistigen und physischen Wirklichkeit, die durch die entsprechenden Verhältnisse gekennzeichnet sind, mit diesem Ausdruck der ‚Potenzen‘ im Plural. In diesem Sinn kann Schelling in etwa auf die Naturphilosophie zurückverweisen und sagen, dass „alle Qualitäten nur Potenzen des sche Gleichheit und Bindung (vgl. Rang 2000, 136 Anm. 18). Der mathematischen Interpretation von ‚A = B‘ muss jedoch ebenso wie dem Bindungsgedanken für 1801 widersprochen werden. Denn das bleibende Problem ist, dass in der grundlegenden Potenzformel ‚A = B‘ eben ein Übergewicht, und kein wechselseitiger Ausgleich dargestellt sein soll; und dass eben dies, wie Eschenmayer zurecht kritisiert hat, mit dem mathematischen Gleichheitszeichen nicht zu machen ist. Der Eindruck ist daher eher der, dass Schelling tatsächlich das ‚Gleichheitszeichen‘ in verschiedenen Bedeutungen einsetzt, und diese womöglich im Laufe der Jahre 1801 bis 1806 noch erweitert, sie aber nicht sachbezüglich nachvollziehbar voneinander abgrenzt.

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Einen gleichen und indifferenten A = B sind“ (AA I,10, 171/SW IV, 171). Beide Redeweisen widersprechen sich allerdings in dem Sinn nicht, als durch die ‚Potenzen‘ genannten Relationen das Einzelne, Erscheinende überhaupt erst konstituiert wird. Hinzu kommt, dass Schelling zusätzlich zur Auffassung eines relativen Übergewichts aus der Perspektive des (neutralen) Ganzen gelegentlich das Übergewichtsverhältnis der Potenz aus der Perspektive des Pols der Subjektivität heraus zu entwickeln versucht, entsprechend dem transzendentalphilosophischen Ansatz des Systems von 1800, in dem ja auch die Natur aus den Prinzipien des Geistes heraus entwickelt wurde. So erwägt Schelling an einer bemerkenswerten Stelle, an der er erstmals in seinem Werk eine Formel mit einem hochgestellten Exponenten im Zusammenhang mit einer Potenz gebraucht: Wenn wir dieses Übergewicht der Subjektivität oder Objektivität durch Potenzen des subjektiven Faktors ausdrücken, so folgt, dass A = B gesetzt auch schon eine positive oder negative Potenz des A gedacht werde, und dass A0 = B so viel als A = A selbst, d. h. Ausdruck der absoluten Indifferenz sein müsse. (AA I,10, 126/SW IV, 124)

Offensichtlich versucht Schelling in dieser komplexen Überlegung drei Gedanken zusammenzuführen. Der eine Gedanke ist eben der, dass sich die Relationsverhältnisse des A = B nicht nur aus der Perspektive der Identität, sondern auch von der Perspektive des Subjekts her entwickeln lassen müssen. Der zweite Gedanke, der hierbei sichtbar wird, ist der, dass sich ein Übergewicht sowohl durch Erhöhung des einen Faktors als auch durch Erniedrigung des anderen erzeugen lässt. Der dritte ist schließlich der, dass eine Erniedrigung des subjektiven Faktors auf den Nullpunkt der Neutralität (A0) bedeuten würde, dass dieser dadurch der Relationalität überhaupt enthoben wäre und die subjektive Potenz in den Grund der Identität des A = A zurückfallen würde. 10 Dieser Ge10 Es scheint so, als hätte Schelling die beiden letzten Gedanken, den der Neutralität des Nullpunkts und den der Inversion, dem Aufbau der Eschenmayer’schen Gradreihe entnommen. Eschenmayer entwickelte in seinem 1797 erschienenen Sätzen aus der Natur-Metaphysik auf chemische und medicinische Gegenstände angewandt einen Seinsaufbau mittels einer Gradreihe von Potenzen, die er folgendermaßen darstellte: „A:Bþn , … A:Bþ3 , A:Bþ2 , A:Bþ1 , M0 , A:B–1 , A:B–2 ; A:B–3 , … A:B–n “ (Eschenmayer 1797, 12). Es sind also im Gegensatz zum Schellingschen Modell Gradreihen, bei denen sich die eine (links) ins Unendlichgroße, die andere ins Unendlichkleine entwickelt. Dabei bezeichnet M0 den Mittelpunkt der beiden Reihen, deren gemeinsames neutrales Element (vgl. hierzu Durner 2001, XII). Hierbei formuliert Eschenmayer auch den Gedanken der Inversion: „Es gilt gleich, ob ich A oder B als unveränderte Größen setze. Denn A:Bn = B:A–n “ (Eschenmayer 1797, 12). Damit ist nicht mehr gesagt, als das eine relative Erhöhung einer Seite der relativen Erniedrigung der anderen entspricht. Auch das nachfolgend vorgestellte Grundmodell Schellings nimmt diese beiden Ideen auf, ohne sie doch wie Eschenmayer zu einer unendlichen Gradreihe von Potenzen zu erweitern. Zudem spricht Schelling an der zitierten Stelle von negativen Potenzen – ein Ausdruck, der der Notation Eschenmayers entspricht und der einen definierten mathematischen Sinn hat, auf den Schelling aber nie zurückgreifen wird. Denn negative Potenzen lassen sich

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danke wird auch bestärkt durch eine nachträgliche Anmerkung Schellings in seinem Handexemplar, bei welcher er nach dem Ausdruck ‚A = A‘ „= 1“ (AA I,10, 126/SW IV, 124) einfügte. 11 Da die angeführte Stelle allerdings auch die einzige ist, an der Schelling innerhalb der Darstellung meines Systems die Notation ‚A0‘ gebraucht, lässt sich die Frage nach deren Bedeutung nicht mit letzter Klarheit beantworten. 12 Die Gesamtveranlagung des Identitätssystems im Zusammenhang mit der Buchstabennotation von Potenzen lässt sich nun näher erläutern, wenn man auf das Seins-Modell der Linie zurück kommt, welches ja nicht nur die Aufgabe hatte, die Identität des Ganzen (Absoluten) aus dem Indifferenzpunkt heraus zu erläutern, sondern das von da aus wiederum darlegen musste, wie Differenz des Unterscheidbaren und insbesondere eine Ausdifferenzierung des Absoluten in eine subjektive und objektive Seite, in Sein und Erkennen, und damit in Potenzen des Subjektiven und Objektiven, möglich und systematisch verortet sein kann. Schelling hat dieses Modell in verschiedenen Grafiken dargestellt; am eingängigsten ist folgende Darstellung: weder im mathematischen Sinn, nach dem a–n = 1/an ist, noch in einem anderen Sinn in Schellings Philosophie der Potenzen integrieren. Inwiefern Schellings identitätsphilosophisches Linienmodell sich überhaupt Eschenmayers Gradreihe verdankt, ist schwer zu sagen. Jantzen entnimmt Eschenmayers Reihe auch den Gedanken, dass sich die Wirklichkeit als eine „Folge von Potenzierungen eines Indifferenten deuten und […] in der Struktur quantitativer Differenz ausdrücken lässt“ (2005, 158). Es ist hiergegen allerdings anzumerken, dass das Indifferente bei Eschenmayer lediglich den Schnittpunkt der beiden Reihen bezeichnet, und nicht wie bei Schelling eine umfassende Seinsschicht, welche beiden Reihen zugrunde liegt, so dass jeder Punkt der Reihe zugleich Indifferenzpunkt ist. 11 Möglicherweise ist dieser Eintrag eine Reaktion auf Eschenmayers erwähnten Brief, in dem er Schelling darauf aufmerksam macht, dass A0 mathematisch = 1 bedeute (AA III,2,1, 359/Plitt I, 338). In der Eins wird nicht nur der Gedanke der Einheit des Identischen erneut expliziert, sondern die Eins ist auch das neutrale Element der Multiplikation und als solches als das Resultat der mathematischen Potenzierung jeder beliebigen Zahl mit der Null definiert. Allerdings hat Schelling diesen Gedanken nicht weiterverfolgt. Im Gegenteil, noch 40 Jahre später, merkt Schelling in der 17. Vorlesung der Darstellung der reinrationalen Philosophie an einer Stelle, an der er „wie früher“ auf den Ausdruck ‚A0‘ zurückgreift, an, dass hierbei „an das arithmetische A0 = 1 nicht gedacht“ (SW XI, 391) sei. 12 Eine mögliche Erklärung der A0-Notation wäre folgende: Den jeweils nicht potenzierten Grundzustand in Relation zu einem potenzierten hatte Schelling in den Schriften zuvor als ‚erste Potenz‘ bezeichnet. Da dieser Grundzustand allerdings bereits ein Etwas als ein Spezifikum bezeichnet, gebraucht Schelling nun den Ausdruck ‚A0‘ für die Indifferenz selbst, während er für das Reelle und das Ideelle überhaupt, als erste Bausteine von Differenzierungsverhältnissen nun lediglich die Buchstaben A und B gebraucht, die sich ja als erste Potenzen im Sinne von Grundcharakterisierungen des Ideellen und Reellen überhaupt verstehen lassen und zudem mathematisch der Notationsweise A1 und B1 entsprechen. Allerdings ist zu sehen, dass Schelling die Buchstabennotation A und B sehr variabel gebraucht und andere Passagen einer solchen Zuordnung widersprechen.

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[fig. 1 = AA I,10, 139/SW IV, 137]: Aþ ¼ B A ¼ Bþ A¼A In dieser Darstellung sind das Modell der Linie und der Balkenwaage in sich vereinigt. Die mit ‚A = A‘ bezeichnete Mitte stellt den Indifferenzpunkt dar und die mit dem +-Zeichen versehenen Ausdrücke ‚A = B‘ oberhalb der Linie die Pole relativen Übergewichts nach der Seite der Subjektivität (links) oder Objektivität (rechts) (vgl. AA I,10, 139 f./SW IV, 138). Das Kürzel ‚A = B‘ (im Gegensatz zu ‚A = A‘) drückt dabei aus, dass es sich hier um eine Betrachtung in Hinsicht auf ein relatives Übergewicht eines an sich Identischen handelt, das +-Zeichen markiert die Seite, auf welcher dieses Übergewicht vorherrscht. Dem Modell der Balkenwaage entnommen ist der Gedanke von einem Indifferenzpunkt als eine Mitte, in der zugleich die Totalität des Ganzen wie im physikalischen Schwerpunkt einer Masse gedanklich versammelt ist. Dies gilt hier für das A = A. Und der Gedanke eines relativen Übergewichtes nach einer Seite bei einer asymmetrischen Verschiebung der quantitativen ‚Last‘ auf die eine oder andere Seite. Dies entspricht dem Ausdruck des ‚A = B‘ oder der Potenz, der eben eine relative Verschiebung „nur in Bezug auf das Ganze, nicht auf sich selbst“ (AA I,10, 142/SW IV, 141) bezeichnet; denn in Hinsicht auf sich selbst bezeichnen alle Punkte der Linie dieselbe Identität (A = A). Dies ist der Grund, weshalb es Potenzen als substanziell Einzelne außerhalb des Relationengefüges auch nicht geben kann. Dem Modell der Linie entnommen ist nicht nur die kontinuierliche Ausbreitung nach beiden Seiten, sondern auch eben dieses sich gleich Bleiben aller Punkte auf der Linie, bei der jeder für sich als Identitätspunkt aufgefasst werden kann, und bei denen nur ihre Lage in Hinsicht auf das Ganze der Linie und die Lage der anderen, je für sich wieder als Indifferenzzentren auftretenden Punkte eine relative, quantitative und wechselseitige Differenz (= ‚Potenz‘) erzeugen. Auf diese Weise ist „die […] konstruierte Linie […] die Form des Seins der absoluten Identität im Einzelnen wie im Ganzen“ (AA I,10, 140/SW IV, 139). Da die Linie als Form des Ganzen nichts anderes ist als das Kontinuum aller Punkte, welche an sich gleich sind, aber wechselseitig und in Bezug auf das Ganze die einzelnen Potenzen als differenzierbare Seinsmomente bezeichnen, kann Schelling wiederum sagen, dass „die absolute Identität […] nur unter der Form aller Potenzen“ (AA I,10, 136/SW IV, 135) sei. Diese gewichtige Feststellung, welche den unauflösbaren Zusammenhang von Potenz und Identität im Identitätssystem benennt, wird von Schelling noch um den Gedanken erweitert, dass es von der in der jeweiligen Potenz sichtbar werdenden Differenz ausgehend ein Streben des Seins nach weiterer Ausdifferenzierung und damit nach Realisierung des je Subjektiven oder Objektiven gibt. Es gibt, so Schelling, „außerhalb der absoluten Totalität [eine] durchgängige Tendenz zum Sein oder zur Realität in Ansehung des Subjektiven [und Objek-

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tiven]“ (AA I,10, 143/SW IV, 142). Diese Realität, der alles zustrebt, ist auf der Seite des je Subjektiven oder Objektiven in verschiedenen Graden zu erreichen, je nach der Quantität des relativen Übergewichts, das in der Potenz-Formel ‚A = B‘ ausgedrückt ist. Dies jedoch eröffnet zugleich den Gedanken einer „Aufeinanderfolge der Potenzen“ (AA I,10 143/SW IV, 142) – ein Gedanke, der das nun neu entworfene Konzept von Potenz innerhalb des Identitätssystems anknüpfungsfähig macht an die in den Schriften der Jahre vor 1801 je entwickelte Natur- und Transzendentalphilosophie und der in ihr skizzierten Idee einer Stufenfolge und Reihenbildung der Potenzen, die in der weiteren Entwicklung des Identitätssystems erneut eine gewichtige Rolle spielen wird. Im abschließenden § 50 des allgemeinen Teils der Darstellung von 1801 versucht Schelling in einem zweiten Schema das Verhältnis des Absoluten und Einzelnen im Identitätssystem noch näher zu erläutern. Hier geht es zunächst darum, klar zu stellen, dass A und B, die Pole des Ideellen und Realen nicht je für sich unabhängig Seiende sein können, sondern dass ihnen nur in ihrer Wechselbezüglichkeit Sein zukommt. Daher gilt auch für die Potenzformel, dass sie „nur insofern ein Sein ausdrücken kann, als in ihr A und B beide als seiend gesetzt sind“ (AA I,10, 141/SW IV, 139, Herv. Vf.). Die Begründung führt Schelling darüber, dass die Potenzformel die Differenz von A und B nur in Hinsicht auf das Ganze ausdrückt; in Hinsicht auf sich selbst sind A und B im Einzelnen ja identisch, also A = A. Daher können auch A oder B in der Potenzformel nicht isoliert existieren, da die Setzung des einen in Hinsicht auf sich selbst der Setzung des anderen gleichkommt. Nun unterscheidet Schelling von hier aus in Bezug auf das Ganze zwei perspektivische Hinsichten, unter denen die Potenz A = B betrachtet werden kann. Die erste ist die Hinsicht auf die Pole selbst, welche zwar an sich nicht selbstständig sind, sich aber in Abstraktion ihrer Identität auf sich selbst, bloß als die auseinanderstrebenden Dimensionen der Linie (als Links- und Rechts-Richtung, die an sich, ohne die je andere auch nichts sind), betrachten lassen. 13 Dies nennt Schelling die „relative Duplizität“ (AA I,10, 141/SW IV, 140) der Pole. Zweitens lassen sich die einzelnen Potenzen, d. h. die je einzelnen Punkte der Linie in Hinsicht auf das Ganze des bipolaren Universums betrachten. Hier sind wiederum zwei Fälle denkbar. Entweder steht eine Potenz selbst in der Mitte der Linie. Dann befindet sie sich nicht nur in Hinsicht auf sich selbst, sondern auch auf das Ganze im Indifferenzpunkt. A = B ist dann kein Ausdruck eines relativen quantitativen Übergewichts des Subjektiven oder Objektiven. Sondern A = B bezeichnet dann den Sonderfall einer „relativen Identität“ 13 Es ist klar, dass im Gedanken der Polarität das Linien-Modell an seine Grenzen kommt, da die Linie zwar Richtungen, im Gegensatz zu einer Strecke aber keine Endpunkte hat. Im Gedanken der Polarität greift Schelling also wieder auf das von ihm mit der Linie verbundenen Modell des Stabmagneten zurück.

II. Potenzen innerhalb des ontologischen Grundschemas des Identitätssystems

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(AA I,10, 141/SW IV, 140). Bedeutsamer für die Entwicklung der Naturphilosophie innerhalb des Identitätssystems ist der Fall, in dem A = B in Betracht auf das Ganze in relativem Übergewicht auf eine Seite, insbesondere der Seite des Objektiven (B) steht. Denn es ist klar, dass die Konstruktion der gesamten physikalischen Welt sich in diesem Verhältnis darstellen muss. Schelling nennt diesen Fall eines Übergewichts dort, wo das Übergewicht seine maximale Einseitigkeit erreicht, d. h., dort wo A = B gleichsam unter dem Extremum eines Pols A oder B situiert ist, „relative Totalität“ (AA I,10, 141/SW IV, 140). In dieser Perspektive verschwindet in der einseitigen Sicht auf die Pole des Ganzen gleichsam das Objektive unter dem Subjektiven und umgekehrt, wiewohl weiterhin gilt, dass beide ontologisch wechselabhängig und in Bezug auf sich selbst gar identisch sind. Es ist diese relative Totalität, von der aus Schelling in der anschließenden Naturphilosophie den materiellen Kosmos zu konzipieren beginnt. Von dieser systematischen Rekonstruktion der Grundzüge des Identitätssystems aus, wie sie Schelling 1801 erstmals dargestellt hat, lässt sich die Frage nach der Semantik des Potenz-Begriffs und nach dem systematischen Gewicht der Potenzen in ihr grob beantworten. So dürfte klar geworden sein, dass mit der allgemeinen Bezeichnung der ‚Potenz‘ für alle Seinsmomente, an denen in Hinsicht auf das Ganze ein quantitatives Übergewicht nach der Seite der Subjektivität oder Objektivität sichtbar wird, diesem Begriff eine herausragende Stellung innerhalb des Identitätssystems in seiner ersten Fassung zukommt. Denn damit ist nichts Geringeres bezeichnet, als der metaphysische Grund dafür, dass sich im Identitätssystem nicht alles in Identität auflöst und dass in ihm überhaupt Einzelnes und Unterscheidbares ihren systematischen Ort finden. Allerdings bleibt der Ausdruck der ‚Potenz‘ für das in der Formel ‚A = B‘ dargestellte Verhältnis bis dahin auch formal. Weder wird mit ihm deutlich, ob in ihn noch weitere Bedeutungen aus den Vorgängerschriften transportiert werden als die von Schelling neu erklärte einer ‚quantitativen Differenz in Bezug auf das Ganze‘, noch, inwiefern sich seine konkrete Funktion im Aufbau der Natur und des Geistes im Gegensatz zu diesen Vorgängerschriften ändert. Hierzu ist nachfolgend der naturphilosophische Teil der Darstellung von 1801 zu evaluieren, der einerseits den Potenzbegriff von 1801 in Beziehung zu den dargelegten Bedeutungen der Schriften von 1799/1800 setzt und dadurch Schellings diachrone Begriffsentwicklung aufzeigen soll und andererseits das formale Moment der Differenz in Bezug auf das Ganze an konkreten Systemstellen des Aufbaus der Naturphilosophie erläutern und veranschaulichen soll. Vorab ist allerdings festzuhalten, dass Schelling in der allgemeinen Metaphysik der §§ 1–50 seiner neuen Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801 auch zumindest in der Weise einen neuen Potenzbegriff einführt, dass dieser nicht auf eine Vorgängersemantik schlicht zurückgreift und weder die

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begriffliche noch systematische Bedeutung einer bereits erschienenen Schrift direkt weiterführt. So ist offensichtlich, dass das System der Potenzen, das die strukturellen Entfaltungsstellen des Realen und Idealen innerhalb des Absoluten angibt, einen viel stärker statischen Charakter hat, als das von dynamischen Übergängen geprägte Modell höherer Potenzen in den Schriften von 1800. 14 Schelling macht demnach auch beim Begriff der ‚Potenz‘ in der Neudarstellung seines Systems von 1801 in der Hinsicht ernst, dass in ihm die Begriffe nach dem Kohärenzprinzip mittels der Frage, „ob sie mit sich selbst übereinstimmen“ (AA I,10, 112/SW IV, 110) zur Verständlichkeit ausschließlich innerhalb des Textes des neu dargelegten Systems kommen sollen, und daher „bloß aus sich selbst, nicht aber aus anderen Darstellungen“ (AA I,10, 112/SW IV, 110) zu beurteilen seien.

III. Potenzen in der Naturphilosophie der Darstellung meines Systems Behandeln die §§ 1–50 der Darstellung meines Systems die allgemeine Ontologie des Identitätssystems, widmet sich Schelling im zweiten Teil (§§ 51–159) erneut der Naturphilosophie und ihrem Zusammenhang zum Ganzen der Identität zu; eine entsprechende Darstellung der Seite der Subjektivität, d. h. der Transzendentalphilosophie innerhalb des Identitätssystems von 1801, fehlt. 15 Innerhalb des naturphilosophischen Teils beginnt Schelling wie schon in der Allgemeinen Deduktion von 1800 mit der Konstruktion der Materie. Es ist daher für den Zusammenhang der Naturphilosophie mit dem Ganzen entscheidend, zu sehen, wie Schelling die Materie aus dem allgemeinen Schema der Linie und des an ihr entfalteten Potenz-Begriffs entwickelt. Hierbei spielt der zuvor erörterte Begriff einer ‚relativen Totalität‘ eine wichtige Rolle, mittels dessen Schelling nun direkt die Materie bestimmt, denn: „die erste relative Totalität ist die Materie“ (AA I,10, 143/SW IV, 142). Gemeint ist damit, dass die Materie innerhalb der physischen Welt, welche ja überhaupt der Seite des B entspricht, die erste Voraussetzung, „das primum Existens“ (AA I,10, 144/SW IV, 144) ist. Sie ist gleichsam in relativer Stellung 14 Hartkopf 1975, 202 spricht treffend von ‚Zustandspotenzen‘ im Gegensatz zu den ‚Geschehenspotenzen‘ „als Phasen eines Entfaltungs- oder Entwicklungsvorgangs“ der Schriften zuvor. 15 Dies mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass die Darstellung meines Systems zuerst von Schelling in seiner Zeitschrift für spekulative Physik, die ja die Diskussion und Verbreitung seiner Naturphilosophie zum Ziel hatte, erschien; in der Schlussanmerkung verweist Schelling auf das Fehlen der ideellen Reihe, deren Darstellung für eine spätere Schrift angekündigt, die aber so nie in einer publizierten Schrift innerhalb dieser Periode ausgeführt wird. Lediglich die Nachlasstexte der Philosophie der Kunst und das sogenannte ‚Würzburger System‘ enthalten auch eine Entfaltung der ideellen Reihe innerhalb der Identitätssystems.

III. Potenzen in der Naturphilosophie der Darstellung meines Systems

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zum Ganzen diejenige Potenz mit dem stärksten, weil reinsten Übergewicht in Hinsicht auf die objektive Seite. Umgekehrt ist die Seite der Objektivität, deren relative Stellung zum Ganzen ja im Begriff der Potenz im Identitätssystem enthalten ist, in der Materie in Reinform enthalten (vgl. § 56); daher kann Schelling sagen, dass Materie „aus dem A = B, dem Ausdruck der Potenz überhaupt, abgeleitet werden kann, [weil sie dasjenige ist,] was zuerst gesetzt ist, so wie Potenz überhaupt gesetzt ist“ (AA I,10, 144/SW IV, 143). Die Materie selbst konstruiert Schelling wieder über die beiden metaphysischen Urkräfte der Attraktion und Repulsion. Unter den Voraussetzungen des Identitätssystems verlagert Schelling hierbei zunächst den Begriff der Kraft in die Identität als Zentrum des Systems selbst: „Das Wesen der absoluten Identität“, heißt es im § 52, „insofern sie unmittelbarer Grund von Realität ist, ist Kraft“ (AA I,10, 146/SW IV, 145). Von dort aus kann Schelling nun argumentieren, dass die der Identität allgemein inhärierende Kraft in Hinsicht auf die Materie als relativer Totalität A = B sich als Attraktiv- und Expansivkraft entfalte, und zwar so, dass innerhalb jeder einzelnen Potenz A = B sich in A und B Attraktiv- und Expansivkraft wiederfinden und im einzelnen Gegenstand je spezifisch wechselseitig durchdringen: „Innerhalb der einzelnen Potenz sind A und B wieder quantitativ gesetzt in Ansehung dieser Potenz […] als Attraktivund Expansivkraft“ (AA I,10, 149/SW IV, 148), und zwar mit relativem Übergewicht der einen oder anderen Kraft. 16 In der aus den Schriften zur Naturphilosophie bekannten Wiese entstehen durch das sich Durchdringen der Kräfte überhaupt erst die Objektbereiche der Erscheinungswelt und der Grad des je relativen Übergewichts in ihnen gewährt deren spezifische Charakteristik und ihr dynamisches Moment des Fortschreitens zum Nächsten. Den Ausdruck der ‚Potenz‘ gebraucht Schelling hierbei sowohl für das relative Übergewicht des Objektiven zur Bezeichnung der physikalischen Welt insgesamt als auch einzelner Bereiche und Dinge in ihr. Dabei gilt, dass in den einzelnen Dingen und Ereignissen kein Gleichgewicht der Kräfte stattfindet, sondern die Dinge, Ereignisse und Seinsschichten sich je in dynamischen Verhältnissen zueinander befinden, während sowohl für das materielle Universum als auch das absolute Universum (inklusive der geistigen Welt) gilt, dass sich in ihnen die Kräfte je insgesamt ausgleichen. 17 16 Hierbei ist auf zwei systematische Schwierigkeiten dieser Konzeption hinzuweisen: 1) ist zwar nachvollziehbar, dass Schelling das naturphilosophische Kräftemodell auch in die reale Reihe der Identitätsphilosophie integrieren möchte, doch scheint die Aufnahme dieser Kräfte zur Erzeugung der Materie der Feststellung, dass die Materie das primum existens der reellen Seite sein soll, zu widersprechen; für diesen Hinweis danke ich Jonas Hodel. 2) ist unklar, inwiefern die nun eingeführte Kraft innerhalb des Absoluten der Produktivität als der metaphysischen Urkraft der Naturphilosophie entsprechen könnte oder was sonst ihre Eigenschaften sein könnten. Zu dieser Problemlage vgl. Schwenzfeuer 2012, 209–211, der eine Gleichsetzung von Produktivität und Identität verneint. 17 Rang 2000, 194–198 weist darauf hin, dass Schelling hierbei auf die in Kants Versuch, die

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Wichtig für die Ausgestaltung des Identitätssystems ist nun, dass Schelling die bekannte und in den Schriften zuvor bereits ausgearbeitete Gedankenfigur des allgemeinen Organismus auch in das Schema der Linie als dem allgemeinen Seinsmodell einflicht. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass die Bipolarität der Linie sich generell in den einzelnen Punkten der Linie wiederfindet. Dies bedeutet aber zudem, dass auch die spezifische Bipolarität unter dem Übergewicht des Objektiven, das die physikalische Welt auszeichnet, in allen ihren internen Bereichen und Elementen wiederkehrt. Hierfür bedarf es aber je eines spezifisch die Materialität der physischen Welt kennzeichnenden ideellen und reellen Prinzips innerhalb der Natur, so dass innerhalb der Natur erneut die Bipolarität des Ideellen und Reellen wiederkehrt. Als diese bipolaren Prinzipien innerhalb des materiellen Universums fasst Schelling in der Darstellung von 1801 Licht und Schwerkraft. Licht ist das ideelle, geistige Prinzip innerhalb der Natur, die Schwerkraft ihr materielles Pendant. Dabei versteht Schelling aus der Perspektive der ursprünglichen Kräfte das Licht zunächst als unbegrenzbares ideelles Prinzip, die Schwerkraft hingegen als das reelle, begrenzende Prinzip. Mit dem Entstehen des materiellen Kosmos kommen beide Momente zusammen. Schelling beschreibt dies als ein ReellWerden des ideellen Prinzips: Das ideelle Prinzip der Subjektivität wird „nur begrenzt, insofern es dem reellen gleich, d. h., selbst reell wird“ (AA I,10, 149/ SW IV, 149). Dieses reell gewordene ideelle Prinzip, d. h. das ideelle Prinzip innerhalb des reellen Bereichs der Natur ist das Licht. Zur näheren Beschreibung dieser Verhältnisse greift Schelling auf den Ausdruck einer ‚höheren Potenz‘ zurück und setzt diese nun in Kontrast zu einer ‚niedereren Potenz‘ – eine Neuformulierung, die an dieser Stelle lediglich die Relationalität einer Stufe in Bezug auf die höhere ausdrückt, und auf die Schelling in seinem weiteren Werk nicht mehr zurückgreifen wird: Es [das ideelle Prinzip] kann aber nicht als unbegrenzbar gesetzt werden, als in einer höheren Potenz der Subjektivität. – Beweis. Denn in der niedereren Potenz ist es begrenzt […]. Unmittelbar dadurch, dass A = B als relative Totalität ist, ist diese höhere Potenz gesetzt, denn A = B ist quantitatives (begrenztes) Setzen von A und B. (AA I,10, 149/SW IV, 149; ‚begrenztes‘ ist ein Zusatz aus Schellings Handexemplar.)

Schelling führt diesen Gedanken fort, indem er nun in der Perspektive auf die Natur-Prinzipen die relative Totalität A = B, die im ursprünglichen Schema die Materie bezeichnet hatte, als Schwerkraft auffasst, die, wie bereits in der Naturphilosophie ausgeführt, von Schelling als eine nicht-empirische, metaphysische Kraft, die unmittelbar die materiellen Produkte bestimmt, verstanden wird. Genauer gesprochen ist die Schwerkraft das „Begrenztsein des A in dem A = B“ (AA I,10, 150/SW IV, 149); Schelling benennt sie aber in der Gegenüberstellung negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (Kant AA I, 777–819) formulierten Erhaltungssätze zurückgreift.

III. Potenzen in der Naturphilosophie der Darstellung meines Systems

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mit dem ideellen Prinzip gleichfalls als ‚A = B‘. Und dieser Zug ist folgenschwer, denn im Kontrast hierzu benennt Schelling das ideelle Prinzip, das er zuvor bereits als die höhere Potenz der Subjektivität bezeichnet hatte, mit dem Ausdruck ‚A2‘ : „Unmittelbar durch A = B, d. h. […] die Schwerkraft, ist das ideelle Prinzip, insofern es ideell ist, als A2 gesetzt“ (AA I,10, 150/SW IV, 149). Diesen Gedanken schließt Schelling mit der Zuordnung ab: „Das A2 ist Licht“ (AA I,10, 151/SW IV, 151). Folgenschwer ist diese Entscheidung inklusive der Neueinführung des Ausdrucks einer Potenz in der Schreibweise mit einem hochgestellten Exponenten aus dem Bereich der natürlichen Zahlen aus mehreren Gründen: Erstens führt Schelling damit eine quasi-mathematische Notationsweise für ‚Potenz‘ fort, die bereits in ‚A0‘ angedeutet war und die nicht nur zu der Fehlmeinung geführt hat, Schelling hätte den Potenzgedanken der Mathematik entlehnt, und die Notation mit hochgestelltem Exponenten entspräche dem mathematischen Sinn von Potenz, sondern die Schelling auch bis in die Spätphilosophie beibehalten wird. Zweitens ist die Ausdrucksweise ‚A2‘ an dieser Stelle schematisch problematisch und führt dazu, dass die mit der Formelsprache belegte Potenzentheorie an der ersten Stelle ihres Entstehens bereits mit unnötigen Verständnisschwierigkeiten behaftet wird. Betrachten wir diese Schwierigkeiten näher. Wenn die Seinslinie insgesamt in Polen terminiert (bzw. bipolar sich ausrichtet), die für sich betrachtet, mit A und B bezeichnet werden können, deren genauere Notation aber mit ‚Aþ = B‘ und ‚A = Bþ ‘ angegeben wird, worin das relative Übergewicht des subjektiven (A) und des objektiven (B) Pols zum Ausdruck gebracht wird, so ist es bereits systematisch schwierig, dass Schelling denjenigen Bereich der Natur, der unter dem Übergewicht (der Potenz) des Objektiven steht, mit ‚A = B‘ kennzeichnet. Denn unter den Grundvoraussetzungen der Identitätstheorie müsste es einen entsprechenden Ausdruck für die Welt des Geistes geben, der die Symmetrie des Geistes und der Natur in Bezug auf die Indifferenz (A = A) wiedergibt, in etwa ‚B = A‘. Und tatsächlich hatte Schelling ja zunächst den Ausdruck ‚A = B‘ sowohl für die Potenz des Subjektiven als auch des Objektiven eingeführt: es bedeutete „entweder überwiegende Subjektivität oder überwiegende Objektivität“ (AA I,10, 126/SW IV, 124). Diese Festlegung war aber schon ihrerseits dadurch problematisch, dass Schelling hier zugleich „B als Bezeichnung der Objektivität“ (ebd.) festlegte, ohne entsprechend A als Bezeichnung für die Subjektivität festzulegen – eine Schwierigkeit, die wiederum ihren Grund darin haben mochte, dass der Term ‚A‘ bereits mit der (traditionellen) Identitätsformel A = A belegt war, und diese nicht lediglich die Sichselbstgleichheit des Subjektiven zum Ausdruck bringen sollte. Der stillschweigende Übergang der Formel ‚A = B‘ von einer Bezeichnung für beide Potenzen zur Bezeichnung bloß des materiellen Kosmos und der Materie als ihrem ersten Prinzip konnte an dieser Stelle auch deshalb entstehen, weil Schelling innerhalb der Darstellung von 1801 keine neue Darstellung der Trans-

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zendentalphilosophie in Bezug auf das Identitätssystem darbot und daher nicht gezwungen war, hierfür eine entsprechende Ausdrucksweise mit den als Verhältniszeichen aufzufassenden Gleichheitszeichen zu finden. Erst mit der Idee eines ideellen Prinzips innerhalb der Natur in Analogie zum reellen Prinzip der Schwere kam die Notwendigkeit auf, hierfür einen entsprechenden Ausdruck zu finden. Wenn Schelling das Licht als ‚A2‘ bezeichnet, dann betont das natürlich das relative Übergewicht auf der Seite des A gegenüber A = B. Es muss aber dennoch als ein Notbehelf angesehen werden. Denn im absoluten Sinn des Gesamtsystems ist alles, das im Bereich der Natur liegt, mehr auf der Seite des B als des A, weswegen es in der Gesamtperspektive in etwa entsprechender gewesen wäre, das Licht mit ‚A = B‘ und die Schwere mit ‚B2‘ zu bezeichnen. 18 Mit Schwierigkeiten behaftet ist auch die Bezeichnung des Lichts als einer ‚höheren‘ Potenz der Subjektivität bzw. als „ideelles Prinzip der höheren Potenz“ (AA I,10, 150/SW IV, 150) die er der „niedereren Potenz“ (AA I,10, 149/ SW IV, 149) der Schwere entgegensetzt. Wenn man vom erklärten Gedanken der Gleichrangigkeit der Parallelwissenschaften und ihrer Vereinigung im 18 Frank 2018, 214 (und entsprechend schon 1991, 102 f.) hat auf eine Passage Schellings hingewiesen, in welcher dieser in seiner Vorlesung zur Einleitung in die Philosophie von 1830 (= Schelling 1830, 49 f.) die Logik Christian Wolffs und die in dieser enthaltenen mittelalterlichen Gedankenfigur der reduplicatio erwähnt habe. Für Frank ist dies der entscheidende Hinweis auf die Herkunft eines für Schellings Identitätsphilosophie durchgreifenden Modells, das grundsätzlich geeignet ist, die Schwierigkeiten der Differenz in der Identität aufklären. Danach kann eine selbe Sache unter ihren verschiedenen Aspekten prädiziert werden, wobei eine Prädikation unter den ihr wesentlichen Aspekten zu einer Verdoppelung führt. So wird in etwa in der Aussage „der Mensch, insofern er Mensch ist, ist das würdigste der Geschöpfe, insofern er aber ein ruchloser Übeltäter ist, verdient er Verachtung“ (Frank 2018, 216) der Ausdruck Mensch ‚A‘ einmal unter spezifisch diesem Aspekt a prädiziert, was zu der Reduplikation ‚A als a‘ oder ‚a2‘ führe, ein andermal unter einem anderen Aspekt b (A als B, oder ‚a = b‘), was zugleich die spezifische Terminologie der Potenzen in der Darstellung meines Systems erkläre. In Schellings Vorlesung heißt es, dass reduplikatives Setzen so viel bedeute, „als dass das a aus dem impliziter b sein Können heraustritt und dann als a folglich mit sich selbst multipliziertes a ist. a kann also nicht b sein ohne nicht zugleich als a zu sein. Wir hätten nun auf der einen Seite a = b; auf der anderen Seite a […] das [.] zu einem a2 wird“ (Schelling 1830, 50). Tatsächlich bietet dieser Hinweis auf die Figur der Reduplikation einen Erklärungsansatz für Schellings ansonsten rätselhafte asymmetrische Bezeichnungsweise für die Potenzen ‚a2‘ und ‚a = b‘ an dieser Stelle. Allerdings sind damit weder die genannten systematischen Schwierigkeiten gelöst, noch auch nur erklärt, weshalb Schelling in etwa diese Bezeichnungsweise nur in der Naturphilosophie des Identitätssystems einführt, nicht aber im allgemeinen Teil der Darstellung von 1801, in welchem er zunächst Begriff und Notation der Potenzen aus dem Fundamentalproblem von Identität und Differenz heraus erläutert hatte. Auch ist bei Schellings oszillierendem Begriffsgebrauch große Vorsicht anzumahnen, wenn es darum geht, spätere Erklärungen auf frühere Theoriestücke zu projizieren – zumal, wenn die zeitliche Distanz fast 30 Jahre beträgt und Schelling in der zitierten Passage von einem a oder b sein Können des A spricht, und damit Potenzverhältnisse unter der Grundfigur der Sein-Könnens ausspricht, die in der Spätphilosophie zentral sein wird, 1801 jedoch noch überhaupt nicht angelegt war.

III. Potenzen in der Naturphilosophie der Darstellung meines Systems

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Identitätssystem ausgeht, ist es in Hinsicht auf die Systemarchitektur nicht zu verstehen, weshalb Schelling hier der ideellen Seite den Rang einer höheren im Vergleich zu einer niedereren auf der Seite des Reellen zuerkennt; hier scheint noch die Stufenfolge nachzuwirken, die Schelling im System des transzendentalen Idealismus angelegt hatte und nach welcher (aus der Perspektive der Transzendentalphilosophie) die Stufen des Geistes als (numerisch und in Hinsicht auf ihre Dignität) höhere Potenzen in der Folge der Stufen der Natur gesetzt werden konnten. Diese asymmetrische Konstellation lässt sich jedoch nicht ohne schwerwiegende systematische Verzerrungen in das von seiner Grundveranlagung gegenüber dem Subjektiven und Objektiven a priori wertneutrale, symmetrische Schema der Seins-Linie des Identitätssystems integrieren. Zudem setzt Schelling schließlich in einem Eintrag in sein Handexemplar den Ausdruck ‚A2‘ zur Bezeichnung der relativen Totalität des Lichts mit dem Ausdruck einer ‚zweiten Potenz‘ gleich (AA I,10, 152/SW IV, 152). Dies ist zwar insofern naheliegend, als ‚a2‘ die zweite Potenz von a im mathematischen Sinn bedeutet. Aber abgesehen davon, dass auch hier die darin enthaltene mathematische Konnotation einer Multiplikation mit sich selbst irreführend ist, ist bei dieser Bezeichnung zu beachten, dass sie nicht der Bedeutung einer zweiten Potenz in den Schriften zuvor entspricht, wo es sich um eine reflexive (organische) Steigerung, um ein Gesteigertsein zu einem Strukturgleichen höherer Ordnung handelte. In der Bezeichnung des Lichts als dem ideellen Prinzip innerhalb der Natur findet sich dieses Verhältnis nicht wieder. Sondern ‚zweite Potenz‘ bzw. ‚A2‘ bezeichnet an dieser Stelle lediglich die lineare Steigerung eines Übergewichts (des Ideellen) zu einem Extremum, nämlich des ideellen Pols innerhalb der Natur. Eine Schwierigkeit liegt hier erneut darin, dass es hierfür keine Entsprechung auf der Seite des Reellen innerhalb der Natur gibt, da die Schwere zwar systematisch durch den Status des reellen Pols innerhalb des reellen Übergewichts eher als zweite Potenz im Sinne einer reflexiven Selbststeigerung gelten könnte, durch die Bezeichnung ‚A = B‘ dieser Aspekt jedoch nicht sichtbar wird. Danach gilt auch für den Ausdruck einer ‚zweiten Potenz‘, dass Schelling ihn innerhalb der Darstellung meines Systems mit einer neuen, wenn auch unscharfen Bedeutung versieht. Klar ist zumindest, dass der Ausdruck einer ‚zweiten Potenz‘ auch im Haupttext der Darstellung von 1801 weniger dem der Systeme von 1800 als dem der Formel ‚A2‘ von 1801 entspricht. In den §§ 64 und 65 bespricht Schelling erneut das Schema relativer Identität, Duplizität und Totalität und erläutert die Abhängigkeit der Ebenen der relativen Identität und Duplizität von der fundamentaleren der relativen Totalität gemäß dem holistischen Grundgedanken des Identitätssystems, dass das Einzelne vom Ganzen abhängig ist und nicht umgekehrt. Da so relative Identität und Duplizität erst durch die Totalität gesetzt werden, kann Schelling ausführen, dass er „relative Identität etc. durch Totalität gesetzt, relative Identität etc. der zweiten Potenz“

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(AA I,10, 152/SW IV, 152; Herv. Schelling) nenne und es relative Identität ohne diese Voraussetzung nicht gebe, also eine „relative Identität und Duplizität der ersten Potenz [nicht] existieren“ (AA I,10, 152/SW IV, 152) könne. Hier zeigt der systematische Zusammenhang, dass die Verwendung von ‚zweiter Potenz‘ an dieser Stelle nicht den Sinn einer Steigerung hat, sondern als Bezug auf eine Voraussetzung gebraucht wird; denn „relative Identität und Duplizität sind in der relativen Totalität […] enthalten“ (AA I,10, 144/SW IV, 143). Damit bleibt der Ausdruck einer ‚zweiten Potenz‘ innerhalb der Darstellung meines Systems jedoch unterbestimmt. Schelling wendet nun das im Identitätssystem grundlegend angelegte Muster einer Triplizität (des Ideellen, Reellen und der Identität beider) auch auf eine Vereinigung der bipolaren Naturprinzipien des Lichtes und der Schwere an, als deren Resultat sich hierbei der Organismus bildet. Schelling drückt dieses Vereinigen von Licht (A2) und Schwere (A = B) mittels der Formel „A2 = (A = B)“ (AA I,10, 204/SW IV, 205) aus. Für den durch diese Vereinigung entstehenden Organismus bildet Schelling die Bezeichnung ‚A3‘, ohne diese explizit eine ‚dritte Potenz‘ zu nennen, mit der neuen Formel „A3 = (A2–A = B)“ (ebd.). Dies zeigt, dass Schelling bemüht ist, den naturphilosophischen Gedanken des Organischen auch im Identitätssystem entsprechend der Naturphilosophie von 1800 mittels des Ausdrucks einer dritten Potenz, nun in der Formel ‚A3‘ zu erfassen, welcher eine Ebene zweiter Potenzen in sich integriert. Eine weitere, bemerkenswerte Spekulation zum allgemeinen Potenzschema ‚A = B‘ der Darstellung von 1800 findet sich in einer kurzen Erklärung zum § 64. Hier formuliert Schelling den weitreichenden und schwierigen Gedanken, dass die für sich unselbständigen Elemente A und B in der Potenz A = B ihrerseits als Potenzen des A = B angesehen werden können. Dass relative Identität durch relative Totalität gesetzt werden könne, bedeute demnach: „A und B werden beide als Potenzen des A = B (welches sonach in seiner Identität bleibt), und als solche in relativer Identität gesetzt“ (AA I,10, 152/SW IV, 152). Was bedeutet dieser neue Gedanke, dass A und B als Potenzen des A = B gesetzt werden, wenn A = B doch selbst ‚Potenz‘ bedeutet? An dieser Stelle wird zunächst erneut deutlich, dass Schelling die Ausdrücke ‚A‘, ‚B‘, ‚A = B‘ usw. nicht als feststehende Bezeichnungen oder gar Eigennamen für bestimmte Seinsbereiche oder Gegenstände gebraucht, sondern als bloße Verhältnisschemata, die sich flexibel auf verschiedenartige Seinsbereiche anwenden lassen. So kennzeichnet ‚Potenz‘ an dieser Stelle eine bestimmte Stellung innerhalb eines mehrschichtigen Relationengefüges. So kann man A = B als die Stellung des Übergewichts in Hinsicht auf Ganze oder der Sache, der diese Stellung zukommt, ansehen. In Bezug auf die Sache nun, in deren interner Struktur sich A = B wiederfindet, lässt sich dieses Einzelne wiederum in Bezug nicht aufs Ganze, sondern auf die beiden Pole A und B und ihre relative Dominanz in ihm ansehen. In diesem Bezug kann sich Einzelnes der physikalischen Welt in

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etwa aus deren Grundprinzipien der Materie und der diese bestimmenden Schwerkraft herausmodellieren, indem es, wie Schelling am Beispiel des Übergangs der Schwerkraft von einer metaphysischen Voraussetzung zu einer empirischen physikalischen Größe vorführt, „unter den Potenzen von A und B als seiend gesetzt“ (AA I,10, 152/SW IV, 152) wird. Diesen Gedanken führt Schelling dahingehend weiter, dass er die Seins-Linie insgesamt innerhalb des Bereichs der Natur wiederum als (Stab-)Magneten interpretiert, bei welchem nicht nur die Bipolarität, sondern auch die Tatsache sich wiederfinden lässt, dass die Bipolarität des Magneten als Ganzem sich in allen seinen Teilen wiederfindet. Hier gilt: „Die Materie im Ganzen ist als unendlicher Magnet anzusehen“ (AA I,10, 153/SW IV, 153). Aus der Perspektive auf einzelne Stellen des Magneten und ihrem Zusammenhalt im Ganzen findet Schelling nun den für die Naturphilosophie der Darstellung von 1801 zentralen Gedanken der Kohäsion als einer Kraft, die alle Punkte der Magnetlinie zusammenhält, wonach gilt: „Das materielle Universum ist durch einen ursprünglichen Kohäsionsprozess gebildet“ (AA I,10, 166/SW IV, 166). 19 Und eben dies ist dadurch möglich, dass alle Dinge und Seinsebenen der Natur (interpretiert als Punkte auf der Magnetlinie) die Bipolarität des A und B sowohl in Hinsicht auf sich selbst in Identität als auch in Hinsicht auf anderes als relative Differenz haben, und in dieser letzten Hinsicht unter den Potenzen von A und B stehen. Daher nennt sie Schelling auch „Potenzen der Kohäsion“ (AA I,10, 195/SW IV, 196). Dies wiederum führt dazu, dass diese sich in die durchgängige Kohäsion des Systems alles Seienden der Natur einfügen, welches gleichfalls für sich je identisch, aber für anderes als unter den Potenzen von A und B stehend gedacht wird. Als principium individuationis dienen diese Potenzen dazu, innerhalb der amorphen Substanz der Materie Einzelnes heraus zu modellieren oder wie Schelling es ausdrückt, „abzusondern“ (AA I,10, 166/SW IV, 167, Anm.). A und B sind so die Akzidentien der Materie, „als Potenzen dieses Identischen gedacht“ (AA I,10, 154/SW IV, 154).

IV. Weitere Begriffsformen in der Darstellung meines Systems Zu dieser systematischen Rekonstruktion der Hauptbedeutungen von ‚Potenz‘ in der Darstellung von 1801 sind noch ergänzend der vereinzelte Begriffsgebrauch von ‚Potenzierung‘, die neuerlich aufgegriffene Gegenüberstellung 19 Vgl. hierzu auch Ziche 1996, 200 ff., der darauf hinweist, dass Schellings Seinslinie in Verbindung mit den Modellen des Hebels und des Magneten auch das der Kohäsionslinie beinhaltet, welches dann in seiner Materietheorie virulent wird.

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Kap. 4: Die Darstellung meines Systems (1801)

von potentia und actus, sowie die sprachlichen Neuschöpfungen eines ‚Potenzlosen‘ und eines Vorgangs der ‚Depotenzierung‘ zu evaluieren.

1. potentia/actus In der Darstellung von 1801 greift Schelling auch erneut auf das scholastische Begriffspaar potentia/actus zurück; allerdings ist die Bedeutung hier landläufig die von Möglichkeit und Wirklichkeit und daher einfach zu entschlüsseln. Dies wird durch zwei Parallelformulierungen deutlich, in denen Schelling einerseits schreibt, dass „in jeder Materie […] alle andere, wenn nicht actu, so doch potentialiter enthalten (AA I,10, 153/SW IV, 153) sei, und andererseits auf Deutsch formuliert, dass „in der Materie […] wenn nicht der Wirklichkeit, doch der Möglichkeit nach alle Potenzen enthalten“ (AA I,10, 151/SW IV, 150) seien; entsprechend heißt es im § 126: „Durch keinen Prozess kann in einen Körper etwas kommen, das nicht potentialiter schon in ihm ist“ (AA I,10, 195/ SW IV, 196).

2. Potenzierung/Depotenzierung Nur an einer einzigen Stelle im Zusammenhang mit der chemischen Zusammensetzung und Zerlegung der Materie verwendet Schelling den in den Schriften von 1800 extensiv gebrauchten und mit hoher funktioneller Bedeutung versehenen Ausdruck der ‚Potenzierung‘ ; nun im Kontrast zu einer sprachlichen Neuschöpfung der ‚Depotenzierung‘, die zugleich zeigt, dass Schelling den spezifischen Sinn dieses Ausdrucks auch abgewandelt hat. Hatte ‚Potenzierung‘ im System des transzendentalen Idealismus noch wesentlich die philosophische Methode der rekonstruierenden Entfaltung der Seinsebenen des Geistes gemeint, so ist davon in der Darstellung von 1801 nichts geblieben. 20 Die neue 20 Damit ist auch Baumgartner/Korten 1996, 81 f. zu widersprechen, welche die im System von 1800 entfaltete „nachkonstruierende philosophische Methode der Potenzierung“ als auch für die Darstellung von 1801 „konstitutiv“ erachten, so sehr Schelling später in jenem bereits erwähnten Brief diese Methode als auch für die dem System von 1800 folgenden Schriften als gültig erklärt hat (Plitt III, 67). – denn die hierbei beschriebene transzendentalphilosophische Methode des ‚Potenzierens‘ wird danach gar nicht mehr angewandt. Desgleichen ist auch Tilliette 1970, 331 Schelling in seiner Selbstinterpretation gefolgt und hat behauptet, die Potenzen seien generell nichts als ein methodisches Instrument Schellings („elles ne sont qu’un instrument méthodique“). Was allerdings die ‚Methode‘ in der Darstellung von 1801 sein soll, darüber ist bei Tilliette ebenso wenig wie bei Schelling selbst zu erfahren. Daher ist es auch nicht mehr als ein Hinweis ins Leere, wenn Schelling in der ersten Erläuterung zum § 50 erklärt, dass das dort dargestellte Schema der Potenzen relativer Identität, Duplizität und Totalität „vorzüglich nur zur Erläuterung unserer Methode dien[t]“ (AA I,10, 142/SW IV, 141), auch wenn er dort hinzusetzt, sie seien „um nichts weniger notwendig und zur gründlichen Einsicht in die Konstruktion dieses Systems unentbehrlich“ (ebd.). Denn wenn überhaupt, dann ist als die Methode der Identitätsphilosophie die Entfaltung des Vielen aus der Grund-

IV. Weitere Begriffsformen in der Darstellung meines Systems

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Darstellung, die von der absoluten Indifferenz ausgeht, ist mit einer Methode, die von der Selbstentfaltung des Ichs ausgeht, nicht zu bewerkstelligen. a) ‚Depotenzieren‘ im Anhang zu dem Aufsatz des Herrn Eschenmayer Allerdings gibt es eine für die Begriffsentwicklung interessante Passage in einer Besprechung eines Aufsatzes von Eschenmayer 21, die ebenfalls im Jahre 1801 in der Zeitschrift für spekulative Physik erschien, und in welcher Schelling einerseits von ‚Potenzierung‘ noch im Sinne der Transzendentalphilosophie spricht, andererseits erstmals einen Begriff des ‚Depotenzierens‘ gebraucht. Hier geht es Schelling um folgendes Problem: inwiefern kann ein Philosoph, der in der Ausübung seiner Tätigkeit das Bewusstsein im Sinne der Transzendentalphilosophie bereits in die höchste Potenz gebracht habe, überhaupt Objekte in ihrer ersten Entstehung betrachten, da eine Aufnahme dieser in sein gesteigertes Bewusstsein eine Aufnahme dieser Objekte bereits in die höchste Potenz bedeute und es für den Transzendentalphilosophen überhaupt keine Möglichkeit gebe, Objekte außerhalb der Sphäre des Bewusstseins zu erblicken. Auf diese Weise jedoch sei es unmöglich, ein Objekt „in seinem ursprünglichen Entstehen im Moment seines ersten Hervortretens (in der bewusstlosen Tätigkeit) [zu] erblicken“ (AA I,10, 89/SW IV, 85). Zur Lösung dieses Problem schlägt Schelling daher eine destruktive Methode vor, die beinhaltet, „dass man das Objekt allen Philosophierens, das in der höchsten Potenz = Ich ist, depotenziert, und mit diesem auf die erste Potenz reduzierten Objekt von vorne an konstruiert“ (AA I,10, 89/SW IV, 85). Abgesehen von dem höchst interessanten Aspekt, dass sich Schelling mit dieser Methode von der Wissenschaftslehre Fichtescher Prägung absetzen möchte, der er vorwirft, niemals aus dem Kreis des Bewusstseins austreten zu können, während eine rein-theoretische Philosophie wie die Naturphilosophie alleine „ein rein Objektives“ (AA I,10, 90/SW IV, 86) konstruieren könne, das prämisse des Identischen zu sehen, worin die Potenzen zwar eine herausragende Rolle spielen, aber keine eigentliche Verfahrensanweisung leisten. Eigentlich methodische Erörterungen finden sich dann erst in den Ferneren Darstellungen, wo Schelling nun Demonstration und Konstruktion als unzertrennliche Teilaspekte der Methode unterscheidet, womit nicht mehr gemeint ist, als die Wiederholung der identitätsphilosophischen Prämissen, dass das Allgemeine und das Besondere gleichzusetzen seien und dass Konstruktion bedeute, dass „das Besondere (die bestimmte Einheit) als absolut, nämlich für sich als absolute Einheit des Idealen und Realen dargestellt“ (AA I,12.1, 143/SW IV, 407) werden solle (vgl. auch Hartkopf 1975, 191– 193). Damit ist aber im Grunde gar keine eigenständige Methode dargelegt, sondern nur die Anweisung gegeben, man möge die ontologischen Verhältnisse so darstellen, wie sie nach identitätsphilosophischen Voraussetzungen eben sind. 21 Der Text lautet: ‚Anhang zu dem Aufsatz des Herrn Eschenmayer betreffend den wahren Begriff der Naturphilosophie, und die richtige Art ihre Probleme aufzulösen vom Herausgeber‘ = AA I,10, 85–106, SW IV, 81–103.

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nicht unter den Bedingungen eines bereits in die höchste Potenz gehobenen Bewusstseins stehe, gibt diese Passage eine ungefähre Beschreibung davon, welche Vorstellung Schelling mit ‚Depotenzieren‘ innerhalb der Transzendentalphilosophie verbindet. Schon durch die Wortbildung ist klar, dass dieses einen umgekehrten Vorgang des Potenzierens beschreibt, verstanden als die transzendentalphilosophische Methode des explizit rekonstruktiven Nachvollzugs derjenigen Schichten des Bewusstseins, welche unbewusst und vorphilosophisch dieses immer schon konstituieren. Wie genau diese dekonstruktive Methode durchgeführt werden soll, und wie es überhaupt einem philosophischen Bewusstsein gelingen kann, von sich selbst abzusehen und sich seiner Potenzen der Selbstanschauung zu entkleiden, bleibt an dieser Stelle allerdings offen. Schelling begnügt sich mit einer einfachen Anweisung, wonach es schlicht gelte, von dem, was im Objekt erst durch das Handeln des Philosophen gesetzt wurde, zu abstrahieren (vgl. AA I,10, 90/SW IV, 86). Damit bleibt allerdings auch der Ausdruck der ‚Depotenzierung‘ zweideutig. Denn einerseits beschreibt dieser den umgekehrten Vorgang des Potenzierens, was demnach ein methodisch bewusstes, sukzessives Abtragen der transzendentalphilosophisch rekonstruierten höheren Schichten des Bewusstseins bedeuten würde. Was hier übrig bliebe, wäre ein basales Bewusstsein als ‚auf die erste Potenz reduziertes Objekt‘ der Philosophie – ‚erste Potenz‘ auch hier wieder als einen unpotenzierten, ursprünglichen Zustand verstanden. Andererseits beschreibt Schelling dieses Depotenzieren als einen unmittelbar instantanen Akt der Abstraktion, bei welcher das Bewusstsein sich selbst in seiner Objektbeziehung gleichsam außer Kraft setzt, so dass nur das intentio recta angeschaute Objekt übrigbliebe. Abgesehen von den hier auf den ersten Blick sichtbaren methodischen Schwierigkeiten eines solchen Abstraktionsaktes, bleibt für die Zwecke unserer Untersuchung jedoch festzuhalten, dass Schelling hier einerseits ‚Depotenzierung‘ nicht im bloßen Gegensatz zur einer einfachen ‚Potenzierung‘, als der Erhebung in eine nächst höhere Stufe, d. h. nicht als einfache Rücknahme eines Vorgangs der Potenzierung denkt, sondern dieses im Kontrast zum Bewusstsein in seiner höchsten Potenz ansetzt. Andererseits ist zu konstatieren, dass Schelling Depotenzieren auch nicht als Kontrast zu der Folge sukzessiver Akte des Potenzierens anlegt, welche nach dem System von 1800 ja erst zu einem höchsten Bewusstsein führen, sondern er dieses in einem einzigen Abstraktionsakt außer Geltung setzen möchte. b) ‚Depotenzierung‘ in der Darstellung meines Systems Von hier aus ist nun zu sehen, mit welcher Bedeutung und systematischen Funktion Schelling die Ausdrücke der ‚Potenzierung‘, ‚Depotenzierung‘ und des ‚Potenzlosen‘ in der Darstellung von 1801 gebraucht. Vom Gedanken der durchgängigen Kohäsion der Materie ausgehend, welche sich über die kontinu-

IV. Weitere Begriffsformen in der Darstellung meines Systems

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ierlichen Wechselverhältnisse der materiellen Dinge und Ereignisse unter den relativen Polen A und B einstellt, stellt Schelling die Erwägung an, was für Folgen es hätte, wenn die Pole A und B gleichsam unendlich weit auseinander gezogen, d. h. völlig getrennt würden. Da als ‚Potenz‘ die relative Stellung der Dinge in Hinsicht auf A und B (bzw. in der ersten Auffassung in Hinsicht auf das Ganze) bezeichnet wurde, bezeichnet Schelling konsequenterweise einen solchen Zustand, der außerhalb der Beziehung von A und B angesiedelt wäre, als „potenzlosen Zustand“ (AA I,10, 181/SW IV, 182). Es ist der Zustand der absoluten Indifferenz, in welchen die Dinge und Ereignisse zurückfallen, wenn sie ihres spezifischen Bezugs auf die Polarität der Materie, interpretiert als Magneten, enthoben sind. Als Element, das diesen Zustand des Potenzlosen innerhalb der Natur repräsentiert, sieht Schelling das Wasser an. Verbunden mit der These, dass es eine Tendenz in der Natur gebe, „die entgegengesetzten Potenzen der Materie durcheinander aufzuheben“ (AA I,10, 197/SW IV, 198), d. h. dem Zustand der Indifferenz entgegenzustreben, kann Schelling chemische Prozesse dahingehend deuten, dass sie auf die „Verwandlung aller Materie in das Wasser“ (AA I,10, 195/SW IV, 196) abzielten. Diese Verwandlung neutralisiert die spezifischen Kohäsionsverhältnisse der Stoffe untereinander und depotenziert sie in diesem Sinn, insofern sie die spezifischen Elemente in das Wasser auflöst oder, wie Schelling formuliert, ‚zusammensetzt‘. Deswegen ist „alle chemische Zusammensetzung […] Depotenzierung der Materie [und] umgekehrt jede sogenannte Zerlegung eine Potenzierung der Materie“ (AA I,10, 197/SW IV, 198). In einem Brief an Goethe vom Januar 1801 fasst Schelling dies dahingehend zusammen, dass „alle sogenannte Zersetzung der Materie nur Potenzierung desselben homogenen Substrats, alle Zusammensetzung nur Depotenzierung der heterogenen Materie“ (AA III,2, 1801.01.26–1) sei. Diese Formulierungen bestätigen neuerlich, dass der Potenz-Begriff im Identitätssystem von 1801 von wesentlich anderer Art ist als in der Natur- und Transzendentalphilosophie zuvor. Hatte ‚Potenzierung‘ zuvor die Erhebung in eine bestimmte Seinsschicht von höherer Komplexität und Dignität und insbesondere den Vorgang des Philosophierens selbst in der rekonstruktiven Erhebung der Schichten des Bewusstseins bedeutet, so ist es nun im naturphilosophischen Teil der Darstellung von 1801 der Ausdruck dafür, dass etwas überhaupt in die Potenz gesetzt, d. h. aus dem potenzlosen Zustand der Indifferenz entlassen und in seine spezifische Stellung innerhalb der (magnetischen) Seinslinie des Ganzen gebracht, mit seinen spezifischen Qualitäten versehen und in seinen spezifischen Kräftebezug der Kohäsion in Relation zu den anderen Potenzen gesetzt wird. Potenzierung ist so nicht einmal mittelbar der Ausdruck einer Steigerung, insofern Schelling im Identitätssystem nicht das Differente, sondern den Bereich das Indifferenten als das ontologische Substrat höchsten Wertes ansieht. Es ist vielmehr der Ausdruck einer Differenzierung,

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eines Auseinanderfallens in das Viele, die von Standpunkt der Totalität, der nach Schelling auch in der Natur alles zustrebt, eher als Vorgang eines Verfalls anzusehen ist; Schellings Ausdruck der ‚Zerlegung‘ der Materie unterstreicht diesen Aspekt. Dementsprechend ist der Ausdruck der ‚Depotenzierung‘ umgekehrt der positiv belegte Ausdruck für das Streben der Materie in die Einheit des Potenzlosen, Indifferenten (in chemischer Hinsicht: des Wassers) zurückzukehren. Bemerkenswert hierbei ist eine kleine begriffliche Verschiebung: War in Schellings Anmerkung zu Eschenmayer, die vom transzendentalphilosophischen Standpunkt aus argumentiert hatte, der depotenzierte Zustand in Übereinstimmung mit Schellings Sprachgebrauch der Schriften zuvor, die ‚erste Potenz‘ gewesen, so nennt er diesen Zustand nun ‚potenzlos‘. Darin muss noch keine substanzielle Verschiebung der Terminologie gesehen werden. Es ist aber zur Vermeidung begrifflicher Konfusion wichtig zu betonen, dass in Schellings Sprachgebrauch das ‚Potenzlose‘ der Identitätsphilosophie von 1801 dieselbe Stellung und Bedeutung innerhalb der Funktion der Potenzen einnimmt, wie ‚erste Potenz‘ zuvor, und dass es nicht mit dem Ausdruck ‚A0‘ verwechselt oder gleichgesetzt werden darf, der ja den Bereich der Identität, präzise gesprochen, den Aspekt der bloßen Einsheit innerhalb des Absoluten bezeichnete, und ebenso wenig mit dem Ausdruck ‚niederere Potenz‘, der ja eine bloß relationale Bezeichnung in Bezug auf eine nächsthöhere bedeutete. ‚Potenzlos‘ oder ‚erste Potenz‘ zu sein, bezeichnet hingegen einen Grundzustand, der keine Potenzierung erfahren hat, aber von welchem ausgehend Potenzierung möglich ist, bzw. in Bezug auf welchen von einer zweiten oder höheren Potenz gesprochen werden kann.

3. Resümee Damit zeigt sich auch, dass der Potenzbegriff von 1801 im Gegensatz zu dem der Jahre 1799/1800 aus einer ganz anderen Perspektive heraus entwickelt wurde. War es die Eigenheit der konstruktiven Perspektive der Natur- und Transzendentalphilosophie der Jahre zuvor gewesen, den Seinsaufbau aus elementaren Prinzipien heraus in die immer komplexeren Strukturen der erscheinenden Natur und der geistigen Welt zu entwickeln, so ist es umgekehrt Eigenheit der Identitätsphilosophie, das Ganze als absolute Totalität bereits vorauszusetzen und erst mittels der Potenzen in die Vielheit der Welt auszudifferenzieren. In der Philosophie von 1799/1800 hatten die Potenzen die Aufgabe, den systematisch geordneten, schichtenweisen Übergang von elementaren zu immer komplexeren Ebenen innerhalb eines Organisch-Ganzen zu beschreiben. Darin lag auch die Hauptbedeutung der Steigerung im Potenzbegriff begründet. Im Identitätssystem bezeichnen die Potenzen primär die Stellung des Einzelnen bzw. einzelner Seinsbereiche in Bezug auf das vorausgesetzte Ganze. Diese mereo-

IV. Weitere Begriffsformen in der Darstellung meines Systems

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logische Sicht, nach welcher alles Seiende als Teil des Ganzen eben auch als Potenz, d. h. in relativer Stellung auf die differenzierenden Pole des IdentischEinheitlichen zu fassen sind, spiegelt sich in Schellings Darlegungen wider, dass die konstruierte Seins-Linie „im Ganzen, wie im Teil […] alle Potenzen, wie die einzelne, aus[drückt]“ (AA I,10, 141/SW IV, 139; Herv. Vf.), ja dass diese Linie überhaupt nur dadurch die Totalität darstellen kann, dass „sie nur unter der Form aller Potenzen ist“ (AA I,10, 150/SW IV, 150). Damit bezeichnen die Potenzen im eigentlichen Sinn nicht Momente des Absoluten, sondern Elemente der erscheinenden Welt des Geistes und der Natur. Dies wird auch deutlich in einer retrospektiven Erläuterung des Ausdrucks der „quantitative[n] Differenz“ in den Stuttgarter Privatvorlesungen, wonach diese „Wirkliche[s]“ bezeichne, in welchem immer „Subjektives und Objektives, Ideales und Reales […] beisammen [seien], nur in verschiedenen Graden“ (AA II,8, 118/SW VII, 445 f.) Unklar bleibt allerdings, inwiefern das System der Potenzen 1801 zugleich als eine Strukturtheorie des Absoluten selbst zu verstehen ist, da dieses sich einerseits durch strikte Einheit und Potenzlosigkeit auszeichnet, andererseits jedoch alle Potenzen in sich enthalten und die Einheitsbasis für die durch das System der Potenzen entstehende Welt darstellen soll. 22 Immerhin lässt sich das abstrakte System der Potenzen als Strukturtheorie der Wirklichkeit insofern verstehen, als die abstrakte Verhältnismäßigkeitsklausel der Potenzen in abstracto den Plan für die mögliche Wirklichkeit vorzeichnet. 23 In der Darstellung versucht Schelling im System von 1801 dies mittels einer an die Mathematik angelehnten Buchstaben- und Formelnotation zu erfassen, bei welcher in etwa der Ausdruck für Potenz überhaupt durch das Kürzel ‚A = B‘ oder der Gedanke einer zweiten Potenz durch das Kürzel ‚A2‘ ausgedrückt wird. Allerdings haben die Untersuchungen zu beiden Teilen der Darstellung meines Systems hier gezeigt, dass Schellings Einführung von Buch22 Auf diese Schwierigkeit macht Hartkopf 1975, 119 aufmerksam. Hartkopf betont auch, dass die Bereiche des Reellen und Ideellen 1801 selbst nicht als ‚Potenzen‘ bezeichnet werden, sondern hier nur von einer Untergliederung in ein reales und ein ideales All gesprochen werde. In diesem zweiten Punkt ist ihm allerdings ebenso sehr wie Tilliette 1970, 331 zu widersprechen, der auf dieselbe Schrift bezogen von den Hauptpotenzen des Denkens und der Ausdehnung („les puissances majeures, la pensée et l’étendue“) spricht. Denn Schelling gebraucht die Ausdrücke eines Realen und Idealen 1801 überhaupt nicht, um mit Ihnen eigenständige Dimensionen zu bezeichnen, wie er dies im Würzburger System mit den Bezeichnungen des idealen und realen Alls tun wird; selbst der Ausdruck der ‚Reihe‘ erscheint erst in der letzten Fußnote im Hinweis auf die gerade nicht dargestellte „ideelle Reihe“ (AA I,10, 211/ SW IV, 212, Anm.). Daher geht auch Tilliette fehl, wenn er Denken und Ausdehnung als Potenzen im Sinne der Darstellung von 1801 bezeichnet. 23 Hierzu nochmals Hartkopf 1975, 118 f., der diesen Umstand treffend dahingehend beschreibt, „dass Schelling in den durch das Potenzsystem gegebenen Strukturen die Möglichkeiten sieht, die allein in der Erscheinungswelt verwirklicht werden können“.

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Kap. 4: Die Darstellung meines Systems (1801)

stabennotationen und pseudo-mathematischen Formeln zu systematischen Verzerrungen führte und dass dementsprechend die Zuordnung von Ausdrücken der Potenz zu diesen Notationen gleichfalls zweideutig blieb und sich dementsprechend auch keine klar umrissene Semantik des Ausdrucks in etwa einer ‚zweiten Potenz‘ ergab.

Kapitel 5

Die weitere Entwicklung innerhalb des Identitätssystems bis 1806 Es ist innerhalb dieser auf eine Erfassung des Potenzbegriffs im Gesamtwerk Schellings zielenden Studie, wegen des schieren Umfangs des Schellingschen Werks, nicht möglich, alle Schriften in der Gründlichkeit der Analyse der Schriften von 1798 bis 1801, in denen der Potenzbegriff zuerst entwickelt wurde, zu erfassen. Dort war der Anspruch gewesen, Schellings Gebrauch des Potenzbegriffs mehr oder weniger vollständig zu evaluieren. Daher ist es, so bedauerlich dieser Umstand auch sein mag, notwendig, in der weitere Analyse der Werke zur Identitätsphilosophie und darüber hinaus, eher kursorisch die für den Potenzbegriff zentralen Stellen der Hauptwerke der entsprechenden Epoche zu besprechen und die Vielzahl kleinerer Schriften, die Schelling in dieser Zeit zudem verfasst hat, nicht miteinzubeziehen. Bedauerlich ist dieser Umstand insbesondere deshalb, weil auf Grund von Schellings Arbeitsweise, die wie gesehen, ständige begriffliche Modifikationen und Neufassungen von Schrift zu Schrift beinhaltet, überhaupt nicht davon ausgegangen werden kann, dass in etwa alle bedeutungsvollen terminologischen Festlegungen sich auch in den Hauptschriften finden. Aber die Gefahr, einzelne begriffliche Nuancen innerhalb des Werks bis 1806 zu übergehen, muss angesichts des übergreifenden Ziels einer Gesamtschau der begrifflichen Entwicklung ausgehalten werden. Das auf die Hauptschriften beschränkte Vorgehen beinhaltet auch einen Verzicht einer genauen genealogischen Rekonstruktion, die allerdings für die Phase nach 1801 sich ohnehin als schwierig gestalten würde, da hierzu die über jeweils mehrere Semester vorgetragenen und dabei stets modifizierten Vorlesungen zur Philosophie der Kunst und des Systems der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere gehören, die beide erst aus dem Nachlass publiziert wurden, und Schelling demnach in dieser Zeit über längere Zeiträume mehrere Schriften zugleich verfasst hat, so dass eine begriffliche Rekonstruktion in Sinne der Darstellung einer kontinuierlichen Fortfolge ohnehin nur bedingt möglich gewesen wäre. Dennoch hat Schelling in den Jahren von 1802 bis 1806 ein beeindruckendes Werk geschaffen, das auch in den Hauptschriften die grundsätzliche Entwicklung und Bedeutung des Potenzbegriffs dieser Periode beinhaltet. Daher sollen nach der genaueren Analyse der Darstellung meines Systems nun ausgewählte Passagen 1. der Philosophie der Kunst (1802–1805), 2. des Dialogs Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge (1802), 3. der Ferneren Dar-

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Kap. 5: Die weitere Entwicklung innerhalb des Identitätssystems bis 1806

stellungen aus dem System der Philosophie (1802), 4. der Änderungen zur zweiten Auflage zu den Ideen zu einer Philosophie der Natur von 1803, sowie 5. zu Philosophie und Religion (1804), 6. zum ‚Würzburger System‘ (1804) und schließlich 7. den Aphorismen über die Naturphilosophie (1806) untersucht werden, die den zentralen zeitlichen und thematischen Querschnitt der Schriften dieser Phase bilden.

I. Die Philosophie der Kunst (1802–1805) Schellings erst aus dem Nachlass im Rahmen der ‚Sämtlichen Werke‘ herausgegebene Philosophie der Kunst basiert auf Vorlesungen, die Schelling zwischen 1802 und 1805 in Jena und Würzburg gehalten hat. Die Analyse dieses Textes durchbricht also schon insofern die bis dato gehaltene streng chronologische Rekonstruktion, als eine genaue zeitliche Einordnung einzelner Textpassagen dieser von Schelling über Jahre hinweg mehrfach gehaltenen und immer wieder verbesserten und umgeänderten Vorlesungsreihe trotz der zwischenzeitlich erschienenen Historisch-Kritischen Ausgabe dieses Textes im Einzelfall nicht immer möglich ist. Sämtliche Werke wie Akademieausgabe folgen der spätesten Fassung von 1805, in welche aber trotz ständiger Überarbeitung und Neufassung früher entworfene Textstücke miteingehen. Immerhin kann gesagt werden, dass die Einleitung (i) in der Endfassung wohl schon 1803 vorgelegen hat, während sich in den §§ 1–15 des Allgemeinen Teils (ii) nachweislich eine Terminologie findet, die erst der Zeit um 1805 zuzurechnen ist. 1 Systematisch allerdings ist eine Anknüpfung unmittelbar an die Untersuchungen zur Darstellung meines Systems sinnvoll, da nicht nur Schellings erste Ausarbeitung dieser Vorlesungen in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Darstellung von 1801 steht, sondern da Schelling selbst die Philosophie der Kunst als einen erweiternden Baustein innerhalb des dort bereits dargelegten Systems verstanden wissen wollte. So bezieht er insbesondere den Potenz-Begriff explizit zurück auf die ontologische Grundlehre der Identitätsphilosophie, das heißt „auf die allgemeine Lehre der Philosophie von der wesentlichen und inneren Identität aller Dinge und alles dessen, was wir überhaupt unterscheiden“ (AA II,6,1, 112/ SW V, 366). Entscheidend jedoch ist, dass Schelling in der Philosophie der Kunst nun einen weitaus elaborierteren Potenz-Begriff verwendet, dessen systematische Bedeutung eine deutliche Steigerung erfährt und um dessen weitere Klärung Schelling bemüht ist. Schelling leitet hierbei die begriffliche Explikation mit einer im Kontext unserer Untersuchung durchaus bemerkenswerten Formulierung ein: „Ich erkläre 1

Vgl. hierzu den ‚Editorischen Bericht‘ AA II,6.1, 45 f.

I. Die Philosophie der Kunst (1802–1805)

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diesen Ausdruck [der Potenzen] hier, da er das erste Mal in einem Zusammenhang vorkommt, in dem es wichtig ist, dass er verstanden werde“ (AA II,6,1, 112/SW V, 365 f.). Bemerkenswert ist diese Formulierung deshalb, weil Schelling hier nicht nur die Erklärungsbedürftigkeit des Potenzbegriffs eingesteht (wiewohl dieser doch bereits eine breite Stellung in der Grundlegung der Identitätsphilosophie von 1801 einnahm, auf die sich die Vorlesungen zur Philosophie der Kunst ja rückbeziehen und deren Kenntnis Schelling bei seinen Zuhörern unterstellt), sondern weil er dabei indirekt auch einräumt, dass er diesen Ausdruck gelegentlich in Kontexten gebraucht, in denen es offenbar nicht so wichtig ist, ob er verstanden werde oder bei denen Schelling zumindest ein vorausgesetztes landläufiges Verständnis zu genügen scheint. Vergleicht man nun die Stellen, in welchen Schelling vor der zitierten Passage in der Einleitung zur Philosophie der Kunst bereits den Potenz-Begriff gebraucht hatte, so wird deutlich, dass der eigentliche Sinn dieser Formulierung darin liegt, dass Schelling nun einen neuen und spezifischen Begriff im Kontext des Identitätssystems einführt, und dass er im Gegensatz hierzu die zuvor gebrauchten Bedeutungen von ‚Potenz‘ innerhalb der einführenden Bemerkungen zur Philosophie der Kunst für nicht eigentlich erläuterungsbedürftig hält. So referiert er an der ersten Stelle „für diejenigen, die mein System der Philosophie kennen“ die Position, dass „die Philosophie der Kunst nur die Wiederholung desselben in der höchsten Potenz sei“ (AA II,6,1, 110/SW V, 363), womit Schelling sich klarerweise auf den sechsten Hauptabschnitt des Systems des transzendentalen Idealismus rückbezieht (vgl. AA I,9,1, 332/SW III, 634), wo er die Kunstproduktion als höchste Potenz der Selbstanschauung bezeichnet und somit die Tätigkeit des Künstlers noch über die des Philosophen gestellt hatte. An diese Hierarchisierung der Tätigkeitsfelder des Geistes mittels der Relationsbegriffe höherer und höchster Potenzen knüpft auch die nächste Stelle an, bei der Schelling ausführt, dass „die Philosophie […] ihre Konstruktion auf alle Potenzen und Gegenstände des Wissens erstrecke“ (AA II,6,1, 110/SW V, 364). Erst danach geht er zur Erläuterung der neuen spezifischen Konstellation des Identitätssystems über und beginnt von diesem aus den Potenzbegriff zu erläutern. Dies wirft ein interessantes Licht auf Schellings Arbeitsweise und sein Selbstverständnis hinsichtlich seines philosophischen Publikums: „wichtig […], dass er verstanden werde“ (AA II,6,1, 112/SW V, 365 f.) ist der Potenzbegriff nun innerhalb der Einleitung zur Philosophie der Kunst in Hinsicht auf das Identitätssystem; in landläufigen Sinn vorausgesetzt für diejenigen, die unter den Zuhörern Schellings ‚System der Philosophie‘, d. h. sein System des transzendentalen Idealismus kennen, wurde der Terminus in den Passagen zuvor; offensichtlich geht Schelling davon aus, dass dies für die meisten seiner Zuhörer gilt und dass er es für die anderen nicht in dem Sinne für relevant erachtet, die

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Kap. 5: Die weitere Entwicklung innerhalb des Identitätssystems bis 1806

Verweise auf die älteren Schriften nochmals begrifflich zu erläutern. Ganz generell kann gesagt werden: Schelling trägt seine Philosophie immer in dem Sinne neu vor, als er stets das je gegenwärtige Werk (oder System) für selbsterklärend hält und ihm zugleich die Aufgabe zumisst, ohne Rückgriff auf bereits publizierte Schriften das Ganze seiner Philosophie neu darzulegen. Dies führt dazu, dass Schelling ständige systematische Verschiebungen vornimmt und in Folge dessen sich das begriffliche Tableau von Werk zu Werk mit verschiebt und daher je aus dem Ganzen eines einzelnen Werks neu rekonstruiert werden muss. Bei diesem für Schelling selbstverständlichen Verfahren scheint nur selten das Bewusstsein durch, dass für sein Publikum, welchem Schelling die Kenntnis je früherer Werke im Allgemeinen unterstellt, wie vielfältige Querverweise zeigen, je neue Systementwicklungen kaum nachvollziehbar sein können, wenn die mit ihnen einhergehenden terminologischen Neufassungen nicht explizit dargelegt werden. Die erwähnte Stelle in der Einleitung zur Philosophie der Kunst, bei welcher Schelling es nach Jahren des Gebrauchs eines so vieldeutigen und problematischen Begriffs wie dem der ‚Potenz‘ nun zum ersten Mal für nötig erachtet, diesen auch explizit zu erläutern, ist so ein seltener Fall. Für ihn gilt auch, dass seine spezifische Erklärung in Hinsicht auf das Identitätssystem in der terminologischen Fassung der Kunstvorlesungen eigentlich keine Rückschlüsse auf seinen vorherigen Gebrauch oder seine bisherige Semantik zulässt.

1. Schellings Erklärung des Potenzbegriffs in der Einleitung der Philosophie der Kunst Aus der Perspektive der Lehre von der wesentlichen Identität aller Dinge und der damit verbundenen Einheit des Ganzen, die er nun ‚Gott‘ oder ‚das Absolute‘ nennt, wird wie gesehen die Erklärung der offenbaren Verschiedenheit der Dinge und Seinsbereiche zum Problem. So stellt sich erneut die Frage: Wie lässt sich Differenz unter der Voraussetzung absoluter Indifferenz denken? Schelling hatte hierfür in der Darstellung meines Systems das Modell der bipolaren Linie entwickelt, innerhalb welcher alle Punkte einerseits in sich gleich sind, andererseits relational auf die Pole und das Ganze der Linie ein je spezifisches Übergewicht zu der einen oder anderen Seite erlangen können, das ihre spezifische Wesensform charakterisiert. In der Philosophie der Kunst nun erklärt Schelling sehr allgemein, dass Verschiedenheit nur dadurch möglich sei, dass „das Ganze und Ungeteilte unter verschiedene Bestimmungen gesetzt wird“ (AA II,6,1, 112/SW V, 366). Und diese Erklärung erweitert er um den Zusatz: „Diese Bestimmungen nenne ich Potenzen“ (AA II,6,1, 112/SW V, 366). 2 2 Grün 1993 weist von hier aus darauf hin, dass Schellings Transformierung seiner Philosophie im Identitätssystem sich wesentlich auf seine verstärkte Spinoza-Rezeption nach 1800

I. Die Philosophie der Kunst (1802–1805)

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Was ist damit gemeint? Schelling entwickelt diesen Gedanken zunächst in wissenschaftssystematischer Hinsicht innerhalb der Frage nach dem Verhältnis von der Philosophie als Einheitswissenschaft und den spezifischen Philosophien wie der Natur- oder der Geistphilosophie. Dabei betont Schelling erneut, dass es überhaupt keine Pluralität von Philosophien gebe, sondern dass so wie Natur- und Geistphilosophie als Komplementärwissenschaften nur verschiedene Perspektiven auf dasselbe eingenommen haben, überhaupt jede philosophische Wissenschaft – wie z. B. eine Philosophie der Kunst – nichts anderes sein könne als eine „Darstellung des Einen und ungeteilten Ganzen der Philosophie in verschiedenen Potenzen oder unter verschiedenen ideellen Bestimmungen“ (AA II,6,1, 111 f./SW V, 365). Damit ist gemeint, dass eine Wissenschaft, die einen bestimmten Teilbereich des Wirklichen behandelt, nur dann ‚Philosophie‘ genannt werden könne, wenn sie diesen nicht partikularisiert, indem sie ihn gleichsam aus dem Ganzen herauszuschneiden versucht, sondern dass damit lediglich eine spezifische Sicht auf das Ganze unter einem bestimmten leitenden Aspekt wie dem der Natur oder der Kunst bezeichnet wird, kurz: eine Perspektive auf das Ganze, bzw. „ein Reflex des Ganzen“ (AA II,6,1, 113/SW V, 367), unter welcher dieses sich in einer bestimmten Weise zeigt. Eine Wissenschaft ist daher eine besondere Form oder Einheit des Ganzen. Ansonsten würden sie lediglich ergeben, was heute ‚Einzelwissenschaften‘ genannt wird, die Schelling jedoch nicht ‚Wissenschaften‘ nennt, sondern lediglich Theorien der Kunst, Natur usw. (vgl. AA II,6.1. 114/SW V, 368). Potenzen sind ideelle Bestimmungen einerseits, als sie nur unsere Wissenschaft und unsere epistemische Perspektive auf das eine, einheitlich Seiende betreffen und substanziell nichts am einheitlichen Wesen der Dinge ändern. Und sie sind ideelle Bestimmungen andererseits insofern sie das Absolute unter einer bestimmten Idee (im Platonischen Sinne) betrachten. Im Fall der Kunst ist dies die Idee der Schönheit und die ästhetische Perspektive, unter welcher das Absolute als Kunst angeschaut wird. Schelling nennt dies explizit eine „Betrachtungsweise[.] des Einen Absoluten“ (AA II,6,1, 115/SW V, 370). Diese Perspektivität ist andererseits auch notwendig und unumgänglich. Vom partikularen Standpunkt unserer Erkenntnisbedingungen aus können wir immer nur in einer bestimmten Perspektive und unter einem bestimmten Aspekt auf das Ganze blicken, das uns dann als unter einer bestimmten Potenz stehend erscheint. „Könnte man“, spekuliert Schelling, die Potenzen „hinwegnehmen, um das reine Wesen gleichsam entblößt zu sehen, so wäre in allem zurückführen lasse (186), und dass hierbei insbesondere Schellings Potenzenlehre diejenige Funktion einnehme, welche bei Spinoza die Lehre von den Attributen innehatte: „Wo bei Spinoza Attribute und Modi Affektionen der Substanz sind, werden sie bei Schelling zu Potenzen“ (188) – ohne dass hierbei allerdings eine Zuordnung einzelner Attribute zu Potenzen möglich oder sinnvoll sei.

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Kap. 5: Die weitere Entwicklung innerhalb des Identitätssystems bis 1806

wahrhaft Eins“ (AA II,6,1, 112/SW V, 366). Aber eben diese Sicht auf die Einheit des Seins ist uns epistemisch verwehrt. Die Philosophie selbst, als Wissenschaft vom Ganzen kann daher die Einheit nur insofern begreifen, als sie „die Totalität aller Potenzen“ (AA II,6,1, 112/ SW V, 366) umfasst. Sie bringt hierdurch keinen größeren Gegenstandsbereich unter ihre Sicht, da ja die spezifischen Philosophien je bereits auf das Ganze bezogen waren. Aber sie hebt die spezifische Sicht insofern auf, als sie alle Perspektiven in sich vereinigt. Sie gibt „ein getreues Bild des […] Absoluten, dargestellt in der Totalität aller ideellen Bestimmungen“ (AA II,6,1, 112/SW V, 366). 3 Nur innerhalb einer solchen, alle spezifischen Aspekte umfassenden Perspektive, kann die Totalität und Einheit des Ganzen in den Blick kommen. Entkommen kann die Philosophie als Wissenschaft der Aspekthaftigkeit, unter der sich das Seiende zeigt, jedoch nicht. Nur im Absoluten, das die Philosophie als ihren Indifferenzpunkt konstruktiv postuliert, ist, „weil es alle Potenzen begreift, keine Potenz“ (AA II,6,1, 112/SW V, 366). Damit wiederholt Schelling den bereits in der Darstellung meines Systems gegen Eschenmayer vorgebrachten Gedanken von der Potenzlosigkeit des Absoluten. In gegenständlicher Hinsicht nun präsentiert sich das Ganze unter der je besonderen Perspektive spezifischer, ideeller Bestimmungen als eine je bestimmte „besondere[.] [, die] auch Potenz zu nennen“ (AA II,6,1, 112 f./SW V, 367) ist. Da jede Einheit eine Einheit des Ganzen ist und das Ganze alle spezifischen Einheiten, d. h. alle Potenzen in gegenständlicher Hinsicht umfasst, enthält auch in gegenständlicher Hinsicht jede Potenz wieder alle anderen Potenzen. Hierin kommt der von Schelling beibehaltene Organismus-Gedanken zum Tragen, wonach in jedem Teil des Ganzen wiederum das Ganze enthalten ist. Damit hat der Potenzbegriff in der Philosophie der Kunst eine deutliche Kontur erhalten: Er bezeichnet einen bestimmten Aspekt des unteilbar Ganzen, das unter einer bestimmten Bestimmung perspektivisch so in den Blick kommt, dass das Ganze darin enthalten ist. „Wir können“, schreibt Schelling, „die einzelne Potenz herausheben aus dem Ganzen und für sich behandeln“ (AA II,6,1, 113/SW V, 367). In diesem Sinne sind Kunst, Geschichte oder Natur verschiedene Potenzen des Absoluten. Als solche sind sie im Gegensatz zum System des transzendentalen Idealismus auch hierarchisch neutral; es ist hierbei nicht das eine die höhere Potenz des anderen.

3 Hierin gebraucht Schelling deutlich das Leibniz’sche Modell der Monadenlehre, bei welcher einerseits gilt, dass in jeder Monade perspektivisch das Ganze enthalten ist und dass andererseits Gott diejenige Monade ist, die alle Perspektiven in sich begreift (vgl. z. B. Monadologie §§ 57 und 60 [= Buchenau/Cassirer II, 613 f.]). Schelling versteht diese vereinigende Position, Leibniz zitierend, auch als „perspektivischen Mittelpunkt“ (AA I,4, 98/SW I, 457); hierzu: Neumann 2016, insb. 102 ff.

I. Die Philosophie der Kunst (1802–1805)

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2. Die systematische Stellung der drei Potenzen in der Metaphysik der Kunst Die einleitenden Paragrafen des Allgemeinen Teils der Philosophie der Kunst (§§ 10–16) haben die Aufgabe, die Einheit (Potenz) der Kunst aus den allgemeinsten Bestimmungen des Absoluten (bzw. Gottes) zu konstruieren. Schelling verfährt hier so, dass er zunächst Gott als Absolutes definiert und dann im Sinne des ontologischen Gottesbeweises dessen Sein aus dem Begriff folgen lässt und dies substanziell durch eine Theorie der Selbstaffirmation Gottes unterlegt, in welcher dieser im trinitarischen Sinn der Identitätsphilosophie als Affirmierendes (Ideales), Affirmiertes (Reales) und Indifferenz hiervon gefasst wird. Von hier aus lassen sich die Seiten des Realen und Idealen als Entfaltungen des Wesens Gottes explizieren. Dabei formuliert Schelling erneut eine terminologische Festlegung hinsichtlich des Potenzbegriffs, welcher die Grundstellung der Einleitung wiedergibt, ohne sie bloß zu wiederholen: Wir bezeichnen die Einheiten oder die besonderen Folgen der Affirmation Gottes, sofern sie im realen oder idealen All wiederkehren, durch Potenzen. (AA II,6,1, 123/SW V, 379)

Was hiermit gemeint ist, zeigt sich, wenn man die Zuordnungen, die Schelling nun innerhalb der Bereiche des Realen und Idealen vornimmt, näher betrachtet. a) Die reale Folge der Potenzen Auf der Seite des Realen, d. h., innerhalb der geschaffenen, sichtbaren Natur (natura naturata) finden sich die bereits in der Darstellung meines Systems entwickelten Momente des Realen, Idealen und ihrer Indifferenz wieder als Materie, Licht und Organismus. Neu ist, dass Schelling diese Momente, nun erstmals als ein festgelegtes Schema von drei Potenzen fasst, wonach die erste Potenz der Natur, d. h., der realen Welt, nun die Materie (statt der damit verbundenen Schwere in der Darstellung meines Systems), die zweite Potenz das Licht und die dritte Potenz der Organismus ist (vgl. AA II,6,1, 123 f./ SW V, 379). Im Gegensatz zur ersten Aufzählung einer Potenzenreihe im System des transzendentalen Idealismus ist die nun gefasste Triplizität von Potenzen keine aufsteigende und grundsätzlich erweiterbare lineare Reihe, bei welcher das Folgeglied jeweils die höhere Potenz des vorhergehenden ist. Sondern erste und zweite Potenz bilden entsprechend den Polen in der Linien-Metaphysik der Darstellung von 1801 zwar konträre, aber gleichwertige Momente des Absoluten, während die dritte Potenz dialektisch die beiden ersten in sich vereinigt. 4 4

Es ist offensichtlich, dass dies dem späteren dreigliedrigen Grund-Modell der Hegelschen

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Diese Art der Vereinigung von erster und zweiter Potenz in der dritten entspricht dem identitätstheoretischen Dogma der Vereinigung der Gegensätze (insbesondere des Reellen und Idealen) in der Indifferenz. „In der dritten Potenz integrieren sich beide“ (AA II,6,1, 124/SW V, 379); erste und zweite Potenz müssen in der dritten „verbunden und indifferent sein“ (AA II,6,1, 124/SW V, 379). Damit differenziert sich das System der Potenzen auch zu einer festen dialektischen Folge innerhalb eines festen, dreigliedrigen Schemas aus, – für das zumindest die ‚dritte Potenz‘ von nun an auch als feste Bezeichnung für den Bereich des die beiden anderen Potenzen Synthetisierenden, bzw. im Identitätssystem in der Identität Vereinigenden beibehalten wird. 5 b) Die ideale Folge der Potenzen Innerhalb der Paralleldarstellung der idealen Welt ergibt sich erneut ein Gegensatz des Realen und Idealen und dessen Vereinigung in Indifferenz, die Schelling als drei Potenzen benennt: „Das ideale All begreift dieselben Einheiten in sich, die auch das reale in sich begreift: die reale, ideale und […] die Indifferenz beider. Auch hier bezeichnen wir diese Einheiten durch Potenzen“ (AA II,6,1, 124/SW V, 380). Hier benennt Schelling als erste (ideale) Potenz das Wissen, als zweite (reale) das Handeln und als dritte die Kunst, in der Wissen und Handeln vereinigt sind. Interessant ist, dass Schelling im Gegensatz zur Erläuterung des Potenzbegriffs in der Einleitung und der Darstellung der drei Naturpotenzen hierbei auf drei Gedankenfiguren zurückgreift, die er in den Potenz-Modellen von 1800 und 1801 bereits entwickelt hatte. So spricht er einerseits davon, dass „die erste Potenz […] das Übergewicht des Idealen“ bezeichne (AA II,6,1, 124/SW V, 380, Herv. Vf.), ein Gedanke der dem Linien-Modell von 1801 entnommen ist, in welchem sich ja alle Punkte, die in sich indifferent waren, zugleich dadurch auszeichneten, dass sie relational zu den Polen unter einem bestimmten Übergewicht der einen oder anderen Seite standen. Zur Charakterisierung dieser Art des Übergewichts greift Schelling zweitens auf die Terminologie von erster und zweiter Potenz zurück, wonach ‚erste Potenz‘ einen ungesteigerten Zustand, ‚zweite Potenz‘ hingegen dessen Steigerung meint. Der Gedanke ist hierbei drittens erneut der der Inversion, der bis dato bedeutete, dass relational eine Erhöhung des einen Faktors der Verminderung des anderen gleich käme und den Schelling nun systematisch ausbaut. Nach diesem lassen sich die Potenzen der idealen Welt als umgekehrte Potenzen des realen Faktors innerhalb der Dialektik ähnelt, bei welcher „Ein und Dasselbe die Entgegensetzung selbstständiger Existenzen ist, und deren identische Beziehung“ (Hegel GW 13, 59) zur Darstellung kommt. 5 Vgl. hierzu auch Hartkopf 1975, insbes. zu den Potenzen 125 ff. und zur Triplizitätsstruktur 171 ff.

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idealen Welt so verstehen, dass die erste Potenz der idealen Welt deswegen das meiste Übergewicht des Idealen hat, weil ihr als erster Potenz des realen Faktors gerade alle Realität mangelt, mit der symmetrischen Spiegelung in der Welt der Natur: „Wie in der realen Welt die Potenzen Potenzen des idealen Faktors sind, so hier des realen vermöge des entgegengesetzten Verhältnisses beider“ (AA II,6,1, 124/SW V, 380). Die Motivation zu dieser auf den ersten Blick umständlichen Konstruktion wird verständlich, wenn man bedenkt, dass vom Blickpunkt des Ganzen aus, in welchem beide Faktoren in maximaler Fülle vereinigt sind, ein relatives Übergewicht des einen nie eine Erhöhung vom Standpunkt des Absoluten aus sein kann, sondern nur durch eine Minderung (Privation), eben des anderen Faktors sich bewerkstelligen lässt. Betrachtet man die angeführte Stelle näher, so wird allerdings klar, dass Schelling in diesem Zitat mit zwei verschiedenen Potenz-Begriffen operiert, von welchen der erste die spezifische Einheit unter einem Aspekt, der zweite eine bestimmte Form der Steigerung oder Minderung dieses Aspekts unter dem Gedanken der Inversion meint. So ist das Wissen als erste Potenz der idealen Welt dadurch charakterisiert, dass es das größte Übergewicht des Idealen mit sich führt; insofern ist sie Potenz (Aspekt) des Idealen. Dies entspricht jedoch nun in Schellings Inversionssystematik der ersten Potenz des realen Faktors (innerhalb des idealen Alls), insofern ‚erste Potenz des Realen‘ in diesem Sinn nichts anderes bedeutet, als dass der reale Faktor lediglich potenzlos, in seiner ungesteigerten Grund- und Minimalform vorliegt. Dies wird noch deutlicher in Schellings Explikation des Handelns als zweiter Potenz des idealen Alls: „Die zweite Potenz beruht auf einem Übergewicht des Realen; der Faktor des Realen ist nämlich hier zur zweiten Potenz erhoben“ (AA II,6,1, 124 f./SW V, 380). Auch hier verwendet Schelling den Potenz-Begriff, genauer den Begriff der ‚zweiten Potenz‘ in zwei verschiedenen Bedeutungen: als ordinierte Einheit und als Steigerungsstufe in der Inversionsperspektive. Diese nur im Rückgriff auf frühere Schriften aufzulösende Doppelsemantik erschwert das Verständnis der triadischen Gesamtstruktur auch noch dadurch, dass die hierdurch nahegelegte Begründung, nämlich dass in etwa das Handeln zweite Potenz des Idealen sei, weil in ihm das Reale zur zweiten Potenz gesteigert sei, sich gar nicht innerhalb des nun eingeführten Dreierschemas von Potenzen weiterführen lässt: die Kunst ist nicht deswegen dritte Potenz des Idealen, weil bei ihr sich der reale Faktor erneut gesteigert hätte (und in diesem Sinn nach der Semantik der Systeme von 1800 die höhere Potenz des Handelns wäre). Sondern der nun gefasste Gedanke einer dritten Potenz als Vereinigung der ersten und zweiten durchbricht sowohl das arithmetische Schema gleichförmiger Steigerungen des Folgeglieds in Relation zum Vorhergehenden als auch die bloß neutrale Reihung nach Kardinalzahlen zugunsten des dialektischen Musters der Integration der als gleichwertig nummerierten ersten und zweiten Potenzen in einer höherwertigen dritten.

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3. Die weitere Anwendung In der weiteren Folge der Philosophie der Kunst gebraucht Schelling die Potenzen, um die Systematik der Kunst innerhalb des Ganzen und der einzelnen Künste innerhalb der Potenz der Kunst näher zu charakterisieren. Zunächst gilt hier generell: so wie Schelling die Philosophie der Kunst in der Wissenschaftssystematik der Einleitung zur Philosophie der Kunst als eine Potenz der allgemeinen Philosophie gekennzeichnet hatte, so ist in Hinsicht auf die Frage nach der Sache der Kunst innerhalb des ontologisch Ganzen die Kunst als eine „Potenz – als besondere Einheit“ (AA II,6,1, 205/SW V, 481) bzw. „Besonderheit“ (ebd.) eben dieses Ganzen zu verstehen. Innerhalb der Einheit der Kunst bilden sich nun wieder zwei Reihen, eine ideale und eine reale, die ihrerseits wiederum aus je drei Gliedern bestehen: Die reale Reihe bezeichnet die bildenden Künste mit den Gliedern Musik, Malerei und Plastik, die ideale Reihe die redenden Künste mit den Gliedern Lyrik, Epik und Drama. Zur Bestimmung sowohl dieser Reihen als auch der einzelnen Kunstformen gebraucht Schelling neuerlich den Potenz-Begriff. Dabei unternimmt er es, das dreigliedrige Potenzen-Schema auch für das Verhältnis der einzelnen Kunstformen innerhalb der beiden Reihen anzuwenden und zu zeigen, dass diese Kunstformen innerhalb ihrer Reihen den Potenzen innerhalb der allgemeinen, realen Reihe der Natur und der idealen des Geistes entsprechen. Bildeten Materie, Licht und ihre Vereinigung als Organismus die drei Potenzen des Realen, so führt Schelling nun Musik, Malerei und Plastik als erste, zweite und dritte Potenz der realen Reihe der Kunst auf. Allerdings ist festzustellen, dass Schelling die mehr unter system-architektonischen Gesichtspunkten als sachlich naheliegenden direkten Zuordnungen Materie-Musik, Malerei-Licht und Plastik-Organismus nicht geradlinig anwendet. Sondern er geht hierfür auf die in der Naturphilosophie entwickelten Kategorien der Konstruktion der Materie zurück: „Die Konstruktion der Materie beruht auf drei Potenzen, aber diese sind allgemeine Kategorien“ (AA II,6,1, 274/SW V, 569); als diese drei Potenzen der Konstruktion der Materie nennt er nun: Anorganik, Organik, Vernunft. Hierdurch ergibt sich eine Systematik kategorialer Zuordnungen, die eher gezwungen wirkt. So versteht Schelling nun die Musik als erste Potenz der realen Künste, insofern sie das „bloß Anorganische, Gradlinige, die Kohäsion“ (AA II,6,1, 274/SW V, 570), welche in der Naturphilosophie als das Wesen der Materie gekennzeichnet worden ist, als Mittel zur Darstellung nehme. Die Malerei als zweite Potenz der realen Künste lässt sich so als eine Vereinigung von Licht und Materie und demnach organisch auffassen. Und die Plastik schließlich kann Schelling als Verbindung der beiden Vorhergehenden als „absolute[n] Ausdruck der Vernunft“ (AA II,6,1, 274/SW V, 570) kennzeichnen, insofern der

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menschliche Organismus, der im menschlichen Körper in der Plastik zur Darstellung kommt, als dritte Potenz der Materie Ausdruck der Vernunft sei. Hinter diesen Zuordnungen ist in jedem Fall Schellings systematisierender Wille zu sehen, die Kunst als Potenz des Ganzen und die einzelnen Kunstformen als Potenzen der Kunst aus dem dialektischen Grundmuster des nach den Seiten des Realen und des Idealen bipolar sich aufgliedernden und wieder vereinigenden Indifferenten zu entfalten. Dagegen, dass diese Zuordnungen gekünstelt wirken und sich nicht auf den ersten Blick erschließen und insbesondere eine Zuordnung der materiellen Plastik zum Realen und der Musik zur Seite des Idealen innerhalb der bildenden Künste viel naheliegender gewesen wäre, hat sich Schelling am Ende seiner systematischen Ausführungen zu den realen Künsten in einer längeren Anmerkung, die offenkundig auf einen entsprechenden Einwand reagierte, aufschlussreich gewehrt. Schelling schreibt: „Der Missverstand, auf welchem diese Ordnung beruhen würde, wäre der der Potenzen in der Philosophie“ (AA II,6,1, 320/SW V, 629). Dieser Missverstand bestehe in der Meinung, dass die Potenzen „wahre reale Gegensätze“ (AA II,6,1, 320/SW V, 629) bildeten, was unter den Voraussetzungen der Identitätsphilosophie unmöglich sei. Im Gegensatz hierzu seien sie „allgemeine Formen, die in allen Gegenständen auf gleiche Weise zurückkehren“ (ebd.). Um diese Passage zu deuten, muss vorgreifend eine Parallelstelle herangezogen werden, auf die sich Schelling hier offenbar bezieht, nämlich die §§ 4 und 5 der anschließend dargestellten Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie von 1802, welche im zeitlichen Kontext der ersten Ausarbeitung und des ersten Vortrags der Philosophie der Kunst entstanden sind. Deren erster Paragraf ist betitelt mit „Von dem Gegensatz der reellen und ideellen Reihen und den Potenzen der Philosophie“ (AA I,12,1, 147/SW IV, 412); offenbar weist Schelling mit der Formulierung ‚Potenzen in der Philosophie‘ auf diese Textpassage hin. In diesen Paragrafen bestimmt Schelling die Verhältnisse der besonderen Erscheinungsweisen des Absoluten als „drei Potenzen des Endlichen, Unendlichen und Ewigen“ (AA I,12,1, 150/SW IV, 414), wobei auch hier wie in der Philosophie der Kunst ‚Potenz‘ generell als „ideelle Bestimmung“ (AA I,12,1, 149/SW IV, 414) des Ganzen bezeichnet ist. Genauer bestimmt Schelling den Schematismus der Potenzen hier dergestalt, dass die erste Potenz die Einbildung des Unendlichen ins Endliche (= Reflexion) oder des Wesens in die Form und die zweite Potenz die Aufnahme des Endlichen im Unendlichen (= Subsumption) oder die Einbildung der Form in das Wesen bezeichnet. Für die dritte Potenz schließlich gilt, dass sie „als Einheit der Reflexion und der Subsumption, als die Potenz der absoluten Gleichsetzung des Endlichen und Unendlichen und demnach der Vernunft bezeichnet werden“ (AA I,12,1, 156/ SW IV, 422) kann.

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Abgesehen von der hierbei deutlich werdenden Herkunft der Zuordnung der dritten Potenz als Vernunft im Sinne der Einheit von Reflexion und Subsumption, die in der Philosophie der Kunst wiederkehrt, sind Schellings Ausführungen zum Wechselverhältnis der Potenzen, bei denen „jede […] der anderen vollkommener Spiegel und Gegenbild ist“ (AA I,12,1, 153/SW IV, 419) höchst instruktiv, um den ‚Missverstand‘, die Potenzen bezeichneten reale Gegensätze, aufzulösen. Hierzu sind zweierlei Punkte relevant: Erstens ist zu sehen, dass es innerhalb der jeweiligen Einheiten des Realen und Idealen dieselben „gleichlaufenden oder parallelen Potenzen“ (AA I,12,1, 158/SW IV, 424) sind, welche die jeweiligen Sphären kategorial strukturieren. Zum anderen, und dies ist der Punkt, auf den Schelling an dieser Stelle besonders abhebt, bekommt jede Potenz ihr eigentümliches Gepräge durch die spezifische Stellung aller Potenzen in ihr, da „jede Potenz, es sei in der reellen oder ideellen Reihe, jede für sich wieder absolut“ (AA I,12,1, 154/SW IV, 419) ist und sie sich nur hinsichtlich ihrer Stellung zueinander unterscheiden. Der Grund dafür, dass trotz dieser inneren Übereinstimmungen sie dennoch verschieden erscheinen, liegt darin, dass „alle Potenzen der ersten [Reihe] gemeinschaftlich wieder unter der Bestimmung der Endlichkeit, alle der anderen gemeinschaftlich der Bestimmung der Unendlichkeit unterworfen sind“ (AA I,12,1, 154/SW IV, 419; bei Schelling gesperrt). Dass hierbei Schelling bereits an ein Schema der Unterordnung denkt, wird aus den weiteren Ausführungen in der Philosophie der Kunst deutlich: So sei die Potenz des Organischen, die hier als die zweite Potenz verstanden wurde, „keineswegs bloß das organische Wesen selbst, sondern sie ist ebenso notwendig und bestimmt auch in der Materie selbst, nur hier untergeordnet dem Anorganischen“ (AA II,6,1, 320/SW V, 629, Herv. Vf.). Hierdurch entsteht bereits die für die Potenzenlehre im weiteren Werk Schellings wichtige Idee der spezifischen Unterordnung und Dominanz der Potenzen innerhalb einer bestimmten Potenz, so dass diese einerseits das Absolute im Sinne der Totalität aller Potenzen in sich enthalten kann, andererseits ihr spezifisches Gepräge durch die spezifische Stellung der Potenzen in ihr erhält. Dieser Gedanke scheint auch an einer Stelle auf, in der Schelling die internen Potenzen (oder Dimensionen) der Musik (die ja als die Potenz des Realen innerhalb der realen Reihe der Künste gefasst war) charakterisiert. Diese sind Rhythmus, Modulation und Melodie, wobei die Melodie als dritte Potenz die Verbindung von Rhythmus und Modulation ist. Da die Musik die erste Potenz der realen Künste bezeichnet, muss in ihr hinsichtlich der Grundmomente Reales-Ideales-Indifferenz auch das Reale dominieren. Daher kann Schelling bestimmen: „Rhythmus ist überhaupt die herrschende Potenz in der Musik“ (AA II,6,1, 217/SW V, 496, Herv. Vf.) – er ist „das Musikalische in der Musik“ (AA II,6,1, 217/SW V, 496), die „Musik in der Musik“ (AA II,6,1, 216/SW V, 494), womit nicht nur der Gedanke von Potenz als Selbstduplikation, mög-

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licherweise im Rückgriff auf das scholastische Modell der reduplicatio 6, wieder aufgenommen und der spezifische Dominanzgedanke innerhalb des Potenzenschemas ausgeführt ist, sondern Schelling nun auch sprachlich an die traditionelle, jedoch von ihm und in der gesamten Entwicklung der Potenzentheorie bis dato nicht gebrauchte Bedeutung von ‚Potenz‘ als ‚Herrschaft‘ anknüpft. In der idealen Reihe hatte sich das identitätslogische Schema Realität – Idealität – Indifferenz – in der Potenzenfolge Wissen – Handeln – Kunst realisiert. Innerhalb der Kunst identifiziert Schelling die redenden (sprachlichen) Künste als die idealen und differenziert sie entsprechend der idealen Potenzenfolge aus. So entspricht das lyrische Gedicht als erster Potenz der idealen Reihe dem Wissen, das Epos als zweiter Potenz dem Handeln (das in ihm zur Darstellung kommt) und schließlich das Drama der Indifferenz, in welcher Wissen und Handeln zusammenkommen. Ergänzend ist noch auf eine singuläre Stelle hinzuweisen, in der Schelling auch in der Philosophie der Kunst den lateinischen Ausdruck ‚potentialiter‘ im Sinne eines Möglichen in Hinsicht auf seine zukünftige Wirklichkeit gebraucht. Im Zusammenhang mit einer Diskussion, ob das Werk Homers von einer Person geschrieben wurde oder von mehreren, die vom gleichen Geist beseelt waren, schreibt Schelling: „Homer lag in der ersten Dichtung der Mythologie schon fertig involviert, gleichsam potentialiter vorhanden“ (AA II,6,1, 152/ SW V, 416). Begriffsgeschichtlich zeigt diese Stelle einerseits, dass Schelling zum Zeitpunkt der Verfassung der Philosophie der Kunst noch keine Verbindung zwischen dem traditionellen lateinischen potentia, das insbesondere innerhalb des Begriffspaars potentia/actus gleich ‚Möglichkeit‘/‚Wirklichkeit‘ in der Philosophiegeschichte eine prominente Rolle spielt, zu seinem eigenen Potenzbegriff hergestellt hatte und dass dieser bis dato ganz frei von einer Bedeutung des Möglichen in Hinsicht auf eine spezifische Realisierung ist. Andererseits zeigt die Stelle auch, dass Schelling der lateinische Ausdruck nicht nur geläufig war, sondern dass er ihn an verstreuten Stellen auch gebrauchte. Dies lässt sich auch an anderen Schriften dieser Zeit kursorisch zeigen: So heißt es an einer parallelen, ebenfalls singulären Stelle in den Ferneren Darstellungen von 1802: „Wenn man die erscheinende Welt als die wirkliche annimmt, ist sie in der Idee des Absoluten nur potentialiter enthalten“ (AA I,12,1, 127/SW IV, 389). Und im sogenannten ‚Würzburger System‘ von 1804 schreibt Schelling: „Die Materie […] begreift potentialiter oder der Möglichkeit nach alle Exponenten in sich“ (SW VI, 308). Und: „die sogenannte unorganische Natur ist also potentialiter organisch in jedem Teil“ (SW VI, 380). Es ist eine erstaunliche Tat6 Siehe Anm. oben. Erstmals explizit gebraucht Schelling den Ausdruck der Reduplikation im ersten Weltalterentwurf (W 28) – dort in Charakterisierung des entsprechenden scholastischen Sinnes der Prädikation, allerdings ohne in diesem Kontext den Potenzbegriff oder die Ausdrucksweise ‚A2‘ zu erwähnen.

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sache, dass diese lateinische Form in der traditionellen Bedeutung zunächst jahrelang von Schelling sporadisch gebraucht wird und unberührt von der Entwicklung des deutschen Potenz-Begriffs zu dieser parallel läuft, um schließlich, wie vorgreifend gesagt werden kann, in diesen integriert zu werden und in der Idee eines Sein-Könnenden als der ersten Potenz der Spätphilosophie eine herausragende Rolle zu übernehmen.

II. Bruno (1802) Ein erster kleiner Schritt in Hinsicht auf eine Integration von ‚potentia‘ in das Begriffsfeld von ‚Potenz‘ geschieht allerdings schon im Dialog Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge (1802), wo Schelling den lateinischen Terminus potentia in der klassischen Bedeutung von Möglichkeit erstmals in der deutschen Form ‚Potenz‘ gebraucht. Dies mag der literarischen Form geschuldet sein, ist aber dennoch bemerkenswert in Hinsicht darauf, dass Schelling später den Potenzbegriff auch mit dieser Bedeutung ausstattet. So schreibt Schelling über das Dasein der einzelnen Dinge, dass sie in ihrem unendlichen Teil „die unendliche Möglichkeit alles dessen, was in ihrer Substanz der Potenz nach liegt“ (AA I,11,1, 431/SW IV, 312) enthielten. Beachtlich ist, dass die Bedeutung von ‚Potenz‘ als Möglichkeit hierbei nie den logischen Sinn einer Möglichkeit im Gegensatz zu einer Unmöglichkeit annimmt, sondern stets dem Begriffspaar potentia/actus entsprechend als eine Möglichkeit zu verstehen ist, die auf ihre Realisierung in einer Wirklichkeit hin bezogen ist. Deutlicher noch wird dies an Stellen, an denen Schelling ‚Potenz‘ als die Möglichkeit einer Tat, d. h. einer Aktivität versteht. So schreibt er hinsichtlich des Gegensatzes und der Einheit von Denken und Sein in Bezug auf das absolute Erkennen: „Denken und Sein ist also nur der Potenz, nicht aber der Tat nach in ihm“ (AA I,11,1, 443/SW IV, 324) und in Schellings eigenen, bereits in den SW mitabgedruckten Anmerkungen heißt es über das vollkommenste Prinzip des Daseins der Dinge: „Tätige Kraft und Potenz, Möglichkeit und Wirklichkeit sind also in ihm […] Eins“ (AA I,11,1, 450/SW IV, 331). Und noch eine begriffliche Auffälligkeit ist hier zu bemerken: Abgesehen von den drei angeführten Stellen, an denen Schelling im Bruno ‚Potenz‘ als die deutsche Form für potentia = (reale) Möglichkeit gebraucht, findet sich nur eine einzige Stelle in diesem Buch, in der er von ‚Potenz‘ in einer geläufigeren Bedeutung spricht – nämlich in der in der Naturphilosophie entwickelten Bedeutung von ‚Stufe‘ (AA I,15, 388/SW IV, 267). Die hier anhand der Philosophie der Kunst nachgezeichnete zentrale Bedeutung von ‚Potenz‘ innerhalb der Identitätsphilosophie als einer spezifischen ideellen Einheit des Ganzen, die unter einer bestimmten Perspektive in den Blick kommt, kommt im Gegensatz dazu im Bruno überhaupt nicht vor. Die Hauptbedeutung von Potenz im Sinne

III. Die Ferneren Darstellungen (1802)

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der Darstellung von 1801, nämlich nach Übergewichtsverhältnissen vorstrukturiertes Einzel-Moment der Vielheit der erscheinenden Welt zu sein, ist im Bruno zwar systematisch ebenso enthalten, wird von Schelling dort aber nicht ‚Potenz‘ genannt, sondern in stärkerer Anlehnung an eine platonische Konzeption: ‚Idee‘ 7, wobei die einzelnen Ideen Realisierungen des Absoluten als Idee der Idee archetypisch in der Vielheit der Dinge der endlichen Welt gespiegelt sind (vgl. AA I,11,1, 435 f. und 438 f./SW. IV, 316 f. und 320). In Hinsicht auf eine Untersuchung des Potenzbegriffs in Schellings Gesamtwerk wirft die Tatsache, dass Schelling 1802 im Bruno diesen Begriff so gut wie nicht gebraucht, während er in den zeitgleich entstandenen Ferneren Darstellungen und dem zeitgleich gehaltenen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst eine zentrale Rolle in der Explikation des Seins-Aufbaus der geistigen und natürlichen Welt aus dem Absoluten, Identischen spielt, obwohl diese dieselbe Ontologie, nur in verschiedenen Hinsichten, explizieren, erneut ein bezeichnendes Licht auf Schellings begriffliche Arbeitsweise. Es hat bereits die bisherige Untersuchung gezeigt (und der Bruno und die weitere Untersuchung bestätigen dies erneut), dass es weder so ist, dass Schelling seine einmal festgelegten Begriffe auch in den weiteren Schriften auf dieselbe Weise gebrauchte, noch so, dass Schelling für dieselben Sachverhalte und systematischen Konstellationen einmal gefasste terminologische Festlegungen auch beibehielt. 8 Sondern es ist so, dass Schelling dieselben Dinge immer wieder anders benennt und dass bei ihm dieselben Ausdrücke immer wieder etwas anderes bedeuten.

III. Die Ferneren Darstellungen (1802) Hierfür geben die Begriffe des ‚Endlichen‘, ‚Unendlichen‘ und ‚Ewigen‘ ein sprechendes Beispiel. Während Schelling im Bruno die dialektische Entfaltung des Vielen aus dem Einen, Absoluten zentral durch diese Begriffe leistet, wonach das Endliche die Vielheit, das Unendliche die Einheit und das Ewige „die Einheit der Einheit und des Gegensatzes“ (AA I,11,1, 362/SW IV, 239) 9 bezeichnet,

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Vgl. hierzu Durner 2005, XXXVII. Vgl. Mayer 2014, 338 der z. B. hinsichtlich des ‚Würzburger Systems‘ davon spricht, dass dort im Vergleich zu den Vorgängerschriften lediglich „ein Tausch der Begriffe“ bei gleichbleibenden Prinzipien stattgefunden habe. 9 Diese Formel, auf die Schelling später wiederholt zurückgreift (vgl. z. B. AA II,10,2, 613/ SW IX, 209 oder SW XII, 608), stammt aus Hegels im Jahr zuvor veröffentlichter Differenzschrift, wo Hegel Schellings Identitätskonzeption so beschreibt, dass „das Absolute selbst aber […] darum die Identität der Identität und der Nichtidentität [sei]; Entgegensetzen und Einssein ist zugleich in ihm“ (Hegel GW 4, 64). Schwab 2014, 42 f. weist darauf hin, dass Hegel in Schellings Identitätsbegriff von 1801 damit mehr Differenz einschreibt als er bei Schellings ersten Identitätssystem eigentlich hatte, und dass Schelling diese Formel dann offenbar auf8

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Kap. 5: Die weitere Entwicklung innerhalb des Identitätssystems bis 1806

ohne diese Begriffe ihrerseits zu kategorisieren 10 oder auf den Begriffsrahmen von ‚Potenz‘ zu beziehen, bezeichnet Schelling in den im selben Jahr publizierten Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie (1802) schon auf den ersten Seiten diese drei Dimensionen als ‚Potenzen‘, wonach „alles was ist, überhaupt auf die drei Potenzen zurückkommt, des Endlichen, Unendlichen und Ewigen“ (AA I,12,1, 83/SW IV, 340). Kommen wir hierfür nochmals auf den § V. der Ferneren Darstellungen zurück, der von den ‚Potenzen der Philosophie‘ handelt und auf den Schelling in der Philosophie der Kunst verwiesen hatte. Denn in diesem Paragrafen entfaltet Schelling ausgehend von den allgemeinen Bestimmungen der drei Potenzen als solcher des Endlichen, Unendlichen und Ewigen systematisch den logischen Raum der Potenzenreihen. Dabei führt er die Charakterisierungen des Ideellen als des Unendlichen bzw. des Wesens und des Reellen als des Endlichen bzw. der Form zusammen zu den in der Philosophie der Kunst analog dargestellten, synthetischen Verhältnissen, wonach die Einbildung des Wesens in die Form (bzw. des Unendlichen in das Endliche) „die Natur an sich betrachtet“ (AA I,12,1, 151/SW IV, 416) ergibt, also die natura naturans, deren Abbilder die erscheinende physikalische Wirklichkeit sind. Entsprechend entsteht die ideale Welt durch die Einbildung der Form in das Wesen oder des Endlichen ins Unendliche. Diese beiden Einheiten bezeichnet Schelling hier als erste und zweite Potenz und sagt analog, dass „durch diese beiden Einheiten […] zwei verschiedene Potenzen bestimmt“ (AA I,12,1, 151/SW IV, 416) werden. Darin ist enthalten, dass die Richtungen der Ineins-Bildung im Absoluten sowohl einerseits die reelle und ideelle Welt überhaupt bilden, andererseits nach dem Organismusprinzip, das hier in der Form des Prinzips, dass jede Potenz alle Potenzen enthält, wiederkehrt, eben innerhalb beider Potenzen wiederum beide Potenzen, nur in inverser Stellung, enthalten sind. So ist auch hier, entsprechend der Philosophie der Kunst, die erste Potenz innerhalb der reellen Welt die Materie (als Einbildung des Unendlichen ins Endliche = Reflexion), innerhalb der geistigen Welt das Wissen („als Aufnehmen des Endlichen ins Unendliche“ (AA I,12,1, 156/SW IV, 422) = Subsumption). Entsprechend sind die zweiten Potenzen die der Aufnahme des Endlichen ins Unendliche innerhalb der reellen Welt (das Licht) und umgekehrt der Einbildung des Unendlichen ins Endliche innerhalb der ideellen Welt (das Handeln). Die identitätsverbürgende dritte Potenz ist auf der Ebene der Urteilsrichtungen als Vereinigung von Reflexion und Subsumption die Vernunft selbst. Als Vereinigung des Körperlichen und des Lichtes ist sie der Organismus und als Vereinigung von Wissen und Handeln ist sie die Kunst. Daher kann Schelling zusammenfassend sagen, greift, um mit ihr das Problem der Differenz durch eine Identität zu lösen, welche Differenz bereits innerhalb der Identität zulässt. 10 Durner 2005, XXXVI, bezeichnet sie treffend als „drei Aspekte der Form des Absoluten“.

IV. Die Ergänzungen zur 2. Aufl. der Ideen zu einer Philosophie der Natur (1803) 125

dass „das Universum […] im Absoluten als das vollkommenste organische Kunstwerk gebildet [ist]: für die Vernunft, die es erkennt, in absoluter Wahrheit“ (AA I,12,1, 157/SW IV, 423). Für die Seite der reellen Welt führt Schelling hier nochmals in Modifikationen eine Konstruktion der Materie vor, bei welcher aufgezeigt wird, wie „in der relativen Identität der ersten Potenz wieder alle Potenzen rekurrieren“ (AA I,12,1, 160/SW IV, 426). Hierbei greift Schelling auf die Konstruktion der Materie über die drei geometrischen Dimensionen zurück, die er in der Allgemeinen Deduktion vorgeführt hat. Allerdings waren diese Dimensionen dort Linie, Fläche und Raum gewesen. Hier wird die erste Potenz des Raumes ebenfalls ausgedrückt durch die Linie (AA I,12,1, 160 f./SW IV, 427), die zweite Potenz hingegen durch die Kreislinie, und die dritte Potenz schließlich als die Schwere (AA I,12,1, 161 f./SW IV, 428) bezeichnet. Dies zeigt erneut, dass Schellings Zuordnungen die Kategorien des geistig und materiell Wirklichen zur Strukturordnung der Potenzen immer wieder variieren. Man darf es als Ausdruck von Schellings fast spielerischer begrifflicher Kreativität verstehen, wenn er immer wieder versucht, nicht nur das Gerüst seiner metaphysischen Architektur der Potenzen zu ändern, sondern auch innerhalb eines entworfenen strukturellen Schemas der Potenzen, diese mit neuen Zuordnungen zu belegen und so den sich stets entwickelnden materiellen Konzepten seiner Geist-, und insbesondere seiner Naturphilosophie je anzupassen.

IV. Die Ergänzungen zur zweiten Auflage der Ideen zu einer Philosophie der Natur (1803) Aufschlussreich für Schellings Arbeitsweise und die Entwicklung des Potenzbegriffs innerhalb der identitätsphilosophischen Phase sind auch die Umgestaltungen, die Schellings zuerst 1797 erschienenes Buch Ideen zu einer Philosophie der Natur mit der zweiten Auflage von 1803 erfährt. Denn Schelling modifiziert dieses naturphilosophische Werk nicht lediglich im Detail. Sondern er implantiert dort seine zwischenzeitlich entstandene identitätsphilosophische Metaphysik und sein zwischenzeitlich in der Naturphilosophie von 1799/1800 erworbenes und in der Identitätsphilosophie ab 1801 erweitertes und verschobenes Begriffsspektrum um dem Potenz-Begriff. Dass er hierbei mehr als 50-mal den Ausdruck der ‚Potenz‘ oder ‚Potenzen‘ gebraucht, zeigt erneut, welche Bedeutung dieser Begriff zwischenzeitlich in Schellings Denken eingenommen hat. Hierbei ergibt schon eine erste textliche Erhebung, dass Schelling in dieser Schrift, in der er in der Perspektive von 1803 einen Text von 1797 umgestaltet, zwar gelegentlich auch die Terminologie aus der Naturphilosophie von 1799/

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1800 zitiert, in der Hauptsache jedoch die neue Terminologie der Jahre nach 1800 verwendet. So greift er einerseits auf den verbalen, dynamischen Ausdruck des ‚Potenzierens‘ zurück, den er in den Schriften von 1800 angewandt, danach innerhalb des identitätsphilosophischen Ansatzes in diesem Sinn jedoch nicht mehr verwendet hatte. Dieser Rückgriff hat allerdings einen intertextuellen Grund, insofern Schelling ihn zunächst innerhalb eines Selbst-Zitates gebraucht, in welchem er eine Stelle aus der Allgemeinen Deduktion von 1800 ausführlich wiedergibt, in welcher von der Potenzierung der Materie, verstanden als bloße Raumerfüllung, die Rede ist, und davon, dass positive und negative Elektrizität die Grundkräfte der Attraktion und Repulsion zu Sauerstoff und Wasserstoff potenzierten (AA I,13, 158 f./SW II, 120, vgl. AA I,8, 357/IV, 67). In der weiteren, verstreuten Verwendung dieses Ausdrucks wird dann deutlich, dass Schelling mit diesem Ausdruck des ‚Potenzierens‘ nun nicht mehr das elaborierte Konzept eines Systems organischer Steigerungen und deren philosophischer Rekonstruktion wiedergibt, wie er es in den Schriften von 1800 entwickelt hatte, sondern dass er in dem neuen Sinn der Darstellung von 1801 von ‚Potenzieren‘ als Gegenbegriff zu ‚Depotenzieren‘ spricht. Zudem verknüpft er im Zusammenhang damit den Gedanken von Potenzieren mit dem physikalischen Phänomen des Polarisierens. So erläutert er die Vorgänge der Zusammensetzung und Zersetzung der Stoffe innerhalb chemischer Prozesse auf folgende Weise: Alle Zusammensetzung besteht in einem wechselseitigen Aufheben von entgegengesetzten Potenzen durch einander, so dass die vollkommenste die gänzliche Depotenzierung ist. Alle Zerlegung dagegen, als Darstellung einer und derselben Substanz unter differenten Formen, ist Potenzierung nach verschiedenen Richtungen. (AA I,13, 369/SW II, 341)

Der hierin aufleuchtende Gedanke ist der aus der Darstellung meines Systems bekannte, dass Zerlegung Ausdifferenzierung bedeutet und dies innerhalb des Identitätssystem als Potenzierung aufzufassen ist, da Potenz hier überhaupt als Bezeichnung für das Differente, Viele im Gegensatz zum potenzlos Identischen gebraucht wird. Hinzu kommt, dass Schelling an anderen Stellen ‚potenzieren‘ faktisch mit ‚polarisieren‘ gleichsetzt, in etwa, wenn es vom Wasser heißt, dieses könne „nach zwei Seiten potenziert werden, aber [mit] bloß relative[r] Polarität“ (AA I,13, 288/SW II, 256) oder wenn er den chemischen Prozess als Dreiecksverhältnis zwischen zwei Festkörpern und einer Flüssigkeit schildert, bei welchem die Flüssigkeit „nach zwei Seiten potenziert oder polarisiert“ (AA I,13, 366/SW II, 338) werde. Offensichtlich verbindet Schelling hierbei den physikalischen Begriff der Polarisation z. B. des Magneten oder der Vorgänge im Galvanischen Prozess mit dem der Seins-Linie als dem metaphysischen Grundgerüst des Identitätssystems und belegt beide mit dem dynamischen Ausdruck der

V. Philosophie und Religion (1804)

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‚Potenzierung‘, der so wieder, wenn auch in einem anderen Zusammenhang, den Vorgang des in die Potenz-Setzens im Sinne der Ausdifferenzierung innerhalb der bipolaren Seinslinie meint. Dabei verbindet Schelling an einigen Stellen den Gedanken der polaren Ausrichtung der Seins-Linie mit dem eines relativen polaren Übergewichtes in den Potenzen begrifflich so, dass das Einsetzen einer spezifisch polaren Ausrichtung einzelner Potenzen ‚Potenzieren‘ und ‚Polarisieren‘ gleichermaßen genannt werden kann. So heißt es in § 140: „Die Schwerkraft kann als bloße Potenz oder als Pol nicht anders als nach entgegengesetzten Richtungen gesetzt werden“ (AA I,10, 201/SW IV, 202) und vom Gehirn des Menschen schreibt Schelling, dass dies „der potenzierteste positive Pol der Erde“ (AA I,10, 209/ SW IV, 209) sei. Wenig überraschend ist, das Schelling in der zweiten Auflage der Ideen den Potenzbegriff auch sehr genau im Sinne der Identitätsphilosophie gebraucht. So findet sich schon in einem neuen Zusatz zur Einleitung eine Wiederholung der grundsätzlichen Systematik der Ferneren Darstellungen, wonach, wie Schelling es nun formuliert, die besonderen Einheiten innerhalb des Absoluten je wieder drei differente Einheiten enthalten, „die wir in dieser Unterscheidbarkeit und Unterordnung unter eine Einheit Potenzen nennen“ (AA I,13, 104 f./SW II, 66). Und weiter: „diese Einheiten, deren jede einen bestimmten Grad der Einbildung des Unendlichen ins Endliche bezeichnet, werden in drei Potenzen der Naturphilosophie dargestellt“ (AA I,13, 106/SW II, 68). Dem entspricht auch, dass Schelling hier gelegentlich auf die Nummerierung der Naturphilosophie der Schriften ab 1801 zurückgreift, wonach die erste Potenz als „Einbildung der Einheit in die Vielheit“ (AA I,13, 209/SW II, 175) charakterisiert und der Organismus als „die wahre dritte Dimension“ bezeichnet (AA I,13, 211/SW II, 177) wurde, die die dritten Potenz entspreche.

V. Philosophie und Religion (1804) Im sachlicher Anknüpfung an das im Dialog Bruno verhandelte Verhältnis über die göttlichen und natürlichen Dinge ist es die Aufgabe von Philosophie und Religion, von einem philosophisch-wissenschaftlichen Standpunkt aus, der weder die Sphäre des Religiösen dem bloßen Glauben preisgibt noch die zentralen Gegenstände des Religiösen aus der Wissenschaft ausgrenzt, das Verhältnis von Philosophie und Religion zu klären. Als diese zentralen Gegenstände benennt Schelling „die Lehre vom Absoluten [sowie] von der ewigen Geburt der Dinge und ihrem Verhältnis zu Gott“ (AA I,14, 279/SW VI, 17). Entscheidend für die – um es gleich zu sagen – eher zu vernachlässigende Bedeutung des Potenzbegriffs in diesem Werk ist, dass Schelling hier nicht nochmals das Grundkonzept seiner Identitätsphilosophie erläutert und auch

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Kap. 5: Die weitere Entwicklung innerhalb des Identitätssystems bis 1806

keine spezifisch naturphilosophischen Bereiche mitbearbeitet. So bleiben die thematischen Kernbereiche, in denen der Potenzbegriff eine tragende systematische Rolle gespielt hat, außen vor. In Hinsicht auf das Absolute zeigt sich dies darin, dass Schelling nun nicht mehr die Idee der Identität des Absoluten und das Problem der Abhängigkeit des Vielen von ihm erläutert, sondern dass es ihm darum geht, zu zeigen, dass – im Gegensatz zu anderslautenden Thesen Eschenmayers, auf dessen im Vorjahr erschienenes Buch Die Philosophie in ihrem Übergang zur Nichtphilosophie er sich dabei unmittelbar bezieht – der Begriff Gottes und der des Absoluten notwendig zusammenfallen und dass es keinen systematischen Raum für einen durch Andacht erfahrbaren Gott oberhalb des philosophisch konstruierbaren Absoluten geben kann. In den spärlichen und verstreuten Stellen, in denen der Potenzbegriff in Philosophie und Religion vorkommt, wird dieser auch eher in einer landläufigen Weise gebraucht – ohne dass diese Verwendungsweise hierdurch eine feste systematische Stellung erhielt oder sich auf eine solche in früheren Werken bereits etablierte rückbeziehen ließe. So führt Schelling in Hinsicht auf Eschenmayer aus, dass „keine höhere Potenz als Glaube oder Ahnung etwas Vollkommeneres und Besseres bringen“ (AA I,14, 280/SW VI, 19) könne, als ein absolutes Erkennen. Daher sei auch ein solches Ahnen und Glauben „weit entfernt [davon], eine wirkliche Erhebung und höhere Potenz“ (ebd.) in Hinsicht auf die „höchste Einheit des Erkennens“ (ebd.) zu sein. Es gebe eben keinen Platz außerhalb der Philosophie für einen Gott „als die unendlichmal höhere Potenz“ (AA I,14, 282/SW IV, 21) über dem Absoluten. Landläufig ist dieser Gebrauch des Ausdrucks ‚höhere Potenz‘ deswegen, weil er hier einerseits nichts über das von Schelling selbst zur Erläuterung mitformulierte einer ‚Erhebung‘ oder höheren Dimension hinaus bedeutet und andererseits nur negativ, zur Charakterisierung einer Gegenposition gebraucht wird, die innerhalb des eigenen Systems keinen Platz hat. Dies gilt auch für eine spätere Stelle, an der er Eschenmayer unmittelbar mit dem Ausdruck einer „Potenz des Ewigen“ (AA I,14, 311/SW VI, 54) zitiert. 11 Dasselbe gilt bedingt auch für den nächsten Kontext, innerhalb dessen Schelling auf den Begriff einer ‚höheren Potenz‘, nun allerdings im Superlativ, zurückgreift: Innerhalb der Frageperspektive von Philosophie und Religion formuliert Schelling die Problematik des Verhältnisses des Vielen zum Einen, Absoluten nun als die Frage nach der „Abkunft der endlichen Dinge aus dem 11 Vgl. den Verweis Schellings in AA I,14, 311/SW VI, 54 Anm. auf Eschenmayer 1803, 17. Eschenmayer spricht an dieser Stelle von einer „Potenz der Ewigkeit“ und verweist seinerseits auf Schelling, der die Idee der Ewigkeit als höchste Potenz der Spekulation wieder inauguriert habe. Eschenmayer selbst entwirft hier ein System dreier Potenzen als „Hauptstufen der Philosophie“ (ebd.), wonach das Endliche die Potenz der ersten Stufe oder der Sinnlichkeit, das Unendliche die Potenz zweiten Stufe oder des Verstandes und die Ewigkeit schließlich die Potenz der dritten Stufe oder der Vernunft sei.

VI. Das ‚Würzburger System‘ (1804)

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Absoluten“ (AA I,14, 288/SW VI, 28) und damit in der theologischen Blickrichtung eines abgefallenen Zeitlich-Endlichen zum Absolut-Ewigen; kurz: in der Frageperspektive nach dem Sündenfall und dem Ursprung des Übels. Innerhalb der Charakterisierung des Kontrastes zwischen dem Absoluten und dem Endlichen zeichnet er im Rekurs auf Fichtes Urprinzip der Tat-Handlung als eines sich selbst Setzens des Ichs die Egoität, „die Ichheit [als] das allgemeine Prinzip der Endlichkeit“ (AA I,14, 300/SW VI, 42), weil, so Schellings Charakterisierung, die Entfernung der Ichheit vom Absoluten sich in der „höchsten Potenz“ (ebd.) dadurch ausdrückt, dass die Ichheit als Egoität eben Für-sich-selbst-Sein und damit absolute Entfernung vom Absoluten bedeutet. Auch hier ist erkennbar von ‚höchster Potenz‘ in einem nicht-technischen Sinn von maximaler Steigerung die Rede. Dies gilt auch für eine weitere Stelle, an der Schelling darüber spekuliert, die gegenwärtige Menschheit sei nur die „tiefere Potenz“ (AA I,14, 315/SW VI, 58) einer früheren Menschengattung, in welcher die Vernunft verwirklicht gewesen wäre und von welcher die gegenwärtige erzogen worden sei. Lediglich an einer einzigen Stelle benennt der Ausdruck ‚Potenz‘ in Philosophie und Religion Schellings eigenes, bereits weit entwickeltes Potenz-Konzept im Rückgriff auf das in der Naturphilosophie entwickelte System von Potenzen empirischer Gegenstände. Hier heißt es nun, dass der erkennenden Seele „die verschiedenen Potenzen der Dinge [entstehen], indem sie stufenweise, jetzt die ganze Idee im Realen, jetzt im Idealen ausdrückend, bis zur Ureinheit sich erhebt“ (AA I,14, 302/SW VI, 44). Überblickt man diese wenigen Stellen, an denen Schelling in Philosophie und Religion von ‚Potenz‘ oder ‚Potenzen‘ spricht, so lässt sich sicher sagen, dass in ihnen weder Neuerungen in der Entwicklung dieses Begriffes auftreten noch, dass er eine irgendwie tragende Rolle in diesem Werk spiele.

VI. Das ‚Würzburger System‘ (1804) Das aus dem Nachlass publizierte umfangreiche System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere von 1804, für welches sich in der Schelling-Forschung der verkürzende Titel ‚Würzburger System‘ eingebürgert hat, ist Schellings umfassendste Darstellung des Identitätssystems, bei welcher neben der allgemeinen Metaphysik und der im Titel hervorgehobenen Naturphilosophie auch die ideale Seite des Geistes ausführlich abgehandelt wird. Im Gegensatz zu der spezifisch religionsphilosophischen Themenperspektive der im selben Jahr publizierten Schrift Philosophie und Religion versucht das ‚Würzburger System‘ eine Gesamtschau der allgemeinen Prinzipien des Identitätssystems im Zusammenhang mit einer umfassenden Darstellung der bis dato entwickelten Naturphilosophie und ihrem systematischen Pendant, der idealen

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Kap. 5: Die weitere Entwicklung innerhalb des Identitätssystems bis 1806

Welt. Dabei kommt dem Potenzbegriff erneut eine zentrale Rolle zu, insofern mit ihm in einem noch näher zu erläuternden Sinn die Dimensionen bezeichnet werden, innerhalb derer sich die Seiten des Realen und Idealen aus dem Absolut-Identischen entfalten.

1. Die allgemeine Philosophie Daher ist auch der erste Kontext, innerhalb dessen Schelling auf den Potenzbegriff zurückgreift, erneut die Frage, wie sich das Verhältnis des idealen und realen Alls wechselseitig und zum absoluten All denken lässt. Schelling wiederholt hier die mit der Inaugurierung des Identitätssystems in der Darstellung meines Systems etablierte grundsätzliche Theorie, nach welcher Potenzen Ausdrücke der „Differenzen, durch welche das reale und ideale All als solches erscheinen“ (AA II,7,1, 160/SW VI, 210) sind. Wesentlich hierbei ist, dass die reale und die ideale Welt substanziell dieselben sind und sich nur hinsichtlich ihrer Erscheinungsweise unterscheiden. Schelling wiederholt hier ausdrücklich die perspektivische Sichtweise, welche in den Vorlesungen zur Philosophie der Kunst bereits explizit gemacht wurde: „Reales und Ideales sind nur verschiedene Ansichten einer und derselben Substanz“ (AA II,7,1, 385/SW VI, 501, Herv. Vf.). Danach sind die Potenzen die spezifischen relationalen Erscheinungsdimensionen der geistigen und physischen Welt und ihrer weiteren Ausdifferenzierungen zum Einzelnen, Besonderen. Insofern ‚Potenz‘ die Ausdifferenzierung des Absolut-Einen zur Vielheit des erscheinenden Universums bedeutet, kann Schelling pointiert zusammenfassen: „Alle Differenz beruht auf der Potenz“ (AA II,7,1, 206/SW VI, 269). Als solche Differenzen sind die spezifischen Besonderheiten der realen Dinge, wie Schelling ebenfalls bereits im Allgemeinen Teil der Philosophie der Kunst ausgeführt hatte, „nur quantitativer Art, nur Unterschiede der Potenz“ (AA II,7,1, 162/SW VI, 211). Des Weiteren bleibt bestehen, dass Potenzen keine Absolut-Begriffe sind, die Dinge an sich oder deren intrinsische Eigenschaften bezeichnen, sondern dass sie die relationale Stellung des Einzelnen zueinander und zum Ganzen bezeichnen: „Der Unterschied der Potenz ist ein Unterschied, der […] nur relativ auf anderes und relativ auf das Ganze gemacht wird“ (AA II,7,1, 162/SW VI, 212). Dies gilt sowohl in Hinsicht auf das Ganze, Absolute, als auch in Hinsicht auf das Ganze einer einzelnen Potenz, so dass Potenzen auch Innenverhältnisse höherer Potenzen in Bezug auf diese als Ganze beschreiben können: „auch in einer und derselben Potenz wieder können sich Dinge nur durch das verschiedene Verhältnis beider in Bezug auf diese Potenz unterscheiden“ (AA II,7,1, 216/SW VI, 282). Hinzu kommt, dass Potenzen nun notwendig in Triplizitäts-Konstellationen auftreten: die „Triplizität der Potenzen ist [die] notwendige Erscheinungsweise“ (AA II,7,1, 161/SW VI, 210) des idealen und realen Alls. Diese Dreierkonstel-

VI. Das ‚Würzburger System‘ (1804)

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lationen sind nach der bereits bekannten Art dialektisch organisiert. 12 Allerdings beschreibt Schelling nun vielfach den Kontrast des Realen und Idealen durch die der Theorie der Selbstaffirmation Gottes als des Absoluten entnommenen Begriffe des Affirmierenden (Subjektiven) für das Ideale und des Affirmierten für das Objektive und unternimmt es so, seine zuletzt im System von 1800 dargelegte Theorie des in Subjekt-Objekt-Beziehungen sich reflexiv aufbauenden Selbstbewusstseins in das Konzept des Absolut-Göttlichen zu integrieren. Und er greift modifizierend auf die Buchstabennotation der Darstellung meines Systems zurück. Die erste Potenz des Realen (die Schelling nun mit hochgestelltem Exponenten als ‚A1‘ notiert) bezeichnet das Übergewicht des Affirmiertseins über das Affirmierende innerhalb des realen Alls, die zweite Potenz (A2) umgekehrt ein Übergewicht des Affirmierens innerhalb des Realen; und entsprechend in gespiegelter Stellung für die ideale Seite. Die jeweiligen dritten Potenzen (A3) entstehen dadurch, dass die ersten beiden sich wechselseitig durchdringen. Die dritte Potenz ist dabei „dasjenige an den Dingen, was die anderen Potenzen begreift“ (AA II,7,1, 195/SW VI, 255). In ihr werden die je ersten und zweiten Potenzen zur Indifferenz gebracht. 13 Bemerkenswert ist, dass Schelling hier sowohl in der Notation als auch sprachlich den Potenzgedanken wieder näher an die mathematische Verwendung von ‚Potenz‘ rückt, indem er einerseits schreibt: „da wo […] A1 […] und […] A2 sich durchdringen und multiplizieren, entsteht das A3“ (AA II,7,1, 161/SW VI, 210) und andererseits auch gelegentlich den Ausdruck des ‚Exponenten‘ dem der ‚Potenz‘ gleichstellt. So in etwa im § 140, wo er im explikativen Sinn schreibt: „Jede Materie unterscheidet sich von jeder anderen bloß durch ihren Exponenten oder ihre Potenz“ (AA II,7,1, 235/SW VI, 306). 14 12

Vgl. hierzu instruktiv Hartkopf 1975, 171 f. Dabei ist zu beachten, dass Schelling nun terminologisch Identität und Indifferenz, die 1801 lediglich die positiven und negativen Formulierungen desselben Sachverhalts waren, auf unterschiedliche Gebiete anwendet. Während ‚Identität‘ der Ausdruck für das Absolute bleibt, benennt Schelling mit ‚Indifferenz‘ nun Identitätsverhältnisse innerhalb der realen und idealen Welt, die er als Abbilder der Identität versteht. Vgl.: SW VI, 228: „Die absolute Identität, d. h. die wahre Substanz wirkt in den besonderen [Dingen] nur unter der Form der Indifferenz“. Und weiter: „Die unendliche Substanz […] scheint wider an der Besonderheit […]. Das unmittelbare Abbild der Identität […] ist die Indifferenz“ (ebd.). Hierzu auch Rang 2000, 134– 150. 14 Florig 2010, 114 Anm. weist darauf hin, dass Schelling mit ‚Exponent‘ „häufig dasjenige [meint], als das sich etwas zeigt, eben exponiert“. Dies erläutert diesen Ausdruck in Analogie zur ‚Potenz‘ zumindest für diejenige Werkphase, in der Potenzen gemäß der Definition der Philosophie der Kunst, als die spezifischen Erscheinungsweisen des Absoluten zu verstehen sind. Diese und die zuvor zitierte Stelle, an der Schelling von ‚multiplizieren‘ spricht, zeigen aber auch, dass Schelling selbst gelegentlich auf die mathematische Bedeutung von ‚Potenz‘ als Selbstmultiplikation anspielt – denn tatsächlich ergibt ja mathematisch A1 � A2 ¼ A3 . Ebenso werden die hochgestellten Zahlen auch in der Mathematik der Zeit Schellings ‚Exponenten‘ 13

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Kap. 5: Die weitere Entwicklung innerhalb des Identitätssystems bis 1806

Und ein weiterer konstruktiver Punkt kehrt hier wieder: die Minderung der Potenz der einen Reihe entspricht der Steigerung der anderen: „die im realen All begriffenen [Differenzen werden] durch Potenzen des idealen, die im idealen All begriffenen durch Potenzen des realen Faktors“ (AA II,7,1, 160/SW VI, 210) ausgedrückt. Denn das Übergewicht des einen Faktors relativ auf den anderen kommt durch eine Minderung des anderen Faktors relativ auf das Absolute zustande, weswegen die Potenzen, welche die bilateralen Reihen bilden, durch Wechselrelationen zueinander und in Bezug auf das Ganze geprägt sind. Klarer als an anderer Stelle spricht Schelling hier den Gedanken der Privation aus: das Übergewicht des idealen Faktors entspringt keiner Steigerung desselben gegenüber der Indifferenz, sondern einem Mangel des realen Faktors und umgekehrt. Da im eigentlichen Sinn höchste Realität nur der absoluten Identität zukommt, da diese „alle Potenzen begreift, ohne selbst eine derselben insbesondere zu sein“ (AA II,7,1, 163/SW VI, 213), erweist sich die Potenz des Einzelnen als Privation, d. h. als „Nichtsein des Besonderen relativ auf das All“ (ebd.). Hinsichtlich der Dignität der Seinsschichten sieht Schelling – entgegen der linearen Konzeption von 1801, die erste und zweite Potenz klar gleichgeordnet hatte – erste, zweite und dritte Potenz nun wieder als aufsteigende Reihe, wobei nicht nur die dritte Potenz die ersten beiden vereinigt, sondern auch die zweite Potenz einer reflexiven und reduplikativen Steigerung der ersten entspricht. In ihr ist nicht lediglich ein Übergewicht auf der einen Seite, wie bei der ersten auf der anderen Seite. Sondern das Übergewicht des Affirmierenden ist ein Übergewicht des Affirmierenden über dasjenige Affirmierte der ersten Potenz, das zuvor schon ein Übergewicht über das Affirmierende beinhaltet hatte – wodurch eine Steigerungsreihe auf der Seite des Affirmierenden entsteht. A2 ist da, wo „das Affirmierende der ersten Potenz selbst wieder affirmiert“ (AA II,7,1, 161/SW VI, 210). Hierdurch gewinnt auch der Ausdruck der „höhere[n] Potenz“ (AA II,7,1, 163/SW VI, 213) wieder an Bedeutung, bezeichnet dieser doch diejenigen Potenzen, die andere Potenzen als untergeordnete begreift und in denen Momente der untergeordneten Potenzen reflexiv gesteigert wiederkehren. Eine je höhere Stufe erreichen diese, je mehr Potenzen sie in sich integrieren (vgl. AA II,7,1, 229/SW VI, 299). Dies entspricht dann zugleich einer Annäherung an die höchste Seinsschicht der absoluten Identität, die ja lediglich in dem Sinne potenzlos ist, als sie alle Potenzen in sich begreift und eben denjenigen Seinszustand bezeichnet, von dem aus es keine Steigerungen mehr geben kann.

genannt. Es bleibt aber festzuhalten, dass dies ein gleichsam spielerischer Querverweis Schellings ist, der ständig in Analogien denkt und nach Analogien sucht, und es keine grundständische Prägung des Potenzbegriffs bei Schelling durch die Mathematik gibt.

VI. Das ‚Würzburger System‘ (1804)

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2. Die Darstellung der Naturphilosophie im ‚Würzburger System‘ In der allgemeinen Naturphilosophie des ‚Würzburger Systems‘ wiederholt Schelling zentrale Thesen der Allgemeinen Deduktion zur Konstruktion der Materie. So gibt es auch hier eine Zuordnung der Triplizität der Potenzen zur Triplizität der Dimensionen des Raumes als Wesensstrukturen der Materie: „in der Materie tritt […] die absolute Identität in die drei Potenzen auseinander, die sich dann im Raum oder im Leiblichen als drei Dimensionen aussprechen“ (AA II,7,1, 174/SW VI, 227). Ebenso deduziert Schelling erneut die Schwere und das Licht als die entgegengesetzten Attribute der Natur (vgl. AA II,7,1, 199/SW VI, 260). Von ihnen aus lassen sich dann die konkreten Dinge als Potenzen verstehen, die sich durch das spezifische Verhältnis von Licht und Schwere bilden: „Die Potenzen innerhalb der Natur oder die Potenzen, sofern sie sich an den Dingen darstellen, können nur auf dem quantitativen Verhältnis von Licht und Schwere beruhen“ (AA II,7,1, 206/SW VI, 269). Bemerkenswert an dieser Passage ist zudem, dass in ihr nochmals sichtbar wird, dass Schelling das unmittelbare System der Potenzen als relationale Stellungen des Übergewichts von Realem und Idealen, innerhalb des realen Alls der Natur, nun verstanden als Verhältnis von Licht und Schwere, primär auf die unsichtbare natura naturans bezogen sieht, deren ‚Grundstoff ‘ die allgemeine substanzielle Materie bildet, welche dann in einem zweiten Schritt erst als erscheinende natura naturata sichtbar wird, welche nicht selbst unmittelbar aus den Potenzen besteht, sondern an welcher sich die Potenzen darstellen. Entsprechend, so Schellings Formulierung, werden die drei Potenzen „durch die Dinge bezeichnet“ (ebd., Herv. Vf.), die sich ihren strukturellen Verhältnissen verdanken. Die Grundstruktur des Systems der Potenzen der Natur besteht dann wie gehabt darin, dass die erste Potenz der Seite des Übergewichts der Schwere, die zweite der Seite des Übergewichts des Lichts zugeordnet sind. Da Licht ein Prinzip der Expansion ist und Schwere ein Prinzip der Kontraktion, kehren hierin die Prinzipien der frühen Naturphilosophie wieder. Explizit wird dies im § 146, wo Schelling hervorhebt, dass „die erste Potenz der Materie [sich] als zentrifugale Einheit (im Ganzen), die zweite Potenz aber […] als zentripetale“ (AA II,7,1, 246/SW VI, 321) sich verhält. Insofern Schelling nun in der Natur die Schwere als Prinzip der Kontraktion und somit des Seins und der Ruhe versteht, ist mit der ersten Potenz der Seinsbereich der Dinge bezeichnet „sofern an ihnen […] die Bewegung dem Sein oder der Ruhe untergeordnet ist“ (AA II,7,1, 206/SW VI, 269) – womit auch das Prinzip der Gravitation ausgesprochen ist. Umgekehrt ist die zweite Potenz mit denjenigen Dingen korreliert, bei denen die Bewegung dem Sein übergeordnet ist: „Die erste Potenz war also überhaupt die Potenz des Bestehens der Materie, die zweite Potenz ist die des steten Wechsels und Wandels derselben“ (AA II,7,1,

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Kap. 5: Die weitere Entwicklung innerhalb des Identitätssystems bis 1806

244/SW VI, 318); die dritte Potenz zeichnet sich entsprechend durch eine Wechseldurchdringung der Attribute von Bewegung und Sein aus, so dass Materie und Bewegung wechselseitig als Mittel und Zwecke dienen: „die Materie ist Werkzeug des bewegenden Prinzips, aber so, dass sie durch die Bewegung zugleich selbst immer reproduziert wird, also die Bewegung zugleich Werkzeug von ihr ist“ (AA II,7,1, 244/SW VI, 319), womit ein allgemeines Prinzip des Organismus ausgesprochen ist, dem Schelling wie gehabt den Bereich der dritten Potenz der Natur zuordnet. Innerhalb dieser drei grundsätzlichen Potenzen des Materiellen, des Dynamischen und des Organischen der Natur findet sich je erneut die Triplizität der Potenzen wieder: in der ersten Potenz die Dreidimensionalität des Raumes, in der zweiten, dynamischen Potenz die als die Kategorien des Anorganischen bekannte Folge Magnetismus-Elektrizität-chemische Reaktion, in der organischen dritte Potenz entsprechend die Grundkategorien des Lebendigen, Sensibilität, Irritabilität und Bildungstrieb, wobei Schelling den Ausdruck des ‚Bildungstriebs‘ nun durch den der ‚Reproduktion‘ ersetzt und die Folge der organischen Potenzen umkehrt: so finden sich nun die Entsprechungen Reproduktion-Magnetismus, Irritabilität-Elektrizität und Sensibilität-chemischer Prozess. Wichtig hierbei ist, dass Schelling nun strenger und konsequenter als zuvor die Triplizitätsstruktur der Potenzen als universelles Entfaltungsmuster des Absoluten denkt, das in den einzelnen Seinsstufen lediglich auf verschiedene Weise zur Erscheinung kommt. So sind in etwa „Reproduktion und Magnetismus […] ein und dasselbe, nur der Potenz nach unterschieden“ (AA II,7,1, 309/SW VI, 402). Des Weiteren gilt, dass auch innerhalb dieser einzelnen Potenzen sich jeweils erneut eine Triplizitätsstruktur ihrer inneren Untergliederung in weitere untergeordnete Dimensionen oder Potenzen zeigt, der hier im Einzelnen nicht weiter nachgegangen werden kann.

3. Die ideale Welt und ihre Potenzen Der Grundriss des Aufbaus der idealen Welt in einem System von Potenzen bleibt im ‚Würzburger System‘ derselbe, der sich schon in den Vorlesungen zur Philosophie der Kunst gezeigt hatte. Danach gibt es eine Potenzenfolge von Wissen, Handeln und Kunst, wobei die Kunst wiederum als Synthese von Wissen und Handeln sich verstehen lässt. Sie ist „ein wissendes Handeln und ein handelndes Wissen“ (AA II,7,1, 437/SW VI, 569). Der ebenfalls in der Philosophie der Kunst ausgesprochene Gedanke, dass Potenzen lediglich verschiedene Perspektiven auf das ungeteilte Absolute seien, und wonach bereits die ideale Welt und die reale Welt insgesamt nur verschiedene Ansichten desselben seien, kommt hier auch innerhalb der idealen Welt wiederum zum Ausdruck: So kann Schelling für die ersten beiden Potenzen feststellen: „Absolutes Er-

VII. Die Aphorismen über die Naturphilosophie (1806)

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kennen und absolutes Handeln sind ein und dasselbe, nur von verschiedenen Seiten angesehen“ (AA II,7,1, 415/SW VI, 540). Und noch ausdrücklicher im Folgenden: „der Unterschied, der zwischen dem Handeln und Erkennen gemacht wird, ist ein bloßer Unterschied der Potenz, d. h. ein unwesentlicher“ (ebd.). Diese doch eher überraschende Behauptung, dass zwischen Handeln und Erkennen kein wesentlicher Unterschied herrsche, belegt zunächst nochmals die Marginalisierung des Bereichs des Differenten in Ansehung der ihr zugrunde liegenden wesentlichen Identität. In der Sache versucht Schelling dies dadurch zu begründen, dass er aufzeigt, dass es dasselbe sei, das in uns erkennt und handelt und dass wahrhaftiges Handeln gerade in der „Einheit des Handelns und Erkennens“ (AA II,7,1, 415 f./SW VI, 541) bestehe. Hierdurch verknüpft sich für Schelling die Potenz des Handelns mit den Sphären des Moralischen und Religiösen. Denn im Gegensatz zur Wahrhaftigkeit, die in der Einheit von Erkennen und Handeln liegt, ist die Trennung derselben ein Ausdruck der Falschheit, des Bösen und zuletzt der Sünde. Dies begründet sich dadurch, dass in der Annahme einer solchen Trennung der Grundgedanke der Einheit des Absolut-Göttlichen aufgehoben wird. „Dass es ein in uns von der Erkenntnis unabhängiges Handeln gibt, oder dass ein solches geglaubt wird, dies eben ist die erste Sünde“ (AA II,7,1, 427/SW VI, 556). Auf diese Weise wird die Aufwertung des Religiösen in den Jahren ab 1802, die sich bereits in den thematischen Stellungen des Bruno und von Philosophie und Religion zeigte, zuletzt auch im ‚Würzburger System‘ sichtbar. So kennzeichnet Schelling die Potenzen des Wissens, Handelns und der Kunst zuletzt als „Wissenschaft, Religion [!] und Kunst“ (AA II,7,1, 441/SW VI, 575) und fügt ausdrücklich hinzu: „Nur diese drei absoluten Ausdrücke gibt es für die drei Potenzen der ideellen Welt“ (ebd.).

VII. Die Aphorismen über die Naturphilosophie (1806) Als letzte der Schriften der identitätsphilosophischen Phase, in denen der Potenzbegriff eine Rolle spielt, 15 hat Schelling in den drei erschienenen Heften der selbst neu herausgegebenen Jahrbücher der Medizin als Wissenschaft in den Jahren von 1805 bis 1807 zunächst Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie und sodann die Aphorismen über die Naturphilosophie selbst vorgelegt; sie gelten bereits als Übergangsschriften zur Freiheitsschrift von 1809. Ihre Ent-

15 In der 1806 erschienenen Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fischteschen Lehre, findet der Potenzbegriff so gut wie keine Erwähnung und spielt systematisch keine Rolle.

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Kap. 5: Die weitere Entwicklung innerhalb des Identitätssystems bis 1806

stehungszeit dürfte allerdings wesentlich früher, nämlich auf die Jahre 1804 und 1805 zu datieren sein. 16 Sie enthalten Neufassungen der Themenbereiche, die Schelling im ‚Würzburger System‘ als Allgemeinen Teil der Philosophie überhaupt und als Allgemeinen Teil der Naturphilosophie gekennzeichnet hatte – also eine allgemeine Metaphysik in den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie, in welcher erneut das Absolute dargestellt und insbesondere das Problem der Vermittlung von Einheit des Absoluten zur Vielheit des Alls erneut behandelt wird, und eine Grundlegung der Naturphilosophie im Sinne einer Darstellung der natura naturans und ihres Verhältnisses sowohl zum Absolut-Identischen als auch zur erscheinenden Natur in den Aphorismen über die Naturphilosophie; eine spezielle Naturphilosophie ist darin nicht enthalten. Als Übergangsschriften zur Periode der Freiheitsschrift können die Aphorismen deswegen gelten, weil in sie bereits Themen einfließen, die sich Schellings Kontakt mit der Deutschen Mystik und den Schriften Jakob Böhmes verdanken; insbesondere der fünfte und letzte Abschnitt der Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie, in welcher das Thema der Potenzen behandelt wird, ist von Ausdrücken geprägt, die sich auf Schellings Interesse an der Deutschen Mystik zurückführen lassen. 17 Hinsichtlich ihres doktrinären Gehalts in Bezug auf die Grundkonstellation des Identitätssystems sind allerdings keine Verschiebungen im Vergleich mit den anderen Schriften dieser Periode zu erkennen. Schelling selbst betont, dass sich ihm „die allgemeinen Gründe, wie sie dort [in der Darstellung meines Systems] aufgestellt sind, […] bei jeder folgenden Untersuchung […] bewährt [hätten, und] nach meiner besten Einsicht von jenen Sätzen auch nicht eine[r] nur zweifelhaft gemacht“ (AA I,15, 96/SW VII, 144) worden sei.

1. Potenzen in den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie Es ist auffällig: wie schon in anderen Schriften zuvor, werden auch in den Aphorismen zur Einleitung die Potenzen erst im letzten Abschnitt des Buches, welcher die Unterschiede „der Qualität im Universum“ (AA I,15, 123/SW VII, 174) zum Gegenstand hat, thematisch. 18 In diesem Fall präsentiert Schelling 16 Schelling hat bereits im Herbst 1804 das baldige Erscheinen des ersten Bandes der Jahrbücher der Medizin, welche die Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie enthielten, mehrfach brieflich angekündigt. Hierzu Mauch 2018, XLV und Arndt/Jaeschke 2012, 419 mit Anm. 125 f. 17 Vgl. hierzu Mauch 2018, XXXVII–XLI und insbesondere Arndt/Jaeschke 2012, 421. 18 Z. B. im System des transzendentalen Idealismus oder der Einleitung zu seinem Entwurf. Hier entsteht einerseits der Eindruck, als könne sich Schelling dieses Ausdrucks auch entheben, da ja der Großteil der jeweiligen systematischen Darstellung der entsprechenden Werke auch ohne ihn vollzogen wurde. Andererseits, als gebrauche ihn Schelling mit einer gewis-

VII. Die Aphorismen über die Naturphilosophie (1806)

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das System von Potenzen zur Darstellung der hierarchischen Systematik des durch Vielheit (im Gegensatz zur strikten Einheit des Absoluten) gekennzeichneten erscheinenden Alls als eine alternative Lesart. Denn auf der Basis einer bereits entworfenen Stufenfolge der Dinge schreibt Schelling hier: „Diese Stufenfolge können wir nun auch, in der bloß relativen Betrachtungsweise, als eine Folge von Potenzen ansehen“ (AA I,15, 127/SW VII, 179, Herv. Vf.), bzw.: „Nach der Vorstellung von Potenzen lässt sich die Abstufung der Dinge so darstellen“ (AA I,15, 128/SW VII, 180). Damit präsentiert Schelling die mit den Potenzbegriff verbundene Lehre an dieser Stelle lediglich als eine alternative Betrachtungs- und Darstellungsweise der Metaphysik der Natur und nicht als substanzielle Charakterisierung der Seinsschichten der erscheinenden Welt. Potenzen scheinen auf diese Weise mehr eines von mehreren möglichen Beschreibungssystemen der Wirklichkeit und ihres metaphysischen Unterbaus zu sein, als Elemente dieser Wirklichkeit und ihrer Theorie selbst zu bezeichnen. Allerdings ist hierbei zu sehen, dass vom Standpunkt der Identitätsphilosophie, die das Absolute als eigentliche und einzige ontologische Realität anerkennt, die relative Betrachtungsweise mittels des Potenzbegriffs auch wiederum die adäquate für die „abgeleiteten Dinge[.]“ (AA I,15, 124/SW VII, 175) ist, für „die sichtbare Natur als die bloß unter Relationen bestehende Erscheinung“ (AA I,15, 125/SW VII, 176) des Absoluten, als deren Ebenbild im Platonischen Sinne Schelling jene nun auffasst. Schelling beginnt diesen Abschnitt mit einer trinitarischen Auffassung der „göttlichen Identität“ (AA I,15, 123/SW VII, 174), nach welcher deren inneren Momente, die er hier nun als „Einheit, als Unendlichkeit und als absolute Identität beider“ (AA I,15, 124/SW VII, 174 f.) kennzeichnet, für sich „jedes ein Ganzes ist, und dennoch nicht ist und nicht sein kann, ohne das andere“ (AA I,15, 123/SW VII, 174). 19 Diese Momente bilden nicht nur das innere Amalgam der Absolutheit, sondern „in jedem Ding [ist] die Einheit, die Unendlichkeit und die Indifferenz beider nur eine und dieselbe unzertrennliche Realität“ (AA I,15, 128/SW VII, 179). Im Gegensatz zur Identität in Gott ist allerdings die Indifferenz – als Bezeichnung der Identität im Bereich der Dinge – eine, die lediglich aus einer Verbindung zwischen diesen besteht, und nicht aus einer ursprünglich unteilbaren Einheit. Die Unendlichkeit innerhalb der Identität fasst Schelling nun als Ebenbild der Einheit; die hiervon abgeleitete Natur hinwiederum als deren Erscheinung; die Dinge der Natur als „Abdrücke des All“ (AA I,15, 125/SW VII, 176).

sen Emphase, um die jeweilige Abhandlung im Schlussakkord mittels des Potenzbegriffs zu ihrem rhetorischen Höhepunkt zu führen. 19 Dies entspricht der kanonischen Lehre der Trinität nach den Konzilien von Nicäa und Konstantinopel (325 und 381), nach welcher die drei Personen jede für sich ganz Gott und doch in unauslöschlicher Einheit begriffen sind (hierzu: RGG, Bd. 8, Sp. 602–608 und 612 f.).

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Eine wechselseitige Über- und Unterordnung von Einheit und Unendlichkeit führt wieder zu Schwere und Licht als den Polen der Natur: Einheit in der Unendlichkeit zur Schwere, Unendlichkeit in der Einheit zum Licht, so wie Schelling dies zuvor bereits mit den Begriffen des Affirmierenden und Affirmierten durchgeführt hatte. Von hier aus findet Schelling nun jedoch neue Zuordnungen: Wo Unendlichkeit vorherrscht und es ein Übergewicht des Schwerepols gibt, ist nun „das Leben im Raum“ (AA I,15, 127/SW VII, 178) bezeichnet, im umgekehrten Fall „das Leben der Dinge in der Zeit“ (AA I,15, 126 f./SW VII, 178). Auf diese Weise versucht Schelling hier Raum und Zeit aus den Grundpotenzen der Natur zu entwickeln. Zudem führt Schelling dies rasch zu einer neuen Stufenfolge, wonach die erste Stufe die durch Schwere gekennzeichnete Materie bezeichnet, die zweite Stufe durch die Bewegung (des Entstehens und Vergehens in der Zeit) definiert ist und die dritte Stufe schließlich durch den Organismus, „in welchem mit dem Leben in der Zeit zugleich das Leben im Raum […] besteht“ (AA I,15, 127/SW VII, 178). In diese generelle Ontologie des Identitätssystems in der spezifischen Ausprägung der Aphorismen setzt Schelling nun seine alternative Deutung mittels des Potenzbegriffs ein. Dabei zeigt sich, dass er den Potenzbegriff in zwei verschiedenen funktionellen Bedeutungen gebraucht, der trinitarischen und der relativen, die allerdings schwer zur Deckung zu bringen sind. 1) Benennt Schelling die Innenmomente des Absoluten (Unendlichkeit, Einheit und die Indifferenz beider) mit den Kürzeln ‚A1‘, ‚A2‘ und ‚A3‘ und versteht diese als Kennzeichnungen von Potenzen. In diesem Sinne gibt es genau drei Potenzen als die Momente des Einen, des Unendlichen und ihrer Indifferenz. Dies ergibt sich unmittelbar aus dem Anfang des § 193, in welchem Schelling in direkter Referenz auf diese Momente und auf die angegebenen Kürzel von „diesen Potenzen“ (AA I,15, 128/SW VII, 179) spricht. In diesem Sinn sind gemäß dem allgemeinen Organismusgedanken auch hier wiederum sowohl im Absoluten als auch in jedem einzelnen Ding alle Potenzen in ihrer wechselseitigen, nun trinitarisch verfassten Ordnung enthalten. So sind „alle Dinge […] aus dem dreieinigen Wesen gebildet“ (AA I,15, 127/SW VII, 179) und innerhalb eines jeden organischen Wesens sind die Potenzen wiederum aus den drei Potenzen gebildet, so dass sich im Sinne Leibniz’ in jedem Ganzen – sowohl dem Ganzen Absoluten als auch jedem einzelnen Ding, sofern es als Ganzes aufgefasst wird – eine unendliche Anzahl an Mikrokosmen bilden, in denen die einzelnen Potenzen des Ganzen wieder dieses Ganze mit seinen Potenzen repräsentieren. Für diese drei Potenzen sucht Schelling hier auch neue Zuordnungen. Einerseits versucht Schelling den in den Aphorismen aufkommenden Gedanken der bloßen Existenz der Dinge, d. h. ihres bloßen Daseins oder Wirklichseins „ohne Rücksicht auf die Art und Form“ (AA I,15, 215/SW VII, 198), wie es zu Beginn der Aphorismen über die Naturphilosophie heißt, der ersten Potenz der Natur

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zuzurechnen, wonach die bloße „Existenz in der Unendlichkeit = A1“ (AA I,15, 128/SW VII, 180), die zweite Potenz hingegen die der „Position dieser Existenz = A2 an den Dingen selbst“, die dritte schließlich wieder die des Einsseins beider bezeichnet. Andererseits – und hier wiederholt Schelling einen schon in den Ferneren Darstellungen ausgesprochenen Gedanken, ist „die erste Potenz der Dinge […] die der Reflexion […] als Einheit in der Unendlichkeit“ (AA I,15, 130/SW VII, 182, vgl. AA I,12,1, 156/SW IV, 422) die zweite die der Subsumption als Auflösung des Unendlichen in der Einheit; die dritte Potenz wird hier überraschend der Einbildungskraft zugerechnet – an der erwähnten Stelle der Ferneren Darstellungen hatte sie Schelling mit der Vernunft selbst identifiziert. Allerdings fällt auf, dass diese Zuordnungen in den Aphorismen nicht buchstäblich zu nehmen sind und keine streng kategoriale Funktionen bilden wie in etwa in der Allgemeinen Deduktion von 1800. In einer Anmerkung zeichnet Schelling ein Schema, nach welchem sich im „relativ-reale[n] All“ (AA I,15, 132/SW VII, 184 Anm.) die dreigliedrigen Potenzenreihen Schwere-LichtLeben und Materie-Bewegung-Organismus finden, warnt aber zugleich davor, dies streng wörtlich zu nehmen. Es komme darauf an, den Geist zu haben, es zu beleben. 2) In Hinsicht auf die Eigenheit der Dinge und ihre Verschiedenheit untereinander jedoch spricht Schelling von einem „Unterschied der Potenz, [welcher] selbst nur gemacht wird in Relation eines Dings auf andere besondere Dinge, oder auf das Ganze der Dinge, nicht aber in Bezug auf das Ding selbst“ (AA I,15, 128/SW VII, 180). Mittels dieses Modells, das dem relationalen Potenzbegriff der Darstellung meines Systems entspricht, lässt sich erst die Vielfalt der erscheinenden Welt in jene Stufenordnung einfügen, in welcher nun im (speziellen) Organischen der Natur Raum und Bewegung integriert sein sollen. In diesem Sinne gibt es allerdings nicht drei Potenzen, sondern unendlich viele, entsprechend der unendlichen Anzahl der Verschiedenheit von Dingen und ihrer Beziehung zu anderen einzelnen Dingen. Diese beiden, semantisch klar abgrenzbaren Potenzbegriffe stehen nun jedoch nicht beziehungslos nebeneinander. Sondern die eigentliche Pointe der Darstellung des Seinsaufbaus nach Potenzverhältnissen besteht darin, dass es die spezifische Gewichtung der Innenrelationen des ersten, drei-einheitlichen, Potenzbegriffs ist, über welche die (außen-) relationale Verhältnisbildung geschieht, die dann die konkreten Dinge der vielgestaltigen Schichten-Welt gemäß dem zweiten Potenzbegriff in ihrer spezifischen Individualität bestimmt. Explizit hebt Schelling nochmals hervor, dass die mit den Kürzeln ‚A1‘, ‚A2‘ und ‚A3‘ bezeichneten Potenzen der Unendlichkeit, Einheit und der Indifferenz beider allein „keine Verschiedenheit weder in Gott noch unter den Dingen noch in dem Ding selbst“ (AA I,15, 128/SW VII, 179) begründen. Allerdings greift Schelling hier nun auf den in der Philosophie der Kunst bereits eingeführten Gedanken der Dominanz, der Möglichkeit der Vorherrschaft

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eines der drei Momente innerhalb des Einheitsgefüges zurück und versucht von diesem her den Seinsaufbau zu erläutern. Wo mit der ersten Potenz die Seite der Schwere vorherrscht, ist zunächst die bloße Existenz der Dinge gegeben als ein Übergewicht der puren Objektivität. Mit der Dominanz der zweiten Potenz hingegen „erscheinen [die Dinge] individuell beseelt und das innere oder subjektive Leben herrscht über das äußere oder das leibliche“ (AA I,15, 128/SW VII, 180). Mit dem Hervortreten der dritten Potenz nun, so führt Schelling diesen Gedanken zu Ende, „gelangt nicht nur jedes einzelne Ding, in seiner Art, sondern die Stufenfolge der Dinge selbst, zur Vollendung“ (AA I,15, 128/SW VII, 180). Damit ist aber lediglich die grundsätzliche Kategorialität der Dinge und das allgemeine Schema des stufenweisen Seinsaufbaus geleistet: „Aller Unterschied der Dinge der Art des Seins nach lässt sich auf diesen [nämlich den ersten] Unterschied der Potenz zurückführen“ (AA I,15, 128/SW VII, 180, Herv. Vf.). Nicht aber ist hiermit das individuelle Ding bestimmt. Für dieses galt ja nach dem zweiten Potenzbegriff, dass aller Unterschied der Dinge nicht absolut ist, sondern „nur gemacht [wird] in Relation eines Dings auf andere besondere Dinge“ (AA I,15, 128/SW VII, 180). Der verbindende, aber auch schwer auflösbare Gedanke Schellings, der den Zusammenhalt zwischen interner und externer Bestimmung leisten und die beiden Potenzbegriffe zusammenführen soll, ist nun der, dass nicht nur die externen Relationen sich auf die Innenverhältnisse beziehen, sondern umgekehrt die internen Dominanzverhältnisse wiederum sich über die externen Relationen der Dinge untereinander erschließen lassen sollen. Denn gerade der Unterschied der Art der Seins nach soll sich ja nur über den spezifischen Bezug der Dinge untereinander ergeben, „nicht aber in Bezug auf das Ding selbst“ (AA I,15, 128/SW VII, 180). Der holistische Gedanke, dass sich alle Individualität nur über die Stellung innerhalb des Ganzen konstruieren lässt, verbunden mit der ontologischen Prämisse der Priorität des Absoluten, lässt sich so innerhalb des Vokabulars der Potenzen verstehen als die Darstellung der gegenständlichen Welt aus dem Einheitshorizont eines trinitarischen Potenzengefüges, innerhalb dessen es ein unendliches Bezügesystem von (wiederum ‚Potenzen‘ genannten) Einzelrelationen zwischen den Dingen und Seinsschichten gibt, über welche sich in Vergleichung der je spezifischen Innenrelation der Dinge ihre Stellung im All und damit verbunden ihre spezifische Individualität erst bestimmen lassen soll. Ein wesentlicher begrifflicher Aspekt muss hierbei erneut hervorgehoben werden: Potenzen sind ihrer Hauptbedeutung im Identitätssystem nach keine eigenständigen Dinge, Substanzen oder Eigenschaften, sondern wesentlich Relationsbegriffe; sie sind Potenzen von etwas. Dies zeigt sich deutlich an einer Stelle, in der Schelling nochmals den Gedanken des potenzlosen Absoluten darlegt und ihn gegen das bereits besprochene alternative Konzept Eschenmay-

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ers abgrenzt, der das Absolute zur höchsten Potenz erklärt und diese Ansicht auch noch Schelling selbst zugeschrieben hatte. 20 Wie schon in der Darstellung meines Systems versteht Schelling Gott oder das Absolute als „potenzlose[.] Identität“ (AA I,15, 130/SW VII, 182): „das Weltsystem ist das Göttliche […], das Potenzlose alles in sich auflösende“ (AA I,15, 131/SW VII, 183). Dies aber, potenzlos zu sein, bedeute nicht, „die Potenz, auch nicht die höchste oder unendlichmal höhere von irgendetwas, das ist“ (AA I,15, 133 f./SW VII, 185 f.) zu sein. Explizit nennt Schelling es „widersprechend […] von Seiten des Begriffs der Potenz“ (AA I,15, 134/SW VII, 186 Anm.), das Absolute in einer höchsten Potenz zu sehen. Denn, so die Begründung, „solange das Absolute überhaupt durch Potenz […] bestimmt wird: so lange wird es noch in der Sphäre der Relativität […] betrachtet“ (AA I,15, 134/SW VII, 186 Anm.). Und weiter: „Außer dem Absoluten aber ist nichts, zu dem es sich als Potenz verhalten könnte; es ist das, zu dem alles Sein gehört, das aber selbst zu keinem anderen gehört und nichts anderem gleich oder ungleich ist (ebd.)“. Diese Passage ist gleichermaßen erhellend für Schellings Begriff des Absoluten in der identitätsphilosophischen Phase wie für die Funktion der Potenzen in ihr. Das Absolute kann schon dem Begriff nach keine Steigerung zu einem Relativen, Untergeordneten sein, weil dies bedeuten würde, dass es in einer Beziehung zu etwas stünde, das außer ihm wäre. Nach Schellings Auffassung ist es aber die Seinsfülle selbst, innerhalb derer erst Differenz entstehen und Relationen sich aufbauen können, die dann durch Potenzen sich ausdrücken lassen. Dabei ist ‚Potenz‘ nicht lediglich der Ausdruck einer allgemeinen Relation. Sondern ‚Potenz‘ von etwas zu sein, bedeutet, dass dieses Etwas durch seine Relationalität erst bestimmt wird, wodurch ‚Potenz eines Dinges zu sein‘ bedeutet, dass dieses Ding überhaupt erst in seiner Bestimmtheit vorliegt. Es gibt also nicht zuerst Dinge und dann auch noch Potenzen von diesen als bestimmte Modifikationen oder Steigerungsformen – so wie dies im Schichtenaufbau der Systeme von 1800 zu verstehen war, bei welchen die jeweiligen Seinsebenen sowohl der Natur als auch des Geistes je die Grundlage für die nächsten Seinsschichten als ihre spezifischen organischen Steigerungen gebildet hatten.

2. Potenzen in den Aphorismen über die Naturphilosophie Werfen wir abschließend noch einen Blick auf die wenigen Stellen, an denen Schelling in den dem Titel nach eigentlichen Aphorismen über die Naturphilosophie den Potenz-Begriff gebraucht. Auch hier gilt, dass Schelling diesen Begriff erst auf den letzten Seiten einsetzt. Zunächst wiederholt er hier die 20 Vgl. Eschenmayer 1803, z. B. S. 17, wo Eschenmayer schreibt: „Schelling setzte zuerst die Spekulation wieder in ihr ganzes Gebiet ein, in dem er die Idee der Ewigkeit als ihre höchste Potenz aufstellte“.

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bekannte Zuordnung einer ersten und zweiten Potenz unter den Kürzeln ‚A1‘ und ‚A2‘ zu Schwere und Licht (AA I,15, 248/SW VII, 233). Dabei ist es aber nicht eine unmittelbare Gleichsetzung, sondern Schelling versteht den Ausdruck ‚A1‘ in den Aphorismen als Sein, ‚A2‘ als Bejahung dieses Seins; beides komme im Sinne der Identität dadurch zusammen, dass „das Sein nichts von seiner Position Verschiedenes sein“ (AA I,15, 248/SW VII, 234) kann. In diesem Sinne versteht Schelling Licht und Schwere als zwei Seiten eines verbindenden Bandes – welches die dem Platonischen Timaios entlehnte Hauptmetapher ist, mit welcher Schelling in den Aphorismen die In-Eins-Fügung der Natur beschreibt (vgl. AA I,15, 217 f./ SW VII, 201). 21 Im Bild dieser beiden Seiten ist nicht nur der Gedanke ausgedrückt, dass keine Seite ohne die andere sein kann. Es bleibt auch hier gültig, dass Potenz je eine Relation beinhaltet; hier der Schwere zum Licht und umgekehrt: „Die Schwere kann […] relativ auf das Licht […] als die andere Seite des Bandes, als Affirmation der ersten Potenz = A1, das Licht als Bejahung in der zweiten Potenz = A2 […] betrachtet werden“ (AA I,15, 248/SW VII, 233). Insofern hierbei die Schwere Affirmation der ersten Potenz ist, welche Schelling – bedeutungsgleich mit ‚Sein‘ oder ‚Existenz‘ – zugleich mit A1 ausdrückt, A2 jedoch seinerseits die Bejahung (Affirmation) dieses Seins bedeutet, zeigt sich, dass auch hier, wenngleich weniger direkt als in den Schriften von 1800, Schelling den Gedanken der Reduplikation (hier: Affirmation einer Affirmation zu sein) in die Konstruktion der Potenzenfolge einfügt. Allerdings ist dieser Gedanke innerhalb des relationalen Systems der Identität auch problematisch. Denn er bricht die Symmetrie zwischen erster und zweiter Potenz und weist für die zweite Potenz einen Status höherer Komplexität aus, der weder dem symmetrischen Seinsmodell der Linie, noch der Idee, dass die ideale und reale Welt sich wechselseitig spiegeln und ontologisch gleichrangig in der Identität verankert sind, ganz entsprechen kann. Immerhin wird in den letzten Paragrafen dieses Werks deutlich, wie dieses Problem zustande kommt. Schelling versucht hier vier Grundgedanken seiner Naturphilosophie in der Gestalt der Jahre nach 1801 mittels des Konzeptes von Potenz zusammenzubringen: 1) Den spezifisch identitätsphilosophischen Gedanken, dass alle Vielheit in der ontologisch vorrangigen Einheit gründet: „Nur das Ganze als das Ganze ist, und mit ihm die Teile“ (AA I,15, 256/SW VII, 243). 2) Die Idee des allgemeinen Organismus, nach welchem in den Binnenverhältnissen der Teile eines Ganzen sich wiederum die Makroverhältnisse des 21 Frank 2018, 246 verweist dabei darauf, dass in Platons Formulierung das schönste Band eines ist, das „sich selbst und die Verbundenen eins macht“ (Tim 32b) und dies nicht nur der Hegelschen Formulierung der „Identität der Identität und Nichtidentität“ entspricht, sondern von Hegel selbst zur Illustration dieses Gedankens an der genannten Stelle der Differenzschrift zitiert wird (vgl. Hegel GW 4, 64).

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Ganzen finden. In allen Potenzen und entsprechend in allen realen Einzeldingen sind „Schwere, Licht und die Identität derselben [als] dreifache[s] Band beider“ (AA I,15, 257/SW VII, 243) enthalten. 3) Den Gedanken, dass die wirkliche Natur (natura naturata) die Strukturen der schaffenden Natur (natura naturans) enthält und ausdrückt. Dabei wird die erscheinende Ding-Welt als Erscheinungsweise der Potenzen der natura naturans gedeutet: die Folge der Potenzen wird „in allem Wirklichen […] ausgedrückt“ (AA I,15, 257/SW VII, 243) und „stellt sich der Betrachtung dar“ (AA I,15, 257/SW VII, 244). 4) Die Vorstellung, dass die wirkliche, sichtbare Natur sich in aufsteigender Komplexität vom Anorganischen zum Organischen hin aufbaut. In der Miniaturskizze des vorletzten Paragrafen der Aphorismen wiederholt und modifizierte Schelling die im ‚Würzburger System‘ bereits dargelegten Potenzen des Materiellen, des Dynamischen und des Organischen als die drei „realen Potenzen der Natur“ (AA I,15, 258/SW VII, 244): die erste ist „die allgemeine Metamorphose der Natur oder […] das erste Aufblühen der Dinge aus der Schwere; die andere [das] dynamische[.] Leben, als erste innere Verknüpfung der Dinge; die dritte [das] organische Leben“ (AA I,15, 257/SW VII, 244). Um diese Aspekte zusammenzudenken, gebraucht Schelling gleich fünf der in seiner Potenzenlehre bereits entwickelten Grundfiguren: die der Relativität, der Dominanz, des Organismus, der Dreieinheitlichkeit und der Reflexivität der Potenzen. Hier der diese Elemente integrierende Aphorismus CCXLIII im Wortlaut: Die schaffende Natur als die lebendige Einheit von Licht und Schwere bejaht zuvörderst sich selbst schlechthin im Einzelnen und dieses ist die Erste Potenz ihrer Bejahung = A1, in welcher Schwere, Licht und die Einheit beider gemeinschaftlich der Schwere untergeordnet sind. Sie bejaht aber auch dieses ihr Bejahen wieder = A2, so dass Schwere, Licht und Identität beider unter dem gemeinschaftlichen Exponenten des Lichts erscheinen. Beides, das Sein = A1 und die Position dieses Seins = A2 wieder einigend = A3 offenbart sie sich selbst erst als die wahrhaft absolute Kopula; und das Licht mit der Schwere erscheint untergeordnet dem gemeinsamen Band, in dem beide ursprünglich eingeschlossen sind. (AA I,15, 257/SW VII, 243 f.)

So knapp diese Zusammenführung auch gehalten ist, und so schwerauflösbar einzelne Gedankenschritte darin verbleiben mögen, so lässt sich doch an ihr die Strategie ablesen, mit welcher Schelling hier abschließend die Vielheit der wirklichen Natur mit der Einheit des Absolut-Identischen vermittelt wissen möchte: Dem komplexen Anspruch, die konkrete Mannigfaltigkeit der Natur aus einem strikten Einheitsprinzip des Absoluten heraus verständlich werden zu lassen, versucht Schelling durch eine komplexe Potenzentheorie gerecht zu werden, in die er verschiedenste bereits in den Schriften zuvor etablierte Modelle von ‚Potenz‘ integriert.

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Dabei erhält das Prinzip der Relativität, nach welchem nicht Licht oder Schwere an sich Potenzen wären, sondern nach welchem diese nur in ihrer relativen Stellung zueinander zur Potenz werden, die Grundidee der bloßen Relativität des Individuellen im Kontrast zur Einheit des Absoluten, die das Konzept der Identitätsphase von Anfang an geprägt hat, und die in der ersten begrifflichen Festlegung von ‚Potenz‘ als „quantitative Differenz in Bezug auf das Ganze“ (AA I,10, 137/SW IV, 135) in der Darstellung meines Systems zum Ausdruck gekommen ist. Die Idee der Dreieinheitlichkeit, nach welcher es überhaupt drei Potenz-Momente der Schwere, des Lichts und ihrer Identität geben soll, bildet dabei die Grundidee der Identitätsphase ab, nach welcher überhaupt alle bloß relativen Gegensätze (z. B. der Unendlichkeit und Einheit) in der Identität gründen. Die Idee des Organismus, nach welcher jede Potenz alle anderen enthält, stiftet einerseits Einheit unter der Vielheit von Potenzen, bildet andererseits aber auch die Grundlage für die dritte Stufe der wirklichen Natur, nämlich den Bereich des Lebendigen als dessen erscheinender Seite. Die Idee von Potenz als Herrschaft oder Dominanz, nach welcher zuletzt die Triplizität der Potenzmomente sich wiederum einem dieser Momente unterordnet, generiert die spezifische Differenz der Potenzen und aller durch sie dargestellten Dinge, insofern durch sie die für alle Seinsbereiche bloß gleichförmige Dreieinheit auf ein bestimmtes Moment hin spezifiziert wird, das sich dann in Verbindung mit den relationalen Aspekt quantitativ zur unendlichen Vielheit der Momente der schaffenden Natur und der durch sie erscheinenden Dinge und Ereignisse entfalten lässt. Der Gedanke der reflexiven Verdoppelung zuletzt, nach welcher die zweite Potenz eine Bejahung (Affirmation) der Bejahung der ersten ist, ermöglicht es, eine Rangordnung von Potenzen zu etablieren und die erscheinende Natur als Darstellung dieser Potenzen in einer Steigerungsfolge von der bloßen Materie zum Organismus zu denken.

VIII. Resümee Überblickt man Schellings Werkphase von 1801 bis 1806 unter der Frage nach der Bedeutung des Potenzbegriffs in semantischer und systematischer Hinsicht, so ergibt sich ein vielgestaltiges – und gelegentlich auch vieldeutiges, allerdings keinesfalls von Beliebigkeit bestimmtes – Bild. Für die Frage nach der Gewichtung des Potenzensystems kann zwar Tilliette zugestimmt werden, der darauf hingewiesen hat, dass die Potenzen kein Motor für die Entwicklung des Identitätssystems darstellen, sie also nicht anstoßen, sondern diese Entwicklung lediglich begleiten. 22 Allerdings kann im Unterschied zu Schellings erstem Einsatz des Potenzbegriffs von 1799 hier doch be22

Tilliette 1970, 331.

VIII. Resümee

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merkt werden, dass die systematische Bedeutung zugenommen hat. Die Verwendung von Ausdrücken der ‚Potenz‘ ist bei Schelling bereits 1800 nicht mehr lediglich eine façon de parler, sondern der Ausdruck für Verhältnisse, die zentrale Punkte innerhalb des Aufbaus des Gesamtsystems betreffen. Dies hat sich in Hinsicht auf das Identitätssystem weiter verstärkt. Potenz als funktionales Begriffsmodell belegt eine Schlüsselposition im Kernbereich des Identitätssystems. Als zentrale systematische Funktion des Potenzbegriffs innerhalb des Identitätssystems kann dabei angesehen werden, dass ihm die Aufgabe zufällt, überhaupt das Moment der Differenz, der Möglichkeit des Vielen und Einzelnen angesichts der ontologischen Grundprämisse, alles Einzelne sei nur eine Erscheinungsform des ontologisch primären, Einheitlich-Absoluten, zu ermöglichen. Damit ist das mit dem Begriffsrahmen von ‚Potenz‘ bezeichnete Gefüge der Potenzen zwar ontologisch nachrangig zum Bereich des Absolut-Identischen, erhält jedoch systematisch eine Position von herausragender Bedeutung im Zentrum des Schellingschen Systems. Abgesehen vom Dialog Bruno und den Aphorismen zu Einleitung in die Naturphilosophie, in denen Schelling zunächst das metaphysischen Grundkonzept des Identitätssystems ohne den Potenzbegriff erläutert und das System der Potenzen dann lediglich als eine alternative Darstellungsweise präsentiert, sind ihm in dieser Zeit die Potenzen auch das unverzichtbare begriffliche Werkzeug der systematischen Entfaltung aller Seinsbereiche aus dem Absoluten (bzw. innerhalb des Absoluten) und ihrer Diversifizierung von den Grunddimension des Realen und Idealen bis zu den einzelnen Prinzipien, Momenten, Dingen und Ereignissen der natürlichen und geistigen Welt. In der Hauptbedeutung bezeichnet ‚Potenz‘ dabei ein Unterscheidungsmoment bzw. ein durch dieses Unterscheidungsmoment Unterschiedenes innerhalb des Absolut-Identischen. Dieses Unterscheidungsmoment ist das eines Aspektes oder Kennzeichens, einer Idee, Bedeutung oder Perspektive, unter der das Absolute betrachtet wird und durch das es in einer bestimmten Weise sich darstellt. Dieses differenzierende Unterscheidungsmoment hatte in der ersten Fassung der Identitätsphilosophie innerhalb der Darstellung von 1801 die technische, eine grundsätzlich unendliche Vielzahl möglicher Differenzierungen und Vereinzelungen ermöglichende, Form eines relativen Übergewichts zwischen den Faktoren des Reellen und Ideellen und in Hinsicht auf das Ganze erhalten. Damit hat ‚Potenz‘ mit der Transformierung der Komplementärwissenschaften zum Einheitssystem der Jahre 1801 bis 1806 eine deutlich andere Funktion und Bedeutung gewonnen. War mit ‚Potenz‘ in den Jahren zuvor einerseits das Dimensionensystem der Natur und des Geistes bezeichnet, in welchem in organischer Weise je höhere Stufen aus einfacheren Potenzen entstanden und im Zuge dessen sich mehrgliedrige Potenzenfolgen bildeten, und andererseits die

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spezifisch transzendentalphilosophische Methode des Potenzierens gemeint, so ist innerhalb der Identitätsphilosophie mit dem neuen Ansatz sowohl die Methode der Transzendentalphilosophie als auch der Ausdruck des ‚Potenzierens‘ verloren gegangen. Hingegen hat sich der mit dem Potenzbegriff innerhalb des Steigerungssystems bereits eng verbundene Organismusgedanke erhalten und in der Gestalt erweitert, dass Schelling nun ein festes dialektisches Verhältnis eben dreier Potenzen etabliert, bei welchem die je dritte die beiden ersten synthetisiert und zur Identität führt, wodurch sich in Verknüpfung mit der Prämisse, dass diese triadische Struktur sich sowohl in jeder einzelnen untergeordneten Potenz als auch aufsteigend im Verhältnis zum Absoluten wiederholt, eine feste organische Hierarchie von Potenzverhältnissen bildet. Wesentlich in all diesen Potenz-Verhältnissen bleibt dabei, dass es sich eben um Verhältnisse, d. h. um relationale Beziehungen zwischen metaphysischen Momenten wie denen des Ideellen, des Reellen oder des Absoluten handelt, innerhalb derer sich dann erst bestimmte Seinsschichten und ihre Gegenstände etablierten. Eben dies ist in ‚A = B‘, der Grundformel für Potenz von 1801, bereits enthalten gewesen. Mittels dieser Formel entwickelte Schelling die Potenzen als relative Übergewichtsverhältnisse in Hinsicht auf das Reale, das Ideale und das Ganze und konkretisierte diese Konstruktion ab 1802 mittels der Idee der Inversion, nach welcher ein Übergewicht in etwa des Realen durch Minderung des idealen Faktors in Hinsicht auf das Absolute zustande kommt. In diesem Zusammenhang finden auch die Ausdrücke des ‚Depotenzierens‘ und des ‚Potenzlosen‘ ihren Sinn: bezeichnen sie doch nun das Absolute als Potenzloses bzw. den Rückfall ins Absolute als Depotenzierung im Sinne der Aufhebung der spezifischen Differenzierung des Einzelnen. Dabei ist die systematische Schwierigkeit zu beachten, dass ‚Potenz‘ in der Grundbedeutung Differenz bezeichnet, die höhere, dritte Potenz allerdings keinen Zustand höherer Differenzierung, sondern im Gegenteil höherer Allgemeinheit ausdrückt. Zusätzlich zu diesen Hauptbedeutungen kamen gelegentliche Verwendungsweisen von potentia/Potenz als Möglichkeit oder von Potenz im Sinne von Herrschaft oder Dominanz – Bedeutungen, die in der vieldeutigen Semantik des Potenzbegriffs um 1800 enthalten waren, ohne dass Schelling sie bis dahin in einem technisch-terminologischen Sinn gebraucht hätte. Bemerkenswert war auch die Formelschreibweise, die Schelling in mehreren Schriften, nicht aber durchgängig verwendete. In Anlehnung an mathematische Notationsweisen, allerdings ohne von diesen mehr als den sehr allgemeinen Sinn zu übernehmen, dass Potenz auch (Selbst-) Steigerung bedeute, stellte Schelling Potenzenfolgen mittels Ausdrücken von Buchstaben mit hochgestellten Exponenten dar, ohne damit ein feststehendes Bezeichnungssystem zu etablieren. Dies zeigte sich unter anderem daran, dass Schelling unterhalb von ‚A2‘ und ‚A3‘ als Bezeichnungen für die zweite und dritte Potenz zwischen den

VIII. Resümee

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Ausdrücken ‚A‘, ‚A0‘ und ‚A1‘ wechselte und dass er in den Ausdrücken ‚B2‘ und ‚A = B‘ die ideale und reale Reihe nicht symmetrisch darstellte. Bei der konkreten Zuordnung einzelner Seinsbereiche in das abstrakte System der Potenzen zeigte sich an mehreren Stellen, dass Schelling die formal vorgegebenen Positionen zumindest teilweise von Schrift zu Schrift unterschiedlich besetzte. Insgesamt ergab sich hierbei ein zwischen den Werken teils deutlich variierendes Begriffsspektrum, das sich schon dadurch bemerkbar machte, dass in manchen der Schriften dieser Periode, bei gleichbleibender Systematik, der Ausdruck ‚Potenz‘ kaum gebraucht wurde, in anderen jedoch eine breite Stellung einnahm. Dennoch kann bei aller Weite und semantischen Diversität des Potenzbegriffs keine Rede davon sein, dass Schelling diesen beliebig anwendete. Die Potenzen sind auch in der Identitätsphilosophie keine „Mädchen für alles“ 23. Sondern Schelling stattete die Terminologie der Potenzen mit einer deutlich konturierten und in Ganzen stabilen Kernsemantik und einer klaren systematischen Funktion innerhalb der Identitätsphilosophie aus, und ergänzte und bereicherte diese durch weitere Inhalte, die teils, wie das System der Stufungen und Reihen, in der Philosophie vor 1801 bereits ihren Ort hatten, teils lediglich der weiteren landläufigen Semantik des Potenzbegriffs seiner Zeit entnommen waren.

23 Vgl. Tilliette 2004, 357, der ohne Ortsangabe auf E. v. Hartmann und G. Dekker als Quellen dieses Vergleiches verweist.

3. Teil

Die Entwicklung einer eigentlichen Potenzenlehre (1809–1821)

Kapitel 6

Die Philosophie des internen Dualismus I. Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809) 1. Abgrenzung zur Identitätsphilosophie Mit Schellings letzter größerer, von ihm selbst publizierter Schrift Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (kurz: Freiheitsschrift) von 1809 geht erneut ein Wandel in Hinsicht auf die ontologische, systembezügliche und literarische Grundkonzeption seines Philosophierens und zudem eine thematische Verschiebung einher. Literarisch ersetzt Schelling die strenge Form eines deduktiven, axiomatischen, nach Paragrafen geordneten Systems, das den Großteil der Schriften der identitätsphilosophischen Phase geprägt hatte, durch eine aus dem kontinuierlichen Erzählfluss sich heraus entwickelnde Darstellungsweise, von der Schelling schreibt, dass „in gegenwärtiger Abhandlung […] alles wie gesprächsweise entsteht“ (AA I,17, 174 Anm./SW VII, 410 Anm.). Werksystematisch, d. h. auf die bisherige Grundauffassung seines Systems als einer Identität von Geist- und Natursystem bezogen, bezeichnet Schelling in der Vorrede die Freiheitsschrift als eine Darstellung des innerhalb der publizierten Schriften der Phase von 1801–1806 nicht ausgeführten ideellen Teils der Philosophie: „die gegenwärtige Abhandlung [sei] das Erste […], worin der Verfasser seinen Begriff des ideellen Teils der Philosophie mit völliger Bestimmtheit vorlegt“ (AA I,17, 26/SW VII, 334). Dieser Selbstcharakterisierung, mit welcher Schelling die Freiheitsschrift nahtlos in das Gesamtgefüge der mit der Darstellung meines Systems von 1801 entworfenen Einheit von Natur- und Geistphilosophie eingliedern will, sind allerdings Vorbehalte entgegenzubringen. So ist einerseits werkgenealogisch zu sehen, dass die Freiheitsschrift in ihren Themen und ihrer Methode deutlich von den nicht publizierten, aber in den Würzburger Vorlesungen und den Vorlesungen zur Philosophie der Kunst ausführlich vorgetragenen, ideellen Seiten des Systems abweicht. Während diese in wahrnehmbarer Analogie zur Naturphilosophie konzipiert sind, und demnach Schellings Grundannahme des Identitätssystems, dass Natur und Geist nur die gespiegelten Seiten desselben seien, auch in ihrer Entwicklung und Darstellung entsprechen, ist dies für die Freiheitsschrift nicht der Fall. Gravierender noch ist, dass die ontologische Grundveranlagung der Freiheitsschrift, welche in der beson-

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deren Art eines Dualismus gründet, die Schelling mit der „Unterscheidung […] zwischen dem Wesen, sofern es existiert, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist“ (AA I,17, 129/SW VII, 357) einführt, deutlich von der der Identitätsphilosophie abweicht. Zwar verweist Schelling selbst bei dieser Unterscheidung auf die eigene Naturphilosophie und es lassen sich in der Tat eine Reihe an Stellen anführen, in denen Schelling bereits zuvor eine Unterscheidung in diesem Sinne angedacht hatte – doch hatten diese im Verhältnis zur Konzeption des Ganzen je eher marginalen Charakter gehabt. 1 Der entscheidende Unterschied ist demnach, dass Schelling diese Unterscheidung nun systematisch fruchtbar macht und von ihr her das in seiner Art neue System der Freiheitsschrift entwickelt. 2 Zu dessen hauptsächlichsten Unterschieden zur der in seiner Grundveranlagung statischen Identitätsphilosophie gehört es, dass jene Unterscheidung zwischen dem Existierenden und dem Grund seiner Existenz Schelling ein ontologisches Werkzeug an die Hand gibt, von welchem aus er den gesamten Horizont des Seienden dynamisch zu entfalten vermag. War der Ausgangspunkt zuvor das bestehende Sein des Identischen, so wird die dynamische Frage nach der Seinsentstehung von der Freiheitsschrift an das Leitthema für Schellings weiteres Philosophieren sein. Zuletzt ist es das im Titel genannte Thema der menschlichen Freiheit (und der ‚damit zusammenhängenden Gegenstände‘, womit primär die Themen des moralisch Bösen und der Person, der solches zurechenbar ist, gemeint sind), welches sowohl mit der anthropologischen Blickrichtung auf den Menschen als 1 Inwiefern Schellings Verweis auf die eigene Naturphilosophie, genauer gesprochen: auf die Naturphilosophie innerhalb der Darstellung meines Systems hier stichhaltig ist, ist Gegenstand einer Spezialdiskussion. Vgl. ausführlich und affirmativ Buchheim 2011, XXII–XXIV; ablehnend Habermas 1954, 249 f.; Florig 2010, 90 anerkennt „strukturelle Analogien“ zwischen den naturphilosophischen Verhältnissen von Schwerkraft und Licht 1801 und Gott und Natur von 1809. Klar ist auch, dass Schelling dieses Begriffspaar bereits zuvor entwickelt hat, ohne es allerdings in der gezeichneten Weise als ein notwendiges Selbstverhältnis des Absoluten zu verstehen (vgl. hierzu über Schellings Verweis auf die Darstellung meines Systems hinaus auch Formulierungen wie die eines „Grund[s] von Existenz“ im Bruno (AA I,11.1, 399/SW IV, 278), der das Einzelne in Gegensatz zum Allgemeinen und das Dunkel im Gegensatz zum Licht bezeichnet. Und es ist klar, dass sich die statischen Verhältnisse der Identitätsphilosophie nicht einfach in die Dynamik übertragen lassen, die Schellings Ontologie ab 1809 erhält. Als Vorstufe zur Grund/Existierendes-Unterscheidung der Freiheitsschrift ist zudem der § 107 des ‚Würzburger Systems‘ erhellend, in welchem Schelling das Verhältnis von Schwerkraft und Licht mit Metaphern und Charakterisierungen ausstattet, die dann in den ontologischen Verhältnissen der Freiheitsschrift wiederkehren. So ist dort das Licht als „Potenzierende, die Schwere als die Wurzel der Dinge“ (SW VI, 268) bezeichnet und weiter die Schwere als „Prinzip der Nacht“, als „Grund des Bestehens aller Dinge“. Dass Schelling nicht hierauf, sondern eben auf die Darstellung von 1801 verweist, dürfte seinen einfachen Grund darin haben, dass die Würzburger Vorlesungen nicht publiziert waren. 2 Vgl. Buchheim 2011, 113, der vom „systembildende[n] Grundgedanke[n] der Freiheitsschrift“ spricht.

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auch mit der Wiederentdeckung des Freiheitsbegriffs, im Vergleich zu den identitätsphilosophischen Schriften in der Hauptsache ganz andere Akzente setzt. So war Freiheit, die Schelling noch 1795 als den „Anfang und das Ende aller Philosophie“ (AA I,2, 101/SW I, 177) bezeichnet hatte, nach 1801 teilweise ganz aus seinen Schriften verschwunden; die Darstellung meines Systems nennt diesen Terminus nicht ein einziges Mal. Diese thematische und systematische Grundkonstellation wird auch in den weiteren Werken Schellings aus der Zeit bis 1815 beibehalten, die daher gelegentlich als Schellings ‚mittlere Philosophie‘ zusammengefasst wird. 3 In den 1810 mündlich in kleinem Kreis vorgetragenen Stuttgarter Privatvorlesungen ebenso wie in den unvollendeten drei Weltalter-Entwürfen (1811–15) ist es einerseits die Frage nach der Seinsentwicklung, ausgehend von einer in sich bestehenden Dualität von Seinsprinzipien, für die er verschiedene terminologische Wendungen findet, die im Mittelpunkt des systematischen Interesses steht. Andererseits ist diese Frage in allen Schriften stark bezogen auf die Stellung und Entwicklung des Menschen hinsichtlich der Seinsentwicklung des Kosmos im Ganzen, wodurch sich nun die Schellings weitere Philosophie insgesamt prägende, eminent historische Perspektive zu etablieren beginnt.

2. Zur Grundkonzeption der Freiheitsschrift Skizzieren wir von hier aus die ontologische Grundkonzeption der Freiheitsschrift noch eingehender, um dann in einem zweiten Schritt Begriff und Funktion der Potenz in ihr präzise bestimmen zu können. Dieses Verfahren bezeugt allerdings bereits einen zentralen Punkt in der Frage nach der Stellung des Potenzbegriffs in der Freiheitsschrift: insofern eine Darstellung der Grundkonzeption ohne diesen überhaupt möglich ist, wird deutlich, dass auch in der Freiheitsschrift ‚Potenz‘ noch nicht zum unverzichtbaren begrifflichen Grundbestand der Philosophie Schellings gehört. In späteren Schriften wird eine solche Darstellung der ontologischen Grundkonzeption unabhängig vom PotenzBegriff nicht mehr möglich sein. Wie in allen Schriften von 1804 an identifiziert Schelling auch in der Freiheitsschrift das Absolute mit Gott und entwickelt von diesem aus die Dimensionen des realen und idealen Seienden; in der Freiheitsschrift liegt die besondere Betonung auf der idealen Seite. Im Gegensatz zu den Entwürfen zuvor allerdings schreibt Schelling mit der skizierten Unterscheidung von Grund der Existenz und Existierendem das dynamische Movens in das Abso3 Vgl. Florig 2010. Etwas irreführend ist der Ausdruck deswegen, weil er eine Dreiteilung von früher, mittlerer und später Philosophie nahelegt, eine solche Dreiteilung aber sehr unverhältnismäßig erscheint, da der Zeitraum von 1809–15 gerade einmal 10 % von Schellings philosophisch-produktiver Lebensphase, die man großzügig auf 1794–1854 datieren könnte, einnimmt.

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lute selbst ein, welches er hierdurch als das spannungsreiche Gefüge eines personalen und lebendigen Gottes entwickeln kann – im Kontrast zu der Spinoza zugeschriebenen Idee eines Gottes als „bloß logischem Abstraktum“ (AA I,17, 160/SW VII, 394), aus welchem „alles […] mit logischer Notwendigkeit folgen“ (ebd.) müsste. Zu diesem personalen und lebendigen Gott gehört die Idee der Schöpfung. Die Welt und die Menschen in ihr sind in der Freiheitsschrift keine logischstrukturelle Ausdifferenzierung des Absoluten wie in der Darstellung von 1801 und keine bloße Emanation des Göttlichen im Plotinischen oder Spinozistischen Sinne. Sondern zur Konzeption der Freiheitsschrift gehört eine Schöpfung, verstanden als „Handlung und Tat“ (AA I,17, 161/SW VII, 395), mittels welcher der personale Gott sich so offenbart, dass die Welt gleichsam als Innenseite des Göttlichen sichtbar wird: „die Folge der Dinge aus Gott ist eine Selbstoffenbarung Gottes“ (AA I,17, 120/SW VII, 347). Insbesondere ist es der Mensch als primäres Geschöpf, den Schelling unter der Idee der Ebenbildlichkeit gleichfalls als personales, lebendiges und freies Wesen konzipiert. Zu den entscheidenden Fragen der Freiheitsschrift wird es daher gehören, inwiefern es für den Menschen einerseits „keinen Grund gibt als Gott“ (AA I,17, 120/ SW VII, 347), er andererseits aber eine „von Gott unabhängige Wurzel“ (AA I,17, 126/SW VII, 354) haben kann, da ansonsten das Böse alleine Gott zugerechnet werden müsste. Hierfür ist auf das Verhältnis von Grund und Existierendem zurückzukommen. Schelling sieht hierin das prägende Innenverhältnis des Geistes zu sich selbst, das demnach sowohl das Sein Gottes als absolutem Geist als auch das Bewusstsein des Menschen als kreatürlichem und endlichem Geist bestimmt. Die Grund-Existierendes-Konstellation pflanzt sich also in der Schöpfung von Gott auf das menschliche Bewusstsein und die Welt als der Bereich der Objekte dieses Bewusstseins fort. Der Unterschied zwischen Mensch und Gott und zwischen den Menschen untereinander besteht allerdings in der Konstellation des Verhältnisses von Grund und Existierendem. So ist dieses Innenverhältnis einerseits konstitutiv für Bewusstsein überhaupt (und dies gilt für göttliches wie menschliches gleichermaßen). Andererseits ist die Stellung jener Elemente zu sich selbst variabel; und das jeweilige Spezifikum dieser Stellung bestimmt das individuelle Sein des jeweiligen Bewusstseins. 4 Um das Verhältnis von Grund von Existenz und Existierendem näher zu charakterisieren, sind drei Aspekte zu beachten: 1) Die systematische Aufgabe, die diese Konstellation übernimmt, d. h. die Beantwortung der Frage, auf welches Problem diese Konstellation eigentlich reagiert und welche unzureichenden Alternativmöglichkeiten es zurückweist. 2) Die inhaltliche Frage, was

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Vgl. zu Person und Individualität in dieser Konstellation Buchheim/Hermanni 2004.

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Grund und Existierendes eigentlich seien, d. h., welche Charakterisierungen Schelling für sie bereit hält. 3) Die Frage, was mittels dieser Unterscheidung erreicht werden kann, d. h. die Frage, welche Funktionen diese Elemente innerhalb des metaphysischen Grundaufbaus der Freiheitsschrift innehaben. Eine genauere Untersuchung dieser drei Aspekte ist auch über die Frage nach der Bedeutung des Potenzbegriffs innerhalb des neuen Konzepts der Freiheitsschift hinaus deshalb von hoher Bedeutung für die gegebene Untersuchung, weil in dieser Konstellation von Grund und Existierendem die Keimzelle zu sehen ist für Schellings eigentliche ontologische Seinslehre von den Potenzen; schon mit den Stuttgarter Privatvorlesungen im folgenden Jahr nämlich wird Schelling eben dieses Verhältnis innerhalb einer Terminologie von Potenzen präsentieren. Obwohl also, wie sich zeigen wird, der Potenzbegriff für die Freiheitsschrift eher von untergeordneter Bedeutung ist, ist umgekehrt die Freiheitsschrift für den Potenzbegriff in Schellings Werk insgesamt von zentraler Bedeutung, da in ihr jene Konstellation einer Einheit dynamischer Seinsprinzipien entwickelt wird, welche in späteren Schriften die entgeltliche Potenzenlehre Schellings ausmacht. 5 Ad 1) Das Problem von Einheit und Vielheit war Schelling grob gesprochen in der Identitätsphilosophie auf die Weise angegangen, dass er unter der vorausgesetzten Annahme einer strengen Einheit des Seins zu zeigen versucht hatte, wie in dieser und aus dieser heraus Vielheit und Andersheit möglich sei. Hierzu hatten die Potenzen als strukturelle Verhältnisbestimmungen des Einzelnen zum Ganzen, Identischen eine wesentliche Rolle gespielt. Die Frage, wie es aber überhaupt möglich sei, dass es zusätzlich zur postulierten allumfassenden Identität überhaupt Differentes geben könne, und ob bei diesem Ansatz sich nicht zuletzt doch alles in der Einheit des Identischen auflösen müsse, blieb hierbei unterbestimmt. 6 Der Ansatz, hierin schlicht eine Art von unwesentlicher Absonderung bzw. Abfall des Einzelnen innerhalb des Absoluten zu sehen, musste unbefriedigend bleiben, insofern es wiederum nicht verständlich wurde, wie dieses Absonderung sich innerhalb des Diktums des Absoluten vollziehen sollte – und Schellings Erklärung der Nichtigkeit einer solchen Absonderung, wie er sie in Philosophie und Religion vollzog, gleich das Problem negierte, auf welche dieses Modell eine Reaktion sein sollte. 7 5 In diesem Sinne hatte schon Schwarz 1935 der Freiheitsschrift eine Schlüsselposition in der Entwicklung der Potenzenlehre zugewiesen. 6 Hegels bekannte Kritik aus der Vorrede der Phänomenologie des Geistes betrifft eben diesen Punkt (Hegel GW 9, 17). 7 Vgl. hierzu Buchheim 2011, XIVf. und Philosophie und Religion AA I,14, 300/SW IV, 41 f.: Der Abfall „ist außerwesentlich für das Absolute […]; denn er verändert nichts in beiden, weil das Gefallene unmittelbar dadurch sich in das Nichts einführt“. Man könnte sagen, dass das Einzelne hierdurch die Wahl habe, entweder als Einzelnes nichts (in Ansehung des Absoluten) zu sein oder aber nichts Einzelnes (innerhalb des Absoluten) zu sein.

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Angesichts solcher Schwierigkeiten, aus der Voraussetzung des AbsolutIdentischen überhaupt Einzelnes zu kreieren, ohne entweder das Einzelne oder das Absolute hierbei zugleich wieder zu vernichten, erscheint die Lösung der Freiheitsschrift, einen selbstbezüglichen Dualismus innerhalb des Absolut-Göttlichen von vornherein als dessen Existenzbedingung einzuführen, als eine interessante Lösung. Wesentlich an dieser Lösung ist, dass es eben kein Dualismus selbstständiger Prinzipien inauguriert, sondern dass es sich hierbei um eine Konzeption eines geistigen Wesens handelt, das eine Struktur von Andersheit zu sich selbst als seine eigene Bedingung mitbringt. 8 Diesen Grundgedanken, dass etwas als Einheit seiner selbst und eines Anderen zu sich selbst zu verstehen sei, hat Schelling bereits 1806 in der Schrift Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre expliziert. Dort stellt Schelling zunächst unter Gebrauch der aus den Aphorismen bekannten Metapher des Bandes den allgemeinen Satz auf, „dass das, was als Eins ist, oder existiert, in dem Sein notwendig ein Band seiner selbst und eines Anderen sei“ (AA I,16,1, 102/SW VII, 55). Die Seinsweise dieses Anderen expliziert er dahingehend, dass dieses „nicht außer dem Einen […], von diesem Einen nicht verschieden, sondern selbst nur das Eine sei, aber als ein Anderes“ (ebd.). Damit soll einem Dualismus eigenständiger Prinzipien ebenso ein Riegel vorgeschoben sein, wie die Gefahr einer alle Differenz in sich aufsaugenden Identität gebannt. Die Existenz eines Einen ist „ein Band seiner selbst als Einheit, und seiner selbst als des Gegenteils, oder als Vielheit“ (AA I,16,1, 102 f./SW VII, 55). Diesen erläuterungsbedürftigen Gedanken illustriert Schelling unter Rückgriff auf den Organismusgedanken am Beispiel einer Pflanze, deren Einheit ja gerade darin bestehe, dass sie als diese bestimmte Pflanze eine Einheit bilde, in welche die Vielheit ihrer Bestandteile wie Stängel, Blätter und Blüten eingehe, ohne dass diese bloß als ein Aggregat aufzufassen seien; denn umgekehrt seien die Bestandteile der Pflanze außerhalb dieser nichts, d. h. keine eingeständigen Seiende (vgl. AA I,16,1, 103/SW VII, 56). Auf Gott bezogen bedeutet dies, dass auch in diesem ein Anderes zu sich selbst als er selbst sein müsse, was nicht nur die Möglichkeit einer trinitarischen Vielheit in der Einheit Gottes, sondern auch die Möglichkeit einer Offenbarung des Göttlichen als des Anderen im Einen, verbürgt. Umgekehrt erweist sich so die Offenbarung als notwendiges Selbstverhältnis des Absoluten, das sich hierdurch wiederum der Gefahr, ein bloß logisches Abstraktum zu sein, entzieht und dem hierdurch die erwünschten Prädikate der Lebendigkeit und der Personalität zugeschrieben werden können.

8 Auch Hegel hatte in seiner Jenaer Zeit das Bewusstsein als ‚Anderes seiner selbst‘ konzipiert (vgl. im Resultat: Phänomenologie des Geistes GW 9, 99 f.). Inwiefern Schelling direkt hieran anknüpft, ist nicht klar (vgl. Buchheim 2011, 121).

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Ad 2) In der Freiheitsschrift nun wird dieses Verhältnis eines ‚internen Dualismus‘ mit den Begriffen von ‚Grund von Existenz‘ und ‚Existierendem‘ umrissen. 9 Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass ‚Grund‘ hierbei nicht im logischen Sinne desjenigen, dass eine Sache oder ein Urteil begründet, gemeint ist, sondern dass Schelling ‚Grund‘ hier im Sinne von ‚Untergrund‘, d. h., einer Basis oder eines Bodens, auf dem eine Sache aufruht, verwendet. In der Hauptsache interpretiert Schelling dieses Verhältnis als das Verhältnis des Realen und Idealen, bei welchem ja schon im System von 1800 ein spiegelbildliches Verhältnis galt, nach welchen je das eine im anderen enthalten war. Wesentlich hierbei ist, dass es sich in keinem Fall um ein Begründungsverhältnis einseitiger Abhängigkeit handelt, sondern um ein Wechselverhältnis, nach dem gilt, dass beides „sich gegenseitig voraussetzt, keines das andere und doch nicht ohne das andere ist“ (AA I,17, 130/SW VII, 358). 10 Neu ist nun aber, dass Schelling dieses Verhältnis in einen personalen Gott verlegt, wonach dieser in sich selbst ein anderes zu sich selbst enthält; genau gesprochen findet sich im Geistwesen Gott so die Natur als dessen Basis: „der Grund seiner Existenz [ist] die Natur – in Gott; ein von ihm unabtrennliches aber doch unterschiedenes Wesen“ (AA I,17, 129/SW VII, 358). Dieses wird deutlicher, wenn man die weiteren Seinsbereiche betrachtet, auf welche Schelling diesen Gegensatz bezieht: Grund und Existierendes werden verstanden als „Reales und Ideales, Finsternis und Licht“ (AA I,17, 172/SW VII, 408), aber auch als Eigenwillen im Gegensatz zum Allgemeinwillen, so dass Schelling zuletzt von einem dunkeln Grund sprechen kann, auf welchem auch die Persönlichkeit Gottes beruhe. 11 Diese Natur in Gott ist zugleich der Grund der Natur (des Realen) bis zu den einzelnen Dingen und des menschlichen Wesens, so dass einerseits gelten kann, dass alles aus Gott ist, denn der Grund ist ja in Gott. Andererseits kann gelten, dass es in der Natur und im Menschen eine von Gott unabhängige Wurzel gibt, denn der Grund in Gott ist ja nicht Gott selbst, sondern eben ein 9

Mit der Bezeichnung ‚interner Dualismus‘ folge ich Hermanni 1994, 73. Daher ist es auch kein Verhältnis zwischen einem Grund von Existenz und der Existenz, denn sonst würde ja das erste Moment das zweite schlicht begründen. Vgl. hierzu Schellings Brief an Eschenmayer SW VIII, 164: „Ich habe überhaupt nicht von einem Unterschied der Existenz und dem Grunde zur Existenz gesprochen, sondern von einem Unterschied zwischen dem Existierenden und dem Grund zur Existenz“. Zu dieser jedoch in der Literatur fortwirkenden „weit verbreiteten Fehldeutung“, gegen die sich bereits Schelling wehrt, siehe auch Hermanni 1994, 87 f. Anzumerken zu Schellings Formulierung, nach der keines das andere und doch nicht ohne das andere ist, ist, dass er auch hier auf eine theologische Formel zurückgreift, welche ganz analog zur trinitarischen Formel, ein Prinzip einer dualen Einheit beschreibt – in der Theologie in etwa entsprechend der Formel der Zwei-Naturen-Lehre Jesu nach dem Konzil von Chalzedon von 451, nach welcher Jesus zugleich wahrer Mensch und wahrer Gott sei und beides ungemischt und unzertrennt. 11 Hierzu instruktiv Hermanni 2004. 10

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von ihm unterschiedenes Wesen. Der Mensch und die reale Natur haben „ihren Grund in dem […], was in Gott selbst nicht Er Selbst ist, d. h. in dem, was Grund seiner Existenz ist“ (AA I,17, 130/SW VII, 359). In Hinsicht auf den Menschen interpretiert Schelling das Verhältnis von Grund und Existierendem als das Verhältnis eines Grundwillens der dunkeln Sehnsucht, deren Gegenstand der lichte Verstand als das begriffliche Vermögen ist, das zugleich durch einen sukzessiven Prozess der Differenzierung den dunklen Grund aufhellen und in der Art der Konstruktion der Naturphilosophie stufenweise emporheben kann. Ein wichtiger Punkt in diesem dynamischen Prozess ist, dass diese Wechseldurchdringung so stattfindet, dass keimhaft je das eine Prinzip sich aus dem anderen heraus bildet, und dabei komplementär doch in diesem enthalten bleibt. Licht und Dunkel, Universalwille und Eigenwille sind nie ohneeinander und bilden wechselseitig ihre Grundlage. Hierbei sind mit Blick auf die weitere Entwicklung der Potenzenlehre drei Momente festzuhalten, die Schelling in der Freiheitsschrift als Entfaltungsdimensionen der Grund/Existierendes-Lehre anlegt und die in der folgenden Schriften, namentlich aber in der Spätphilosophie, große Bedeutung erlangen werden: 1) ist hervorzuheben, dass Schelling die Grundfigur einer voluntativen Interpretation seiner dynamischen Seinslehre, nach welcher Grund von Existenz und Existierendes als zwei wechselbezügliche Willenskomponenten zu betrachten sind, auch in der eigentlichen Potenzenlehre beibehalten wird. In der Freiheitsschrift werden sie ganz aus der Dialektik von Grund und Existierendem entwickelt, so dass es einerseits „nur Einen Willen, […] keinen zweifachen“ (AA I,17, 141/SW VII, 372) gibt, zugleich aber dessen beide Momente, „der Willen der Liebe und der Willen des Grundes [als] zwei verschiedene Willen“ (AA I,17, 144/SW VII, 375) anzusehen sind, die in der Einheit ihrer selbst um Vormacht und Überwindung kämpfen. Es ist diese Grundfigur einer Metaphysik des Willens, die einerseits eine enorme externe Wirkungsgeschichte von Schopenhauer bis Heidegger entfalten wird, die Schelling andererseits jedoch selbst innerhalb der sich zunehmend als eigenständige Grundtheorie entwickelnden Potenzenlehre als eine ganz eigene Interpretationsdimension implementieren wird. 2) wird Schelling auch das eigentlich idealistische Programm einer Theorie des Geistes unmittelbar aus dieser Grundkonstellation heraus entwickeln. So behält er zwar einerseits die Fichte’sche Lehre vom Bewusstsein als Selbstsetzen des Ichs bei, setzt diese allerdings als eine lediglich epistemische Perspektive zurück und unterlegt diese Theorie zugleich mit einer fundamentaleren ontologischen Theorie des Geistes, die unmittelbar aus der Grund/ExistierendesUnterscheidung gehoben wird; denn „dieses Bewusstsein […] bloß als SelbstErfassen […] setzt […] das eigentliche Sein schon voraus“ (AA I,17, 152/

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SW VII, 385). Dieses Sein wiederum besteht in der Verbindung der Selbstheit, dem Individuationsprinzip, das Schelling direkt dem Grund zuordnet, und dem idealen Prinzip: „Die Selbstheit [wird] durch ihre Einheit mit dem idealen Prinzip Geist“ (AA I,17, 135/SW VII, 364) – wobei es die Besonderheit des menschlichen Geistes ist, dass diese Einheit zertrennlich und variabel bleibt, während sie im göttlichen Geist unauflösbar ist. 3) spricht Schelling in der Freiheitsschrift bereits den Gedanken aus, dass die Entwicklungsstadien des Geistes sich in diachroner Perspektive als die Perioden der Geschichte verstehen lassen: „Die Geburt des Geistes ist das Reich der Geschichte […]. Dieselben Perioden der Schöpfung, die in diesem sind, sind auch in jenen; und eines ist des anderen Gleichnis und Erklärung“ (AA I,17, 146/SW VII, 377 f.). In einer ersten Skizze entfaltet er hier ein Geschichtspanorama von einem goldenen Urzeitalter bis zur historischen Wirkung des Christentums, bei welchem die Genese der auseinander hervorgehenden Perioden durch die Wirkungsweise und sukzessiv sich wandelnde Stellung des Grundes beschrieben wird – und so das dynamische Grundprinzip der Philosophie der Mythologie und Offenbarung vorwegnimmt, nach welchem die in der nach innerer Notwendigkeit sukzessiv sich weiterentwickelnden Stellungen der Potenzen zugleich das Erklärungs- und Erzeugungsprinzip der Perioden der Geschichte bilden. Ad 3) Ein wesentlich neues Moment der Freiheitsschrift ist, dass das nachgezeichnete Selbstverhältnis von Grund und Existierendem variabel ist, d. h. verschiedene Stellungen der Dominanz zueinander einnehmen kann und dass diese Stellungen in der Perspektive auf die Geistwesen als Personen deren individuellen Charakter bestimmen. Darüber hinaus gilt, dass in einem gewissen Grad innerhalb des Selbstverhältnisses, in dem Personen zu sich als sie selbst und als Andere zu sich selbst stehen, diese Stellungen unter der Verfügungsgewalt der Personen selbst stehen. Es ist demnach möglich, dass ein Charakter sich selbst prägt durch Aktivierung des Grundes, durch Inversion oder Auflösung des Verhältnisses von Grund und Existierendem in sich, das er selbst ist. Diese flexible und sehr weitreichende theoretische Neufassung geistiger Wesen bringt ein enormes Erklärungspotential mit sich. Aus ihr heraus kann Schelling nun so weitreichende und disparate Themen wie die Trinität, den Sündenfall, die Ebenbildlichkeit von Mensch und Gott, das Wesen des Bösen oder die Erzeugung der Epochen der Geschichte erörtern. Er kann zeigen, inwiefern der Mensch und der gesamte materielle Kosmos in Gott und doch in einer entscheidenden Hinsicht unabhängig von Gott ist, was Persönlichkeit und Leben bedeuten, wie sich die Epochen der Religionsgeschichte erzeugen oder wie, was er als die eigentliche Schwierigkeit und Aufgabe der Schrift ansieht, Freiheit und Notwendigkeit miteinander vereinigt werden können.

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Hierzu ist zu sehen, dass Schelling das Verhältnis von Grund und Existierendem so konzipiert, dass zunächst in der göttlichen Einheit des Absoluten der Grund und damit das Finstere in der Tiefe als Basis verborgen bleibt – und dass in dieser Konstellation der Geist über die reale Welt dominiert. Hierin besteht das Charakterverhältnis des moralisch Guten. Zugleich ist es so, dass die dunkle Basis unverzichtbar ist; es ist also nicht gleichsam das Verschwinden der Basis, das einen reinen Geist zurückließe, worin Gott (und das Gute) bestünden, sondern es ist das Verhältnis der Dominanz des Geistes über das Reale. In einer an den Kant der Religionsschrift angelehnten Erörterung spricht Schelling davon, dass in dieser Konstellation des Guten das Reale als Werkzeug oder Mittel gebraucht werde zum Zweck des Geistes und der Partikularwille dem Universalwillen dienlich sei. 12 Umgekehrt besteht das moralisch Böse darin, dass das Geistige nur als Mittel für rein materielle Zwecke gebraucht werde; der böse Charakter eines Menschen zeichnet sich entsprechend darin aus, dass in ihm das Reale oder Dunkle über das Geistig-Lichte dominiert. Entscheidend für die Grundfrage nach der Herkunft des Bösen ist es nun, dass die Möglichkeit einer Selbstaffizierung und Umwendung des Prinzipienverhältnisses von Grund und Existierendem besteht: Die allgemeine Möglichkeit des Bösen besteht […] darin, dass der Mensch seine Selbstheit, anstatt sie zur Basis, zum Organ zu machen, vielmehr zum Herrschenden und zum Allwillen zu erheben, das Geistige in sich zum Mittel zu machen streben kann. (AA I,17, 156/SW VII, 389)

Es ist demnach, ausgehend von der harmonischen Stellung der göttlichen Ordnung, bei der „das finstere Prinzip […] ganz von Licht durchdrungen und mit ihm Eins“ (ebd.) ist, die Anrührung und Aktualisierung des dunklen Grundes, der in der Macht des Menschen steht und in dem die eigentliche Sünde besteht. Dieser strebt in eine disharmonische und zuletzt vernichtende Dominanz, die er aber nie ganz erreichen kann, insofern das göttliche Prinzip als das Gewissen im Menschen, gleichsam als Erinnerung an seine Herkunft im Sinne eines Gegenpols erhalten bleibt (vgl. AA I,17, 156/ SW VII, 389). Dies bedeutet nun aber zuletzt, dass es nicht lediglich eine einförmige Prinzipienkonstellation gibt, bei der in etwa ein quantitatives Verhältnis der Dominanzrelation zwischen Grund und Existierendem angegeben werden könnte, sondern dass hier von einer Pluralität oder zumindest Zweiheit von ineinander gelegten und sich wechselseitig beeinflussenden Konstellationen ausgegangen werden muss, deren wechselseitige Stellungen die geistige Wirklichkeit des Menschen prägen.

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AA I,17, 133 f./SW VII, 363; vgl. Kant AA VI, 36.

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3. Der Begriff der Potenz in der Freiheitsschrift Ausgehend von dieser metaphysischen Grundveranlagung der Freiheitsschift ist nun zu sehen, auf welche Weise und in welcher Bedeutung Schelling in ihr mit der Begrifflichkeit von ‚Potenz‘ operiert. Wie bereits bei früheren einschneidenden Transformationen des Schellingschen Philosophierens bemerkt, geht auch hier die Umgestaltung des Systems mit einer terminologischen Verschiebung einher. So gibt es nur drei Stellen, an denen Schelling auf Hauptbedeutungen von Potenz in der Natur-, Identitäts- und Transzendentalphilosophie zurückgreift, indem er von ‚höherer‘ und ‚bestimmter‘ Potenz und von einem ‚letzten potenzierenden Akt‘ spricht. Im Gegensatz hierzu wird das bisher nur konventionell und marginal genutzte lateinische Begriffspaar potentia und actus nun in der deutschen Form von ‚Potenz‘ (oder ‚Potentialität‘) und ‚Akt‘ zur hauptsächlichen Form. Daher sollen die Rückgriffe auf frühere Bedeutungen und Kontexte zunächst kurz skizziert (1) und dann die neue Verwendung von Potenz und Akt näher besprochen werden (2). a) Potenzen im Sinne der Natur- und Geistphilosophie Schelling erörtert das Verhältnis von Schwerkraft und Grund in naturphilosophischer Perspektive und identifiziert die Schwerkraft als den dunklen Grund im Vergleich zum Licht als dem Existierendem. Hierbei verweist er selbst unmittelbar auf mehrere Stellen der Darstellung meines Systems, die dieses Verhältnis erläutern, und schreibt: „sie [die Schwerkraft] ist […] weder das reine Wesen noch auch das aktuale Sein der absoluten Identität, sondern folgt nur aus ihrer Natur; oder ist sie, nämlich in der bestimmten Potenz betrachtet“ (AA I,17, 129 f./SW VII, 358). Das heißt, die Schwerkraft könne in einer bestimmten Hinsicht als Identität betrachtet werden. In der Parallelstelle der Darstellung meines Systems, auf die Schelling hier verweist, heißt es, die Schwerkraft sei gezwungen, „unter der Potenz von A und B, aber doch als das Eine Identische hervor und gleichsam ans Licht zu treten“ (AA I,10, 163/SW IV, 163). Ebenso in der Form eines wenn auch indirekten Selbstzitates spricht Schelling von ‚dem letzten potenzierenden Akt‘. Hierbei geht es um das Verhältnis von Natur- und Geistphilosophie und Schelling referiert die auf den letzten Seiten des Systems des transzendentalen Idealismus von 1800 erläuterte Idee, dass die potenzierenden Akte der Natur- und Transzendentalphilosophie bis zu einem bestimmten Punkt dieselben Stufen (= Potenzen) durchlaufen, es dann aber einen durch Freiheit erwirkten kategorialen Sprung geben müsse, durch welchen die geistige Welt mit ihrer neuen Stufenfolge entstehe und in welcher die Momente der Natur als Gegenstände des Geistes erscheinen: „In dieser (der Freiheit) wurde behauptet, finde sich der letzte potenzierende Akt, wodurch sich die ganze Natur in Empfindung, in Intelligenz, endlich in Willen

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verkläre“ (AA I,17, 123/SW VII, 350). Schelling zitiert diesen Gedanken doppelt indirekt, insofern er eine Formulierung übernimmt, die einer Passage der Allgemeinen Deduktion von 1800 entspricht, welche wiederum bereits auf das System des transzendentalen Idealismus verweist. 13 Der Ausdruck einer ‚höheren Potenz‘ weist gleichfalls auf den Gedanken paralleler Stufenfolgen der Natur und des Geistes zurück, wie Schelling ihn in den Komplementärwissenschaften von 1800 entwickelt hatte. In der Freiheitschrift versucht Schelling diesen nun innerhalb der Konstellation von Grund und Existierendem zu entwickeln, und mit dem Gedanken der Schöpfung bzw. Offenbarung zu verbinden. Dabei ist zu sehen, dass bei Schelling die Schöpfung als Offenbarung einen Prozess des Ans-Licht-Bringens des dunkeln Grundes beinhaltet (vgl. AA I,17, 133/SW VII, 362) und dass Schelling den Geistprozess als höhere Stufe des parallelen Naturprozesses versteht. Daher kann er sagen, dass die nämlichen Prinzipen der Schöpfung der Natur auch diejenigen der Schöpfung der Geschichte – nur eben in höherer Gestalt – sind. Und weiter: Daher kann er das Böse, das er im Sündenfall als den Anfang der Geschichte identifiziert, mit dem Grund der Natur, aus dem sich die Natur in der ersten Schöpfung entwickelt, in historischer Perspektive in Beziehung setzen, so dass gilt: „Das Böse ist […] in der Tat nur die höhere Potenz des in der Natur wirkenden Grundes“ (AA I,17, 146/SW VII, 378). b) Der neue Begriff von Potenz und Akt Systematisch bedeutungsvoller ist das mit der Freiheitsschrift erwachte Interesse Schellings am Begriffspaar Akt und Potenz. Denn der hierin liegende Gedanke von potentia als einer auf Verwirklichung bezogenen Möglichkeit und actus als deren Verwirklichung (Aktualisierung) birgt theoretische Ressourcen, die Schelling in der nun dynamischen Prinzipienontologie von Grund und Existierendem und der daraus entwickelten, historischen Seinsperspektive, in welcher die Schöpfung als Offenbarung Gottes eine zentrale Rolle spielt, glänzend anwenden kann. Dies bezeugt nicht nur der gehäufte Gebrauch dieses Begriffspaars in der Freiheitsschift, sondern auch das Aufgreifen eines neuen, damit im Zusammenhang stehenden Ausdrucks der ‚Potenzialität‘. Dabei gebraucht Schelling das Begriffspaar Akt und Potenz mehrfach innerhalb einer festen Formulierung, die zugleich die theoretische Blickbahn verdeutlicht, unter der dieses Anwendung findet. Es besteht in der Formulierung, dass etwas „aus der Potenz [bzw. der ‚bloßen‘ Potenz] zum Aktus“ erhoben wird 13 In der Allgemeinen Deduktion heißt es: „Der sogenannten toten Natur fehlt also nur der letzte potenzierende Akt, (welcher dies sei, ist aus dem System des Idealismus zu ersehen), wodurch ihre Qualitäten in Empfindungen, ihre Materien in Anschauungen verwandelt würden“ (AA I,8, 365/SW IV, 77).

I. Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809)

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(AA I,17, 146, 164, 168/SW VII, 377, 398, 404). Hieran wird bereits sehr klar, dass das Interesse Schellings an dieser historischen Gedankenfigur sich nicht nur auf das statische Verhältnis einer Verwirklichungsanlage zu ihrer Realisierung bezieht, sondern er an dem dynamischen Moment der Entwicklung, und das heißt am Übergang aus der Potenz zum Akuts interessiert ist. Eine zweite Konstellation, die Schelling mit dieser Ausdruckweise verbindet, ist die, bei welcher etwas umgekehrt in der Potenz verbleibt – und zwar so, dass es sich überhaupt nicht zum Aktus erheben kann. Dies gilt für den Satan, den „umgekehrten Gott, [der] nie aus der Potenz zum Aktus gelangen kann“ (AA I,17, 156/SW VII, 390) gleichermaßen wie für die Konstellationen des überwundenen Bösen in der „Endabsicht der Schöpfung“ (AA I,17, 169/ SW VII, 404), für das gilt, dass es zurückbleibt, „ohne aus der Potenzialität heraustreten zu können“ (AA I,17, 169/SW VII, 405). Hieraus wird auch bereits deutlich, dass der auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinende Gedanke, dass etwas, das grundsätzlich nicht von der Potenz zum Akt gelangen kann, dennoch durch den Zustand einer ‚Potenz‘ oder ‚Potenzialität‘ beschrieben wird, auch wenn der Sinn dieses Ausdrucks gerade die Möglichkeit dieses Übergangs meint, dennoch keine contradictio in adiecto beinhaltet. Denn es handelt sich hierbei nicht um Zustände, bei denen etwas sich in gar keiner Weise realisieren kann, denen eine Verwirklichungsmöglichkeit eines in ihnen Veranlagten gewissermaßen wesenhaft fremd wäre; diese wären tatsächlich nicht als Potenzen in Bezug auf Akte zu bezeichnen. Sondern um Zustände, deren generelle Veranlagung sehr wohl eine Realisierungstendenz beinhaltete, die aber in Hinsicht auf diese Veranlagung temporär oder dauerhaft entmächtigt wurden. Systematisch stehen diese begrifflichen Konstellationen im engsten Zusammenhang mit Schellings aus der ontologischen Grundveranlagung des Wechselbezugs von Grund und Existierendem in der Freiheitschrift entwickelten Lehre vom Bösen. Hier hatte es sich gezeigt, dass Schelling diese beiden komplementären Prinzipien so konzipiert, dass erstens verschiedene Dominanzkonstellationen möglich sind, zweitens diese Konstellationen wechseln können und drittens die Konstellation des Guten darin bestehe, dass das (lichte) Existierende über den dunklen Grund, dessen es notwendig bedarf, herrsche, während im Falle des Bösen die umgekehrte Konstellation besteht. Danach ist – und dies ist der Gedanke der Verbindung der ontologischen Lehre von Grund und Existierendem, der Lehre vom Bösen und der Figur einer als Potenz veranlagten Seinsrealisierung als Aktus – in der Art der jeweiligen Trennung und Scheidung von Grund und Existierendem, des Hervorgangs des einen aus dem anderen in einer bestimmten Konstellation, je der Übergang von der Potenz zum Akt in Hinsicht auf die erzeugte Konstellation des Guten oder Bösen als jeweiligem Seinsprinzip enthalten. Dabei denkt Schelling an einen gedoppelten Prozess der Scheidung. Zuerst ist es eine Trennung überhaupt

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Kap. 6: Die Philosophie des internen Dualismus

von Licht und Dunkel, das heißt eine allererste Ausdifferenzierung der Seinsprinzipien: „in der anfänglichen Schöpfung, die nichts anderes als die Geburt des Lichts ist, [musste] das finstere Prinzip als Grund sein […], damit das Licht aus ihm (aus der bloßen Potenz zum Aktus) erhoben werden könnte“ (AA I,17, 146/SW VII, 377); hier ist bereits veranlagt, dass das Licht kein singuläres Prinzip für sich sein könne, sondern verwiesen ist auf den Grund seiner selbst, aus dem es in der Schöpfung gehoben wurde. Dabei konzipiert Schelling in Anlehnung an den Platonischen Timaios und Leibniz’ Lehre von der besten aller möglichen Welten die Schöpfung so, dass das finstere Prinzip des Grunds wie die dunkle Urmaterie im Timaios als Prinzip des Regellosen eine unendliche Pluralität möglicher Welten in potentia enthält und die Schöpfung in einem Ordnungsakt besteht, der eben die beste der in der Urmaterie enthaltenen Weltmöglichkeiten verwirklicht: „in dem Grunde [ist] der Urtypus der nach dem Wesen Gottes allein möglichen Welt enthalten, welcher in der wirklichen Schöpfung […] aus der Potenz zum Aktus erhoben wird“ (AA I,17, 164/SW VII, 398). 14 Diese Erhebung des Lichtes aus dem Dunkel wiederum beschreibt Schelling in Übereinstimmung mit dem Prolog des Johannes-Evangeliums als Wirkung des Wortes (als des Geist-Prinzips) auf die Urmaterie, so dass „das schaffende Wort […] das im Grunde verborgene Leben aus dem Nichtsein erlöst, es aus der Potenz zum Aktus erhebt“ (AA I,17, 168/SW VII, 404). In Folge dieser Schöpfung, die zugleich in Übereinstimmung mit der Genesis verstanden wird als eine erste Trennung von Licht und Dunkel überhaupt, entsteht erst in den spezifischen Konstellationen von Grund und Existierendem das Gute und Böse als Prinzip; das Böse ist selbst das Prinzip der Entzweiung und damit einer disharmonischen Konstellation, in welcher der Grund (anstatt Grund zu bleiben), über das Licht zu herrschen versucht; in diesem Sinn bezeichnet Schelling es als „zweites Prinzip der Finsternis“ (AA I,17, 146/SW VII, 377), nämlich der Herrschaft der Finsternis über das Licht. Umgekehrt besteht der Geist im Prinzip der Harmonie in Bezug auf die Stellung der geschiedenen Seinsprinzipien. Das heißt: die Wechselmomente von Grund und Existierendem gehen bestimmte Konstellationen der Harmonie und Disharmonie ein, welche dann auf einer höheren dialektischen Ebene wiederum zueinander in einem Wechselverhältnis der Dominanz stehen, bei denen der Geist über das Böse oder umgekehrt herrscht. 14 Diese und die nachfolgend zitierte Passage zeigen aber auch deutlich, dass es in der Freiheitsschrift keine einfache Zuordnung von ‚Grund‘ zu ‚Potenz‘ gibt. Schwarz 1935, 121 hatte konstatiert: „dieses dem Grunde angemessene Verhältnis der Unterordnung und Trägerschaft für ein höheres Prinzip fasst Schelling in den ‚Untersuchungen‘ durch den Begriff der Potenz“. Und weiter: „Der Grund […] ist die Urpotenz“ (122). Der Grund ist aber in der Freiheitsschrift nicht einfach = Potenz und das Existierende der Aktus, sondern im Grund ist die Potenz von etwas in Hinsicht auf die Erhebung desselben zum Aktus enthalten.

I. Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809)

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In diesen Urkonstellationen besteht je wiederum die Möglichkeit neuer Modifikation: weder eine erste Herrschaft des Dunkels noch des Lichtes sind in sich invariabel stabil, sondern in ihnen liegt je die Möglichkeit einer neuen Seinsumwandlung und damit eines neuen Seinsübergang vom Bösen zum Guten und umgekehrt. Eine besondere Pointe dieser Möglichkeiten von Seinsübergängen besteht nun darin, dass in ihnen das je andere Prinzip erhalten bleibt als seinerseits vom je dominierenden Prinzip beherrscht. So besteht das Böse nicht lediglich in der Dominanz des Dunkels über das Licht, sondern damit verbunden zugleich in einer Herrschaft des Bösen über das Gute. Dies führt nicht nur zu der dialektischen Einsicht, dass das Böse und das Gute zuletzt dasselbe sei, nur von verschiedenen Perspektiven aus betrachtet (vgl. AA I,17, 165/SW VII, 400), sondern auch zu dem dynamischen Moment, dass die jeweiligen Dominanzstellungen zunächst nicht stabil sind, weil das in ihnen Unterworfene dem herrschenden Prinzip je entgegenwirkt. Das Gute in etwa ist im Bösen nicht einfach verschwunden, sondern wirkt in diesem als Gegenkraft fort. Allerdings denkt Schelling diese Möglichkeiten von Seinsübergängen nicht als eine beliebig fortsetzbare Folge. Sondern als ein notwendiges natürliches Moment der Aktivierung des Bösen innerhalb einer übergeordneten, eschatologischen Perspektive auf dessen endgültige Überwindung, in welcher erst das Gute im eigentlichsten Sinn sich realisiert: „Nur die überwundene, also aus der Aktivität in die Potentialität zurückgebrachte Selbstheit ist das Gute, und der Potenz nach, als überwältigt durch dasselbe, bleibt es im Guten auch immerfort bestehen“ (AA I,17, 165/SW VII, 400). Deshalb kann einerseits des Böse keine dauerhafte Dominanz erreichen, andererseits das im Endzustand des Entwicklungsprozesses der Seinsprinzipien überwundene Böse nicht wieder aktualisiert werden. In der endgültigen Überwindung des Grundes durch das Ideale (das Licht, das Wort) ist „alles dem Geist unterworfen“ (AA I,17, 172/SW VII, 408). Dies geschieht in einem geschichtlichen Prozess fortschreitender philosophischer Erkenntnis, bei welcher der Verstand alles im dunkeln Grund Verborgene ins Licht seiner Erkenntnis bringt, und dies in einem Prozess, der dem der ursprünglichen Schöpfung ähnelt, ja diese auf einer höheren Ebene wiederholt, in dem er „das in diesem Grunde verborgene und bloß potentialiter enthaltene herausbildet und zum Aktus erhebt“ (AA I,17, 177/SW VII, 414 f.). In diesem Zustand letzter Erkenntnis und Herrschaft der Vernunft bleibt „das Falsche […] auf ewig in [der] Finsternis beschlossen, um als ewig dunkler Grund der Selbstheit und als Potenz zurückzubleiben, der nie zum Aktus hervorgehen kann“ (AA I,17, 172/SW VII, 408). Auf einen solchen bloßen Potenzzustand reduziert, ist dann das Böse entmachtet; seine ‚Potentialität‘ bzw. sein „Potenzzustand“ (AA I,17, 169/SW VII, 405) ist nurmehr noch die Bezeichnung einer untergegangenen Perspektive; tatsächlich ist die Potenzialität verschwunden und zum „Nichtsein“ (ebd.), zur „gänzliche[n] Unrealität“ (ebd.) geworden.

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Kap. 6: Die Philosophie des internen Dualismus

Vergleicht man nun diese Konzeption mit Schellings erstem Gebrauch von actus und potentia in lateinischer Form in der Naturphilosophie, so werden ihre Eigentümlichkeiten deutlich. Dort hatte Schelling in Anknüpfung an Harveys Lehre von dem Keimen mit potentia und actus das Verhältnis eines Vermögens und seiner Wirklichkeit beschrieben, bei welchem die Verwirklichung ein sukzessiver, linearer, einseitiger und irreversibler Prozess gewesen war. In diesem Sinn waren die Glieder des Körpers im Samen enthalten und entwickelten sich kontinuierlich aus ihm. Innerhalb der Ontologie der Freiheitsschrift nun gibt es nicht nur den Gedanken einer kontinuierlichen Evolution, wie er in etwa in der Extraktion des Lichts aus dem ursprünglichen Dunkel angelegt ist, sondern darüber hinaus und in der Hauptsache vielmehr den Gedanken einer stufenhaft und diskret sich vollziehenden Entwicklung, welche in spontanen Übergängen aus der Potenz zum Aktus sich vollzieht (und hierbei in Hinsicht auf die moralische Ausrichtung der Revolution der Gesinnung vergleichbar ist, wie sie Kant in der Religionsschrift dargelegt hat) 15 und bei welcher die Geschichte solcher Umschläge einerseits als Substruktur erhalten bleibt, und andererseits reversible Prozesse auf höherer Ebene angelegt sind.

4. Zusammenfassung Innerhalb der neuen Ontologie des internen Dualismus der Freiheitsschrift greift Schelling einerseits bei der Beschreibung des Scheidungsprozesses des dunklen Grundes durch den lichten Verstand, aus welchem der stufenweise Aufbau der Natur resultiert, auf die in der Naturphilosophie entwickelte Terminologie der Potenzen als Seinsstufen der Natur zurück und nennt den Übergang von der Natur zum Geist im Verstand des Menschen als der höchsten Potenz der Natur dessen ‚letzten potenzierenden Akt‘. Andererseits erhält die Gedankenfigur von Potenz und Aktus als eines Übergangs von einer Seinsveranlagung zu dessen Realisierung innerhalb dieser ontologischen Konstellation von Grund und Existierendem ein erhebliches Gewicht, indem Schelling durch sie je die Ermöglichungsverhältnisse dieser Prinzipien, sowie ihrer Übergänge als je spezifische Wechselverhältnisse der Dominanz und Unterordnung beschreibt, die das zentrale Beweisthema der Schrift, die Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen überhaupt erst einfangen. Dabei sind die bipolar veranlagten Prinzipien so konzipiert, dass je das eine zu Grund und Zentrum des anderen werden kann, so dass in etwa im Dunkel zugleich die Potenz zur Aktualisierung des Lichtes innerhalb der Einheit komplementärer Gegenprinzipien zu sehen ist, welche sich dann in einer Umwendung ihrer relativen Dominanzverhältnisse verwirklicht. Eine besondere Pointe hierbei ist, dass auch die jeweiligen Dominanzstellungen, die in etwa die Har15

Vgl. Kant AA VI, 47.

II. Die Stuttgarter Privatvorlesungen (1810)

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monie des Guten oder die Disharmonie des Bösen erzeugen, wiederum zueinander in Dominanzverhältnisse treten können, so dass in etwa der Grund des Harmonischen das Disharmonische bleibt und umgekehrt, und dass auch deren Verwirklichungsprozess durch den Übergang von Potenz zum Aktus beschrieben wird. Allerdings gibt es hierbei eine endgültige Herrschaftsstellung des Guten, in welcher in der eschatologischen Perspektive das Geistige das Böse dauerhaft überwunden hat und in welcher Schelling dieses in seine ursprüngliche Stellung zurückgebrachte Böse als eine dauerhaft in seine Potentialität zurückgebrachte Macht beschreibt.

II. Die Stuttgarter Privatvorlesungen (1810) 1. Einleitung 1810, im Zuge der Bewältigung einer schweren Lebenskrise, die durch den Tod von Schellings Frau Caroline im Herbst 1809 ausgelöst worden war, reist Schelling nach Stuttgart, um dort in einem kleinen Kreis höherer Beamter sein neues System vorzustellen und zu diskutieren. 16 Dabei ist die Stellung der hierbei entstandenen Stuttgarter Privatvorlesungen innerhalb des Schellingschen Werks umstritten. Während ein Teil der Literatur darin lediglich einen unselbständigen Zwischenschritt von der Freiheitsschrift zu den Weltalterentwürfen sieht, sehen andere in ihr einen gewichtigen Wendepunkt in Hinsicht auf die Transformation seiner Philosophie in der Perspektive auf die Spätphilosophie. 17 Dies gilt insbesondere für die Veranlagung der Potenzentheorie. Hier sind es gerade die Stuttgarter Privatvorlesungen, in welchen der neue Ansatz der Freiheitsschrift mit der Potenzenterminologie verbunden und damit erst zu einer eigentlichen Metaphysik der Potenzen ausgestaltet wird. Innerhalb der Fragestellung der gegebenen Untersuchung kommt dieser Schrift daher besondere Bedeutung zu. Hieraus ergibt sich die Aufgabe einer genauen Untersuchung der Implementierung der Potenzenterminologie insbesondere in Hinsicht auf die Frage, wie sich eine Metaphysik der Potenzen als eigentliche Seinslehre in dieser ersten Gestalt darstellt und wie sie in ihren Anwendungsfeldern der Konstitution und des Aufbaus des Geistes, der Natur und der Geschichte funktionell wirkt. Dies ist auch deswegen besonders interessant, weil Schelling in 16

Zu den äußeren Umständen der Stuttgarter Privatvorlesungen siehe Müller-Lüneschloß

2014. 17 Bensussan 2014, 71 spricht von einem „Zwischenstatus“ des Texts zwischen den wichtigen Werken von 1809 und 1811. Hühn/Schwab 2014, 6 sehen in ihnen hingegen „das einzigartige Dokument eines entscheidenden ‚Umbruchs‘ in Schellings Denkentwicklung, als ein ‚Scharnier‘ zwischen dem früheren und dem späteren Werk“.

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Kap. 6: Die Philosophie des internen Dualismus

der im Verhältnis zu seinen sonstigen Werken knappen Schrift so gut wie alle relevanten Themen seiner bisherigen und auch künftigen Philosophie zumindest skizzenhaft anreißt 18, weswegen es sich lohnt, hier nicht nur die eigentliche Seinslehre, sondern auch die mit ihr im Zusammenhang mit dem Potenzbegriff begriffenen Theorien der Natur und des Geistes, der Moral und der Geschichte näher zu untersuchen. Hierbei knüpft Schelling einerseits an die Neuerungen der Freiheitsschrift an, versteht aber andererseits auch die Stuttgarter Privatvorlesungen als ungebrochene Fortführung der Identitätsphilosophie. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass Schelling den neuen Systemansatz des internen Dualismus mit allen metaphysischen und moralphilosophischen Konsequenzen beibehält, indem er in etwa von einer „dunkeln Urkraft spricht, die aller Existenz zugrunde liegt [und die] das Sein Gottes, […] das vom Seienden [Gott] verschieden“ (AA II,8, 110/SW VII, 441) ist, bezeichnet. Und andererseits darin, dass er versucht, den Stuttgarter Zuhörern sein System der Philosophie in der Kontinuität des ursprünglichen Ansatzes der Identitätsphilosophie zu präsentieren, indem er weiterhin an erster Stelle das „Prinzip der absoluten Identität schlechthin“ (AA II,8, 68/SW VII, 421) als sein Prinzip der Philosophie nennt. Demnach ist es für die Interpretation des metaphysischen Aufbaus der Stuttgarter Privatvorlesungen und der Integration der Potenzen-Terminologie in diesen von entscheidender Bedeutung, genau zu sehen, inwiefern Schelling 1810 die beiden Ansätze terminologisch und systematisch zu einer hierdurch entstehenden, eigenständigen Lehre der Potenzen miteinander verbindet.

2. Die allgemeine Ontologie der Stuttgarter Privatvorlesungen Schelling beginnt die Stuttgarter Privatvorlesungen mit der Erläuterung, dass es zu einem philosophischen Welt-System dreier Elemente bedarf: einem ersten Prinzip, das lediglich in sich gegründet ist und das gesamte System trägt, einer Vollständigkeitsklausel, nach welcher das System die Phänomene in ihrer Ganzheit abbilden soll und einer Methode, welche ausgehend vom Prinzip die gesamte Entwicklung gewährleistet. Als Prinzip des Systems nennt Schelling erneut das Prinzip der Identität, fügt aber hinzu, dass es sich hierbei um eine in sich gegliederte, „organische Einheit aller Dinge“ (AA II,8, 70/SW VII, 422) handle, bei welcher die Organe als unselbständige Teile im Dienst des Einheitsprinzips stehen – so wie die biologischen Organe unter der Einheit des Lebens stehen, das sie integrativ in sich enthält. Dieser bereits bekannte ontologische Grundsachverhalt des Organismus der Identität besteht nun wieder in der dialektischen Figur, dass Reales 18 Hühn/Schwab 2014, 6 sprechen hier zutreffend von der „konzentriertesten ‚Gesamtschau‘ und umfassendsten ‚Systemabbreviatur‘ in Schellings Werk“.

II. Die Stuttgarter Privatvorlesungen (1810)

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und Ideales in der Identität als ihrer „wesentliche[n] Einheit“ (ebd.) zusammenkommen und dass dieses erste Prinzip der Philosophie, die Identität, das „Absolute[.] oder Gott“ (AA II,8, 72/SW VII, 423) zu nennen seien. Entsprechend der neuen Systemveranlagung der Freiheitsschrift etabliert Schelling nun allerdings auch in den Stuttgarter Privatvorlesungen ein Prinzip der Dualität innerhalb der Einheit Gottes – ein Prinzip der Dualität, das verbürgen soll, dass innerhalb der Identität Differenz, Struktur und Entwicklung möglich sei und nicht alles in eine „absolute[.] Einerleiheit“ (AA II,8, 68/ SW VII, 421) zurückfalle. Dieses Prinzip der Dualität expliziert Schelling auf doppelte Weise: zunächst auf formalem Weg, „mit mehr wissenschaftlichen Ausdrücken“ (AA II,8, 94/SW VII, 432) in Anknüpfung an die Identitätsphilosophie, sodann mit unmittelbarem Bezug auf die Vorgängerschrift. Beginnen wir mit der zweiten Darstellung, da diese unmittelbar an den in der Freiheitsschrift explizierten internen Dualismus, wenngleich in neuer Terminologie, anknüpft. Ohne die Ausdrücke ‚Grund von Existenz‘ und ‚Existierendes‘ erneut zu gebrauchen, aber unter Rückgriff auf dieselben Charakterisierungen, legt Schelling nun dar, dass in uns wie in Gott gleichermaßen „zwei Prinzipien, ein bewusstloses, dunkles und ein bewusstes“ (AA II,8, 96/SW VII, 433) vorhanden seien. Die weiteren Charakterisierungen des Bewusstlosen, Dunkeln als realem Prinzip, Objektseite, Materie, als Irrationalem und Niederem, Egoität und Eigenwille, des bewussten Prinzips hingegen als Höherem, Idealem, Rationalem, Lichten und Subjektiven, Universalwille und Prinzip der Liebe entsprechen der sachlichen und metaphorischen Darstellung der Freiheitschrift. 19 Die direkteste Anknüpfung an die Grund-von-Existenz/Existierendes-Terminologie ist darin zu sehen, dass Schelling einerseits das Reale als „Basis oder Unterlage“ (AA II,8, 106/SW VII, 438) und als Sein in Gott, das Ideale hingegen als den Seienden, existierenden Gott selbst bezeichnet, mit dem Ergebnis: „Demnach verhalten sich die beiden Prinzipien in Gott wie Seiendes und Sein“ (AA II,8, 100/SW VII, 436); ‚Sein‘ und ‚Seiendes‘ werden somit zu den direkten terminologischen Neufassungen für ‚Grund von Existenz‘ und ‚Existierendes‘. Die wissenschaftliche Darstellung dieses Verhältnisses versucht dasselbe von dem Grundtatbestand der Identität des Realen und Idealen her mit formalen Mitteln zu entwickeln. Diese Identität bezeichnet Schelling nun des Näheren als eine „wesentliche Einheit“ (AA II,8, 70/SW VII, 422); damit soll gesagt sein, dass das Reale und Ideale weder numerisch noch logisch Eins seien, sondern dass sie als die verschiedenen Formen eines Wesens zu betrachten seien. Zur Erläuterung greift Schelling hier auf das Mittel der Buchstabennotation zurück und stellt das Verhältnis verschiedener Formen bei wesentlicher Einheit mittels der Formel 19

Vgl. auch Gourdain 2014, hier: 91.

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Kap. 6: Die Philosophie des internen Dualismus

[fig. 2 = AA II,8, 70/SW VII, 422] A B¼C dar. Dabei steht A für das gemeinsame Wesen, B und C für die verschiedenen Formen des Realen und Idealen. In der Formel ausgedrückt sein soll zweierlei: Erstens, dass Ideales und Reales nur verschiedene Formen desselben Wesens seien und zweitens, dass sie ontologisch diesem Wesen nachgeordnet sind, „nur untergeordnete Formen des eigentlichen Ur-Wesens“ (ebd.); in der Formel kommt diese Unterordnung dadurch zum Ausdruck, dass sie unterhalb der Trennlinie stehen. 20 Schelling verknüpft dieses Darstellungsschema nun wieder mit der schon seit 1801 feststehenden Ausdrucksweise, nach welcher ‚A = A‘ Identität im Sinne der Sichselbstgleichheit des Identisch-Einen A, und ‚A = B‘ Differenz bedeuten. Ziel hierbei ist es, durch Kombination der formalen Ausdrücke eine Formel zu erhalten, welchen den Gedanken der „Einheit des Gegensatzes und der Entzweiung“ (AA II,8, 80/SW VII, 425) zu explizieren vermag. Hierzu gebraucht Schelling die Ausdrücke A und B zur Bezeichnung von Subjekt und Objekt, so dass mit der angesetzten Differenzierung von A und B zugleich die Grundstruktur von Bewusstsein, nämlich die in eine je aufeinander bezogene Objekt- und Subjektseite differenzierbare Einheitsstruktur entsteht, bei welcher das Subjekt A „in A = B ein Objekt, einen Spiegel“ (ebd.) hat. Diese allgemeinste Struktur von Bewusstsein überhaupt ist zugleich das postulierte Urwesen, insofern es als eine übergreifende, in sich gegliederte Einheit den allumfassenden Identitätsgedanken unter idealistischen Voraussetzungen einlöst, nach welchem alle Differenz nur aus der ursprünglichen Unterscheidung einer Subjekt- und Objektseite innerhalb der übergreifenden Einheit des Bewusstseins verortet werden kann. Schellings schwieriger Gedanke in der direkten Zusammenführung obiger Formel, welche mit A, B und C ein gemeinsames Wesen bei verschiedener Form darstellt, mit der durch die Ausdrücke A und B beschriebenen ursprünglichen Differenz des Subjektiven und Objektiven besteht nun darin, dass er den Ausdruck ‚B = C‘ unterhalb der Trennlinie durch ‚A = B‘ ersetzt, so dass folgende Formel entsteht:

20 Auch hier ist demnach der Missverstand zu vermeiden, dass es sich in der Darstellung um einen mathematischen Bruch handle, bei welchem A der Zähler, B = C der Nenner sei – auch wenn Schellings Darstellung irritierender Weise hier und im Folgenden einer solchen gleicht.

II. Die Stuttgarter Privatvorlesungen (1810)

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[fig. 3, AA II,8, 80/SW VII, 425] A A¼B Die Schwierigkeit dieser Formel besteht in der gewollten Überlastung des Ausdruckes ‚A‘, der einerseits (oberhalb der Trennlinie) das gemeinsame Wesen von A und B, andererseits aber auch (unterhalb der Trennlinie) A im Unterschied zu B ausdrücken soll. Der Grund dafür, dass Schelling auch unten, im Bereich der Verschiedenheit der Formen, den Ausdruck ‚A‘ verwendet, liegt darin, dass damit gezeigt sein soll, dass diese Verschiedenheit zugleich in einer aus der Einheit entwickelten Zweiheit bestehen soll – d. h. in einem A = B-Verhältnis der Verschiedenheit, das aus der Einheit A über die Zwischenstufe des Ausdrucks ‚A = A‘, der die Sichselbstgleichheit des A expliziert, erzeugt wurde. Mit ‚A = B‘ soll nicht eine beliebige Verschiedenheit zweier Glieder, sondern die erste, ursprüngliche Differenz angezeigt werden, die unmittelbar aus der Einheit (durch Setzen einer Objektseite als eines Gegenübers) entsteht. Das hierdurch in der Formel ausgedrückte Verhältnis von A zu A = B löst Schellings vielfach formulierten Gedanken ein, dass ursprüngliche Differenz innerhalb des Identitätsgedankens nicht nur Einheit in der Differenz, sondern „Identität der Einheit und des Gegensatzes“ (AA II,8, 118/SW VII, 445) 21 bedeuten müsse. Es ist, um auf eine erhellende Metapher des Bruno zurückzugreifen, „das auseinandergezogene Bild […] der inneren Verhältnisse des Absoluten“ (AA I,11,1, 386/SW IV, 264), in welchem das ‚Gerüst‘ dieser Verhältnisse anschaulich wird. Diese Grundstruktur kombiniert Schelling nun mit dem Organismus-Gedanken, nach welchem „in A und B wieder das Ganze“ (AA II,8, 80/SW VII, 425), d. h. in den Strukturelementen des Ganzen das Ganze wiederum strukturell enthalten ist. Demnach ist in den Differenzmomenten A und B der Differenzformel ‚A = B‘ wiederum die Gesamtstruktur der Einheit von Einheit und Gegensatz enthalten: „unter B wieder B, d. h. Reales, A, d. h., Geistiges, und die Einheit beider wieder begriffen […]. Ebenso unter A“ (AA II,8, 80/SW VII, 426). Umgekehrt ist so in A und B über ihre internen Strukturen das ursprüngliche Wesen eingeprägt. Diese beiden nun skizzenhaft nachgezeichneten Darstellungen der allgemeinen Ontologie in den Stuttgarter Privatvorlesungen entsprechen in den Grundzügen den Ontologien der eigentlichen identitätsphilosophischen Phase und 21 Vgl. Bruno AA I,11,1, 362/SW IV, 239 und AA I,11,1, 415/SW IV, 295, und den ersten Weltalterentwurf W 63, wo Schelling je formuliert: „Einheit der Einheit und des Gegensatzes“, sowie Fernere Darstellungen AA I,12,1, 164/SW IV, 431 und Ideen zu einer Philosophie der Natur, 2. Aufl., AA I,13, 261/SW II, 226, wo Schelling jeweils formuliert: „Einheit der Einheit und der Vielheit“. Auf die Herkunft dieser Formel in Hegels Differenzschrift wurde bereits hingewiesen.

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Kap. 6: Die Philosophie des internen Dualismus

der Freiheitsschrift. Dabei wurde der Unterschied zwischen der formalen, statischen und wertneutralen Darstellung der Seinsstrukturen des Absoluten und der dynamischen, eine hierarchische Seins-Entwicklung und Moralität vorprägenden Darstellung deutlich. Während in der Verhältnisformel von der ‚Einheit der Einheit und der Vielheit‘ die Stellungen des Realen und Idealen symmetrisch veranlagt waren, durchbricht die Lehre des ‚internen Dualismus‘ schon mit seiner Metaphorik eines tieferen und höheren, einer dunkeln Basis und eines hieraus erhobenen Lichten und ihrer Möglichkeiten der Verkehrung die wertneutrale Perspektive der wissenschaftlichen Darstellung zugunsten einer dynamischen Entfaltung von Seinsstufen in einer moralischen Welt. Als die verbindenden Theorieelemente führt Schelling zwischen diesen beiden Darstellungen eine erneuerte Theorie der Potenzen ein, die an erster Stelle den für den internen Dualismus wichtigen „Unterschied der Dignität“ (AA II,8, 82/SW VII, 427) zwischen dem höheren Idealen und dem Realen als dessen Basis bezeichnet.

3. Der „für das Ganze höchst wichtige Begriff der Potenzen“ (AA II,8, 82/SW VII, 427) Diesen Unterschied des Wertes, ja der Würde, findet sich im Muster von höherer Potenz als einer höheren organischen Entfaltungsstufe eines Selben, d. h. im Muster der Selbstreduplikation wieder, das Schelling schon in der frühen Naturphilosophie häufig mit reflexiven Formulierungen wie dem eines ‚Konstruierens des Konstruierens‘ gefasst hatte. In den Stuttgarter Privatvorlesungen entwickelt er diesen Gedanken vor seinen Zuhörern neu anhand der Überlegung, dass sich das Reale als Sein, das Ideale hingegen als Position (Setzung) des Seins verhalte, worin erneut der fichteanische Gedanke des Objektiven als einer (Entgegen-) Setzung des Subjektiven aufscheint. Nun hebt Schelling hervor, dass das Sein selbst bereits eine Position sei, womit der anti-fichteanische Gedanke ausgesprochen ist, dass das Objektive sich nicht lediglich einer Setzung durch das Subjekt verdankt, sondern bereits gesetzt ist, also eine eigenständige Realität mit sich führt. Daher, so führt Schelling diesen Gedanken fort, sei „die Position des Seins eine Position der Position, d. h., eine Position der zweiten Potenz“ (AA II,8, 82/SW VII, 427). Demnach ist die Seite des Objekts oder realen Seins bloße Position oder erste Potenz, das Subjektive oder Ideale hingegen zweite Potenz. Zur Bezeichnung beider Potenzen greift Schelling auf die formelhaften Ausdrücke des naturphilosophischen Teils der Darstellung meines Systems zurück, nach welchem er die erste Potenz mit ‚A = B‘, die zweite hingegen mit ‚A2‘ gekennzeichnet hatte; auf die mit dieser asymmetrischen Bezeichnungsweise einhergehenden Schwierigkeiten innerhalb des statisch und symmetrisch veranlagten Identitätssystems entlang der Seinslinie wurde dort bereits hingewie-

II. Die Stuttgarter Privatvorlesungen (1810)

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sen. Auch hier ist die Zuordnung mit systematischen Schwierigkeiten behaftet, ja sie wirkt letztlich gezwungen und lässt sich als der Versuch verstehen, in der Notation der Potenzen an ihre erste Darstellung von 1801 anzuknüpfen. Denn wenn das Sein bereits für sich eine Position ist, d. h. bereits gesetzt ist, so zieht seine zusätzliche Setzung durch die subjektive Seite keine reflexive Verdoppelung auf der Seite des Subjekts nach sich, das lediglich setzend ist, sondern auf der Seite des Realen, insofern hier ein Gesetztes erneut gesetzt wird. Allerdings kann Schelling für die neuen Zwecke einer dynamischen Ontologie des internen Dualismus die in diesen Bezeichnungen angelegte Asymmetrie fruchtbar machen. Ehe wir diesen Schritt näher beleuchten, ist noch zweierlei zu beachten: (1) Schellings formelhafte Integration der beiden Potenzen in eine dritte Potenz. Und (2) die missverständliche Vieldeutigkeit im Ausdruck ‚A = B‘. 1) Die übergreifende Einheit der beiden Potenzen bezeichnet Schelling wiederum als Potenz; in der bekannten dialektischen Manier ist sie die dritte Potenz, welche die beiden ersten in sich vereinigt: Sie ist „als gemeinschaftliche Position der ersten und der zweiten Potenz […] A3“ (AA II,8, 82/SW VII, 427). Ihr formelhafter Ausdruck ergibt sich darüber, dass die beiden ersten Potenzen A = B und A2 unter A3 als deren gemeinschaftliches Wesen in die formale Notation von Einheit und Differenz, A A¼B eingeschrieben werden, so dass sich folgende nach Potenzen weiter ausdifferenzierte Formel für die nun sichtbar werdende Einheit der dritten Potenz ergibt: [fig. 4 = AA II,8, 82/SW VII, 427] A3 A ¼ ðA ¼ BÞ 2

Hiermit ist zunächst im Sinne des Identitätssystems gesagt, dass Reales (= erste Potenz) und Ideales (= zweite Potenz) in der Identität (= dritte) Potenz zur Einheit gebracht werden. Wenn man das Steigerungsmerkmal der reflexiven Wiederholung, das Schelling dadurch, dass er die dritte Potenz als ‚Position der ersten und zweiten Potenz‘, hervorhebt, allerdings ernst nimmt, dann bedeutet dritte Potenz hier zudem, dass es sich um die integrative Einheit der Position einer Position (nämlich des B), sowie der Position der Position einer Position handelt, nämlich der Position der Position des B durch A. Übertagen auf die Blickbahn des Bewusstseins, bezogen auf dessen Konstitutionsfunktionen die Redeweise von ‚Position‘ hier erst ihren Sinn erhält, beinhaltet dies die Explikation der höchst bedeutsamen Bewusstseinsstruktur, dass es eine Einheit des Geistes gibt, die

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darin besteht, dass das durch Setzen des Objektiven gespiegelte Selbstverhältnis des Subjektiven diesem zugleich als Einheit des Bewusstseins zu Bewusstsein kommt. 22 2) Schelling gebraucht den Ausdruck ‚A = B‘, hier zur Bezeichnung der ersten Potenz, bereits zum wiederholten Mal – allerdings je in verschiedener Bedeutung. In der Identitätsphilosophie von 1801 war ‚A = B‘ zunächst der Ausdruck für Potenz überhaupt im Sinne einer quantitativen Differenz, d. h. eines relationalen Übergewichts des Realen oder Idealen zueinander gewesen. In diesem Sinne waren alle Potenzen, auch die höheren, Formen des ‚A = B‘ im Kontrast zum ‚A = A‘ als der Identitätsformel gewesen. Darüber hinaus bezeichnete ‚A = B‘ jedoch im Speziellen die Seite des Realen, Objektiven, im Gegensatz zum Idealen, in etwa des Lichts innerhalb der Naturmetaphysik, das dort bereits die Bezeichnung des ‚A2‘ erhalten hatte. In den Vorlesungen von Stuttgart nun hatte ‚A = B‘ zunächst ebenfalls Differenz bezeichnet – ohne dass diese allerdings ‚Potenz‘ genannt worden wäre, da bloße Differenz in sich noch keinen intrinsischen Bezug auf ein Höheres hatte. Erst mit der sachlich etwas ganz anderes meinenden Benennung des Objektiven oder Realen erhielt der Term ‚A = B‘ die Bedeutung einer ersten Potenz. Dass Schelling hier nun das Reale nicht lediglich mit ‚B‘ bezeichnet, sondern auf den Ausdruck ‚A = B‘ als erster Potenz zurückgreift, gründet in der Überlegung, dass B innerhalb des Gedankens der Position kein ontologisch Selbstständiges ist, sondern immer nur durch Setzung von A auftreten kann: „Das reale Sein ist also immer nur A in B oder unter dem Exponenten von B“ (AA II,8, 82/SW VII, 427). Dass Schelling dies dann allerdings mit ‚A = B‘ und nicht mit ‚AB ‘ ausdrückt, was die Formulierung ‚A unter dem Exponenten von B‘ richtig in der Formelsprache wiedergeben würde, scheint eher dem Umstand geschuldet, dass Schelling die Potenzenexplikation in der Tradition der Darstellung meines Systems fortführen möchte, als dass dies sachlich gerechtfertigt wäre. Wenn ‚A = B‘ hier A in B (bzw. unter dem Exponenten von B) bedeutet, dann erhält umgekehrt das Gleichheits- oder Verbindungszeichen ‚=‘ eine neue Bedeutung. 23 Dasselbe gilt in noch verschärftem Maße für die Bezeichnung „A2 = zweiter Potenz“ (ebd.) für das A, d. h. die ideale Seite, insofern Schelling diese Bezeichnung damit begründet, dass A „als Position der ersten 22 Soweit ich es überblicke, greift Schelling auf die besprochene komplexe Formel für den Geist nur noch einmal in dem Fragment Zur Strukturtheorie des Absoluten (SA, 45) zurück. Dort betont Schelling die Unselbständigkeit der einzelnen Potenzen, die gleichsam miteinander verschmolzen sein müssten, um freier Geist sein zu können: sie müssten „in Einem Punkte, nicht außer einander (in extenso) sondern in einander (in intenso)“ sein. 23 Vgl. auch hierzu Zur Strukturtheorie des Absoluten, wo Schelling gleichfalls mit der Formel ‚A = B‘ den analogen Gedanken bezeichnet, dass im Stand der ersten Potenz A „hier das Eingeschlossene Befangene [sei], der Wille oder die Begierde aber (B) das Einschließende Umfangende“ (SA, 44).

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Potenz diese idealiter in sich enthalten“ (ebd.) müsse, was aber eher einer Darstellung wie ‚BA ‘ oder, insofern die erste Potenz bereits mit ‚A = B‘ bezeichnet A war, von ðA ¼ BÞ entsprechen würde. Demnach gilt auch für die formelhaften Ausdrücke zur Bezeichnung der ersten und zweiten Potenz in den Stuttgarter Privatvorlesungen, dass diese nicht als strenge Formeln mit einer gediegen definierten Funktion oder Bedeutung verstanden werden dürfen, und auch keinesfalls als Eigennamen, deren Bedeutung invariabel feststünde, sondern eher als immer wieder neu und mit einer gewissen begrifflichen Freiheit unternommene Illustrationsversuche für abstrakte metaphysische Zusammenhänge. Die Vieldeutigkeit des Ausdrucks ‚A = B‘ soll hierfür lediglich ein Beispiel geben. Kommen wir von hier aus zurück auf die Frage, wie Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen das Modell von Potenz, insbesondere in seiner asymmetrischen Ausprägung, nutzt, um den grundsätzlich symmetrischen und wertneutralen Ansatz des Identitätssystems mit dem asymmetrischen und wertbehafteten Ansatz der Freiheitsschrift zu verbinden. Hierzu ist zu sehen, dass Schelling nun die Dimensionen des Realen, Idealen und Identischen, und damit einhergehend die Terminologie von erster, zweiter und dritter Potenz, unmittelbar auf die Grund/Existierendes-Konstellation im Sinne der Struktur des inneren, persönlichen Lebens des Göttlich-Absoluten überträgt, wodurch zugleich die interne Dualität in Gott in deutlicheren Konturen als in der Freiheitsschrift zu einem trinitarischen Verhältnis dreier Potenzen umgewandelt wird. „Das Reale in Gott“, führt Schelling aus, „ist das Sein oder die Existenz, das Ideale ist das Existierende, das, worin Reales und Ideales eins sind, der wirklich-existierende, lebendige Gott“ (AA II,8, 90/SW VII, 430). Die in der räumlichen Metapher des Realen als eines Tieferen im Sinne von Grund, Basis oder Unterlage und des darauf erhobenen Idealen enthaltene Hierarchie deutet Schelling im Sinne der höheren Werthaftigkeit des Idealen, die in ihrer dritten Potenz., d. h. ihrer Vereinigung im Geist überhaupt seinen höchsten Rang erreicht. Demgegenüber betont Schelling allerdings im Sinne der Naturphilosophie und der Ursprünglichkeit des Grundes im internen Dualismus, dass das Reale logisch dem Idealen vorhergehe: es ist „naturâ prius, das Ideale posterius“ (AA II,8, 82/SW VII, 427). Diese logische Vorrangigkeit ist allerdings nicht ontologisch und schon gar nicht zeitlich, im Sinne eines zuerst Bestehenden zu verstehen. Die Potenzen bestehen in durchgängiger Wechselabhängigkeit, das „Band[.] der Potenzen“ (AA II,8, 84/SW VII, 428) kann nicht zerschnitten werden; mit der Setzung einer Potenz ist auch die Setzung der anderen verbunden. Dies heißt aber zugleich, dass die Potenzen bis zu diesem Moment ihrer Entwicklung lediglich den logischen Raum, die metaphysische Grundlage des Wirklichen beschreiben, noch nicht aber als tragende Elemente der göttlichen oder menschlichen Wirklichkeit zu verstehen sind. Den Übergang zu dieser

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Wirklichkeit versteht Schelling nun als Selbstoffenbarung Gottes, die dadurch zustande kommt, dass Gott die in ihm angelegten Potenzen aktualisiert. Genau gesprochen, setzt Gott sich selbst in Wirklichkeit, „Gott macht sich selbst“ (AA II,8, 94/SW VII, 432) und in eins damit den Menschen und die Welt außer ihm, indem Gott in sich „diese Priorität der ersten Potenz als eine wirkliche setz[t] [und] die Simultaneität der Prinzipien“ (AA II,8, 84/SW VII, 428) in ihm aufhebt. Dies geschieht mittels der Figur einer Selbstbeschränkung Gottes auf seinen realen Grund, wodurch in ihm „die Verkettung oder Kohärenz derselben [= der Potenzen] verwandelt“ (ebd.) wird zu der aus der Freiheitsschrift bereits bekannten Idealstellung, in welcher die erste Potenz als die Unterlage für die zweite in der Einheit Gottes als der dritten dient. Für Gott und den Menschen in gleicher Weise gilt, dass die Scheidung des Seienden vom Sein, bei welchem das Sein zum Mittel und Werkzeug des Seienden als seinem Zweck wird, „der höchste moralische Akt ist“ (AA II,8, 100/ SW VII, 436). Dadurch wird die schon in der Freiheitsschift dem Grund zugeordnete Egoität und Selbstheit gleichfalls dem Prinzip des Seins zugerechnet und als ‚erste Potenz‘ bezeichnet: „das Individuelle in Gott [ist] also die Basis oder Unterlage des Allgemeinen“ (AA II,8, 106/SW VII, 438); entsprechendes gilt für die Alterität oder Universalität der Liebe: „Der Egoismus ist = erster Potenz, die Liebe = zweiter oder höherer Potenz“ (AA II,8, 108/SW VII, 439). Insofern der beschriebene Akt der Selbsteinschränkung Gottes zugleich „der Anfang der Schöpfung“ (AA II,8, 86/SW VII, 429) ist, kann Schelling auch die Liebe als das Prinzip der Offenbarung deduzieren: „Die Unterordnung des göttlichen Egoismus unter die göttliche Liebe ist der Anfang der Kreation“ (AA II,8, 108/SW VII, 439). Entsprechend wiederholt Schelling hier seine Theorie des Bösen, die darauf basiert, dass die Stellung der Potenzen, ihre spezifische Konstellation in Hinsicht auf wechselseitige Dominanzverhältnisse verändert werden kann. Dabei gilt: „Die [erste] Potenz des Eigenwillens […] ist nicht an sich selbst das Böse, sondern nur dann, wenn er herrschend wird“ (AA II,8, 158/SW VII, 467); entsprechend beinhaltet das höchste Gute auch den überwundenen Eigenwillen als Basis des Idealen. Mit diesem Grundgerüst einer Metaphysik, die in der Terminologe von Potenzen den formalen Ansatz der Identitätsphilosophie und seine Erweiterung als interner Dualismus miteinander verbindet, entwirft Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen weitere Perspektiven der Wissenschaft, die für die weitere Entwicklung seines Werks und der Theorie der Potenzen in ihm von großer Bedeutung sind: So findet sich in den Stuttgarter Vorlesungen neben einer allgemeinen Theorie des Bewusstseins in der Sprache der Potenzen eine ausführliche Theorie des menschlichen Geistes als einer Verbindung von Geist, Seele und Gemüt sowie Ansätze zu einer Theorie der Geschichte, welche diese ebenfalls unmittelbar aus der Konstellation der Potenzen zu entwickeln versucht.

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Und zudem erneut eine Darstellung der allgemeinen Naturphilosophie im Rückgriff auf die Seinslinie von 1801, nun aber auf der Basis des modifizierten dynamischen Verhältnisses der Potenzen von 1810.

4. Die Naturphilosophie der Stuttgarter Privatvorlesungen Ausgehend vom Gedanken der Schöpfung als einer Scheidung des Realen und Idealen in Gott konzipiert Schelling die Natur als denjenigen Bereich, der als Resultat dieser Scheidung die Seite des Realen einnimmt, ohne dabei selbst den Bezug zum Idealen zu verlieren. Da es gemäß Schellings organischer Konzeption der Natur ohnehin „keine bloß und rein objektive Natur, keine Natur, die bloßes Sein, d. h. Nichtseiendes wäre“ (AA II,8, 118/SW VII, 445) gibt, sondern in jedem Bereich je beide Prinzipien in einer je spezifischen Verbindung miteinander enthalten sind, kann Schelling in der Buchstabennotation der Potenzen die Natur bestimmen als „A und B unter B“ (AA II,8, 108/SW VII, 440), wodurch sich die allgemeine Potenzformel der Stuttgarter Privatvorlesungen in die spezifische Potenzformel der Natur, mit B als Exponentem, verwandeln soll: [fig. 5, AA II,8, 108/SW VII, 440] B A¼B Auch hier sind zunächst die Schwierigkeiten dieses Formel-Ausdrucks zu benennen, die sich einerseits darin zeigen, dass Schelling zuvor ‚A = B‘ als formelhaften Ausdruck für die erste Potenz genannt hatte, im Kontrast zu ‚A2‘ als der zweiten Potenz, welche die Seite des Geistes bezeichnet hatte. Daher hätte die Analogie im Seinsaufbau erwarten lassen, dass der Geist parallel durch ‚A und B unter A‘ bezeichnet worden wäre, was allerdings bei Ersetzung des ‚B‘ durch ‚A‘ oberhalb der Trennlinie zu der bereits genannten allgemeinen Potenzformel (statt der speziellen für die Seite des Geistes) geführt hätte. Wesentlicher als die Buchstabennotation ist daher die metaphysische Konstellation, unter welcher Schelling die Natur als Entfaltung der ersten Potenz in Gott unter dem Exponenten von B versteht. Schelling beschreibt dies als einen dreifachen Vorgang der Trennung und Neubeziehung: Einerseits wird aus dem amorphen Urzustand Gottes vor der Schöpfung das Reale ausgeschieden und von dem Idealen so getrennt, dass es als Grund und Unterlage dienen kann. Zweitens bleibt hierbei Ideales im Realen verborgen enthalten, das dann drittens seinerseits dadurch aus diesem erhoben, d. h. in Bezug gesetzt wird zum Idealen und Göttlichen. Aus der Perspektive der beiden Potenzen in Gott schildert Schelling diesen Vorgang folgendermaßen:

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Gott schließt das B von sich, d. h. von A aus; aber er kann das B nicht ausschließen, ohne ihm A entgegenzusetzen, A nicht entgegensetzen, ohne B zu erregen. (AA II,8, 108/ SW VII, 440)

Hierdurch wird „aus der Natur selbst das A2 emporgehoben“ (AA II,8, 120/ SW VII, 446), so dass sich ein Zustand dauerhafter Schöpfung ergibt, in welchem die göttliche ‚Kraft‘ kontinuierlich die Natur aus ihrem Zustand der Verschlossenheit zieht. Erst das Resultat dieses Vorgangs ist die Natur im Sinne der sichtbaren, objektiven Welt. Daher ist zu unterscheiden zwischen der ersten Potenz als der Natur in Gott und der wirklichen, erscheinenden, „sichtbaren Natur [die] nur durch ihre Form Natur, durch ihr Wesen aber göttlich“ (AA II,8, 110/SW VII, 441) und welche „ganze[.] Natur = erster Potenz“ (AA II,8, 120/SW VII, 446) ist. Nicht ganz klar ist hierbei, mittels welcher Ausdrücke Schelling auch diese als ‚erste Potenz‘ bezeichnet. So heißt es in AA II,8, 118/SW VII, 446: Der allgemeine Ausdruck der Natur ist, wie wir schon wissen, B A¼B oder auch, da wir A = B schon als erste Potenz, also = B setzten: die Natur in Bezug auf das ganze Universum […] ist = erster Potenz = (A = B).

Unklar bleibt hierbei die Bezeichnungsweise schon deshalb, weil Schelling einerseits auf die alte Formel ‚A = B‘ zur Bezeichnung der ersten Potenz zurückgreift, diese aber andererseits noch im selben Satz mit ‚B‘ bezeichnet. Die sichtbare Natur verfasst Schelling wiederum organisch, so dass sie als erste Potenz „in sich wieder alle Potenzen“ (ebd.) enthält. Dabei folgt die Darstellung dieses inneren Aufbaus der Natur teils der Naturphilosophie des Identitätssystems, bei welchem die Natur aus der polaren (magnetischen) Seinslinie heraus entwickelt wurde. So stehen auch hier nun „die körperlichsten Dinge […] auf dem B Pol unserer Linie“ (ebd.) Andererseits operiert Schelling mit dem Modell der Potenzendominanz und bezeichnet als „Potenz des herrschenden Seins oder der herrschenden Körperlichkeit“ (AA II,8, 120/SW VII, 446 f.) die erste Potenz innerhalb der Natur. Diese erste Potenz innerhalb der Natur, das Materie-Prinzip, enthält zuletzt seinerseits die drei räumlichen Dimensionen, die Schelling wiederum nach dem Muster der Potenzen, nun aber im Sinne des internen Dualismus, benennt: er spricht von der Länge als der egoistischen Dimension, der Breite als der idealen Dimension und der Indifferenz als der dritten Dimension (Vgl. AA II,8, 120/SW VII, 447), was als Versuch verstanden werden kann, die verschiedenen Potenzkonzepte an dieser Stelle zusammenzuführen.

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5. Die Theorie des Geistes und des Bewusstseins Schelling entwickelt in den Stuttgarter Privatvorlesungen in der neuen Metaphysik der Potenzen sowohl eine Theorie der Entstehung des sowohl menschlichen wie göttlichen Bewusstseins im allgemeinen Sinn, als auch eine anthropologische Entfaltung der Schichten und Dimensionen des menschlichen Bewusstseins als psychologische Grundtheorie des Geistes im speziellen Sinn. 1) In der Grundtheorie über die Entstehung des Bewusstseins verbindet Schelling idealistische Elemente der konstitutiven Setzungstätigkeiten des Bewusstseins, wie er sie von Fichte herkommend im System des transzendentalen Idealismus zur vollen Entfaltung gebracht hatte, mit der Theorie von den zwei Prinzipien in Gott und ihrer Scheidung als Anfang des Bewusstseins und der Schöpfung. Dabei beschreibt Schelling die Genese des Bewusstseins nicht als ein sukzessives, funktionelles Fortschreiten eines Bewusstwerdungsprozesses, bei welchem sich die konstruktiven Elemente nach und nach aus ihren Urfunktionen erzeugten – wie dies dem idealistischen Ansatz des Systems von 1800 entsprechen würde. Sondern Schelling beschriebt den Bewusstwerdungsprozess nun als Ausdifferenzierung einer ursprünglich unbewussten Totalität, „worin noch alles ungetrennt beisammen ist“ (AA II,8, 94/SW VII, 432). Gott als Absolutes wird in diesem Zustand beschrieben als „ein stilles Sinnen über sich selbst [in einem Zustand der] Gleichgültigkeit der Potenzen in ihm“ (AA II,8, 94/SW VII, 432 f.). Menschliches wie göttliches Bewusstseins fängt nun damit an, dass die beiden Prinzipien des Realen und Idealen, d. h. die erste und zweite Potenz auseinandertreten – und zwar so auseinandertreten, dass einerseits „wir uns in uns selbst scheiden, […] und mit dem besseren Teil von uns selbst über den niedrigeren erheben“ (AA II,8, 96/SW VII, 433) und dadurch der „zwei Prinzipien in uns gewahr werden“ (ebd.). Wichtig hierbei ist, zu sehen, dass dieser Bewusstwerdungsprozess als Selbstausdifferenzierung nun sich innerhalb des Schemas von Sein und Seiendem, von erster und zweiter Potenz bewegt und daher auf Grund der ontologischen Priorität bei axiologischer Nachrangigkeit des Grundes (= der ersten Potenz) beschrieben wird als eine Erhebung der zweiten (höheren) Potenz aus der ersten. Diesen Scheidungsprozess beschreibt Schelling mittels des bereits in System des transzendentalen Idealismus erprobten Modells des Bewusstseins als einer Durchdringung kontraktiver und expansiver Kräfte so, dass die Trennung von Licht und Dunkel als ein Vorgang der Kontraktion der ersten Potenz bei gleichzeitiger Expansion der zweiten sichtbar wird. Es ist eine Selbst-Zurückdrängung und Absonderung der ersten Potenz durch welche zugleich, bildlich gesprochen, ‚Raum‘ für die Expansion der zweiten frei gegeben wird: Er [= Gott] hat ein Höheres und Niedereres in sich – was wir […] durch den Begriff der Potenzen bezeichneten. […] Mit dem anfangenden Bewusstsein […] setzt [Gott] sich

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selbst (zum Teil) als erste Potenz, als Bewusstloses, aber er kann sich nicht als Reales kontrahieren, ohne sich als Ideales zu expandieren, sich nicht als Reales, als Objekt setzen, ohne zugleich sich als Subjekt zu setzen (ohne dadurch das Ideale frei zu machen); und beides ist Ein Akt. (AA II,8, 96/SW VII, 433 f.) 24

Diese Passage zeigt in gedrängtester Form, wie Schelling zugleich viererlei Modelle zu einer neuen Theorie zusammenführt: Das idealistische Modell, das in den Ausdrücken des ‚Setzens‘ eines Subjekts und Objekts zur Sprache kommt, das Modell des internen Dualismus, das in der Hierarchie des Höheren und Niederen zur Sprache kommt, das aus der Naturphilosophie entstammende Modell von Kontraktion und Expansion und schließlich das mystische Modell der Selbstbeschränkung Gottes, das in der Kontraktion Gottes auf das Reale sichtbar ist. Zugleich und zuletzt werden diese ineinander geschobenen Modelle mit der Terminologie der Potenzen zusammengeführt. Wesentlich hierbei für die gegebene Untersuchung und Schellings weitere Entwicklung einer Potenzentheorie des Bewusstseins ist, dass Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen wie gesehen eine klare inhaltliche Zuordnung von einer ersten und zweiten Potenz zu den wechselabhängigen Seinsmomenten des Realen und Idealen in ihrer spezifischen Stellung des internen Dualismus durchführt und dass er dieses metaphysischen Grundmodell dynamisch aufeinander bezogener Potenzen zugleich anwendet, um aus ihm eine Theorie des Bewusstseins, und damit zuletzt des als absolutem Geist verstandenen Absoluten – Gottes – zu entwickeln. 2) Ausgehend von diesem Modell eines allgemeinen Bewusstseins präsentierten die Stuttgarter Privatvorlesungen eine psychologische Theorie der Schichten des menschlichen Bewusstseins im Speziellen. Hierbei entwickelt Schelling zunächst eine Bildungsperspektive des Geistes und sodann eine detaillierte psychologische Theorie aufeinander bezogener Kräfte und Schichten des menschlichen Geistes. 24 In diesem Modell der Kontraktion oder Selbsteinschränkung Gottes ist, wie vielfach bemerkt wurde, der Einfluss der über Oetinger vermittelten jüdischen Mystik auf Schelling spürbar, insbesondere die Vorstellung einer ‚Zimzum‘ genannten Zusammenziehung Gottes (vgl. Müller-Lüneschloß 2016, XXXVI). Allerdings ist zu bemerken, dass Schelling das Begriffspaar Kontraktion und Expansion schon früher gebrauchte, und zwar sowohl innerhalb der Naturmetaphysik (vgl. z. B. AA I,7, 247/SW III, 241), dort gleichbedeutend mit den von Kant übernommenen Termini der Attraktion und Repulsion, als auch zur Konstruktion des Geistes und seiner Inhalte (vgl. AA I,4, 123/SW I, 396, wo es heißt: „die Welt selbst besteht nur in [der] steten Expansion und Kontraktion des Geistes“ und: „Das […] Ich ist […] in einen beständigen Zustand der Expansion und Kontraktion versetzt“ (AA I,9.1, 127/SW III, 432)). Dieser Hinweis ist deshalb wichtig, weil er den interpretativen Blick offen lässt für Schellings Übertragung von Theoriemomenten aus der Dynamik der metaphysischen Grundprinzipien der Naturphilosophie in die mit den Stuttgarter Privatvorlesungen einsetzende Potenzendynamik, welcher unter der Annahme, Schelling hätte hier mit der Kontraktion Gottes ein ganz neues Moment in seine Philosophie eingeführt, verschlossen bliebe.

II. Die Stuttgarter Privatvorlesungen (1810)

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Die Bildungsperspektive besteht darin, dass Schelling hervorhebt, dass mit der einmal vollzogenen Scheidung der Potenzen zwar überhaupt Bewusstsein vorhanden sei, dieses damit aber noch nicht seine höchsten Entwicklungsstufen erreicht habe. Die Möglichkeit einer fortgesetzten Selbstbildung im Sinne der Vergeistigung besteht nun darin, dass der dunkle, unbewusste Grund als zunächst konstitutive Unterlage des Bewusstseins zugleich in einem kontinuierlichen, wenngleich unabschließbaren Prozess, bei welchem immer ein dunkler Rest als Basis bleibt, selbst bewusst gemacht, d. h. in den Bereich des Rationalen heraufgebildet werden kann – womit zugleich deutlich Grundannahmen der Psychoanalyse als eines Aufdeckungs- und Rationalisierungsprozesses unbewusster Persönlichkeitsmomente vorweggenommen sind. Ein eigentlich anthropologisches oder psychologisches Schema 25, nämlich die „Betrachtung des menschlichen Geistes […] nach seinem inneren Wesen und nach den Kräften und Potenzen, die auch im Einzelnen liegen“ (AA II,8, 154/SW VII, 465), führt Schelling mittels des organischen Modells dreier Potenzen des Geistes vor, nach welchem in jeder einzelnen Potenz wieder alle Potenzen in der entsprechenden Ordnung enthalten sind: „Im menschlichen Geist als solchem sind wieder drei Potenzen oder Seiten. […] In jeder von diesen dreien aber sind wieder drei Potenzen“ (ebd.). Hierbei ist unmittelbar zu bemerken, dass Schelling hier auf das Muster zurückgreift, das die Potenzenordnung der Künste in der Philosophie der Kunst oder der allgemeinen Metaphysik der Natur im ‚Würzburger System‘ geprägt hat: das Modell einer AspektTheorie organisch ineinander gefügter Potenzen, das hier nicht nur in der im Einzelnen sich wiederholenden Gliederung des Ganzen, sondern auch darin sichtbar wird, dass Schelling mehrfach (AA II,8, 154; 158/SW VII, 465; 467) von Potenzen als „Seiten“, d. h. als demjenigen, was sich unter einer bestimmten perspektivischen Ansicht zeigt, spricht. Zudem sieht er diese Seiten ihrerseits in einer dreigliedrigen Stufen-Ordnung einer tieferen, mittleren und höheren Potenz. Die Interpretationsfrage, die sich neben der Frage nach der inhaltlichen Ausgestaltung dieses Schemas stellt, ist daher, inwiefern Schelling dieses Modell mit dem auf einem ganz anderen Grundmodell von Potenz, nämlich dem des internen Dualismus, ausgeführten Grundmodell von Bewusstsein zusammenführen kann (oder ob zuletzt beide Modelle, das Bewusstseinsmodell und das psychologische Schema in den Stuttgarter Privatvorlesungen mehr oder weniger zusammenhangslos nebeneinander stehen). Tatsächlich erweist sich der Versuch, beide Theorien miteinander zu verbinden, als schwierig. Denn Schellings psychologisches Schema dreier Potenzen 25 Schelling benennt dieses Schema in den Stuttgarter Privatvorlesungen nicht eigens. Es kann aber als Vorstufe dessen gelten, das er später als ‚anthropologisches‘ und ‚psychologisches Schema‘ bezeichnet; vgl. hierzu die Anmerkung 89 der Herausgeberin, Müller-Lüneschloß 2016, 167, entsprechend in AA II,8, 227.

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weicht deutlich von den dialektischen Vorgaben des Verhältnisses von Realem als erster und Idealem als zweiter Potenz in der hierarchischen Stellung des internen Dualismus ab, bei welchem die dritte Potenz als umgreifende Einheit verstanden wurde. So untergliedert Schelling den „Geist[.] im Allgemeinen“ (AA II,8, 154/ SW VII, 465) in die drei Potenzen des Gemüts als erster Potenz, des Geistes im engeren Sinn, den Schelling auch als ésprit bezeichnet, als zweiter Potenz und der Seele als dritter Potenz. Insofern hierbei gilt, dass das Gemüt das reale und dunkle Prinzip, die Seele das ideale und höchste sei, der Geist im Sinne des ésprit hingegen die „mittlere oder zweite“ (ebd.) ist, fällt unmittelbar auf, dass das metaphysische Grundschema der dialektischen Grundlehre des internen Dualismus nicht beibehalten wird. Denn erstens widerspricht die Zuordnung des Ideellen als dritter Potenz der dortigen Festlegung desselben als der zweiten Potenz. Zweitens bezeichnet umgekehrt die dritte Potenz dort nicht die ideelle Seite, sondern die Einheit des Ganzen, welche zudem auch nicht als verbindende Mitte der Seiten des Realen und Idealen, sondern als diese umgreifende und synthetisierende Einheit in der dialektischen Formel der ‚Einheit von Einheit und Gegensatz‘ verstanden wird. Schellings von tiefem psychologischen Sinn getragene eigentliche Ausführung dieses Schemas kann hier nur in Hinsicht auf die Frage nach dem Schema der Potenzenhierarchie und seiner Beziehung zur metaphysischen Grundveranlagung der Stuttgarter Privatvorlesungen skizziert werden: Die erste Potenz ist das Gemüt als die reale Seite des Geistes, das seinerseits die Potenzen Gemüt, Geist und Seele enthält, die sich in den Formen der Schwermut (erste Potenz), der bloßen Begierde (zweite Potenz) und des Gefühls (dritte Potenz) zeigen. In diesem Sinne kann Schelling also in etwa das Gefühl als das höchste, seelische der realen, untersten Potenz bestimmen. Die mittlere Potenz ist der Geist im engeren Sinn (ésprit). Ihn bestimmt Schelling nun wieder als Begierde, nach seiner höheren Stellung innerhalb der zweiten Potenz nun aber nicht mehr als bloße blinde Begierde wie innerhalb des Gemüts, sondern als „bewusste Begierde, als Wille“ (AA II,8, 158/SW VII, 467). In dieser erneut an Kant anlehnenden Bestimmung des Willens platziert Schelling den eigentlichen, bewussten Willen in die Mitte zwischen den Eigenwillen (erste Potenz des Geistes) und den Verstand als dritte Potenz des Geistes – eine Zuordnung, die das Konzept der Freiheitsschrift abändert, wo immer Eigenwille und Universalwille (Egoität und Alterität) sich gegenübergestanden hatten. Die höchste Potenz des Geistes im weiteren Sinn ist die Seele, die ihrerseits keine Innenmomente von Potenzen im eigentlichen Sinn mehr hat, wohl aber auf eine besondere Weise sich auf diese beziehen kann. Sie ist das allgemeine, unpersönliche Prinzip im Kontrast zur realen Potenz als Individualisierungsprinzip. Hierdurch konstruiert Schelling Wissenschaft, Kunst und Moral. Die

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Kunst bezieht sich auf die beiden realen Potenzen innerhalb der ersten und zweiten Potenz, auf Sehnsucht und Egoität (‚Selbstkraft‘) als ihren Werkzeugen: Daher ist die Kunst Folge einer besonderen Bezugnahme der Seele auf die genannten Potenzen: „ohne Eigenkraft von der einen und tiefe Sehnsucht von der anderen Seite entstehen Werke ohne Realität; ohne die Seele Werke ohne alle Idealität“ (AA II,8, 164/SW VII, 471). Die Wissenschaft, und zwar die Philosophie als die Wissenschaft im höchsten Sinn, hingegen konstruiert sich durch den Bezug der Seele „auf Gefühl und Verstand, die beiden entsprechenden [höchsten] Potenzen der beiden ersten Potenzen“ (AA II,8, 166/SW VII, 471). Hier versteht Schelling die Vernunft als das Subsumptionsprinzip des (prüfenden) Verstandes unter die Seele, so dass die Vernunft zu einem „Probierstein der Wahrheit“ (AA II,8, 166/SW VII, 472) der Seele wird, während es das Gefühl, wie Schelling dunkel formuliert, zudem braucht als „den Stoff, woraus die Schöpfungen des höheren Wesens gezogen werden“ (ebd.). Wenn sich die Seele schließlich auf besondere Weise auf die beiden mittleren der untergeordneten Potenzen, auf Wille und Begierde als die praktischen Vermögen bezieht, dann entstehen die spezifischen Konstellationen der Moralität. In ausdrücklichem Bezug auf Kant denkt Schelling hier weniger an die Moralität einer einzelnen Handlung, sondern an den moralischen Charakter, d. h. die allgemeine moralische Grundausrichtung oder Tugend eines Menschen. Deren Idealstellung höchster Moralität besteht darin, dass alles Persönliche dem Unpersönlichen untergeordnet ist und im Dienst der Seele steht; demnach ist moralisches Handeln ein Wirken-Lassen der unpersönlichen Seele im Tun. Die Forderung, unpersönlich zu handeln, versteht Schelling, wie die GeorgiiNachschrift zeigt, als Äquivalent zum Kantischen Imperativ, den Schelling als „[H]andeln nach der Tauglichkeit der Maxime zu einer allgemeinen GesetzGebung“ (AA II,8, 167) reformuliert. Hierdurch entsteht auch die Objektivität der Moral, die ihre systematische Entsprechung in der Objektivität der Kunst und Wissenschaft hat. Zuletzt ist die Seele selbst, ohne Bezug auf die niederen Potenzen des Geistes, „der innere Himmel des Menschen“ (AA II,8, 164/SW VII, 471) und damit der Bereich des Religiösen. Über diese Zuordnung kann Schelling das Schema des menschlichen Geistes wieder rückbinden an die allgemeine Metaphysik der Potenzen, insofern gilt: Die Seele ist das Entsprechende des A3, das A3 aber die göttliche Liebe, inwiefern sie das Band der Schöpfung = Identität des Nichtseienden und Seienden, des Endlichen und Unendlichen ist. (AA II,8, 168/SW VII, 473)

So wird zuletzt neben der Unpersönlichkeit und Objektivität die Liebe zum dritten Merkmal eigentlicher Kunst, Wissenschaft, Tugend und Religion. Von hier aus ist nun nochmals die Frage zu stellen, inwiefern sich das nachgezeichnete Potenzen-Schema des Geistes in die Potenzen-Dialektik des inter-

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nen Dualismus fügt. Hierbei wird rasch deutlich, dass Schelling zwar mit dem Rückgriff auf das dreigliedrige, organische Stufen-Modell ein Theorieelement implementiert, das ein hochausdifferenzierendes Strukturmodell des Geistes bildet, aber die Dynamik wandlungsfähiger Dominanzkonstellationen, wie sie Schelling im Verhältnis von Grund und Existierendem bzw. Sein und Seiendem gezeichnet hatte, nicht unmittelbar wiedergibt. Zwar knüpft die Unterordnung der Potenzen, in etwa von Wille und Begierde unter die Seele im Zustand höchster Tugend an den Herrschaftsgedanken an, doch fügt sich die doppelte Unterordnung, nämlich zweier Potenzen unter eine dritte, nicht passgenau in das Modell von Licht und Dunkel, bei welchen nur zwei Prinzipien in wechselseitigen Dominanzverhältnissen standen und das dritte die eher formale Funktion der Bildung einer Gesamteinheit innehatte. Ebenso zeigt sich eine Disanalogie darin, dass im psychologischen Schema einerseits die mittlere (zweite) Potenz die Funktion einer Verbindung von Realem und Idealem inne hat, Schelling andererseits aber der Seele als dritter Potenz als Identität des Nichtseienden und Seienden eben diese Funktion zuschreibt. Denn Nichtseiendes und Seiendes, bzw. Endliches und Unendliches sind in den Stuttgarter Privatvorlesungen Äquivalenzbezeichnungen für Sein und Seiendes bzw. Reales und Ideales. 26 Ebenso hatte Schelling aus dem Prinzip des internen Dualismus heraus die Liebe als die zweite Potenz bezeichnet (AA II,8, 108/SW VII, 439), und ordnet sie nun im dreigliedrigen, organischen Schema der dritten Potenz zu (AA II,8, 168/SW VII, 473). Demnach lässt sich sagen, dass Schelling mit den Potenzenfunktionen des ‚psychologischen Schemas‘ auf das Philosophie der Kunst-Modell zurückgreift, das noch nicht aus dem neuen Ansatz des internen Dualismus gebildet ist, sondern der Identitätsphilosophie jener Jahre verpflichtet bleibt und zuletzt bei der Explikation der Seele und des Moralischen versucht, dieses an den neuen Standpunkt der Freiheitschrift anzupassen. Dass dies nicht wirklich gelingen kann, zeigt sich unter anderem daran, dass Schelling mittels der Dominanzstellung der Seele zwar das Gute erläutern kann, das Böse als Erhebung des Grundes und Umkehrung der Verhältnisse hierin aber keinen rechten Platz findet, da ansonsten das feste Schema der dreigliedrigen Potenzenfolge sich abändern würde.

26 Vgl. z. B. SW VII, 436, wo es heißt: „ein zweiter aus dem ersten [‚Sein‘] folgender Ausdruck des Verhältnisses beider Prinzipien [also Sein und Seiendes] ist, dass sie sich wie Seiendes und Nichtseiendes verhalten“.

II. Die Stuttgarter Privatvorlesungen (1810)

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6. Potenzen als „Perioden der Selbstoffenbarung Gottes“ (AA II,8, 84/SW VII, 428), d. h. der Geschichte Es sind ebenfalls die Stuttgarter Privatvorlesungen, in denen Schelling erstmals ein Geschichtspanorama als einen stufenweise fortschreitenden Prozess der Entwicklung von Potenzen entfaltet. Das heißt, dass Schelling hier den in der Freiheitschrift deutlich ausgesprochenen Gedanken, dass die Perioden der Geschichte verstanden werden müssen als eine temporale Entfaltung der genetischen Konstitutionsstufen des Geistes, die Schelling ja bereits im System des transzendentalen Idealismus seinerseits als eine Geschichte des Selbstbewusstseins verstanden hatte, nun expliziert als Entfaltungsweisen der dynamischen Potenzverhältnisse. Die Interpretationsfrage ist hier, ob Schelling in den Vorlesungen von Stuttgart lediglich den Grundgedanken der Freiheitsschrift weiter entwickelt und ihn zudem mit der Terminologie der Potenzen einkleidet, oder ob er umgekehrt versucht, aus dem dynamischen Grundkonzept der Potenzenmetaphysik heraus die grundsätzlichen Entwicklungslinien und -schichten des Geschichtsprozesses neu zu fassen. Systematisch ist hierbei ein dreigliedriger Geschichtsprozess angelegt, dessen erste Stufe die Epoche des menschlichen Daseins auf Erden (a.), dessen zweite das jenseitige Totenreich der Geister und dessen finale Stufe eine Beschreibung der Aufhebung des Irdischen und Jenseitigen zur finalen All-Einheit als dem Ende des Geschichtsprozesses (b.) darstellt. a) Schöpfung und irdische Menschheitsgeschichte Es hatte sich bereits gezeigt, dass Schelling die Schöpfung aus dem Prinzip des internen Dualismus heraus als Selbsteinschränkung Gottes auf die erste Potenz konstruiert, und dass er den Menschen als Spiegelbild Gottes in eins mit der durch die Selbsteinschränkung überhaupt erst hervorgehenden, eigentlichen Bewusstwerdung Gottes entstehen lässt. Hier sind Schöpfungsprozess und Bewusstwerdungsprozess insofern dasselbe, als einerseits „der Anfang des Bewusstseins in ihm [= Gott] ist, dass er sich von sich scheidet, sich selbst sich entgegensetzt“ (AA II,8, 96/SW VII, 433) und andererseits nur dadurch, dass Gott „die absolute Identität seines Wesens brechen [kann, er] Raum zu einer Offenbarung machen“ (AA II,8, 86/SW VII, 429) kann. Von diesem Anfangspunkt aus ist nun zu sehen, wie Schelling die äußere Geschichte und schließlich ihre Vollendung, d. h., „de[n] ganze[n] Prozess der Weltschöpfung […] und […] der Geschichte […] als […] Prozess der vollendeten Bewusstwerdung […] Gottes“ (AA II,8, 94/SW VII, 433) aus der Perspektive der Potenzenstellung in ihm entfaltet.

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Kap. 6: Die Philosophie des internen Dualismus

Schellings grobe Geschichtsgliederung, die er auch als grundsätzliches Muster bis in die Spätphilosophie beibehalten wird, besteht in der Folge der (göttlichen) Schöpfung, der zeitlichen Welt und der Rückkehr der Welt in die Schöpfung. Dabei ordnet Schelling die Zeit als Erscheinungsform der Natur dem Realen zu im Kontrast zur zeitlosen, ewigen Schöpfung. Innerhalb der zeitlichen Welt beginnt die menschliche Geschichte im engeren Sinn mit dem Sündenfall als dem Losreißen des Menschen von Gott und hat seine entscheidende Zäsur im Auftreten von Christus, von Schelling verstanden als der zweiten Offenbarung. Dabei erhält der Mensch mit der Schöpfung eine mittlere Stellung zwischen Gott und der Natur. Er ist frei von Gott, insofern er mit der Natur in sich, der ersten Potenz, eine von Gott unabhängige Wurzel (AA II,8, 134–136/SW VII, 456) hat. Zugleich ist er nicht bloßer Teil der Natur wie das Pflanzen- und Tierreich, sondern als ihre höchste Stufe über die Natur erhoben. „Im Menschen wird […] das absolute A2 […] emporgehoben aus dem B“ (AA II,8, 136/SW VII, 456), der Geist aus dem Nichtseienden der ersten Potenz. Durch diese mittlere Stellung, die ihn in den Indifferenzpunkt „zwischen dem Nichtseienden der Natur und dem Absolut-Seienden = Gott [stellt], ist er von beiden frei “ AA II,8, 140/(SW VII, 458). Diese Freiheit entspricht einem Selbstverhältnis, das es ihm ermöglicht, wie Gott in der Schöpfung seine eigene innere Potenzenkonstellation zu ändern. Er kann „in sich selbst das zur relativen Untätigkeit bestimmte (das natürliche, eigene) Prinzip aktivier[en]“ (AA II,8, 140/SW VII, 458 f.), worin Schellings Beschreibung des Sündenfalls zu sehen ist und wodurch nicht nur der Mensch aus seiner ursprünglich harmonischen Stellung, sondern mit ihn die Natur aus dem göttlichen Zusammenhang ihrer ausgewogenen Urstellung herausgerissen und das physische Malum von Krankheit und Tod erzeugt wird, und der Mensch zugleich dem moralischen Malum des Bösen, das ja in der Selbstermächtigung der ersten Potenz besteht, anheimfällt. Hierdurch wird „das Band zwischen A2 und A = B aufgehoben“ (AA II,8, 148/SW VII, 463) und die darin begründete harmonische Stellung des Menschen zerstört. So wird durch die Erhebung der ersten Potenz in ihm „der Mensch […] als Geist, als Wesen höherer Ordnung wieder auf die Stufe des Seins, der ersten Potenz zurückgesetzt“ (AA II,8, 142/SW VII, 459). Dies bedeutet, dass „der Mensch selbst […] zwar Geist [bleibt], aber unter der Potenz des B“ (ebd.). Diese Dominanz der Naturseite des Menschen, diese „Übermacht des Seins“ (ebd.) zeigt sich in der Macht, die die physische Seite des Lebens, die Bedingungen der Erhaltung von Gesundheit und körperlicher Existenz, über den Menschen haben. Durch die Dominanz der Natur entsteht für Schelling auch der Staat als eine zweite Natureinheit, die mit den Mitteln der physischen Gewalt vergeblich versucht, die verlorene Natureinheit zu ersetzen. Im Extremum, in Krieg und staatlicher Gewaltherrschaft wird der Staat zum Ort der Erniedrigung des Menschen in

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einer „ganz zum Physischen, ja sogar zum Kampf um ihre Existenz herabgesunkenen Menschheit“ (AA II,8, 148/SW VII, 462). Der geschichtliche Wendepunkt mit der „zweite[n] Offenbarung“ (AA II,8, 148/SW VII, 463) besteht darin, dass Christus als menschgewordener Gott zwischen Mensch und Gott vermittelt und hierdurch der Mensch seine ursprüngliche Stellung als Mittler zwischen der Natur und Gott zurückerhält und das „Band der geistigen und natürlichen Welt“ (ebd.) auf höherer Stufe wiederhergestellt (und somit der Sündenfall überwunden) wird. In seiner Folge tritt in Schellings Geschichtsdiagnose nun die Kirche als zweite Institution auf, die versucht, eine nun innere Einheit der Menschen zu begründen – aber bald dem Fehler anheimfällt, dies durch äußeren Zwang zu unternehmen. Prospektivisch skizziert Schelling hier abschließend die Vision eines Staates, der umgekehrt selbst religiös wird und einen Zustand des Friedens durch Verbreitung allgemeiner religiöser Überzeugungen etabliert. Wichtig hierbei ist, dass Schelling insgesamt die Epoche der zeitlichen Welt unter der Dominanz des realen Prinzips sieht und sie deswegen als auf die Zeitdimension bezogene erste Potenz, und in eben diesem Sinne als „erste Periode“ (AA II,8, 142/SW VII, 459) versteht. „Alles, was bisher vorkam,“ resümiert Schelling diesen Abschnitt, „gehörte eigentlich nur der ersten Potenz an.“ (AA II,8, 168/SW VII, 474). Schelling kontrastiert diese erste gegenwärtige Periode, „wo freilich alle Potenzen, aber untergeordnet dem Realen“ (AA II,8, 182/SW VII, 482), mit einer zweiten Periode, die von der Dominanz des Idealen bestimmt ist, nämlich der Geisterwelt. „Die wahre zweite Potenz fängt für den Menschen erst nach dem Tod an“ (AA II,8, 168/SW VII, 474). b) Die Perioden der Ewigkeit Hierzu trifft Schelling eine Unterscheidung „des äußeren und inneren Menschen, des erscheinenden Menschen und des seienden Menschen“ (AA II,8, 170/SW VII, 475), wobei er dem inneren Menschen das wahre Sein des Menschen zuspricht, dem äußeren hingegen relatives Nicht-Sein. Durch den Tod geschieht nun eine partielle Trennung der beiden Seiten, die zu einer körperlichen Weiterexistenz in neuem Gewand führt, insofern der Mensch mit dem Tod „ganz in sein eigenes A2 versetzt“ (ebd.) wird und der Leib aus seiner je gegenwärtigen zeitlichen Erscheinung herausgenommen und in eine dem geistigen Prinzip und seiner moralischen Stellung entsprechende Form gebracht wird, so dass zuletzt der moralische Charakter der jeweiligen Person einen ihm angemessenen Leib findet. Durch diese Transmutation wird der Mensch „in die Geisterwelt versetzt“ (AA II,8, 176/SW VII, 478), in welcher er als seiender Mensch in seinem eigenen, je individuellen A2 an dem Göttlichen teilhat, wenn er wie Gott zu den

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Kap. 6: Die Philosophie des internen Dualismus

moralisch Guten gehört; ansonsten wird er „von dem göttlichen A2 ausgestoßen“ (AA II,8, 172/SW VII, 477). Wie stellt sich nun diese Geisterwelt innerhalb der Metaphysik der Potenzen dar? Gott als das absolute A2 ist seinerseits in der Idealstellung der Potenzen, und das heißt, er hat eine überwundene erste Potenz als Basis in sich, die nach dem psychologischen Muster wiederum das Gemüt als das Reale im Geistigen Gottes ist. Dieses Gemüt wiederum ist „der Stoff der Geisterwelt“ (AA II,8, 176/ SW VII, 479), aus dem die Geister erschaffen sind in Analogie zum realen physischen Stoff, aus dem der irdische Mensch erschaffen ist. Zur weiteren Erläuterung dieser Konstellation der Geisterwelt greift Schelling auf denjenigen ‚Potenz‘-Begriff zurück, den er in der Philosophie der Kunst zur Darstellung der Welten der Natur, Geschichte, Moral und Kunst gebraucht hatte und verbindet ihn mit der Idee von Potenz als Dominanz. In der Philosophie der Kunst hatte Potenz einen bestimmten Aspekt des unteilbar Ganzen, das unter einer spezifischen Bestimmung perspektivisch so in den Blick kommt, dass das Ganze darin enthalten ist, bezeichnet. Die Geisterwelt im Gegensatz zur Naturwelt besteht demnach darin, dass beide je „ein System von Gegenständen“ (AA II,8, 178/SW VII, 480) sind und in beiden gleichsam das Ganze enthalten ist, nämlich „Reales, Ideales und die Indifferenz beider“ (AA II,8, 176/SW VII, 478), dass jedoch die Naturwelt hierbei unter der Potenz des Realen steht, die Geisterwelt hingegen „unter der Potenz des Idealen“ (ebd.). Dieser Rückgriff auf die Philosophie der Kunst wird auch dadurch augenscheinlich, dass Schelling hier die Welten der Geister und der Natur je in Hinsicht auf das Absolut-Göttliche durch ein Beispiel veranschaulicht, nach welchem die Geisterwelt der Welt der Poesie und die Naturwelt der Welt der Plastik entspricht, so dass gilt: „Die Geisterwelt ist die Poesie Gottes, die Natur seine Plastik“ (AA II,8, 178/ SW VII, 480), während die Mittelstellung des irdischen Menschen in diesem Vergleich dem „sichtbare[n] Drama [entspricht], weil dieses seine geistigen Schöpfungen zugleich in der Wirklichkeit darstellt“ (ebd.). Nach dieser Ausdifferenzierung von Natur- und Geisterwelt als solchen konstruiert Schelling die All-Einheit gemäß der ursprünglichen Potenzenveranlagung als eine dritte Periode, in welcher „der höchste Endzweck der Schöpfung […] erfüllt“ (AA II,8, 184/SW VII, 483) und „Gott Alles in Allem“ (AA II,8, 184/SW VII, 484) ist. Diese dritte Periode ist gekennzeichnet dadurch, dass alle Potenzen nicht nur je der realen oder idealen Potenz untergeordnet sind, sondern „alle der absoluten Identität“ (AA II,8, 182/SW VII, 482). Schelling ordnet diese Perioden besonderen Zeitformen zu. Während die Periode der Natur als gegenwärtige Periode unter den Bedingungen der sukzessiven Zeit steht, ist die dritte Periode eine „Periode[.] der Ewigkeit“ (AA II,8, 184/SW VII, 484) – worin sich die frühere Zuordnung wiederfindet, nach welcher die drei Potenzen als Potenzen „des Endlichen, Unendlichen und Ewigen“ (AA I,12,1, 83/SW IV, 340) bezeichnet worden waren.

II. Die Stuttgarter Privatvorlesungen (1810)

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Die für die historische Ontologie der Spätphilosophie durchgreifende Idee, dass die zeitliche Projektion der Potenzen des Geistes die Perioden der Geschichte ergeben, ist damit in den Stuttgarter Privatvorlesungen zwar explizit benannt, allerdings im höchsten Fall skizzenhaft ausgeführt.

7. Resümee Dass die Stuttgarter Privatvorlesungen verschiedene metaphysische Grundansätze als eine einheitliche Theorie zu präsentieren versuchen, ohne sich der daraus entspringenden Doppeldeutigkeiten und Inkonsistenzen Rechenschaft zu geben, wurde in der Literatur bereits des Öfteren festgestellt. 27 Hierzu passt auch, dass Schelling beim Gebrauch der Terminologie der Potenzen auf verschiedene Modelle zugrückgreift, die zu deutlich unterscheidbaren Systemansätzen gehören. Auffällig ist zuletzt, dass Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen zwar auf die Dynamik des Grund/Existierendes-Modells der Freiheitsschrift zurückgreift, den dort damit verbundenen Gedanken der Potentialität der entsprechenden Stellungen von Grund und Existierendem in Bezug auf ihre mögliche Aktualisierung, d. h. das Modell von Akt und Potenz, aber nicht namentlich gebraucht. 28 Der wichtigste Fortschritt in Schellings Philosophie der Potenzen in den Vorlesungen von Stuttgart ist sicherlich darin zu sehen, dass er hier nun den in der Dualität von Sein und Seiendem bezeichneten internen Dualismus mit der Terminologie der Potenzen verbindet und hierdurch seine vielgestaltige Potenzentheorie in einem ersten Schritt mit der ontologischen Basis seines Systems zusammenführt. Dienten die Potenzen bis dato bei aller Vieldeutigkeit immer zur Bezeichnung bestimmter Struktur- und Entfaltungsmomente des Wirklichen oder seiner metaphysischen Basis, nicht aber der ontologischen Letztprinzipien selbst, ändert sich dies mit der Bezeichnung des Seins in Gott als erster Potenz folgenschwer für die weitere Entwicklung einer Potenzenontologie zur Spätphilosophie hin.

27

Vgl. z. B. Schmidt-Biggemann 2014, insb. 159–166. Damit soll nicht behauptet sein, dass der damit verbundene systematische Gedanke nicht dennoch in den Stuttgarter Privatvorlesungen enthalten sei; Schellings Rede in etwa von der ‚eingewickelten‘ Zeit in Gott, die durch dessen Selbsteinschränkung zur Entfaltung kommt (vgl. Georgii-Nachschrift, AA II,8, 85), entspricht dem Grundgedanken von Akt und Potenz in der Freiheitschrift. Dennoch ist festzuhalten, dass Schelling das Begriffspaar Akt und Potenz in den Vorlesungen von 1810 lediglich an einer Stelle in der Form einer Gegenüberstellung des potentiellen Gottes mit dem aktuellen Gott (AA II,8, 110/SW VII, 441) gebraucht, womit in etwa auch Schmidt-Biggemann 2014, 166 doppelt zu widersprechen ist, der schreibt: „mit der Terminologie von […] Potenz und Akt kommt ein neues Moment in die Begrifflichkeit der Stuttgarter Privatvorlesungen“. Denn diese Begrifflichkeit ist bereits früher vorhanden, aber gerade 1810 nicht gebraucht. 28

Kapitel 7

Die Ausbildung einer dynamischen Metaphysik I. Die Weltalterentwürfe (1811–1815) 1. Textbestand und Thema der Weltalterentwürfe Bekanntermaßen hat Schelling in den Jahren nach 1810 mit den Weltaltern ein neues philosophisches Projekt begonnen, das eine genealogische und historische Metaphysik im Sinne einer geschichtlichen Entwicklung des Seins beinhaltete, welche nach Maßgabe der Abfolge von drei zeitlichen Hauptepochen, die er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nannte, gegliedert war. Hierbei hat Schelling einerseits mehrfach bereits weitentwickelte und gar bereits gesetzte Texte wieder zurückgenommen und ist andererseits bei all der Vielheit der Varianten der Texte dieses Unternehmens nie über den ersten Teil des Gesamtplans, der die Vergangenheit umfasste, hinausgekommen. Die hieraus resultierende Textlage ist die, dass es drei Hauptentwürfe gibt, die textlich weitgehend eigenständig sind, d. h., bei denen Schelling je das Thema der Weltalter ganz neu angesetzt hat. Die ersten beiden Entwürfe von 1811 und 1813, die bereits zum Druck vorgelegen hatten, sind aus dem im zweiten Weltkrieg zerstörten Münchner Schelling-Nachlass insofern gerettet worden, als für sie und eine Reihe von Manuskriptvarianten noch 1943 eine Abschrift angefertigt worden war; diese liegen in einer gesonderten Edition (Schelling 1946) vor. Der dritte Entwurf, der um 1815 zu datieren ist, war bereits mit der Edition der Sämmtlichen Werke von Schellings Sohn in der Mitte des 19. Jahrhunderts herausgegeben worden (SW VIII, 195–344). Schließlich wurden aus dem noch vorhandenen Berliner Schelling-Nachlass 2002 zwei weitere Bände mit Fragmenten aus der Erarbeitungsphase der Weltalter herausgegeben (Schelling WA-F). All diesen Entwürfen ist gemeinsam, dass Schelling in ihnen eine historische Metaphysik entfalten und innerhalb einer dreigliedrigen Epochenfolge zur Darstellung bringen will. Dabei wandelt er das zeitliche Schema der Vorlesungen von Stuttgart dahingehend ab, dass er nun einerseits als diese Epochen die Folge: „vorweltliche[.] Zeit“ (W 10) – Zeit der Welt – „nachweltliche“ (W 11) Zeit denkt und die Glieder dieser Folge mit den Zeitmodi der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft belegt, während er die die Folge selbst als die „Eine große Zeit“ (W 11) bezeichnet. Da Schelling in diesen Entwürfen je nur den ersten Teil, die Darstellung der vorweltlichen Vergangenheit, ausgearbeitet hat, ist die Möglichkeit und Wirklichkeit der Schöpfung als Voraussetzung des

I. Die Weltalterentwürfe (1811–1815)

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Weltprozesses und das Wesen Gottes wiederum als Voraussetzung der Schöpfung selbst, das eigentliche Thema der Weltalterfragmente. Eine vollständige Untersuchung zur Entwicklung des Potenzbegriffs innerhalb der drei Weltalterentwürfe würde eine eigenständige Spezialstudie erfordern, die deutlich über den Rahmen der hier angestrebten Gesamtschau der Entwicklung des Potenzbegriffs bei Schelling hinausgehen würde. Daher soll nachfolgend der interpretative Fokus auf den dritten Weltalterentwurf, welcher von Schellings Sohn innerhalb der Sämmtlichen Werke herausgegeben wurde, liegen und die anderen Texte lediglich kursorisch durchgegangen und einige bemerkenswerte Punkte hervorgehoben werden. Dies hat mehrere Gründe: einerseits ist der dritte Entwurf der reifste, umfangreichste und auch über die Aufnahme in die Sämmtlichen Werke der historisch wirkungsvollste. Er überbrückt zugleich am besten die zeitliche Lücke zu den nachfolgenden Erlanger Vorlesungen von 1820/21. Zudem nimmt im dritten Weltalterentwurf der Potenzbegriff inhaltlich und quantitativ deutlich größeren Raum ein als in den beiden vorhergehenden. 1

2. Die allgemeine Ontologie des dritten Weltalterentwurfs In den Weltaltern versucht Schelling die zuvor nur skizzenhaft angerissene Idee einer historischen Metaphysik zu verwirklichen. Grundgedanke dieser Metaphysik ist es, dass die Grundprinzipien des Seienden, welche das System der Philosophie darstellt, keinen unveränderlichen statischen Innenbau der Wirklichkeit bilden, kein festes Systemgerüst, sondern dass sich die Gesamtwirklichkeit innerhalb einer zeitlichen Perspektive aus den in ihr sich dynamisch entwickelnden Prinzipien überhaupt erst entfaltet. Dies ist verbunden mit Schellings realistischem Impuls, nach welchem die Philosophie nicht das bloße Gebilde ihrer eigenen Gedanken sein dürfe, sondern „dass es die Entwicklung eines lebendigen, wirklichen Wesens [sein müsse], die in ihr sich darstellt“ (SW VIII, 199). Dieses lebendige Wesen ist in bekannter Weise das göttliche, das Schelling gemäß der Grundidee des internen Dualismus wieder als eines konzipiert, das zwei Prinzipien beinhaltet. Und diese Prinzipien charakterisiert er erneut im Horizont von Expansion und Kontraktion, verbunden mit dem Gedanken von Alterität und Egoität als „das ausquellende, ausbreitsame, sich gebende Wesen, und eine ebenso ewige Kraft der Selbstheit, des Zurückgehens auf sich selbst, des In-sich-Seins“ (SW VIII, 211). Die näheren Charakterisierungen des ersten 1 Dies lässt sich zumindest in quantitativer Hinsicht auch leicht belegen; während im ersten Entwurf Schelling des Wortfeld ‚Potenz‘/potentia lediglich 20-mal und im zweiten Entwurf 37-mal gebraucht, ergibt ein entsprechender Datenbankabgleich zum dritten Entwurf mit 125 Treffern bei vergleichbarem Textvolumen ein Vielfaches.

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Kap. 7: Die Ausbildung einer dynamischen Metaphysik

Prinzips als dem der Liebe, Mitteilsamkeit, des Lichts, des Bejahenden, Existierenden und Seienden, und des zweiten Prinzips als dem der Verschließung, Egoität, des Dunkels, der Hemmung, des Verneinenden und des Seins zeigen, dass Schelling hier direkt auf den in den Schriften von 1809/10 entwickelten Gegensatz von Grund von Existenz und Existierenden bzw. Sein und Seiendem zurückgreift. Allerdings verbindet Schelling diese nun fest zu einer einheitlichen Lehre dreier Prinzipien, bei welcher der Gegensatz und die Einheit der ersten beiden Prinzipien nach der Formel von der ‚Einheit der Einheit und des Gegensatzes‘ zu einem trinitarischen Gefüge verschmolzen werden soll: „das verneinende Prinzip, das bejahende und wieder die Einheit beider, jedes von diesen dreien soll sein als ein eigenes von dem anderen geschiedenes Prinzip“ (SW VIII, 217). Entsprechend dem Trinitätsgedanke von Nicäa gelten hierbei drei Grundsätze: 1) Alle drei Prinzipien sind vollständig und selbstständig; „jedes […] ist ganzes vollständiges Wesen […]. Jede dieser Mächte kann für sich sein“ (ebd.). 2) Alle drei Prinzipien sind gleichrangig. Im Gegensatz in etwa zur in den Stuttgarter Privatvorlesungen im psychologischen Schema wiederaufgegriffenen Modell der Identitätsphilosophie ist hier das dritte, integrative Prinzip nicht höherrangig als die beiden anderen. Alle sind „auf gleicher Linie [und] darum auch mit den beiden anderen vollkommen gleichwichtig“ (ebd.). 3) Alle drei Prinzipien sind zugleich hinsichtlich ihrer Existenz unselbständig: Alle drei enthalten zwar das Ganze, „doch kann keines sein, ohne dass die anderen auch sind“ (ebd.). Hierbei – und dies ist ein folgenreicher Schachzug – wendet Schelling den in der Freiheitschrift entwickelten Gedanken einer wandelbaren Dominanzstellung der ursprünglich dualen Prinzipien nun auch auf das dreigliedrige Schema an. Danach kann jedes dieser Prinzipien deshalb das ganze Wesen sein, ohne dass es zu einer bloßen Verdreifachung der Prinzipien (einem Tri-Theismus) käme, weil jedes der Prinzipien so den anderen gegenüber in eine Dominanzstellung kommen kann, dass es als das Ganze existiert und dabei zugleich die anderen in den Grund dieser Existenz zurückdrängt. Sie schließen sich hierbei in dem Sinne aus, dass sie nicht alle zusammen in die Position des Seienden gehoben werden können: „ist das eine das Seiende, so kann das Entgegengesetzte nur das nicht Seiende sein“ (SW VIII, 218); ebenso verdrängt die Einheit die beiden Entgegengesetzten in das Nicht-seiend-Sein. Auf diese Weise kann Schelling den zwischen den Grundsätzen 1) und 3) aufscheinenden Widerspruch, nach welchem die drei Prinzipien je zwar selbstständig und doch nicht ohne die anderen sein können, in das Wesen Gottes selbst verlegen: „Also findet sich, dass die erste Natur von sich selbst im Widerspruch ist, [und zwar] in einem notwendigen, mit ihrem Wesen zugleich gesetzten“ (SW VIII, 219). Er wird zugleich zum Motor der weiteren Entwicklung,

I. Die Weltalterentwürfe (1811–1815)

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insofern die drei Prinzipien in einem spannungsreichen wechselseitigen Verdrängungsverhältnis stehen, bei welchem sich ihr Anspruch auf Gleichrangigkeit nur so einlösen lässt, dass die Dominanz der Prinzipien sich in einer alternierenden Folge ablöst. Als das Prinzip des Anfangs wird dabei eine Stellung der Verkehrung angenommen, da diese ihrer Art nach dazu tendiert, sich in die rechte Ordnung zu entwickeln. Diese Stellung der Verkehrung besteht darin, dass das verneinende, verschließende Prinzip, dasjenige, das eigentlich das Nicht-Seiende ist, in die Position des Seienden gehoben wird, und das Bejahungsprinzip entsprechend in die Position des Nichtseienden. Hierbei ergibt sich ein Unterschied zwischen der begrifflichen Ordnung, nach welcher das bejahende Prinzip als wirkend gesetzt ist und einer faktischen Ordnung, bei welcher tatsächlich dieses zum nicht Seienden wird (vgl. SW VIII, 222).

3. Die Potenzenlehre des dritten Weltalterentwurfs Diese allgemeine Ontologie des dritten Weltalterentwurfs lässt sich zunächst einfach in die Terminologie der Potenzen übersetzen. Schelling nennt die Stellung des Anfangs, in der die verneinende Kraft in der Position des Seienden, also das Offenbare Gottes ist, sein eigentliches (begriffliches) Wesen, wobei Alterität und Bejahung hingegen im Verborgenen bleiben, die erste Potenz. In der Formelsprache, in welcher er das verneinende Prinzip als B und das bejahende als A bezeichnet, beschreibt Schelling diese Stellung in einer räumlichen Metapher als „A, das nach außen B ist = (A = B) [und benennt dies wie schon zuvor als] die erste Potenz“ (SW VIII, 223). Hier wird zunächst wieder deutlich, dass Schelling zwar eine werkübergreifende Kontinuität in der Potenzenlehre über ihre formelhafte Bezeichnung herzustellen bestrebt ist, zugleich aber auch, inwiefern dies mit Schwierigkeiten behaftet ist. Denn ein das A dominierendes B ist kein Verhältnis eines bloß quantitativen Übergewichts, was Schelling ursprünglich durch diese Formel bezeichnet wissen wollte. Ebenso greift Schelling für die zweite Potenz auf den Ausdruck ‚A2‘ zurück und bezeichnet hiermit den Fall, in dem das „Seiende als Seiendes gesetzt“ (SW VIII, 226) wird – und zwar das begrifflich bzw. wesentlich Seiende als das tatsächlich Seiende. Als zweite Potenz ist dies zu bezeichnen, insofern es sich um die zweite Stufe bzw. den zweiten Entwicklungsschritt in der Entfaltung der kosmischen Weltalterfolgen handelt. In diesem Ausdruck ist jedoch auch die Doppelung enthalten, um welche es Schelling bei aller bereits bemerkten Asymmetrie zur Formel ‚A = B‘ hier offenbar zu tun ist: das zunächst im Anfang verborgene Seiende wird nun in die Dominanzstellung erhoben und hierdurch offenbar; es entfaltet sich aus seiner Grundstellung heraus selbst. Irreführend allerdings ist, dass unter diesen Bezeichnungen verdeckt bleibt, dass in der Stellung der zweiten Potenz eben das Verneinende nicht ausgelöscht, sondern nur seinerseits in die Verborgenheit des nicht Sei-

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Kap. 7: Die Ausbildung einer dynamischen Metaphysik

enden zurückgedrängt worden ist; ja mehr noch: in der bereits aus der Freiheitsschrift bekannten Weise ist auch hier das im Grunde liegende, zurückgedrängte Prinzip zugleich dasjenige, das dem offenbaren seine Wirkungsmächtigkeit verleiht. Dass das Seiende „sich offenbart als das Seiende, dafür liegt der Grund in der verneinenden Potenz. Wäre das Nein nicht, so wäre das Ja ohne Kraft“ (SW VIII, 227). Dieses Verhältnis der ersten beiden Potenzen charakterisiert Schelling nun des Näheren als eines, das einerseits komplementär ist, und bei welchem andererseits wie bei einer kongruenten Abbildung die beiden Stellungen ineinander überführbar sind. So führt er hinsichtlich der Komplementarität aus: Mit diesen beiden Potenzen ist der Urgegensatz gegeben; doch kein solcher, der auf einer gänzlichen Ausschließung, nur ein solcher, der auf einem entgegengesetzten Verhältnis, gleichsam einer umgekehrten Stellung jener ersten Lebenskräfte beruht. Was in der vorausgehenden Potenz das Äußere, Einschließende, Verneinende war, ist in der folgenden selbst das Innere, Eingeschlossene, selbst Verneinte; und umgekehrt. (ebd.)

Bemerkenswert hierbei ist, das Schelling zur Charakterisierung der als Kräfte verstandenen ersten beiden Potenzen wieder auf das naturphilosophische Modell einer kontrahierenden und einer expandierenden Kraft zurückkommt, deren wechselwirkende Durchdringung nun aber in einer räumlichen Metapher als Hineinwendung und Herauswendung eines in der Stellung zum anderen jeweils Inneren oder Äußeren beschrieben wird. Die Umwandelbarkeit des einen in das andere konzipiert Schelling dabei dahingehend, dass „es nur einer Umkehrung bedarf, einer Herauswendung dessen, was verborgen ist und einer Hineinwendung dessen, was offenbar ist, um das eine in das andere zu versetzen und gleichsam zu verwandeln“ (ebd.). Hierbei greift Schelling auch auf die die Begrifflichkeit der ‚Potentialität‘ zurück, mit der er nun einerseits allgemein die Möglichkeit (vgl. SW VIII, 266, 315) oder auch den Keim (SW VIII, 315; vgl. W 44) zu einer korrelierenden Wirklichkeit bezeichnet, spezifisch jedoch die Möglichkeit des Heraustretens, d. h. aktualisiert Werdens einer je untergeordneten Potenz meint (SW VIII, 267); umgekehrt ist der Vorgang der Zurücksetzung einer zuerst übergeordneten Potenz eine Zurücksetzung „in seine Potenz (also auch in die Potentialität gegen das höhere)“ (SW VIII, 294). Auch wenn der hierin enthaltene Gedanke, dass in der untergeordneten Potenz die ‚Potentialität‘ zur höhergeordneten liegt, lediglich skizzenhaft dargelegt ist, so ist doch bemerkenswert, dass Schelling hier erstmals eine Verbindung der Begriffsfelder Potentia/Potentialität im Sinne von Realisierungsmöglichkeit und ‚Potenz‘ im Sinne einer Stufenfolge bzw. des Elements eines hierarchischen Ordnungssystems versucht. Diese beiden Potenzen ergänzt Schelling um eine dritte (A3), welche sich gegenüber den beiden anderen dadurch auszeichnet, dass sie die Einheit dieser bildet und als diese Einheit „außer und über allem Gegensatz“ (SW VIII, 228)

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bleibt. Für die Bildung dieser Einheit wiederum greift Schelling auf zwei Gedanken zurück, die dem Platonischen Timaios entnommen sind. Erstens ist dies die Idee, dass sich drei Glieder zu einer sie durchdringenden übergreifenden Einheit durch die Bildung einer Analogie verbinden lassen, und zweitens, dass diese Analogie als Seele zu verstehen sei 2: „dergestalt, indem das Dritte dem Zweiten eben das ist, was es selbst dem Ersten, entsteht endlich der vollkommenste Einklang, und erst durch das Dritte ist wie mit einem Hauch zumal das Ganze beseelt“ (SW VIII, 251). Die Seele bildet zuletzt wie schon in den Stuttgarter Privatvorlesungen das „ewige Band sowohl zwischen Natur als Geisterwelt als zwischen der Welt und Gott“ (SW VIII, 252). Allerdings bleiben hier im Rückgriff auf das Modell der Analogie auch unlösbare Schwierigkeiten: denn Schelling identifiziert die Seele wie schon zuvor einerseits unmittelbar mit der dritten Potenz: „Die Bedeutung der dritten [Potenz] […] ist jene allgemeine Seele“ (ebd.), andererseits gehen alle drei Potenzen als Glieder in die Analogie ein – wodurch die verbindende Analogie als Seele selbst zu einem zusätzlichen Element würde. Systematisch bedeutungsvoller allerdings ist das beschriebene Umwandlungsprinzip der Potenzen, das zentral für die weitere Entwicklung der Potenzenlehre bleibt. Die Frage ist hier nun, welche Art von Prozess durch eine solche Umwandlung in Gang kommt. Hierbei ist zu beachten, dass Schelling an zwei verschiedene Typen von Prozessen denkt, die wiederum aufeinander bezogen sind. Einerseits beschreibt er einen Prozess, bei welchem die wechselseitige Umwandlung kreishaft immer weiter läuft, als ein in sich drehendes Rad, bei welchem das Ende einer Rotation zugleich den Anfang der nächsten bildet. Dieser deutlich an Jakob Böhme angelehnte Prozess beschreibt die dynamischen Bewegung der Potenzen in der „Notwendigkeit der göttlichen“ (SW VIII, 232) Natur; d. h. der ersten Natur Gottes als derjenigen, in der alle Potenzen zugleich sind, ohne dass es dadurch einen Fortschritt oder ein Anderssein der Potenzen in Gott gäbe, als „ein ewig in sich selbst kreisendes Leben […], eine Art von Zirkel, da das Unterste immer in das Oberste und das Oberste wieder in das Unterste läuft“ (SW VIII, 229). Andererseits identifiziert Schelling die drei Potenzen als die Glieder einer fortlaufenden Kette, deren Anfang die erste, deren Mitte die zweite und deren Ende die dritte Potenz ist. Hierbei handelt es sich um einen einmalig fortschreitenden und keineswegs um einen beliebig wiederholbaren oder gar reversiblen Prozess; einen Prozess, der den Fortschritt der Geschichte abbildet, dessen Urbild andererseits in der kreishaften ewigen Bewegung des göttlichen Geistes enthalten ist. 2 Vgl. Timaios, 31b, 34b. Schelling hat bekanntlich schon in seinen Studienjahren den Timaios intensiv studiert und sich hierbei auch auf die Verbindung der Weltseele durch die Proportion oder Analogie bezogen. Vgl. Schelling 1994, 40.

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Die – auch für den Unterschied zwischen der positiven und negativen Philosophie, den Schelling ab seiner zweiten Münchner Zeit markieren wird, entscheidende – Frage ist nun, wie die göttliche Natur ihre rotatorischen Bewegung, in der zwar alles enthalten ist, die aber andererseits in sich selbst verschlossen bleibt, verlassen kann, d. h. wie es ihr gelingt, diese ohne sich selbst zu verlieren, in eine gerichtete, lineare Bewegung, welche Anfang, Ende und ein gerichtetes und irreversibles Fortschreiten vom Anfang zum Ende kennt, umzuwandeln. Schelling kreist die Möglichkeiten, hierauf eine Antwort zu finden, zunächst negativ ein: klar ist, dass der Grund für ein Auseinanderfalten der Potenzen sich nicht wiederum in einer der Potenzen finden kann, denn diese sind nach Voraussetzung gleichrangig. Ebenso kann der Ausgangspunkt für die zeitliche Entfaltung der Potenzen zu einem eschatologischen Prozess nicht wiederum in einem Moment der Notwendigkeit ihrer rotatorischen Bewegung bestehen. Er muss vielmehr in einem Akt der Freiwilligkeit bestehen. Daher muss es ergänzend zur Seite der göttlichen Notwendigkeit noch eine Seite an Gott geben, welche über diese Notwendigkeit hinausgeht und wesentlich durch Freiheit gekennzeichnet ist. „Gott seinem höchsten Selbst nach ist kein notwendig wirkliches Wesen, sondern die ewige Freiheit zu sein“ (SW VIII, 238). Und weiter: „in dem wirklichen, lebendigen Gott [ist] eine Einheit […] von Notwendigkeit und Freiheit“ (SW VIII, 239). Die Anwendung der göttlichen Freiheit ist ein dreistufiger Prozess. Sie bringt in einem – und auch dies ist ein Motiv Böhmes, das bereits in die Freiheitsschrift Eingang gefunden hatte – blitzhaften Moment 3 der Selbstanwendung der Freiheit Gottes einerseits die chaotische rotatorische, selbstbezügliche Bewegung, in welcher sich die Stellung der Prinzipien ständig änderte, zum Stillstand und dabei in eine Ordnungsstellung, welche dem Wesen Gottes vor der Schöpfung entspricht. In ihr nimmt „die erste Potenz den tiefsten, die zweite den mittleren und die dritte den obersten Ort ein[.]“ (SW VIII, 240). In dieser Ordnung bleibt die wichtige Systemvoraussetzung verwirklicht, dass Gott weder bloße Einheit noch Dualität ist, sondern dass in ihm eine freiwillige Einheit verwirklicht ist, die eine Zweiheit einschließt (SW VIII, 269). Sie soll gewähren, dass Gott einerseits „als der lauterste Geist über alles Sein erhaben sei“ (SW VIII, 269), andererseits hierdurch keine bloß abstrakte Vernunftgottheit entstehe, sondern

3 Vgl. SW VIII, 304: „Man kann sich das alles nur wie im Blitz geschehen denken“ und Freiheitsschrift AA I,17, 154/SW VII, 387, wonach dies „alles wie in einem magischen Schlag zugleich geschieht“; zu den Stellen bei Böhme vgl. Buchheim 2011, 127 f. Vgl. auch den auf die Zeit um 1819/20 datierten Nachlasstext Zur Strukturtheorie des Absoluten, in dem es hinsichtlich der Entwicklung der Potenzen heißt: Es „musste hier, in der Darstellung auseinander gezogen werden, was mit Einem Schlag (uno eodemque actu) und wie im Blitz geschieht“ (SA, 45).

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durch die erste Potenz als Grund der Gottheit nach dem Modell der Freiheitsschrift ihr „ein lebendiges, wirkliches Dasein“ (ebd.) zugeschreiben werden kann, welches das dynamische Potential in sich enthält, sich durch Freiheit in die Geschichtlichkeit der Welt zu entäußern. Die Ordnung der Potenzen zeichnet dabei (zweitens) zugleich die Struktur dieser Entfaltung vor. Den Anfang der Bewegung situiert Schelling in der ersten Potenz, der Natur in Gott. Deutlicher als an anderen Stellen hebt Schelling hier hervor, dass gemäß dem organischen Prinzip in allen Teilen eines Ganzen die Struktur des Ganzen, welche seine hierarchische Gliederung enthält, seinerseits enthalten ist. Das heißt, dass die göttliche Grundstellung der Potenzen, in welcher die erste Potenz zuunterst, das heißt in die Abgeschlossenheit und Verborgenheit des Inneren gesetzt ist, ihrerseits und nun in umgekehrter Reihenfolge, die anderen Potenzen beinhaltet. Hierbei ist Gott lebendiger Geist im Sinne der dritten Potenz in dem Sinn, als in ihm die dritte Potenz in die Dominanzstellung getreten ist; die untergeordneten Potenzen sind aber an sich keine toten, homogenen Teile, sondern haben wiederum, nur in anderer Stellung, die anderen Potenzen in sich. Daher hat die erste Potenz in Gott als ihr „innerlich gesetztes Wesen“ (SW VIII, 276) eben die zweite Potenz. Und weiter: „Aber das Allerinnerste in ihr, das eigentliche Wesen, [ist] das, was in ihr selber A3 ist“ (ebd.), die Seele innerhalb der Natur. Diese Konstellation in Gott schildert Schelling als einen Zustand eines dynamischen Kräftespiels, bei welchem, ohne die Grundstellung zu ändern, jener innerste Seelenkeim der ersten Potenz danach strebt, nach außen zu treten und die dritte Potenz an sich zu ziehen, wodurch sich im Durchgang durch die übergeordneten Potenzen in je zunehmender Ausdifferenzierung „die ganze Stufenleiter künftiger Geschöpfe“ (SW VIII, 279) ausbildet, als deren höchstes der Mensch erscheint; und dieses Panorama der Möglichkeiten künftiger Schöpfung erscheint in „von unten aufsteigenden Bilder[n]“ (SW VIII, 280) innerhalb des göttlichen Geistes selbst als die vollständig abgebildete Möglichkeit der künftigen Welt. Der dritte Schritt besteht schließlich darin, diese Möglichkeiten in der Schöpfung zu verwirklichen, das heißt, die in ihm liegenden Möglichkeiten zu offenbaren. Hier formuliert Schelling bereits den für die später sogenannte ‚positive Philosophie‘ zentralen Gedanken, dass diese Offenbarung nicht eine notwendige Folge der Natur Gottes sein könne, sondern dass es ein Werk seiner Freiheit sein müsse, zu welcher begrifflich gehöre, dass es auch hätte unterlassen werden können 4: Insofern „das unfasslich Freie als […] eigentliches Selbst“ (SW VIII, 306) Gottes betrachtet werden müsse, muss es ihm „frei sein, innerhalb des bloßen Könnens stehen zu bleiben, oder zur Tat überzugehen“

4

Vgl. hierzu auch Gerlach 2016, 51–55.

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(ebd.). In diesem Zusammenhang formuliert Schelling erstmals auch den für die Potenzendeduktion der Spätphilosophie zentralen Begriff des ‚Seinkönnens‘ : Gott ist in dieser Konstellation gesetzt „als das lautere Seinkönnen, als die ewige Freiheit gegen das Sein“ (SW VIII, 305). Seinkönnen ist hier also mit dem Freiheitsmerkmal verbunden, sein oder nichtsein zu können, d. h. ins Sein übertreten zu können, aber dies nicht zu müssen. Es ist hier Schellings Ausdruck für das Freiheitskriterium der alternativen Möglichkeiten. Gegen spinozistische Emanationslehren gewandt, formuliert Schelling, dass das Sein „niemals als ein Ausfluss aus dem ewigen Sein-Können erscheine[n]“ (SW VIII, 308) dürfe.

4. Die geschichtliche Potenzenfolge Diese Freiheitsmomente zusammengenommen machen die Schöpfung verständlich, erklären sie aber nicht in einem letzten Sinn, da eine solche Erklärung sie in eben jenen Notwendigkeitszusammenhang stellen würde, der nach Schelling der Freiheit entgegen ist. Ex-post allerdings stellt sich die Frage, auf welche Weise die geschichtliche Welt unter den gezeichneten Schöpfungsvoraussetzungen realisiert ist. Wie schon in der Freiheitsschift skizziert und dann in den Stuttgarter Privatvorlesungen erstmals ausgeführt, ist hierfür der zentrale Gedanke wieder der, dass die temporale Entfaltung der inneren Prinzipienkonstitution Gottes zugleich die grundsätzliche Epochengliederung der Geschichte, verstanden als sukzessive Folge der Offenbarung Gottes und damit des göttlichen Lebens selbst, erzeugt: „in der Sukzession werden sie [die inneren Kräfte der Gottheit] die Potenzen seiner äußeren Lebens-Perioden, wie sie in der Simultaneität Prinzipien seines beharrlichen Seins waren“ (SW VIII, 310). Oder: „dieselben Kräfte, die in der Simultaneität sein [Gottes] inneres Dasein ausmachen, […] sind, in einer Folge hervortretend, auch wieder die Potenzen seines Lebens oder Werdens, das Bestimmende der Perioden oder Zeiten seiner Entwicklung“ (SW VIII, 309). 5 Hierbei sind drei Punkte hervorzuheben: 1) versucht Schelling hier eine terminologische Unterscheidung zwischen statischen ‚Prinzipien‘ und dynamischen ‚Potenzen‘, die im Gegensatz zu der vorherigen Entwicklung steht, bei welcher die innere, aber vorzeitliche ‚Entwicklung‘ der Prinzipien in Gott doch zugleich eine Entwicklung von Potenzen gewesen war. Nun hingegen will Schelling jene zuvor gleichfalls ‚Potenzen‘ in Gott genannten Konstitutionselemente seines Seins in Perspektive auf den Kontrast zu den sich in der Ge5 Vgl. auch W 25, wo es heißt: „Dieselben Stufen, die sich in der Simultaneität als Potenzen des Seins betrachten lassen, erscheinen in der Sukzession als die Perioden des Werdens und der Entwicklung“.

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schichte zeitlich entfaltenden Potenzen ‚Prinzipien‘ nennen. Nur hieraus wird verständlich, dass er umgekehrt dann auch sagen kann, dass der „Begriff von Potenz […] schon für sich den Begriff von Fortschreitung, Bewegung in sich schließt“ (SW VIII, 340). 2) sind die Potenzen das Bestimmende der jeweiligen Perioden. Das heißt, dass nicht nur die Ordnung der Abfolge der Epochen, sondern auch deren Inhalt aus der Potenzenfolge verstanden werden kann. Schelling greift also hierbei auf das in den Stuttgarter Privatvorlesungen ausgeführte Dominanzprinzip der Potenzen zurück, nach welchem die prägende Bestimmung einer Epoche von der Dominanzkonstellation der Potenzenstellung in ihr herrührt. 3) ist es nicht so, dass die Potenzen innerhalb einer bereits vorgegebenen Zeitenfolge, d. h. einer bereits vorgegebenen Zeit überhaupt bestimmend werden, sondern so, dass die Dreiheit der Zeiten mit der Dreiheit der Potenzen koinzidiert, so dass „die Folge der Potenzen […] sich […] als eine Folge von Zeiten“ (SW VIII, 310) verhält. Deutlicher wird dieser Gedanke noch im ersten Weltalterentwurf formuliert, wo es heißt, nur durch eine Aufhebung der Simultaneität der Prinzipien werde das Sein als erste Periode oder Potenz, das Seiende als Gegenwart und die in der ersten ebenfalls eingeschlossene wesentliche und freie Einheit beider als Zukunft [ge]setzt, [und] nur durch eine solche [könne] auch die im Ewigen verborgene Zeit ausgesprochen und geoffenbart werden, welches dann geschieht, wenn die Prinzipien, die in ihm als Potenzen des Seins koexistierend oder simultan waren, als Perioden hervortreten. (W 77 f.)

Hier zeigt sich, dass die Zeit für den Schelling der Weltalter keine vorgegebene Form für die Entfaltung und Entwicklung des Weltlaufs in ihr ist, sondern dass sie sich zusammen und verbunden mit der Entwicklung des Weltgeschehens aus der ursprünglichen Stellung der Potenzen heraus entfaltet. Die Zeit selbst erhält eine organische Form, die den inneren Verhältnissen der Potenzen entspricht. Das wird daran deutlich, dass Schelling die Folge der Zeiten zugleich so konzipiert, dass die jeweils vergangenen Zeiten als Grund im Sinne der ersten Potenz für die je folgende erhalten bleiben. Daher wirkt die Vergangenheit in der jeweiligen Gegenwart stets nach, insofern sie die je innere Basis der jeweils aktuellen Zeiten bildet. Hierin verbinden sich auch die beiden letzten hervorgehobenen Punkte: Die simultanen Potenzen (oder: ‚Prinzipien‘), die sich in der Sukzession zur Epochenfolge abbilden, enthalten in sich dennoch das Potenzengefüge in der Weise, dass die jeweilige der Epoche entsprechende Potenz dominiert. Es ist nicht so, dass eine folgende Epoche die vorherige einfach auslöschen würde. Sondern, wie Schelling im zweiten Weltalterentwurf betont, ist es so, dass eine vorangehende Zeit „als vorangehende[.]“ (W 175, Herv. Vf.) weiterbesteht, was nichts anderes bedeutet, als dass „sie auf diese Art nur in verschiedenen

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Potenzen, die sich auch als verschiedene Zeiten ansehen ließen, dennoch zumal wären“ (ebd.). Im Sinne ihrer Stellung als in den Grund gedrückter erster Potenz ist so die Wirkungsmächtigkeit der Vergangenheit erklärt, die mit dem Gegenwärtigen „als Vergangenes […] gleichzeitig“ (W 176) sein kann. Und dies gilt insbesondere in Perspektive auf die von Schelling so genannte ‚große Zeit‘, bei welcher vor- und nachzeitige Ewigkeit als Vergangenheit und Zukunft zur Gegenwart des Weltlaufs fungieren. Die Prinzipien der Schöpfung, d. h. die Prinzipien als in Simultaneität gedachte Potenzenkonstellation in Gott, wirken durch den Weltlauf hindurch kontinuierlich fort, insofern sie zugleich die prägende Wirklichkeitsstruktur von der Verborgenheit des Grundes bis auf die Oberfläche des sichtbaren Weltlaufs bilden.

5. Resümee Insofern Potenzen zugleich die Prinzipien der Philosophie darstellen, nehmen sie in dritten Weltalterentwurf eine zentrale Stellung ein. Dabei entwickelt Schelling das Grund-Existierendes-Verhältnis in dem Sinne weiter, dass die Potenzen je in sich aus den Dominanzverhältnissen des Expansiven und Kontraktiven, des Äußeren und Inneren bestehen und ihnen ein dynamisches Moment wechselseitiger Umwandelbarkeit zukommt. Zudem erweitert der das duale System aus Grund von Existenz und Existierendem (bzw. Sein und Seiendem) zu einem dreigliedrigen System nach der im ersten Weltalterentwurfs wieder aufgegriffenen Formel der ‚Einheit der Einheit und des Gegensatzes‘. Sie bilden zugleich den göttlichen Geist als Voraussetzung der Schöpfung und gliedern und prägen den tatsächlichen Epochenverlauf der metaphysischen Geschichte. Deutlicher als zuvor betont Schelling hierbei das Moment der Freiheit, das sich nicht auf eine bestimmte Potenz oder Potenzenkonstellation zurückführen lässt, als dasjenige, welchem sich die Schöpfung verdankt. Dabei formuliert er den für die Spätphilosophie zentralen Begriff des ‚Seinkönnens‘ als Charakteristikum dieser Freiheit im Sinne eines Seinkönnens, aber nicht -müssens, d. h. als ein Freiheitskriterium, das einerseits das Können im Sinne des Handlungsvermögens und andererseits des Nicht-Müssen im Sinne des Prinzips alternativer Handlungsmöglichkeiten beinhaltet.

II. Die Erlanger Vorlesungen Initia Philosophiae Universae (1820/21) Die hinsichtlich ihres überlieferten Textbestandes schwer zu behandelnden Vorlesungen unter dem Titel Initia Philosophiae Universae, die Schelling im Wintersemester 1820/21 in Erlangen gehalten hat, sollen hier lediglich kursorisch auf ihre Begrifflichkeit der Potenz und deren systematische Implikatio-

II. Die Erlanger Vorlesungen Initia Philosophiae Universae (1820/21)

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nen gewürdigt werden, wiewohl Schellings Philosophie der Potenz in den Initia einen gewichtigen Raum einnimmt. Ein Grund hierfür ist bereits darin zu sehen, dass die Publikation der Bände II,10.1–3 der Akademieausgabe erstmals ein umfangreiches, 400 Druckseiten starkes handschriftliches Manuskript Schellings zu seiner Vorlesung präsentieren konnte (AA II,10,1, 169–579), das sicherlich als Textgrundlage für die zukünftige Schelling-Forschung in Sachen Initia gelten darf, aber innerhalb des Rahmens einer Gesamtschau auf Schellings Philosophie der Potenz nicht angemessen gewürdigt werden kann, zumal die Publikation der zehnten Nachlassbände der Akademieausgabe sich mit der Ausarbeitung der hier vorliegenden Untersuchung überschnitt. Hinzu kommt die gleichfalls erstmalige Publikation einer bisher unbekannten Vorlesungsnachschrift, so dass mit den von Schellings Sohn in den SW unter dem Titel ‚Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft‘ abgedruckten Einleitungsvorlesungen und der bereits bekannten, durch Horst Fuhrmans 1969 herausgegebenen Nachschrift gleich vier Paralleltexte der Erlanger Vorlesungen vorliegen. Dennoch sollen drei wichtige Aspekte in der begrifflichen Entwicklung von ‚Potenz‘ herausgearbeitet werden, die für die Initia selbst auch eine zentrale systematische Bedeutung haben: 1) Schellings Zusammenführung der modalontologischen Seinsbestimmungen eines Seinkönnenden, Seinmüssenden und Seinsollenden mit der Dreiheit der Potenzen, die die Einheit des freien göttlichen Geistes gewähren soll, wie er sie insbesondere in der 14.–18. Vorlesung ausgeführt hat. 2) Schellings Darstellung der Schöpfung der geistigen Welt als Umwendung (universio) der Potenzen in Verbindung mit seiner Interpretation der Potenzen als Erscheinungsweisen eines Wollens, wie er sie ab der 29. Vorlesung vorbereitet und insbesondere in der 33. Vorlesung dargestellt hat. Und 3) die dynamischen Entfaltungs- und Verschließungstendenzen der Potenzen als Erzeugungskräften der tatsächlichen Schöpfung als des physikalischen und geschichtlichen Weltverlaufs. Als ein in Hinsicht auf die Entwicklung des Begriffsfelds ‚Potenz‘ insgesamt mit Perspektive auf das Gesamtwerk wichtiger Aspekt wird sich hierbei zeigen, dass Schelling erstmals versucht, die bis dato disparaten Gedankenmodelle von Akt und Potenz einerseits und von Potenz im Sinne einer Potenzenfolge zusammenzuführen. Die systematische Fragestellung der Initia lässt sich von der Perspektive der Weltalter her einfach charakterisieren. Die im Titel genannten ‚allgemeinen Anfangsgründe der Philosophie‘ 6 werden in der Entfaltung des göttlichen Geistes und seiner inneren Bewegungen entwickelt – und entsprechen damit im Grunde dem Programm der Weltalter, d. h., einer Darstellung der Epoche der

6 Vgl. zum Titel den ‚Editorischen Bericht‘ der Akademieausgabe AA II,10,1, 77. Schelling selbst nennt im Manuskript ‚Initia‘ die „äußersten Umrisse“ (AA II,10,1, 579) der Philosophie.

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Vergangenheit als dem Sein Gottes in der Ewigkeit vor der Schöpfung. 7 Die allgemeinen Prinzipien der Philosophie sind die Voraussetzungen des Universums vor der Entstehung des physikalischen Kosmos und des Menschen als Träger der Geschichte, die Schelling in den letzten Vorlesungen (34–36) dann auch auf die tatsächliche Schöpfung projiziert.

1. Die Potenzen als Seinkönnen, Seinmüssen, Seinsollen Den im dritten Weltalterentwurf erstmals aufgezeichneten Begriff eines Seinkönnens, verstanden als Freiheitsmerkmal der Alternativität zwischen dem Seinkönnen und dem Nichtsein-Können, führt Schelling in den Initia weiter aus, indem er ihn einerseits (a) als Kompositum aus den Freiheitsmerkmalen des Seins und des Könnens zu erläutern versucht, (b) die ihm eigene Spannung und Dynamik als die einer Potenz interpretiert und hierbei das dreigliedrige Potenzensystem neu als Potenzen eines Seinkönnenden, Seinmüssenden und Seinsollenden entwickelt und zuletzt (c) die Dreiheit der Potenzen als Formen in potentia in Relation zu ihrer aktualen Einheit als einem ihnen übergeordneten vierten Prinzip interpretiert. a) Sein und Können Die erste begriffliche Zusammenführung ist leicht erläutert: In der fünften Vorlesung stellt Schelling die Frage: „Was ist die ewige Freiheit?“ (AA II,10,2, 623/ Initia, 23) als Wesenseigenschaft Gottes und beantwortet dies dahingehend, dass sie zunächst ein Können ist, das Wissen impliziert, womit Schelling wichtige Freiheitsmerkmale des Handels nennt: Freies Handeln zeichnet sich dadurch aus, weder blind (unwissend) noch unvermögend (ohnmächtig) zu sein. Zugleich ist das Absolute, an sich Seiende, diese ewige Freiheit im Sinne seiner Existenzweise. „Es gibt kein Sein an sich als die ewige Freiheit“ (AA II,10,2, 710/Initia, 70). Daher stellt sich Schelling in der 14. Vorlesung die Frage, in welchem Verhältnis nun Sein und Können innerhalb des Absoluten zueinander stehen. Im Ergebnis ordnet Schelling das Können einer Subjekt-Stellung und das Sein der entsprechenden Objekt-Stellung zu. Das Können ist ein Sein-Können, genauer gesagt, ein „das Sein sich anziehen Können[.]“ (AA II,10,2, 714/ Initia, 75), d. h., eine mögliche Bewegung und Seinszuführung. Dass das Können das Sein anzieht, bedeutet in Kontexten des Erkennens und Handelns, dass es als ein „wissen wollen, begehren, sich gegenständlich machen“ (AA II,10,2, 715/Initia, 76), zu verstehen ist. In einer schönen, an die Naturphilosophie angelehnten Metapher nennt Schelling das Können den „natürliche[n] Magnet[en] des Seins“ (AA II,10,2, 716/Initia, 76). 7

Vgl. hierzu Fuhrmans 1969, XVIII.

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Nun ist das Können allerdings ein Zustand, der nicht nur intentional auf ein Sein ausgerichtet ist, sondern einer, der in seiner Realisierung selbst ein Seiendes wird. Das Können, das sich aktiviert, ist Handeln und damit selbst etwas. Damit sind die wichtigsten Bausteine dargelegt, aus denen Schelling das Seinkönnen im Sinne eines Anfangsprinzips zu etablieren vermag. Es ist einerseits Sein und Nichtsein Könnendes, als Seinkönnendes andererseits aber eines, das das Sein selbst in doppelter Weise anzieht. Im Ursprungszustand, oder als ‚bloßes Können‘, wie Schelling sagt, hat es dieses doppelte Sein jedoch noch nicht. In diesem Sinne ist das bloß Könnende auch das „nicht Seiende“ (AA II,10,2, 716/Initia, 77), aber, da ihm doch ein Bezug auf das Sein innewohnt, der Anfang des Seins. Es ist, wie Schelling formuliert, die „Freiheit im Potenzzustand […]; sie ist die Wurzel, von wo aus es zum Aufsteigen kommen muss“ (ebd.). Erst durch das „ursprüngliche magische Anziehen [erhebt] sich das Können zum Seinkönnen“ (AA II,10,2, 717/Initia, 78). Demnach ist zu unterscheiden zwischen dem Ursprungszustand eines bloßen Könnens, das wohl das Sein anziehen kann, aber es noch nicht anzieht, und jenem spannungsvollen Anziehen des Seins, bei welchem das Können selbst seiend (und damit selbst zu einem Objekt des Seins) wird, indem es zugleich als Subjekt der Bewegung ein Sein als Objekt auf sich zieht. b) Seinkönnen, Seinmüssen und Seinsollen Mit dem bloßen Sein Könnenden als ‚Freiheit im Potenzzustand‘ ist die Perspektive auf eine Interpretation des Seinkönnenden als Potenz eröffnet. Schelling führt diesen Gedanken weiter, indem er nun die zuvor zwar aufeinander bezogenen, aber doch in der konstruktiven Anwendung je getrennten Begriffe der Potentialität (potentia) und der Potenz weiter zusammenführt; im dritten Weltalterentwurf war dieser Gedanke erstmals skizzenhaft aufgeschienen. Hierdurch entsteht eine innere Verbindung der zuvor lediglich sprachlich ähnlichen Ausdrücke von Potenz (im Sinne einer Potenzenfolge) und Potentialität (potentia) im ursprünglichen Sinne eines auf Realisierung bezogenen Möglichen: Denn im Ausdruck eines ‚Potenzzustands‘ ist der Gedanke der potentia im Sinne der auf eine Wirklichkeit hin angelegten, aber noch nicht in diese Wirklichkeit getretenen Möglichkeit enthalten. Es ist der Zustand, von dem aus etwas sich realisieren kann. Schelling versteht nun das Seinkönnende, das ja Anfang und Ursprung ist, als erste Potenz und leitet hiervon ein Seinmüssendes und ein Seinsollendes begrifflich so ab, dass diese zunächst als Momente eben des Seinkönnenden gefasst werden. Das Seinmüssende ist dasjenige am Seinkönnenden, dass es, insofern es sein kann, zugleich nicht nicht-sein kann, also sein muss (AA II,10,2, 718/Initia, 79). Das Seinsollende versteht Schelling als den Aspekt der Spontaneität am Seinkönnenden, als eben die Freiheit zu sein und nicht zu

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sein. Das Seinkönnende kann hinsichtlich dieser Alternativität nicht zu einer oder der anderen Seite gezwungen werden. Daher ist das Seinsollende die Spontaneität „in Bezug auf das Seinkönnen und das nicht sein können“ (AA II,10,2, 718/Initia, 79). Daher sind Seinkönnen, Seinmüssen und Seinsollen „jeder in seiner Art ein Seinkönnen“ (AA II,10,2, 721/Initia, 81); jenes unmittelbar, diese mittelbar. Insofern Schelling das Seinkönnen als ‚Potenzzustand‘ des Seins bezeichnet hatte, kann er nun folgern: „Inwiefern alle drei Begriffe ein Seinkönnen enthalten, so sind sie alle Potenzen des Seins“ (AA II,10,2, 721/Initia, 81). Dementsprechend belegt der sie dann auch mit den formelhaften Ausdrücken von ‚A1‘, ‚A2‘ und ‚A3‘. 8 An dieser Zuordnung sind in Hinsicht auf Schellings Gebrauch des Potenzenterminologie zwei Aspekte bemerkenswert: erstens verwendet Schelling hier nicht mehr den in Hinsicht auf eine dreigliedrige Potenzenfolge störenden Ausdruck ‚A = B‘ für die erste Potenz. 9 Und zweitens unternimmt er hier eine stillschweigende begriffliche Ersetzung von ‚Potenzzustand‘ (womit ja ‚Potenz‘ im Sinne von potentia bezeichnet war) zu ‚Potenz‘ im Sinne einer Folge von Potenzen. Der damit verbundene konstruktive Gedanke wird klarer, wenn man hinzunimmt, dass Schelling nun in Hinsicht auf die ewige Freiheit des Absoluten, deren begriffliche Analyse ja das Seinkönnen hatte zutage treten lassen, zwischen einer „als solche seienden ewigen Freiheit [und einer] nicht als solche seienden ewigen Freiheit“ (AA II,10,2, 723/Initia 84) unterscheidet mit der Maßgabe, dass jene die Freiheit in actu, diese dieselbe in potentia sei. Der Unterschied besteht darin, dass diese noch blinde Möglichkeit ist, jene bereits Wissende, und damit auf mögliche Realisierung bezogen. Die nicht als solche seiende ewige Freiheit wäre eine Quasi-Freiheit blinder Willkür, während die als solche seiende ewige Freiheit eine ist, die in Kenntnis des gesamten Möglichkeitsraums alternativer Handlungsoptionen agieren kann. Schelling führt nun aus, dass der ersten „alles nur in potentia [sei], so, dass die drei Potenzen, A1, A2 u. A3 nicht wirklich hervortreten, sondern nur als möglich in ihm verborgen bleiben“ (AA II,10,1, 723/Initia, 84). Bemerkenswert ist hier die Redeweise, dass die Potenzen ‚in potentia‘ sind. Demnach gilt es hier zu unterscheiden zwischen Zweierlei: dem Status der Potenzen relativ auf ihre Entwicklungsstufen und der Dreifalt der Potenzen in

8

Diese Notation findet sich auch vielfach in Schellings Handschrift. Vgl. AA II,10,1, 338,

347. 9 Allerdings ist zu bemerken, dass Schelling in der 34. Vorlesung wieder auf die Notation „A = B“ zurückgreift, um den an dieser Stelle der Entwicklung hervorgehobenen Aspekt der inneren Differenz oder Zweiheit der ersten Potenz zu kennzeichnen. Dort heißt es, „jene tiefste Potenz [sei] ihrer Form nach […] das Gezweite A = B“ (AA II,10,1, 544), während sie ihrem Wesen nach Einheit sei; diese Einheit bezeichnet Schelling hier mit ‚A0‘.

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ihrem Wechselbezug. Innerhalb des bloßen (blinden) Seinkönnens bleiben die Potenzen lediglich als Momente desselben gleichsam noch in sich verborgen; das auf Wirksamkeit bezogene (aber noch nicht tatsächlich wirkende) Seinkönnen ist innerhalb dieser Stufe hingegen in actu und differenziert dabei die drei Potenzen aus. Ein wesentlicher Unterschied zur Aktualisierung der Potenzen in der als solchen seienden Freiheit besteht demnach darin, dass im Zustand in potentia die Potenzen noch nicht getrennt sind; sie sind eine in sich ungegliederte Einheit, die als solche sich nicht in ihre Momente ausdifferenzieren kann. Hingegen ist die Einheit der Potenzen in actu so, dass sie zugleich auseinander- und zusammengehalten werden. Auseinandergehalten, damit ihre innere und je wechselbezügliche Struktur sichtbar und wirksam werden kann, zusammengehalten, weil sie zuletzt doch keine Einzelne sind und als solche auch nicht bestehen könnten, sondern Potenzen eines Absoluten. Für beide Stufen allerdings gilt, dass sie in der Immanenz des göttlichen Geistes als dessen Konstitutionsmomente verbleiben, und sich noch nicht als Wirkmächte der geschichtlichen Wirklichkeit entfaltet haben. In diesem Sinne sind die beschriebenen Zustände in potentia/in actu auch wieder bloße Relationsbegriffe. Die bis dato beschriebenen Zustände der ausdifferenzierten Potenzen sind in actu relational zum bloßen Seinkönnen, in welchem sie in potentia enthalten sind. Zugleich sind sie ihrerseits in statu potentia relational auf den zweiten, nachfolgend erörterten Schritt ihrer Entfaltung (Aktualisierung) in der Schöpfung. Ehe die Entfaltung der Potenzen in der Schöpfung näher betrachtet werden kann, gilt es noch, einen auffälligen Aspekt in der Konzeption der Einheit der Potenzen im Sinne des göttlichen Geistes vor der Schöpfung festzuhalten. Denn Schelling unterscheidet in den Erlanger Vorlesungen explizit die Einheit der auseinandergehaltenen Potenzen von diesen selbst, so dass sich eine viergliedrige Struktur dreier Potenzen und ihrer Einheit ergibt. Hierbei zeigt sich, dass die Aktualisierung der Potenzen in ihrer Differenzierung und ihrem Auseinandergehaltenwerden wiederum nur eine relative war, wenn auch in einem anderen Sinn: „Die aktuelle Freiheit wird durch die Potentialität, d. h., durch die Nichtwirklichkeit jener drei Potenzen gesetzt“ (AA II,10,2, 725/Initia, 86). Das soll bedeuten, dass sich die drei Potenzen in Bezug auf ihre aktuelle Einheit wieder als Potenzen im Sinne der potentia verhalten. Noch deutlicher wird dies zu Beginn der 24. Vorlesung, wo Schelling schreibt: „die drei Potenzen sind nicht etwa Seiende, sondern nur die drei Potenzen des Einen Seienden“ (AA II,10,1, 423, Herv. Vf.). Potenzen sind sie in sich selbst als innere Momente der Dynamik im Aufbau des Geistes, nur Potenzen hingegen in Hinsicht auf die Frage nach ihrer Wirklichkeit im Vergleich zur Wirklichkeit des Geistes. Allerdings ist hierbei zu beachten, dass diese Nichtwirklichkeit eines unselbständigen Konstitutionsmoments, wie es die Potenzen in Bezug auf ihre (emergente) Einheit als Geist sind, eine andere ist als die Nichtwirklichkeit einer Möglich-

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keit, die sich nach dem Modell des Keimes und der Pflanze auf eine Wirklichkeit hin aus dieser heraus entwickeln kann. So zeigt sich hier, dass Schelling in den ersten Schritten bzw. Versuchen einer Vereinigung der Modelle von potentia/actus und Potenz/Potenzen im bisherigen Sinn die Begrifflichkeit von potentia dehnt, insofern er nun auch die bloße Unwirklichkeit einer Sache in Bezug auf die Wirklichkeit einer anderen, durch sie konstituierten, miteinbegreift, ohne dass hierbei ein Entwicklungsmoment der einen aus der anderen enthalten wäre. Demnach ist als wesentliche begriffliche Eigenschaft von potentia/actus im Hinblick auf Potenzen ihre Relativität hervorzuheben. Innerhalb des Status der als solche seienden ewigen Freiheit sind sie aktuell relativ auf jenen Urzustand des bloßen Könnens, der stillen Einheit. In Hinsicht auf die Realeinheit des Absoluten verhalten sie sich jedoch zugleich als dessen inneres Amalgam, und damit wiederum als subemergente Unwirklichkeiten. Denn Schelling konzipiert den absoluten Geist in Erlangen so, dass an ihm selbst zuletzt gar nichts Potentielles mehr haftet: „das Aktuelle kann sich niemals mit dem Potentiellen vereinigen und sich mit ihm identifizieren“ (AA II,10,2, 726/Initia, 86). Dies soll besagen: Gott ist in sich selbst voll verwirklicht. Dennoch ist er noch nicht der wirkende Gott im Sinne der Schöpfung. Der bis dato entwickelte absolute (wissende) Geist entspricht Gott vor der Schöpfung.

2. Die Potenzen als Willensformen Als „letzte Prämisse zur Erklärung des wirklichen Übertritts in das Sein“ (AA II,10,1, 505) nennt Schelling „den Begriff des Wollens“ (AA II,10,2, 774/ Initia, 131). Dieser letzte Baustein der Voraussetzungen der Schöpfung erhält dabei in der Systematik der Potenzen, denen seine spezifischen Erscheinungsweisen schließlich zugeordnet werden, eine neue, über die Willensmetaphysik der Freiheitsschrift und die Zuordnung von Potenzen zu Willensmomenten im psychologischen Schema der Stuttgarter Privatvorlesungen deutlich hinausgehende Funktion und inhaltliche Bestimmung. War es in der Freiheitsschift der duale Kontrast des Eigenwillens und des Universalwillens gewesen, die Schelling den Momenten von Grund und Existierenden innerhalb des internen Dualismus zuordnen konnte, und hatte er in den Stuttgarter Privatvorlesungen innerhalb des Geistes einen bewussten Willen als zweite Potenz zwischen die Willen der Egoität und der Alterität eingefügt, und waren somit Hierarchie, wechselseitige Stellung und Richtung des Willens die Hauptpunkte des Interesses Schellings gewesen, ist es jetzt das Moment des Wollens selbst im Gegensatz zum Nichtwollen, das Schelling theoretisch für die Zwecke einer Verständlichmachung der Offenbarung fruchtbar zu machen versucht.

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Ehe dieses neue Element allerdings eingehender untersucht werden soll, gilt es, Schellings Zuordnung der Momente des Willens zur der Folge der Potenzen analog zu ihrer Darstellung innerhalb der Terminologie des Seinkönnenden, Seinmüssenden und Seinsollenden nachzuvollziehen. Hierbei zeigt sich, dass Schelling in der Perspektive des Willens die herausgearbeitete Dynamik der Potenzen zunächst aufnimmt und dann in einem zweiten Schritt auf die InGang-Setzung der Schöpfung anwendet. Hierbei ordnet er zunächst drei Willenserscheinung den drei Potenzen zu, insofern hier generell gelten soll: „Wille = Potenz“ (AA II,10,1, 429). Dabei gibt es entsprechend der viergliedrigen Einheit der drei Potenzen einen dreifachen Willen innerhalb der Einheit eines sie integrierenden übergeordneten ‚lauteren‘ Willens. Und ebenso entsprechen hierbei die Willensformen den Potenzenformen des Seinkönnenden, Seinmüssenden und Seinsollenden, die Schelling wiederum den in den früheren Schriften dargelegten Willen der Egoität und Alterität zuordnet. „der erste Wille ist der das Sein sich anziehen könnende Wille; wir können ihn dem natürlich selbstischen im Menschen vergleichen“ (AA II,10,1, 428 f.). Um von der Dualität der Freiheitsschrift zur Triplizität der aktuellen Potenzenlehre zu gelangen, unterscheidet Schelling zwei Formen eines selbstlosen Willens: einen gezwungenen und einen freien. Der gezwungene, dem Seinmüssenden entsprechende ist der „natürlich unselbstische Wille“ (AA II,10,1, 429), also die unwillkürliche Naturanlage des Menschen zum Geben, während der der seinsollenden Potenz entsprechende Willen endlich der bewusste und freie Wille ist und damit Momente des ersten und des zweiten vereinigt: „Der Dritte Wille ist […] der besonnen-unselbstische Wille, der obwohl Freiheit, wie der erste, dennoch so unselbstisch ist wie der zweite“ (AA II,10,1, 429). Dabei finden sich auch die inneren Verhältnisse der drei Potenzen in den Willenserscheinungen wieder: es ist ein dreifacher Wille in der zunächst ungegliederten Einheit ihrer übergreifenden Form, in welcher sie als innere Momente höchstens begrifflich, nicht aber tatsächlich unterscheidbar sind. Von hier aus entspricht dem Auseinandertreten der Potenzen innerhalb ihrer übergreifenden Einheit „ein inneres Auseinandergehen – das erste“, wie Schelling im Vorlesungsmanuskript selbst kommentiert, „welches nicht mehr nur in unserem Begriff, sondern im Gegenstand selbst“ (AA II,10,1, 428) sich vollzieht, und das daher auch introspektiv in der Willensphänomenologie des Menschen nachvollzogen werden kann. Wichtiger vielleicht noch ist die Bedeutung, die Schelling selbst dieser Konstellation zumisst, ist doch dieses Auseinandertreten der Potenzen aus ihrer ursprünglichen, undifferenzierten Einheit in eine neue, in sich gegliederte Einheit der Punkt, an dem die uralte Systemanforderung, dass dieses das Alles in Einem (hen kai pan) abbilden müsse, eingelöst zu sein scheint. So schreibt Schelling in einer seinem Manuskript beigefügten Stichwortzusammenfassung zu diesem Punkt: „Hier de[r] langgesuchte[.] Moment,

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wo die drei Potenzen = drei Willen geschieden und Eins (die Allheit und Einheit ineinander)“ (AA II,10,1, 434). Auf dieser Basis nun, insofern sich die Potenzenlehre des Seinkönnenden zugleich als Willensmetaphysik der Potenzen verstehen lässt, kann Schelling ein besonderes Willenskriterium zur angezielten ‚vollständigen‘ Erklärung der Weltentstehung fruchtbar machen. Auf der Suche nach einem wirklichen Anfangspunkt, der sich strikt nicht wieder aus weiteren Voraussetzungen ableiten lässt, entdeckt Schelling in einer Analyse der metaphysischen Momente des Wollens überhaupt den Aspekt des Umschlags von einem nichtwollenden zu einem (etwas) wollenden Willen. Die ihn hierbei leitende Idee ist ebenso simpel wie einleuchtend. Wenn Wollen überhaupt darin besteht, etwas zu wollen, und demnach Wollen überhaupt nur dadurch seiend ist, dass es etwas will, dann heißt dies: der Willen wird erst durch das Wollen selbst zu einem Etwas, aber unterschieden von dem Etwas, das es will. Umgekehrt heißt dies, dass ein Wille, der nichts will (also ein selbstgenügsamer, gelassener Wille), in diesem Sinn nichts ist. Da nun der wollende Wille zwar selbst etwas ist, aber nicht das Etwas, das er will, ist umgekehrt der nichtwollende Wille zwar selbst nichts, dafür aber, so Schellings an dieser Stelle schwieriger dialektischer Schritt, in Hinsicht auf das Gewollte alles. Alles – sofern er nichts Spezifisches will und daher die Totalität alles Seienden als Möglichkeiten des Wollens offen hat. Er ist in diesem Sinn die Ruhe der Seinsfülle des göttlichen Geistes vor der Schöpfung, bei welcher jenes Alles daher nicht in der Form der Aktualisierung, sondern wiederum nur in potentia vorliegt, in potentia relational nun zum wollenden Willen als Wirklichkeitserzeugungsinstrument. Der wollende Wille hingegen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er etwas, d. h. etwas Konkretes aus dieser Fülle zu aktualisieren versucht. Der Übergang vom Nichtwollen zum Wollen in diesem Modell ist daher der gesuchte erste Moment der Seinsentzündung. Er ist „unwillkürlich“ (AA II,10,2, 778/Initia, 135), wie Schelling treffend hervorhebt, insofern er nicht seinerseits von einem Willen, d. h. einer bewussten, geplanten, Entscheidung oder Absicht getragen wird. Dennoch gibt es einen Aspekt innerhalb des ruhenden Willens, der seinen Übertritt in das Wollen verständlich macht: der nicht wollende Wille ist offenbar schon begrifflich ein Widerspruch, insofern er als Nichtwollender gerade nicht Wille ist, als Wille (auch als nichtwollender) aber andererseits auch nicht nichts sein kann. Dieser Widerspruch findet sich direkt in der Seinsentstehung wieder und trägt diese: denn Anfang kann weder mit Willen sein (sonst wäre der Willen schon vor dem Anfang) noch ohne Willen, sonst käme kein Anfang zustande. 10 Daher ist das Anfang-Sein, das Schelling hier in Anknüpfung an die Metaphysik der Freiheitsschrift als „Grund der Existenz von einem anderen“ 10 Vgl. zur Ambivalenz der ersten Potenz in ihrer voluntativen Hinsicht in den Erlanger Vorlesungen auch Durner 1979, 158 f.

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(AA II,10,2, 779/Initia, 135) Sein charakterisiert, in sich zwiespältig. Und diese Zwiespältigkeit beinhaltet die Innentendenz dessen, das Alles ist, ohne es zu sein, ins Sein überzutreten.

3. Universio und Aktus Damit sind die von Schelling durch die Willensstruktur selbst explizierten Voraussetzungen dargelegt, um die Schöpfung, d. h. in einem ersten Schritt, die Hervorbringung des geistigen Stoffes der Schöpfung überhaupt, und damit die Sphäre des objektiven Geistes, mittels des Begriffspaars von Potenzialität und Aktualität zu erläutern. Diese Sphäre des objektiven Geistes ist der Kosmos der Ideen als der „Inbegriff aller Urbilder“ (AA II,10,2, 792/Initia, 149). Denn der Übergang vom nichtwollenden zum wollenden Wille ist ein Übergang von der Potentialität zum Akt. 11 Allerdings – und dies ist ein neuer konstruktiver Gedanke, den Schelling an dieser Stelle in die Vorlesung einflicht – ist dieser Übergang zugleich ein Übergang von der Potenz zum Akt und vom Akt zur Potenz, wenngleich in verschiedener Hinsicht: Das Wirksamwerden des Willens im Wollen entspricht einer Selbstaktualisierung dessen, dass er zuvor in potentia war. Mit dieser Aktualisierung geht einher, dass der Wille seinen ursprünglichen Status als Potentialität zugunsten der Aktualität des Wollens verlässt. Wenn jedoch Wollen zugleich bedeutet, etwas zu wollen, dessen sich der Wille noch nicht bemächtigt hat, dann liegt auch im aktualisierten Wollen eine Potenzialität anderer Art. In der Konkretion des Bezugs auf eine bestimmte Sache verliert der Wille seinen Allbezug – und setzt sich dadurch in Bezug auf das All wiederum in potentia. In der zwischenzeitlich veröffentlichten Handschrift der Initia wird klar, dass Schelling hier zunächst an eine Täuschung in der Selbstbemächtigung des ursprünglich nichts wollenden Willens denkt: „Der Wille, der als unwirksamer Alles war, wollte, nachdem er zum Wirken übergegangen war, ebenfalls noch Alles sein“ (AA, II,10,1, 526) und fiel, da sich dies nicht realisieren ließ, in eine Potentialität anderer Stufe zurück. Dies entspricht „eine[m] Übergang a potentia ad actum und wieder eine[m] Rückgang ab actu ad potentiam“ (AA II,10,2, 792/Initia, 148). Schelling unterscheidet hierbei eine innere (ursprüngliche) und eine äußere (sekundäre) Potentialität, in die der Wille mit seiner Erhebung aus der inneren Potentialität schließlich zurückfällt. Die innere Potentialität entspricht dem bloßen Seinkönnen des Anfangs, der ersten Potenz. Mit seiner Aktualisierung geht eine irreversible Umwandlung einher. „Zum Aktus übergegangen, kann er [der Wille] nicht in die innere Potentialität zurück und kann sich doch auch nicht als das Aktuelle behaupten; es bleibt ihn also nichts anderes übrig, als in die äußere Potentialität zu gehen“ (AA II,10,1, 526). Hier zeigt sich ein Stück 11

Vgl. hierzu auch Fuhrmans 1969, 247 f.

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subtiler, von tiefen Einsichten in die Phänomenologie und Funktionsweise des Willens getragener, Willensmetaphysik. Denn jeder Wille hat die Tendenz, sich in der Realisierung des Wollens, eben durch diese, zu erschöpfen, da die Aneignung des Gewollten durch den Willen eben jene Aneignungsbewegung aufzehrt, und es keinen Weg zurück in den Status zuvor gibt. Schelling sieht richtig, dass ein so erschöpfter Wille nicht mehr derselbe ist, wie der zuvor ruhende, und dass alles Wollen mit einem Vorgang irreversiblen Entäußerns einhergeht. In Hinsicht darauf, dass der Wille sich nicht mehr auf die ursprüngliche Stufe der inneren Potentialität zurückzugehen kann, ist er „eine erloschene Potenz, er bleibt stehen als bloßes Denkmal eines vergangenen Lebens“ (ebd./vgl. Initia, 148). Dass Schelling hier die räumlichen Metaphern einer ‚inneren‘ und ‚äußeren‘ Potentialität gebraucht, lässt die Bewegung der Entfaltung des Willens einerseits anknüpfungsfähig werden an die gleichsam von räumlichen Metaphern getragene Metaphysik des Grundes und der Potenzen in ihrer stufenweisen Entfaltung und lässt sich andererseits verbinden mit dem Gedanken, dass Offenbarung dem Wortsinne nach ein Nach-außen-Wenden eines Inneren bedeutet, eine Umkehrung der Verhältnisse, welche zugleich sich als Schöpfung im Sinne der Hervorbringung des Universums deuten lässt: Die tiefste Potenz seines Bestehens ist der aus dem Inneren herausgeworfene, in äußere Potentialität gesetzte […] Wille. Das, was die tiefste Potenz war im Inneren, ist die mächtigste Potenz im Äußern. Wir können also diesen ganzen Hergang auch vorstellen als eine Umkehrung des Einen (universio). (AA II,10,2, 793/Initia, 149)

Bemerkenswert hierbei ist auch, dass Schelling nun die Begriffe der ‚Potentialität‘ und der ‚Potenz‘ auch in Bezug auf den Willen zusammenführt. Die Rückverwandlung aktualisierter Potentialität des Willens in neue Potentialität anderer Seinsart ermöglicht es Schelling, hier eine Stufenfolge zu konstruieren, durch welche er die Willensmetaphysik mit der Drei-Potenzen-Folge des Seinkönnenden, Seinmüssenden und Seinsollenden verbinden kann. Hierzu bedarf es zunächst eines dritten Elementes, das die innere und äußere Potentialität des Willens ergänzt. Schelling argumentiert, dass der geistige Stoff, der Kosmos der Urbilder, der durch die Aktualisierung und gleichzeitige Depotenzierung des Willens entsteht, seinerseits bezogen sein muss auf ein Höheres, für das er Stoff ist. Und dass dieses Höhere eben als die der dritten Potenz entsprechende Sphäre des „Freie[n], Besonnene[n], […] eigentlich Beseelende[n] des hier entstandenen Ganzen“ (AA II,10,1, 527) zu verstehen sei, wodurch sich „eine vom Tiefsten bis zum Höchsten reichende Kette“ (ebd.) bilde, ein in sich gegliedertes Einheitsgefüge, in welchem die drei Potenzen „jede den ihr angemessenen und ihrer Zahl zukommenden Ort einnimmt“ (ebd.). Auch wenn die so konstruierte Dreieinheit der Potenzen etwas gekünstelt wirkt und mehr dem Systemwillen einer einheitlichen Theorie geschuldet zu sein scheint, denn aus un-

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bedingten Sachnotwendigkeiten ihrer Interpretation als Willensentfaltungen a potentia ad actum herrührt, so ist es doch bemerkenswert, dass und wie Schelling hier den Möglichkeits- und Aktualisierungsaspekt von Potenz mit ihrer Steigerungs- und Folgendimension zu verbinden versucht. Der verbindende Gedanke der Erlanger Vorlesungen ist dabei der, dass die Aktualisierung in etwa des Seinkönnenden als innerer Potentialität zugleich diese in eine andere Potentialität hebt, wodurch ein neues, ausdifferenzierteres Gefüge von Potentialitäten entsteht, welches sich als neu entstandene Ordnung einer Reihe von Potenzen verstehen lässt. Es ist schon erstaunlich: mehr als 20 Jahre, nachdem Schelling begonnen hatte, die Terminologie von ‚Potenz‘ und ‚potentia‘ in seine Philosophie zu integrieren, und in denen diese Begriffe mehr oder weniger zusammenhangslos in den jeweiligen Werken gebaucht wurden, ist in den Erlanger Vorlesungen nun Schellings Wille sichtbar, sie in der Willensmetaphysik der Schöpfung zu einer einheitlichen Theorie zusammenzuführen.

4. Die tatsächliche Schöpfung Während der Großteil der Erlanger Vorlesungen die Anfänge der Philosophie im Sinne der Voraussetzungen der Schöpfung und die Erzeugung des geistigen Universums thematisiert, beleuchtet Schelling in den beiden letzten Vorlesungen schließlich die tatsächliche Schöpfung im Sinne des Hervorbringens der physikalischen Welt inklusive des leiblichen Menschen und der durch ihn evozierten Geschichte. Dabei sind es zwei Momente, die Schelling in der 35. Vorlesung benennt, welche den Übergang von Gottes Zustand vor der Schöpfung in seine Entäußerung in der Schöpfung verständlich machen sollen: die Schöpfung ist von höchster Freiwilligkeit geprägt und sie geht einher mit der Entstehung der Zeit. 12 Für die gegebene Untersuchung von zentralem Interesse ist hierbei die Frage, wie die Konstellation der Potenzen, bis dato deduziert als Prinzipien der Philosophie vor der Schöpfung, in diese selbst eingehen. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass Schelling selbstverständlich davon ausgeht, dass „das Weltsystem […] durch keine anderen Kräfte [besteht] als durch die es auch ursprünglich gebildet worden“ (AA II,10,1, 566). Hierbei denkt Schelling in Hinsicht auf den physikalischen Kosmos an die aus der Naturphilosophie bekannten Kräfte der Attraktion und Repulsion, welche er zunächst zu einer Theorie des Raumes gebraucht, welcher kein Kontinuum dreier geleichberechtigter Dimensionen

12 Zur Freiheit Gottes in der Schöpfung vgl. Gerlach 2016; zur Entstehung der Zeit aus dem Horizont der vorzeitlichen Ewigkeit Gerlach 2020.

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sein soll, sondern auf der Basis der ursprünglichen Attraktion der ersten Potenz ein ursprüngliches Unten und Oben kennt. Auf das System der Zeiten übertragen, nach denen, wie schon in den Weltaltern dargestellt, die erste Potenz das Herrschende der Vergangenheit, die zweite der Gegenwart und die dritte der Zukunft ist, stellt sich nun die Frage, auf welche Art und Weise die entsprechenden Potenzen hier als die prägenden Prinzipien der jeweiligen Epochen fungieren können. Hierzu führt Schelling den Gedanken, dass die erste Potenz selbstische anziehende Kraft und absolutes Zentrum sei, die zweite hingegen eine von sich weg führende, zur Peripherie sich ausbreitende Kraft, fort und entwickelt aus der Verbindung dieser beiden Kräfte die prägenden Dimensionen der Epochenfolge. So ist die erste Epoche zunächst noch beherrscht von der ersten, anziehenden und hierdurch alles in sich ziehenden und in einem Chaos verschlingenden Potenz. Die zweite (irdische) Epoche hingegen ist geprägt davon, dass die zweite Potenz die erste in dem Sinn überwindet, dass sie ihrem zusammenziehenden Wesen entgegenwirkt und so die im Chaos der ersten Potenz beschlossenen Seinsdimensionen nach dem Muster der Naturphilosophie von 1798/99 entfaltet. Es geschieht hierbei „eine immer steigende Verklärung der schaffenden Kraft [= der ersten Potenz], da auf jeder Stufe ihre Verwachsenheit mit dem Sein aufgehoben wird“ (AA II,10,1, 571), bis sie zuletzt nach dem Stufenmodell der Naturphilosophie des Systems des transzendentalen Idealismus von der Natur befreit und „in Bewusstsein erhöht“ (AA II,10,1, 572) wird. Durch diese Wechseldurchdringung von erster und zweiter Potenz in der Epoche der Gegenwart wird auch das organische Wesen der Natur erklärt, bei welcher „eine offenbar blinde und besinnungslose Kraft zugleich zweckmäßig und mit Besonnenheit bildet“ (ebd.). Ihre höchste Bildung findet sie im menschlichen Geist. Der göttliche Geist der Alleineinheit, welcher der Epoche der Versöhnung und der Zukunft, und damit der dritten Potenz entspricht, ist hingegen keine einfache Fortführung der Dimensionen sukzessiver Ausdifferenzierung und Vergeistigung. Sondern hiermit ist ein neuer Umsturz verbunden, bei welchem „endlich die völlige Wiederumwendung des Äußeren ins Innere gelingt“ (ebd.), wodurch Gott sich von der Natur befreit und „als der übernatürliche, als der absolute Geist verwirklicht ist“ (AA II,10,1, 574). Bemerkenswert ist, dass Schelling in dieser Darstellung nicht auf das elaborierte Modell des dritten Weltalterentwurfs zurückgreift, in welchem die erste Potenz die Dominanz des zusammenziehenden Prinzips über das expandierende bedeutete, sondern unmittelbar auf das einfachere Modell der Zeit um 1800, bei dem die erste Potenz direkt als zusammenziehendes Prinzip im Sinne einer metaphysischen Kraft verstanden wurde. Demnach folgt einer Epoche der verneinenden Potenz, die alles in sich zieht, die Epoche einer die Herrschaft der ersten Potenz überwindenden und sich hierbei mit der ersten durchdringenden und versöhnenden Potenz, d. h., eine

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Zeit der Scheidung, und wird beschlossen von der Zeit der völligen Wiedervereinigung zwischen Natur und Gott; „daher ist die herrschende Potenz dieser letzten Zeit die dritte Potenz, der Geist oder die höchste Freiheit“ (ebd.). Dabei hebt Schelling hervor, dass die tatsächliche Folge dieser Epochen notwendig sei und auch nicht übersprungen werden könne. Die zweite Potenz könnte sich nicht entwickeln, ohne die Basis einer vorhergegangenen Einwicklung; die Versöhnung in Gott ist nur möglich auf der Basis eines vorhergehenden Antagonismus. Dabei bleibt auch bestehen: was Vorhergehendes im Sinne der Epochenfolge ist, bleibt in der nachfolgenden Epoche als Grund, d. h., als Basis relativ zur Herrschaft der übergeordneten Potenz bestehen. In diesem Sinne sind dann auch alle drei Potenzen in der Epoche der Zukunft, unter der Herrschaft der dritten Potenz enthalten. In der Gottheit allerdings sind diese nicht mehr als einzelne Prinzipien bzw. eigenständige Mächte enthalten, sondern „jede der hier entwickelten Potenzen ist nur das Aussprechende, alle sind nur Exponenten des Einen Wesens – der Gottheit“ (AA II,10,1, 575). Damit kann Schelling auch hier die Dreiheit der Potenzen in Gott trinitarisch deuten: je andere Potenzen in Gott bedeuten nichts anderes als je „andere Persönlichkeiten desselben Wesens“ (ebd.); diese wiederum sind umgekehrt die herrschenden Persönlichkeiten je einer Epoche, so dass der vorzeitlichen Ewigkeit als Epoche des Vaters die Zeit des Sohnes folgen kann und die nachzeitliche Ewigkeit der Allversöhnung sich als Epoche der Herrschaft des Geistes auffassen lässt.

5. Resümee Überblickt man die Erlanger Vorlesungen in Hinsicht auf die darin enthaltene Theorie der Potenzen, so fällt die Fülle der Konzeptionen von Potenz auf, die Schelling in ihnen anwendet. Hierbei handelt es sich vielfach um Rückgriffe auf bereits gegebene Modelle wie dem einer organischen Potenzenfolge oder von potentia als Realmöglichkeit. Gleichfalls werden früher entwickelte oder zumindest angelegte Modelle weiter entwickelt. Dies gilt für das Seinkönnen, das nun zur Basis einer dreigliedrigen Potenzenfolge wird, ebenso wie für die Idee einer Depotenzierung, die Schelling nun innerhalb einer Parallelbewegung von Aktualisierung und Repotenzierung auf verschiedenen Ebenen darstellt. Besondere Beachtung verdient hierbei Schellings Versuch, die Modelle von potentia/actus und Potenz im Sinne einer Steigerungsform und -folge zu verbinden. Allerdings ist auch festzuhalten, dass Schellings Darlegungen in den Vorlesungen von 1820/21 noch immer in hohem Maße Versuchscharakter haben; von einer aus Grundbestimmungen aufgebauten und einheitlich durchgeführten Theorie der Potenz kann keine Rede sein. Dies zeigt das skizzenhafte Schema einer Folge von Seinkönnendem, Seinmüssendem und Seinsollendem ebenso wie die nicht zur Klärung gebrachte Frage nach dem Verhältnis der drei

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Kap. 7: Die Ausbildung einer dynamischen Metaphysik

Potenzen zu ihrer Einheit als einer vierten Stufe, die Schelling einerseits in Hinsicht auf den göttlichen Geist proklamiert, andererseits bei je der trinitarischen Interpretation der Potenzen und der Epochenfolgen nicht berücksichtigt. Ebenso bleibt systematisch unklar, von welcher Bewegung die Potenzen eigentlich getragen werden: ist doch das Seinkönnen, das Schelling auch in der Perspektive des Willens als erste Potenz identifiziert, von einem transitiven Grundzug des etwas Könnens und Wollens getragen, während Schelling in der Darstellung der raum-zeitlichen Schöpfung wieder auf das Modell zurückgreift, bei welchem die erste Potenz durch eine Bewegung der Verschließung, und damit des Auf-sich-Zurückgehens gekennzeichnet ist, während die zweite Potenz ihr entgegen zur Peripherie drängt – ein Modell, das den in früheren Schriften entwickelten Willensmomenten der Egoität und Alterität entspricht, aber sich nicht unmittelbar in Schellings neuer Vorstellung des Seinkönnens als einer ersten Willenserhebung des Anfangs wiederfinden lässt, die er hier zugleich als erste Potenz interpretiert. 13 Die Erlanger Vorlesungen erweisen sich demnach in der Vielfalt ihrer teils disparaten Ansätze in Hinsicht auf Schellings werkübergreifende Entwicklung des Potenzkonzepts als ein Experimentierfeld, in dem ältere Modelle von Potenz mehrfach aufgegriffen wurden und in Hinsicht auf die Entfaltung des absoluten Geistes und der Schöpfung neue Verwendung fanden. Zugleich sind die ‚Initia‘ Anfänge auch für die Potenzenlehre der Spätphilosophie, insofern Schelling dort immer wieder auf hier entwickelte Konstellationen zurückgriff. Eher beiläufig auf die modale Folge von Seinkönnendem, Seinmüssendem und Seinsollendem, sehr intensiv hingegen auf die darin enthaltene zentrale Idee, dass in dem Seinkönnen als erster Potenz überhaupt ein letzter Anfang zu sehen sei.

13 Durner 1979, 160 bemerkt gleichfalls diese Umkehrung der Bewegungstendenzen von erster und zweiter Potenz in den Initia in Bezug auf die vorhergehenden und nachfolgenden Schriften. Durner versucht dabei, den Eindruck des Widersprüchlichen oder Willkürlichen dadurch zu vermeiden, dass er eine Doppelperspektive auf den „Übertritt der ersten Potenz ins Sein“ (ebd., Anm.) einnimmt. Sie ist „von Sein her gesehen – ein Herausgehen aus sich selbst, im Hinblick auf die Potenz jedoch eine Selbstanziehung“ (ebd.). Dies ist insofern richtig, als es die Zwiespältigkeit insbesondere der voluntativen Interpretation der ersten Potenz als Seinkönnender expliziert, die im Weggehen zu sich kommt (vgl. hierzu Gerlach 2019, 46). Dennoch ist festzuhalten, dass es bei Schelling in den Erlanger Vorlesungen eine entscheidende Umrichtung der Bewegungsdynamik der ersten Potenz von der Kontraktion der mittleren Philosophie zu einer primär transitiven Bewegung in der Spätphilosophie gibt, die nicht dadurch relativiert werden kann, dass sich in Schellings Dialektik je ein komplementäres Element zu jeder Seinsbewegung finden lässt, nach der in etwa jede der beiden Potenzen „nur auf entgegengesetzte Art das [ist], was die andere ist“ (AA II,10,2, 734/Initia, 95).

4. Teil

Potenzen des Seins in der Spätphilosophie (1827–1854)

Kapitel 8

Das System der Weltalter zur Hinführung I. Zur Textlage und -auswahl Schellings Spätphilosophie steht unter der besonderen Schwierigkeit nicht nur einer angemessenen Rekonstruktion ihrer Systemarchitektur und der mit dieser einhergehenden Würdigung und systematischen Einschätzung der vorliegenden Werke, sondern sie ist auch mit der Schwierigkeit einer komplexen und teils undurchsichtigen Entstehungs- und Editionsgeschichte dieser Werke verbunden. Diese hat ihren ersten Grund darin, dass Schelling bekanntermaßen nach 1812 keine Schriften mehr selbst zum Druck gegeben hat, sondern seine gesamte Spätphilosophie lediglich mündlich in Vorlesungszyklen und gelegentlichen Einzelvorträgen vorgebracht hat. Diese Spätphilosophie, welche mit einer außerordentlich produktiven Phase nach Schellings Rückkehr nach München 1827 einsetzt 1, umfasst Schellings zweite Münchner und (ab 1841) Berliner Zeit bis zu seinem Tod 1854. Daher sind alle Texte, die aus dieser Zeit bekannt sind, entweder aus dem Nachlass herausgegebene Manuskripte oder Briefe Schellings oder liegen in der Form von Mitschriften oder Abschriften solcher Mitschriften vor, welche die Zuhörer der Vorlesungen Schellings angefertigt haben. Ein zweiter Grund ist darin zu sehen, dass Schelling von 1827 an bis auf wenige Ausnahmen keine klar erkennbare Folge in ihrer Substanz unterschiedlicher Schriften, die auch dem Titel nach erkennbar eigenständige und gegenüber anderen Schriften dieser Periode in ihrer Eigenständigkeit klar abgrenzbare Texte gewesen wären, hervorgebracht hat, sondern er auch dem Titel nach dieselben Vorlesungszyklen über Jahrzehnte hinweg wiederholt hat. So finden sich von 1828 bis zum Ende seiner Vorlesungstätigkeit 1846 etwa 25 Vorlesungszyklen, welche die Philosophie der Mythologie, der Offenbarung oder Einleitungen hierzu im Titel tragen. 2 Bei diesen Vorlesungen kann davon ausgegangen werden, dass Schelling in ihnen ein stabiles Grundkonzept je neu vorgetragen hat, wodurch es zu inhaltlichen Varianten und auch systematischen Verschiebungen gekommen sein mag, die bis heute nicht klar erfasst werden können. Dies liegt einerseits daran, dass es noch lange nicht für alle 1

Vgl. Fuhrmans 1972, 24. Vgl. z. B. Baumgartner/Korten 1996, 243 f. und geringfügig hiervon abweichend Hutter 1996, 387 f. 2

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Kap. 8: Das System der Weltalter zur Hinführung

Vorlesungen dieser Zeit Dokumente in der Form von Manuskripten Schellings oder Nachschriften seiner Schüler gibt, und dass andererseits die in den Sämtlichen Werken von Schellings Sohn herausgegebenen Schriften, welche lange Zeit die maßgebliche Grundlage der Erforschung von Schellings Spätwerk bildeten, von diesem eben auf Grund der gezeichneten Problemlage sich ständig wiederholender Vorlesungszyklen nicht chronologisch, sondern systematisch auf der Basis einer testamentarischen Verfügung des Vaters angeordnet wurden. Dabei wurden allerdings Texte auch redaktionell so ergänzt, dass spätere Einfügungen in frühere Grundtexte im Nachhinein nicht mehr als solche erkennbar waren. Dies wiederum hatte zur Folge, dass Haupttexte der Spätphilosophie, welche auch in der Rezeption der Spätphilosophie eine zentrale Rolle gespielt haben, bis heute nicht klar datiert werden können. 3 Immerhin lässt sich aus der Abfolge der Vorlesungszyklen ein Plan der literarischen Textfolge erkennbar machen: Schelling trug zumeist zunächst eine historische Einleitung und sodann eine systematische Einleitung in die Philosophie der Mythologie und Offenbarung vor und ließ diesen dann je Vorlesungen über die eigentliche (historische) Philosophie der Mythologie und Offenbarung folgen. 4 In der Perspektive auf die Frage nach der Bedeutung und systematischen Stellung des Begriffsfeldes von ‚Potenz‘ bilden dabei die systematischen Einführungen, d. h. entsprechend der Themenstellungen der Weltalter und der Initia, die eigentliche Lehre vom göttlichen Geist als Voraussetzung der Schöpfung und der dieser auf der Basis einer freien Tat Gottes folgenden eigentlichen Schöpfung die zentralen Texte. Diese beiden Bereiche bilden auch den systematischen Kernbestand der negativen und positiven Philosophie: die Entfaltung des absoluten Geistes als Darstellung der rationalen Vernunftwelt vor der 3 Eine enorme Hilfe zur Orientierung in den späten Berliner Texten für das vorliegende Kapitel war das bis dato noch unveröffentlichte Manuskript des Kapitels zur Berliner Zeit im Schelling-Handbuch, das mir Thomas Buchheim und Friedrich Hermanni für die vorliegende Forschungsarbeit zur Verfügung gestellt haben. Ihnen sei an dieser Stelle sehr herzlich gedankt. 4 Vgl. Fuhrmans 1972, 17 ff. und Hutter 1996, 51. Allerdings ist die Folge im Detail auch nicht immer eindeutig. So bezeichnet Fuhrmans den ersten Teil, d. h. die Einleitung, als „Gottes- und Schöpfungslehre“ (S. 21), die er aber ihrerseits wieder in die Teile einer Erläuterung des Gegensatzes von logischer und historischer Philosophie, eines historischen Überblicks über die Systeme der Neuzeit und einer systematischen Einleitung gliedert, denen zuletzt der eigentlich grundlegende Teil der negativen und positiven Philosophie folgte. Nach dieser Gliederung ergibt sich, was Fuhrmans die „große Münchner Einleitung“ (S. 59) genannt hat, als deren Annex dann die eigentlichen Philosophien der Mythologie und Offenbarung folgten. Nach der in den Sämtlichen Werken durch die Anordnung des Sohnes Karl Friedrich August nahegelegten Systematik lassen sich jedoch die systematischen Einleitungen selbst als Teile der Philosophien der Mythologie und Offenbarung verstehen, so dass sich diese je in einen allgemeinen (grundlegenden) und einen besonderen Teil untergliedern lassen, welche die historische Entwicklung beinhaltet.

I. Zur Textlage und -auswahl

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Schöpfung entspricht dem Programm der negativen Philosophie; die positive Philosophie umfasst hingegen zudem und auf der Voraussetzung der negativen die wirkliche Schöpfung als Folge der freien Schöpfungstat Gottes. Als das Kernstück der negativen Philosophie kann jeweils eine in sich relativ abgeschlossene Abhandlung gelten, in welcher die letzten Voraussetzungen des Seins hergeleitet werden, und die daher eine Aufweisung letzter Prinzipien oder, insofern sich diese als Potenzen erweisen, der Potenzen beinhaltet. Hierfür liegen eine ganze Reihe an Paralleltexten vor. 5 Daher gilt es, für die Zwecke der gegebenen Untersuchung die geeignetsten Texte für die genaue systematische Analyse angemessen auszuwählen. Um Redundanzen zu vermeiden und die Untersuchung auf die zentralen Argumentationsgänge zu begrenzen – und dabei dennoch die genealogische Perspektive unter dem Anspruch der historischen Vollständigkeit beizubehalten – soll dabei folgendermaßen verfahren werden: Als Kerntext der Untersuchung zur Spätphilosophie sollen die Vorlesungen 10–14 des ersten Teils der Philosophie der Offenbarung (SW XIII, 177–309) dienen. Sie enthalten mit der Aufweisung der Prinzipien des absoluten Geistes und der freien Schöpfung die wesentlichen Theorieelemente der negativen und positiven Philosophie innerhalb einer zusammenhängenden Abhandlung. Zugleich decken sie historisch ein breites zeitliches Spektrum ab, insofern Schelling diese Vorlesungen schon ab 1831 in München und von da an in wenig veränderter Form bis zum Wintersemester 1844/45 in Berlin gehalten hat. 6 Um die historisch-genealogische Perspektive zu vervollständigen, soll dies mit einer Analyse der frühesten und spätesten Texte der Spätphilosophie ergänzt werden. Es sind dies einerseits die erste Münchner Vorlesung von 1827, System der Weltalter, welche zugleich schon dem Titel nach an das Weltalter-Projekt anschließt. Andererseits ist es Schellings letzte, in der späten Berliner Zeit nochmals neuverfasste und auch in der Nachlassverfügung als letztgültig dargestellte Fassung der negativen, reinrationalen Philosophie, welche unter den Titeln Philosophische Einleitung in der Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie in den Band XI der Sämtlichen Werke aufgenommen wurde (SW XI, 257–572); hier sind in Hinsicht auf die Potenzentheorie insbesondere die Vorlesungen 12–19 von Interesse. Diese, 1846 5

Vgl. SW XI, 386–398; XII, 24–79; XIII, 204–239; XIV, 337–356; SyWA 139 f.; UF 23–82. Es ist dabei davon auszugehen, dass Schelling auf der Basis eines nicht erhaltenen Manuskripts, das dem Sohn und Nachlassherausgeber als wesentliche Textquelle für die im Band XIII der SW dargestellte Philosophie der Offenbarung zur Verfügung gestanden hat, über mehr als ein Jahrzehnt hinweg die in ihrem doktrinären Kernbestand wesentlich unveränderten Vorlesungen zur Philosophie der Offenbarung gehalten hat. Dies zeigt auch ein Vergleich dieses Textes mit mehreren erhaltenen Vorlesungsmitschriften. Diese zeigen allerdings auch, dass Schelling im Detail sein Manuskript ergänzt und erweitert hat und insbesondere, dass Schelling auf der Basis des Manuskripts je in den Vorlesungen frei formuliert hat; vgl. hierzu auch Fuhrmans 1972, 45. 6

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Kap. 8: Das System der Weltalter zur Hinführung

begonnene und bis zu Schellings Tod 1854 nicht vollendete Schrift sollte die negative Philosophie noch einmal neu darstellen und abschließen. 7 In ihr sollte erneut die Potenzenlehre eine zentrale Stellung einnehmen. Insofern Schelling in der Darstellung der reinrationalen Philosophie nochmals die negative Philosophie unter veränderten Beweiszielen neu konzipierte, ergibt sich so zwar eine gewisse Doppelung zum negativen Teil der Philosophie der Offenbarung. Aber abgesehen davon, dass anhand einer solchen thematischen Parallelstellung sich begriffliche Weiterentwicklungen besonders deutlich zeigen lassen, ist diese abschließende Darstellung auch in Bezug auf ihren eigenen Anspruch in ihrer Eigenständigkeit darzustellen – um so Schellings Philosophie der Potenzen auch in ihrer letzten Fassung angemessen würdigen zu können. An der Bedeutung der Potenzen in Bezug auf diese letzte große Schrift und die Spätphilosophie überhaupt ließ Schelling indes keinen Zweifel. 8 In einem Brief von 1852 äußerte Schelling im Rückblick auf die bereits in der Philosophie der Offenbarung dargestellte und nun wiederholte Theorie der Potenzen, „dass die Prinzipien- oder Potenzen-Lehre meine Metaphysik [sei]: sie ist in der Tat nicht bloß die erste Grundlage, sondern auch die Materie der ganzen ferneren Entwicklung für die rationale Philosophie.“ (Brief an Beckers, 29. 12. 1852 = Plitt III, 241); und Schelling fügte hinzu, dass dies in gleicher Weise für die positive Philosophie gelte, „die dieser Lehre eben so wenig entbehren kann“ (ebd.).

II. Schellings komprimierte Darstellung im System der Weltalter (1827) 1. Das Programm des Systems der Weltalter Schellings erste Vorlesung nach seiner Rückkehr nach München knüpft bereits im Titel an das Weltalterprojekt an. Schelling gliedert diese Vorlesung in fünf Teile, wobei die Abfolge zumindest der ersten vier Schritte dann für die Aufeinanderfolge ganzer Vorlesungszyklen in der Spätphilosophie beibehalten wird. 9 Nach einer Vorerörterung über den Unterschied von logischer und geschichtlicher Philosophie folgt ein historischer Überblick über die philosophischen Systeme der Neuzeit mit dem Ziel, aufzuzeigen, dass diese im Vergleich 7

Vgl. Müller-Bergen 2007, 114 f. Dies gilt im Übrigen auch für die Forschung. Vgl. z. B. Franz 1992, 215, der konstatiert: „Die Potenzenlehre ist der Inhalt, der im reinen Denken und in der ersten Wissenschaft reinrational entwickelt und schließlich in die positive Philosophie übergeführt wird, so dass die Potenzen den das Gesamtsystem Schellings tragenden Gehalt darstellen, Schellings Spätphilosophie insgesamt als System der Potenzen zu bezeichnen ist.“ 9 Vgl. Peetz 1998, XI. 8

II. Schellings komprimierte Darstellung im System der Weltalter (1827)

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mit der angestrebten historischen und positiven Philosophie defizitär blieben. Im Anschluss daran bietet Schelling eine systematische Einleitung in die Philosophie, die dann im Kontrast zur darauffolgenden positiven als die negative (logische) Philosophie verstanden werden kann. Die Vorlesungen zum System der Weltalter werden beschlossen durch eine Erörterung zum Verhältnis von Schöpfergott und erschaffener Welt. Die entscheidende Neuerung des Systems der Weltalter gegenüber den Initia und den Weltalterentwürfen, welche nach gängiger Schelling-Forschung zugleich das Charakteristikum der Zäsur zur Spätphilosophie kennzeichnet, liegt in der nun explizit eingeführten Unterscheidung einer negativen und positiven Philosophie. Die negative, rationalistische Philosophie sieht Schelling paradigmatisch in den neuzeitlichen philosophischen Systemen Descartes’, Spinozas, Leibniz’ und Hegels verwirklicht; auch das eigene Identitätssystem rechnet Schelling hierzu. Ihren Mangel diagnostiziert Schelling dahingehend, dass sie als begrifflich-logische Systeme nicht über das Begrifflich-Logische hinausgehen können, und daher die Tatsache der Welt, d. h. ihre Existenz nicht erklären können. Dieser Fehler betreffe auch den Zusammenhang zwischen Gott und der Welt, welchen sie als einen logischen Zusammenhang darstellten, bei welchem sich zwar wie bei Spinoza die Welt strukturell aus der Natur Gottes erklären lasse, ihre Wirklichkeit und ihre geschichtliche Dimension allerdings nicht in den Blick geraten. Die positive Philosophie hingegen geht aus von der Tatsache der Schöpfung der Welt. Dem logischen Zusammenhang, so Schelling, „entgegengesetzt ist der geschichtliche, wenn ich sage: Gott hat die Welt freiwillig geschaffen – wodurch kein logisches Faktum ausgesprochen, sondern eine Tat gegeben ist“ (SyWA 11). Der rationalistischen Philosophie setzt Schelling daher eine Philosophie entgegen, deren Verfahren er einen ‚philosophischen Empirismus‘ nennt, womit eine Philosophie gemeint ist, welche die Denk-Erfahrung der Philosophie selbst entwickelt, eine Denk-Erfahrung welche als ihren zentralen Erklärungsgegenstand die Existenz der Welt im Sinne einer letzten Tatsache hat und diese Tatsache nur verstehen kann als die Sache einer Tat, nämlich der freien Schöpfung Gottes. 10 Hierdurch erhält die Philosophie selbst eine Doppelfunktion, bei welcher die positive Philosophie die negative nicht ersetzt, sondern ergänzt. Denn „die logischen Systeme sind nicht als an sich falsche, nicht als den positiven geradezu wiedersprechende zurückzuweisen, sondern es muss etwas hinzukommen zu ihnen […], ein Mehr soll aufgestellt werden“ (SyWA 12).

10

Vgl. hierzu auch Peetz 19982, XVIII–XXII.

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Kap. 8: Das System der Weltalter zur Hinführung

2. Schellings Referate zur Ideal- und Identitätsphilosophie in der 12. und 22. Vorlesung Zur Erläuterung jener Tatsache als Gegenstand der Philosophie greift Schelling in der 22. Vorlesung auf die eigene Identitätsphilosophie in ihrer ersten Darstellung von 1801 und den mit ihr verbundenen Begriff von Potenz zurück. Hierbei führt Schelling zunächst aus, dass der philosophische Empirismus keine Erfahrung im objektiven Sinn meine, sondern „die Erfahrung im subjektiven Sinn“ (SyWA 91). Der objektive und subjektive Sinn stehen aber nun nicht zusammenhanglos nebeneinander, sondern sind nach dem Konzept der Darstellung meines Systems mittels der Seinslinie verbunden, von welcher Subjektivität und Objektivität die Pole bilden. Weiter schildert Schelling hier im Sinne der Naturphilosophie: „Die Genesis der ganzen Natur beruht auf einem Übergewichte, das fortschreitender Weise vom Objekt zum Subjekt fortgeht bis zu dem Punkt, wo das Objektive auch Subjekt ist (im menschlichen Bewusstsein)“ (SyWA 91). Von hier aus erläutert Schelling dieses Verhältnis, das schon „durch die letzte Philosophie gegeben“ (SyWA 92) sei, nochmals mittels des „ausgesprochenen Begriffs der Potenzen, insofern dieselben Potenzen der Innerlichkeit sind und vom Objektiven zum Subjektiven fortschreiten“ (ebd.). An diesem Rückgriff auf das System von 1801 ist zunächst bemerkenswert, dass Schelling hier dessen Begriff der Potenzen einseitig im Sinne der Naturphilosophie referiert. Denn die Seinslinie des Identitätssystems hatte sich gerade durch Neutralität in Bezug auf eine Priorisierung der subjektiven oder objektiven Seite ausgezeichnet; entsprechend bezeichneten die Potenzen dort das relative Übergewicht des subjektiven oder objektiven gleichermaßen. Die nun referierte Sicht entspricht hingegen der Perspektive der Naturphilosophie innerhalb des Systems von 1801. Denn Schelling greift nun einseitig auf das im System von 1801 dominierende Prinzip des relativen Übergewichts und der graduellen Steigerungsreihe von einem Pol zum anderen zurück, indem er den ‚Begriff der Potenzen‘ als dasjenige Übergewicht versteht, das vom Objektiven zum Subjektiven geht, nicht aber umgekehrt. Die wechselseitige Integration des Subjektiven ins Objektive denkt Schelling hierbei als Verhältnis von Erkennendem und Erkanntem und versteht dieses als form- und maßgebende Begrenzung eines an sich Unbegrenzten. Dabei ist es „das blinde und unbegrenzte Sein“ (SyWA 95), das durch ein „dem Sein entgegengesetztes beschränkendes Prinzip“ (ebd.) die Form der Erkennbarkeit erhält und hierdurch zum Seienden wird. Es ist leicht zu sehen und dennoch wichtig für die nachfolgende Auffassung von Potenz im System der Weltalter, dass Schelling hier gleich drei Begriffspaare miteinander verknüpft: Die Verbindung von Objekt und Subjekt, die Schelling hier zudem innerhalb einer Folge sukzessiver Steigerung zum Subjektiven hin denkt, deutet Schelling unter dem antiken Begriffspaar von Apeiron und Peras als Unbegrenztes und Grenze

II. Schellings komprimierte Darstellung im System der Weltalter (1827)

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und knüpft damit in verwandelter Weise an die Entwicklung der Naturphilosophie an, bei welcher ja die ursprünglichen Kräfte der Attraktion und Repulsion erst Form und Begrenzung hervorgebracht hatten. Zweitens greift Schelling hierbei auf die Ausdrücke des Seins und des Seienden zurück, mit denen er von den Stuttgarter Privatvorlesungen an den ‚internen‘ Dualismus von Grund von Existenz und Existierendem bezeichnet hatte. Und drittens deutet er dies in Entsprechung zu einem Erkenntnisvorgang, bei dem „das Erkennbare das Gepräge des erkennenden Verstandes“ (SyWA 97) erhält. Sehr deutlich wird der Zusammenhang dieser begrifflichen Ebenen an einer Stelle, an der Schelling schreibt: „Was zu Grunde [!] liegt, ist das bloß objektive, grenzen- und verstandeslose Sein“ (SyWA 96), dessen subjektives, begrenzendes und verstandesmäßiges Erfassen eben einer Zunahme der Potenz der Innerlichkeit entspricht. 11 Dies ergänzt sich mit einer kurzen Bemerkung, mittels welcher Schelling eines der Grundprinzipien seiner eigenen Transzendentalphilosophie im Zusammenhang mit der Identitätsphilosophie charakterisiert. In der 12. Vorlesung des Systems der Weltalter referiert Schelling seine eigene philosophische Entwicklung als eine notwendige Folge des Fichteschen Ansatzes. Dabei schildert Schelling die im System von 1800 durchgeführte Methode der Rekonstruktion der unbewussten Entwicklung des Ichs hin zum Selbstbewusstsein. Während er dort allerdings diese Methode, ausgehend von jenem unbewussten Ich, dahingehend beschrieben hatte, dass die Philosophie nichts anderes sei als „ein beständiges Potenzieren des Ichs“ (AA I,9,1, 146/SW III, 450), geht es ihm hier um den Weg zum Ausganspunkt dieser Methode, also vom selbstbewussten Ich zurück zum „ursprüngliche[n], ehe es zu sich selbst gekommen“ (SyWA 47) ist. Hierbei greift er auf einen Gedanken zurück, den er 1801 in einem kleinen Zeitschriftenaufsatz, welcher einen Aufsatz Eschenmayers kommentierte, wie gesehen, schon einmal vorgebracht hatte. Um zum Anfangspunkt des ungesteigerten Ichs zu gelangen, so Schellings Formulierung von 1801, müsse „das Objekt allen Philosophierens, das in der höchsten Potenz = Ich ist, depotenziert“ (AA I,10, 89/SW IV, 85) werden. 26 Jahre später beschreibt er diesen Vorgang dahingehend, dass es, um zum Ausgangspunkt vorzudringen, nötig sei, „das Ich aus der höheren Potenz herauszunehmen, aller Potenz zu entbinden, es in der Potenz zu nullisieren“ (SyWA 47). Dieses ‚depotenzierte‘ Ich wiederum versteht Schelling zugleich als eines, das auf der Seinslinie der Identitätsphilosophie am anderen Pol, nämlich dem der Natur angekommen ist, 11 Die abschließende Formulierung in der Vorlesungsnachschrift lautet: „Es ist also eine Potenz zunehmender Objektivität zur Innerlichkeit“ (SyWA 97). Dies ist allerdings missverständlich, da es sich nicht um einem Prozess zunehmender Objektivität handelt, sondern um einen, bei dem die Objektivität zunehmend zur Innerlichkeit wird; daher ist zu vermuten, dass es sich hier entweder um ein Versehen bei der Mitschrift oder eine Ungenauigkeit in Schellings mündlichem Vortrag handelt.

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Kap. 8: Das System der Weltalter zur Hinführung

wodurch sich die Ideen einer zunehmenden Potenzierung im Sinne einer zunehmenden Subjektivierung auf der Seinslinie und der Entpotenzierung im Sinne einer zunehmenden Objektivierung und Naturalisierung zuletzt decken. Begrifflich anzumerken ist allerdings, dass Schelling nun in der Beschreibung dieses methodischen Vorgangs nicht mehr das Verb ‚potenzieren‘ gebraucht, auch nicht in seinen substantivierten Formen von ‚Potenzierung‘ und ‚Depotenzierung‘, wiewohl er in diesem Punkt der Sache nach dasselbe meint, wie in jener Anmerkung zu Eschenmayers Aufsatz von 1801.

3. Potenzen als ‚die wahren Urmächte des Seins‘ Wesentlich bedeutender als der bisher nachgezeichnete, eher marginale Gebrauch des Potenz-Begriffs im System der Weltalter, ist Schellings Darstellung der metaphysischen Grundprinzipien der negativen Philosophie und des Übergangs zur positiven, die von der 24. Vorlesung an zum Thema werden, inklusive ihrer Anwendung auf den geschichtlichen Weltprozess, die ab der 30. Vorlesung Gegenstand der Erörterungen sind. Mit dieser Konzentration im letzten Drittel des Textes findet sich in der ersten Vorlesung nach Schellings Rückkehr nach München nochmals das in den frühen Schriften zur Naturphilosophie auffällige Phänomen, dass erst gegen Ende einer Schrift oder eines Vorlesungszyklus die Terminologie der Potenzen zu zentraler Stellung gelangt, wodurch diese eine gewisse rhetorische Bedeutungssteigerung erhalten. Die Positivität Gottes kennzeichnet Schelling nun dahingehend, dass Gott seiend ist und dabei die „Macht des Seins“ (SyWA 132) bleibt, dass er die Freiheit beinhaltet, „zu sein und nicht zu sein“ (ebd.), welche mit „dem Willen das zu sein was er ist“ (SyWA 134) gleichkommt. Diese Stellung Gottes entwickelt Schelling aus den beiden genannten Prinzipien des Seins, des unbegrenzten Seins und des begrenzten (vgl. SyWA 108). Gott ist diesen gegenüber kein drittes Prinzip, sondern Ursache und Folge zugleich des Übergangs von unbegrenztem zu begrenztem Sein. Auf diese Weise ist Gott im Sinne des internen Dualismus zugleich „Herr des Seins“ (SyWA 105) und das Sein, worüber er Herr ist, so allerdings, dass er frei von diesem Sein ist, da er sonst nicht Herr über es sein könnte. Aus diesem Begriff – ‚Herr des Seins‘ – versucht Schelling im System der Weltalter alle wesentlichen Charakteristika der positiven Philosophie in ihrem Übergang von der negativen zu entwickeln. 12 Hierzu gehört auch, dass Schelling nun auf ein Begriffspaar zurückgreift, das die Scholastik aus der aristotelischen Potentia/actus-Unterscheidung entwickelt hatte: Gott als solcher ist keine Substanz, sein Sein als Gott ist von seinem Tun nicht verschieden; deus est purus actus, in deo nihil potentiale, denn da wo Potenzen sind, da ist Sub-

12

Vgl. hierzu Peetz 1998, XX.

II. Schellings komprimierte Darstellung im System der Weltalter (1827)

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stanz. Die Substanz Gottes, seine Gottheit, besteht eben in seinem Tun, er ist ganz von sich weggehend, er ist nicht Zentrum, sondern er ist wesentlich exzentrisch. (SyWA 105)

Den Ausdruck des actus purus, den Schelling in dieser aufschlussreichen Passage gebraucht, bezeichnete zunächst von Aristoteles herkommend diejenige Eigenschaft Gottes, dass in ihm alles verwirklicht ist und er sich dadurch auszeichnet, dass er im Gegensatz zum Menschen keine unverwirklichten Veranlagungen besitzt. 13 Bei Thomas von Aquin wurde der Ausdruck dann mit dem Gedanken verbunden, dass Gott reine Tätigkeit sei und deswegen keine Substanzialität an sich habe. 14 Schelling nimmt in der angeführten Passage beide Gedanken auf und kontrastiert sie mit einem Potenz-Begriff, bei welchem deutlich wird, dass Schelling nun das Modell von potentia/actus mit dem Modell einer Mehrzahl von Potenzen als Seinsbestimmungen fest verbunden hat. Dass in Gott keine Potenz sei, bedeutet in Hinsicht auf die Positivität Gottes, dass mit seiner Wirklichkeit alle Potentialität in ihm aufgegangen ist, und zwar so, dass seine Wirklichkeit auch keine Verwirklichung dieser zunächst angelegten Potentialität ist, sondern er als eine eigenständige Ursache ein Erstes gegenüber dem Sein wird, das er selbst ist. Zwar lässt sich, wie schon in den Initia gezeigt, der absolute Geist aus der Wechseldynamik der drei Potenzen erzeugt darstellen. In diesem Sinne sind die Potenzen auch das prius zu Gott. Aber dies beinhaltet nur den konstruierten, negativen Gott, welchem gegenüber die Positivität des tätigen Gottes das Verhältnis umkehrt: „das Positive ist etwas, welches das prius zum posterius macht“ (SyWA 129) 15. Insofern Gott sich selbst als Geist (positiv) setzt, wandelt er sich dahingehend um, dass aus der neuen Perspektive seiner positiven Wirklichkeit die konstruktiv vorhergehende des negativen Geistes zu einer bloßen Folge wird. Der letzte bemerkenswerte Gedanke in der angeführten Passage besteht darin, dass Schelling Gottes Status als actus purus im Sinne der Exzentrizität erläutert. Dies soll besagen, dass Gott nicht in seinem Sein verharrt oder gar in einer kontraktiven Bewegung in dieses gezogen wird, sondern dass er als absolutes Seiendes einerseits in sich beschlossen ist, aber andererseits von sich weggeht und in diesem Sinn exzentrisch ist. Gott als actus purus ist Äußerlichkeit in 13

Vgl. Metaphysik XII 7, 1072bff.; actus ist die lateinische Übersetzung für energeia. Offenbar bezieht sich Schelling hier auf Thomas, insofern er von den „geachtetsten Häupter[n] der Scholastik“ (SyWA 105) spricht, welche Gott als actus purus bezeichnet hätten. Vgl. Thomas von Aquin: Deus est purus actus, non habens aliquid de potentialitate (Summa Theologiae, I.q, 3a, 2). 15 Dementsprechend lässt sich das Verhältnis von negativer und positiver Philosophie auch über die Verschiedenheit ihrer methodischen Richtungen lesen: als Regress vom posterius zum prius in der negativen und als Progress, ausgehend vom absoluten prius, in der positiven. Vgl. Tritten 2012, 218; entsprechend auch Nassar 2020, 236 f. Allerdings ist zu beachten, dass der Weg von der Potenzenaufweisung zum absoluten Geist in der negativen Philosophie, also das eigentliche Lehrstück von den Potenzen vom Moment der Statuierung des Seinkönnenden als erster Potenz an, seinerseits progressiv ist. 14

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Kap. 8: Das System der Weltalter zur Hinführung

Relation zu seiner bloßen Innerlichkeit (vgl. SyWA 109). Gott hat in diesem Konzept keine Selbstbeziehung, sondern ist die Beziehung zu allem anderen. Ausgehend von dem Grundverhältnis zwischen negativem und positivem Gott, nach welchem der positive den negativen in sich integriert, so dass der negative zwar eine logische Voraussetzung des positiven bleibt, dieser in seiner Wirklichkeit jedoch als letztes prius angesehen werden kann, das den negativen zur Folge hat, greift Schelling in der 31. Vorlesung erneut auf das Modell von drei Potenzen zurück, um von diesem her nochmals den bereits geschilderten Seinsaufbau zu erläutern. „Es ist nicht schwer“, leitet Schelling in diese Passage ein, „in jenen drei Potenzen, den unauflöslich verketteten, welterzeugenden Potenzen, die wahren Kategorien, Begriffe der wahren Urmächte des Seins zu erkennen“ (SyWA 139), also die letzten Wirklichkeitsmomente der negativen Philosophie. Die Wirkungsweise und das Wechselverhältnis dieser drei Potenzen buchstabiert Schelling nun erneut in der Terminologie von Seinkönnendem, Seinmüssendem und Seinsollendem aus und verknüpft sie zugleich mit der Perspektive des Wollens. Dabei zeigt sich auch, dass Schelling weiter das naturphilosophische Steigerungs-Modell der Potenzen, nun in Gestalt ihres dreistufigen Aufbaus, als Hintergrund dient. So vergleicht er das innere Verhältnis der Potenzen erneut mit dem naturphilosophischen Modell von einem ins Unendliche gehenden Prinzip, das von einem zweiten Prinzip in einem Prozess, der verschiedene Stufen ausbildet, in sich zurückgeworfen wird (SyWA 141 f.) Damit ist auch die in den Erlanger Vorlesungen schon angedeutete Umkehrung der Bewegungsrichtung, wonach, im Gegensatz zur Epoche von der Freiheitsschrift zu den Weltaltern, die erste Potenz nun expansiv veranlagt ist und die zweite dieser kontraktiv und begrenzend entgegen wirkt, etabliert und vollzogen. 16 Jenes ins Unendliche gehende Prinzip nennt Schelling nun das Seinkönnende in der ersten Potenz, während sein auf sich zurückgehender Zustand dasselbe in der zweiten Potenz darstellt: „Durch die Reflexion hat es eine Potenz in sich bekommen und als solche, als Potenz ist es nun das an der zweiten Stelle Seinkönnende [bzw.] das Seinkönnende der 2ten Potenz“ (SyWA 139 f.). Hieran wird auch deutlich, dass Schelling erneut den Grundzustand (hier des Seinkönnens) als ‚erste Potenz‘ bezeichnet und dabei an einen unpotenzialisierten Zustand denkt. In der Notation gebraucht Schelling hier die Folge ‚a1‘, ‚a2‘ und ‚a3‘. Zur Charakterisierung nimmt er die Bezeichnungen eines Seinkönnenden, Seinmüssenden und Seinsollenden, wobei das Seinsollende eine Steigerung des Seinmüssenden ist: „es setzt beide Potenzen voraus, es wird gesetzt von dem 2ten überwundenen 1ten“ (SyWA 140). Zudem greift Schelling hier auf die in den Initia bereits vorgeführte Perspektive der Potenzen als ursprünglichen Wil16 Vgl. auch SyWA 173, wo Schelling explizit auf die metaphysischen Kräfte der Repulsion und Attraktion Bezug nimmt und auch Kant als Quelle dieses Modells nennt.

II. Schellings komprimierte Darstellung im System der Weltalter (1827)

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lensmomenten zurück, welche dort ja den letzten Baustein in der Erklärung der Wirklichkeit gebildet hatten. Allerdings bleibt die Zuordnung skizzenhaft und schematisch: das bloße Seinkönnen entspricht dem blinden Willen; die zweite Potenz entspricht seiner Läuterung durch das besonnene Wollen, so dass ein bewusstes Wirkenmüssen als das Seinmüssende bleibt. In der dritten Potenz schließlich ist dieses Wirkenmüssen aufgehoben, so dass das Seinsollende „als das Ende der ganzen Bewegung“ (SyWA 140) bleibt. Hinzu kommen weitere Zuordnungen: So skizziert Schelling eine Beziehung zu „causa materialis, formalis und finalis“ (SyWA 174), also dreien der vier Ursachen bei Aristoteles und er deutet die drei Potenzen erneut trinitarisch (vgl. SyWA 171 f.): „Der Vater ist die Persönlichkeit aus welcher alles ist, der Sohn durch welche alles ist und der Geist der terminus ad quem, das Ziel nach dem alles gebildet ist“ (ebd.). An der zentralen Bedeutung indes, die Schelling zuletzt dem Potenzenverhältnis insbesondere in der Perspektive der negativen Philosophie zumisst, bleiben keine Zweifel bestehen. Sie sind die letzten Rationalisierungselemente der logischen Voraussetzungen des Weltprozesses und als wirkliche Mächte die Erklärungsprinzipien seiner Durchführung. „In diesen 3 Begriffen [der Potenzen] ist alle Verständlichkeit enthalten, ja mit ihnen fängt sie erst an“ (SyWA 140). Als „kosmische, demiurgische Potenzen“ (SyWA 144) sind sie schließlich „rein göttliche Mächte“ (ebd.) und bilden damit zunächst das vollständige geistige Universum, von welchem aus Gott in der Schöpfung durch eine willentliche und tatsächliche Setzung dieser Potenzen den Prozess initiiert, dessen Erzeugnis der konkrete Weltlauf ist (vgl. SyWA 145).

4. Resümee Das System der Weltalter entfaltet erneut die Thematik der Initia und des ersten Teils des Weltalterprojekts, nämlich eine Darstellung der Innenmomente Gottes als Voraussetzungen der Schöpfung. Hinzu kommt jener weiterreichende Gedanke der Positivität Gottes, der darin besteht, dass der wirkliche und in der Schöpfung wirkende Gott keine rational zu rekonstruierende oder gar kausal ableitbare Folge seiner Innenmomente ist, sondern als freier Geist und Herr des Seins einen neuen Anfangspunkt bildet, von welchem aus die Existenz der tatsächlichen Welt erst verständlich werden soll und in Bezug auf welchen seine Innenmomente nunmehr als Folgen anzusehen sind. Innerhalb dieser Grundkonstellation erhalten die Potenzen besondere Bedeutung als Erklärungsmomente der Erzeugung des absoluten, trinitarischen Geistes in negativer Hinsicht und des geistigen Kosmos als bildhafter Grundlage der Welt. Hierzu greift Schelling je auf das in der ersten Entwicklung der Potenzentheorie in der Naturphilosophie entstandene Stufenmodell dreier Po-

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Kap. 8: Das System der Weltalter zur Hinführung

tenzen zurück, bei welchem reflexive Selbstverhältnisse die Potenzierung der Stufen der Natur und der Dimensionen des Geistigen ausprägten. Ein neues Element in Hinsicht auf Schellings begriffliche Entwicklung von ‚Potenz‘ bildet der auf das Verhältnis von negativem und positivem Gott bezogene Gedanke, dass dieser als actus purus die Potenzialität seiner inneren Bildung durch Potenzen aufhebt und überwindet. Es wird zu sehen sein, wie Schelling diese Konstellation zusammenführt und in der weiteren Entwicklung der positiven Philosophie, deren ausführlichste Darstellung die Philosophie der Offenbarung beinhaltet, umfassend entfaltet.

Kapitel 9

Potenzen in der Philosophie der Offenbarung (1833–44) In besonders klarer Weise spiegelt der Aufbau der systematischen Einleitung in die Philosophie der Offenbarung, die Schellings Sohn und Nachlassherausgeber nach der vorgeschobenen historischen Berliner Einleitung als den ersten Teil des zweiten Buches der Philosophie der Offenbarung klassifiziert hat (SW XIII, 175), das systematische Verhältnis von negativer und positiver Philosophie. Denn Schelling entfaltet darin zunächst eine ontologische Prinzipienlehre mit dem Ziel, den absoluten göttlichen Geist als notwendige Folge des dynamischen Zusammenspiels ontologischer Letztmomente nachzuweisen. Entsprechend zu früheren ontologischen Deduktionen, die Schelling in klassischer Weise zunächst als eine Ableitung von Prinzipien vorgeführt hatte, um dann in einer zweiten Darstellung zu zeigen, dass dieselbe Deduktion sich auch in der Sprache und Systematik der Potenzen darstellen lasse (vgl. SyWA 139), führt Schelling in der Philosophie der Offenbarung die grundsätzliche Seinslehre als eine Aufweisung von drei in sich unselbständigen Prinzipien, d. h. als drei dynamisch aufeinander bezogene Aspekte des Einen durch (10. und 11. Vorlesung) und interpretiert sie dann innerhalb von Potenz/Akt-Verhältnissen. Diese Aufweisung der Prinzipien mit dem Ergebnis des absoluten Geistes Gottes ist das Kernstück der negativen Philosophie. Sie ist das eigentliche Lehrstück einer ontologischen Dialektik bei Schelling. Mit dem Resultat, dass die durch die Prinzipienaufweisung gewonnene ontologische Einheit „nur in einem Geist denkbar ist [und daher als] der vollendete, in sich beschlossene und in diesem Sinne absolute Geist“ (SW XIII, 239) verstanden werden müsse, tritt jedoch, so Schelling „ein vollkommener Wendepunkt“ (ebd.) der philosophischen Perspektive ein. Mit Beginn der 12. Vorlesung kehrt sich die Gangart der Erörterungen in der bereits besprochenen Weise so um, dass der absolute Geist, der am Ende der negativen Philosophie stand, nun zum voraussetzungslosen Ausgangspunkt der mit der Wirklichkeit Gottes nochmals ganz neu ansetzenden positiven Philosophie wird. In dieser werden, was in der Perspektive der negativen Philosophie die Voraussetzungen des Geistes gewesen waren, zu dessen Folgen. Dabei werden die Prinzipien des negativen Geistes im positiven als Prinzipien zunächst suspendiert: denn der Geist selbst ist absolutes und einziges prius. Als Folgen kehren sie jedoch in doppelter Weise wieder. Einerseits hat der absolute Geist auch als überwirkliche Einheit interne Bestimmungen. Er hat in sich die reiche

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Kap. 9: Potenzen in der Philosophie der Offenbarung (1833–44)

Wirklichkeit der Totalität des Geistigen. Und als die Bestimmungen dieser Totalität kehren die Prinzipen, nun explizit in der Terminologie der Potenzen, wieder. Andererseits sind es auch die Potenzen, welche die Welt, zumal in Gestalt ihrer geschichtlichen Dimension, gliedern und bestimmen. In dieser Hinsicht sind sie transitive, auf die Schöpfung bezogene Bestimmungen des göttlichen Geistes und damit zugleich Prinzipien des tatsächlichen mythologischen und ins Offenbarungsgeschehen mündenden geschichtlichen Weltprozesses, welche dann in der eigentlichen (materiellen) Philosophie der Offenbarung als einer Darstellung eben dieses Weltprozesses bestimmend werden, welche im XIV. Band der SW abgedruckt ist. Entsprechend dieser klaren Abbildung des Verhältnisses von negativer und positiver Philosophie im Aufbau der Philosophie der Offenbarung gliedert sich die Untersuchung zur in ihr enthaltenen Theorie der Potenzen in vier Abschnitte: I. die Aufweisung der Prinzipien in der negativen Philosophie. II. Die Prinzipien als Potenzen in der Wirklichkeit Gottes. III. Die Schöpfung. Und IV. die Welt unter der Bestimmung der Potenzen.

I. Die Aufweisung der Potenzen Die Aufweisung der Potenzen, die Schelling von den 1830er Jahren an vielfach in immer neuen Varianten vorgeführt hat, ist das eigentliche metaphysische Kernstück der Spätphilosophie, Schellings ontologische Dialektik. Sie ist eine Aufweisung und keine Deduktion, insofern sie überhaupt erst zu den Prinzipien des Seins hinführen will und nicht von einem bereits vorausgesetzten Prinzip die Folgemomente ableitet. Diese Aufweisung der Potenzen hat in der Darstellung der Philosophie der Offenbarung folgende argumentative Struktur: Zunächst führt Schelling diese Dialektik in drei Schritten zum Begriff der Potenz: hierbei zeigt Schelling zuerst, dass der formale Anfangsbegriff für die Frage nach dem Grund des Seins das Seinkönnen ist. Dann zeigt er, dass dieses dem Begriff des bloßen Wollens gleichkommt. Und als dritten Schritt legt Schelling dar, dass der Wille nichts anderes als die Potenz selbst sei, dessen Wollen entsprechend als Aktus zu verstehen ist. Sodann deduziert Schelling das rein Seiende als Komplementärbegriff zum Seinkönnenden und zeigt entsprechend an diesem, inwiefern es unter der Begrifflichkeit des Wollens und der Potenz zu beschreiben sei. Als dritten, vereinigenden Begriff führt Schelling schließlich das als solches seiende Seinkönnende ein und bezieht es auf die vorhergehenden Bestimmungen zurück. Ehe wir diesen Schritten im Einzelnen nachgehen, bedarf es jedoch einer wichtigen begrifflichen Vorerörterung zu den Begriffen des ‚Seins‘ und des ‚Seienden‘. Diese Begriffe hat Schelling seit den Stuttgarter Privatvorlesungen

I. Die Aufweisung der Potenzen

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zur Charakterisierung des internen Dualismus gebraucht, wobei das ‚Sein‘ den dunklen Grund des ‚Seienden‘ = Existierenden bedeutet hatte; noch im System der Weltalter war diese Zuordnung nachweisbar gewesen. Nun jedoch ist festzuhalten, dass Schelling mit der ontologischen Ausgangsfrage der Prinzipienaufweisung der Philosophie der Offenbarung nach dem, was vor dem Sein sei, mit ‚Sein‘ nicht mehr jenen Grund des Seienden meint, sondern zunächst unmittelbar das „wirkliche“ (SW XIII, 204); „das vorhandene und schon bestehende Sein“ (SW XIII, 205). 1 Es ist diejenige Realität, nach der gefragt wird, wenn Schelling die Leibniz’sche Grundfrage – „warum ist überhaupt etwas, warum ist nicht nichts?“ (SW XIII, 242) – wiederholt. Im Kontrast dazu gebraucht Schelling den Ausdruck des ‚Seienden‘ mehrfach: Einerseits gebraucht ihn Schelling zur Bezeichnung „des einzelnen Seienden“ (ebd.) im Gegensatz zur umfassenden Wirklichkeit des Seins. Andererseits bezeichnet Schelling damit gemäß der traditionellen Philosophie die Ebene des Wesens bzw. „der Substanz des Seins“ (ebd.) als das „abstrakte[.] Seiende[.]“ (ebd.) im Gegensatz zum wirklichen Sein. In der Hauptbedeutung jedoch meint Schelling mit dem ‚Seienden‘ schlicht das Gerundium zu ‚Sein‘, also dasjenige, das – wie auch immer – ist. Zwar bleibt in dieser Verwendungsweise noch immer etwas von dem Kontrast des realen Seins zum existierenden Seienden erhalten. Es ist aber zu beachten, dass Schelling hiermit nun keinesfalls mehr das mit der Freiheitsschrift etablierte ontologische Konzept von Grund von Existenz und Existierendem bezeichnet, sondern in einem offeneren Begriffsgebrauch, bei dem das ‚Seiende‘ in der Hauptsache etwas, das ist, bezeichnet und das ‚Sein‘ dasjenige daran, dass dies ein wirkliches (und nicht lediglich abstraktes) Sein sei. Betrachten wir die ersten drei Schritte, die zu den Begriffen des Seinkönnenden und der Potenz führen, näher: 1) Ausgangspunkt der Erörterung – und damit Anfangspunkt der Philosophie überhaupt, sofern sie sich mit Schelling der Aufgabe stellt, das Sein zu begreifen – muss die Frage nach dem sein, „was vor dem Sein ist“ (SW XIII, 204), was – bildlich gesprochen – die Quelle des Seins ist. Von diesem ist zunächst nicht mehr zu sagen, als dass es einen Bezug auf das Sein haben muss, sonst könnte es nicht vor dem Sein sein. Als solches, das vor dem Sein ist, ist es selbst noch nicht, in seinem transitiven Bezug auf das Sein liegt aber, dass es sein kann. Sonst könnte es nicht Quelle des Seins sein, nicht zum Sein werden. Es ist also eines, „das sein wird“ (ebd.). Schellings bezeichnet es gar an dieser Stelle bereits temporal als ‚Zukünftiges‘. Das, was sein wird, so Schellings nächs1 Lediglich in der Ausführung des geschichtlichen Teils der Philosophie der Offenbarung im Bd. XIV der SW greift Schelling nochmals auf jene alte Charakterisierung zurück: „schon in der ersten Schöpfung“, heißt es da, wurde „das alles verzehrende Sein zum Grund der Kreatur gemacht“ (SW XIV, 8).

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ter Zwischenschritt, könne demnach „nichts anderes sein als das unmittelbar sein Könnende“ (ebd.). Unmittelbar sein könnend ist es, insofern nach Voraussetzung bis dato nichts zwischen ihm und dem Sein Vermittelndes gesetzt ist; es ist das, „was, um zu sein, schlechterdings nichts anderes voraussetzt, als sich selbst“ (ebd.). 2) Zur substanziellen Erläuterung interpretiert Schelling dieses bis dahin formal dargelegte unmittelbar Seinkönnende als Moment des Willens – und knüpft damit an seine seit der Freiheitsschrift etablierte Prinzipienmetaphysik des Willens an. Dabei lassen sich die herausgearbeiteten Bestimmungen des Seinkönnenden einfach auf zwei wesentliche Eigenschaften des Willens projizieren: Einerseits zeichnet es den Willen aus, lediglich aus und in sich selbst zu bestehen; er ist nicht seinerseits fundiert. Andererseits ist es die Grundeigenschaft des Willens, wollen zu können, d. h. aus einem Zustand des Nichtwollens in einen Zustand des Wollens übergehen zu können. Diesen Übergang vom Nichtwollen zum Wollen versteht Schelling als einen Vorgang der Seinsentstehung. Im Wollen ist ein Sein aktualisiert, das im bloßen Willen nicht vorhanden war. In diesem Sinne hatte Schelling bereits 1809 das Wollen als „Ursein“ (AA I,17, 123/SW VII, 350) bezeichnet; hier heißt es nun: „das ursprüngliche Sein besteht […] bloß in einem entzündeten Wollen“ (SW XIII, 207; vgl. XI, 388). Daher kann Schelling nun einerseits sagen, dass der Wille, „um zu sein, nichts bedarf, als zu wollen, [dass bei ihm] zwischen Sein und Nichtsein nichts in der Mitte steht, als eben dieses Wollen“ (SW XIII, 204), und andererseits, dass dies dem Begriff des Seinkönnenden entspricht, „weil jedes Können eigentlich nur ein ruhender Wille ist, sowie jedes Wollen nur ein wirkend gewordenes Können“ (SW XIII, 205). Dementsprechend ist „das unmittelbar Seinkönnende […] in seinem Sein nichts anderes als Wollen“ (SW XIII, 206). 3) Vor hier aus ist es nur ein kleiner gedanklicher Schritt, um den Zustand des bloßen Könnens, d. h. des ruhenden Willens als einen Zustand der Potentialität, die Erhebung des Willens als dessen Aktualisierung und das Wollen selbst als dessen Wirklichkeit zu verstehen. Was Schelling hierbei besonders interessiert, ist das Moment des Übergangs, in welchem die Seinsentstehung selbst beschlossen ist: „das Seinkönnende […] ist die unbedingte potentia existendi, es ist das, was unbedingt und ohne weitere Vermittlung a potentia ad actum übergehen kann“ (SW XIII, 205). Und weiter: „Nun kennen wir aber keinen anderen Übergang a potentia ad actum als im Wollen. Der Wille ist die Potenz κατ’ ἐξοχήν [= in Reinform], das Wollen der actus κατ’ ἐξοχήν“ (ebd.); das gesuchte wirkliche Sein, das den Ausgangspunkt der Erörterungen bildete, versteht Schelling nun als dieses Wollen selbst: „kein wirkliches Sein ist ohne ein wirkliches […] Wollen denkbar“ (SW XIII, 206). In diesen ersten und weitreichenden Schritten wies Schelling mit dem unmittelbar Seinkönnenden ein dynamisches und zugleich in sich instabiles und

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widersprüchliches Urpinzip des Seins auf. Denn eben in jenem Übergang von Potenz zu Akt, von der Möglichkeit zur Wirklichkeit des Seins im Wollen, wird es selbst seiend und verliert dabei seinen Status als Seinkönnendes. Es ist daher ein „immer nur […] mit Verlust seiner selbst Seiendes“ (SW XIII, 209). Andererseits ist es ihm natürlich, vom Können zum Sein überzugehen. „Bloß, oder für sich, oder absolut gesetzt […] würden wir es gar nicht mehr als ein Seinkönnendes antreffen, wir würden es gleich nur finden im Sein, als ein Sein, das […] sich selbst als Wille, als Ursache vernichtet hätte.“ (SW XIII, 209). Umgekehrt jedoch wäre ein Können, das stets und notwendig Können bliebe, gleichfalls kein Können mehr. Daher bedarf es, so Schellings nächster gedanklicher Schritt, einer weiteren Eigenschaft am Seinkönnenden selbst, die jenen instabilen Zustand des Seinkönnenden behebt, indem sie seinen unmittelbaren Zug ins Sein bremst und es in einen Zustand eines Könnens versetzt, das sich nicht unmittelbar und notwendig ins Sein erhebt, sondern jenen selbstverzehrenden Zug zurückhalten kann. Gesucht wird daher ein in dem Sinne freies Können, das jenen Zug ins Sein beherrschen kann, das also zugleich ein Nicht-Sein, ein nicht sich äußern Können beinhaltet. Jenen Seins-Übergang zurückhalten könnte das Seinkönnende jedoch nur, wenn es selbst schon an sich ein Sein mit sich führte, d. h. wenn es selbst schon Seiendes wäre: „Als reines Können, als Können ohne Sein stehen bleibe[n] […] kann [das Seinkönnende] nur, wenn es zum Ersatz gleichsam des Seins, das es […] sich zuziehen könnte, […] Es selbst auch und an und für sich schon“ (SW XIII, 210 f.) wäre. Und weiter: Das Seinkönnende „bleibt nur insofern als Seinkönnendes stehen, als es in diesem Stehenbleiben ebensowohl das rein […] Seiende ist“ (SW XIII, 211). Wichtig ist hierbei festzuhalten, dass mit den rein Seienden kein eigenständiges zweites Prinzip aufgeweisen und daher kein Dualismus etabliert wird. Sondern es wird eine weitere Bestimmung am Seinkönnenden dargelegt. Das Seinkönnende ist ebensowohl das rein Seiende, es wird „zugleich [!] als das rein Seiende bestimmt“ (ebd.); „dasjenige, […] welches das Seinkönnende ist, dasselbe ist auf einer zweiten Stufe der Betrachtung das rein Seiende“ (SW XIII, 215). In der Perspektive einer Interpretation als Erscheinungsform eines Willens kann das um das Moment des rein Seienden bereicherte und daher in der Verwirklichungstendenz seines Könnens zurückgehaltene Seinkönnen nun gefasst werden als der „wollen könnende Wille“ (SW XIII, 213). Er behält so die Macht des Wollens bei, ohne sich in dieser veräußern zu müssen. Komplementär hierzu versteht Schelling das rein Seiende als „de[n] völlig willen- und begierdelosen, den ganz gelassenen Willen“ (ebd.). Dies soll sich daraus erhellen, dass ja das Seinkönnen ein Wollen des Seins gewesen sei, während das rein Seiende, als schon Seiendes, das Sein nicht mehr wollen könne, da es dies schon selbst sei. 2 2

Ich weise an dieser Stelle auf eine Inkonsistenz in Schellings Ableitungen hin. Denn das

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Damit wird zugleich ein neuer Bezugspunkt in der Ableitung der Willensverhältnisse sichtbar. Insofern das rein Seiende gegen sich selbst willenlos ist, kann Schelling es als den unselbstischen, den auf anderes bezogenen, altruistischen Willen bezeichnen und damit an die komplementäre Willensmetaphysik (und -ethik) von Universalwillen und Eigenwillen anknüpfen, welche er bereits mit der Freiheitschrift etabliert hatte. Denn entsprechend dieser Vorgaben ist es das Seinkönnende, das „nur sich als sich“ (SW XIII, 214) wollen kann, es „ist das nur selbstisch sein Könnende“ (SW XIII, 220). In Hinsicht auf die Bestimmung unter dem Begriffspaar potentia/actus ist es nun wesentlich zu sehen, dass Schelling das aktualisierte, entzündete Wollen zwar als Aktus bezeichnet hatte, als wirkliches Sein, das nun etablierte Seinkönnen, welches im Können verbleiben mag, ist jedoch im Gegensatz dazu als „nicht wollender Wille […] bloße Potenz“ (SW XIII, 219). Absolut gesprochen ist das Seinkönnende das – beides, Potenz und Aktus, sein Könnende, aber wenn es Potenz ist, so kann es nicht Aktus sein, und wenn es Aktus ist, hört es auf, Potenz zu sein. […] Das rein Seiende ist nur Aktus und es schließt die Potenz ganz von sich aus. (SW XIII, 235)

Ein wichtiger Aspekt am Potenz/Aktus-Verhältnis, wie es Schelling in dieser Stelle gebraucht, liegt darin, dass Potenz als Möglichkeit, und zwar als Realmöglichkeit, d. h. als eine Möglichkeit, welche die Entwicklung auf ihre Wirklichkeit bereits beinhaltet, zu verstehen ist. In diesem Sinn hatte Schelling bereits in der Naturphilosophie das Potenz/Akt-Verhältnis gemäß der traditionellen dynamis/energeia-Lehre des Aristoteles verstanden, nach welcher in der Potenz dem Keim der Pflanze gleich die Möglichkeit der Entwicklung auf diese Pflanze hin als ihre Wirklichkeit liege. In einer Erläuterung der Berliner Einleitung zur Philosophie der Offenbarung kommt Schelling erneut auf dieses Verhältnis zu sprechen, um seine eigene Begrifflichkeit von Potenz und Akt zu schärfen: „Potenz“, heißt es da, „ist das lateinische potentia, Macht, die Potenz wird dem Aktus entgegengesetzt“ (SW XIII, 63). In Hinsicht auf die Gebrauchsgeschichte des Potenzbegriffs bei Schelling ist an dieser Stelle der Umstand bemerkenswert, dass Schelling hier, nach Jahrzehnten der Verwendung dieses Begriffs in anderem, höchstens verwandten, nicht aber direkt ‚Macht‘ bedeutenden, Sinn, die ursprüngliche lateinische Bedeutung von Macht referiert, ohne dass diese zugleich, weder im direkten Erörterungszusammenhang noch zukünftig, innerhalb des Potenz/Akt-Schemas eine besondere Roll spielte. Wichtig jedoch ist, dass Schelling hier weiter erläutert, dass am Beispiel von Keim und Pflanze der Keim lediglich eine „potentia passiva“ (ebd.) habe, da zu seiner Entwicklung zur Pflanze es noch einer Vielzahl zusätzlicher BedinSeinkönnende hatte im Zustand seiner Aktualisierung das Wollen selbst als Seinswirklichkeit; Es ist ein Sein als Wollen. Daher verschiebt sich das Argument, wenn Schelling nun behauptet, es sei ein Wollen des Seins.

I. Die Aufweisung der Potenzen

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gungen und Ursachen bedürfe. Dem stellt er den Ausdruck einer ‚unendlichen Potenz‘, welche „ohne von etwas anderem abhängig zu sein, die Nötigung hat, zu allem Sein fortzugehen“ (ebd.) gegenüber. Und dies, die Macht oder Möglichkeit zu haben, ohne weitere Bedingungen aus sich selbst heraus sich zu verwirklichen, kennzeichnet das Seinkönnen als erste Potenz. Diese beiden Bestimmungen des Seinkönnenden und des rein Seienden versucht Schelling zugleich im Sinne sowohl der Transzendentalphilosophie von 1800 als auch des internen Dualismus zu verstehen, und folgt dabei erneut seiner Tendenz, ältere Theoriemodelle nicht einfach durch neuere zu ersetzen, sondern sie in neue systematische Ansätze zu integrieren. Hier wurde schon bei der Diskussion des tranzendentalphilosophischen Ansatzes darauf hingewiesen, dass Schelling die beiden Prinzipien entsprechend der metaphysischen Urkräfte um 1800 auch als „das begrenzende des von sich selbst unbegrenzten“ (SW XIII, 226) versteht – mit dem gewichtigen Unterschied, dass er dort von zwei verschiedenen (metaphysischen) Kräften gesprochen hatte, welche in ihrer gegenläufigen Durchdringung die Dimensionen der Materie oder die Stufen des Bewusstseins hervorgebracht hatten, während es sich hier um einen Moment der Selbstbegrenzung handeln soll: „es ist jenes Eine und Selbe, das, insofern es das Seinkönnende ist, von sich selbst, sofern es das rein Seiende ist, begrenzt“ (SW XIII, 226) wird. Anknüpfend an die Freiheitsschrift deutet Schelling das Verhältnis von Seinkönnendem und rein Seiendem auch entsprechend der Konstellation des Grundes von Existenz und des Existierenden. „Wir können“, so Schelling, „auch sagen, das Eine als das rein Seiende hat sich selbst als das Seinkönnende zu seiner Grundlage“ (SW XIII, 227). Diesen Grund, den es von sich selbst ist, bezeichnet Schelling wiederum als ‚Potenz‘, insofern im Seinkönnenden als Grund die Möglichkeit beschlossen ist, sich in das rein Seiende als den komplementären Aspekt seiner selbst zu transformieren. Hierdurch ist auch, ohne dass dies Schelling an dieser Stelle weiter ausführte, eine begriffliche Anknüpfung an die Potenzeninterpretation des Grund/Existierendes-Verhältnisses gegeben, bei welcher Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen das Sein (= den Grund) als erste Potenz und das Seiende (= das Existierende) als zweite Potenz gefasst hatte. Und noch unter einer dritten Hinsicht versucht Schelling, die nun herausgearbeiteten Prinzipien des Seinkönnenden und rein Seienden mit früheren Entwicklungen seiner Philosophie zu verbinden, namentlich erneut mit dem Idealismus um 1800. Denn er legt dar, dass jenes nun auch als Grund aufgefasste Prinzip des Seinkönnenden zugleich das Subjekt des rein Seienden sei – dies immer unter der Voraussetzung, dass Seinkönnendes und rein Seiendes ohnehin nur zwei Aspekte des Selben darstellen. ‚Subjekt‘ versteht Schelling hierbei zunächst im Sinn von Möglichkeit oder Potenz; als Subjekt des rein Seienden ist das Seinkönnende „die Potenz von sich als dem rein Seienden“ (SW XIII, 227);

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der „Begriff Subjekt und de[r] Begriff Potenz [würden hier] als völlig gleichgeltende“ (SW XIII, 227 f.) behandelt. In der weiteren Erörterung wird dann klar, dass Schelling von hier aus auch die idealistische Grundrelation von Subjekt und Objekt und somit das idealistische Grundkonzept von Geist in die Entwicklung der Prinzipien integrieren will. Dabei wird das rein Seiende zum Objekt seiner selbst, insofern es den objektiven Aspekt seiner selbst darstellt, das sich als Subjekt in der Form des Seinkönnenden hat. Noch deutlicher wird dieser Gedanke, wenn Schelling schließlich die vereinigende dritte Form beider „das unzertrennliche Subjekt-Objekt“ (SW XIII, 237) nennt. Zu dieser überaus komplexen Veranlagung der Prinzipienlehre, in welcher Schelling die Grundbestimmung des Seinkönnenden als desjenigen, das zugleich das rein Seiende ist, fasst und in den weiteren Perspektiven als Verhältnis von Potenz und Akt, von Willen und Wollen und von Subjekt und Objekt im Sinne der Konstituenten des Geistes interpretiert, kommt noch eine weitere Dimension hinzu, die Schelling hier allerdings nur andeutet: die Bestimmungen der Prinzipien als Subjekt und Objekt lassen sich im Sinne einer Urteilstheorie so auffassen, dass die Aussage, das Seinkönnende sei das rein Seiende in der Form ‚A ist B‘ so verstanden werden könne, dass A als das grammatische Subjekt zu B als dessen Objekt erscheine. In dieser Aussage zeige die Kopula im nicht-tautologischen Gebrauch bei kontingenten Gegenständen, dass etwas, das ein Etwas ist (A) nicht zugleich ein anderes sein müsse und doch zugleich ein anderes sein könne, nämlich B. Daher zeige sich A in ‚A ist B‘ als „bloße[.] Potenz oder Möglichkeit von B“ (SW XIII, 229) und sei auf eben diese Weise B. Wichtig für die begriffliche Untersuchung ist es, festzuhalten, dass die Konstellation von Potenz und Akt die ausschließliche Perspektive ist, in der Schelling in der Prinzipienaufweisung der Philosophie der Offenbarung von ‚Potenz‘ spricht. Deutlich wird dies noch an zwei weiteren Stellen, an welchen Schelling Potenz als Möglichkeit auffasst (vgl. SW XIII, 227 f. und 231) und dabei eine Bedeutungsgleichheit von ‚Potenz‘ und ‚Möglichkeit‘ für diesem Kontext ausspricht. Dies bedeutet aber auch, dass er hier die Terminologie von erster und zweiter Potenz noch nicht gebraucht, auch wenn in etwa die Bezeichnung des Seinkönnenden als Grund und Potenz seiner selbst als des rein Seienden genau diejenige Konstellation ausspricht, die Schelling zuvor schon als erste und zweite Potenz bezeichnet hatte und er zugleich, wie zu zeigen sein wird, in der Anwendung jener Prinzipien innerhalb der positiven Philosophie, d. h., in der Ex-post-Perspektive mit dem Schöpfergott als neuem prius, eben diese beiden Prinzipien als erste und zweite Potenz des göttlichen Geistes interpretieren wird. D. h., die Prinzipientheorie in der 10. und 11. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung ist keine direkte ‚Deduktion der Potenzen‘, sondern wie schon im System der Weltalter eine Aufweisung von Prinzipien, in welchen das Potenz/Akt-Verhältnis beschlossen liegt, die Schelling aber erst in einem zweiten

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Schritt als ‚Potenzen‘ im Sinne einer Mehrzahl und Folge von Potenzen interpretieren wird. Wie es bereits Schellings Dialektik seit der Philosophie der Kunst entsprochen hatte, ergänzt er auch in der Prinzipiendialektik der Philosophie der Offenbarung das in sich gedoppelte Moment des Seinkönnenden/rein Seienden um einen dritten, vereinigenden Aspekt. Diesen nennt Schelling „das als solches seiende Seinkönnen“ (SW XIII, 235). In Hinsicht auf die Prinzipien des Seinkönnenden und rein Seienden zeichnet es sich dadurch aus, dass es zugleich Potenz und Akt in sich vereinigen kann, insofern es nicht nur Potenz wie das Seinkönnende (als Potenz in Hinsicht auf das rein Seiende) oder Akt wie das rein Seiende in sich sein könne; in der Vereinigung beider Prinzipien könne so gedacht werden, dass etwas von Potenz zu Akt übergehen könne, ohne dabei seine Potentialität zu verlieren. Das als solches seiende Seinkönnende entäußere sich in der Perspektive des Willens nicht im Wollen, sondern höre „im Wirken oder im Wollen nicht auf[.], als Quelle des Wirkens, als Wille zu bestehen“ (SW XIII, 235). Es ist daher „das zu sein und nicht zu sein erst wirklich Freie“ (ebd.) Damit ist für Schelling das Ziel der Prinzipienaufweisung erreicht. Denn die Forderung, die Schelling überhaupt an dasjenige herangetragen hat, das vor dem Sein ist, ist „ein mit Weisheit, Voraussicht, Freiheit gesetztes Sein“ (SW XIII, 203) gewesen. Die nun formulierte Einheit des Seinkönnenden in ihren drei Aspekten und ihrer internen Dynamik erlaubt es Schelling, dieses Ziel als erreicht anzusehen. Mit dem vermittelnden dritten Prinzip des Einen soll unter der voluntativen Interpretation der Prinzipienlehre gewährt sein, dass das Seinkönnende frei bleibt, ins Sein überzugehen oder nicht. Und mit der Auffassung, dass mit dem Dritten auch das vollendete Subjekt-Objekt gegeben sei, ist unter der idealistischen Interpretation auch der Status des Bewusstseins oder Geistes nachgewiesen. Explizit fasst Schelling diese beiden Gedanken nochmals zu Beginn der folgenden Vorlesung zusammen: Das Dritte lässt sich nur denken „als lautere Freiheit gegen das Sein“ (SW XIII, 246), und in Hinsicht auf idealistische Interpretation: „Es ist also Ein Subjekt, das die drei ist, und die Einheit, die in diesem Subjekt gedacht ist, kann nur eine geistige, d. h. es kann selbst nur Geist sein“ (SW XIII, 247); den rationalen Aspekt der Weisheit und Voraussicht integriert Schelling hierbei in den der Freiheit: „ein vernünftiges oder ein frei gesetztes Sein [sei] beides […] eins“ (SW XIII, 247). Damit, resümiert Schelling die Hinführung der Prinzipien auf das Sein, „haben wir gewonnen, dass ‚das was sein wird‘ Geist ist, und zwar […] absoluter Geist“ (SW XIII, 239).

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II. Die Prinzipien als Potenzen in der Wirklichkeit Gottes Entscheidend für das Verhältnis von negativer und positiver Philosophie – und damit auch den Status der Potenzen in ihnen – ist zu sehen, dass die nachgezeichnete Herleitung des Geistes aus den Prinzipien desjenigen, was vor dem Sein ist, kein Beweis der Wirklichkeit dieses Geistes darstellt, sondern immer hypothetisch bleibt. Nur unter der Voraussetzung des Seins hat die Hinleitung zu ihm Gültigkeit; die Wirklichkeit Gottes als dessen Voraussetzung ist damit nicht erwiesen. Sondern der absolute Geist hat hinsichtlich seiner Existenz als Gott keine Voraussetzungen. Von ihm lässt sich nur sagen, „dass er Ist, was eben so viel heißt, als dass er grundlos ist, oder lediglich Ist, weil er Ist“ (SW XIII, 247). 3 Demnach ist nun zu sehen, wie jene Konfiguration von drei Prinzipien, welche die Struktur und Möglichkeit des göttlichen Geistes bilden, ohne doch seine Wirklichkeit zu verbürgen, unter der neuen Voraussetzung der Existenz des absoluten Geistes als dessen Innenmomente fungieren. Hierzu lässt sich in einem zeitlichen Paralleltext, Schellings Vorlesung über den Monotheismus, der entsprechend der Nachlassverfügung von Schellings Sohn in die Philosophie der Mythologie integriert wurde und wie die Philosophie der Offenbarung bereits in der Münchner Zeit entstand, aber bis 1846 in Berlin vorgetragen und dabei entsprechend umgeschrieben wurde, besonders deutlich zeigen, wie Schelling die Konstitutionsmomente der negativen Philosophie, welche erst zu einem absoluten Geist führten, zugleich, von dessen Vollendung in Gott ausgehend, als dessen Grundcharakteristika versteht. Im Gegensatz zur Prinzipienaufweisung geht hier die Frage nicht von dem aus, was vor dem Sein ist, sondern „Ausgangspunkt ist der Satz: Gott ist das Seiende selbst“ (SW XII, 29). Von diesem aus deduziert Schelling die Potenzen als eine Folge seines göttlichen Seins in Hinsicht auf die Möglichkeit der Schöpfung in der Form des zunächst rein geistigen Universums und dessen Bezogenheit auf das materielle – und eben jeder Nachweis der Potenzen als Folgen des göttlichen Prinzips kann nun eine ‚Deduktion‘ der Potenzen im eigentlichen Sinne genannt werden. Bemerkenswert hierbei ist, dass Schelling die argumentativen Schritte von Gott zum Universum bis in die Wortwahl hinein parallel zur Aufweisung der Prinzipien im Sinne ihrer Herleitung aus der Frage nach den Ermöglichungsbedingungen des Seins in der negativen Philosophie konzipiert: Gott ist einerseits in Hinsicht auf sich selbst „das unmittelbar sein Könnende“ (SW XII, 35), 3 Vgl. hierzu auch Tritten 2012, 230, der treffend den positiven Gott als diejenige Person beschreibt, die nicht aus den Potenzen besteht, sondern als die übergeordnete Macht, die sie zusammenhält, weswegen die Potenzen auch nicht seine Natur schlicht ausmachen, sondern er die Über-Natur ist, die sie zu seiner Natur macht.

II. Die Prinzipien als Potenzen in der Wirklichkeit Gottes

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er kann „seiend sein durch bloßes Wollen“ (ebd.), er ist daher „die unmittelbare potentia existendi“ (SW XII, 36). Andererseits ist er auch „das, was sein wird“ (SW XII, 32). In Hinsicht auf dieses Zukünftige des Universums ist er zugleich „der sich ins Sein erheben Könnende“ (SW XII, 41), worin sich zeigt, dass die Momente seiner Selbstverfassung zugleich die Momente seiner Entwicklung auf die Schöpfung hin sind. In diesem Sinn erweisen sich die Prinzipien eines hypothetisch angenommenen Seins als dessen interne Eigenschaften unter der zusätzlichen Voraussetzung seiner Wirklichkeit. Hierbei ist nun zu sehen, was genau Schelling mit dem Potenz-Gedanken in der Wirklichkeit Gottes verbindet. Dabei ist zuerst eine begriffliche Auffälligkeit zu konstatieren: Hatte Schelling in der zehnten und elften Vorlesung der Philosophie der Offenbarung jene drei Prinzipien als Aspekte des Einen stets ‚Prinzipien‘ genannt und von ‚Potenz‘ immer in der Einzahl und immer in Hinsicht auf das spezifische Potenz/ Akt-Verhältnis gesprochen, das je in ihnen lag, so ändert sich dies nun mit Beginn der zwölften Vorlesung. Denn ab dieser Vorlesung, mit welcher die Betrachtung aus der Perspektive der positiven Philosophie mit der Wirklichkeit des Geistes beginnt, benennt Schelling „die Prinzipien des Seins“ (SW XIII, 243) völlig parallel als die „drei Potenzen des Seins“ (SW XIII, 246), wiewohl zuvor nur von Prinzipien, nicht aber von Potenzen im Plural – und schon gar nicht von einer Dreizahl von Potenzen – die Rede gewesen war. Die hiermit verbundene inhaltliche Verschiebung lässt sich aus der veränderten systematischen Stellung erläutern, welche mit der Transformation dieser Prinzipien (oder ‚Potenzen‘) mit der Etablierung des absoluten Geistes als neuem Prinzip der positiven Philosophie einhergeht. „Im vollendeten Geist [sind] alle jene Potenzen nicht mehr als Potenzen eines künftigen Seins [gegeben], d. h. überhaupt nicht mehr Potenzen, sondern als der Geist selbst, d. h., als immanente Bestimmungen des Geistes selbst“ (SW XIII, 241). ‚Potenzen‘ waren jene Begriffe bis dato immer und ausschließlich im Sinne von „Möglichkeiten oder Prioritäten eines künftigen Seins“ (SW XIII, 241); mit der Wirklichkeit dieses Seins nun sind sie dieser Bestimmung enthoben. Als interne Bestimmungen sind sie zunächst und unmittelbar keine Möglichkeiten des bereits etablierten Seins mehr, sondern als dessen Struktureigenschaften zu verstehen und dann, von diesem ausgehend wiederum als Möglichkeiten eines neuen künftigen Seins, das dann in der Möglichkeit der Schöpfung auf der Basis der Wirklichkeit Gottes gegeben sein wird. Die damit einhergehende semantische Änderung gilt es festzuhalten. Sie lässt sich leicht nachweisen an einer Stelle, an welcher Schelling nochmals den Gedankengang der Prinzipienaufweisung referiert, nach welchem das erste Prinzip „im Sein auf[hört], Potenz zu sein [und das zweite] sich im wirklichen Sein […] als Potenz aufzuheben sucht“ (SW XIII, 246), während das dritte das ins Sein Kommende sei. Während Schelling im Referat dieses Gedankengangs

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noch eindeutig von ‚Potenz‘ im Sinne der Prinzipienaufweisung, und d. h. im Sinne von ‚Möglichkeit‘ spricht, die in etwa das erste Prinzip verliert, wenn es ins Sein tritt, spricht er direkt anschließend von „diese[n] drei Potenzen des Seins“ (ebd.) und vom dritten als der „dritte[n] Potenz“ (SW XIII, 247), d. h. im Sinne der Aufzählung der Prinzipien selbst – und nicht ihrer Eigenschaften als Realisierungsmöglichkeiten (welche sie ja als interne Bestimmungen des Geistes gerade verloren haben). Deutlich wird dies besonders in Hinsicht auf das rein Seiende, das ja im Sinne des Potentia/Aktus-Verhältnisses gar nicht Potenz, sondern Aktus gewesen war, nun aber im Rahmen der Aufzählung als eine der drei Potenzen gilt. Und es lässt sich an einer Stelle zeigen, in der Schelling nochmals den Gedanken der Transformation der Prinzipien in der Wirklichkeit des Geistes ausspricht. Da heißt es: Im absoluten Geist müssen sich allerdings auch alle Potenzen [= Prinzipien] des der Erklärung bedürftigen Seins finden, aber er wird sie nicht unmittelbar als Potenzen [= Möglichkeiten] dieses Seins, sondern als Bestimmungen seiner selbst […] enthalten. (SW XIII, 250)

In Hinsicht auf die weitere Entwicklung des Schöpfungsprozesses werden diese internen Bestimmungen allerdings gleichsam in ihrer eigentlichen PotenzFunktion wieder aktiviert. Insofern der Grundzug der positiven Philosophie darin besteht, vom absoluten Geist „zu seinen Werken und Taten“ (SW XIII, 249), d. h. zur Schöpfung fortzugehen, erweisen sich die Bestimmungen des Geistes erneut als Potenzen im Sinne von Möglichkeiten, nämlich der Möglichkeiten eines anderen, nicht-ewigen Seins, d. h. der Welt.

III. Die Schöpfung Mit Beginn der 13. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung stellt sich Schelling einem fast unlösbaren Problem: wie kann ein absoluter Geist, dem im strengsten Sinne nichts mangelt, weil er die Allheit des Seins in sich vereinigt, dazu kommen, eine Welt außer sich zu setzen? In Hinsicht auf das Potenz/ Aktus-Verhältnis formuliert er gleich zu Beginn der Vorlesung den Gedanken, dass in Gott nihil potentiale sei, neu: „Der vollkommene Geist ist absolute Wirklichkeit, vor aller Möglichkeit – Wirklichkeit, der keine Möglichkeit vorhergeht“ (SW XIII, 263). Damit ist zweierlei wiederholt: erstens, dass die Potenzen (= Prinzipien) in der Wirklichkeit Gottes aufgegangen sind und zweitens, dass in Gott überhaupt keine unverwirklichten Möglichkeiten (= Potenzen) enthalten sind, sondern er in diesem Sinne actus purus ist. Diese Ausgangslage scheint einen Gedanken der Schöpfung allerdings fast unmöglich zu machen. Denn wo im strengen Sinn alles enthalten und alles bereits verwirk-

III. Die Schöpfung

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licht ist, kann nichts außerhalb entstehen und wo im strengen Sinn keine Realmöglichkeit gegeben ist, kann es auch keine weitere Verwirklichung geben. Einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit findet Schelling in dem Gedanken, dass sich Gott die Möglichkeit eines Seins außer ihm zunächst lediglich „zeige und darstelle“ (SW XIII, 263), wonach diese keine seinem Wesen zugehörige Möglichkeit bildete, und demnach auch nicht im Widerspruch zu seiner vollendeten Wirklichkeit stünde. Hierbei ist es für Schelling zentral, dass diese Möglichkeit für den absoluten Geist keinerlei Nötigungscharakter hat – ja im Grunde auch in sich überhaupt kein Motiv bildet, diese Möglichkeit zu verwirklichen; denn ein solches Motiv beinhaltete umgekehrt gerade ein bereits in Gott bestehendes unrealisiertes Moment. Sondern Gott muss dieser Möglichkeit gegenüber absolut frei in dem Sinn sein, dass ihn schon wegen seiner eigenen Vollständigkeit zu ihrer Verwirklichung nichts bewegte. Eine andere Frage ist allerdings, was diese Möglichkeit beinhalten würde. Die Antwort hierauf ist Schellings Lehrstück von der Spannung der Potenzen in Gott – einer zunächst hypothetisch angesetzten Spannung, die lediglich die Antwort auf die Frage bildet, was Gott eigentlich sieht, wenn er der Möglichkeit eines anderen Seins ansichtig wird. Denn da er selbst das Absolute ist, kann dies nichts anderes bedeuten, als dass er sich selbst, aber in einer anderen Weise, sieht – in der Weise nämlich der Bezogenheit auf ein anderes Sein. Diese Bezogenheit auf ein anderes Sein beschreibt Schelling einerseits mit den Mitteln des internen Dualismus als eine Erhebung des Wesens, „auf dem die ganze Einheit ruht“ (SW XIII, 264) und damit einhergehend mit einer Verschiebung der Konstitutionsverhältnisse des Geistes. Zugleich ginge dies andererseits mit einer Hinauswendung der inneren Momente des Geistes und damit einer Transitivierung einher. Die immanenten Bestimmungen des Geistes würden sich hierdurch als transitive verstehen lassen und damit wieder als die „Potenzen des von ihm verschiedenen Seins darstellen“ (SW XIII, 250), d. h. erneut als die Prinzipien für ein anderes Sein, als die sie sich bereits in der Prinzipienaufweisung der negativen Philosophie erwiesen hatten. Die Idee der Schöpfung – und das heißt in Schellings Worten: „die Potentialität [=] die Möglichkeit eines anderen Seins“ (SW XIII, 264) –, beinhaltet demnach den Gedanken einer Spannung in Gott, welche ihrerseits eine „mittelbare Potentialisierung“ (ebd.) 4 beinhaltete, nämlich das wieder in die Potenz Setzen der 4 Hinsichtlich der Evaluation des Begriffsfelds von ‚Potenz‘ in Schellings Werk ist hierbei anzumerken, dass der Begriff der ‚Potenzialisierung‘, den Schelling im Spätwerk gehäuft gebraucht, um den beschriebenen Vorgang des in die Potenz Setzens eines Potenzlosen oder des aus der Aktualisierung (ex acto) in die Potenz Zurückkehrens zu bezeichnen, nicht verwechselt werden darf mit Schellings ähnlich lautendem Ausdruck des ‚Potenzierens‘ bzw. der ‚Potenzierung‘, welche in den Systemen von 1800 eine Steigerung und im Identitätssystem einen Vorgang der Ausdifferenzierung bezeichnete. ‚Potenzierung‘ wird von Schelling nach 1809 so gut wie überhaupt nicht mehr gebraucht, während ‚Potenzialisierung‘ umgekehrt erst ab der

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Kap. 9: Potenzen in der Philosophie der Offenbarung (1833–44)

Prinzipien, die im absoluten Geist er selbst waren. Die folgende Passage zeugt von Schellings konstruktivem Bemühen, diese hypothetische Spannungserzeugung zugleich mit den Mitteln des internen Dualismus und der Prinzipienlehre zu beschreiben: Das Wesen würde sich zur ersten Potenz umkehren, zur unmittelbaren Möglichkeit eines anderen Seins, also zur Potenz, die dem Sein am nächsten ist, es würde als das unmittelbar Seinkönnende, als das Seinkönnende der ersten Stufe, der ersten Möglichkeit oder (wie wir jetzt auch sagen können) Potenz erscheinen. (SW XIII, 265)

Diese Passage macht Schellings Tendenz, komplexe Sachverhalte durch eine Integration vielfältiger Theoriemodule zu konstruieren, und hierbei stillschweigend auch auf zentrale Modelle der Vorgängerstufen seiner eigenen Philosophie zurückzugreifen, erneut augenscheinlich. Klar zuordenbar sind hier mit dem Ausdruck des ‚Umkehrens‘ das Modell des internen Dualismus, nach welchem sich die aufeinander ruhenden Verhältnisse von Grund und Existierendem umkehren können, zumal der hierbei mitgebrauchte Ausdruck der ersten Potenz dem des Grundes, bzw. in der Sprache der Stuttgarter Privatvorlesungen, des ‚Seins‘ entspricht. Zudem greift Schelling hier auf das Stufenmodell der Potenzen zurück, insofern er die erste Potenz eben als ‚erste Stufe‘ bezeichnet – ein Modell, das in der ganzen bisherigen Entwicklung der Philosophie der Offenbarung keine Rolle gespielt hatte. Zuletzt ist dies gedacht in der Perspektive der Prinzipientheorie, mit der darin enthaltenden Zweideutigkeit, dass sich die erste Potenz als Seinkönnendes (und damit erstes Prinzip, das am nächsten am Sein ist), und zugleich als Potenz im Sinne von Möglichkeit verstehen lässt. Die Frage ist nun, inwiefern sich diese begriffliche Vieldeutigkeit, die Schelling sich hier systematisch zunutze machen möchte, in sachlicher Hinsicht auflösen lässt. Schellings Erklärung beginnt mit einer inneren Verschiebung der Potenz/Akt-Verhältnisse. Denn das in Spannung Setzen des absoluten Geistes beinhaltet eine sich vom ersten Prinzip (der ersten Potenz) ausgehende Potenzialisierung seines gesamten Wesens – und damit auch aller drei Prinzipien. Schelling beginnt die Schilderung dieses Vorgangs wiederum beim Seinkönnenden. Das Seinkönnende war in der Sprache der Prinzipienaufweisung Potenz nur in Hinsicht auf das rein Seiende gewesen, welches wiederum reiner Akt und somit nicht Potenz eines anderen Seins gewesen war. Durch die Spannung in Bezug auf die Möglichkeit eines anderen Seins wird das Seinkönnende nun zudem zur Potenz seiner selbst, ein „Seinkönnendes seiner selbst“ (ebd.). Dieser mit den Mitteln des internen Dualismus zu verstehende Vorgang der Selbstzuwendung hat auch eine Veränderung des Status des rein Seienden, dessen Grund das Seinkönnende je ist, zur Folge: Hierdurch wird zugleich das rein Münchner Vorlesung zur Grundlegung der positiven Philosophie ab 1832 nachweisbar ist (vgl. GPP 361 und 445) und von Schelling bis in die letzten Schriften hinein gelegentlich verwendet wird (vgl. SW XIV, 351 und XII, 110).

III. Die Schöpfung

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Seiende potenzialisiert. Insofern ihm das Seinkönnende als auf es bezogenen Grund (und damit seine Potenz) entzogen wird, fällt es aus seinem Status eines reinen Aktes in einen Potenzstatus zurück und erhält dadurch eine begriffliche Spannung, die darin besteht, dass es als das rein Seiende einerseits das potenzlos Seiende ist, andererseits gerade als solches seinem Wesen entgegen nun eine Potenzialisierung, ein in die Potenz Setzen erfahren hat. Dies hat zur unmittelbaren Folge, dass das rein Seiende schon im Sinne der Wiederherstellung seiner begrifflichen Integrität, danach streben muss, sich zum reinen Aktus zu retransformieren. Es muss „negieren, wovon es negiert ist“ (SW XIII, 266). Da es hierzu aber gerade des Seinkönnenden in der Form der auf ihn bezogenen Potenz als Grundlage entbehrt, kann diese unmittelbare Retransformation nicht gelingen und das rein Seiende muss versuchen, sich in anderer Form wiederherzustellen. Dies führt Schelling zu dem Gedanken, dass das rein Seiende in Hinsicht auf die zukünftige Schöpfung als eine notwendige Potenz (nämlich der eigenen Reaktualisierung) und somit als die Potenz eines Seinmüssenden erscheine. Der innere Zusammenhang ist der, dass das in der Aktualisierung „aus seinem AnSich herausgetretene Seinkönnende durch das Seinmüssende in sein An-Sich zurück“ (ebd.) wieder überwunden werden müsse. Das dynamische Geschehen, das in diesem hypothetischen Vorgang der Schöpfung in der Wechselbeziehung der Potenzen liegt, und das dann funktional für die Wirklichkeit der Schöpfung prägend bleibt, schildert Schelling zu Beginn der 17. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung noch einmal. Dort heißt es: Wenn Sie die erste Potenz in ihrer Hineinwendung oder in ihrem An-sich A nennen, in ihrer Hinauswendung oder in ihrem Außer-sich-Sein B, so wird das Streben der zweiten Potenz […] dahin gehen, das Außer-sich-Seiende, also B, wieder in sein An-Sich zurückzubringen. (SW XIII, 355 f.)

Ist dieser Vorgang abgeschlossen, d. h. der aktualisierte Aspekt des Seinkönnenden wieder in den Zustand ursprünglicher, bloßer Potenz zurückgeführt, so bleibt der Anteil B in A als dessen Basis erhalten: „es ist A, dem B noch immer, obgleich überwunden, zu Grunde liegt“ (SW XIII, 356), wodurch A und B, die Anteile des bloßen und aktualisierten Könnens der ersten Potenz wechselseitig in ein Verhältnis eingehen, das wiederum das des internen Dualismus ist. Damit sind mit dem Seinkönnenden und dem Seinmüssenden bereits zwei der drei Potenzen, welche Schelling im System der Weltalter bestimmt hatte, begrifflich hergeleitet. Die dritte Bestimmung des Seinsollenden findet Schelling als hypothetische Bestimmung des Geistes selbst, insofern dieser in Spannung getreten wäre, insofern der Geist selbst ja zugleich das integrative dritte Prinzip des als solchem seienden Seinkönnenden abgebildet hatte. In der dynamischen Darstellung der 17. Vorlesung schreibt Schelling, dass durch die inverse Konstellation des internen Dualismus, also dadurch, dass das überwundene

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Kap. 9: Potenzen in der Philosophie der Offenbarung (1833–44)

B zur Grundlage von A geworden sei, dieses seinerseits frei geworden sei sowohl von B als auch von der zweiten Potenz. Es könne daher als „ein wahrhaft Drittes zwischen beiden“ (SW XIII, 356) angesehen werden. Ein stichhaltiges Argument für diese modale Vervollständigung der Potenzen bleibt Schelling an dieser Stelle allerdings schuldig; als dritte Gestalt des unmittelbar Seinkönnenden ist sie die vermitteltste und damit auch relativ entfernteste zum Sein. Und eben dieser Begriff würde „durch den Begriff des bloß sein Sollenden“ (SW XIII, 266) ausgedrückt. Daher lässt sich die Frage nach der Ableitung der Potenzen aus der Prinzipien des Geistes weniger durch eine Rekonstruktion der internen begrifflichen Mechanik des in ihr angelegten Gedankens, als über die Perspektive auf die Zielstellung des in ihr beschriebenen Vorgangs erfassen. In Hinsicht auf das Ziel einer Erläuterung der Möglichkeit der Schöpfung mittels der zu Potenzen eines anderen Seins verwandelten Prinzipien des reinen Geistes versucht Schelling nachzuweisen, dass die Prinzipien des Seinkönnenden, des rein Seienden und des als solchem seienden Seinkönnenden sich durch die in der Möglichkeit der Schöpfung angelegte, mögliche Spannung im absoluten Geist selbst zu den schon im System der Weltalter als solchen fungierenden Potenzen eines Seinkönnenden, Seinmüssenden und Seinsollenden umwandeln lassen. Diese fasst Schelling dann auch wieder als eine „Folge von Potenzen“ (SW XIII, 267) und bezeichnet diese Folge als das Seinkönnende der ersten, zweiten und dritten Ordnung mittels der Ausdrücke ‚A1‘, ‚A2‘ und ‚A3‘ (ebd.). Durch die Ableitung der drei Potenzen in den modalen Formen ist es für Schelling gesichert, dass die ansichtige Möglichkeit eines anderen Seins dieses zugleich im Sinne von Leibniz’ Panorama möglicher Welten in allen Konfigurationen beinhalten kann. In der Folge der Potenzen seien demnach „alle möglichen Verhältnisse des noch nicht Seienden zu dem zukünftig Seienden, [d. h.,] alle Urkategorien des Seins begriffen“ (SW XIII, 267). Damit haben die drei Potenzen den gewünschten Status eines universellen Entfaltungsprinzips der Wirklichkeit erreicht. Sie beinhalten einerseits im Sinne logischer oder kategorialer Möglichkeiten den Möglichkeitsraum zukünftiger Welten und sie sind im Sinne von Realmöglichkeiten zugleich deren Realisierungsbedingungen. Allerdings sind diese in keinem Fall zureichend. Sondern als Potenzen eines zukünftigen Seins im absoluten Geist bleibt ihre Realisierung eine Sache der freien Willkür dieses Geistes. Es ist ein wesentliches, wenn nicht gar das zentrale Element der positiven Philosophie, dass die Schöpfung zuletzt nicht aus ihren Prinzipien, und auch nicht aus der Struktur der Wirklichkeit eines absoluten Geistes abzuleiten ist, sondern sich einer voraussetzungslos freien Tat dieses Geistes verdankt. Ja, umgekehrt betont Schelling, dass der deduzierte absolute Geist nur insofern als Gott (und damit Prinzip der positiven Philosophie) aufzufassen ist, als er sich als freier Schöpfer der Welt versteht. In der Realisierung der hypothetisch angesetzten Spannung der

IV. Die Welt unter der Bestimmung der Potenzen

245

Potenzen in Gott setzt sich dieser also zuerst „in Freiheit gegen die Notwendigkeit seines unvordenklichen Seins“ (SW XIII, 268) und transformiert sich selbst in den spannungsvollen Zustand der Potenzen in sich, aus denen heraus er dann die Welt entfalten kann. Schelling beschreibt hierbei Gott in Souveränität seinem eigenen, durch die Potenzendreiheit gefügten Sein gegenüber als eine übermaterielle Einheit, welche auch in der Spannung oder gar „Zertrennung der Potenzen“ (SW XIII, 281) die eines All-Einigen bleiben kann. Es ist dieser Standpunkt der Souveränität, nach welchem Gott „an kein Sein – auch nicht an sein eigenes“ (SW XIII, 269) gebunden ist, der es ihm ermöglicht, aus der Konstellation der Spannung und schließlichen Auseinanderfaltung der Potenzen eine Welt aus sich selbst heraus zu schöpfen, ohne dabei genötigt zu sein, in diesen Weltprozess selbst einzugehen. Demnach kann Schelling auf dem Standpunkt des absoluten Geistes in der Ansichtigkeit seiner selbst im Möglichkeitszustand der Spannung der Potenzen diesen noch immer als einen fassen, der streng potenzlos, actus purissimus, ist, wiewohl jene Möglichkeit eines anderen Seins gerade die Möglichkeit beinhaltet, selbst das Sein, das „nicht mehr in actu purissimo besteht, sondern ein actus ist, in dem zugleich Spannung, Widerstand ist“ (SW XIII, 270) anzunehmen. Mit dem Vollzug des freien Aktes der Schöpfung setzt Gott schließlich jenes eigene Sein, in dem er sich zunächst nur vorgefunden hatte, als ein anderes zu seiner übergreifenden All-Einheit und initiiert dadurch einen Prozess, in welchem er durch „Herauswendung der Potenzen“ (SW XIII, 277) aus sich mittelbar in die Schöpfung eingeht. Demnach stellt sich nun die Frage, wie dieser Weltprozess unter den Voraussetzungen der Schöpfung zu denken sei und insbesondere, wie die Potenzen in diesen eingehen und in ihm fungieren.

IV. Die Welt unter der Bestimmung der Potenzen In einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig lässt, erklärt Schelling die erneute Bedeutungsverschiebung im „Wort Potenz“ (SW XIII, 272) in Hinsicht auf das Eingehen dieser Potenzen in den Weltprozess: Wir haben bereits gesehen, wie sich dem vollkommenen Geist an den Gestalten seines Seins zuerst die Potenzen darstellen. Hier werden sie also für ihn – Möglichkeiten, Potenzen eines anderen Seins […]. In dem wirklichen Sein aber, wo sie nun nicht mehr Gestalten des unmittelbar göttlichen, sondern wirklich eines vom göttlichen verschiedenen sind, verhalten sie sich auch wieder als Potenzen, als Möglichkeiten, nämlich als Potenzen oder Vermittlungen des wiederherzustellenden göttlichen Seins, so dass sie also innerlich, Potenzen des außergöttlichen, äußerlich geworden, Potenzen des göttlichen Seins sind. Wir werden sie also auch in dem äußeren Sein Potenzen nennen dürfen, wiewohl sie es da in einem anderen Sinn sind als dort. (ebd.)

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Kap. 9: Potenzen in der Philosophie der Offenbarung (1833–44)

An dieser aufschlussreichen Passage sind mehrere Punkte festzuhalten: 1) Zunächst den einfachen, aber innerhalb der gegebenen Untersuchung doch bedeutenden Umstand, dass Schelling hier explizit eine Bedeutungsverschiebung im Begriff von ‚Potenz‘ markiert. Dieser Umstand ist deshalb bemerkenswert, weil er einerseits ein wenn auch selten, so doch gelegentlich sich zeigendes Bewusstsein Schellings für die Vieldeutigkeit des Potenzbegriffs dokumentiert, andererseits aber auch deshalb, weil diese eine der wenigen Stellen ist, bei welchen Schelling ausdrücklich auf Bedeutungsvarianzen in diesem Begriff hinweist, obwohl, wie die gegebene Untersuchung deutlich gezeigt hat, dieser Begriff eine große Pluralität von Bedeutungen in sich einschließt und Schelling sich diese oft stillschweigend systematisch zu Nutze zu machen sucht. 2) Allerdings ist auch zu bemerken, dass die Erklärung des ‚Wortes‘ Potenz hier streng genommen gar keine Bedeutungsverschiebung beinhaltet, sondern eine Verschiebung des Anwendungsbereichs. Die Potenzen bleiben ‚Möglichkeiten‘ ; nur der Bezugspunkt dieser Möglichkeiten, das, wofür sie Möglichkeiten sind, ändert sich. 3) Spricht Schelling hier von der Funktion der Potenzen im Plural, im Ganzen – und nimmt damit eine Perspektive auf sie ein, in welcher ihre Gesamtfunktion innerhalb des Weltprozesses sichtbar wird: nämlich diejenige, diesen Prozess zu einem bestimmten Ziel zu führen. Damit ist aber auch eine andere Perspektive gegeben als diejenige, unter der Schelling innerhalb der Entwicklung der Philosophie der Offenbarung diese zunächst als ‚Potenzen‘ bezeichnet hatte, nämlich in der Perspektive auf diese als je einzelne und in ihrem Verhältnis zueinander. 4) Nennt Schelling hier bereits den Bezugspunkt der Potenzen im Weltprozess, also dasjenige, wofür sie Potenzen sind. Sie sind: ‚Potenzen oder Vermittlungen des wiederherzustellenden göttlichen Seins‘. Damit reißt Schelling bereits die eschatologische Perspektive auf, welche die Grundstruktur des Weltprozesses – auch in Hinsicht auf seine zeitliche Gliederung – bildet. Wie schon in den Weltaltern dargelegt, geht Schelling von einem dreigliedrigen Weltprozess aus, der seinen Ausgang von Gott nimmt und in Gott zurückkehrt. Die Weltzeit der Gegenwart ist dabei eingebettet in die vorzeitlichen und nachzeitlichen Ewigkeiten Gottes vor der Schöpfung und eben jenes nachzeitlichen Zustandes des wiederhergestellten göttlichen Seins. 5) Inwiefern hierzu die Potenzen Vermittlungsfunktionen einnehmen, ist allerdings eine Frage, die ausführlicher geklärt werden muss. Dass Schelling die Potenzen hier als ‚Vermittlungen‘ bezeichnet, zeigt, dass er sie auch hinsichtlich des Weltprozesses begrifflich weiter unter der Perspektive von Potenz und Aktus zu fassen versucht. Sie sind so – in Bezug auf den finalen Zustand – Ermöglichungsbedingungen der Wiederherstellung des Göttlichen, weil sie als Leitprinzipien dieses Prozesses verbürgen sollen, dass dieser eben auch in der Alleinheit des Göttlichen terminiert. Vollendet sich in Übrigen dieser Prozess

IV. Die Welt unter der Bestimmung der Potenzen

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dereinst in der Alleinheit, so fallen die Potenzen aus ihrem Zustand der Spannung wieder zurück in Gott. „Im Ende des Prozesses [sind sie] nicht mehr Potenzen, sondern wieder = Er selbst“ (SW XIII, 283). Über diese wichtigen, direkt der zitierten Passage zu entnehmenden Bestimmungen hinaus, nehmen die Potenzen allerdings noch eine andere zentrale Funktion ein: Unmittelbar als Potenzen innerhalb des Weltprozesses fungieren sie als göttliche Mächte, welche die eigentlichen Erzeugungsprinzipien des Weltprozesses darstellen. Sie leiten hierdurch nicht nur die Richtung dieses Prozesses auf das ferne Ziel zu, sondern bestimmen inhaltlich den Gang der Geschichte. Der zentrale Gedanke hierbei ist, dass die „Potenzen, hinaus gewendet, die Natur und Funktion kosmischer, demiurgischer Mächte annehmen“ (SW XIII, 339 f.). Sie sind „kosmische Ursachen“ (SW XIII, 290) – und treten auf diese Weise an die Stelle der metaphysischen Urkräfte als Prinzipien des materiellen Kosmos, wie sie in der Naturphilosophie um 1800 konstruiert worden waren. Hierfür greift Schelling wieder auf den Gedanken zurück, dass lediglich der Wille etwas sei, das Widerstand erzeuge und dass die Widerständigkeit zugleich das Prinzip des Materiellen sei – und kombiniert dies mit der voluntativen Perspektive der Prinzipientheorie, nach welcher, wie gesehen, das ursprüngliche Sein aus einem entzündeten Wollen besteht (vgl. SW XIII, 207). Daher kann er aus den Potenzen als den drei Verhaltungsformen des Willens (s. o.) die drei äußeren physischen Potenzen erneut als drei Ursachen im Sinne des Aristoteles deuten. Im Gegensatz zum System der Weltalter, wo Schelling diesen Gedanken zunächst vorgeführt hatte und die drei Potenzen als die Folge von causa materialis, formalis und finalis gesehen hatte, nennt er nun zunächst eine veranlassende, eine wirkende und eine End-Ursache (vgl. SW XIII, 279) als die erste, zweite und dritte Potenz des Weltprozesses und benennt sie schließlich im Widerspruch hierzu, aber entsprechend der bereits gegebenen Abfolge des Systems der Weltalter als materielle Ursache, causa formalis (nicht: efficiens!) und causa finalis (vgl. SW XIII, 290), ohne sich über die Bedeutungsverschiebung in der zweiten Potenz von der wirkenden zur Formursache Rechenschaft zu geben. 5 5

Schelling hat hier offenbar keine letztgültige Lösung für die Frage, welche drei der vier Ursachen des Aristoteles den drei Potenzen zugeordnet werden sollen, gefunden, so dass er die zweite Potenz mal als Formalursache, mal als Wirkursache bezeichnet. Vgl. hierzu aus demselben Zeitraum folgende Passage aus der Monotheismus-Vorlesung, bei welcher Schelling die zweite Potenz als causa efficiens interpretiert: „In den Potenzen sind also ebenso viele Ursachen […] überhaupt gegeben, und zwar reine (reingeistige) Ursachen, insbesondere aber jene drei Ursachen, welche stets zusammenwirken müssen, damit irgend etwas entstehe oder zu Stande komme, und die vor Aristoteles schon die Pythagoreer erkannten. Nämlich 1. die causa materialis (so wird diejenige genannt, aus welcher etwas entsteht). Die causa materialis ist das nicht sein Sollende = B; denn dieses ist, was in dem Prozess verändert, modifiziert, ja sukzessiv in nicht Sein, in bloßes Können umgewandelt wird. 2. Die causa efficiens, durch

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Kap. 9: Potenzen in der Philosophie der Offenbarung (1833–44)

Wesentlicher als die Frage der genauen Zuordnung der drei Potenzen im Versuch, diese an die Ursachenlehre des Aristoteles anzugleichen, ist die Frage ihrer Wirkungsweise innerhalb des Weltprozesses und des Verhältnisses zu ihren Entsprechungsformen innerhalb des absoluten Geistes Gottes. Hier gilt, dass „die drei Potenzen, obwohl sich gegenseitig ausschließend, doch nicht wirklich auseinander können, [weil] ihre ursprüngliche Einheit eine geistige, unzerreißbare ist“ (SW XIII, 280). Demnach stehen die drei Potenzen in je nur relativer Selbstständigkeit, insofern der absolute Geist die übergeordnete Rahmenbedingung ihrer Zusammengehörigkeit bildet. Diesen Zusammenhang schildert Schelling dann erneut in der Terminologie des internen Dualismus: Die Potenzen stellen das bloß materielle Existieren vor, das Seiende selbst ist über der bloßen Materie des Seins erhaben, die Übermaterielle […] Einheit, welche die Potenzen […] zwingt, […] die materiellen Ursachen eines Prozesses zu sein, dessen übermaterielle Ursache sie selbst (die Einheit) ist. (ebd.)

Dies bedeutet, – und hierin erkennt man sofort Schellings ‚organische‘ Denkweise wieder – dass das Verhältnis zwischen der durch die Potenzen aufgebauten materiellen Welt und dem gleichfalls durch die Potenzen aufgespannten Geist seinerseits von der Art ist, wie die Potenzen selbst zueinander stehen: so nämlich, dass der materielle Bereich einen unselbständigen Grund für den übergeordneten Geist bildet, welcher umgekehrt wiederum eine Ursache für jenen darstellt. Eine der Entfaltungsformen, in welcher innerhalb der übermateriellen Einheit Gottes sich die drei Potenzen finden, ist, wie Schelling dies bereits im System der Weltalter skizziert hatte, die Trinität. Dabei soll die Figur der Einheit in der Differenz auch hinsichtlich der Potenzen verbürgen, dass für Gott zuletzt gelten kann, dass dieser in seiner Einheit mehrere sein kann. Er bleibt auch in der Spannung der Potenzen in sich der Eine Gott als deren übergreifendes Einheitsprinzip, wiewohl er sich in der Spannung der ausdifferenzierten Potenzen zugleich als ein je anderer darstellt. Er ist der Herr der Potenzen in dem Sinn, dass sie „die frei gewählte Form seiner Existenz“ (SW XIII, 281) bilden. Gott kann hierdurch Vielheit in sich haben und sich in den drei Formen der Potenzen als ein je anderer darstellen, ohne dass er sich dadurch selbst vervielfältigte. „Gott ist der in den Potenzen seiende, in ihnen wirkende und schaffende, und als dieser ist er nicht mehrere, sondern Einer“ (SW XIII, 283). Dabei versucht Schelling zumindest umrisshaft die Entfaltungs- und Verschließungsbewegunwelche alles wird. Diese ist in dem gegenwärtigen Prozess A2; denn diese ist das Verwandelnde, Umändernde der ersten Potenz, des B. 3. Die causa finalis, zu welcher oder in welche als Ende oder Zweck alles wird. Diese ist das A3“ (SW XII, 112). Es wird sich zeigen, dass Schelling in der Darstellung der reinrationalen Philosophie erneut eine Zuordnung der Potenzen zu den Aristotelischen Ursachen versucht, und dabei erneut die Reihenfolge verändert.

IV. Die Welt unter der Bestimmung der Potenzen

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gen der Potenzen in die innergöttliche Dreiheit abzubilden. In der Spannung der Potenzen ist Gott „ein anderer als der aus seinem An-sich herausgetretene, ein anderer als der dieses außer sich Gesetzte seines Wesens wieder zurückbringende und überwindende, ein anderer als der, welcher sein soll“ (SW XIII, 281). Heraustreten, Zurückbringen und Sein-Sollen lassen sich jedoch ebenso eindeutig der Folge der Potenzen wie den Figuren der göttlichen Dreieinheit zuordnen. Die erste Potenz entspricht dem Heraustreten der Schöpfung aus Gott und damit der alttestamentarischen Figur des Schöpfergottes als dem Gott-Vater; das Zurückbringende ist in der zweiten Potenz sichtbar und entspricht der Funktion des Sohnes als des Herrschers der Welt, deren Prozess der Sinn eingeschrieben ist, das in der ursprünglichen Materialisierung aus Gott entlassene in einer höheren dialektischen Stufe in diesen zurückzuführen; die dritter Potenz der Einheit entspricht schließlich dem Geist als dem eschatologischen Zielfokus des Weltprozesses und damit eben dem, das in einem eminenten Sinn sein soll. Zugleich bilden diese durch die Potenzen geprägten göttlichen Figuren das in den Stuttgarter Privatvorlesungen zuerst entworfene zeitliche Schema des Weltverlaufs ab: Gottvater entspricht der Vergangenheit als der vorzeitlichen Ewigkeit, Christus der Gegenwart als der Zeit der Welt, der Geist schließlich der Zukunft als der nachzeitigen Ewigkeit. 6 Von dieser Ausdifferenzierung innerhalb des göttlichen Geistes aus ist nun die Frage zu klären, wie die Potenzen in die geschöpfte Welt hinein wirken. In der Beantwortung dieser Frage konstatiert Schelling einen „wesentliche[n] Unterschied zwischen allen anderen Geschöpfen und dem Menschen“ (SW XIII, 344). Dieser besteht darin, dass in der Entstehung der materiellen – physikalischen und biologischen – Welt außerhalb des Bereichs des Menschlichen die Potenzen auf eine direkte Art wirken, bei der Entstehung des Menschen hingegen diese über die trinitarischen Gestalten in Gott vermittelt sind. Dadurch erhält umgekehrt der Mensch einen direkteren Bezug zu Gott: Während […] alle anderen Geschöpfe das Werk der bloßen, noch nicht als göttliche Persönlichkeiten erkannte Potenzen sind, wird der Mensch dargestellt als das Geschöpf, an welchem diese Persönlichkeiten selbst Hand gelegt haben, aber eben damit ist er auch […] aus dem Reich der bloß kosmischen Mächte hinweggerückt in den unmittelbaren Rapport zu dem Schöpfer. (SW XIII, 344 f.)

Andererseits wird die physikalische Welt über den Menschen vermittelt. Denn die Schöpfungstat Gottes beinhaltet als Produkt lediglich den Menschen und den geistigen Kosmos, in dem der Mensch mit Gott ist; die Erzeugung des Menschen ist eine Selbsterzeugung des eigentlichen Gottes aus dessen notwendigem Sein. Der physikalische Kosmos hingegen resultiert in Schellings Schöp-

6

Vgl. zum zeitlichen Schema Gerlach 2019, 163 ff. und Schole 2018, 205 ff.

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Kap. 9: Potenzen in der Philosophie der Offenbarung (1833–44)

fungslehre erst als Folge des Sündenfalls: „bis zur Tat des Menschen ist überhaupt kein außergöttliches Sein“ (SW XIII, 353). Die Welt ist Menschenwerk. 7 Damit kann verständlich werden, dass der Mensch als geistiges Wesen gleichfalls aus einer bewusstseinskonstituierenden Konstellation von Potenzen besteht – womit zudem die Ebenbildlichkeitsthese verwirklicht wird. Und es wird erklärlich, weshalb dem Menschen, im Gegensatz zu den anderen Geschöpfen, Freiheit zugerechnet werden kann: denn während die restliche Natur als bloße Wirkung der je spezifischen Potenzenkonstellation angesehen werden muss, ist der Mensch gleich Gott den Potenzen gegenüber in einem gewissen Sinne frei; zumindest hat er in der ursprünglichen Schöpfungskonstellation die Möglichkeit der Selbstgestaltung, d. h., die Möglichkeit, das Verhältnis der Potenzen, das seinen Geist prägt, zu verändern. Der Mensch hat also Gott gleich einen reflexiven Standpunkt, von dem aus er in einem „freien Verhältnis […] gegen die ihm sich darstellenden Potenzen ist“ (SW XIII, 349). Allerdings, und hier sieht Schelling den entscheidenden Unterschied zwischen Mensch und Gott, und die Voraussetzung des Sündenfalls, ist der Unterschied der, dass Gott jederzeit Herr der Potenzen bleibt, der Mensch dies jedoch nur, insofern er ihre Einheit bewahrt. Versucht der Mensch hingegen, selbst Schöpfer zu sein und die Potenzen in Spannung zu setzen, so kehren sie sich gegen ihn: „Der Versuch, mit den Potenzen gleich Gott zu wirken, schlägt daher dahin aus, dass er aus der Innerlichkeit, in die er gegen die Potenzen gesetzt war, unter das äußere Regiment eben dieser Potenzen fällt“ (SW XIII, 350). Damit beginnt für Schelling der eigentlich geschichtliche Prozess; der Sündenfall der gescheiterten Selbstermächtigung des Menschen bewirkt, dass die durch den Menschen aus ihrer Einheit gesetzten und in Spannung versetzten Potenzen sich des menschlichen Bewusstseins bemächtigen und der Prozess der Götterherrschaft in Gang gesetzt wird, der in einem beständigen Kampf der Potenzen um die jeweilige Vorherrschaft besteht – ein notwendiger Prozess, bei welchem die mythologischen Vorstellungen „notwendige Erzeugnisse des unter die Gewalt der Potenzen […] gefallenen menschlichen Bewusstseins“ (SW XIII, 378) sind. Genauer beschriebt Schelling dies dahingehend, dass die göttliche Dreieinheit, in welcher sich die drei Potenzen in die drei göttlichen Aspekte der Trinität ausdifferenziert hatten, ohne ihre Einheit zu verlieren, nun verloren geht und die drei Potenzen hierdurch ihre eigentliche Göttlichkeit verlieren und im menschlichen Bewusstsein als bloße Potenzen wirken. Der in die bloßen Potenzen hierdurch „zertrennte[.] Gott“ (SW XIII, 367) erscheint in einem natürlichen, notwendigen Prozess, in welchem sich „die Potenzen nur noch als natürliche Potenzen verhalten“ (SW XIII, 368) in der Folge in der Vielheit der Götter. Diese Vielheit der Götter in ihrer Zerrissenheit prägt den mythologischen Prozess. Ihm entspricht nicht nur, dass auch das menschliche 7

Hierzu auch Hemmerle 1966, 119.

IV. Die Welt unter der Bestimmung der Potenzen

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Bewusstsein seinen Einheitspunkt verloren hat, sondern „von dieser Zerreißung des Bewusstseins schreibt sich diese äußere, zerrissene Welt her“ (SW XIII, 352). Damit ist der Mensch tatsächlich der Schöpfer der äußeren Welt geworden, aber einer Welt, die ihren Einheitspunkt ebenso verloren hat wie der Mensch die Herrschaft über die Potenzen. In dieser Welt ist er daher den Göttergestalten seines Bewusstseins ausgesetzt, dem mythologischen Prozess der Götterfolge, die aus immer neuen Konstellationen der in die Herrschaft gesetzten Potenzen sich seiner ermächtigen, in einer zerrissenen Welt, deren Unvollkommenheit Ausdruck und Spiegel der Zerrissenheit des gefallenen Menschen ist. Die Darstellung des geschichtlichen Prozesses der Götterherrschaft ist Gegenstand des Besonderen Teiles der Philosophie der Mythologie, der in der historischen Abfolge auf den Sündenfall folgt, bis dieser in der Offenbarung Christi unterbrochen und in eine neue Perspektive auf die Wiedervereinigung der Potenzen gehoben wird. Für diese soll zuletzt ein wesentlicher Aspekt hervorgehoben werden: die sukzessive Prägung des mythologischen Bewusstseins des Menschen und des physischen Antriebs der Welt denkt Schelling unter der Idee variabler Dominanzkonstellationen des Potenzengefüges. Dabei ist es die der Dominanz- und Unterordnungsfigur des internen Dualismus geschuldete Idee der Herrschaft je einer bestimmten Potenz über die anderen, welche je einer bestimmten mythologischen Epoche ihr spezifisches Gepräge gibt. 8 Hierbei kommt nun auch nochmals die ursprüngliche lateinische Bedeutung von potentia = Macht zum Tragen. Mit der für die Figur von Dominanz innerhalb des internen Dualismus in den Stuttgarter Privatvorlesungen bereits gebrauchte Wendung ‚unter der Potenz von … stehen‘ (vgl. AA II,8, 120/SW VII, 447), beschreibt Schelling nun spezifische Vorrangstellungen innerhalb der Abfolge sich wandelnder Potenzenkonstellationen wie in etwa der der Entwicklung des Menschen vom Natur- zum Geistwesen, wonach „derselbe ganze […] Mensch zuerst unter der Potenz oder dem Exponenten des bloß natürlichen Lebens, hierauf unter dem des geistigen gesetzt wird“ (SW XIV, 212) – einen Zustand, den Schelling zugleich explizit als einen „unter der Herrschaft der geistigen Potenz“ (ebd.) beschreibt.

8 Zur Klassifikation der Abfolge mythologischer Systeme unter der je spezifischen Potenzenkonstellation vgl. z. B. die Tabelle bei Beach 1994, 180.

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Kap. 9: Potenzen in der Philosophie der Offenbarung (1833–44)

V. Resümee In der Aufweisung letzter Prinzipien und der Entfaltung des Kosmos aus diesen letzten Prinzipien, wie sie Schelling in der Philosophie der Offenbarung dargestellt hat, lassen sich sieben Stufen der Entwicklung und Anwendung der Potenzen klar unterscheiden: 1) Zunächst weist Schelling generelle Prinzipien des Seins auf, die er Seinkönnendes usw. nennt und an welchen die Eigenschaft virulent ist, als Prinzipien des Seins auf Aktualisierung bezogene Möglichkeiten des Seins zu sein. In Sinne des Potenz/Akt-Modells spricht Schelling hier auch von Potenz = Möglichkeit, ohne doch die Prinzipien selbst als eine Folge von ‚Potenzen‘ zu beschreiben. 2) In dem durch die Prinzipien erzeugten absoluten Geist gehen die Prinzipien als dessen interne Bestimmungen ein und werden von nun an ‚Potenzen‘ dieses Geistes genannt. Allerdings verlieren sie zugleich den Aspekt ihrer Potenzialität, da die Wirklichkeit des Geistes reiner Akt ist. 3) Indem dem Geist die Möglichkeit eines anderen Seins (der Schöpfung) erscheint, ist in dieser Möglichkeit beinhaltet, dass die Bestimmungen des Geistes sich in Spannung versetzen und dann wieder als Potenzen fungieren – als Potenzen in Bezug auf die Möglichkeit der Schöpfung. 4) In der Wirklichkeit der Schöpfung, wird der ursprüngliche Mensch als Spiegel Gottes erzeugt, der dieselbe Einheit von Potenzen in sich führt. Diese Schöpfung ist aber zugleich eine innergöttliche; der notwendige Gott der negativen Philosophie verwandelt sich in ihr in den freien Gott der Schöpfung. 5) Im Sündenfall zertrennt der Mensch die Einheit der Potenzen, indem er sie neuerlich in Spannung setzt. 6) Folge hiervon ist eine Zerreißung des Bewusstseins des Menschen und die Entstehung der äußeren, gleichfalls zerrissenen Welt. 7) Innerhalb des darauf folgenden Weltprozesses fungieren die Prinzipien in doppelter Weise als Potenzen. Sie sind einerseits wirkliche Mächte, die den Prozess steuern und erklären. Andererseits sind sie in Bezug auf diesen teleologischen Prozess auch Potenzen der Wiederherstellung des Göttlichen als dessen Ziel. Überblickt man diese sieben Stufen, so zeigt sich, dass Schelling die Potenzenlehre auch in der Philosophie der Offenbarung als eine universelle metaphysische Theorie konzipiert und anwendet, welche ein einheitliches Erklärungsmuster von den Grundbedingungen allen Seins bis zur Genese des tatsächlichen Weltprozesses in geistiger und materieller Hinsicht etabliert. Daher ist nun zuzusehen, welche Gestalt Schelling dieser Universaltheorie in seinem letzten großen philosophischen Entwurf, der Darstellung der reinrationalen Philosophie, gibt.

Kapitel 10

Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie (1846–54) I. Zum Neuansatz der Darstellung der reinrationalen Philosophie Schellings letzter großer Versuch, nochmals den wesentlichen Aufbau seiner Philosophie in historischer und systematischer Perspektive neu zu leisten, ist die Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie, von Schelling auch als Darstellung der reinrationalen Philosophie betitelt. Sie ist das unvollendete Spätwerk Schellings, das in den späten Berliner Jahren nach Einstellung von Schellings Vorlesungstätigkeit 1846 entstand und mit Schellings Tod 1854 noch nicht abgeschlossen war (vgl. SW XI, V). Nach Schellings in der Nachlassverfügung dargelegtem Systementwurf sollte mit diesem Text die letztgültige Version der negativen Philosophie gegeben sein. 1 Dabei ist der Text zwar äußerlich nach Schellings Vorgabe als ein fortlaufender Vorlesungszyklus angelegt. Als philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie hat sie Schellings Sohn allerdings einer schon lange zuvor verfassten historisch-kritischen Einleitung nachgeordnet, so dass die Darstellung der reinrationalen Philosophie nun als die Folge der 11. bis 24. Vorlesung des allgemeinen Teils der Philosophie der Mythologie in den SW erscheint (SW XI, 253– 572). Zudem enthält sie mehrere zunächst an der Berliner Akademie der Wissenschaften einzeln gehaltene Vorträge, welche dann von Schellings Sohn in den Gesamttext eingefügt wurden, wodurch sich zusätzliche Schwierigkeiten, die Darstellung der reinrationalen Philosophie als eine kontinuierlich zusammenhängende Abhandlung aufzufassen, ergeben. Allerdings bleibt das Ziel, die negative Philosophie nochmals neu zu begründen und zur Darstellung zu bringen, als einheitsstiftendes Leitmotiv durch alle Vorlesungen hindurch sichtbar. Schelling verbindet diesen Neuansatz mit einer Reihe von neuen Beweiszielen, deren wechselseitige Begründungssystematik nicht offen zutage liegt, was auch der heterogenen Textentstehung geschuldet sein mag. So ist es einerseits die Perspektive auf die Möglichkeit der Etablierung einer bis dato inexistenten ‚Philosophischen Religion‘ (vgl. SW XI, 255), welche über alle Offen1

Vgl. Müller-Bergen 2007.

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Kap. 10: Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie

barungsreligion hinausgehend, aus reinen Vernunftansprüchen heraus zugleich Wissenschaft und Religion befriedigend miteinander verbinden soll, welche das Fernziel der gesamten Untersuchung bildet. 2 Andererseits soll die Neufassung der negativen Philosophie in sich eine neue, tragende Basis für die positive Philosophie bilden, deren Begründetheit Schelling nun anzweifelt. Diese Beweisziele führt Schelling zudem zusammen mit der Idee einer Bewährung seiner reinrationalen Philosophie in Auseinandersetzung mit den großen Klassikern Platon, Aristoteles und Kant. Während hierbei Platon und insbesondere Aristoteles, „auf den wir wegen jeder Begriffsbestimmung gerne zurückgehen“ (SW XI, 402) als historische Ressourcen herbeigeführt werden, an denen sich zentrale begriffliche Elemente von Schelling Neuansatz bewähren sollen, ist es Kants Lehre vom transzendentalen Ideal, das Schelling in der zwölften Vorlesung dazu dient, diesen Ansatz erst zu entwickeln. In Hinsicht auf Schellings Philosophie der Potenzen wird hierbei ein aus den Beweiszielen heraus verständlich zu machender Unterschied zur Potenzenaufweisung der Philosophie der Offenbarung sofort augenscheinlich: während dort, wo es die klare Absicht des Gesamtunternehmens war, die positive Philosophie als eigentliches Ziel der Wissenschaft zu erweisen, von Anfang an die voluntative Interpretation der Potenzen im Zentrum stand, wobei sich von dieser aus dann der Übergang in die Positivität der Existenz als eine Tat des freien göttlichen Willens bestimmen ließ, ist in der Darstellung der reinrationalen Philosophie, in welcher deutliche Zweifel an der Möglichkeit eines Übergangs von der in ihr entfalteten Vernunftwissenschaft zu einer Erklärung der Existenz der Welt formuliert sind, die Perspektive auf den Willen im argumentativen Gang der Entwicklung in den Hintergrund gerückt – wenngleich Schelling ex post seine zentrale Bedeutung erneut hervorhebt. Während demnach der absolute göttliche Geist in der Philosophie der Offenbarung sowohl in der Form der theoretischen Vernunft als auch in der auf Praxis bezogenen Form eines wollenden Wesens dargestellt wird, bleibt das Interesse der Darstellung der reinrationalen Philosophie weitgehend auf die schon im Titel gegebene Rationalität, d. h. die theoretische Vernunft beschränkt. Schellings neuer Ansatz liegt nun in dem Versuch, den Vernunftraum über Kants Gedanken vom Ideal der reinen Vernunft zu bestimmen, welches für Schelling dem Gedanken der Möglichkeit eines Seienden entspricht, dessen Prädikation vollständig ist, und das demnach „den Stoff, die Materie alles möglichen und wirklichen Seins enthalten sollte“ (SW XI, 283). 3 Hierbei ist es für 2 Vgl. hierzu Franz 1992 und Buchheim 2015, welche den merkwürdigen Status der Philosophischen Religion, welche, wie Schelling mehrfach betont, nicht existiere, zugleich aber das Ziel des gesamten Unternehmens der Spätphilosophie bilde, herausarbeiten. 3 Zu Schellings Auseinandersetzung mit Kant als Movens der Darstellung der reinrationalen Philosophie vgl. auch Schrödter 1986, 562–564 und Müller-Bergen 2006. Allerdings gilt es hier, Einseitigkeiten zu vermeiden. So schreibt Müller-Bergen, „dass Schelling die drei Poten-

II. Zur Methodik

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Schelling wichtig, dass Kant damit die Idee verbunden hatte, „dass Gott als einzelner Gegenstand gewollt werde, und nicht bloße Idee, sondern das Ideal der Vernunft sei“ (ebd.). 4 Terminologisch ist dabei hervorzuheben, dass Schelling nun im Gegensatz zum früheren Sprachgebrauch dieses Wesen mit ‚das Seiende‘ bezeichnet: der „Gegenstand, der über allen Gegenständen ist, […], kann nur der sein, von welchem zu sagen ist, dass er das Seiende ist“ (SW XI, 295); kurz: „Gott ist das Seiende“ (SW XI, 275). Hierbei wird allerdings nicht das Ziel vorgegeben, die Existenz dieses Seienden zu beweisen, sondern lediglich zu zeigen, dass berechtigterweise dessen Möglichkeit eingeräumt werden könne – dass die Existenz Gottes als Einzelwesen also möglich sei. Dies kann aber umgekehrt dann als Gewähr dafür dienen, dass alle Wirklichkeit in ihrer inneren seinslogischen Struktur diesem gemäß sein muss. Demnach geht die Forderung der Wissenschaft dahin, dass „alle Möglichkeit, die in dem Seienden verborgen ist, offenbar [werden], ins Wirkliche“ (SW XI, 386) zu führen sei. Hierbei spielt erneut Schellings Theorie der Potenzen als Prinzipienlehre dieses Vernunftraums eine zentrale Rolle.

II. Zur Methodik Vor der Nachzeichnung der eigentlichen Schritte der Potenzenentwicklung in der Darstellung der reinrationalen Philosophie gilt es, deren besonderes methodisches Verfahren zu beachten, welches Schelling in der 13. und 14. Vorlesung darstellt. Hiermit verbunden ist erneut die Frage, inwiefern die Aufdeckung und Ausweisung der Potenzen eigentlich eine ‚Deduktion‘ genannt werden dürfe, wie sie Schellings Sohn und Nachlassherausgeber Karl Friedrich August im Inhaltsverzeichnis der Darstellung der reinrationalen Philosophie bezeichnet hatte. 5 zen der reinrationalen Philosophie genau an dem formal- oder transzendentallogischen Leitfaden der Vernunftschlüsse und deren logischen Prinzipien […] entwickelte“ (S. 272). Hiergegen ist einzuwenden, dass Schellings Versuche, die Potenzen als Subjekt usw. zu verstehen, wie gesehen, schon weiter zurückreichen, und dass zugleich andere Themen, wie die Entfaltung der Potenzen über die Begriffe des Seinkönnenden oder innerhalb der Potenz/AktusPerspektive oder zuletzt als Willensmomente in der Darstellung der reinrationalen Philosophie ebenso wach sind, aber nicht direkt auf den Kant-Kontext bezogen werden können. Zudem ist zwar die Motivation von Kant her nachweisbar, eine direkte Orientierung der argumentativen Abfolge an den Vernunftschlüssen jedoch nicht. Wie zumeist, ist es bei Schelling auch hier so, dass er eine Vielzahl von Modellen, eigenen und adaptierten, in seine vielschichtige Theorie einarbeitet. 4 Vgl. Kant KrV, B 596, wo es heißt, dass unter dem Ideal die Idee „in individuo, d. i. als einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares oder gar bestimmtes Ding“ zu verstehen sei. 5 Vgl. SW XI, X: „Deduktion der Momente des Seienden“. Ebenso hatte Schellings Sohn im Inhaltsverzeichnis der Philosophie der Offenbarung Schellings Aufweis der Trinitätsverhältnisse bereits mehrfach eine ‚Deduktion‘ genannt (SW XIII, XVI), wiewohl Schelling selbst im

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Klar ist hierbei, dass sie keine Deduktion wie die der reinen Verstandesbegriffe bei Kant ist, nämlich im Sinne einer Rechtfertigung ihres Gegenstandbezuges. Aber es ist gleichfalls keine Deduktion im Sinne einer Ableitung, nämlich der Ableitung von abhängigen sekundären Elementen aus einem diesen zu Grunde liegenden Prinzip (vgl. SW XI, 321). Diesem Verfahren einer Deduktion, das von einem allgemeinen Prinzip ausgehend die Vielheit des Besonderen ableitet, entgegen, erörtert Schelling in der dreizehnten Vorlesung der Darstellung der reinrationalen Philosophie ausführlich, dass die Entdeckung der Urmomente des Seienden eher einem induktiven Verfahren entspreche, welches nicht von einem Prinzip ausgehe, sondern „zu seinem Ziel das Prinzip hat“ (ebd.). Einem induktiven Verfahren allerdings, das nicht von der Vielheit der sinnlichen Erfahrung ausgeht, sondern die Selbsterfahrung des Denkens in Anspruch nimmt. 6 Diese Selbsterfahrung reinen Denkens kann nicht anders als in der Frage nach dem ersten Denkbaren in Bezug auf alles Seiende dazu zu kommen, dass dies das urständliche, reine Subjekt sein müsse, das zweite, diesem im Denken nachfolgende, das Objekt usw. Es ist also eine notwendige Erfahrung des reinen Denkens, durch welche die ersten Elemente des Denkens und des Seins aufgewiesen, ausgewiesen und dargestellt werden. Eine notwendige Erfahrung allerdings, deren Evidenz jede andere Wahrheit übertreffen soll, da sie eine Denknotwendigkeit aufweist, nach welcher eben diese Prinzipien „gar nicht nicht gedacht werden können“ (SW XI, 304). Man kann diese Momente des Seienden daher auch als die notwendigen Grundzüge allen Denkens auffassen, die in dieser Folge vollzogen werden müssen, damit gegenständliches Denken überhaupt möglich ist – und die umgekehrt in allem gegenständlichen Denken, und damit auch in allen Gegenständen, auf das solches Denken sich bezieht, enthalten sein müssen. 7 Dass diese Elemente zugleich solche des Denkens und des Seins sind, liegt darin begründet, dass dieser Urbereich des reinen Denkens ein solcher der archetypischen, intuitiven Vernunft ist, in welcher deren Gegenstände zugleich die Urprägungen des Seins bedeuten, da hier, wie Schelling schreibt, „die Gesetze des Denkens Gesetze des Seins sind“ (SW XI, 303). 8 Diese Grundelemente, welche das Denken in der Frage nach dem Seienden ausweist, benennt Schelling als die „Potenzen des Seienden“ (SW XI, 292).

Text diesem Begriff nur in abwehrender Hinsicht gebraucht, um darzulegen, inwiefern sein eigenes Konzept sich von der ‚Mode‘ „philosophischer Deduktionen“ der Dreieinheitslehre unterscheide (vgl. SW XIII, 314). 6 Hierzu auch Müller-Bergen 2006, 283 f. 7 Diese treffende Beschreibung entnehme ich dem o. g. Manuskript von Buchheim/Hermanni. 8 Für Gabriel 2006, 135 bewegt sich daher die Potenzenlehre der Darstellung der reinrationalen Philosophie „in einem Gebiet […], wo Denken und Sein eine Einheit bilden“.

III. Die Aufweisung der Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie 257

Hieraus resultiert, dass die Potenzen selbst – je nach Anwendungsbereich – die Prinzipien (arché) auch für Seiendes in der Vielzahl sein können, dass sie aber dort, wo ihre erste Aufweisung stattfindet, unselbständige Aspekte eines ersten Prinzips sind – des Seienden bzw. Absoluten, das der Inhalt der Vernunft rein für sich ist. „Dieser Inhalt“, erläutert Schelling, „den die Vernunft allein von sich selbst und von nichts anderem hat, ist im Allgemeinen das Seiende und können im Besonderen nur jene Momente sein, deren jedes für sich nur das Seiende sein kann (nämlich wenn die anderen hinzukommen), also nur eine Möglichkeit oder Potenz des Seienden ist“. (SW XI, 304)

Daher bezeichnet Schelling selbst das Verfahren der Aufweisung der Potenzen auch nicht als eine ‚Deduktion‘. Dies lässt sich zuletzt deutlich machen im Vergleich zum Verfahren der Andere[n] Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie, einem Text, den Schelling um 1841/42 verfasst hat und welcher das Verfahren einer Deduktion bereits im Titel führt. Hier handelt es sich um ein Vorgehen, bei welchem nicht die Aufweisung der Potenzen den Anfang der systematischen Erörterungen bildet, sondern bei welchem nach den Voraussetzungen der positiven Philosophie „die Prinzipien […] von Gott aus deduziert“ (Rar, 672) werden, wie Schelling dies in der Nachlassverfügung charakterisiert hatte. Diesen Unterschied macht Schelling deutlich, wenn er in der Anderen Deduktion schreibt: „Dieselben Potenzen, die sich uns in der negativen Philosophie als apriorische darstellten, und uns alles Konkrete vermittelten, kommen hier (in der positiven) wieder, aber nicht als bloße Potenzen, d. h. nicht als solche, die dem Sein vorausgehen, sondern die das Sein, und zwar das als Wesen gesetzte Sein, zu ihrer Voraussetzung, und dadurch zugleich zu ihrer unauflöslichen Einheit haben“. (SW XIV, 353 f.)

III. Die Aufweisung der Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie Die ersten Schritte der Aufweisung der Potenzen in der zwölften Vorlesung der Philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie enthalten bereits signifikante Unterschiede zum entsprechenden Programm der Philosophie der Offenbarung. Nicht nur, dass Schelling nun erneut eine neue Form der Buchstabennotation für die Dreiheit der Potenzen findet, sondern auch, dass er sie aus einer Erwägung über die ursprünglichsten Arten des Seienden gewinnt – und damit abweichend von der Frage der Philosophie der Offenbarung nach dem, was ‚vor dem Sein‘ sei. So setzt er hier bei dem Gedanken an, dass es „das erste dem Sein mögliche sei, […] Subjekt zu sein“ (SW XI, 288), ein Subjekt, das zugleich noch nicht das Seiende sei. Dieses Subjekt zeichnet sich dadurch aus, dass es nichts Gegenständliches, Objektives an sich hat und als letzter Seins-

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grund übrigbleibt, wenn alles Gegenständliche negiert wird. Schelling nennt es daher auch das Urständliche. 9 Es ist „das erste Denkbare“ (SW XI, 289) überhaupt, nur „der Anfang zum Sein, der erste Anziehungspunkt desselben“ (SW X, 303). Als dieses erste Moment des Denkens ist das Subjekt unselbständig. Es ist ein Subjekt, das als erstes Denkmoment gedanklich gleichsam noch isoliert ist von seinem Bezug aufs Objekt. 10 Daher ist der zweite Zug des Denkens der, diesen Bezug des Subjekts auf sein Objekt hinzuzunehmen. Denn das Subjekt bedarf des Objekts, auf das es bezogen ist, als seiner Ergänzung. Diese Unselbständigkeit zeigt sich in etwa darin, dass das Denken je einen Gehalt, sein Gedachtes hat. Dies wiederum hat eine Entsprechung in dem in der Transzendentalphilosophie vorgeführten Aufbau des Selbstbewusstseins, dessen Subjektivitätspol gleichfalls lediglich Sinn hat in seiner Bezogenheit auf einen Objektbereich. Dieses urständliche Subjekt ist die Urform des Außer-sich-Seins im Gegensatz zum Objekt als Urform des Sich-Seins. Als Außer-sich-Sein ist es nicht das Sein selbst, denn es ist ja nach Voraussetzung das bloße Subjekt des Seins. Daher kann Schelling es mit dem bereits bekannten Ausdruck des „reine[n] Können[s]“ (SW XI, 288) belegen und so die Überlegungen zum Ursein als Subjekt mit den begrifflichen Wendungen zusammenführen, nach welchen das erste Moment des Seins (bzw. das, was vor dem Sein ist) als ‚Seinkönnen‘ zu bestimmen sei. 11 Insofern es nicht das Seiende selbst ist, wohl aber als eine notwendige Bedingung desselben ausschließlich auf dieses bezogen, kann Schelling sagen, dass es „eigentlich das Seiende nur sein kann [und daher] eine

9 Vgl. GPP 134: „Wenn ich aber alles Eigenschaftliche und Gegenständliche hinweggedacht habe, so bleibt mir als das schlechterdings nicht Hinwegzudenkende nur übrig das bloße Subjekt des Seins, welchem selbst kein gegenständliches Sein zukommen kann, wohl aber jenes zweifellose Ursein, das Urständliche, das Uneigenschaftliche, das immanente Sein“. 10 Vgl. hierzu ausführlich Buchheim 1992, insbesondere 116–126. 11 Noch deutlicher ist dies in der Darstellung des Naturprozesses, wo Schelling das ‚–A‘ direkt als „das sein Könnende“ (SW X, 306) bezeichnet. Hierbei ist in Hinsicht auf die genealogische und chronologische Einordnung der Entwicklungsstufen von Schellings Potenzenlehre generell anzumerken, dass die hier vorgeführte Aufweisung der Darstellung der reinrationalen Philosophie inhaltlich und in Hinsicht auf ihre Bezeichnungsweise derjenigen der Darstellung des Naturprozesses von 1843/44 gleicht, ja, dass die Darstellung insbesondere in der zwölften und dreizehnten Vorlesung der Darstellung der reinrationalen Philosophie als eine skizzenhafte Kurzfassung der Entwicklung gelten kann, welche Schelling sehr viel geschlossener und ausführlicher auf den ersten Seiten der Darstellung des Naturprozesses (SW X, 303– 314) gegeben hat, welche die „allgemeine Grundlage“ (SW X, 303) desselben enthalten. Daher kann dieser Text als Vorform zur Aufweisung der Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie gelten; entsprechend kann vergleichend auf diesen Text zurückgegriffen werden. Allerdings besteht ein wichtiger, Schellings Tendenz zu ständigen terminologischen Neufassungen geschuldeter begrifflicher Unterschied darin, dass Schelling eben dasselbe, das er in der Darstellung der reinrationalen Philosophie ‚das Seiende‘ nennt, dort zumeist als ‚das Existierende‘ bezeichnet.

III. Die Aufweisung der Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie 259

Potenz des Seienden“ (SW XI, 289) sei. Schelling belegt dieses Subjekt nun mit dem Ausdruck ‚–A‘ und sein Gegenstück, das Objekt, mit ‚+A‘. 12 Von diesen beiden in sich unvollständigen und instabilen, als an-sich bestehend gar nicht zu denkenden Momenten des objektlosen Subjekts und des subjektlosen Objekts geht Schelling zu einem dritten Moment über, das er mittels des Kürzels ‚�A‘ als ‚Subjekt-Objekt‘ bezeichnet, als „einen Moment oder eine Potenz des Seienden“ (SW XI, 290), so dass zuletzt „Subjekt, Objekt, SubjektObjekt […] die Urstoffe des Seienden“ (SW XI, 319) bilden. Dieses Dritte ist „das Bei-sich-Seiende“ (SW XI, 290), welches das Außer-sich und das In-sich der ersten beiden Potenzen einschließt. Wesentlich ist nun der ontologische Status und das Verhältnis dieser drei Momente des Seienden zueinander. Sie sind alle drei gleichermaßen Momente, d. h. Aspekte des Seienden, „das Seiende nur in einem Sinne“ (SW XI, 289), nicht selbst das Seiende; es ist also auch nicht das Subjekt-Objekt ein Seiendes (oder gar das Seiende), dessen Teile oder Komposita Subjekt und Objekt wären. Sie sind im Gegenteil überhaupt nicht als Teile eines Ganzen aufzufassen. Sondern Schelling konzipiert das Verhältnis der drei Potenzen als wechselseitig komplementäres (nicht: kontradiktorisches) Ausschließungsverhältnis, innerhalb dessen sie sich gegenseitig „vermitteln“ (SW XI, 292). Dass sie sich vermitteln, bedeutet, dass sie Sinn und Funktion je nur in Hinsicht auf die je beiden anderen haben. In ihrer wechselseitigen Vermittlung erzeugen sie allerdings ein tripolares Verhältnis, welches dann zugleich den Vernunftraum aufspannt und als das Seiende (oder Gott) zu verstehen ist. 13 Dieses Seiende, dessen Momente die drei Potenzen darstellen, interpretiert Schelling entlang des „kantischen Begriffs eines Inbegriffs aller Möglichkeiten [als] das Absolute […], außer dem nichts möglich ist“ (SW XI, 291). Es sind die drei Potenzen zusammen, nicht eine von ihnen und auch keine vierte zu ihnen. Das bedeutet nun wiederum in Hinsicht auf die Funktion der Potenzen, dass die Potenzen als Momente und Möglichkeiten dieses Absoluten in den Möglichkeiten ihrer wechselseitigen Bezüge alle diese Möglichkeiten (d. h., das All 12 Franz 1992, 221 rekonstruiert den Ausdruck des ‚–A‘ in diesem Zusammenhang so, dass ausgehend von ‚A‘ als Bezeichnung des Seienden ‚–A‘ „A, insofern es nicht Objekt ist“ bezeichne; entsprechend bezeichne ‚+A‘ „das Seiende als Objekt, ohne die Dimension des Subjektiven“. Dies ist insofern richtig, als Schelling quasi im Gedankenexperiment das +A als eine Stufe „in welchem nichts vom Subjekt ist (+A)“ (SW XI, 289) bezeichnet, allerdings nur um sogleich hinzuzufügen, dass gedanklich zu dieser Stufe ohne das Subjekt als dem gedanklich ersten Schritt gar nicht aufgestiegen werden könne. +A als subjektloses Objekt ist also eine gedanklich in sich instabile Abstraktion. 13 Schrödter 1986, 573 f., auf dessen treffende Beschreibung hier zurückgegriffen wird, kennzeichnet die Beziehung der drei Potenzen als ein „aufgespanntes Verhältnis“ mit dem „entscheidende[n] strukturelle[n] Kennzeichen [der] Dreipoligkeit“ und den Haupteigenschaften wechselseitiger Bestimmung, des gegenseitigen In-sich-Ruhens und der möglichen Spannung unter ihnen.

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der Möglichkeiten) in sich begreifen. Gleichwohl ist klar, dass dieses Absolute, außer dem nichts möglich ist, weil es alle Möglichkeiten in sich beschließt, noch selbst nichts Wirkliches ist – es ist lediglich allgemeine Idee des Absoluten. Dennoch fordert – und hier geht Schelling über Kants transzendentales Ideal hinaus – diese Idee „Etwas oder Eines, von dem es zu sagen, das ihm Ursache des Seins […] und in diesem Sinne es ist, und das nur wirklich, nur das Gegenteil alles Allgemeinen, also ein Einzelwesen“ (SW XI, 292) sei. Das heißt, dass in der Idee des Absoluten zugleich die Idee von etwas enthalten ist, das dieses realisiert, Gott selbst als Individuum nämlich. Doch damit noch nicht genug. Denn die Dynamik der Momente des Absoluten fordert nicht nur deren gegenständliche Individuierung, sondern durch ihren dem AußerSich des Seinkönnenden bereits eingeschriebenen transitiven Grundbezug auch eine Wirklichkeit außer dem Absoluten – eine Wirklichkeit, deren Möglichkeit zugleich die Möglichkeit beinhaltet, dass dieses Seiende oder Absolute Gott sein kann; Gott als derjenige, der nicht nur als all-absolutes Einzelwesen existiert, sondern dem zudem die Möglichkeit innerwohnt, Schöpfer zu sein, d. h. sich auf etwas außer sich, nämlich die Welt, zu beziehen. Die bloße Semantik des Denkens der Möglichkeit eines allerrealsten Wesens fordert dieses Wesen als ein konkretes und dieses konkretes Wesen wiederum etwas, in dem zumindest die Möglichkeit angelegt ist, dass es über sich selbst hinaus geht. Umgekehrt gilt auch, dass das Absolute als der Inbegriff aller Möglichkeiten diese so in sich beschließt, dass nichts sein kann, das nicht in diesen Möglichkeiten bereits enthalten gewesen wäre. 14 Damit ist in der Konzeption der Potenzen als Momente des Absoluten auch der logische Raum der Ideenwelt als der Inbegriff alles dessen, was möglich ist, enthalten und die Potenzen sind als die möglichen Mächte einer möglichen Schöpfung bestimmt. 15 Diese ontologische Stellung erreichen sie dadurch, dass Schelling sie in Hinsicht auf das aus der Idee entlassene, als konkretes Einzelwesen gedachte Seiende, als „Materie des göttlichen Existierens“ (SW XI, 387) konzipiert, als welche sie, dem göttlichen Sein so teilhaft, selbst zu Möglichkeiten des Außergöttlichen werden. Daher stellen in der Entfaltung der Ordnung der Wirklichkeit „die Potenzen in sich die höchsten und allgemeinsten Arten […] des Seins dar, sind aber darum selbst keine Arten“ (SW XI, 336).

14 Vgl. SW X, 306: „Das Existierende ist vorerst nur Vernunft-Idee. Dennoch liegt in der Idee der Stoff und die Möglichkeit zu allem außer ihr Seienden, es kann nichts existieren, dessen Wurzel nicht im Existierenden wäre“. 15 Vgl. Gabriel 2006, 116, wonach Schellings Potenzenlehre explizit an Platons „Idee des holistischen Bestimmungsganzen des Ideenkosmos“ anknüpft.

IV. Zur Frage der prädikatslogischen Interpretation

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IV. Zur Frage der prädikatslogischen Interpretation Eine zentrale Interpretationsfrage zum leitenden Gedanken bei der Aufweisung der Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie ist der, ob Schelling die Urmomente des Subjekts und Objekts, als welche er dort die beiden ersten Potenzen fasst, im Sinne der Transzendentalphilosophie als die Grundkonstituenten des Geistes versteht, der sich im Subjekt-Objekt der dritten Potenz vollendet, oder ob Schelling hier im Zusammenhang mit dem Kantischen Ansatz des Ideals der reinen Vernunft an Subjekt und Objekt als grammatische Kategorien denkt, wonach mit diesen die Urpartikel des Urteils und der Prädikation genannt wären, und sich Schellings Theorie im Ansatz als eine Urteilstheorie verstehen lassen müsste. Eine dritte Variante wäre schließlich die, dass die Potenzentheorie in der Darstellung der reinrationalen Philosophie unmittelbar weder das eine noch das andere meint, sondern als eine Rahmentheorie aufzufassen ist, welche tranzendentalphilosophische und prädikationstheoretische Aspekte in sich aufnehmen kann. Gegen eine direkte transzendentalphilosophische Auffassung, dass die Potenzentheorie der Darstellung der reinrationalen Philosophie mit ihren Zuordnungen der drei Potenzen zu Subjekt, Objekt und Subjekt-Objekt unmittelbar als eine Theorie des Bewusstseins des absoluten Geistes zu verstehen ist, spricht allerdings die Tatsache, dass Schelling dort entgegen der transzendentalphilosophischen Konzeption das Subjekt-Objekt ausdrücklich nicht als Gott oder das Seiende bezeichnet (vgl. SW XI, 317) und zudem entgegen der Darstellung der Philosophie der Offenbarung Gott auch nicht als ‚absoluter Geist‘ bezeichnet wird. Sondern die Entwicklung orientiert sich am Leitfaden Gottes als des Ideals der reinen Vernunft und der Frage nach der Möglichkeit seiner Existenz. 16 Für den prädikationstheoretischen Ansatz spricht zunächst, dass Schelling den Gegensatz der beiden sich komplementär ergänzenden Elemente des Subjekts und des Objekts auch mit den aussagelogischen Bestandteilen des Urteils, Subjekt und Prädikat, vergleicht. So heißt es: Das Objekt sei so wenig selbstständig gegenüber dem Subjekt, „so wenig ein Prädikat sein kann ohne Subjekt, von dem es getragen wird“ (SW XI, 289). Diese Erwägung kann daraus verständlich werden, dass Schelling die Aufweisung der Potenzen im Kontext der Erörterung der Möglichkeit eines Wesens mit vollständiger Prädikation leistet. Allerdings ist dies die einzige Stelle, an welcher Schelling innerhalb der direkten Aufweisung der Potenzen diesen Gedanken (zudem in Parenthese) ausspricht

16 Vgl. hierzu auch Gabriel 2006, 120, der hervorhebt, dass Schellings Subjektbegriff in der Darstellung der reinrationalen Philosophie „jeglichen subjektiven Idealismus vermeidet.“ Und weiter: „es geht nicht darum, die Welt als Konstruktion aus dem Begriff der Vorstellung abzuleiten, sondern die Struktur der Vorstellung aus dem Begriff des Ganzen des Seienden zu erschließen“.

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Kap. 10: Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie

und es ist an dieser Stelle zudem ein bloßer Vergleich. 17 Daher zeigt dies zwar, dass Schelling hier mit dem Gedanken spielt, die Erwägungen zu Subjekt und Objekt als den ersten beiden Potenzen auch auf grammatische Subjekte und Objekte auszuweiten; dies begründet andererseits jedoch keine These, Schelling selbst habe seine Potenzenlehre in seinem spätesten Werk wie Kants Kategoriendeduktion als eine Lehre von den Ermöglichungsbedingungen der Prädikation (des Urteils) konzipiert. Im Gegenteil bleiben Schellings Erwägungen direkt auf die Ermöglichungsbedingungen des Denkens und seiner Gegenstände bezogen. Es geht ihm darum, letzte „Momente des Seienden“ (SW XI, 289) aufzuweisen und nicht darum, die Formen des Urteils zu begründen. Dies bestätigt sich auch an einer zweiten Stelle, an welcher Schelling den Gedanken, Subjekt und Objekt im Prädikationssinne zu verstehen, aufgreift. Hier diskutiert Schelling das Verhältnis von Potenz/Akt zu Subjekt und Prädikat in der Auseinandersetzungen mit Aristoteles’ Satz, von den Substanzen sei keine Täuschung möglich. Schelling bejaht dies, indem er ausführt: „das Sein [der Substanzen] ist ihnen also nicht Prädikat, denn wo Subjekt und Prädikat, ist auch Potenz und Aktus, das erste verhält sich zum letzteren als seine Potenz.“ (SW XI, 351). Schelling erläutert dies am Beispiel kontingenter Tatsachen: der Mensch könne gesund oder krank sein, habe also die Potenz im Sinne von Möglichkeit zu beidem. Hierdurch wird aber klar, dass Schelling 1) hier den Potenz-Prädikats-Vergleich bloß in einem illustrierenden Sinne vorbringt, und dass 2) dieses Beispiel überhaupt nicht die grammatische Funktion der Prädikation trifft, insofern es sich hier um die Verwirklichung kontingenter Eigenschaften von Gegenständen und nicht um die notwendige Objektbeziehung im Urteil handelt. In einer Fußnotenanmerkung zu diesen Erwägungen stellt Schelling schließlich die Frage, inwiefern die Asymmetrie von Subjekt und Prädikat, insofern über letzteres Täuschung möglich sei, über die Substanz jedoch nicht, sich auf 17 Dies ist bemerkenswert, da von dieser Stelle aus eine Interpretation der Potenzenlehre als Prädikationstheorie in der Schellingforschung sich etabliert hat (vgl. z. B. schon Schrödter 1986, 564, für den Schellings Entwicklung der Potenzenlehre „als Subjekt-Objekt-Semantik formulier[t ist], die er als der sprachlich-logischen Subjekt-Prädikat-Relation strukturgleich ansetzt“). Das Initialwerk dieser Interpretation ist W. Hogrebes Prädikation und Genesis (1989, 71–78), bei welcher dieser auf der Textgrundlage der 12. Vorlesung der Darstellung der reinrationalen Philosophie Schellings Theorie als eine „Theorie prädikativer Elementarteilchen“ (71) rekonstruiert, bei welcher erste und zweite Potenz als prädikatloses Subjekt (= pronominales Sein) und subjektloses Prädikat (= prädikatives Sein) verstanden werden und die integrierende dritte Potenz entsprechend als ‚propositionales Sein‘, in welchem sich Subjekt und Prädikat im Urteil verbinden, wodurch sich als die „drei Potenzen pronominales, prädikatives und propositionales Sein“ (73) ergeben. So sehr dies in sich eine interessante Theorie in Weiterführung Schellingscher Gedanken sein mag, muss doch an dieser Stelle klar gestellt werden, dass dies als Schelling-Exegese und Ausdeutung der entsprechenden Passagen der zwölften Vorlesung der Darstellung der reinrationalen Philosophie mangels Belegstellen nicht in Frage kommen kann.

IV. Zur Frage der prädikatslogischen Interpretation

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die Potenzen übertragen lasse, und diese sich so als „1. das Ursubjekt (–A), 2. das Urprädikat (+A), 3. die Ursynthesis von Subjekt und Prädikat (±A)“ (SW XI, 352 Anm.) verstehen lassen. Durch die Transformierbarkeit der Potenzen müsse dann gegeben sein, dass auch „das Urprädikat (+A) als Subjekt gesetzt werde[n]“ (ebd.) könne. 18 Schelling hält dies für eine schwierige Erwägung, der allerdings im Resultat zugestimmt werden müsse, wenn Potenzen als Subjekte und Prädikate verstanden werden wollten. Wenngleich diese Erwägungen den stärksten Beleg für eine prädikationstheoretische Deutung der Potenzenlehre ergeben, ist doch auf zweierlei hinzuweisen: 1) handelt es sich bei allen drei angeführten Stellen um Nebenerwägungen Schellings im Sinne von Vergleichen oder dem kurzen Problemanriss in einer Fußnote, welche zwar zeigen, dass Schelling den Gedanken erwogen hat, die Potenzen müssten sich auch urteilstheoretisch verstehen lassen, 19 aber nicht die Position begründen, diese Perspektive sei der eigentliche Problemhorizont, aus dem heraus Schelling in der Darstellung der reinrationalen Philosophie die Potenzentheorie entwickle. Hierzu sind drei kurze Nebenerwägungen innerhalb eines extendierten Haupttextes, der ausführlich die Potenzentheorie entwickelt und bespricht, nicht geeignet. 2) bleibt auch der doktrinäre Gehalt dieser Erwägungen unklar. Denn Schelling motiviert die Möglichkeit, dass Prädikate als Potenzen je Subjekte sein müssten, von da her, dass sie in Bezug auf das Seiende (Gott), d. h. „was sie Ist (in A0) zum Sein, aber damit auch zu bloßen Attributen werden“ (SW XI, 352, Anm.). Dies ist aber eine Perspektive, die den aussagelogischen Rahmen schon wieder verlassen hat, insofern damit nichts anderes gesagt ist, als: alles, was Moment des Seienden ist, hat in Bezug auf dieses lediglich Subjekt- (= Potenz-) Status, weil alle Wirklichkeit überhaupt nur in Gott als dem Seienden und erstem Prinzip der negativen Philosophie, zu welchem die Potenzen erst aufsteigen, beschlossen ist. Daher scheint es angezeigt, die Potenzentheorie auch in der Darstellung der reinrationalen Philosophie als eine generelle metaphysische Grundtheorie aufzufassen, welche eine Vielfalt von Perspektiven auf den komplexen Seinsaufbau in sich integriert, die nachfolgend nähere Darstellung finden; die Neuzuordnung von Potenzen zu Subjekt, Objekt und Subjekt-Objekt kann dabei als ein neuer Versuch Schellings verstanden werden, diese Grundtheorie aus gleich18 Gabriel 2009, 22 hält auf der Basis dieser Passage eine prädikatstheoretische Deutung der Potenzenlehre für naheliegend und sieht in dieser den „Schlüssel für Schellings Spätphilosophie“ (23). 19 Solche Erwägungen hat Schelling im Übrigen auch früher schon vorgebracht, auch dort je in der Form ganz kurzer Gedankeneinschübe, ohne durch diese eine eigentliche Theorie zu begründen. Vgl. hierzu den bereits besprochenen Objekt/Prädikat-Vergleich in der Darstellung meines Systems (AA I,10, 118/SW IV, 117) oder die Erwägung in der Philosophie der Offenbarung, die erste Potenz des Seinkönnens in ihrem transitiven Bezug auf die zweite Potenz finde sich auch im Gedanken der Prädikation ‚S ist P‘, wenn man wie dies in den arabischen Sprachen deutlich würde, sehe, dass damit gemeint sei ‚S kann P‘ (SW XIII, 229).

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Kap. 10: Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie

falls ursprünglichen Begriffen, die noch keinen weiteren Theoriekontext als ihre Ursprünglichkeit mit sich führen, zu entwickeln. Diese Ursprünglichkeit drückt sich darin aus, dass der Ausdruck des ‚Subjekts‘ „in seiner strengsten Eigentlichkeit“ (SW XI, 319) gebraucht, das bezeichnet, das „an erster Stelle, das eigentliche sub-jectum“ (ebd.), das eigentliche Zugrundeliegende oder hypokeimenon ist.

V. Die Perspektive auf die Wirklichkeit In der 17. Vorlesung untersucht Schelling schließlich die Möglichkeit des Übergangs des Seienden in die Wirklichkeit und wiederholt hierbei zunächst den aus der Philosophie der Offenbarung bekannten Gedanken, dass alles Wirklichwerden im Letzten nur als Willenserhebung zu verstehen sei – als eine Erhebung aus einem als Potenz verstandenen ruhenden Wollen zu einem entzündeten Willen als Aktus; hierbei wiederholt er ausdrücklich auch die Sätze aus der Freiheitsschrift, in denen es heißt: „das Ursein ist Wollen, Wollen nicht bloß der Anfang, sondern auch der Inhalt des ersten entstehenden Seins“ (SW XI, 388, vgl. AA I,17, 123/SW VII, 350). Im Gegensatz zur positiven Philosophie geht es Schelling hier nicht um eine Darlegung der wirklichen Schöpfung (aus der Freiheit Gottes heraus), sondern nur um deren im Wesen Gottes angelegte Möglichkeit. Denn „reine Vernunftwissenschaft [kann zwar] die Frage der Wirklichkeit, aber nimmer der Möglichkeit einer außergöttlichen Welt von sich abweisen“ (SW XI, 413 f.). Diese mögliche außergöttliche Welt konzipiert Schelling in zwei Stufen als die „ideal-außergöttliche Welt“ (SW XI, 414) der Ideen, die der Platonischen Ideenwelt angeglichen ist, und die „real-außergöttliche[.]“ (ebd.) Welt, die zudem den physischen Kosmos beinhaltet. Um diese Möglichkeit eines Außergöttlichen zu erläutern, greift Schelling auf die bereits in der Philosophie der Offenbarung dargelegten Hauptbausteine der Schöpfungstheorie zurück, die darin bestehen, dass mit der Erhebung des Wollens (der ersten Potenz), d. h. des ins Sein Tretens des Seinkönnenden, ein Verlust seiner Selbstmacht einhergeht, und es daher auch als das Grenzenlose (ἄπειρον) gefasst werden kann, das schließlich aller Wirklichkeit als „Grund und Anfang […] allen Werdens, und […] erste Ursache alles Entstehenden“ (SW XI, 388) zugrunde liegt. Es ist hiermit auch das Stoffprinzip gegeben, das Schelling ja entsprechend dem platonischen Timaios über sein ganzes Werk hinweg als ein Prinzip des Regellosen, Chaotischen angesehen hat. 20 Damit ist 20 Verweise auf den Timaios finden sich mehrfach in der 17. Vorlesung; im Haupttext bespricht er die Figur, nach welcher das Unbegrenzte bei Platon „die Materie und Unterlage […] der sinnlich wahrnehmbaren Dinge“ sei, in SW XI, 392 ausführlich unter den Interpretationsfragen, ob dies im Platonischen Sinn Materie genannt werden könne und ob es nicht ebenso als Grundlage für die Ideen gelte.

V. Die Perspektive auf die Wirklichkeit

265

mit der Erhebung der ersten Potenz in Hinsicht auf die Wirklichkeit des Kosmos der „Moment des Materie Werdens“ (SW XI, 398) sichtbar geworden. Zugleich zitiert Schelling mit diesem letzten Gedanken erneut eine der Grundprämissen des internen Dualismus, nämlich, „dass allem Sein ein an sich schrankenloses, der Form und Regel widerstrebendes zu Grunde lieg[e]“ (SW XI, 388). Explizit verweist Schelling hierbei auf diese Grundkonstellation der Freiheitsschrift, indem er das Verhältnis von erster und zweiter Potenz in Hinsicht auf die Wirklichkeit als die Eigenschaft der ersten Potenz fasst, „Grund von Existenz zu sein, ohne selbst zu existieren, oder was sein Existieren bloß darin hat, dass es einem anderen zum Existieren, also zum Werden dient“ (SW XI, 398). Darin sieht Schelling die Verwirklichung der bloß denknotwendigen Grundstellung des Subjekt-Seins der ersten Potenz in Hinsicht auf das Werden der geistigen und schließlich auch physischen Materie, insofern das dort Zugrundeliegende im Sinne des Subjekts nun als das Zugrundeliegende im Sinne des Grundes des internen Dualismus gefasst werden kann. Durch die gedankliche Zusammenführung mit der Konstellation des internen Dualismus werden die beiden ersten Potenzen je in ihren Bestimmungen als an-sich und außer-sich allerdings zwiespältig. Die erste Potenz ist in-sich, insofern sie das Prinzip der Egoität und des Grundes beinhaltet. Andererseits ist eben sie die transitive Potenz: Als Subjekt ist sie wesenhaft auf das Objekt, als Seinkönnen ist sie wesenshaft auf das Sein bezogen. Sie ist ein Prinzip der Egoität, das ständig mittels dieser Selbstbezogenheit aus sich herausdrängt. Die zweite Potenz hingegen ist dem Sein unbedürftig, denn sie ist es ja selbst. In diesem Sinne ist sie ganz in sich. Andererseits verkörpert sie das Prinzip der Selbstlosigkeit oder Alterität und ist eben in diesem Sinne wesentlich auf anderes bezogen. Das heißt, dass der beschriebene Wechsel der Bewegungsrichtungen der ersten beiden Prinzipien, welcher in den Erlanger Vorlesungen stattfand, und nach welchem aus dem zusammenziehenden Prinzip des Grundes und dem expansiven des Existierenden das transitive Moment des Seinkönnenden und das limitierende des rein Seienden wurde, von Schelling nun innerhalb der Potenzentheorie der Spätphilosophie zusammengeführt wird. Und dass durch Zusammenführung der Grundmodelle von 1809/10 und 1827 den ersten beiden Potenzen zuletzt ein zwiespältiges Wesen zukommt, das je kontraktive und repulsive Momente beinhaltet. Von diesen Grundbestimmungen der ersten beiden Potenzen aus beschreibt Schelling nun die Dynamik, welche von der Selbsterhebung der ersten Potenz ausgeht und die in der aus der Theorie des internen Dualismus bekannten Weise zu einer Inversion der Stellung der Potenzen führt – und er greift hierbei zur Erläuterung dieser Dynamik auf weitere Elemente zurück, die früheren Entwicklungsstufen der Potenzentheorie zugehören:

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Kap. 10: Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie

Denn die jetzt selbst- und machtlose Potenz – sie war auch in der Idee nicht für sich, sondern das Unterworfene (subjectum) und Untergeordnete einer höheren, des rein seienden (+A), und es war dieses ihr selbst die Stufe, also der Weg zum Prinzip, d. h. zum Sein, wie sie umgekehrt diesem Grund der Möglichkeit war. (SW XI, 389)

Schelling bezeichnet demnach hier wieder nicht nur die zweite Potenz als ‚rein Seiendes‘, sondern er erläutert auch in der Perspektive des internen Dualismus das Wechselverhältnis zwischen den beiden als eines, bei welchem die zweite Potenz die ratio cognoscendi der ersten, diese jedoch die ratio essendi der zweiten sei. In Hinsicht darauf, wie Schelling immer wieder auf etablierte Theoriemodelle früherer Fassungen und Entwicklungsstufen einer eigenen Philosophie zurückgreift, ist es bemerkenswert zu sehen, wie Schelling in diesem kurzen Rückblick auf den Status der ersten Potenz ‚in der Idee‘, also vor der Selbsterhebung, das Konzept einer Stufen- und Steigerungsreihe der Potenzen zitiert, bei welcher die zweite Potenz die ‚höhere‘ gegenüber der ersten sein soll, wiewohl dies nicht der sonstigen Erläuterung der Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie entspricht, bei welcher diese als ursprüngliche Denknotwendigkeiten in einer geordneten Folge von der ersten zur zweiten stehen, ohne dass hierbei von einer Steigerung die Rede war. Den folgenden Fortgang der dynamischen Entwicklung der Potenzen in ihrer Funktion als hypothetische, auf die Wirklichkeit bezogene Ursachen beschreibt Schelling dergestalt, dass die erste Potenz in ihrer Erhebung ins Sein das rein Seiende gleichsam bedrängt, wodurch dieses in seinem reinen selbstlosen auf anderes Bezogensein gehemmt und „in sich selbst zurückgetrieben“ (SW XI, 389) wird. Die Folge ist eine Inversion der Grundbestimmungen des rein Seienden. Denn durch ihr auf sich zurückgetrieben Werden verliert die zweite Potenz ihre Selbstlosigkeit: „das rein Seiende bekommt eine Negation, d. h., eine Potenz, ein Selbst in sich, das zuvor selbstlose wird sich selbst gegeben, ex acto puro, das es war, in potentiam gesetzt, so dass jetzt beide Elemente gleichsam die Rollen getauscht haben“ (SW XI, 389). Damit ist an dieser Stelle erneut der für die Spätphilosophie zentrale PotenzBegriff angesprochen, nach welchem mit ‚Potenz‘ die Realmöglichkeit in Hinsicht auf ihre Verwirklichung (Aktus) gemeint ist. Hierbei ist die gewollte Mehrdeutigkeit zu beachten, nach welcher ‚Potenz‘ in der Darstellung der reinrationalen Philosophie als Möglichkeit zu verstehen ist – eine Bestimmung, die Schelling in extenso wiederholt. 21 Sie sind erste Denkmöglichkeiten und sie sind die Möglichkeiten des Wirklichen in dem Sinne, dass ihre Konfigurationen den logischen Raum (die Ideenwelt) aufspannen, in welchem alle möglichen Welten enthalten sind. Sie sind aber (drittens) auch die Realisierungsbedingungen, d. h. Realmöglichkeiten, insofern aus ihnen selbst jene Wirklichkeiten erst ent-

21

Vgl. z. B. SW XI 304, 366, 375.

V. Die Perspektive auf die Wirklichkeit

267

stehen; in diesem letzten Sinn fasst Schelling sie stets innerhalb der Potenz/ Aktus-Dichotomie. 22 Es ist dieser entscheidende Schachzug, mit dem Schelling aus der statischen Denknotwendigkeit von Subjekt, Objekt und Subjekt-Objekt als einer Folge der ersten Voraussetzungen allen Denkens und Seins, als ein Koordinatensystem, innerhalb dessen alles Denken und Sein seinen Ort finden muss, übergeht zu einer dynamischen, prozessualen Perspektive, in welcher die Generierung von Natur- und Geschichtsprozessen, von menschlichem wie göttlichem Handeln gleichermaßen erklärbar bzw. deutbar wird. Dabei ist der Grundgedanke nachvollziehbar, insofern er an bereits gegebene Bestimmungen der ersten beiden Potenzen anknüpft. So war die erste Potenz schon in den Darstellungen der Philosophie der Offenbarung je nach Erhebungszustand als bloßer Wille nur Potenz, als bereits entzündetes Wollen, actus purus gewesen – die zweite Potenz, das rein Seiende hingegen nur actus purus, dem alle Potentialität mangelte. In Folge der Ermächtigung der ersten Potenz nun stehen in der Beziehung der beiden Aktus gegen Aktus, wodurch eben jene Spannung beschrieben wird, welche zuletzt die Schöpfung ermöglicht. Zugleich verliert die zweite Potenz durch die Erhebung der ersten ihre Basis (ihr Subjekt); insofern sich hierdurch nun eine Zurückdrängung von momentan Gleichartigem vollzieht, wird die zweite Potenz zur Unterlegenen der ersten. Damit ist die Inversion vollzogen. Die zweite Potenz wird zum Subjekt für die erste und dabei selbst aus dem Akt in die Potenz geführt. Dieser Verdrängungszustand ist jedoch seinerseits nicht stabil, da das rein Seiende nun eine Position einnimmt, die seiner eigentlichen Natur entgegen ist. Daher beschreibt Schelling in einem zweiten Schritt, dass dieses gleichsam in einer zurücklaufenden Pendelbewegung sein ursprüngliches Sein wiederherzustellen trachtet, indem es die wirkend gewordene erste Potenz zu sich zurückführt. Durch diese Zurückführung jedoch kommt die erste Potenz nicht einfach in ihren ursprünglichen Zustand zurück. Sondern es ist eine dialektische Bewegung, in welcher die wiedergebrachte erste Potenz eine doppelte Vermittlung mit der zweiten Potenz in sich führt: als erhobene und als überwundene. Als solche ist sie aber „nicht mehr bloß das an sich, sondern […] das für sich seiende, das sich selbst Besitzende“ (SW XI, 390) – kurz: die dritte Potenz. Danach hat in dieser Hauptbewegung des Ausgangs und Rückgangs auf sich jede Potenz eine genau bestimmte Funktion: Die erste eben diejenige, aus der Potenz in den Aktus übergehen zu können: „das erste im Entstehen ist Übergang von Potenz zum Aktus, das erste Vorauszusetzende also reine Potenz“ (SW XI, 409). Demnach ist die Funktion der zweiten Potenz „nur dieses […], 22 Buchheim 1992, 36 nennt die drei Verwendungsweisen des Möglichkeitsbegriffs im Zusammenhang mit der Potenzenlehre: die logische, „weltenfingierende“, die materielle, „in die Welt einführende“ und die reelle, „in und mit der Welt erst aufgetane“.

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Kap. 10: Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie

das erste [Prinzip] wieder in die Potenz zurückzubringen“ (SW XI, 410). Die Funktion der dritten Potenz ist schließlich die, dem Prozess der wechselwirkenden ersten beiden Potenzen ein Maß zu geben, so dass aus deren je wechselseitiger Begrenzung „so viel entstehe, als möglich, also alles Mögliche“ (SW XI, 410). Diese drei Potenzen versteht Schelling in Hinsicht auf die mögliche Welt wieder als drei Ursachen, mit der dritten Potenz als Endursache. So wird der die Untersuchung vom Übergang der Explikation der Potenzen als den reinen ursprünglichen Denkmöglichkeiten (Ideen) zu Möglichkeiten der wirklichen geistigen und physischen Welt als Leitgedanke formulierte Satz, dass „die Prinzipien in Wirklichkeit überführt, […] erst eigentlich zu Ursachen“ (SW XI, 389) werden, eingeholt in einer Theorie, in welcher in „den verschiedenen möglichen Stellungen der Ursachen gegeneinander, eine unerschöpfliche Möglichkeit von Gestaltungen des reinen Seienden“ (SW XI, 390 f.), also im Geist Gottes die unendliche Mannigfaltigkeit möglicher Welten beschlossen ist. Als Ursachen verstanden versucht Schelling diese sowohl den Platonischen Ursachen als auch wie schon zuvor der Vier-Ursachen-Lehre des Aristoteles zuzuordnen. In Hinsicht auf Platon ist der Versuch, „unsere beiden ersten Ursachen in den Platonischen zu finden“ (SW XI, 394) gar doppelt. So ist es einerseits der zwiespältige Charakter der ersten Potenz, als Seinkönnendes entweder im bloßen Können das Sein nicht zu haben (A) oder aber ins Sein übergegangen (B) das Können verloren zu haben, das Schelling mit dem platonischpythagoräischen Prinzip der unbestimmten Zweiheit (Dyas) vergleicht, während das rein Seiende als „sich selbst Gleiche[s] […] ganz ähnlich dem [sieht], was […] als Monas“ (SW XI, 396) verstanden wurde. Daher kann Schelling argumentieren, dass mit seiner Potenzenlehre auch eingelöst sei, zu zeigen, wie aus der Verbindung eines Prinzips des Unbestimmt-Unendlichen und der Einheit zuletzt „alles Mögliche“ (ebd.), d. h. konkrete Vielheit entspringt. Zweitens sollen die Potenzen nicht nur dem Kontrast von dyas und monas, sondern auch dem von peras und apeiron (Grenze und Unbegrenztem) entsprechen. In der Hinsicht auf die transitive Funktion der ersten Potenz, sich unendlich und gleichsam ungebremst ins Sein erheben zu können, ist hierbei das Moment des Unbegrenzten zu finden, während das rein Seiende der zweiten Potenz als das dieses „Begrenzende, Grenze Setzende“ (SW XI, 393) verstanden werden kann. Schelling findet hierin die Ursachen der Sichtbarkeit und Erkennbarkeit gegeben, insofern erst mit der Grenze das Unbegrenzte in eine der Sinnlichkeit und dem Verstand fassbare Ordnung gebracht wird; ein Defizit an der Platonischen Lehre konstatiert Schelling dahingehend, dass dieser eigentlich keine dritte Ursache kenne, welche die Art der Vermittlung der ersten beiden erkläre. So sei hierin Aristoteles überlegen, weil dieser jenes Dritte als Endursache verstehe. Daher ist Schellings Versuch zu zeigen, dass seine Seinslehre zudem der Ursachenlehre des Aristoteles entspricht, auch von höheren

V. Die Perspektive auf die Wirklichkeit

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Ansprüchen begleitet. Danach soll „kein wesentlicher Unterschied“ (SW XI, 409) zwischen dieser und der eigenen Prinzipienlehre bestehen. Allerdings ergibt sich hier ein einfaches, aber nicht einfach zu behebendes, und von Schelling zuletzt auch nicht befriedigend aufgelöstes Problem: wenn es ein Mangel an Platons Dichotomien von dyas/monas und peras/apeiron war, dass diese die Trias der Potenzen nicht adäquat abbilden konnten, weil es ein Prinzip zu wenig gab, so besteht das Problem in Hinsicht auf Aristoteles schlicht darin, dass dessen Vierheit von Ursachen wiederum ein Prinzip zu viel beinhaltet. Daher wirkt Schellings Versuch, die Potenzenlehre der Vierursachenlehre zuzuordnen, auch gezwungen und ist deutlich dem Motiv geschuldet, seine Ontologie in diesem zentralen Punkt als Fortführung der aristotelischen Metaphysik zu verstehen und an dieser zu bewähren. Schelling versucht das Problem des Prinzipienüberschusses so zu lösen, dass er die vierte Ursache des Aristoteles als Einheit der ersten drei auffasst – als eine Einheit allerdings, die von derjenigen Einheit verschieden sein musste, welche Gott als übergreifende Einheit der drei Potenzen bildete, und von welcher Schelling ja betont hatte, dass sie keinesfalls als eine vierte Potenz zu verstehen sei. Sondern Schelling versucht, Aristoteles’ vierte Ursache als diejenige Einheit zu verstehen, die die drei Potenzen vor ihrem Auseinandergehen gehabt haben mussten. In Anlehnung an Aristoteles bezeichnet sie Schelling als Seele: Die Einheit „ist das, was war und was nach Maßgabe der Wiedervereinigung der Potenzen in das hierdurch Gewordene eintritt und als Seele desselben ist“ (SW XI, 404). 23 Hieran ist nun über die Tatsache hinaus, dass die vierte Ursache auf diese Art überhaupt nicht den Status einer Potenz hat, und nicht auf derselben Entstehungs-Ebene steht, ein Doppeltes merkwürdig und bestärkt den Eindruck der Gezwungenheit der Zuordnung. Erstens entspricht Schellings Bestimmung gar nicht direkt der Aristotelischen Vorstellung der Seele als eines Prinzips des Lebendigen, und zweites ist die Seele bei Aristoteles gar keine seiner vier Ursachen. Allerdings hat Schelling beide Aspekte gesehen und die Schwierigkeiten dadurch aufzulösen versucht, dass er zu zeigen versucht hat, dass allen drei Elementen – seiner Konzeption von Einheit, der Seele und der vierten Ursache bei Aristoteles – ein gemeinsamer Gedanke zugrunde liege. Sie drücke aus, was es für eine Sache heiße, zu sein, bzw. in Schellings Formulierung „was seine Natur sei“ (SW XI, 403), womit Aristoteles’ Bestimmung der ersten Bedeutung von Ursache als Wesensursache zitiert ist. 24 23 Zugleich vergleicht sie Schelling mit Platons Weltseele und knüpft hierbei an seine eigene frühe Naturphilosophie an. Deren Rolle besteht in der Vermittlung zwischen dem teilbaren, […] zertrennbaren Wesen und der absolut sich selbst gleichen Substanz“ (SW XI, 415). 24 „τί ἦν εἶνάι“ – Aristoteles, Metaphysik, I, 3, 983a. Bemerkenswert an Schellings Zuordnung der Potenzen zu Ursachen, welche je bereits in den besprochenen Schriften der Spätphilosophie uneinheitlich war, ist auch der Umstand, dass er sie nicht eindeutig benennt. Zwar ist

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Kap. 10: Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie

Zuletzt klärt Schelling in Hinsicht auf die Potenzen als Urmomente des Denkens und in ihrer Funktion als auf die mögliche konkrete Wirklichkeit bezogenen Ursachen nochmals den Gebrauch seiner Buchstabennotation; ein Gebrauch, der den einzelnen Kürzeln keine funktionale Eigenbedeutung zukommen lassen möchte, sondern der lediglich „Worte ersparende Zeichen“ (SW XI, 336) einführen will: „Ich verlange von diesen Bezeichnungen nichts, als dass sie zur Deutlichkeit, mitunter zur Kürze dienen“ (SW XI, 391). Hierbei erläutert er die auch schon früher gebrauchten Kürzel ‚A‘, ‚B‘, ‚A0‘, 1 ‚A ‘, ‚A2‘, und ‚A3‘ nochmals im Zusammenhang. Zunächst ist dabei zu bemerken, dass die Ausdrucksweise ‚–A‘, ‚+A‘ und ‚�A‘ für die ursprünglichen Denknotwendigkeiten des Subjekts, Objekts, Subjekt-Objekts stehen, während die folgende Buchstabennotation als die bereits aktivierten Potenzen in Hinsicht auf ihre Funktion als Ursachen zu verstehen sind. Dabei muss Schelling unterscheiden zwischen der ersten Potenz im Zustand als bloßer Potenz und im Zustand ihrer Aktivierung; wie früher schon bezeichnet er die beiden Zustände als ‚A‘ und ‚B‘. In Hinsicht auf die anderen Potenzen, d. h. auch in Hinsicht auf das dynamische Moment des Zurückdrängens des rein Seienden, bezeichnet Schelling das Seinkönnende mit ‚A1‘, um damit anzuzeigen, dass es in einer Reihe mit dem rein Seienden (A2) steht; dennoch ist diese Bezeichnungsweise zumindest irritierend, denn B ist so sachlich dasselbe wie A2, nur auf einen anderen Aspekt bezogen – im ersten Fall auf sich selbst im Zustand seiner Aktivierung, im zweiten auf seine ‚Wirkung‘ im rein Seienden. 25 Klar hingegen ist, dass wie schon zuvor ‚A3‘ die Reihe der Potenzen abschließt. Ergänzend hierzu benennt Schelling „das über aller Potenz Seiende“ mit dem Kürzel ‚A0‘, wobei beachtlich ist, dass dies eben keine Bezeichnung einer weiteren Potenz und auch nicht der vierten Ursache, sondern des durch diese Potenzen konstituierten Seienden selbst ist – nicht unähnlich dem Bereich des Identischen, den Schelling in den Jahren der Identitätsphilosophie gelegentlich mit demselben Kürzel bezeichnet hatte.

nun klar, dass mit der vierten Ursache die Aristotelische Wesens- oder Formursache gemeint ist, die bei diesem, worauf Schelling selbst hinweist, allerdings als erste genannt wird, und dass die erste Potenz der materiellen, und die dritte Potenz der Endursache zugeordnet ist; eine ausdrückliche Zuordnung der verbleibenden zweiten Potenz zur von Schelling als Prinzip des Mechanismus wenig geschätzten causa efficiens allerdings unterbleibt. 25 Auch dies zeigt, dass Schelling die Buchstabennotation nicht im Sinne einer festen Bezeichnung (eines Namens) gebraucht, sondern lediglich und variabel auf die Kontexte bezogen zur Erläuterung des je gerade gegeben Erörterungsgegenstandes. ‚A‘ und ‚B‘ bedeutet so schlicht: hier das erste und zweite. Vgl. auch SW X, 325, wo Schelling von einem „Sein, das aus beiden, aus A und B, aus der Wirkung der ersten und zweiten Potenz“ spricht – und so ‚A‘ und ‚B‘ zur Bezeichnung der ersten und zweiten Potenz, und nicht wie sonst lediglich zweier Zustände der ersten Potenz, gebraucht.

VI. Resümee: Die Vielfalt der Anwendungen der Potenzen. Offene Probleme

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VI. Resümee: Die Vielfalt der Anwendungen der Potenzen. Offene Probleme Die Frage, was denn die Potenzen, zumal in Schellings Spätwerk, eigentlich seien – Momente des Geistes, des vernünftigen Denkens, des Urteils, der Wirklichkeit, des Willens? – ist müßig. Sie sind klarerweise nicht das eine oder das andere, sondern universelle Entfaltungsprinzipien allen Denkens und aller Denkgehalte, des Geistes und der realen Welt, des Willens und der durch den Willen erzeugten praktischen Wirklichkeit des geschichtlichen Raumes. Dabei lässt sich innerhalb von Schellings stets auf das Ganze des Denkens und der Wirklichkeit gehendem Theorieaufbau auch in der Spätphilosophie nicht sinnvoll von einer Priorisierung der Potenzen innerhalb eines bestimmten Status sprechen, so als wären die Potenzen in etwa als Momente des absoluten Geistes oder als Urfunktionen der Prädikation fundamentaler als in Hinsicht auf ihre Funktion in der Erzeugung und Gliederung des geschichtlichen Weltlaufs – als seien jene Prinzipien für diese. Klar ist lediglich, dass ihre erste Darstellung als Subjekt, Objekt und Subjekt-Objekt in der Darstellung der reinrationalen Philosophie die formalen Urbegriffe von Potenzen in Schellings letztem Werk sind, von welchen sich sagen lässt, dass sie sich in allen weiteren Entfaltungsstufen wiederfinden lassen sollen. Daher lässt sich auch sagen, dass in den verschiedenen Entfaltungsstadien immer dieselben Potenzen, nur in je anderem Bezug und in je anderer Perspektive, enthalten sind. Dies gilt auch deshalb, weil sie in jeder Stellung keine selbständig Seienden sind, keine ‚Etwasse‘, auch keine geistigen, keine Substanzen von Dingen, keine Kategorien, Gattungen oder Arten des Denkens oder des Gedachten, nichts, das es an-sich gäbe, sondern je nur in ihrer wechselseitigen Bezugnahme sich zur strukturierenden Gestaltung entfaltende Momente, die erst und nur zusammen etwas ergeben, bedeuten oder darstellen, das sich als Seiendes – welcher ontologischen Kategorie auch immer – fassen lässt. Daher sind die Potenzen auch immer alles zugleich, auch wenn sich Schellings Interesse aus seinen wechselnden Frageperspektiven heraus immer wieder verschiebt und daher je nach Erörterungskontext stärker der eine oder andere Aspekt an ihnen herausgehoben wird. So ist es das primäre Interesse Schellings in der Darstellung der reinrationalen Philosophie, sie als Momente des Denkens und somit auch der Urteilsstrukturen, innerhalb derer alle Vernünftigkeit sich bewegt, zu fassen, wodurch die Interpretation der Potenzen als auch grammatische Subjekte und Objekte (Prädikate) ihren Ort erhielt. Damit ist aber nicht gesagt, dass Schelling diese Funktion der Potenzen nun anderen gegenüber als primär erachten würde oder andere Interpretationen – wie die der Potenzen als Subjekt- und Objektfunktionen im Aufbau des Selbstbewusstseins oder als Momente des Willens – gar durch jene ersetzen wollte.

272

Kap. 10: Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie

Daher lässt sich die Potenzenlehre in Schellings letztem Werk als eine Theorie multipler Sinnebenen verstehen: 1) der reinen Prinzipien des reinen Denkens, d. h. der notwendigen Grundzüge des Denkens überhaupt, 2) und hiermit verwandt, der grammatischen Urpartikel der Prädikation, 3) der Innenmomente des Geistes, d. h. der transzendentalen Urprinzipien des Bewusstseins, 4) in objektiver Hinsicht des Alls des Denkmöglichen, d. h., des Ideenkosmos, 5) der geistig-materiellen Wirklichkeit der positiven Philosophie, in der die Potenzen als Mächte und Ursachen fungieren. 26 Nicht enthalten in dieser Schichtenperspektive ist allerdings die Doppelfunktion der Potenzen als Denk- und Willensmomente. Deren Verhältnis enthält jedoch ein Problem, für das die Darstellung der reinrationalen Philosophie keine klare Lösung enthält, und das sich folgendermaßen formulieren lässt: inwiefern passen die Potenzen als Grundzüge des Denkens, welche den Vernunftraum und die Ideenwelt strukturieren, und Potenzen als Momente des Willens, dessen tragende Aufgabe es ist, die Möglichkeit der Erzeugung der Wirklichkeit zu gewähren, zusammen? Hierbei geht es nicht lediglich um das Problem der perspektivischen Abbildbarkeit, nach welchem sich die universale Seinslehre von den Potenzen sowohl als eine Theorie der Bedingungen des Denkens als auch als eine Theorie des Willens (und der praktischen Vernunft) verstehen lässt, wodurch die Frage nach der genauen Zuordnung der Seinsmomente der Potenzen zu den beiden Ebenen virulent wird. Sondern das Problem gründet darin, dass auch in der Darstellung der reinrationalen Philosophie beide Sichtweisen bereits gebraucht werden, um überhaupt die Seinslehre von den Potenzen verständlich werden zu lassen – und sich von daher die Frage nach ihrer Vereinbarkeit nochmals in prinzipieller Schärfe zeigt. 27 Denn bereits zur begrifflichen Entwicklung der Potenzen gehört einerseits, dass sie Subjekt, Objekt und Subjekt-Objekt seien; also solche sind sie Antworten auf die Frage nach den elementaren Denkbestimmungen. Stellt man sich aber die Frage, welches begriffliche Modell von Potenz Schelling in der Spät26

Vgl. Hierzu Hemmerle 1966, 100, der allerdings lediglich drei Ebenen rekonstruiert. Damit soll auch Interpretationen widersprochen sein, die Schellings Heranführung des Willens in der Darstellung der reinrationalen Philosophie für lediglich illustrativ halten. Vgl. Sollberger 1996, 230: „diese Potenzen haben nur genau so viel mit einem Willen zu tun, als dieser zum anthropomorphen und damit uns näheren Verständnis herangezogen werden kann“. Im Gegensatz hierzu ist Wollen als Ursein über Jahrzehnte hinweg für Schelling das letzte Ermöglichungsprinzip des Wirklichen, und als solches führt er es in extenso in der Philosophie der Offenbarung vor und als solches zitiert er es auch in der Darstellung der reinrationalen Philosophie, auch wenn deren Gewichtungen auf der Basis des anderen Ausgangspunktes anders gelagert sind. Grundsätzlich kann hierbei Höfele 2019, 274 auch in Bezug auf die Potenzenlehre der Darstellung der reinrationalen Philosophie zugestimmt werden, der für die Berliner Zeit generell konstatiert, dass Schelling in seiner letzten Philosophie „gleichsam summarisch nochmals alle entscheidenden […] Willensbestimmungen seit 1809 aufgreift und diesen in unterschiedlichen Momenten und ‚Schaltstellen‘ des philosophischen Gebäudes Geltung zuspricht“. 27

VI. Resümee: Die Vielfalt der Anwendungen der Potenzen. Offene Probleme

273

philosophie anwendet, so wird schnell klar, dass bis auf wenige genannte Rückgriffe auf ältere Modelle, es in der Spätphilosophie nahezu ausschließlich das Akt/Potenz-Modell ist, das Schelling zugrunde legt. Dass Potenz als ‚Möglichkeit‘ in diesem Sinne des Kontrasts zu Akt als deren Verwirklichung zu verstehen ist, wird Schelling nicht müde zu betonen. Allerdings ist hierbei auch unzweifelhaft, dass für Schelling nur das Modell des Willens die ontologische Ebene bereit stellen kann, in welcher ein Übergang von Potenz zu Akt, von Möglichkeit zu Wirklichkeit vollzogen werden kann. Demnach ist die Frage, die hier an Schelling zu stellen wäre, die, inwiefern die denklogische Bezugnahme eines Subjekts auf sein Objekt, bzw. der fundamentale Zusammenhang der auf seine Gehalte ausgerichteten Intentionalität des Denkens der Wirklichkeitserzeugung von Potenz zu Akt entsprechen kann, welche Schelling mit dem Modell von Potenz und Akt verbindet. Denn das Objekt ist die notwendige Ergänzung der Subjekts, nicht aber dessen Verwirklichung, wie es dem Verwirklichungsprinzip von Potenz und Akt entsprechen würde. Daher verbleibt eine systematische Spannung zwischen dem voluntativen Aspekt der Potenzen, der zentral für alle Wirklichkeitsbildung verantwortlich ist und ihrer rationalen Dimension. Diese Spannung ist es zugleich, welche das eigentliche Thema und Problem der Darstellung der reinrationalen Philosophie abbildet, nämlich die Frage, wie das reine Denken zumindest die Möglichkeit des Wirklichen aus sich erzeugen kann. Daher zeigt sich, selbst noch in der Formulierung eines offenen Problems, dass Schellings Theorie der Potenzen in der Darstellung der reinrationalen Philosophie die Grundzüge des gesamten philosophischen Programms von Schellings letztem unvollendeten Werk in sich trägt und abbildet.

Gesamtresümee I. Die Grundmodelle von Potenz in Schellings Philosophie Schelling hat über den gewaltigen Zeitraum von fast 60 Jahren mit enormer Produktivität seine Philosophie unter höchsten systematischen Ansprüchen fortgeführt, umgestaltet und immer wieder neu begonnen. Dabei ist ein Werk entstanden, das die Umbrüche der Neuansätze ebenso zeigt wie die Kontinuität von Schellings unbedingtem Systemwillen, bei welchem Fragen und Themen, die Schelling über Jahrzehnte hinweg beibehalten hat, in immer neue Gesamtentwürfe integriert wurden. Tilliettes berühmter Buchtitel, nach welchem Schellings Philosophie eine Philosophie im Werden sei, spiegelt dies treffend wider. Er ist lediglich zu ergänzen durch ein an vielen Stellen von Schellings sich stetig weiterentwickelndem Werk sichtbares Phänomen: seiner vielfach nachweisbaren Eigenheit nämlich, früher entwickelte Theoriemodelle oder Stufen seiner eigenen Philosophie beim Fortschreiten der Gesamtentwürfe und der Neuentwicklung einzelner Theoriebausteine nicht einfach hinter sich zu lassen und ad acta zu legen, sondern weiter zu verwenden. Dies hat einerseits zur Folge, dass Schellings Philosophie zunehmend komplexer wird, insofern der je neue Gesamtentwurf unterfüttert, ergänzt und erweitert wird durch jene älteren Gedankenbausteine. Andererseits, dass Schellings Philosophie in vielerlei Hinsicht nicht lediglich werkimmanent erschlossen werden kann, sondern nur in einer genetischen Betrachtungsweise unter Rückgriff auf Vorgängerschriften verständlich werden kann, weil Schelling jene Selbstzitate nicht mehr eigens ausweist oder erläutert, sondern sie so in seine Texte einfließen lässt, als setze er bei seinen Lesern oder Hörern bereits die Kenntnis des vorangegangenen Werks voraus. Dieses Phänomen hat die gegebene Untersuchung an vielen Stellen nachweisen können; ihm ist es auch geschuldet, dass dabei zuletzt ein Buch entstanden ist, das Schellings gesamte Werkentwicklung von 1798 an zum Gegenstand nahm. Eine Konzentration lediglich auf eine einzelne Werkphase wäre wegen Schellings vielfachen, stillschweigenden, begrifflichen und systematischen Rückgriffen auf das eigene Werk nicht durchführbar gewesen. Hierbei konnte nicht nur gezeigt werden, dass Schelling seinen Begriff von Potenz mit einer Vielzahl an variablen Bestimmungen (wie Reiz, Ursache, Steigerung, Möglichkeit, Macht usw.) ausstattete, wie sie bereits eine erste begriffliche Evaluation zu Tage fördern konnte, und dass er oft aus der Kombination

I. Die Grundmodelle von Potenz in Schellings Philosophie

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dieser Bestimmungen begriffliche Ressourcen für bestimmte Problemkonstellationen zu gewinnen suchte, sondern es konnten auch in Hinsicht auf die Funktion der Potenzen, d. h. auf das mit ihnen gedachte Anwendungsmodell, eine Reihe klar voneinander unterscheidbare Konstellationen ausgewiesen werden, unter denen Schelling den Potenzbegriff denkt. Sie sollen nachfolgend überblicksstiftend als Funktionsprinzipien der Potenzen nochmals aufgelistet werden. Es sind dies: 1) Das Steigerungsprinzip der Potenz, das besagt, dass eine höhere Potenz durch Steigerung aus einer je niedereren erzeugt werden kann. Diese Konstellation ist eine der ersten, auf welche hin Schelling – von der Zitierung der ‚erregenden Potenzen‘ von J. Brown abgesehen – in einem selbständigen Sinne in der Naturphilosophie von 1799 den Potenzbegriff anwendet; in den Schriften von 1800 benennt Schelling diesen Vorgang mit dem Ausdruck der ‚Potenzierung‘. 2) Das Stufen-, Schichten- oder Dimensionenprinzip der Potenz, das besagt, dass es eine Hierarchie höherer und niederer Potenzen gibt. Diese Konstellation ist im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie 1799 nachweisbar und gehört zu den dominierenden Modellen von Potenz bis 1809, auf die Schelling allerdings auch in späteren Schriften immer wieder zurückgreift. 3) Hiermit verbunden ist das Prinzip der Reihenbildung, das schon in der Naturphilosophie von 1799 angelegt ist und in den Parallelwissenschaften von Natur- und Transzendentalphilosophie von 1800 zentral ausgebildet wird. Es besagt, dass Potenzen als Stufen oder Schichten des Seienden sich in einer bestimmten Reihenfolge ausbilden. Es geht damit einher, dass Schelling eine Folge von Potenzen (im Plural) aufzuzählen beginnt und ist gedanklich noch in der späten Lehre von den drei Potenzen enthalten, auch wenn diese als eine lineare Ordnung nur noch epistemisch in der festen Folge ihres Gedacht-werden-Müssens erscheint, während die Potenzen ontologisch ein komplexes System wechselseitiger Integrationen ausbilden. 4) Das Organismusprinzip der Potenzen, das zwei Ausformungen hat: a) In der einen besagt es, dass innerhalb einer Potenz wieder alle anderen Potenzen in der entsprechenden Ordnung enthalten sind (wobei diese Ordnung horizontal oder hierarchisch sein kann). b) In der anderen besagt es, dass die jeweils höhere Potenz eine reflexive Selbststeigerung der je niedereren ist, so dass die höhere Potenz sich selbst in gedoppelter Form enthält. Beide Prinzipien sind bereits 1799 in der Naturphilosophie entfaltet und finden sich in Schellings Gedanken eines allgemeinen Organismus als Ordnungsprinzip der gesamten Wirklichkeit wieder; Schelling führt diesen Gedanken in der identitätsphilosophischen Phase gehäuft vor und verwendet ihn, wenngleich sporadisch, bis in seine spätesten Schriften weiter. 1 1

Vgl. z. B. SW XIII, 76, wo Schelling von einem „innere[n] Organismus aufeinanderfol-

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Gesamtresümee

5) Das Verwirklichungsprinzip von Potenz. Es besagt, dass Potenz von etwas zu sein bedeutet, die Anlage zu einer Verwirklichung zu enthalten, ohne dass diese Verwirklichung auch durchgeführt werden müsste. Dies stellt Schelling fast immer mittels der Ausdrücke Potenz/Akt bzw. Potentialität/Aktualität oder potentia/actus dar. Auch dieses wird bereits 1799 von Schelling benannt. Es wird dann zum bestimmenden Prinzip der Potenzenlehre der Spätphilosophie, insbesondere hinsichtlich der Frage nach den Ermöglichungsbedingungen des Wirklichen. 6) Das Differenzprinzip innerhalb der Identitätsphilosophie, das besagt, dass Potenzen Erscheinungsweisen desselben Identischen beschreiben und bei welchem die Differenz lediglich in einer bestimmten Verschiebung zur Seite des Realen oder Idealen besteht. Dieses Prinzip hat seine Hauptbedeutung in der Darstellung meines Systems. 7) Hierzu gehört auch das Prinzip des Potenzlosen und der Depotenzierung, die besagen, dass das Absolute potenzlos ist, weil in ihm das Differenzprinzip aufgehoben ist, und dass ein Übergang aus der Differenzierung in die Potenzlosigkeit (= Depotenzierung) möglich sei. 8) Das Prinzip der Perspektivität der Potenzen besagt, dass die Potenzen bestimmte Aspekte oder Erscheinungsweisen desselben sind, insbesondere solche, die unter der spezifischen Beleuchtung eines unter einem Leitprinzip auf es bezogenen Denkens sich darstellen. Dieses Prinzip entspricht der Worterklärung von ‚Potenz‘, die Schelling in der Philosophie der Kunst gegeben hat, nach welcher diese verschiedene ideelle Bestimmungen meinen, unter denen das Eine sich darstelle; auch hierauf greift Schelling später immer wieder zurück. 9) Das Umwandlungsprinzip besagt, dass die Potenzen, als Seinsprinzipien, sich zueinander komplementär verhalten, so dass das Verborgene der einen das Offenbare der anderen ist, und dass die Möglichkeit besteht, dass sie sich ineinander transformieren. Das Umwandlungsprinzip rührt von Schellings Gedanken der Dynamik des Grund-Existierendes Verhältnisses her, wie es in der Freiheitsschrift entwickelt wurde und ist ab den Stuttgarter Privatvorlesungen als Prinzip des wechselseitigen Verhältnisses von Potenzen greifbar. 10) Mit dem Umwandlungsprinzip verwandt ist das Prinzip der Verdrängung oder Inversion. Es besagt, dass innerhalb des Komplementaritätsgedankens die Steigerung einer Potenz mit einer Minderung oder Verdrängung einer anderen, zu ihr komplementären einhergeht. Diese Konstellation findet sich schon in dem Gedanken von Potenz als relativem Übergewicht, welcher die Seinslinie des frühen Identitätssystems prägt. Er ist aber ebenso in den dialektischen Erörterungen zur Aufweisung der Potenzen der spätesten Philosophie zu fingender Potenzen“ spricht, „an dem sie [= die Vernunft] den Schlüssel zu allem Sein hat, und der der innere Organismus der Vernunft selbst ist.“ Und weiter: „Diesen Organismus zu enthüllen, ist Sache der rationalen Philosophie.“

I. Die Grundmodelle von Potenz in Schellings Philosophie

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den, nach welchen die Aktualisierung der ersten Potenz zu einer Verdrängung der zweiten und einer Inversion ihrer wechselseitigen Bestimmungen führt. 11) Das Prinzip der Komplementarität der Potenzen, welches besagt, dass es die Potenzen als je selbstständige in einem ontologisch strengen Sinn gar nicht gibt, sondern dass sie lediglich Momente eines Seienden sind, das sich nur in der wechselseitigen Bezugnahme aufeinander erzeugt. Dieses Prinzip ist mit der Ausbildung des internen Dualismus in der Freiheitsschrift gegeben und wird von Schelling von da an auf die sich ausbildende Potenzenlehre übertragen; es ist noch in den spätesten Berliner Schriften beibehalten. 12) Das Dominanzprinzip schließlich, das gleichfalls zwei Ausformungen hat. In der einen besagt es, dass ‚Potenz‘ das beherrschende Prinzip von etwas anderem meint; in diesem Sinne formuliert Schelling oft, dass etwas ‚unter der Potenz‘ z. B. des Realen stehe. In der anderen Form besagt es, dass etwas eine bestimmte Potenz ist, wenn es unter der Bestimmung, Herrschaft oder Macht von einem bestimmten Prinzip steht. Zusammengenommen kann so etwas in der Potenz des Realen stehen, wenn es unter der Potenz des Realen steht. Die Hauptanwendungsfelder des Dominanzprinzips sind einerseits die Naturdimensionen im ‚Würzburger System‘, andererseits von der Freiheitsschrift an die Frage nach dem Bösen, das aus einer bestimmten Dominanzstellung der Potenzen resultiert. Schließlich erhält das Dominanzprinzip eine zentrale Rolle bei der Darstellung des geschichtlichen Weltverlaufs insbesondere des mythologischen Zeitalters, dessen Entwicklung und Epochenabfolge seine Erklärung je in bestimmten Dominanzstellungen der Potenzen findet. Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass es bei Schelling von Anfang an nicht einen Begriff von Potenz gibt, der mit den vielfältigsten Attributen ausgestattet sich auf vielfältigste Gebiete anwenden lässt, sondern dass sich eine enorme Breite begrifflicher Bestimmungen und funktionaler Modelle, die Schelling mit dem Potenz-Begriff verbindet, nachweisen lässt. Daher müssen auch alle Interpretationen, die Schellings Philosophie der Potenz werkübergreifend aus nur einer bestimmten gedanklichen Konstellation heraus zu deuten versuchen, scheitern. Umgekehrt dürfte in dieser von Schelling selbst begrifflich nicht klar geschiedenen Vieldeutigkeit, verbunden mit seiner Tendenz, sich in den Sachdiskussionen und Systemkonstruktionen gerade diese Vieldeutigkeit je zu Nutze zu machen, indem er nach dem Baukastenprinzip je verschiedene Bedeutungen und Funktionen dieses Begriffes kombiniert, der Hauptgrund für die oft beklagte Dunkelheit des Potenzbegriffs bei Schelling zu suchen sein. Dabei braucht man lange nicht alle Fälle durchzuspielen, unter denen sich diese Funktionen paarweise kombinieren lassen, um zu sehen, dass bestimmte Funktionen wie das Prinzip der Dimension und das Reihungsprinzip (in der Idee einer Dimensionenreihe) sich gut miteinander verbinden lassen, während

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Gesamtresümee

bei anderen, wie dem Prinzip der Perspektivität und der Verwirklichung oder dem Umwandlungs- und dem Differenzprinzip nicht einfach zu sehen ist, ob und gegebenenfalls wie sie in einer einheitlichen Theorie der Potenz aufeinander bezogen sein sollen. Schelling hat nicht alle diese Prinzipien von Potenz in allen seinen Werken von 1798 an gebraucht. Sondern die Vielfalt der funktionalen Anwendungen ist – gewiss unterstützt durch die sprachliche Vieldeutigkeit des Potenzbegriffs auch außerhalb der Philosophie Schellings – im Laufe der Entwicklung von Schellings Werk stetig gewachsen, da Schelling ‚Potenz‘ in immer neuen Bestimmungen und Funktionen gedacht hat, ohne dabei auf ältere Begrifflichkeiten zu verzichten – von wenigen Ausnahmen wie dem Ausdruck des ‚Potenzierens‘, der nach 1800 kaum noch nachweisbar ist, einmal abgesehen. Dabei haben sich einerseits deutliche Begriffsverschiebungen in den Jahren einschneidender Systemumwandlungen von 1801 (zum Identitätssystem), 1809/10 mit der Entwicklung der Ontologie des internen Dualismus und der daraus folgenden Etablierung einer eigentlichen Potenzenlehre und 1827 mit der Einführung der Unterscheidung von positiver und negativer Philosophie nachweisen lassen, welche andererseits mit je einer deutlichen Bedeutungssteigerung des Potenzbegriffs einhergingen, welcher von einem Erläuterungsbegriff für bestimmte Übergänge innerhalb von Naturprozessen zum Zentralbegriff einer ebenso fundamentalen wie universalen Seinslehre avancierte.

II. Zusammenfassung der Kapitel Abschließend sollen überblicksstiftend die einzelnen Kapitel zusammengefasst werden: Im ersten Kapitel, das den Einsatz des Potenzbegriffs in der Weltseele (1798) und im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) zum Gegenstand hatte, stellte sich die Aufgabe, Schellings ‚Einführung‘ des Potenzbegriffs als terminus technicus seiner Philosophie präzise zu bestimmen und seine erste und ursprüngliche Bedeutung herauszuarbeiten. Hier zeigte sich zunächst negativ, dass es einerseits keine ‚Einführung‘ des Potenzbegriffs im Sinne einer Begriffsexplikation bei erster Erwähnung bei Schelling gibt. Und dass andererseits Schelling auch nicht einen fertigen Begriff aus dem zeitgenössischen Diskurs einfach adaptiert. Sondern es zeigte sich, dass Schelling den Begriff der ‚Potenz‘ zuerst gebraucht, indem er innerhalb der Frage nach der Bestimmung des Lebendigen den aus dem Englischen übertragenen Ausdruck der exciting powers des Mediziners John Brown, übersetzt als ‚erregende Potenzen‘ in der Bedeutung von erregenden Kräften, diskutiert und diesen Begriff und die damit verbundene

II. Zusammenfassung der Kapitel

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Idee, eine bestimmte Reaktion von Organismen auf die Einwirkung erregender Potenzen sei das Kennzeichen des Lebendigen, schließlich als unangemessen verwirft. Sodann zeigte sich, dass es keinen einfachen semantischen Übergang vom Ausdruck der ‚erregenden Potenzen‘ zu einer erweiterten Terminologie von ‚Potenz‘ gibt, die mit der Schrift Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) einsetzt – und dies, obwohl Schelling der Theorie Browns nun tendenziell zustimmt und den Begriff der ‚erregenden Potenzen‘ auch weiter gebraucht. Sondern es scheint, als sei Schelling durch den Brownschen Ausdruck zu einem weiteren Gebrauch des Potenzbegriffs angestoßen worden, so dass er nun im Ersten Entwurf gleich in drei zusätzlichen Bedeutungen von ‚Potenz‘ spricht: im Sinne eines kausalen, aktiven Aspekts, im Sinne des antiken Begriffspaars potentia und actus in der herkömmlichen Bedeutung einer realen Möglichkeit und ihrer Verwirklichung, und mittels des Ausdrucks einer ‚höheren Potenz‘ mit der Bedeutung einer Ordnungsdimension im stufenweise konzipierten System der Natur. Nach der Erhebung dieser Vielfalt im ersten eigenständigen Gebrauch von ‚Potenz‘ galt es, die Frage nach der Herkunft des Potenzbegriffs bei Schelling zu stellen und hierbei die gewonnenen Ergebnisse zu sichern gegen drei gängige Varianten der Schelling-Forschung, nach welchen Schelling den Potenzbegriff entweder eben John Brown oder Carl August Eschenmayer oder der Mathematik entnommen habe. Positiv zeigte sich hier, dass Schellings vielfältiger Gebrauch durchaus der Vieldeutigkeit entsprach, die ‚Potenz‘ als Modebegriff im zeitgenössischen Jenaer Diskurs innehatte, ohne dass Schelling einen bestimmten Begriff schlicht übernommen hätte. Im zweiten Kapitel zu Schellings Ergänzungen im Handexemplar des Ersten Entwurfs und seiner Einleitung zu seinem Entwurf der zweiten Hälfte des Jahres 1799, bei welchen sich die Häufigkeit des Gebrauchs des Potenzbegriffs deutlich steigert, war zu sehen, wie sich von hier aus eine frühe Hauptbedeutung von Potenz bei Schelling im Ausdruck einer ‚höheren Potenz‘ im Sinne von höherer Stufe und Dimension herauskristallisiert. Diesen ergänzt Schelling nun um Stufenbezeichnungen von erster, zweiter und dritter Potenz und spricht hierbei erstmals von ‚Potenzen‘ im Plural. Hier konnte ein wohldefinierter Sinn von Potenz als Stufe und Dimension innerhalb der metaphysischen Konstruktion der Natur ausgewiesen werden, insofern Schelling diese ihrerseits als einen Organismus, d. h., ein gestuftes System sich überlagernder Seinsdimensionen versteht, bei denen die je höhere die untergeordnete miteinbegreift und in einer höheren Komplexitätsordnung wiederholt. Das dritte Kapitel behandelte die parallel ausgearbeiteten und als komplementär sich ergänzend konzipierten Werke des Jahres 1800, die Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses und das System des transzendentalen Idealismus. Hier konnte zunächst nachgewiesen werden, dass sich Schellings

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begriffliches Tableau von ‚Potenz‘ erneut verschiebt, insofern er nun zusätzlich verbale und dynamische Ausdruckweisen des Potenzierens (‚Potenzierung‘, ‚potenzierend‘ usw.) gebraucht, die Bezeichnung von Potenzen im Plural gehäuft vorkommt und er zudem von einer höchsten Potenz im Superlativ spricht. In der Allgemeinen Deduktion konnte gezeigt werden, wie Schelling den Gebrauch des Potenzbegriffs in der Naturphilosophie weiter intensiviert, indem er ihn nun auch zur Konstruktion der elementaren Bereiche der Natur, des Raums und der Materie verwendet. Dabei versucht Schelling die Dimensionenfolge der drei Dimensionen des Raumes (Linie-Fläche-Raum) als Resultat eines sukzessiven, wechselseitigen Sich-Durchdringens der metaphysischen Naturkräfte der Attraktion und Repulsion zu verstehen, bei welchem er die je höheren Dimensionen als ‚zweite Potenzen‘ der je basaleren (‚erste Potenzen‘ genannten) versteht. Dieses Erzeugen höherer Stufen als ein dynamischer Vorgang der Naturkonstruktion ist es, das Schelling dann in der Hauptbedeutung mit dem Ausdruck des ‚Potenzierens‘ bezeichnet. Im System des transzendentalen Idealismus übernimmt Schelling diese Ausdrucksweise des Potenzierens, um den dimensionalen Aufbau des in dynamischen Reflexionsverhältnissen verfassten Selbstbewusstseins und darüber hinaus die Methode der Transzendentalphilosophie selbst, welche diesen Aufbau des Geistes rekonstruiert, zu charakterisieren. Hierbei konnte gezeigt werden, dass der volle Sinn von Schellings programmatischer Formulierung, wonach die Transzendentalphilosophie „nichts anderes [sei] als ein beständiges Potenzieren des Ichs“ (AA I,9,1, 146/SW III, 450) darin liegt, dass die Transzendentalphilosophie von 1800 überhaupt von einem dreifachen Potenzierungsverhältnis getragen wird: innerhalb der ursprünglichen Reihe der unwillentlichen und vorbewussten Selbsterzeugungstätigkeiten des Bewusstseins, in der freien Rekonstruktion derselben Potenzenfolge als Methode der Transzendentalphilosophie und schließlich im Verhältnis beider, insofern Schelling das methodische Vorgehen als eine gesteigerte (‚potenzierte‘) Selbst-Wiederholung des ursprünglichen versteht. Die hierin sich ausbildenden Potenzenfolgen bringt Schelling nun erstmals in eine Reihe von erster, zweiter und dritter Potenz und stuft auf die sich hierbei gegenständlich bildende Reihe der Natur zudem eine zweite Reihe höherer Potenzen des Geistes, in denen sich die Dimensionen des Theoretischen, Praktischen und Ästhetischen aufbauen. Das vierte Kapitel galt der Untersuchung der Darstellung meines Systems von 1801. Hier konnte gezeigt werden, dass mit der systematischen Neufassung des Systems unter dem Identitätsgedanken zunächst auch eine vollständige Neufassung des Potenzbegriffs einhergeht: Einerseits zeigt sich dies terminologisch: Schelling verzichtet nun auf den zuvor zentralen Begriff und Gedanken der ‚Potenzierung‘ und führt andererseits mit Ausdrücken der ‚Depotenzierung‘, des ‚Potenzlosen‘, einer ‚niedereren Potenz‘, sowie den formelhaften Kürzeln A = B, A0, A, A2 und A3 zur Bezeichnung von Potenzverhältnissen neue Be-

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zeichnungen mit einer teilweise ganz neuen Semantik und Funktion innerhalb des Ganzen ein. So versteht Schelling nun, ausgehend vom Gedanken der absoluten Identität als ontologischem prius, zentral ‚Potenz‘ als „die quantitative[.] Differenz in Bezug auf das Ganze“ (AA I,10, 137/SW IV, 135). Damit ist gesagt, dass Schelling nun den Potenzbegriff gebraucht, um überhaupt die Ausdifferenzierung des Vielen aus dem Identisch-Einen zu fassen und dass damit neuerlich eine deutliche Bedeutungssteigerung dieses Begriffs im Werk Schellings einhergeht, insofern alle geistige und materielle Wirklichkeit als eine bestimmte Potenz des Absoluten aufgefasst wird, die sich aus der quantitativen Verhältnismäßigkeit des Subjektiven und Objektiven in ihr zusammensetzt. Dabei zeigte sich im Zusammenhang mit der Erörterung des Begriff der ‚Depotenzierung‘, dass Schelling hierbei an eine inverse negative Verhältnisbestimmung denkt, insofern im Angesicht des Absoluten als Seinsgrund jede Diversifizierung eine Seinsminderung darstellt und dass Schelling daher die Potenzverhältnisse des einzelnen Seienden so konstruiert, dass ein Übergewicht z. B. des Reellen durch Minderung des ideellen Faktors in Hinsicht auf das Absolute zustande kommt – weswegen nun ‚Depotenzierung‘ zum Ausdruck einer Seinssteigerung, nämlich der Aufhebung der Seinsminderung relativer Faktoren in den Potenzen des Wirklichen, hin zum Absolut-Einen, avanciert – gerade im Gegensatz zum den Schriften des Vorjahrs, in denen ‚Potenzierung‘ eine Seinssteigerung zu höheren Stufen im Schichtenaufbau der Natur und des geistig Wirklichen geführt hatte. In der Analyse des Modells einer Seinslinie, anhand welcher Schelling die Grundidee des Identitätssystems erläutert, zeigte sich erneut, dass die mathematisierenden Formeln und Kürzel wie A = B, A0, A, A2 und A3, die Schelling zur Bezeichnung von Potenzverhältnissen gebraucht, keinen streng mathematischen Sinn einer Selbstmultiplikation haben und auch nicht im Sinne eines feststehenden Bezeichnungssystems bestimmter Gegenstände oder Relationen gebraucht werden, sondern eher lose den früheren Gedanken eines Stufungs- und Steigerungssystems des Wirklichen in das neue System zu transportieren versuchen. Aufgabe des fünften Kapitels war es, den neuen Potenzbegriff durch das weitere Identitätssystem zu verfolgen. Dies erwies sich auch in der Detailanalyse aller wesentlichen Werke dieser Epoche als notwendig, weil Schelling weiter Bedeutung und systematische Stellung des Potenzbegriffs von Werk zu Werk deutlich variierte, obwohl die ontologischen Grundannahmen des Identitätssystems bis 1806 stabil blieben. So konnte gezeigt werden, dass Schelling in der Einleitung der Philosophie der Kunst in Ergänzung zur ontologischen Perspektive der Darstellung von 1801 eine epistemische und wissenschaftssystematische Perspektive einnimmt und von dieser her den Potenzbegriff wieder neu fasst, indem er Potenzen nun als „verschiedene[.] ideelle[.] Bestimmungen“ zur „Darstellung des Einen und ungeteilten Ganzen“ (AA II,6,1, 111/SW V, 365) auffasst. Sie werden hierdurch

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ihrerseits zu Perspektiven, bei welchen das Ganze unter einer bestimmten Leitidee als Welt der Natur, der Geschichte, des Wissens oder der Kunst in den Blick kommt. Des Weiteren zeigte sich hier, das Schelling innerhalb dieser übergreifenden Perspektiven wiederum die einzelnen Wissenschaftsbereiche mittels des Potenzbegriffs ausdifferenziert, wobei er hierzu einerseits auf das Übergewichts- und das Inversions-Modell von 1801 zurückgreift und dies andererseits mit der identitätstheoretischen Grundannahme der Vereinigung des Gegensätzlichen in der Identität zu einem festen dialektischen Modell dreier Potenzen verbindet, bei welchen nur die erste und zweite Potenz konträr und gleichrangig sind, während die dritte Potenz den Bereich ihrer Vereinigung in der Identität bezeichnet. Es ist dieses Triplizitätsmodell der Potenzen, mit welchem Schelling dann die einzelnen Künste ausdifferenziert und nach ihren inneren Bestimmungen charakterisiert. Als aufschlussreich für Schellings immer wieder neu ansetzende Arbeitsweise und seine verblüffende und oft irritierende begriffliche Flexibilität und die daraus resultierende jeweilige werkimmanente Eigenprägung auch der Zentralbegriffe hat sich die Untersuchung der folgenden vier Schriften erwiesen: Beim Dialog Bruno von 1802 konnte gezeigt werden, dass Schelling in dieser Schrift einerseits die bisher nur sporadisch auf lateinisch gebrauchte Form potentia (im Sinne einer Real-Möglichkeit) nun als ‚Potenz‘ auf Deutsch bezeichnet, ohne dabei an irgendeine seiner eigenen bisherigen begrifflichen Bestimmungen von ‚Potenz‘ anzuknüpfen, und dass er dort andererseits zur Charakterisierung der Diversität im Kontrast zum Absoluten, zu welcher er in den anderen Schriften derselben Zeit extensiv einen elaborierten Potenzbegriff gebraucht, auf diesen völlig verzichtet und stattdessen in einer platonischen Terminologie von ‚Ideen‘ spricht, in denen sich das in dem nun als ‚Idee der Idee‘ verstandenen Absoluten archetypisch Angelegte realisiert. In den Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie, im selben Jahr publiziert, findet sich in der Grundkonstellation die Potenzentheorie des Allgemeinen Teils der Philosophie der Kunst wieder, wobei diese nun auf die drei Dimensionen des Endlichen, Unendlichen und Ewigen bezogen werden, welche wiederum im Bruno bereits angelegt waren. Bei den Ergänzungen zur zweiten Auflage der Ideen zu einer Philosophie der Natur zeigte sich, dass Schelling in dieses Werk von 1797 seine zwischenzeitlich erworbene und elaborierte Terminologie der Potenzen einerseits in der Form und Terminologie der Werke von 1800, andererseits hybrid in Verbindung mit der metaphysischen Grundveranlagung des Identitätssystems implementiert. So gibt es hier in der Diskussion des physikalischen Phänomens der Polarisation eine sonst nicht vorfindliche Gegenüberstellung der Ausdrücke ‚Potenzieren‘, der zur konstruktiven Methode von 1800 gehört, und ‚Depotenzieren‘, der zur Idee des Potenzlos-Einen der Identitätsphilosophie gehört. Bei Philosophie und Religion zeigte sich negativ, dass die darin enthaltenen Ausdrücke einer höheren oder höchsten Potenz dort nicht

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die spezifische Bedeutung der Natur- und Transzendentalphilosophie von 1800 beinhalten, sondern von Schelling ganz landläufig lediglich im Sinne einer höheren Stufe oder Dimension gebraucht werden. Neben der eher kursorischen Analyse der letztgenannten vier Schriften wurde das umfangreichste Werk der identitätsphilosophischen Phase, das System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (‚Würzburger System‘) von 1804 ausführlich gewürdigt. Hier konnte innerhalb der ‚allgemeinen Philosophie‘ gezeigt werden, dass Schelling sieben wesentliche Punkte seiner bisherigen Potenzenkonzeption weiterführt und miteinander kombiniert: Erstens wird Differenz überhaupt als Potenz gefasst. Zweitens entsprechen Potenzen spezifischen Perspektiven auf das Ganze. Drittens entsprechen Potenzen dem spezifischen Verhältnis des Realen und Idealen in Hinsicht auf das Ganze. Daher bezeichnen sie viertens in weiterer Ausdifferenzierung auch Einzeldinge. Hierbei werden die Potenzen fünftens wieder in dialektischen Triplizitätskonstellationen gefasst, innerhalb derer sechstens das Verhältnis von erster und zweiter Potenz erneut über das Inversionsprinzip gedacht wird. Hinzu kommt siebtens, dass Schelling die Triplizitätskonstellation nun mit dem aus der Naturphilosophie von 1799 bekannten Organismusprinzip kombiniert, so dass jede Potenz innerhalb des Ganzen einer Potenzentriplizität ihrerseits wieder ein Ganzes darstellt, das eine seinerseits subordinierte Triplizitätsstruktur in sich enthält. Bei den Aphorismen über die Naturphilosophie von 1806 war es bemerkenswert, dass Schelling bei der Darstellung der allgemeinen Metaphysik des Absoluten auf den Potenzbegriff zunächst ganz verzichtete, um mittels desselben dann am Ende des Werks eine alternative Darstellungsart des Ganzen zu präsentieren. Hierbei zeigte sich, dass Schelling die Triplizität der Potenzen, auf das Absolute bezogen, nun mit der kanonischen Lehre der Trinität verband, nach welcher jedes der einzelnen Momente (= Potenzen) „ein Ganzes ist, und dennoch nicht ist und nicht sein kann ohne das andere“ (AA I,15, 123/SW VII, 174). Eine besondere Schwierigkeit konnte hier namhaft gemacht werden, insofern Schelling das dialektische System der Potenzendreieinheit mit dem relationalen Potenzbegriff verband, nach welchem es nach Maßgabe des relativen quantitativen Übergewichts beliebig viele Potenzen entsprechend der Vielheit der Einzeldinge geben konnte. Als interpretative Lösung konnte hier gezeigt werden, wie mittels des von Schelling nun eingeführten Dominanzgedankens, nach welchem es verschieden vorherrschende Stellungen der Potenzen innerhalb der Dreieinheit geben konnte, die konstruktive Erzeugung der unendlichen Vielfalt der erscheinenden Welt aus einem Dreieinheitsgefüge der Potenzen bewerkstelligt werden konnte. Im sechsten Kapitel, das Schellings sogenannte ‚mittlere Philosophie‘ der Freiheitsschift und der Stuttgarter Privatvorlesungen zum Gegenstand hatte, galt es zu sehen, wie Schelling in dieser Phase der Transformation der ontologi-

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Gesamtresümee

schen Grundkonstellation seiner Philosophie mittels der Unterscheidung von Grund von Existenz und Existierendem seine Begrifflichkeit von Potenz auf diese anwendet und zu einer eigentlichen Lehre von den Potenzen ausgestaltet. Dabei war auch in der Freiheitsschrift zu bemerken, dass die Umgestaltung des Systems erneut mit einer terminologischen Verschiebung einhergeht. So greift Schelling nur noch gelegentlich auf die Hauptbedeutungen von Potenz in der Natur-, Identitäts- und Transzendentalphilosophie zurück, indem er vereinzelt von ‚höherer‘ und ‚bestimmter‘ Potenz und von einem ‚letzten potenzierenden Akt‘ spricht. Umgekehrt wird dem bis dato nur konventionell und sporadisch genutzten lateinischen Begriffspaar potentia und actus nun in der deutschen Form von ‚Potenz‘ (oder ‚Potentialität‘) und ‚Akt‘ eine zentrale ontologische Aufgabe zugewiesen. Diese besteht darin, das entscheidende dynamische Entwicklungsmoment innerhalb des internen Dualismus der Grund/Existierendes-Unterscheidung zu charakterisieren, das in der Möglichkeit der Erhebung des Grundes und der Inversion der Stellungen von Grund und Existierendem liegt. Diese beschreibt Schelling dahingehend, dass im Grund die Möglichkeit enthalten sei, sich „aus der Potenz zum Aktus“ (AA I,17, 168/SW VII, 404) zu erheben, d. h. eine Dominanzstellung gegenüber dem Existierenden einzunehmen und dieses in die Position zu verdrängen, die zuvor der Grund eingenommen hatte. ‚Potenz‘ bezeichnet so die Befähigung des Grundes zur Selbsterhebung in die Wirklichkeit der herrschenden Stellung. In den Stuttgarter Privatvorlesungen führt Schelling die ontologische Grundkonstellation der Freiheitsschrift fort, belegt sie aber mit einer neuen Terminologie. So verzichtet er auf die Potenz/Akt-Terminologie und benennt umgekehrt das Verhältnis von Grund und Existierendem nun mittels der Ausdrücke ‚Sein‘ und ‚Seiendes‘. Diese bezeichnet Schelling zugleich als ‚erste‘ und ‚zweite Potenz‘, ergänzt durch eine dritte Potenz, die die erste und zweite integriert, so dass sich das ontologische Grundverhältnis nun auch trinitarisch deuten lässt. Auf diese Weise bezeichnen die Ausdrücke von Potenzen nun die ontologischen Prinzipien selbst und nicht mehr wie zuvor die Struktureigenschaften dieser. Das siebte Kapitel behandelte Schellings Dynamisierung seiner Metaphysik innerhalb des Projekts einer geschichtlichen Philosophie in den Weltalterentwürfen und den Erlanger Vorlesungen. In den Weltalterentwürfen entwickelt Schelling das Grund-Existierendes-Verhältnis in dem Sinne weiter, dass die Potenzen je in sich aus den Dominanzverhältnissen des Expansiven und Kontraktiven, des Äußeren und Inneren bestehen und ihnen ein dynamisches Moment wechselseitiger Umwandelbarkeit zukommt. So wird nicht mehr der Grund selbst als das ‚Sein‘ oder die ‚erste Potenz‘ bezeichnet, sondern die Konstellation, in der das Sein das Beherrschende des Existierenden ist. Zudem erweitert er das duale System aus Grund

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von Existenz und Existierendem (bzw. Sein und Seiendem) weiter zu dem in den Stuttgarter Vorlesungen schon skizzierten dreigliedrigen System, das sich dann als der dreieinige Gott deuten lässt. Von diesem aus beschreibt Schelling aus der dynamischen Konstellation der Potenzen heraus eine Schöpfungsontologie, bei welcher die Potenzen zugleich den göttlichen Geist als Voraussetzung der Schöpfung bilden und den tatsächlichen Epochenverlauf der metaphysischen Geschichte gliedern und prägen. In den Erlanger Vorlesungen zeigen sich schließlich drei wichtige Aspekte in der begrifflichen Entwicklung von ‚Potenz‘ : Erstens führt Schelling modalontologische Seinsbestimmungen eines Seinkönnenden, Seinmüssenden und Seinsollenden mit der Dreiheit der Potenzen, die die Einheit des freien göttlichen Geistes gewähren soll, zusammen. Zweitens stellt Schelling die Schöpfung der geistigen Welt als Umwendung (universio) der Potenzen in Verbindung mit seiner Interpretation der Potenzen als Erscheinungsweisen eines Wollens dar. Und drittens werden die dynamischen Entfaltungs- und Verschließungstendenzen der Potenzen zu Erzeugungskräften der tatsächlichen Schöpfung des physikalischen und geschichtlichen Weltverlaufs. Als ein in Hinsicht auf die Entwicklung des Begriffsfelds ‚Potenz‘ insgesamt mit Perspektive auf das Gesamtwerk wichtiger Aspekt erwies sich hierbei, dass Schelling hier intensiv versucht, die bis dato disparaten Gedankenmodelle von Akt und Potenz einerseits und von Potenz im Sinne einer Potenzenfolge zusammenzuführen. Im vierten Teil wurden in den Kapiteln acht bis zehn exemplarisch für die Spätphilosophie die drei Vorlesungszyklen System der Weltalter, Philosophie der Offenbarung und Darstellung der reinrationalen Philosophie auf die darin enthaltene Potenzentheorie untersucht. Dabei erwies sich das System der Weltalter als direkte Fortführung der Erlanger Vorlesungen, insofern auch hier zuerst die Darstellung der Innenmomente Gottes als Voraussetzungen der Schöpfung thematisiert wurden. Neu hinzu kam jedoch jener weiterreichende Gedanke der Positivität Gottes, der darin besteht, dass der wirkliche und in der Schöpfung wirkende Gott keine rational zu rekonstruierende oder gar kausal ableitbare Folge seiner Innenmomente ist, sondern als freier Geist und Herr des Seins einen neuen Anfangspunkt bildet, von welchem aus die Existenz der tatsächlichen Welt erst verständlich werden soll und in Bezug auf welchen seine Innenmomente nunmehr als Folgen anzusehen sind. Hierbei kam als ein neues Element in Hinsicht auf Schellings begriffliche Entwicklung von ‚Potenz‘ nun der auf das Verhältnis von negativem und positivem Gott bezogene Gedanke hinzu, dass dieser als actus purus die Potenzialität seiner inneren Bildung durch Potenzen aufhebt und überwindet. Innerhalb dieser Grundkonstellation zeigte sich, dass die Potenzen besondere Bedeutung als Erklärungsmomente der Erzeugung des absoluten trinitarischen Geistes in negativer Hinsicht und des geistigen Kosmos als bildhafter

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Grundlage der Welt erhalten. Hierzu greift Schelling je auf das in der ersten Entwicklung der Potenzentheorie in der Naturphilosophie entstandene Stufenmodell dreier Potenzen zurück, bei welchem reflexive Selbstverhältnisse die Potenzierung der Stufen der Natur und der Dimensionen des Geistigen ausprägen. In der Philosophie der Offenbarung führt Schelling die dynamische Schöpfungsontologie fort, indem er die einzelnen Momente ihrer Entwicklung weiter systematisiert. Dabei ließen sich sieben Stufen der Entwicklung und Anwendung der Potenzen klar unterscheiden: 1) Der erste Schritt besteht in der Aufweisung von allgemeinen Prinzipien des Seins, deren zentrale Eigenschaft darin besteht, auf Aktualisierung bezogene Möglichkeiten des Seins zu sein. 2) Diese Prinzipien erzeugen den absoluten Geist und gehen in diesen als dessen interne Bestimmungen ein. Schelling nennt sie in dieser Funktion ‚Potenzen‘ des Geistes. 3) Durch die Möglichkeit der Schöpfung, die dem Geist ansichtig wird, versetzen sich die Potenzen in ihm in Spannung und fungieren so zugleich wiederum als Potenzen anderer Art: als Potenzen in Bezug auf die Möglichkeit der Schöpfung. 4) In der tatsächlichen Schöpfung wird der Mensch als Spiegel Gottes erzeugt, der hierdurch wiederum dieselbe Einheit von Potenzen in sich führt. 5) Die Einheit der Potenzen zertrennt der Mensch im Sündenfall, indem er sie erneut in Spannung setzt und sie so zu beherrschen sucht. 6) In der Folge hiervon geht die Einheit des Bewusstseins des Menschen verloren und es entsteht die äußere, gleichfalls zerrissenen Welt. 7) Im Verlauf dieser Welt fungieren die Prinzipien in doppelter Weise als Potenzen. Sie sind einerseits die wirklichen Mächte, die den Prozess steuern und erklärlich machen. In Bezug auf das Endziel dieses Prozesses fungieren sie andererseits auch als Potenzen der Wiederherstellung des Göttlichen. In der Darstellung der reinrationalen Philosophie schließlich zeigte sich, dass Schelling bis zuletzt keine einheitliche Potenzenlehre, bei welcher deren systematischer und ontologischer Rang zur Eindeutigkeit gebracht worden wäre, entworfen hat. Schellings neuer Versuch, die Potenzen als erste Denkbestimmungen im Sinne von Subjekt und Objekt zu fassen, führte dabei zugleich auf die Schwierigkeit ihrer Interpretation als letzte Willensmomente – eine Interpretation, die sich aber auch als unausweichlich in Hinsicht auf die Frage nach den Ermöglichungsbedingungen der Wirklichkeit erwies. Entsprechend gab Schellings letzte große Schrift zuletzt erneut Zeugnis von Schellings stetigem Unternehmen, eine Vielheit von Ansätzen und Modellen in eine gemeinsame Theorie zu integrieren. So zeigte sich die Potenzenlehre auch in der Darstellung der reinrationalen Philosophie als eine Theorie multipler Sinnebenen, auch wenn es in deren Per-

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spektive und Gewichtung Verschiebungen zu denjenigen gibt, die die Sinndimensionen der anderen Werke der mittleren und späten Philosophie prägen. In der epistemischen Richtung einer apriorischen Erfahrungswissenschaft zeigen sich die Potenzen daher von den ersten notwendigen Bestimmungen des Denkens selbst bis zu den Voraussetzungen der Wirklichkeit einer geschichtlichen Welt hier in folgender Reihenfolge: 1) als reine Prinzipien des reinen Denkens, d. h. der notwendigen Grundzüge des Denkens überhaupt in Gestalt der formalen Begriffe von Subjekt, Objekt und Subjekt-Objekt, 2) und hiervon abgeleitet, als die grammatischen Urpartikel der Prädikation, 3) als die Innenmomente des Geistes, d. h. der transzendentalen Urprinzipien des Bewusstseins, 4) in objektiver Hinsicht als das All des Denkmöglichen, d. h., des Ideenkosmos und 5) als die Bedingungen der geistig-materiellen Wirklichkeit der positiven Philosophie, in der die Potenzen als Mächte und Ursachen fungieren.

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Bibliographie

b) Weitere Werkausgaben Fichte GA

Fichte, Johann Gottlieb, Gesamtausgabe (= GA) der bayrischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth/Hans Jacob, Stuttgart 1964 ff. Fichte SW Johann Gottlieb Fichtes Sämmtliche Werke (SW), hg. v. Immanuel Hermann Fichte, 8 Bde. Berlin 1845 f. Hegel GW Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Hamburg 1968 ff. Kant AA Kant, Immanuel, Kants Werke. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1902 ff. Leibniz: Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Werke in vier Bänden. In der Zusammenstellung von Ernst Cassirer, übersetzt von Arthur Buchenau. Neuausgabe Hamburg 1996, (dort: Teil I und II = Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie). Novalis HKA Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-kritische Ausgabe in vier Bänden. Begründet von Paul Kluckhohn/Richard Samuel. Herausgegeben von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl/Gerhard Schulz. Stuttgart u. a. 1960 ff. Schlegel KFSA: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett/Hans Eichner. München, Paderborn, Wien, Zürich 1958 ff. Thomas von Aquin: Summa theologica. Die deutsche Thomas-Ausgabe, vollständige ungekürzte Deutsch-Lateinische Ausgabe, übersetzt und kommentiert von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs. Gemeinschaftsverlag: Heidelberg und München, Graz-Wien-Köln 1933 ff.

II. Weitere Literatur Andries, Marcus 2011: Schellings Entwicklungsbegriff. Wandlungen und Konstanten in seiner Naturphilosophie (Diss.). Tübingen. Arndt, Andreas/Jaeschke, Walter 2012: Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845. München. Bach, Thomas 2001: Biologie und Philosophie bei C. F. Kielmeyer und F. W. J. Schelling. Stuttgart (= Schellingiana 12). Barbarić, Damir 2012: „Schellings Potenzenlehre in seiner Philosophie der Mythologie“, in: „Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!“ Schellings Philosophie in der Sicht neuerer Forschung, hg. v. Friedrich Hermanni/Dietmar Koch/Julia Peterson. Tübingen. 309–330. Baumgartner, Hans Michael/Korten, Harald 1996: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. München. Beach, Edward Allen 1994: The Potencies of God(s). New York. Beddoes, Thomas 1797: John Brown’s Biographie nebst einer Prüfung seines Systems und einer Erklärung der Brownischen Grundsätze. Von T. Christie aus dem Englischen. Kopenhagen.

II. Weitere Literatur

291

Bensussan, Gérard 2014: „Die Übersetzung des Systems in der Stuttgarter Ontologie“, in: System, Natur und Anthropologie. Zum 200. Jubiläum von Schellings Stuttgarter Privatvorlesungen, hg. v. Lore Hühn/Philipp Schwab (= Beiträge zur Schelling-Forschung 1). Freiburg. 71–80. Blumenbach, Johann Friedrich 1780: „Über den Bildungstrieb (nisus formativus) und seinen Einfluss auf die Generation und Reproduktion“, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaft und Literatur, 1, 247–266. Bonsiepen, Wolfgang 1997: Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel. Mathematische versus spekulative Naturphilosophie. Frankfurt. Brown, John (Johannis Brunonis)1780: Elementa Medicinae. Edinburgh. – 1788: The Elements of Medicine. Or a Translation of the Elementa Medicinae Brunonis with Large Notes, Illustrations and Comments by the Author of the Original Work. London. – 1795: Grundsätze der Arzneylehre. Aus dem Lateinischen übersetzt von M. A. Weikard. Frankfurt am Main. – 1796: System der Heilkunde. Nach der letzteren, vom Verfasser sehr vermehrten und mit Anmerkungen bereicherten englischen Ausgabe übersetzt und mit einer kritischen Abhandlung über die Brownschen Grundsätze begleitet von C. H. Pfaff. Kopenhagen. – 1798: Grundsätze der Arzneylehre. Aus dem Lateinischen übersetzt von M. A. Weikard. Zweite verbesserte Auflage. Frankfurt am Main. Bruno, G. Anthony (Hg.) 2020: Schelling’s Philosophy. Freedom, Nature, and Systematicity. Oxford. Buchheim, Thomas 1992: Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie (= Paradeigmata 12). Hamburg. – 2011: „Einleitung“, „Anmerkungen des Herausgebers“ und „Gliederung und Analyse des Argumentationsgangs“ zu: F. W. J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 2. Aufl., Hamburg. IX–LV und 89–188. – 2015: „Was heißt philosophische Religion? Acht Thesen zur Zielsetzung von Schellings unvollendetem System“, in: Religion und Religionen im Deutschen Idealismus, hg. v. Friedrich Hermanni/Burkhard Nonnenmacher/Friedrike Schick. Tübingen. 425–445. Buchheim, Thomas/Hermanni, Friedrich (Hg.) 2004: „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunklen Grunde“. Schellings Philosophie der Personalität. Berlin. Busche, Hubertus 2009: „Einführung“, in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, hg. v. Hubertus Busche (= Klassiker Auslegen 34). Berlin. 1–34. Dorner, Isaak August 1860: „Über Schellings Potenzenlehre“, in: Jahrbücher für deutsche Theologie 5, 101–156. Durner, Manfred 1979: Wissen und Geschichte bei Schelling. Eine Interpretation der ersten Erlanger Vorlesung. (= Epimeleia. Beiträge zur Philosophie 31). München. – 1994: „Theorien des chemischen Prozesses“, in: Schelling AA, Ergänzungsband zu Werke 5 bis 9. Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften. Stuttgart. 9–55. – 2001: „Einleitung“, in: F. W. J. Schelling, Zeitschrift für Spekulative Physik, Bd. 2 (= Meiner PhB 524b), Hamburg. IX–XLVII. – 2005: „Einleitung“ zu F. W. J. Schelling, Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge, Hamburg. VII–XLVII.

292

Bibliographie

Eschenmayer, Carl August 1796: Principia quaedam diciplinae naturali. Dissertatio. Tübingen. – 1797: Sätze aus der Naturmetaphysik auf chemische und medizinische Gegenstände angewandt. Tübingen. – 1798: Versuch, die Gesetze magnetischer Erscheinungen aus Sätzen der Naturmetaphysik mithin a priori zu entwickeln. Tübingen. – 1803: Die Philosophie in ihrem Übergang zur Nichtphilosophie. Erlangen. Florig, Oliver 2010: Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung. Personale Entwicklung in Schellings mittlerer Philosophie. Freiburg. Förster, Wolfgang 1984: „Schelling als Theoretiker der Dialektik der Natur“, in Natur und geschichtlicher Prozess, Studien zur Naturphilosophie F. W. J. Schellings, hg. v. Hans Jörg Sandkühler. Frankfurt. 175–201. Frank, Manfred 1991: Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis. Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivität. Stuttgart. – 2018: ‚Reduplikative Identität‘. Der Schlüssel zu Schellings reifer Philosophie (= Schellingiana 28). Stuttgart. Franz, Albert 1992: Philosophische Religion. Eine Auseinandersetzung mit den Grundlegungsproblemen der Spätphilosophie F. W. J. Schellings. Amsterdam/Atlanta. Fuhrmans, Horst 1969: Einleitung und Anmerkungen zu: F. W. J. Schelling, Initia Philosophiae Universae. Erlanger Vorlesung WS 1820/21, hg. u. komm. v. Horst Fuhrmans. Bonn. IX–XXIII und 201–268. – 1972: Vorwort und Einleitung zu: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Grundlegung der positiven Philosophie. Münchner Vorlesung WS 1832/33 und SS 1833, hg. u. komm. v. Horst Fuhrmans. Turin. 11–63. Gabriel, Markus 2006: Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewusstseinsgeschichte in Schellings Philosophie der Mythologie. Berlin/New York. – 2009: „Nachträgliche Notwendigkeit. Mensch, Gott und Urteil beim späten Schelling“, in: Philosophisches Jahrbuch 116, 22–41. Gerlach, Stefan 2008: „Die Fügung der Welt. Mathematik und Ontologie der Proportionenlehre im Platonischen Timaios“, in: Philosophisches Jahrbuch 115, 21–43. – 2016: „Die Freiheit Gottes bei Schelling“, in: Schelling-Studien, Internationale Zeitschrift zur klassischen deutschen Philosophie 4. 43–64. – 2019: Handlung bei Schelling. Zur Fundamentaltheorie von Praxis, Zeit und Religion im mittleren und späten Werk (= Philosophische Abhandlungen 117). Frankfurt. – 2020a: „Ewigkeit bei Schelling“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 60/61a, 219–241. – 2020b: „Schellings ‚Einführung‘ des Potenz-Begriffs in die Naturphilosophie von 1799/1800 und seine Bedeutung im System des transzendentalen Idealismus“, in: Schelling-Studien, Internationale Zeitschrift zur klassischen deutschen Philosophie 8, 27– 46. – 2022: „‚Quantitative Differenz in Bezug auf das Ganze‘. Zu Funktion und Bedeutung von ‚Potenz‘ in der Darstellung meines Systems von 1801“, in: in: Schelling-Studien, Internationale Zeitschrift zur klassischen deutschen Philosophie 9, 3–26. Gloy, Karen 2012: „Schellings Naturphilosophie. Grundzüge und Kritik“, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Neue Wege der Forschung, hg. v. Reinhard Hiltscher/Stefan Klingner. Darmstadt. 85–102. Gourdain, Sylvaine 2014: „Das Leben der Identität: Zur Wandlung des Systems in Schellings Freiheitsschrift und den Stuttgarter Privatvorlesungen“, in: System, Natur und

II. Weitere Literatur

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Anthropologie. Zum 200. Jubiläum von Schellings Stuttgarter Privatvorlesungen, hg. v. Lore Hühn/Philipp Schwab (= Beiträge zur Schelling-Forschung 1). Freiburg. 81– 101. Grün, Klaus-Jürgen 1993: „Ursprung und methodische Bedeutung der Potenzenlehre Schellings“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 36, 174–195. Habermas, Jürgen 1954: Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken. Bonn. Hartkopf, Werner 1972: Die Dialektik in Schellings Ansätzen zu einer Naturphilosophie (= Studien zur Entwicklung der modernen Dialektik). Meisenheim. – 1975: Die Dialektik in Schellings Transzendental- und Identitätsphilosophie – Studien zur Entwicklung der modernen Dialektik II (= Monographien zur philosophischen Forschung 138). Meisenheim. Heckmann, Reinhard/Krings, Hermann/Meyer, Rudolf W. (Hgg.) 1985: Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling. Referate, Voten und Protokolle der II. Internationalen Schelling-Tagung Zürich 1983. Stuttgart. Hemmerle, Klaus 1966: „Zum Verständnis der Potenzenlehre in Schellings Spätphilosophie“, in: Philosophisches Jahrbuch 74, 99–125. – 1968: Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie. Freiburg. Hermanni, Friedrich 1994: Die letzte Entlastung. Vollendung und Scheitern des abendländischen Theodizeeprojektes in Schellings Philosophie. Wien. – 2004: „Der Grund der Persönlichkeit Gottes“, in: ‚Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunklen Grunde‘. Schellings Philosophie der Personalität, hg. v. Thomas Buchheim/ Friedrich Hermanni. Berlin. 165–178. Hogrebe, Wolfram 1989: Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings ‚Die Weltalter‘. Frankfurt. Höfele, Philipp 2019: Wollen und Lassen, Zur Ausdifferenzierung, Kritik und Rezeption des Willensparadigmas in der Philosophie Schellings (= Beiträge zur Schelling-Forschung 10). Freiburg/München. Hühn, Lore/Schwab, Philipp (Hg.) 2014: System, Natur und Anthropologie. Zum 200. Jubiläum von Schellings Stuttgarter Privatvorlesungen (= Beiträge zur Schelling-Forschung 1). Freiburg. Hutter, Axel 1996: Geschichtliche Vernunft. Die Weiterführung der Kantischen Vernunftkritik in der Spätphilosophie Schellings. Frankfurt. Jacobi, Friedrich Heinrich 2000: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelsohn. Auf der Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske bearbeitet von Marion Lauschke. Hamburg. Jantzen, Jörg 1994: „Theorien der Irritabilität und Sensibilität“, in: Schelling AA, Ergänzungsband zu Werke 5 bis 9. Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften. Stuttgart. 375–497. – 2005: „Adolph Karl August von Eschenmayer“, in: Naturphilosophie nach Schelling, hg. v. Thomas Bach/Olaf Breidbach (= Schellingiana 17), Stuttgart. 153–180. Krings, Hermann 1985: „Natur als Subjekt. Ein Grundzug der spekulativen Physik Schellings“, in: Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling. Referate, Voten und Protokolle der II. Internationalen Schelling-Tagung Zürich 1983, hg. v. Reinhard Heckmann/Hermann Krings/Rudolf W. Meyer. Stuttgart. 111–128.

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Bibliographie

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II. Weitere Literatur

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de Jacinto Rivera de Rosales y Virginia López Domínguez. 2. Auflage, Barcelona. 9– 133. Rudolphi, Michael 2001: Produktion und Konstruktion. Zur Genese der Naturphilosophie in Schellings Frühwerk (= Schellingiana 7). Stuttgart. Sandkühler, Hans Jürgen (Hg.) 1984: Natur und geschichtlicher Prozess. Studien zur Naturphilosophie F. W. J. Schellings. Frankfurt. Schmidt-Biggemann, Wilhelm 2014; „Die Theologie der Stuttgarter Privatvorlesungen“, in: System, Natur und Anthropologie. Zum 200. Jubiläum von Schellings Stuttgarter Privatvorlesungen, hg. v. Lore Hühn/Philipp Schwab (= Beiträge zur Schelling-Forschung 1). Freiburg. 159–181. Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 1996: „Von der wirklichen, von der seienden Natur“. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel. Stuttgart. – 2015: Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk. Freiburg/München. Schole, Jan 2018: Der Herr der Zeit. Ein Ewigkeitsmodell im Anschluss an Schellings Spätphilosophie und physikalische Modelle. (= Collegium Metaphysicum 18). Tübingen. Schrödter, Hermann 1986: „Die Grundlagen der Lehre Schellings von den Potenzen in seiner reinrationalen Philosophie“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 40, 562–585. Schulz, Walter (Hg.) 1968: Fichte-Schelling. Briefwechsel. Frankfurt. – 1996: „Einleitung“, in: F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, hg. v. Walter Schulz. Hamburg. IX–XLIV. Schwab, Philipp 2014: „‚Übergang von Identität zu Differenz‘. Die Bestimmung des Systemprinzips in den Stuttgarter Privatvorlesungen vor dem Hintergrund von Schellings Denkentwicklung seit 1801, in: System, Natur und Anthropologie. Zum 200. Jubiläum von Schellings Stuttgarter Privatvorlesungen, hg. v. Lore Hühn/Philipp Schwab (= Beiträge zur Schelling-Forschung 1). Freiburg. 34–70. – Schwab, Philipp./Hühn, Lore 2014: „Systemabbreviatur oder System im Umbruch? Zur Einleitung in Schellings Stuttgarter Privatvorlesungen“, in: System, Natur und Anthropologie. Zum 200. Jubiläum von Schellings Stuttgarter Privatvorlesungen, hg. v. Lore Hühn/Philipp Schwab (= Beiträge zur Schelling-Forschung 1). Freiburg. 1–16. Schwarz, Justus 1935: „Die Lehre von den Potenzen in Schellings Altersphilosophie“, in: Kant-Studien 40, 118–148. Schwenzfeuer, Sebastian 2012: Natur und Subjekt. Die Grundlegung der schellingschen Naturphilosophie (= Beiträge zur Schelling-Forschung 3). Freiburg. Senigaglia, Cristina 2016: „Einleitung der Herausgeberin“, in: Carl A. Eschenmayer, Einleitung in Natur und Geschichte, hg. v. Cristina Senigaglia (= Bibliothek 1800, KörperGeist-Bewusstsein III). Stuttgart. IX–XXXIV. Sollberger, Daniel 1996: Metaphysik und Intervention. Die Wirklichkeit in den Suchbewegungen negativen und positiven Denkens in Schellings Spätphilosophie. Würzburg. Spinoza, Baruch de 1999: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Lat.-dt. Übers., hg. und mit einer Einl. versehen v. Wolfgang Bartuschat. Hamburg. Tilliette, Xavier 1970: Schelling. Une philosophie en devenir, I. Le système vivant 1794– 1821. Paris. – 2004. Schelling Biographie. Aus dem Französischen von Susanne Schaper. Stuttgart.

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Bibliographie

Tritten, Tyler 2012: „Schelling’s Doctrine oft he Potencies: The Unity of Thinking and Being“, in: Philosophy & Theology 24, 217–253. Ziche, Paul 1996: Mathematische und naturwissenschaftliche Modelle in der Philosophie Schellings und Hegels. Stuttgart.

III. Lexika RGG = Religion in Geschichte und Gegenwart, Handwörterbuch der Theologie und Religionswissenschaft, 8 Bde., 4. völlig neu bearbeitete Auflage, Tübingen 1998–2005.

Personenregister Andries, Marcus 34 Aristoteles 5, 29, 225, 227, 234, 247 f., 254, 262, 268 f. Arndt, Andreas 84, 86, 136 Bach, Thomas 30 Bardili, Christoph Gottfried 83 Baumgartner, Hans Michael 37, 83, 102, 217 Beach, Edward Allen 122, 213, 251 Beddoes, Thomas 19 Bensussan, Gérard 167 Blumenbach, Johann Friedrich 18 Böhme, Jakob 136, 195 f. Bonsiepen, Wolfgang 23 Brown, John (Brunonis, Johannis) 3, 9 f., 18–23, 25–27, 31–34, 42, 45, 52, 55, 275, 278 f. Buchheim, Thomas 2, 152, 154–156, 196, 218, 254, 256, 258, 267 Busche, Hubertus 56 Dekker, Gerbrand 147 Dorner, Isaak August 1 f. Durner, Manfred 34 f., 37, 89, 123 f., 208, 214 Eschenmayer, Carl August 33–38, 41 f., 55 f., 86–90, 103, 106, 114, 128, 141, 157, 223 f., 279 Fichte, Johann Gottlieb 11, 75, 83, 85, 103, 129, 156, 158, 179, 223 Florig, Oliver 131, 152 f. Förster, Wolfgang 30 Frank, Manfred 13, 70, 85, 98, 142 Fuhrmans, Horst 201 f., 209, 217–219

Gabriel, Markus 256, 260 f., 263 Galvani, Luigi 30, 46, 126 Georgii, Eberhard Friedrich von 183, 189 Gerlach, Stefan 9, 58, 79, 83, 197, 211, 214, 249 Gloy, Karen 34, 58 Goethe, Johann Wolfgang von 105 Gourdain, Sylvaine 169 Grün, Klaus-Jürgen 2, 10, 34, 37, 97, 109, 112, 136, 191 Habermas, Jürgen 152 Hartkopf, Werner 48, 51, 94, 103, 107, 116, 131 Hartmann, Eduard von 147 Harvey, William 29, 42, 166 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 34, 37, 76, 87, 115 f., 123, 142, 155 f., 171, 221 Heidegger, Martin 158 Hemmerle, Klaus 2, 250, 272 Hermanni, Friedrich 154, 157, 218, 256 Hodel, Jonas 95 Höfele, Philipp 272 Homer 121 Hühn, Lore 167 f. Hutter, Axel 217 f. Jacobi, Friedrich Heinrich 39 f., 42 Jacobs, Wilhelm G. 33 Jaeschke, Walter 84, 86, 136 Jantzen, Jörg 18, 26, 29, 90 Kant, Immanuel 5, 13 f., 16, 24, 29, 35, 52, 56, 62, 95 f., 160, 166, 180, 182 f., 226, 254–256, 260–262

298

Personenregister

Kielmeyer, Carl Friedrich 30 Korten, Harald 37, 83, 102, 217 Krings, Hermann 14–16, 34, 71 f.

Rang, Bernhard 84, 87 f., 95, 131 Reinhold, Karl Leonhard 37, 83 Rudolphi, Michael 12, 68

Leibniz, Gottfried Wilhelm 24, 38, 56, 114, 138, 164, 221, 231, 244

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 1–6, 9–80, 83–107, 109–147, 151–214, 217–286 Schelling, Karl Friedrich August 218, 255 Schlegel, Friedrich 41 f. Schmidt-Biggemann, Wilhelm 189 Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 11, 71, 83 Schole, Jan 249 Schopenhauer, Arthur 158 Schrödter, Hermann 254, 259, 262 Schulz, Walter 71, 80, 83 Schwab, Philipp 123, 167 f. Schwarz, Justus 37, 155, 164 Schwenzfeuer, Sebastian 70, 95 Senigaglia, Cristina 34 Sollberger, Daniel 272 Spinoza, Baruch de 15, 39 f., 112 f., 154, 221 Stieglitz, Johann 27

Mauch, Fabian 136 Mayer, Matthias 123 Meyer, Rudolf W. 12 Mischer, Sibille 74 Müller-Bergen, Anna-Lena 2, 220, 253 f., 256 Müller-Lüneschloß, Vicki 167, 180 f. Mutschler, Hans-Dieter 14, 87 Nassar, Dalia 41, 225 Neumann, Hans-Peter 114 Neuner, Florian 41 Newton, Isaak 16, 61 f. Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg) 41 f. Oetinger, Friedrich Christoph 180 Peetz, Siegbert 220 f., 224 Pfaff, Christoph Heinrich 19 f. Platon 113, 137, 142, 164, 195, 254, 260, 264, 268 f. Plitt, Gustav Leopold 2, 55, 76, 86, 90, 102, 220 Plotin 154

Thomas von Aquin 225 Tilliette, Xavier 34, 37, 86, 102, 107, 144, 147, 274 Tritten,Tyler 225, 238 Weikard, Melchior Adam 19 f. Weiße, Christoph Heinrich 76 Ziche, Paul 84, 101, 89

Sachregister Absolute, das 69, 79, 113, 120, 128, 136 f., 141, 146, 153 Akt/actus 4, 27, 29, 102, 121 f., 161–166, 189, 206, 209, 224 f., 234, 245 Attraktion 35, 56, 61, 66, 95, 126, 223 Aufweisung der Potenzen 219, 229–231, 257 f. Bildungstrieb 18, 20 f. Böse, das 154, 162, 164 f., 176, siehe auch Gute, das chemischer Prozess 30, 62, 126 Depotenzieren 103–105, 146 Deduktion 60, 80, 229 f., 236, 238, 255– 257 Dichtung 78, 121 Differenz 86–88, 90–93, 130, 144–146, 169–171, 205 Dualismus, interner 152, 156 f., 166, 168 f., 172 f., 180–185, 241–43 Egoität/Egoismus 129, 176, 191 f., 265 Elektrizität 30 f., 46 f., 67 Ewigkeit 128 Anm., 187 f., 200, 202, 213, 249 Existierendes 152–155, 157–164, 284 f., siehe auch Grund von Existenz Expansion 11, 49, 69, 179 f. Freiheit 186, 196–198, 202–206 Geschichte 159, 162, 185 f. Gute, das 160, 163–165, 167, siehe auch Böse, das Grund von Existenz 154, 157 f., 265, siehe auch Existierendes

Handlung 154, 183, 200 ideale Folge/Reihe 116, 118, 121, siehe auch reale Folge/Reihe Identitätssystem 83 f., 86, 91–96, 98–100, 105 f., 111 f., 129 f., 144 f. Indifferenz 84 f. 90–92, 98 Anm., 105, 113–116, 131 Anm. Individuum 18, 260 Komplementärwissenschaften 54 f., 83– 85, 113, 145 Keim 29, 155, 166, 234 Kontraktion 11, 16 Anm, 50, 69, 133, 179 f. Kunst 77 f., 111–121, 124 f., 134 f., 182– 184 Liebe 158, 176, 183 f. Magnetismus 30, 46–48, 60, 67, 134 Malerei 118 Materie 12–14, 35, 49, 54 f. 52, 59 f., 62– 65, 69 f., 101 f., 104–106, 118–120, 133 f. Mathematik 37 f., 58, 87 Anm., 131 Anm. Moral 77, 160, 168, 172, 182–184, 186– 188 Musik 118–120 natura naturans 15, 30 f., 48, 61 f., 64, 68, 88, 133, 136, 143 natura naturata 15, 31, 48, 61 f., 64, 88, 115, 133, 149 Naturphilosophie 9–14, 22 f., 30 f., 34–38, 68–71, 93–96, 133–135, 142, 151 f., 177 f., 180 negative Philosophie 196, 219 f., 229 f., 252–254, 256, 278

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Sachregister

Offenbarung 156, 162, 176, 185–187, 198, 210, 251, siehe auch Schöpfung organisch, Organismus 13, 18, 25–32, 45– 51, 56,67, 70 f., 74, 76 f., 114 f., 118–121, 138 f., 143–146 Perioden 159, 185, 188 f., 198 f. Person 152, 154, 157, 159 Physik 11 f., 15, 59, 62, 64, 95 f., 101, 126, 249 Plastik 118 f., 188 positive Philosophie 198, 218–221, 230, 236, 239 f., 144, 254, 257 Potenz/potentia 4, 27, 29, 40, 121 f., 161 f., 165–167, 191, 203–206, 208–211, 213, 225 f., 232, 234 Potenz – dritte 39, 49–52, 55, 100, 116 f., 120, 127, 131, 140, 173, 195, 210, 212 f., 261, 268 – erste 60, 72, 90 Anm., 104,106, 116– 120, 131, 133, 175–179, 182, 196 f., 212, 214, 242 f., 264–268 – höhere 30–32, 45–50, 52, 54–56, 75, 78, 96, 115, 128, 275 – höchste 55, 70, 72, 78, 103 f., 111, 129, 141 – niederere 96, 98, 106 – zweite 58–60, 64–67, 72–74, 99 f., 115– 120, 132 f., 173, 193, 213 f., 265– 267 Potenzen (im Plural) 25, 37, 51–53, 88, 246 Potenzialisieren 227, 241–243 Potenzialität 162 f., 165, 209, 228 Potenzieren 41, 55, 59–61, 70, 75–78, 104, 161 Prädikat 85, 87, 255, 261–263 reale Folge/Reihe 118, 120, 147, siehe auch ideale Folge/Reihe

Reihenbildung 47 f., 77 f., 92, 275 Repulsion 35, 56, 61, 66, 95, 126, 223 Schöpfung 154, 162–165, 177 f., 185 f., 200–202, 205–211, 218 f., 238–240, 243– 246, siehe auch Offenbarung Seiende, das 194, 235, 255, 257–259, 261 Sein, das 12, 142, 172 f., 175 f., 198 f., 202– 204, 231 Seinkönnen 79, 198, 200–205, 207–211, 213 f., 225–227, 230–237, 242–244, 258, 264 f. Seinmüssen 201–204, 207, 209, 226 f., 243 f. Seinsollen 201–204, 207, 209, 220, 244 Steigerung 4 f., 42, 49 f., 58 f., 64–66, 71– 74, 99 f., 105 f., 116 f., 132, 141, 222, 226 Transzendentalphilosophie 14, 66, 68–78, 80, 84, 103–106, 223 Trinität 137 Anm., 159, 192, 248, 250 Tri-Theismus 192 Ursache 3–5, 21 f., 25–28, 45, 56, 227, 247 f., 268–270 – causa materialis 227, 247, 249 – Endursache/ causa finalis 227, 268, 270 Anm., 248 Anm. – Formursache/ causa formalis 227, 242 – Wirkursache/causa efficiens 247 Anm., 270 Anm. Wahrheit 125, 183 Wille 157 f., 160 f., 183 f., 206–211, 227, 232–234, 271–273 Wirklichkeit 12, 63 f., 102, 121 f., 205 f., 231–234, 238–241, 234 f., 264–266, 271– 273 Ziel 264 f., 256 Zeit 186, 191, 198–200, 211–213, 249