Der Mensch im Mythos: Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings "Philosophie der Mythologie" 9783110927917, 3110190362, 9783110190366

In his late philosophy, Schelling develops a new type of philosophy which enters into competition with Hegel's meta

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Der Mensch im Mythos: Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings "Philosophie der Mythologie"
 9783110927917, 3110190362, 9783110190366

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Markus Gabriel Der Mensch im Mythos

W G DE

Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jens Halfwassen, Jürgen Mittelstraß, Dominik Perler

Band 71

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Der Mensch im Mythos Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings Philosophie der Mythologie von Markus Gabriel

Walter de Gruyter · Berlin · New York

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN-13: 978-3-11 -Ol9036-6 ISBN-10: 3-11-019036-2 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische D a t e n sind im Internet über h t t p : / / d n b . d d b . d e abrufbar.

© Copyright 2006 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Rinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin D r u c k und buchbinderische Verarbeitung: H u b e r t & Co., Göttingen

Die ganze Welt liegt gleichsam in der Vernunft gefangen, aber die Frage ist: wie ist sie in dieses Netz gekommen? Schelling

Vorwort Die folgende Arbeit ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2005 von der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität zu Heidelberg angenommen wurde. Die Entstehung dieser Arbeit wäre ohne eine Reihe von Personen und Institutionen nicht möglich gewesen, deren bereitwillige und großzügige Förderung mich in den letzten Jahren begleitet hat. Hier ist der rechte Ort, um ihnen meinen aufrichtigen Dank auszusprechen. Zunächst sei den Institutionen gedankt, die zur Entstehung dieser Arbeit beigetragen haben. Dazu gehört an erster Stelle die Studienstiftung des deutschen Volkes, die mich während meiner regulären Studienzeit gefordert und mir im Anschluß an diese ein Promotionsstipendium gewährt hat, wofür ich mich hiermit herzlich bedanken möchte. Sodann sei den Herausgebern der Quellen und Studien für die Aufnahme meiner Dissertation in diese Reihe gedankt. Mein Dank gilt außerdem der Internationalen Schelling-Gesellschaft e. V. und ihrem Präsidenten, Herrn Prof. Jörg Jantzen, fur die Gewährung mehrerer Reisestipendien, die mir die Teilnahme an Veranstaltungen der Schelling-Gesellschaft ermöglicht haben, auf die wichtige Impulse meiner Arbeit zurückgehen. Außerdem gilt mein Dank dem DAAD, der mir im Anschluß an meine Promotion ein großzügiges Postdoc-Stipendium gewährt hat, das mir genügend Zeit für die Fortsetzung meiner Forschung auf anderen Gebieten sowie fur die Überarbeitung meiner Dissertation gegeben hat. Drei Lehrern gilt mein besonderer Dank. Meinem Doktorvater, Herrn Prof. Jens Halfwassen, verdanke ich eine Unzahl philosophischer Anregungen, die in dieses Buch eingegangen sind. Außerdem blicke ich auf eine Zeit außergewöhnlicher Förderung zurück, die er mir durch unzählige Diskussionen meiner Gedanken sowie der Texte zuteil werden ließ, die nach seiner kritischen Prüfung letztlich in meine Dissertation eingegangen sind. Ohne die enge freundschaftliche

VIII

Vorwort

Zusammenarbeit und den philosophischen Austausch mit ihm wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Ich hoffe, daß seine Klarheit in metaphysicis in der folgenden Arbeit durchscheint. Bei Herrn Prof. Rüdiger Bubner möchte ich mich ebenfalls fur die vielen philosophischen Anregungen und Hinweise bedanken, die ich aus Diskussionen mit ihm erhalten habe. Darüber hinaus danke ich ihm fur die ausgesprochen positive Anerkennung meiner Arbeit sowie für die Übernahme des zweiten Gutachtens. Schließlich möchte ich Herrn Prof. Wolfram Hogrebe meinen Dank aussprechen, dessen glänzendes Hauptseminar über Schellings Freiheitsschrift im Sommersemester 2001 mich erstmals eindringlicher mit Schelling vertraut gemacht hat. Außerdem verdanke ich seinen Arbeiten zu Schelling sowie unserem E-mail-Austausch und persönlichen Gesprächen wichtige Ansätze. Die folgende Arbeit dokumentiert seinen Einfluß ebenso wie den Einfluß meiner Lehrer in Heidelberg. Meinen Freunden Jens Rometsch und Nicolas Wiater sei für die Durchsicht des Manuskripts gedankt. Jens Rometsch und Tobias Dangel gilt außerdem mein Dank für die unerbittlichen Diskussionen über Kant, Schelling und Hegel, die regelmäßig in unserer gemeinsamen Wieblinger Zeit bei einschlägigen Treffen abgehalten wurden.

New York City im Frühjahr 2005

Markus Gabriel

Inhalt Vorwort

VII

Einleitung § 1. §2.

§3 I. §4. §5§6. §7.

Ein einleitender Abriß der Forschungsgeschichte zum späten Schelling Der Mensch im Mythos oder die Einheit dreier Ansätze: Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte Aufriß der folgenden Arbeit

8

27 40

Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie« Das ens realissimum der neuzeitlichen Ontotheologie als 54 παντελώς ov Kants Lehre vom transzendentalen Ideal der reinen 104 Vernunft und der Übergang in die Potenzen lehre 116 Die Potenzenlehre Der Satz vom Widerspruch als Bewegungsgesetz der Potenzendialektik

146

§8-

Die Potenzendialektik als Selbstüberstieg des Denkens in die Anschauung des absoluten Seins 179

§9.

Sein und Selbst. Schellings Umkehrung des ontologischen Gottesbeweises

§10. Schellings Psychologie: Geist, Seele, Bewußtsein

196 218

II.

Der Mensch als gottsetzendes Bewußtsein und der anthropologische Übergang in die positive Philosophie §11- Mythologie als Tautegorie §12. Der Eleatismus des Urbewußtseins

234 266

χ

Inhalt

§13. Selbstbewußtsein und Sündenfall

283

§14. Das Sein des Staates der Fall des Selbstbewußtseins

312

§15. Person sucht Person

333

III.

Die »Philosophie der Mythologie« als Selbstbewußtseinsgeschichte § 16. Begriff und Funktion der Selbstbewußtseinsgeschichte im »System des transzendentalen Idealismus«

368

§ 17. Hesiod und Homer: Die doppelte Vergegenständlichung von Mensch und Mythos § 18. Die Mysterien als Selbstbewußtsein der Mythologie und ihre Bedeutung für die griechische Philosophie

442

Ausblick

465

Literaturverzeichnis

483

Personenregister

499

410

Einleitung Was ist die Welt? Wenn sie nichts anderes als das physikalische Universum ist, verstanden als ein raum-zeitlich ausgedehntes Aggregat von physikalischen Objekten, was auch immer diese im einzelnen ausmacht, welcher ontologische Status kommt dann dem Geist und insbesondere seiner reichen Geschichte zu? Gelingt es, die Welt als ein Ganzes von Natur und Geist zu beschreiben, läßt sich dann noch ein Außerhalb der Welt denken, etwas, was nicht von dieser Welt ist? Und wenn nicht, müssen wir dann bestreiten, daß es einen außerweltlichen Gott gibt? Gibt es gute Gründe, die menschliche Anlage zur Religion dadurch zu erklären, daß Natur und Gott letztlich ein- und dasselbe sind? Was ist das Unendliche und gibt es einen Übergang vom Unendlichen ins Endliche? Ist die Welt selbst ein begrenztes Ganzes (d.h. endlich) und, wenn ja, wie kann man wissen oder überhaupt fragen, was außerhalb der Welt ist? Diese Fragen, die Schelling seit seinen frühen Anfangen intensiv beschäftigt und zu einer steten Auseinandersetzung mit der gesamten Tradition der abendländischen Metaphysik bewogen haben, sind heute unabhängig davon so aktuell wie eh und je, daß sie in der abendländischen Metaphysik zum Grundbestand der philosophicι perermis gehören. Denn das Aufeinandertreffen der Wahrheitsansprüche von Naturalismus und Religion beschäftigt auch die zeitgenössische Philosophie mit zunehmender Brisanz. Es kann also als ein aussichtsreiches Unternehmen angesehen werden, Schellings Antwort auf die klassischen Probleme der abendländischen Metaphysik detailliert zu untersuchen. Die zentralen, weit ausholenden spekulativen Fragen der abendländischen Metaphysik stehen von Anfang an im Zentrum von Schellings Philosophieren. Und auch seine späte Philosophie der Mythologie ist in dem Sinne Teil eines umfassenden Systems spekulativer Philosophie, daß sie eine Antwort auf die gestellten Fragen 1

Vgl. dazu neuerdings Habermas, J.: Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt/Main: 2005.

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Einleitung

zu geben sucht, die im Rahmen einer Gesamtschau des Wirklichen angesiedelt ist. Wer Schellings Fragen als dringlich empfindet, d.h. wer die metaphysische Frage nach dem Ganzen des Seienden (oder mit einem Wort: nach der Welt als solcher) für eine sinnvolle Frage hält, die auf weitere gleichermaßen sinnvolle wie dringliche Fragen führt, ist gut beraten, sich mit Schellings Antworten auseinanderzusetzen. Dazu muß man freilich einen Umweg nicht nur über den Diskussionszusammenhang des Deutschen Idealismus, sondern über die Grundfragen vor allem der griechischen Metaphysik nehmen, die Schelling ebenso wie Hegel im gesamten zu seiner Zeit verfügbaren Umfang zur Kenntnis genommen hat. Schelling stellt sich bewußt in die Tradition der griechischen Metaphysik, in der das Paradigma der Metaphysik als Ontotheologie formuliert worden ist, dem er sich ebenso wie Hegel anschließt. Schellings Spätphilosophie steht dabei zugleich für die Restriktion eines absoluten Idealismus, der das Ganze des Seienden als Totalität begreift, die im Denken der Totalität zu sich kommt. Schelling rechnet im Unterschied zu Hegel nämlich mit einem doppelten Außerhalb der Vernunft: Einerseits ist das pure Faktum der Existenz der Welt irreduzibel auf den Begriff des Seins. Die Existenz von Vernunft ist ebensowenig wie die Existenz von Einzeldingen oder von rationalen Wesen wie uns auf einen Begriff zurückführbar. Andererseits gehört es zur Geschichte der Vernunft, sich ihre Existenz durchsichtig zu machen, was paradigmatisch in Kants Vernunftkritik durchgeführt worden ist. Dabei entdeckt die Vernunft die Transzendenz des Geistes über seine Existenz, was die Aussicht auf einen absoluten Geist freigibt, der über dem Sein, also in einem klassischen Sinne transzendent ist. Dadurch steht Schellings Spätphilosophie in Konkurrenz zur anderen großen Philosophie des Absoluten, derjenigen Hegels, die das Unendliche oder Absolute als dasjenige versteht, das keine Grenze mehr nach außen hat, sondern sich in sich selbst differenziert, um sich dadurch zu bewähren und so gleichsam in sich selbst zurückzulaufen.2

2

Hegel vergleicht die „wahrhafte Unendlichkeit" mit einem „Kreis" bzw. einem „Kreis von Kreisen". Vgl. Werke in zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe. Hg. von E. Moldenhauer und K.M. Michel. Frankfurt: 1970ff. [Hegels Werke werden mit Band- und Seitenangabe und der Abkürzung TWA zitiert; die Paragraphen der Enzyklopädie und der Grundlinien der Philosophie des Rechts werden mit den Abkürzungen Enz bzw. GPR und der entsprechenden Paragraphennummer zitiert]; hier: TWA, 5, 162; 6, 571.

Einleitung

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Schellings Philosophie der Mythologie ist somit ein wichtiges Zeugnis eines spekulativen Denkens, das so weit zu seinen eigenen Grenzen vorstößt, daß die Frage sinnvoll und dringlich ist, ob und inwiefern die Grenzen des Idealismus in Schellings Spätphilosophie nicht letztlich sogar überschritten werden. Während Hegel versucht hatte, jegliche Grenze der Vernunft aufzuheben und das Absolute als sich mit sich selbst vermittelnde Totalität darzustellen, meint der späte Schelling, daß der Einzugsbereich der idealistischen Vernunft selbst noch einmal zu begrenzen sei. Ein solches Projekt, die Grenzen der Vernunft von innen heraus zu ziehen, hatte natürlich bereits Kant vorgeführt, ohne dabei aber die immanente Architektonik der reinen Vernunft durch ein ihr uneinholbar Transzendentes wirklich zu erschüttern. Die Kantische Grenzziehung dient vielmehr dazu, die „Raserei der Vernunft" 3 zu unterbinden, die sich dauernd über ihre eigenen Grenzen hinausschwingt, um positiv über dasjenige zu urteilen, was ihr prinzipiell niemals verfügbar gemacht werden kann. Schelling hingegen zieht mit Hilfe der Vernunft eine Grenze zwischen der Vernunft und ihrem eigenen Sein, indem er darauf besteht, daß das Dasein oder die Faktizität der Vernunft selbst nicht mehr aus ihren eigenen Reserven zu begründen ist.4 Die Vernunft ist ihm zufolge daher fundamental auf ein Anderes angewiesen, das sich in ihr gleichwohl unablässig Raum schafft, um sich zu zeigen und den Blick auf etwas freizugeben, was (noch) nicht gänzlich in der Selbstbeziehung einer absoluten, spekulativen Subjektivität aufgeht. Dadurch weist sein Denken in allen Phasen gewisse Parallelen zur Tradition der von Piaton inaugurierten negativen Theologie auf? 3

4

5

„Schwärmerei" ist nach Kant „ein Wahn [...], über alle Grenze der Sinnlichkeit hinaus etwas sehen, d.i. nach Grundsätzen träumen (mit Vernunft rasen) zu wollen" (KU, Β 125). Vgl. SW, XIV, 354, wo es heißt, daß „Daseyn" in seiner eigentlichen Bedeutung nichts anderes als die Faktizität oder das nackte Daß bezeichne. [Schelling wird, wenn nicht anders angegeben, nach der Ausgabe des Sohnes zitiert: Sämmtliche Werke. Hg. v. K.F.A. Schelling, Bde. I-XIV (urspr. in zwei Abteilungen erschienen: I. Abt., Bd. 1-10 und II. Abt., Bd. 1-4), Stuttgart: 1856-1861], Vgl. Beierwaltes, W.: Piatonismus und Idealismus. Frankfurt/Main: 1972 [zit: Piatonismus und Idealismus], S. 100-144; ders.: Absolute Identität. Neuplatonische Implikationen in Schellings »Bruno«. In: Ders: Identität und Differenz. Frankfurt/Main: 1980, S. 204-240; ders.: Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen. Frankfurt/Main: 2001 [zit.: Das wahre Selbst], S. 182227; ders.: The Legacy of Neoplatonism in F. W.J. Schelling's Thought. In: International Journal of Philosophical Studies 10 (2002). S. 393-428; Düsing, Κ..: Vernunfteinheit und unvordenkliches Daßsein. Konzeptionen der Überwindung nega-

4

Einleitung

War es seit Schellings Anfangen die grundlose Freiheit der Selbstsetzung, die dieser uneinholbar vorhergeht, so kommt der späte Schelling auf ein weiteres altes Thema zurück, das ihn seit seinem frühen Aufsatz Über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt von 1793 umgetrieben hatte. Denn im Mythos sieht er nun eine Bewußtseinsgestalt, durch welche die Angewiesenheit der Vernunft auf ein ihr uneinholbar Vorgängiges bestens dokumentiert wird. Das fuhrt ihn freilich nicht dazu, den Anspruch, ein Ganzes von Mythos und Logos zu denken, einfach zu verabschieden. Insofern bleibt Schelling dem idealistischen Denken des Ganzen durchweg verpflichtet, wenn man in seinen Texten auch wirkliche Antizipationen des postmodernen Refrains finden kann, daß das ganz Andere in seiner Beziehung auf die Vernunft nicht aufgeht. Schellings Philosophie der Mythologie ist also ein Text, an dem sich die Möglichkeiten einer spekulativen Mythosphilosophie ablesen lassen, der überdies denjenigen Vorteil gegenüber der anderen großen spekulativen Religionsphilosophie, nämlich derjenigen Hegels, aufWeist, daß die Heterogenität des mythologischen Bewußtseins und nicht seine obgleich defiziente Realisierung der Struktur der Vernunft ins Zentrum rückt. Im Unterschied zu genuin modernen Versuchen, das Problem des Mythos zu traktieren, wie LeviStrauss' strukturalistischer Mythologica, den Interpretationen der Psychoanalyse sowie auch Blumenbergs Ansatz in Arbeit am Mythos,6 versucht Schelling eine Noologie und Ontologie zu entwerfen, die es erlaubt, ein mythologisches Bewußtsein überhaupt zu denken, ohne vorgängig darüber entschieden zu haben, was Sein und Be-

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tiver Theologie bei Schelling und Hegel. In: Gloy, K./Schmidig, D. (Hgg.): Einheitskonzepte in der idealistischen und in der gegenwärtigen Philosophie. Bern/Frankfort-Main/New York/Paris: 1987, S. 109-136 [zit.: Vernunfteinheit und unvordenkliches Daßsein]; Halfwassen, J.: Freiheit als Transzendenz bei Schelling und Plotin. In: Mojsisch B./Summerell O. F. (Hgg.): Piatonismus im Idealismus. Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philosophie. München/Leipzig: 2003, S. 175-193 [zit.: Freiheit als Transzendenz]. Levi-Strauss, C.: Mythologica. Frankfurt/Main: 1990; Blumenberg, H.: Arbeit am Mythos. Frankfurt/Main: 6 2001. Bekannt ist Freuds Interpretation des OdipusMythos. Mit Jungs Archetypen-Lehre hat sich in der Folge eine weitere Perspektive auf den Mythos verknüpft. Vgl. v.a. Jung, C. G./Kerenyi, K.: Einführung in das Wesen der Mythologie. Gotteskindmythos. Eleusinische Mysterien. Amsterdam/Leipzig: 1941. Lothar Knatz profiliert Schelling vor dem Hintergrund neuerer Mythos-Philosophien: Geschichte - Kunst - Mythos. Schellings Philosophie und die Perspektive einer philosophischen Mythostheorie. Würzburg: 1999 [zit.: Geschichte — Kunst — Mythos].

Einleitung

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wußtsein überzeitlich bedeuten. Das erlaubt ihm auch, eine einzigartige Verknüpfung von Seins- und Bewußtseinsgeschichte vorzuschlagen, zu deren Verständnis und Einschätzung die folgende Arbeit beitragen will. Schelling bleibt somit dem spekulativen Grundlegungsprojekt und seinen methodologischen Ansprüchen insofern treu, als er nicht intentione recta auf den Mythos zudenkt, sondern vorab eine Verständigung darüber anstrebt, was ein noch nicht in den Logos übergegangenes Bewußtsein überhaupt sein kann. Neu im Unterschied vor allem zur neuplatonischen Mythosdeutung ist Schellings Insistieren darauf, daß der Mythos keine defiziente Form der Metaphysik, also keine Protometaphysik ist, die sich nur nicht selbst versteht, sondern eine Bewußtseinsform sui generis. Daher stellt sich für Schelling das Problem eines Übergangs „vom Mythos zum Logos" in einer völlig neuen Weise gegenüber der Tradition: Wenn Mythologie eine Bewußtseinsform sui generis ist, wie können wir sie dann überhaupt verstehen? Und gesetzt den Fall, es gelingt uns, den Mythos zu verstehen, ohne ihn in das Prokrustesbett des Logos zu zwingen, wie kommt es eigentlich zur Geburt des Logos aus dem Mythos? Doch damit nicht genug, stellt Schelling mit seiner Spätphilosophie auch die Frage nach dem Wesen des Menschen neu und ist dahin unterwegs, das alte Paradigma des Menschen als animal rationale in Frage zu stellen und teilweise zu überwinden, womit er Heideggers Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) in vielem antizipiert hat. Denn Schelling sieht deutlich, daß die alte Frage, was der Mensch ist (τ/ εστίν 'άνθρωπος) durch die Frage, wer er ist, ersetzt werden muß.8 Entsprechend rückt der Begriff der Personalität in

7 8

Vgl. Piaton: Gr. Alk. 129e9. Vgl, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt: 1989 [zit.: Beiträge], S. 245; vgl. auch Einführung in die Metaphysik Tübingen: 6 1998, S. 107. Im Anschluß an den späten Heidegger hat Karl-Heinz Volkmann-Schluck in Mythos und Logos. Interpretationen zu Schellings Philosophie der Mythologie (Berlin: 1969 [zit.: Mythos und Logos]) in Schellings Philosophie der Mythologie eine neue Verhältnisbestimmung von Sein und Mensch erkannt, die wichtige Parallelen zum späten Heidegger aufweise (S. 39£). So habe Schelling das sich in seinem Entbergen selbst verbergende Weltgesetz darin gesehen, daß alles offenbar werden müsse, was Schelling in der Philosophie der Mythologie als „Nemesis" bezeichnet (SW, XII, 145ff.). Darin sieht Volkmann-Schluck eine Parallele zu Heideggers Deutung des Seins als aA^Ss/a im Sinne der Un-verborgenheit (S. 86f., S. 137).

6

Einleitung

Schellings Philosophieren seit der Freiheitsschrift ins Zentrum.9 Unter „Personalität" bzw. „Person" versteht der späte Schelling ein Bewußtsein, das seiner eigenen Geschichtlichkeit stets eingedenk ist, ohne daß Schelling selbst dabei dergestalt in einen historischen Relativismus verfallt, daß der Bezug zum Grund des Ganzen ihm gänzlich abhanden kommt. Das gelingt ihm dadurch, daß er das menschliche Bewußtsein als grundsätzlich ontonom konzipiert. Ontonomie bedeutet, daß das Bewußtsein qua Bewußtsein von Etwas Bewußtsein eines Seins ist, das ihm immer schon zuvorgekommen ist. Damit fuhrt Schelling die Faktizität in den Bewußtseinsbegriff ein und wird, worauf Manfred Frank als erster aufmerksam gemacht hat, zu einem ungewollten Vorläufer von Sartres Ontologie des Bewußtseins.10 Nimmt man nun noch das historische Faktum hinzu, daß der Mensch, soweit wir wissen, zumeist und zunächst eine „thalesische Ontologie" vertreten hat, der zufolge alles voll von Göttern ist (πάντα πληρη 3·εών11), dann gilt es weiterhin zu erklären, warum das Bewußtsein von Sein sich historisch anfanglich als Bewußtsein von Göttlichem artikuliert. Mit Schelling kann man die Frage auch so fassen: Warum erscheint die Ontonomie des Bewußtseins zumeist und zunächst als seine Theonomie? Um ein zureichendes Fundament zur Beantwortung dieser Frage zu schaffen, wendet sich der späte Schelling dem faktischen Verlauf der Geschichte der Mythologien zu. Die folgende Arbeit soll dazu dienen, den Ansatz von Schellings Spätphilosophie am Leitfaden der Frage zu erhellen, ob und wie man mit Schelling Sein, Mensch und Bewußtsein begründetermaßen in ein geschichtlich dynamisches Verhältnis zueinander setzen kann. Dabei soll gezeigt werden, daß Schellings Philosophie der Mythologie entsprechend als Verquickung dreier Ansätze, eines ontotheologischen, eines anthropologischen und eines selbstbewußtseinsgeschichtlichen gelesen werden kann. Dies erlaubt auch, 9

Vgl. Zantwijk, T.: Pan-Personalismus. Schellings transzendentale Hermeneutik der menschlichen Freiheit. Stuttgart-Bad Cannstatt: 2000 [zit.: Pan-Personalismus]; Buchheim, Th./Hermanni, F. (Hgg.): »Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde«. Schellings Philosophie der Personalität. Berlin: 2004 [zit.: Schellings Philosophie der Personalität], 10 Frank, M.: Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Manschen Dialektik Frankfurt/Main: 1975 [zit.: Mangel an Sein], S. 109-112; ders.: Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung. Frankfurt/Main: 2002 [zit.: Selbstgefühl], S. 234-243. 11 Vgl. Aristoteles: De an. 41 la8: Θαλής ώήΒη πάντα πληρη ΰεών shot.

Einleitung

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ein neues Licht auf Heideggers Bestimmung des Seins als Ereignis zu werfen, der Schelling in gewissem Maße vorgearbeitet hat. Schelling wird also gewissermaßen in zwei Richtungen gelesen werden müssen: Einerseits im Hinblick auf seine Verortung im Diskurs des spekulativen Idealismus und andererseits im Hinblick auf seine Bedeutung für die Frage, ob der spekulative Idealismus das Problem eines (möglicherweise sogar ganz) Anderen der Vernunft ohne allzu große Einbußen auf der einen oder anderen Seite der Grenze meistern kann. Bevor eine Beantwortung der gestellten, philosophisch weitreichenden Fragen zureichend angestrebt werden kann, muß natürlich den teilweise geradezu hermetischen Texten der Philosophie der Mythologie ein möglichst kohärentes Gesamtbild abgerungen werden. Die folgende Arbeit versteht sich daher als ein Versuch zu zeigen, daß Schellings Philosophie der Mythologie nicht nur ein durchaus systematisch respektables Projekt ausführt, sondern daß dieses eine Verquickung von Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte darstellt, in der sich idealistische Motive und der Verdacht eines Scheiterns eines idealistischen Denkens der Totalität auf eine einmalige Weise kreuzen. Schelling steht also auf halbem Wege zwischen der „Vollendung des Idealismus" (Walter Schulz) und seiner „Selbstbescheidung" (Thomas Buchheim12) bzw. „Aufhebung" (Michael Theunissen13). Für jede dieser Thesen lassen sich gute Gründe anführen, so daß es naheliegt, weder einseitig für die eine noch für die andere Option zu votieren. Denn Schelling ist in jedem Sinne des Wortes ein Grenzgänger.

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Buchheim, Th.: Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie. Hamburg: 1992 [zit.: Eins von Allem}. Theunissen, M.: Die Aufhebung des Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. In: Philosophisches Jahrbuch 83 (1976), S. 1-29. Vgl. ders.: Die Idealismuskritik in Schellings Theorie der negativen Philosophie. In: Henrich, D. (Hg.): Ist systematische Philosophie möglich? Akten des Stuttgarter Hegel-Kongreß 1975. Bonn: 1977 [zit.: Idealismuskritik], S. 173-191.

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Einleitung

§/. Ein einleitender Abriß der Forschungsgeschichte zum späten Schelling Schellings Spätphilosophie ist seit jeher Gegenstand unzähliger Kontroversen gewesen. 4 Als ein eigenständiges und systematisch gehaltvolles Projekt, das vielleicht sogar einen legitimen Anspruch darauf erheben kann, die „Vollendung des deutschen Idealismus" zu sein, ist sie eigentlich erst seit der Heidelberger Habilitationsschrift von Walter Schulz anerkannt worden. Während der reife Hegel ein enzyklopädisches System vorgelegt hatte, dem sich das Ganze des Seienden als dialektische Selbstvermittlung der absoluten Idee oder in einem Wort: die Substanz als Subjekt darstellte, schien der längst totgesagte Schelling vielen seiner Zeitgenossen hinter Hegels Ansatz im Namen einer reaktionären christlichen Philosophie oder gar Theosophie zurückgefallen zu sein.15 Gleichwohl entfaltete Schelling nach seiner vielbesprochenen akademischen Wiederauferstehung in Berlin eine mächtige, teilweise eher untergründige Wirkung, die mit Kierkegaard beginnt (dessen Nachschriften der Philosophie der Offenbarung eines der wichtigsten Zeugnisse des späten Berliner Auftritts Schellings sind16) und der sich wesentliche Grundzüge dessen verdanken, was man als „anthropologische Wende" im neunzehnten Jahrhundert bezeichnen kann.17 Den Einfluß des späten Schellings auf die Linkshegelianer, v.a. Feuerbach, Marx und Engels, haben Jürgen Habermas und Manfred Frank eindrücklich dokumentiert und ihre sachlichen Ansprüche und Konsequenzen evaluiert, während Horst Fuhrmans die seit Walter Schulz zumindest aus der Perspektive Schellings nur noch cum grano salis zu vertretende 14

Zum folgenden vgl. a. Verf.: Sein, Mensch und Bewußtsein. Tendenzen der neueren Schellingforschung. In: Philosophische Rundschau 52/4 (2005), S. 271-301. 15 Vgl. die Zusammenstellung der Zeugnisse in: Schelling, F.W.J.: Philosophie der Offenbarung 1841/42. Hg. und eingel. von Manfred Frank. Frankfurt/Main: 3 1993 [zit.: Paulus], S. 329-581; Tilliette, X. (Hg.): Schelling im Spiegel seiner Zeitgenossen. Torino: 1974, S. 435-510. 16 Eine Übersetzung der Nachschrift (von Eva Sehlechta-Nordentoft) wurde zuerst abgedruckt in Koktanek, A. M.: Schellings Seinslehre und Kierkegaard. München 1962 [zit.: Schellings Seinslehre], S. 98-172. S.a. Paulus. S. 391-467. 17 Vgl. Koktanek: Schellings Seinslehre·, Feher, I. M./Jacobs, W. G. (Hgg.): Zeit und Freiheit. Schelling - Schopenhauer - Kierkegaard - Heidegger. Budapest: 1999 [zit.: Zeit und Freiheit]·, Hennigfeld, J./Stewart, J. (Hgg.): Kierkegaard und Schelling. Freiheit, Angst und Wirklichkeit. Berlin/New York: 2003 [zit.: Kierkegaard und Schelling],

§1. Ein einleitender Abriß der Forschungsgeschichte

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Parallele zwischen Schelling und den sogenannten Spätidealisten, Imanuel Hermann Fichte (J.G. Fichtes Sohn) und Christian Hermann Weiße, herausgearbeitet hat.18 Dabei sieht man, daß Schellings späte Hegelkritik im neunzehnten Jahrhundert ein wichtiges Ferment sowohl für den dialektischen Materialismus als auch für den Spätidealismus darstellte. Zwar kann man bei Schopenhauer und Nietzsche von keinem direkten Einfluß des späten Schelling sprechen, doch ist naturgemäß immer wieder bemerkt worden, wie viel Schopenhauers Willensmetaphysik Schelling im allgemeinen und insbesondere der Freiheitsschrift verdankt, die Schopenhauer deutlich und zugestandenermaßen rezipiert hat.19 In der Folge hat dann am Ende des neuzehnten Jahrhunderts Eduard von Hartmann in Schellings Spätphilosophie gar eine Synthese von Hegel und Schopenhauer sehen wollen, die für seine eigene Philosophie des Unbewußten von tragender Bedeutung ist.20 Entsprechend hat der späte Schelling auch die Psychoanalyse sowohl indirekt als auch direkt beeinflußt und wird von Freud selbst in seinem Aufsatz über Das Unheimliche mit seiner Definition des Unheimlichen aus der Philosophie der Mythologie zitiert, der zufolge „unheimlich" alles dasjenige genannt wird, „was im Geheimniß, im Verborgnen, in der Latenz bleiben sollte und hervorgetreten ist"21. Man wird schwerlich bestreiten können, daß auch in Schellings Begriff eines grundlos anfangenden Willens, den er insbesondere in 18

Habermas, J.: Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken. Diss, masch. Bonn: 1954 [zit.: Das Absolute]; Frank: Mangel an Sein; ders.: Einleitung in Paulus; Fuhrmans, H.: Schellings letzte Philosophie. Die negative und positive Philosophie im Einsatz des Spätidealismus. Berlin 1940; vgl. ders.: Der Ausgangspunkt der Schellingschen Spätphilosophie. In: Kant-Studien 48 (1956/57), S. 302-323. Zur Schellingrezeption der Spätidealisten vgl. neuerdings Schneider, Α.: Personalität und Wirklichkeit. Nachidealistische Schellingrezeption bei Immanuel Hermann Fichte und Christian Hermann Weiße. Würzburg: 2001. 19 Einen historischen Überblick sowie eine Rekonstruktion der sachlichen Parallelen von Schelling und Schopenhauer findet sich in Berg, R.J.: Objektiver Idealismus und Voluntarismus in der Metaphysik Schellings und Schopenhauers. Würzburg: 2003. Zu Nietzsche und Schelling vgl. Wilson, J.E.: Schelling und Nietzsche. Zur Auslegung der frühen Werke Friedrich Nietzsches. Berlin/New York: 1996. 20 Vgl. Hartmann, E. von: Schellings positive Philosophie als Einheit von Hegel und Schopenhauer. Berlin: 1869; ders.: Schellings philosophisches System. Leipzig: 1897; ders.: Philosophie des Unbewussten. Berlin: 1869. 21 SW, XII, 649. Vgl. Freud, S.: Das Unheimliche. In: Ders.: Studienausgabe in zehn Bänden. Frankfiirt/Main: 2000, Bd. IV, S. 243-274.

10

Einleitung

der Freiheitsschrift entwickelt, Motive einer philosophischen Theorie des Irrationalen angelegt sind.22 Ja, in den Stuttgarter Privatvorlesungen und später in den Weltaltern geht Schelling gar soweit, den Wahnsinn selbst zur Wurzel des Verstandes und letztlich aller prinzipiell instabilen Ordnungen zu erklären. „Die Basis des Verstandes selbst also ist der Wahnsinn. Daher der Wahnsinn ein nothwendiges, das aber nur nicht zum Vorschein kommen, nur nicht aktualisirt werden soll. Was wir Verstand nennen, ist eigentlich nichts als geregelter Wahnsinn."23 Dadurch koppelt Schelling letztlich den Willen vom Verstand ab und erklärt jenen zu des Verstandes immer nur im Nachhinein und daher niemals vollständig einzuholenden dunklen Rest 24 Neuerdings hat Slavoj Zizek Schelling entdeckt und mit Lacan versucht, in Schellings Lehre vom niemals zu tilgenden Restbestand an Nichtwissen einen Vorläufer der postmodernen Geste der Überwindung des Idealismus durch das Denken eines ganz Anderen aufzuspüren. 5 Im zwanzigsten Jahrhundert kehrt Schelling aber zunächst vor allem bei Philosophen wieder, die man im einen oder anderen Sinne der Existenzphilosophie zurechnen kann. Hervorzuheben sind dabei Jaspers' Schelling-Buch Schelling. Größe und Verhängnis sowie natürlich Heideggers Vorlesungen über die Freiheitsschrift von 1809, Paul Tillichs Schelling-Arbeiten, aber auch Jankelevitchs Dissertation über den späten Schelling 26 Seit 1955 gleich drei wichtige 22

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Vgl. SW, VII, 350: „Wollen ist Urseyn, und auf dieses allein passen alle Prädicate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden." Vgl. a. SW, XI, 388. SW, VII, 470. Vgl. SW, VIII, 338, wo Schelling erklärt, daß der Wahnsinn „noch jetzt das Innerste aller Dinge" sei. S. SW, VII, 433f. The Indivisible Remainder. An Essay on Schelling and Related Matters. London/New York: 1996 [zit: Indivisible Remainder]; vgl. ders.: Die Monstrosität des Menschen (Schelling, Heidegger, Lacan). In: Jantzen, J./Oesterreich, P.L. (Hgg.): Schellings philosophische Anthropologie. Stuttgart-Bad Cannstatt: 2002 [zit.: Schellings philosophische Anthropologie], S. 75-109. Derrida hat einmal angemerkt, daß Schelling in der Darstellung des philosophischen Empirismus bereits sehr weit in die richtige Richtung der „alterite de l'etre" gegangen sei, als er den Empirismus des Seins gegen die immanente Idealität des Logos namhaft gemacht habe (/, 'ecriture et la differance. Paris: 1967, S. 225f.). Leider hat sich Derrida an keiner mir bekannten Stelle ausführlicher zu Schelling geäußert. Jaspers, K.: Schelling. Größe und Verhängnis. München: 1955 [zit.: Schelling]; Heidegger, M.: Schellings Abhandlung »Über das Wesen der menschlichen Frei-

§ 1. Ein einleitender Abriß der Forschungsgeschichte

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Bücher über Schellings Spätphilosophie erschienen, die Habilitationsschrift von Walter Schulz, Jaspers' Schelling-Buch sowie Habermas' Dissertation, hat die Schelling-Forschung der Spätphilosophie und ihren entwicklungsgeschichtlichen Vorstufen, dem Weltα/ter-Projekt und den Erlanger Initio philosophiae universae, ein besonderes Augenmerk gewidmet.27 Für eine existenzialistische Interpretation der Spätphilosophie spricht insbesondere Schellings These von der Faktizität aller Selbstverhältnisse, die nicht nur einen erklärten Pessimismus nach sich zieht, der die unaufhebbare Endlichkeit des Menschen beklagt und dazu auffordert, das Sein selbst personal zu denken.28 Dafür spricht nämlich auch die von Schelling vertretene Primordialität der Existenz vor der Essenz 29 Dagegen steht allerdings, daß Schelling das Sein des Menschen letztlich ontotheologisch denkt, weil er den Menschen idealistisch aus der Bewegung des Zu-sich-Kommens des Seins des Ganzen versteht, so zwar, daß es nicht die Idee ist, die zu sich kommt, sondern das unvordenkliche Sein oder die Faktizität des Ganzen, die sich in der Form des Bewußtseins selbst erkennt. Seit Horst Fuhrmans Schellings Spätphilosophie als erster auch mit einem philologischen Blick auf die Entwicklungsgeschichte der Spätphilosophie untersucht hatte, wurde insbesondere diskutiert, ob

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heil (1809)«. Tübingen: 2 1995; Tillich, P.: Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien. Breslau: 1910 [zit.: Religionsgeschichtliche Konstruktion]; ders.: Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung. Gütersloh: 1912; ders.: Schelling und die Anfänge des Existentialistischen Protestes. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 9 (1955), S. 197-208; Jankelevitch, V.: L'odyssee de la conscience dans la dernierephilosophie de Schelling. Paris: 1932 [zit.: Odyssee de la conscience]. Vgl. folgende wichtige Editionen: Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813. Hg. vonM. Schröter. München: 1946; Initiaphilosophiae universae. Erlanger Vorlesung WS 1820/21. Hg. und komm, von H. Fuhrmans. Bonn: 1969 [zit.: Initia]; F. W.J. Schelling. System der Weltalter. Münchener Vorlesung 1827/28 in einer Nachschrift von Ernst von Lasaulx. Hg. und eingel. von S. Peetz, Frankfurt/Main: 1990 [zit.: SdW]; Grundlegung der positiven Philosophie. Münchener Vorlesung WS 1832/33 und SS 1833. Hg. und komm, von H. Fuhrmans. Turin: 1972 [zit.: Grundlegung]; Urfassung der Philosophie der Offenbarung. Hg. v. W.E. Ehrhardt, 2 Teilbd., Hamburg: 1992 [zit.: UPO], Dieser Zusammenhang wird ausführlich in § 15 dieser Arbeit dargestellt. Schelling erklärt unmißverständlich, daß „das Sein dem Wesen zuvorkommt" (Paulus. S. 174), worin Manfred Frank zu Recht eine Parallele zu Sartre („l'existence precede l'essence") erkennt (Paulus. S. 66f.). Vgl. a. SW, XIV, 341: „das Seyn geht voraus, die Möglichkeit kommt erst nach dem Seyn".

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Einleitung

Schellings Unterscheidung einer negativen, reinrationalen von einer positiven Philosophie als ein Versuch gelesen werden müsse, das Projekt des Deutschen Idealismus (worin auch immer dieses näherhin bestehen mag) zu vollenden, oder ob Schelling mit dieser Unterscheidung letztlich beabsichtige, sich vom Idealismus zugunsten einer anderen philosophischen Grundsatzentscheidung zu verabschieden. Paradigmatisch für diese Debatte ist sicherlich die Auseinandersetzung zwischen Horst Fuhrmans und Walter Schulz.30 Während der eine in Schellings Spätphilosophie im wesentlichen ein ontotheologisches Projekt sieht, erkennt der andere in Schellings scheinbarer Rückkehr zur vorkritischen Ontologie einen Versuch, den Idealismus erst dadurch endgültig durchzuführen, daß auch noch das Andere der Vernunft in diese eingeholt werden solle. Anstatt ihr Anderes in ihrer Selbstvermittlung aufzuheben, stelle Schelling im Unterschied zu Hegel die spekulative Vernunft als in ihren Selbstvollzug eingesetzt dar. Insofern liege Schellings Spätphilosophie die Denkfigur einer „vermittelten Selbstvermittlung"3 zugrunde. Schulz erkennt in der damit einhergehenden Grenzziehung der Vernunft die „Vollendung des deutschen Idealismus", indem die Vernunft erst dann als das Absolute erscheinen könne, wenn sie als Zu-sichKommen eines formlosen Inhalts, des unvordenklichen Seins, dargestellt werden könne.32 Darin kann man den waghalsigen (und schon von Schopenhauer angestrebten) Versuch sehen zu erklären, warum das Ding an sich {alias formloser Inhalt) sich als Erscheinung darstellt bzw. objektiviert. Absolut ist die Vernunft demnach erst in der Anerkennung eines ihr gegenüber transzendenten Seins, dessen fortschreitende Aneignung ihre eigene Geschichte ist. Daher sieht Schulz in Schellings 30

Eine ausführliche Darstellung dieser klassischen Positionen der Schellingforschung findet sich bei Axel Hutter: Geschichtliche Vernunft. Die Weiterfiihrung der Kantischen Vernunftkritik in der Spätphilosophie Schellings. Frankfurt/Main: 1996 [zit.: Geschichtliche Vernunft], S. 14-40. Die wichtigste Arbeit von Horst Fuhrmans ist sein Buch von 1940: Schellings letzte Philosophie. Die negative und positive Philosophie im Einsatz des Spätidealismus. Berlin 1940; vgl. ders.: Der Ausgangspunkt der Schellingschen Spätphilosophie. In: Kant-Studien 48 (1956/57), S. 302-323. Walter Schulz' Position ist niedergelegt in seiner bahnbrechenden Heidelberger Habilitationsschrift: Die Vollendung des deutschen Idealismus. 31 Die Vollendung des deutschen Idealismus. S. 279. 32 Ebd., S. 81.

§ 1. Ein einleitender Abriß der Forschungsgeschichte

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Spätphilosophie eine radikalisierte Einsicht in das „eigentliche Wesen des Denkens"33, nicht aber das Eingeständnis eines Scheiterns des Modells einer spekulativen, auf das Ganze gehenden Vernunft. Fuhrmans hingegen deutet die Spätphilosophie Schellings als eine Darstellung von „Sein im Weg seiner wesentlichen Geschichte"34. Was Schelling vorschwebe, sei der Nachvollzug einer Seinsgeschichte, in der die Vernunft nur eine untergeordnete Rolle spiele. Bestenfalls sehe sie nämlich nur dasjenige ein, was sich unabhängig von ihr immer schon vollzogen hat, ohne deswegen ursprünglich auf sie bezogen zu sein. Schellings Interesse liege primär darin, eine Theorie des Absoluten und seiner weltsetzenden Aktivität, d.h. eine philosophische Theorie der Schöpfung zu liefern. Das rücke ihn in die Nähe zu den Spätidealisten und führe ihn dazu, einen persönlichen Gottesbegriff zu entwerfen. Um seine These zu erhärten, beruft sich Fuhrmans dabei stets darauf, daß der positiven Philosophie ein eindeutiger Primat vor der negativen einzuräumen sei, was sich an der Genese der Spätphilosophie in München ablesen lasse. Gemeinsam ist beiden Ansätzen freilich die Anerkennung eines ontotheologischen Ansatzes von Schellings Spätphilosophie, dessen Bedeutung jeweils verschieden eingeschätzt wird. Während die idealistische Option von Walter Schulz die Ontotheologie in den Kontext des Problems der Selbstvermittlung der spekulativen Vernunft einordnet, ordnet Fuhrmans umgekehrt die Vernunft dem ontotheologischen Fragekomplex unter. Für den einen ist die Frage nach dem Sein und ihr Zusammenhang mit der Frage nach dem Absoluten somit das Resultat der Selbstzuwendung der Vernunft, die sich im letzten Akt ihrer Selbsterkenntnis auf ein anderes verwiesen sieht (negative Philosophie), das sie in einem zweiten Akt wiederum in die Geschichte ihrer Selbstkonstitution einbezieht (positive Philosophie). Für den anderen liegt der negativen Philosophie von Anfang an ein ontotheologischer Ansatz zugrunde, der in der positiven Philosophie dann zu Tage tritt. Die negative Philosophie dient in dieser Optik lediglich der Begründung der Ontotheologie. Xavier Tilliette wendet gegen Schulz' Interpretation des Verhältnisses von negativer und positiver Philosophie zu Recht ein, daß der Übergang von der einen in die andere in der zweiundzwanzigsten bis vierundzwanzigsten Vorlesung der Philosophischen Einleite 34

Ebd., S. 84. Vgl. die Einleitung in seine Edition von Schellings Münchener Vorlesungen von 1832/33: Grundlegung. S. 47.

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tung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie35 eindeutig nicht als Hegeische „Negation der Negation"36, sondern vielmehr als der Versuch verstanden werden müsse, einem praktischen Bedürfnis der Vernunft nach einer Philosophie Rechnung zu tragen, deren Resultat nicht die Einsicht in ein unpersönliches Absolutes ä la Spinoza, sondern ein geschichtlich sich realisierendes Selbstverhältnis ist, das Schelling mit dem Gott der christlichen Offenbarung in Verbindung bringt.3 Dabei verbindet er gleichsam Fuhrmans' und Schulz' Ansatz, indem er die gesamte Denkentwicklung Schellings berücksichtigt, ohne dabei hinter Schulz zurückzufallen, der gezeigt hat, wie wichtig es ist, Schelling im Kontext des spekulativen Idealismus zu sehen, zu dessen großen Begründern er bekanntlich selbst gehört. Einen ähnlichen Ansatz findet man bei den beiden katholischen Theologen Walter Kasper und Klaus Hemmerle, die Schulz wegen 35 Von nun an zit. als: Philosophische Einleitung. 36 Die Vollendung des deutschen Idealismus. S. 69. 37 Vgl. sein opus magnum: Scltelling. Une philosophie en devenir. 2 Bd. Paris: 1970 [zit.: Une philosophie en devenir], v.a. Bd. 2, S. 297-339; ders.: Deux philosophie en une. In: Ders.: L'absolu et la philosophie. Essais sur Schelling. Paris: 1987, S. 182-199. Schulz' These vom Primat der negativen Philosophie beruht u.a. auf einer nicht ganz textgetreuen Interpretation des Begriffes der Ekstase der Vernunft, wie im Gefolge Tilliettes Jean-Fran^ois Courtine und Marie-Christine Challiol-Gillet ausfuhrlich gezeigt haben. Vgl. Courtine, J.-F.: Extase de la Raison. Essais sur Schelling. Paris: 1990 [zit.: Extase de la raison]; Challiol-Gillet, M.-C.: Schelling, une philosophie de l'extase. Paris: 1998 [zit.: Une philosophie de l'extase]. Während Schulz nämlich am Ende der negativen Philosophie eine Ekstase im Sinne eines Überstiegs in die Transzendenz sieht, meint Schelling mit Ekstase der Vernunft vielmehr deren Außer-sich-sein im Sinne einer Entfremdung und Regungslosigkeit angesichts des Umstandes, daß das Sein selbst nicht mehr denkend begründet werden kann, und daher un-vor-denklich im Wortsinne ist. Die Ekstase ist folglich kein positiver Überstieg, sondern Anlaß dafür, eine neue Bewegung einzuleiten, die das Sein selbst im Prozeß seiner Verselbstung darstellt. Vor Courtine und Challiol-Gillet haben dies bereits Jean-Franfois Marquet und Luigi Pareyson unterstrichen. Vgl. Marquet, J.-F.: Liberte et existence. Etude sur la formation de la philosophie de Schelling. Paris: 1973, S. 544-570; Pareyson, L.: Lo stupore della ragione in Schelling. In: Ders.: Romanticismo, Esistenzialismo, Ontologie delta libertä. Milano: 1979, S. 137-180. Genau diesen Schwachpunkt der Interpretation von Schulz kritisiert auch Walter Kasper: Das Absolute in der Geschichte. Philosophie und Theologie der Geschichte in der Spätphilosophie Schellings. Mainz: 1965 [zit.: Das Absolute in der Geschichte.], S. 136-141. Besonders deutlich ist übrigens eine Stelle der Paulus-Nachschrift der Philosophie der Offenbarung, wo Schelling die Vernunft als ekstatisch angesichts des unvordenklichen Seins bestimmt: Paulus. S. 157.

§ 1. Ein einleitender Abriß der Forschungsgeschichte

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seiner Verkürzung existenzialistischer und ästhetischer Motive beim späten Schelling kritisieren und ihrerseits darauf bestehen, daß der Ubergang in die positive Philosophie praktisch und nicht theoretisch vollzogen wird. Schulz' letztlich offenkundig irrige Ansicht von einem Primat der negativen Philosophie rühre daher, daß „so wie bei H. Fuhrmans die negative bei W. Schulz die positive Philosophie eindeutig zu kurz"39 komme. Daher müsse man den transzendentalen Ansatz von Schulz durch eine Schellingsche „Philosophie der Hoffnung"40 ergänzen. Denn „nicht das Wissen des Wissens ist das Letzte für den Menschen, sondern docta ignorantia im Akte eines sich in die Zukunft hinausstreckenden Glaubens."4' Mit anderen Worten: Die insbesondere der Philosophie der Offenbarung inhärente Eschatologie sei ein Einwand gegen eine idealistische immanente Metaphysik, die kein Außerhalb der Totalität zu denken erlaubt, und kein Indiz für einen (gut kaschierten) letzten Vollendungsakt des spekulativen Idealismus.42 Schelling beerbe Kant insofern, als er nicht ein absolutes Wissen des Wissens, sondern ein Wissen des Nichtwissens anstrebe, das allein Raum für ein absolutes Außerhalb der Welt schafft. Während die Welt für Schelling qua Totalität erkennbar und Gegenstand des Wissens ist, hat die Totalität nicht das letzte Wort in der Erklärung unserer wissenwollenden Ausrichtung 38

Vgl. Hemmerle, K.: Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie. Freiburg/Basel/Wien: 1968 [zit: Gott und das Denken], S. 20-23. Walter Kasper wendet Schellings „Person-sucht-Person"-Theorem m.E. zu sehr ins Theologische, wenn er im Übergang in die positive Philosophie ausschließlich die Suche nach dem (christlichen) Gott der Geschichte am Werk sieht (Das Absolute in der Geschichte. S. 111-124). Zwar beginnt die positive Philosophie mit einer Entscheidung für dasjenige, was über dem Sein ist (SW, XI, 564). Damit ist aber in letzter Instanz der philosophische Anspruch verbunden, die Geschichte als Transformation von Sein in Selbst und damit als Selbstbewußtseinsgeschichte zu deuten. Schellings „Herr des Seyns" steht daher für ein reines oder absolutes Selbst, dessen Realisierung noch aussteht, und ist insofern nur erst ein Name in einem Denken der Zukunft, des Advents. Zwar bedarf es einer Hermeneutik der Offenbarung, um diese Einsicht zu begründen. Diese dient aber letztlich einem philosophischen Anspruch und macht nicht Halt vor der theologischen Autorität.

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Kasper: Das Absolute in der Geschichte. S. 15. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22. Michaela Boenke setzt daher zu Recht Schellings „utopische" Hegels „entelechischer" Denkform entgegen. Vgl. »In den Netzen der Vernunft«. Schellings reinrationale Philosophie. In: Adolphi, R./Jantzen, J. (Hgg.): Das antike Denken in der Philosophie Schellings. Stuttgart-Bad Cannstatt: 2004, S. 99-145 [zit.: Schellings reinrationale Philosophie], hier: S. 99-109.

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auf das Ganze. Die menschliche Erkenntnissuche werde vielmehr von einem untilgbaren Nichtwissen angetrieben, in dem sich ein Außerhalb der Vernunft bekunde, das durch keinen weltlichen (empirischen) Wissensanspruch befriedigt werden könne. Es scheinen somit zwei grundsätzliche Fragen aufgeworfen worden zu sein. Die erste fragt danach, was überhaupt negative und positive Philosophie voneinander unterscheidet, während die zweite fragt, welcher der beiden Philosophien (wenn es denn überhaupt zwei Philosophien sind) ein Primat im Gesamtprojekt der Spätphilosophie Schellings zukommt. Nun äußert sich Schelling an verschiedenen Stellen im nur schwer überschaubaren Gesamtkomplex dessen, was man allgemein als seine „Spätphilosophie" bezeichnet, in sehr verschiedener Weise über das Verhältnis von negativer und positiver Philosophie. Nicht immer auf den ersten Blick erhellend wirken dabei seine ständigen Bezugnahmen sowohl auf die klassische Metaphysik in ihrer platonisch-aristotelischen Gestalt als auch auf die interne Denkentwicklung des Deutschen Idealismus selbst. Zwar verdeutlicht insbesondere seine explizite Hegelkritik viele seiner späten Grundoperationen und -entscheidungen und läßt prima vista in der Tat auf eine Abkehr von der idealistischen Grundüberzeugung der Einheit von Sein und Denken schließen. Gleichwohl bekennt Schelling in einem Atemzuge, daß die Hegeische Philosophie unleugbare Verwandtschaften zur negativen Philosophie aufweise, was Schelling dadurch erklärt, daß er Hegel zum Fortschreiber seiner eigenen Identitätsphilosophie stempelt. Nun ist die negative Philosophie aber aus dem Gesamtprojekt der Spätphilosophie zumindest nicht wegzudenken, selbst wenn man für einen Primat der positiven Philosophie optiert. Außerdem ist die vollständigste Entwicklung der negativen Philosophie, die Philosophische Einleitung, ihrerseits ein Beitrag dazu, die alte Überzeugung von der Einheit von Denken und Sein neu, und d.h. unter Berücksichtung der seinerzeit aktuellen philosophischen Entwicklungen im Ausgang von Kant zu bedenken. Insofern gibt Schelling das Axiom des Idealismus von der Einheit von Denken und Sein nicht auf, sondern bestimmt es lediglich neu, indem er versucht, einen Primat des Seins im dynamischen Gefüge von Sein und Denken so zu begründen, daß das Sein selbst in seiner Einheit mit dem Denken nicht gänzlich aufgeht. Dadurch wird es zum Katalysator der Dialektik und tritt somit an die Stelle des Hegeischen Begriffs: Gerade weil die Vernunft sich noch nicht im Sein selbst wiederfin-

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den kann, begibt sie sich auf die Suche nach sich selbst. Es ist also die Abwesenheit von Vernunft bzw. das untilgbare Nichtwissen, daß die Dialektik der Erkenntnissuche in Gang hält. Das bedeutet offensichtlich nicht, daß Schelling bei der negativen Philosophie stehenbleibt oder ihr eine eindeutige Primordialität vor der positiven einräumt. Ja, es dürfte sogar schwerfallen, ihr auch nur eindeutig den Status eines methodischen Primats zuzuschreiben, wenn Schelling sie auch gelegentlich in Anlehnung an Aristoteles als „erste Philosophie (πρώτη φιλοσοφία;)", die positive hingegen als „zweite Philosophie" bezeichnet.43 Damit meint er nämlich lediglich, daß die negative Philosophie zuerst durchlaufen werden muß, damit die positive überhaupt als Desiderat erscheinen kann. Dies impliziert keineswegs, daß die negative Philosophie als Fundamentalphilosophie ausgelegt werden muß, in der wie in der Hegeischen Logik die grundlegenden dialektischen Operationen vorgeführt werden, die dann in der positiven Philosophie am konkreten religionsgeschichtlichen Material als die Bewegung der Sache selbst wiederkehren. Schließlich beteuert Schelling mehrfach, die positive Philosophie bedürfe der negativen nicht zu ihrer Begründung, sondern könne vielmehr von selbst durch einen Akt des Wollens (nicht des Denkens!) angefangen werden.44 Freilich ist in den letzten Jahrzehnten der Schellingforschung immer wieder der Zusammenhang von negativer und positiver Philosophie diskutiert worden. Im Zuge von Wolfram Hogrebes bahnbrechender Arbeit über die Weltalter, Prädikation und Genesis45, ist dabei zweierlei ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: Erstens hat sich gezeigt, daß Schellings Spätphilosophie und insbesondere die Potenzenlehre in der Gestalt, die sie in der Spätphilosophie annimmt, in wesentlichen Aspekten als eine Prädikationstheorie gelesen werden kann. Das heißt für Hogrebe, daß Schelling die epistemologisch wie metaphysisch gleichermaßen radikale Frage stellt, wie es überhaupt möglich ist, daß wir uns als erkennende Wesen auf eine Welt beziehen, die grundsätzlich prepositional zugänglich ist und die sich folglich (zumindest ceteris 43 44 45

SW, XI, 367. SW, XI, 564; XIII, 93, 153. Hogrebe, W.: Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings »Die Wehalter«. Frankfurt/Main: 1989 [zit.: Prädikation und Genesis].

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paribus) als in sich selbst geordnet und ontologisch stabil erweist. Dabei unterstreicht Hogrebe insbesondere die Bedeutung von Schellings Rezeption der Kantischen Lehre vom transzendentalen Ideal der reinen Vernunft. Denn im transzendentalen Ideal erkennt Schelling die verweltlichte (hypostasierte) Fassung der omnitudo realitatis, d.h. des Ganzen alles dessen, was überhaupt sein kann. Was aber überhaupt sein kann, muß sich von anderem unterscheiden können. Was überhaupt sein kann, ist daher Etwas. Was Etwas ist, unterscheidet sich notwendig von anderem, das es nicht ist. Wo also überhaupt etwas der Fall sein können soll, da muß ein mehr oder weniger entfaltetes Netzwerk von sachhaltigen Begriffen etabliert worden sein. Hogrebe nennt dieses Netzwerk von Propositionen ein „universelles Suchfeld", in dem wir nur dann „assertorisch fündig" werden können, wenn seine Strukturen schon stabil sind.46 So etwas wie Sinn bzw. Bedeutung gibt es nach Hogrebe nur innerhalb des Netzwerkes von Begriffen, d.h. dort, wo ein Subjekt mit einem Prädikat verknüpft werden kann.47 Gegenstand der negativen Philosophie sei demnach die Genesis des transzendentalen Ideals, d.h. der Welt, sofern sie propositional zugänglich ist. Schelling lehne dabei die Kantische Trennung von Transzendentalphilosophie und Ontologie ab, indem er nicht damit rechne, daß wir die Welt allererst ordnen und ihr prädikative Strukturen geben. Aus Kants Trennung ergebe sich das bekannte skeptische Problem einer Trennung von Sein und Denken, die so weit geht, daß man nicht einmal begründetermaßen damit rechnen kann, daß die Welt selbst die Strukturen aufweist, die wir ihr in wahren Urteilen zusprechen. Schelling verteilt die Rollen von Form und Inhalt bzw. von Bestimmbarkeit und Bestimmung demnach nicht an Subjektivität (Form) und reinen Weltstoff, der uns allein als notwendige Annahme zur Erklärung des Gehalts unserer Vorstellungen zugänglich ist. Vielmehr versteht er Subjektivität oder unser Vermögen, Urteile zu fallen und damit festzustellen, welche Strukturen die Welt selbst hat, als eine Folge der prädikativen Struktur der Welt selbst,

46 Prädikation und Genesis. S. 49. 47 Man könnte sich fragen, ob nicht ein ähnlicher Gedanke der klassischen platonisch-aristotelischen Urteilslehre zugrundeliegt, der zufolge ja auch erst die συμπλοκή eidetischer Gehalte wahrheitswertdifferent und insofern informativ, d.h. erkenntniserweiternd, ist. Denn für Piaton konditioniert Ideenverknüpfung Erkennbarkeit.

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die demnach an ihr selbst ein logischer Raum und kein bloßes Aggregat von Dingen ist. Eine starke Stütze für Hogrebes Deutung der Potenzenlehre kann man darin sehen, daß Schelling selbst die ontologischen Prinzipien, die er „Potenzen" nennt, als „Ursubjekt", „Urprädikat" und „Ursynthesis von Subjekt und Prädikat" 8 bezeichnet. Dabei darf man freilich niemals ausblenden, daß Schelling Logik und Ontologie in der negativen Philosophie zusammendenkt. Hogrebe rückt die ontologische Dimension von Schellings Prädikationstheorie ins Zentrum. So deutet er die dritte Potenz als ,jenes ontische Medium [...], in dem Irgendetwas ein So-und-so sein kann, d.h. als die Möglichkeit, daß Irgendetwas und die prädikative Bestimmung zusammen stehen können."49 Das legt er wiederum so aus, daß Schelling mit seiner an Aristoteles geschulten logisch-ontologischen Prädikationstheorie letztlich die ontologische Schwäche der Kantischen Transzendentalphilosophie wettmachen wolle, die sich in dem skeptischen Problem einer Grenze zwischen Ding an sich (Inhalt) und Erscheinung (Form) ausdrückt.50 Das führe Schelling zu der späten distinctio realis von Quidditas und Quodditas und zu der damit verbundenen Frage, warum überhaupt Sinn und nicht vielmehr Unsinn sei.51 Die Etablierung eines prädikativen Milieus sei demnach für Schelling zunächst ein ontologisches Ereignis, das sich in unserer epistemischen Bezugnahme auf eine erkennbare Welt nur spiegelt. Hogrebe fuhrt diesen Gedanken in seiner Interpretation der Weltalter unter Berücksichtigung v.a. der Verknüpfung von Kosmogonie und Prädikation aus, ohne Schellings späte Begründung der Ontologie als Ontotheologie detailliert zu behandeln. Zweitens haben sich aus Hogrebes Deutung der Weltalter wiederum zwei neue Betrachtungsweisen der positiven Philosophie ergeben. Hogrebe hat nämlich einerseits darauf hingewiesen, daß die positive Philosophie den logisch-ontologischen Raum des Sinns transzendiert, indem sie ein absolutes Außerhalb ausfindig macht. 48 49 50 51

SW, XI, 352, Anm. 3. Prädikation und Genesis. S. 73. Ebd., S. 70. Vgl. SW, X, 143f.; Grundlegung. S. 222. Schelling fragt dort ausdrücklich nicht in ontologischer Intention, warum überhaupt Seiendes ist oder nicht, sondern fragt vielmehr: „Warum ist Sinn überhaupt, warum ist nicht Unsinn statt Sinn?" Seine Frage, warum überhaupt etwas ist, muß daher immer als die Frage danach verstanden werden, warum überhaupt Etwas, d.h. erkennbares Seiendes ist, auf das wir uns epistemisch und sprachlich beziehen können.

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Andererseits sei alles Sinngeschehen innerhalb des logisch-ontologischen Raums des Sinns auf das absolute Außerhalb abgestellt, indem dieses das endliche Zustandekommen einer positiven Totalität in Aussicht stelle. Sinn ist für Hogrebe daher gar nicht primär Gegenstand der erkenntnissichernden Anstrengungen der Epistemologie, sondern viemehr dasjenige, was sich unter günstigen Bedingungen einstellt, wenn wir uns auf die Suche nach Erkenntnis begeben.5 Hogrebes Deutung von Schellings Rezeption der Kantischen Lehre vom transzendentalen Ideal liest allerdings zu viel Kant in Schelling hinein. Zwar ist Hogrebe vorbehaltlos zuzustimmen, daß die negative Philosophie eine Suchbewegung ist, die auf das Seiende sensu eminenti, also das Ideal der reinen Vernunft im Sinne Schellings aus ist. Im Unterschied zu Kant ist dies für Schelling aber nicht deshalb so, weil die Vernunft den Verstand in seiner Synthesetätigkeit anleitet, für jedes mögliche Urteilssubjekt jeweils zu bestimmen, ob es X oder ~·Χ ist, wobei für X nacheinander jedes mögliche Prädikat aus der omnitudo realitatis herausgegriffen werden muß, so daß der Verstand niemals zu einem Abschluß kommen kann, wenn er auch gezwungen ist, damit zu rechnen, daß alles durchgängig bestimmt ist. Denn Schelling läßt die Vernunft an ein Ende kommen. Am Ende der negativen Philosophie koinzidiert die Vernunft mit ihrem eigenen Vollzug, was Schelling zu dem Vergleich des „Seyenden" der negativen Philosophie mit der Selbstreferenz des Aristotelischen göttlichen Geistes, der νοήσεως νόησις angeregt hat.53 Schelling wendet Kants Kritik an der Hypostasierung der (regulativen) Idee der Welt zum Ideal somit ins Positive. Zwei neuere Arbeiten knüpfen an jeweils einen Aspekt von Hogrebes Schelling-Interpretation an und beziehen ihre Ergebnisse explizit auf die späte Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie. Thomas Buchheim erkennt ähnlich wie Hogrebe in der negativen Philosophie eine Verbindung von Ontologie und Prädikationstheorie. Im rein Seienden, das die negative Philosophie sucht und 52 Prädikation und Genesis. S. 47-51. Vgl, Hogrebes Grundlegung einer Kunstlehre der Erkenntnissuche, die er als „Mantik" bezeichnet: Metaphysik und Mantik Die Deutungsnatur des Menschen (Systeme orphique de Ιέηα). Frankfurt/Main: 1992 [zit.: Metaphysik und Mantik]. 53 SW, XI, 559, Anm. 1.

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schließlich im transzendentalen Ideal findet, sieht er den Inbegriff der „Sachlichkeit des Sachverhalts"54. Die positive Philosophie hingegen gehe von der Erfahrung aus, daß in jeder bestimmten Bezugnahme auf etwas die Art des Bezuges dasjenige, worauf Bezug genommen wird, verfehlen kann, so daß zwar der Umstand, der begrifflich erfaßt werden soll, immer derselbe bleibe, obwohl niemals ausgeschlossen werden könne, daß unsere Begriffe ihn verfehlen. Während der Inbegriff der Möglichkeiten, den wir erkennend immer voraussetzen, die Denkbarkeit dessen, was uns begegnet, prinzipiell garantiert, folgt daraus jedoch nicht, daß wir in einer bestimmten Anwendung von Begriffen nicht jederzeit fehlschlagen können. Dieses Faktum der Möglichkeit eines alogischen Seins, auf das wir jederzeit stoßen, ohne es vollständig in die Ordnung des Begriffs überführen zu können, sei Gegenstand der positiven Philosophie. Dadurch rücke die Angewiesenheit der Vernunft auf positive Data von Seiten einer außerhalb ihrer liegenden Wirklichkeit so ins Zentrum, daß Schellings späte Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie letztlich zu einer „Selbstbescheidung des Idealismus" führe. Dieser Gedankengang begründet Buchheim zufolge bereits ein zureichendes Verständnis des Begriffs der „Offenbarung" im Sinne von Schellings Philosophie der Offenbarung. Denn er geht davon aus, daß die Aufgabe der positiven Philosophie darin bestehe, „eine begegnende Wirklichkeit in ihrer Beschaffenheit zu diagnostizieren."5 Damit knüpft Buchheim systematisch an Schellings Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie an. Sein interessanter Ansatz blendet allerdings die ausgeführte Philosophie der Mythologie sowie die Philosophie der Offenbarung aus, die das Herzstück der positiven Philosophie bilden. Schelling selbst strebt mit seiner Spätphilosophie eine geschichtliche Philosophie"56 an, die den rein theoretischen Rahmen einer Differenz von Begriff und Wirklichkeit in einer geschichtlichen Auseinandersetzung mit den Dokumenten des religiösen Bewußtseins übersteigt, worauf Buchheim im Rahmen der Verteidigung seines weitreichenden systematischen Ansatzes nicht eigens eingeht.

54 55 56

Eins von Allem. S. 28, Anm. 6. Ebd., S. 17. Vgl. SdW. S. 10-14, wo Schelling der rein „logischen" Philosophie der Notwendigkeit ä la Spinoza seine eigene „geschichtliche Philosophie" entgegensetzt.

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Daniel Sollberger greift in seinem Buch Metaphysik und Invention explizit Hogrebes Ansatz beim Problem der Erkenntnissuche auf und versucht, negative und positive Philosophie als zwei verschiedene Suchbewegungen zu beschreiben, in denen Wirklichkeit jeweils verschieden begegnet. In Anlehnung an Hogrebes Ansatz erkennt er in der positiven Philosophie einen fortwährenden Beweis der „Intelligibility der Wirklichkeit"37. Die Frage, warum überhaupt etwas (Erkennbares) ist, werde dementsprechend durch Schellings religionsgeschichtliche Konstruktion beantwortet, in der Sollberger den Nachvollzug einer schrittweisen Etablierung von erkennbarer Wirklichkeit nachweist. Demnach steht der Vollsinn von Wirklichkeit noch aus und gewinnt für Schelling allererst im Eschaton der philosophischen Religion Gestalt. Denn erst im denkenden Rückblick auf die Selbstkonstitution von Sinn erweist sich für Schelling die Erkennbarkeit der Wirklichkeit. Daß wir uns erkennend auf der Suche befinden, ist demnach Symptom dafür, daß das Sein sich noch nicht vollständig in Begriff aufgelöst hat, was freilich nicht heißt, daß eine solche Auflösung aus philosophischen Gründen nicht möglich ist. In Anlehnung an Hogrebe muß man aber eine weitere Facette von Schellings Unterscheidung zwischen negativer und positiver Philosophie hervorheben, die bislang nur unzureichend ausgearbeitet worden ist. Im Projekt der Epistemologie, gegebene Erkenntnis durch Analyse derjenigen Bedingungen zu sichern, die erfüllt sein müssen, damit Erkenntnis überhaupt möglich ist, kann man nämlich eine Ausblendung der anthropologischen Komponente des Erkennens sehen, die darin besteht, daß Erkenntnis bestenfalls das Resultat von Erkenntnissuche ist, deren Bedingungen und Vollzugsformen nicht innerhalb einer apriorischen Rechtfertigung von Wissen Rechnung getragen werden kann.58 Indem wir uns immer schon im Netzwerk der Begriffe vorfinden und uns fragen, wie wir in es hineingelangt sein mögen, eröffnet sich eine Fragedimension, die unsere Erkenntnis zwar übersteigt, in der wir uns de facto aber zumeist und zunächst befinden.59 Denn unsere alltägliche Welt-

57 Metaphysik und Invention. Die Wirklichkeit in den Suchbewegungen negativen und positiven Denkens in F. W.J. Schellings Spätphilosophie. Würzburg: 1996 [zit.: Metaphysik und Invention], S. 16. 58 Vgl. Hogrebe: Prädikation und Genesis. S. 47f. 59 Darin kann man Schellings Version der Kantischen Distinktion von „Erkennen" und „Denken" (bzw. „Verstehen") sehen (vgl. KrV, Β 146). Während wir nur dort

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Orientierung funktioniert nur auf der Basis eines diffusen Wissens, das jederzeit mit allem rechnet und somit vor aller Begegnung mit entschiedener, im besten Fall mathematisch wißbarer Wirklichkeit anzusiedeln ist. Indes, indem wir uns diesem nicht-propositionalen Wissen zuwenden, entgleitet es uns, so wie Eurydike in dem Augenblick für immer in der Unterwelt verschwindet, in dem Orpheus sich ihr gewahrend zuwendet. Hogrebe nennt solche Bezüge daher orphisch.60 Das ist die zersetzende Kraft der Reflexion, die Kleist in seinem berühmten Aufsatz Über das Marionettentheater eindrücklich beschrieben hat. In Schellings Denken kann man den Versuch sehen, die anthropologische Komponente des Erkennens ins Zentrum der Begründung der Metaphysik zu rücken. Zwar ist immer wieder auf die zentrale Stellung des Menschen in Schellings Denken überhaupt und insbesondere in der Periode der Freiheitsschrift und der Stuttgarter Privatvorlesungen hingewiesen worden. Und bereits in den Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft erkennt Schelling im Menschen „das sichtbare, herumwandernde Problem aller Philosophie"61. Ein neuerer Sammelband über Schellings philosophische Anthropologie dokumentiert entsprechend die Bedeutung des Menschen für Schellings Philosophie in ihrer gesamten Entwicklung.62 Und Temilo van Zantwijk rekonstruiert Schellings Ontotheologie sogar im Ausgang von seiner „Idee einer transzendentalen Hermeneutik der menschlichen Freiheit"63. Dabei ist bisher weniger beachtet worden, daß Schelling auch den Übergang von der negativen in die positive Philosophie explizit

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61 62 63

erkennen können, wo wir auf mögliche Erfahrung Bezug nehmen, können wir doch immerhin verstehen, was wir suchen, wenn wir die Erfahrung transzendieren. Das bedeutet freilich nicht, daß wir mit Fug und Recht eine Ontotogie auf der Basis unseres das Erkennen überschreitenden Verstehens errichten können. Mit anderen Worten: Während wir alles verstehen können, was möglich ist (quid sit), können wir nur erkennen, was wirklich ist (quod sit). S. SW, XIII, 58; Paulus. S. 98f. Hogrebe, W.: Orphische Bezüge. Abschiedsvorlesung an der Friedrich-SchillerUniversität zu Jena am 5.2.1997 (Jenaer philosophische Vorträge und Studien). Erlangen: 1997. SW, II, 54. Noch früher fordert Schelling bereits „eine Philosophie, die auf das Wesen des Menschen selbst gegründet ist" (SW, I, 156). Jantzen, J./Oesterreich, P. L. (Hgg.): Schellings philosophische Anthropologie. Stuttgart-Bad Cannstatt: 2002. Zantwijk: Pan-Personalismus. pass.

Einleitung

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anthropologisch, d.h. im Ausgang von der Frage, was oder besser: wer der Mensch ist, motiviert. Daß in Schellings Spätphiiosophie das Problem einer Verhältnisbestimmung von Ontotheologie und Anthropologie ausgetragen wird, hat Jürgen Habermas als erster deutlich gesehen. Er schließt allerdings daraus, daß Schelling den Menschen von der Geschichte und diese von seiner Ontotheologie her deutet, auf das Scheitern des Projektes einer Philosophie der Mythologie und Offenbarung wie es Schellings Spätphilosophie darstellt.64 Indem Schelling versuche, das Absolute geschichtlich zu denken, gelinge es ihm letztlich nicht, die Verbindung von „Existenz" und „Freiheit", die ihm einen Vorsprung vor Hegel verspreche, adäquat zu explizieren. Schellings Scheitern beweise so, „daß sich das geschichtliche Absolute auf ontotheologischer Grundlage nicht denken läßt."65 Sein Grundproblem sei also, ein geschichtliches Absolutes, das alles Seiende in seinem Sein bestimmt, so zu denken, daß die menschliche Freiheit, die sich für Schelling allein im Horizont der Geschichte des Absoluten vollzieht, dabei nicht verlorengeht.66 Dies versuche er dadurch zu lösen, daß er den Menschen und nicht mehr den Begriff, zum eigentlichen Motor der geschichtlichen Dialektik mache, ohne daß er die Spannung, die zwischen Ontotheologie und Anthropologie besteht, wirklich aufheben könne.67 Unter diesen Prämissen vermag Habermas ausdrücklich darauf einzugehen, daß der Übergang von der negativen in die positive Philosophie existenziell und nicht theoretisch motiviert wird 68 Er arbeitet daher als erster ausführlich Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Hegelkritik, die im Zuge der anthropologischen Wende im neunzehnten Jahrhundert vorgetragen wurde, und derjenigen Schellings heraus. Auffällig ist dabei, daß Schellings explizite Hegelkritik v.a. auf seiner Fassung des ontotheologischen Arguments des Primats des Seins vor dem Denken beruht, während sich in seinem gesamten Spätwerk durchaus Elemente eines anthropologischen Ansatzes finden, die letztlich sogar den Übergang von der negativen zur positiven Philosophie motivieren. Entsprechend besteht für Habermas eine gewisse Spannung zwischen Schellings expliziter Hegelkritik und seiner

64 65 66 67 68

Das Absolute. S. 396. Ebd., S . U . Ebd., S. 86. Ebd., S. 96f. Ebd., S. 111-121.

§ 1. Ein einleitender Abriß der Forschungsgeschichte

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eigentlichen philosophischen Neuerung, der Einführung des Existenziellen in den Diskurs des Deutschen Idealismus. Manfred Frank hat die Bedeutung Schellings für die Anfange der marxistischen Dialektik in seiner paradigmatischen Studie Der unendliche Mangel an Sein herausgearbeitet, indem er Schellings Hegel-Kritik als eine Kritik an Hegels Auflösung von Sein in Wesen in der Wesenslogik interpretiert hat. Hegel verwesentliche das Sein, indem er es in die Struktur des Wesens qua (voraus)setzender Reflexion einbeziehe.69 Genau diese Integration des Seins in das Modell einer schlechthin autonomen Selbstbeziehung („Bewegung von Nichts zu Nichts und dadurch zu sich selbst zurück" °) verkenne aber, daß die Voraussetzung „der faktische und insofern positive Bestand von Negation überhaupt"71 sei. Die Voraussetzung der Negativität ist in diese folglich nicht mehr einholbar, so daß Schelling den Weg eines „umgekehrten Idealismus" („von der Anschauung eines Seins, das nicht schon Begriff ist, zu dessen Selbsterkenntnis"72) abgeschritten habe. Dagegen ist allerdings zunächst einzuwenden, daß Hegels Wissenschaft der Logik ebenfalls nichts anderes als den Weg vom Sein zu dessen Selbsterkenntnis beschreibt. Insofern erkennt Hegel an, daß die Negativität einer Seinsbasis bedürfe, um sich von ihr abzusetzen. Im übrigen gilt auch hier, daß Schellings positive Philosophie keine rein theoretische Position ist, die beim Eingeständnis der Angewiesenheit der Vernunft auf ein Sein stehenbleibt, sondern diese Angewiesenheit als Religionsgeschichte auslegt. Gerade dies ist das Spezifikum von Schellings Spätphilosophie. Dennoch hat Frank als erster deutlich gezeigt, mit welchen Sachgründen sich Schellings Seinsbegriff gegen den Hegelianischen Einwand der unvermittelten Unmittelbarkeit verteidigen läßt und warum Schellings Denken überhaupt an Geschichte als Verselbstung des Seins interessiert ist. Axel Hutter hat in Schellings später Anthropologie v.a. eine Rezeption des Kantischen Primats des Praktischen ausgemacht. Schelling habe an Kant anknüpfend „die spezifische Seinsweise praktischer Wirklichkeit, die im reinen Begriff nicht aufgeht"73

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Mangel an Sein. S. 32-66. TWA, 6,24. Mangel an Sein. 58. Ebd., 179. Geschichtliche Vernunft. S. 35.

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Einleitung

entdeckt. Daher führe er eigentlich die Kantische Vernunftkritik gegen Hegel ins Feld, indem er versuche zu zeigen, daß das Interesse der Philosophie, ihr eigentlich Gewolltes, kein Gegenstand einer reinen, nur sich selbst perpetuierenden Kontemplation sei, sondern das Faktum der Vernunft, das der theoretischen Vernunft ihre Grenze setzt. Dementsprechend ergänze Schelling Kants Vernunftkritik um die Dimension einer geschichtlichen Vernunft, die nicht relativistisch entgrenzt ist, sondern sich vielmehr allererst selbst findet, indem sie in der Geschichte ihre eigene Realisierung am Werk sieht. Hutter unterstreicht somit zu Recht als erster die Bedeutung der praktischen Philosophie am Ende der Philosophischen Einleitung für die Bestimmung des Ansatzes der Spätphilosophie insgesamt, wenn man letztlich auch oftmals Schwierigkeiten hat, die bestehenden sachlichen Parallelen zwischen Schellings und Kants Version eines Primats des Praktischen namhaft zu machen, da Schelling die Praxis α limine in ein ontotheologisches Projekt integriert, was zumindest prima vista mit Kants Restriktion der Theologie auf Postulate der praktischen Vernunft inkompatibel zu sein scheint. Die meisten Arbeiten zu Schellings Spätphilosophie richten ihr Augenmerk und philosophisches Interesse ausschließlich auf die Frage, was Schelling mit seinem Neuansatz überhaupt begründen will und kann. Je nachdem, wie man seine Interpretation gewichtet, entscheidet man sich dann entweder dafür, in Schellings später Ontotheologie eine Verlängerung des idealistischen Projektes zu sehen, oder seine Hegelkritik als Hinweis auf eine Abkehr vom Idealismus zu werten. Ausgeblendet wird dabei meistens die Fülle und Organisation der ausgeführten positiven Philosophie, der Philosophie der Mythologie und der Philosophie der Offenbarung.74 Bevor man sich der Ausführung des Programms zuwendet, scheint man freilich gut daran zu tun, das Programm im Hinblick auf die Methode und die in der konkreten Darstellung einzulösenden

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Wichtige Ausnahmen zu dieser Regel bilden fiir die Philosophie der Mythologie die Arbeiten von Xavier Tilliette und John Elbert Wilson. Vgl. Tilliette, X.: La mythologie comprise. L'interpretation schellingienne du paganisme. Neapel: 1984 [zit.: La mythologie comprise]; Wilson, J.E.: Schellings Mythologie. Zur Auslegung der Philosophie der Mythologie und der Offenbarung. Stuttgart-Bad Cannstatt: 1993 [zit.: Schellings Mythologie],

§ 1. Ein einleitender Abriß der Forschungsgeschichte

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philosophischen Ansprüche zu untersuchen. Es kann kaum bestritten werden, daß Schellings Grundlegung eines neuen Philosophietypus, der positiven Philosophie, von besonderem Interesse ist. Diese Grundlegung kann man aber nur angemessen verstehen, wenn man sie im Kontext von Schellings eigener Denkentwicklung und seiner neuartigen Fragestellung sieht, wie Sein, Mensch und Bewußtsein eigentlich zusammenhängen. Diese Fragestellung ergibt sich aus dem Problem, ein mythologisches Bewußtsein denken zu müssen, das nicht immer schon die Strukturen eines modernen aufgeklärten Bewußtseins besitzt. Insofern bäumt sich die Romantik in Schellings Philosophie der Mythologie noch einmal zu einem großen Entwurf gegen Hegels Programm auf, das Ganze als Selbstvermittlung einer absoluten Vernunft zu verstehen. Die folgende Arbeit befolgt die methodische Maxime, daß sich einige der großen Fragen, die man an den Ansatz der Spätphilosophie Schellings gerichtet hat, besser beantworten lassen, wenn man Schellings Begründungsprogramm in den großen Einleitungstexten zur Philosophie der Mythologie und zur Philosophie der Offenbarung auch aus den Ergebnissen seiner Ausfuhrung heraus versteht. Schellings Kritik an Hegels absolutem Idealismus etwa läßt sich nicht ausschließlich von seiner ontologischen Prinzipientheorie her verstehen. Man reduziert Schellings Anliegen, wenn man seine Potenzenlehre als einen Gegenentwurf zur Wissenschaß der Logik versteht. Denn die Potenzenlehre ordnet der späte Schelling systematisch seinem Versuch unter, ein reales Verhältnis des menschlichen Bewußtseins zu seinen mythologischen Gehalten zu denken, um letztlich einen Religionsbegriff zu gewinnen, der Religion nicht auf eine theoretische Einstellung des Subjekts zu sich selbst oder zum Ganzen des Seienden reduziert. Die Heterogeneität des mythologischen oder religiösen Bewußtseins im allgemeinen gegenüber der rein theoretischen Selbsterfassung einer absoluten Vernunft sieht Schelling darin begründet, daß Religion keine Theorie über die Welt ist. Da sich das Faktum der Mythologie ebensowenig leugnen läßt wie das Faktum der Offenbarung, d.h. das Faktum, daß der monotheistische Teil der Menschheit über Jahrtausende hinweg von theologischen Vorstellungen in seinem Handeln angeleitet worden ist und wird, muß man, meint Schelling, zunächst einmal die Empfänglichkeit des Bewußtseins für religiöse Gehalte überhaupt erklären. Dies sei aber nur unter schweren phänomenologischen Einbußen dadurch möglich, daß man in der Ver-

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anstaltung des Mythos und der Religion eine (und sei es notwendige) Maskerade des Logos erkennt. 5 Daraus folgt, daß man Bewußtsein von vornherein so denken muß, daß man die Möglichkeit seiner Theonomie nicht immer schon ausgeschlossen hat. Dies ist einer der Gründe für Schellings These, daß das Sein dem Bewußtsein zuvorkommt. Denn nur so meint Schelling plausibel machen zu können, daß das Bewußtsein zumeist und zunächst nicht bei sich, sondern bei dem ist, was ihm begegnet und ihm als das Absolute, d.h. nicht von ihm Gesetzte, erscheint.

§2. Der Mensch im Mythos oder die Einheit dreier Ansätze: Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte Michael Theunissen hat in seinem Aufsatz Schellings anthropologischer Ansatz76 die These aufgestellt, daß sich in der Denkentwicklung Schellings drei verschiedene Ansätze nachweisen lassen, ein egologischer, ein anthropologischer und ein ontotheologischer.77 Dabei ordnet er die Egologie der Frühphilosophie, die Anthropologie der mittleren Phase, in der die Freiheitsschrift und die Weltalter hervorragen, und die Ontotheologie der Spätphilosophie zu. Er bestreitet freilich nicht, daß sich in jeder Phase egologische, anthropologische und ontotheologische Motive finden lassen, sondern möchte vielmehr zeigen, daß allein für die mittlere Phase von einem anthropologischen Ansatz von Schellings Philosophie gesprochen werden könne. Ursprünglich, d.h. auf einen anderen Ansatz irreduzibel, sei die Anthropologie allein in dieser Phase.

75 Ob und wieweit der Vorwurf, metaphysische Allegorese der Mythologie zu betreiben, ein Einwand gegen Hegels Religionsphilosophie ist, sei hier vorerst dahingestellt. Er betrifft aber in jedem Falle die klassischen mittel- und neuplatonischen Texte zur Mythosphilosophie, also insbesondere Plutarch, Proklos und Jamblich und damit Hegel, insofern er in dieser Tradition steht. Zu den neuplatonischen Hintergründen von Hegels Allegorese der Mythologie vgl. Halfwassen: Heget und der spätantike Neuplatonismus. Untersuchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung. Hegel-Studien, Beiheft 40, Bonn: 1999 [zit.: Hegel und der spätantike Neuplatonismus], hier: S. 150-159. 76 In: Archiv für Geschichte der Philosophie 47 (1965), S. 174-189. 77 Ebd., S. 174.

§2. Der Mensch im Mythos oder die Einheit dreier Ansätze

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Indem Schelling selbst stets darum bemüht ist, seine philosophische Entwicklung als eine Teleologie auf die späte Entdeckung einer positiven Philosophie hin darzustellen, scheint es zumindest keine hermeneutisch völlig verfehlte Maxime zu sein, sich zu fragen, ob Schelling mit dieser Selbsteinschätzung nicht doch in gewisser Weise ganz richtig liegt. Das heißt freilich, sich von vornherein gegen das Schellingbild eines ingeniösen Proteus der Philosophie zu entscheiden. Denn nur so läßt sich Schellings Denken mitsamt seiner unbestreitbaren Wandlungsfähigkeit philosophisch ernstnehmen. Wie aber, wenn der Wandel tatsächlich auf eine letzte Synthese hin angelegt wäre, in der die scheinbar unvereinbaren Ansätze zusammenkommen, die Schelling im Laufe seines langen intellektuellen Lebens vertreten hat? Beobachtet man die Probleme und Lösungsvorschläge, die in der Auseinandersetzung mit dem späten Schelling diskutiert worden sind, so läßt sich feststellen, daß die verschiedenen Interpreten (1) entweder von einem mehr oder weniger subjektivitätstheoretischen Ansatz ausgehen oder (2) in der Spätphilosophie eine Rückkehr zur Ontotheologie erkennen oder (3) die Anthropologie ins Zentrum ihrer Rekonstruktion rücken. Das subjektivitätstheoretische Paradigma vertritt am profiliertesten Walter Schulz, die Rückkehr zur Ontotheologie hat im Zusammenhang mit der Geschichte des ontologischen Gottesbeweises insbesondere Dieter Henrich herausgearbeitet,78 und die anthropologischen bzw. existenzialistischen Motive des späten Schelling haben Habermas und die der Existenzphilosophie in der einen oder anderen Spielart nahestehenden Interpreten unterstrichen.79 Das schließt natürlich keineswegs aus, daß die Verknüpfung der einzelnen Motive thematisiert worden ist, wie etwa die Arbeiten von Jürgen Habermas, Manfred Frank, Wolfram Hogrebe und neuerdings Daniel Sollberger beweisen. Dennoch ist es, als ob in der Forschung eine gewisse Unklarheit darüber herrschte, unter welche der genannten Kategorien der späte Schelling eigentlich zu subsumieren sei. Im Ausgang von Theunissens Unterscheidung scheint es ein lohnender Versuch zu sein, Schellings Spätphilosophie, v.a. die großen Einleitungen und die Philosophie der Mythologie, daraufhin 78 Henrich, D.: Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit. Tübingen: 1960 [zit.: Der ontologische Gottesbeweis], S. 219-237. 79 S.o.,Anm. 26.

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zu untersuchen, wie Schelling seine scheinbar unversöhnlich disparaten philosophischen Ansätze in der letzten Phase seines Schaffens verknüpft. Denn die Auseinandersetzung mit Schellings späten Texten zeigt, daß sich sowohl egologische als auch ontotheologische und anthropologische Motive in der Philosophie der Mythologie und ihren Begründungstexten kreuzen. Dabei zeigt sich, daß sich Schellings Spätphilosophie auf keines der von Theunissen benannten philosophischen Paradigmata exklusiv reduzieren läßt, sondern vielmehr eine wechselseitige Verschränkung von Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsproblematik zu verzeichnen ist. Schelling schickt der Philosophie der Mythologie bekanntlich zwei Einleitungen voran, eine Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie80 und eine Philosophische Einleitung, die zugleich die Darstellung der reinrationalen Philosophie enthält. Dabei schließt sich die Philosophische Einleitung ausdrücklich an die Historisch-kritische an, deren Resultate sie philosophisch begründen soll. Das folgenreiche Ergebnis der Historisch-kritischen Einleitung läßt sich nun darin zusammenfassen, daß sich das historische Ereignis einer mythologischen Epoche der Menschheit nur dadurch überhaupt verstehen läßt, daß man den Menschen als ursprünglich gottsetzendes Wesen denkt. Damit meint Schelling, daß der Mensch immer schon mit göttlichen Gehalten umgegangen sein muß, weil es keinen Weg gibt zu erklären, wie ein ursprünglich atheistisches und allein kategorial ausgerüstetes Bewußtsein jemals dazu kommen konnte, sich selbst und die sich ihm darstellende Welt als ein eigentlich göttliches Geschehen auszulegen. Das mythologische Bewußtsein unterscheidet sich in Schellings Augen vom Cartesischen Bewußtsein, das in reiner Selbstzuwendung und kritischer, ja skeptischer Prüfung seiner Überzeugungen in sich selbst den Quellgrund aller certitudo sucht. Das mythologische Bewußtsein ist nämlich so sehr von seinen wesentlichen Gehalten und ihrer rituellen Umsetzung eingenommen, daß es keinen rein sich selbst durchsichtigen Gedanken zum Urquell seiner Gewißheit im Umgang mit seiner Welt ansetzen kann und muß. Es ist vielmehr immer schon bei seinen Gehalten, die freilich mythologisch und nicht etwa die physikalischen Objekte einer naiven Einzeldingontologie sind. Die Vorstellung einer Außenwelt, die sich aus

80

Von nun an zit. als: Historisch-kritische

Einleitung.

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neutralen, naturwissenschaftlich beschreibbaren physikalischen Objekten zusammensetzt, die allesamt den Charakter eines Etwas überhaupt, d.h. eines Gegenstands haben, ist inkompatibel mit der verzauberten Welt der Mythologie, in der die Welt noch nicht dadurch definiert wird, daß sie kein ontologisches Pendant für die Kategorie der Bedeutsamkeit für den Menschen aufweist. Zwar gibt es auch in der Welt der neuzeitlichen Naturwissenschaft Bedeutung, insofern man darunter lediglich eine semantische Größe versteht, mit der ein Bewußtsein oder eine Gemeinschaft von Bewußtseinen auf die Welt Bezug nimmt, die aus nichts anderem als physikalischen Objekten besteht. Das mythologische Bewußtsein lebt hingegen nicht ausschließlich in einer solchen Welt der Bedeutung, sondern in einer Welt der Bedeutsamkeit. Während diese Antworten auf die Frage enthält, welche Rolle der Mensch im kosmischen Geschehen spielt und wie es möglich ist, daß die Welt immer schon auf seine Sinnbedürfnisse zugeschnitten zu sein scheint, ist diese mit der Präsenz des Menschen tendenziell inkompatibel. Eine Welt der Bedeutung ist vielmehr die semantische Seite einer anthropologisch neutralen Relation zwischen Geist und Welt, die es auch dann geben würde, wenn Computer oder informationsverabeitende Maschinen irgendeiner Art Informationseinheiten aus ihrer Umwelt aufnehmen und sie unabhängig von der Existenz des Informanten weiterverwenden könnten. Je weiter die Erkundung der Welt der Bedeutung fortschreitet, desto mehr mythologische Restbestände werden eliminiert, bis schließlich die Welt selbst zu einem kausalnomologisch geschlossenen Ganzen wird, dessen Inhalte (physikalische Objekte) in jedem Sinne farblos sind, da ihnen nurmehr primäre Qualitäten im Sinne Lockes zukommen können. Schellings Projekt ist wie später dasjenige Heideggers gegen das szientistische Weltbild gerichtet, dessen Objektivitätsbegriff tendenziell inkompatibel mit der Existenz von Beobachtern ist, deren Beobachtung ohne das Existenzial der Bedeutsamkeit nicht verständlich gemacht werden kann. Schelling und Heidegger teilen weiterhin die Diagnose, daß das szientistische Weltbild daran arbeitet, die Präsenz des Menschen aus derjenigen Welt zu entfernen, die ohne die Präsenz des Menschen eigentlich gar nicht verstanden werden kann. Schelling tritt dabei gegen das neuzeitliche Bewußtsein den Beweis seiner Gewordenheit aus dem mythologischen Bewußtsein an.

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Hegel teilt zwar Schellings Diagnose im wesentlichen, daß die mythologische Welt eine Welt der Bedeutsamkeit war, erkennt darin aber lediglich eine primitive Religionsstufe, in welcher der göttliche Gehalt dem Bewußtsein noch nicht vermittelt ist, und nur dadurch als uneinnehmbares Gegenüber und per consequens als wirkliche Macht erscheint. Für Schelling hingegen geht von der suggestiven Kraft der mythologischen Gehalte eine geradezu unheimliche Bedrohung des Selbstverständnisses des neuzeitlichen Bewußtseins aus. Diese Kraft instrumentalisiert er freilich für sein romantisches Unternehmen, die Welt der Bedeutsamkeit in einem philosophischen System gegen die Welt der Bedeutung zu verteidigen. Doch dieser allein, wie Schelling sagt, auf historisch-kritische Weise erarbeitete Befund, bedarf einer philosophischen Fundierung. Denn unter Kantischen Prämissen bspw. wäre es prima facie kaum möglich, dem Bewußtsein jene ursprüngliche Gottesbezogenheit zu attestieren, die Schelling „Monotheismus des Urbewußtseyns"81 nennt. Doch in Schellings Augen täuscht dieser Eindruck im Falle Kants ebenso wie im Falle Descartes', den man bekanntlich gerne anklangt, zur Entzauberung der Welt beigetragen zu haben. Denn Schelling besteht darauf, daß in der neuzeitlichen Geschichte des ontologischen Gottesbeweises, die seines Erachtens in Kants Lehre vom transzendentalen Ideal der reinen Vernunft kulminiert, die Idee aufgekommen ist, dem Bewußtsein einen apriorischen Bezug auf das Ganze des Seienden, die omnitudo realitatis, zu vindizieren. Das erlaubt freilich nur dann, ein wirkliches Verhältnis des Bewußtseins zu seinen göttlichen Gehalten zu erklären, wenn man zeigt, wie dasjenige, worauf das Bewußtsein bezogen ist, von diesem als wirkliche ontologische Macht, d.h. vor allem: als nicht selbstgesetzt, erfahren werden kann. Das führt Schelling dazu, den antiken Begriff des Denkens als νοεΐν des ov aufzugreifen und sich schließlich ausführlich mit der Aristotelischen Ontologie und Noologie auseinanderzusetzen.82 Wenn Bewußtsein nämlich nicht nur immer Bewußt81 SW,XI, 187. 82 Zur Rezeption der platonisch-aristotelischen Ontologie und Noologie beim späten Schelling vgl. insbes. Oeser, E.: Die antike Dialektik in der Spätphilosophie Schellings. Ein Beitrag zur Kritik des Hegelsehen Systems. Wien/München: 1965 [zit.: Die antike Dialektik]; Franz, Α.: Philosophische Religion. Eine Auseinandersetzung mit den Grundlegungsproblemen der Spätphilosophie F. W.J. Schellings. Amsterdam: 1992 [zit.: Philosophische Religion]; Bubner, R.: Aristoteles und Schelling über Gott. In: Innovationen des Idealismus. Göttingen: 1995, S. 43-52 [zit: Aristoteles und Schelling]; Leinkauf, Th.: Schelling als Interpret der philosophi-

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sein von etwas überhaupt, sondern darüber hinaus Vernehmen des Seins ist, dann läßt sich die Theonomie des Bewußtseins, die nach Schelling für die Mythologie als Bewußtseinsgestalt charakteristisch ist, grundsätzlich als Ontonomie auffassen. Die anthropologische Generalthese der Spätphilosophie, die besagt, daß der Mensch das natura sua gottsetzende Wesen ist, leitet also Schellings ontotheologische Suche nach dem wahren Sein, das Gegenstand der philosophischen Vernunft ist. Dabei muß unterstrichen werden, daß der Seinsbezug des Bewußtseins von Schelling als Gottesbezug gedeutet wird, weil allein dies erlaubt, die Mythologie als Religion im Sinne des Rückbezuges des Bewußtseins auf ein ihm Vorgängiges zu denken, was, so das Resultat der Historisch-kritischen Einleitung, unerläßlich für einen Begriff eines realen Bezuges des Bewußtseins auf seine mythologischen Gehalte ist. Die These vom gottsetzenden Bewußtsein ist demnach kein deus ex machina, sondern die Konsequenz des Mythologie-Begriffs des späten Schelling. Die Anthropologie in der Gestalt der Generalthese vom gottsetzenden Bewußtsein verweist dabei zu ihrer philosophischen Begründung auf die Ontotheologie, ohne daß sie deswegen auf diese reduzierbar wäre. Denn am Ende der Selbsterkundung der auf das Sein sensu eminenti ausgehenden spekulativen Vernunft stellt sich für Schelling deren doppelte Beschränktheit heraus. Einerseits vermag sie nämlich das Sein selbst, verstanden als reine ενέργεια im Aristotelischen Sinne, nicht zu ihrem eigenen unmittelbaren Inhalt, der „Idee" oder „Figur des Seyenden", zu rechnen, worunter Schelling den Inbegriff alles Denkbaren und dadurch Möglichen versteht, der als solcher nicht notwendig auch wirklich ist.8 Was auch immer für die Vernunft ist, ist prinzipiell denkbar, dem Zugriff des reinen Denkens aufgeschlossen. Es nimmt eine mögliche Stelle im Netzwerk aller Bedeutungen ein, dessen Grenzen durch die Potenzenlehre markiert werden, die alles begreift, was überhaupt propositional erfaßt werden kann. Doch indem die reinrationale Philosophie in ihrem letzten Akt entdeckt, daß das Sein der

sehen Tradition. Zur Rezeption und Transformation von Piaton, Plotin, Aristoteles und Kant. Münster: 1998 [zit.: Schelling als Interpret]; Adolphi, R./Jantzen, J. (Hgg.): Das antike Denken in der Philosophie Schellings. Stuttgart-Bad Cannstatt: 2004 [zit.: Das antike Denken]. 83 SW, XI, 291, 313, 375.

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Potenzen von einem Seinsvollzug „gewesen wird"84, dem kein Denken begründend zuvorkommen kann, übersteigt sie letztlich die Ordnung der Vernunft auf ein absolutes Außerhalb hin, das sie nicht mehr mit ihren dialektischen Mitteln einholen kann. Das fuhrt die dialektische Vernunft nach Schelling aber keineswegs dazu, sich in die positive Philosophie zu begeben. Denn bis zu diesem Punkt seien bereits Piaton und Aristoteles gekommen, ohne von dort aus eine genuin positive Denkbewegung eingeleitet zu haben. Schelling liegt sicher richtig, wenn er der Platonisch-Aristotelischen Metaphysik einen Primat des Seins vor dem Denken attestiert, wobei natürlich festgehalten werden muß, daß Piaton nicht weniger als Aristoteles eine Variante der These von der Einheit von Sein und Denken vertreten. Andererseits verliert sich der endliche Einzelne im Vollzug der reinen philosophischen Kontemplation, indem er sich in seinem ultimativen Gehalt, der unpersönlichen Totalität aller washaltigen Bestimmungen, als solcher nicht mehr wiederfinden kann. Denn die Endlichkeit des jeweiligen Daseins ist gerade der Abbruch der Totalität und gleichzeitig dasjenige, was wir jeweils unvertretbar zu bestehen haben. Der Philosophierende, der de facto immer ein endlicher Einzelner ist, verliert sich somit in der Meditation des Begriffs an das Allgemeine und Ewige. Dies allein fuhrt letztlich zur Abkehr des endlichen Einzelnen von der reinrationalen vita contemplativa und zur Suche nach einer Philosophie, die Gott als Person und nicht als apersonales Absolutes zu denken erlaubt. Man versteht, warum ausgerechnet Kierkegaard Schellings Berliner Vorlesungen zunächst mit Begeisterung besucht hat! Die Ontotheologie führt daher letztlich wieder auf die Anthropologie zurück, ohne durch diese abgelöst zu werden. Denn die negative Philosophie wird von Schelling nicht im Sinne einer anthropologischen, metaphysikkritischen Wende verabschiedet, sondern ledig84

Daß das Nichts (neant) von der Existenz, d.h. der realite humaine, gleichsam ins Sein gebracht wird, indem diese das bare An-sich-Sein (en-soi) auf ihre eigenen Möglichkeiten zu existieren hin überschreitet, ist bekanntlich eine der Hauptthesen von Sartres L 'etre et le neant. Sartre drückt das unter anderem so aus, daß das Nichts vom Bewußtseim (pour-soi) „gewesen wird" (est ete): „Le neant n'est pas, le neant »est ete«" (L'etre et le neant. Essai d'ontologiephenomenologique. Paris: 1943 [zit: EN], hier: S. 57). Manfred Frank bedient sich dieses auch im Deutschen ungewöhnlichen Passivs, um Schellings Gedanken eines Seinsvollzuges zu benennen, der alles bestimmte Seiende (die Essenz) allererst sein läßt, woran ich mich anschließe. Vgl. Selbstgefühl. S. 240-243. S.u., §8f.

§2. Der Mensch im Mythos oder die Einheit dreier Ansätze

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lieh auf ihre eigentliche Bedeutung restringiert, Selbsterkundung des reinrationalen Denkens zu sein. Die Erfahrung, die das Denken in der negativen Philosophie mit sich selbst macht, steht so in einem unauflösbaren Konflikt mit demjenigen, was der Philosophierende eigentlich will: Einen Begriff der Welt und der Geschichte, innerhalb dessen er selbst als freie Persönlichkeit einen Platz finden kann. Dies meint Schellings Diktum „Person sucht Person."85 Unter „Person" versteht Schelling hier das Individuum, sofern es sowohl staatlich als auch moralisch bedingt ist und gegen den Druck der Institutionen und des moralischen Gesetzes aufbegehrt, um seine Individualität gegen das Allgemeine von Staat und kategorischem Imperativ zu verteidigen. Das vom Gesetz nicht als Individuum angesprochene Individuum sucht daher in der Philosophie nach einem selbst einzigartigen Gegenüber und nicht nach einem apersonalen Seinsgrund. 6 Anthropologie und Ontotheologie verweisen also aufeinander, ohne daß sich eindeutig sagen ließe, wo Schelling eigentlich ansetzt, da er weder eine rein ontotheologische Begründung der Anthropologie noch eine rein anthropologische Begründung der Ontotheologie vorlegt. Denn Mensch und Sein sind zwei Ansichten ein und desselben Problems. Das wird besonders deutlich in Schellings Begriff von Bewußtsein als νοεΐν des ov, der ihn dadurch in die Nähe Heideggers bringt, daß er eine partielle Abkehr von der Subjektivitätsphilosophie impliziert.87 Wie Schellings Kritik am Cartesischen Cogito zeigt, die besonders deutlich in seinen Münchener Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie formuliert ist, will Schelling das Bewußtsein als einen Fall von Sein und nicht umgekehrt verstehen. Denn das Sein des Cogito sei nicht gewisser als das Sein der Außendinge. Selbst wenn diese nur Illusionen wären, die uns ein genius malignus vorgaukelt, wären sie dennoch für uns (wenn auch 85 86

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SW,XI, 566. Vgl. Sturma, D.: Person sucht Person. Schellings personalitätstheoretischer Sonderweg. In: Buchheim/Hermanni: Schellings Philosophie der Persönlichkeit. S. 5570, v.a. S. 67-70. Auch Heidegger arbeitet an der Beantwortung der Frage, was Denken heißt, unter Rekurs auf Parmenides. Denn im Unterschied zum neuzeitlichen Paradigma des Bewußtseins muß das Parmenideische εάν dem νοεΐν nicht zunächst in einer stets Skeptizismus-anfälligen Weise hinzuaddiert werden. Denken ist für Parmenides vielmehr immer schon beim Sein. Vgl. Heidegger, M.: Was heißt Denken? Tübingen: 5 1997; ders.: Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens. In: Ders.: Zur Sache des Denkens. Tübingen: 3 1998, S. 61-80.

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nicht im Sinne eines extramentalen Urgesteins). Und auch das Sein des Cogito, auf das dieses immer erst im nachhinein trifft, könnte das Produkt einer Illusion sein. Denn eine Illusion zu sein, heißt nicht, schlechthin nichts zu sein, sondern nur in einem bestimmten Sinne nicht zu sein.88 Eine Illusion ist nicht Nichts. Wenn ich etwa eine rote Mauer sehe, die in Wahrheit eine weiße Mauer ist, die von einem geschickt versteckten Projektor rot angestrahlt wird, heißt das nicht, daß die Mauer in keinem Sinne rot ist. Sie ist vielmehr durchaus rot in dem Sinne, daß sie mir rot erscheint. Dennoch ist sie auch nicht rot, wenn Farbig-Sein als inkompatibel damit angesehen wird, farbig angestrahlt zu werden. Dieselben Verhältnisse gelten mutatis mutandis für die sogenannte Außenwelt. Selbst wenn wir Gehirne im Tank wären, hieße das nicht, daß die Illusion einer Außenwelt, die in unseren Gehirnen künstlich produziert wird, nicht existiert. Die Außenwelt mag in einem gewissen Sinne nicht existieren, wenn wir Gehirne im Tank sind. Dennoch existiert die Illusion einer Außenwelt. Dasselbe gilt Schelling zufolge für das Cogito. Zwar mag das Cogito die Existenz von Irgendetwas zu verbürgen. Dennoch könnte diese Existenz in einer anderen Optik eine Illusion sein, indem ich bspw. eine Figur in einem Roman oder ein Tagtraum eines Gottes sein könnte, was eine verbreitete Überzeugung im Hinduismus ist.89 Da das Sein des Cogito diesem insofern entzogen ist, als dieses jenes nicht ursprünglich spontan selbst setzt, sondern ihm immer nur begegnen kann, wenn es bereits ist, ist es genauso zweifelhaft oder gewiß wie alles andere Seiende. Das Problem des Bewußtseins ist für Schelling daher ein ontologisches. Indem Bewußtsein selbst ist, kann es nicht dasjenige sein, was uns einen privilegierten Aufschluß in der Frage nach dem Sinn von Sein verschafft. Daher entwickelt er einen Begriff von Bewußtsein als Bewußt-SWw, d.h. als selbst seiendes Bezogensein auf Seiendes. Dies erlaubt ihm in der Folge, Bewußtsein als Religion, als Rückbezug

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89

Man denke nur an Piatons differenzierte Pseudologie im Sophistes, wo der Frage nachgegangen wird, was es ontologisch heißt, daß der Sophist ein Täuschungskünstler ist. So gibt es einige Repräsentationen (Statuen) Sivas, die ihn zeigen, wie er auf dem Rücken des träumenden Menschen tanzt, und ihm auf diese Weise seine Vorstellungen (wörtlich) hinterrücks eingibt. Daher wird Siva auch als „Sri Nataraja", der „Herr des Tanzes", bezeichnet. Vgl. dazu Bender, E.: When Siva Dances. In: Journal of the American Oriental Society 105/3 (1985), S.391-395, wo man Abbildungen einer der unzähligen Sri Nataraja-Figuren sehen kann.

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(re-ligio) auf dasjenige zu denken, über das es wesentlich nicht verfügt. Vladimir Jankelevitch hat meines Wissens als erster hervorgehoben, daß die Philosophie der Mythologie als eine idealistische Geschichte des Bewußtseins gelesen werden kann.90 Und auch Walter Schulz erkennt in ihr die Konstruktion einer (idealistischen) Bewußtseinsgeschichte, die aus der Perspektive des zu-sich-gekommenen Bewußtseins zeigen soll, wie das Zu-sich-Kommen sich geschichtlich realisiert hat, damit das Bewußtsein seine eigene transzendentale Vorgeschichte einsieht und somit sich selbst in seinem Gewordensein erkennt.91 Auf diese Weise eignet sich das Bewußtsein seine Unmittelbarkeit in der Vermittlung einer Theorie seiner Unmittelbarkeit an. Die Unmittelbarkeit wird dem Bewußtsein vermittelt, so daß es nach langem Weg endlich zu sich kommt. Damit greift Schelling den Ansatz des Systems des transzendentalen Idealismus auf, mit dem er seine späte geschichtliche Philosophie ausdrücklich vergleicht.92 Gerade am Beispiel von Schellings Interpretation der ägyptischen Mythologie läßt sich zeigen, wie Schelling das vorliegende historische Material der Mythologie so ordnet, daß sich in ihm eine Teleologie auf ein spekulativ verstandenes Selbstbewußtsein, d.h. auf eine reine Selbstvermittlung hin zeigt 93 Noch deutlicher wird Schellings Konstruktion einer Selbstbewußtseinsgeschichte allerdings in seiner Interpretation der griechischen Mythologie. Dort trägt Schelling nämlich eine Theorie über das Zustandekommen eines philosophischen Selbst- und Weltverhältnisses unter den Bedingungen der Mythologie vor, was die oben beschriebene Verquickung von Ontotheologie und Anthropologie zu ihrem Verständnis voraussetzt. Schellings These ist, daß der philosophische Logos nur unter den Bedingungen des durchgängigen Anthropomorphismus des Homerischen Pantheons entstehen konnte. Denn nur dann, wenn der Mensch sich selbst in der Gestalt anthropomorpher Götter begegne, vermöge er sich so auf sich zu beziehen, daß er sich als νοεΐν des ov entdecke. Die Parmenideische Lehre von der Einheit von Sein und Denken, die Piaton im Sophistes zur Pro-

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Vgl. Odyssee de la conscience. S. 247-309. Die Vollendung des deutschen Idealismus. S. 5. SW, XI, 223; XIII, 364. Vgl. dazu Halfwassen, J.: Metaphysik im Mythos. Zu Schellings Philosophie der Mythologie. In: Wladika, M. (Hg.): Gedachter Glaube. Festschrift für Heimo Hofmeister. Heidelberg: 2005, S. 11-20.

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klamation des Seins als Totalität (ολον) und damit zur Stiftung der Metaphysik als Theorie der Totalität angeregt hat, hat eine mythologische Vorgeschichte.94 Diese mythologische Vorgeschichte kommt in der vorsokratischen Philosophie zu sich. Solange das Handeln des Menschen sich an göttlichen Gehalten orientiert, die ihm wesentlich fremd sind, vermag er sich selbst nicht als Zweck seines Handelns zu betrachten. Er ist in diesem Sinne schlechthin außer sich oder ekstatisch.95 Er dient den Göttern oder Gott. Eine freie Selbstbeziehung kann unter den zunächst wesentlich ekstatischen Bedingungen der Mythologie demnach erst dann etabliert werden, wenn der Mensch sich als solcher gegenübertritt, um daraufhin die Frage zu stellen, was er eigentlich ist. Denn derjenige, der fragt, was oder wer er eigentlich ist, ist durch sein Fragen schon nicht mehr auf nur eine Möglichkeit festgelegt. Dadurch ist er frei. Wer fragen kann, was er ist, weiß gerade nicht immer schon, was er ist. Ohne diese Fraglichkeit ist die eigentümliche Freiheit des Philosophierens nicht möglich. Immer schon zu wissen, was oder wer man ist, ist inkompatibel mit dem eigentlichen Impuls der Metaphysik. Indem die negative Philosophie einen Begriff von Denken entwickelt, der erlaubt, Bewußtsein als Religion zu denken, und indem die Historisch-kritische Einleitung zeigt, daß der Mensch wesentlich Bewußtsein ist, ergibt sich, daß die Mythologie, sofern sie Bewußtseinsgeschichte ist, zugleich auch Seinsgeschichte und Anthropogonie ist. Indem der Mensch, d.h. das Bewußtsein, selbst auf der Bühne der mythologischen Gestalten auftritt, erblickt er sich selbst. Der Homerische Entwurf der Welt als eines Kampfplatzes, auf dem Menschen und Götter gemeinsam auftreten und die Götter sich nur durch ihre Unsterblichkeit und Perfektibilität von den Menschen unterscheiden, auf die sie gleichwohl essentiell bezogen sind, bringt den Menschen zu sich, da er aus der Entfremdung der Mythologie schließlich bei sich selbst einkehrt. Es ist sicherlich kein Zufall, wenn Schelling bereits im System des transzendentalen Idealismus

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Es gibt eine verbreitete mythologische Figur, den sogenannten Ouroboros („Schwanzbeißer"), der eine Schlange darstellt, die sich selbst in den Schwanz beißt und dabei einen geschlossenen Kreis bildet. Diese Darstellung findet sich wohl bereits um 1600 a.C. in Ägypten. Es ist sicherlich kein Zufall, daß es eine spätere alexandrinische Darstellung des Ouroboros gibt, wo innerhalb des Kreises die Worte stehen εν το παν (also „Eines ist das Ganze"). Es ist nicht schwer, den Gedanken der Totalität mit dem Ouroboros zu verknüpfen. SW, XIV, 174.

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in Anlehnung an Homer von einer „Odyssee des Geistes"96 spricht, die im philosophischen Selbstbewußtsein terminiert. Doch erst mit Hesiod, in dem Schelling einen Proto-Philosophen erkennt, entdeckt der Mensch nicht nur, daß ihm die mythologischen Gehalte nicht fremd sind, sondern daß er qua Bewußtsein auf sie bezogen ist. Denn Hesiod versucht in Schellings Interpretation die mythologischen Gehalte in ein System zu bringen, in dem alles mit allem nach dem reihenbildenden Prinzip der Genealogie verbunden ist. Dabei führe er vor, daß die göttlichen Gehalte eine Theogonie bilden dergestalt, daß letztlich ein anthropomorphes Pantheon unter der Herrschaft des Zeus etabliert werde. Aus der von der philosophischen Theologie seit den Vorsokratikern (man denke nur an Xenophanes!) stets beklagten Not des Anthropomorphismus macht Schelling daher eine Tugend. Der Mensch kann nur dann zum Gott werden, wenn die Götter zuvor zum Menschen gemacht worden sind. Die Theonomie des mythologischen Bewußtseins erscheint so paradoxerweise als Voraussetzung der Autonomie des freien, weil fragenden Subjekts. Der Mensch ist in der griechischen Mythologie in einem zweifachen Sinne der Mensch im Mythos. Einerseits ist er nämlich zumeist und zunächst in den Mythos verstrickt, blind der Produktion mythologischer Gehalte hingegeben, ohne eigentlich zur Besinnung zu kommen. Andererseits taucht er selbst in der Gestalt der Götter und Heroen auf der Bühne der Mythologie auf, was nicht zuletzt die religiöse Begehung der Tragödie bezeugt, die nach Aristoteles' Zeugnis ohne Ilias und Odyssee, d.h. ohne Homer, gar nicht denkbar wäre.97 Und genau darin liegt der Schlüssel, um die Einheit der drei skizzierten Ansätze deutlich zu machen: Der Bewußtseinsbegriff der Philosophischen Einleitung korrespondiert zunächst im oben beschriebenen Sinne der anthropologischen Generalthese vom Menschen als gottsetzendem Bewußtsein. Da die Mythologie aber ein geschichtliches Phänomen ist, das sich in der griechischen Mythologie selbst in den philosophischen Logos aufhebt, muß zugleich der Begriff einer Religionsgeschichte entwickelt werden. Dies setzt wiederum die Erkenntnis voraus, daß das Bewußtsein als solches

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SW, III, 628. Vgl. Poet. 1448b32-1449a2.

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(natura sua) religiös, weil auf das ihm unverfügbare Sein des Ganzen bezogen ist, das sich ihm nur in der dialektischen Aufgliederung der Totalität aller washaltigen Bestimmungen enthüllt. Zu verstehen, wie der durch den Mythos gebannte Mensch im Mythos selbst auftauchen kann, setzt für Schelling daher die Einsicht in die Ontonomie des Bewußtseins voraus, die aber durch die Anthropologie des gottsetzenden Bewußtseins ergänzt werden muß, um einen zureichenden Begriff einer wirklichen Religionsgeschichte zu gewinnen. Das impliziert wiederum, daß die Religionsgeschichte als Bewußtseinsgeschichte aufgefaßt werden muß, die sich ins Selbstbewußtsein der Mythologie aufhebt. Man kann in Schellings Philosophie der Mythologie also die Einheit der drei Ansätze entdecken, die Theunissen zufolge für die gesamte Denkentwicklung Schellings charakteristisch sind. Das ist aber nur unter der Voraussetzung möglich, daß man die fundamentalphilosophischen Einleitungstexte der Spätphilosophie insgesamt und der Philosophie der Mythologie insbesondere auf das ausgeführte Projekt selbst bezieht. Denn allein die Ausführung bewährt das Projekt und wirft rückwärts ein Licht auf dessen Begründung. Die Philosophie der Mythologie entdeckt somit, daß der Mensch in einem doppelten Sinne im Mythos ist, und erklärt dies unter Zuhilfenahme einer ausgearbeiteten Ontotheologie und Theorie des Bewußtseins als νοεΐν des ov, dessen dialektische Verfaßtheit sich als Geschichte enthüllt. Im folgenden werden die wichtigsten Details sowohl der Ontotheologie als auch der Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in einem je eigenen Kapitel dargestellt.

§3. Aufriß der folgenden Arbeit Das erste Kapitel behandelt die Einheit von Denken und Sein in der Philosophischen Einleitung. Dabei wird zunächst (§4) Schellings These zu rekonstruieren sein, daß die neuzeitliche Ontotheologie, die Gott als das ens realissimum denkt, sich eigentlich auf der Suche nach demjenigen befindet, was Piaton das παντελώς ov genannt hat,98 das Schelling auch schlichtweg als „das Seyende" bezeichnet. Alle Philosophie, so Schelling, ist als reinrationale Wissenschaft, d.h. als Metaphysik, zunächst Ontologie. Sie fragt sich somit, was 98

Vgl. Soph. 248e-249a; Rep. 477a3.

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das Seiende als Seiendes ist und findet dieses letztlich in „Gott" instantiiert, den sie als das unpersönliche Prinzip des Ganzen, weil als das Sein sensu eminenti denkt. Die Metaphysik ist für Schelling also stets Ontotheologie. Die Suche nach dem Seienden wird von einer sich allmählich realisierenden Teleologie der Freiheit angeleitet, in der das Denken sich nach und nach von allen vorgegebenen Autoritäten befreit, um letztlich in sich selbst den ganzen quidditativen Gehalt oder das ontologische Muster der Wirklichkeit, das ens realissimum et perfectissimum, zu finden. Die Suche nach dem wahren Sein kulminiert für Schelling daher paradoxerweise in Kants Lehre vom transzendentalen Ideal der reinen Vernunft (§5). Denn Kant habe als erster deutlich gezeigt, daß die Vernunft als solche auf das Ganze des Seienden ausgreift, um ihren eigenen ultimativen Gehalt, die omnitudo realitatis, d.h. die Idee einer Welt, in ihrem empirischen Weltumgang zu bewähren. Die an ihr selbst metaphysische Vernunft weiß sich somit seit Kant als die wahre Wirklichkeit. Schelling interpretiert Kant also als Vollender der klassischen Metaphysik, wenn er in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft eine Fortsetzung der Tradition des ontologischen Gottesbeweises und nicht deren ikonoklastische Zurückweisung erkennt. Schelling meint nun, mit seiner eigenen Potenzenlehre an Kants Lehre vom transzendentalen Ideal anzuknüpfen und Kants eigentliche Intention auszuführen (§6). Denn die Potenzenlehre ist nichts anderes als eine Transzendentalontologie, die nicht mehr die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, sondern von erkennbarem Sein überhaupt untersucht. Damit verabschiedet Schelling freilich Kants methodische Prämisse, aus der Analyse der Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis auf die Struktur einer Welt der Erscheinungen zu schließen, die so, wie sie uns erscheint, eben nur uns erscheint. Was die Welt an sich sein mag, ist Kants Prämissen zufolge außerhalb der Reichweite möglicher Erkenntnis, da mögliche Erkenntnis immer nur entweder aus wirklicher Erfahrung stammt oder auf die Möglichkeit von Erfahrung Bezug nehmen kann. Die Welt an sich ist uns notwendig hinter dem Schleier unserer Vorstellungen von der Welt verborgen, woraus Kant zufolge allerdings kein skeptischer Schaden folgt. Denn die Existenz einer Welt an sich könne transzendentalphilosophisch festgestellt werden (Widerlegung des Idealismus). Ebenso könne gezeigt werden, daß wir alles haben, was wir als er-

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kennende Wesen brauchen, wenn wir uns der empirischen Realität der Welt versichert haben, die uns als erkennenden Wesen aufgeschlossen ist. Schelling hingegen rechnet gar nicht mehr mit einer Grenze zwischen Erkenntnis und Erkanntem. Daher lautet seine Frage auch nicht mehr, wie wir uns trotz der Unerkennbarkeit der Welt an sich gewiß sein können, keinem epistemischem Betrug (im Sinne des genius malignus) aufzusitzen. Seine Frage lautet vielmehr, wie wir die Welt an sich denken müssen, damit sie für uns erkennbar sein kann. Schelling fragt also, welche Strukturen die Welt an sich aufweisen muß, damit unsere Erkenntnis von der Welt diese so erfassen kann, wie wir sie erfassen. Schelling arbeitet also gleichermaßen auf beiden Seiten der Kantischen Grenzziehung, indem er die Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis als logisch und ontologisch zugleich expliziert. Welt und Geist müssen jeweils Bedingungen dafür erfüllen, daß die Welt sich für den Geist so darstellen kann, wie sie wirklich ist. Auf diese Weise wird garantiert, daß die Welt an sich nicht hinter den Erscheinungen verborgen sein kann; nicht aber, weil es gar keine Welt an sich gibt, sondern weil die Welt an sich so ist, daß sie eine Tendenz hat, sich erkennenden Wesen in der Form darzustellen, die notwendig dafür ist, daß erkennende Wesen überhaupt etwas auffassen können. Das führt allerdings zu eigenen methodischen Anforderungen, die bereits in der antiken Ontologie und Noologie durchdacht worden sind, worauf Schelling mit seiner Anknüpfung an Piaton und Aristoteles aufmerksam macht. Kants omnitudo realitatis ist der Inbegriff alles Erkennbaren. Anders als Kant meint Schelling aber, daß sie keine in indefinitum verlängerbare Synthesetätigkeit vorschreibt, sondern ihr Umfang vielmehr dadurch festgelegt sei, daß alles, was überhaupt sein und gleichzeitig erkannt werden könne, sich den Strukturen der Prädikation fügen müsse. Wer also den ontologischen Rahmen abstecken könne, innerhalb dessen erkennbar Seiendes überhaupt begegnen kann, der habe den ultimativen Inhalt der Vernunft selbst entdeckt. Und genau dies zu leisten, beansprucht Schelling mit seiner Potenzenlehre, deren Bedeutsamkeit für das Verständnis Schellings daher zu Recht niemals unterschätzt worden ist. Die Potenzenlehre muß man demnach als eine Prädikationstheorie verstehen, die zugleich eine ontologische Theorie der fundamentalen Struktur der Wirklichkeit überhaupt ist. Die Potenzenlehre steckt also den Möglichkeitsraum alles Wirklichen ab. Sie ist insofern eine

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Theorie der Möglichkeit, die auf eine Wirklichkeit außerhalb ihrer selbst als Explanandum angewiesen ist. Denn eine Theorie des Möglichkeitsraums alles Wirklichen ist darauf angewiesen, daß es die Wirklichkeit gibt, deren Möglichkeit sie thematisiert. Diese Wirklichkeit selbst kann sie aber nicht aus der Theorie ableiten, so daß die Theorie eine neue Grenze zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit errichtet. In der Suche nach dem wahren Sein entdeckt sich aber nicht nur, daß das Gesamt der Potenzen den Möglichkeitsraum für alles Seiende absteckt. Denn die Potenzen schließen sich untereinander so aus, daß sie ein Gefüge bilden, das durch ontologische Priorität und Posteriorität organisiert ist (§7). Die Subjekt-Objekt-Potenz kann erst dann als die Vermittlung von Subjekt und Objekt eingesehen werden, wenn Subjekt und Objekt jeweils für sich gedacht worden sind. Dabei treibt der ontologisch verstandene Satz vom Widerspruch das reine Denken von einer Bestimmung zur anderen, bis es schließlich einsieht, daß sein Gegenstand selbst, das wahre Sein, in sich dialektisch verfaßt ist. Das führt Schelling zu einer Neubesinnung auf die Bedeutung des Satzes vom Widerspruch, der nicht zufallig vom Begründer der Dialektik, Piaton, zum ersten Mal formuliert worden ist." Gegen Kants Deutung des Satzes vom Widerspruch als dem obersten Prinzip aller analytischen Urteile macht Schelling geltend, daß er vielmehr ein Prinzip sei, das die Abfolge alles Denkbaren reguliere. Daher sei das von Kant monierte „zugleich" (αμα) in der Aristotelischen Formulierung auch nicht zu beanstanden, sondern unerläßlich, wenn anders man die wahre Bedeutung des Prinzips, nämlich der Motor der (Potenzen-)Dialektik zu sein, einsehen wolle. Am Ende der Potenzendialektik stellt sich für Schelling heraus, daß die Potenz des Subjekt-Objekts nichts aus eigenen Kräften ist, sondern ohne eine ihr vorangehende Vermittlung von Subjekt und Objekt nichts ist. Das bedeutet für Schelling, daß sie keine causa sui sein kann, sondern einer Seinsursache (αίτιον του είναι10°) bedarf, von der alle Potenzen qua Potenzen gewesen werden (§8). Das treibt das Denken, das sich auf der Suche nach dem wahren Sein befindet, 99

Rep. 602e8f.: εφαμεν τφ αύτφ αμα περί ταύτα εναντία δοξάζειν αδύνατον είναι. Vgl. a. Rep. 436b8-cl. 100 SW, XI, 292. Der Ausdruck α'ίτιον του εΐναι geht auf Aristoteles zurück, der am Ende des Ζ der Metaphysik das εΒος als bestimmende Tätigkeit und in diesem Sinne als Seinsursache denkt: Met. 1041b26.

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über sich selbst und die in ihm gesetzten Möglichkeiten hinaus. Es entdeckt, daß das Sein der logisch-ontologischen Dialektik der Potenzen nicht durch diese selbst gesetzt sein kann. Es stößt daher am Ende seines Weges auf ein Sein, über das es nicht mehr begrifflich verfügt, sondern das immer schon gegeben sein muß, damit sich überhaupt irgend etwas vollziehen, irgend etwas gedacht werden kann. Dieses Sein kann dabei nicht mehr denkend hintergriffen werden, weil ihm keine setzende Reflexion vorausgehen kann. Es ist daher das im Wortsinne un-vor-denkliche Sein, das Sein, dem kein Denken vorhergeht, oder auf Schellingsch: „das absolute Prius."101 Diese Einsicht zieht unmittelbare Konsequenzen für das Verständnis des ontologischen Gottesbeweises nach sich (§9). Indem das Denken seinen ultimativen Gehalt, das ens realissimum, entdeckt, und gleichzeitig einsieht, daß der durch es aufgespannte Möglichkeitsraum nur von etwas gewesen werden kann, was immer schon ist, und daher denkend nicht begründet werden kann, erkennt es, daß vom ens realissimum kein Weg zu dessen Sein führt. Das Sein des ens realissimum liegt nämlich nicht in seinem Begriff, sondern geht ihm als absolutes Prius vorher. Aus diesem Grunde greift Schelling auf die distinctio realis von Existenz und Essenz zurück: Zwar sei die Essenz des Ganzen durch die Einsicht in das Potenzengefuge gegeben. Das garantiere aber noch nicht seine Existenz, die wir immer nur erfahren, niemals aber α priori begründen können. Das bedeutet aber umgekehrt, daß die Essenz nur aufgrund einer ihr immer schon zuvorkommenden Existenz ist. Anstatt die Existenz aus der Essenz abzuleiten, schlägt Schelling daher vor, den ontologischen Gottesbeweis konsequent umzukehren und die Essenz als (freilich nicht begrifflich notwendige) Folge der Existenz darzustellen. Denn wir leben de facto in einer zumindest ceteris paribus erkennbaren und demnach strukturierten Welt (Essenz). Gleichzeitig sind wir aber auch genötigt, ihre Faktizität oder ihre nackte Gegebenheit anzuerkennen, da wir das Sein der Welt nicht ihrem Sein zuvorkommend begründen können. Die Welt ist immer schon da, ob wir wollen oder nicht. Dem Sein kommt kein Gedanke zuvor. Wenn sich nun zeigen ließe, daß das Sein letztlich ein geschichtlich sich realisierender Prozeß seiner Verselbstung ist, dann erweist sich schließlich möglicherweise, daß es Gott, d.h. ein absolutes Selbst ist, das Schelling als „absoluten Geist" bezeichnet.

101 SW, X, 286; XIII, 67, 127, 164, 248.

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Schelling spricht dem Sein in der Einheit von Sein und Denken also einen Primat zu. Das Denken oder das Selbst sei aus dem Sein, nicht aber das Sein aus dem Denken oder dem Selbst abzuleiten. Das Selbst kommt daher für Schelling immer zu spät, so daß es bestenfalls das Geschehene α posteriori nachvollziehen kann. In diesem Gedanken hat Manfred Frank zu Recht einen Vorläufer von Sartres Ontologie des Bewußtseins gesehen, die auf der Betonung der Faktizität aller Selbstverhältnisse beruht.102 In der siebzehnten bis einundzwanzigsten Vorlesung der Philosophischen Einleitung entwickelt Schelling schließlich eine Theorie der natürlichen Erkenntnis, die den Boden für den anthropologischen Übergang in die positive Philosophie bereitet (§10). Nachdem nämlich die ontotheologischen Grundlagen der negativen Philosophie gelegt sind, bedarf es einer ausgearbeiteten ontologischen Theorie des Erkennens, um zu zeigen, in welchen Formen das Sein zu sich kommt. Schelling entwirft daher eine Aristotelisierende Psychologie, in der er zwischen Geist und Seele unterscheidet. Während er der Seele einen nichtpropositionalen Ausgriff auf das Ganze des Seienden in der Gestalt des ens realissimum vindiziert, erkennt er im Geist {νους) das Vermögen, das Gegebene unter Begriffe zu subsumieren. Im selbstgesteckten Rahmen der negativen Philosophie vermag der Mensch nur als Wissen bzw. als Bewußtsein zu erscheinen. Da ihre operativen Begriffe insgesamt ontotheologischer Natur sind, kann sie das Wissen bzw. das Bewußtsein aber nur als einen Fall von Sein behandeln. Geist, Seele und Bewußtsein überhaupt werden daher von Schelling als ontologische Prinzipien und nicht etwa als aus transzendentalphilosophisch zwingenden Gründen zu postulierende Vermögen traktiert. Dadurch bleibt der philosophierende Einzelne aber immer noch außerhalb der Reichweite des Begriffs, so daß die Philosophie an diesem Punkte noch nicht zu ihrem Ende gelangt sein kann. Zwar ist der Begriff eines ontonomen Bewußtseins konstitutiv für die Philosophie der Mythologie, reicht deswegen aber noch keinesfalls zu ihrer Begründung hin, da immer noch gezeigt werden muß, daß „Ontonomie" ursprünglich „Theonomie" meint. Gegenstand des zweiten Kapitels ist Schellings späte Anthropologie, deren Bedeutsamkeit insbesondere für die Philosophie der Mythologie bisher meines Wissens weitgehend unterschätzt worden 102 Mangelan Sein. S. 109-112; ders.: Selbstgefühl. S. 234-243.

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ist. Zunächst wird gezeigt, daß die Philosophische Einleitung nicht nur die negative Philosophie darstellt, sondern vielmehr als Versuch gelesen werden muß, einen Begriff der Mythologie zu fundieren, der erlaubt, diese nicht nur als Maskenzug des Begriffs allegorisch auszudeuten, sondern ihre eigentliche Bedeutung, nämlich Ausdruck eines realen Verhältnisses des Bewußtseins zu seinen ontotheologischen Gehalten zu sein, auch in ihrer philosophischen Thematisierung aufzubewahren (§11). Im Zentrum steht dabei das Konzept einer tautegorischen Hermeneutik der Mythologie, den Schelling in der Historisch-kritischen Einleitung als den einzig konsistenten Begriff der Mythologie zu erweisen sucht. Eine tautegorische Auslegung der Mythologie nimmt sie als Bewußtseinsgestalt ernst und rechnet damit, daß es keinen notwendigen Übergang vom Mythos in den Logos geben mußte. Daß sich dieser Übergang vollzogen hat, steht für Schelling fest, bezeugt aber keineswegs dessen Notwendigkeit. Daher gelte es, die mythologischen Vorstellungen zunächst als reale Bewußtseinsinhalte aufzufassen, die nichts anderes bedeuten als dasjenige, was sie sind: Ausdruck einer Religionsgestalt. In §12 wird Schellings These von einem „Monotheismus des Urbewußtseyns"103 im Kontext der Philosophie der Mythologie rekonstruiert. Maßgeblich ist Schellings Bemerkung im ersten Buch der Philosophie der Mythologie, daß der ursprüngliche Monotheismus des Urbewußtseins nichts anderes ist als dessen religiöser Bezug auf das unvordenkliche Sein. Denn gemäß der im ersten Kapitel dargestellten These, daß das Selbst immer zu spät kommt und immer schon auf sein eigenes unvordenkliches Sein bezogen ist, kann das Bewußtsein nur mit einer Religion beginnen, in der ihm das Absolute als una substantia erscheint. Ein Monotheismus, der sich nicht vom Polytheismus abgrenzen kann, weil dieser noch gar nicht existiert, kann daher auch nur ein blindes, einförmiges Sein als das Absolute denken, das nichts ausschließt, weil es auf nichts bezogen ist. Daher vergleicht Schelling es auch mit Spinozas Substanz und dem eleatischen eov, dem das Bewußtsein ursprünglich verhaftet ist. Insofern kann man den Urmonotheismus Schellings am besten als „Eleatismus des Urbewußtseins" übersetzen. Um das wohldokumentierte Vorkommen der polytheistischen Mythologie zu erklären, muß Schelling zeigen, daß sich das Bewußtsein im ersten Akt seiner Selbstbeziehung, d.h. in der Selbst103 SW, XI, 187.

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konstitution des Selbstbewußtseins, von seinem ultimativen Gehalt entfernt (§13). Um sich auf sich beziehen zu können, muß das Bewußtsein sich nämlich vorderhand von sich unterscheiden, so daß ihm sein Inhalt als Anderes und in diesem Sinne als Fremdes erscheint. Das bringt Schelling gemäß gewissen romantischen Vorlieben in Verbindung mit dem Sündenfall-Mythos und der Geschichte vom Turmbau zu Babel. Das Bewußtsein, das zu sich selbst kommen will, verliert daher seinen konstitutiven Seinsbezug, so daß es sich mit seinem ersten Erwachen in einer Welt vorfindet, die ihm fremd und bedrohlich erscheint. Wo es vorher nur ein göttliches Sein gesehen hatte, erblickt es jetzt eine haltlose Vielheit von Gestalten: die Mythologie. Selbstbewußtsein ist für Schelling daher ein „orphischer Bezug" im Sinne Wolfram Hogrebes. Indem es sich seiner selbst versichern will, verliert es nicht nur sich selbst, sondern auch seinen eigentlichen Gehalt, das Sein selbst, an eine Welt, in der ihm unheimlich ist. Die Selbstzuwendung macht für Schelling daher zunächst blind. Der Einzelne verliert sich paradoxerweise durch genau diejenige Tätigkeit, durch die er sich zu gewinnen hoffte, nämlich durch seine immer schon vollzogene spontane Selbstsetzung, die Schelling in der „Tathandlung" des ersten Paragraphen von Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre beschrieben sieht. Gleichwohl wird der Einzelne dadurch teilweise wieder zu sich gebracht, daß er vom moralischen wie juridischen Recht als solcher angesprochen wird. Doch dies gelingt nur scheinbar, da das Gesetz als solches vielmehr die Negation des Ich zugunsten des kategorischen Imperativs fordert, der in Schellings Deutung zur Aufgabe der Selbstheit gemahnt, was in der Freiheitsschrift die Unterordnung des Einzelwillens unter den Allgemeinwillen hieß. Dementsprechend ist der Staat als der Inbegriff des Gesetzes für Schelling eine notwendige Folge des Sündenfalls, die nicht mehr mit geschichtlichen Energien gemeistert werden kann. Daher sucht der Einzelne nach einer Form eines Welt- und Selbstverhältnisses, in dem er sich als solcher aufgehoben, nicht aber negiert weiß (§14f.). In impliziter Auseinandersetzung mit Hegels Interpretation von Kunst, Religion und Philosophie als Formen des absoluten Geistes sieht Schelling in der mystischen Frömmigkeit, der Kunst und schließlich der vita contemplativa Anstrengungen des Einzelnen am Werk, sich im Sein selbst als Person wiederzuerkennen. Alle drei Formen müssen aber für Schelling scheitern,

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weil sie gerade dadurch motiviert sind, daß der Einzelne sich aus dem Staat zurückziehen will und somit die durch den Staat bezeichnete Möglichkeit nicht ergreift, eine bürgerliche Persönlichkeit auszubilden. Schellings vor allem von Hans Jörg Sandkühler als AntiPolitik monierte Staatskritik ist somit nur in der Hinsicht antipolitisch, daß Schelling nicht glaubt, das Heil des Einzelnen in der Verbesserung der Staatsform finden zu können.104 Das bedeutet aber nicht, daß Schelling nicht ähnlich wie Fichte und Hegel im Staat ein Instrument einer sittlichen InterSubjektivität sieht. Indes: Weder der Staat noch der Rückzug in eine rein theoretische Innerlichkeit sind imstande, das Interesse des Individuums an einem persönlichen Gegenüber zu befriedigen. Daher steht am Ende der Philosophischen Einleitung der Übergang in die positive Philosophie, die zeigen soll, daß das Weltgeschehen ein Prozeß der Transformation von Sein in Selbst ist, an dessen Ende der absolute Geist stehen wird, den Schelling auch als den „Herrn des Seyns" bezeichnet. Der Übergang in die positive Philosophie wird von Schelling also ausdrücklich durch einen „praktischen Antrieb"105 motiviert und kann nicht mehr mit der dialektischen Methode der negativen Philosophie inauguriert werden, da diese im letzten Akt ihrer metaphysischen θεωρία nur bis zum unpersönlichen unvordenklichen Sein vorstößt. In diesem Sinne kann man sagen, daß der Übergang in die positive Philosophie in einem anthropologischen Faktum, dem Bedürfnis des Einzelnen, sich im Sein selbst wiederzuerkennen, begründet ist. Dieses Bedürfiiis realisiert jedes personale Leben als seine alltäglichste Notwendigkeit. Denn alltäglich sind wir damit beschäftigt, die Welt so zu sehen, daß wir darin Platz finden. Die Vorstellung der Welt als einer Totalität, zu der letztlich nichts gehört, was uns wirklich jeweils selbst betrifft, ist schlechthin inkompatibel mit unserem alltäglichen Weltverständnis. Daher ist es ein phänomenologisch völlig unhaltbarer und verfälschender Mythos im pejorativen Sinne, wenn man das alltägliche Bewußtsein als Realismus, d.h. als eine These über die Denkunabhängigkeit der Wirklichkeit im ganzen versteht. Was nämlich denkunabhängig ist, kann

104 S. insbes. Sandkühler, H.J.: F. WJ. Schelling- Philosophie als Seinsgeschichte und Anti-Politik. In: Pawlowski, H.-M./Smid, S./Specht, R. (Hgg.): Die praktische Philosophie Schellings und die gegenwärtige Rechtsphilosophie. Stuttgart-Bad Cannstatt: 1989 [zit.: Die praktische Philosophie Schellings], S. 199-226 [zit.: Seinsgeschichte]. 105 SW, XI, 565, 579.

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keine Qualität haben, die ihm nur zukommt, wenn es von einem Bewußtsein beobachtet wird. Genau das hatte Locke zur Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten angeregt. Wenn das alltägliche Bewußtsein implizit einen Realismus verträte, verpflichtete es sich auf einen Widerspruch, indem es einerseits damit rechnete, daß es alles das wirklich gibt, womit es umgeht (auf jeden Fall eine farbige Welt!), wobei sein Realismus ihm aber alsbald die Lektion erteilen würde, daß es nichts oder fast nichts von all dem gibt, in das es sein Zutrauen setzt. Die Ontologie des Alltags ist inkompatibel mit der Vorstellung einer Welt, die lediglich aus Substanzen oder Einzeldingen mit Eigenschaften besteht, die gar am besten durch die Teilchenphysik beschrieben werden sollen. Überdies sind wir als Personen mit einer Welt konfrontiert, die ohne die Interessen und Bedürfnisse anderer Personen ein schwarzes bedeutungsleeres Vakuum wäre. Das drückt sich nicht nur darin aus, daß die meisten Dinge, mit denen der Mensch seit seinem Ausgang aus dem Naturzustand umgeht, Artefakte sind, die immer noch in einer Ontologie der Substanzen erfaßt werden könnten (Autos, Hammer, Computer, Brücken usw.). Staat, Recht, Freundschaft, Politik, Kunst, Wissenschaft selbst, Arbeit, Verträge usw. sind keine Substanzen, d.h. irgendwelche Dinge überhaupt, die raumzeitlich individuierte Eigenschaften aufweisen. Daher verwirrt sich die schlechte Metaphysik des reduktiven Naturalismus, die in unserer Zeit wüst um sich gegriffen hat, in traurigen Reduktionen aller eigentlich menschlichen Interessen auf evolutionäre Interessen, die ihrerseits qua biologisches Vokabular im besten Fall als bloße Erscheinungen der absoluten Partikelfunktion des Universums darstellbar sein sollen. Wer den Physikalismus oder wissenschaftlichen Realismus im Ausgang vom angeblichen Realismus des Common Sense verteidigt, verliert seine eigene alltägliche Existenz vollständig aus dem Blick, die er gleichwohl philosophisch zu artikulieren vorgibt. Schelling hingegen versucht, das Sein selbst so zu denken, daß es mit unseren eigentlichen Interessen kompatibel ist. Das verbirgt sich hinter dem praktischen Antrieb zur positiven Philosophie, die versucht, über eine unpersönliche Ontologie hinauszukommen, um die Stellung des Menschen im Ganzen der Wirklichkeit zu bestimmen. Daher ist es von unüberschätzbarer Bedeutung für das Gelingen von Schellings Projekt, daß sie die Frage danach, was oder wer der Mensch ist, ins Zentrum der Begründung der Ontologie rückt. Daran kann man ablesen, warum Heidegger von Schellings Frei-

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heitsschrift fasziniert war, die ihrerseits nur die Keimzelle von Schellings Spätphilosophie darstellt. Das dritte Kapitel schließlich rekonstruiert die Grundzüge von Schellings Interpretation der griechischen Mythologie vor dem Hintergrund der in den ersten beiden Kapiteln gewonnenen Ergebnisse. Dabei gilt es zunächst, Schellings späten Begriff der Religions- als Bewußtseinsgeschichte mit seinem für die Entwicklung des nachkantischen Idealismus so wichtigen Konzept der Philosophie als Selbstbewußtseinsgeschichte im System des transzendentalen Idealismus zu vergleichen (§16). Dabei stellt sich heraus, daß Schellings Spätphilosophie in der Tat eine Variation des Systems von 1800 ist, die sich diesem gegenüber allerdings durch die ungleich profiliertere Ontotheologie und Anthropologie der Philosophie der Mythologie auszeichnet, die bekanntlich reich an religionsgeschichtlichen Details ist. Es zeigt sich, daß Schelling bereits um 1800 die These aufstellt, daß die griechische Philosophie nicht zufällig aus der griechischen Mythologie entspringt. Das erklärt der späte Schelling allerdings nicht mehr aus seinem früheren Begriff der Kunst als objektiv gewordener intellektueller Anschauung. Denn Mythologie ist für ihn jetzt nicht mehr Kunst, sondern vielmehr eine Religions- und d.h. Bewußtseinsgestalt. Während Schelling um 1800, aber auch und v.a. in der Philosophie der Kunst die Mythologie als ästhetisches Phänomen behandelt und die Entwicklung ihrer geschichtlichen Gestalten insbesondere außerhalb des europäischen Kulturkreises noch keine Rolle spielt, vertritt der späte Schelling die These, daß die Autonomie des philosophischen Logos ein Resultat des durchgängigen Anthropomorphismus der griechischen Götterwelt ist, der seinerseits ohne die Entwicklung der außereuropäischen Mythologien gar nicht möglich gewesen wäre. Diese waghalsige Vermutung begründet er in zwei Schritten. Erstens seien Mensch und Mythos durch Homer und Hesiod in einer doppelten Weise so vergegenständlicht worden, daß das Bewußtsein sich in seinen mythologischen Gehalten schließlich selbst entdecken konnte, was sich historisch beispielhaft in der vorsokratischen Mythos-Kritik v.a. bei Xenophanes und Heraklit artikuliert (§17). Homer habe dem Menschen eine zentrale Stellung im archaischen Weltbild eingeräumt, indem er ihn in eine enge Wechselwirkung mit den Göttern gebracht habe, und dies so, daß die Götter lebendigen Anteil am menschlichen Geschick nehmen. Dabei stelle

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er die Götter selbst durchgängig anthropomorph vor. Dies hat bekanntlich die Kritik der griechischen Aufklärung seit Xenophanes herausgefordert, die darin einen falschen Begriff des Göttlichen sah, das vielmehr der Sphäre des Menschlichen enthoben sei. Diese Kritik ist aber nur dadurch möglich, daß sich das Bewußtsein in seinen mythologischen Gestalten als dasjenige wiedererkennt, von dem diese (etwa als Fiktionen) abhängen. Homers Vergegenständlichung des Menschen und seine Anthropomorphisierung des Göttlichen sind daher wesentliche Stationen auf dem Weg der Selbsterkundung des Menschen, der sich seither als der Sterbliche im Unterschied zu den Unsterblichen begriff, die wiederum beide unter der Obhut des „Vaters der Menschen und Götter" (πατήρ ανδρών τε ΰεών τε106), d.h. des Zeus stehen. Hier nimmt nach Schelling der häufig beobachtete Humanismus der klassischen griechischen Kultur seinen Ausgang, dessen Entwicklung sich auch an der Geschichte der griechischen Plastik, vom stark typisierten Kouros bis hin zur ausgeprägten idealisierten menschlichen Gestalt, ablesen läßt. Ein Homerisches, rein anthropomorphes Pantheon reicht aber noch nicht dazu hin, daß sich der Mensch nicht nur als Gegen- und Mitspieler der Götter, sondern als gott-, weil seinssetzendes Bewußtsein erkennt. Dazu bedürfte es, so Schelling, Hesiods Versuch, das göttliche Pantheon als geschichtlich sich etablierende Totalität vorzustellen, an deren Ende der „simultane Polytheismus" des Zeus steht, d.h. ein Polytheismus, in dem ein Gott allen anderen Göttern überlegen ist.107 Indem Hesiod die mythologischen Gestalten als „Theogonie" verstand, brachte er eine solche Organisation der Gehalte zustande, in der sich der Ausgriff des Bewußtseins auf die Totalität, das παντελώς ov, unverkennbar manifestiere. Der in den Mythos verstrickte Mensch kommt so zu sich, indem er sich selbst im Mythos objektiviert. Zweitens gibt es aber noch eine weitere, ungleich folgenreichere Beziehung der griechischen, insbesondere Platonischen Philosophie auf ein religionsgeschichtliches Phänomen, das in der griechischen Religion eine entscheidende Rolle spielt: Die Mysterien (§18). Nach Schelling ist es sicherlich kein Zufall, daß sich Piatons Denken immer wieder selbst mit Mysterienterminologie beschreibt. Im Mittelund Neuplatonismus wird die Epoptie, d.h. die mystische Schau der Eleusinischen Mysterien, sogar zum philosophischen terminus tech106 So heißt Zeus bei Homer. Vgl. etwa A 544 (12x in der Ilias, 3x in der Odyssee). 107 SW, XI, 120; XII, 287.

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Einleitung

nicus für die Metaphysik. Darin kann man mit Schelling die Folge der griechischen Mysterien selbst sehen, die seines Erachtens das Selbstbewußtsein der Mythologie sind. Nach Schelling bestehen diese nämlich in nichts anderem als in einer szenischen Darstellung der Abfolge der Mythologien, deren letzte sich in das Christentum aufhebt. Schellings romantische Phantasie treibt ihn dann letztlich sogar dazu, in den wenigen überlieferten Details der Mysterienfeier Ankündigungen des Christentums zu sehen. Selbst im Toponym „Eleusis", das er mit „Advent" übersetzt, sieht er eine typologische Vordeutung auf die Geburt Christi, die in der Geburt eines Kouros der Demeter ebenfalls präfiguriert sei.108 Wie dem auch sei, an diesem Punkt muß die philosophische Durchdringung von Schellings Mysteriologie wohl aufgeben. Schellings Begriff der Religions- als Selbstbewußtseinsgeschichte, der für die gesamte Philosophie der Mythologie konstitutiv ist, erweist sich so letztlich als in der Einheit dreier Ansätze begründet. Dabei ist es nicht möglich, einem Ansatz einen eindeutigen Primat zuzuschreiben, weil sie sich wechselseitig fordern und ergänzen. Schellings Spätphilosophie ist somit weder Ontotheologie noch Anthropologie noch Selbstbewußtseinsgeschichte tout court. Dies ist aber vielleicht nicht nur ihre lediglich zu konstatierende Eigenart, sondern macht ihre Stärke aus und erklärt die Faszination, die der späte Schelling auf viele bedeutende Denker ausgeübt hat, obwohl er zeitweilig unter dem Verdacht stand, mindestens so dunkel zu sein wie die griechischen Mysterien. Die folgende Arbeit versucht mit der These von der Einheit dreier Ansätze zentrale Aspekte und Überlegungen des späten Schelling zu erhellen. Dabei gilt es, die Problemlage in keiner der von Schelling apostrophierten Hinsichten zu verkürzen. Eine systematische Aneignung von Schellings Spätphilosophie in den Kategorien der zeitgenössischen Erkenntnistheorie, Philosophie des Geistes oder Metaphysik wird hier keineswegs angestrebt. Ein solches Unterfangen könnte Schellings Denken nur auf unnötigen Umwegen gerecht werden. Es geht im folgenden daher nicht darum, Schelling zu kritisieren oder überhaupt nach äußerlichen, schon mitgebrachten Maßstäben des Wahren, Falschen und philosophisch Möglichen zu bewerten, sondern zum Verständnis des systematischen Anliegens seiner Spät108 SW, XII, 635; XIII, 519. Wahrscheinlich angeregt durch eine Stelle aus der Apostelgeschichte (Act. Ap. 7,52), wo das Kommen Christi ελευσις heißt.

§3. Aufriß der folgenden Arbeit

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philosophic beizutragen. Schellings eigenes systematisches Anliegen ist so umfassend, daß man nicht unvorbereitet versuchen sollte, es auf eine überschaubare Menge von Argumenten zu reduzieren. Da Schelling selbst ein philosophisches System entwirft, sollte man dem hermeneutisch dadurch Rechnung tragen, daß man eine Gesamtschau des Ganzen anstrebt, von der aus man auf die einzelnen Momente des Ganzen zurückgreifen kann.

I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie« §4. Das ens realissimum der neuzeitlichen Ontotheologie als -παντελώς ov Schelling eröffnet die Philosophische Einleitung mit einem Überblick über die Philosophiegeschichte, dessen organisatorischer Leitfaden die Frage ist, ob es bisher eine Philosophie gegeben habe, mit deren Mitteln die Religion, d.h. vor allem sowohl der gesamte Komplex der mythologischen Bindung des Bewußtseins an seine Götter als auch die geoffenbarte Religion des Christentums, begriffen werden könne, ohne daß das Phänomen der Religion auf Philosophie reduziert werde.1 „Religion" versteht Schelling dabei im allgemeinen als eine Bewußtseinsform, der die Welt im ganzen als ein Geschehen erscheint, in dessen Zentrum das Bewußtsein steht, für das es überhaupt eine Welt im ganzen gibt. Das religiöse Bewußtsein ist dabei auf das Ganze so bezogen, daß es erfahrt, daß dieses nicht von ihm selbst gesetzt ist, womit es sich einem externen Gehalt ausgeliefert weiß, dem es in der Gestalt des Göttlichen dient. Religion ist für Schelling also eine Bewußtseinsform, die ohne Ausgriff auf das Ganze nicht verstanden werden kann. Religion unterscheidet sich Schelling zufolge dadurch aber zugleich von der Metaphysik, daß sie dem Ganzen ausgeliefert ist und es in der Gestalt von göttlichen Gehalten vorstellt, die es nicht selbst gesetzt hat, sondern von denen es sich gesetzt weiß. Religion ist daher eine Bewußtseinsform, die wesentlich theonom ist, wäh-

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Vgl. zu Schellings Skizze der Geschichte des Gottesproblems in der neuzeitlichen Philosophie: Schulz: Die Vollendung des deutschen Idealismus. S. 33-39; Hutten Geschichtliche Vernunft. S. 126-172; Challiol-Gillet: Unephilosophie de l'extase. S. 30-52.

§4. Das ens realissimum der neuzeitlichen Ontotheologie

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rend Metaphysik notwendig zu Autonomie tendiert, wie Schelling mit seiner Skizze der Philosophiegeschichte zeigen will. Trotz ihrer Theonomie begreift sich die religiöse Bewußtseinsform selbst als Fokus des Weltgeschehens, was offenkundig inkompatibel mit der neuzeitlichen Bewußtseinsform der „Wissenschaft" ist, die mit einer entzauberten Welt rechnet, die tendenziell überall von den gleichen unpersönlichen Gesetzen regiert wird, die der Natur mit den Mitteln des Experiments und der reinrationalen Theoriebildung abgerungen werden müssen. Die Wissenschaft zeichnet sich durch einen Objektivitätsbegriff aus, der tendenziell inkompatibel mit der Existenz von Menschen als Natur beobachtenden und niemals uninteressierten Subjekten ist. Daher ist der Wissenschaft ein Naturbegriff eigen, der mit der Möglichkeit kompatibel ist, daß es den menschlichen Beobachter der Natur, der Wissenschaft treibt, auch nicht hätte geben können. Die anthropozentrische Annahme, daß es Natur nur so geben kann, daß sie eine Teleologie auf den Menschen als Natur begreifendes Vernunftwesen hin aufweist, ist ein Gedanke, der potentiell außerhalb des Horizonts des wissenschaftlichen Bewußtseins liegt. Das religiöse Bewußtsein hingegen ist ohne diesen Gedanken nicht einmal zu verstehen. Daher stehen das religiöse und das wissenschaftliche Bewußtsein seit jeher in einem Konflikt, der sich besonders deutlich bereits im klassischen Athen der Asebie-Prozesse ausdrückt. Schellings Spätphilosophie wendet sich gegen den bereits seinerzeit verbreiteten Szientismus, der im Gefolge der Aufklärung die Religion als Bewußtseinsform einer konstitutiven Irrationalität anklagte, die zur Besserung der Menschheit entweder abgeschafft oder als naiver Versuch der Begründung von Wissenschaft überwunden werden sollte. Wie alle Bewußtseinsformen, durch die der Mensch seine Stellung im Ganzen der Wirklichkeit und damit dieses Ganze bestimmt, tendiert die Wissenschaft nicht weniger zum Absolutismus als vormals die Religion. Die philosophische Aufgabe, die Religion zu begreifen, besteht Schelling zufolge nun darin, sie nicht von vornherein der Wissenschaft unterzuordnen und sie etwa als einen naiven Versuch, die Welt zu erklären, zu denunzieren, sondern vielmehr zu versuchen, das religiöse Bewußtsein zu verstehen, ohne es an einem externen Maßstab des Wahren und Falschen zu messen. Das Ziel der gesamten Denkbewegung der Religionsphilosophie der Philosophie der Mythologie und der Philosophie der Offenbarung ist Schellings Auskunft nach ein philosophisches Begreifen der

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

Religion, welches das Kommen einer „philosophischen" und d.h. erst im eigentlichen Sinne „freien Religion"2 ermöglicht. Eine freie Religion unterscheidet sich von allen unfreien Religionen dadurch, daß sie sich ihres eigenen Status als Bewußtseinsform bewußt ist und ihn gegen den Absolutismus des wissenschaftlichen Bewußtseins verteidigen kann. Sie ist nicht mehr nur eine Bewußtseinsform, für die sich die Wirklichkeit im ganzen in einer bestimmten Weise darstellt, sondern sie weiß sowohl darum, daß sie eine Bewußtseinsform ist, als auch darum, daß sie religiös ist. Eine philosophische Religion ist entsprechend eine freie religiöse Bewußtseinsform, die sich die göttlichen Gehalte in philosophischer Reflexion angeeignet hat. Daß eine philosophische Religion, d.h. die Einheit philosophischen und religiösen Wissens, stets für möglich gehalten worden ist, beweist das historische Faktum, daß die Religion im Abendland seit ihrer Verschriftlichung im griechischen Altertum immer schon von dem Versuch begleitet worden ist, ihr Vorhandensein und ihre Struktur dem Denken durchsichtig zu machen. Das eigentümliche Projekt einer philosophischen Theologie, die sich bei den Griechen zunächst durchaus gegen die positive Religion gewendet hat, besteht darin, die religiöse Bewußtseinsform in Metaphysik zu übersetzen. Soweit wir informiert sind, tritt die Religion spätestens seit den Vorsokratikern immer in Begleitung einer Theologie auf, in der philosophisch darüber gesprochen wird, was Gott, die Götter oder genauer: das Göttliche eigentlich sei. Die Entdeckung des eigentlich Göttlichen begibt sich dabei schon früh in Opposition zu den mythologischen Göttern, um diese durch ein logisch-ontologisches Pantheon, den Ideenkosmos, abzulösen. Das hat in der griechischen Philosophie und ihren Folgen dazu geführt, daß die religiöse Bewußtseinsform tendenziell der Metaphysik untergeordnet wurde. Daher konstatiert Schelling: Eine philosophische Religion, die allen Anforderungen an den Begriff der Religion und seine reflexive Thematisierung entspricht, d.h. die philosophische Religion, wie sie von uns [d.h. Schelling] gefordert ist, existirt nicht. Aber sofern sie durch ihre Stellung die Bestimmung hat, die begreifende der vorausgehenden, von Vernunft und Philosophie unabhängigen Religionen zu seyn, insofern ist sie Zweck des Processes von Anfang3. 2 3

SW, XI, 255. Ebd.

§4. Das ens realissimum der neuzeitlichen Ontotheologie

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Weder die Mythologie, deren Religionscharakter in der Historischkritischen Einleitung nachgewiesen wird, noch das Christentum sind für Schelling dabei Kandidaten für eine absolute und d.h. freie „Religion des Geistes"4. Denn die Mythologie entfalte sich als sukzessiver Polytheismus in dem Sinne, daß sie Geschichten über die Götter, die Etablierung ihrer hierarchischen Verhältnisse untereinander und ihre Generationenbildungen erzählt. Sollte es gelingen, die narrative Abfolge von Göttern als eine Bewußtseinsform auszulegen, wäre zugleich ein erster Hinweis erbracht, daß die Mythologie ihrem Wesen nach als eine notwendige Folge von Vorstellungen verstanden werden kann. Das mythologische Bewußtsein stellt die Welt vermittelt durch die göttlichen Gehalte vor, denen es blind und aufgrund ihrer unaufhebbaren und nicht durch Vernunft vermittelten Präsenz unreflektiert und hingegeben folgen muß. Die mythologische Menschheit spricht sich nach Schelling daher nicht eigentlich über ihre Götter aus, sondern fungiert lediglich als ihr noch stummer Zerrspiegel einer Wirklichkeit, die sich im Bewußtsein in immer neuen Gestalten bricht, wobei die Abfolge dieser Gestalten, ihre Hierarchien, Oppositionen und genealogischen Verhältnisse einem strukturbildenden Gesetz folgen, das erst in einer Philosophie der Mythologie post actum, nach Abschluß der fortgängigen Regeneration der mythologischen Substanz durchsichtig werden kann und muß. Wegen der unreflektierten Stellung des Bewußtseins zu seinen mythologischen Inhalten, die es ganz ausfüllen, ist es somit unmöglich, daß es zu ihnen in ein freies, weil wissendes und artikulierbares Verhältnis tritt. Die mythologische Religion kann folglich keine freie Religion sein, sondern ist ganz im Gegenteil „die unfreie, die ungeistige Religion"5 par excellence. Der geoffenbarte, jüdisch-christliche Monotheismus hingegen bedeutet zwar eine partielle Befreiung, indem er die Menschheit endgültig von der Mythologie erlöst und in ein Verhältnis zu Gott versetzt, in dem sie sein Wesen erkennen und wissen wollen kann. Indes bleibt diese Gotteserkenntnis immer noch auf das empirische Faktum einer Offenbarung derart bezogen, daß diese wiederum, wie im Falle der mythologischen Religion, gleichsam erst post festum philosophisch in einen freien Denkvollzug eingeholt werden kann, worin nach Schelling seit dem Auftreten des Christentums einer der 4 5

SW, XI, 255. Ebd.

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

wesentlichen Antriebe des Philosophierens besteht. In der Tat gelten die wichtigsten Anstrengungen der Philosophie seit dem Auftritt des Christentums der philosophischen Theologie, der alle anderen Disziplinen untergeordnet werden. Wie bei den Vorsokratikern arbeitet die Philosophie zunächst im Dienste der Religion, um sie philosophisch zu begreifen und sich auf diese Weise ihrer unbedingten Autorität allmählich zu entledigen. „Die philosophische Religion ist demnach durch die geoffenbarte geschichtlich vermittelt"6. Dabei geht dieser ihrerseits die mythologische Religion voraus. Das erste philosophische Selbstverhältnis des Bewußtseins zu sich und seinem Grund, der zugleich der Grund des Ganzen ist, ist nämlich das Resultat des mythologischen Prozesses. Der mythologische Prozeß ist die Geschichte des religiösen Bewußtseins, die diesem zunächst widerfahrt und nachträglich in der verschriftlichten Mythologie reflektiert wird. Das Christentum tritt in dem Augenblick als befreiende Bewußtseinsgestalt an die Stelle der Mythologie, als sich die Mythologie von sich selbst zu befreien beginnt. Das Christentum ist daher „Befreiung oder Erlösung von dem 1...1, was die Menschheit anbetete ohne es zu wissen, und Erhebung zu dem, das gewußt wird, und was nur zu wissen ist." Da die Mythologie sich mit dem Anthropomorphismus der griechischen Götterwelt vollendet, entsteht zum ersten Mal in ihrem Umkreis ein philosophisches Selbstbewußtsein der Mythologie. Das Bewußtsein wendet sich nun nämlich sich selbst und seinen mythologischen Dispositionen zu, die es begreifen will, um sie im Erkennen quasi aufzulösen und dadurch die mythologische Vorstellungsreihe abzubrechen.8 Diese im Laufe der folgenden Arbeit zu klärende Skizze der wichtigsten thematischen Zusammenhänge der Spätphilosophie Schellings kann hier freilich noch nicht ausgeführt oder sogar begründet werden. Sie soll lediglich den Horizont abgeben, innerhalb dessen verständlich wird, warum Schelling seinen Grundriß der Geschichte der Philosophie ausschließlich von der Entwicklung der philosophischen Theologie her entwirft. Denn die leitende Frage des Grundrisses, den er in der elften und zwölften Vorlesung der PhiloL

6 7 8

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Ebd. SW, XI, 190. Die These, daß die Philosophie der Mythologie eine Theorie der Bedingungen liefert, die erfüllt sein müssen, damit philosophisches Selbstbewußtsein möglich ist, wird im dritten Kapitel dieser Arbeit ausführlich begründet.

§4. Das ens realissimum der neuzeitlichen Ontotheoiogie

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sophischen Einleitung entwirft, ist die Frage, wie die philosophische Theologie bisher mit der Mythologie, d.h. mit einem gewichtigen Teil der Bewußtseinsform „Religion", umgegangen ist und ob die Geschichte der Philosophie die Aussicht eröffnet, die Mythologie zu begreifen. Schelling beginnt dabei mit den prominentesten griechischen Denkern: Sokrates, Piaton, Aristoteles und den Neuplatonikern, mit dem Ziel, auf die Beantwortung der Frage hinzuarbeiten, „ob irgend eine philosophische Schule die Mythologie als Religion und zwar in ihrer Eigentlichkeit zu begreifen gewußt habe"9. Wie sich erwarten läßt, gibt Schelling eine negative Antwort auf die Frage, um sein eigenes Unternehmen zu motivieren. Sokrates eröffnet bei Schelling die Reihe der philosophischen Theologen. Seine Figur zeige besonders deutlich, inwiefern Religion und die philosophische Befreiung von ihrer blinden Autorität gemeinsam auftreten können. In Sokrates spreche sich der „tragische Zug, der durch das ganze Heidenthum geht"10, aus, einerseits im Begriff zu sein, sich von der Notwendigkeit der Serie seiner religiösen Vorstellungsgehalte zu befreien, und andererseits dennoch nicht vollständig von deren Positivität loszukommen. Sokrates wurde nämlich offenkundig nicht nur als gefahrlicher Aufklärer, sondern vor allem der Einfuhrung neuer Götter angeklagt. Diese Anklage versteht Schelling als eine Anklage gegen den Versuch einer philosophischen Interpretation des herrschenden Pantheons, die nicht unwesentlich zu Sokrates' Todesurteil beigetragen habe.11 Trotz oder gerade wegen seines Bestrebens, die Mythologie philosophisch 9 10 11

SW, XI, 257. SW, XI, 256. Vgl. den zweiten Anklagepunkt (έγκλημα) gegen Sokrates, den dieser in Piatons Apologie (24b8-cl) referiert, daß er nämlich die Jugend verdorben und neue Götter eingeführt habe: Σωκράτη φησϊν άδικεΐν τους τε νέους διαφ^είροντα και Βεοϋς ους ή πάλις νομίζει ου νομίζοντα, ετερα Si δαιμόνια καινά. Auch in Aristophanes' Wolken wird Sokrates, der dort als paradigmatische Instanz eines Philosophen vorgeführt wird, als Häretiker dargestellt, der durch die Einfuhrung neuer naturphilosophischer Götter (ΔΤνος, der vorsokratische Weltwirbel, tritt an die Stelle des Ζευς) den Staatsglauben zersetzt: Der Logos, der in der sokratischen Denkwerkstatt, seiner „Denkerei" (φροντιστηρων) lebt, erzeugt sich seine eigenen Götter. Mit Schelling könnte man in Aristophanes' Drama ein Aufbegehren des alten Mythos gegen den neuen Logos sehen, der die Ansprüche des Logos als schlechtes Substitut des Mythos demaskieren möchte. Schelling selbst suggeriert eine solche Deutung von Aristophanes' Wolken in seiner Interpretation von Hesiods Χάος. Vgl. SW, XII, 597.

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

transparent zu machen, endet er bei Piaton sein Leben mit dem bekannten mythologischen Ausspruch, daß er und die Seinen dem Asklepios einen Hahn als Opfer schuldeten, „wie für die Genesung von einer langen Krankheit" 2. Denn das Ende des Lebens im mundus sensibilis bedeutet fur Piatons Sokrates die Befreiung der Seele vom Körper, und ist dadurch gleichsam als die endgültige Heilung der Seele von der Krankheit ihrer körperlichen Endlichkeit aufzufassen. Zentral an der Sokratesfigur ist für Schelling ihre Erhebung ins reine Denken, die sich in seiner Lehre vom nichtwissenden Wissen manifestiere. Schelling deutet sie weder als sublime sokratische Ironie noch als reflektierte Einsicht in die Grenzen menschlichen Wissens. In den Initia philosophiae universae versteht er sie vielmehr als die Entdeckung der ewigen ungegenständlichen Freiheit, die sich von allen weltlichen Vorurteilen freimacht, um das Denken selbst zu thematisieren. Der Akt der Abwendung vom Denken des Gedachten zum Denken des Denkens des Gedachten, d.h. die Reflexion, ist die Wiederherstellung einer ewigen Freiheit, die aller Gegenständlichkeit vorhergeht. Die ewige Freiheit ist dasjenige, was in allem Wissen weiß, ohne dabei an eine bestimmte Form des Wissens gebunden zu sein. Die ewige Freiheit ist daher frei von der Welt, weshalb Sokrates mit Freuden in den Tod gehen kann, durch den er der ewigen Freiheit näherkommt, die innerweltlich niemals vollständig zu realisieren ist, da wir als endliche epistemische Wesen nicht umhin kommen, Bestimmtes vorzustellen. Sokrates habe somit „zuerst das Prinzip der Freiheit in die Philosophie" gebracht, woran Piaton angeknüpft habe, indem er ein philosophisches System entwickelt habe, in dessen Zentrum das reine ungegenständliche Denken stehe, das sich über die Vorstellung der Welt und die begriffliche Organisation der Erscheinungen erhebt.13 Die ewige Freiheit besteht für Schelling darin, nicht mehr nur die Gegenstände der Welt und ihre (und sei es fundamentalen) Zusammenhänge zu studieren, was bereits der Praxis der Höhlenbewohner im Höhlengleichnis entspricht, sondern sich vielmehr identisch mit der ewigen Freiheit zu wissen, die nichts wissen kann, da Wissen immer Wissen von Etwas ist. [D]er Hauptirrthum, der die Menschen hindert, in die Philosophie zu kommen, ist, daß sie die Philosophie für eine demonstrative Wissenschaft SW, XI, 256. Vgl. Piaton: Phd. 118a7f.: Ώ Κρίτων, εφη [Σωκράτης], τω Ασκληπιό] οφείλομεν άλεκτρυόνα · άλλά άπόίοτε και μη άμελησητε. 13 Initia. S. 8. 12

§4. Das ens realissimum der neuzeitlichen Ontotheologie

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halten. Aber Philosophie ist freie Geistesthätigkeit. Ihr erster Schritt ist freies Aufgeben alles Wissens. [...] Indem ich mir selbst untergehe, geht das Unendliche in mir auf. Aber in Ansehung meiner selbst ist es kein Wissen, es ist ein nichtwissendes Wissen.14

Die gesuchte ewige Freiheit kann nur gewußt werden, indem ich mich weiß als sie nicht wissend. Jeder Versuch, sie als Objekt vorzustellen und Aussagen über sie zu treffen, muß scheitern. Denn was auch immer im strengen Sinne gewußt wird, wird durch das Wissen selbst festgestellt. Wissen ist „ein sich zum Gegenstand machen"15. Wissen ist immer Wissen von Bestimmtem, das sich qua Bestimmtes von allem anderen unterscheidet. Wissen ist also immer Wissen von Seiendem. Die ewige Freiheit hingegen ist nichts Bestimmtes und kann daher nicht als Teil der Ordnung der determinierten Welt verstanden werden. Dennoch ist die ewige Freiheit nichts Nichts, sondern genau dasjenige, was den Menschen antreibt, über das jeweils Gegebene hinauszublicken und es im Horizont eines Ganzen, d.h. der Welt zu sehen. Der Mensch hat Gegenstände nur insofern, als er sie als Teil eines Zusammenhangs versteht, der über die jeweils gegebenen Gegenstände hinausgeht. Verallgemeinert man den Überstieg über das Gegebene auf den letzten Zusammenhang hin, in dem alles steht, erhält man den Begriff der Welt oder der Wirklichkeit im ganzen. Diesen Begriff kann aber nur ein solches Wesen haben, das nicht vom jeweils Gegebenen festgehalten wird. Die Tätigkeit des Transzensus, über das Gegebene hinauszugehen, die zugleich die Möglichkeitsbedingung von Wissen ist, nennt Schelling nun „die ewige Freiheit". Die ewige Freiheit muß zugleich unendlich und endlich sein: Unendlich, weil sie über alles Gegebene hinausgeht, endlich, weil sie nur darin besteht, über alles Gegebene hinauszugehen und aus allem Wissen „wieder durchzubrechen"16, so daß sie das Endliche als ihre Realisierungsbasis voraussetzt. Die ewige Freiheit ist auf das Gegebene angewiesen, um über es hinauszugehen und zu zeigen, daß sie nicht auf es angewiesen ist. Das Absolute und die Welt gehören daher zusammen. Diese Einsicht selbst ist eine Selbsterkenntnis des Absoluten in unserem nichtwissenden Wissen. Die ewige Freiheit wird sich selbst in unserem Denken des Ganzen faßlich. Doch die Faßlichkeit der ewigen Freiheit ist kein Erfassen eines 14 15 16

Ebd., S. 38. SW, IX, 222. Ebd.

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

Gedankens mit einem bestimmten Inhalt, d.h. kein Wissen. Man kann sie nicht feststellen, da sie die Möglichkeitsbedingung alles Feststellens ist. Ohne den Transzensus, der unserer Erkenntnissuche und damit unserem kognitiven Leben unauslöschlich eingeschrieben ist, gäbe es für uns kein Wissen. Dieses Wissen ist aber ein Wissen, in dem nichts Bestimmtes gewußt wird. Daher ist es, wie Schelling sich ausdrückt, ein nichtwissendes Wissen. Dieses nichtwissende Wissen (docta ignorantia) ist Schelling zufolge die Möglichkeitsbedingung von Wissen, weshalb Sokrates die ihm eigentümliche Überlegenheit über seine Dialogpartner zukomme, die stets sehr viel mehr wissen als Sokrates selbst. Wissen setzt also eine Tätigkeit voraus, die selbst nicht gewußt werden kann. Jeder Fall von Wissen hat eine Vorgeschichte, in der jemand nach etwas gesucht hat. Die Rechtfertigung von Überzeugungen, d.h. die Erkenntnissicherung, mit der Wissen stets auftritt, setzt eine Erkenntnissuche voraus, deren Bedingungen niemals vollständig auf den Begriff gebracht werden können. Die Untersuchung der Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnissuche haben Piaton zur Entdeckung der Ideenlehre gefuhrt, wie der Menon zeigt. Schelling knüpft daran an und sucht mit Sokrates und Piaton die ewige Freiheit am Grunde des Wissens, insofern alles Wissen eine Tätigkeit voraussetzt, die im Wissen nicht eigens reflektiert werden kann. Die ewige Freiheit versteht er dabei als einen Vollzug, der alles sein läßt, selbst aber nichts ist. Sie kann daher gar kein Gegenstand eines Wissens sein, weil sie selbst vielmehr der stets als solcher unbewußte Vollzug von Wissen ist. Gleichwohl ist die ewige Freiheit für Schelling nicht identisch mit dem idealistischen absoluten Ich seiner Frühphilosophie, weil sie nicht mehr durch eine Potenzierung der Reflexion im philosophischen Selbstbewußtsein eingeholt werden kann. Sie geht allein in der Gelassenheit der docta ignorantia als das Absolute auf, das sich außerhalb des wißbaren Tatsachenraums vollzieht, ohne in diesem jemals auffindbar zu sein. Das Absolute ist demnach, um das Vokabular des späten Schelling zu gebrauchen, nur urständlich und nicht gegenständlich zu erfassen. Es ist die alles gründende Freiheit, die aber innerhalb des Begründeten niemals als Tatsache und damit als potentieller Gegenstand eines Wissens vorkommt. Sokrates gilt Schelling als Personifikation der Dialektik des Nichtwissens, als „Lichtpunkt des ganzen Alterthums, der, wenn er sagte, »er wisse nur dieß Eine, daß er nichts wisse«, nicht sagen

§4. Das ens realissimum der neuzeitlichen Ontotheologie

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wollte, es gebe keine wissenschaftliche Erkenntniß, sondern er befinde sich im Zustande des gegen das Wissen sich Setzens."17 Darin bestehe das Prinzip der Freiheit, das Sokrates der Philosophie geschenkt habe, und das Piaton mit dem ΰα,υμάζβΐν angepeilt habe,18 was Schelling mit seinem Begriff der Ekstasis parallelisiert.19 Das Platonische Staunen ist die Entdeckung der Freiheit des Nichtwissens, die allein die Zuwendung zu den Möglichkeitsbedingungen von Wissen initiiert. Ohne die skeptisch motivierte Einsicht in die Unmöglichkeit eines gegenständlichen Wissens des Absoluten gibt es somit kein philosophisches Wissen. Im reinen Denken, in das sich Sokrates erhoben habe, ist nach Schelling „noch nichts vom Wissen"20, da es keinen bestimmten Inhalt außer seiner eigenen Einfachheit habe. Sokrates wird von Schelling somit auf der einen Seite als erster Denker namhaft gemacht, der das Denken als solches erfaßt habe. Auf der anderen Seite sei er aber der Mythologie weiterhin verhaftet geblieben, ohne sie philosophisch begreifend endgültig zu überwinden.21 Diese Ambi-

17 Initia. S. 56. 18 Vgl. Piaton: Tht. 155d2-5. 19 Initia. S. 39. Das göttliche Ursein ist auch für den späten Schelling nur durch einen „Stillstand des Denkens" zu erfassen: „Hier heißt es, es wird nur gewußt, indem man es nicht weiß" (LIPO. S. 74). Angesichts dessen, was Schelling das unvordenkliche Sein Gottes nennt, bleibt uns nichts übrig als eine docta ignorantia. Schelling greift mit der Ekstasis und seinem Begriff der docta ignorantia der ewigen Freiheit neuplatonische Motive auf. Vgl. dazu Halfwassen, J.: Freiheit als Transzendenz bei Schelling und Plotin. In: Mojsisch B./Summerell O. F. (Hgg.): Piatonismus im Idealismus. Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philosophie. München/Leipzig: 2003, S. 175-193 [zit.: Freiheitals Transzendenz]. 20 SW, XI, 268. 21 Nachdem der Geist sich aus dem Absoluten losgerissen hat, ist ihm die Möglichkeit versperrt, sein Ursein, d.h. seine ursprüngliche Identität mit Gott real wiederherzustellen. Da die Welt zwischen ihm uns seinem göttlichen Ursprung steht, muß er sie „im Erkennen überwinden." (SW, XI, 463) Da die Mythologie der Inbegriff der Weltlichkeit ist, die sich der Mensch durch den Sündenfall seiner Selbstkonstitution als Selbstbewußtsein zugezogen hat, bedeutet die Überwindung der Welt im Erkennen zunächst die Überwindung der Mythologie im Erkennen. Die Philosophie der Mythologie ist somit selbst ein Teil des Weltgeschehens. Diese Einsicht liegt der Arbeit von John Elbert zugrunde: „Die Philosophie der Mythologie und der Offenbarung verhält sich zur Mythologie und Offenbarung wie die Mysterien zur hellenischen Mythologie. [...] Es handelt sich um Mysterien der philosophischen Erkenntnis." (Schellings Mythologie. S. 20) Daß Schellings Spätphilosophie dabei eine bestimmte, rational rekonstruierbare Selbstbewußtseinstheorie zugrundeliegt, wird unten (§13f.) dargelegt.

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

guität habe sich auf seinen Schüler Piaton vererbt, dessen Dialoge bekanntlich (und erklärtermaßen) voll von Mythen sind, die das eigentlich Unsagbare in absoluten, d.h. unübersetzbaren, Metaphern zum Ausdruck bringen. Piaton weise aber entschiedener als Sokrates auf das Christentum und das ihm entsprechende Streben voraus, das Ganze der Wirklichkeit von seinem selbst grundlosen Grund her zu denken. Als der eigentliche Stifter der abendländischen Metaphysik hat er nämlich im Liniengleichnis der Politeia den seither maßgeblichen Begriff von Metaphysik geprägt: Eine Wissenschaft zu sein, deren Ziel eine vernünftige Erkenntnis des Ganzen ist, was nur dann möglich ist, wenn der Grund dieses Ganzen, der als (mxh του παντός2 sowohl das Prinzip der Erkenntnis als auch das Prinzip des Seins ist, philosophisch erfaßt wird. Dabei muß die Vollzugsform eines Wissens, das den letzten und irreduziblen Seins- und Erkenntnisgrund, die άνυπό^ετος αρχψ', erkennen will, aufgrund der ultimativen Einfachheit seines Gegenstandes vom auseinandersetzenden diskursiven Denken unterschieden werden, das sich lauter unausgewiesener Begriffe (imoS-sosif4) bedient. Die Dialektik (ή διαλεκτική μέθοδος) müsse demgegenüber die bloßen Annahmen des diskursiven Denkens aufhebend zum Prinzip selbst aufsteigen {πορεύεται τας υποθέσεις αναιρούσα επ' αυτήν την αρχήν15). Im Gegensatz zur διάνοια, dem diskursiven mathematischen Denken, berührt (ατιτεται) der νους durch sein dialektisches Vermögen του διαλεγεοΉ-αι δυνάμει) den Grund des Ganzen und ist seiner in einer Art Vernunftanschauung unmittelbar inne.26 Wenn man nun „die Wissenschaft selbst, die Wissenschaft im Sinne Piatons"27 finden und ausführen wolle, was nach Schelling die 22 23 24

25 26 27

Piaton: Rep. 51 lb7. Ebd., 510b7. 'Τπό^ΐσ-ις bedeutet im Kontext des Liniengleichnisses soviel wie „nicht philosophisch ausgewiesene, vermeintlich evidente Voraussetzung". Für Piaton sind dies insbesondere Grundbegriffe, derer sich die Mathematik bedient, wie „gerade" (άρτων), „ungerade" (περιττον), „Figuren" (σχήματα) usw. Vgl. v.a. Rep. 510cld3. Der „moderne Begriff der Hypothese mit den Merkmalen der Fallibilität und der Bewährbarkeit ist davon ganz fernzuhalten." (Krämer, H.J.: Die Idee des Guten. Sonnen- und Liniengleichnis. In: Höffe, O. (Hg.): Piaton: „Politeia". Berlin: 2 2005, S. 179-203 [zit.: Die Idee des Guten], hier: S. 193). Piaton: Rep. 533c7ff. Piaton: Rep. 511 b3-c2. SW, XI, 267.

§4. Das ens realissimum der neuzeitlichen Ontotheologie

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selbstgesetzte Aufgabe der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes ist, die sich auf der Suche nach einem fundamentum inconcussum befindet, müsse man Dialektik platonisch betreiben, was zweierlei impliziert: Einmal den Begriff eines noetischen und dadurch unfehlbaren intellektuell-anschauenden Denkens.28 Zweitens, daß der Gegenstand dieses Denkens das unbedingte Prinzip, in Schellings Piatondeutung: das όντως öv („das Seyende") ist. Schelling selbst schreibt in aller wünschenswerter Deutlichkeit in seinem Jahreskalender von 1848, daß Descartes eigentlich das παντελώς ov gesucht habe, d.h. den Inbegriff des Erkennbaren, außerhalb dessen keine reinrationale Erkenntnis möglich ist. Dabei identifiziert er das παντελές mit dem Absoluten, das sich am Ende der Potenzenlehre der negativen Philosophie als die Einheit der drei Potenzen erweist, was unten (§§ 6-8) ausgeführt wird. [N]ur daß am Ende auch noch das, was 1+2+3 ist - das ist das Wesen, von dem zu sagen ist, daß es das Vollendete, das Absolute - das Seiende ist το παντελές. [Dies ist der von Descartes an gesuchte Begriff, und so nun nicht mehr Suche nach der höchsten Wissenschaft, sondern die ist gefunden, die nicht mehr bloß Philosophie, aber wenigstens die Philosophie ist.]29

Schelling identifiziert Piatons άνυπόΰετος αρχ·η also zunächst mit dem παντελώς ov und dieses wiederum mit dem von Descartes gesuchten fundamentum inconcussum der Philosophie. Schellings ontologische Piatondeutung widerspricht Piatons Transzendenzformel (επεκεινα της ουσίας1 ), welche die Neuplatoniker als Seinstranszendenz des Einen (το εν) gedeutet haben.31 Schelling deutet 28

Vgl. zur Unfehlbarkeit der νότμτις die Ausführungen zu Schellings ausfuhrlicher Deutung der platonischen Dialektik in der vierzehnten Vorlesung der Philosophischen Einleitung. S.u., S. 180-185. 29 Das Tagebuch 1848. Rationale Philosophie und demokratische Revolution. Mit A.v. Pechmann und M. Schraven aus dem Berliner Nachlaß herausgegeben von H.J. Sandkühler. Hamburg: 1990 [zit.: Tagebuch 1848\. S. 10. 30 Piaton: Rep. 509b9. 31 Diese Deutung hat die sogenannte Tübinger Schule im letzten Jahrhundert als genuin platonisch verstanden. Vgl. Gaiser, K.: Piatons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule. Stuttgart: 3 1998; HJ. Krämer: Arete bei Piaton und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie. Heidelberg: 1959 [zit.: Arete]; ders.: Die Idee des Guten. S. 189-192; Reale, G.: Per una nuova interpretazione di Piatone. Riiettura della metaflsica dei grandi dialoghi alia luce delle »Dottrine non scritte«. Milano: l0 1991; Halfwassen, J.: Monismus und Dualismus in Piatons Prinzipienlehre. In: Bochumer

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

die klassisch gewordene Transzendenzformel der Politeia in seinem Akademie-Vortrag Über die Quelle der ewigen Wahrheiten nicht als Seinstranszendenz, sondern als Zeugnis dafür, daß Piaton das Sein dem Denken vorgeordnet habe, wobei Schelling unter ουσία den Inbegriff aller quidditativen Gehalte, den Ideenkosmos, also das apriorische Potenzengefuge versteht.32 In der dreizehnten Vorlesung der Philosophischen Einleitung identifiziert er eindeutig „das Seyende selbst" (αυτό τό ov) und „das Eine selbst" (αυτό τό εν),33 wobei er die Aristotelische Konvertibilitätsthese auf Piaton überträgt.34 Wie Schelling diese philosophiehistorischen Zusammenhänge in seinen eigenen Ansatz integriert, wird unten (§§8f.) ausführlich gezeigt. Die Wiedergewinnung eines platonischen Standpunktes wird von Schelling also bereits zu Beginn der Philosophischen Einleitung zum Programm erklärt. Die Platonische Noologie wird zum Paradigma eines sich selbst denkenden Denkens und so zum Maßstab der auf sie folgenden Positionen, die nach Schelling zwar sehr wohl den richtigen Gegenstand gewählt haben, nämlich Gott, die jedoch in ihrer Konzeption des Denkens hinter Piaton und dem an diesen anknüpfenden Aristoteles zurückbleiben, deren Noologie und Ontologie Schelling eine Grundlegungsfunktion für seinen umfassendsten Beitrag zur negativen Philosophie, die Philosophische Einleitung, zuschreibt. Der Neuplatonismus, zu dem Schellings eigene Philosophie auffallende systematische Affinitäten aufweist,35 vermag im Gegensatz

32 33 34

35

Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 2 (1997), S. 1-21, v.a. S. 5-8 (auf S. 5 findet sich eine Zusammenstellung weiterer zentraler Literatur zum Thema); vgl. außerdem: ders.: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Piaton und Plotin. Stuttgart: 1992 [zit.: Aufstieg zum Einen], S. 220-264, wo gezeigt werden soll, daß die Agathonspekulation in der Politeia in einer Metaphysik des Einen fundiert ist, die im zweiten Teil des Parmenides in der Gestalt einer negativen Theologie bzw. Henologie ausgeführt ist. Vgl. dazu neuerdings zusammenfassend: Szlezäk, Th. Α.: Die Idee des Guten in Piatons Politeia. St. Augustin: 2003. SW,XI, 588. SW, XI, 317. Nach Aristoteles ist das Eine keine über das Sein hinausgehende Bestimmung: oöSsv 'έτερον το εν παρά τό ον [...]' ωσ,5' οσα,πζρ τοϋ ενός ε'ι&η, ταααϋτα Hat του όντος (Met. 1003b31-34). Schelling knüpft an Aristoteles an. Vgl. a. SW, ΧΠ, 27, wo es von Gott heißt, er sei sowohl der Seiende als auch der Eine selbst. Vgl. dazu die Arbeiten von Werner Beierwaltes zu Schelling und Plotin, v.a. Piatonismus und Idealismus. S. 100-144; ders.: Das wahre Selbst. S. 182-227. Vgl.

§4. Das ens realissimum der neuzeitlichen Ontotheologie

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zum klassischen Piatonismus nach Schelling wenig zur erkennenden Durchdringung der Mythologie und ihrer religiösen Substanz beizutragen, da die neuplatonische Mytheninterpretation als metaphysische Allegorese das Wesen der Mythologie als Bewußtseinsgestalt grundsätzlich verfehle. Die Neuplatoniker, allen voran Proklos und Jamblich, sehen in der Mythologie chiffrierte Philosopheme, die eine gründliche philosophische Allegorese zu Tage fördern kann. Keine Allegorese, also keine Interpretation der Mythologie als Chiffernsprache der Philosophie, der Geschichtsschreibung oder gar der Naturwissenschaften hilft aber im geringsten dabei, die Mythologie in ihrer Eigentlichkeit, d.h. als selbständige Bewußtseinsform zu verstehen. Jede Allegorese projiziert die von ihr favorisierte Bewußtseinsform vielmehr auf die Gestalten der Mythologie, was letztlich im übrigen auch noch für die psychoanalytische Mythendeutung gilt, wie sie kanonisch von Freud am Beispiel des Odipusmythos vorgeführt worden ist (vgl. §11). Zuletzt wurden beide [sc. Epikureer und Stoiker] von den Neuplatonikern abgelöst, welche endlich eigentliche Metaphysik in der Mythologie sahen, genöthigt dazu hauptsächlich wohl, um dem geistigen Gehalt des Christenthums in einem analogen des Heidenthums ein Gewicht zu geben. Da sie indeß bei den Bestrebungen, theils die eigenen speculativen Ideen mit den Traditionen der alten Religion in Einklang zu setzen, theils hinwiederum diese durch j e n e zu stützen, weit entfernt sind, an einen natürlichen Ursprung der Mythologie zu denken, die sie vielmehr als eine unbedingte Autorität voraussetzen, so können sie unter den eigentlichen Erklärern der Mythologie keine Stelle f i n d e n / 6

Trotz dieser unverhohlenen Kritik sieht Schelling im Neuplatonismus eine gewisse Annäherung an die philosophische Religion, deren Möglichkeit er in der ersten Vorlesung der Philosophischen Einleitung historisch untersucht, indem er in Plotins Begriff der Ekstase (εκατα/ης), der rational vermittelten Selbsttranszendenz der Vernunft in die intellektuelle Anschauung des Einen selbst, eine Ten-

außerdem Halfwassen: Freiheit als Transzendenz; Leinkauf: Schelling als Interpret. S. 31-43. 36 SW, XI, 33. Zur neuplatonischen Mythosphilosophie vgl. Cürsgen, D.: Die Rationalität des Mythischen. Der philosophische Mythos bei Piaton und seine Exegese im Neuplatonismus. Berlin/New York: 2002. Vgl. zur neuplatonischen Mythendeutung auch die Ausführungen Luc Brissons in seiner Einführung in die Philosophie des Mythos (Darmstadt: 1996, S. 117-132), wo insbesondere die Mythendeutung in Proklos' Po! /teia-Kom men tar zusammenfassend dargestellt wird.

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

denz zum Positiven, d.h. „über die Vernunft hinausgehenden"37, erkennt.38 Der Überstieg über die Vernunft ermöglicht dabei allererst die Frage, warum überhaupt etwas ist, das begriffen werden kann, und nicht vielmehr nichts. Die Affinität, die Schelling zum neuplatonischen Begriff einer Ekstase der Vernunft hat, besteht darin, daß sowohl Schelling als auch Plotin damit rechnen, daß Vernunft nur aus der Bewegung des Transzensus heraus verstanden werden kann. Die sich selbst übersteigende Vernunft kulminiert für Schelling aber nicht in einem glücklichen raptus mentis, in dem dasjenige aufgeht, was über den Begriff hinausgeht. Die Vernunft, die die Grenzen des Sinns übersteigt, entdeckt für Schelling vielmehr die Kontingenz des Sinns: Indem die Vernunft ihr eigenes Sein, d.h. die Etablierung einer erkennbaren und kommunizierbaren Welt von außen sieht, sieht sie zugleich ihre eigene Grundlosigkeit. Schelling sieht in der Ekstasis daher eine ultimative Sinnlosigkeitserfahrung. Die Vernunft erkennt die Kontingenz von Struktur, indem sie sich durch den für sie konstitutiven Transzensus über alle gegebene Struktur erhebt. Die Mythologie wurde in der Antike bekanntlich durch das Christentum abgelöst, was sich nicht zuletzt darin niederschlägt, daß auch heute noch viele Elemente des christlichen (v.a. katholischen) Gottesdienstes mythologische Ursprünge haben. Der Niedergang der Mythologie als Bewußtseinsform beginnt aber nicht erst mit dem Monotheismus des Christentums, sondern setzt bereits mit der antiken Mythendeutung und -kritik von Xenophanes bis zum Neuplatonismus an. Die antike philosophische Theologie hat die Mythologie zum Gegenstand des philosophischen Begriffs gemacht. An die Stelle der unfreien Erzeugnisse eines unreflektiert theogonischen Bewußtseins, dem sich immer wieder neue göttliche Gehalte erschließen, so daß die mythologische Erzählung niemals abgeschlossen werden kann, trat die katholische Kirche. Diese übte wiederum eine an ihr selbst unbegründete Macht über das Bewußtsein und sein

37 38

SW, XI, 258. Der Begriff der „Ekstase" wird von Schelling in den Initia ausdrücklich als Folgebegriff der intellektuellen Anschauung deklariert (Initia. S. 39). Zum Verhältnis von Plotins Begriff der εκστασις zum Erlanger Konzept Schellings vgl.: Leinkauf, Th.: Schelling als Interpret. S. 31-43. Daß Schellings Spätphilosophie gar wesentlich als eine Philosophie der Ekstase zu deuten sei, vertreten Jean-Francois Courtine (Extase de la Raison) und Marie-Christine Challiol-Gillet (Line philosophie de l 'extase).

§4. Das ens reaiissimum der neuzeitlichen Ontotheologie

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Wissen aus und besetzte als gewaltsame Negation des mythologischen Bewußtseins dessen Stelle im Gefuge der menschlichen Weltdeutung. Doch durch einen unaufhaltsamen Fortschritt, zu dem das Christenthum selbst mitwirkte, mußte das Bewußtsein, nachdem von der Kirche, auch von der Offenbarung selbst unabhängig werden, aus der unfreien Erkenntniß, in der es auch gegen diese sich befand, in den Stand des gegen sie vollkommen freien, zunächst nun freilich erkenntnißlosen Denkens versetzt werden."9

Auf die Macht der Kirche folgt für Schelling so eine „inhaltslose Freiheit"40, ein zunächst nur auf sich gestelltes Denken, das nun nicht mehr durch die alogische Macht der Mytheme gebannt ist, noch ausschließlich davon eingenommen ist, die Autorität der Offenbarung unkritisch zu wiederholen. Die inhaltslose Freiheit, die in der Reformation gipfelt, entsteht in Schellings Augen wiederum aus der Dynamik einer Bewußtseinsform, nämlich der Offenbarung. Mit der scholastischen Metaphysik*1 begann die Vernunft, die Offenbarung zu begreifen. Sie fing an, sich als natürliche, d.h. als erkennende Vernunft zur Offenbarung zu verhalten. Zwar hatte sie immer noch göttliche (also nicht-natürliche) Gehalte, die sie aber mit den Mitteln der natürlichen Vernunft, d.h. durch Argumente zu verteidigen suchte. Ohne schlechthin negiert zu werden, wurden die geoffenbarten Wissens- und d.h. Bewußtseinsinhalte zum Gegenstand einer natürlichen Erkenntnis, die selbst noch nicht zur vollkommenen Freiheit gelangte, weil diese nur eine Vernunft realisieren kann, die in freier Selbsterkenntnis die Strukturen der Wirklichkeit in ihr selbst findet und sich so in gewisser Weise als

39 40 41

SW, XI, 260. Ebd. Daß Schellings Bild der scholastischen Metaphysik als „rationalistischer Dogmatismus" (Oeser: Die. antike Dialektik. S. 118) diese freilich stark vereinseitigend und dadurch geradezu verfälschend darstellt, versteht sich beinahe von selbst. Zu Recht weist Erhard Oeser sogar darauf hin, daß man Schellings negative Philosophie insbesondere im Lichte ihrer Hegelkritik als „dialektische Transzendentalienlehre" und das bedeutet im Horizont der mittelalterlichen Metaphysik selbst deuten könne (S. 99-105). Vgl. auch den interessanten Strukturvergleich der Seinsmetaphyik des Aquinaten mit Schellings Aristoteles-Interpretation im Schlußkapitel von Oesers Arbeit (S. 118-131). Mit Harald Holz muß man zudem festhalten, daß Schelling die scholastische Metaphysik von vornherein auf einen Typus von Schulmetaphysik zurechtstutzt, wie er ihm in der Gestalt der Wolffschen Metaphysik bekannt war (Spekulation und Faktizität. Zum Freiheitsbegriff des mittleren und späten Schelling. Bonn: 1970 [zit.: Spekulation und Faktizität], S. 222).

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

das Ganze weiß. Daher war das „Daseyn Gottes"42, d.h. des primären Inhaltes der Offenbarung, Gegenstand ihrer Erkenntnisanstrengungen, deren Vertrauen in die Form des Syllogismus noch unerschüttert war. Die Gottesbeweise sollten dabei nichts beweisen, was nicht ohnehin bekannt war, sondern lediglich eine Art Anleitung der natürlichen Vernunft zur reflektierten Aneignung ihres eigentlichen Gehalts darstellen. Die natürliche Vernunft, die eine natürliche Theologie auf der Basis von Argumenten konstruiert, setzt zwar voraus, daß Gott existiert, sucht diese Voraussetzung aber durch die Gottesbeweise zu erhärten und aus der bloßen Gegebenheit des Daseins Gottes ein Resultat des Denkens zu machen. Schelling zufolge erkennt die scholastische Metaphysik dabei drei Autoritäten an: 1. Die Autorität der allgemeinen Erfahrung. 2. Die Autorität der einzelne Erfahrungen synthetisierenden Begriffe (κοιναί ϊννοιαι) wie Kausalität, Einheit, räumliche Kontiguität usw. 3. Die Autorität der Vernunft als eines Vermögens zu schließen.43 Da Gott weder Gegenstand der allgemeinen (Sinnes-)Erfahrung noch eine bloße Verknüpfung einzelner Erfahrungen sein kann, habe die scholastische Metaphysik das in ihr unhinterfragte Dasein Gottes folgerichtig zum Gegenstand der Vernunft gemacht, die in ihrer Eigenschaft als das Vermögen zu schließen Gottesbeweise aufgestellt habe. Gott habe ihr dabei als „reines Einzelwesen"44 gegolten, als Seiendes, dessen modus essendi sich von allem anderen Seienden allein aufgrund seiner Unendlichkeit unterscheidet, die nicht Gegenstand einer unmittelbaren Erfahrung sein kann. Gottes Dasein kann nicht in einer Anschauung gegeben werden, sondern muß erschlos42 43 44

SW, XI, 262. SW, XI, 261 f. SW, XI, 262. Daß Gott sogar Einzelwesen im emphatischen Sinne ist, wird sich am Ende des Weges der Schellingschen Dialektik selbst erweisen (s.u., §§8f.). Der wesentliche Unterschied zwischen dem „Gott am Ende" (SW, X, 124) der negativen Philosophie und dem Gott der scholastischen Metaphysik besteht nach Schelling aber darin, daß die scholastische Metaphysik Begriff und Existenz Gottes als Inhalt des Bewußtseins unbegriffen voraussetzt, während jene den Nachweis antritt, daß das Sich-selbst-Denken des Denkens dieses notwendigerweise über die vermittelnden allgemeinen μέγιστα γένη, die Potenzen, zur Selbstbescheidung der reinen Vernunftwissenschaft hinausführt. Am Ende der negativen Philosophie wrd die begrifflich uneinlösbare Individualität eines absoluten Seinsvollzugs entdeckt, die theoretisch nicht mehr eingeholt werden kann, sondern auf eine praktische Dimension verweist (s.u., §§14f.).

§4. Das ens realissimum der neuzeitlichen Ontotheologie

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sen werden. Die religiöse Einstellung der natürlichen Vernunft ist daher ein Schluß. Die ratio der rationalen Theologie steht dabei dadurch der platonischen νόησις, dem schauenden Wissen des Unbedingten und daher Voraussetzungslosen, entgegen, daß sie Gottes Dasein zum Gegenstand ihrer Erkenntnisbemühungen macht, ohne im voraus zu klären, was es ist, dessen Dasein bewiesen werden soll. Ihr VernunftbegrifF bleibt an der Sinneserfahrung orientiert, indem lediglich Einzel seiendes als möglicher Gegenstand einer bloß rechnenden, im Dienste des Syllogismus arbeitenden Vernunft gilt. Die rationale Theologie sucht einen rationalen Existenzbeweis für die Existenz einer Entität, des summum ens, aufzustellen und verfehlt ipso facto den eigentlichen Begriff des Unbedingten, der darin besteht, nichts Gegenständliches, kein Ding oder Bedingtes zu sein. Es wundert daher nicht, daß das Vertrauen in die Gottesbeweise unabhängig davon schwinden mußte, das vermutlich kein Gottesbeweis als gültig gelten kann. Was auch immer man genau unter „Gott" verstehen mag, fest steht, daß Gottes Existenz nicht mit der Existenz eines Tisches oder eines sonstigen Dings in der Welt verwechselt werden sollte, das lediglich die besondere Eigenschaft hat, nicht anschaulich zugänglich zu sein. Gott kann nicht das Resultat einer Menge von Daten und akzeptierten Schlußregeln, d.h. Gegenstand einer Theorie sein, die α priori seine Existenz beweisen will. Der Versuch, die Existenz eines ausgezeichneten Seienden durch ein Argument zu beweisen, ist inkompatibel damit, daß Gott jedenfalls kein Seiendes unter anderen sein kann, so daß es kaum ein angemessenes Projekt darstellt, mithilfe von Argumenten darüber entscheiden zu wollen, ob es neben Tischen, Gedanken, Häusern und Staaten auch noch einen Gott gibt. Doch nachdem die Vernunft sich der Offenbarung entgegengesetzt hatte, blieb es aufgrund einer in der Vernunft selbst liegenden emanzipatorischen Teleologie der Freiheit nicht aus, daß die unhinterfragten Voraussetzungen der rationalen Theologie wiederum Gegenstand der philosophischen Vernunft wurden: Der Empirismus Francis Bacons bestritt dabei zunächst die Autorität der schließenden Vernunft, wobei er die Autorität der sinnlichen Erfahrung weiterhin beibehielt, während Descartes noch weiter ging und in der ersten Meditation sogar den Evidenzcharakter der sinnlichen Erfahrung in Frage stellte.

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

Damit war das ganze künstliche Gewebe der Metaphysik völlig zerrissen. Dieser Riß vervollständigte nur den Bruch, der durch die Reformation in das System der bisher geltenden Erkenntnisse gemacht worden.45

Die Vernunft befreit sich somit sukzessive von ihren selbst noch unbewußt gesetzten Voraussetzungen, um sich mit Descartes wieder ihrer ursprünglichen, von Piaton exponierten Frage nach dem Unbedingten (der ανυπό$ετος αοχη) zuzuwenden. Dabei orientiert sie sich am Telos absoluter Autonomie, das erst dann realisiert ist, wenn alle Bedingungen des Vernunftgebrauchs durch diesen selbst vermittelt sind. Indem die Vernunft als solche auf das Unbedingte aus ist, ist sie über alle Dinge immer schon hinaus. Dieses Hinaussein drückt sich in ihrem Transzensus aus, ohne den wir als vernunftbegabte Wesen gar keinen Begriff von Welt als dem umfassenden Horizont hätten, innerhalb dessen Dinge begegnen können. Die Vernunft kann sich daher an nichts Bestimmtes binden lassen, was sich in der neuzeitlichen Philosophie darin ausdrückt, daß der Skeptizismus die überlieferten Gewißheiten endgültig in Frage stellt. Zwar geschieht dies zunächst noch, um sie wiederzugewinnen, was ja das eigentliche Anliegen Descartes' ist. Indem die Möglichkeit des Skeptizismus aber alles Wissen potentiell untergräbt, fanden sich schnell Wege, die Vernunft im Dienste der Emanzipation von der Tradition einzusetzen. Die Dynamik der Selbstaufhebung der Mythologie führt bei Descartes und seinen philosophischen Nachfolgern nicht nur zu einer Selbstaufhebung der Offenbarung, sondern ebenfalls zu einer Suche nach einem fundamentum inconctissum, das philosophisch begreifend gewußt wird. Es wundert nicht, daß dieses mit dem Gott der rationalen Theologie gleichgesetzt wird, da dieser immer noch der eigentliche Gegenstand ist, der gesucht wird. Die Prädominanz des ontologischen Gottesbeweises in der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes bezeugt Schelling zufolge das Streben der Vernunft, sich ihren ursprünglichen Inhalt unter den Bedingungen der durch den Skeptizismus vermittelten Freiheit erneut anzueignen. Schelling sieht Descartes demnach als einen Denker, der sich auf der Suche nach einem methodisch kontrollierten Weg zum absoluten Prinzip befindet.46 Descartes' Weg zum Prinzip, d.h. zum voraussetzungslosen Anfang, ist dabei der Zweifel. Da aber jeder Zweifel dasjenige voraussetzt, woran er zweifelt und nicht aus sich selbst 45 46

SW, XI, 264. SW, XI, 269.

§4. Das ens realissimum der neuzeitlichen Ontotheologie

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den Gegenstand seines Zweifeins generiert, um ihn, mit Hegel zu sprechen, durch „bestimmte Negation" zum Vehikel eines „sich vollbringenden Skeptizismus"47 zu machen, reicht der Cartesische methodische Zweifel zur vollkommenen Befreiung noch nicht aus.48 Indem der methodische Zweifel sich seiner Tätigkeit des Zweifeins zuwendet, um das Sein des Zweifelnden, der ich im Vollzug der dubitatio jeweils selbst bin, als schlechthin gewiß zu vergewissern und zum Fundament der Philosophie zu machen, verkennt er, daß der Zweifel das Sein alles dessen, woran er zweifelt, mit einer Gewißheit setzt, die nicht geringer ist als die Selbstgewißheit des Zweifelnden. [I]ch zweifle an dem Seyn der Dinge außer mir, also sind sie, ist ein nicht minder gültiger Schluß. Denn an dem, was überall und auf keine Weise wäre, könnte auch nicht gezweifelt werden49.

Mein eigenes Sein ist somit ebenso gewiß bzw. ungewiß wie das Sein der Dinge außer mir, die Gegenstand meiner sinnlichen Erfahrung sind. Denn auch mein eigenes Sein ist zweifelhaft, indem es nicht von der Vernunft selbst gesetzt und von dieser begriffen ist, sondern nur als das Faktum meines Selbstbewußtseins konstatiert werden kann: „Sum" gilt nicht schlechthin und außerhalb des Aktes des Selbstbewußtseins, sondern „sum" bedeutet immer „sum res cogitans", eingeschränktes, bestimmtes Sein: Seiendes unter anderem. Das Ich findet sich immer schon in einer Welt und damit neben anderem vor. Das Sein selbst, ohne das Ich wiederum nicht sein 47 48

TWA, 3, 72. Der Skeptizismus „übt seine Dialektik aus nach Zufälligkeit, - wie ihm der Stoff, der Inhalt gerade vorkommt, zeigt er auf, daß er in sich das Negative sei." (TWA, 19, 350) Vgl. außerdem die Skeptizismus-Kritik in der PhdG (TWA, 3, 159-163) sowie natürlich Hegels Jenenser Aufsatz über das Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie. Darstellung seiner verschiedenen Modifikationen und Vergleichung des neuesten mit dem alten. 49 SW, XI, 269. Zu Schellings Kritik am Cogito vgl. Schulz: Die Vollendung des deutschen Idealismus, S. 34f. sowie Hutten Geschichtliche Vernunft. S. 138-144. Vgl. außerdem den sehr im allgemeinen bleibenden kurzen Aufsatz des frühen Arnold Gehlen über Descartes im Urteil Schellings (in: Ders.: Theorie der Willensfreiheit und frühe philosophische Schriften. Neuwied/Berlin: 1965, S. 299-303). Gehlen bemerkt im Unterschied zu Schulz nicht, daß Schellings Descartes-Kritik ontologisch fundiert ist und sich nicht auf die von Strawson sogenannte „nosubject" bzw. „no-ownership doctrine of the s e l f (Strawson, P.F.: Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics. London: 1959, S. 95) reduzieren läßt, die besagt, daß das „Ich" im „Ich denke" ebensogut als ein „Es denkt in mir" ausgelegt werden könnte.

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könnte, wird daher nicht zufällig, so Schelling, an das im Gottesbegriff mitgesetzte Sein zurückgebunden. 50 Die Selbstgewißheit des Ich wäre nichtig, wenn sie nicht zugleich eine Gewißheit des absoluten Seins wäre, durch die die Gewißheit alles Seienden wiedergewonnen wird. Ohne den Bezug auf Gott bleibt das Sein des Zweifelnden letztlich immer noch kontingent. Denn der Zweifelnde findet sich in einer Welt vor, in der er nicht alleine ist, d.h. in einer Welt mannigfaltiger Bestimmungen, deren jede immer noch ein Seiendes wäre, selbst wenn ein genius malignus sie uns nur vorgaukelte. Denn Illusionen sind nicht schlechthin nichts. Ansonsten könnten sie uns auch nicht zum Irrtum verfuhren und verbergen, daß sie Illusionen sind. Das Sein des Zweifelnden ist kontingent. Es gibt keine metaphysischen Gründe dafür, daß ausgerechnet ich (wobei jeder ich ist) den Satz ausspricht, daß ich denke oder daß ich existiere. Das gilt für Gott nicht, so daß Descartes sich auf dem richtigen Weg befinde, Gott mit dem Cogito zu verbinden. Worin heute beinahe kein Philosoph mehr Descartes ernstnimmt, sieht Schelling seine eigentliche Stärke, nämlich darin, Gott zum absoluten (schlechthin gewissen) Inhalt des reinen Denkens (des Cogito) zu machen. Man sieht: Descartes will die Existenz Gottes als die im reinen Denken gesetzte. Aber der Gedanke mißlingt ihm, inwiefern er doch einen Mittelbegriff einschaltet (den, daß die Existenz eine Vollkommenheit ist) und einen Schluß formirt. Das also ist nicht der Gegenstand, von dem Piaton gesagt, daß ihn die Vernunft selbst berührt [sc. die ανυπόδητος αρχή].51 Descartes befreit sich somit zwar von den Autoritäten der scholastischen Metaphysik, indem er durch das Denken selbst das Ich zum Prinzip einer autonomen Philosophie macht und von dessen beschränktem Sein aus auf den unendlichen, alle Realitäten in sich enthaltenden Begriff Gottes schließt. Dennoch schreitet er anschließend von dem einmal gewonnenen Begriff eines ens realissimum nicht fort, indem er nicht zeigt, wie die Welt mit ihren unendlichen Einschränkungen aus diesem entwickelt werden kann. Die Erfah-

50

51

In nuce findet sich diese Kritik am Cartesischen Cogito schon in den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie, wo es heißt: „Das Ich denke, Ich bin, ist, seit Cartesius, der Grundirrthum aller Erkenntniß; das Denken ist nicht mein Denken, und das Seyn ist nicht mein Seyn, denn alles ist nur Gottes oder des Alls." (SW, VII, 148) Hogrebe rekonstruiert Schellings „Existenzgeneralisisierung von ich denke" ausführlich in §10 von Prädikation und Genesis (S. 51-58). SW, XI, 270.

§4. Das ens realissimum der neuzeitlichen Ontotheologie

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rungswelt mit ihren zahllosen, in Gott vereinigt gedachten Bestimmungen wird somit nicht eigens durch eine dihäretische Wissenschaft aus dem Absoluten hergeleitet bzw. umgekehrt das Endliche in das Unendliche regressiv überfuhrt, wie dies exemplarisch Schellings Identitätsphilosophie durch ihre Methode der Konstruktion leisten wollte. Gott, Ich und Welt stehen daher unvermittelt nebeneinander. Weder wird das Ich noch die Welt aus Gott abgeleitet. Auch wird nicht gezeigt, wie das Ich und die Welt in Gott vereinigt gedacht werden können. Die durch den Zweifel aufgerissene Kluft zwischen Denken und Sein bleibt so lange bestehen, bis Denken und Sein dadurch vereinigt werden können, daß das Sein sich als notwendiger Inhalt des Denkens erweist. Die Einheit von Sein und Denken werde von Descartes zwar durch seinen Gottesbeweis versprochen, aber nicht zureichend eingelöst. Das angestrebte Ziel der Suche nach dem „unzweifelhaft Seyende[n]" muß also dem „Begreifen des zweifelhaft Seyende[n]"53 dienen, weil die Aufgabe der Philosophie die denkende Betrachtung des Endlichen ist, das unser Bewußtsein einnimmt, um dieses dadurch in den Begriff, den wahren Ort der Freiheit zu überfuhren. Demnach erreicht Descartes das von ihm gesuchte Absolute noch nicht bzw. nur in einer unvollkommenen Weise. Das Bedürfnis der Philosophie, die den Menschen als solchen existenziell betreffende Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts,54 zu stellen und mit den Mitteln einer metaphysischen Vernunft zu beantworten, wird von einer solchen Philosophie nicht befriedigt, die zwar im Ausgang vom Ich auf seinen Urgrund schließt, von diesem aber gleichsam nicht mehr wegkommt. Descartes gelangt somit zwar sehr wohl zum

52 „Philosophische Konstruktion" ist, wie Schelling in der vierten der Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums ausfuhrt, „Darstellung in intellektueller Anschauung" (SW, V, 255), d.h. in einer Anschauung ihres Gegenstandes „in der absoluten Identität des Allgemeinen und Besonderen" (ebd.). Vgl. a. Scheilings Aufsatz Über die Construktion in der Philosophie im Kritischen Journal (SW, V, 125-151). Vgl. dazu: Zantwijk, T. van: Ist Anthropologie als Wissenschaft möglich? Der „Mensch" in Schmids „enzyklopädischer Topik" und Scheilings „philosophischer Konstruktion" der Wissenschaften. In: Jantzen/Oesterreich: Scheilings philosophische Anthropologie. S. 110-154, v.a. S. 139-149; Sollberger: Metaphysik und Invention. S. 149-154; Krings, H.: Die Konstruktion in der Philosophie. Ein Beitrag zu Scheilings Logik der Natur. In: Stagl, J. (Hg.): Aspekte der Kultursoziologie. Festschrift für Mohammed Rassem zum 60. Geb., Berlin: 1982, S. 341-351. 53 SW, XI, 271. 54 SW, XIII, 7, 406.

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Begriff einer „im reinen Denken gesetzte[n]"55 Existenz Gottes, bleibt die Entwicklung und systematische Entfaltung dieses Begriffs, was Schelling die „Wissenschaft"36 tout court nennt, allerdings schuldig. Descartes wollte das im reinen Denken, insofern unabhängig von diskursiver Wissenschaft, gesetzte Seyn als Anfang, aber der unvollkommen verstandene Anfang ließ den wahren Fortgang nicht finden und blieb für die Wissenschaft selbst ohne Folge. 57

Malebranche fuhrt das von Descartes inaugurierte Gottesdenken fort. Sein Beitrag zur Erkenntnis des Absoluten ist die für die weitere Geschichte der Ontotheologie grundlegende Einsicht, daß Gott „das Seyende"58 im emphatischen Sinne des παντελώς ov ist. Damit ist nach Schelling eine entscheidende Wende in der philosophischen Theologie der Neuzeit eingeleitet worden, indem Gott nicht mehr nur als bloßes Einzelwesen gedacht wurde, dessen Existenz man sich wie der bloßen Vorhandenheit eines beliebigen innerweltlichen Seienden versichern muß, und das sich nur dadurch von allem Endlichen unterscheidet, daß es nicht unmittelbarer Erfahrungsgegenstand sein kann. Indem Gott nun als Seinsfulle, d.h. als „Allmöglichkeit"59, als „das allgemeine Wesen"60 gewußt und thematisiert wurde, konnte die Philosophie von nun an mit der wissenschaftlichen Entfaltung

55 SW, XI, 270. 56 SW, XI, 271. 57 SW, XI, 273. Zu jeder Station auf Schellings Weg zu seiner eigenen Gegenwart ließe sich natürlich noch vieles sagen. Oftmals könnte eine umfangreiche Interpretation der von Schelling besprochenen Philosophien im Lichte der Thesen Schellings erstaunliche Ergebnisse erbringen. Dem kann hier aber nicht entsprochen werden, da es lediglich darum geht zu zeigen, daß Schellings Konstruktion der Geschichte der philosophischen Theologie den Leitfaden einer Teleologie der Freiheit ansetzt, um nachzuweisen, daß die Geschichte der philosophischen Theologie auf eine freie oder philosophische Religion zuläuft, deren Begriff erst im Laufe dieser Arbeit geklärt werden kann. An anderer Stelle habe ich Schellings Bild der Aristotelischen Metaphysik anhand einer ausfuhrlichen Interpretation von Metaphysik Α ausgeführt. Vgl. Verf.: Gottes transzendenter Seinsvollzug. Zur Aristotelischen Ontotheologie im Α der Metaphysik. Erscheint in: Jahrbuch fiir Religionsphilosophie (2006). 58 SW,XI, 272. 59 SW, XI, 271. 60 SW, XI, 273.

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dieses Begriffs beginnen. Denn „für das bloße Einzelwesen gibt es keine Wissenschaft."61 Eine anspruchsvolle philosophische Theologie rechnet also nicht damit, daß Gott irgendeine hyperphysische Entität ist, deren Existenz reinrational demonstriert werden kann und muß. Damit verpflichtet man sich nämlich bereits auf einen naiven Gottesbegriff, der Gott letztlich nicht anders behandelt als einen Tisch mit der Ausnahme, daß Gott für eine besonders schwer zu entdeckende Entität gehalten wird, da er nicht unter den Erfahrungsgehalten (den physikalischen Objekten) vorkommen kann, die uns die Welt entgegenbringt. Gott ist aber kein Seiendes unter anderen mit der besonderen Eigenschaft, außerhalb der Welt zu sein, sondern er ist, wie Schelling sich ausdrückt, das Seiende, wobei hier sicherlich der griechische emphatische Begriff το ov anklingt. Das Seiende ist aber der Name für das Ganze des Seienden, das naturgemäß nicht im Seienden gefunden werden kann. Alles, was überhaupt ist, ist Teil einer umfassenden Einheit. Diese umfassende Einheit wird durch den Gottesbegriff angepeilt, aber notwendig verfehlt, wenn man sie als Seiendes neben anderem versteht. In Malebranches Ontotheologie zeigt sich für Schelling deutlich die Defizienz aller Gottesbeweise und somit auch des ontologischen. Denn zu beweisen, daß Gott in einem unbestimmten Sinne ist, d.h. die Wahrheit des Urteils „Gott ist nachzuweisen, ist insofern ein widersprüchliches Unterfangen, als das zu bewahrheitende Urteil sein Subjekt in inadäquater Weise ausdrückt, da Gottes Existenz niemals durch die Unbestimmtheit des bloß faktischen Seins (Existenz) vollständig beschreibbar sein kann. Vom unbestimmten Sein Gottes gibt es nämlich keinen Übergang in eine entwickelte und inhaltsreiche Philosophie, deren Möglichkeit aber bereits im Begriff des zu Beweisenden als ens realissimum postuliert wird. Soll bewiesen werden, daß das ens realissimum notwendig existiert und wird lediglich bewiesen, daß es existiert, ohne daß zugleich bewiesen wird, daß es als ens realissimum, d.h. als Totalität existiert, wird gar nicht bewiesen, daß Gott existiert. Die neuzeitliche Metaphysik denkt Gottes Sein als Element der Menge seiner Prädikate der Vollkommenheit. Indem sie dies tut, gelangt sie zur Idee der Einheit von Begriff und Sein in Gott, so daß sie von dort aus den Beweis antreten kann, daß Gott ist, da Sein notwendig mit 61

Ebd. Schelling denkt hier an Aristoteles' Grundsatz, daß (Met. 1086b33).

ή επιστημη των καΒόλου

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seinem Begriff gesetzt ist. Nun entspricht der Gottesbegriff der Konklusion aber dem der Prämisse nicht mehr, daß Gott Vollkommenheit zuzuschreiben ist. Im Resultat, das von Gott bloß aussagt, daß er ist, ist das Subjekt nicht mehr als das ens perfectissimum et realissimum, sondern nur noch als ens necessarium gesetzt. Der Subjektterminus wird demnach im Syllogismus modifiziert, so daß der Fehlschluß der vier Terme (Äquivokation) entsteht, da ein gültiger kategorischer Syllogismus in Standardform genau drei Terme enthalten muß, deren jeder über das gesamte Argument hinweg in der gleichen Bedeutung verwendet wird.62 Wird Gott hingegen als das Seiende gedacht und der Existentialsatz „Gott ist = „Gott ist ein Seiendes" somit in den Attributivsatz „Gott ist das Seiende" transformiert, werde Gott erst als das Absolute angemessen gedacht. Gott könne als das Absolute im Sinne des ens realissimum nur dann eigentlich gedacht werden, wenn von ihm nicht nur das bloße unbestimmte Vorhandensein eines faktisch Existierenden, sondern ein bestimmter modus essendi ausgesagt wird, den Schelling „das-Seyende-seyn"63 nennt. Gott ist demnach dasjenige, was das Seiende, d.h. die Totalität ist. Gott muß also aus seinem Verhältnis zur Totalität heraus verstanden werden, was wiederum nicht zur Folge haben darf, daß Gott als ein Seiendes neben der Totalität verdinglicht wird. Gottes „das-Seyende-seyn" besteht nun darin, dasjenige zu sein, was nicht bloß Etwas, bestimmtes Seiendes, sondern Sein im eminenten Sinne, όντως ov oder wie Schelling auch sagt das „ "Ov der griechischen Philosophie"64 ist. Und nur dadurch vermag die Vernunft sich in ihm zu objektivieren, daß er das Seiende sensu eminenti ist, da dieses mit dem ,,reine[n] Vernunftseyn"65 identisch ist. Es besteht nämlich genau darin, das Wesen des Ganzen, die

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63 64

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Besonders deutlich ist diese Argumentation in Schellings Descartes-Kritik in Zur Geschichte der neueren Philosophie. Vgl. SW, X, 20-23. Hutter sieht darin die zentrale Antinomie der Ontotheologie, die Schelling zur Begründung seiner Spätphilosophie gefuhrt habe: Geschichtliche Vernunft. S. 173-180. SW, XI, 273. Gott ist bereits in den Initia die Einheit der drei Potenzen und insofern frei von ihnen, als er keine ausschließlich ist. Er ist daher „das Seiende selbst, das To "Ov der griechischen Philosophie, das von allen Formen des Seins entbunden ist." (S. 93) SW, XI, 273.

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ουσία als Ideenkosmos66 oder, wie Schelling selbst sagt, als „die Idee schlechthin, die Idee selbst*1 zu sein. Anders gesagt: Gottes „das-Seyende-Seyn" ist nichts anderes als die Idee. Die Idee im eminenten Singular ist für Schelling aber die Totalität aller quidditativen Bestimmungen, die omnitudo realitatum. Alles, was überhaupt irgend etwas ist, unterscheidet sich von allem anderen, das es nicht ist dergestalt, daß es nur dasjenige sein kann, was es ist, indem es alles andere, das es nicht ist, nicht ist. In diesem Sinne hängt alles zusammen. Dieser totale Zusammenhang ist aber dasjenige, was Schelling die Idee nennt, insofern dieser Zusammenhang die Intelligibilität, d.h. die Denkbarkeit alles dessen, was existiert, ermöglicht. Die Idee der Totalität läßt uns allererst auf die Welt im ganzen zugreifen und leitet insofern das menschliche Transzendenzstreben, das sich darin ausdrückt, daß der Mensch das einzige uns bekannte Wesen ist, das immer schon über dasjenige hinaus ist, was ihm gegeben wird. Das sinnlich Gegebene wird vom Menschen nämlich gedacht, indem es als sinnlich Gegebenes verstanden werden kann. Das sinnlich Gegebene ist uns daher niemals nur gegeben, sondern immer auch gedacht. Ein Weltbezug ohne Begriffe hingegen ist uns undenkbar, weil wir zu Einzelnem nur Zugang haben, indem wir immer schon über es hinaus sind. Das menschliche Hinaussein eröffnet uns den Zugang zur Idee im Sinne Schellings. Daß der Zugang zur Totalität in der Tradition der philosophischen Theologie als ein Zugang zu Gott ausgelegt worden ist, bezeugt für Schelling, daß die Idee über uns hinausgeht. Das menschliche Hinaussein ist also die Zugangsbedingung zu dem, was über es hinausgeht. Die herausragende Stellung des Menschen im Kosmos gründet nach Schelling in der menschlichen Selbsterkenntnis der Endlichkeit, die zugleich eine Erkenntnis der Unendlichkeit ist. Die philosophische Wissenschaft im emphatischen klassischen Sinne der επιστημΎ) besteht Schelling zufolge darin, das Einzelne im Lichte der Totalität zu begreifen. Daraus erklärt sich in seinen Au66

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Holz verweist in seiner Deutung der „Idee" oder „Figur des Seyenden" zu Recht auf Schellings Lehre vom Ideenkosmos in den Arbeiten zur Identitätsphilosophie: Spekulation und Faktizität. S. 218, 254, 264. SW, XI, 273. Der Ausdruck ουσία meint in der berühmten platonischen Transzendenzformel (ίπεκεινα της ουσίας) das die Ideen umgreifende, sich in ihnen artikulierende Sein und insofern das Ganze des Ideenkosmos. Vgl. Halfwassen: Aufstieg zum Einen. S. 223.

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gen die Tradition der philosophischen Theologie als πρώτη φιλοσοφία. Eine Theorie der Totalität, die dem Faktum der Existenz des Einzelnen nicht gerecht wird, ist aber keine Theorie der Totalität. Wenn Gott zum bloßen Abstraktum eines allgemeinen Seins zusammenschrumpft, hat man ihn Schelling zufolge also auch schon verloren, da die philosophische Theologie darauf aus ist, das Einzelne und das Allgemeine zu begreifen. Das heißt aber wiederum, daß das Einzelne im letzten Akt der Erkenntnis der Idee nicht verschwinden darf. Die Aufgabe der negativen Philosophie besteht nach Schelling daher darin, die Entfaltung der Idee in ihre Bestimmungen nachzuvollziehen. Die dialektische Selbstentfaltung der Vernunft in das Ganze ihrer wesentlichen Bestimmungen,-d.h. die negative Philosophie, hat so die Wiedergewinnung der platonisch verstandenen Dialektik im neuzeitlichen Kontext der Subjektivitätsphilosophie zur Voraussetzung, da diese allein einen Begriff von absoluter Wissenschaft entwickelt hat, der es erlaubt, zum Unbedingten vorzustoßen (dialectica ascendens) und von dort aus beim Endlichen wieder anzukommen (dialectica descendens). Die Wissenschaft, die nur als kontinuierlicher Übergang von einer Bestimmung zur nächsten dem im Wissenschaftsbegriff gelegenen SystembegrifF gerecht werden kann, hat zur Aufgabe, das όμοΰ πάντα der Bestimmungen der Totalität im Modus der Idee auseinanderzusetzen. Sie muß daher die Allmöglichkeit in die Wirklichkeit differenzieren,68 um so aus dem erfüllten Sein des Endlichen, das sie aus dem Vernunftsein abgeleitet hat, den wahren Begriff Gottes als „das, was das Seiende Ist"69, zu gewinnen. Erst nachdem die Idee durch all ihre Bestimmungen dialektisch hindurchgefühlt worden ist und ihre impliziten Möglichkeiten explizit gemacht worden sind, kann Gott als das Sein, als das Ist im transitiven Sinne aufgefaßt werden.70 Gelingt es, Gottes Verhältnis zum Ganzen des Seienden (das Schelling, wie gesagt, „das Seiende" tout court nennt) zu bestimmen, ohne Gott 68

Schelling zitiert selbst (SW, XI, 376) folgende Stelle aus der Aristotelischen Metaphysik als metaphysischen Grundsatz: φανερόν οτι τά δυνάμει 'όντα εις ενεργεί αν αναγόμενα ευρίσκεται (1051a29f.). Vgl. dazu Leinkauf: Schelling als Interpret. S. 88ff. 69 SW, XI, 274. 70 Vgl. dazu die Darstellung Hermann Weidemanns: Schelling als AristotelesInterpret. Das Aristotelische »ri ήν εΐναι« als das »das-Seyende-Seyn«. In: Theologie und Philosophie 54 (1979), S. 20-37, v.a. S. 27-31 [zit.: Schelling als Aristoteles-Interpret]. Vgl. a. Sollberger: Metaphysik und Invention. S. 309-326.

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dabei zu verdinglichen, ist die Aufgabe der philosophischen Theologie gelöst. Der Weg, der zu dieser Lösung führt, besteht Schelling zufolge darin, Gott als das Sein des Seienden zu verstehen, als dasjenige, was die Totalität überhaupt sein läßt. Darin weiß sich Schelling in der negativen Philosophie mit der überlieferten Ontotheologie einig. Als Beispiel eines spekulativen Satzes fuhrt Hegel sicherlich nicht zufallig das ontotheologische Urteil par excellence „Gott ist das Sein" an/ 1 Das Begreifen, das den Inhalt dieses Urteils zu erfassen sucht, schreite zunächst von dem scheinbar festen Subjekt „Gott" zu dem von ihm prädizierten „Sein" fort, was es durch sein gewöhnliches, räsonnierendes, von einer Bestimmung zur anderen linear fortschreitendes Denken gewöhnt ist. Dabei stellt es allerdings fest, daß von Gott nicht ein beliebiges Prädikat ausgesagt worden ist, sondern sein Wesen im Prädikat selbst erst eigentlich thematisch ist, so daß das Prädikat das Subjekt sogar in einem ausgezeichneten Sinne ist. Im Unterschied zu einem Urteil wie „Das Haus ist groß" bleibt das Subjekt im Vollzug des Urteils nicht unmittelbar bei sich, sondern wird durch die Prädikation erst eigentlich zu dem, was es ist. Das Denken wird durch dieses ,,ungewohnte[...] Hemmen"72, das es nicht geradlinig zum nächsten Urteil fortschreiten läßt, genötigt, auf das Subjekt des Urteils zurückzukommen, um festzustellen, daß dies zugleich mit seinem Prädikat identisch und nicht-identisch ist. Das prima facie bloß logisch-grammatische Subjekt des Urteils entpuppt sich in dieser Bewegung von sich weg und zu sich zurück als Subjekt im Sinne einer Bewegung der Selbstunterscheidung und gleichzeitigen Rückkehr zu sich, als Bei-sich-selbst-im-AndernSein.73 Diese Bewegung ist in der Kopula des Urteils allerdings 71 72 73

TWA, 3, 59. Ebd. Vgl. dazu Schäfer, R.: Die Dialektik und ihre besonderen Formen in Hegels Logik Entwicklungsgeschichtliche und systematische Untersuchungen. Hamburg: 2001, S. 177-193, wo Schäfer ausfuhrlich zeigt, wie im spekulativen Satz „das Satzsubjekt zu einem erkennenden Subjekt wird" (S. 183). Er weist im dritten Kapitel seiner Arbeit überzeugend nach, daß Hegel in der späten Jenaer Zeit die „Subjektivität als das Prinzip spekulativer Dialektik" entdeckt hat, was seinen Niederschlag in der PhdG gefunden habe. Chong-Fuk Lau entwickelt neuerdings Hegels Lehre vom spekulativen Satz im Gesamtkontext seiner Urteilskritik, wobei er insbesondere die Bedeutsamkeit der Urteilskritik für die logisch-metaphysische Konstruktion der Hegeischen Logik herausgearbeitet hat. Vgl. Hegels Urteilskritik Systematische Untersuchungen zum Grundproblem der spekulativen Logik München:

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nicht explizit, so daß es der Form des Schlusses bedarf, um die Vermittlungsbewegung darzustellen. Bei Schelling findet sich eine ähnliche spekulative Deutung der Kopula, an der seine Kritik der Identifikation von Gott und Sein tout court abgelesen werden kann, die er mit Hegel teilt. Schellings Deutung der Kopula erfüllt seit der Einleitung in die Freiheitsschrift74 eine grundlegende Funktion für seine Ontotheologie. In der Freiheitsschrift ist es v.a. die Abwehr des Pantheismus-Vorwurfs, die Schelling dazu bringt, die Bedeutung der Kopula zu klären. Anders als Hegel sieht Schelling in jedem Urteil, gleich welchen Inhaltes und welcher Form, ja sogar in einer Tautologie eine dialektische Bewegung, indem Subjekt und Prädikat durch ihre Funktion im Urteil bereits so unterschieden seien, daß durch ihre Verknüpfung, die durch die Kopula ausgedrückt wird, keine bloße „Einerleiheit oder auch nur ein unvermittelter Zusammenhang dieser beiden ausgesagt werde"75. In der Bewegung vom Subjekt zum Prädikat sei jenes als antecedens, dieses als consequens gesetzt, wodurch jeder dazu genötigt werde, in dem Urteil „der Körper ist ein Körper" bei dem Satzsubjekt etwas anderes zu denken als bei dem Satzprädikat. Der „Körper" als Subjekt werde bspw. als die Einheit gedacht, die der Bestimmungsvielfalt „Körper" zugrundeliege, die an der Prädikatstelle steht. Sage ich nämlich von etwas aus, daß es ein Körper ist, so sage ich damit immer auch eine Mannigfaltigkeit von z.B. naturwissenschaftlich beschreibbaren Merkmalen aus. Die Einheit „Kör2004. Vgl. außerdem die ältere Arbeit von Günther Wohlfahrt: Der spekulative Satz. Bemerkungen zum Begriff der Spekulation bei Hegel. Berlin/New York: 1981. Werner Beierwaltes sieht bereits in Meister Eckharts Auslegung des „Ego sum qui sum" (Ex. 3, 14) eine Vorform einer Theorie des spekulativen Satzes und vergleicht diese ausdrücklich mit Hegels Konzept (Piatonismus und Idealismus. S. 45-47). Dabei betont er allerdings zu sehr die Aufhebung der dem Urteil eigentümlichen Differenzstruktur, die bei Eckhart im Gegenteil zu Hegel zudem mit einer negativen Theologie zusammenhängt. Hegel will aber nicht die Differenz im Urteil schlechthin streichen, sondern zeigen, daß dem Subjekt im spekulativen Satz sein Prädikat nicht äußerlich hinzugefugt wird, sondern daß es dieses aus sich heraus tätig setzt. Nur dadurch wird die Struktur des Absoluten als „Identität der Identität und Nicht-Identität" sichtbar. Hegel will also nicht die Differenz in Einheit zurücknehmen, sondern kritisiert an der Differenzstruktur des Urteils vielmehr, daß die Einheit des Differenten in der Differenzstruktur des Urteils nicht reflektiert werde, so daß das Urteil durch eine komplexere Differenzstruktur (den Schluß) überboten werden muß, die Identität und Differenz zugleich anzeigt. 74 75

Vgl. v.a. SW, VII, 341-343. SW, VII, 341.

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per" an der Subjektstelle läßt sich demnach auch als das „Eingewikkelte" bezeichnen, während das Prädikat dessen „Entfaltung" in seine Momente darstellt.76 Diese Bestimmung des Urteilssubjekts als implicitum und des Prädikats als explicitum weist bereits auf die Spätphilosophie voraus, in der Schelling das Subjekt als potentielle Entfaltungsbasis des Prädikats im Sinne der ersten Potenz denkt. Das ist in dem Urteil „A ist B" bedeutet demnach so viel wie „A ist dem Β Subjekt, d.h. es ist nicht selbst und seiner Natur nach Β (in diesem Fall wäre der Satz eine leere Tautologie), sondern: Α ist das auch nicht Β seyn Könnende."77 Wenn Gott als das Woraus alles Seienden allem Seienden vorangeht, dann muß er in seinem Prinzipiencharakter Subjekt im emphatischen Sinne sein. „Gott muß daher schon in seinem dasSeyende-Seyn als ein für-sich-seyn-Könnendes, Absonderliches (ein χωριστον im aristotelischen Sinn) gedacht seyn"78, da er im Urteil an der Subjektstelle steht und folglich als Für-sich-Sein gedacht werden kann, weil ansonsten nichts von ihm, sondern er von anderem ausgesagt würde.79 Das Subjekt im Urteil „Gott ist das Sein" muß daher als die Substanz der Welt gedacht werden können, als dasjenige, von dem alles ausgesagt wird, was überhaupt ausgesagt wird. Mit dieser Einsicht erreicht die Ontotheologie in der Neuzeit ein neues Niveau, dessen bekanntes Zeugnis Spinozas Ethik ist.80 In Spinozas Substanzbegriff sieht Schelling die radikale Zuspitzung der Ontotheologie, die Gott und das Seiende schlechthin identifiziert, indem für Spinoza beide differenzlos zusammenfallen: „Unter Gott verstehe ich ein absolut unendliches Seiendes, d.h. eine

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SW, VII, 343. SW, XII, 53. Ebenso äußert sich Schelling SW, XI, 50; XIII, 228. Diese bereits in den Weltaltern begründete Urteilstheorie kommentiert am eindringlichsten Hogrebe: Prädikation und Genesis. S. 81 f. Vgl. a. Sollberger: Metaphysik und Invention. S. 296-301. 78 SW, XI, 274. 79 Schelling knüpft damit unmittelbar an Aristoteles an. Denn die ουσία bezeichnet bei Aristoteles als einzige Kategorie ein χωρίοτ» (Met. 1028a33f.), indem sie dasjenige ist, was selbst weder in einem anderen ist noch von einem anderen ausgesagt wird, sondern von dem alles andere ausgesagt wird (Cat. Kap.5). 80 Zu Spinozas Ort in der Geschichte des ontologischen Gottesbeweises vgl. Rod, W.: Der Gott der reinen Vernunft. Die Auseinandersetzung um den ontologischen Gottesbeweis von Anselm bis Hegel. München: 1992 [zit.: Der Gott der reinen Vernunft], S. 80-105; Henrich: Der ontologische Gottesbeweis. S. 29-35.

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Substanz mit unendlichen Attributen, deren jedes eine ewige und unendliche Essenz ausdrückt."81 Während man mit Descartes und Malebranche immerhin versuchen könnte, die in Gott implizierten Möglichkeiten in das gesamte Reich des Wirklichen zu entfalten, d.h. von dem in der Vernunft gleichsam eingeschlossenen Gott ausgehend das Endliche durch eine Dialektik des Vernunftseins selbst abzuleiten, reduziert Spinoza in wirksamer Weise Gott auf sein Substanz- und das heißt für Schelling: auf sein das-SeiendeSein. „Alles ist ewig"82: Sub specie aeternitatis folgen die endlichen Dinge aus dem Begriff der Substanz, in der Essenz und Existenz, Denken und Sein zusammenfallen.83 Da es nur eine Substanz geben kann, die unendlich viele Attribute hat, deren Modi die endlichen Dinge sind, kann das Endliche, die (res particidares84) nur begriffen werden, wenn es als Realität, d.h. als Element des Ganzen des Seins, das identisch mit der Substanz ist, erkannt wird. Dies ist für Spinoza aber nur more geometrico möglich, weil er allein in der mathematischen Erkenntnisform die Möglichkeit einer ewigen, weil absolut notwendigen Folge gegeben sieht.85 Dabei ist der Begriff der unendlichen Substanz [...] von keinem, wie man erwarten sollte, durch das reine Denken gewonnenen Inhalt erfüllt, der Begriff des 81 „Per Deurn intelligo ens absolute infinitum, hoc est, substantiam constantem infmitis attributis, quorum unumquodque aeternam, & infinitam essentiam exprimit." (Spinoza: Eth. I, Def. 6) 82 SW, XI, 276. 83 Causa sui ist für Spinoza „id, cujus natura non potest concipi, nisi existens." (Eth. I, Def. 1) Da keine Substanz von etwas anderem hervorgebracht werden kann, weil sie ansonsten nicht rein durch sich selbst begriffen werden könnte, was aber ihrer Definition widerspricht („Per substantiam intelligo id, quod in se est, & per se concipitur: hoc est id, cujus conceptus non indiget conceptu alterius rei, a quo formari debeat." [Eth. I, Def. 3]) kann sie nur causa sui sein. Dies ist aber nur möglich, wenn ihr Begriff bereits ihr Sein impliziert. Sie ist daher die „existentia, ejusque essentia unum & idem sunt." (Eth. I, Prop. 20) Alles Endliche hat daher keine andere Substanz als die eine absolute Substanz, was sich im philosophischen Blick auf die Ewigkeit zeigt. „Res igitur sub specie aeternitatis concipere, est res concipere, quatenus per Dei essentiam, ut entia realia, concipiuntur, sive quatenus per Dei essentiam involvunt existentiam." (Eth. V, Prop. 30, Dem.) 84 „Res particulares nihil sunt, nisi Dei attributorum affectiones, sive modi, quibus Dei attributa certo, & determinate modo exprimuntur." (Eth. I, Prop. 25, Schol., Cor.). 85 „Omnia, inquam, in Deo sunt, & omnia, quae fiunt, per solas leges infinitae Dei naturae fiunt, & ex necessitate ejus essentiae [...] sequuntur" (Eth. I, Prop. 15, Schol.).

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vollkommensten Wesens verschwunden, wenn man nicht einen Rest desselben in der Andeutung einer unbestimmbaren Menge göttlicher Attribute sehen will, von denen uns durch Erfahrung nur die zwei, das unendliche Denken und die unendliche Ausdehnung, bekannt seyen. 86

Der von Spinoza aufgegriffene Vernunftstandpunkt wird somit von diesem verlassen, wenn er lediglich konstatiert, daß dem menschlichen Intellekt, der selbst nur ein Akzidenz der alles in sich enthaltenden Substanz ist, nur zwei ihrer unendlich vielen Attribute, nämlich extensio und cogitatio zugänglich sind.87 Spinoza gibt allerdings keinen weiteren Grund dafür an, sondern nimmt den cartesischen Dualismus von substantia cogitans und substantia externa zunächst auf, um ihn gleichzeitig aufzuheben, indem er zeigt, daß dasjenige, was Descartes für Substanzen gehalten hatte, nur Ausdrücke ein und desselben, nämlich der ewigen und einzigen una substantia sind. Der Vernunftstandpunkt der philosophischen Wissenschaft im Sinne Schellings bestünde aber darin, die beiden Substanzen aus dem absoluten Prinzip, der una substantia, abzuleiten, um zu zeigen, daß sie die Totalität und damit das ens realissimum ist, was eine Konsequenz des Gottesbegriffs ist, der in den ontologischen Gottesbeweis investiert wird. Spinozas positiver Beitrag zur weiteren Entwicklung der Philosophiegeschichte besteht in der Perspektive Schellings somit darin, Descartes' Gottesbegriff radikalisiert zu haben und an die Stelle der Cartesischen egologischen Meditationen Gott als Substanz, d.h. als das Seiende, zum Anfang der Philosophie gemacht zu haben. Spinoza beginnt demnach nicht mehr mit der Erkenntnistheorie, um sich von dort aus zur Ontotheologie vorzuarbeiten, 86 SW, XI, 276. 87 Spinoza entwirft v.a. im zweiten Teil der Ethik eine Identitätsphilosophie, derzufolge res cogitans und res externa nur verschiedene Aspekte, oder mit Schellings identitätsphilosophischem Ausdruck gesagt: „Potenzen" der einen absoluten Substanz sind. Denken und Ausdehnung sind Spinoza zufolge zwar die einzigen Attribute der einen Substanz, die uns zugänglich sind. Gleichzeitig folge aus dem Begriff der einen Substanz aber, daß sie unendlich viele Attribute haben müsse. „Was die Attribute betrifft, aus denen Gott besteht, so sind diese nichts als unendliche Substanzen, deren jede unendlich vollkommen sein muß. Daß dies notwendig so sein muß, davon überzeugt uns die klare und deutliche Vernunft. Daß aber von all diesen unendlichen Substanzen bis jetzt bloß zwei durch ihr eigenes Wesen uns bekannt sind, ist auch wahr; und diese sind das Denken und die Ausdehnung." (Spinoza: Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück. Neubearbeitung der Übersetzung von C. Gebhardt. Eingel. und hg. von W. Bartuschat, Hamburg: 1991, S. 47f., Anm.)

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sondern fangt unmittelbar mit der Ontotheologie und der Frage an, was Gott und sein Verhältnis zur Welt ist. Spinozas positives Verdienst ist es demnach, eine konsequent ontotheologische Philosophie entworfen zu haben, die nicht mehr auf die für Schelling fragliche Selbstgewißheit des Ich rekurrieren muß, um ihr Prinzip abzusichern. Da das Prinzip seiner Philosophie aber die absolut unbewegliche Substanz ist, die sich nicht etwa in ihre Attribute entwickelt, bedarf es einer Dynamisierung des Spinozismus, will man vom Prinzip auf deduktivem Wege wieder zu seinen Prinzipiaten gelangen, was Spinoza nicht gelingen kann, weil seine Philosophie das Endliche nur denkt, um es sub specie aeternitatis mit dem absoluten Sein der Substanz zu vermitteln und dadurch aufzuheben. Daher hat Hegel Spinozas Philosophie als „Akosmismus"88 bezeichnet, als eine Philosophie, die das differenzierte Sein der Welt (des Kosmos) zugunsten der absoluten Einheit Gottes bestreitet und alles endliche Sein in die absolute Substanz zurücknimmt. Dadurch verschwindet das Endliche aber, so daß das eigentliche Anliegen der Konstruktion des Endlichen aufgegeben wird.89 Schelling teilt Hegels Spinozakritik, indem er Spinoza ebenso wie Hegel vorwirft, das Endliche nicht mit der Substanz so zu vermitteln, daß das Endliche durch die Einführung des Substanzbegriffs für das Denken durchsichtiger 88 Gegen den Atheismus-Vorwurf, der seit Jacobis Spinoza-Buch immer wieder gegen Spinozas Philosophie erhoben worden ist, wendet Hegel in der Anmerkung zu §50 der Enz. ein: „Die absolute Substanz Spinozas ist freilich noch nicht der absolute Geist, und es wird mit Recht gefordert, daß Gott als absoluter Geist bestimmt werden müsse. Wenn aber Spinozas Bestimmung so vorgestellt wird, daß er Gott mit der Natur, mit der endlichen Welt vermische und die Welt zu Gott mache, so wird dabei vorausgesetzt, daß die endliche Welt wahrhafte Wirklichkeit, affirmative Realität besitze. Mit dieser Voraussetzung wird freilich mit der Einheit Gottes und der Welt Gott schlechthin verendlicht und zur bloßen endlichen, äußerlichen Mannigfaltigkeit der Existenz herabgesetzt. Abgesehen davon, daß Spinoza Gott nicht definiert, daß er die Einheit Gottes und der Welt, sondern daß er die Einheit des Denkens und der Ausdehnung (der materiellen Welt) sei, so liegt es schon in dieser Einheit, selbst auch wenn sie auf jene erste, ganz ungeschickte Weise genommen wird, daß in dem Spinozischen Systeme vielmehr die Welt nur als ein Phänomen, dem nicht wirkliche Realität zukomme, bestimmt wird, so daß dieses System vielmehr als Akosmismus anzusehen ist." 89 ,,[D]ie Durchsichtigkeit des Endlichen, das nur das Absolute durch sich hindurchblicken läßt, endigt in gänzliches Verschwinden; denn es ist nichts am Endlichen, was ihm einen Unterschied gegen das Absolute erhalten könnte; es ist ein Medium, das von dem, was durch es scheint, absorbiert wird." (TWA, 6, 190)

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werde. Die Annahme der una substantia verstelle vielmehr den Blick auf das Endliche. Das fuhrt auf eine dialektische Inkonsistenz von Denkbewegung und Resultat, indem die denkende Bewegung, die das Endliche zu begreifen sucht, in ihrem Resultat das Endliche im Unendlichen auflöst. Die Alternative besteht darin, das Endliche als Manifestation des Unendlichen anzusehen, d.h. alles Endliche als eine Funktion der Selbstdarstellung des Unendlichen zu konstruieren. Die Idealisten Schelling und Hegel sind sich somit darin einig, daß das Prinzip der Philosophie Spinozas eine absolut unbewegliche Substanz ist, der alles bestimmte Seiende, d.h. ihre unendlich vielen Attribute und deren Modi, inhäriert, ohne aus ihr und durch ihre Tätigkeit zu eigenem substantiellem Sein entlassen zu werden. Schellings und Hegels Philosophien des Absoluten lassen sich entsprechend grundsätzlich als Kritik an Spinozas Bestimmung des Absoluten als Substanz verstehen.90 Die idealistische Metaphysik Schellings und Hegels kann also in wesentlichen Zügen als eine Kritik der Substanzmetaphysik Spinozas gelesen werden. Ihr Programm ist bekanntlich die Darstellung des Wahren als „Subjekt" im Unterschied zu seiner Darstellung als „Substanz" bei Spinoza.91 Bei Spinoza hat die Substanz und deren absolute Einheit die Form v o n unbewegter, d.i. nicht sich mit sich selbst vermittelnder Einheit, von einer Starrheit, worin der B e g r i f f der negativen Einheit des Selbst, die Subjektivität, sich noch nicht findet.92

Die idealistische Kritik an Spinoza läßt sich anders gewendet folgendermaßen interpretieren. Wenn die Vernunft in ihrem konstitutiven Ausgriff auf das Ganze ein Ganzes anpeilt, das inkompatibel damit ist, daß der Ausgriff auf das Ganze sich als solcher in seinem Resultat wiederfinden kann, liegt eine dialektische Instabilität von Denkbewegung und Resultat vor. Das Subjekt verliert sich an seinen Gegenstand, der absolut sein muß, da er dasjenige ist, was im Ausgriff auf das Ganze angepeilt wird, d.h. das Absolute. Indem das Absolute als ein Ding mit unendlich vielen Eigenschaften aufgefaßt 90

91 92

Vgl. Düsing, K.: Idealistische Substanzmetaphysik. Probleme der Systementwicklung bei Schelling und Hegel in Jena. In: Hegel-Studien, Beiheft 20, Bonn: 1980, S. 25-44. TWA, 3, 28. TWA, 5, 291. Eine ausfuhrliche Kritik der Denkbestimmungen der Philosophie Spinozas trägt Hegel in der Wesenslogik im Kapitel „Das Absolute" (TWA, 6, 187200) vor.

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wird, die in einer differentiellen Beziehung zueinander stehen, verliert sich das Denken des Absoluten, das selbst kein Ding sein kann, an das verdinglichte Absolute. Das führt aber dazu, daß die spezifisch menschliche Freiheit, auf das Ganze ausgreifen zu können, sich im Ganzen, auf das sie ausgreift, verliert, was Spinozas Determinismus klar genug zum Ausdruck bringt. Dieselbe Kritik läßt sich mutatis mutandis an jeder Metaphysik anbringen, die mit einem Weltbegriff rechnet, der tendenziell mit der Präsenz von Wesen inkompatibel ist, die einen Weltbegriff haben. Eine Metaphysik, die mit einem Absoluten rechnet, dessen Existenz mit der Theorie des Absoluten, die sie selber vorträgt, potentiell inkompatibel ist, verliert sich an ihren Gegenstand. Das gilt etwa auch für alle Spielarten des reduktiven Naturalismus, der von der idealistischen Kritik weitaus eher betroffen ist als Spinoza. Nicht erst für Hegel, sondern bereits für den an Fichte anknüpfenden frühen Schelling ist Spinozas Philosophie „Dogmatismus", d.h. eine Philosophie, deren Prinzip das absolute Nicht-Ich ist: „Spinoza setzt das Unbedingte ins absolute Nicht-Ich"93. Spinoza habe nämlich gefordert, daß das Subjekt sich in der absoluten Kausalität der Substanz auflöse. Denn er „kannte kein Subjekt als solches. Er hatte jenen Begriff von Subjekt selbst vorher bei sich aufgehoben, ehe er jenes Postulat aufstellte."94 Die Abwesenheit der Subjektivität in der Konstruktion der Totalität wird daher schon vom frühen Schelling moniert, was ihn bekanntlich zunächst dazu geführt hat, die spinozistische Substanz als absolutes Ich zu denken, d.h. den Dogmatismus umzukehren. Es ist nicht mehr die absolute Substanz, von der aus das Denken, d.h. die Präsenz der Theorie der absoluten Substanz erklärt werden muß, sondern es ist umgekehrt die Substanz, deren Existenz sich allein von ihrer Theorie aus erklären läßt. 93 94

SW, I, 184. SW, I, 315. Schellings eigener früher Idealismus beruht, wie Hartmut Kuhlmann zeigt (Schellings früher Idealismus. Ein kritischer Versuch. Stuttgart/Weimar: 1993, S. 126-143), auf einer Synthese Fichtes und Spinozas, indem Schelling Fichtes Lehre vom absoluten Ich substantialisiert: „Die Entdeckung der Übereinstimmung Fichtes und Spinozas [...] ist Schelling Anlaß genug, nun das absolute Ich nicht mehr allein durch das von Fichte entlehnte Konzept eines Gefüges von Bedingungsverhältnissen und durch die Fichte/Kantische Synthesislehre, sondern gleichzeitig durch die von Spinoza ausgearbeitete Metaphysik der Einen Substanz zu erläutern." (S. 142) Vgl außerdem: Bartuschat, W.: Über Spinozismus und menschliche Freiheit beim frühen Schelling. In: Pawlowski/Smid/Specht: Die praktische Philosophie Schellings. S. 153-175.

§4. Das ens realissimum der neuzeitlichen Ontotheologie

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Auch der späte Schelling ist weit davon entfernt, bei Spinoza stehenzubleiben. Im Rückblick auf die Entwicklung der frühneuzeitlichen Philosophie sieht er zwei Wege, um dem „absoluten wissenschaftlichen Quietismus"95 Spinozas zu entgehen: Einmal den empiristischen Weg, den Francis Bacon eröffnet hat und den dann prominenterweise Locke und Hume beschritten haben. Zum anderen eine partielle Rückkehr zur alten Verstandesmetaphysik, die Schelling v.a. durch Leibniz und seine Schule markiert sieht. Der Empirismus (.Loches und Humes) mache sich die Untersuchung derjenigen Begriffe zum Gegenstand, die in jeder Erfahrungserkenntnis anzutreffen sind. Aus den ehemaligen Prinzipien der Metaphysik wurden so Gegenstände der Erkenntnistheorie. Indem die Welt nurmehr vermittels der Vorstellungen zugänglich ist, die sie in uns bewirkt, zieht das Subjekt sich in sich selbst zurück, was zur Folge hat, daß die Welt ihm als ein fremdes, ja unerkennbares Gegenüber erscheint. Der Rückzug des Subjekts aus der Außenwelt in die Innenwelt impliziert nicht zufällig einen Skeptizismus, der die Erkenntnistheorie bis zum heutigen Tag nicht mehr losgelassen hat. Locke brachte den Begriff der Substanz, Hume den der Kausalität ins Wanken. Wie Locke in seinem Essay Concerning Human Understanding, v.a. im zweiten Buch (Kap.XXIIIf.) ausführt, ist der Begriff der „Substanz" nur ein Notbehelf des Verstandes, der seine Vorstellungen in einem Etwas inhärierend denken muß, das der materielle Träger der Qualitäten ist, die wir wahrnehmen. Hence when we talk or think of any particular sort of corporeal Substances, as Horse, Stone, etc. though the Idea, we have of either of them, be but the Complication, or Collection of those several simple Ideas of sensible Qualities, which we use to find united in the thing called Horse or Stone, yet because we cannot conceive, how they should subsist alone, nor one in another, we suppose them existing in, and supported by some common subject; which Support we denote by the name Substance, though it be certain, we have no clear, or distinct Idea of that thing we suppose a Support.96

Die Substanz ist demnach lediglich ein bloßes Etwas, von dem wir prinzipiell nichts weiter wissen können, als daß es etwas ist, dem

95 SW, XI, 277. 96 An Essay Concerning Human Understanding. Ed. Peter H. Nidditch, Oxford: 1975, S. 297.

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

alle wahrnehmbaren und denkbaren Bestimmungen inhärieren.97 Dadurch verschwindet das Wesen der Welt hinter ihrer Erscheinung im Bewußtsein. Der Schleier der Sinnlichkeit {the veil of perception) kann nicht durchdrungen werden, so daß uns nichts bleibt als die uns zugängliche Erfahrungswelt als logische Konstruktion aus unseren phänomenalen Zuständen zu beschreiben, wenn wir auch genötigt sind anzunehmen, daß eine substantielle Welt existiert. Es gehört zur Grammatik der sinnlichen Empfindung, das ihr etwas gegeben wird. Was ihr gegeben wird, kann sie sich nicht selber geben, so daß man mit einer Substanz immerhin rechnen können muß. Einen erkennenden Zugang zu dieser kann man unter empiristischen Bedingungen aber nicht vernünftig verlangen wollen. Berkeley hat daher die Konsequenz gezogen, die leidige unerkennbare Welt hinter dem Schleier zu eliminieren und die Welt als Vorstellungswelt zu konstruieren, deren Inhalte uns Gott (im Sinne der Totalität) eingibt. Eine solche Lehre liest sich freilich ganz anders als Spinozas rationalistischer Optimismus, für den sich das Wesen der Substanz in apriorischer, quasi-mathematischer Reflexion aufschließt. Während Spinoza die Frage stellt, wie die Einheit von Ausdehnung und Denken angesichts ihrer notwendigen Einheit möglich ist, verschwindet die Einheit der Substanz hinter dem empiristischen Schleier der Vorstellungen, der die Kluft zwischen Ich und Welt zu einem Gegebenen verdinglicht.98 97 98

Ebd., S.295f. Das erbt letztlich die von Quine ausgehende naturalisierte Erkenntnistheorie vom britischen Empirismus. Die naturalisierte Erkenntnistheorie kann die scheinbare Innenwelt des Bewußtseins daher als ein dingliches Verhältnis eines buchstäblich Inneren (Gehirn) zu einem buchstäblich Äußeren rekonstruieren, um so die transzendentale Fragestellung der Erkenntnistheorie zu verabschieden. Die Relation zwischen Ich und Welt wird hier rein dinglich als Kausalverhältnis gedacht, so daß gar kein vermeintlicher Innenraum übrigbleibt. Die Innenwelt wird dabei aber dogmatisch nach dem Modell der Außenwelt zu einem Gehirn verdinglicht Damit wird aber nolens volens die empiristische Grenzziehung übernommen, da ohne diese der Begriff einer Außenwelt und in einer Außenwelt existierender Dinge, die wissenschaftlich beobachtet werden können, keinen Sinn hätte. Die dogmatische Abwehr des Skeptizismus bedient sich also selbst der skeptischen Grenzziehung von Innenwelt und Außenwelt und streicht lediglich diejenige Seite, die dem Naturalismus erkenntnistheoretische Schwierigkeiten bereiten könnte. Wider Willen ergeben sich dabei aber neue Formen des Skeptizismus wie Quines bekannter Bedeutungsskeptizismus. Vgl. Macarthur, D.: Naturalism and Skepticism. In: De Caro, M./Macarthur D. (Hgg.): Naturalism in Question, Cambridge/Mass.: 2004, S. 106-124.

§4. Das ens realissimum der neuzeitlichen Ontotheologie

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Nach Humes berühmter Lehre beruht der Begriff der Kausalität auf einer bloßen Gewohnheit bzw. einem Brauch (costum), zwei Weltzustände, die häufig aufeinander gefolgt sind, als Ursache und Wirkung miteinander zu verknüpfen. I shall venture to affirm, as a general proposition, which admits of no exception, that the knowledge of this relation [sc. that of Cause und Effect] is not, in any instance, attained by reasonings a priori·, but arises entirely from experience, when we find, that any particular objects are constantly conjoined with each other."

Dadurch verschwand auch noch Lockes Substanz im Abgrund des Skeptizismus, da es nun nicht mehr geradezu möglich war, vermittels des Kausalitätsbegriffs auf eine Welt außerhalb unserer phänomenalen Zustände zu schließen, die unsere Sinneseindrücke bewirkt, da der Kausalitätsbegriff nicht mehr α priori gültig zu sein schien. Wenn wir nämlich denken, daß die hinter unseren Vorstellungen verborgene Welt einen kausalen Einfluß auf uns ausübt, der in Vorstellungen resultiert, und wenn der Begriff der Kausalität selbst ins Wanken gerät, verschwindet auch die Motivation, eine kausale Welt und damit eine Substanz hinter den Vorstellungen anzunehmen. Nachdem auf diese Weise zwei zentrale Begriffe der traditionellen Metaphysik ins Wanken geraten waren, wurde in der Folge des britischen Empirismus eine Diskussion über die Frage entfacht, ob es überhaupt apriorische Begriffe (angeborene Ideen) gebe oder nicht, zu der Leibniz mit seinen Nouveaux essais sur l'entendement humain von Seiten des Rationalismus beitrug. Das zu sich selbst befreite Denken suchte sich im Zuge einer in ihm selbst angelegten Teleologie der Freiheit sogar noch von der Autorität der notwendigen Begriffe zu befreien, indem gezeigt werden sollte, daß alle Gegenstände menschlicher Erkenntnis, d.h. jeglicher Erkenntnisinhalt dem Erkennen von außen, nämlich durch Vermittlung der Sinne zugeführt wird. Demgegenüber wollte Leibniz in den Nouveaux essais nachweisen, daß die Vernunft an ihr selbst keine tabula rasa sei, was er mit seinem instruktiven Gleichnis eines Marmorblocks illustrierte, der zwar nur der Möglichkeit nach eine Statue, an ihm selbst aber gleichwohl offenkundig niemals schlechthin formlos sei.

99 An Enquiry Concerning Human Understanding. Ed. Tom L. Beauchamp, Oxford: 2000, S. 25.

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung« Ich habe mich auch vielmehr der Metapher eines Marmorsteins bedient, der Venen hat, als der Metapher eines Marmorsteins, der ganz einheitlich ist, oder der Metapher leerer Tafeln, d.h. dessen, was bei den Philosophen tabula rasa heißt.

Während Locke und Hume den Intellekt allmählich von allen apriorischen Inhalten alias ideae innatae reinigen wollten, machte Leibniz geltend, daß der Intellekt selbst nicht wiederum von außen in den Intellekt eingetreten sein könne, sondern immer schon und an ihm selbst mit Inhalten ausgestattet sich den sinnlichen verworrenen Perzeptionen zuwende. Man wird mir jenes Axiom entgegenstellen, das die Philosophen angenommen haben, daß nichts in der Seele ist, das nicht aus den Sinnen kommt. Aber man muß die Seele selbst und ihre Affektionen davon ausnehmen. Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, excipe: nisi ipse intellectus. So schließt die Seele in sich das Sein, die Substanz, das Eine, das Selbe, die Ursache, die Wahrnehmung, das Denken sowie die Quantität und andere Begriffe ein, die die Sinne niemals vermitteln könnten. 101

Dadurch leitete Leibniz einen Prozeß der Kategorien-Subjektivierung ein. Was vormals zur unmittelbaren Beschreibung der ontologischen Struktur der Wirklichkeit diente, wurde allmählich zu einem notwendigen Bestandstück der Subjektivität, da die skeptischen Einwände gegen die aristotelische Kategorienlehre so stark zu sein schienen, daß man die strukturbildenden Prinzipien nicht mehr außerhalb des erkennenden Subjekts zu verorten können glaubte. Indem das Außerhalb unter skeptischen Bedingungen allmählich verschwindet, bleibt nur noch übrig, den Schein des Außerhalbs von innen heraus zu erklären. Das führt Schelling zufolge aber tendenziell zu der Einsicht, daß die Struktur der Wirklichkeit im ganzen sich im Denken selbst findet, in welcher 100 „Je me suis servi aiissi de la comparaison d'une pierre de marbe qui a des veines, plustot que d'une pierre de marbre toute unie, ou des Tablettes vuides, c'est ä dire de ce qui s'appelle Tabula rasa chez les Philosophes." (Leibniz, G.W.: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Philosophische Schriften, Bd. 3.1, französisch und deutsch hg. von Wolf von Engelhardt und Hans Heinz Holz, Frankfurt/Main: 1996, S. XVI.) 101 „On m'opposera cet axiome receu parmy les Philosophes, que rien n'est dans l'ame qui ne vienne des sens. Mais il faut excepter I'ame meme et ses affections. Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, excipe: nisi ipse intellectus. Or l'ame renferme l'estre, la substance, Tun, le meme, la cause, la perception, la raisonnement, et quantite d'autres notions, que les sens ne sauroient donner." (Ebd., S. lOOf.)

§4. Das ens realissimum der neuzeitlichen Ontotheologie

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Einsicht die Suche nach dem Absoluten als Suche nach dem Absoluten im Denken zu sich kommt. Im Anschluß an Descartes übernimmt auch bei Leibniz der ontologische Gottesbeweis eine entscheidende Funktion.102 Leibniz geht in Schellings Augen aber über Descartes und Malebranche noch hinaus, indem er das ens perfectissimum als „l'etre absolu" bestimme, aus dem alles Einzelseiende durch Einschränkung abgeleitet werden könne und müsse.103 Damit nähert sich Leibniz nämlich endgültig Schellings Begriff der spekulativen Wissenschaft an, die genau dieses Projekt einer Ableitung des Endlichen aus der Idee der Totalität anstrebt. Die wesentliche Errungenschaft der Ontotheologie seit Descartes sieht Schelling also darin, daß sie allmählich zum Begriff eines „durchgängig bestimmte[n] Inhalt[s]"104 gelangt sei, nachdem sie mit Descartes angefangen habe, Gottes Dasein nicht mehr bloß zu supponieren und anschließend durch Beweise zu stützen, sondern es aus seinem Begriff, das vollkommenste Wesen zu sein, abgeleitet habe. Während die scholastische Metaphysik Gott als bloßes Einzelwesen gedacht habe, wurde Gott in der neuzeitlichen Ontotheologie somit zum Gegenstand einer reinen Vernunft, die sich als solche niemals bloß auf Einzelnes richten kann, da ihr Gegenstand stets begrifflich vermittelbar und somit allgemein sein muß. Das, was die Tradition „Gott" genannt hatte, wurde somit zum Gegenstand des reinen Denkens, der Wissenschaft im emphatischen Sinne, d.h. der Philosophie, der Gott nicht mehr bloßes Einzelwesen sein konnte, da sich das bloß faktische Vorhandensein eines Einzelwesens nicht aus dem Begriff deduzieren läßt. An die Stelle des summum ens tritt Schelling zufolge der Begriff einer omnitudo realitatum, „das Seiende", das der notwendige und erste Gegenstand des reinen Denkens ist, das in seinem Ausgriff auf das Ganze des Seienden durch keine Entdeckung irgendeines einzelnen Seienden 102 Zu Leibniz' Stellung in der Geschichte der Ontotheologie vgl. Röd: Der Gott der reinen Vernunft. S. 105-123; Henrich: Der ontologische Gottesbeweis. S. 45-55. 103 Schelling zitiert einen Leibniz-Brief, den ich in keiner mir zugänglichen Ausgabe finden konnte, in dem dieser über Malebranche schreibt: „Ce Pere [sc. Malebranche] disant que Dieu est L'Etre en general, on prend cela pour un Etre vague et notional, comme est le genre dans la Logique, et peu s'en faut, qu'on ne l'accuse d'Athei'sme; mais je crois, que ce Pere a entendu non pas un Etre vague et indetermine, mais l 'Etre absolu, qui differe des Etres particuliers bornes, comme l'Espace absolu et sans bornes differe d'un Cercle ou d'un Quarre." 104 SW, XI, 279.

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I. D i e Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

befriedigt werden kann. Das zu sich selbst gekommene Denken kann folglich nur dadurch restlos befriedigt werden, daß es sich das All des Seienden zum Gegenstand macht und dieses aus sich heraus erzeugt, weil es erst dann gänzlich bei sich sein kann. Denn nur so sieht das Denken ein, daß die Totalität kein Gegebenes ist, sondern der notwendige Inhalt der Vernunft. Auf diese Weise befreit sich die Vernunft von aller Autorität, auch und v.a. der der Sinne. Zwar erscheint dem Verstand alles Endliche nur als ein gegebener Inhalt. Doch aller gegebener Inhalt für den Verstand ist begrifflich bestimmbar, indem er Eigenschaften aufweist, die ihn von allen anderen Gehalten unterscheiden lassen. Das aber heißt, daß alle Gegenstände für den Verstand Teil einer umfassenden Ganzheit sein können müssen, ohne die Einzelnes gar nicht Einzelnes sein könnte. Die Vernunft erkennt dies aber nur dann, wenn sie sich sich selbst zu- und den Sinnen der verständigen Erfassung ihrer Inhalte abwendet. Indem alles Einzelne nur dadurch etwas ist, daß es alles dasjenige nicht ist, von dem es sich unterscheidet, muß mit einem Beziehungsganzen gerechnet werden, das Schelling qua Inhalt der Vernunft „die Idee" tout court nennt. Die Idee kann nur Inhalt der Vernunft, niemals aber der Sinne sein, worüber uns der Skeptizismus trotz seiner Negativität belehrt. Der Skeptizismus zeigt nämlich, daß die Welt nicht außerhalb des Erkennens sein kann, weil sie ansonsten gar nicht erkannt werden könnte. Daraus, daß die Idee der reinen Vernunft vindiziert wird, darf man aber nicht schließen, daß alles Endliche immer schon aktual erkannt ist, was eine absurde und im pejorativen Sinne idealistische Position wäre, die ohnehin niemand ernsthaft vertreten würde. Wenn philosophisches Erkennen auf die Zufuhr von Vorstellungen aus einem unbestimmbaren und unerkennbaren Außen angewiesen wäre, wäre es unmöglich, das Ganze des Seienden überhaupt zu denken, weil ein bloß empiristischer Verstand nicht auf das Totum sinnvoll bezogen sein kann, das niemals Gegenstand einer einzigen Erfahrung sein kann. Jede Erfahrung ist nämlich stets Erfahrung eines bestimmten Gegenstandes, d.h. eines eingeschränkten Weltausschnittes. Um aber die vielen gemachten Einzelerfahrungen in ein einheitliches Ganzes integrieren zu können, ist das erkennende Subjekt darauf angewiesen, den Begriff eines Ganzen als Horizont, innerhalb dessen so etwas wie bestimmtes Seiendes überhaupt begegnen kann, immer schon vorgängig gebildet zu

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haben. Folglich ist der Begriff eines Ganzen, mag er als materielles Universum, als alles denkender Geist Gottes oder auf welche Weise auch immer gedacht werden, die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung eines bestimmten Seienden. Was auch immer dem Erkennen begegnet, muß vorgängig als Element der einen und ganzen Welt registriert werden können, auf die alle Erkenntnisanstrengungen bezogen sind. Ansonsten würde der lückenlose Erfahrungszusammenhang, auf den wir als identische Personen bezogen sind, aufgebrochen, was zur Folge hätte, daß „ich ein so vielfarbiges verschiedenes Selbst haben [würde], als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin."1 5 Daß der Weltbegriff eine conditio sine qua non von begrifflicher Bestimmtheit ist, die als ultimative Möglichkeitsbedingung selber kein Ding sein kann, ist bekanntlich Kants These, die Schelling so interpretiert, daß die Welt damit zum Inhalt der Vernunft wird. Jedes Element jeder möglichen und wirklichen gegenständlichen Erfahrung wird als Objekt eines Wissens, d.h. als Bewußtseinsinhalt im weitesten Sinne nur dadurch möglich, daß ihm ein Ort im Gefuge von Welt überhaupt eingeräumt wird. Welt, wie auch immer ihr Charakter näher bestimmt wird, ist dabei wesentlich eine und ganze, was sich auf dem Niveau des weltzugewandten Verstandes bspw. in der ersten Analogie der Erfahrung der Kritik der reinen Vernunft ausspricht,106 der zufolge die Quantität aller Weltinhalte, von Kant „Erscheinungen" genannt, stets dieselbe Größe haben muß. Weil der Gedanke der Einheit eines materiellen, in infinitum oder zumindest, wiederum mit Kant zu sprechen, in indefinitum raum-zeitlich ausgedehnten Universums den Ausblick des erkennenden Subjekts auf eben dieses Ganze zur conditio sine qua non hat, kann die Einheit der Welt aber nicht durch die Einheit irgendeines extramentalen Urgesteins - in der Terminologie des frühen Schelling: eines absoluten Nicht-Ichs - garantiert werden. Ein Vorblick auf Kant ermöglicht es, Schelling Gedanken zu verdeutlichen, daß das Ganze des Seienden der ursprüngliche Inhalt der Vernunft ist (vgl- §5).

Kant versucht, in seiner Darstellung der ersten Antinomie der kosmologischen Idee eines quantitativen Weltganzen zu zeigen, daß es eine Isosthenie der Argumente fur die Unendlichkeit des Raumes und der Zeit (Antithesis) und dagegen (Thesis) gebe. Diese Anti105 KrV, Β 134. 106 KrV, Β 225-232.

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nomie löst er dadurch auf, daß er zeigt, daß sowohl die Thesis als auch die Antithesis in gewisser Hinsicht wahr und in einer anderen falsch sind. Da wir als erkennende endliche Subjekte zunächst einer Welt gegenüberstehen, die uns fortwährend Wahrnehmungsinhalte entgegenbringt, die wir sukzessiv aufnehmen müssen, sind wir genötigt, eine Serie aller Weltzustände mittels eines „empirischen Regressus"107 zu bilden, um sie überhaupt unter den Begriff einer Größe des Weltganzen subsumieren zu können. Die Welt, d.h. das Ganze alles dessen, was vorgestellt werden kann, ist in dieser Optik eine Extrapolation unserer endlichen Informationsverarbeitung. Nun kann die Größe des Weltganzen nicht vor meinem Durchlaufen der Weltinhalte, d.h. vor der Bildung der besagten „Weltreihe"108 gegeben sein, indem die Kategorie der Größe (Quantität überhaupt) nur auf Anschauungen anwendbar ist, die wiederum nur in einer rezeptiven Einstellung aufgenommen und folglich nicht α priori erzeugt werden können. Folglich bildet die Herstellung der Totalität aller möglichen empirischen Informationen eine nie zu beendende Aufgabe fur ein menschliches Bewußtsein, wie Kant es entwirft, woraus folgt, daß jedem endlichen erkennenden Wesen der Weltraum und die Weltzeit dadurch unendlich zu sein scheinen können, daß ihre Synthesis der Vorstellungen zu Weltinhalten in indefinitum fortsetzbar ist. Es gibt immer noch ein Objekt oder eine Konfiguration von Objekten oder eine abstrakte Information, die noch nicht verarbeitet worden ist. Die Vorstellung einer quantitativ unendlichen Welt in Raum und Zeit entsteht dabei dadurch, daß die indefinite Synthesetätigkeit (Informationsverarbeitung), auf die alle endlichen Registraturen notwendig angewiesen sind, mit einem infiniten Objekt verwechselt wird. Aus der unendlichen Aufgabe der Verarbeitung von Informationen, die uns die Welt entgegenbringt, scheint die Berechtigung zu folgen, den Begriff der faktischen quantitativen Unendlichkeit des Raumes und der Zeit zu bilden. Mit anderen Worten wird aus der Struktur unseres Verstehens auf die ontologische Struktur des Verstandenen geschlossen. Umgekehrt kann man aber auch nichts Sinnvolles über eine absolute Grenze des Raumes und der Zeit aussagen, weil dies ebenfalls

107 KrV, Β 546. 108 KrV, Β 547.

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ein aktuelles Haben des Ganzen voraussetzte, zu dem man aber synthetisierend immer nur unterwegs sein kann. Demnach werde ich nichts von dem ganzen Gegenstande der Erfahrung (der Sinnenwelt), sondern nur von der Regel, nach welcher Erfahrung, ihrem Gegenstande angemessen, angestellt und fortgesetzt werden soll, sagen können.109

Kant löst die Antinomie also wesentlich durch die Unterscheidung eines Bewußtseins-Regresses in infinitum und eines BewußtseinsRegresses in indefinitum. Denn dadurch zeigt sich, daß die Debatte um die Endlichkeit bzw. die Unendlichkeit des Raumes und der Zeit unentscheidbar ist, indem sie eine indefinit große Menge von Schritten entweder als unendlich oder als endlich definiert. Kant geht das Problem der Welt also vom Begriff der Endlichkeit an, die genau darin besteht, daß wir stets auf die Verarbeitung gegebener Informationen angewiesen sind, woraus wir Schlüsse darüber ziehen zu können glauben, wie die Informationsquelle beschaffen ist.110 Der fundamentale Einheits- und Totalitätscharakter von Welt überhaupt setzt also unseren denkenden Ausgriff auf das Ganze des Seienden voraus, der allerdings nicht allenthalben Gegenstand eines thematischen Wissens und expliziten Bewußtseins sein muß, sondern sogar zumeist und zunächst den präreflexiven Horizont bildet, innerhalb dessen Seiendes sich zeigt. Die Annahme einer Welt im ganzen kann durch Erfahrung weder bestätigt noch widerlegt werden. Ohne die Annahme einer einzigen und vollständigen Welt, die als die ultimative Informationsquelle für den Verstand dient, könnten wir uns aber nicht auf Dinge beziehen, deren Bestimmtheit darin besteht, daß sie jeweils alles dasjenige nicht sind, das nicht mit ihnen identisch ist. Die Identität eines Dings besteht darin, sich von allem anderen zu unterscheiden. „Alles andere" ist aber präzise der

109 KrV, Β 548. 110 Crispin Wright hat eine bemerkenswerte Analyse der apriorischen Berechtigung zur Annahme einer Substanz im Sinne Kants vorgeschlagen, wobei er eine präzise Definition von Endlichkeit entwickelt, die er als „kognitive Lokalität" (cognitive locality) bezeichnet: „Cognitive locality is the circumstance that only a proper subset of the kinds of states of affairs which we are capable of conceptualising is directly available, at any given states in our lives, to our awareness. So knowledge of, or warranted opinion concerning the remainder must ultimately be based on defeasible inference from materials of which we are so aware." (Wright, C.: Warrant for Nothing (And Foundations for Free)? In: Proceedings of the Aristotelian Society Supplementary Vol. 78 (2004), S. 167-212, hier: S. 173)

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Horizont der Welt, auf den wir bezogen sein müssen, um uns überhaupt auf irgend etwas beziehen zu können. Bekanntlich hat insbesondere die Phänomenologie seit Husserl den Kantischen Gedanken weiterentwickelt, daß wir Dinge nur im Horizont eines Unbedingten (der Welt) haben können, was einen gewissen Höhepunkt in Heideggers Analyse des Weltbegriffs in Sein und Zeit findet.111 Auch noch für Heidegger muß die Weltlichkeit der Welt vorgängig, d.h. immer schon erschlossen sein, damit bestimmtes Seiendes, bzw. in der Sprache seiner Hermeneutik des Daseins: „Zuhandenes" überhaupt begegnen kann. Nur auf dem Grunde der „Vorentdecktheit einer Bewandtnisganzheit" kann Etwas „als innerweltlich Seiendes begegnen"112, d.h. nur unter der Voraussetzung einer vorgängigen Erschlossenheit des Weltganzen. Dieses wird von Heidegger freilich frei von aller physikalistischen Begrifflichkeit, d.h. nicht als geordnetes Ganzes von Dingen oder gar Partikeln gedacht. „Welt ist in allem Zuhandenen immer schon »da«. Welt ist vorgängig mit allem Begegnenden schon, obzwar unthematisch, entdeckt."1 Jedes begegnende Zuhandene, d.h. kantisch: jeder „Weltzustand", wird dabei durch den Vorgriff des Daseins auf das letzte Woraufhin all seiner Bezüge, seine eigene Existenz, verstanden und so in einen Verweisungszusammenhang eingerückt, in dem es jeweils wiederum ein anderes Zuhandenes bedeutet, worin man eine hermeneutische Analogie zu Kants „empirischem Regressus" sehen kann. Aus der Perspektive Heideggers müßte man Kant freilich vorhalten, daß seine Auslegung der Weltlichkeit der Welt im systematischen Rahmen der Cartesischen Ontologie verbleibt, den Heidegger durch seine phänomenologische Analyse des Weltbegriffs gerade aufsprengen möchte.114 Dennoch gilt für Heidegger wie 111 „Die Welt ist uns, den wachen, den immerzu irgendwie praktisch interessierten Subjekten, nicht gelegentlich einmal, sondern immer und notwendig als Universalfeld aller wirklichen und möglichen Praxis, als Horizont vorgegeben. Leben ist ständig In-Weltgewißheit-leben." (Husserl, Ε.: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hamburg: 1992, S. 145) Husserl ist im Unterschied zu Heidegger allerdings geradezu blind dafür, daß gerade das Weltproblem, so wie er es formuliert, eines der zentralen Probleme des nachkantischen Idealismus bildet, in dem er bedauerlicherweise nur „dunkle Metaphysik oder »Mythik«" (ebd., S. 206) zu erkennen vermag. 112 Heidegger, M.: Sein und Zeit. Tübingen: 171993 [zit.: SuZ], S. 85. 113 SuZ, S. 83. 114 Vgl. SuZ, §§19-21.

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für Kant, daß die Einheit und Ganzheit von Welt immer schon dem Umgang mit innerweltlich Seiendem voraus (a priori) erfaßt sein muß. Die Welt muß schon erschlossen sein, damit überhaupt etwas als etwas entdeckt werden kann. Unser Weltumgang ist nur dadurch informativ, daß wir jeweils mehr über die Welt lernen und unseren Informationsstand regelmäßig unserer Weltkenntnis anpassen können. Die Kontrolle und Modifikation unseres Informationsstandes setzt aber eine Einheit voraus, die nicht ihrerseits als Information bearbeitet werden kann. Damit die Philosophie die Einheit und Ganzheit des Ganzen des Seienden zu denken unternehmen kann, muß sie sich zuvor aus der Weltverstrickung des „natürlichen Bewußtseins" gelöst haben, das immer nur intentione recta auf gegebene Gegenstände zugreifen kann. Das natürliche Bewußtsein sieht nur die Weltinhalte (Dinge), ohne zu wissen, daß es Weltinhalte nur für Wesen gibt, die alle Weltinhalte immer schon auf eine Ganzheit hin überstiegen haben. Das natürliche Bewußtsein sieht nur Dinge, ohne die Bedingungen zu sehen, ohne die es keine Dinge für es geben könnte. Nur in einer transzendentalen Einstellung kann sich das philosophische Wissen dergestalt auf sich selbst richten, daß es sich selbst als den Ursprung des Begriffs des Ganzen des Seienden erkennt. Darin besteht eine der Grundeinsichten der idealistischen Programme einer Selbstbewußtseinsgeschichte, d.h. insbesondere von Hegels Phänomenologie des Geistes, die damit eine wesentliche Einsicht von Schellings System des transzendentalen Idealismus beerbt: Das votphilosophische Bewußtsein muß in das philosophische Wissen überführt werden, wenn anders man den eigenen Standpunkt des Wissens, zu dem man sich philosophierend immer schon erhoben hat, rechtfertigen können will. Daher versteht sich die Phänomenologie des Geistes als „die Anleitung des unwissenschaftlichen Bewußtseins zur Wissenschaft"'1 . Diese Anleitung geschieht, indem das natürliche Bewußtsein durch alle Widersprüche des Bewußtseins, dem Ich und Welt als Andere unvermittelt gegenüberstehen, hindurchgeführt wird, um schließlich zur Einsicht in die wahre Natur des Wissens zu gelangen, die darin besteht, daß das Wissen (im emphatischen Sinne der επιστήμη) ein Wissen des Ganzen und damit der Welt als Welt ist. Das Motiv einer Überführung des vorphilosophischen ins philosophische Wissen liegt bereits Schellings Gedanken einer „fortge115 TWA, 3,31.

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hende[n] Geschichte des Selbstbewußtseyns"116 zugrunde, den er mit seinem System von 1800 ausführen wollte (s.u., §16). Da „Welterkennen" immer auch ein „Weltereignis" ist,117 muß das einmal begonnene Erkennen seine eigene Genese α posteriori rekonstruieren, um seinen Zusammenhang mit den allgemeinen Gesetzen des Seins und der Natur herstellen zu können. Nur so ist es möglich, im Kontext des neuzeitlichen Erkenntnisformalismus zum Begriff eines an ihm selbst mit ontologischen Inhalten erfüllten Erkennens zu gelangen, indem man nämlich zeigt, daß Erkennen alias Kultur oder Geist nicht das Andere der Natur ist, die ihm fremd gegenübersteht. Das Erkennen steht vielmehr in einer durchgängigen Kontinuität mit der Natur, die sich im Erkennen der Natur selbst erkennt. Verallgemeinert man den Gedanken und wendet ihn auf das metaphysische Projekt, die Welt als Welt zu denken an, kann man sagen, daß die Welt so gedacht können werden muß, daß sie ein Welterkennen ausbildet. Ansonsten öffnet man einen Graben zwischen der Welt und ihrer Erkenntnis, was entweder zum Skeptizismus oder zur dogmatischen (naturalistischen) Verabschiedung philosophischer Wissenschaft sui generis führt. Wenn die Welt und die metaphysische Theorie der Welt als Welt sich unvermittelt gegenüberstehen, läuft die Theorie Gefahr, sich selbst aus der Welt auszuschließen. Wird der Ausschluß der Theorie aus der Welt besiegelt, verdampft die Erkenntnis plötzlich zu einem weltlosen Schein, dem gegenüber die Welt ihre Faktizität behauptet. Doch die Welt kann nur dann zur begrifflos anzuerkennenden Natur verdinglicht werden, wenn die Erkenntnis der Welt sich selbst nur noch als weltloses Ereignis verstehen kann. Die Welt und ihre Erkenntnis dürfen also nicht schlechthin voneinander getrennt werden. Diese Erkenntnis kann nur in einer Reflexion auf den Zusammenhang von Welt und Erkenntnis erworben werden und fallt daher nicht unter das Maß der Naturwissenschaften, die immer schon einen Zusammenhang von Welt und Erkenntnis in Anspruch nehmen, wenn sie die Welt zu erkennen behaupten. Der Skeptizismus droht nur dann, wenn man den Zusammenhang von Welt und Erkenntnis unkritisch für gewiß hält. Die richtige Reaktion auf die verdinglichende Ausrichtung auf Gegebenes ist nämlich die skeptische Vermittlung, die Sextus Empiricus durch den Nachweis erbringt, daß alles relativ ist {πάντα sort ττρός

116 SW, III, 331. 117 Hogrebe: Prädikation und Genesis. S. 23.

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τ/118). Die Erkenntnis bestimmt, als was die Welt ihr jeweils gelten kann, indem die Welt in einer Relation auf die Erkenntnis steht, die freilich nur in einem einseitigen Idealismus als eine Produktion ausgelegt wird. Der nachkantische Idealismus insgesamt denkt Welt hingegen immer als einen Zusammenhang von Ich und Welt (NichtIch) dergestalt, daß es beide, Ich und Welt, nur gibt, indem es beide gibt. Wolfram Hogrebe hat Schellings Philosophie im ganzen auf die treffende Formel einer Analyse der ,,autoepistemische[n] Struktur"119 des Alls gebracht. Die autoepistemische Struktur des Alls läßt sich dabei folgendermaßen fassen: Damit es welterkennende Wesen geben kann, muß die epistemische Struktur der Welt, die im Bewußtsein durchsichtig wird, zumindest ceteris paribus mit der Struktur des Wissens verträglich sein. „Dies ist jedenfalls dann so, wenn die Geschichte des Universums auch eine Geschichte seiner Selbsterkenntnis ist."120 Dieser Gedanke einer Selbsterkenntnis des Ganzen des Seienden ist nicht nur ein konstitutives Philosophem der Tradition der philosophischen Theologie, sondern wird auch bis heute in der philosophischen Reflexion auf die Kosmologie vertreten, wo er als anthropisches Prinzip bezeichnet wird.121 Das anthropische Prinzip besagt, daß die Welt mit der Präsenz von Weltbeobachtern kompatibel sein muß, da es offenkundig Weltbeobachter gibt. Das heißt aber, daß es naheliegt, der Welt selbst eine Tendenz zur Selbsterkenntnis zu attestieren, wofür freilich nicht nur physikalische, sondern insbesondere auch neuere biologische Theorien aus dem Bereich der Evolutionstheorie sprechen.12 Angeregt wird der 118 119 120 121

Sextus Empiricus: Pyrrhonische Hypotyposen, I 135. Ebd., S. 52. Ebd., S. 53. Daß das Ganze des Seienden von seiner Relation auf eine absolute Selbsterkenntnis her gedacht werden müsse, ist eine gemeinsame Einsicht Piatons und Aristoteles'. Piaton faßt sie in seine berühmte Lehre, daß das παντελώς ov als Einheit von Sein und Geist (νους) gedacht werden müsse. Aristoteles sieht bekanntlich den Kosmos als eine Teleologie auf Gott hin, den er als eine denkende Selbstbeziehung {νοήσεως νόηαις) versteht. Das Ganze des Seienden und seine Erkenntnis sind daher in der Platonisch-Aristotelischen Metaphysik ebenfalls nicht nur kompatibel, sondern außerhalb ihrer Relation nicht einmal denkbar. 122 Vittorio Hösle betont daher zu Recht, daß die Aktualität der objektiv-idealistischen Naturphilosophie in der Einsicht begründet sei, daß die Existenz von bewußten Wesen zur Welt selbst gehört und ihr nicht gewissermaßen äußerlich und daher völlig zufällig sein kann. „Geistiges Verhalten als Ordnungsbemühung um die Welt durch Wesen, die zu ihr gehören, fällt nicht vom Himmel, sondern ist der

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Gedanke von der simplen Überlegung, daß der Mensch als Weltwesen von der Welt selbst in seine Erkenntnis der Welt eingesetzt werden muß, was die Tradition der philosophischen Theologie auf den Gedanken gebracht hat, daß Gott als das Ganze sich selbst in unserer Erkenntnis Gottes erkennt, ein Gedanke, den wohl niemand so klar ausgearbeitet hat wie Hegel. „Gott ist nur Gott, insofern er sich selber weiß; sein Sichwissen ist ferner sein Selbstbewußtsein im Menschen und das Wissen des Menschen von Gott, das fortgeht zum Sichwissen des Menschen in Gott."123 Die leitende Überzeugung der Diagnose einer selbstreferentiellen Struktur des Ganzen kann man darin sehen, daß allein die Annahme einer Manifestation des Ganzen als Denken (der Substanz als Subjekt) gewährleistet, daß Welt und Erkenntnis nicht auseinanderfallen, was entweder in den Skeptizismus oder in den Dogmatismus treibt. Die Welt kann dem Erkennen nicht so äußerlich sein, wie der Skeptizismus gegen den Dogmatismus behauptet. Sie kann dem Erkennen aber auch nicht so unmittelbar gegeben werden, daß allein das An sich den Maßstab des Denkens, niemals aber das Denken den Maßstab des An sich ausmacht. Schellings Skizze der Geschichte der Ontotheologie zusammenfassend kann man sagen: Das Streben nach einem expliziten philosophischen Wissen des Ganzen des Seienden drückt sich für Schelling in einer freilich defizienten Weise im ontologischen Gottesbeweis aus. Die Ontotheologie in Leibniz' Gefolge bleibe nämlich vorerst noch der Autorität der natürlichen Vernunft, des lumen naturale, verpflichtet, das selbst nicht noch einmal Gegenstand dieses intentione recta auf sein Erkenntnisobjekt - das ens perfectissimum - gerichteten Denkens werden kann. Zwar hatte der Empirismus das Erkennen selbst zum Gegenstand gemacht und dessen Möglichkeiten dogmatisch beschränkt. Indem er aber das Erkennen für sich, nämlich frei von seinem Vernehmen des Seins, erkennen wollte, mußte er, ohne es zu merken, den Grundbegriff der Vernunft (das Seiende) aufgeben und geriet dadurch in unlösbare Aporien, die in Humes Skeptizismus ihren Gipfel fanden. Eine Höhepunkt einer Formung subjektiver Zentren innerhalb der Welt" (Was kann man von Hegels objektiv-idealistischer Theorie des Begriffs noch lernen, das über Seilars ', McDowells und Brandoms Anknüpfungen hinausgeht? In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2 (2005), S. 139-158, hier S. 157). 123 Enz. §564. Der Gedanke wird ausführlich in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion erörtert.

§4. Das ens realissimum der neuzeitlichen Ontotheologie

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Synthese von Empirismus und Rationalismus qua Vermittlung von Reflexionsphilosophie und Ontotheologie vermag demnach allein die Vernunft dergestalt zu sich zu bringen, daß sie nicht von vornherein von ihrer Beziehung auf das Seiende abgeschnitten wird. Diese Vermittlung hat Kant geleistet, dessen Weltbegriff Schelling allererst zur Konstruktion einer sich selbst vermittelnden Totalität eingeladen hat, womit er freilich die von Kant gesteckte Grenze der theoretischen Vernunft in ihrem Umgang mit der Totalität umdeutet.'24 Nicht erst seine Spätphilosophie dient der Rechtfertigung seiner Reinterpretation der Kantischen Transzendentalphilosophie als Theorie der Totalität. Doch wird im Rahmen der Spätphilosophie eine Rechtfertigung der Metaphysik erneut, und zwar im Kontext der Frage nach einem möglichen philosophischen Begreifen der Religion dringlich. Denn Religion und Metaphysik haben zumindest das eine gemeinsam, auf das Ganze der Wirklichkeit auszugreifen und zu fragen, welche Stellung dem Menschen im ganzen zukommt. Daraus folgt freilich nicht notwendig, daß Religion auf Metaphysik oder umgekehrt reduziert werden kann.

124 Schelling erklärt dazu in aller Deutlichkeit: „Goethe in der bekannten Schrift über Winckelmann äußert einmal: es habe sich in der wissenschaftlichen Welt der von Kant ausgegangenen Bewegung ungestraft niemand entziehen können [...]. Es ist indeß nicht meine Absicht, in den möglichen Sinn des vielleicht sehr zufälligen Ausspruchs einzudringen; wohl aber möchte ich daran die Erwähnung einer unleugbaren Thatsache knüpfen, diese nämlich, daß seit Kants Unternehmen unter den verschiedenen Versuchen die Philosophie weiter zu fuhren oder fortzubilden, keiner einer allgemeineren Theilnahme sich zu erfreuen hatte, der nicht in genetischem Zusammenhange mit Kant gestanden hätte, indeß jeder, der aus der Continuität dieser Entwicklung heraustreten zu können glaubte, damit zugleich sich isolirte und seinem Standpunkt höchstens von einzelnen Anerkennung erwarb, ohne aufs Ganze oder Allgemeine die geringste Wirkung auszuüben. Es sind aber die zahlreichen Geschichtsschreiber, welche die neueste Philosophie seit einiger Zeit gefunden, nichts weniger als im Klaren über den eben erwähnten genetischen Zusammenhang, und, diejenigen nicht gerechnet, welche alles Spätere als ein bloß zufalliges, willkürliches und unbegründetes Hinausgehen über Kant vorstellen, sind auch die weniger abschließend urtheilenden wenigstens nicht im Stande, im Gebäude des Kantischen Kritizismus den bestimmten Punkt anzugeben, an den die spätere Entwicklung sich als eine nothwendige Folge anschloß. Dieser Punkt findet sich meines Erachtens in Kants Lehre von dem Ideal der Vernunft." (SW, XI, 283, Anm. 1)

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§5. Kants Lehre vom transzendentalen Ideal der reinen Vernunft und der Übergang in die Potenzenlehre In Kants Begründung des kritischen Idealismus sieht Schelling einen wichtigen Fortschritt gegenüber Descartes. Während Descartes nämlich versucht habe, die Vernunft so auf sich zu stellen, daß ihr zunächst jeglicher ursprüngliche Gehalt skeptisch abgesprochen werden sollte, um erst am Ende der erkenntnistheoretischen Meditationen wiedergewonnen werden zu können, habe Kants ungleich gründlichere Behandlung des Problems der Erkenntnis gezeigt, daß die Vernunft als solche sich gerade durch ihren apriorischen Ausgriff auf das Ganze auszeichnet. Über den ganzen Standpunkt hinweg heben, die Vernunft aus der Selbstentfremdung des bloß natürlichen, d.h. unfreien Erkennens zu sich selbst zurückzubringen, war einer ins Innere dringenden, das ganze System der natürlichen Erkenntniß und deren Quellen von Grund untersuchenden Kritik vorbehalten, und der Mann, der dieses leistete, war unstreitig mehr als bloß ein zweiter Cartesius.125

Schelling sieht in der Kritik der reinen Vernunft und insbesondere in Kants zentraler Lehre vom transzendentalen Ideal der reinen Vernunft das Telos der neuzeitlichen Ontotheologie, weil sie den ursprünglichen Inhalt der Vernunft entdeckt, indem sie die gesuchte Synthese von Empirismus und Rationalismus leistet.126 Kants Kritik

125 SW, XI, 281 f. 126 Für Schelling ist v.a. der Abschnitt: KrV, Β 595-611 zentral. Hogrebe sieht in dieser Lehre „bereits die clavis zum Verständnis der Metaphysik Schellings." (Prädikation und Genesis. S. 38) Daher baut er dieses Theoriestück mit guten Argumenten in sein Projekt einer an Schelling orientierten Theorie der „Startbedingungen der Prädikation" ein (ebd., S. 59-71). Ähnlich äußert sich H. Schrödter, der Schellings Anknüpfung an Kant wie Hogrebe „als Schlüssel zum Verständnis Schellings" benutzt (Die Grundlagen der Lehre Schellings von den Potenzen in seiner reinrationalen Philosophie. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 40 (1986), S. 562-585, hier: S. 563). Vgl. außerdem Sollberger: Metaphysik und Invention. S. 177-185; Holz: Spekulation und Faktizität, S. 303-308. Vgl. zu Kants Lehre Rohs, P.: Kants Prinzip der durchgängigen Bestimmung alles Seienden. In: Kant-Studien 69 (1978), S. 170-180 [zit.: Kants Prinzip der durchgängigen Bestimmung]; Düsing, K: Negative und positive Theologie bei Kant. Kritik des ontologischen Gottesbeweises und Gottespostulat. In: Societas rationis. Festschrift für B. Tuschling zum 65. Geburtstag, hg. v. D. Hüning, G. Stiening und U. Vogel, Berlin: 2002, S. 85-118. Vgl. allgemein zum späten Schelling und Kant: Hutter: Geschichtliche Vernunft. Zu Schellings Deutung der Kantischen Vermittlung von

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übernimmt nämlich einerseits die Erkenntnisrestriktion des Empirismus, indem nach Kant alle Erkenntnis entweder selbst Erfahrungserkenntnis sein oder auf mögliche Erfahrung dadurch bezogen sein muß, daß diese ohne sie nicht möglich wäre. „Es gibt auf diese Weise überhaupt nur Erfahrungs- und Verstandes-, aber durchaus keine Vernunft-Erkenntniß."12 Andererseits hält sich Kant sowohl in seiner Begrifflichkeit als auch in seiner gesamten Architektonik an das kategoriale Rüstzeug der Leibniz-Wolffischen Schulmetaphysik, wobei er freilich deren Reichweite modifiziert, indem er den tradierten Begriffen einen transzendentalen Ort im Gefüge der Vernunft, d.h. im Gefüge des Ganzen des Erkennens zuweist. Die rationale Psychologie mit ihrem Philosophem der Unsterblichkeit der Seele sowie die rationale Theologie mit ihren Gottesbeweisen werden bspw. in der Kritik der praktischen Vernunft in praktische Postulate transformiert, während klassische eingeborene Ideen wie „Substanz" oder „Kausalität" zu Grundoperationen unserer verstandesmäßigen Weltaneignung, d.h. zu Kategorien, reinen Verstandesbegriffen, umfunktioniert und dadurch deontologisiert werden. Das vormalige Ganze des Seienden wird zum Ganzen der Erkenntnis. Die Theorie der Totalität wird entsprechend zu einer Theorie der Erkenntnis der Totalität, was Schelling letztlich dadurch ergänzt, daß er die Totalität als Selbstreferenz konstruiert, die in der Theorie der Erkenntnis der Totalität zu sich kommt. Die Schul- oder wie Schelling sie polemisch nennt „eklektische Metaphysik"128 übernahm nicht nur, vermittelt durch Leibniz, Grundbegriffe der scholastischen Metaphysik, sondern auch und vor allem den ontologischen Gottesbeweis, den Descartes als erster in der Neuzeit zum zentralen Theorem der natürlichen Theologie erklärt hatte. Der ontologische Gottesbeweis erhält dabei vor allem dadurch eine neue Dignität, daß er allein die Kluft zwischen Ich und Welt schließen kann, die der Skeptizismus aufreißt. Der ontologische Gottesbeweis steht bei Descartes also am Ende der Wissenschaft und nicht an ihrem Anfang, da er bei Descartes das systematische Resultat des methodischen Zweifels gewesen war und dem zweifelnden Ich, das sich selbst im Vollzug seines Zweifeins erst eigentlich gewonnen hatte, die Gewißheit des Seins der Empirismus und Rationalismus vgl. insbes. Hutten Geschichtliche Vernunft. S. 194-197. 127 SW, XI, 282. 128 Ebd.

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Außenwelt und der Geltung mathematischer Vernunftwahrheiten zurückgegeben hatte.129 Indem Kant sich nun im wesentlichen an den Gang und die Architektonik der Schulmetaphysik hielt, griff er im Zuge seiner Kritik der Gottesbeweise in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft den Begriff des ens realissimum, der Totalität aller möglichen Sachbestimmungen (Realitäten), auf und unterzog ihn einer gewichtigen und für Schelling folgenreichen Modifikation. Denn Kant habe sich als erster der „ganz vernachlässigten Seite des Begriffs" der omnitudo realitatis zugewandt, „wornach nämlich das vollkommenste Wesen zugleich den Stoff, die Materie alles möglichen und wirklichen Seyns enthalten sollte"130. Die jeglichen Verstandesgebrauch regulierende Idee der Menge aller möglichen Prädikate, mit der jedes Einzelding von der vorstellenden Subjektivität stets und vorgängig verglichen wird, ist bei Kant nämlich die Bedingung der Möglichkeit aller Bestimmtheit von Vorstellungen überhaupt. Begriffliche Bestimmtheit setzt einen Holismus voraus, indem alle bestimmenden Prädikate in Inklusions- und Exklusionsrelationen zueinander stehen, die durch Urteile explizit gemacht werden können. Was auch immer einem erkennenden Subjekt begegnet, wird mit der Menge aller möglichen Prädikate dergestalt verglichen, daß ihm von allen kontradiktorisch entgegengesetzten Prädikaten jeweils eines zugeschrieben werden kann. Dieses Haus dort etwa ist entweder groß oder nicht groß, grün oder nicht grün, aus Ziegelsteinen oder nicht aus Ziegelsteinen zusammengesetzt usw. in indefinitum. Dabei kann das Haus keine Eigenschafen haben, denen Prädikate entsprechen, die logisch inkompatibel sind. Diese Annahme leitet unsere Erkenntnissuche, da wir ansonsten jederzeit damit rechnen müßten, daß die Wirklichkeit sich radikal von unserer Auffassung der Wirklichkeit unterscheidet. Da der Vergleich der 129 Schel lings Rekonstruktion der neuzeitlichen Geschichte der Ontotheologie liegt bereits implizit der Leitgedanke zugrunde, daß Gott in der reinrationalen Philosophie „nur Ende" (SW, XIII, 45) sein, d.h. nur als resultierendes Prinzip erscheinen könne, daß diese ihn aber nicht wiederum „zum Prinzip" ihres eigenen Fortschreitens machen könne, da sie als ζητούμενη επιστημη sich selbst und ihren Gegenstand erst am Ende ihres Denkweges finden kann (SW, XIII, 105). „Dem Begriff zufolge wäre das Eigenthümliche dieser [sc. der reinrationalen] Wissenschaft eben dieß, daß sie das eigentliche Princip nur zum Resultat, daß sie Gott erst als Princip, aber nicht zum Princip hat." (SW, XI, 366) 130 SW, XI, 283.

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Prädikate freilich niemals zu einem Abschluß kommen kann, indem die Menge aller möglichen Prädikate indefinit groß ist, bleibt die angepeilte Totalität immer aus, um so ausschließlich als regulatives Prinzip der epistemischen Weltorientierung zu fungieren. Kein Gegenstand ist jemals ganz erkannt. Damit ein erkennendes Subjekt einen begegnenden Gegenstand als Weltinhalt verzeichnen kann, muß es ihn als Aggregat möglicher Prädikate denken, nämlich solcher Gehalte, die in einer omnitudo realitatis enthalten gedacht werden können und müssen. Da alle Gegenstände Eigenschaften haben, Eigenschaften aber in inferentiellen Beziehungen der Inklusion und Exklusion zueinander stehen, stehen alle Gegenstände in inferentiellen Beziehungen zueinander. Das Erkennen ist daher immer schon bei den Gegenständen, wenn es sie mit Prädikaten beschreibt und auf diese Weise voneinander unterscheidet. Die Totalität aller Prädikate ist eine Idee, ohne die einzelne Prädikate gar nicht inferentiell gehandhabt werden könnten. Diese Idee ist selbst aber kein Ding mit Eigenschaften, von dem bestimmte Prädikate ausgesagt werden können, die sich von anderen Prädikaten unterscheiden. Die Idee selbst dient der Bestimmung, ist aber nicht selbst Gegenstand der Bestimmung. Kant sieht nun im ontologischen Gottesbeweis eine Verwechslung von Idee und Gegenstand am Werk, die sich darin ausdrückt, daß die Idee für einen Gegenstand von besonderer Dignität gehalten wird. Diese Verwechslung ist insofern natürlich, als die Idee eine unerläßliche Rolle in aller Erkenntnis spielt, so daß sie gleichsam (wie Gott) omnipräsent ist. Doch ihre Omnipräsenz darf nicht mit der Existenz eines Gegenstandes verwechselt werden. Das Ideal der reinen Vernunft ist nun die zu einem Einzelwesen (Gott) hypostasierte Funktion der durchgängigen Bestimmung aller möglichen Gegenstände, d.h. der Idee.1 1 Es ist Kant zufolge eine „natürliche Illusion"132 der Vernunft, ihren bloßen den Verstandesgebrauch anleitenden Begriff eines Inbegriffs aller Prädikate zu per131 Ideen sind nach Kant Platzhalter ,,eine[r] gewissejn] Vollständigkeit, zu welcher keine mögliche empirische Erkenntnis zulangt, und die Vernunft hat dabei nur eine systematische Einheit im Sinne, welcher sie die empirische mögliche Einheit zu nähern sucht, ohne sie jemals völlig zu erreichen." (KrV, Β 595f.) Unter Ideal versteht Kant hingegen: „die Idee, nicht bloß in concreto, sondern in individuo, d.i. als ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares, oder gar bestimmtes Ding" (B 596). 132 KrV, Β 610. Zu Kants Theorie des „transzendentalen Scheins" vgl. Hutter: Geschichtliche Vernunft. S. 218-223.

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sonifizieren. Sie verwechsle nämlich ihre eigene Tätigkeit mit der Tätigkeit einer göttlichen Intelligenz. Dieses Ideal des allerrealsten Wesens wird also, ob es zwar eine bloße Vorstellung ist, zuerst realisiert, d.i. zum Objekt gemacht, darauf hypostasiert, endlich, durch einen natürlichen Fortschritt der Vernunft zur Vollendung der Einheit, so gar personifiziert [...]; weil die regulative Einheit der Erfahrung nicht auf den Erscheinungen selbst (der Sinnlichkeit allein), sondern auf der Verknüpfung ihres Mannigfaltigen durch den Verstand (in einer Apperzeption) beruht, mithin die Einheit der höchsten Realität und die durchgängige Bestimmbarkeit (Möglichkeit) aller Dinge in einem höchsten Verstände, mithin in einer Intelligenz zu liegen scheint. 133

Die noch nicht über sich selbst und ihre eigenen Tätigkeiten aufgeklärte Vernunft weiß sich nicht selbst als Ursprung der Idee einer durchgängigen Bestimmung alles Seienden, die Garant der Einheit der Erfahrung ist, und überträgt so ihre eigene Leistung auf eine außerhalb ihrer liegende Intelligenz.134 Erst die Kantische Kritik ist imstande, diese „Logik des Scheins" zu durchschauen und die natürliche Verwechslung der Vernunft aus ihren Prinzipien zu erklären. Die Kantische Kritik dient der Aufklärung der philosophischen Theologie über sich selbst, so daß sie ohne ihre Beziehung auf das Problem einer Verhältnisbestimmung von Wissen und Glauben, um die sich die Kritik der reinen Vernunft bemüht, nicht ohne Reduktionen zu haben ist. Vor dem Hintergrund von Schellings Ausfuhrungen kann man sagen, daß Peter Rohs in seiner erhellenden Deutung von Kants transzendentalem Ideal etwas zu voreilig ist, wenn er erklärt, daß Kants erkenntnistheoretisches Prinzip der durchgängigen Bestimmung „mit den theologischen Begriffen sachlich nichts zu tun"135 habe. Kant behauptet nämlich nicht lediglich, daß der Erkenntnistheoretiker ein solches Prinzip aus transzendentalphilosophischen Gründen annehmen müsse, sondern daß die Vernunft selbst, d.h. die den Menschen als solchen kennzeichnende und seine epistemische 133 KrV, Β 611, Anm. 134 Zum Prinzip der durchgängigen Bestimmung als Prinzip der Einheit der Erfahrung vgl. Rohs: Kants Prinzip der durchgängigen Bestimmung. S. 177-180, wo auf die Bedeutung des aus der Wolffschen Schulmetaphysik stammenden Grundsatzes existentia est omnimoda determinatio iur Kants opus postumum hingewiesen wird. Rohs zufolge tritt der Grundsatz im opus postumum als Garant für die Systematizität der Erfahrung neben Raum und Zeit. 135 Kants Prinzip der durchgängigen Bestimmung. S. 173.

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Beziehung auf die Wirklichkeit organisierende Einheitsfunktion, die Idee einer durchgängigen Bestimmung alles Seienden stets als Skopos ihres Wirklichkeitsaufbaus ansetze. Da die Vernunft zumeist und zunächst natürlich, d.h. unreflektiert verfährt, vermag sich Kant zufolge überhaupt eine Theologie auszubilden, die nicht immer schon transzendentalphilosophisch legitimiert ist. Die Beziehung auf das theologische Problem des ens realissimum ist dem erkenntnistheoretischen Grundsatz demnach nicht äußerlich, sondern vielmehr wesentlich: Die „natürliche Illusion", daß ein „außerhalb" der erkennenden Subjekte seiender Gott alle Sachgehalte (Realitäten), die sind und gedacht werden können, in sich versammelt, ist nämlich nach Kant ausschließlich dadurch zu erklären, daß wir als erkennende Wesen die vollständige Erkenntnis der Wirklichkeit zum Zweck haben und folglich den Inbegriff aller Bestimmtheiten bilden müssen, der traditionell mit dem Namen „Gott" assoziiert worden ist. Während der Begriff des absolut notwendigen Wesens bei Descartes insofern ein zufalliger war, als zwar jeder die Vorstellung eines solchen Wesens haben sollte, dieser aber nicht als notwendiges Ingredienz einer transzendentalen Subjektivität nachgewiesen wurde, hat Kant in der Tat gezeigt, daß zumindest der Begriff eines solchen Wesens notwendig ist, obgleich dadurch noch nichts über seine Existenz ausgemacht ist. Schelling sieht in Kants Formulierung des Prinzips der durchgängigen Bestimmung die Möglichkeit einer ontologischen Lesart gegen den erklärten Willen Kants angelegt. Kant sagt selbst, daß der Satz vom Widerspruch als oberster Grundsatz aller analytischen Urteile bloß die formelle Möglichkeit eines Dings garantiere, während seine materielle Möglichkeit durch den „Grundsatz der durchgängigen Bestimmung"13 reguliert wird, der „der Grundsatz der Synthesis aller Prädikate"137 ist. Für Schelling bedeutet dies, daß durch diesen Grundsatz nicht nur etwas über die logische Form eines Dings α priori ausgemacht ist, sondern „das Ding selbst mit der gesammten Möglichkeit^3* verglichen werde, wodurch jene nach Kant verhängnisvolle Beziehung der Vernunft auf das „wirkliche Seyn"139 zustande komme. Denn dadurch werde die Vernunft verleitet, ihrer denknotwendigen Vorstellung einer omnitudo realitatis 136 137 138 139

KrV, Β 599. KrV, Β 600. Hervorhebung von mir, M.G. SW, XI, 284. Ebd.

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ein Sein außerhalb der Vorstellung zu akkreditieren. Die Vernunft geht so gleichsam unmittelbar ins Sein über, wenn sie ihren ultimativen Inhalt, den Inbegriff des Inhalts selbst, ergreift und festzustellen sucht. Denn in der Konstitution einer stabilen Dingwelt bezieht sie jedes Ding notwendigerweise auf ein Ganzes. Dadurch hat sie die Tendenz, dieses Ganze selbst zum Ding zu machen, es zu hypostasieren, und damit ihre eigene Tätigkeit mit etwas zu verwechseln, was außerhalb ihrer liegt, welchen Fehlschluß Kant als „transzendentale Subreption" bezeichnet.140 Schelling erkennt in Kants Kritik an der Hypostase der Idee der Prädikatentotalität zu einem Ideal der reinen Vernunft seine eigene Einsicht wieder, daß „alles was zum Seyn gehört" „dem Seyn voraus"141 gehen müsse und daher selbst nicht sein bzw. nur im Modus der Potenz sein könne. Seine Potenzen sind als Möglichkeitsbedingungen alles dessen, was überhaupt existiert, selbst nichts, was existiert. Die Potenzenlehre ist daher eine reine Möglichkeitswissenschaft, die nichts darüber ausmacht, was es tatsächlich gibt. Die Bedingungen alles Seienden sind selbst kein Seiendes unter anderem, was in Kantisch übersetzt heißt, daß die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung selbst nicht erfahren werden können. Anders gewendet: Das Unbedingte, das eine Möglichkeitsbedingung des Bedingten ist, ist selbst kein Ding. Nun ist die omnitudo realitatis aber die materiale Bedingung alles Seienden, das ungeschiedene Ineinander aller positiven Prädikate. Als bloße Materialsammlung hat sie aber kein Fürsichsein, da der bloße Stoff des Seienden nichts selbständig Existierendes sein kann.142 Alles, was selbständig existiert (alle Substanzen), hat

140 KrV, Β 610f.: „Daß wir [...] diese Idee vom Inbegriffe aller Realität hypostasieren, kommt daher: weil wir die distributive Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes in die kollektive Einheit eines Erfahrungsganzen dialektisch verwandeln, und an diesem Ganzen der Erscheinung uns ein einzelnes Ding denken, was alle empirische Realität in sich enthält, welches denn, vermittelst der schon gedachten transzendentalen Subreption, mit dem Begriffe eines Dings verwechselt wird, was an der Spitze der Möglichkeit aller Dinge steht, zu deren durchgängiger Bestimmung es die realen Bedingungen hergibt." Vgl. a. KrV, Β 647f. 141 SW, XI, 285. 142 Im Hintergrund von Schellings Interpretation des transzendentalen Ideals steht der platonisch-aristotelische Gedanke, daß die Materie, d.h. das Prinzip der Bestimmbarkeit, keine ουσία sein kann. Schelling zitiert dazu selbst Aristoteles: το ΰλικον ουδέποτε αί/το λεχτεον. (Met. 1035a8f.) Weil die υλ·η bloßes, an ihm selbst unbestimmtes, ungeformtes Materialprinzip ist, kann sie an ihr selbst nicht erkannt

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nämlich Eigenschaften, durch die es sich von anderem unterscheidet. Das Ganze kann sich aber nicht durch seine Eigenschaften von irgend etwas unterscheiden, das seinerseits Eigenschaften hat, da das Ganze sich ansonsten aus sich selbst und demjenigen zusammensetzte, das sich durch seine Eigenschaften vom Ganzen unterscheidet. Die Welt kann sich von nichts unterscheiden, was zur Welt gehört. Das Ganze kann Kant zufolge daher auch keine Substanz sein. Der Totalität aller Prädikate kommen selbst keine Prädikate zu, durch die sie sich von irgend etwas unterscheidet, dem andere Prädikate zukommen. Die Prädikatentotalität ist nach Kant zwar als Ideal der Gedanke eines „Urwesens", aus dem alles bestimmte Seiende durch Einschränkung entstanden gedacht werde.143 Sie ist so der Stoff der Möglichkeit alles Seienden, das durch eine Folge aus ihr abgeleitet gedacht wird. Das heißt aber, daß sie alles Eingeschränkte nur potentialiter und nicht actualiter in sich enthalten kann, weil sie ansonsten ein bloßes Aggregat von Eingeschränktem wäre.144 Aufgrund ihres Strebens nach dem Unbedingten sucht die Vernunft aber kein Aggregat aus Dingen, sondern eine Totalität, die gar nicht als Summe errechnet werden kann. Die Totalität ist nicht alles, was es gab, gibt und geben wird, sondern der Horizont, innerhalb dessen wir auf die Suche nach etwas gehen können, was wir noch nicht wissen. Der Totalität ist aufgrund ihrer Beziehung auf die Erkenntnissuche eine Unabgeschlossenheit eingeschrieben, die nur durch einen Unterschied von Möglichkeit (mögliche Erfahrung) und Wirklichkeit (Erkenntnis) erklärt werden kann. Die Totalität ist also werden: ή 'ύλη άγνωστος καΒ' αυτήν. (Met. 1036a8f.) Bereits Piaton hatte die χώρα als an ihm selbst formloses Materialprinzip eingeführt, das nur durch eine Anästhesie der Vernunft (μετ' άναισ-Βησίας) durch den Vollzug eines sich selbst aufhebenden „Bastard-Schlusses" „gedacht" werden könne (λογισ-μφ τινι νό$φ) (Tim. 52b2). Vgl. dazu das Standardwerk von Heinz Happ: Hyle. Studien zum aristotelischen Materie-Begriff. Berlin/New York: 1971. 143 KrV, Β 606. 144 KrV, Β 607. Kant fuhrt an dieser Stelle leider nicht näher aus, was es heißt, daß alles aus dem Urwesen folge. Man könnte aber mit Kant den transzendentalen Ursprung des Schöpfungsbegriffs darin sehen, daß die Vernunft das Ideal notwendigerweise als Grund der Welt der Erscheinungen konzipieren muß. Nachdem sie das Ideal zu Gott personifiziert hat, interpretiert sie den rein logischen Begriff der Folge als reales Kausalverhältnis Gottes zur Welt, d.h. als Schöpfung. Zur Begründung des Schöpfungsbegriffs im Antinomien-Kapitel der KrV vgl. i. allg. Ertl, W.: Kants Auflösung der »dritten Antinomie«. Zur Bedeutung des Schöpfungskonzepts fiir die Freiheitslehre. Freiburg/München: 1996.

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die Möglichkeit, ohne die es keine Wirklichkeit geben könnte. Sie ist selbst aber nichts Wirkliches, kein Ding unter anderen. Kants Benennung des Ideals als „Urwesen" hat sicherlich Pate gestanden für das „Urwesen", dessen Evolution Schelling in den Weltaltern beschreibt. Dieses versteht Schelling als die Einheit einer kontraktiven (synthetischen) Einheits- und einer expansiven (dissoziativen) Vielheitspotenz und insofern wie die Idee als die Möglichkeit zu allem.14i Das erklärte explanatorische Ziel der Weltalter ist es, den Weg des Urwesens zu seiner Verselbstung darzustellen.146 Genau dieser Gedanke liegt Hogrebes Interpretation der Bedeutung des transzendentalen Ideals für Schellings Weltalter zugrunde. Hogrebe ist nämlich der Auffassung, daß der Übergang von der Idee der omnitudo realitatis zum Ideal vermittels einer Ambiguität im Begriff des Inbegriffs aller Möglichkeiten zustande komme. Denn dieser sei einerseits „extensional" aufzufassen und bezeichne die Menge aller gegenständlichen Prädikate, andererseits sei er aber auch „intensional" als „Musterexemplar" - d.h. im Kontext unserer Deutung: als παντελώς ov - zu verstehen. Das Musterexemplar des Seienden leitet nun, so Hogrebe, all unsere Erkenntnissuche als dasjenige, „worauf der suchende Vektor aller unserer epistemischen Bemühungen gerichtet ist."147 Da dieses X, auf das wir erkennend immer aus sind, als allem Einzelnen immer schon vorausgekommen gedacht werden muß, erkennt Hogrebe in ihm das ,,τί ψ είναι par excellence"148 bzw. „das älteste der Wesen"149 der Weltalter. Denn es ist dasjenige, was so gedacht werden muß, als ob es immer schon jeder bestimmten Bezugnahme auf irgend etwas vorausgegangen wäre. Das äußert sich unter anderem darin, daß wir dort, wo wir etwas wissen wollen, Bezug auf die Welt so nehmen, als ob diese unserer Erkenntnisanstrengung immer schon als erratischer Block gegenüberstände, dessen Struktur bestenfalls in einem Set von wahren Propositionen repräsentiert werden kann. Die Intuition, die den metaphysischen Realismus motiviert, setzt stets eine absolute Vergangenheit des Erkennens selbst voraus, d.h. eine bereits konstituierte Welt, die immer schon vorhanden war, und auf die man unter günstigen epistemischen Umständen Bezug nehmen kann. 145 146 147 148 149

SW, VII, 217. SW, VII, 335. Prädikation und Genesis. S. 64. Ebd., S. 66. SW, XIII, 199.

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Schelling akzeptiert aber ebensowenig wie Kant einen unkritischen metaphysischen Realismus, der mit der Gegebenheit einer vollkonstituierten Wirklichkeit rechnet. Die Einsicht des kritischen Idealismus erkennt er vielmehr darin, daß die Welt nicht einfach vorgefunden wird. Die Idee einer vorgefundenen Welt (als Aggregat aller ihrem Begriff immer schon zuvorgekommen Dinge) ist dem kritischen Idealismus zufolge nichts anderes als eine Hypostase der regulativen Idee der Prädikatentotalität ist. Die Gegebenheit der Welt ist ein Parameter der Vernunft selbst, die auf die Welt als den selbst unbedingten Horizont aller Dinge ausgreift und Dinge, also von ihr Unabhängiges, Gegebenes, nur so hat, daß es sie auf eine Totalität hin übersteigt, die nicht adäquat als Ding ausgelegt werden kann. Hogrebes letztlich prädikationstheoretisch begründete Deutung des Urwesens der Weltalter gehört sicherlich zum Erhellensten, was zum Thema gesagt worden ist. Wie attraktiv seine Deutung, die seinem systematischen Projekt einer Metaphysik als Fundamentalheuristik entspringt, im einzelnen auch sein mag; sie blendet allerdings aus, daß Schelling wie Kant beide Momente des Begriffs des Inbegriffs zusammendenkt. Das transzendentale Ideal ist für Schelling nämlich nicht das bloße X, auf das wir erkennend abgestellt sind, sondern ein komplexes Strukturgefüge von Momenten, die sich immer schon (Hogrebisch: präprädikativ) miteinander vermittelt haben. Insofern steht es eher für die Möglichkeit eines metaphysischen Ausgriffs auf die Totalität aller (quidditativen) Gehalte als ftir die Uneinlösbarkeit unseres Strebens nach Wissen. Gleichwohl blendet Schellings Spätphilosophie die Uneinholbarkeit der Totalität in die Vorstellung nicht aus, sondern verortet sie in der Entzogenheit des unvordenklichen Seins, das als absolutes Außerhalb der Vernunft dieser nur auf Umwegen, nämlich durch Immanentisierung, zugeeignet werden kann. Dieser Prozeß wird in der positiven Philosophie als Religionsgeschichte beschrieben (s.u., §9).

Schelling beabsichtigt mit seiner Deutung der Lehre vom transzendentalen Ideal, Kant mit seinen eigenen Mitteln zu überbieten. Zwar zeige Kant, daß die gesamte Sinnenwelt als eine Folge des Urwesens, als Ektyp zu ihm als Prototyp gedacht werden müsse. Dabei bemühe er sich allerdings keineswegs selbst um diese Ableitung, was nach Schelling darin gründet, daß „der bloße »Inbegriff aller Möglichkeiten« noch immer ein viel zu weiter

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Begriff [ist], als daß sich mit ihm etwas anfangen, zu irgend etwas Bestimmtem gelangen ließe."150 Dennoch sieht er in Kants Lehre vom transzendentalen Ideal die gesamte nachkantische Entwicklung präfiguriert, d.h. in erster Linie sein eigenes Identitätssystem, das sich an Kant „als eine nothwendige Folge anschloß"151. Anstatt bloß über Kant hinauszugehen, habe der nachkantische Idealismus an Kants Totalitätsbegriff angeknüpft und versucht, die empirisch gegebenen Seinsbereiche, wie die Reiche des Anorganischen, des Organischen usw., aus „zur Natur des Seyenden selbst gehörigen Unterschieden"132 zu deduzieren. Denn es sei anzunehmen, daß diese durch Erfahrung gegebenen Arten, durch welche Mittelglieder immer, aber doch zuletzt sich ableiten von ursprünglichen, nicht mehr zufälligen, sondern zur Natur des Seyenden selbst gehörigen Unterschieden desselben.15"'

Der nachkantische Idealismus wird von Schelling also als die Entwicklung einer Theorie der Totalität angesehen, die sich selbst a limine als eine Theorie der Totalität weiß und nur auf diese Weise überhaupt zu Behauptungen kommen kann. Alle gegebenen Seinsbereiche werden als notwendige Momente der Totalität auf ihrem Weg zur Selbsterkenntnis in der Theorie der Totalität konstruiert. Die idealistische Theorie der Totalität hat dabei die wichtige Eigenschaft, nur als Theorie konstruiert werden zu können, die ihres eigenen Theoriestatus bewußt ist. Alles Seiende wird auf diese Weise nur daraufhin zugänglich, welche Funktion es in der Etablierung von Selbsterkenntnis ausübt. Das Ganze des Seienden wird somit systematisch angeeignet und die Fremdheit der Welt, d.h. die Entfremdung von Subjekt und Objekt, zurückgenommen. Das Ziel ist eine Theorie der Welt, in der die Welt als eine Teleologie auf die Theorie der Welt hin durchsichtig wird. Dies verbirgt sich auch hinter Hegels „Kreis von Kreisen"154. 150 SW, XI, 287. Diese Kritik speist sich untergründig wieder aus Schellings Distinktion von negativer und positiver Philosophie. Während Kant den Inbegriff des Möglichen „als maximalen Steigerungsgrad des Möglichen, als Inbegriff einer finalen Möglichkeit faßte" (Hogrebe: Prädikation und Genesis. S. 67), versucht Schelling von vornherein mit dem Resultat der Selbsterkenntnis der Vernunft eine metaphysische χά%δος vom Prinzip zu seinen Prinzipiaten einzuleiten. 151 SW, XI, 283, Anm. 1. 152 SW, XI, 288. 153 Ebd. 154 TWA, 6, 571.

§5. Kants Lehre vom transzendentalen Ideal der reinen Vernunft

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Die absolute Idee, d.h. das Selbstbewußtsein der philosophischen Methode selbst, weiß, daß Philosophie nur als ein „System der Totalität"135 ihr Ziel erreichen kann, Subjekt und Objekt zu versöhnen. Hegel und Schelling sind sich darin einig, daß Philosophie eine Theorie der Totalität sein muß und beide sehen in Kant denjenigen, dessen transzendentale Dialektik der Vorbote eines Systems der Totalität ist; Hegel, indem er Kant attestiert, wiederentdeckt zu haben, daß die Vernunft an ihr selbst dialektisch ist, und Schelling, indem er Kant attestiert, entdeckt zu haben, daß die Totalität der ursprüngliche Inhalt der Vernunft selbst und folglich nichts Gegebenes ist. Kant gebührt nach Schelling also das Verdienst, nachgewiesen zu haben, daß die Vernunft den Begriff des παντελώς öv, des Seienden im emphatischen Sinne, zur notwendigen Voraussetzung aller ihrer Anstrengungen habe, woran Schelling mit seiner eigenen Potenzenlehre anknüpft. Dadurch habe Kant als erster das Absolute innerhalb der Vernunft selbst verortet und damit letztlich die Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung in Schellings eigenem Idealismus vorbereitet. Schellings Anknüpfung an Kant erfüllt nicht nur die strategische Funktion, die Anklage zurückzuweisen, die von Kant gezogenen Grenzen spekulativ zu überschreiten. Daß Kant selbst zu einer Theorie der Totalität unterwegs war, sieht Schelling auch und gerade in der transzendentalen Dialektik am Werk, die man gewiß nicht mißversteht, wenn man in ihr die Einsicht ausgedrückt findet, daß wir Dinge als Gegenstände für mögliche Erkenntnis überhaupt nur vorstellen können, indem wir über alles Gegebene jeweils immer schon hinaussind und es im Zusammenhang eines Beziehungsganzen sehen, daß selbst kein Ding ist und folglich auch in keiner Weise, insbesondere in keiner Anschauung gegeben werden kann. Die fortschreitende Zurücknahme des Göttlichen in die Autonomie des reinen Denkens, die Schelling zufolge die Geschichte der Ontotheologie als Geschichte der Emanzipation der Vernunft dirigiert, gipfelt in Kant, dessen Theorie der Totalität allerdings als Deontologisierung auftritt, was zur Apotheose der Autonomie führt, die Schelling partiell rückgängig macht.

155 TWA, 6, 568.

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I· Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

§6. Die Potenzenlehre Die Tradition der Ontotheologie, die einer Teleologie der Freiheit folgend allmählich zum Begriff des Seienden als notwendigem Vernunftinhalt durchgedrungen ist, muß nach Schelling nun dadurch überboten werden, daß man die in der „Idee des Seyenden"156 gelegenen Unterschiede α priori freilegt und von den dialektisch ermittelten elementaren Seinsbestimmungen ausgehend das gesamte Reich des Möglichen ableitet, das durch diese abgesteckt ist. Mit der Idee des Seienden (iMa του οντος) greift Schelling dabei ein wichtiges Bestandstück der Platonischen Ideenlehre auf. Piaton erklärt nämlich im Sophistes, daß die Begriffsbestimmung des „Philosophen" deswegen so schwer vorzunehmen sei, weil dieser stets denkend bei der Idee des Seienden weile, deren Helligkeit das ungeübte Auge trübe, so daß der Begriff des Philosophen nur durch Philosophie selbst bestimmt und d.h. nicht zirkelfrei definiert werden könne.157 Nur ein Philosoph wisse, was ein Philosoph sei, weil nur ein Philosoph wisse, was es heißt, die Idee des Seienden zu suchen. Die Idee des Seienden ist dabei diejenige Idee, die Piaton im Ausgang von Parmenides zur Idee des παντελώς ov, d.h. zur Idee des holistischen Bestimmungsganzen des Ideenkosmos führt, an die Schellings Potenzenlehre explizit anknüpft. Es ist bemerkenswert, daß bereits der frühe Schelling im Timaios-Kommentar Kant und Piaton dergestalt miteinander verbindet, daß man sich fragen kann, ob er Kant platonisiert oder Piaton kantianisiert. So vergleicht er etwa, um nur eines von unzähligen Beispielen zu erwähnen, den Kantischen Organismus-Begriff (KU, §65) mit Piatons Lehre aus dem Timaios, daß das Weltganze ein Lebewesen (ζφον) sei.158 In Schellings Interpretation der Kantischen Lehre vom transzendentalen Ideal kann man ein spätes Zeugnis für Schel156 SW, XI, 291. 157 Ö ίε ji φιλόσοφος, rjj του όντος gel δια λογισμών προσκείμενος Ιδεφ, δια το λαμπρον αύ της χώρας ουδαμώς εύπετ'ής όφ&ηναι· τα γαρ -της τών πολλών ψυχής 'όμματα καρτερεΤν προς το 3·εΐον αφορώντα αδύνατα. (254a8-bl, Hervorhebung von mir, M.G.) Schelling ist die Platonstelle natürlich bekannt. In einem anderen Kontext nimmt er selbst einmal auf sie Bezug. Vgl. SW, XIII, 48, Anm. 1. 158 Schelling: „Timaeus." (1794). Hg. von H. Buchner, mit einem Beitrag von H. Krings, Stuttgart-Bad Cannstatt: 1994, S. 33 [zit.: Timaeus], Vgl. dazu Bubner, R.: Die Entdeckung Piatons durch Schelling. In: Neue Hefte für Philosophie 35 (1995), S. 32-55, bes. S. 44-48; Franz, M.: Schellings Tübinger Platon-Studien. Göttingen: 1995 [zit.: Platon-Studien], zum Timaios-Kommentar v.a. S. 237-280.

§6. Die Potenzenlehre

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lings frühe platonisierende ontologische Kantlektüre sehen, die im Falle des transzendentalen Ideals aber durchaus nicht abwegig ist. Wenn Kant nämlich im Gottesbegriff des ontologischen Beweises den Vernunftbegriff einer Prädikatentotalität entdeckt, so greift er implizit auch auf den genuin platonischen Begriff einer Bestimmungs-Totalität als Urbild (Prototyp) der Erscheinungen zurück, der über die mittelalterliche Vermittlung auf Piaton zurückgeht.159 Nachdem Schelling Kants Lehre in ihren wesentlichen Zügen skizziert hat, beginnt er mit seinem eigenen dialektischen Programm, die Bestimmungen alles Seienden aus der Idee des Seienden zu entfalten. Dabei entdeckt es sich zunächst, daß alles bestimmte Seiende nur als gegenständlich, objektiv gedacht werden kann. Was auch immer als Etwas von anderem abgegrenzt werden kann, muß bereits in die Struktur eines Urteils und somit in die Form des τι κατά τίνος160, des Etwas als Etwas gebracht worden sein. Die Bestimmtheit eines möglichen Gegenstandes ist die Bedingung dafür, daß er erkennbar ist. Was an ihm selbst schlechthin gestaltlos ist, vermag als solches nicht von anderem unterschieden zu werden, das es nicht ist, und folglich auch nicht erkannt zu werden. Daher könnte man in Anlehnung an Aristoteles sagen, daß wir meinen, etwas genau dann zu erkennen, wenn wir wissen, was es ist (τί εοτιν). Der vermeintliche Gedanke eines absolut Unbestimmten hebt sich nämlich unmittelbar auf, indem die Form des Gedankens das Unbestimmte bereits als Nicht-Bestimmtes, d.h. in bestimmter Relation zum Bestimmten denkt. Das Unbestimmte denken zu wollen, bedeutet, es als es selbst thematisieren zu müssen und das 159 Daß Anselms ontologischer Gottesbeweis Piatons Seinsbegriff als durchgängige, ewige Bestimmtheit des Ideenganzen nicht nur indirekt voraussetzt, sondern über Boethius' Vermittlung sogar in direktem Zusammenhang mit dem Piatonismus steht, zeigt Jens Halfwassen in: Sein als uneingeschränkte Fülle. Zur Vorgeschichte des ontologischen Gottesbeweises im antiken Piatonismus. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 56 (2002), S. 497-516. Vgl. a. Halfwassen: Hegel und der spätantike Neuplatonismus. S. 277-279. 160 Diese Formel für die Grundstruktur von Prädikation stammt von Aristoteles. Vgl. z.B. De an. 430b26f: εστι d' ή μεν φάσις τι κατά τίνος, ωσπερ και ή άπόφασις κτλ. Vgl. Tugendhats frühe, an Heideggers Deutung des apophantischen Logos und insbesondere der άληΒζια als „Unverborgenheit" orientierte Arbeit: ΤΙ ΚΑΤΑ ΤΙΝΟΣ. Eine Untersuchung zu Struktur und Ursprung Aristotelischer Grundbegriffe. Freiburg/München: 1958. 161 κα! εΙΜναι Si τότ' οίόμεή}α εκαστον μάλιστα, 'όταν τί ίστιν ο άνθρωπος γνωμεν η το ττΰρ, μάλλον η το ποών η το ποσον ·η το που, επει και αυτών τούτων τότε εκαστον ϊσμεν, 'όταν τί εστι το ποσον η το ποιόν γνωμεν. (Met. 1028a36-bl)

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

heißt nichts anderes, als es zu bestimmen. Das Unbestimmte ist als Unbestimmtes bestimmt. Alles, was überhaupt etwas ist, ist daher gegenständlich, objektiv. Es ist an ihm selbst bestimmt. Der Gedanke einer Welt tritt daher stets kombiniert mit dem Gedanken einer durchgängigen Bestimmung auf. Der Versuch, das Seiende zu denken, führt also zunächst auf den Gedanken der Notwendigkeit einer durchgängigen Bestimmung. Ohne auf das bestimmte Seiende zu blicken, mit dem wir als empirische Wesen erkennend alltäglich umgehen, kann man nun sagen, daß die Möglichkeit dafür, daß es so etwas wie die Bestimmtheit dieses bestimmten Seienden überhaupt gibt, ein Moment der Vorstellbarkeit, Gegenständlichkeit überhaupt ist. Da nun aber Bestimmtheit überhaupt noch nichts Bestimmtes ist, tut man besser daran, dieses Moment als Bestimmung (πέρας) zu bezeichnen, um das bereits Bestimmte (πεπερασμίνον) von ihm zu unterscheiden. Zerlegt man die Komposition von Momenten, die jedes konkrete Seiende darstellt, in seine konstituierenden Momente, kommt man also nicht umhin, eine Urposition in der Strukturganzheit der Idee oder Figur des Seienden anzunehmen, was das erste positive Resultat ist. Diese Urposition ist die Bestimmung. Das Ganze des Seienden ist bestimmt. Wie auch immer wir es näher denken oder seine Inhalte empirisch erfahren mögen, seine Gegenständlichkeit ist immer schon festgelegt. Das Ganze des Seienden bildet einen logischen Raum der Bestimmbarkeit. Alles Gegenständliche, auf das wir uns richten können, ist in diesen Raum hineingestellt, so daß alles mit allem zusammenhängt, wodurch es so etwas wie Bestimmtheit allererst geben kann. Schelling selbst beruft sich zur Klärung seiner Potenzenlehre unter anderem in der sechsten Vorlesung der Philosophie der Mythologie ausdrücklich auf die platonische Prinzipientheorie in der Gestalt, in der sie im Philebos vorgetragen wird. Mit Piaton nimmt Schelling dort nämlich an, daß die Philosophie „nichts anderes als επιστήμη των αρχών, Wissenschaft der reinen Principien" sei. Annähernd an die platonische Darstellung verhält sich das erste Princip als das aus seiner Potenz und dadurch aus seiner Schranke gesetzte, als das 162 Der durch die Konfiguration der Potenzen, der ersten Denk- und Seinsmöglichkeiten, strukturierte Möglichkeitsraum wird von Schelling „Figur des Seyenden", „Idee des Seyenden", „das Seyende im Entwurf oder einfach „das Seyende" taut court genannt. Vgl. etwa SW, XI, 291; SW, XI, 313 („Figur des Seyenden" = „das Ganze der Möglichkeiten").

§6. Die Potenzenlehre

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unbegrenzte, το άπειρον, das einer Grenze bedürftige. Die zweite άρχη verhält sich als die bestimmende, als die ratio determinans der ganzen Natur, als die Grenzen setzende. [...] Die dritte αρχή ist die sich selbst bestimmende Ursache, die Ursache, die sich selbst Stoff oder Gegenstand und Ursache der Bestimmung und Begrenzung ist: Subjekt und Objekt = Geist.163

Schellings historischer Hinweis trägt zum Verständnis der notorisch dunklen Potenzenlehre insofern bei, als er deutlich macht, daß es in der Potenzenlehre wie in der Platonischen Prinzipientheorie um die Dialektik der Bestimmtheit des Ganzen des Seienden geht. Schelling und Piaton suchen die Frage zu beantworten, welche ontologischen Bedingungen erfüllt sein müssen, damit das Ganze des Seienden erkennbar sein kann. Sie fragen also nicht, wie Kant, wie das Ganze des Seienden uns überhaupt erschlossen sein kann, wenn die Struktur unserer Erkenntnis als endliche Informationsverarbeitung, d.h. als formende Aufnahme eines sinnlichen Stoffes qua Empfindung verstanden wird. Sie beginnen umgekehrt mit der Frage, welche Bedingungen auf Seiten des Ganzen erfüllt sein müssen, damit wir uns in Urteilen auf es beziehen können. Schelling und Piaton gehen dabei davon aus, daß die Struktur des Ganzen des Seienden isomorph mit der Struktur des Erkennens des Ganzen des Seienden sein muß. Die Untersuchung des Ganzen des Seienden ist daher logischontologisch. Schelling und Piaton gehen vom Inhalt der Erkenntnis des Ganzen des Seienden aus, um von dort aus die Erkenntnis des Ganzen des Seienden abzuleiten. Beiden ist daher das wichtige Philosophem gemeinsam, daß das Ganze des Seienden sich in unserer Erkenntnis selbst erkennt, was Piaton im Sophistes in seiner Lehre vom παντελώς ov ausführt. Schelling verallgemeinert mit der Potenzenlehre den Gedanken einer Selbsterkenntnis des Ganzen des Seienden in unserer Erkenntnis des Ganzen des Seienden. Wenden wir uns dem reinen Denken zu und fragen uns, auf welche Weise uns überhaupt irgend etwas von der Art einer Totalität aufgeschlossen sein kann, müssen wir eine ontologische Theorie der Bestimmtheit entwickeln, die erlaubt, das Ganze des Seienden als Bestimmtes zu denken. Gelingt es dabei

163 SW, XII, 113. Ebenso SW, XII, 577; XI, 392-394. Schelling bezieht sich in allen Phasen seiner philosophischen Entwicklung auf die Prinzipienlehre des Philebos, die er schon sehr früh rezipiert hat, was bereits der F/ma/'os-Kommentar von 1794 zeigt, in dem Schelling mehrfach auf den Philebos Bezug nimmt (s. etwa: Timaeus, S. 27). Vgl. Franz: Platon-Studien. S. 269-280.

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

zu zeigen, daß alles Bestimmte dieselbe Struktur wie die Bestimmtheit des Ganzen haben muß, wird der Weltbezug des Denkens a priori als Seinsbezug garantiert, worin Schellings Absicht besteht. Um den Begriff des Bestimmten bilden zu können, genügt es nun aber nicht, die prädikative Bestimmung allein zu denken. Denn Bestimmung ist immer Bestimmung von Etwas. Damit die Prädikation, die Etwas als Etwas erscheinen läßt, nicht Nichts erscheinen läßt, müssen wir folglich ein Bestimmbares, das reine Subjekt (ύποκείμενον) aller Prädikation annehmen.164 Indem die Bestimmung die Objektfunktion im Urteil ausübt, muß sie Objekt eines Subjekts sein, da es per definitionem kein Objekt geben kann ohne Subjekt, dem es „entgegengeworfen'' wird. Dieses kann nun aber wiederum nicht als bereits Bestimmtes und folglich auch nicht schon als Erkenntnissubjekt gedacht werden. Vielmehr ist es „das bloß reine Subjekt des Seyns"' 63 , die Subjektstelle im Gefüge des Seienden, „reines Können ohne alles Seyn"166. Das reine Subjekt ist in seiner Unbestimmtheit nichts „im aussaglichen Sinne seyende[s]"167, da es als Moment des Seienden selbst allem bestimmten, bereits aus Subjekt und Objekt zusammengewachsenen, konkreten Sein vorausgeht. Zwar ist dieses Subjekt „Beraubung"168, aber nicht allein als Abwesenheit alles Seins, sondern nur des bestimmten, prädikativen. Man sieht an Schellings Subjekt-Begriff, daß er jeglichen subjektiven Idealismus vermeidet. Es geht nicht darum, die Welt als Konstruktion aus dem Begriff der Vorstellung abzuleiten, sondern die Struktur der Vorstellung aus dem Begriff des Ganzen des Seienden zu erschließen, wodurch von vornherein eine Grenz-

164 SW, XI, 289; 365. Korsch paraphrasiert die erste Potenz daher fälschlicherweise als „Bestimmen", was wohl auf die Ambiguität des Subjekt-Begriffs zurückzuführen ist, den Schelling in der Potenzenlehre als υποκείμενου, nicht aber als spontane Subjektivität versteht. S. Korsch, D.: Der Grund der Freiheit. Eine Untersuchung zur Problemgeschichte der positiven Philosophie und zur Systemfunktion des Christentums im Spätwerk F.W.J. Schellings. München 1980 [zit.: Freiheit], S. 258f. Eine richtigstellende Rekonstruktion von Schellings Subjekt-Begriff findet sich in Buchheim, Th.: Von der passiven Bewegtheit des Subjekts beim späten Schelling. In: Baumgartner, H.M./Jacobs, W.G. (Hgg.): Philosophie der Subjektivität? Zur Bestimmung des neuzeitlichen Philosophierens. Akten des 1. Kongresses der Internationalen Schelling-Gesellschaft 1989, Bd. 2, S. 382-390. 165 SW, XI, 288. 166 SW, XI, 292. 167 SW, XI, 288. 168 Ebd.

§6. Die Potenzenlehre

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ziehung zwischen subjektiver Innen- und objektiver Außenwelt vermieden werden soll. Man kann sich den von Schelling mit der ersten Potenz anvisierten Gedanken folgendermaßen klarmachen: Wenn wir auf das ganze physikalische Universum, das ein Ableger der metaphysischen Totalität ist, mit Hilfe einer vollständigen Theorie Bezug nehmen wollen und dabei feststellen, daß es mehr als nur eine vollständige theoretische Beschreibung des Ganzen geben kann, müssen wir doch immerhin annehmen, daß alle möglichen vollständigen Beschreibungen Beschreibungen desselben sind. Dieses in allen Beschreibungen als Bezugspunkt Gedachte ist unabhängig von unseren bereits bestimmten theoretischen Texturen gedacht schlechthin ungebunden und unbegreiflich, obgleich es immer als Bezugspunkt dienen muß. Insofern ist es das Subjekt aller vollständigen Beschreibungen, dasjenige, von dem alle ausgesagt werden und ohne das sie nicht gedacht werden können. Was es aber ist, läßt sich nicht unabhängig von unseren Beschreibungen beantworten, so daß es für uns unabhängig von seiner Bestimmung als bestimmbar völlig unbestimmt ist. Das Subjekt aller vollständigen Beschreibungen der Welt, d.h. dasjenige, was beschrieben wird, ohne unabhängig von allen Beschreibungen beschrieben werden zu können, ist niemals ein Gegenstand, da Gegenstände immer schon beschreibbar, weil bestimmt sind. Schelling drückt das durch den Unterschied zwischen Urständ und Gegenstand aus. Das Subjekt aller Beschreibungen der Welt ist der Urständ, der aber niemals Gegenstand sein kann, da er nicht theoretisch gebunden ist. Er dient vielmehr zur Erklärung der Objektivität aller vollständigen Beschreibungen der Welt, die Beschreibungen des Urstands sind, ohne ihn freilich selbst, d.h. unabhängig von ihren Beobachtungsbedingungen besitzen zu können. Wie verschieden wir auch immer die Welt beschreiben mögen, d.h. wie diverse Gegenstände wir auch immer in ihr antreffen mögen, alle Beschreibungen sind immerhin Beschreibungen der Welt, die unabhängig davon, wie sie jeweils begegnet, immer irgend etwas ist, das wir nicht unabhängig von unseren Beschreibungen erfassen können. Das zweite, was wir neben der Bestimmung entdecken, ist somit als das ,,urständliche[...] Seyn" „das bloß wesende"169, das ontologi169 Ebd. Unter „Wesen" versteht Schelling das urständliche, noch nicht gegenständliche Sein. Vgl. UPO, S. 29, 31, 35f., 53, 76, 96, 116f. u.ö. Schelling antizipiert damit offenkundig Heideggers verbalen Begriff des Wesens.

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

sehe Fundament jeder Prädikation, das in jedem einzelnen Urteil partiell zu sich gebracht wird, an ihm selbst aber stets unerkennbar und entzogen bleibt, da es als Subjekt im Sinne des Aristotelischen υποκείμενου die an ihr selbst unerkennbare Materie (υλη) aller möglichen Prädikation ist, die in ihrem An-sich unerkennbar, weil formlos bleibt, wie Aristoteles selbst sich ausdrückt: ή da υλη 'άγνωστος κ(ώ' αυτήν.™ Das Subjekt, von dem hier die Rede ist, kann demnach nicht bzw. nicht primär mit dem Erkenntnissubjekt identifiziert werden. Das urständliche Sein ist insofern das Erste, als alle Beschreibungen darauf aus sind, das urständliche Sein gegenständlich zu fassen. Ohne das urständliche Sein gäbe es keine Beschreibungen, d.h. keine Gegenstände, während das urständliche Sein nicht darauf angewiesen ist, beschrieben zu werden. Schelling bezeichnet es daher als die erste Potenz. Erhard Oeser erkennt in der ersten Potenz zu Unrecht die Selbstgewißheit des Cartesischen Subjekts wieder.171 Das bloße, reine Subjekt kommt dann zustande, wenn ich das, was ist, nicht nur ohne jedes bestimmte Prädikat, sondern auch ohne das Prädikat schlechthin, nämlich das Sein selbst, das in jedem Prädikat eigentlich allein prädiziert wird, denke. Damit bin ich zu nichts anderem als zu der völligen Bestimmungslosigkeit gekommen, die allein das Ergebnis des Cartesianischen Cogito ergo sum ist.172

Selbst wenn man der zumindest erläuterungsbedürftigen These beipflichtet, daß das Cartesische Cogito auf eine völlige Bestimmungslosigkeit hinausläuft, muß man dennoch festhalten, daß Schellings Subjekt-Potenz im Unterschied zu einem Cartesisch gedachten Subjekt nicht das Ich-hafte Subjekt ist, das wir als res cogitantes je selbst sind. Die Seinsgewißheit der Potenzen ist für Schelling nämlich die ontologische Basis der Selbstgewißheit des Denkenden. Denn gerade dies sollte ja die Rekonstruktion der Geschichte der Ontotheologie zeigen, daß das Seiende im eminenten Sinne der ultimative Inhalt der Vernunft ist. Die Potenzenlehre untersucht die ontologische Struktur des Vernunftinhalts, ohne dabei auf die Struktur der Subjektivität zu rekurrieren. Denn die Subjektivität ist selbst 170 Met. 1036a8f. 171 Damit schließt er sich an eine Bemerkung E. Heintels an: Philosophie und Gotteserkenntnis im Altersdenken Schellings. In: Ders.: Gesammelte Abhandlungen. Bd.l, Stuttgart-Bad Cannstatt: 1988, S. 172-187 [zit: Philosophie und Gotteserkenntnis], hier: S. 174, 172 Die antike Dialektik. S. 82. Vgl. a. S. 97.

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nur ein, wenn auch ausgezeichneter Fall von Sein, das sie als ihren uneinholbaren Anfang immer schon voraussetzt. Das äußert sich letztlich in der Faktizität aller Selbstverhältnisse. Dadurch meint Schelling selbst ausdrücklich über Descartes hinausgegangen zu sein. Einer der Kritikpunkte am Cartesischen Ansatz, die Schelling in seiner Münchener Geschichte der neueren Philosophie ausfuhrlich entwickelt hat, lautet ja gerade, daß das Sein, dessen wir uns im Modus der Reflexion auf unser „Ich denke" bewußt sind, nicht das Sein selbst, sondern nur ein bestimmter Modus von Sein ist, ebenso wie das Sein der sinnenfälligen Dinge nur ein bestimmter Modus des Seins ist, so daß beide letztlich gleich 1 gewiß bzw. ungewiß seien. Außerdem wird man schwerlich sagen können, daß das Cartesisch gedachte Ego die ontologisch verstandene 'ύλη aller möglichen bestimmten und damit prädikativen Verhältnisse sei, was aber der zentrale Aspekt der ersten Potenz Schellings ist. Schellings Potenzenlehre ist daher vielmehr als der Versuch zu verstehen, die Subjektivitätsphilosophie ontologisch zu fundieren. Schelling fragt nicht, was das Sein für die Subjektivität ist, sondern umgekehrt, wie Subjektivität in das Ganze des Seienden hineingehören kann. Das Ganze des Seienden denkt er dabei als Selbstvermittlung, so daß die Funktion der Subjektivität in das Ganze des Seienden eingetragen wird, was erlaubt, die Subjektivität, die in jedem erkennenden Subjekt instantiiert ist, als das Sein selbst zu denken. Wenn die Subjekt-Potenz aber schlechthin theoretisch ungebunden ist, muß man dann nicht sagen, daß sie nichts ist? Trotz ihrer Unbestimmtheit kann man von ihr dennoch nicht sagen, daß sie schlechthin nicht ist, wenn sie noch nichts Erkennbares, Gegenständliches ist. Denn ansonsten verlören unsere Bezugnahmen auf das Ganze ihren Referenten, so daß wir gleichsam in unseren Theorien über Nichts gefangen wären. Die Subjekt-Potenz muß daher ein modus essendi sein, wobei ihr Sein urständlich und nicht gegenständlich ist. Daher kann man niemals sagen, was sie ist, obwohl man sagen kann, daß es ohne sie unmöglich wäre, von irgend etwas zu sagen, daß es ein So-und-so ist. Die Subjekt-Potenz beerbt also das Kantische „unbekannte Etwas" (KrV Β 312), d.h. das transzendentale Objekt, ohne das es überhaupt keine gehaltvollen Vorstellungen gäbe, obwohl es selbst nicht vorgestellt werden kann.

173 Vgl. SW, X, 4-14.

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung« In aller Prädikation nämlich ist ein bestimmtes Subjekt jeweils vorausgesetzt, das nicht erst in dieser Prädikation konstituiert wird, sondern diese vielmehr ermöglicht und trägt. [...] Es eröffnet sich hier das Problem einer transzendentalen Dimension der Sprache, in der diese nicht als ein vorliegendes Instrument auf vorliegende Gegenstände „angewendet" wird, sondern vielmehr in ihrer gegenstandskonstitutiven Bedeutung zu erkennen ist.174

Die erste Potenz kann man also cum grano salis durchaus als Nachfolger des Kantischen Dings an sich verstehen, wobei man festhalten muß, daß die erste Potenz ein logisch-ontologisches Prinzip und kein notwendiger Grenzbegriff ist, ohne den wir nicht erklären könnten, wie Vorstellungen Inhalt haben können. Darüber hinaus ist die erste Potenz natürlich weder Inhalt noch Form, sondern lediglich das logisch-ontologische Moment der Bestimmbarkeit, das selbst nicht bestimmt werden kann. Selbst der Versuch, es als das Unbestimmte zu bestimmen, kommt immer schon zu spät, da gelingende Bestimmung immer schon im logischen Raum geschieht, dessen Genesis mit der ersten Potenz noch nicht einmal so begonnen hat, daß antizipiert werden könnte, in welche Richtung der Prozeß sich bewegt.175 174 Heintel: Philosophie und Gotteserkenntnis. S. 179f. Heintel sieht ähnlich wie Hogrebe in der Potenzenlehre eine Theorie der ontologischen Bedingungen von Prädikation und vergleicht insbesondere Schellings Potenzenlehre mit Hegels Lehre vom spekulativen Satz. Nach Heintel wird eines der Fundamentalprobleme des nachkantischen Idealismus durch die Frage markiert, wie und in welcher Form man sinnvoll über dasjenige sprechen kann, was als gegenstandskonstituierendes Absolutes selbst nicht zu der Menge der Gegenstände gehören kann, die ohne es nicht sein könnten. Mit anderen Worten: Wie das Prinzip, das selbst nicht von der Art seiner Prinzipiate ist, im Ausgang von seinen Prinzipiaten als es selbst erkannt werden kann. In Schellings Unterscheidung von „urständlich" und „gegenständlich" sieht er einen Versuch einer Antwort auf dieses Problem (S. 182). Schelling gehe es wie Hegel also um die Frage, wie das „Gegebene", d.h. dasjenige, was aller Gegenständlichkeit vorausliegend nicht mehr in einem prädikativen Modus beschrieben werden könne, durch die Prädikationsstruktur dennoch erfaßt werden könne. Beider Projekt sei somit, unmittelbare „Seinsgewißheit" und vermittelnde „Seinsaussage" zu vermitteln. Eine prädikationstheoretische Rekonstruktion der Potenzendialektik, die sich explizit an Hogrebe anschließt, findet sich neuerdings auch bei Soilberger: Metaphysik und Invention. S. 199-207. 175 Die erste Potenz ist ein Analogon von Piatons χώρα, die Piaton zufolge ebenfalls nicht bestimmt werden kann, da sie „außerhalb aller Bestimmungen" (πάντων έκτος ειδών) sei und folglich nur durch eine Selbstdurchstreichung des Denkens (λογατμώ τινι νό$ψ) erfaßt werden kann. S. Tim. 50c4-52b2. Vgl. dazu Verf.: Chora als difference. Derridas dekonstruktive Lektüre von Piatons Timaios. In: Fitzi, G. (Hg.): Piaton im Diskurs. Heidelberg: 2006, S. 51-66. Genaueres Hinsehen zeigt allerdings, daß die erste Potenz bereits zum Vermittlungsganzen

§6. Die Potenzenlehre

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Der Anfang des logischen Raums ist noch nicht selbst der logische Raum, daher entkommt er dem bestimmenden Denken. Dennoch ist die erste Potenz nicht Nichts, obwohl sie auch nicht Etwas ist. Um die Unbestimmtheit der ersten Potenz von der Undenkbarkeit des schlechthinnigen Nichts abgrenzen zu können, unterscheidet Schelling daher zwei Arten des Nichtseins, das „nicht Seyri', das er griechisch mit μη είναι wiedergibt, und das , flichtseyn", griechisch: ουκ είναι. Der ontologische Status der Materie in der griechischen Philosophie sei nicht zufällig der des μη ov, indem sie selbst nichts Bestimmtes ist und dennoch den Stoff alles Bestimmten so bereitstellt, daß sie zugleich alles der Möglichkeit nach (δυνάμει) ist. Die erste Potenz ist auf diese Weise gleichsam die Entfaltungsbasis aller eidetischen Bestimmungen und somit keine bloße Leerstelle: ·~Α, sondern - A , wodurch Schelling das Noch-nichtbestimmt-Sein der ersten Potenz notiert. Schelling beruft sich fur seine Gleichung „Δυνάμει ov = μη oV176 zu Recht auf die Aristotelische Metaphysik, wobei er einen Passus zitiert, in dem Aristoteles ausführt, daß das Anaxagoreische ομον πάντα der unbestimmte (το αόριστον) Stoff alles Möglichen (το δυνάμει ov) und als solches ein μη ov, weil ein μη εντελεχείφ ov sei.177 In der Tat versteht Aristoteles die Materie als das Nichts, wobei sie gleichzeitig der Möglichkeit nach alles sein kann, was überhaupt eine Form haben kann. Für seine Distinktion zwischen μη είναι und ουκ είναι bezieht sich Schelling auf Plutarch, der in Adversus Colotonem schreibt: Piaton kam auf den glücklichen Gedanken, das Nicht-Sein vom Nichts-

Seiendes-Sein zu unterscheiden (τω Πλάτωνι δέ §αυμαστως εδόκει διαφερειν το μη είναι του μη ον εΐναι); das eine bezeichnete dabei die schlechthinnige Aufhebung alles Seins (τώ μεν γαρ άναίρεσιν ουσίας πάσης), das andere hingegen die Andersheit der Idee von ihrem Prinzipiat

(τω $ε ετερότητα δηλοϋσ^αι του με^εκτοϋ και τοϋ μετέχοντος).178 Schelling weiß natürlich, daß Plutarch sich mit seiner Unterscheidung zwischen schlechthinnigem Nichts (άναίρεσις ουσίας

der Idee gehört. Insofern sie der Idee wie die χώρα dem platonischen Ideenganzen vorhergeht, ist sie noch nicht einmal Potenz, sondern dasjenige, was Schelling als „unvordenkliches Sein" bezeichnet. Es wird sich unten (§9) herausstellen, daß der Unterschied zwischen dem unvordenklichen Sein und der ersten Potenz eine wichtige Rolle in Schellings Schöpfungslehre spielt. 176 SW, XI, 289, Anm. 177 Met. 1007b26-29. 178 Adv. Col. 1115D.

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

πάσης) und Andersheit (έτερότης) auf Piatons Sophistes bezieht.179 Plutarch wie Schelling rekurrieren in letzter Instanz auf den Teil des Sophistes, in dem Piaton zeigt, daß der Begriff des μη ov nicht die absolute Negation von Sein, sondern nur die Andersheit der μέγιστα γένη untereinander anzeige.180 Bewegung (κίνησις), die in der gesamten Antike als Art des Werdens (γένεσις) stets als Übergang von Sein in Nichts und vice versa dem wesentlichen Sein {ουσία) opponiert wurde, so wendet Piaton gegen Parmenides ein, ist nämlich nicht schlechthinniges Nichtsein und bloße Meinung der Sterblichen. Parmenides kam nur dadurch in die bekannte Erklärungsnot, das Werden als Schein zu erklären, daß er angenommen hatte, daß das Nichts „das Gegenteil des Seins" (εναντίον του οντος) und nicht bloß sein „Anderes" (ετερον) ist. „Andersheit" ist aber eine Relation, so Piaton, die das Totum als solches kennzeichnet, indem das Totum gerade darin seinen Bestand hat, „daß alles von allem unterschieden ist" ('άπαν γαρ απάντων έτερον εστ/ν18'). Das Ideenganze besteht also darin, daß es durch einen durchgängigen Unterschied konstituiert wird, in dem Piaton das Nichts und damit das Prinzip des Werdens sieht. Gegen Parmenides hält Piaton also fest, daß Bewegung zwar in einem Differenzverhältnis zur Idee des Seienden stehe, eben nicht „Sein" sei, dennoch aber nicht „Nicht-Sein", d.h. ein Ungedanke und dadurch reiner Irrtum (δόξα) ist, sondern ein Moment des Ganzen des Seienden, des παντελώς ov, das bei Piaton wie bei Schelling in ihm selbst bewegtes Leben (ζωή) ist.182 Als Möglichkeit alles Seienden ist die erste Potenz somit alles, aber so, daß es alles als solches auch nicht, nämlich noch nicht ist. Daraus folgt, daß die erste Potenz unmöglich bereits das ganze Sei179 Daher nennt Schelling beide mehrfach in einem Atemzug. Vgl. z.B. SdW. S. 95; Paulus. S. 113. 180 Soph. 255e8-257c4. 181 Parm. 148a5f. 182 Eine ausführliche Darstellung von Schellings Sop/ii'sfes-Interpretation findet sich bei Leinkauf: Schelling als Interpret. S. 14-31. In Piatons Bestimmung des μ-η ov als 'έτερον ist übrigens bereits Hegels Lehre von der „bestimmten Negation" präformiert. Negation denkt Hegel nämlich wie Piaton nicht als einfache άπόφασις. durch die eine Bestimmung unmittelbar, d.h. ohne Beziehung auf das zu Negierende verneint wird, sondern immer als Negation von etwas, so daß das Negierte in der Negation immer auch mitenthalten ist. Während der bisherige Skeptizismus in seinem Resultat „immer das reine Nichts" gesehen habe, macht Hegel geltend, daß das Nichts stets, „das Nichts dessen ist, woraus es resultiert (TWA, 3, 74)

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ende sein kann, das die Metaphysik seit jeher gesucht hat, was Schelling mit seinem kurzen historischen Aufriß zeigen wollte, sondern nur ein Moment dessen, „was in jedem Sinn das Seyende ist"183: das -παντελώς 'όν. Jede Potenz ist nämlich nur eine „Stufe zum vollendet Seyenden"184. Wenn die erste Potenz das Denken auch noch nicht befriedigt und dadurch endgültig zu sich bringt, muß sie gleichwohl stets als „das erste Denkbare (primum cogitabile) anerkannt werden. Die zweite Potenz, die reine Bestimmung oder in Schellings Terminologie „reines Seyn ohne alles Können"186 ist, ist ohne das Subjekt (die erste Potenz) nicht denkbar, „so wenig ein Prädicat seyn kann ohne Subjekt, von dem es getragen wird"187. Gegenständlichkeit ist als Bedingung der Möglichkeit der Erkennbarkeit von Etwas überhaupt nach Schelling somit nur auf der Basis einer „Urständlichkeit" möglich. Die logisch-ontologische Möglichkeitsbedingung oder das Prinzip der Gegenständlichkeit ist somit die Urständlichkeit. Ohne eine vorausgehende Unbestimmtheit gibt es keine Bestimmtheit: Das Denken kann ohne das Undenkbare gar nicht sein. Davon zeugt auch die Struktur unseres Bewußtseins: Jedes Erkenntnisobjekt ist als Nicht-Ich fundamental auf das Erkenntnissubjekt, das Ich bezogen, dem es notwendigerweise korreliert, ohne daß eines das andere im Sinne eines einseitigen Dependenzverhältnisses konstituiert. Das Subjekt selbst ist nun an ihm selbst als reiner, Objektivität konstituierender Erkenntnisvollzug nicht in der Weise erkennbar wie seine Objekte. Es kann als solches, in seiner Tätigkeit, niemals in der Weise der von ihm konstituierten Objektwelt positiviert werden, wenn es auch als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis als ihr ermöglichender Grund notwendig (mitgedacht werden muß: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können"188. Das heißt aber nicht, daß das Ich denke ein Weltinhalt und damit ein Seiendes oder eine Substanz ist, was Kant bekanntlich zur Widerlegung der klassischen Unsterblichkeitsbeweise im Paralogismus-Kapitel der Kritik der 183 184 185 186 187 188

SW, XI, 289. Ebd. Ebd. SW, XI, 292. SW, XI, 289. KrV, Β 13If.

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reinen Vernunft gefuhrt hat, indem er erkannt hat, daß die Unsterblichkeitsbeweise das Ich denke als einen Weltinhalt (eine Seele oder Substanz) ausgeben. Wird das Subjekt als denkende Substanz gedacht, werden Subjekt und Objekt verwechselt. Mit dem Grundthema der Unbedingtheit (Ungegenständlichkeit) des Ich, das die Subjektivitäts-Philosophie seit dem nachkantischen Idealismus umgetrieben hat, befaßt sich vor allem Schellings früher Idealismus, der im System des transzendentalen Idealismus von 1800 gipfelt. Schelling geht dabei von Fichtes Problem der möglichen Objektivierbarkeit der intellektuellen Anschauung, d.h. des nicht-propositionalen, dennoch wissenden Einsseins mit dem tätigen Ursprung des Ganzen, dem Ich, aus. Dabei versucht Schelling zu zeigen, daß verschiedene „Epochen" des Bewußtseins als durchlaufen gedacht werden müssen, ehe die absolute Tätigkeit in der Kunst, d.h. dem Produkt des Genies, Gegenstand für das Bewußtsein werden kann (s.u., §16). Wenn manche Interpreten meinen, Schellings Potenzendialektik laufe schließlich darauf hinaus, eine mysteriöse, aus seiner Frühzeit übernommene intellektuelle Anschauung des Subjekts als des nicht Vermittelbaren an die Stelle rationaler Wissenschaft zu setzen, scheinen sie einen Begriff von „rational" und von „Wissenschaft" anzusetzen, zu dem Schelling nicht nur bewußt eine Alternative aufweisen will, sondern dessen Ausschließlichkeit er ja durch seine späte Anknüpfung an die antike επιστημη ausdrücklich in Frage stellt. 89 Schellings Potenzenlehre untersucht vielmehr die ontologischen Bedingungen der Möglichkeit von Rationalität, indem sie fragt, wie es möglich ist, daß so etwas wie Rationalität sich unter den Bedingungen des Ganzen des Seienden ausbilden konnte. Seine scheinbare Rückkehr zur vorkritischen Ontologie ist dadurch motiviert, daß er die Kluft zwischen Sein und Denken schließen will, die sich jedenfalls dann aufitut, wenn man das Denken nicht ebenso aus dem Sein wie das Sein aus dem Denken erklären kann. Das Denken kann das Sein nicht hervorbringen, indem es selbst bereits sein muß, um überhaupt

189 Das ist unter anderem Oesers Schelling-Kritik: Die antike Dialektik S. 77, 112ff. Auf S. 54 wiederholt Oeser Jaspers Gnosis-Vorwurf an Schelling. Jaspers hat in Schelling. Größe und Verhängnis zu zeigen versucht, daß Schellings Denken stets zwischen „Existenzerhellung" und „Gnosis" geschwankt habe, worunter Jaspers das positive, vergegenständlichende Verfügbarmachen der Gehalte der Transzendenz versteht (vgl. bspw. S. 208ff.), zu dem Schelling in allen Epochen seines Denkens, v.a. aber in seiner Spätphilosophie geneigt habe.

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irgend etwas hervorbringen zu können. Das Sein kommt dem Denken also zuvor. Dennoch gibt es Sein, sobald es Denken gibt, nur noch so, daß es sich als gegenständliche Welt zeigt. Sobald das Denken in die Welt kommt, gibt es überhaupt erst eine gegenständliche Welt. Der gegenständlichen Welt geht aber ein Sein vorher, das noch nicht gegenständlich ist. Es hat sich gezeigt, daß das reine Objekt (+A) auf das reine Subjekt (-A) verweist. Sobald wir die beiden ersten Potenzen haben, ist auch schon eine Relation der Exklusion etabliert, die beide Potenzen voneinander unterscheidet. Jede ist die andere nicht, obwohl sie einander als Korrelate zugeordnet sind. In ihrer Interdependenz bleiben sie stets aufeinander irreduzibel, „d.h. wir können beide nur als Momente des Seyenden setzen."190 Die beiden ersten Potenzen sind somit keine Kandidaten für das Seiende (d.h. das Ganze), weil sie jeweils nur Durchgangspunkt sind und jede notwendig auf ihre Folge vor- bzw. auf ihren Grund zurückweist. [I]ch sage Moment. Moment, bekanntlich soviel als movimentum, von moveo, - und was wir hier betrachtet, ist ja der Fortgang, d.h. die Bewegung, des Seyenden zum Seyn, also jene Unterschiede sind in der That Bewegungs- oder Durchgangspunkte des göttlichen Seyns, wir können sie daher auch Momente nennen191.

Das Motiv einer Vernunft, die „das Seiende" sucht, ist, wie vieles andere in der Philosophischen Einleitung, Aristotelischen Ursprungs. So wie Schelling das reine Denken verschiedene Kandidaten für „das Seiende", nämlich die drei Potenzen aufstellen und dialektisch durchlaufen läßt, um jedem zuletzt den Prinzipienstatus abzusprechen, diskutiert auch Aristoteles im Ζ der Metaphysik, vornehmlich im dritten Kapitel, mögliche Anwärter auf den begehrten Posten der ουσία. Denn immer schon (πάλαι), so Aristoteles, sei das Denken auf der Suche nach dem Seienden im emphatischen Sinne der ουσία gewesen. „Und so ist denn immer schon und auch jetzt dasjenige, was immer gesucht wird und immer in Frage steht, dasjenige, was das Seiende ist, das ist: was die Substanz ist."192 Auf der Suche nach dem wahren Sein habe das philosophische Denken ver190 SW, XI, 289. 191 SW, XII, 50. Holz bemerkt ohne Verweis auf die zitierte Stelle richtig, daß „der Terminus der »Momente« [...] vom Modell der »Bewegung« genommen" (Speku-

lation und Faktizität. S. 276) sei. 192 Met. 1028b2-4: κα'ι δη xai το πάλαι τε και νϋν και at) ζητούμενον καϊ άεΐ άπορούμενον, τί το ον, τοντό εατι τις ή ουσία.

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schiedene naheliegende Positionen bezogen, deren Wert Aristoteles abzuwägen unternimmt. Die Vernunft ist also auf der Suche nach dem wahren Sein, das sich letztlich als ihr eigener ursprünglicher Inhalt erweist. Der erste Schritt ist dabei die Entdeckung des urständlichen Seins selbst, eine Entdeckung, die dadurch ergänzt wird, daß das Sein selbst noch nicht das Ganze des Seienden sein kann, da es noch nicht gegenständlich ist. Die Suche nach dem wahren Sein ist darauf aus, dasjenige zu finden, was sich bei allem Wechsel der Erscheingungen gleichbleibt. Daher kann sie bei keinem Moment des Seienden stehenbleiben, ehe sie das Ganze eingeholt hat. „Seiend" heißt klassischerweise dasjenige, was ist, was es ist, τοϋτο, 'όπερ εστί (Piaton) oder das Beisich-Seiende. Was bei sich ist, geht aber nicht in anderes dergestalt über, daß es nur aus diesem begriffen werden könnte, was von allem gesagt werden muß, das in endlichen Werdeprozessen begriffen ist. Denn, wie Piaton sagt, was ein anderes ist, ist notwendigerweise ein anderes eines anderen und daher nur aus diesem Bezug heraus verständlich. „Schlechthin zeigt sich uns, daß alles, was ein Anderes ist, notwendigerweise einem anderen dasjenige verdankt, was es ist." 193 Alles, was in der Welt ist, unterscheidet sich bereits von irgend etwas und steht daher in einer Relation, die den Inhalt definiert, den etwas hat. Auf der Suche nach dem wahren Sein des Seienden (der Weltinhalte) opponierte die antike Philosophie ουσία und γενεσις und daher rang sie seit Parmenides' Bestimmung des Absoluten als absolutem Stillstand mit dem Problem, die Phänomenalität des Werdens angesichts der strengen Ewigkeit des eigentlich Seienden entweder als Erscheinung im pejorativen Sinne, als niedrigen Seinsgrad zu decouvrieren (Piatonismus), oder, wie etwa Aristoteles, den Begriff des eigentlich Seienden vom Werden aus zu gewinnen und so beide miteinander zu vermitteln. 194 Sofern Philo193 Piaton: Soph. 255d6f.: άτεχνώς ήμ,ΐν, οτιπερ αν ετερον συμβέβηκεν εξ ανάγκης ετέρου τοϋτο 'όπερ εστίν είναι. 194 Das Wahre, Wirkliche ist für Aristoteles bekanntlich die νοήσεως νάησις, die absolute mit sich identische, reine Selbstpräsenz, die für ihn alleiniger Garant von Ewigkeit sein kann. Weil Sein im eigentlichen Sinne (ενέργεια) und Geist so für Aristoteles letztlich zusammenfallen, ist er in seinen Schriften stets darum bemüht, die teleologische Bezogenheit aller Seinsbereiche auf den νοϋς-3-εός phänomenologisch nachzuweisen. So zeigt er bspw. in der Nikomachischett Ethik, daß das Eigentümliche des Menschen (το έργον τοϋ άνθρωπου [EN, 1097b24f.]) darin bestehe, sein Leben so einzurichten, daß es vom Vollzug der θεωρία bestimmt werde, weil diese nichts anderes ist als Sein im eigentlichen Sinne: Selbst-

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sophie also das eigentlich Seiende sucht, das niemals bloß der unbegriffene Gegenstand der Sinnlichkeit sein kann, muß sie dieses Seiende als Inhalt eines Denkens präsentieren, dem das wahre Seiende aufgeschlossen zu werden vermag. Umgekehrt muß sie das wahre Seiende als etwas denken, das Gegenstand des Denkens sein kann, da das schlechthin Undenkbare auch nicht das wahre Seiende sein kann, das wir suchen, weil wir nicht das Nichts, sondern eben das Seiende suchen. Sollte die Vernunft auf der Suche nach dem wahren Sein entdecken, daß es nicht erkennbar ist, geriete sie in einen Skeptizismus, der letztlich zur Verzweiflung führt. Sein und Denken müssen folglich fundamental aufeinander bezogen werden, wenn anders so etwas wie das wahre Seiende überhaupt sein und gedacht werden können soll. Man könnte einwenden, daß keinerlei Notwendigkeit bestehe, daß der Mensch das wahre Seiende überhaupt suche, sei es, weil es ein sinnloser oder gar widersprüchlicher Begriff sei, sei es, weil dergleichen gar nicht zu finden sei. Einwänden aus dieser Richtung könnte man mit Schelling auf zweierlei Weise begegnen: Einmal durch Berufung auf die Geschichte des philosophischen Denkens, deren Kreisen um das Thema des Seins des Seienden man nicht nur mit Schillings eigenem, oben skizzierten philosophiegeschichtlichem Aufriß nachweisen könnte. Das metaphysische Denken sucht stets das Absolute zu begreifen, d.h. einen Standpunkt zu gewinnen, von dem aus ihm sich alles in seiner Eigentlichkeit aufschließt. Das gilt prinzipiell wohl von jeder philosophischen Position, mag sie auch noch so relativistisch sein, weil auch der Relativismus, wenn er nicht geradlinigen Unsinn äußern will, den Anspruch erhebt, den Standpunkt gefunden zu haben, dem sich das Welt- oder Denkgeschehen in seiner Eigentlichkeit aufschließt. Den Einwand, daß der Mensch das wahre Seiende nicht finden könne, entkräftet Schelling, indem er zeigt, daß wir den Menschen nur als seinsvernehmendes Bewußt-Sein, d.h. als bezogen auf einen ursprünglichen Inhalt der Vernunft: das Sein, begreifen können. Diese Verknüpfung von Anthropologie und Ontologie wird im zweiten Kapitel dieser Arbeit ausführlich dargestellt. Schellings Untersuchung der ontologischen Struktur der Selbstbestimmung dient seiner beschauung des Ewigen ist. Einen „anthropologischen Komparativ" einführend heißt es an prominenter Stelle in EN X, 7, daß das ο'ιχ&ϊον des Menschen b κατά νουν βίος sei. Wer dieses glückseligste Leben führe, der sei μάλιστα άνθρωπος (1178a5-8).

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Absicht, ein Bewußtsein zu denken, das an ihm selbst ein Fall von Sein ist, so daß er letztlich zeigen kann, wie Sein in Bewußtsein überfuhrt werden kann. Schellings Ansatz wird daher erst vollständig verständlich, wenn man ihn im Zusammenhang seines gesamten Projekts sieht, das, wie gesehen, darin besteht, die Frage zu beantworten, wie ein philosophisches Begreifen der Religion, d.h. der Mythologie und der Offenbarung möglich ist. Der ontotheologische Standpunkt wird dabei anthropologisch untermauert, womit eine Antwort auf die Frage gegeben wird, warum gerade der Mensch ein ens metaphysicum sein soll. Schelling reagiert also in der Tat auf den potentiellen Einwand gegen die Ontotheologie, daß wir das wahre Seiende doch immerhin suchen wollen, so daß man den metaphysischen Willen zur Wahrheit nicht von einem Verständnis des menschlichen Wollens, d.h. der praktischen Philosophie, isolieren darf. Doch Schelling wirft der Ontotheologie genau dies vor, die conditio humana ausschließlich von der Theorie (negative Philosophie) aus zu denken. Daraus schließt er aber nicht, daß die Theorie zugunsten irgendeiner Praxis verabschiedet werden müsse, sondern übernimmt das anspruchsvolle Projekt, Ontotheologie und Anthropologie miteinander zu versöhnen (s.u., §§11-15). Die Frage nach dem Sein des Seienden ist letztlich die Frage nach dem Ganzen, das selbst kein Seiendes sein kann. Die Frage nach dem Sein des Seienden ist eine Frage, die nur Wesen stellen können, die Dinge nur im Horizont eines Unbedingten sehen können, das nicht selbst gegeben werden kann. Die Frage nach dem Sein des Seienden ist also die Frage, was die Welt ist, jenes Ganze, zu dem alles gehört, was sich von anderem unterscheidet. Wer die Frage nach dem Ganzen des Seienden versteht, versteht also ipso facto die Frage nach dem Sein des Seienden. Wir kommen als Vernunftwesen aber gar nicht umhin, diese Frage zu stellen, sofern wir uns nur darauf besinnen, wie wir überhaupt Welt haben, nämlich als den selbst unbedingten Horizont, indem alles Bedingte begegnet. Wer auf die Welt ausgerichtet bleibt und sich seiner Ausrichtung auf die Welt selbst nicht zuwendet, wird freilich die Frage nach dem Sein des Seienden nicht verstehen, so daß es vorerst einer spezifischen Selbstzuwendung des Denkens zu sich selbst in der metaphysischen Reflexion bedarf, die daher seit jeher in Konkurrenz zum gesunden Menschenverstand getreten ist.

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Wenn ein wie auch immer geartetes Denken nun aber das Sein des Seienden denkt, dann muß es dieses jedenfalls so denken, daß es nicht bloß Moment einer Strukturganzheit ist. Was Moment ist, ist nämlich stets relational (προς 'άλλο195) und niemals an sich (αυτό xaJ}' αυτό196), so daß die Relation der Relata dasjenige ist, aus dem diese verstanden werden müssen. Wir verstehen eine Relation nämlich genau dann, wenn wir zwei getrennte Begriffe bzw. Entitäten unter einer Einheitshinsicht verbunden denken. Das bedeutet aber, daß wir die Relata niemals an sich, sondern immer nur in der Relation denken, was nicht nur bei Piaton, sondern auch bei Aristoteles zur Abwertung der Relation (πρός τι) als Akzidenzkategorie führt. Denn die Relation konstituiert Seiendes, das nicht an sich ist. Das An sich ist aber gerade dasjenige, das gesucht wird, wenn die Frage nach dem wahren Sein gestellt wird. Dasjenige, von dem her etwas verstanden werden muß, weil es an sich selbst nicht es selbst ist, ist auf dieses bezogen jeweils das Seiende. Das Seiende zweier Relata ist somit ihre Relation. Indem die beiden ersten Potenzen nur εναντία, Entgegengesetzte sind, stehen sie in einer Relation, die allerdings so beschaffen ist, daß es zwischen ihnen etwas geben kann, das in der Weise „das ausgeschlossene Dritte"197 beider ist, daß es dasjenige zugleich ist, was jedes der beiden bloß für sich war. Dieses also, welches, weil ihm das /«-sich nicht das außer-sich, das äußerlich nicht das in-sich-Seyn aufhebt, nur das bei-sich-Seyende zu nennen seyn würde, das sich selbst Besitzende, seiner selbst Mächtige (eben dadurch auch sich von den beiden vorausgehenden unterscheidend, deren jedes nur in vollkommener Selbstentschlagung zu denken ist, das eine, indem es das Können, das andere, indem es das Seyn sich nicht anzieht)dieses, sage ich, wenn das bloße Subjekt den ersten, hätte ohne alle Frage den höchsten Anspruch das Seyende zu seyn.198

Das Bei-sich-Seiende muß die Struktur des Subjekt-Objekts haben, indem es zugleich Subjekt und Objekt ist, ohne einseitig Subjekt oder Objekt zu sein. Das Bei-sich-Seiende ist nämlich nichts anderes als die Relation von Subjekt und Objekt, die wir bereits in dem 195 196 197 198

Piaton: Soph. 255bl4f. Ebd. SW, XI, 290. SW, XI, 290. Werner Beterwaltes sieht in dieser Dialektik des In-sich-, Außersich- und Bei-sich-Seins der Potenzen eine Strukturparallele zur neuplatonischen Trias μονjj - πρόοδος - επιστροφή. Die Einheit dieser Drei sei dabei als Selbstvermittlung der „Geist als Einheit der drei zeitlosen Momente" (Piatonismus und Idealismus. S. 73).

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Augenblick in Anspruch genommen haben, in dem wir Subjekt und Objekt voneinander unterscheiden konnten, da der Unterschied eine Relation ist. Das Bei-sich-Seiende ist als Subjekt-Objekt, als Einheit von Sein (Subjekt, Substanz) und Können (Objekt, Prädikat) gleicherweise -A und +A und wird von Schelling daher ±A notiert. Es ist die Einheit der beiden ersten Potenzen, das beide zusammenschließende Moment und damit die Kopula des absoluten, die Reihe aller endlichen Urteile konstituierenden kategorischen Urteils, was Hogrebe die „absolute Proposition"199 genannt hat. Das Subjekt-Objekt ist der erste aussichtsreiche Kandidat für das Ganze des Seienden, indem es die Einheit des Bestimmbaren und der Bestimmung oder des Beschriebenen und der Beschreibung ist. Es ist der absolute (d.h. von der Relation ausgeschlossene) Gedanke einer gelungenen Vermittlung von Objektivität und Subjektivität, auf den alles Erkennen aus ist, das versucht, das Ganze des Seienden zu erfassen. Es steht daher fur die komplexe Relation der beiden ersten Potenzen, die alle philosophische Theorie anstrebt, sobald sie versucht, Ich und Welt zusammenzubringen und zu verstehen, wie die Existenz einer semantischen Dimension der Kommunikation so möglich ist, daß diese Dimension nicht von einer ontischen Dimension (der Welt) schlechterdings abgeschnitten ist, wie der Skeptizismus zu zeigen versucht. Das Subjekt-Objekt ist die Struktur der Theorie, auf die alle konstruktive Philosophie aus ist, die Ich und Welt zu vermitteln sucht. Das ist nach Schelling deshalb so, weil alle theoretische Philosophie letztlich von der Suche nach dem wahren Sein bestimmt ist und dabei notwendig gewisse Momente durchlaufen muß, die die Potenzenlehre unabhängig von bestimmten metaphysischen Präferenzen archäologisch nachvollzieht. Schelling bezeichnet die Potenzen in der wichtigen fünfzehnten Vorlesung der Philosophischen Einleitung expressis verbis als „das Ursubjekt (-A)", „das Urprädikat (+A)" und „die Ursynthesis von

199 Hogrebe, Prädikation und Genesis. S. 102. Schelling assoziiert die dritte Potenz an anderer Stelle mit dem ερως aus der Diotima-Rede im platonischen Symposion, der dort als das gemeinsame Kind von πενία (-A) und πόρος (+A) vorgestellt wird. SW, XII, 50, Anm.: „sie [sc. die beiden ersten Potenzen] stellen beide zusammen gleichsam Armuth und Überfluß vor, aus deren Verbindung jene bekannte platonische Dichtung Eros hervortreten läßt."

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Subjekt und Prädikat (±A)"200 und legt dadurch selbst eine urteilstheoretische Deutung der Potenzenlehre nahe. Rekonstruiert man ihre prädikationstheoretischen Implikationen, darf man aber niemals außer acht lassen, daß wir uns in einem Gebiet aufhalten, wo Sein und Denken eine Einheit bilden, so daß das Urteil, das sich in den Momenten des Seienden vollzieht, ontologisch als Ur-teilung des Seienden zu denken ist.201 Bereits Hölderlin hatte in seinem Fragment „Urteil und Seyn" die Selbstkonstitution der Subjektivität im Sinne Fichtes, d.h. die Aus-einander-Setzung von Ich und Nicht-Ich als Ur-Teilung des Seins gedeutet. Urtheil. ist im höchsten und strengsten Sinne die ursrprüngliche Trennung des in der intellectualen Anschauung innigst vereinigten Objects und Subjects, diejenige Trennung, wodurch erst Object und Subject möglich wird, die Ur-Theilung. Im Begriffe der Theihmg liegt schon der Begriff der gegenseitigen Beziehung des Objects und Subjects aufeinander, und die nothwendige Voraussetzung eines Ganzen, wovon Object und Subject die Theile sind. »Ich bin Ich« ist das passendste Beispiel zu diesem Begriffe derUrtheilung202.

200 SW, XI, 352, Anm. 3. Hogrebe deutet die dritte Potenz so, daß Schelling mit ihr ,jenes ontische Medium fassen" will, „in dem Irgendetwas ein So-und-so sein kann, d.h. als die Möglichkeit, daß Irgendetwas und die prädikative Bestimmung zusammen stehen können." {Prädikation und Genesis. S. 73) 201 Wenn die hier vorgetragene Deutung auch in mehr als einer Hinsicht an die systematische Rekonstruktion der Potenzenlehre anknüpft, die Hogrebe unternommen hat, muß dieser dennoch vorgehalten werden, daß sie Schellings Metaphysik aus systematischen Gründen auf Prädikationstheorie reduziert·. „Die gesamte Spekulation, die Schelling als formale Kosmologie, ja Theogonie bemüht, ist einzig und allein [!] als methodischer Ausbau der Theorie der Prädikation verständlich zu machen, wenn anders wir hier nicht in die Sümpfe geraten wollen." (Prädikation und Genesis. S. 69) Zwar halten wir uns mit Schelling jederzeit in der Nähe der Sümpfe auf. Das ist allerdings unvermeidbar, wenn Sein und Denken nicht getrennt werden sollen, da man sich auf diese Weise tendenziell das titanische Projekt einhandelt, in der menschlichen Wirklichkeit des Denkens (der Kultur) die Spuren einer Selbstkonstitution von wahrem Sein erkennen zu müssen. Hier kann natürlich keine Verteidigung eines solchen Standpunkts gegen mögliche oder wirkliche Einwände angestrebt werden. Es geht zunächst darum, Schellings philosophische Option möglichst deutlich herauszuarbeiten. 202 Große Stuttgarter Ausgabe. Bd. IV, Stuttgart: 1961 [zit. StA], S. 216. Die Bedeutung des Fragments hat Dieter Henrich herausgearbeitet. Vgl. Hölderlin über Urteil und Sein. Eine Studie zur Entstehungsgeschichte des Idealismus. In: HölderlinJahrbuch 14 (1965/66), Tübingen: 1967, S. 73-96; ders.: Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794-1795). Stuttgart: 1992. Auch Hegel macht sich diese Deutung des Ausdrucks Urteil in seiner Urteilslehre der Wissenschaft der Logik zu eigen: „Das Urteil ist die Diremtion des Begriffs durch

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Indem sich dem Denken die Momente des Seienden in ihrer Bewegtheit entdecken, erfaßt es die Selbstkonstitution bzw. -organisation dessen, was das Seiende ist. Die Potenzen sind nämlich keine logisch formalisierbaren Elemente eines bloß formalen Denkens, sondern „Grundlagen des Seins {υποκείμενα της οντότψτοζ103), wie Schelling sich ausdrückt. Es sei nochmals unterstrichen, daß die Potenzenlehre eine Prinzipientheorie sein will, d.h. eine Theorie, die den Bereich des Seins ebenso beschreibt wie den Bereich des Denkens. Denn die Frage nach dem Ganzen des Seienden (und damit die angestrebte Theorie der Totalität) wäre schlecht beraten, wenn sie das Totum vom Sein oder vom Denken (konkret: von der Natur oder vom Geist) aus allein erklären wollte. Das Ganze des Seienden muß als das sich selbst erkennende Sein gedacht werden können, wenn anders man den viel beklagten Dualismus von Ich und Welt überwinden will. Die Potenzenlehre strebt genau dies an, indem sie nachvollzieht, was immer schon geschehen sein muß, damit es eine Welt mit Inhalten, d.h. eine gegenständliche Welt, geben kann. Da die erste Potenz sich von der zweiten unterscheidet, und beide folglich in einer Relation der Exklusion stehen, schließen sie etwas von sich aus, nämlich ihre Einheit. Die Relation des Unterschieds schließt aus, daß dasjenige, was sie unterscheidet, identisch ist. Die erste Potenz ist nicht mit der zweiten identisch. Die Identität wird also ausgeschlossen, wodurch sie aber konstituiert wird: Das ausgeschlossene Dritte wird durch die Relation der Exklusion erzeugt. Die dritte Potenz ist das von Unbestimmtheit und Bestimmung ausgeschlossene Dritte, das genau dadurch möglich wird, daß eine Relation der Exklusion etabliert wird. Was noch nicht möglich ist, wird genau dadurch gesetzt, daß es ausgeschlossen ist, ein Phänomen, das aus den verschiedensten Lebenslagen bekannt ist. Das Undenkbare und Unmögliche wird genau dadurch ermöglicht, daß es ausgeschlossen wird. Der Weg des Ausgeschlossenen wird jederzeit eingeschlagen werden, sobald er einmal markiert ist.20 Das ausgesich selbst [...]. Es ist insofern die ursprüngliche Teilung des ursprünglich Einen: das Wort Urteil bezieht sich hiermit auf das, was es an und für sich ist." (7W/1, 6, 304) 203 SW, XI, 352, Anm. 3. 204 Daher gibt es eine Beziehung zwischen dem ausgeschlossenen Dritten und der Utopie, wie Friedrich Ulfers am Beispiel von Musils Der Mann ohne Eigenschaften gezeigt hat S. Ulfers, F.: Von der Skepsis zur Utopie — Musils Idee des »Essayismus«. In: Hüppauf, B./Vieweg, K. (Hgg.): Skepsis und literarische Imagination. München: 2003, S. 209-218.

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schlossene Dritte ist für Schelling also bereits dadurch möglich, daß es als unmöglich ausgeschlossen wird. Die dritte Potenz ist die Einheit von Unbestimmtheit (Sein) und Bestimmung (Denken), die freilich nicht deren unvermittelte Identität sein darf: Indem die dritte Potenz nur durch einen Prozeß der Exklusion möglich wird, d.h. durch Vermittlung, kann sie nicht die unmittelbare Identität der beiden anderen Potenzen sein. Als das ausgeschlossene Dritte kann sie nur sein, indem die beiden anderen sind. Ohne Vermittlung ist sie nicht möglich. Das manifestiert sich darin, daß alles Gedachte, sofern es wahr ist, etwas Bestimmtes, d.h. eine Einheit der beiden ersten Potenzen ist. Wahrsein und Sein können daher im griechischen Sprachgebrauch koinzidieren. Schelling ist erklärtermaßen darauf aus, das ,,'Όν der griechischen Philosophie"205 zu denken, um damit den Dualismus von Sein und Denken zu überwinden. Die dritte Potenz, das Subjekt-Objekt, scheint also den höchsten Anspruch darauf machen zu können, das Seiende selbst zu sein. Denn in ihr realisiert sich der Gedanke der Vermittlung von Subjekt und Objekt. Dies könnte einen wirklichen Übergang in die Subjektivitätsphilosophie suggerieren. Die Subjekt-Objekt-Potenz ist selbst aber wiederum nur eine Potenz des Seienden, ein Moment in der Strukturganzheit der alles Konkrete konstituierenden Prinzipien. Das Subjekt-Objekt ist als die Relation von Subjekt und Objekt auf diese als ihm vorgängige Momente angewiesen. Das Subjekt-Objekt kommt nach Subjekt und Objekt, heißt, daß es bestimmte wahre Gedanken nur gibt, indem es Unbestimmtheit und reine Bestimmung gibt. Die Subjekt-Objekt-Einheit kommt der Dualität von Subjekt und Objekt also nicht zuvor, sondern ist wesentlich das Dritte, das exclusum tertium. Das Dritte zwischen Subjekt und Objekt können wir uns nämlich nur dann denken, wenn wir zunächst den einfachen Gedanken des Subjekts und daraufhin den einfachen Gedanken des Objekts erfaßt haben, um schließlich den Begriff eines beide vereinigenden einfachen Dritten denken zu können. Mit „ihm aber ist alle Möglichkeit erschöpft, und wir hätten demnach bis jetzt nichts, von dem man sagen könnte, daß es das Seyende ist."206 Schellings Gedanken kann man verdeutlichen, indem man ihn in eine andere Problemlage übersetzt, die ihm freilich alles andere als fremd war, wie die Briefe über Dogmatismus und Kriticismus zei205 Initio. S. 93. 206 SW, XI, 290.

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gen. Naturalismus (Dogmatismus) und Idealismus (Kritizismus) setzen beide jeweils eine der beiden ersten Potenzen als das Unbedingte, von dem sie ausgehen, um die andere Potenz zu erklären. Der Naturalismus setzt ein unbedingtes Ding, die Natur, und versucht von ihr aus, das Ich zu erklären, was zu den bekannten Reduktionsversuchen führt. Der subjektive Idealismus umgekehrt versucht, vom Unbedingten, dem einheitsstifitenden Vollzug des Ichs auszugehen und alle Einheiten, insbesondere die der Natur und ihrer Inhalte auf den einheitsstiftenden Vollzug des Ichs zurückzuführen. Der Naturalismus ist grundsätzlich paradox, indem er ein unbedingtes Ding setzt, das vor allem damit inkompatibel ist, daß es als unbedingtes Ding gesetzt und nicht einfachhin gegeben wird. Der subjektive Idealismus ist paradox, weil er dem Skeptizismus Haus und Hof überläßt und alles Gegebene für ein Gesetztes ausgeben will. Keine Reduktion kann glücken, weder die naturalistische des Ichs auf Nicht-Ich noch die idealistische des Nicht-Ichs aufs Ich. Die naturalistische Reduktion setzt die erste Potenz absolut und kann jederzeit dadurch herausgefordert werden, daß sie begriffliche Bestimmtheit nicht erklären kann.207 Die idealistische Reduktion setzt die zweite Potenz absolut und handelt sich die Schwierigkeit ein zu erklären, woher die Inhalte kommen, die durch das bestimmende Denken bestimmt werden. Wird eine Welt angenommen, die uns Inhalte entgegenbringt, muß diese Welt selbst bereits Unterschiede aufweisen, da sie uns ansonsten keine Inhalte entgegenbringen könnte. Das aber hieße, daß es eine Welt gibt, die an ihr selbst bereits begrifflich bestimmt ist, was aber mit der Annahme des Idealismus inkompatibel ist, dem zufolge begriffliche Bestimmung erst durch den Vollzug des Ichs in die Welt kommt. Der Naturalismus ist eine formlose Theorie des Inhalts, während der Idealismus eine inhaltlose Theorie der Form ist. Der richtige Weg liegt also zwischen den beiden Ex207 Quine, der den Naturalismus mit bewunderungswürdiger Konsequenz durchdacht und vertreten hat, schlägt nicht zufällig den Weg ein, „Bedeutung" auf Naturereignisse (sensory hits und beobachtbares Sprachverhalten) zu reduzieren. Gelänge ihm diese Reduktion, wäre er das Problem losgeworden, daß ein stabiles Reich der Bedeutung nur dadurch möglich ist, daß es eine einheitsstiftende Tätigkeit des Denkens gibt, die Unterschiede in die Welt bringt und normativ-sprachlich kodifiziert. Mit Schelling könnte man sagen, daß Quines Naturalismus nicht zufällig potentiell mit dem Problem der radikalen Übersetzung und der aus dieser abgeleiteten Pluralität wahrer Theorien der Wirklichkeit im ganzen konfiigiert, worin sich das grundsätzliche Paradoxon des Naturalismus manifestiert, etwas als nichtgesetzt setzen zu müssen.

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tremen und besteht darin, den Dualismus von Form und Inhalt zu vermitteln. Dieser dritte Weg wird durch die dritte Potenz markiert, der Schellings eigene Identitätsphilosophie entspricht. Der späte Schelling bleibt aber nicht bei der abstrakten Vermittlung von Form und Inhalt, Bestimmung und Unbestimmtheit (είδος und υλη) stehen. Denn die Vermittlung muß selbst noch zum Bewußtsein ihrer Vermitteltheit gebracht werden. Die Vermittlung muß durch ihre Momente hindurchgehen. Wird sie einfach nur als der Weg des ausgeschlossenen Dritten eingeschlagen, verliert sie ihre Genese wiederum aus dem Blick. Sie ist zwar der terminus ad quem der Vermittlung, aber keineswegs notwendig. Daß die Vermittlung geschehen ist, ist ein Faktum. Das Subjekt-Objekt ist also nicht das Prinzip von Subjekt und Objekt. Alle drei Potenzen sind gleichursprünglich, so daß keine von ihnen das Seiende tout court sein kann, auf dessen Suche wir uns befinden. Schellings Potenzendialektik erweist somit die Defizienz des Subjekt-Objekts, worin ihre eigentliche Pointe und ihre differentia specifica gegenüber der Hegeischen Dialektik und Schellings eigener Identitätsphilosophie besteht. Das Seiende ist gerade nicht Subjekt-Objekt, sondern ein Gefüge dreier Momente, die eine notwendige logische Sequenz bilden, deren Gesamt Schelling die „Idee" oder „die Figur des Seyenden" nennt. Daher liegt Walter Schulz

208 Schelling schließt in seiner Spätphilosophie stets vom Faktum, d.h. von der Struktur des logischen Raums, in dem er sich denkend vorfindet, auf seine Vorgeschichte. Die Existenz des logischen Raums ist für Schelling das Faktum schlechthin, dadurch aber „eine Thatsache der Erfahrung" (SW, XIII, 129). Darin sieht Schelling das Spezifikum seiner Spätphilosophie, die er in diesem Sinne als „Empirismus" bezeichnet: Der logische Raum geht seiner Konstitution nicht voraus. Daher ist seine Existenz rein faktisch. Es gibt keinen Grund α priori dafür, daß es die Welt als den logischen Raum gibt, in dem wir uns als diskursive Wesen immer schon vorfinden. Wenn es ihn aber gibt, läßt sich auf seine Vorgeschichte zurückschließen. „Das Prius wird aus seiner Folge, aber es wird nicht so erkannt, daß diese Folge vorausginge. Die Präposition a in a posteriori bedeutet hier nicht den terminus a quo; a posteriori heißt hier per posterius, durch seine Folge wird das Prius erkannt. Α priori erkannt werden heißt eben: von einem Prius aus erkannt werden; a priori erkannt wird also, was ein Prius hat, von dem aus es erkannt wird. Das absolute Prius aber ist, was kein Prius hat, von dem aus es erkannt wird. Das absolute Prius seyn, heißt also, nicht a priori erkannt werden. Hier, in der positiven Philosophie, ist also eigentlicher Empirismus, insofern als das in der Erfahrung Vorkommende selbst mit zum Elemente zum Mitwirkenden der Philosophie wird." (SW, XIII, 129f.)

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

falsch, wenn er „das Seiende" mit der dritten Potenz identifiziert,209 wogegen sich Schelling ja ausdrücklich abgrenzt. Zwar ist Schulz vorbehaltlos zuzustimmen, wenn er die Idee als „Selbstdarstellung, in welcher sich die Vernunft faßbar wird"210 bestimmt. Diese Selbstdarstellung ist aber der ganze dialektische Prozeß und nicht nur, wie Schulz annimmt, sein vorläufiges Resultat, das SubjektObjekt. Daher kann man aus der Potenzenlehre gerade nicht darauf schließen, daß Schellings Spätphilosophie dem subjektivitätsphilosophischen Paradigma treu bleibe. Umgekehrt dient die Potenzendialektik dazu, die ontologische Defizienz der Selbstvermittlung zu erweisen, die darin besteht, daß die Selbstvermittlung auf Momente angewiesen ist, die sie nicht selbst gesetzt hat. Die Selbstvermittlung ist in ihre Tätigkeit eingesetzt von dem, was das Seiende ist. Dasjenige, was das Seiende ist, ist aber immer noch nicht gefunden. Schulz liegt richtig, wenn er Schellings Spätphilosophie von der Figur einer vermittelten Vermittlung aus erklärt. Dabei blendet er aber aus, daß die Vermittlung rein faktisch ist und (wie Schelling ausdrücklich erklärt) nur durch Erfahrung festgestellt werden kann. Die Vermittlung geht sich also nicht in der Form der Unmittelbarkeit voran (wie bei Hegel), sondern findet sich vor. Die Vermittlung ist selbst faktisch. Die Frage, was das Seiende ist, stellt sich somit nach Erschöpfung der möglichen Positionen des reinen Denkens erneut und ungleich radikaler. Nachdem wir uns schrittweise der Denkbarkeit des Ganzen des Seienden genähert haben, entzieht uns Schelling einmal mehr den Boden und verweist uns dort, wo wir wieder zu sehen können glaubten, an die Grenzen der Undenkbarkeit. Die Einsicht, daß die Potenzen Momente des Seienden sind, legt prima facie nahe, daß das Seiende das Ganze seiner Potenzen ist. Doch das Ganze der Potenzen ist nur „das Seyende im Entwurf, die bloße Figur oder Idee des Seyenden, nicht es selbst."211 An diesem Punkt sieht man einen wichtigen Unterschied zwischen Schellings und Hegels Konzeption von Dialektik. Zwar erkennt auch Schelling im Subjekt-Objekt die vermittelte Einheit von Subjekt und Objekt. Diese sind aber nicht in der Weise in ihm auf209 Die Vollendung des deutschen Idealismus. S. 43. Richtig interpretiert Holz: Spekulation und Faktizität. S. 215f.: „Das Seiende als solches kann aber dies Dritte aufgrund seiner Bedingtheit durch seine beiden vorangehenden Momente nicht sein." 210 Ebd. 211 SW, XI, 291.

§6. Die Potenzenlehre

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gehoben, daß ihre Priorität von ihm vorausgesetzt wird. Bei Hegel sind die Natur und der endliche (subjektive und objektive) Geist Momente, die im absoluten Geist vermittelt werden. Dabei zeigt sich aber, daß der absolute Geist in der Gestalt der Philosophie gleichzeitig weiß, daß die Idee sich in Natur und Geist vorgängig geurteilt hat, um sich so erst eigentlich zu gewinnen.212 Das bedeutet aber, daß die scheinbare Priorität der voraufgehenden Momente sich gleichzeitig als durch das von ihnen Bedingte vorausgesetzt erweist. Mit Hegel müßte man demnach sagen, daß das Subjekt-Objekt nicht im gleichen Sinne Moment ist wie Subjekt und Objekt, da es sich diese vielmehr vorgängig urteilend vorausgesetzt hat. Das „rückwärtsgehende Begründen des Anfangs und das vorwärtsgehende Weiterbestimmen desselben"213 fallen so im logisch-dialektischen „Kreis von Kreiseni

Umgekehrt kann man aber auch nur schwer verstehen, wie die Kategorien in einem abstrakten Gebrauch für sich gesetzt werden können, wenn sie doch ihrem Wesen nach auf mögliche Erfahrung, d.h. anschauliche Gehalte bezogen sein sollen. Wenn Kant dem metaphysischen Gebrauch der Kategorien im Leerlauf Einhalt gebieten will, handelt er also gegen seine eigene Prämisse, daß die Kategorien immer schon auf mögliche Erfahrung und umgekehrt alle mögli136). Allein die synthetische Einheit der Apperzeption vermag die Einheit der Erfahrung zu garantieren (vgl. auch Β 296). Denn nur durch eine die subjektive wie die objektive Sphäre des Bewußtseinslebens synthetisierende Tätigkeit kann es einen lückenlosen Weltzusammenhang geben. Ich und Welt müssen stets zusammengeschlossen, synthetisiert werden, da in jedem Moment unseres intentionalen Lebens neue Bewußtseinsinhalte auftreten, die jeweils als meine Vorstellungen bestimmt werden können müssen, wenn anders es so etwas wie ein einheitliches Wahrnehmungs- und Weltbewußtsein geben können soll. Da Kant i.allg. „Begriff' mit Spontaneität und „Anschauung" mit Rezeptivität (KrV. Β 74) assoziiert, die Einheit der Raumanschauung aber nur durch eine Tätigkeit der transzendentalen Subjektivität gewährleistet werden kann, ist an der Konstitution des Raumes als reiner Anschauung bereits die einheitsstiftende Tätigkeit des Begriffs am Werk. 273 TWA, 5,223.

§7. Der Satz vom Widerspruch und die Potenzendialektik

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che Erfahrung immer schon auf Kategorien bezogen ist. Die Trennung von Anschauung und Begriff kann nicht einmal unter transzendentaiphilosophischen Bedingungen durchgeführt werden, da die Trennung bereits die Einheit von Anschauung und Begriff voraussetzt. Gelingt die Trennung aber nicht, ist auch nicht ersichtlich, warum die Theorie der Totalität nicht zum Sein selbst gehören sollte, d.h. warum die Idee nicht auch Ideal sein sollte. Der Ausgriff aufs Ganze kann daher Schelling zufolge als Ausdruck des Ganzen selbst gesehen werden, so daß die Grenze zwischen Sein und Denken aufgehoben werden kann. Kant muß überdies annehmen, daß selbst die natürliche, noch nicht kritisch aufgeklärte, Vernunft die abstrakte und problematische Trennung von Anschauung und Begriff de facto stets vollzieht, wenn wirklich jedes Individuum die Tendenz haben soll, aufgrund eines seiner Vernunft immanenten Strebens die Sphäre der Sinnlichkeit durch eine leere Begriffsoperation zu überschreiten. John McDowells Anschluß an Kant scheint genau diesen Punkt zu betreffen, da sie davon ausgeht, daß Begriff und Anschauung, Spontaneität und Rezeptivität unentwirrbar ineinander verwoben sind. McDowell entwirft v.a. in der ersten Vorlesung von Mind and World274 einen an Kant orientierten Begriff von Erkenntnis als Kooperation spontaner und rezeptiver Fakultäten. Dabei versucht er, dem Sinnesdaten-Mythos des Gegebenen auszuweichen, demzufolge es eine nackte Präsenz von Wahrnehmungsinhalten gibt, die unsere Sinne affizieren, um anschließend begrifflich imprägniert zu werden. There must be a role for receptivity as well as spontaneity, for sensibility as well as understanding. Realizing this, we come under pressure to recoil back into appealing to the Given, only to see all over again that it cannot help. There is a danger of felling into an interminable oscillation. But we can find a way to dismount from the seesaw. The original Kantian thought was that empirical knowledge results from a cooperation between receptivity and spontaneity. [...] We can dismount from the seesaw if we can achieve a firm grip on this thought: receptivity does not make an even notionally separable contribution to the cooperation.275

McDowells Kantrezeption impliziert also einen genuin idealistischen Gedanken: Daß Begriff und Anschauung nicht getrennt werden können. So wird etwa in jedem empirischen Erkenntnisakt das 274 Harvard: 4 1998, S. 3-23. 275 Ebd., S. 9.

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

sinnlich Gegebene schon dadurch begrifflich transzendiert, daß der Verstand die hic et nunc nicht gegebenen Aspekte seines Wahrnehmungsgegenstandes durch die Spontaneität seiner Begrifflichkeit appräsentiert (z.B. die Rückseite des vor mir stehenden Hauses). Der Begriff ist also zugleich über die Anschauung hinaus und in ihr tätig. Damit gibt McDowell freilich die Kantische Erklärung für das metaphysische Streben der theoretischen Vernunft aus der Hand, wodurch die Möglichkeit einer eigentlich spekulativen Vernunft eröffnet wird, die McDowell selbst nicht in Betracht zieht. Es hat systematische Gründe, wenn sich Schelling in seinem berühmten Brief an Hegel vom 2. November 1807 beschwert, daß dieser in der Phänomenologie des Geistes zwischen Anschauung und Begriff unterscheide, während sie sich beide doch stets darin einig gewesen seien, daß der Begriff „Idee" sei, „deren Natur es eben ist, eine Seite zu haben, von der sie Begriff, und eine, von der sie Anschauung ist."276 Durch diesen Ideenbegriff, der eindeutig gegen Kants Begriff des Begriffs mobilisiert wird, und den Hegel auch gegen Schellings unhaltbaren Vorwurf tatsächlich teilt, gelingt es Schelling und Hegel, den antiken Begriff des Denkens als νοεΐν in die Konstellation der nachkantischen Philosophie wieder einzuführen. Im Unterschied zu Kant geht Schelling also davon aus, daß der Vollzug des vernünftigen Denkens nicht „irgend ein Denken, son276 Briefe. Bd. 3, S. 471f. (Schellings letzter Brief an Hegel, nachdem dieser ihm seine Phänomenologie des Geistes zugesandt hatte). Schellings Vorwurf ist sachlich unbegründet, da das natürliche Bewußtsein und nicht Hegel diese Trennung in der PhdG macht. Außerdem gilt auch noch für Hegels reifes logisches Konzept der Idee, daß sie die Einheit von Begriff und Anschauung darstellt. Sie ist nämlich als „die absolute Einheit des Begriffs und der Objektivität" (Enz. §213), „das ewige Anschauen ihrer selbst im Andern" (ebd., §214, Anm.). Wenn Hegel sie weiterhin als „Vernunft" (§214) bestimmt, die „Subjekt-Objekt" sei, erkennt man hier unschwer den antiken -Begriff im Hintergrund. Man kann demnach für Hegel wie fur Schelling, aber auch bereits für Fichte sagen, daß sie gegen Kants Formalisierung des Denkens, dem erfüllende Inhalte allererst „von außen" zugeführt werden müssen, auf die seit Parmenides immer wiederholte Konzeption eines Denkens zurückgreifen, das an ihm selbst auf Sein bezogen ist. Es erübrigt sich festzustellen, daß hier keine wie auch immer geartete Parmenides-Rezeption, sondern historisch gesehen vielmehr ein Rückgriff auf Piaton und Aristoteles vorliegt. Selbst wenn sich sogar ein solcher, wie im Falle Fichtes, nicht unmittelbar nachweisen ließe, ist es dennoch lohnenswert, die Kontinuität der abendländischen Metaphysik zu beobachten, die immer wieder auf die unauflösliche Einheit von Denken und Sein gestoßen ist.

§7. Der Satz vom Widerspruch und die Potenzendialektik

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dem das Denken selbst"211 ist, eine geistige Tätigkeit, die Aristoteles und Piaton νους bzw. νίτησις genannt hatten.278 Gegen Kants Lehre vom Denken vindiziert Schelling dem Denken somit einen ursprünglichen Inhalt, auf den es immer schon bezogen ist. Dieser ursprüngliche Inhalt ist das Seiende, dessen Momente die Potenzen sind. Das Denken ist also immer schon bei dem Seienden und muß nicht erst durch einen Außenkontakt der Sinne mit ihm in Berührung kommen. Das bedeutet freilich, daß erklärt werden muß, warum das Seiende der Vernunft als ihr Anderes, als eine ihr potentiell fremd gegenüberstehende Welt erscheinen kann, von der sie möglicherweise nicht einmal wissen kann, wie sie ist. Die Vernunft muß einen ursprünglichen Inhalt haben, der die Welt selbst ist. Dieser Inhalt, den die Vernunft allein von sich selbst und v o n nichts anderem hat, ist im A l l g e m e i n e n das Seyende und können im Besondern nur j e n e Momente seyn, deren j e d e s für sich nur das Seyende seyn kann (nämlich wenn die andern hinzukommen), also nur eine Möglichkeit oder Potenz des Seyenden ist. 2 7 9

Schelling schlägt also einen dritten Weg zwischen Skeptizismus und direktem Realismus ein. Während der direkte Realismus immer noch damit rechnet, daß unser Denken tendenziell leer ist und einer Informationszufuhr aus der Außenwelt bedarf, die allerdings hinreichend transparent ist, um für zuverlässig gehalten zu werden, erkennt Schelling, daß jeder Begriff der Welt eine Instanz der Idee des Seienden ist. 80 Die Idee des Seienden ist die Idee einer Totalität, 277 SW, XI, 303. 278 Schelling zitiert dazu folgende Stelle aus den Analytica posteriora: Έπει δέ των περι την διάνοιαν εζεων αίς άλη^εύομεν α! μεν αεί αληθείς εΐσιν, α! δε επιδέχονται το φεϋδος, οίον δόξα και λογισμός, άληΒη δ' άε! επιστήμη και νους, κα! ουδέν έπιστήμης ακριβέστερου άλλο γένος η νους, α! δ' άρχαί των αποδείξεων γνωριμώτεραι, επιστήμη δ' άπασα μετά λόγου εστί, των άρχων επιστήμη μεν ουκ αν ε'ίη, έπε1 δ' ουδέν άλη^έστερον ένδέχεται επιστήμης ή νουν, νους αν εϊη των άρχων, εκ τε τούτων σκοποϋσι και ort αποδείξεως αρχή ουκ άπόδειξις, ωστ' ούδ' επιστήμης επιστήμη, εΐ ούν μηδέν αλλο παρ' έπιστήμην γένος εχομεν άληΒές, νους αν ε'ίη επιστήμης άρχή. (An. post. 100b5-15) Schelling, der den Text unvollständig zitiert, kommentiert: „Wie will man diese Stellen mit den gewöhnlichen Ansichten vom Empirismus des Aristoteles reimen?" (SW, XI, 304, Anm.) Er erkennt offenkundig sein eigenes idealistisches Konzept einer reinrationalen Philosophie in der alle Erkenntnis begründenden Rolle des νους bei Piaton und Aristoteles wieder. 279 SW, XI, 304. 280 Hegel und Schelling wenden sich beide gleichermaßen gegen jede Form eines direkten Realismus. Das Ganze ist weder fur Hegel noch für Schelling die Außen-

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die dem Denken immanent ist. Die Totalität wird nicht gegeben, obwohl ohne sie nichts gegeben werden könnte. Daher ist selbst die Idee der Gegebenheit (die Anschauung) eine Funktion der Totalität und muß als solche in der philosophischen Reflexion durchsichtig werden. Bleibt man aber der Vorstellung einer Außenwelt verhaftet, was dem Skeptizismus ebenso wie dem direkten Realismus eigen ist, gerät der Inhalt der Vernunft wieder aus dem Blick und die Emanzipation der Vernunft wird rückgängig gemacht. Dafür haben Fichte und Schelling den Terminus „Dogmatismus" reserviert.281 Der Skeptizismus ist ebenso dogmatisch wie der direkte Realismus, indem er die Erkenntnis des Ganzen des Seienden nach dem Modell der sinnlichen Auffassung einer Außenwelt konstruiert, die er in die Aporien des Repräsentationalismus führt, um sie zu vernichten.

weit. Hegel geht es nicht weniger als Schelling darum, das Ganze als Denken zu erweisen. Das widerspricht aber dem Common Sense und seiner Ausrichtung am „sinnlichen Bewußtsein", die Hegel gar als „pöbelhaft" (TWA, 6, 558) verschmäht. Es geht Hegel wie Schelling darum, „den wahrhaften Gegenstand und Inhalt der Vernunft" (ebd.) zu finden, der seines Erachtens ebenfalls die Totalität der Denkbestimmungen ist. Das Totum der Vernunft zu vindizieren, ist das gemeinsame Projekt der Philosophie Schellings und Hegels. Das widerspricht aber heftig dem Common Sense, den Hegel ohne Unterlaß verspottet. Daher opponiert er stets den gesunden Menschenverstand und die eigentliche Theorie der Totalität, d.h. die Spekulation. Vgl. etwa TWA, 2, 30: „Der gesunde Menschenverstand drückt sich wohl für die Reflexion aus, aber seine Aussprüche enthalten nicht auch fürs Bewußtsein ihre Beziehung auf die absolute Totalität, sondern diese bleibt im Innern und unausgedrückt. Die Spekulation versteht deswegen den gesunden Menschenverstand wohl, aber der gesunde Menschenverstand nicht das Tun der Spekulation. Die Spekulation anerkennt als Realität der Erkenntnis nur das Sein der Erkenntnis in der Totalität; alles Bestimmte hat fur sie nur Realität und Wahrheit in der erkannten Beziehung aufs Absolute." 281 Heidegger macht die Operation des Dogmatismus in seiner Vorlesung über den Deutschen Idealismus vom Sommersemester 1929 besonders deutlich, wenn er schreibt: „Dogmatisches System der Metaphysik: für die Begründung und den Aufbau des Ganzen der Erkenntnis des Seins des Seienden und des Seienden im Ganzen dasjenige zugrunde legen, was dazu als das Selbstverständlichste und Natürlichste sich gibt. Das ist aber: das Seiende selbst in der Bestimmtheit, die sich der nächsten und ständig sich erhaltenden Auffassung nahelegt. Das Seiende: die Allheit der Dinge - Naturdinge, Pflanzen, von den Menschen angefertigte Dinge, die Menschen selbst, Dämonen [sie!], Götter [sie!] - das All des Seienden; und sein Sein ist eben diese Dingheit. (Das so Gegebene und die Art der natürlichen Auffassung nur verallgemeinern!)." (Der deutsche Idealismus (Fichte. Schelling, Hegel) und die philosophische Problemlage der Gegenwart. Frankfurt/Main: 1997, S. 127)

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Das Seiende (und nicht ein nach Naturgesetzen kausalnomologisch organisiertes Dingaggregat) ist also der notwendige immanente Inhalt des Denkens, ohne den es selbst nicht einmal sein könnte. Das Seiende ist dadurch zugleich der ontische Grund, auf dem das Denken sich vollziehen kann, „denn das Seyende hinweggenommen, ist auch alles Denken hinweggenommen"282. Das Seiende ist also in seiner ihm immanenten Differenzierung in seine Momente, d.h. in die Potenzen, zugleich das ontische Fundament des Denkens. Das Denken wiederholt dabei in der Erfahrung des Denkens die für das Seiende notwendige ontologische Explikation seiner Momente. Sein und Denken bilden also insofern eine Einheit, als die Möglichkeiten des Denkens zugleich die Möglichkeiten des Seins und vice versa bezeichnen. Das Denken spricht daher im denkenden Nachvollzug der Bedingungen seiner eigenen Konstitution das Seiende aus, bringt das ihm eigentümliche VernunftSein zur Sprache. Insofern kann man mit Parmenides sagen, daß Denken niemals ohne Sein angetroffen wird, in dem es sich erst eigentlich und als es selbst artikuliert. „Dasselbe ist Denken und warum Denken ist. Denn ohne das Seiende, in dem es ausgesprochen ist, wirst du das Denken nicht finden."283 Das Denken ist mit anderen Worten mit demjenigen identisch, das macht, daß es Denken gibt. Daher muß der Akzent des zweiten etrrt im ersten der zitierten Verse auf der ersten Silbe stehen. Der 282 SW, XI, 304. 283 ταύτον S' έστ'ι νοεΐν τε και ουνεκεν εστί νόημα./ ού γαρ 'άνευ τοϋ ιόντος, εν ώ πεφατισμενον εστίν,/ εύρτ/αεις το νοεΐν (Parmenides: Β8, 34-36). Vgl. ebenfalls: το γαρ αυτό νοεΐν εστίν τε και είναι. (Β3) Die Einheit von Denken und Sein meint bei Parmenides nach Beierwaltes: „daß Sein auf Grund seiner rationalen Struktur gedacht werden könne. Im Sein ist Denken »ausgesprochen«; Intelligibilität wird als Struktur des Seins manifest. Denken aber denkt, weil Sein als Zu-Denkendes ist. Im Sein hat es seine Sinnbestimmtheit." (Einleitung in: „Plotin: Ewigkeit und Zeit. (Enneade III 7/'. Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Werner Beierwaltes. Frankfurt/Main: 1967 [zit.: Ewigkeit und Zeit], S. 25) Auch Karl Bormann interpretiert das Fragment so, daß aus ihm eindeutig die Primordiaiität des Seins im Gefiige der wechselseitigen Bezogenheit von Sein und Denken hervorgehe: „Einerseits ist das richtige νοεΐν mit dem Seienden zu einer untrennbaren Einheit verbunden, andererseits ist das Seiende Grund für das νοεΐν: Innerhalb der zweigliedrigen Einheit von Denken und Seiendem liegt das Seiende dem νοεΐν zugrunde und besitzt daher die Priorität im ontologischen Sinne. Ohne das Seiende gibt es das richtige νοεΐν nicht. Denken, in dieser Bedeutung verstanden, ist immer Denken des Seienden." (Parmenides. Untersuchungen zu den Fragmenten. Hamburg: 1971, S. 83)

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

Vers besagt also: „Dasselbe ist Denken und ist dasjenige, warum Denken ist. Das Identische, das Denken und Sein zugleich ist, ist das Seiende im Parmenideischen Sinne, das sich als Denken artikuliert. Daher ist das Denken im Sein und nicht etwa das Sein im Denken ausgesprochen: Das Denken ist eine Selbsterkenntnis des Seins, weshalb das Denken das Nichts nicht denken kann. Das Denken ist also ein Fall von Sein und nicht etwa umgekehrt. Diese Überzeugung kann man als Ontonomie bezeichnen, von der sich die neuzeitliche Autonomie des Denkens unterscheidet, die bekanntlich alles Sein auf die Gewißheit des Denkens gründen will. Schelling knüpft (wie später Heidegger) an die Ontonomie an, um hinter das Cartesische Bewußtsein zurückzugehen. Die Vernunft wird selbst zu einem Fall von Sein, so daß Sein umgekehrt in der Autonomie der Vernunft zu sich gebracht werden kann. Auf diese Weise wird die menschliche Welterkenntnis zu einem Ereignis der Welt selbst. Das menschliche Denken steht als vernünftiges nicht einer Welt gegenüber, die nur von außen in es hineindringen kann. Ich und Welt stehen sich nicht unversöhnlich gegenüber: Das Denken gehört zum Sein selbst, das sich im Denken des Seins selbst erfaßt. Das Parmenideische Seiende unterscheidet sich von sich, um sich in seinem Unterschied als es selbst zu erfassen. Das Denken ist also ein notwendiges Moment der Identität des Seienden. Modern gewendet kann man dies so fassen, daß es ein Identitätskriterium des Universums qua Totum ist, daß es erkennende Wesen gibt, die sich auf das Universum qua Totum oder auf die Wirklichkeit im ganzen beziehen. Die menschliche Erkenntnis der Wirklichkeit ist der Wirklichkeit nicht äußerlich und könnte daher auch nicht unterbleiben. Das aller Erkenntnis äußerliche reine Sein ist immer schon Vergangenheit der Vernunft, obwohl sie es als ihre Bedingung anerkennt. Darin spricht sich ihre Ontonomie aus. Doch die Ontonomie gehört zur Vernunft ebenso wie die Vernunft zum Sein gehört. Das Sein, das sich als der ursprüngliche Inhalt der Vernunft erweist, ist also das Vernunft-Sein, also Sein, das gleichursprünglich Vernunft ist, in dem es sich mit sich selbst vermittelt. Die Momente des Vernunft-Seins, also Urständ, Gegenstand und Subjekt-Objekt nennt Schelling Potenzen. Zwar wird man vom Vernunft-Sein, d.h. der idealen Gegenständlichkeit des reinen Denkens, schwerlich sagen wollen, daß es denselben ontologischen Status wie die Existenz eines innerweltlich Seienden hat. Gleichwohl sind die Potenzen nicht dadurch schon Nichts, daß sie nicht als sie selbst

§7. Der Satz vom Widerspruch und die Potenzendialektik

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innerweltlich begegnen, sondern Seiendes im Modus der Möglichkeit sind, einer Möglichkeit, die freilich wesentlich auf Wirklichkeit bezogen ist. Denn „Potenz heißt Mächtigkeit, die als Möglichkeit auf Verwirklichung aus ist."284 Was auch immer Gegenstand des Denkens ist, ist nämlich in seinem Sein-für-dasDenken und ist eo ipso nicht Nichts, da es ansonsten auch nicht für ein Denken sein könnte. Alles Denken ist daher seinen Gegenstand im Sinne der Schellingschen transitiven Kopula, bringt ihn denkend ins Vernunft-Sein.285 Etwas ist in seinem Sein fur das Denken immer schon eine positive Größe, bestimmtes Seiendes unter anderem. Daß wir philosophierend niemals das Denken des Seins umgehen können, auch und zumal nicht, wenn wir uns in die Erkenntnistheorie zurückziehen, ist eine der Haupteinsichten Schellings, die insbesondere seiner Kritik des Cartesischen Cogito zugrundeliegt.286 Zwar scheint das Erkennen dem Erkennen näher zu sein als das Sein. Doch sobald wir das Erkennen zum Gegenstand unserer philosophischen Anstrengungen machen, haben wir einen Gegenstand, nämlich das Erkennen. Insofern es Gegenstand ist, gelten die ontologischen Bedingungen der Gegenständlichkeit überhaupt (die Potenzen) auch für das Erkennen. Was Gegenstand unseres Erkennens ist, ist darum um nichts weniger ein Seiendes als jedes beliebige andere Seiende. Das Sein läßt sich somit nicht aus der philosophischen Reflexion ausgrenzen, da bereits in Jeder möglichen Aussage [...] eine Art des Seins ausgesagt wird. Sein ist das Urprädikat, von dem alle übrigen Variationen sind."287 Indem ich also Urteile über das Erkennen falle, habe ich ja aber das Erkennen selbst zum Gegenstand gemacht, und es damit so gut für ein Seyendes als irgend ein anderes erklärt. Der Gegensatz oder die Unterscheidung zwischen dem Erkennenden und dem Seyenden fällt also gleich mit der ersten Reflexion dahin, und ich kann dem Seyn, das ich vermeiden und gleichsam (wie einen Feind) umgehen

284 Schulz: Die Vollendung des deutschen Idealismus. S. 13. 285 Schelling selbst hat einmal vorgeschlagen, „sein" als transitives Verb, d.h. mit einem Akkusativ zu kontruieren. Es müsse eigentlich heißen „deus est res cunctas" und nicht „res cunctae". S. SW, VII, 205, Anm. 1. 286 Schellings Kritik des Cartesischen Cogito wird von Daniel Sollberger vor dem Hintergrund der Potenzenlehre detailliert rekonstruiert: Sollberger: Metaphysik und Invention. S. 117-121; vgl. a. Brands, H.: »Cogito ergo sum«. Interpretationen von Kant bis Nietzsche. Freiburg/München: 1982, S. 121-150. 287 Initio. S. 69.

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung« wollte, doch nicht ausweichen. Denn sowohl das Erkennende als das, was erkannt wird, - beides ist ein Seyendes, und gerade darin scheinen sie eins, oder dieses scheint ihr Gemeinschaftliches, daß sie beide - Seyende sind. 288

Daher vermag das Denken auch das Nichts nicht zu denken, ohne es immer schon denkend ins Sein hinüberzusetzen. Selbst wenn das Nichts als bloße Privation von Sein gedacht wird, ist es doch in gewissem Sinne: nämlich im „Istsagen des Denkens"289. Man darf aber nicht aus dem Blick verlieren, daß die Potenzen aufgrund ihres Moment-Charakters nicht das Seiende im Vollsinn sind, da sie zugleich sind und nicht sind.290 Das Denken, das wirklich versucht, das Seiende zu denken, durchläuft die Potenzen in einer ihm vorgegebenen und logisch notwendigen Folge. Der Inbegriff alles Möglichen oder die Idee zeigt sich ihm dabei als dirimiert in drei Momente, die eine logische Sequenz bilden. Insofern ist der Begriff des Seienden im Nachvollzug seiner Konstitution durch die theoretische Vernunft nicht univok. τ6 öv λέγεται πολλαχώ^1, heißt für Schelling somit in dreifacher Weise, als Subjekt, Objekt und als Subjekt-Objekt. Da die Vernunft im denkenden Durchgang durch ihre Möglichkeiten stets denselben Weg gehen muß, ist es vernünftig, nach einem Bewegungsgesetz zu suchen, das sich in ihrer Denkerfahrung ausspricht. 92 288 SW, X, 233. Auf dieselbe Weise argumentiert Schelling bereits im System der Weltalter. S. 90. Vgl. dazu Hemmerle: Gott und das Denken. S. 42-45. In Schellings Kritik an der Erkenntnistheorie zeigt sich einer seiner Grundgedanken, den er mit Hegel gemeinsam hat, nämlich, daß Denken im Sinne des νοεΐν niemals eine bloß formale Leerintention ist, sondern immer schon auf Seiendes, auf den Bestimmungsgehalt des Ideen- oder Kategorienganzen, bezogen ist. 289 Klaus Hemmerle, von dem der Ausdruck stammt, erläutert dieses „Istsagen" auf folgende Weise: „Das Denken langt in all seinen Bewegungen aus nach dem, was ist, setzt alles, was es denkt, sich gegenüber als sein Anderes, als etwas, das - auf welche Weise auch immer - »ist«, möglich ist, wirklich ist, erdichtet ist, unmöglich ist, nur gedacht ist, »nicht« ist, jedenfalls in eine Position des »ist« gesetzt ist einfach dadurch, daß es gedacht ist." (Gott und das Denken. S. 47) 290 SW, XI, 297. 291 Aristoteles: Met. 1003a33f.: To δε ov λέγεται μεν πολλαχώς, άλλα προς εν και μίαν τινά φύσιν. Die Äquivozität des Seienden wird bei Schelling ebenso wie bei Aristoteles in der μία φύσις des Seins sensu proprio, der ungetrübten ενεργεία, aufgehoben. 292 Piaton, der Vater der Dialektik, ordnet den νους in ähnlicher Weise dem dialektischen Durchgang {διέξοδος) durch das Ganze aller Seinsbestimmungen (Ideen) zu: άνευ ταύτης της δια πάντων διεξόδου τε και πλάνης αδύνατον έντυχόντα τω άλιβεΐ νοΰν σχεϊν. (Parm. 136el-3) Die „dialektisch-diskursive Bestimmung der

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Die Bedingung der Möglichkeit von Diskursivität ist eine bereits wohibestimmte propositionale Struktur, in der Etwas als Etwas sein kann. Der ewig erste Durchlauf der Vernunft durch ihre Momente spannt dabei den Rahmen für alle weiteren Urteilsgenesen auf. Sowohl für Schelling als auch für Hegel ermöglicht allererst die Annahme, daß das Urteil nicht statisch, sondern ein Durchlaufen von Momenten, d.h. ein Prozeß ist, einen philosophischen Zugriff auf das Gesamt des Wirklichen, das immer auch und vor allem den Bereich des Geschichtlichen involviert. Nur wenn der grundlegende Gehalt von Vernunft als prozessuale Selbstkonstitution, d.h. als Selbstvermittlung (Subjektivität) aufgefaßt wird, vermag die Vernunft sich in der Wirklichkeit als ganzer dergestalt wiederzufinden, daß das Telos der Philosophie als Metaphysik, Erkenntnis des Ganzen des Seienden zu sein, als verwirklicht gelten kann. Daher muß man von der abstrakten Opposition von Genesis und Geltung absehen, wenn man den Begriff des Denkens in den großen Systemen des nachkantischen Idealismus verstehen will. Denn sowohl Schelling als auch Hegel denken Geltungsverhältnisse, d.h. Diskursivität, als Resultat einer Vermittlungsbewegung, die zunächst nur mit den Mitteln einer idealistischen Dialektik beschrieben werden kann, deren Eigentümlichkeit darin besteht, daß sich in ihr die Selbstkonstitution der Strukturen der Wirklichkeit wiederholt, um so erst im eigentlichen Sinne zu sich zu kommen.293 Die geschichtliche Etablierung prädikativer Verhältnisse und ihnen entsprechender Seinsbereiche gehört zum Urteil selbst. Der Logos kommt sich nicht selbst zuvor, sondern ist das Resultat einer Dialektik, die sich in ihm wiederholt. Das Gesetz, das die noetische Folge der ,/einen Noemata"294 reguliert, muß nun, da wir uns Dialektik betreibend im reinen Denken bewegen, „das reine und eigentliche Vernunftgesetz"295 sein. Dies erkennt Schelling, was prima vista überraschen mag, in der Aristotelischen Ontologie des Satzes vom Widerspruch wieder, der bei AriIdeen [muß] ihrer noetischen Erfassung vorausgehen" (Halfwassen: Aufstieg zum Einen. S. 233). Plotin bestimmt in seinem Gefolge das Leben (πρώτη ζωή) des νους als „die Verwirklichung der Totalität εν §ιεξόδψ, in ihrer Aufgegliedertheit und Durchstrukturiertheit, die alles zum Ganzen zusammenschließt, ohne dabei die einzelnen Momente des Ganzen in unterschiedsloser Einerleiheit versinken zu lassen." (Halfwassen: Aufstieg zum Einen. S. 88f.) 293 Vgl. dazu Sollberger: Metaphysik und Invention. S. 81-83. 294 SW, XI, 313. 295 SW, XI, 304.

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I. Die Einheit von Sein und Denken in der »Philosophischen Einleitung«

stoteles als „das sicherste Prinzip" {βεβαιότατη άρχί?96) das Prinzip ist, das das Seiende als Seiendes primär bestimmt.297 Das Prinzip besagt bekanntlich, daß derselben Entität nicht gleichzeitig eine Eigenschaft X und ihr kontradiktorisches Gegenteil -\X zukommen kann: το γαρ αυτο αμα ϋπάρχειν τε και μη ύπαρχειν αδύνατον τω '

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