Scheiss Bullen: Ein Polizist erzählt aus seinem Berufsalltag zwischen Hass und Gesetz 3907210042, 9783907210048

Andreas Widmer ist seit 37Jahren mit Leib und Seele Polizist. Sein Beruf ist geprägt von Gewalt, Hass. In seinem spannen

231 86 6MB

German Pages [181] Year 2019

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Scheiss Bullen: Ein Polizist erzählt aus seinem Berufsalltag zwischen Hass und Gesetz
 3907210042, 9783907210048

Citation preview

Andreas W i d m e r

SCHEISSBULLEN Ein Polizist erzählt aus seinem Berufsalltag zwischen Hass und Gesetz

Hinweis zu diesem Buch: Das Buch verzichtet auf die Unterscheidung von männlichen und weiblichen Formen und verwendet nur ein grammatisches Geschlecht, weil das das Lesen erleichtert. Es kann sowohl männlich wie weiblich sein. In beiden Fällen ist das jeweils andere Geschlecht mitgemeint. Infos über den Verlag und zu weiteren Büchern: www.gigerverlag.ch

Einleitung Warum schreibe ich dieses Buch? Zu meiner Person Mein Zugang zum Thema Die ersten Jahre ab 1982 bei der Polizei Feindbild: Scheißbullen Beispiele und Ausprägungen

11 12 14 14 15 17

Die Polizei als Feind ACAB: All Cops Are Bastards! Interview mit einem Polizeihasser Treffen mit einem ACAB-Tätowierten Racial Profiling Gewalt gegen Beamte Demonstrationen 2019 - das Jahr des Frauenstreiks Klima und Umwelt Virtuelle oder analoge Welt Wie militant soll es bitte sein? Solidarität mit Gilet-Jaunes Vorfall mit gefährlichen Feuerwerksartikeln Katz-und-Maus-Spiel: Repression löst Reaktion aus Szenario Lärm

23 27 30 33 36 39 .40 42 44 45 . 46 47 47 48

Klischee Polizei, sprich Bullen Traumatisierungsgefahr .. . Erscheinungsbild und Glaubwürdigkeit der Polizei Eine fiktive Episode * Aggressionspotenztal bei Jugendlichen Mobbing am Arbeitsplatz . . . *

......

« ^

Maßnahmen zur Aufweichung des Feindbildes Trägt bessere Prävention zur Problemlösung bei? Prävention und Aufklärung in Bildungsstätten Ist Repression eine Lösung? Beeinflussungsfaktoren Auslöser Siedepunkt Achtung Filmaufnahmen

Friedenstifter und Selbstanbieter Der Nutzen von selbsternannten Friedensstiftern

61 54 66 67

68 68

Die Menschrechtsorganisation »augenauf«

71

Wo liegen die Grenzen?

76

Kommunikation Die 24-Stunden-Gesellschaft Gegenseitige Beobachtung Die Rolle der Politik

78 81 82 83

Spezialthemen Hausbesetzungen Der ständige Kampf gegen die Speckis Was passiert in den besetzten Häusern?

85 86 88

Grundsätzlich lassen sich die Hausbesetzer in drei Gruppen unterteilen 89 Wer sind die Hausbesetzer? Das Wohlgroth Reithalle Bern Die linke Subkultur wehrt sich Präventionsgedanke

Der Freiraum Ist Freiraum Allgemeingut? Stadtaufwertung, Ausbeutung und Kommerz

Illegale Partys Eine private Party artet in einen Alkoholexzess aus Clubs und Türsteher Der Umgang mit negativen Schlagzeilen Deeskalation oder durchgreifen?

RTS »Reclaim the Street« Die Dynamik ist wie ein lodernder Vulkan

Aktivitäten der Linksextremen Die Vielschichtigkeit Legitimierung eines anonymen Demonstranten Die Pufferfunktion

90 92 93 94 95

96 96 97

98 100 100 101 102

104 106

107 107 108 108

Der berüchtigte »schwarze Block« Eine RAS-Anfiihrerin über den »Schwarzen Block« Der Linksextremismus wird unterschätzt Merkblätter mit Verhaltensregeln bei Demonstrationen Nachwuchsförderung im Linksextremismus Eine ehemalige Linkextremistin erzählt (anonym) Wie wird agiert? Straßenkampf und seine Themen Globalisierung und Kapitalismus Arbeitskampf Tierschutz

Chaoten Der Anarcho-Kreis in Zürich

# # #

^ ' ^ ^ # ^ ^ ^ • •...I19 J2()

122 125

Es fehlen autonome Räume, so die Ansicht der Revolutionäre 126 Platzaktion »Wir bleiben alle« Autonome Schule Kontroverse in Basel

Rechtsextremismus Schlagzeilen an Fasnacht

Fußballfans und Gewalt Rayonverbote Rechtsanwältin fiir Fananliegen

126 126 127 127

^ •toi

^

Mein persönlicher Umgang mit dem Thema Feindbild Kindheit bis Eintritt Polizei Gefühlswelt in der Militärzeit Fazit

147 149 150

Einstecken als Bediensteter des Staates

150

Alltagssituationen

152

Amoklauf im Bauamt Das Leiden an der Limmat bei der Letten Rollenwechsel Niemand ist schuld Unter Beschuss

Persönliche Präferenzen Sympathie zeigen und abwägen Der surreale Modus Todesangst Neue Wege im Jahr 2020

Vernetzung und Hobby

155 156 157 158 161

162 162 163 165 166

167

Nachwort u n d D a n k

169

D e rAutor

171

Gedichtz u m B u c h

172

Einleitung

Warum schreibe ich dieses Buch? Üble Beschimpfungen und tätliche Angriffe auf Polizisten nehmen zu. In meinen 37 Dienstjahren als Polizist stellte ich fest, dass sich die beiden Fronten, wir nennen sie »Polizei und Gegenseite«, bei Konfliktsituationen in spezifische Verhaltensmuster verstricken. Daraus entstehen Unstimmigkeiten. Die Fronten sind weit voneinander entfernt, so scheint es. Das Buch ist kein »Polizei-Knigge«, sondern will das Verständnis fördern und Gedanken anregen. Warum sich Feindbilder entwickeln, wird ausgiebig analysiert und erörtert. In diesem Kontext sehe ich mich als Mediator und Ratgeber. Eigene Erfahrungen und Schilderungen aus der Gegenseite befeuern die Kluft zwischen Gesetz und Hass. Das Feindbild »All Cops Are Bastards« (ACAB) und das Schlagwort »Scheißbullen« bilden den roten Faden im Buch. Ich resümiere und analysiere die Auswüchse und Anfeindungen. Zwischen der Gegenseite und der Polizei arbeitete ich bis Frühjahr 2020 als eine Art Puffer zwischen den Fronten. Als Fachspezialist geriet ich immer wieder ins Kreuzfeuer

der extremen Linken, von denen die Polizei als Feindbild wahrgenommen wird. Wobei das nicht nur auf die Linken und Freiraumaktivisten zutrifft. Im Buch erfahren Sie, wie vielfältig sich dieses Feindbild manifestiert. Hinter jedem Bullenhasser steht eine individuelle Prägung. Wenn wir diese Prägung besser verstehen, ist - wie ich meine - ein respektvolles Nebeneinander eher möglich. Denn ein Polizist ist ja kein Wesen ohne Gefühle und das Gegenüber per se kein Rüpel. Betrachten wir die Ideologie der Gegenseite genauer. In diesem Buch wird gefragt, wieso vorwiegend Jugendliche gegenüber der Polizei Kontroversen auslösen, und warum häufig Frustration in Aggression überschwappt und die Situationen damit eskalieren. Kann ein besseres Verständnis zu einer allgemeinen Verbesserung beitragen? Wie wird der gesteigerte Frustpegel in Hass verwandelt? Was können wir aus all den Erfahrungen lernen? Diese und mehr Fragen werden uns in diesem Buch beschäftigen und begleiten. Seien Sie gespannt! Dieses Buch wendet sich an alle, die ganze Gesellschaft, seien es Schüler, Lehrlinge, Politiker, Lehrer, Demonstranten oder Polizisten. Gehen wir also gemeinsam auf die Brücke und schauen wir auf die andere Seite. Zu meiner Person Ich wuchs zusammen mit zehn Geschwistern in einfachen Verhältnissen als Sohn eines Bauern im Kanton St. Gallen auf. Nach der Schule wollte ich die Kunstgewerbeschule besuchen. Das war jedoch aus finanziellen Gründen nicht möglich. Daher lernte ich Maler und Tapezierer, da es in diesem

Beruf auch um das Gestalten geht. 1982 legte ich diesen Beruf nieder, um Polizist zu werden. Ich wollte der Gerechtigkeit und dem friedlichen Miteinander dienen. Den Pinsel brauchte ich fortan nur noch für mein Hobby, die Kunstmalerei. Ich begann meinen Polizeidienst bei der Stadtpolizei Zürich. Damit verzichtete ich auf eine militärische Karriere und machte eine zweijährige, anspruchsvolle Ausbildung. Danach folgten zwölf spannende Jahre im Streifendienst. 1996 war eine Stelle beim spezialisierten Sicherheitsdienst (dem ehemaligen, gefurchteten Geheimdienst KK3) ausgeschrieben. Der Übertritt in diese Spezialabteilung, die sich mit politischen Zusammenkünften und gesellschaftlichen Problemen befasst, klappte auf Anhieb. Dort kam ich als Aufklärer und Szenenkenner zum Einsatz. Der Übergang vom Uniform tragenden Streifendienst in den zivil gekleideten Spezialdienst fiel mir anfangs schwer. Es gab weniger »Kundenkontakt«, und wenn, dann mit Leuten, die mit irgendetwas nicht zufrieden waren. Meist ging es um Konflikte mit Migranten und ihre Ursprungsländer oder um ungerechtfertigten Lohnabbau. Dennoch interessierten mich diese Fälle immer mehr. Ich vertiefte mich in die Materie und studierte unzählige organisationsspezifische Elaborate. Oft fragte ich mich, warum sich Menschen versammeln, welche Anliegen sie haben und warum sie sich auf diese Weise artikulieren. Ich spürte zum ersten Mal, wie sehr Menschen Zorn und Hass entwickeln, wenn in ihren Ländern Menschen umgebracht werden oder wenn ein Unternehmen Massenentlassungen ankündigt.

Mein Zugang zum Thema Die Wandlung vom Maler zum Gerechtigkeit suchenden Polizisten stellte für mich einen großen Spagat dar. Es sind doch alles Menschen mit eigenen Biografien und Geschichten, so ging es mir oft durch den Kopf. Vor knapp zehn Jahren schrieb ich eine Diplomarbeit für die höhere Fachprüfung mit dem Thema: Beschaffung von Informationen bei illegalen Veranstaltungen. In vielen Vorträgen, die ich in den letzten 20 Jahren gehalten habe, spürte ich das große Informationsbedürfnis zum Linksextremismus. Mich interessierte aber auch, wieso, was, warum und wo wie passierte, die Gefühle und Emotionen, die dahintersteckten. Nur wer die Gegenseite zu Wort kommen lässt, versteht ihre Anliegen und Bedürfnisse, so sagte ich mir. Diese Arbeit führte mich aus der Landidylle in die hektische Stadt. Die Menschendichte und die Stressgesichter in den Urbanen Gefilden erschreckten mich anfangs. Es gab kein Grüezi oder Hallo, die Menschen marschierten hastig durch die Bahnhofstrasse als wären sie Roboter. Sie zeigten keine Emotionen, entstiegen eilig den Zügen und steuerten gezielt auf die Trambahnen zu. So nahm ich die Menschen damals im Zentrum Zürichs wahr. Und im Laufe der Zeit wurde ich schließlich selbst einer von ihnen, ganz unbewusst! Die ersten Jahre ab 1982 bei der Polizei Zu dieser Zeit gab es noch keine Computer und keine Mobiltelefone. Geschrieben wurde mit der Schreibmaschine auf Durchschlagpapier. Die Kollegen rauchten im Schreib- und

Aufenthaltsraum. In den Nachtdiensten gingen wir von der Hauptwache (City Zürich) zu Fuß in die zugeteilten Reviere durch die Gassen des Zürcher Niederdorfs. Einer hatte einen Funk dabei. »Chönd er mal go luegä, im Johanniter hets e renitentä Gast« (Könntet ihr bitte mal schauen gehen, im Restaurant Johanniter hat es einen renitenten Gast), tönte es von der Einsatzzentrale. »Verstände, mir sind grad i de Nächi« (Verstanden, wir sind gerade in der Nähe), antwortete ich. Der Fall konnte mit dem Wirt und dem Gast vor Ort geschlichtet werden. Auf der Zähringerstrasse säumten ein paar Prostituierte die schwach frequentierte Straße. Ein Betrunkener befummelte eine Dame des ältesten Gewerbes, die sich dagegen wehrte, und damit hatten wir gleich den nächsten Fall zu lösen. Der Mann fauchte uns gehässig an. Das Feindbild existierte schon damals, es war aber nicht so omnipräsent wie heute, glaube ich. Feindbild: ScheißbuUen Wir unterscheiden drei Phänomene des Feindbildes: — Politisch fokussiert: fundamentalistisch ideologisch — Chronischer Frust: persönliche, grundsätzliche Abneigung — Sachbezogener Frust: temporäres Problem, z. B. Strafzettel wegen falschen Parkens Der Hass, respektive das Feindbild, hat eine internationale Prägung. Wenn ein dunkelhäutiger, mutmaßlicher Verbrecher in den Slums der Großstädte von Paris oder New York erschossen wird, entwickeln die sich solidarisierenden Mitmenschen ein kollektives Feindbild gegen die Polizei, selbst wenn die

Umstände nur vom Hörensagen bekannt sind. Das stellt eine gefährliche Spirale dar. Denn beim Einschreiten selbst entstehen neue Hassgefuhle, allein deswegen, weil die Hüter des Gesetzes für Ordnung sorgen sollen. Die angesprochene Spirale kann ohne Detailkenntnisse von der ursprünglichen Tat (angeblicher Übergriff) hochgetrieben werden, vom Hörensagen gewissermaßen. Das ist vor allem deswegen gefährlich, weil damit auch Unwahrheiten geschürt werden. In den USA verbreiten sich Videos über polizeiliche Übergriffe wie ein Flächenbrand. Sie lösen meist unmittelbar heftige Proteste aus. In den Augen der chronischen »Bullenhasser« stecken hinter den Uniformen und Zivilpolizisten keine sensitiven Wesen, sondern befehlsausfuhrende Organe des Staates. Ich weiß nicht, wie hoch der Anteil der Bullenhasser in der Gesamtbevölkerung ist. Nur so viel ist sicher: Er liegt bestimmt nur im einstelligen Prozentbereich, hält sich aber hartnäckig und mutiert ständig durch neue Ereignisse. Ich konstatiere: In der breiten Bevölkerung genießt die Polizei gutes Ansehen. Nicht aber bei den bezeichneten Personenkreisen, zum Beispiel in der linken Subkultur und bei den Hardcore-Fans der Fußballszene. Die ständigen Angriffe auf die Polizei und die zum Teil brachialen Auseinandersetzungen unter den Fußballfans sind gewissermaßen ein Gegenpol zum Gesamttrend. Auf diese Weise pervertiert, was im Großen gut läuft, denn die Jugend ist pragmatischer und vernünftiger als noch vor drei Jahrzehnten. Trotzdem kam es in Zürich im heißen Sommer 2018 immer wieder zu Angriffen auf die Ordnungshüter. Zum Beispiel musste die Stadtpolizei am 19. Au-

gust 2018 wegen einer Messerstecherei an die Seepromenade ausrücken. Als die Rettungskräfte dort ankamen, wurden sie sofort angegriffen. Unter den Angreifern waren mutmaßlich auch FC-Zürich-Fans aus der Südkurve, die mit Steinen und Flaschen warfen. Die Polizei musste Reizstoff und Gummischrot einsetzen, damit die Verletzten versorgt werden konnten. Auch die Sanitäter wurden skrupellos angegriffen! Solche Szenarien kommen leider immer wieder vor: Jugendliche, erlebnisorientierte und alkoholisierte Personen provozieren aus Langeweile Polizisten. Die Situation eskaliert, weil die von Adrenalin strotzenden jungen Leute den Verstand ausschalten und dabei einen aggressiven Solidarisierungseffekt auslösen. Die Polizei ist dann gezwungen, klare Schranken zu setzen und Gummischrot einzusetzen. Das wiederum fuhrt zu einem gesteigerten Feindbild, das immer mehr Menschen anzieht. Die Konfliktbaustelle wird auf diese Weise größer und größer, was die Arbeit der Sicherheitskräfte nicht unbedingt erleichtert. Nur mit viel Geduld und Ruhe können solche Situationen bewältigt werden. Im beschriebenen Fall eskalierte das Geschehen nicht wegen falschen Parkens oder der Verhaftung eines Drogendealers, sondern wegen der besonders aggressiven Fußballfans. Beispiele und Ausprägungen Erstes Beispiel: Warum die Gegenseite Hassgeßihle entwickelt Ein Extrazug mit etwa 650 Fußballfans fährt von Basel nach Zürich. Mehr als die Hälfte sind keine »Risikofans«, sind also

nicht gewaltorientiert oder gewaltbereit. Laut Zeugenaussagen wollte ein Teil mit ordentlichen Zügen reisen, wurde aber am Abfahrtsort angewiesen, den bereitgestellten Extrazug zu nehmen. Somit saßen auch gesittete und friedliche Fußballfans im Zug. Unterwegs wird dann gesungen und getrunken, die Stimmung lockert sich immer mehr auf. Nichtsahnend werden die angereisten Fans in Zürich von einer riesigen Abteilung der Polizei in Vollmontur empfangen. Der Normalfan realisiert dies erst, wenn der Zug hält. »Wieso stehen die Bullen da«, fragt er einen Kollegen. »Wahrscheinlich wegen uns«, bekommt er zur Antwort. Der Puls des Normalo steigt an, und er bekommt ein ungutes Gefühl. Folglich werden alle aussortiert und kontrolliert. Ober 400 Personen werden vorübergehend festgenommen. Das fuhrt zu einem kollektiven Frust, auch unter den friedlich gestimmten Fans. Man entwickelt eine massive Antipathie gegen die Bullen. Die Fans empfanden die Kontrollen als reine Schikane und fühlten sich vorverurteilt und kriminalisiert. Und die Fans aus Basel warfen der Polizei eine unverhältnismäßige Verhaftungsaktion vor, mit der die Rechtsstaatlichkeit nicht gewahrt wurde und die schlicht eine Falle gewesen sei. Viele Fans verpassten das Match, weil sie erst Stunden später wieder freikamen. Eine Person blieb wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte in Haft. Die Polizei setzte damit ein Zeichen und das Feindbild verstärkte sich noch.

Zweites Beispiel: Party Freiraum liebende Jugendliche mit kleinen Budgets treffen sich spontan zu einer Party auf offenem Gelände in der Stadt. Sie nehmen eine Musikanlage in Betrieb, die sie mitgebracht haben, und trinken sich in Fesdaune. Viele der Beteiligten klagen darüber, dass die Clubs in der Stadt zu hohe Eintritts- und Getränkepreise verlangen. Daher suchen sie nach alternativen Partymöglichkeiten. Die Szene setzt sich nicht unbedingt aus Linksextremisten zusammen. Sie will partout keinen Stress mit den Bullen, sondern einfach nur eine geile Party abhalten, sei es am Letten oder unter der Brunau-Brücke (in Zürich). Eine erste Polizeipatrouille erscheint aufgrund einer Beschwerde der Anlieger wegen Lärms. Die Situation wird heikel, weil die Jugendlichen sich an diesem schönen Sommerabend nicht vertreiben lassen wollen. Schließlich gehöre die Stadt allen, wie sie argumentieren. Je nach Verhalten und Vorgehensweise beider Seiten besteht die Gefahr, dass die Situation eskaliert, was aber nicht sein muss. Ob das Ventil platzt, hängt letztendlich davon ab, wie die beiden Seiten reagieren. Darum rebellieren die Jugendlichen Den Aktivisten wird der Freiraum genommen, was dazu fuhrt, dass sowohl die politisch engagierten als auch die apolitischen Jugendlichen das herrschende kapitalistische System hinterfragen. Die Sehnsucht, frei zu sein und sich gehen zu lassen, zeigte sich eindrücklich bei der 68er-Generation. Die jungen Leute brauchen solchen Freiraum auch, und das sind ihre Partys.

In Zürich entwickelte sich ab 2010 die sogenannte erleb nisorientierte Unke Subkultur*, an der sich Hausbesetzer, kreati ve Eventsprayer, Autonome» Punker und freie Schüler/St», denten sowie Einzelpersonen aus der Zürcher Südkurve des FC Zürich beteiligten. Dieser Personenmix (im Alter zwj. sehen 18 und 28 Jahren) war es auch, der die gefiirchteten RTS (6. Februar 2010/12. Dezember 2014) veranstalteten. Ferner wurden unangemeldete, illegale Schülerdemonstrationen und Solidaritätsmärsche für Flüchtlinge (»Refuges welcome«) sowie unerlaubte Partys abgehalten. Globus-Krawalle und Jugendunruhen Ursprung der Jugendunruhen sind die Jahre 1967 und 1968. Das Gastspiel der Rolling Stones am 14. April 1967 und das Konzert von Jimi Hendrix am 31. Mai 1968 im Hallenstadion endeten mit Krawallen, bei denen die Stadtpolizei Zürich eingreifen musste. Manch bürgerlicher Politiker spekulierte, dass die Bewegung vom kommunistischen Ostblock gesteuert werde und man sie darum im Keim ersticken müsse. Bilder von Krawallen in England, den USA, Deutschland und Frankreich gingen um die ganze Welt. Sie zeigten Gummiknüppel schwingende und Helm tragende Polizisten, wie sie den Demonstranten entgegentraten und wie diese mit Steinen und Flaschen warfen. Am 30. Oktober 1970 wurde in den Anlagen des neuerstellten Parkhauses Urania der sogenannte Bunker eröffnet. Die Stadt stellte der autonomen Szene Räumlichkeiten im Zi-

vilschutzbunker zur Verfugung. Damals befand sich am Eingang des Bunkers ein Schild mit der Aufschrift: »Sie verlassen die Schweiz und betreten den »Autonomen Republik Bunkern« Eine alte Wandmalerei der Besetzer wurde restauriert, die illustre Gestalten zeigt. Manche meinen, dass es sich beim Dritten von links um Altbundesrat Moritz Leuenberger handle. Wegen Unstimmigkeiten mit der Stadt wurde der Bunker nach nur 68 Tagen wieder geschlossen. Dadurch kam es erneut zu Krawallen. Die Besetzung des Bunkers war ein Symbol der damaligen Bewegung. Allerdings gab es auch Differenzen zwischen den Behörden und den Besetzern. Am 22. Dezember 1970 find eine polizeiliche Kontrolle statt, bei der 115 Jungen und 30 Mädchen kontrolliert wurden, wie es in der Chronik heißt. Einige Linksaktivisten verließen den Ort aber nicht freiwillig. Bei einer Versammlung mit dem Stadtrat im Volkshaus konnte keine Einigung erzielt werden. Die autonome Zürcher Jugend stemmte sich gegen die Beschlüsse. Und so wurde am 6. Januar 1971 der Bunker endgültig geräumt. Übrigens ist der Bunker heute ein Polizeimuseum. Die Wandmalereien und die Geschichte dazu können in den Räumlichkeiten des Parkhauses Urania besichtigt werden. 1980 forderte die Jugend mehr Selbstbestimmung und Freiraum. Vor dem Opernhaus kam es zu Straßenschlachten. Denn im Mai 1980 bewilligte der Zürcher Stadtrat 60 Millionen Franken für die Renovierung des Opernhauses. Gleichzeitig wurde die Forderungen nach einem autonomen Jugendzentrum (AJZ) für selbstbestimmte kulturelle Aktivitäten abgelehnt. Die Polizei musste wieder eingreifen, da die

penible bürgerliche Ordnung den Protesten keinen Raum geben wollte, und so entwickelte sich erneut ein kollektives Feindbild. Die linke Jugend sucht immer wieder nach Freiraum. So entrollte sie am 16. Oktober 2018 vor dem Coop-Provisorium beim Hauptbahnhof ein großes Transparent, auf dem »Dieser Ort kann mehr! Jugendzentrum her!« stand. Andere Aktivisten der Zürcher Jungsozialisten verteilten vor dem Eingang des Ladens Flyer an die Passanten.

Die Polizei als Feind

ACAB: All Cops Are Bastards! Wenn ich ehrlich bin, dann habe ich mich jahrelang mit diesem Thema nicht auseinandergesetzt, schon gar nicht mit der Bezeichnung ACAB. Ich nahm die Abkürzung lange nicht zur Kenntnis und hatte auch keine Affinität dazu. Erst seit einigen Jahren schenke ich diesem Thema vermehrt Aufmerksamkeit. Man sieht die respektlose Bezeichnung ACAB auf Arme tätowiert, sie steht auf T-Shirts und sie ist auf Fassaden gesprüht. Was veranlasst einen Menschen dazu, so etwas zu machen? Die Polizeihasser sind nicht nur politisch links- oder rechtsextrem. Das zeigt exemplarisch ein Fall bei der Bachelorausgabe 2018 auf dem TV-Sender 3plus. Dem aufmerksamen Betrachter fiel auf, dass die Kandidatin Mia die Zahl 1312 (1 = A, 3 = C, 1 = A, 2 = B) auf den Hals tätowiert hatte. Die Verhaftung ihrer Mutter war, als Mia klein war, ein traumatisches Ereignis, das sie bis heute belastet. Oder anderes Beispiel: Auf einer Demonstration zelebriert ein Clown den vierstelligen Zahlencode als eine Art Puffer.

Oder Personen, welche die Hardcorevariante wählen sich den Code direkt auf den Körper tätowieren lassen. Man findet die Buchstaben auf riesigen Transparenten in Fußball Stadien, als Aufkleber oder auf Fassaden gesprüht. Diese Abkürzung und ihre Bedeutung wird von der breiten Öffentlichkeit überhaupt nicht richtig wahrgenommen. Sit tauchte erstmals in den 1970er- und 1980er-Jahren in Großbritannien in der Jugendsubkultur auf. Damals wurden öffentliche Gebäude damit besprüht. Das Schlagwort All Cop Are Bastards wurde in den 1980er-Jahren erstmals von der britischen Oi!-Band, The 4-Skins in einem Songtext verwendet. Das Lied beschäftigte sich thematisch mit der Wut und der Abneigung gegenüber der Polizei. Die Kultband galt in einschlägigen Kreisen als Erfinder des Akronyms. Die Punkrockband Slime verwendete das Buchstabenwort in ihrem gleichnamigen Song. Auch rechtsextreme Bands bedienten sich des Kürzels in Songtexten. Darüber hinaus wird es in der Punkszene, die die Polizei auch hasst, verwendet. Die Vielfalt der Anwendungen ist riesig. Auf einer Seite im Internet entdeckte ich eine Unmenge Abbildungen in verrückten Variationen: Polizisten als Karikaturen aller Gattungen, tätowiert, als Schwein mit einem Prügel im After, mit einem Messer im Kopf oder als Schlag mit einem Prügel auf die Uniformmütze. Fast alle Körperteile werden mit dem Akronym versehen. Erstaunt stellte ich zum Beispiel im Februar 2019 fest, dass beim Online-Anbieter Amazon verschiedenfarbige Shirts mit diesem Kürzel erworben werden können. Die Shirts wurden aber nach Beschwerden wieder aus dem Sortiment genommen. Auf der

webseite Truetrebel stehen die vier Buchstaben neben der Abkürzung FCK NZS> was durch die weggelassenen Vokale »Fuck Nazis« bedeutet. In Deutschland gibt es Autokennzeichen mit dem Buchstabenwort, ferner findet man es auf einschlägigen Plattformen. Die Betreiber und Besitzer verstehen oftmals gar nicht, dass es sich um eine Diskriminierung handelt. Bewusst sind ihnen eher Würfel mit den Zahlen 1312y die als Schlagring ins Netz gestellt werden. Mit dem Titel ACAB gibt es vom italienischen Regisseur Stefano Sollma sogar einen Film aus dem Jahr 2012, in dem es um das kontrovers geführte Thema zu Gewalt und Gegengewalt geht. Der Film nimmt für keine Seite Partei, konstatiert aber Korruption auf beiden Seiten und lässt keinen Raum für Helden. Ich habe mich wiederholt gefragt, ob eine solche Abkürzung nicht strafbar ist. Im Grunde genommen nicht, denn die bloße Verwendung des Akronyms ist kein Straftatbestand, sie wird erst zur Straftat, wenn ein Polizist damit gezielt beschimpft wird. Das kann dann durchaus ein Strafverfahren zur Folge haben. In der breiten Bevölkerung ist der Begriff eher unbekannt. Das zeigt eine Geschenkaktion der Freiburger Kantonalbank (Schweiz) im November 2018. Zur Kontoeröffnung zierte die Abkürzung ACAB unter anderem ein Werbe-Portemonnaie. Diese Peinlichkeit wurde erst nach dem Versand bemerkt und das Produkt wurde aus dem Verkauf gezogen. Im Internet fand ich ein Tattoo mit Großbuchstaben auf einen Hintern gestochen. Das Akronym gibt es auch mit ei-

nem Totenkopf kombiniert als Sticker. Spannend ist dabei de Bezug zu Standardgetränken, zum Beispiel bei der Aussage »Acht Cola, Acht Bier«, die häufig mit »8 ColaBier« abge„ kürzt wird. Seit über zehn Jahren gilt der 13.12. international als nichtamtlicher Feiertag unter den unterschiedlichen j4G4Z?-Anhängern. Beispielsweise finden in Griechenland England, Italien oder Deutschland an diesem Tag alljährlich viele Veranstaltungen statt, wozu auch Demonstrationen oder Fußballspiele gehören. Am 13.12.2014 fand in Gelsenkirchen ein Fußballspiel statt, das von den Ultras und Hooligans der All-Cops-Are-Bastards-Gruppierungen zum Feiern und Demonstrieren angekündigt worden war. An diesem Tag spielte der 1. FC Köln gegen Schalke 04. Das Polizeiaufgebot in und um das Stadion war enorm. Zu den befürchteten Ausschreitungen zwischen den beiden Fußballclubs kam es Gott sei Dank allerdings nicht. Das Buchstabenwort ACAB gehört auch im Knast zu den Top 13 der allgemein am liebsten verwendeten Bezeichnungen und Wörter. Die meisten Strafgefangenen sind irgendwo tätowiert. Die Bedeutung der Symbole verrät daher einiges über die Person. Wenn einer noch lange zu sitzen hat, finden wir häufig eine Uhr ohne Zeiger oder das Bild von einem Dolch, der durch den Hals gestoßen ist, was bedeutet, dass sein Träger jemanden in der Haftanstalt umgebracht hat. Sterne auf den Schultern deuten auf eine Karriere als hochrangiger Berufsverbrecher hin. Einige stechen sich die Tattoos selbst, häufig mit sehr primitiven Mitteln. Der Prisonstyle erfreut sich auch außerhalb der Haftanstalten steigender Be-

liebtheit. Unter dem Hashtag tfbeautifiilcops fand ich im Internet als Gegenpol dazu die nette Version: All CopsAre Beautifiik die jedoch bei den Polizisten eher unbekannt ist und auch deutlich weniger Follower aufweist. Frust-Multiplikatoren Oft wird die innere Einstellung mit Alkohol oder Drogen gedopt und negativ beeinflusst. Die mentale Konstellation gerät in die Schräglage. Folglich braucht es mehrere Bausteine, damit die Lawine ins Rollen kommt. Wir können sie auch Attribute nennen. Einflussfaktoren sind: — Die eigene aktuelle Stimmung und innere Einstellung — Die subjektive Wahrnehmung der Situation — Die äußeren negativen Beeinflussungen, die das Feindbild verstärken. Interview mit einem Polizeihasser Person M gehört dem rechtsextremen Segment an. Für ihn stellt die Polizei ein Feindbild dar. Rechtsextremes Gedankengut ist für ihn normal, weswegen er auch Mitglied der NPD (Nationaldemokratische Partei Deutschlands) wurde. Jahrelang trug er in der Freizeit ein entsprechendes Outfit mit Stiefeln und Bomberjacke. Ich verabredete mich mit ihm an einem schönen Spätwintertag in Zürich. Er erschien bei nur 6 °C in einem schwarzen T-Shirt, auf dem in weißen Buchstaben »Böse Buben Club« über einem Totenkopfemblem stand. Ich wollte wissen, welche Gründe ihn, einen kräftigen Mann, dazu brachten, die Polizei zu hassen.

azu stellte ich M folgende Fragen: . Widmer (AW): Welches Ereignis hat dich geprägt? t: Ich wuchs in Deutschland auf und wohnte damals als 19-Jähriger in Niedersachsen. An einem Tag parkte ich mein Auto in der Stadt Goslar in der Nähe einer Parkanlage. Als ich wieder wegfahren wollte, kamen Zivilpolizisten auf mich zu und forderten mich auf, ihnen bis zum Polizeiposten nachzufahren. Dort angekommen, fragte ich nach dem Grund. Die Beamten reagierten genervt und sagten, es sei einfach eine Kontrolle. Basta!, antwortete der eine forsch! Dann riss mir ein Beamter mein Handy aus der Hand und erklärte: »Das brauchst du jetzt nicht.« Ich sagte, ich sei doch kein Schwerverbrecher und habe nichts angestellt und was denn das Ganze soll? Da schubste mich ein Beamter plötzlich, sodass ich die Treppe hinunterstürzte. Ich raffte mich auf und äußerte nachdrücklich meinen Unmut. Daraufhin wurde ich 3 Vi Stunden in eine Zelle gesteckt. Ich hatte keine Chance, einen Anwalt anzurufen, und auch die Rechtsgrundlage wurde mir nicht erklärt. Weil ich dringend aufs WC musste, klopfte ich mehrmals an die Tür und sagte, dass ich auf die Toilette müsste. Doch das wurde einfach ignoriert. Kurz bevor ich in die Hose machte, kam dann ein Kripobeamter und erlöste mich. Der Beamte wollte wissen, warum ich so viele Schlüssel bei mir hätte. Als Stromer hatte ich diverse Schaltschrankschlüssel am Bund. Mein Handy, das sich in meinen Sachen befand, klingelte. Der Beamte nahm den Anruf selbst entgegen. Meine Eltern waren am Telefon. Sie machten

Dazu stellte ich M folgende Fragen: A. Widmer (AW): Welches Ereignis hat dich geprägt? M: Ich wuchs in Deutschland auf und wohnte damals als 19-Jähriger in Niedersachsen. An einem Tag parkte ich mein Auto in der Stadt Goslar in der Nähe einer Parkanlage. Als ich wieder wegfahren wollte, kamen Zivilpolizisten auf mich zu und forderten mich auf, ihnen bis zum Polizeiposten nachzufahren. Dort angekommen, fragte ich nach dem Grund. Die Beamten reagierten genervt und sagten, es sei einfach eine Kontrolle. Basta!, antwortete der eine forsch! Dann riss mir ein Beamter mein Handy aus der Hand und erklärte: »Das brauchst du jetzt nicht.« Ich sagte, ich sei doch kein Schwerverbrecher und habe nichts angestellt und was denn das Ganze soll? Da schubste mich ein Beamter plötzlich, sodass ich die Treppe hinunterstürzte. Ich raffte mich auf und äußerte nachdrücklich meinen Unmut. Daraufhin wurde ich 3 Vi Stunden in eine Zelle gesteckt. Ich hatte keine Chance, einen Anwalt anzurufen, und auch die Rechtsgrundlage wurde mir nicht erklärt. Weil ich dringend aufs WC musste, klopfte ich mehrmals an die Tür und sagte, dass ich auf die Toilette müsste. Doch das wurde einfach ignoriert. Kurz bevor ich in die Hose machte, kam dann ein Kripobeamter und erlöste mich. Der Beamte wollte wissen, warum ich so viele Schlüssel bei mir hätte. Als Stromer hatte ich diverse Schaltschrankschlüssel am Bund. Mein Handy, das sich in meinen Sachen befand, klingelte. Der Beamte nahm den Anruf selbst entgegen. Meine Eltern waren am Telefon. Sie machten

sich Sorgen. Endlich gab man mir das Handy und den Hosengurt zurück, und ich konnte wieder gehen. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um einen Irrtum. Ein Mann in besagtem Park wollte sich mit einem giftigen Getränk das Leben nehmen. Die Polizei verwechselte mich

mit ihm, wodurch es zu diesem Verdacht kam. Auf meine schriftliche Beschwerde bekam ich nie eine Antwort. AW: Haben Sie heute immer noch Hassgefühle? M: Ja, weil die Polizei immer wieder willkürlich handelt und mich wegen meinem äußeren Erscheinungsbild kontrolliert oder an meines Erachtens falschen Orten Radarkontrollen durchfuhrt, nur um Kasse zu machen. AW: Welches Shirt tragen sie öfter, das mit den »Böse Buben« oder das mit dem Kürzel »ACAB«? M: Das Böse-Buben-Club-Shirt, das ich auch heute trage. Ab und zu trage ich auch das ACAB-Shirt. Ich möchte festhalten, dass ich nicht pauschal gegen alle Polizisten bin. Es gibt auch gute Ordnungshüter. AW: Sie haben verschiedene Tattoos, die ihren Groll gegen den Staat verdeutlichen, oder wie würden Sie das bezeichnen? M: Es handelt sich um meine Auffassung von Unbeugsamkeit, Gerechtigkeit und Unabhängigkeit. AW: Was nervt Sie am meisten? M: Ungerechtigkeit und Bußgeldabzocke. Außerdem das Gefühl vieler Polizisten, dass sie über alles erhaben und etwas Besseres sind. Die Polizei sollte ihrer Rolle als Freund und Helfer gerecht werden und für die Bürger da sein.

Im Verlauf des Gesprächs spüre ich, dass M die Ungerech^ keit auf der Welt zu Herzen geht. Auf der Straße einem Kin(j spontan über die Straße zu helfen oder einem älteren Menschen Hilfe anzubieten, sei für ihn selbstverständlich. Päd0. phile und Vergewaltiger würde er in die Wüste schicken. Er ist Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr in seinem Wohnort, einer Zürcher Gemeinde, und neben seinem Hauptberuf als gelernter Elektriker arbeitet er sporadisch bei einem Sicherheitsdienst. M ist verheiratet und hat einen kleinen Sohn, ein älterer, unehelicher Sohn lebt in Deutschland. Treffen mit einem A CAB- Tätowierten Ich hatte mir im Vorfeld des Treffens lange überlegt, wie ich auf eine solche Person zugehen könnte. Ich nahm dazu nicht die amdichen Ressourcen zu Hilfe, sondern versuchte es mit Suchbegriffen auf Internetplattformen. Ein riesiger Dschungel voller Bilder und Links kam dabei zum Vorschein. Ich schrieb an verschiedene Tattoo-Studios und fragte, ob sie auch das Kürzel ACAB stechen. Die Antworten waren immer dieselben: »Nein, das machen wir nicht!« Schließlich fand ich einen Bericht über ein Tattoo-Studio mit dem Namen ACAB in Basel. Der ehemalige Inhaber Romeo erklärte sich bereit, mit mir über seine Person zu reden. So reiste ich an einem Samstagmittag nach Basel, wo ich noch nie zuvor in meinem Leben gewesen war. Ich parkte mein Auto in einem nahegelegenen Parkhaus und machte mich auf den Weg zum Treffpunkt, als sich mir eine junge Dame in den Weg stellte und mich fragte, ob ich Zeit hätte. »Für

Sie nicht!«, erwiderte ich etwas ungehalten. So schritt ich weiter Richtung Webergasse, die laut Handynavigation nicht mehr weit sein konnte, als mich eine zweite Prostituierte anquatschte. »Kein Interesse und keine Zeit!«, gab ich schroff zurück. Schließlich fand ich pünktlich den vereinbarten Treffpunkt. Ehrlich gesagt, wusste ich nicht, dass das Restaurant, in dem wir uns verabredet hatten, im Kleinbasler Rotlichtmilieu liegt. Romeo saß bereits in der vorfasnachtlich dekorierten u

Kneipe am Stammtisch. Am Tisch saß auch ein gelernter Eisenleger, ein skurriler, volltätowierter, aber sehr gesprächiger Typ. Romeo reichte mir seine kräftige Hand und begrüßte mich freundlich. Er zeigte mir sein Tattoo mit den Buchstaben ACAB auf der linken Hand, das auf die vier Finger verteilt, gut lesbar war. Romeo betrieb von 2014 bis 2018 nur 50 Meter vom Restaurant entfernt ein Tattoo-Studio, bei dem mit großen Buchstaben ACAB auf dem Schaufenster stand. Diesen Schriftzug passte er später bewusst an. Die bunte Version hieß ausgeschrieben »All Colors Are Beautiful«. Wer nun annimmt, Romeo hätte nur einschlägige Kunden gehabt, der irrt sich. Es seien nur zwei bis drei gewesen, die solche Wünsche hatten, erzählt er schmunzelnd. Seine Tattoo-Kunst zelebriert er in schönen Schriftzügen und feinen Zeichnungen aller Art, was die Kunden halt so wünschen. Lange habe er auf den Laden gespart, um sich seinen Traum erfüllen zu können. Nach einem Wasserschaden konnte er die Renovierung nicht mehr finanzieren, und so musste er den Laden schließen.

Der Laden lief recht gut. Aber es gab immer wieder Ereig. nisse, die für Unruhe sorgten. So wurden seine SchaufensterScheiben und die des benachbarten Ladens mehrmals eingeschlagen, Die Polizei ermittelte gegen Unbekannt. In einem anderen Fall berichteten die Medien über eine Schießerei in der Webergasse. Was war geschehen? Offenbar sollte eine Aussprache stattfinden. Die Situation eskalierte. Drei Männer griffen den Besitzer des Tattoo-Studios an, wobei sie einen Holzstock einsetzten. Am Boden liegend versuchte Romeo, sie mit Pfefferspray abzuwehren. Daraufhin verließen die Täter den Laden, kamen aber kurze Zeit später zurück. In der Zwischenzeit hatte Romeo seine Schrotflinte geholt, die er mit Gummischrot geladen hatte. Er schoss einem der Angreifer auf der Straße in den Rücken. Der Verletzte wurde ins Spital gebracht. Die Polizei stürmte mit gezogenen Waffen den Laden und verhaftete Romeo sowie die Angreifer. Nach der Untersuchungshaft kamen alle Beteiligten wieder frei. Romeo wuchs ab dem siebten Lebensjahr in einem Heim auf, wie er nachdenklich erzählte. Auch sein einziger Bruder war in einem Heim, allerdings an einem anderen Ort. Die Mutter stufte ihn als unerziehbar ein und steckte ihn darum ins Heim. Den Kontakt zu ihm hat sie abgebrochen. Romeo wurde ein »schwerer Junge«, der sich nicht immer an die Gesetze hielt. Mit 15 Jahren verließ er das Heim und lebte auf der Gasse in der Schweiz. Er gehörte allerdings zu keiner speziellen Gruppierung und fühlte sich auch zu keiner hingezogen. Damals »hani halt gmischlet und gschlegeret« (Damals habe ich halt Drogen weiterverkauft und mich an Schlägereien beteiligt), bemerkte er.

Grund, warum er sich zu ACAB bekannte, war eine 5 Vi Monate dauernde Untersuchungshaft, weil er m i t Haschisch gehandelt hatte. Mit schweren Drogen habe er nie ^edealt, behauptet er. Im Knast wird oft mithilfe von Gitarrenseiten und Zahnbürsten tätowiert. Wie das genau funktionierte, wollte ich gar nicht wissen. Ob sich sein Feindbild in Zukunft verändern werde, fragte ich ihn. Grundsätzlich nein, meinte er. Die Zivilpolizisten akzeptiert er, weil sie achtungsvoll mit ihm umgehen. Aber geoen die uniformierte Polizei hegt er noch immer einen Groll. Für die Fasnacht 2019 modellierte Romeo Masken. Er bastelte auch ein beleuchtetes Sujet. Romeo bleibt ein Ur-Kleinbasler-Bueb, eben ein »glaibasler-Gasse-Bueb« (Kleinbasier Gassen-Knabe). Damit identifiziert er sich. Festhalten möchte er noch, dass er weder REX (rechtsextrem, von Rechtsextremismus) noch LEX (linksextrem, von Linksextremismus) sei. Er habe sich stabilisiert, er wolle auch nicht von der Sozialhilfe leben, sondern sich selbst durchschlagen können. Oer eigentliche

Racial Profiling Racial Profiling oder deutsch Rassenprofilierung genannt, ist in Bezug auf Polizeikontrollen eine Methode, mit der gegen äußere Merkmale und alle Formen diskriminierender Personen- und Fahrzeugkontrollen einem ethnischen oder religiösen Hintergrund nachgegangen wird. Dabei geht es auch um die Frage, ob Polizisten bei Kontrollen unbefangen und ohne Vorurteile handeln. Wie steht es mit der andersartigen Wahrnehmung? Meines Erachtens ist das Verhalten selbst und

nicht die Hautfarbe ausschlaggebend. Die allermeisten p0|j zisten, die ich kenne, leben diese Haltung. Die Gegenseite prangert abweichendes Verhalten an und vermarktet es rigoros in den Medien. Das Abwägen, ob das der Wahrheit entspricht oder gerecht ist, wird der Leserschaft überlassen. Jedenfalls entstehen so falsche Eindrücke, die sich zu einem Feindbild entwickeln können. Die Stadtpolizei Zürich setzte seit Januar 2018 eine App ein, mit der die Fakten zu einer Kontrolle erfasst werden können. Damit soll dem Vorurteil begegnet werden, wonach die Polizei vorwiegend dunkelhäutige oder Nordafrikaner kontrolliere. Denn nochmals, nicht die Hautfarbe ist ausschlaggebend, sondern das Verhalten der jeweiligen Person, wie ich meine. Es bleibt uns nicht viel Zeit für Überlegungen. Die Kontrollen werden aufgrund fundierter Ausbildung durchgeführt. Sicher gibt es vereinzelt auch emotional gesteuerte Aktionen von Seiten der Polizei, die meistens dem Übereifer der betroffenen Beamten zuzuschreiben sind. Allerdings wird die Polizei in der Praxis immer wieder angefeindet, vor allem dann, wenn sie zum Beispiel an einem lauen Sommerabend an einer Seepromenade ausländische Gruppierungen kontrolliert. Meist geschieht das, weil Anwohner oder Nachbarn wegen Lärmbelästigung die Polizei rufen. »Was machen die da?«, wird dann gefragt, oder ein alkoholisierter Mann schreit: »Verpisst euch!« In solchen Situationen entwickelt sich dann ein Feindbild, das sich nur durch besonnenes Einschreiten der Polizei entschärfen lässt.

Welche Gründe fuhren zu einer Eskalationf Die grundsätzlich friedliche Stimmung rutscht durch ein unmittelbares Ereignis — oft genügt schon das Martinshorn — in eine schwierige Situation. Das heißt im Klartext: Eine einzige Person, die die Beherrschung verliert und eine Flasche wirft, löst unter Umständen einen Einsatz mit Gummischrot aus. Wird der Übeltäter getroffen, kommt es sofort zu einer Art Solidarisierungseffekt der meist unbeteiligten Menschen, die gerade zufallig anwesend sind oder die den Vorgang beobachten, ohne die genaue Ursache zu kennen. Viele, die mit dem Vorfall nichts zu tun haben, werden mit Adrenalin durchflutet und richten ihre Aggression unvermittelt gegen die Einsatzkräfte. Die Szenerie gerät außer Kontrolle und wird chaotisch. Vor allem in der Nacht gelingt es den Einsatzkräften oft nur schwer, sich einen Überblick zu verschaffen und die wahren Übeltäter dingfest zu machen. Laut dem deutschen Soziologen Gunter A. Pilz produziert Gewalt Gegengewalt und Repression bringt die Menschen gegen die Polizei auf. Diese These kann ich nur bestätigen. Es ist eine nicht enden wollende Spirale gegenseitiger Reaktionen. Wir müssen akzeptieren, dass jeder Mensch anders ist und die Reaktionen unterschiedlich ausfallen. Zu einer Eskalation kann es auch zufällig kommen, sie muss gar nicht bewusst provoziert worden sein. Auf der anderen Seite sind die als erste am Tatort eintreffenden Polizisten enorm gefordert. Meistens ist schnelles Handeln oder auch Rückzug gefordert. Schnelles Handeln kann gesundheitlich gefahrlich sein, ein Rückzug die illegale Aktion befruchten oder sogar ausweiten.

Weil die Polizei angeblich zu wenig gegen Rassismus unternimmt, werden antirassistische Aktionen gegründet, wi e zum Beispiel im Mai 2018 die People of Color. Sie organisieren sich selbst, setzen sich für die Rechte der Menschen ein und gehen gegen Rassismus vor. Das kommt meines Erachtens häufig in die Nähe von Selbstjustiz. Auf jeden Fall ist das eine heikle Angelegenheit. Die Gefahren solcher Vergeltungsaktionen bergen ein hohes Risiko und sind daher abzulehnen. Gewalt gegen Beamte Polizistinnen und Polizisten werden bei ihrer Arbeit häufig Opfer von Gewalt und Drohungen. Egal, ob gewalttätige Demonstranten, Hooligans, Kriminelle, betrunkene Randalierer oder einfach nur böswillige Menschen: immer öfter landen Polizisten nach einem Einsatz im Krankenhaus. Es muss nicht sein, dass die Exzesse schlimmer werden, wie verschiedene Medien und Politiker behaupten. Der schweizerische Polizeiverband fordert seit Jahren von der Politik eine härtere Bestrafung von Gewalttätern. Entscheidend ist dabei ein fundiertes, gerechtes Urteil. Übertreibungen bei der Darstellung von Ereignissen sind kein guter Ratgeber. Hier hilft nur, sie so zu beschreiben, wie sie wirklich stattgefunden haben. Geschieht das nicht, wird nur Hass geschürt u n d das Feindbild gestärkt. Es ist angebracht, sich die Frage zu stellen, ob es nicht gerade die Menschen trifft, die in der Pflege, in der Versorgung alter und gebrechlicher Menschen, in der Sicherheit, bei der Polizei etc. arbeiten und dabei tagtäglich echte, wichtige und

nachhaltige Arbeit zugunsten der gesamten Gemeinschaft leisten. Gerade sie werden von Betrunkenen oder von Leuten, die sich in Feierlaune befinden, angepöbelt und angegriffen. Oft werden den Angegriffenen gut gemeinte Auflagen oder Begleitveranstaltungen angeboten, die aber nicht wirklich motivierend sind. Die Folge ist häufig eine überdurchschnittliche Fluktuation oder längere krankheitsbedingte Ausfälle. Es lohnt sich, über diesen komplexen Zusammenhang einmal nachzudenken. »Du Drecksau«, »Scheißbulle«, »Verpiss dich« oder »Hau ab, Dreckszivilist!« wird den Polizisten oft entgegengeschleudert, dazu zeigt man ihnen den Stinkefinger oder macht einen Handy-Schnappschuss für die Hassgalerie. Solche Beschimpfungen oder Ehrverletzungen sind in Ballungszentren Alltag. Die Menschen begegnen sich auf der Straße. Auf der einen Seite stehen Demonstranten, auf der anderen Polizisten. Als junger Polizist ist man darüber oft verblüfft und schockiert und hofft, dass es zu keiner Reaktion kommt. Danach werden solche Ereignisse zur Gewohnheit, gerade im Bereich von Extremismus oder politisch motiviertem Protest. Es kommt sogar zu gezielten Steinwürfen oder Knallpetarden. Diese letztendlich feigen Argumente machen eine normale Kommunikation unmöglich. Hier zeigt sich das Feindbild am deutlichsten. Ich wurde selbst häufig als Scheißbulle bezeichnet. Was löste das in mir aus? In meiner Funktion als Polizist sind breit« Schultern gefragt und eine gewisse Belastbarkeit. Durchgreifen bedeutet Zwang, was wiederum meistens zu kreativer

Sprüchen fuhrt. Wer die Macht oder besser die Befitgnis hat, sollte auch etwas vertragen können, wie ich meine. Wenn der Beamte jede Lappalie anzeigen würde, wären die Gerichte völlig überlastet. Klare, gezielte und hinterlistige Taten und Angriffe, die Leib und Leben gefährden, müssen allerdings konsequent geahndet werden. Ich habe in all den Jahren nie eine Klage eingereicht, habe es aber unzählige Male von Kollegen erlebt. Es muss jedem selbst überlassen bleiben, ob er gerichtlich gegen solche Angriffe vorgeht. Bei Demonstrationen ist, meiner Meinung nach, eine dicke Haut ein guter Berater. Zu groß ist die Relation von Aufwand und Ertrag bei einer Anzeige. In schlimmeren Fällen, bei denen es zu Verletzungen kommt, muss allerdings von Amtes wegen Bericht erstattet werden. Die angehenden Polizisten werden in der Ausbildung auf solche Fälle vorbereitet. Mit den drei Maßnahmen - Dialog, Deeskalieren, Durchsetzen - versuchen die Beamten, das Problem in den Griff zu bekommen. Das gelingt zwar nicht immer, wie folgender Fall zeigt. Bei einer Kontrolle unter einer Brücke in der Stadt explodiert der Hass. Der zu überprüfende, stark alkoholisierte Mann, der darüber hinaus unter Drogeneinfluss steht, rastet total aus und greift die Polizisten an. Er wird verhaftet, ein Polizist muss mit einer Rissquetschwunde im Krankenhaus behandelt werden. Einige Tage später trifft der Polizist den Täter allein auf der Straße. Er ist nicht wiederzuerkennen, völlig entspannt, und - kaum zu glauben — er entschuldigt sich sogar. Die lieben Emotionen eben!

So etwas passiert nicht bei jeder Demonstration, aber an jeder, an der Linksextreme beteiligt sind. Die verhärteten Fronten spiegeln die Gegenpole wider. Es ist, als handle es sich um eine Revolution gegen Gesetzeshüter. Zu einer Freundschaft wird es in dieser Nische nie kommen. Das muss man einfach akzeptieren. Demonstrationen

Unter dem Sammelbecken einer Linksextremismus-Demonstration finden wir Autonome, Eventchaoten, Krawalltouristen, Mitläufer, anlassbezogene »Eintagsfliegen« bis hin zu Gaffern, die zu Demonstranten mutieren. Die Eventchaoten zählen beispielsweise die Anzahl eingeschlagener Scheiben und betrachten dies als eine Art Wettkampf. Ist um die Ecke ein Getränkehändler, womöglich einer, der Spirituosen fuhrt, dann wird die Gelegenheit genutzt, und man zertrümmert kurzerhand die Scheiben, um sich mit dem erbeuteten Alkohol zu stärken. Bei eher ideologisch motivierten Demonstrationen sind häufig viele Frauen eingebunden. Wenn es hingegen um den »schwarzen Block« geht, sinkt der Anteil Frauen massiv. Nur extrem militante Frauen werfen Steine und verüben auch schon einmal einen Anschlag, wie zum Beispiel am Frauenkampftag vom 8. März oder 25. November, dem Tag der Gewalt gegen Frauen. Die Massenproteste der Gelbwesten in Frankreich Ende 2018 zeigten, welche Macht das Volk hat. Der Präsident machte nach mehreren Wochen anhaltender Streiks deutliche

Zugeständnisse zu den finanz- und sozialpolitischen Forde rungen der Arbeiterbewegung. Dennoch konnte dadurch die Bewegung nicht erstickt werden, ganz im Gegenteil: Es wurde eine neue Partei gegründet, welche die Forderungen künftig auf dem politischen Parkett einbringen will. Sie soll l e s Emrrgents — zu Deutsch etwa: die Aufstrebenden - heißen. Der Tag der Chaoten am 1. Mai kann wieder zum Tag der .Arbeiter werden, gemäß seiner ursprünglichen Bedeutung. Ich frage mich, was wohl passieren würde, wenn sich die Polizei an einem solchen Tag lediglich auf die Grundversorgung konzentrierten würde. Artet der Tag dann erst recht aus? Wenn nicht, so hätten die Chaoten kein Feindbild mehr. Schließlich werden in anderen Städten auch friedliche, bunte Umzüge abgehalten. Ein Never-Ending mit ständigen Ausschreitungen kann nicht die Lösung sein. Die arbeitende Bevölkerung demonstriert gesittet, die Autonomen halten sich zurück. Das Undenkbare wird real. Der unschöne Begleiteffekt von Demonstrationen, die Extrakosten, könnten eingespart werden.

2019 — das Jahr des Frauenstreiks Nach dem Frauenkampftag am 8. März gingen die Wogen hoch. Grund war die von der Polizei auferlegte »Zwangsroute«, wie sie von der Bewegung genannt wurde. Die Stimmung war gereizt, wie sich an der Bahnhofbrücke zeigte. Die Frauen rissen das Absperrband weg und gingen bis an die Gitterfahrzeuge der Polizei heran, wo auch ein Wasserwerfer in Stellung gebracht worden war. Sie skandierten über eine halbe Stunde

c

lang gegen die Routenbeschneidung. Die Polizei verhielt sich ruhig und hielt ihre Position. Schließlich gaben die Demonstrantinnen auf und wandten sich ab. Nach der Demonstration wurden auf Abfallkübeln und Straßenlampen Kleber gefunden, auf denen stand: »Polizei — nirgendwo Gerechtigkeit _ wir lassen uns nichts mehr gefallen von euch.« So verdeutlichte die Frauen-Antifa-Bewegung wegen der auferlegten »Zwangsroute« ihren Groll. Die neue Stadträtin der Grünen {Rykari) wurde heftig kritisiert. Sie habe eine Zuckerbrot- und Peitsche-Taktik angewendet. Auf eine solche Haltung gebe es nur die Antwort, sich nicht spalten zu lassen, weiterzukämpfen und wild und unberechenbar zu bleiben. Das Patriarchat und der Kapitalismus seien eng miteinander verschränkt, so die Ideologinnen des Frauenprotests. Der Kapitalismus mache die Frauen zu Objekten. Wörtlich stand in der Pressemitteilung der revolutionären Frauen: »Die Schmier* schaffte es nicht, uns zu spalten. Die Bullen nutzten ihr gesamtes Arsenal, um uns einzuschüchtern, was ihnen nicht gelang. Wir zeigten uns trotz Polizeigewalt kämpferisch und lautstark.« Die Tradition, am Frauenkampftag auf die Straße zu gehen, ist ein hohes Gut aufseiten der linken Frauenbewegungen. Dies gilt es meiner Meinung nach auch zu respektieren. Allerdings darf die Demonstration nicht für Sachbeschädigungen missbraucht werden. Die gemäßigten Frauen unter ihnen sollten ein Interesse daran haben, ihre militanten Kolleginnen daran zu hindern. Vor allem, wenn es zu massiven Sachbeschädigun* Schmier ist in der Schweiz ein gängiger Ausdruck für Polizei mit einem Hauch von negativer Ironie.

gen kommt, wie 2018 geschehen. Daher gilt es auch hier, die Situation in einem 360-Grad-Spektrum zu betrachten: Wer gegen Gewalt demonstriert, sollte selbst nicht gewalttätig werden. Das klingt zwar moralisch, wird aber durchaus kontrovers diskutiert. Die Abwägung der Verhältnismäßigkeit kann hier bei der Beurteilung weiterhelfen. Wie weit gehen die Frauen bezüglich Gewalt und Militanz? Meine Erfahrung bei schweren Ausschreitungen zeigt, dass es vorwiegend junge Männer sind, die sich im militanten Block an kritischen Demonstrationen beteiligen. Frauen sind eher kreativ und sprayen oder werfen auch mal einen Farbbeutel. Wenn es um die Hartnäckigkeit und den Durchhaltewillen geht, bewegen sich Frauen mit Männern auf Augenhöhe. Sie fordern schließlich auch die Gleichstellung in allen Berufen. Klima und Umwelt Ich finde es sehr gut, wenn sich junge Leute Sorgen um die Zukunft machen. In vielen Ländern gehen Schüler für einen Klimawandel auf die Straße. Es gelang ihnen sogar, Politiker zu überzeugen, dass sie etwas unternehmen müssen. Die Jugendlichen demonstrierten zum Beispiel für die Ausrufung des Klimanotstands vor dem Rathaus. Der Stadtrat von Zürieh wurde im Frühjahr 2019 aufgrund einer Motion* der linken Parteien aufgefordert, dass der Gemeinderat eine stringente Klimapolitik (was frech, frisch bedeutet) in die * Motion-. Parlamentarischer Vorstoß in einem politischen Gremium, wo-

durch die jeweilige Regierung beauftragt wird, tätig zu werden, im Fall einer Annahme.

städtische Verfassung aufnehmen solle. Das wäre eine gute Sache, wie ich meine. Wer hat schon etwas gegen eine klare und nachhaltige Klimapolitik.

Die Botschaft müsste auch bei einer Open-Air-Veranstaltung (zum Beispiel in Frauenfeld oder der Street-Parade) oder bei einem Sommerabend auf der Chinawiese in Zürich für eine nachhaltige und ökologische Umwelt verkündet werden. Denn ein Großteil des Mülls in der Öffentlichkeit wird von jungen Leuten verursacht, wie ich bei meinem Dienst an der Front immer wieder feststellen musste. Die Bilder nach einem Fest sind einfach furchtbar. Obwohl die Veranstalter jede Menge großer Abfallfasser bereitstellen, wird einfach alles auf den Boden geworfen. Ganze Zelte werden zurückgelassen. Haben wir das früher auch gemacht? Nein, bestimmt nicht in diesem Ausmaß. Einen Kaugummi auf die Straße zu spucken, finde ich zum Beispiel auch nicht in Ordnung. Sehen Sie sich in den Bahnhöfen um: Da werden haufenweise Zigarettenstummel einfach auf die Geleise geworfen, während man ins Handy schaut und chattet, was das Zeug hält. Ich bücke mich, wenn mir ein Papiertaschentuch aus der Hosentasche fallt und entsorge, wenn immer möglich, jede Petfiasche in den dafür bereitgestellten Behältern. An Straßenrändern findet man Glasflaschen und Energy-Dosen. Bauern beklagen sich berechtigterweise, wenn Kühe solche Teile verschlucken. Gleichzeitig wünschen wir uns aber günstige Biomilch frisch vom Bauernhof. Wenn Tausende Schüler die Schule schwänzen und fürs Klima demonstrieren, dann ist das zwar löblich, aber schwänzen und demonstrieren sind

keine Dauerlösungen. Interessant war ferner, wie die Meinungen von Alt und Jung bezüglich nachhaltiger Klimapolj, tik differierten. Da tat sich regelrecht eine tiefe Kluft auf. Die altere Generation entsorgt gewissenhaft, lässt nichts liegen und macht sich trotzdem ein Gewissen. War sie ausbeuterisch oder verschwenderisch? Die Jungen sind viel online, sind gut vernetzt und machen sich Sorgen um die Zukunft unseres Planeten. Eine gute Idee wäre es jedoch, wenn die Jugendlichen mit Umweltaktionen im großen Stil Zeichen setzen würden. Sie räumen den Unrat eines Open-Air-Festivals zusammen oder machen statt Demonstrationen Putz- und Müll-Sammelaktionen. Alle Menschen sollten ihren Beitrag leisten und Unstimmigkeiten ausdiskutieren. Die politischen Vorstellungen sind demokratisch angestoßen. Wenn wir alle ehrlich sind und Sorge tragen, profitieren wir schließlich als Kollektiv. Die Forderungen der Ultra-Klima-Notstandsbefiirworter sind drastisch. Das Fliegen und der Privatverkehr sollen abgeschafft und Haustiere verboten werden. Die Fleischproduktion dagegen bleibt eine heilige Kuh. Tierunterhalt und Transport sind Schadstoffverursacher. Dabei stellt sich die Frage, ob in den Schulkantinen immer noch Fleisch serviert werden soll. Oder sind die zukünftigen Studierenden alles Veganer und Vegetarier? Virtuelle oder analoge Welt Zuerst dachten Passanten an einen Flashmob, einer fantasievollen verabredeten Choreografie, dann stellt sich heraus, dass es eine »analoge« Prügelei war, deren Anlass ein digitaler

Streit war. So geschehen Ende März 2019 in Berlin und Frankfurt. Die Onlinefehde wurde von zwei kontroversen YouTubern verursacht. Mehrere Hundert Jugendliche (sogenannte Follower) trafen sich auf dem Alexanderplatz in Berlin. Dabei ging es um einen Streit wegen der Klicks unter Influencern in der Rapperszene. Eine Hundertschaft Polizei musste den Streit schlichten. Bei den stundenlang andauernden Ausschreitungen kam es zu mehreren Festnahmen. Da fragt man sich, ob in Z u k u n f t neben E-Sports auch E-Demonstrationen denkbar sind? Wie militant soll es bitte sein?

Das Interesse an illegalen Veranstaltungen ist sehr stark von der jeweiligen Thematik und vom Versammlungsort abhängig. Geht es um existenzielle Fragen wie beispielsweise Stellen- oder Lohnabbau, ist die Resonanz größer als bei einer wiederkehrenden Veranstaltung, wie zum Beispiel bei Knastspaziergängen wegen inhaftierter Gleichgesinnter. Die ideologisch motivierten Demonstranten organisierten in den vergangenen Jahren vermehrt konspirative Demonstrationen oder Aktionen. Sie kombinierten diese mit Knallpetarden*und Farbanschlägen. Andererseits werden die Einbettung und Teilnahme an großen Demonstrationen durch relativ gesittetes Verhalten bevorzugt und die eigene Botschaft legitim vermittelt. So entstehen bequeme Ad-hoc-Koalitionen mit Veranstaltern, wie den Kurden oder Gewerkschaftsorganisa* Knallpetarden sind pyrotechnische Explosivkörper in verschiedenen Größen.

tionen. Das Rezept* bei großen Demonstrationen mitzumi, sehen und nebenbei Fassaden zu »verschönern«, hat sich den vergangenen Jahren in Zürich bewährt. Es stößt bei der hartnäckigen linksextremistischen Szene offensichtlich auf Resonanz. Zum Glück verüben die Linksextremisten keine richtigen Sprengstoflanschläge gegen ihre Ziele! Ich vermute, dass die Extremisten genau in dieser Frage gespalten sind, denn einerseits möchten sie nicht unbeteiligte Personen gefährden und andererseits den Strafverfolgungsbehörden und Nachrichtendiensten keinen Anlass für Lauschangriffe (präventiv Telefone ohne Wissen der Gegenseite anzapfen) geben und so Gefahr laufen, den Überwachungsstaat zu stärken. Denn über je mehr Mittel die Behörden verfugen, desto größer ist die »Gefahr« der Aufklärung und Überführung der Täter. Solidarität mit Gilet-Jaunes Linksextreme aus dem Umfeld des RAZ klebten bei einer Rüstungsfirma in Wallisellen zwei Feuerwerksraketen an die Eingangstür. »Wir solidarisieren uns mit dem Aufstand der Gelbwesten.« Angeblich produziert die Firma unter anderem Granatwerfer für die französische Polizei, die gegen die GiletsJaunes in den vergangenen Monaten zu zahlreichen Verletzungen, zum Beispiel ausgeschossenen Augen, führten. Unter der Dynamik der Bewegung leide die Polizeigewalt in Frankreich, heißt es in einem Bekennerschreiben.

Vorfall mit gefahrlichen Feuerwerksartikeln Anlässlich einer Demonstration für die Freilassung der baskischen Separatistin Nekane im Dezember 2016 verletzte sich ein Demonstrant schwer an der Hand, weil der Pyrogegenstand detonierte. Ich stand zehn Meter daneben. Im Wirrwarr, Lärm und Geschrei fokussierte sich der Frust zuerst auf die Polizei. Nachdem die effektive Sachlage verbal geklärt werden konnte — die Polizei war nicht schuld —, beruhigte sich der zusammengerottete Pulk schnell wieder. Die Polizei sorgte dafür, dass Sanitäter und Notarzt anrücken konnten, und sie sicherte die Unfallstelle ab. Zwei Jahre später sah ich den damals Verletzten wieder bei einer anderen Demonstration nur noch mit Flyern in den Händen, statt gefährlicher Feuerwerkskörper. Offenbar war die Demonstration damals eine schmerzvolle Lehre für ihn! Katz-und-Maus-Spiel: Repression löst Reaktion aus Viele Polizeiaktionen innerhalb von fünf Wochen lösten Ende 2015/Anfang 2016 (Winterquartier Kontiki Niederdorf, Refugees-Demo, WEF, Verhaftete an Kurdendemo vor dem Türkischen Konsulat) verschiedene Gegenreaktionen aus, zum Beispiel, indem die Gegenseite das AL-Büro (damalige Partei vom Vorsteher des Sicherheitsdepartements) besetzte. Eine Lex-Demo mit Ausschreitungen und Angriff auf die Securitas mit hohem Schaden sowie eine Serie von Farbanschlägen folgten. Dies zeigt, wie sehr die Wogen hochgingen.

Szenario Lärm Stellen Sie sich vor, Sie sind als Polizist einer nicht bewilligten Demonstration ausgesetzt, bei der Sie über zwei Stunden nonstop schrille Pfiffe und laute Musik ertragen müssen. Sie verstehen deswegen die Funksprüche oder Telefonanrufe kaum. Ihr Puls steigt, die Stimmung wird aggressiver. Die Beamten der Verkehrsbetriebe leiten hektisch die Meldung weiter, dass es zu Unterbrechungen im Tram- und Busverkehr komme. Eine laute Knallpetarde schreckt die Menschen auf, die Demonstration geht los. Das stellt einen hohen Stressmoment für die Ohren der involvierten Begleiter dar. Solche andauernden Lärmimmissionen bei großen Menschenansammlungen verursachen ein beengendes Gefühl, auch wenn das nur unbewusst wahrgenommen wird. Der Körper steht unter Strom, die Systeme sind hochgefahren, damit meine ich den Puls und die mentale Sensorik, vor allem, wenn unvermittelt laute Böller gezündet oder Feuerwerksraketen abgefeuert werden. In der Eskalationsphase kommen noch Flaschen und Steine hinzu. Ich fühle mich in solchen Situationen nicht wohl, was ich aber nach außen hin nicht zeige. Bei einer Antirepressionsdemo dröhnt die Parole »Hoch die internationale Solidarität« und am Frauenkampftag 2019 »Ganz Züri hasst die Polizei« durch Straßen und Gassen. Ein älteres Paar fragte mich verwundert, warum die jungen Leute solche Hassparolen skandierten. Solche Menschen seien zum Glück in der Minderheit, erwiderte ich. Manchmal rennen sie los wie eine Büffelherde, quasi ein Sturmlauf, der allerdings meist nur von kurzer Dauer ist. Da-

mit sollen einerseits die Einsatzkräfte verunsichert u n d andererseits die Stimmung unter den Demonstranten angeheizt und die Muskulatur erwärmt werden. Jede Demonstration hat ihre eigenen Schwingungen u n d Geräusche. Mal sind sie sehr laut, ohne verbale Argumente, einfach nur Pfiffe (Bauarbeiter), oder ganz still (Tierschützer) oder es k o m m t zu Knallern und Rauch (Autonome).

Wiederkehrende Parolen lösen bei Zaungästen Unverständnis aus. Zum Beispiel, wenn Kurden während der Einkaufezeit durch die Bahnhofstrasse gehen und dem türkischen Staat Faschismus vorwerfen. Kurden gehören zu den Dauergästen der Straßendemonstrationen, sei es wegen Solidarität mit Hungerstreikenden oder mit einem inhaftierten Führer, wie zum Beispiel Abdulah Öcalan. Kurden werden in der Schweiz von Linksextremen unterstützt, indem sie sich an den Demonstrationen beteiligen und Flyer verteilen. Auch umgekehrt ist das der Fall. Beide haben das gleiche Feindbild, den Staatspräsidenten Erdogan. Viele Betrachter — im konkreten Fall türkische Staatsbürger — empfinden solche Demonstrationen als reines Übel, da sie sich in ihrer Freizeit belästigt fühlen. Es kommt ab und zu auch zu Rempeleien und Tätlichkeiten. Andersdenkende beschimpfen die Demonstranten, die wiederum beruhigt werden müssen, da sonst eine Eskalation droht. Manchmal wünsche ich mir, es gäbe virtuelle Demonstrationen, bei denen E-Polizisten und Roboter die Probleme für uns lösen.

Klischee Polizei, sprich Bullen Immer wieder hören wir: »Bullen, die Nullen« oder »Scheiß, bullen« oder bei Demonstrationen: »Ganz Zürich hasst die Polizei!« Die Polizei verkörpert ein gewisses Machtmonopol was einer von vielen Gründen für diese Verbalinjurien sein dürfte. Wer Macht hat, eckt an. Die Gegenseite schiebt die Verantwortung auf das Gewaltmonopol und argumentiert, dass zum Teil zu schnell und zu heftig reagiert werde. Der Bürger wünscht, dass die Polizei für Ruhe und Ordnung sorgt und nicht nur Strafzettel ausstellt oder Bußgelder verhängt, sondern dass sie ihn beschützt und ihm hilft. Man denke nur an all die positiv verlaufenen Einsätze und Hilfeleistungen fixr den Bürger. All das aber kommt nicht bei allen Mitbürgern gut an. Trotz aller positiven Meinungsumfragen leidet die Polizei an Respektverlust, vor allem unter jungen Leuten. Liegen die Ursachen auf mentaler Ebene oder haben sie mit der inneren Einstellung zu tun? Auch die Polizei entwickelt ein Feindbild, vielleicht nur unbewusst. Verhärtet sich diese Geisteshaltung auf beiden Seiten, wird eine sachliche Kommunikation schwierig bis unmöglich. Der Polizei wird bei Frauendemonstrationen immer wieder der Vorwurf gemacht, sie sei zum Thema Gewalt an Frauen nicht feinfühlig. Uniformen und damit zum Ausdruck gebrachte Handlungsbefugnisse verleihen manchen ein Gefühl von Macht. Das bedeutet für den einzelnen Polizisten aber auch, dass er Verantwortung trägt. Der Umgang damit ist vor

a l l e m eine menschliche Frage, die sich nicht programmieren lässt wie ein Computer. Erschwerend sind darüber hinaus rasch wechselnde unterschiedliche Situationen, die nicht vorausgesehen und eingeübt werden können. Es besteht daher bei jedem Einschreiten der Polizei ein gewisses Restrisiko, was diese menschliche Seite betrifft. Doch vielleicht übernehmen in Zukunft Polizeiroboter solche Aufgaben. Es wird immer eine Gratwanderung zwischen Machtausübung und Empathie sein, die sich jedoch ausgleichen sollte. Dann wird es meiner Meinung nach auch zu guten Ergebnissen kommen. Paradox ist es, wenn gerade die Menschen, die soziales und menschliches Verhalten einfordern, das jeweilige Gegenüber zum Feindbild stempeln. Traumatisierungsgefahr Am 16. Dezember 2018, morgens gegen 4:00 Uhr verunglückte ein Kleinbus auf der schneebedeckten Autobahnausfahrt Sihlhölzli. Der Fahrer prallte wegen der stark eingeschränkten Sicht aufgrund des Schneetreibens gegen eine Betonwand. Eine 37-jährige Italienerin wurde aus dem Fahrzeug geschleudert und stürzte in die Sihl. Sie starb noch am Unfallort. Die beiden Fahrer wurden bei dem Unfall schwer verletzt. Die Einsatzkräfte, die als erste an die Unfallstelle kamen, fanden ein schreckliches Bild vor. Verirrte und blutende Passagiere schrien. Ein erfahrener Verkehrspolizist erzählte mir von einem Unfall auf der Forch-Autostraße A 52 an einem heißen Sommertag. Sechs Personenwagen waren heftig aufeinanderge-

prallt. Fünf Menschen starben noch an der Unfallstelle uncj ein weiterer im Spital, Vier Personen wurden bei dem Unfall verletzt. Solche Bilder und Situationen müssen verarbeitet werden, was nicht so einfach ist. Ein Polizistenleben kann manchmal ganz schön hart sein. Erscheinungsbild und Glaubwürdigkeit der Polizei Als junger Bursche hatte ich einen Riesenrespekt vor der Polizei. So wurde es mir von den Eltern vermittelt und vorgelebt. Schauen wir noch weiter zurück: Als vor 100 Jahren zum Beispiel noch Nachtwächter, Stadttorpförtner, Landjäger und Gassenpolizeidiener für Ruhe und Ordnung sorgten und es noch keine Handys gab, nahmen die Fahnder akribisch aufgearbeitete Fahndungsbücher mit auf die Straße. Ein Originalbuch von 1855 ist im Polizeimuseum der Stadt Zürich ausgestellt. Als ich die Polizeischule 1982 absolvierte, schrieben wir die Rapporte noch mit der Schreibmaschine. Es gab weder Handys noch Internetrecherchen. Auf der Wache im Schreibraum und im Vernehmungszimmer durfte geraucht werden. Unglaublich, welch technologischen und gesellschafdichen Fortschritt man seitdem erzielte! Ich bin der Meinung, dass Polizisten schick aussehen und lässige, statt prüde Uniformen tragen sollten. Die vielen Utensilien am Gurt schrecken den Bürger nur ab. Die Kopfbedeckung wurde eleganter: Heute gibt es Parka und Baseballmützen statt Bobbyhelme und Ledermäntel, Die äußere Wirkung darf nicht unterschätzt werden. Die schlichten grünen Uniformen der deutschen Polizei wirken ähnlich wie jene

der Heilsarmee. Und wenn der Polizist statt Strafzettel auszustellen auch mal einen Ratschlag gibt, dann punktet er enorm beim Normalbürger.

Polizisten sind tattoofrei oder tragen sie versteckt unter den Kleidern, weil die meisten Polizeikorps sichtbare Tattoos verbieten. Falls eine Beamtin oder ein Beamter ein Tattoo am Unterarm trägt, dann muss es mit einem hautfarbigen Stulpen abgedeckt werden. Absolut verboten sind Tattoos auf dem Hals oder im Gesicht. Das ist auch irgendwie verständlich. Eher unverständlich war für mich der Widerstand von zwei Kantonalkorps, als ich eine Mister- und Misswahl der Polizei durchfuhren wollte. Der heftige Widerstand dagegen fiihrte dazu, dass schließlich die Geschäftsleitung des nationalen Verbandes (VSPB) dem Vorhaben eine Absage erteilte. Die Polizisten sollten ihrer Auffassung nach nicht mit solchen Klischees behaftet sein. Viele andere Kantone dagegen schätzten dieses Vorhaben als ausgezeichnete Imagekampagne ein. Mit Marcel Specker (heute Marcel Schweizer genannt) aus Winterthur wurde 1995 offiziell ein Schweizer-Polizei-Mister erkoren. Negative Schlagzeilen gab es damals nicht. Warum sollte das »saubere« Klischee bei der Bevölkerung darunter leiden, frage ich mich ernsthaft? Auch Polizistinnen als Bodybuilderinnen abzudrucken war tabu. Ich persönlich finde das sehr schade. Schließlich spiegelt sich die Gesellschaft auch in ihrer Polizei wider. In Deutschland machte eine blonde, attraktive Polizistin auf sich aufmerksam, weil sie Bikinifotos von sich auf Instagram stellte, mit denen sie in kurzer Zeit Tausende Follower erhielt. Adrienne Koleszar wurde 2018 zur

Sexiest Polizistin Deutschlands gewählt. Sie selbst fand das we niger toll, weil sie solche Klischees ablehnte. Schön ja, aber nicht nur sexy bitte, lautete ihre Botschaft. Die Behauptung, Schweizer Polizisten seien gewaltgeile sexistische Machos, die die Menschen nach Hautfarbe oder Aussehen beurteilen würden, selbst jedoch nicht gesetzeskonform lebten, ist eine Provokation und völlig falsch. Keine Fehler einzugestehen ist auch nicht richtig. Bezogen auf das Arbeitsklima sagen Kollegen hinter vorgehaltener Hand, dass Geiz, Neid und Missgunst Polizeikrankheiten seien. Ich möchte diese Aussagen nicht dementieren oder kommentieren. Polizisten sind oft bis an ihre Belastungsgrenze gefordert, weil sie häufig als erste an einem Unfall- oder Tatort sind. Ich hörte während meiner Tätigkeit als Redakteur der Zeitung Police von Kollegen öfter, dass es gegenüber der Polizei an Wertschätzung und Partizipation fehle. Viele Polizeikorps sind inzwischen bemüht, den Mitarbeitern die nötigen Plattformen zu bieten, was meines Erachtens eine sehr erfreuliche Entwicklung darstellt. Eine fiktive Episode

Eine voll tätowierte skurril erscheinende Frau kollidiert unverschuldet mit einem anderen Personenwagen. Im Verursacherfahrzeug sitzt eine fein gekleidete Dame mittleren Alters. Die Beamten versuchen, die Gesamtsituation zu erfassen und schließen daraus, dass die tätowierte Frau schuld sei. Die Einschätzung wird bei der mündlichen Befragung widerlegt, die skurrile Frau ist im Recht. Worauf sich die Polizisten fiir ihr

Verhalten entschuldigen. So etwas kann passieren, sollte aber die Ausnahme bleiben. Werden Polizisten körperlich angegriffen, müssen sie sich angemessen wehren, dies scheint verständlich. Wird ein renitenter Raser verhaftet, kann sich der anwesende Zeuge täuschen, da Widerstand konsequentes Durchgreifen erfordert, damit nichts Schlimmeres passiert. Bei vielen Hunderten Verhaftungen kommt es bei nur wenigen zu heiklen Momenten. Die Beamten handeln nach bestem Wissen und Gewissen, sind aber letztendlich auch nur Menschen. Eine Arztin erzählte mir von einer Polizeikontrolle wegen eines defekten Abblendlichts. Damit die anderen Verkehrsteilnehmer sie besser sehen konnten, stellte sie die Nebellichter ein. Diese dürfen aber nur bei Nebel oder schlechter Sicht eingeschaltet werden. Das ist soweit auch in Ordnung. Der Polizist stellte trotzdem einen Strafzettel aus, und der Ton wurde bei der Kontrolle immer schärfer. Sie lasse morgen das Licht in der Werkstatt reparieren, versicherte sie. Die Kontrollierte verstand die Geldbuße nicht und appellierte noch einmal an die Vernunft. Darauf drohte der Beamte sogar damit, dass sie den Wagen stehen lassen könne, ob ihr das lieber sei. »Im Auge des Hasses«, kommt mir da in den Sinn, statt Verhältnismäßigkeit. So etwas sollte nicht die Regel, sondern hoffentlich eine Ausnahme sein. Aggressionspotenzial bei Jugendlichen Agiert die Polizei nach Ansicht der beteiligten Jugendlichen zu forsch, entstehen Aggressionen und es entwickelt sich eine

sogenannte »Schwarzer-Peter-Situation«. Die Polizei hat den Auftrag, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Die Leute, die g^ 'l rade mit ihrer Party gestartet haben, wollen Fun und vom i Staat keine Schranken auferlegt bekommen. Wieso flippen junge Leute so schnell aus? Die Onlinewelt z. B. YouTube und Games bieten eine Fülle an Unterhaltung mit sexistischen oder gewalttätigen Inhalten an. Kommt noch Alkohol ins Spiel, entwickelt sich eine verhängnisvolle Gruppendynamik. Ist eine störende Lärmquelle, zum Beispiel Autohupen oder lautes Schreien, bei einer Zusammenkunft auf einem öffentlichen Platz Grund für einen Polizeieinsatz, reagieren die Beteiligten schnell und angemessen. So sorgen sie für Ruhe und Ordnung. Dennoch entstehen viele Raufereien und Streitereien grundlos oder wegen einer Lappalie. Kommt nun Lärm hinzu, sind die Gemüter erregt und irritiert. Es fuhrt zu Schlägereien und Verletzten. Zu Hause kommt dann die Ernüchterung und Reue. Sich die Konsequenzen (Strafe/Buße) solcher Vorfälle bewusstzumachen, erscheint mir sehr wichtig. Die Jugend soll ruhig ihren Lifestyle leben und genießen können, ohne allerdings Grenzen zu überschreiten. Werfen solche Erlebnisse die Jugendlichen aus der Bahn? Viele suchen nach Vorbildern und Idolen im Sport oder in der Unterhaltungsindustrie. Geringe Erfahrung und mangelndes Bewusstsein über die Konsequenzen können den Ausschlag geben. Das heißt, sie können schwierige Situationen nicht selbstständig bewältigen. Sie schließen sich aus Verlegenheit einer radikalen Gruppierung an und können noch gar nicht abschätzen, welche Konsequenzen das haben kann.

Ein Ereignis mit Folgen — zum Beispiel eine Verhaftung — kann die Zugehörigkeit zur Gruppe in Frage stellen. Das Erlebte fuhrt dann zwangsläufig zu Ab- oder Zuneigung. Mobbing am Arbeitsplatz

Mobbing gibt es überall. Chefs reden nicht gern darüber. Große Firmen erst recht nicht. Ich meine, dass wir offener kommunizieren und mehr Respekt statt Neid zeigen sollten. In Hollywood traten mehrere berühmte Film- und Serienschauspielerinnen an die Öffentlichkeit und brachen ihr Schweigen wegen sexueller Belästigungen und Ubergriffen bekannter amerikanischer Filmproduzenten und Regisseure. Harvey Weinstein zum Beispiel missbrauchte seine Machtposition als Produzent, da seine Opfer in gewisser Weise von ihm abhängig waren. Das Outing der Filmstars löste ein riesiges Medienecho aus. Bei der Polizei sind Mobbingfälle oder Übergriffe kein Tabu. Viele Fälle werden betriebsintern geregelt. Andere Betroffene wenden sich an unabhängige Fachstellen, die sich auf die Themen Mobbing und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz spezialisiert haben. Viele Frustrierte bleiben still und fressen alles in sich hinein. Hier kann sich auch Hass entwickeln, in manchen Fällen kann das sogar zu Krankheiten fuhren. Kolleginnen und Kollegen tauschen sich darüber rege aus. In all den Jahren hörte ich von einer ganzen Reihe Unstimmigkeiten. Meistens ging es um willkürliche Beurteilungen. In meiner Zeit als Redakteur traten Polizisten an mich heran und baten mich, über Mobbing zu schreiben. Ich entschied mich

fiir das Opportunitätsprinzip, versuchte zu sensibilisieren und wachzurütteln. Ich darf darauf hinweisen, dass Hasj auch organisationsintern entstehen kann. Scheinbar harmlo. se Empfindungen können bei manchen die persönliche Integrität verletzen. Entscheidend ist dabei, wie derjenige, dem dies geschieht, empfindet. So kann die Zuteilung sinnloser Arbeit eine Form von Mobbing sein oder eine bewusste Geringschätzung. Nicht zu vergessen: Belästigungen können auch von Drittpersonen, also von Bürgern, denen eine Buße auferlegt wurde, ausgehen. Darum ist es sehr wichtig, den Schutz der persönlichen Integrität in den Vordergrund zu stellen. Wenn Sie zur Schnecke gemacht werden, sollten Sie Horner zeigen. Sie stärken Ihr Selbstbewusstsein. -i

Maßnahmen zur Aufweichung des Feindbildes

Trägt bessere Prävention zur Problemlösung bei? Prävention nützt nur, wenn ihr eine gezielte Sensibilisierung zugrunde liegt. Das heißt, die Gegenseite muss sich der Konsequenzen ihres Verhaltens bewusst sein. Die Botschaft kann in direkten Gesprächen oder anlässlich von Bildungsveranstaltungen transportiert werden. Die Stadt Winterthur hat beispielsweise reagiert und eine Anlaufstelle fiir Extremismus geschaffen, die für alle Formen der Radikalisierung zuständig ist. Der verantwortliche Stadtrat Nicolas Gallade reagierte auf eine Anschuldigung der Antifa, die eine Präventionsbroschüre kritisierten, mit dem Statement: »Schade ist, dass die Friedlichen sich nicht mehr von den Gewaltbereiten distanzieren.« Meines Erachtens ist dies eine kernige Aussage, die den Nagel auf den Kopf trifft. Solche Positionierungen wären auch innerhalb der Fankurven im Fußball wünschenswert. Das ist aber in der Praxis schwer durchfuhrbar, weil der notwendige Zusammenhalt fehlt. Viele wollen den Frieden und nicht anecken.

Kleine Bagatelldelikte werden aus Sicht vieler Bürger zu ] hart geahndet. Die Budgetplanungen bezüglich der Strafen! für Falschparken stoßen vielen sauer auf. Auf Bahnhöfen und an Unterführungen gibt es nachts zu wenig Polizeipräsenz. Dort schleichen kleine Gangs umher, machen junge Frauen an oder dealen mit Drogen. Sichtbare Präsenz und Patrouillentätigkeit stimulieren die Bürger, Radarkästen und Geldbußen für Falschparker nicht. Prävention und Aufklärung in Bildungsstätten i Wie steht es eigendich mit der Aufklärung und Prävention in den Schulen? Es gibt nicht für alle Extremismusformen ausreichend Informationsmaterial. Das Informationsbedürfnis in Bezug auf Extremismus wurde erkannt und deswegen in den Schulen kontinuierlich ausgebaut. In der Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Zürich fand 2018 ein Workshop zum Thema »Extremismus« statt. Dem vorangegangen war eine schweizweite Studie, bei der über 8000 Jugendliche im Alter zwischen 17 und 18 Jahren befragt worden waren. Sechs Prozent der Jugendlichen sind nach dieser Studie rechtsextrem, sieben Prozent linksextrem. Die Hälfte der muslimischen Jugendlichen lehnt wesdiche Werte ab. Unter den sieben Prozent Linksextremen gaben 7,4 Prozent an, gegebenenfalls auch Gewalt gegen Polizisten anzuwenden. Diese Tendenzen sind inzwischen allgemein bekannt. So haben diverse Städte Fachstellen fiir Extremismus und Gewaltprävention geschaffen. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten, seine politische Meinung zu artikulieren. Auf der Webseite

http://jupa-zh.ch/wp/ in Zürich können sich Jugendliche online dazu anmelden und Themenvorschläge einbringen. Themenwochen in Gymnasien und Berufsschulen sind weitere Plattformen. Natürlich steht auch der Weg auf die Straße offen, das Demonstrationsrecht erlaubt es, seine Meinung auf legale Weise auf der Straße kundzutun. Als politisch extrem gilt, wer einer Ideologie zustimmt und die Anwendung von Gewalt befürwortet. 25 Prozent der Jugendlichen sind ausländerfeindlich und 20 Prozent nationalistisch geprägt. Erstaunlich ist, dass laut den Zahlen des Bundesnachrichtendienstes die Zahl der gewalttätigen Vorfälle im Rechtsextremismus deudich niedriger ist als jene bei den Linksextremen. Ist Repression eine Lösung? Die Intensität einer Repression kann mit dem Druck und der Steuerung eines Wasserschlauches verglichen werden. Wird der Brandherd gezielt, rasch und richtig dosiert bekämpft, ist der Wirkungsgrad hoch. Geschieht dies breit gestreut und mit unkontrolliertem Druck, löst es das Gefühl von Willkür aus. Das kann zu Unmut und zu einer Solidarisierung fuhren, zumal wenn es auch Unbeteiligte trifft. Wenn die Polizei sich allzu sehr auf die Repression konzentriert, wird zwar im Moment das Problem gelöst, langfristig aber kann es sich auf das Hassbild auswirken. Yin und Yang (Sein und Tun) sollten ausgewogen sei. Sieht es mit der Prävention und Repression auch so aus? Denken beide Seiten etwas mehr ans Yin, dann kann es die Situation vielleicht klären.

Sehen wir einen schmalen Gang mit diffusem Licht odc einen breiten hellen Platz mit Handlungsspielraum im Kopf. Das kann für die Handlung entscheidend sein. Darum wähle ich im Zweifel den hellen Platz als Grundlage. Repression sprich eine Geldbuße oder gar eine Verhaftung, kann zuweilen abschrecken und die Beteiligten von weiteren Aktionen abhalten, wie ich meine. Einkesselung Wie kommt eine polizeiliche Einkesselung bei den Leuten an? Zeigt sie die erhoffte Wirkung? Die Polizei setzt Zeichen, will die Teilnehmer deanonymisieren und damit einschüchtern. Das ist durchaus ein gutes Instrument, wenn es zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt wird und die Gründe dafiir plausibel sind. Vor allem Erstbeteiligte werden abgeschreckt und machen sich Gedanken, ob sie ein zweites Mal mitmachen. Die Eingekesselten sehen dieses als Repression und willkürliche Maßnahme. Dann kommt es zu Vorwürfen, zum Beispiel, dass es die Falschen erwischt habe oder dass die Grundlage aus der Luft gegriffen sei. Einsprüche gegen Einkesselungen beschäftigen die Justiz intensiv. Dabei kommt es immer wieder zu vielen Freisprüchen. Als im März 2017 eine Frauendemonstration eingekesselt wurde, war der Unmut sehr groß. Es folgten Sammelaktionen zur Bezahlung der Geldbußen und scharfe Kritik am Vorgehen der Polizei. Von einer in einem Kessel festgehaltenen Demonstrantin hörte ich, dass man ihrer Bitte, ein WC aufsuchen zu dürfen, weil ihre Blase drückte und sie Monatsblu-

tungen habe, nicht stattgegeben habe. Es gebe hier kein WC, wurde ihr lapidar von der Polizei beschieden. Manchmal wäre meines Erachtens ein bisschen mehr Empathie angebracht. Kesselaktionen der Polizei sind ein Katz-und-Maus-Spiel. Zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt, sind sie ein gutes Instrument. Das nervt die Gegenseite gehörig, wie die Auflösung einer Party. Es kann zur Anklage wegen Landfriedensbruch oder bei einer harmlosen Zusammenrottung zu Anzeigen fuhren. Die Frage nach der richtigen Repression stellt sich immer wieder. Lässt die Polizei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit außer Acht, läuft sie Gefahr, die Wut der Platzbesetzer zu schüren, und die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer spontanen Frustdemonstration kommt, steigt rapide. Denn unter den Besetzern gibt es einen starken sozialen Zusammenhalt, der aufgrund der misslichen Lage wie von selbst entsteht. In diesem Teil der sogenannten Subkultur gibt es eine beachtliche Anzahl Menschen, die zu illegalen Demonstrationen bereit sind. Beeinflussungsfaktoren Interessant scheint mir auch, dass Polizisten bei anonymen Befragungen selbstkritisch eingestehen, die Eskalation hänge stark vom eigenen Auftreten ab. Man habe es in gewisser Weise in der Hand, ob es zu einer Eskalation kommt oder nicht. Vor allem dann, wenn vorwiegend unerfahrene Kollegen zum Einsatz kommen. In der Ausbildung könne nicht jede Extremsituation trainiert werden. Daher versucht man, mög-

liehst altersmäßig gemischte Patrouillen zusammenzustelle auch geschlechtsspezifisch. Zudem ist die Angst, selbst Opfer von Gewalt zu werden, stets latent in den Köpfen. Auf der Gegenseite hängt die Eskalationsgefahr sehr stark davon ab, wie viele Demonstranten es sind und wie hoch der potenziell gewaltbereite Anteil unter ihnen ist. Sicherlich spielen auch äußerliche Faktoren und das aktuelle Thema eine wichtige Rolle, so zum Beispiel der jeweilige Gemütszustand und der Konsum bestimmter Genussmittel. Daher kann festgehalten werden: Je mehr gegenseitige, ungünstige Eigenarten und Charaktere aufeinanderprallen, desto höher ist die Gefahr, dass es zu einer Eskalation kommt. Auslöser Ein Demonstrant wirft aus einer Ansammlung heraus eine Bierflasche. Der Wurf kann sehr viel Ärger auslösen, was aber nicht zwingend so sein muss. Schauen wir die Situation genauer an. Aussage des anonymen Werfers: »Mir ist langweilig, ich will, dass etwas passiert!« Die einzelne geworfene Flasche gibt nicht die momentan gedämpfte Stimmung des Kollektivs wieder, sondern ist lediglich Ausdruck eines aggressiven, alkoholisierten Demonstranten. Würde die Polizei sofort mit Abfeuern von Gummigeschossen darauf reagieren, würden sich die anderen Demonstranten zu Unrecht vom Staatsapparat, sprich: den Bullen, angegriffen fühlen. Genau solche Szenerien sind es, die Hass schüren und in eine völlig andere Richtung gehen. Der daraus resultierende Solidarisierungseffekt

unter den Demonstranten kurbelt die Spirale der Gewalt dann entsprechend an. Es kann auf der geistigen Ebene auch zu einer Art Aggressionsverschiebung kommen. Wir können es auch »Umfokussierung« nennen, nämlich dann, wenn die Demonstranten die Gesellschaft oder ein kapitalistisches Unternehmen (CS/UBS) anprangern und ihre Wut und ihren Hass darauf richten. Muss die Polizei eingreifen, richtet sich die ganze Aggression auf sie, weil sie eine gewalttätige Kommunikation fuhrt. Das Feindbild wird damit untermauert. Die Demonstranten verdrängen den Auftrag, dass die Polizei für Ruhe und Ordnung zu sorgen hat. Es ist ihnen sprichwörtlich scheißegal. Schätzt die Polizei die Situation richtig ein, dann hält sie sich zurück und versucht, den Flaschenwerfer gegebenenfalls später ausfindig zu machen und zur Rechenschaft zu ziehen. Denn solche Würfe erfüllen den Tatbestand von »Gewalt gegen und Bedrohung von Beamten«. Ein beliebter Begriff in diesem Zusammenhang ist »Verhältnismäßigkeit«. Ein Zugriff oder Einschreiten soll stets den Umständen und der Situation entsprechen. Die Emotionen und Eindrücke werden aufseiten der Polizei in einer Blitzanalyse gefiltert und stufengerecht mit der Einsatzleitung kommuniziert. Das weitere Vorgehen soll adäquat und zielfiihrend sein. Die Demonstranten werden üblicherweise von der Polizei abgemahnt, was bedeutet, dass sie über Lautsprecher informiert werden, dass es sich um eine unbewilligte Demonstration handelt und sie Gelegenheit haben, die Demonstration aufzulösen und wegzugehen. Sollte die Ansammlung verhar-

ren und die Straße zum Beispiel länger blockieren, kann die Polizei die Versammelten einkesseln und die Teilnehmer anzeigen. Die Beteiligten müssen sich aufgrund ihres Fehlverhaltens dieser Konsequenzen bewusst sein. Bei großen Demonstrationen steigern sich beide Seiten oft in einen »höheren Modus« hinein. Das bedeutet, der Verstand wird in diesem Moment ausgeblendet und die Menschen somit unkontrolliert. Die Hemmschwelle wird häufig durch übermäßigen Alkoholeinfluss gesenkt und die Gefühle durch laute Musik aufgeputscht. Erschwerend wirkt sich dabei die Ablehnung eines Dialogs seitens der hartgesottenen, ideologischen Linksaktivisten aus. Mit der Polizei kooperieren ist partout undenkbar für diese Gruppierungen. Denn mit den »Schergen des Staates« wollen sie nichts zu tun haben! Zu einer Entschärfung der Situation trägt das gewiss nicht bei. Der Geist der Freiheit paart sich mit der Autonomie. Man will das kapitalistische System aus den Angeln heben und ein Allgemeingut daraus machen. Die Bullen sind dabei Störenfriede, ihr Feindbild eben. Siedepunkt Die Ursache unkontrollierten Handelns beider Seiten kann y eine gesteigerte Erwartungshaltung sein. Ein Beispiel: Wegen einer unbewilligten Demonstration werden Hunderte Polizisten aufgeboten. Statt mit der Familie einen Ausflug genießen zu können, müssen sie die Kampfmontur anziehen und sich vor dem Einsatz gemeinsam verpflegen. Dabei spielt der psT l chologische Faktor eine wichtige Rolle: Die Stimmung 1St l\

leicht euphorisch, das »innere Barometer« ist wegen des bevorstehenden Einsatzes erhöht, sei es bewusst oder tinbewusst» Was ich damit sagen will, ist: Die im Kopf programmierte Einstellung beeinflusse das Geschehen. Es bedeutet ferner, dass die Reizbarkeit wahrscheinlich höher ist. Das Gleiche spielt sich in den Köpfen der Demonstranten ab. In einer großen Menge mitzumarschieren macht Spaß und halt Erwartungen wach. Somit ist auch die Gefahr, dass es wegen einer Lappalie zu einer Eskalation kommt, tendenziell höher. In solchen Situationen versucht die Polizei stets, die Ruhe zu bewahren. Wir müssen uns aber vor Augen halten, dass auf beiden Seiten Menschen mit individuellen Charakteren stehen, die aufgrund der Situation ihren Verstand nicht immer kontrollieren können. Darum kommt es immer wieder zu Gewaltausbrüchen. Eine Deeskalation kann durch respektvolles Verhalten beider Seiten erreicht werden. Das kann durch Dialog passieren sowie durch eine angemessene Distanz. Die unbeteiligten Gafier werden durch eine Abmahnung durch die Polizei gewarnt und können unbehindert die Ansammlung verlassen. Schadensbegrenzung statt Haudegentum heißt die Devise bei aussichtslosen Situationen mit unkontrollierbaren aggressiven Massen. Achtung Filmaufnahmen Die Videoüberwachung an öffendichen Plätzen ist immer wieder Gegenstand heftiger Debatten im Gemeinderat von Zürich. Die Republik (ein werbefreies Onlinemagazin) kriti-

sierte im Frühjahr 2019 die temporären F i l m a u f n a h m e n weil sie den öffentlichen Raum tangierten. Es betraf das taurant Rothaus an der Langstrasse, dort finden regelmäßige Treffen von FC-Zürich-Fans statt. Die Polizei begründete die befristete Überwachung mit den Ereignissen in der Vergangenheit, bei denen es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen unter den Fans gekommen war, und verwies auf die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen. Im Zeitalter von Handyfilmen und Drohnen brauchen unbescholtene Bürger keine Angst vor illegalen Aufnahmen zu haben, wie ich meine.

Friedenstifier und Selbstanbieter Der Nutzen von selbsternannten Friedensstiftern Wir sehen sie am 1. Mai oder bei anderen Großdemonstrationen. Ein Künsderkollektiv ließ Hunderte Luftballone auf die Straße fallen und erzeugte damit eine bunte, kreative, friedliche Stimmung. Die Steinewerfer waren für kurze Zeit verwirrt. In Deutschland spielte die Polizei bei Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsextremen über Lautsprecher den Schlager »Atemlos« von Helene Fischer und konnte damit die aufgebrachten Demonstranten beruhigen, sowohl im linken als auch im rechten Lager. Zu solchen Aktionen kommt es auch bei Eishockeymatches oder anderen Sportveranstaltungen. Sie beruhigen nachweislich die Gemüter.

Eine weitere Methode ist der Einsatz der Clown-Armee mit etwa einem Dutzend Leuten. Sie stellen sich vor den schwarzen Block und bilden so einen Puffer zwischen Polizei und Fans. Die Clown-Armee ist lustig angezogen, ist halb Clown, halb Fseudomilitar, sie tragen Perücken und sind mit Wasserpistolen bewaffnet. Auf diese Weise irritieren sie beide Seiten. Sie stellen sich mit ernster Miene neben Polizisten oder putzen mit einem Staubwedel den Wasserwerfer ab. Mit dieser Theatralik machen sie den Sicherheitsapparat lächerlich und lockern die Stimmung auf. Im Grunde genommen ist das kein ernsthaftes Problem. Ein einzelner Clown, der einige Jahre in einer Solo-Show auftrat, trug ein Schild mit dem bekannten Kürzel ACAB. Bewaffnet war er mit einem aufgesteckten Schwingbesen und mit Seifenblasenwasser Andere schrille Einzelpersonen schwingen weiße oder farbige Peace-Fahnen und hüpfen wild herum. Solche Aktionen verunsichern die militant orientierten Fans, weil sie von den »feindlichen« Bullen abgelenkt werden. Anlasslich der Protestbewegung Occupay 2011, die sich gegen die Banken richtete, fiel ein fast zwei Meter großer Mann besonders auf. Er trug ein Kettenhemd mit kopierten Geldscheinen und stand stundenlang friedlich vor den Banken. Dieser Hüne gehörte zeitweise zu den Linksextremen. Er wollte Bindeglied zur anderen Welt sein und stellte sich eine friedliche Welt vor, in der alle genug Geld haben und sich ihre Träume verwirklichen können. In der Zeitung las ich ein paar Jahre später, dass der ehemalige Hanfladenbesitzer in seiner Wohnung in Winterthur jämmerlich starb. Vermutlich ver-

letzten ihn Leute, die ihm Geld liehen, so schwer, dass er verblutete. Es gibt auch groteske Fälle, zum Beispiel, wenn Anhänger der umstrittenen Scientology-Kirche solche Proteste veranstalten. Sie wollen primär ihr Dogma den Beteiligten vermitteln und erst sekundär Frieden stiften. Eine neue Gruppe ist Frauen gegen Gewalt in Bern. Der Berner Frauenblock hat das Ziel, Gewalt zu deeskalieren und im Dialog mit allen Seiten zu verhindern. Dazu schalteten sie die gleichnamige Webseite. Zum ersten Mal traten sie am 18.03. 2017 in Bern in Erscheinung. Linksautonome und rechtskonservative Kräfte drohten aneinanderzugeraten. Zu den befürchteten Ausschreitungen kam es nicht. Inzwischen findet die Polizei ihre Stellungsnahmen nicht mehr ideal. Denn die Gefahr, dass die Friedensstifter in Auseinandersetzungen involviert werden, ist groß. Spätestens dann, wenn die Gewalt eskaliert und die Pufferaktivisten womöglich ein gezieltes Einschreiten der Polizei behindern oder erschweren. Alle diese Aktionen können im richtigen Moment die Situation tatsächlich entschärfen. Ein Problem ist allerdings, dass die Friedensstifter plötzlich in den Konflikt mit hineingezogen werden können. Das gleiche Problem besteht bei einer Einmischung in einen Streit, wobei eine angemessene Zivilcourage okay ist, wie ich finde.

Die Menschrechtsorganisation »augenauf« Die Gruppe augenaufdehmzvt als ihre Hauptaufgabe, aktuelle Menschenrechtsverletzungen aufzudecken, zu dokumentieren, zu veröffentlichen und sich für diejenigen einzusetzen, deren Rechte dabei verletzt worden sind. Sie beschäftigt sich mit Justizwillkür, Diskriminierung von Flüchtlingen, Fremdenfeindlichkeit und der angeblichen rassistischen Praxis der offiziellen Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie mit der Polizei. Sie befassen sich auch mit sogenannten Demonstrationsdelikten, wie gefährliche Tränengaseinsätze, Misshandlungen, Tasereinsätze* und Einkesselungen. Die Organisation versucht, Verletzungen von Grundrechten aufzuspüren, die nicht unmittelbar zutage treten und im System beziehungsweise in den gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen angelegt sind. Ich fragte bei der Organisation nach. RolfZopfi erklärte sich bereit, meine Fragen zu beantworten. AW: Herr Zopfi, anlässlich unseres Gespräches legten Sie Wert darauf dass augenauf nicht als Gegner der Polizei angesehen wird\ sondern als kritische Organisation, die den Hauplfokus auf Menschenrechte legt. Ist das richtig? Z: augenauf btstth.t aus drei lokalen Gruppen in Basel, Bern und Zürich, und hat viele verschiedene Köpfe. Ich bin als Mediensprecher eher der Mund der Organisation, augenauf ist eine Menschenrechtsorganisation. Es wäre aller* Ein

Taser ist eine Elektroschockpistole.

dings primär Aufgabe der Polizei, die Menschenrechte tu schützen. Leider ist sie dazu in eigener Sache nicht Fähig Darum versuchen wir, dies zu korrigieren. Wir setzen uns für Menschenrechte ein, aber die Polizei stört sich an demokratischer, rechtsstaatlicher Kontrolle. AW: Wie viele Missstände werden der Gruppe augenaufjährlich gemeldet? Z: Mit starken Schwankungen sind es wohl 200 bis 300 Fälle jährlich. AW: Zu welchem spezifischen Thema gibt es die häufigsten Meldungen? Z: Zur Polizeigewalt sowie zur Haft, speziell zur Anordnung der Haft und zu den Haftbedingungen. Es gibt ferner Meldungen zu Unterkünften für Asylbewerber, seltener zu Asyl- und Strafverfahren. AW: Es gab Fälle von Gummischrotverletzungen> die durch Geschosse der Mehrzweckwerfer der Polizei verursacht wurden. Was sagen Sie zu den neu eingesetzten SIR-Geschossen in Bern. Diese Geschosse verlassen die Mündung mit300 km/h. Z: Das gravierende Verletzungspotenzial der neuen Geschosse ist bekannt. Es kommt dabei zu schweren Verletzungen, die Polizei hat dies zu verantworten. AW: augenauf prangert an, dass oft die Mindestdistanz von 20 Metern nicht eingehalten und auf Kopfhöhe geschossen werde. Gibt es dazu klare Fakten und erfolgreiche Klagen? Z: Die Justiz steht prinzipiell aufseiten der Polizei und verurteilt entsprechend. Auch Schüsse aus kürzerer Distanz werden von der Justiz abgesegnet. Zu den Fakten: Es gibt

f\ 1 t

jedes Jahr mehrere Kopfverletzungen und durchschnittlich alle drei Jahre ein ausgeschossenes Auge. Die Polizei ist offensichtlich bereit, dieses ohne Korrektur der Einsatzdoktrin in Kauf zu nehmen. AW: Ihre Organisation hat gegen das Berner Polizeigesetz ein Referendum erstellt Was stört Sie an dem neuen Gesetz am meisten? Z: Die Kompetenzen im präventivpolizeilichen Bereich werden ausgeweitet, ohne dass eine effektive Kontrolle stattfinden kann. Überwachungen dürfen diskret durchgeführt werden, d. h., ohne dass die Öffentlichkeit davon erfährt. Wehren kann man sich faktisch nicht dagegen. Gegen Fahrende* gibt es neue Paragrafen, Standplätze fehlen jedoch immer noch. Durch die Drohung, die Kosten fiir Polizeieinsätze bei Demonstrationen den beteiligten Gruppen und Demonstranten aufzubürden, wird die Versammlungsfreiheit eingeschränkt. Die Berner Polizei setzt voll auf Konfrontation, deshalb sind die Beamtinnen und Beamten auch weiterhin anonym und teilweise vermummt im Einsatz. Ich weiß nicht, ob ich persönlich in Bern noch das Risiko eingehen würde, offiziell eine Demo zu beantragen. AW: augenauf setzt sich für eine menschenwürdige Flüchtlingspolitik ein. Fähren statt Frontex heißt es in ihrem Bulletin. Wäre nicht Hilfe am Ursprungsort sinnvoller? Z: Die Menschen müssen dort geschützt werden, wo sie gerade sind. Zu Hause ebenso wie unterwegs. Die EU behin-

r Fahrende: Menschen, die mit alten Wohnmobilen oder anderen Wagen unterwegs sind und in der Regel keinen festen Wohnsitz haben.

d e r t d i e Rettung von Menschen auf See und ist damit fiw d e r e n Tod direkt verantwortlich. A W : Konnte die Organisation bei drohenden Deportationen Erfolge verzeichnen? Z: I n d e n l e t z t e n 20 Jahren starben bei Ausweisungen drei M e n s c h e n d u r c h die Hände der Polizei. Durch unsere Unt e r s t ü t z u n g der Hinterbliebenen bei den juristischen Verf a h r e n w u r d e sichergestellt, dass die Mittel bei den Ausw e i s u n g e n a n g e p a s s t wurden. Jedes Jahr ohne Todesfall ist ein Erfolg für uns.

A W : Die Themenfelder von augenauf sind enorm vielseitig. So kämpfe die Organisation auch gegen mehr Kamera-Überwachung Wenn sich der Bürger ordnungsgemäß verhält, musser doch keine Angst haben ? Z: D a s R e c h t a u f P r i v a t s p h ä r e i s t in unserer Verfassung verank e r t . D e r B ü r g e r s o l l t e A n g s t haben vor einem Überwa-

c h u n g s s t a a t , w i e a u c h v o r unkontrollierten privaten Datens a m m l u n g e n . D i e Fichenaffare (bezieht sich auf einen V o r g a n g i n d e r n e u e r e n S c h w e i z e r Geschichte, bei dem es

z u r B e o b a c h t u n g l i n k s g e r i c h t e t e r Politiker und Gruppierung e n k a m ) s c h e i n t v e r g e s s e n z u sein. Unser Sicherheitsapparat w u r d e v o r 3 0 J a h r e n m i t d e r Stasi in der DDR verglichen. Z u d e m z e i g t d a s B e i s p i e l London, dass eine dichte Kameraü b e r w a c h u n g d i e K r i m i n a l i t ä t s r a t e nicht senkt. A W : Auch rassistische Kontrollen werden angeprangert, obwohl die Polizei in Zürich klare Richtlinien erlassen und Maßnahmen dazu ergriffen hat. Wo liegen Ihrer Ansicht nach die Probleme bei Racial Profiling?

2: Zuerst wurde massiv gegen die rassistischen Kontrollen protestiert, erst dann folgten neue Richtlinien. Damit wurde indirekt anerkannt, dass ein Problem vorliegt. Intern verwenden die Polizisten und Polizistinnen der Stadtpolizei Zürich den herabwürdigenden Begriff Nordaffen ftir Nordafrikaner. Ein Teil der Beamten und Beamtinnen ist rassistisch, der Rest macht mit oder schaut weg. Ich glaube nicht an den Willen des Kommandos, dies zu ändern. AW: Wie positioniert sich augenauf politischy welcher Partei steht sie am nächsten? Z: augenauf setzt sich fiir die Menschenrechte ein und macht keine Parteipolitik. AW: Was können die Behörden und Sicherheitsorgane Ihrer Ansicht nach besser machen? Z: Generell wäre mehr Achtung der Menschenwürde wünschenswert, auch gegenüber Randgruppen, Verdächtigen und Verhafteten. Die Fehlerkultur ist unterentwickelt, mehrheitlich nicht existent. Fehler werden deshalb immer abgestritten. In Konfliktsituationen trägt häufig die Polizei unnötig zu Eskalationen bei. AW: Mit welchen Augen (sprichwörtlich) sieht Ihre Organisation die Polizei? Z: Mit offenen, kritischen Augen. Die Gründung von augenauf ist eng mit den Vorgängen rund um die offene Drogenszene am stillgelegten Bahnhof Letten in Zürich verbunden. Zur damaligen Zeit, Mitte der Neunzi-

gerjahre, häuften sich brutale Übergriffe der Polizei a u f J u n kies und Dealer. Diese Übergriffe hatten die Initianten dazu veranlasst, augenaufzxx gründen. So steht es im Buch, das anlässlich des 20-jährigen Jubiläums unter dem Titel dem ein-

fach etwas entgegensetzen erschienen ist. In der Schweiz kann das Buch bei augenauf bestellt werden ([email protected] oder [email protected]) Kommentar. Die Polizei hat das staatliche Gewaltmonopol inne, doch ihr werden immer wieder Fehlhandlungen vorgeworfen, insbesondere beim Einsatz von Zwangsmitteln, wie Tränengas oder Gummigeschossen. Diesen Vorwürfen steht eine hohe Akzeptanz der Polizeiarbeit in der Bevölkerung gegenüber. Die Vorwürfe sollten analysiert u n d sauber aufge arbeitet werden. Die Polizei ist angehalten, die notwendige Verhältnismäßigkeit zu wahren, und wenn immer möglich, mildere Mittel einzusetzen.

Wo liegen die Grenzen? Die Polizei lässt sich mit einem Schiedsrichter vergleichen. Ob er ahndet oder nur die gelbe Karte zeigt, hängt von vielen Faktoren ab. Die Schwierigkeit besteht darin, es allen recht zu machen. Unsinnige oder unverhältnismäßige Personenkontrollen können eine Lawine auslösen und das Feindbild schüren. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Anlässlich eines Fußballspiels wird bei der Eingangskontrolle am Gästesektor ein Fan wegen des Besitzes von leichten Drogen (Haschisch)

nicht eingelassen und zur Vernehmung weggeführt. Als Vergeltung wird die Polizei nach dem Spiel massiv angegriffen, wobei Polizisten auch verletzt werden. Ist das noch verhältnismäßig? Darf die Polizei Fehler zugeben? Ja, sie kann, darf es aber meist aus taktischen Gründen nicht. Wieso und zu welchem Zeitpunkt wird was warum wie gemacht? Welche Konsequenzen kann es haben? Das ist die ewige Eselsleiter. Ein anderer Fall: Ein toller Musiker spielt in Niederdorf, ein Traube Menschen hört fasziniert zu. Ein Ordnungshüter hat den Auftrag, den Musiker (ein Hut mit Münzen liegt vor ihm), der unerlaubt spielt, anzuzeigen und ihn wegzuschicken. Es entsteht ein temporäres Feindbild beim Durchgreifen. »Habt ihr nichts Gescheiteres zu tun«, schreit ein Mann aus der Menge. Der Polizist ist meiner Meinung nach gut beraten, wenn er abwartet, die Situation beobachtet und im richtigen Zeitpunkt das Richtige tut. In einem demokratischen Rechtsstaat ist fast alles geregelt. Versammlungsfreiheit ist ein Grundrecht. Aber im Extremfall ist sogar bei einer spontanen Trauerfeier eine formelle Bewilligung notwendig. Beispiel-. Als am 18. August 2017 bei einem Terroranschlag in Barcelona zwölf Personen ums Leben kamen, trauerten Landsleute still auf der Stadthausanlage in Zürich. Das mag ein wenig grotesk erscheinen. Der rot-grüne Stadtrat sieht das in seinem Statement so: »Spontaner Frust, friedlich auf die Straße getragen, steht im Kontext zum Demonstrationsrecht und soll im Sinne einer Ventilwirkung to-

leriert und, wenn möglich, mit einer Notbewiiligung legi miert werden.« V Im Jahr 2016 gab es eine Serie von Angriffen auf die P0| zei durch Linksextreme. In einer Stellungnahme hieß es: »Dw Linksextremen prangerten 2 0 1 6 den damaligen Poiizeivorste her Richard Wolff{AL) an, er pfeffere, schrote, kontrolliere verhafte, verteile Wegweisungen und versuche, mit Repressiv nen Bewegungen und Widerstand auf der Straße zu unterdrücken.« Wenn ich mich recht erinnere, wurden tatsächlich ein paar Besetzungen rigoros geräumt und Demonstrationen eingekesselt. In einem Fall setzte die Polizei sogar gegen eine ältere Frau Pfefferspray ein, wie der Tagesanzeiger damals schrieb. Wahrscheinlich war dies geschickt inszeniert, quasi als Propaganda. Alle diese Vorkommnisse waren Kumulationen. Dass diese Härte Gegenreaktionen auslöst, war klar. Die Gewalt gegen Polizisten rechtfertigt das aber in keiner Weise. Wer die Verletzung eines anderen Menschen in Kauf nimmt, begeht eine schwere Straftat, die verfolgt und bestraft werden muss. Trotzdem ist in solchen Fällen ein Dialog notwendig. Es muss gewissermaßen Gas weggenommen und eine vernünftige Analyse durchgeführt werden. Kommunikation Bei großen Demonstrationen setzt die Zürcher Polizei seit 2019 auf TaKom (Taktische Kommunikation). Ansprechpersonen mit Leuchtwesten begleiten Großanlässe wie Fußballspiele, die Street-Parade oder heikle Demonstrationen. Sie sind ständige Ansprechpartner, machen Megafondurchsagen,

wenn Panik auszubrechen droht oder versuchen kooperativ zu vermitteln. Das ist sicher alles sehr sinnvoll und wirkt auf die Masse beruhigend. Allerdings ging dadurch die Gewalt gegen die Polizei nicht zurück, u n d auch das Feindbild wurde dadurch nicht markant abgeschwächt.

Die Polizei ist immer häufiger in den sozialen Medien wie Twitter, Facebook und Instagram aktiv. Vorzeigekorps ist hier die Stadtpolizei Zürich. Sie erreicht dadurch viele junge, vorwiegend aber konstruktiv denkende Leute und Interessierte, auch neugierige Bürger. Aber auf diesem Kanal werden keine unbewilligten Aktionen angekündigt, wie jedem klar zu sein scheint. Wenn ein Demonstrant der Überzeugung ist, dass die Polizei als Institution des Staates ihn nicht akzeptiert und versteht, reagiert er abwehrend und misstrauisch. Unter diesem Gesichtspunkt stellt das eine unüberwindbare Barriere dar. Die Aufklärungsarbeit in Schulen und entsprechende Workshops sind sinnvolle Instrumente zur Verbesserung der Kommunikation. Unbestritten ist zweifelsfrei, dass interkulturelle Kompetenzen die Effektivität bei der Polizei steigern. Die Zugänglichkeit der Bevölkerung ist ein wichtiger Punkt in der Kommunikation. Polizistinnen und Polizisten mit Migrationshintergrund beherrschen die Sprache ausländischer Demonstranten und verstehen die Gepflogenheiten zum Beispiel albanischer oder türkischer Landsleute. Das sind große Vorteile. Die Polizei ist letztlich Spiegel der Gesellschaft. Die Gegenseite gibt Tipps und Tricks beim Filmen der Polizei. Wie gehen wir mit polizeilichen Bodycams um, und was

muss beachtet werden, wenn die Polizei filmt? Ende Januar 2019 fand in der Reithalle in Bern eine Informationsver^ staltung zu dieser Thematik statt. Welche Tricks und Tipps gibt es dabei? Der erfahrene Politikfotograf Miklös Kkui Rözsa gab darüber Auskunft. Ein interessanter Kontext, denn die ersten Erfahrungen mit AT?, wie er abgekürzt gern genannt wird, machte ich in meiner Zeit bei der Uniformpolizej vor dem deutschen Konsulat. Der Fotograf stellte sich provokativ vor die aufgestellte Ordnungsdiensteinheit der Polizei. Er drückte immer wieder auf den Auslöseknopf seiner Kämera aus naher Distanz. KR wurde oft: kontrolliert und festgenommen. Weil er Polizeiübergriffe festhielt, behinderte er die Arbeit der Polizei. Er wurde sozusagen zum Feindbild der Polizei. Er selbst warf der Polizei Misshandlung vor. Im Dokumentarfilm Staatenlos Klaus Rözsa von Erich Schmid spricht der Fotograf darüber, wie er sich eine freiheitliche Weltanschauung vorstellt. Er lebte nach seiner Flucht aus Ungarn jahrelang staatenlos in Zürich. Drei seiner Einbürgerungsgesuche wurden abgelehnt. Der Sohn eines jüdischen Vaters, der Auschwitz überlebt hat, kämpfte weiter und pendelte zwischen Ungarn und der Schweiz. Nach der Heirat mit einer Schweizerin erhielt er nach der Bewährungsfrist von fünf Jahren am 24. Dezember 2000 einen Schweizer Pass. Inzwischen hatte das Paar auch eine gemeinsame Wohnung in Budapest. Ab und zu reisten sie in den Ferien in die Schweiz, so auch 2008 nach der Fußball-Europameisterschaft, als das brachliegende Hardturmstadion besetzt wurde. KR war nach eigenen Angaben zufällig vor Ort und fotografierte die Poli-

II

I I

I



ud, als die Aktivisten gewaltsam ins Areal eindrangen. Die Beamten hatten ihn zu Boden gerissen und malträtiert. Er klagte wegen Korperverletzung. Die Polizisten verteidigten sich und sagten aus, sie seien als Nazis beschimpft worden. Das Verfahren wurde schließlich eingestellt. KR, der auch als Präsident der Journalistengewerkschaft für die Pressefreiheit kämpft, fühlte sich von der Gesellschaft denunziert und sah sich als Opfer der Behörden. Die Feindbilder blieben bis heute auf beiden Seiten bestehen. Die

24Stunden-Gesellschaft

Als ich 20 Jahre alt war, musste man sich im Auto noch nicht angurten, es gab keine Handys und keine Computer, geschweige denn Internet. Diese Zeit vermisse ich manchmal, denn sie war weniger hektisch. Es herrschte eine gewisse Genügsamkeit und Unverkrampftheit. Und es war eine wertschätzende und schöne Zeit. Wir verabredeten uns eine Woche vorher von Angesicht zu Angesicht, und siehe da, es klappte auch ohne WhatsApp. Wir jassten (Kartenspiel), kegelten, spielten Fußball oder vergnügten uns auf der Dorfchilbi (Volksfest). Clubs und Discotheken machten am Wochenende um 2:00 Uhr zu, während der Woche war bereits um 23:00 oder spätestens um 24:00 Uhr Polizeistunde. An den Tankstellen konnte man nur Benzin kaufen, erst später kamen die Shops hinzu. Die moderne Onlinewelt hat zweifelsfrei ihre Vorteile. Die Polizei ist auf der Straße und in den Einsatzzentralen nachts stärker präsent als früher, weil die Leute heutzutage fast immer

Online oder auf der Straße unterwegs sind. Das bedeutet aber" auch, dass die virtuelle Welt 24 Stunden überwacht werden muss. Cyberkriminalität und entsprechend Cyberanwälte sind gefordert. Die Technik schreitet unaufhaltsam voran. In Japan und China werden bereits Roboter eingesetzt, die nicht nur überwachen, sondern auch einfache Anzeigen aufnehmen. In der Schweiz können Anzeigen schon seit einigen Jahren online aufgegeben werden. Hier entsteht kein Feindbild, außer wenn das System versagt, und der Fahrraddiebstahl noch einmal erfasst werden muss. Selbstdisziplin ist gefragt, gleichzeitig wird aber der soziale Kontakt vernachlässigt. Über die allgemeine Gefahrensituation möchte ich nicht viele Worte verlieren. Nur eines scheint mir sehr wichtig: In der heutigen virtuellen Welt spielt sich vieles online ab. Terrordrohungen werden zum Beispiel auf Internetforen gestellt. Den Hacker- und Cyperangriffen sind wir nahezu schutzlos ausgeliefert. Darum braucht es auch in diesem Bereich ein landesweites 24-Stunden-Monitoring.

Gegenseitige Beobachtung In der digitalisierten Welt wird die Polizei gewissermaßen auf Schritt und Tritt beobachtet. Die Ordnungshüter selbst setzen vermehrt auf Body-Cams. Mehr öffentliche Kameras werden gefordert. Ubergriffe werden gefilmt und ins Netz gestellt. Die Polizisten werden beschimpft. Die Hemmschwelle junger Leute ist gesunken, so das Fazit vieler Frontpolizisten. Die SP (Sozialdemokratische Partei) beschwichtigt, bürgerÜ-

che Politiker fordern mehr Sicherheit, das alles löst kontroverse Diskussionen aus.

2017 kam es in Zürich zu 106 Straftaten gegen Polizisten, darunter Gewalt und Beschimpfungen oder Bewerfen mit Gegenständen. Ist hierfür die Body-Cam eine Lösung? Der Hauptgedanke ist die Eigensicherung, aber auch bei Fehlverhalten seitens der Polizei soll das Bildmaterial ausgewertet werden. In der Schweiz wurden solche Body-Cams von einigen Korps inzwischen eingeführt. Die Zahl der Gewalttaten soll dadurch gesenkt werden. (https://www.srf.ch/sendungen/rundschau/gifi-in-baechenbodycam-fuer-polizisten-laermsensible-machen-mobil) Die Rolle der Politik In Bezug auf Hausbesetzungen positioniert sich die Linke in Richtung Duldung, was heißen soll, dass die besetzten Liegenschaften nicht sofort geräumt werden sollen, sondern erst, wenn ein Projekt besteht. In Zürich überwiegt RotGrün und der Einfluss Linker, der JUSO und der Alternativen Listen etc. Die bürgerlichen Parteien, allen voran die SVP und FDP, fordern eine härtere Gangart bei Hausbesetzungen. Die Polizei soll das Strafgesetzbuch konsequent umsetzen und alle wegen Hausfriedensbruch vor den Richter bringen. Die Linke im Gemeinderat fährt eine pragmatische Lösung, sie will nicht gleich auf Vorrat räumen, sondern die Räume beleben, und erst, wenn eine nachhaltige Lösung oder Weiternutzung ansteht, die Polizei einschalten.

Innerhalb der Polizei sind die politischen Ansichten nicht eindeutig offengelegt. Es ist keinesfalls so, dass viele Polizisten politisch rechts stehen. Gerade viele junge Polizistinnen und Polizisten denken anders und wollen sich nicht in eine politische Ecke stellen lassen. Bei der täglichen Arbeit sollte dies auch keine Prägung erfahren. Intervenieren und Handeln sollten unabhängig und gerecht sein. Allein von dieser Warte aus wird eine neutrale Imagepflege gewünscht.

Spezialthemen s

{ Hausbesetzungen

Das Symbol der Hausbesetzerbewegung ist ein Kreis, durch den ein N-förmiger Blitz von links unten nach rechts oben verläuft. Dieses Zeichen ist der Überlieferung nach um 1970 in der Amsterdamer Hausbesetzerszene entstanden und breitete sich rasch über ganz Europa aus. Als Markierung oder Eroberung (ähnlich wie bei einer kleinen Insel) wird üblicherweise ein Transparent an die Fassade gehängt. Dieses Zeichen ist den Insidern bekannt, manchmal wird schlicht nur »Besetzt« darauf geschrieben. Hausbesetzer haben grundsätzlich eine anarchistische Einstellung und sind somit gegen jede Form von Staatsgewalt. In der Stadt Zürich sind rund 15 bis 20 Liegenschaften besetzt. Die Anzahl der ständig darin wohnenden Personen variiert, in kleineren Objekten ist es nur eine Handvoll, in größeren zwei Dutzend, darunter auch sogenannte Kommunen. Hinzu kommen viele Gelegenheitsbesucher. Die Motive der Besetzer sind ganz unterschiedlich: sie können den Arbeitsplatz verloren haben oder sie wurden aus der Familie ausgestoßen. In

dieser Situation suchen sie dann neuen, billigen Wohnraum. Hausbesetzungen erfüllen den Tatbestand des Hausfriedensbruchs (im Schweizerischen Strafgesetzbuch zum Beispiel Artikel 186). Die meisten Besetzer verlassen das Haus vor dem Räumungstermin, so kam es in den letzten Jahren zu nur wenigen Zwangsräumungen und Ausschreitungen. Der ständige Kampf gegen die Speckis Als Speckis werden große »Immobilienhaie« und reiche Hauseigentümer bezeichnet. Alte, wunderschöne Villen aus Erbschaften stehen zum Teil jahrelang leer, bis ein guter Investor I gefunden wird, der dann daraus teuren Wohnraum schafft. I Nach Ansicht der Hausbesetzer darf gewohnt werden. Bei I Gesprächen mit dialogfreundlichen Hausbesetzern staunte I ich über die Selbstverständlichkeit, mit der sie ein Haus in I Beschlag nehmen. Sie fühlen sich dabei nicht als Verbrecher I oder Einbrecher. Sie suchen aktiv den Kontakt mit dem Eigentümer, allerdings meist erst nach dem Besetzen der Degenschaft. Oft erfährt die Polizei erst im Nachhinein von der Besetzung. Die Besetzer verteilen unter den Nachbarn Flyer und laden sie zu Kaffee und Kuchen ein. Sie pochen auf Verständnis und erklären ihre Notsituation. Auf Gegenliebe stößt diese Methode jedoch nicht immer. Wer möchte schon Besetzer als J Nachbarn? Je nach Projektstand der Liegenschaft und Laune der Eigentümer ist die Besetzung nur von kurzer Dauer. \ Wenn eine Zwischennutzung, Renovierung oder der Abbruch bevorsteht, räumt die Polizei zügig. Es können auch \

V

andere Gründe, zum Beispiel Denkmalschutz, vorliegen. Inv ternationale Schlagzeilen machte 1989 in der Hochblütezeit , ' der Hausbesetzungen ein Widerstand an der Zweierstrasse: Bei der Räumung kletterte ein junger Mann aufs Dach, wählt rend die Feuerwehr unten ein Sprungkissen ausgebreitet hatte. Er sprang tatsächlich, prallte an einem Sims der Fassade ab und erlitt einen Beckenbruch. Ein Architekt wurde durch herabstürzende Bauteile beim Abriss so schwer verletzt, dass er einige Tage später im Krankenhaus starb. Die »mörderischen Spekulationstätigkeiten« wurden bei einem Trauermarsch angeprangert. Es gibt auch Ereignisse zum Schmunzeln. So wurde erzählt, dass an der Jenatschstrasse, die vor zig Jahren von kreativen Dadaisten besetzt wurde, ein Kind zur Welt kam, also ein richtiges Squaterbaby\ Die Duldung oder das Bleiberecht wurde ab und zu auch ausgenutzt, um einen Ort als Meldeadresse zu verwenden. Nicht alle Besetzungen sind bekannt. Es gibt eine hohe Dunkelziffer an Hausbesetzungen, über die weder Justiz noch Polizei von den Hausbesetzern oder Eigentümern informiert werden. Das Grundproblem liegt - wie bereits erwähnt - an der Spekulation. Die Polizei kann aufgrund der Weisungen des Stadtrats erst dann räumen, wenn die rechdichen Bedingungen erfüllt sind. Das bedeutet, dass ein berechtigtes Interesse an einer unmittelbaren Weiternutzung oder einer baulichen Veränderung zusammen mit einem Strafantrag vorliegen muss. Eine Hausbesetzung ist grundsätzlich illegal. Ein Strafantrag kann immer gestellt werden. Die Polizei prüft die weite-

ren Schritte. Es kommt aber immer wieder vor, dass so* nannte Gebrauchsleiheverträge ausgehandelt und die Besetzt darin zur Zahlung von Nebenkosten verpflichtet werden Hier spricht man von einer »geduldeten Hausbesetzung«. Was passiert in den besetzten Häusern? Von alternativer Kunst, von Konzerten, Computer- und Selbstverteidigungskursen bis hin zu politischen Informations- und Diskussionsabenden gibt es die ganze Palette kulturellen Zusammenlebens in den besetzten Häusern. Konzerte ziehen an Wochenenden besonders viele Menschen an, vor allem wenn zum Beispiel in Zürich die Band Down-Hill-Dcad Punk-Rock oder Gassenstreuna ihre Antifa-Raps oder eine deutsche Band Punk aus dem Pott spielen. In großen Liegenschaften existieren sogar Hausordnungen. Regelmäßige Sitzungen werden einberufen, bei denen Probleme besprochen werden. Veranstaltungen werden organisiert, und zuweilen wird auch die Bevölkerung zum Kaffeetrinken eingeladen. Im großflächigen Kochareal, das seit März 2013 besetzt ist, gibt es sogar eine eigene Druckerei. Auf der hauseigenen Webseite werden Events angekündigt, an denen zum Teil mehrere hundert Besucher teilnehmen. Auch die oben genannten Konzerte werden auf den einschlägigen Homepages angekündigt. Ich erinnere mich gut an eine Häuserräumung am Hagenbuchrain, die 2003 stattfand. An einem kalten Herbstmorgen, an dem Nebelschwaden die Landschaft umhüllten, fuhren Polizeifahrzeuge in einem Konvoi vor die Liegenschaft. Polizei-

hundefiihrer sicherten das Gelände ab. Auf dem Areal, genannt [)as Exil, türmten sich Müll und Unrat. In vielen besetzten Reihenhäusern brannte nur ein Licht, da die Besetzer noch schliefen. Weil kein zielgerichteter Dialog zwischen Eigentümern, Besetzern und Polizei zustande kam, stellte die Eigentümerschaft Strafantrag wegen Hausfriedensbruch. Einer Aufforderung, die Liegenschaft freiwillig zu verlassen, folgten die Besetzer nicht. Der Einsatzleiter setzte mit einer Megafondurchsage den Besetzern eine ultimative Frist. Schließlich wurde das Gebäude geräumt. Uber ein Dutzend Personen mussten ihre Habseligkeiten packen und ausziehen. Auf einem ausdrucksstarken Aufruf waren ein Panzer abgebildet und die Worte »Das Exil kriegt ihr nicht« geschrieben. An der gehässigen Demonstration beteiligten sich 300 solidarische Personen. Heute steht auf dem geräumten Areal eine moderne Wohnsiedlung.

Grundsätzlich lassen sich die Hausbesetzer in drei Gruppen unterteilen 1. Die klassischen Squatter*, die nach Freiraum streben und gegen leerstehenden Wohnraum kämpfen. 2. Die dialogbereiten friedlichen Leerraumnutzer und sporadischen Besetzer, die Eventbesetzer, die nur f ü r eine eintägige Party einen Raum oder ein Gebäude besetzen und danach wieder nach Hause gehen. * Squatter. Dieser Begriff wird international für Hausbesetzer verwendet, gemeint ist damit das Hocken oder Bleiben in einem selbst gewählten Freiraum.

3. Die kreativen Alternativen, darunter fallen auch die D»J daisten. Durch Transparente und eine Mitteilung, die sich an die Au*1 ßenwelt richtet, erhalten wir über die Art und Richtung der Besetzung Auskunft. Zum Teil leben auch Papierlose tempo-1 rär an solchen Orten. Nicht zu vergessen sind die Platzbeset- I zungen im offenen Gelände. Hier wohnen oft Stadtnomaden in Wagenburgen, ähnlich wie Sinti und Roma, in alten Wohnwagen und Anhängern mit selbstgebastelten Einrich-1 tungen. Auf dem Hunzikerareal in Oerlikon wohnten die Nomaden sieben Jahre lang, ehe sie wegen einer neuen Über- f bauung wegziehen mussten. In den vielen Jahren, in denen ich mit Hausbesetzungen zu tun hatte, erklärte ich den Beset-1 zern oft, dass besetzen nicht besitzen heißt. Eine in rechtlicher 1 Hinsicht simple aber fundierte Aussage. Denn wer illegal be- j setzt, kann nicht bestimmen, nur fordern oder fragen. Die bekanntesten Besetzungen in Zürich waren: Wohl-J groth, Krone Altstetten, Cabaret Voltaire, Binz, Ego City, j Kalkbreite, Exil, Labitzke und aktuell das Kochareal. Sie alle haben eine Geschichte. Wer sind die Hausbesetzer? Sind Hausbesetzer wilde Punks, Aussteiger oder einfach nur l Anarchisten? Auch Hausbesetzer und -besetzerinnen müssen irgendwie! zusammenleben und miteinander auskommen. Das gelingt i mithilfe regelmäßiger offener Sitzungen und Aufgabenvertei lungen. Selbst anarchistisch eingestellte Personen organisiere»

wmmm: mm

sich; im Unterschied zur bürgerlichen Gesellschaft vielleicht mit mehr Mitspracherecht und Offenheit. Der Vielfalt sind keine Grenzen gesetzt. Es gibt auch themenorientierte Häuser, wie Migrantinnencafe oder Besetzungen für eine Partynacht, sogenannte Sauvagen. Oft rechnen Medien im Vorfeld mit gewalttätigen Protesten, weil sie vielleicht Kontakt mit einzelnen Besetzern hatten. Doch die Voraussagen treffen meistens nicht zu. Eine Gruppe Hausbesetzer machte anonym Aussagen zu ihren Beweggründen. Dabei ging es um das Leben in sozialen Gefiigen und um die Realisierung gemeinsamer Projekte, da Wohnraum in Zürich sehr rar und teuer ist. Leerstehende Häuser seien daher eine Frechheit und müssten genutzt werden, brachliegende Ressourcen sollten wieder genutzt werden. Freiraum sei Allgemeingut, argumentierte die Besetzergruppe. Zu den illegalen Demonstrationen wollten sie sich allerdings nicht äußern. Es gebe ein sehr breites Spektrum illegaler Partys (dabei meinten sie wahrscheinlich eine RTS*), die sich organisieren lassen. Die Polizei verhalte sich manchmal nervös und ihrer Ansicht nach unkontrolliert. Sie machte sich mit der Aktion Respekt 2010 lächerlich. Man kann Respekt nicht mit Propaganda erzwingen! Unbegründete Räumungen - wenn das Haus nachher wieder leer steht - fuhren oft zu Reaktionen der Besetzer. Auf die Frage, ob ein Mediator als Schnittstelle zwischen Polizei und Besetzern zur Entschärfung beitragen würde, äußerten sie Bedenken. Wenn der Anfragende kompetent * RTS: Reclaim the streets

sei, könnte das bedingt funktionieren. Aber das gelte nicht für die ganze Squatterbewegung. Zitat der Hausbesetzerszene Zürich auf einer einschlägigen Webseite: »Es ist ein städtischer Aufwertungsprozess, der für viele durch eine steigende Miete der eigenen Wohnung oder höhere Polizeipräsenz im eigenen Quartier fassbar wird. Es ist beobachtbar, wie sich die gesellschaftliche Zusammensetzung in vielen Kreisen verändert und wie die Häufigkeit, mit der ein Polizeiauto den eigenen Weg kreuzt, zunimmt. Damit wird nachvollziehbar, dass von der Aufwertung im Kapitalismus nur diejenigen profitieren, die sich die neuen und schönen Quartiere leisten können. Für den Rest heißt Aufwertung Verdrängung « Das Wohlgroth Legendär ist der Spruch, der aus dem Zug auf dem Dach des besetzten Geländes gut zu entziffern war: »Wir bleiben alle!« Am 23. November 1993 wurde dieses Geviert (in der Nähe des ehemaligen AJZ) mit einem gigantischen Polizeiaufgebot geräumt. Ein Symbol der kreativen Freiraumaktivisten ging verloren. Bis zuletzt gab es erbitterten Widerstand. Doch am Tag, als die Polizei mit einem Großaufgebot und Helikopter eintraf, gaben die noch wenigen verbliebenen Besetzer kampflos auf. Bei einer vorangegangenen Demonstration war die Stimmung kämpferisch. Ein gemeinsamer Nenner zur Verteidigung kam nicht zustande. Nach der Räumung kam es zwei Nächte lang zu gewalttätigen Protesten mit über einer halben Million CHF Sachschaden. So war wieder ein Kapitel beendet, das im Mai 1993 viele Hausbesetzer träumen ließ.

\ l\

Reithalle Bern

\ Ist die Reithalle Bern eine Hochburg der linken Subkultur oder einfach nur eine Brutstätte von Krawallmachern? Nach . diversen schweren Ausschreitungen forderten Politiker die endgültige Schließung der Reithalle. Bei einer Schließung ist [ allerdings zu befurchten, dass es zu Jugendunruhen kommt. In den Köpfen vieler rot-grüner Menschen würde ein Stück Kultur vernichtet und das Problem auf andere Stadtviertel verlegt, was noch weniger zu kontrollieren und dezentraler wäre als der Ist-Zustand. Zudem würde dem vorwiegend linksextremen Segment der autonome Freiraum genommen. Das fuhrt zu einer Auflehnung des Proletariats gegen die Bourgeoisie, der herrschenden Klasse. In Abwägung aller Vorund Nachteile ist es wohl das kleinere Übel. Die Betreiber müssen aber mit Sanktionen rechnen, wenn die Richdinien bezüglich Gebäudesicherheit und Lärm nicht eingehalten werden. Das könnte zu Subventionskürzungen oder Streichungen fuhren. Ebenso müssen der Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie andere schwere Straftaten geahndet werden. Jede große Stadt braucht einen Nährboden fxir extreme Linke - so die Philosophie in Bern. Auf Radio Lora (Zürich) oder RaBe (Bern) gibt es Politsendungen, in denen immer wieder die konservative oder reaktionäre Gesinnung der kapitalistischen Gesellschaft kritisiert wird. Sie sehen ihre Projekte als Verwirklichung selbstbestimmten, solidarischen Lebens. Getragen wird der Ort an der Neubrückstrasse 8 vom Verein Interessensgemeinschafi Kulturraum Reitschule IKuR.} das juristische Dach der Reitschule.

Sie finanziert sich zum großen Teil selbst durch diverse Aktivitäten, zum Teil wird sie von der Stadt und durch Fonds finanziert. Was eine Räumung einer autonomen Institution auslösen kann, zeigen die heftigen Unruhen nach der Räumung des Zajfaraya am 17. November 1987. Die Besetzer provozierten die Polizei zum Teil bewusst. Wir lesen dies in den Zeitungen, und Berner Szenenkenner bestätigen es. Es komme vor, dass die Polizei wegen eines Containerbrandes oder einer Straßensperre in die Nähe der Reithalle gelockt und danach unvermittelt von Chaoten mit Steinen und Feuerwerkskörpern angegriffen werde. Eine hinterhältige, bewusst kalkulierte Taktik. Danach wird der Polizei gern der Schwarze Peter zugeschoben. Das Kontakttelefon der Reitschule wird nicht immer abgenommen. Wenn es abgenommen wird, bietet es keine Gewähr dafür, dass die Anliegen der Polizei befolgt werden. Die linke Subkultur wehrt sich Die Mediengruppe Reitschule Bern startete die Plattform Copwatch. Sie ruft Betroffene auf, Missstände zu melden. Sie sammelt Erfahrungsberichte über Polizeieinsätze und publiziert sie laufend im Internet. Die Anlaufstelle soll auch eine Art Qualitätskontrolle der Polizeiarbeit durch Bürger und Bürgerinnen sein. Ein nach Ansicht der Reithallenbetreiber unsinniger Einsatz spielte sich am 23. Mai 2017 ab, als ein angeblich bedrohter Drogenfahnder befreit wurde. Die Polizei drückte die Eingangstür auf und stürmte ins Areal. Das

Ganze wurde auf YouTube festgehalten. Der Film scheint echt zu sein. Die Polizeiaktion war nach dieser Darstellung übertrieben. Hier kann Hass geschürt werden, wenn Fehler nicht zugegeben werden. Früher hatte die Polizei Narrenfreiheit und wurde von bürgerlichen Anwälten gedeckt, so die Botschaft von Copwatch. Wer rechtliche Auskunft erhalten möchte, kann eine vierseitige Broschüre (zu 12,00 C H F ) bestellen, verfasst von demokratischen Anwälten.

In anderen Städten — zum Beispiel in Zürich — gibt es Ombudsstellen, die auch für die Polizei zuständig sind und sich um Beschwerden Betroffener kümmert. In ihren Jahresberichten wird auch das Problem Racial Profiling thematisiert. Präventionsgedanke

Denkbar wäre ein Zwang zur Zwischennutzung leerstehender Räume, auch für alternative Projekte, das setzt voraus, dass es Ansprechpersonen gibt. Eine staatliche Stelle berät die Eigentümer, wie ihr Haus genutzt werden kann. Wer sein Haus leer stehen lässt, ohne zweckmäßige Nutzung, wird bestraft. Dazu könnte eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden. Diese Idee stammt nicht nur aus Kreisen der Amter, sie stammt auch von Schülern, die diese in Workshops erarbeiteten. Als Ausgleich soll es genügend Kulturformen und Räume geben. Diese Idee kommt bei Fundamentalsquatern vermutlich nicht gut an.

Der Freiraum Ist Freiraum Allgemeingut? In gewissem Sinn ist Freiraum Allgemeingut und auch wirf nicht. Ist eine leerstehende Liegenschaft oder ein brachliegend des Stadion Allgemeingut? Das Land, die Straßen, die wir bi fahren, die Häuser, die bewohnt werden, die Parkanlagen, f der gechillt wird: all das gehört jemanden oder einer Insti tion, ob leer oder genutzt. Ware es nicht so, würde Anardr und Willkür herrschen und auf die Gesellschaft destabilistf rend wirken. Je mehr Menschen auf engem Raum leben, de^ to mehr Regeln sind notwendig. Schließlich haben wir u das alles selbst so aufgebaut. Sie kennen vielleicht die Street-Paraden mit ihrer laut dröhk nenden Musik und den tanzenden Menschen. Mit ihr sind viel Umsatz und Kommerz verbunden. Das passte den alternativen] Linken nicht, sie riefen die alternative Street-Parade aus. Ma Traktoren und Anhängern zelebrierten Hausbesetzter und liiffl ke Kommerzgegner eine kunterbunte Alternativparade. Em Gegenpol zum Kommerz quasi. Die Polizei tolerierte diesa Umzüge außerhalb des Stadtkerns. Nach einigen Jahren gab • die Antiparade nicht mehr. Die erhoffte Wirkung blieb aus, di«| Antiparade war vielen »zuReich«. Alternative bezeichnen dkl reiche Stadt Zürich gern als zuReich. Uber Jahre hinweg war an der Zollstrasse, wo das Wohlgroth stand, von den Zügen aus, die in den Hauptbahnhof einfuhren, der Spruch »Alles wix» gut« sehr gut zu lesen. Er war unten mit einer dem SBB-Logj| nachempfundenen Schrift »zuReich« gekennzeichnet.

Oben

links:

Ordnungsdienst-Ausbildung

1983 Oben rechts: Vor der Hauptwache Urania kurz nach der Ausbildung im Streifendienst Rechts: Vereidigung Herbst 1984 Fo Igeseiten: Zusammentreffen von Polizei und Demonstranten bei verschiedenen Gelegenheiten

Stüdtaufwertung, Ausbeutung und Kommerz Zürich boomt, nicht nur in der Informatikszene mit den Großkonzernen Google und IBM, sondern auch in der AufArtung. Die teure und riesige Europa-Allee-Überbauung blüht auf. Die SBB überbaute ihr Land mit vermeintlich sicheren Anlagen in Form von Geschäfts- und Wohnbauten. Die Preise einer dreieinhalb Zimmerwohnung sind exorbitant, manche werden mit einer Monatsmiete von über 4500,00 CHF angeboten. Die Anarchisten und Linken im Kreis 4 fühlen sich gedemütigt. Es fehlt günstiger Wohnraum. Diese Fehlplanung ist für viele Bürger der Stadt nachvollziehbar. Tendenzen der Urbanisierung sind deutlich erkennbar. Prognosen zufolge wird die Stadt weiter in die Höhe wachsen. Die Politik beruhigt die Bewohner mit der Ankündigung, ausreichend Erholungsraum zu schaffen. Die Bewegung Reclaim the City prangert an: »Wir haben die Schnauze gestrichen voll«, steht auf einem ihrer Flyer. Gemeint sind damit auch die angeblich schikanösen rassistischen Personen- und Fahrradkontrollen sowie Wegweisungen im Gebiet Lang-Militär-Strasse in Zürich. Unliebsame Menschen sollen vertrieben werden. Man wolle auch keine Quartiere, in denen sich nur noch zugezogene Besserverdienende eine Wohnung leisten können. Die Wohnungen sollen auch für ärmere Menschen bezahlbar sein. Beispiele großangelegter Platzbesetzungen in Zürich - Das »Shantytown«, ein Zeltlager am Sihlufer, mitten in der Stadt (29. Juli bis 1. August 2005); weit über 100 Ak-

tivisten zelebrierten alternatives Wohnen und prangerten die Wohnungsknappheit an. - Das autonome Barackendorf »Dansileue« am Zürcher Seebecken vom 1. bis 3. September 2006. In einer großangelegten Aktion wurde der 13. Stadtkreis ausgerufen. Mit Gittern und Planen verschanzten sich über 300 Aktivisten und lagerten am Seeufer. Nach einem Ultimatum der Po- j lizei räumten sie das Barackendorf. - Die Hardturm-Besetzung »Brotäktschen« nach Euro, vom 4. bis 6. Juli 2008. Aktion gegen Kommerz und Sicherheitswahn auf dem frisch stillgelegten Hardturmstadion. I Mehrere Hundert Personen nahmen daran teil. Es wurden Wagenrennen und ein alternatives Fußballturnier durchgeführt. Die damalige Eigentümerin Credit Suisse hatte keine Freude an den vielen Sprayereien. - Trotzphase-Besetzung im Platzspitz vom 25. bis 27. Mai 2018. Mit dem Slogan: »Nehmen uns den Raum - Who cares« belagerten mehrere Hundert Aktivisten den einstigen Needlepark.

Illegale Partys Kommerz und teure Eintritte in die zahlreichen Clubs verwehren jungen freiheitsliebenden Menschen den Eintritt. Sie suchen deswegen das spontane, verrückte und losgelöste Event. Keine Notausgänge, keine Sicherheitsbestimmungen, all das ist den spontanen Partygängern egal. Hauptsache es

fließt Alkohol, es gibt keine Vorschriften u n d die S t i m m u n g ist t o n . W e h e , d i e B u l l e n m i s c h e n s i c h ein. D a n n e n t s t e h t wieder d a s b e k a n n t e F e i n d b i l d ! Illegale Versammlungen entstehen wie ein loderndes Feuer. Es kann zu einer gigantischen Feuersbrunst anwachsen und alle Ressourcen vernichten, es k a n n aber auch mit der Schuhsohle erstickt werden, u n d keiner merkt etwas davon, zumindest die A u ß e n w e l t nicht. Diese Entstehung ist äußerst spannend u n d h ä n g t v o n verschiedenen, situationsbedingten Faktoren ab. Bei einer v o n m i r selbst durchgeführten Befragung an einer Berufsschule, antworteten 7 von 35 Schülern auf meine Frage: »Würdest du an einer illegalen Party teilnehmen?», m i t e i n e m klaren Ja. Bei der gleichen Befragung merkten die Schüler an, dass die Polizei besser die richtigen Straftäter suchen sollte, statt Schüler mit Kontrollen zu schikanieren. M e h r als ein Drittel einer Polizeiklasse hat Verständnis dafür, w e n n Jugendliche einem A u f r u f zu einer illegalen Party folgen. In Zürich werden jeden S o m m e r viele Jugendpartys außerhalb der Kernzone bewilligt u n d abgehalten, beispielsweise in Höngg oder Zürichberg. Die Veranstalter der illegalen Partys prangern die teuren Kommerzanlässe in Clubs an sowie die dezentrale Lage der legalen Partys. D a r u m suchen sie von Zeit zu Zeit urbane, zentral gelegene O r t e für Gratis-Goa-Partys, oft sind das Abbruchliegenschaften. Die Veranstaltungen sind häufig eine Art Hommage zur Geschichte eines alten Hauses. Die Polizei löste in den letzten zehn Jahren i m m e r wieder illegale Outdoor-Par-

tys auf, insbesondere dann, wenn das Einschreiten düliti ®p Polizei nachhaltig Erfolg hatte, sprich: die Ansammlung aufgelöst und die Musikanlage konfisziert werden konnte, was meist einen zum Teil erfolgreichen aber auch heiklen Vorgang darstellt. Denn mehrere Male wurde als Vergeltung für eine solche Aktion eine militant ausgerichtete Straßenparty, eine sogenannte RTS (Reclaim the Street) ausgelöst, bei der großer Sachschaden entstand (siehe Seite 104). Eine private Party artet in einen AJkoholexzess ans Einer hübschen jungen Frau werden, ohne dass sie es bemerkt, Ko.-Tropfen ins Getränk gegeben. Eine Gruppe angetrunkener junger Männer versucht, sie hinter dem Gebäude zu vergewaltigen. Die Polizei wird durch eine aufmerksame Kollegin gerufen. Die erlebnisorientierten, angeheiterten Jugendlichen provozieren die ausgerückten Polizisten. Viele davon wissen nicht, worum es geht. Sie haben Angst, dass die Party abgebrochen werden könnte. Sie solidarisieren sich mit den jungen Männern und greifen die Sanitäter an. Solche Vorfalle sind schrecklich, kommen aber immer wieder vor. Schuld daran ist nicht das Feindbild. Vielmehr muss das eigene Verhalten hinterfragt und reflektiert werden.

Clubs und Türsteher Bei den vielen Clubs in größeren Städten sind unterschiedlich gut ausgebildete Sicherheitsleute angestellt. Von Pseudosecurity über Heils Angels bis hin zu Zuhälterbanden ist alles vertreten. Unter den Türstehern herrschte in den vergangenen Jah-

tys auf, insbesondere dann, wenn das Einschreiten durch die Polizei nachhaltig Erfolg hatte, sprich: die Ansammlung aufgelöst und die Musikanlage konfisziert werden konnte, was meist einen zum Teil erfolgreichen aber auch heiklen Vorgang darstellt. Denn mehrere Male wurde als Vergeltung für eine solche Aktion eine militant ausgerichtete Straßenparty, eine sogenannte RTS (Reclaim the Street) ausgelöst, bei der großer Sachschaden entstand (siehe Seite 104). Eine private Party artet in einen Alkoholexzess aus Einer hübschen jungen Frau werden, ohne dass sie es bemerkt, Ko.-Tropfen ins Getränk gegeben. Eine Gruppe angetrunkener junger Männer versucht, sie hinter dem Gebäude zu vergewaltigen/ Die Polizei wird durch eine aufmerksame Kollegin gerufen. Die erlebnisorientierten, angeheiterten Jugendlichen provozieren die ausgerückten Polizisten. Viele davon wissen nicht, worum es geht. Sie haben Angst, dass die Party abgebrochen werden könnte. Sie solidarisieren sich mit den jungen Männern und greifen die Sanitäter an. Solche Vorfälle sind schrecklich, kommen aber immer wieder vor. Schuld daran ist nicht das Feindbild. Vielmehr muss das eigene Verhalten hinterfragt und reflektiert werden. Clubs und Türsteher Bei den vielen Clubs in größeren Städten sind unterschiedlich gut ausgebildete Sicherheitsleute angestellt. Von Pseudosecurity über Heils Angels bis hin zu Zuhälterbanden ist alles vertreten. Unter den Türstehern herrschte in den vergangenen Jah-

ren ein Prestige-Machtkampf, bei dem es um die Vorherrschaft ging. Albanischstämmige Sicherheitsleute (z. B. Sondame/Bahoz) tragen mit anderen ausländischen Gruppen Konflikte aus. Die ethnische Herkunft eines Türstehers spielt oft eine große Rolle bei Streitereien und Provokationen. Oft stammen sie aus dem Ostblock und haben kurdische, türkische oder albanische Wurzeln. Konflikte zwischen Besuchern aus rivalisierenden Ländern sind daher naheliegend. Neben den professionellen Sicherheitsdiensten werden auch andere eingesetzt. Im Kanton Bern sind die gefurchteten Mitglieder des Motorradclubs Broncos als Türsteher und Rauswerfer tätig. Ein tragischer Fall ereignete sich am 3. August 2017 in Konstanz, als ein durchgeknallter Iraker nach einem Streit ein Gewehr holte und einen Türsteher erschoss. Die Polizei war schnell vor Ort und konnte den Täter stellen. Nach dem Schusswechsel mit der Polizei starb der Täter im Spital. Es werden ständig organisatorische und strukturelle Verbesserungen bei Sicherheitsdiensten angestrebt. Partygänger und Ausgehvolk mit ihren Exzessen sind leider unberechenbar und stellen Risikofaktoren dar. Der Umgang mit negativen Schlagzeilen Pressemitteilung der Stadtpolizei Zürich. Dienstag, 26. Dezember 2017: Polizisten mit Eisenstangen und Feuerwerkskörpern angegriffen, illegale Party aufgelöst. Kurz vor 1:30 Uhr wurde der Stadtpolizei gemeldet, dass mehrere Personen beim Hardplatz und der Großbaustelle des Polizei- und Justizzentrums Zürich (PJZ) Betonwände besprayen. Als die Patrouillen

vor Ort eintrafen, wurden sie sofort mit Steinen und Eisenstangen beworfen und angegriffen. Zudem wurde mehrfach pyrotechnisches Material gezündet. Die Stadtpolizei Zürich setzte daraufhin Gummischrot und Reizstoff ein. Die Personen zogen sich danach in die Unterfuhrung beim Hardplatz zurück, in der eine illegale Party mit rund 100 bis 200 Personen im Gang war. Von dort aus warfen sie weiter Steine und Flaschen gegen die Polizisten. Nachdem die Polizei mit Megaphon die Menschenmenge mehrfach aufforderte, die Party zu beenden und die Unterfuhrung zu verlassen, wurden sie erneut mit Steinen und Flaschen angegriffen. Nachdem dies keine Wirkung zeigte, wurde nach einer weiteren Abmahnung Reizstoff eingesetzt, was dazu führte, dass die Leute die Party beendeten und die Ortlichkeit verließen. Bisher liegen keine Angaben zu Verletzten vor. Die Höhe des angerichteten Sachschadens kann zurzeit nicht beziffert werden. Neben der Stadtpolizei Zürich waren auch Patrouillen der Kantonspolizei Zürich im Einsatz. Tagesanzeiger vom 25.3.2019: Junges Partyvolk greift Polizei an. Eine illegale Party hatte am Wochenende mitten in der Stadt Baseiden Verkehr behindert. Die Jugendlichen warfen beim Eintreffen der Polizei Schottersteine gegen die Beamten, diese setzten Tränengas ein. Deeskalation oder durchgreifen? Was ist das richtige Verhalten bei illegalen Demonstrationsversammlungen und Partys? Wenn die Polizei mehr Kontrollen durchführt, zum Beispiel über Medien verbreitet, steigt

w der Frustpegel auf der Gegenseite erst recht an. Denn die Solidarisierung unter den Jugendlichen ist enorm, wie ein Ereig\ nis im Jahr 2011 zeigt. Die Party soll nicht versaut werden. Agiert die Polizei aus Sicht der Jugendlichen zu forsch, entwickelt sich ein Aggressionspegel, und es entsteht ein Schwarzer-Peter-Spiel oder eben ein Feindbild. Die Polizisten begeben sich unter Umständen wegen einer Lappalie in unnötige Gefahr und werden in der Dunkelheit mit Flaschen und Steinen beworfen. Der Versuch, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, scheitert. Die Verhältnismäßigkeit sollte der Schlüssel sein, wie ich meine. Wenn grobe Vergehen oder Verbrechen begangen werden und die Aussicht auf Erfolg absehbar ist, muss mit den richtigen Mitteln und Kräften eingeschritten werden. Duldung und Beobachtung ist in vielen Fällen kein schlechter Berater, denn die Zeit heilt oft Wunden. Klare polizeiliche Durchsagen oder schlicht Lautsprechermusik kann die aufgebrachten Gemüter beruhigen. Das konnte ich in all den Jahren immer wieder feststellen. Betrachten wir die Situation einer wilden Party nüchtern. Wir hören laute Musik und lautes Gerede. Blockaden, Verkehrsbehinderungen oder Sachbeschädigungen gibt es keine. Es werden auch keine Drogendelikte festgestellt. Anwesend sind 300 bis 400 junge Menschen, und es ist dunkel. Was würden Sie tun? Würden Sie die Party dulden und das Geschehen weiter beobachten oder die Musikanlage gewaltsam konfiszieren? In Anbetracht der Verhältnismäßigkeit und der vorliegenden

Gesamtsituation ist eine Duldung meiner Meinung nach eher ratsam, sofern es zu keinen weiteren Gesetzesverstößen kommt. Wird die Konfiszierung der mobilen Musikanlage beschlossen, steigt abrupt die Gefahr, dass die Situation eskaliert. Eine solche Aktion kann mit schwerverletzten Beamten enden, wenn sie nicht effizient durchgeführt wird. So kam es zum Beispiel vor, dass die Einsatzkräfte beim Rückzug mit Steinen beworfen wurden. Die Aufgabenstellung für die Polizei ist in diesen Situationen sehr schwierig. Sie soll für Ruhe und Ordnung sorgen. Auf jede Situation sollte wie bei einem Patienten im Krankenzimmer reagiert werden. Welches Medikament oder welche Indikation erzielt die beste Wirkung? Das Einschreiten oder die Passivität soll der trendigen und lebendigen Stadt angemessen sein.

RTS »Reclaim the Street«* Diese Anlässe finden stets am späten Abend in größeren Städten und an bequem erreichbaren zentralen Orten statt- Ursprünglich stammt die Idee aus England. Friedlich zogen jungen Leute mit Musik begleitet durch die Straßen, ohne dass etwas passiert. Die letzten großen RTS-Aufmärsche eskalierten jedoch allesamt, am schlimmsten in den Jahren 2010> 2013 * Aufrufe werden auf diversen Plarrformen gescellt: So zum Beispiel in Basel auf: http://partyzone.kartagon.com und in Luzern auf: http://undergrounddogs.net, oder in Zürich unter: http://uwmsqt4at.net/dc unter Stressfaktor und Facebook sowie YouTube. Auch das lokale Alternativradio »LORA« ruft ab und zu fUr solche Events auf.

V

Ii Ij

i 2014. Die Schadensumme betrug mehrere Millionen Qie RTS kommt wie ein Orkan daher, unberechenbar und stürmisch. Wie zum Beispiel am 12. Dezember 2014. Einen Tag danach schaute ich mir die Europaallee an. Jedes zweite Schaufenster war verschmiert oder zerschlagen. So das Geschäft Hin & Weg, als Symbol und Mahnmal für die Aktion. Sind mobile Musikanlagen im Einsatz, um die sich eine Traube junger Leute versammelt, kann dies eine RTS werden. Aufgerufen wird mit Flyern, per SMS und zum Teil mit kurzfristigen Ankündigungen auf den einschlägigen sozialen Plattformen. Gerne mischen sich auch Sprayer und Punker unter den Umzug. Es spricht sich herum, spontan stößt auch normales Ausgehpublikum (Partygänger) dazu. Ich nenne die Mitläufer in einem meiner Referate »Freiheit liebende Outdoorgänger«. Der Umzug hat eine geballte Eigendynamik. Daraus entwickelt sich eine hoch emotionale Masse. Niemand will verantwortlich sein für das, was passiert. Die Polizei findet keinen maßgeblichen Ansprechpartner. Am 6. Februar 2010 wurden bei einem Fußballspiel (FC Zürich - Xamax) Flyer gefunden, die auf eine RTS hinwiesen. Viele junge Fußballfans von der bekannten Zürcher Südkurve beteiligten sich neben Autonomen, Hausbesetzern und apolitisch Erlebnisorientierten an der Aktion. Ich fragte einen ehemaligen RTS-Teilnehmer, woher die Infos stammten und wie es mit der Motivation stand. Der Input kam meistens eine Woche vor dem jeweiligen Anlass von Freunden, manchmal auch per SMS oder Flyer. Für einen Free-Sprayer war ein solcher Anlass ein gefundenes Fressen.

Fazit Bei vielen illegalen Aktionen, wie zum Beispiel RTS, kann die Polizei nur Schadensbegrenzung erreichen, weil sie für mehr nicht die Mittel hat. Weiß die Polizei Bescheid, kann sie sich entsprechend vorbereiten und gegebenenfalls einschreiten, wenn es die Umstände erfordern. Die Dynamik ist wie ein lodernder Vulkan Vor einer RTS findet meistens bereits ein sogenanntes Vorglühen statt. Getränke werden in großen Mengen organisiert und der vereinbarte Start festgelegt. Eine Teilnehmerin erzählte mir, dass die meisten eigentlich nur friedlich auf die Straße wollten und erst zornig wurden, als die Polizei den Gratismusikumzug stoppte. An Wochenenden gesellen sich schnell viele junge Leute zum Geschehen. Ich stellte fest, dass Unbeteiligte in einer Art Solidarisierungswelle als »Puffermasse« mitmarschieren. Der ganze Umzug ist in sich selbst orchestriert. Das erschwert die Arbeit der Polizei ungemein. Sie wird zum Verhinderer gestempelt und zum Feind erklärt, weil sie im Weg steht. Dadurch kommt es bei vielen Teilnehmern zu einer gesteigerten Aggressivität. Sie werden richtig hasserfullt, denn sie haben einen großen Aufwand (Begleitfahrzeuge und Getränke organisieren etc.) betrieben und wollen das Ding nun durchziehen. Hoher Alkoholkonsum und laute Musik heizen die Gemüter an. Wie eine wilde Herde Büffel, die kaum aufzuhalten ist, ziehen sie dann durch die Straßen. Durch das Gruppengefüge kommt es zu weiteren Schüben, die häufig in Steinewerfen und der Zerstörung fremden Eigentums (Fensterscheiben, Fassaden, Autos) ausarten. An sol-

chen Anlässen sind häufig auch frustrierte Fußballfans beteiligt, zusammen mit Autonomen, Hausbesetzern und erlebnisorientierten jungen Leuten.

Aktivitäten der Linksextremen Die Vielschichtigkeit Junge Leute denken vielschichtig und sind gut vernetzt, sie sind sozusagen 24 Stunden online. Einzelne Vertreter der Linksextremen können nicht einfach in einen Anarchotopf geworfen und als Antifa bezeichnet werden. Gerade die jüngere Generation ist in Schülernetzwerken sehr gut repräsentiert. Dort wird aufgegriffen, was gerade wehtut. Auch an den Hochschulen existieren Rebellionsgefäße, die aktuelle Themen aufnehmen und gegebenenfalls anprangern. Häufig treffen kontroverse Abtreibungsgegner und Linksextreme, wie zum Beispiel die Aktion Marsch fürs Läbe, aufeinander. In Bern gingen 2018 die meist christlich orientierten Eiferer und dezidierten Abtreibungsgegner auf die Straße. Mit einem Großaufgebot der Polizei konnten Scharmützel mit Linksextremen verhindert werden. In Zürich kam es 2010 und 2011 zu wüsten Szenen, als Linksaktivisten sogar Priester angriffen, die bei der Demonstration symbolisch ein Kreuz oder einen kleinen Sarg trugen. Nonnen und Ultrakonservative wurden ausgepfiffen. Nicht nur die Polizei, auch Abtreibungsgegner werden zum Feindbild gestempelt!

Die extreme Linke kämpft nicht nur gegen das kapitalist? sehe System, gegen Ausbeutung, Ausgrenzung und angebliche Polizeirepressionen usw., sondern auch gegen die von ihnen als Faschisten bezeichneten Menschen. Dazu gehören ihrer Auffassung nach auch die PNOS*. Es handelt sich also um ein ausgedehntes buntes Feindbild. Auf jede öffendiche Veranstaltung der Faschisten wird zu einer Gegenmobilisierung aufgerufen. So traten die verfeindeten Gruppen am 24. November in Basel auf, in einer Stadt, in der es in jüngster Vergangenheit vermehrt zu gewaltsamen Übergriffen auf Minderheiten gekommen war. Interessant daran ist, dass die extreme Linke sich selbst das Recht gibt, notfalls auch mit Gewalt gegen Gegner vorzugehen und dass sie dadurch ihren Unmut bekundet. Wird aber gegen sie Gewalt angewendet, wird dies in der Offendichkeit ausgeschlachtet. Und wieder wird ein Feindbild zementiert. Legitimierung eines anonymen Demonstranten Es ist schon eine Schweinerei, einem Menschen zu verbieten, gegen ein politisches Ereignis zu demonstrieren, selbst wenn er sich mit anderen zusammengerottet, sich vermummt, ein Schild bemalt oder in ein Fahrzeug eine Delle geschlagen hat. Die Pufferfunktion Viele kennen Schmerzen der Bandscheibe. Die Ursache ist im übertragenden Sinn eine Disharmonie. Bandscheibenschmerzen können destabilisieren. Der Dienst, in dem ich tä* PNOS: Partei national orientierter Schweizer (rechts gerichtet)

tig bin (bis Frühjahr 2020), stellt eine Art Puffer zwischen Poll lizei und Gegenseite dar. Wir spüren und beobachten die Sze1 nerien auf dem städtischen Tummelplatz, kennen gewisser\ maßen das gesamte Potpourri und die verschiedenen Auswüchse in der Gesellschaft. Allein das Gegenüber von Monopol der ausführenden Gewalt (Polizei) und der Bürger - lässt wenig Spielraum zu. Denn die Polizei muss oft Bußgelder auferlegen, Verwarnungen aussprechen und Anzeigen aufnehmen. Allein durch diese Situation entstehen Feindbilder. Nun gilt es aber, diese Feindbilder mehr als Freund und Helfer zu empfinden. Das gelingt zwar auf breiter Ebene, aber dennoch soll in Zukunft das Miteinander und Füreinander größeres Gewicht bekommen.

Der berüchtigte »schwarze Block« Im Grunde genommen ist der schwarze Block keine Organisation, sondern eine Zusammenrottung verhaltensgeübter Linksaktivisten, einer effektiven, gefiirchteten, unberechenbaren, zumeist autonom-anarchistischen Ansammlung verschiedener Einzelpersonen und Gruppierungen. Sie gehen nach strikten Anweisungen und Verhaltensregeln, gesteuert von Personenkreisen des RAS*, vor. Der Block ist keine homogene Gruppe mit gleichen Zielsetzungen, Idealen oder Wertvorstellungen. Vielmehr bilden sie ein Zweckbündnis 2L/MS Revolutionärer Aufbau Schweiz

und überdecken damit ihre ideologischen Divergenzen. Der Block kann zuweilen eine rein militante Bestrebung sein, aber auch den Fokus auf eher politisch-ideologische Inhalte legen. Das wird mit dem Skandieren von Parolen untermauert. Der Widerstand soll mit geballter Macht ihre Anliegen demonstrieren und ihnen damit im öffentlichen Raum mehr Respekt verschaffen. Der Block muss nicht zwingend gewalttätig sein. Auch non-verbale Elemente kommen dabei zum Einsatz. Nicht nur die Autonomen artikulieren sich auf diese Weise, auch Tierschützer treten in Schwarz auf und rufen zu Schweigestunden auf. Ihre Botschaft, mit Fotos von Abschlachtungen drastisch illustriert, wird sehr wohl von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Dieses Gebaren ist auch irgendwie traurig. Beim klassischen Block ist der Selbstschutz, eben das Anonymisieren, ein wichtiger Faktor. Der ideologische Block spaltet sich in kleine Gruppen auf und wechselt die Kleidung, sobald es zu Ausschreitungen oder zu einer Einkesselung kommt. Sie formieren sich später neu oder verfolgen das Geschehen aus der Distanz. Andere Absplitterungen verüben Farbanschläge oder heizen die Stimmung wieder an. Sie propagieren, strikt die Aussage zu verweigern, und wollen mit den Bullen auf keinen Fall kooperieren. Beid er Entmummung dürfen keine Kameras der Polizei eingeschaltet sein. Uber die Verhaltensweisen werden Infbrmationsbroschüren verteilt und Informationsabende veranstaltet. Auf YouTube werden Filme gezeigt, wie man sich D

O

vermummen kann. Bei Festnahmen stehen AntirepressionsTclefonnummern zur Verfugung. Alternative Anwälte oder

solidarische Juristinnen stehen mit Rat zur Verfugung. Meistens wird der Anrufer anhand einer Liste oder gezielter Fragestellung identifiziert. Schließlich sind Schnüfflerbullen nicht willkommen! In der Regel sind diese Auskünfte gratis oder werden durch ein Anwaltskollektiv abgerechnet. Fehlt Geld in der Kasse, werden Konzerte und Ähnliches in besetzten Liegenschaften oder günstigen Locations veranstaltet. Sporadisch werden sogenannte Antirepressionsabende organisiert, um sich über Bußgeldbescheide oder Inhaftierungen auszutauschen. Versuche der Polizei, kleine Gruppen voll vermummt in den Block einzuschleusen, scheiterten bislang, sei es wegen der nonverbalen Gestik oder unbewussten Fehlverhaltens. Die Schwarzblöckler scheinen es instinktiv zu riechen. Oft macht der Block zwar Stimmung, skandiert zum Beispiel die Internationale, überlässt das Steinewerfen aber den sogenannten Eventchaoten und entzieht sich damit rechtzeitig einer drohenden Einkesselung. Sie laufen dann entmummt in kleinen, unauffälligen Gruppen herum. Die ursprünglich mitgefuhrten Gegenstände fiir die Demonstration, wie Tarnung oder Knallpetarden, deponieren sie irgendwo. Ein vermummter Mob kann ganz schön Angst machen. Bei einem Einsatz im Ordnungsdienst als junger Streifenwagenpolizist standen uns (vier Polizisten, davon ein Chauffeur und eine Aspirantin) etwa 40 Chaoten gegenüber. Sie kamen uns bedrohlich näher. Wegfahren war nicht möglich. Mein Kollege und ich sahen uns an, und wir entschieden uns, die Jndianermethode anzuwenden. Wir stürmten laut schreiend

zu zweit (die junge Polizistin und der Chauffeur blieben M cherheitshalber im Wagen) auf die Meute zu. Gleichzeitig feuerten wir je eine Ladung Gummigeschosse ab. Es wirkte, und die Chaoten wandten sich ab und flohen. Natürlich gab es auch aussichtslose Situationen, in denen wir die Flucht ergreifen mussten. Eine RAS-Anjuhrerin über den »Schwarzen Block« »Der Schwarze Block ist ein >GespenstGespenst die versuchen, junge Leute für ihre Ideen zu gewinnen. Die RfG ist auf YouTube sehr aktiv und präsent. Sie stellt dort Filme »Für mehr polizeifreie Räume« oder zur »Vermummung« ein. Dazu existieren auch Buchläden und bekannte Treffpunkte. Die Schülerbewegung Klimastreik, ch ist ein gutes Ressourcebecken für die Gewinnung künftiger Aktivisten. Ebenfalls Konsumangebote aus dem Buchladen sind Antifa-T-Shirts, proletarische Romane, Zeitungen, Dokumentationen revolutionärer Organisationen und kommunistische Literatur. Eine ehemalige Linkextremistin erzählt (anonym) »Faszinierend war für mich, mit welchem Eifer sich Personen für ihre Interessen und Anliegen einsetzten. Ich stellte fest, dass nicht in erster Linie die Freude an der Zerstörung einer Fensterscheibe einer Bank im Vordergrund steht, sondern die gelebte Ideologie, der erhärtende Glaube, etwas verändern zu können, gemeinsam auf die Straße zu gehen. Es geht darum, für gerechte Löhne der Arbeiterschicht zu kämpfen, gegen Gewalt und Ausbeutung der Frauen zu demonstrieren, Flugblätter zu gestalten, Workshops zu organisieren und zu diskutieren. All das gab mir ein Gefühl des Kollektivs, aus dem etwas entstehen kann. Irgendwie war das

Ungewisse bei einer Demonstration auch spannend, was einen Zusammenhalt bewirken kann.« Interessant ist die Aussage in Bezug auf eine drohende Einkesselung: »Sich nicht dem System (Machtapparat) zu beugen und der polizeilichen Aufforderung nicht Folge zu leisten, den Protestort zu verlassen, da es sonst zu einer Anzeige kommen könnte. Die rechtlichen Konsequenzen waren den meisten Hartgesottenen egal. Alle, die aus dem Kesselflüchten wollten, wären als feige bezeichnet worden. Nach den Kontrollen, die meist fair durchgeführt wurden, suchten wir uns wieder, um das weitere Vorgehen abzusprechen. Auch bei Verhafiungen solidarisierten wir uns, wenn immer möglich. Mögliche Vergeltungsaktionen wurden im harten Kern besprochen. Wer Demomaterial mitnimmt, möchte das auch verwenden. Nicht nur aus Frust, sondern auch aus einem Gruppenzwang heraus wurden zuweilen Raketen abgefeuert oder Flaschen geworfen. Einzelne Bullen machten während der Kesselaktionen dumme Sprüche, wie: >Ihr seid nichts wert!< Mobilisiert wurde bei öffentlich bekannten Demonstrationen meist via Internet, spontane Aktionen über Mund-zu-MundPropaganda oder per SMS. Gesteuert wird das in der Regel hie- H rarchisch. Langjährige und erfahrene Aktivisten sind die Tonträger, sie geben den Takt an. Bei Ausschreitungen sind teilweise auch Berufichaoten aus dem Ausland zur Unterstützung dabei, wie das bei den Hooligans vorkommt. Die haben sogenannte ) Partnerstädte und helfen sich gegenseitig aus, wenn ein Angriff \ einer anderen Fangruppierung angekündigt wird.«

I

j

|

I

\ Wie wird agiert? \ Tendenziell gab es in den letzten Jahren in der Schweiz, außer \ am 1. Mai, keine geballten Großdemonstrationen mehr. Die \ letzte große Globalisierungsdemonstration fand im DezemJ ber 2014 anlässlich des OSZE-Ministertreffens in Basel statt. Ein Grund dafür sind sicherlich die unstimmigen Bündnisse. Fahrraddemonstrationen für weniger Autoverkehr und Klimademonstrationen von umweltbewussten Schülern sind aktuell. Diese verlaufen meistens friedlich. Legen gemäßigte Organisationen Wert auf friedliche und kreative Aktionen, verüben die Linksradikalen lieber hinterhältige Färb- oder Knallraketenangriffe gegen angeprangerte Objekte, meistens in der Nacht. Tags darauf wird oft ein Bekennerschreiben publiziert. Die Ziele und Methoden der gewaltbereiten extremen Linken sind nicht zu unterschätzen. Paradox ist, dass die Institutionen des Staates genauso missbraucht werden wie die demokratischen Rechte. Im Gegensatz zum Rechtsextremismus, der eher in ländlichen Gegenden verwurzelt ist, installiert sich Linksextremismus vor allem in größeren Städten. Ein Teil sieht sich als sogenannte kritische Masse, die sich zu solch einem Anlass solidarisiert. Die Aktion muss auch nicht zwingend politisch ausgerichtet sein, schließlich will man nur im Kollektiv tanzen, trinken, rauchen und feiern. Anstehen an der Kasse und gar noch Eintritt bezahlen, kommt nicht in Frage. Die Freiheit und der Freiraum sind entscheidend, dem Feindbild zum Trotz.

Straßenkampf und seine Themen Die Gründe: Einschneidende Themen wie Gebührenerhöhung an der Universität oder die angedachte Reduktion der Studienplätze mobilisieren sehr viele Demonstranten. Das Gros der Studierenden ist friedlich und dialogbereit. Solange die Polizei nicht einschreiten muss, steigen die Autonomen nicht kollektiv ins Boot, lediglich Einzelpersonen solidarisieren sich. Bildungsabbau, Klimafragen und Sparmaßnahmen bewegen viele junge Schüler aus Kantonsschulen. Legt sich das Problem, verraucht auch das Interesse wieder. Das linksextreme Spektrum hat alle Themen auf dem Radar, die relevant sein könnten, sei es die Flüchtlingspolitik, der Tierschutz, der Bau eines neuen Polizei- oder Justizgebäudes, SVP-Politik, Repression oder Stadtaufwertung. Globalisierung und Kapitalismus Die Thematiken verdeutlichen sich stets während der Zeit des WEFs in Davos oder bei Treffen der reichen Nationen. Bei der Austragung zum diesjährigen WEF standen Umweltthemen ganz oben auf der Liste, so die Klimaerwärmung und die Umweltzerstörung. Die Zersiedelungsinitiative der Grünen schürt die Angst vor Naturausbeutung. Die schwedische Schülerin und Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg erlangte 2018 mediale Berühmtheit anlässlich ihrer Rede, die sie bei der UN-Klimakonferenz hielt. Die Initialzündung der Aktion Klimastreik und die unzähligen Schülerdemonstrationen europaweit kamen von ihr, sie blieb deswegen wochenlang dem Unterricht fern und veranstaltete jeweils am Freitag die

ersten übergreifenden Streiks. Die heutige Jugend macht sich berechtigte Sorgen wegen der Klimaerwärmung. Ein trübes Kapitel gewaltsamen Widerstandes wurde anlässlich des G-20-Gipfels 2017 in Hamburg geschrieben. Schwere Ausschreitungen, hoher Sachschaden, verletzte Polizisten und Demonstranten, sowie Hunderte verhafteter Aktivisten. Die Vorgehensweise der Autonomen in Hamburg wurde in einem Film eindrucksvoll dargestellt. Sie lockten die Polizei immer wieder an neue Austragungsorte, provozierten und vermummten sich, um an einem anderen Ort wieder in Aktion zu treten. Die Polizei war stets einen Schritt zu spät oder konnte einfach nur reagieren. Beeindruckend war die Reaktion aus der Bevölkerung, als der ganze Spuck vorbei war. Alle Bürger der Stadt halfen bei den Räumungsarbeiten mit. Sie eroberten symbolisch ihre Stadt zurück.

Arbeitskampf Die Bauarbeiter kämpfen mit viel Herzblut für die Frühpensionierung ab Sechzig. Doch diejenigen, denen sie die Büros gebaut haben, nämlich dem Baumeisterverband, wollen da nicht mitmachen. Die UNIA kreuzt spontan auf Baustellen auf und redet auf die Arbeitnehmer ein. Manchmal k o m m t es zu brenzligen Situationen. Arbeitgebertreue Mitarbeiter legen die Arbeit wegen eines Streiks nicht nieder. Andere fügen sich der gewerkschaftlichen Doktrin. Die Streitigkeiten werden aber meist intern beigelegt, schließlich sind Menschen am Bau keine Mimosen. Eskalieren die Streiks, sind die Linksautonomen schnell auf dem Plan. Gleich zwei Feindbilder rü-

cken in den Fokus: der Arbeitgeber (und dessen Verband) sowie die Polizei, weil sie Grenzen setzen muss. Am 30. Januar 2019 wurde der Gewerkschaftsjournalist

Remo Schädler in Zürich beerdigt. Er hatte keine Chance gegen den Krebs. Mit ihm trat ich immer wieder in einen guten Dialog zur Entschärfung der Situation auf Baustellen. Der Generalstreik der Arbeitnehmer vor 100 Jahren und das damalige Intervenieren der Armee löste viele Kontroversen aus. Die Bürger fanden, dass es notwendig sei, das Arbeitervolk u n d die revolutionären Linken hingegen nicht. Daher protestierten sie auch am 13. November in Uster, als Chris-

toph Blocher den Einsatz des Militärs rechtfertigte, und riefen zum Gegenprotest auf. Etwa 300 Linksaktivisten folgten dem Aufruf u n d kamen nach Uster. Ihrer Meinung nach wurde die Geschichte falsch dargestellt. Es sei nicht das Militär, das fiir Stabilität sorge. Vielmehr führe dies für das Proletariat zu Armut, Wohnungsnot und Hunger. Damals hätten fast 700 000 Menschen Unterstützung erhalten. Arbeiterfamilien hatten zu wenig zum Leben. Tierschutz Militante Tierschutz-Aktivisten gibt es nicht sehr viele, aber es gibt sie. So zum Beispiel die Anima/Liberation Front (ALF), die sich auf Tierbefreiungen spezialisiert hat. Die meisten Tierschutzorganisationen veranstalten kreative Aktionen auf der Straße. Die Lebenseinstellung hat sich bei vielen jungen Leuten gewandelt. Vegane Ernährung ist aktueller denn je. Die Aktion Zirkus ohne Tiere (AZOT) kämpft erfolgreich ge-

gen Auftritte von Elefanten im Zirkus Knie. Die Schweizer Liga gegen Vivisektion (LSCV) kämpft gegen Tierversuche mit Primataffen an der ETH. Bekannt sind auch die Auftritte des Vereins gegen Tierfabriken (VgT), der auf kreative Weise eine artgerechte Tierhaltung einfordert und eine vegane Ernährung propagiert. Mit dem bekannten Tierschützer Erwin Kessler hatte ich schon als junger Streifenwagenpolizist vor rund 30 Jahren zu tun. Damals ging es um Fische, die in Aquarien vor Restaurants gehalten wurden, damit sie frisch auf dem Teller landen konnten. Die VgT druckt eine eigene Hauszeitung und engagiert sich wie andere Tierschutzorganisationen auch gegen das Tragen von Pelzen. Die Tierrechtsgruppe Zürich organisiert regelmäßig Mahnwachen vor dem Schlachthof gegen das Töten von Tieren. Die emotionalen Aktivisten wollen das Schlachten unbedingt stoppen. Dazu halten sie Tiertransporte an und reden mit den Fahrern. Der Schweizer Tierschutz (STS) setzt sich gegen Tierversuche und für die Einhaltung der Haltungsvorschriften ein. Ein bekannter Fall war die Massentierhaltung in Hefenhofen im Thurgau. Dem Pferdehändler wurden die Tiere bei einer Zwangsräumung vom Hof geholt. Der Fall zog sich über Jahre hin, eine Untersuchung ergab, dass neben der Missachtung des Tierschutzgesetzes auch die Behörden Kritik wegen des dürftigen Informationsaustauschs einstecken mussten. In Zukunft soll es zu einem schnelleren und effizienteren Informationsaustausch kommen. Umweltthemen mobilisieren die gemäßigten wie auch die hartgesottenen Linken. Doch große Massenproteste oder kol-

lektive Bündnisse gibt es immer seltener. Zu vielschichtig sind die Themen und Interessen. In einer Frage sind sich jedoch alle Protestierenden einig: Die sozialen Medien und Internetplattformen sind gute Mobilisierungshilfen, sie können aber niemals den physischen Protest ersetzen. In den umliegenden Ländern lässt sich feststellen, dass bei einer hohen Arbeitslosigkeit der Unmut der Bevölkerung steigt und diese ein fruchtbarer Nährboden für Massenproteste ist. In der Schweiz ist dieser Boden dünn und ziemlich stabil. Viele Demonstrationen betreffen Problematiken, die sich im Ausland abspielen. Darum ist die heutige Zeit stabiler als jene in den 1968er- und 1980er-Jahren.

Chaoten Chaoten begegnen uns im Fernsehen, meist ziehen sie vermummt durch die Straßen und schlagen alles kaputt. Sie tragen dunkle Kleidung, fuhren Rucksäcke mit sich und verweigern bei Vernehmungen die Aussage. Sie organisieren sich im Vorfeld oft konspirativ. Die Aufrufe erfolgen nicht immer online, sondern per Mund-zu-Mund-Propaganda oder per Flyer an bekannte Personen in der Szene. Obwohl sich ihnen generell kein einheitliches oder strategisches Leitbild zuweisen lässt, überwiegen anarchistische Strömungen bei den Autonomen. Das ist naheliegend, weil sie die Kritik an der postindustriellen Gesellschaft begünstigt. Anarchismus kommt vom griechischen Wort an-archia> was »keine-Herrschaft« bedeutet. Im Zentrum des Denkens

steht

die Forderung nach Abschaffung des Staates und seiner

Strukturen.

Marco Camenisch, Jahrgang 1952, ein bekannter Anarchist, kam 2017 nach 17 Jahren Gefangenschaft auf freien Fuß. Ihm wurden ein Gefangnisausbruch und ein Tötungsdelikt zum Nachteil eines Grenzwächters in Brusio TI zur Last gelegt. Die Solidarität mit dem Ökoterroristen brach nie ab. Die Unterstützung politischer Gefangener ist Programm bei den Linksaktivisten. Camenisch wurde zu einer Symbolfigur für Ungebrochenheit. Weil er nie reuig war, musste er die volle Strafe absitzen. Eine zentrale Rolle im Linksextremismus spielt der Revolutionäre Auflau Schweiz. Er ist die gewalttätigste linksextremistische Organisation der Schweiz und steht auf der Beobachtungsliste des Bundesnachrichtendienstes. Der Revolutionäre Auflau Schweiz ist eine Nachfolgeorganisation des Komitees gegen die Isolationshaft (KGI). 1992 wurde ein sogenannter Aufbau-Vertrieb mit Sitz im Zürcher Kreis 4 gegründet, der dem Verkauf revolutionärer Literatur diente. Aus diesem Vertrieb ging der Revolutionäre Auflau Schweiz hervor. Eine Strategie dieser Organisation ist die Unterwanderung des Systems, das heißt, die Mitglieder lassen sich in staatlichen oder privaten Großunternehmen anstellen und tauschen ihre Erfahrungen und Informationen mit den Gesinnungsgenossen aus. Die Palette der betroffenen Unternehmen ist breit. Darunter fallen Softwarefirmen, Technologiekonzerne und Kriegsmaterialhersteller. Der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. Ihr Einflussbereich geht bis in die Sicherheitsbranche.

Der harte Kern besteht aus Berufsrevolutionären i n ^ ? reiften Alter. Ideologisch gehört die Bewegung zum Marxismus sowie zu einer Weiterentwicklung des Leninismus. Der Revolutionäre Auflau Schweiz (RAS) kämpft für eine revolutionäre Veränderung des gegenwärtigen ökonomischen Systems. Er bekämpft den Kapitalismus, die Globalisierung sowie die Diskriminierung von Frauen und fordert eine klassenlose Gesellschaft. Der RAS fiel bis jetzt durch Anschläge mit Farbbeuteln, das Anzünden von Personenwagen mithilfe von Brandbeschleunigern sowie durch das Abfeuern von Feuerwerkskörpern auf Gebäude und Objekte mit Symbolcharakter auf, sozusagen als eine Form von Terrorismus-Light. In der Organisation spielt die revolutionäre Kommunistin Andrea Stauffacher eine Hauptrolle. Sie ist gut organisiert und eine überzeugte marxistisch-leninistische Kommunistin. Viele junge Polizisten werden von älteren Kollegen auf diese hartnäckige Anführerin des Revolutionären Auflau aufmerksam gemacht, das heißt, sie ist ftir die Polizei gewissermaßen ein Feindbild. Gleichzeitig zeigt die Berufsrevolutionärin immer wieder der Polizei den Stinkefinger. Sie spricht im Alternativ-Radio Lora in der Sendung Rote Welle zu den Genossen, setzt sich für politische Gefangene ein \ und unterhält ein internationales Netzwerk. Eine klassische ^ Widerstandsrede Stauffachers auf Radio Lora sagt vieles über k '\ die Auffassung und die Art ihres Widerstandes aus: » Wir ha-

f

ben uns von der medialen Hetze der letzten Jahre nicht ein-

1 ^

schüchtern lassen. Sie sind gekommen, haben teilgenommen an

\

den Mobilisierungen. Der Widerstand hat sich den Weg gesucht*

der offen war, von transparenten bis hin zu militanten Angriffen gegen Banken oder Kripogebäuden. Es zeigt sich, der Widerstand ist mit Militär und Polizei nicht aufzuhalten!«

Der Revolutionäre Aufbau spielt gern den Moralapostel. Steff Fischer, ehemaliger Hausbesetzer und Aktivist, führt heute eine Immobilienfirma. Die Linksextremen werfen ihn in einen Topf mit Kapitalisten und Spekulanten. Sein Büroeingang im Kreis 4 wurde im Dezember 2017 mit Buttersäure übergössen und das Schloss verklebt. Die Aktivisten stellten ein Bekennerschreiben ins Netz. Ein Hausbesetzer darf also seine Meinung und seine Einstellung nicht ändern und aus der freien Marktwirtschaft lernen. Diese Haltung ist paradox! Der Anarcho-Kreis in Zürich Der Kreis 4 in Zürich gilt als Anarchokreis, das dort angesiedelte Kanzleiareal ist eine Art Hochburg, vor allem am 1. Mai. Auch das Zeughausareal mit den dortigen Aktivitäten ermöglicht den Demonstranten Unterschlumpf und Austausch. Das WEF-Vorbereitungswochenende 2019 in der besetzten Liegenschaft Kernstrasse 40 diente dem Informationsaustausch, wie auch gegenwärtig die autonome Schule am Sihlquai 125. Alle diese Orte werden in opportunistischem Sinn vereinnahmt. Die Polizei soll sich fernhalten!

Es fehlen autonome Räume, so die Ansicht der Revolutionäre Platzaktion »Wir bleiben alle« Die Aktivisten hinter der Plattform wir-bleiben-alle.ch im Langstrassenquartier tauften im Sommer 2018 den DennerPlatz (Ecke Lang-/Josefstrasse) kurzerhand symbolisch in Wirbleiben-alle-Platz um. Die Aktivisten kommen vorwiegend aus der LEX-Szene. Damit kritisieren sie die moderne Stadtentwicklung, die Pseudoverdichtung von Wohnraum, die Aufwertung rund um die Rosengartenstrasse und den Idaplatz und weiter die fortschreitende Gentrifizierung. Angeprangert wurde auch die Verdrängung der einkommensschwachen Bevölkerung wegen der sozialen Anhebung innenstadtnaher Wohnquartiere. Mit der Anbringung einer neuen Tafel setzten sie ein symbolisches Zeichen für den solidarischen und kämpferischen Widerstand. An den nicht genehmigten Platz-Events wird informiert und diskutiert, gegrillt und Musik gespielt. Die Polizei wird beim Aufkreuzen angefeindet, weil sie in ihren Augen Verdränger ist. Autonome Schule Viele Polizisten reagieren allergisch auf dieses Thema. Wurde doch die autonome Schule an ihren diversen Standorten (2019: Sihlquai 125) quasi zur Tabuzone erklärt. Kontrollen im Umfeld seien mit Fingerspitzengefühl vorzunehmen, hieß es. Weil dort auch dunkelhäutige Menschen (Flüchtlinge) das Angebot nutzen, geriet die Polizei schnell ins Visier von Men-

schenrechtsaktivisten, die ihr Racial-Profiling (siehe Seite 33) vorwarfen. Der Feind brüskiert sozusagen die Tabuzone! Die bürgerlichen Politiker forderten die Schließung oder lehnten

den Anspruch eines rechtsfreien Raumes ab. Diese Kontroverse war auch Thema im Gemeinderat. Einzelne linke Politiker wollen die Schule staadich subventionieren. Kontroverse in Basel

Die Basler Polizei sah sich 2018 heftigen medialen Vorwürfen ausgesetzt, weil sie angeblich einem Rechtsextremen bei dem Wasserstrassenfest nicht geholfen habe, als er dort von Linksextremen verprügelt wurde. Es sei eine Tabuzone, hieß es laut Medienberichten. Die Verhältnismäßigkeit war wohl eher der wahre Grund ftir die Unterlassung. Dort, wo sich viele Linksextreme und Hausbesetzer aufhalten (Reithalle Bern/Kochareal Zürich) wird ein Areal als heikle Zone bezeichnet. Zu Recht, denn ein polizeiliches Handeln darf die Situation für die im Einsatz stehenden Kräfte nicht verschlimmern. Dieses Faktum wird zur Kenntnis genommen, und dennoch liegt der Handlungsspielraum im Ermessen der Behörden.

Rechtsextremismus Wikipedia definiert Rechtsextremismus als Sammelbezeichnung für faschistische, neonazistische oder ultra-nationalistische politische Ideologien. Symbole und Codes dienen dazu, eine eigene Sprache zu entwickeln, die nur von Angehörigen

dieser politischen Lager verstanden wird. Die Codes unterliegen einem steten Wandel, damit es den Behörden nicht leicht fällt, sie zu entschlüsseln. Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) erstellt jedes Jahr einen Bericht über die extremistischen Gruppierungen in der Schweiz. Die Anzahl der gewalttätigen Ubergriffe war in den Jahren 2017 und 2018 sehr gering. Die Ideologie im Rechtsextremismus ist weit verbreitet, 25 Prozent der Jugendlichen sind ausländerfeindlich, als rechtsextrem gelten allerdings viel weniger. In einer vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Studie zum politischen Extremismus unter Jugendlichen in der Schweiz wurden 2018 über 8000 17- und 18-jährige Schülerinnen und Schüler in zehn Kantonen in der Schweiz online zu ihren extremistischen Einstellungen und Verhaltensweisen befragt (siehe Seite 60). Die ultimative Gewaltbereitschaft in den links- und rechtsextremen Gruppen ist zum Glück gering. Es gibt auch die sogenannten Redskins, diese sind dem linken Spektrum zuzuordnen, wenig verbreitet und in der Schweiz schwach vernetzt. In Zürich gab es zuletzt 1996 und 1997 rechtsextreme Aufmärsche und dabei Konfrontationen mit Linksextremen. Ungefähr 150 bis 200 Nazis, wie sie genannt werden, marschierten mit Bomberjacken und Stiefeln durch das Niederdorf. Damals verwüsteten Linksaktivisten aus Rache die Treffpunkte der Rechtsextremen im Niederdorf und am Hauptbahnhof. Im damaligen Restaurant Federal in der Halle des Hauptbahnhofs verstopften Linksaktivisten mit Schnellzement die WC-Schüsseln. Sie schickten Drohbriefe an die

J i

- . Wirte, die Rechtsextreme bedient hatten. Das zeigte Wirkung. Seither kam es zu Versammlungen der Rechtsextremen in großen Gruppen. Sie passten sich der Entwicklung an und trafen sich fortan an vereinbarten Orten mit organisierten Konzerten. Muss die Polizei einschreiten, entsteht auch hier ein Feindbild, das meiner Meinung nach allerdings nicht chronisch ist wie bei den Linksextremen. Berüchtigt sind die großen geheimen Treffen wie im Oktober 2016, als mehrere Tausend Rechtsextreme aus dem Inund Ausland in einer Tennishalle in Unterwasser ein Fest abhielten, das als Rocktoberfest getarnt war. Aus Sicht antifaschistischer Bewegungen war der Anlass eines der größten Neonazi-Events, das je in der Schweiz stattgefunden hat. Polizeiliche Ermittlungen wurden eingeleitet, zu einer strafrechtlich Verfolgung aber kam es nicht. Wieso machst du bei den Rechtsextremen mit, fragte ich Vorjahren eine junge, gepflegt gekleidete Frau. Sie antwortete: »Ich fühle mich in der Gruppe geschützt, wertgeschätzt und gut aufgehoben. Die Ideologie ist bei mir Nebensache.« Das mag grotesk klingen, entspricht aber weitgehend der Realität. Allerdings ist die Aussteigerquote bei Rechtsextremen größer als bei Linksextremen. Im Linksextremismus finden wir feministische Amazonen oder kommunistische Studentinnen. Sie sind eigenständiger und am Frauenkampftag sehr kreativ. Rechtsextreme machen im Ausland mehr Schlagzeilen, vielfach dann, wenn ein Asylantenheim mit Brandsätzen angegriffen wird. In der Schweiz sind solche Vorfälle eher selten, mfet

Die Szene in der Schweiz ist im neusten Lagebericht im Aufbruch {vgl. Lagebericht des Nachrichtendienstes des Bundes; öffentlicher Bericht im Internet abrufbar). Zwar manifestiert sich das nicht in konkreter Gewaltanwendung, aber es wird vermutet, dass die rechtsextremen Gruppen über größere Mengen funktionierender Waffen verfügen. Diese Entwicklung muss auf dem Radar der Gesetzeshüter bleiben, so meine ich. In Deutschland hat der Rechtsextremismus im Vergleich zur Schweiz deutlich mehr Zulauf und andere Dimensionen. So war z. B. der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) in Deutschland sehr gefürchtet, weil er Mitbürger ausländischer Herkunft ermordete. Die Erfolge der Partei Alternative für Deutschland (AfD) zieht offenbar Ultrarechte in ihren Bann. Einer der Hauptgründe dürfte die nach deren Meinung lasche Zuwanderungspolitik sein. Wir lesen immer wieder von Aufmärschen von Neonazis und entsprechenden Gegendemonstrationen, gerade in den neuen Bundesländern in Deutschland. Diese Polarisierung ist allerdings ein europaweites aktuelles Problem. Schlagzeilen an Fasnacht Am Güdelmontag* zur Fasnacht 2019 in Schwyz tauchten zwölf Gestalten in weißen Ku-Klux-Klan-Kutten auf. Sie versammelten sich vor dem Rathaus und bildeten mit Fackeln in den Händen einen Kreis. Auf Bildern, die in den Medien ver- I, \

'

* Güdelmontag: Fasnachtsbrauch in der Innerschweiz.

vi

%

tk D \

breitet wurden, konnte man einen Teilnehmer sehen, der den Hitlergruß zeigte. Unter den Hauben steckten Rechtsextrejne, welche die Fasnacht für ihre Aktion missbrauchten. Die Polizei nahm die Ermitdungen auf. In der Zentralschweiz existieren ein paar kleine rechtsextreme Gruppierungen. Sie nennen sich Brigade 8, Helvetic-Brothers oder Kameradschaft Heimattreu. Menschen aus diesen Reihen dürften laut öffentlicher Berichterstattung auch bei den genannten Treffen involviert gewesen sein. Ein solcher Aufmarsch fand auch 1927 am gleichen Ort statt. Nur sorgte das damals nicht für einen Aufschrei.

Fußhallfans und Gewalt Der Grund, warum Fußballfans in diesem Buch Erwähnung finden, sind die personellen Schnittstellen zwischen Linksextremen und der Südkurve des FC Zürich. Die einschlägigen Fankurven werden zuweilen auch als rechtsfreie Räume bezeichnet. Das ist nicht uninteressant, denn bei den gefiirchteten RTS-Veranstaltungen unterstützen sich die beiden Lager tatkräftig. Die Fangruppierungen erfordern immer wieder Großaufgebote der Polizei. Sie lauern anderen bei der Zugabfahrt auf, besuchen gegnerische Fanlokale in arglistiger Absicht oder schlagen feige auf Einzelpersonen ein. Wegen des Abbrennens von Pyro-Material oder den Auseinandersetzungen der Fans sind die Clubs vom FC Basel, BSC Young Boys und FC Zu-

rieh ganz vorn mit auf der Liste. Aufgrund des HooliganKonkordates verlagerte sich die Gewalt in den Stadien auf die Straße, so die These linker Politiker. Die Basler machen beim Konkordat nicht mit. Sie wollen ihre Fans in eigener Regie sanktionieren oder sie nach den bestehenden Gesetzen verfolgen lassen. Seit 2008 existiert die Hooligan-Datenbank des Bundesamtes der Polizei. In diesem Informationssystem werden Personen registriert, die bei Sportveranstaltungen gewalttätig waren bzw. Stadion-, Rayonverbote oder Meldeauflagen nicht befolgt haben. Der Nutzen dieser Datenbank ist inzwischen unbestritten. Ein weiteres Phänomen zielt auf die apolitischen Gangbildungen unter Fangruppierungen, bei denen es offensichtlich um Machtansprüche und Imponiergehabe geht. Der Fußball selbst steht dabei im Hintergrund, die Gruppenbildungen stehen im Fokus. Wenn man sich ]^>«7«^-Plattformen ansieht, wird die Polizei verwundert den Beitrag des Straßenrappers John Parat (Künstlername) zur Kenntnis nehmen. Es handelt sich um einen happigen Filmbeitrag, in dem mit »Stich en Zivi« zu Gewalttaten aufgefordert wird. Er schürt damit den Hass gegen Bullen. Dieses Video wurde über 200.000 Mal angeklickt. Die Statisten im Video können der radikalen Fußballszene zugeordnet werden. Das ist meines Erachtens sehr bedenklich! Die radikalen Gruppen finden ihre Motivation im Fußball. Langeweile und die Suche nach Abenteuern sowie Erlebnisse, die vermeintlich Spannung ins Leben bringen, zusammen mit den Gruppengefugen sind häufig der Grund für Gewalt gegen Menschen und Institutionen. Alkoholkonsum und Pyro-

Technik,

und seien es nur Rauchpetarden, fördern dieses ag-

gressive Verhalten. Statt ein Volleyballspiel auszutragen, rivali-

sieren sie als Ultras mit den gegnerischen Fangruppen. Das Revier behaupten und prahlen tut offenbar gut. Viele dieser Fans leben in einer Doppelwelt, einerseits im bürgerlichen Leben, andererseits auf der Hooligan-Spielwiese. Das Stadion stürmen und dabei die Sicherheitsschleusen umgehen, gehören dabei zur Taktik, zumal wenn Leute mit Stadionverbot darunter sind, oder wenn es nur darum geht, Eintrittsgelder zu sparen. Das Sicherheitspersonal kann der Übermacht oft nur machtlos zuschauen. Die Fans aus den Kurven herauszuholen ist ein schwieriges Unterfangen. Ein weiteres Problem sind die mitgeschmuggelten Pyro-Materialien. Sie sind eine Art Gewaltausübung und Respektlosigkeit gegenüber dem Veranstalter. Dies zeigt die Dynamik größerer Gruppierungen. Die Veranstalter und die Polizei versuchen, dies zu unterbinden, was nicht immer gelingt. Die Schande von Luzern Beim Fußballspiel FC Luzern gegen Grasshoppers Zürich am 12. Mai 2019 stand es in der zweiten Halbzeit 4:0 für Luzern. Der definitive Abstieg der Grasshoppers in die zweite Liga stand praktisch fest. Zum Teil vermummte Grasshoppers-Fans stürmten daraufhin über den Zaun an den Spielfeldrand und provozierten zuerst eine Spielunterbrechung und schließlich den Abbruch des Spiels. Groteskerweise forderten sie die Spieler auf, sich bis zur Unterhose auszuziehen und die Spielerkluft vor der GC-Fankurve niederzulegen. Die Spieler und die Be-

treuer entschieden sich, wegen der Eskalationsgefahr wenigstens die Trikots abzulegen. Diese Erniedrigung ließen die Spieler des Rekordmeisters über sich ergehen und legten den ganzen Stolz auf den Boden. Der danach verhaftete HooliganWortführer war ein ehemaliger Neonazi, was für medialen Zündstoff sorgte. Das Spiel wurde als Abbruchsieg für Luzern gewertet. Dieses Szenario zeigt, welche Macht die gut organisierten Fankurven haben. Das ist meines Erachtens eine bedenkliche Situation. Die »dritte Halbzeit« ist ein Ausdruck für Ausschreitungen vor oder nach einem Fußballspiel. Auch Lieder zu diesem Thema finden wir im Internet. Fußballmärsche und Fahrten zu Auswärtsspielen sind Kult. Ohne Alkohol kommt keine Stimm u n g auf. Auch wenig Alkohol ist schon schlecht. Gegnerische Schals sind die besten Souvenirs. Lassen sich diese Dinge alle realisieren, ist der Tag gerettet. Stellt sich die Polizei in die Quere, ist sie Spielverderber und wird zum Sündenbock gestempelt. Veranstaltungen im Fußball und Eishockey gehören aufgrund der hohen Zuschauerzahlen zu besonders relevanten Veranstaltungen in der Schweiz. Im Durchschnitt wohnen den Super-League-Fußballspielen rund 11 000 Menschen bei. Die Spiele der Schweizer Eishockeyliga (National League A) wurden im Schnitt von 7000 Menschen besucht. Bei der

m

Mehrheit der Besucher handelt es sich um konsumorientierte und friedliche Fans, bei denen das Sportereignis im Mittel-

punkt steht. ^ Ein Teil der Besucher sind erlebnisorientierte Fans, die sich bei entsprechender Stimmung an den Gewaltakten beteili- i

ggn Zu dieser Fankategorie werden sowohl die sogenannten Ultras als auch die Hooligans gezählt. Bei den Hooligans hanjelt es sich um Personen, denen es vorwiegend um physische Gewalt geht. Der körperliche Kampf mit anderen Gruppen ist ihr zentrales Interesse, wobei durchaus eine ausgeprägte Identifikation mit einem Verein besteht. Ich möchte hier lediglich festhalten, dass die Fankultur vielschichtig ist. Die Fandubs orchestrieren aufwendige Choreografien, meist begleitet von Pyrotechnik- Sie drucken eigene Hefte, in denen die von ihnen gemachten Interviews mit Spielern oder die letzte Choreografie abgedruckt ist. Das kann zum Beispiel ein riesiges bemaltes Transparent sein oder eine kurze theatralische Inszenierung. Solche Aktionen sind mit den Clubs meistens abgesprochen. Die mediale Präsenz, die damit verbunden ist, wird wohlwollend zur Kenntnis genommen. Radikalisierte oder gewaltorientierte Fans suchen die Konfrontation mit ihresgleichen der gegnerischen Vereine und Clubs. Sie verabreden sich am Tag und Ort X zu einem Kampf. Sie treten nach dem Spiel beim Verlassen des Stadions oder bei der Abfahrt des Zuges mit viel Machtgehabe auf. Damit wollen sie Stärke demonstrieren. In den Jahren 2017 und 2018 nahmen die Aktivitäten in Bezug auf Auseinandersetzungen und gegenseitige Übergriffe in Zürich zu, wie auch Vorfälle mit Gewalt und Drohungen gegen die Polizei. Es wurden Arbeitsgruppen gebildet, um dagegen Maßnahmen zu ergreifen. Interessanterweise werden beim Eishockey viel weniger Vorfälle mit Gewalt registriert. Die Auswüchse finden auch vermehrt außerhalb der Austragungsstätten und

während der Woche statt. So werden zum Beispiel Fanlokale angegriffen. Das Informationssystem HOOGAN des Bundesamts für Polizei (fedpol) bestätigt diese Fakten. Die Ermittlung gewaltaufFälliger Fans ist aufwendig, weil die Vermummung und fehlende Foto- oder Videoaufnahmen, mangelnde Aussagebereitschaft die Nachforschungen erschweren. Rayonund Stadionverbote, verbunden mit Meldeauflagen, sind gute Instrumente, greifen aber nicht flächendeckend und sind nicht nachhaltig. In der Regel wird zwischen Risk- und NonRisk-Fans unterschieden. Je mehr Risk-Fans der gegnerischen Mannschaften aufkreuzen, desto brisanter ist die Konstellation. Die Risk-Fans sind gewaltbereit und unberechenbar. In der Südkurve des FC Zürich reden wir zum Beispiel auch von den Boys. In dieser größten Gruppe ist ein Capo, der während des Spiels die Gesänge dirigiert. Weitere Gruppierungen sind die Paradox, Reservoir Dogs, Outcast Society, Lochergut Jungs, Locoz, Patriots und andere. Die Risk-Fans sind hauptsächlich

männlich und zwischen 16 und 35 Jahre alt. Auf der Suche nach Sponsoringpaketen gab es 2017 in Aarau eine paradoxe Situation. Für vier Spiele wurden die Hardcorefans Szene Aarau zum Hauptsponsor, mit der Verlautbarung, die Fans können nicht nur Bier trinken. Eine schöne Geschichte. Und natürlich stand der Sponsorenname auf den Trikots, was der größte Anreiz für die Fans war, so die Initiatoren. Was tun die Städte und Vereine gegen die Gewaltauswüchse und Pyro-Verstöße? Zu den Präventionsprogrammen werden vielschichtige Arbeitsgruppen gebildet. In den Arbeitsgruppen sind Polizei, Jugend- und Fangruppen sowie

Sicherheits-, Sozial-, Schul- und Sportabteilungen vertreten oder der Fußballverband und die kantonalen Polizeidirekroren. Dazu gibt es die Repression, sprich Abschreckung durch härtere Strafen. Auflagen und Verbote zeigten eine Doppelwirkung. Einige auffällige Fans werden durch Alko-holverbot, Fanpass, Präventivhaft eingeschüchtert, andere werden wegen der Fanarbeit, wegen des privaten Ordnungs-dienstes, der Ticketpreiserhöhung und der Stehplatzverbote erst recht aufmüpfig. Wenn die Polizei sich durchsetzen muss, lodert das Feuer Feindbild Polizei erneut auf, und es kommt zu Solidaritätsbekundungen, wie zum Beispiel im Januar 2019, als nach der Verhaftung von zehn Fußballfans Freunde von ihnen mit täglich stattfindenden Feuerwerksaktionen und Parolengesängen darauf reagierten. Die Beschuldigten hatten 2018 LeverkusenFans angegriffen und sie verletzt. Im März 2017 wurde bei einem GC-Fußballspiel ein riesiges Transparent mit der Aufschrift: »In Zürich, Bern und überall, AC.A.B.« entrollt als Unmutsbekundung gegen die Polizei. Ein anderer Vorfall erschreckte im Februar 2018 die Poli-zei, als in Zürich zwei ausgerückte Zivilpolizisten in der Nacht vor dem Derby FC Zürich - GC im Niederdorf massiv bedrängt wurden. Einer konnte sich nur mit einem Sprung über eine Mauer retten, der andere wurde sehr stark bedrängt und mit Gegenständen beworfen, sodass er die Dienstwaffe ziehen musste und schließlich nur noch flüchten konnte. Zu Fangewalt kommt es immer öfter außerhalb der Stadien. Im Herbst 2017 wurden zum Beispiel GC-Fans unvermittelt in einer am Stadtrand liegenden Turnhalle beim privaten

Plaus chspiel von Ultras des rivalisierenden Stadtclubs Zürich angegriffen. Außerdem wurden persönliche Gegenstände gestohlen.

Die Hooligans suchen bei Problemen Unterstützung im Ausland. Sie bilden Fangemeinschaften mit anderen Clubs, positionieren sich zum Teil politisch gegen Salafisten und freunden sich mit Neonazis oder Linksextremen an. Das zeigt, wie breit die Palette der Interessen und Betätigungsfelder ist. In Chemnitz starb 2018 ein Rechtsextremer. Weil er in der Stadionsicherheit eingesetzt war, gedachten die Fans mit Transparenten seines Todes. Der Stadionsprecher forderte zu einer Schweigeminute auf. Einige Hooligans streckten die Arme hoch. Das sorgte fiir viel Zündstoff. Ja, sogar ein Spieler von Chemnitz zeigte sich solidarisch. Laut deutscher Medienberichte wurden die Verantwortlichen des Stadionbetriebs anschließend entlassen. Offenbar hatte man aber die Stadionbetreiber unter Druck gesetzt, damit die Aktion stattfinden konnte. Ob die Betreiber mit den Konsequenzen gerechnet ^ haben, ist umstritten. %

Rayonverbote Polizeipräsenz, Rayonverbote, Identitäts- und Eingangskoni trollen, gekoppelt mit gezielter Fanarbeit, sind gute Mittel zur W Verhinderung von Gewalt. Vielleicht sollten die Behörden den sozioprofessionellen Projekten mehr vertrauen. Im Gegenzug setzt die Polizei auf repressivere Polizeiinterventionen ) j und verlängerte Rayonverbote sowie eine härtere Gangart bei %

Übergriff^0 gegen Beamte. Neben der Repression ist zweifelsohne die Präventionsarbeit zu intensivieren. So soll es in V Schulen vermehrt Anreize geben, die offene Jugendarbeit soll gefördert und an Präventionsstellen aufeinander abgestimmt werden.

Auch die Vereine werden zur Förderung der Präventionsprojekte ins Boot geholt. Nur so kann eine Verbesserung erreicht werden. Ich frage mich oft, wieso die unauffälligen, anständigen Fans nichts gegen die Chaoten unternehmen. Offensichtlich haben sie Angst vor Repressalien, und der Zusammenhalt untereinander hat nicht die gleiche Energie wie bei den gut organisierten Risikogruppen. Das ist ein Dilemma, wie auch ein ehemaliger Hooliganexperte findet. Der Sport muss im Vordergrund stehen. Der Ball soll die Hauptrolle spielen und nicht die Rauchtöpfe und Knallpetarden. Gewalttätige Hooligans haben in den Stadien nichts verloren. Rechtsanwältinfür Fananliegen Die Rechtsanwältin Manuela Schiller verdeutlicht, dass sie nicht alle Handlungen der Fans versteht oder gar gutheißt. Als die Zürcher Polizei 2004 alle im Extrazug angereisten Fans des FC Basel einkesselte, übernahm sie erstmals die Verteidigung der Hooligans. Sie selbst ist fasziniert vom Fußball und fühlt sich deswegen zur Hilfe berufen. Ich sprach mit Manuela Schiller über ihre Arbeit. AW: Wieso kümmern Siesich hauptsächlich um Fußballfans, hat das mit ihrer persönlichen Vergangenheit zu tun f

M S : D a s ist eine falsche Wahrnehmung. Die Vertretung von Fußballfans fallt Ihnen als Polizist und den Medienschaff e n d e n vielleicht einfach stärker auf. Als Präsidentin des Stadtzürcher Mieterinnen- und Mieterverbandes vertrete ich regelmäßig Mieterinnen und Mieter. Das Ehe- und Scheidungsrecht sowie das Migrationsrecht sind weitere Schwerpunkte meiner Anwaltstätigkeit. Die Tatsache, dass ich als StrafVerteidigerin oft Fußballfans vertrete, hat aber tatsächlich einen persönlichen Hintergrund. Ich habe schon als Kind auf dem Pausenplatz mit den Jungs Fußball gespielt u n d habe mit meinem Vater die Spiele des FC Zürich besucht. Meine Kinder haben als Junioren beim FC Albisrieden gespielt, und mein Mann und ich haben somit fast alle Fußballplätze und Turnhallen im Kanton Zürich kennengelernt. Als Politaktivistin habe ich seit meiner Jugend regelmäßig an Demos und Aktionen teilgenommen. Als Anwältin lag deshalb von Anfang an mein Augenmerk auf den Grundrechten. Als die Stapo und die Kapo Zürich im Dezember 2004 Hunderte von Fans des FC Basel beim Bahnhof Altstetten eingekesselt und in die Haftstrasse in der Kaserne überfuhrt haben, wurde ich folgerichtig deren Anwältin. In der Folge habe ich regelmäßig Fußball- und Eishockeyfans vertreten. Das BWIS* und das Hooligankonkordat, mit denen verwaltungspolizeiliche Maßnahmen wie Rayonverbote, Meldeauflagen oder Ausreiseverbote eingeführt wurden, haben mir dann nochmals ein * BWIS: Bundesgesetz über Maßnahmen zur Wahrung der inneren Sicherneil [ i (Schweiz).

Betätigungsfeld eröffnet. Der Altstetter-Kessel führte also dazu, dass ich mich seither regelmäßig beruflich und politisch mit dem Thema Fußball, Repression, Fans, Pyro, Polizei etc. beschäftige. Wer mehr dazu wissen will, der kann im St. Galler Fussballmagazin SENF nachlesen, wie ich zur Rolle als Fananwältin kam und was für mich die Faszination Fußball ausmacht. AW: Handeln die Polizisten ihrer Ansicht nach bei Einsätzen manchmal übereifrig? MS: Die Polizisten handeln in Zürich in vielen Bereichen korrekt und professionell. Sie sind grundsätzlich gut ausgebildet. In gewissen Konstellationen und gegenüber gewissen Menschen ist das jedoch nicht die Regel. Daraus ergibt sich, dass je nachdem in welchem Zusammenhang jemand mit der Polizei zu tun hat, die Wahrnehmung eine völlig andere sein kann. Ich konstatiere immer wieder, dass die Fähigkeit zur Deeskalation unterentwickelt ist. Die von der Polizeifuhrung und vom Verband forcierte zero-tolerance-Politik hat zur Folge, dass Polizisten in kritischen Situationen die Eskalation sogar noch fördern. AW: Wie sieht das Verhältnis bezüglich gewalttätiger Übergriffe aus? Wer trägt die größte Schuld beim Entstehen von Eskalationen? MS: Zunächst so viel: Das kommt auf den Einzelfall und auf den jeweiligen Zusammenhang der Begegnung zwischen Polizisten und Betroffenen an. Im Ausgang sind viele aufgrund von Alkohol und/oder Drogen aggressiv und reagieren in gewissen Situationen auf die Polizei gewalttätig. Bei neues

Personenkontrollen gibt es regelmäßig racialprofiling. Dsf beginnt eine mögliche Eskalation, die von der Polizei ausgeht. Bei Demos oder im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen gibt es die unterschiedlichsten Konstellationen. Ich möchte zunächst die Begriffe Eskalation und Obergriff auseinanderhalten. Zu einer Eskalation kann es in der Hitze der Auseinandersetzung immer wieder einmal kommen. Ein Übergriff liegt für mich vor, wenn es zu nicht gerechtfertigter Gewalt kommt. Im Gegensatz zu privaten, zivilen Menschen erwarte ich von Polizisten, dass sie auch in schwierigen Konstellationen ruhig und professionell bleiben und, wenn überhaupt, nur als letztes Mittel verhältnismäßige Gewalt anwenden. Nach meiner Erfahrung schätzt bei Auseinandersetzungen im Rahmen von Demonstrationen oder Sportveranstaltungen die Polizei häufig die Lage falsch ein, würde dagegen eine andere Taktik angewendet, könnte die Eskalation vielfach vermieden werden. Gerade in Bezug auf die letzten Einkesselungen habe ich aufgrund meiner in späteren Verfahren gewonnenen Aktenkenntnisse den Eindruck gewonnen, dass die Polizeiführung diese Kessel von vornherein wollte. Zudem behaupte nicht nur ich, dass — je nachdem, wer an einem Einsatztag Gesamteinsatzleiter ist — es eher zu Eskalationen und Übergriffen kommt oder dass sie vermieden werden können. Bei Personenkontrollen kommt es viel zu oft zu Eskalationen und Übergriffen. Mir ist bewusst, dass die Polizisten sich in solchen Situationen | manchmal sehr viel gefallen lassen müssen und von den |j

Kontrollierten beschimpft und tätlich angegangen werden. Aber das fuhrt ja für diese Personen immer zu einer Festnahme, oft zu einer Nacht in der Ausnüchterungszelle und mit Sicherheit zu einem Strafverfahren mit einer Verurteilung. Dass die Polizisten für ihre verbalen und tätlichen Übergriffe oder ihr unverhältnismäßiges Vorgehen zur Rechenschaft gezogen würden, kommt hingegen fast nie vor. Ich habe viele Akten studiert. Fast immer muss ich meinen Mandanten abraten, Polizisten anzuzeigen. Man braucht einen langen Atem, eine hohe Frustrationsschwelle und genügend Einkommen. Zudem: Selbst wenn ein Polizist sich unrechtmäßig verhält oder eine rassistisch motivierte Personenkontrolle durchführt - die Privatperson muss den Anordnungen eines Polizisten Folge leisten und kann sich erst nachher beschweren. Wer sich dagegen etwas zu stark wehrt, macht sich trotzdem rasch strafbar. Damit fehlt jeglicher Druck, damit sich hier was ändert. AW: Viele Mandanten haben gar kein Geld. Bieten Sie auch unentgeltlich Vertretungen an? MS: Wer sich keinen Anwalt leisten kann, hat unter Umständen in Strafverfahren Anspruch auf eine amtliche Verteidigerin. Dann arbeite ich nicht unentgeltlich, sondern werde vom Staat entschädigt. Allerdings schulden die Betroffenen dann bei einer Verurteilung diesen Betrag der Gerichtskasse. Bei einem Freispruch oder bei einer Einstellung des Strafverfahrens erhalten die Betroffenen für ihren Anwalt eine Entschädigung. Auch hier werde ich also vom Staat bezahlt.

In verwaltungsrechtlichen Verfahren und Zivilprozesseif gibt es bei Mittellosigkeit, und wenn der Fall vom Gericht nicht als aussichtslos angesehen wird, die Möglichkeit, einen unentgeltlichen Rechtsbeistand zu beantragen. Auch in diesen Fällen muss ich nicht unentgeltlich arbeiten. Da aber meine Mandanten diese Entschädigungen dann dem Staat schulden und diese noch nach vielen Jahren zurückzahlen müssen, sobald sie genügend verdienen, bespreche ich mit meinen Mandanten immer, ob sie das wirklich wollen. Der Sozialtarif beträgt im Kanton Zürich 220,00 C H F pro Stunde. Das ist für jemand, der wenig verdient, sehr viel Geld. Ich arbeite meist für 220,00 bis 250,00 C H F pro Stunde und vereinbare kleine Vorschüsse und dem Einkommen angepasste Ratenzahlungen. Nach meiner Erfahrung zahlen arme Klienten ihre Rechnung zuverlässig — manchmal dauert es einfach viele Jahre. Es sind eher die besser Verdienenden, die sich nicht mehr melden. Ich arbeite aber auch regelmäßig pro bono — wie die Juristen sagen. AW: Finden Sie persönlich die Schuldsprüche respektive die verhängten Strafen gegen ihre Mandanten gerecht? MS: Meine Mandantinnen und Mandanten sind natürlich prinzipiell unschuldig und die Strafen deshalb ungerecht. Was gerecht ist, sieht jede und jeder anders. Sind alle Gesetze gerecht? Meiner Meinung nach nicht. Aber wenn sie rechtens sind, folgt auf die Verletzung einer Strafhorm eine Strafe. Das Gesetz gibt den Richtern einen großen Ennes« sensspielraum. Ich konstatiere einfach, dass es seit meinem

i ' n \

f 1j jft

in vielerlei Hinsicht bei teilweise immer noch gleichen Gesetzen Änderungen in der Rechtsprechung und auch im Strafvollzug gab. Zu Beginn meiner Anwaltstätigkeit konnte ich bei einer Weiterverhandlung am nächst höheren Gericht meist mit einer Strafreduktion rechnen. Heute befurchte ich eher eine Straferhöhung. Bei gewissen Delikten erlebe ich fast keinen In-dubio-pro-reoFreispruch mehr. Es gibt für viele Mandantinnen und Mandanten dort, wo es möglich ist, immer noch eine zweite Chance. Aber bei gewissen Delikten sind die Strafen härter geworden, und es gibt rascher einen Unbedingten. An die gute Prognose werden höhere Ansprüche gelegt. Ginge es nach der öffentlichen Meinung und nach unseren Politikern wäre die Entwicklung noch schlimmer. Urteile werden nicht in einem luftleeren Raum gefällt. AW: Wenn nein, wieso nicht — können Sie ein Beispiel nennen? MS: Beim letzten Spiel im alten Espenmoos kam es zu Ausschreitungen. Ich habe mehrere Fans vor dem Kreisgericht St. Gallen vertreten. Der zuständige Staatsanwalt hat mir im Gespräch mitgeteilt, er habe sich bei der Entscheidung, welche Strafen er beantragen solle, an einem kurz zuvor im Kanton Basel ergangenen Urteil orientiert. Er habe einfach mal das Doppelte beantragt. Sogar er war erstaunt, dass das Gericht seinen Anträgen praktisch immer gefolgt ist. Seither sind viele Jahre vergangen. Und die Strafen rund um Gewalt bei Sportveranstaltungen sind nochmals markant angestiegen. Heute ist es oft fast einfacher, mit den Staatsanwälten vernünftig zu verhandeln, als von Studium

Richtern Augenmaß zu erwarten. Diese wissen, dass das Bundesgericht ihre Urteile im Bereich von Gewaltdelikten meist schützt. AW: Können Sie uns abschließend einige Anregungen geben? MS: Das Zünden von pyrotechnischem Material verstößt in der Schweiz gegen das Sprengstoffgesetz. Dieses verbietet den Gebrauch von Fackeln und Rauchtöpfen zu Vergnügungszwecken. Das Zünden von Böllern ist hingegen nicht per se strafbar, sondern nur, wenn es eine Gefahr für Menschen und Sachen darstellt. Ansonsten gibt es »nur« eine Buße. Mich stören aber in erster Linie die Böller. Fackeln und Rauchtöpfe gehören seit vielen Jahren zur Ultrakultur in den Stadien. Früher fanden das alle toll. Man hat keinen so großen Aufwand betrieben, um die Täter zu identifizieren. Heute hagelt es Strafverfahren, Stadionund Rayonverbote*. Ich habe Klienten, die dafür im Internet angeprangert werden. Heute ist die Identifizierung dank der billigeren und besseren Technik natürlich auch einfacher. Mir ist auch klar, dass die Polizei gezwungen ist, identifizierte Zünder anzuzeigen. Dennoch ist es ebenfalls immer eine politische Frage, welchen Aufwand man bei welchen Straftaten jeweils betreibt.

* Rayonverbote: Ein definierter Kreis rund um ein Fußball- oder Eishocke}«* dion. Der Störer darf diesen Kreis zu bestimmten Zeiten nicht betteten- A u e r als Fernhaiteverfiigung bezeichnet.

Mein persönlicher Umgang mit dem Thema Feindbild

bis Eintritt Polizei Als Drittletztes von elf Kindern kam ich 1960 im ländlichen Gommiswald SG auf die Welt. Acht Knaben und drei Mädchen waren es im kleinen Haus neben dem Bauernhof. Zum Hof gehörte auch das Altersheim. Mein Vater arbeitete als Pachtbauer und hielt Kühe, Hühner, Schweine und Kaninchen. Daneben gab es viele Obstbäume auf dem zu bewirtschaftenden Land, welches der Gemeinde gehörte. Meine Mutter hatte einen großen Garten mit viel Gemüse. Von den vielen Obstbäumen machte mein Vater frischen Most mit der eigenen Presse. Als Zugabe einmal im Jahr auch Schnaps. Große Einkäufe waren nicht möglich, so ernährten wir uns hauptsächlich als Selbstversorger. Mein Vater schlachtete die Schweine, Hühner und Kaninchen selbst, so kam ab und zu Fleisch auf den Teller. Wir hatten auch Meerschweinchen, einen Hund und einige Katzen. Die standen zum Glück nicht auf dem Speiseplan! Jeder Mensch hat seine Prägungen und Wurzeln. Im Kontext zum Roten Faden Feindbild gibt es durchaus Verbindungen. Jeder entwickelt irgendwann Hassgefühle. Eine geKindheit

schwächte Form von Hass entstand in der Kindheit, zum Beispiel, wenn der Bruder mein Spielzeug klaute. In unserer Familie gab es erstaunlich wenig Konflikte, jeder war froh, wenn er täglich warmes Essen bekam. Aus Platzmangel schlief ich bis zu meinem 19. Lebensjahr in einem Kajütenbett. Ich teilte das Zimmer mit vier Brüdern! Heftchen lasen wir mit der Taschenlampe, manchmal sogar unter der Decke, damit der jüngste Bruder schlafen konnte. Die ersten Skier holte ich mir von einer Müllhalde. Die fehlende Bindung fand ich bei einer der nächsten Suchaktionen und schraubte sie selbst auf die Holzlatten. Wir sprangen über selbstgebaute Schanzen und vergnügten uns ganze Nachmittage im Schnee. Als ich 13 Jahre alt war, stürzte ich bei einer Tiefschneeabfahrt und brach mir das Schien- und Wadenbein. Meine Self-made-Skier hatten leider versagt. Meinen Eltern war ich nicht böse. Sie hatten schlicht kein Geld, um allen Kindern neue Skier kaufen zu können. Die Unterschriften meiner Klassenkameraden auf meinem Gips entschädigten mich für meine Schmerzen. Eine Skijacke hatte ich nicht. Ich trug einfach einen handgestrickten Pullover, den meine Mama gestrickt hatte. Die Socken stammten selbstverständlieh auch von ihr. Markenklamotten waren ein Fremdwort. Zur Schule gingen wir im Sommer barfuß, was wir sehr lustig fanden. Jeweils samstags wurde in der Waschküche im Keller gebadet, wobei stets ein wenig warmes Wasser nachgefüllt wurde, schön einer nach dem anderen. Diese Gemeinschaft hat mir viel mitgegeben fürs weitere Leben. Natürlich verübten wir auch Lausbubenstreiche, bauten Waldhütten und ver-

gnügten uns in der Natur. Als ich mit meinem ersten Mofa von einem Polizisten angehalten wurde, hatte ich Ehrfurcht und Respekt. So war das damals. Geflihlswelt in der Militärzeit

Hatten Sie schon einmal ein Platzangsterlebnis? Als ich als Unteroffizier mit den Rekruten in den Bergen bei minus 15 °C eine Schneehöhle zur Übernachtung baute, stürzte diese kurz vor der Fertigstellung ein. Ein Rekrut trat, als er mit dem Skistock die Lüftungsschlitze einfügen wollte, etwas unbeholfen auf das Dach der Schneehöhle. Ich baute mit einem anderen Rekruten gerade den Kältegraben aus, als der Schnee den Eingang zuschüttete. Wir konnten uns nicht mehr orientieren und wurden vom Schnee nahezu erdrückt. Zum Glück hatten wir die Schneeschaufel dabei und konnten uns wie Maulwürfe hochkämpfen. Der Rekrut erlitt einen Schock und konnte mir nicht helfen. Er zitterte am ganzen Leib und musste getröstet werden. Unser Offizier forderte uns auf, sofort eine neue Schneehöhle in den Hang zu bauen, noch bevor es dunkel wird. Es gehe ums Überleben, so sei das halt da draußen in der Kälte. Unsere Gruppe ging mit vollem Eifer und Einsatz ans Werk. Die Höhle wurde nicht mehr so schön wie die erste, aber wir hatten keine andere Wahl. Nur mit viel Mühe konnte der Rekrut, der vorher einen Schock erlitten hatte, durch den schmalen Kältegraben in die Höhle gebracht werden. Kerzen an und ab in den Schlafsack. Ein Rekrut in einer anderen Höhle fror sich leider zwei Zehen ab, bemerkt hatte er das erst, als es wieder Tag wurde. Schlimm, aber da-

mals getraute sich fest niemand zu jammern. An diesem Morgen musste ich in den gefrorenen Tarnanzug schlüpfen! Damals mussten wir mit Marschschuhen auch Ski fahren. Extra Skischuhe gab es noch nicht. Ja, ich hasste und hinterfragte die Militärflihrung in diesen Momenten. Fazit Die ersten Begegnungen mit Chaoten waren wie Räuber-undGendarm-Spiele aus der Kindheit. Sie lauern in den Gassen und schauen, was die Polizei macht. Sie provozieren und randalieren. Die Chaoten enervierten sich über vieles, und wir generieren Sicherheitskräfte, damit die moderne Zwinglistadt in Balance bleibt. Zürich war schließlich 2008 die Stadt mit der höchsten Lebensqualität und hat heute noch einen sehr guten Ruf. Die freie Meinungsbildung und das Recht auf Demonstration gehören zur demokratischen Schweiz. Feindbilder gibt es in jeder Gesellschaft. Sie sind normal. »Die Löcher im Emmentaler Käse sollen uns die Sicht in die weite Welt freihalten.«

Einstecken als Bediensteter des Staates Meine Kollegen und ich hörten immer wieder: »Du Scherge des Staates, mit dir wollen wir nicht reden!« Diese Abneigung ist aus anarchistischer Sicht nachvollziehbar. Das geknechtete Arbeitervolk, die Bourgeoise, verfugt über weniger Mittel und Macht als das bürgerliche Proletariat, dieses steht fest.

die Polizei steht zwischen beiden Lagern und hat den Grundauftrag, för Frieden und Ordnung zu sorgen. Es ist ein Phänomen, das ich in der Zeit erlebte, als ich Uniform und Kampfausrüstung trug. Es war dieses Gefühl der Macht, Vertreter des Staates zu sein. Psychisch löst es eine innere Stärkung aus, wenn eine Waffe und die ganze Ausrüstung in der Öffentlichkeit getragen werden. Auf der anderen Seite steht ein mittel- und arbeitsloser Hausbesetzer. Eine kontroverse Situation, in der zwei Menschen stecken. Freiraum oder Buße, ist hier die Frage. Auf resolute wörtliche Argumente, wie: »Hau ab, du Bullenschwein!«, folgen Molotowcocktails, Knallpetarden, Flaschen und Steine. Was muss der Polizist als Feind alles einstecken im Auftrag des Staates? Diese Frage stellte ich mir auch bei den ersten Einsätzen im unfriedlichen Ordnungsdienst. Bin ich vom ruhigen Land in die hektische Stadt gekommen, um mich von solchen Leuten provozieren zu lassen? Bei den ersten Einsätzen als Aufklärer wurde ich oft angefeindet und buchstäblich gejagt. Man hatte uns den Stempel Spione verpasst. Die Autonomen versuchten verzweifelt, Fotos vom »neuen Spion« zu schießen. Nach ein paar Jahren brachten sie mein Bild in der Aufbau-Zeitung und titelten: »Endlich haben wir ihn, den Mister SiDi Widmer.« Die Ultralinken wollten die Zivilpolizei nicht zu nahe am Geschehen haben, weil sie wussten, dass diese mit dem Nachrichtendienst in Bern zusammenarbeiteten. Deshalb zählten wir für sie zum Feindbild. Konkret bedeutete das, dass zu einem bestimmten Anlass eine Horde Vermummter auf uns zu-

rannte, was uns wiederum nur die Option ließ, kurzfristig die Flucht zu ergreifen. Ich wurde Opfer des Hasses im Dienst der Sicherheit! Mehrmals sagte ich vor Gericht gegen Mitglieder der Szene aus. Meine authentischen Schilderungen wurden den Angeklagten zum Verhängnis. Das Dilemma der Polizei ist es, dass sie es fast keinem recht machen kann. Sie steht oft zwischen Stuhl und Bank, zwischen links und rechts, speziell in der Abteilung, in der ich bis zuletzt tätig war. Zu den Einschüchterungsversuchen zählten auch Hackerangriffe auf den privaten Computer. Das löste ein mulmiges Gefühl aus, zumal ich ja zu der Zeit eine Familie mit zwei kleinen Kindern hatte. Solche Dinge gehörten zum Job; es zeigt aber auch, wie Vorurteile entstehen. Ich selbst versuchte stets, den Spagat zwischen den Fronten zu schaffen, die Bedürfnisse der Gegenseite in Einklang mit dem Auftrag zu bringen. Das gelang nicht immer. Aber oft trug der Spagat dazu bei, dass die Situation friedlich geklärt werden konnte.

Alltagssituationen Bodenhaftung oder riskante Gratwanderungen, das ist die Frage. Sei es im Beruf oder im Privadeben: Viele Situationen lassen sich mit alltäglichen Geschehnissen auf der Straße vergleichen. So erlebte ich zum Beispiel als junger Mann eine gefährliche Situation bei der Arbeit. Als Malerlehrling musste ich auf das Gerüst einer Dorfkirche steigen, und zwar auf der schmalen Außenleiter über die Kuppe, 30 Meter über dem Boden, mit

einem Farbkübel in der linken Hand. Einmal wurde es brenzlig, weil ich beinahe den Halt verloren habe, als ich mit der rechten Hand den Kollegen am Boden zuwinkte. Im letzten Moment konnte ich mich festkrallen und auf die Kuppe gelangen. Manchmal ist es gut, wenn der Herrgott näher ist als der Teufel.

Ich fuhr zu einem Tennismatch, auf das ich mich schon freute. In einer 30er-Zone wurde ich von einem gut getarnten Radargerät geblitzt. Im Bußgeldbescheid stand, dass ich 4 km/h zu schnell war. Nach Abzug der üblichen 3 km/h ergab dies eine Differenz von 1 km/h, das bedeutete 40,00 CHF Buße. Einen Tag davor hatte ich einen Steuerbescheid mit einer Nachzahlung erhalten, zudem berichteten Schlagzeilen von Sozialbetrügern. Diese Ereignisse befeuerten das Gefühl von Hass und Frust in mir. Ja, auch ich habe ab und zu ein »temporäres Feindbild« gegenüber Behörden. Ein anderes Beispiel: Auf der Windschutzscheibe befindet sich ein Strafzettel, weil ich die Parkzeit um fünf Minuten überzogen habe. Der Polizist in Uniform lächelt verschmitzt und begibt sich weiter auf die Suche nach Parksündern. Der Bauch knurrt, der Verstand rebelliert, zornige Gedanken gehen mir durch den Kopf, die Vernunftsensoren im Hirn drosseln die Rezeptoren und verhindern, dass ich ausfällig werde. Ich wünsche mir, dass manche Polizisten mehr Empathie zeigen oder ihre Toleranzgrenze ein bisschen ausweiten. All die guten Dinge, die der Freund und Helfer verrichtet, werden sonst ausgeblendet, was im Grunde schade ist. Als junger Polizist erklärte mir ein verhafteter Mann, der einen Radarkasten mit schwarzer Farbe besprüht hatte, wieso

er das getan hatte. Er erklärte, dass er stets vorsichtig fahre, dass er die Fußgänger über die Straße lasse und noch nie angetrunken gefahren sei. Aber die Buße mitten in der Nacht wegen eines »Abzockerkastens«, wie er das Radargerät nannte, habe ihn dermaßen geärgert, dass er zur Spraydose griff. Aus meiner Uniformzeit bleibt mir ein Schlüsselerlebnis aus der Zeit vom Nidelpark-Platzspitz, der von 1986 bis 1992 weltweit als Drogenumschlagsplatz bekannt war, im Gedächtnis haften. Neben dem Streifendienst hatten wir damals turnusmäßig auch in der Drogenszene Patrouillendienst. Zuerst fanden wir eine tote junge Frau, die von nordafrikanischen Drogendealern ins Elend gestürzt worden war. Ihr war wiederholt unreines Heroin verkauft worden, sie war mehrfach vergewaltigt worden. Viele Frauen in der Drogenszene flüchteten damals in die Prostitution. An einem warmen Sommertag konnten wir nach einer langen Verfolgungsjagd zu Fuß einen Händler verhaften, nachdem er den Zaun einer Bienenfarm überstiegen hatte. Als Dankeschön wurden wir von einem Schwärm Bienen attackiert. Mein Kollege war dermaßen stark zerstochen, dass er die Augen nicht mehr öffnen konnte. Er sah aus wie ein Zombie! Obwohl ich selbst auch tüchtig angegriffen worden war, gelang es mir mit viel Mühe, dem Geflüchteten Handschellen anzulegen. Der Delinquent hatte keinen einzigen Stich. Trotz allem musste ich lachen ob des skurrilen Szenenbildes. Notfallmäßig mussten wir beide im Krankenhaus behandelt werden. Wir überlebten die Attacke, die Beulen gingen zurück, die Erinnerung jedoch bleibt haften.

Im ehemaligen Platzspitz, wo die Drogensüchtigen ihren Stoff kaufen, wurden wir böse angeschaut, eben wie Feinde. Dabei waren wir da, um zu helfen, um ihnen Wege aus der Sackgasse zu zeigen. Den Abhängigen wurden neben dem Methadonprogramm diverse soziale Hilfestellungen angeboten. Amoklauf im

Bauamt Als junger Polizist war ich in der Hauptwache Urania stationiert. An einem Morgen Mitte April 1986 rannte ich zusammen mit ein paar Kollegen zum Amtshaus der Baupolizei auf der nahegelegenen Lindenhofbrücke. Es seien Schüsse gefallen, und es gebe mehrere Opfer. Alles lief hektisch zum Tatort, Menschen schrien. »Der Täter ist geflohen«, rief jemand laut. Sanitätsfahrzeuge trafen ein. Ein ganz schlimmes Verbrechen sei geschehen. Günther Tschanun, damaliger Chef der Zürcher Baupolizei, hatte im Revier innerhalb von zehn Minuten vier Mitarbeiter erschossen und einen fünften lebensgefährlich verletzt. Gravierende Differenzen mit den Mitarbeitern seien unter anderem das Motiv gewesen. Ein paar Wochen später konnte der Todesschütze in Frankreich verhaftet werden. Die Strafe hat er inzwischen abgesessen. Die schockierten Einsatzkräfte vor Ort und die ganze angespannte Situation - der Täter wohnte in der Nähe, doch sein Aufenthalt war nach der Tat unklar - stellten eine große Herausforderung dar. Wie viel Hass musste den Chef zu der Tat getrieben haben? Wie konnte so etwas passieren, fragten sich viele. Das ist bis heute eine der schlimmsten Taten in der Zürcher Kriminalgeschichte.

Das Leiden an der Limmat bei der Letten Nachts liefen Ratten auf dem Müll entlang der schönen Uferanlage beim Letten herum. Es ist kaum vorstellbar, wi( schmutzig die Gegend unter der Kornhausbrücke damals wai und wie sehr es gestunken hat. Wir waren an einem warmer Sommerabend auf Patrouille. Ein Mönch kniete neben einei verwahrlosten, am Boden liegenden jungen Drogensüchtiger und kümmerte sich um sie. Die Frau hatte Ekzeme an Beiner und Armen und suchte zitternd nach einer Möglichkeit, sich die Nadel zu geben. Sie reagiert gereizt auf unsere Frage nach dem Drogenhändler, der gerade das Weite gesucht hatte. Wir, die Polizisten, waren ihre Feinde, weil wir sie störten und belästigten. Dabei vermittelten wir sie in eine Beratung fiir Prävention und Wiedereingliederungsmaßnahmen. Einige schafften es nicht zurück ins normale Leben. Die Sucht war für sie Endstation! Perfide daran war, dass Drogendealer aus dem In- und Ausland jungen Leuten zuerst Gratisdrogen angeboten hatten und danach die inzwischen Süchtigen im Stich ließen. Die fiesen Dealer hatten, als die Polizei auftauchte, sofort das Weite gesucht. Sie selbst nahmen meist keine Drogen, ihnen ging es nur um die finanzielle Seite, eine traurige Endlosschleife. Unter großem Aufwand wurde der Letten 1995 polizeilich geräumt. Die neuen dezentralen Auslagerungen in andere Stadtkreise werden regelmäßig kontrolliert. Der ehemalige Platzspitz wurde nachts geschlossen. Die sichtbaren Schandflecke Platzspitz und Letten verschwanden, die Stadt war fürs Auge wieder sauber, und der Einstieg in die Sucht zum Glück erschwert.

Die Drogensüchtigen, die auf dem Ajf{= Entzugserscheinungen) waren, taten mir leid. Sie verkümmerten und lagen abhängig und kraftlos in der Gosse. Wir alle waren einmal Säuglinge und strampelten im Kinderbettchen umher, dachte ich mir dabei. Als mich bei einem Einsatz am Sihlquai ein Süchtiger mit der Spritze bedrohte und laut schrie, erinnerte es mich an Indianer beim Angriff. Statt die Waffe zu ziehen, schrie ich auch laut und voller Energie, während ich ihn anschaute. Mein damaliger Patrouillenbegleiter war ganz perplex, sah aber dann, wie der Süchtige darüber erschrak und seine Spritze fallen ließ. Er fing zu heulen an, und so kamen wir in ein Beratungsgespräch über ein Entzugsprogramm. Rollenwechsel Schlüpfen Sie doch einmal in die Rolle eines Polizisten oder einer Polizistin. Sie tragen eine Uniform, haben eine Waffe, Handschellen, Funkgerät und alles, was dazugehört. Sie sind mit der Kollegin auf Streife im Revier. Ein Funkspruch beordert Sie zu einem Familienstreit. Eine ältere Frau schreie verzweifelt um Hilfe, meldeten Nachbarn der Einsatzzentrale. Beim Eintreffen im Treppenhaus hören Sie einen Schuss. Die Frau teilt Ihnen mit, dass sich der Mann nach einem Streit im Badezimmer eingeschlossen und eine Waffe mitgenommen habe. Sie entscheiden sich, die Tür aufzubrechen, und finden den Mann blutüberströmt, tot in der Badewanne. Solchen Stresssituationen ist ein Polizist unvermittelt ausgesetzt. Leider kam die Hilfe um ein paar Sekunden zu spät. Sie machen sich Vorwürfe, nicht noch schneller gefahren zu

sein. Eine halbe Stunde später werden Sie von einem Zechpreller übel als Dreckschmier beschimpft! Im gleichen Revierdienst ereignet sich ein Verkehrsunfall, keiner der Beteiligten will die Schuld auf sich nehmen. Die Aussagen werden aufgenommen, protokolliert und an das Gericht weitergeleitet. Das Rollenspiel ist hier zu Ende. Die geschilderten Ereignisse habe ich selbst erlebt. Niemand ist schuld Als junger Streifenpolizist musste ich wegen eines Verkehrsunfalls ausrücken. Die Unfallbeteiligten standen unter einem Hausdach, es regnete stark. Die Autos standen demoliert in der Endposition auf der Abzweigung, es war nach der Geisterstunde an einem Wochenende. Die Unfallgegner stritten sich, niemand wollte schuld sein. Die Ampelanlage an der Kreuzung funktionierte. Schnell merkten mein Kollege und ich, dass eine Fahrerin betrunken war. Es handelte sich um eine einflussreiche Frau, die drohte, falls ich eine Blutprobe anordnen sollte, würde sie dafür sorgen, dass ich Schwierigkeiten bekäme. Sie hasse uniformierte Grünschnäbel. Ein Kollege bestätigte die Aussagen der Fahrerin, offensichdich wollte er sie decken. Wie sich herausstellte, war es eine Falschaussage. Einmal leer geschluckt, den einzigen, zufälligen Zeugen befragt, ordnete ich nach dem Atemlufttest eine Blutprobe an. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Arzt und der PolizeiofFizier die Dame dazu überreden konnten. Über ein Promille, und bei Rot über die Kreuzung gefahren lautete schließlich der Vorwurf. Das brachte die noble Dame vol-

in Rage. Sie musste den Führerschein auf der Stelle abgeben. Erst Wochen später entschuldigte sie sich ftir ihr arrogantes, anmaßendes Auftreten. Bei einer anderen Patrouille machte ich mir einen Spaß. Zwei an einem Unfall beteiligte Autofahrer riefen uns zum Unfallort. Nervös gestikulierten sie bei unserem Eintreffen herum. Ich stieg aus dem Wagen und fragte, wer schuld sei. Beide stritten die Schuld ab. Dann sagte ich den verdutzten Fahrern, wenn niemand schuld ist, gehen wir wieder, dann können wir auch keinen anzeigen! Die Gesichter hätte man sehen sollen. Natürlich nahm ich den Unfall auf, der Kollege sicherte die Spuren, und wir fotografierten den Unfall. Der Richter belegte beide mit einem Bußgeldbescheid. lends

Anlässlich eines FIFA-Kongresses im Hallenstadion Zürich stellten UNIA-Aktivisten unzählige Särge auf den Vorplatz bei der Tramschlaufe. Symbolisch für jeden verunglückten Bauarbeiter in Katar, dem Ort, wo die Fußballweltmeisterschaft 2022 durchgeführt werden soll. Das Turnier soll Ende November stattfinden, wenn bei uns die ersten Schneeflocken fallen. Für den Bau der acht Stadien sind bis zu 36 000 ausländische Arbeiter im Einsatz. Die dortigen Arbeitsbedingungen werden von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International scharf kritisiert. Viele Arbeiter haben beispielsweise über Monate keinen Lohn erhalten. Mehrere Hundert Bauarbeiter seien ums Leben gekommen. Die Behörden in Katar erklären, dass die Bauarbeiter an Herzinfarkt oder Atemstill-

stand starben und nicht wegen Sicherheitsmängeln. Aus Sicht der Menschenrechtsorganisationen werde die Wahrheit absichtlich vertuscht, die Autopsieberichte würden bewusst verschleiert. Ich dachte stets, die reichen Scheichs würden gute Löhne zahlen und die besten Architekten anstellen. Die Arbeiter würden wertgeschätzt und ordentlich bezahlt. Die meisten Menschen in Europa wissen wenig über die Umstände und Unstimmigkeiten bei solchen Großprojekten. Ich stützte mich bei meiner Recherche auf unterschiedliche Medienquellen und Mitteilungen von Human-Right-Organisationen. Die Fußballweltmeisterschaft wird hohen Umsatz erzielen und tollen Sport liefern. Die große Kasse aber macht die FIFA. Danach, wenn uns der Alltag wieder eingeholt haben wird, ist alles vergessen. Dieser Fall löste bei mir gewisse Hassgefuhle aus, weil das ganze Drumherum unfair und ungerecht ist. Es gibt auch Vorkommnisse mit seltsamen Verknüpfungen. Wir schrieben das Jahr 2003, als ich bei einer Häuserräumung im Kreis 9 am Hagenbuchrain in zivil eingesetzt war. Als wir nicht gleich loslegten und den Besetzern mehr Zeit einräumen wollten, rief mir ein uniformierter Kollege zu: »Hey, wir machen da nicht auf Susi.« Der Zuruf traf mich mitten ins Herz, was der Kollege nicht wissen konnte. Tatsache war nämlich, dass ich zwei Tage zuvor meine Schwester Susi verlor. Mit einem leeren Schluck und der nüchternen Antwort: »Jetzt läuft das Ultimatum ab, ist okay«, beendeten wir das Gespräch. Noch heute weiß dieser Kollege nicht, wie

in solches Wort wirken und was es auslösen kann. Das soll lediglich zeigen, welche Gedanken oder Gefühle mit einem unüberlegten Wort verbunden sein können, ob bewusst oder unbewusst. Dieses Mal kam die Verletzung nicht von der Gegenseite. Manchmal trifft es Rezeptoren der Trauer, ein anderes Mal Hass oder Wut. Kennen Sie auch solche Erlebnisse? Unter Beschuss

Böller oder Raketen, die gegen Polizisten abgeschossen werden, sind feige und stellen hinterlistige Angriffe dar. Sie können einen Tinnitus auslösen, der schleichend daherkommt und nicht mehr geheilt werden kann. Weil wir einen Funkknopf im Ohr haben, kann der Gehörschutz nur an einem Ohr eingesetzt werden, allerdings stört das eben, wenn dieses Ohr zum Telefonieren gebraucht wird. Eine künftige Technik sollte dieses Problem beseitigen. Bei einer abendlichen, unbewilligten Demonstration war ich am Stadelhoferplatz im Einsatz. Die Polizei wie auch die Demonstranten waren in kleinen Gruppen und Formationen zersplittert. Aus dem Nichts kamen unvermittelt Steine geflogen. Ein großer Stein, der aus der Dunkelheit geworfen wurde, traf mich beinahe am Kopf! Schnell suchte ich Deckung in der nächsten Hausnische. Solche Momente sind sehr ungemütlich und schwer einzuschätzen. Bei einer Hausbesetzerdemo 2003 wurden Feuerwerksraketen gezielt gegen uns, die Zivilpolizei, abgeschossen - eine gemeine Aktion! Aus einem Park flogen Flaschen in den Nachthimmel. In Deckung gehen und Distanz schaffen, war

die ultimative Devise, und abwarten, bis die Ordnungskräfte die Situation im Griff haben. Ich erinnere mich, dass einzelne Demonstranten Hochgeschwindigkeits-Steinschleudern eingesetzt haben. Mit solch gefährlichen Waffen können Menschen schwere Verletzungen zugefügt werden. Diese Angriffe stellen definitiv keine Argumente dar, sondern sind gefahrlich und verantwortungslos.

Persönliche Präferenzen Sympathie zeigen und abwägen Wir haben einen gewissen Ermessenspielraum und können empathisch sein. In der Funktion als Beobachter fühlte ich mich zuweilen wie ein Schiedsrichter beim Fußball. Am Geschehen sein und erst dann pfeifen, wenn es notwendig ist. Wohlwollen für gewerkschaftliche Anliegen sind nach meiner Ansicht legitim, zumal wenn es um Forderungen zum Rentenalter bei Bauleuten geht. Die Arbeiter, die unsere Häuser und Büros bauen und an Rückenschmerzen leiden, sollten den Lebensabend eher genießen können als jene, die im Büro arbeiten. Wenn wir die Gegenseite besser verstehen und uns einlesen in ihre Thematiken, trägt es zum Verständnis bei. Wir sollten uns bewusst sein, dass die Beamten geschult sind, die Gegenseite meist nicht. Ein anderes Beispiel: Beim alternativen Radio Lora, in der Sendereihe die Rote WeUe hören wir Statements zu politischen Vorgängen und Protesten. Diese Informationen können =

nützlich sein. Mit breitem Wissensfundus lassen sich ausgewogenere Schlüsse ziehen, davon bin ich überzeugt. Sie sind Ventile zur Drosselung von Hassgefühlen. Auf beiden Seiten stehen Menschen, die einen mehr auf der emotionalen Ebene. Die Bösen stecken für sie in Uniformen, so die Momentaufnahme eines Delinquenten. Lieber helfen statt büßen, so das Wunschdenken vieler Bürger. Für Leute im öffentlichen Dienst ist es sehr wichtig, die innere Balance zu finden, neue Kräfte in der Natur zu generieren und mit sich selbst im Einklang zu stehen. So gelingt der Spagat zwischen Erwartungen und alltäglichem Druck. Der surreale Modus Zwei Welten und die stetige Verwandlung Bei einem Demonstrationseinsatz befinde ich mich in einer anderen, zuweilen surrealen Welt, in der ich Anfeindungen ausgesetzt bin und in der die hartgesottenen Autonomen einen Dialog verweigern. Zurück im Büro, das Outfit wechseln, in den Zug steigen und danach in einer heilen Welt ankommen, sei es in der Natur, beim Sport oder im privaten Kreis. Schnell vergesse ich dann die andere Welt, in der es fast immer Probleme gibt. Die Aufregung, das Pfeifen der Demonstranten, die meinen Tinnitus verstärken, sind real in diesem Moment. Die Leute skandieren Forderungen und prangern Ungerechtigkeit an. Ich verstehe sie und vertiefe mich in die Problematik. Und doch frage ich mich immer wieder, wieso Menschen in ihrer Freizeit auf die Straße gehen. Die Welt verändert sich nicht so

schnell. Und doch weiß ich: Steter Tropfen höhlt den Stein. Wir werden mit den Sorgen der Minderheit konfrontiert und machen uns Gedanken zu Krieg, Weltfrieden und Umwelt. Vielleicht liegt darin ein Widerspruch. Doch das ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Der Spagat zwischen zwei inneren Welten: Die erste Welt ist geprägt von Lärm, Chaos, Gewaltverbrechen und Unglück, von Schiedsrichter spielen, anordnen, Bußen auferlegen, funktionieren und für die Sicherheit der Gesellschaft sorgen. Den Spagat in die andere Welt schaffte ich früher, als ich noch eine Uniform trug, indem ich meine äußere Hülle abstreifte wie Schlangen bei der Häutung. War das erledigt, konnte ich auf dem Heimweg abschalten, was natürlich nicht immer gelang. Aber Uniform mit Arbeit und zivile Kleidung mit Freizeit zu verbinden war oft eine psychologische Herausforderung. Und wie geht das, wenn man Polizist in ziviler Kleidung ist? Auch dort praktizierte ich den Wechsel. So verwendete ich diverse Jacken aus dem Garderobenschrank des Arbeitsortes nur beim Einsatz. Bei Demonstrationen sind es ausgelesene Shirts und Pullover, ja sogar die Sonnenbrillen waren nur für diese Einsätze. Auch in der Sportwelt gibt es viele ähnliche Rituale. Profitennisspieler, die den letzten Matchball für den nächsten Aufschlag verlangen. Oder eine bequeme blaue Hose brachte Glück, der Talisman von der Liebsten usw. Beim Betreten der anderen Welt entspannen wir uns mit sportlicher Betätigung, wie tanzen, Rad fahren oder eben mit feinem Essen oder dem Aufenthalt in der Na-

mur. Wir schalten ab und werden dabei neue Menschen, immer wieder aufs Neue. Totlesangst

Ferien in Mallorca im Alter von zwanzig Jahren. Es waren meine bisher einzigen Ferien, in denen ich allein als Single unterwegs war. In einer Disco lernte ich ein junges deutsches Mädchen kennen und verabredete mich für den nächsten Abend mit ihr. Es war nach Mitternacht, als ich das Lokal verließ. Als ich die Straße überqueren wollte, fuhr ein Auto beinahe über meine Füße. Als Reaktion zeigte ich den Stinkefinger — das Auto hielt sofort an, und vier Typen sprangen auf mich zu. Ich hatte keine Wahl, als die Beine unter die Arme zu nehmen und wegzulaufen. Wie ich damals entkam, weiß ich bis heute noch nicht genau. Ich sprang wie ein Reh über Zäune und rannte durch Hinterhöfe und Gärten, bis ich nur noch einen Verfolger hatte. Schweren Atems versteckte ich mich in einem Vorgarten einer Liegenschaft. Ich hatte Todesangst. Mit einer Holzlatte würde ich mich wehren, falls er mich angreifen würde. Ich hörte ganz nah seinen schweren Atem und spanische Fluchworte. Ein anderer Typ erwiderte seinen Ruf war aber weiter weg. So verharrte ich und wartete sicher eine halbe Stunde, bis ich keine Stimmen und Schritte mehr hörte. Mein Puls war immer noch sehr hoch. Ganz langsam erkundete ich die Gegend und fand schließlich auf Umwegen mein Hotelzimmer. Von da an wusste ich, welche Kräfte Todesangst entwickeln kann und dass eine Geste Hass und Angst auslösen kann. Ich hatte damals echte Todesangst. Ein Schlüsselerlebnis, aus dem ich Lehren für mein späteres Leben zog.

Neue Wege im Jahr 2020 Uns muss bewusst sein, dass sich das Leben von einem Tag auf den anderen drastisch ändern kann. Alles, was selbstverständlich ist, kann plötzlich anders aussehen. Das wird uns beispielsweise nach einem banalen Hexenschuss klar. Aus eigener Kraft nicht mehr aufstehen zu können, sich unbeholfen wie eine lahme Schildkröte zu fühlen, hilflos zu sein. So ähnlich muss es einem Querschnittsgelähmten gehen. Und so etwas kann jederzeit jedem Menschen passieren. Meine Einstellung zum Leben hat sich seit 2016 nach einer gut verlaufenen Operation am Kopf (hinter dem Augapfel wurde eine Blutfistel entdeckt) stark verändert. Per Zufall wurde diese Fistel bei einer Untersuchung festgestellt. Der Grund fiir die MRI-Untersuchung war ein Vorfall beim Schießtraining. Ich hatte aus Versehen keinen Gehörschutz auf. Der Schießleiter schickte mich zur Gehörärztin, die eine genauere Untersuchung des Gehörschadens anordnete, um Restrisiken auszuschließen. Gott sei Dank. Der Stadt Zürich als Arbeitgeber möchte ich ein Lob aussprechen. Nach über 37 Dienstjahren bei der Stadtpolizei Zürich wartet im Frühjahr 2020 eine freie, inspirierende Zeit auf mich. Ich freue mich sehr darauf! Nehmen Sie diese Gedanken mit auf Ihren zukünftigen Weg: Gespräche mit Tiefgang sind meiner Meinung nach gewinnbringender als Floskeln und oberflächliche Höflichkeitsformen. Mit Respekt, Geduld und Toleranz schaffen wir Vertrauen. Nur so erreichen wir eine schöpferische Nachhai-

Vernetzung und Hobby Als ich 1992 in Zürich zum ersten Mal ausstellte, landete ich auf der letzten Seite des Zürcher Tagblattes. Ein Journalist fragte mich damals, wieso ich nicht Eindrücke von Erlebnissen bei der Polizei male, wie zum Beispiel die elenden Szenerien auf dem Platzspitz. Bis zur Frühpension trennte ich strikt Kunst und Beruf. Schließlich wollte ich nicht den Stempel des malenden Polizisten aufgedrückt bekommen. Obwohl eine gewisse Affinität gegeben war. In Künstlergruppen sagte ich oft nicht, welchen Brotberuf ich ausübe. Seltsam und etwas voreingenommen scheint mir, dass viele Künstler die Polizei ablehnen oder eine Abneigung gegenüber der Polizei haben. Erst nach langen Gesprächen kann der malende Polizist auch Künstler sein. Daher lebte ich besser damit, wenn ich gar nichts vom Beruf erzählte. Von der Kunst zu leben war einmal ein Traum von mir, der aber nicht realistisch war. Das gelingt nur ganz wenigen Malern. Die Auslagen sind größer als die sporadischen Verkäufe. Die Malerei war seit meiner Kindheit ein Wegbegleiter. Ich malte Landschaften, Tiere und Sonnenuntergänge. Danach imitierte ich bekannte Künstler, bis ich die Philosophie der Vernetzung in die Bilder einfließen ließ. Mit der Zeit war meine Handschrift gut erkennbar. Auf der Fahrt im Zug überlegte ich und hielt meine neue Art der Kunst folgendermaßen fest: » Wir sehen Formen und sind Körper - wir bewegen uns im Strudel des Systems - wir sind vernetzt und gleichsam Materie im Universum.«

Und das Spannende daran ist: Es gibt Synergien mit der Buchthematik. Ordnung und Chaos vermischen sich. Mensch- 1 liehe Emotionen formen buchstäblich die Welt um uns, wie ich I glaube (die Webseite der Kunst: www.widiart. ch).

Nachwort und Dank

In diesem Buch habe ich bewusst heikle Themen aufgegriffen und sie kritisch zu beleuchten versucht. Strategien oder Taktiken der Polizei wurden nicht aufgezeigt, vielmehr handelt es sich um persönliche Eindrücke und Empfindungen des Autors. Im Fokus stand dabei, Geschehnisse zu dechiffrieren und zu reflektieren. Der Leser erhält einen Einblick in die Strukturen des Gegenübers. Die Erläuterungen sollen das Verständnis im globalen Sinn anregen und den Betrachtungshorizont der Leser erweitern. Das Problem Feindbild tangiert die ganze Gesellschaft. Die Anregungen möchten positive Impulse auslösen. Weder Angstmacherei noch Schuldzuweisungen helfen weiter, sondern nur der gesunde Menschenverstand und die wahre innere Stimme. Herzlichen Dank an alle, die mich bei diesem Projekt unterstützten, insbesondere meine Verlegerin Sabine Giger und ihr Team.

Der Autor

Andreas Widmer, geboren am 24. April 1960, Vater von zwei Kindern, geschieden, gelernter Maler und Tapezierer, gelernter Feng-Shui-Berater, politisch neutral, konfessionslos. Polizeischule 1982/1983, Stadtpolizei in Zürich 14 Jahre im Streifendienst (in der Epoche Platzspitz und Letten) 23 Jahre im Spezialdienst, Fachgebiet Extremismus, Spezialgebiet Linksextremismus, Erfahrungen mit der Arbeit: »Höhere Fachprüfung«, Thema »RTS« (illegale Veranstaltungen), Referent Fachgebiet LEX Vier Jahre Redakteur (2014 bis 2018/Fachjournalist) Hobbys: Kunst, Kultur, Politik, Gesundheitsthemen und Sport