Sayfo: Das Jahr des Schwertes 9783631768549, 9783631774007, 9783631774014, 9783631774021, 3631768540

Im Rahmen des 100-jährigen Gedenkens an den Völkermord an den Aramäern veranstaltete die Forschungsstelle für Aramäische

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Sayfo: Das Jahr des Schwertes
 9783631768549, 9783631774007, 9783631774014, 9783631774021, 3631768540

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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Das Ende einer Koexistenz. Das Verhältnis zwischen Kurden und ostsyrischen Christen vor dem Hintergrund der zerfallenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung in Ostanatolien im 19. Jahrhundert
1 Die ostsyrischen Christen am Beginn des 19. Jahrhunderts
2 Die osmanische Zentralisierungspolitik als Auslöser der Spannungen zwischen Kurden und ostsyrischen Christen im Emirat Hakkārī
3 Die Massaker an den ostsyrischen Christen in Hakkārī durch Bedīrḫān Bey
4 Das Ende des Modus vivendi zwischen den Bevölkerungsgruppen in Kurdistan nach den Massakern der 1840er Jahre
5 Christen und Muslime in Ostanatolien in der Ära ʽAbdülḥamīds II.
Literaturverzeichnis
Die Vernichtung der aramäischsprachigen Christen im Iran und Osmanischen Reich 1914 bis 1918
1 Literatur- und Archivlage
2 Die Ereignisse im Iran und im Osmanischen Reich: Ereignishistorische Zusammenfassung und Analyse
2.1 Iran
2.2 Osmanisches Reich
2.3 Ereignisdeutung und Kontextualisierung
3 Zusammenfassung und Schlussfolgerung:
Anlagen
Literaturverzeichnis
Al-qusara fi nakbat an-Nasara – „Das Äußerste in den Katastrophen der Christen“
Nachwort (Dorothea Weltecke, Boris Barth, Dominik Giesen)
Literaturverzeichnis
Die Stationen der deutschen Orientmissionen im Sayfo
1 Einleitung
1.1 Die Deutsche Orientmission im Tur Abdin
1.2 Die Stationen der deutschen Missionen im Orient, die unter den syrischsprachigen Christen arbeiteten
2 Erster Blick in die Akten zu Urfa
3 Interaktion mit Christen syrischsprachiger Tradition in Urfa
4 Erste Notizen zur verlassenen Station in Diyarbakir
5 Hermannsburg verbundene syrische Christen in der Urmia-Region
6 Hinweis auf die Missionsstation der Deutschen Orientmission in Dilguscha
7 Schluss
Literaturverzeichnis
Mission M/macht Politik: Die OIK und ihre Einflussarbeit hinsichtlich der armenischen Frage 1918
Literaturverzeichnis
„Sayfo continues today“: Erinnerungsdiskurse und Identität im Kontext von Syrienkrieg und „Islamischen Staat“
1 Sayfoerinnerung im Kontext von Diasporaidentität und Opferdiskursen
2 Vergangene und heutige Genozide: Die Relevanz des Sayfo im Kontext der Ereignisse im Nahen Osten
2.1 Etappen der Perspektivlosigkeit: Syriens Christen in der Revolte
2.2 Ein neuer Genozid? Der IS in Mosul (2014) und am Khabur (2015)
3 Der Sayfo und heutige Verfolgung: Gruppenidentität, mangelnde Anerkennung und problematische Opfernarrative
4 Abschließende Bemerkungen
5 Danksagung
Literaturverzeichnis
Der Sayfo im Rahmen der internationalen Genozidforschung
Literaturverzeichnis

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Sayfo – Das Jahr des Schwertes

SCHOLA NISIBINA BEṮ SEFRO DA-NṢIḆIN Herausgegeben von der Forschungsstelle für Aramäische Studien

BAND 2

Dorothea Weltecke und Boris Barth (Hrsg.)

Sayfo – Das Jahr des Schwertes Herausgegeben unter Mitarbeit von Dominik Giesen, Ralph Barczok und Zeki Bilgic

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Horst Oberkampf

ISBN 978-3-631-76854-9 (Print) E-ISBN 978-3-631-77400-7 (E-PDF) E-ISBN 978-3-631-77401-4 (EPUB) E-ISBN 978-3-631-77402-1 (MOBI) DOI 10.3726/b15491 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Berlin 2019 Alle Rechte vorbehalten. Peter Lang – Berlin · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Diese Publikation wurde begutachtet. www.peterlang.com

Dorothea Weltecke

Vorwort Abstract: The Research Centre of Aramaean Studies organized a conference with the title “The genocide on the Aramaic community (Syriac Christians) in the Ottoman Empire and ottoman occupied Iran (1914–1918)” from 29th–30th May 2015 at the HU Berlin. The publication contains most of the papers of the conference.

Am 2. Juni 1915 erreichten die Vernichtungsaktionen gegen Christen in der spätosmanischen Türkei die Stadt Nisibis, einst eine zentrale Stätte der Gelehrsamkeit der Kirchen syrischer Tradition und der aramäischen Sprache. Im Jahr 2015 wurde dieser Tag zum ersten Mal zum Gedenken an den Genozid an den Aramäern/Assyrern/Chaldäern in Berlin begangen, um für die besonderen Erfahrungen und Gedanken Raum zu bieten. Als Gedenktag wurde auf der Synode der syrisch-orthodoxen Kirche in Beirut vor drei Jahren der 15. Juni als offizieller Gedenktag angenommen; auch die syrisch-katholische Kirche hat sich inzwischen angeschlossen. Vertreter anderer Kirchen der syrischen Tradition nehmen an den Feierlichkeiten teil, deren ökumenischer Ansatz für ihr Selbstverständnis wesentlich ist. Zugleich wurde in Gemeinschaft mit Griechen und Armeniern in der Ökumenischen Gedenkstätte auf dem Luisenkirchhof in Berlin-Charlottenburg ein gemeinsames Mahnmal geschaffen, um der gemeinsamen Trauer einen Ort zu geben. Konzeption und Durchführung für dieses Mahnmal lag und liegt in den Händen der „Fördergemeinschaft für eine ökumenische Gedenkstätte für die Genozidopfer im Osmanischen Reich e.V. (FÖGG)“. Dieser Genozid bedarf jedoch auch der wissenschaftlichen Erforschung. Während an der Tatsache des Verbrechens wissenschaftlich kein Zweifel besteht, steht die Analyse der besonderen Aspekte noch am Anfang: Die spezifischen Hintergründe und die politischen und religiösen Konstellationen in den von Aramäern/Assyrern/Chaldäern bewohnten Orten, die Formen der Gewalt und die genauen Opferzahlen müssen untersucht werden. Haben sich etwa die Erfahrungen der Aramäer/Assyrer/Chaldäer von

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Dorothea Weltecke

denen der Griechen oder der Armenier unterschieden? Waren die legitimierenden Argumente und die Formen der Verfolgungen sowie die zeitlichen Abläufe für die aramäischsprachigen Christen ähnlich oder verschieden? Wie waren die sozialen Lebensumstände der Aramäer/Assyrer/Chaldäer im Vergleich mit denen von Armeniern und Griechen? Wie haben sie selbst die Ereignisse erfahren und verarbeitet und welche Nachwirkungen sind zu verzeichnen? Diese Fragen wurden auf einer Tagung in Berlin gestellt, die von der Forschungsstelle für Aramäische Studien (seinerzeit Konstanz, jetzt Frankfurt am Main) in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Karl-Heinz Ohme an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin durchgeführt wurde. Sie fand vom 29. bis 30. Mai 2015 unter dem Titel „Der Genozid an der aramäischen Gemeinschaft (Syrische Christen) im Osmanischen Reich sowie im osmanisch besetzten Iran (1914–1918)“ in Berlin statt. Die Theologische Fakultät mit ihrer konfessionskundlichen Tradition ist seit Langem wichtig für die Erforschung der syrischen Kirchen, und Herrn Prof. Dr. Karl-Heinz Ohme ist herzlich für seine Partnerschaft in dieser Veranstaltung zu danken. Die Veranstaltung wäre auch ohne die Arbeiten von Prof. Dr. Tessa Hoffmann und Amill Gorgis nicht zu denken, die sich seit vielen Jahren für diese Problematik politisch engagieren und dazu publizieren. Die meisten Beiträge dieser Veranstaltung wurden für die Publikation überarbeitet und in einem Nachwort von Prof. Dr.  Boris Barth wissenschaftlich in den Rahmen der historischen Genozidforschung eingeordnet. Ich bin sehr froh, dass er sich mit seiner Expertise an der Herausgabe dieses Bandes beteiligt. Dieser erscheint etwa zeitgleich mit weiteren Sammelbänden zu diesem Thema, die als Grundstock gesehen werden sollten, auf den weitere Forschungen aufbauen können. Diese wissenschaftliche Anstrengung hat auch eine politische Seite. Die in den letzten Jahren in Deutschland intensiv erfolgte Diskussion zur Anerkennung des Völkermordes und des historischen Umgangs stellte die Beziehung zwischen der Türkei und den Nachkommen des Völkermordes in den Mittelpunkt. An dieser Stelle entzündeten sich politische Kontroversen, werden Anstrengungen zur Versöhnung angeboten oder sogar angemahnt. Auch das Verhältnis der heutigen Türkei zum heutigen Deutschland wurde hier zum Thema. Der Deutsche Bundestag und die

Vorwort

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deutsche Öffentlichkeit möchten sich schließlich, trotz der eingeräumten Mitschuld des Deutschen Reiches, als Vermittler zwischen den Nachkommen des Völkermordes und der Türkei anbieten und zur Versöhnung beitragen. Dieses Angebot wird allerdings erst dann überzeugen können, wenn sich die deutsche Öffentlichkeit und die historische Wissenschaft sehr viel stärker darüber bewusst werden, dass sie gefordert sind, die eigene Rolle zu hinterfragen. Ab Mai 1915 erreichten Nachrichten über die Massaker an Christen im Osmanischen Reich die Weltöffentlichkeit. Die englischen, französischen und russischen Regierungen kündigten an, die beteiligten türkischen Regierungsmitglieder zur Verantwortung ziehen zu wollen und klagten auch die deutsche Regierung als Mittäter an. Die deutsche Regierung versuchte zu lavieren, um in der westlichen Welt ihr Gesicht zu wahren und zugleich an der militärischen Zusammenarbeit festzuhalten. Deutsche Offiziere sollten im Vorderen Orient kämpfen, aber sie sollten sich aus den Massakern heraushalten. Diese Strategie war praktisch nicht durchzuhalten. Deutsche Offiziere waren am Völkermord von 1915 insofern durch mehr als Mitwisserschaft und Untätigkeit beteiligt, als sie militärisch kreativ im Sinn der gemeinsamen Ziele auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches handelten. Von den öffentlich und wissenschaftlich sehr viel bekannteren und anerkannten Bemühungen von Johannes Lepsius und anderen abgesehen, ist also festzustellen, dass der Völkermord von 1915 keineswegs nur das Verhältnis zwischen der Türkei und den Aramäern/Assyrern/Chaldäern belastet, sondern es belastet auch das Verhältnis zwischen den Letzteren und den Deutschen. Das zeigen die Augenzeugenberichte, von denen einer in diesem Band vorgestellt wird. Es scheint, dass die deutschen Historiker grundsätzlich umdenken müssen, um das Problem der historischen Analyse des Völkermords nicht mehr als einen Sachverhalt zu betrachten, der sie als Wissenschaftler und Bürger nicht direkt betrifft. Auch dazu möchte dieser Band beitragen, der, wie der erste Beitrag in dieser Reihe, wieder sowohl von erfahrenen als auch von jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bestritten wird. Die aktive Beteiligung von Forscherinnen und Forschern in der Qualifikationsphase zeigt, dass künftig mehr in diesem Bereich zu erwarten sein wird, und dies lässt hoffen.

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Ich danke neben dem Mitherausgeber und den Mitarbeitern der Forschungsstelle auch den wissenschaftlichen Mitarbeitern Dr. Heiko Conrad, Dr. Magnus Ressel und Markus Stich, M.A., sehr herzlich für fruchtbare Diskussionen und ihren Beitrag zu diesem Band. Frankfurt, im Oktober 2017.

Inhaltsverzeichnis Joachim Jakob Das Ende einer Koexistenz. Das Verhältnis zwischen Kurden und ostsyrischen Christen vor dem Hintergrund der zerfallenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung in Ostanatolien im 19. Jahrhundert ..................................................................................   11 Tessa Hofmann Die Vernichtung der aramäischsprachigen Christen im Iran und Osmanischen Reich 1914 bis 1918 .....................................................   55 Amill Gorgis Al-qusara fi nakbat an-Nasara – „Das Äußerste in den Katastrophen der Christen“ ...............................................................   87 Martin Tamcke Die Stationen der deutschen Orientmissionen im Sayfo ...................... 103 Volker Metzler Mission M/macht Politik: Die OIK und ihre Einflussarbeit hinsichtlich der armenischen Frage 1918 ............................................ 125 Andreas Schmoller „Sayfo continues today“: Erinnerungsdiskurse und Identität im Kontext von Syrienkrieg und „Islamischen Staat“ .............................. 141 Boris Barth Der Sayfo im Rahmen der internationalen Genozidforschung ............ 175

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Das Ende einer Koexistenz. Das Verhältnis zwischen Kurden und ostsyrischen Christen vor dem Hintergrund der zerfallenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung in Ostanatolien im 19. Jahrhundert Abstract: Under the local rule of the Kurdish emir Bedīrḫān massacres on the East Syriac Christians took place in the years 1843 and 1846. These events shattered their antecedent modus vivendi. The article discusses the impact these events had on the relationship between Christians and Kurds.

Die Apostolische Kirche des Ostens ist nur den wenigsten westlichen Christen ein Begriff, obwohl sie eine reiche und vielseitige Tradition vorzuweisen hat. Ähnlich verhält es sich mit dem Schicksal ihrer Mitglieder, den ostsyrischen Christen,1 während des Ersten Weltkriegs, das im kollektiven Bewusstsein vom

1 In der Literatur werden unterschiedliche Begriffe für die ostsyrischen Christen verwendet. In älteren Publikationen werden sie in der Regel als „Nestorianer“ bezeichnet, was aber sachlich unzutreffend ist. Jüngeren Datums ist der Terminus „Assyrer“, der zum Ausdruck bringen soll, dass es sich um die Nachfahren des antiken Volkes der Assyrer handele. Dieser Begriff war aber die längste Zeit nicht die vorherrschende Selbstbezeichnung der ostsyrischen Christen und wurde erst ab dem 19.  Jahrhundert durch westliche Missionare populär gemacht. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm die Kirche des Ostens das Adjektiv „assyrisch“ offiziell in ihren Namen auf (zur Geschichte der Verwendung des Begriffs „Assyrer“ für die ostsyrischen Christen cf. Butts, Assyrian Christians, 599–612). Ich verwende hier die Bezeichnung „ostsyrische Christen“, weil der Begriff „Assyrer“ in der hier behandelten Epoche keine geläufige Eigenbezeichnung war. Außerdem unterstellt die Benennung „Assyrer“, dass es sich um die Angehörigen einer Nation handele, was aber in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht dem Selbstverständnis der ostsyrischen Christen entsprach: Sie waren zwar Anhänger einer Kirche, lebten in der Hakkārī-Region aber in clanartigen Strukturen. Diese scheinen ihre primäre Identität gebildet zu haben, denn selbst angesichts der Bedrohung durch den kurdischen Emir

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Genozid an den Armeniern dominiert wird. Die Massaker an den ostsyrischen Christen im Ersten Weltkrieg2 verliefen auch mit kurdischer Beteiligung, was die Frage aufwirft, weshalb ein nicht unerheblicher Teil der Kurden sich gegen die ostsyrischen Nachbarn stellte. Ein Blick auf die vorangegangene Geschichte des Verhältnisses zwischen den Kurden und den ostsyrischen Christen zeigt, dass dieses ab den 1840er Jahren eine neue Qualität erreichte, da für die Zeit davor keine gewaltsamen Ausschreitungen größeren Umfangs gegen die ostsyrischen Christen bekannt sind. Im Folgenden wird daher untersucht, wie es zu den Massakern an den ostsyrischen Christen durch den kurdischen Emir Bedīrḫān3 (‫ بدير خان‬oder auch ‫ )بدر خان‬in den Jahren 1843 und 1846 kam, und welche Auswirkungen diese Ereignisse auf die weitere Entwicklung des Verhältnisses zwischen ostsyrischen Christen und Kurden hatten. Um diesen Fragen nachzugehen ist es notwendig, den größeren politischen und sozialen Kontext der Koexistenz von ostsyrischen Christen und Kurden im Osmanischen Reich zu erläutern. Deshalb wird zuerst die Stellung der ostsyrischen Christen in den Machtstrukturen Kurdistans behandelt. Daran schließt sich ein Überblick über die Folgen der Massaker sowie ein Ausblick auf die weitere Entwicklung des Verhältnisses zwischen ostsyrischen Christen und Kurden bis zur Jahrhundertwende Bedīrḫān Bey standen sie einander nicht bei. Der Bezug auf die jeweilige lokale Gruppe war offensichtlich wichtiger als die Zugehörigkeit zu einer – wie auch immer definierten – übergeordneten Gruppe der „Assyrer“. Die Bezeichnung „ostsyrische Christen“ orientiert sich dagegen an dem in der Kirche des Ostens verwendeten aramäischen Dialekt der antiken Stadt Edessa, der auch als „Syrisch“ bezeichnet wird. Im 19. Jahrhundert kommunizierten nur noch die wenigsten ostsyrischen Christen in dieser Sprache – Neuaramäisch, Kurdisch, Türkisch oder Arabisch hatten sich längst als Alltagssprachen durchgesetzt. Das klassische Syrisch blieb aber die Liturgiesprache der Kirche des Ostens. 2 Cf. die derzeit umfassendsten Darstellungen zu dieser Thematik:  Gaunt, Massacres; Hellot-Bellier, Chroniques de massacres annoncés, 411–567. In kurdischer Transliteration Bedīrxān. Die Transliteration osmanisch-tür3 kischer Namen und Begriffe orientiert sich in diesem Beitrag an dem System der İslâm Ansiklopedisi (İA), das sich bei einigen Konsonanten vom System der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG), welches für die anderen orientalischen Sprachen bevorzugt wird, unterscheidet. Titel und Begriffe, die sich bereits im Deutschen eingebürgert haben, folgen der deutschen Schreibung, so z. B. Pascha (‫)پاشا‬, Scheich (‫)شيخ‬, Schah (‫ )شاه‬oder Osmanen (nach dem Dynastiegründer ‫)عثمان‬.

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an. Dabei entwickelt dieser Aufsatz eine zentrale These: Die Massaker der 1840er Jahre sind eng mit der Aufhebung der traditionellen Ordnung in der Region im Zuge der Tanẓīmāt-Reformen verbunden. Die Geschichte der ostsyrischen Christen und ihrer Kirche in der Zeit des Osmanischen Reiches wurde bisher kaum erforscht.4 Zu den wichtigsten Quellen für das 19. und frühe 20. Jahrhundert zählen die Berichte westlicher Missionare, die unter den ostsyrischen Christen wirkten. HansLukas Kieser zufolge sind solche Berichte von besonderer Bedeutung, weil die Missionare sich in der Regel deutlich länger in Ostanatolien aufhielten als westliche Diplomaten und Reisende, aber auch länger als die Repräsentanten der osmanischen Zentralregierung, die relativ häufig versetzt wurden. Allerdings waren gerade die publizierten Missionarsberichte, die sich an die Öffentlichkeit ihrer Heimatländer richteten, mit Intentionen wie der Werbung um Spenden und Interessenten für die Mission verbunden.5 Wenngleich die Kurden in den Missionsquellen laut Kieser in der Regel „bloss illustrierende, kontrastierende oder exotische Anhängsel eines Hauptdiskurses, der von anderen – den missionarischen Akteuren und den christlichen Minderheiten – handelt“,6 sind, so wird sich doch zeigen, dass

4 Als wichtige Monographien jüngeren Datums sind zu nennen: Murre-van den Berg, Scribes and Scriptures; Hellot-Bellier, Chroniques de massacres annoncés (Standardwerk für das späte 19. und frühe 20.  Jahrhundert); Joseph, Modern Assyrians; Wilmshurst, Ecclesiatical Organisation (Standardwerk zur Organisation der Kirche des Ostens in osmanischer Zeit); Jakob, Ostsyrische Christen und Kurden. 5 Cf. Kieser, Der verpasste Friede, 28–30. 6 Kieser, Zwischen Ararat und Euphrat, 118. Die hier untersuchten Quellen vermitteln meistens ein negatives Bild von den Kurden, die in der Regel als unzivilisierte Räuber dargestellt werden. Der amerikanische Missionar Frederick Coan (1859–1943), der wichtige Augenzeugenberichte zum Völkermord an den Armeniern lieferte, meinte beispielsweise, das Bergland sei “an excellent base for the depredations constantly made by the Kurds on their neigh­ bors, chiefly the Christian Assyrians and Armenians” (Coan, Missionary Life, 55). Weiterhin stellte er in seinem Buch über sein Leben als Missionar im Nahen Osten fest:  “The Kurds’ greatest delight is to go on a raid” (ibid., 57). Diese Urteile lassen sich leicht um weitere Beispiele ergänzen (cf. Jakob, Ostsyrische Christen und Kurden, 164–193). Gleichwohl betonte Coan auch, dass es „gute“ und „schlechte“ Kurden gebe (cf. Coan, Missionary Life, 60). Das Problem ist dabei weniger, dass die Missionare Überfälle von

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die Missionare durchaus über Prozesse Auskunft gaben, die für andere Bevölkerungsgruppen als die ostsyrischen Christen besser erforscht sind. Die Erforschung der Geschichte der Kirche des Ostens im 19.  Jahrhundert beruht zu einem großen Teil auf den Berichten von ausländischen Missionaren und Diplomaten. Das Verhältnis der ostsyrischen Christen zu ihren kurdischen Nachbarn interessierte die moderne Wissenschaft aber meist nur am Rande. Ferner fehlen umfassende Untersuchungen zu den Auswirkungen der osmanischen Politik auf die Beziehungen zwischen diesen beiden Gruppen. Im Folgenden werden daher diese Auswirkungen der osmanischen Politik auf das kurdisch-ostsyrische Verhältnis anhand von Missionarsberichten beleuchtet, wobei auf Forschungen zur osmanischen Politik in Ostanatolien während des 19.  Jahrhunderts zurückgegriffen wird. Die so aufgezeigte Entwicklung kann möglicherweise Rückschlüsse auf die Beteiligung von Kurden bei den Massakern an den ostsyrischen Christen im Ersten Weltkrieg zulassen.

1 Die ostsyrischen Christen am Beginn des 19. Jahrhunderts Seit dem 14. Jahrhundert war der Kirche des Ostens – mit Ausnahme der Thomas-Christen in Indien – angesichts der politischen Rahmenbedingungen nur noch das abgeschiedene nordmesopotamische Bergland verblieben, in dem sie sich zu einer durch tribale Strukturen geprägten Gemeinschaft entwickelt hatte. Zugleich unterhielten die Ostsyrer auch Kontakte zu den indischen Christen und zur katholischen Kirche. Aus den Beziehungen zu Rom gingen mehrere kirchliche Unionen hervor,

Kurden auf Christen erwähnen, denn diese waren nach ihren übereinstimmenden Berichten eine Realität. Hierbei wurden die sozialen Strukturen im Hintergrund aber nicht reflektiert. Ebenso gingen die Missionare nicht auf die Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen, die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen hervorriefen oder verstärkten, ein. Mitunter finden sich auch sehr einseitige Geschichtsdeutungen, die das Leben der Christen seit Beginn der islamischen Herrschaft als leidvoll charakterisieren. So schrieb etwa Frederick Coan vor dem Hintergrund der Massaker an den ostsyrischen Christen in den 1840er Jahren: “For nearly fifteen hundred years the history of this ancient Nestorian Church has been one long, monotonous story of suffering, flight, exile, and massacre for Christ’s sake” (ibid., 218).

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die schließlich zur Entstehung der chaldäisch-katholischen Kirche führten.7 Somit lebten viele ostsyrische Christen bis zum Ersten Weltkrieg in einer Region, deren Bevölkerung großenteils kurdischer Herkunft war. Am Beginn des 16. Jahrhunderts eroberten die Osmanen unter Sultan Selīm I. (1512–1520)8 den überwiegenden Teil Kurdistans. Angesichts der Grenze zum benachbarten Ṣafavīden-Reich, die durch das kurdische Siedlungsgebiet verlief, und aufgrund der kaum zu gewährleistenden Kontrolle der Region ließen die Osmanen die kurdischen Fürsten (‫مير‬, mīr) weitgehend unabhängig agieren.9 Unter diesen von den Großmächten relativ unberührten Rahmenbedingungen gestalteten die in der Region lebenden Bevölkerungsgruppen ihre Beziehungen zueinander selbst. Die Patriarchen der Kirche des Ostens führten seit dem 17. Jahrhundert jeweils den Namen Mār Šemʽōn und residierten in dem Bergdorf Qūdšānīs (syrisch: oder ),10 das zum kurdischen Fürstentum Hakkārī (syrisch:  ܼ) gehörte.11 Ob die Kirche des Ostens im Osmanischen Reich offiziell als selbstständige Religionsgemeinschaft mit eigenen Rechten (osmanisch: ‫ملت‬, millet) anerkannt wurde, lässt sich aus den Quellen nicht mehr eindeutig erschließen, gilt in der heutigen Forschung aber als unwahrscheinlich. Die ostsyrischen Christen beharrten wohl auf ihrer

Cf. Murre-van den Berg, Church of the East. 7 8 Die Jahreszahlen beziehen sich in diesem Beitrag bei Patriarchen und weltlichen Herrschern jeweils auf den Beginn und das Ende ihrer Regierungszeit. Bei allen anderen Personen werden das Geburts- und das Todesjahr angegeben. 9 Zur Eingliederung Kurdistans in das Osmanische Reich und zu der Sonderstellung der Region innerhalb desselben cf. vor allem van Bruinessen, Ottoman Conquest; Tezcan, Development of the Use of „Kurdistan“, 543–549; cf. ferner auch Ateş, Ottoman-Iranian Borderlands, 37–42; Behrendt, Nationalismus in Kurdistan, 96–98; van Bruinessen, Agha, Scheich und Staat, 183–190 und 206–211; Kartal, Rechtsstatus Kurden, 26–34; McDowall, A Modern History, 25–29; Özoğlu, Kurdish Notables, 47–57; Strohmeier/Yalçın-Heckmann, Kurden, 63–67. 10 Zur syrischen Schreibweise cf. Maclean, Dictionary, 272. Youel A. Baaba nennt ܵ ‫ܩܘ‬, nur die offenbar verbreitetere Schreibweise ‫ܕܫ ̣ܢܝܣ‬ ̣ cf. Baaba, Assyrian Homeland, 52 (syr.). Verschiedene Schreibweisen in der westlichen Literatur: Qud­ shanes, Qudshanis, Kochanes, Koçanis. Seit 1960 lautet der offizielle türkische Ortsname Konak. Alle folgenden syrischen Bezeichnungen orientieren sich an den Schreibweisen bei Maclean und/oder Baaba. 11 Cf. Wilmshurst, Ecclesiastical Organisation, 295.

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Unabhängigkeit innerhalb des Osmanischen Reiches und suchten eher Unterstützung durch ausländische Missionare als eine Integration in das millet-System.12 Die ostsyrische Bevölkerung setzte sich aus zwei Gruppen zusammen: den Mitgliedern von unabhängigen seminomadischen Clans ( ʽāšīrat) und den rāʽyat ( Untertanen).13 Die ʽāšīrat bestanden aus fünf 12 Cf. Merten, Nestorianische Millet. Zur Forschungskontroverse um das milletSystem cf. Papademetriou, Render unto Sultan, 19–62. 13 Zu den syrischen Schreibweisen und den arabischen, türkischen, persischen und kurdischen Pendants – ‫( عشيرة‬Arabisch) bzw. ‫( عشيرت‬Türkisch und Kurdisch) und ‫( رعايا‬im Arabischen Plural zu ‫ – )رعية‬cf. Maclean, Dictionary, 244 und 295. In der Forschung werden die ostsyrischen ʽāšīrat häufig als ‚Stämme‘ bezeichnet. Denn die Kritik, die seit den 1960er Jahren an dem Begriff ‚Stamm‘ geübt worden ist und zu seinem Verschwinden aus vielen Forschungsfeldern geführt hat, wird für den geographischen Kontext des Nahen und Mittleren Ostens als weitgehend unzutreffend erachtet, insofern der Terminus ‚Stamm‘ hier keine pejorative Bedeutung hat, sondern vielmehr dem Selbstverständnis von Gruppen entspricht, die ihre Herkunft auf einen gemeinsamen Ahnen zurückführen. Die Zugehörigkeit zu einem ‚Stamm‘ schließt für die Betroffenen zudem die Integration in größere religiöse oder staatliche Strukturen nicht aus (zur Verwendung des Stammesbegriffs in diesem Zusammenhang angesichts der Kritik an dem Terminus cf. Kraus, Islamische Stammesgesellschaften, 27–45; zur Problematik des Begriffs cf. auch Beck/Huang, Tribes, 390–392). Wolfgang Kraus kommt so etwa zu dem Schluss: „Die Anwendung der Bezeichnung ‚Stamm‘ auf Einheiten dieser Art erhebt also nicht die zu Recht getadelten Ansprüche eines globaleren Stammesbegriffes und hat auch nicht dessen abwertenden Beigeschmack. Die meisten Autoren sind sich daher einig, dass eine solche Anwendung des Begriffes zulässig und sinnvoll ist“ (Kraus, Islamische Stammesgesellschaften, 44). Im Nahen und Mittleren Osten werden allerdings verschiedene Termini verwendet, die in der wissenschaftlichen Literatur als ‚Stamm‘ übersetzt werden. Dabei kann der Gebrauch und die Bedeutung dieser autochthonen Begriffe je nach Kontext variieren (cf. Beck/Huang, Tribes, 391). So kann das arabische Wort ʽašīra sowohl im Sinne von ‚Stamm‘ als auch als Untergruppe (Clan) eines solchen gemeint sein (cf. Lecerf, ʽAshīra, 700), generell bezeichnet es aber eher eine Untergruppe oder zumindest eine zahlenmäßig kleinere Gruppe als der Ausdruck qabīla (‫)قبيلة‬, der im Arabischen häufig für ‚Stamm‘ verwendet ܵ wird (cf. Chelhod, Ḳabīla, 334–335) und dessen syrisches Synonym ‫ܒܝ ܵܠܐ‬ ܼ ‫ ܩ‬ist (cf. Maclean, Dictionary, 269). Daher ist der syrische Begriff ʽāšīrat vielleicht besser mit ‚Clan‘ als mit ‚Stamm‘ wiederzugeben. Aufgrund der Konventionen der Geschichtswissenschaft wird der Begriff ‚Stamm‘ in diesem Beitrag aber auch für entsprechende Gruppierungen von Kurden oder Arabern vermieden.

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Gruppen: Der größte ostsyrische Clan waren die Ṭyārī (  = OberṬyārī,  = Unter-Ṭyārī), weitere waren die Dīz ( oder ), Ǧīlū ( ), 14 Bāz ( ) und Tḥūmā . Kleinere Clans waren diesen großen Gruppen teilweise unterstellt. Während diese Seminomaden im Bergland lebten, siedelten die rāʽyat in den Ebenen und waren Untertanen von kurdischen oder osmanischen Herren. Gänzlich christliche Dörfer verfügten über ein eigenes christliches Dorfoberhaupt (kōḥā oder kōḥāyā, oder ),15 welches in der Regel der wohlhabendste Mann des Dorfes war.16 Die Einteilung in ʽāšīrat und rāʽyat galt auch für die Kurden. Christen im Einflussbereich eines kurdischen Clanoberhauptes (‫اغا‬, aġā) waren diesem unterstellt. Umgekehrt waren muslimische Kurden, die im Gebiet eines ostsyrischen Clanführers ( , mālek) lebten, diesem untertan. Der Emir von Hakkārī bestätigte als übergeordnete Autorität sowohl die kurdischen als auch die ostsyrischen Anführer in ihren Ämtern. Zwei tribale Konföderationen, der „rechte Flügel“ und der „linke Flügel“, erwiesen sich als stabilisierender Faktor für das christlich-muslimische Verhältnis in der Hakkārī-Region: Beiden gehörten sowohl kurdische als auch ostsyrische Clans an.17 Am Beginn des 19. Jahrhunderts lebten die ostsyrischen Christen in der Region zwischen dem Vān-See im Westen und dem Urmia-See im Osten. Durch ihr Siedlungsgebiet verlief die Grenze zwischen dem Osmanischen Reich und dem Iran.18 Obwohl schon im Vertrag von Erzurūm (1639) eine

14 Cf. Wilmshurst, Ecclesiastical Organisation, 285. Eine Beschreibung der jeweiligen Siedlungsgebiete bietet: Chevalier, Montagnards chrétiens, 90–124. 15 Zum syrischen Wort cf. Maclean, Dictionary, 126. 16 Cf. Becker, Revival, 46–47. 17 Cf. Talay, Zusammenleben, 162–163. 18 Von den etwas mehr als 100.000 Mitgliedern der Kirche des Ostens am Beginn des 19. Jahrhunderts lebten ca. drei Viertel im Osmanischen Reich, der Rest siedelte westlich des Urmia-Sees in der iranischen Provinz Āẕarbāiǧān (cf. Coakley, Church of the East, 11). Hakkārī wurde 1888 ein sancāḳ der Provinz Vān und soll laut einer Studie der Provinzregierung in Vān im Jahr 1900 schätzungsweise über 97.000 ostsyrische Christen beheimatet haben, was etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung von Hakkārī ausmachte. Damit bildeten die Ostsyrer die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe nach den Kurden (cf. Wilmshurst, Ecclesiastical Organisation, 284–285). In den Ebenen von Salmās, Urmia und Sūldūz im Iran lebten gegen Ende des 19. Jahrhunderts etwa 60.000 ostsyrische und armenische Christen (cf. Wilmshurst, Ecclesiastical Organisation, 322), von denen

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Grenze zwischen dem Osmanischen Reich und dem Iran skizziert worden war, gab es keinen klar vorgegebenen Grenzverlauf. Entlang des stets durchlässigen Grenzgebiets neigten die einzelnen regionalen Herrscher mal der osmanischen, mal der iranischen Seite zu. Erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden im Rahmen der Modernisierungsbestrebungen in beiden Reichen Anstrengungen unternommen, einen klaren Grenzverlauf festzulegen. Dieser Prozess fand erst 1914 seinen Abschluss.19 Die Grenze erlaubte den verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Grenzgebiet  also weiterhin grenzübergreifenden Austausch. Der britische Missionar George Percy Badger (1815–1888) zählte zu jenen Europäern, die im 19. Jahrhundert relativ früh zu den ostsyrischen Christen reisten und noch Einblicke in die alte soziale Struktur dieser Gemeinschaft und ihrer kurdischen Nachbarn erhielten. Badger hielt sich von 1842 bis 1844 in Mosul und der Hakkārī-Region auf.20 Auf der Grundlage seiner Kontakte zur ostsyrischen Kirche veröffentlichte er 1852 sein Werk “The Nestorians and their Rituals”. Dessen erster Band ist nicht nur eine wertvolle Quelle über die Situation in diesem Teil des Osmanischen Reiches zu jener Zeit,21 die von Badger überlieferten Informationen sind darüber hinaus noch heute eine wichtige Grundlage für die Forschung zur Geschichte der Kirche des Ostens in osmanischer Zeit. Während die mit der römisch-katholischen Kirche verbundenen chaldäischen Patriarchen von Mosul laut Badger, der sie als “Nestorian patriarchs of the plains” bezeichnete, von der Hohen Pforte anerkannt wurden, indem jeder Patriarch einen fermān erhalten habe, der seine geistliche Autorität über die

etwas mehr als die Hälfte – 30.000 bis 35.000 – ostsyrische Christen gewesen sein dürften (cf. Naby, Assyrians of Iran, 238). Insgesamt wird die Zahl der ostsyrischen Christen am Beginn des 20. Jahrhunderts vor dem Ersten Weltkrieg auf ca. 150.000 Personen beziffert (cf. Gaunt, Relations, 243; Winkler, 20. Jahrhundert, 119). Bei diesen Zahlen ist jedoch zu berücksichtigen, dass es sich – wie bei den anderen orientalischen Kirchen mit Ausnahme der Armenier – um vage Schätzungen handelt, weil kaum zuverlässiges statistisches Material vorhanden ist (cf. McCarthy, Muslims and Minorities, 105). 19 Cf. Ateş, Ottoman-Iranian Borderlands. 20 Cf. Coakley, Church of the East, 35–43. 21 So Roper, Badger, 142.

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chaldäisch-katholischen Christen bestätigt habe,22 sei die Lage der ostsyrischen Patriarchen von Qūdšānīs anders gewesen: “The predecessors of Mar Shimoon, who had taken up their abode among the wild and really independent tribes of Coordistan, were not thus recognized by the Turkish government, and exercised their jurisdiction with the concurrence of their own people, being tolerated and protected therein by the Coordish Emeers.”23

Laut Hans-Lukas Kieser hatte sich ein hierarchischer Modus vivendi zwischen den Bevölkerungsgruppen in Kurdistan herausgebildet, der relativ friedlich funktionierte, solange die osmanische Regierung den Kurden ihre Autonomie beließ.24 Dies bedeutete in der tribal geprägten Gesellschaft aber keine vollkommene Abwesenheit von Gewalt. Adam H. Becker hat dies wie folgt formuliert: “The tribes maintained a feud and vendetta system of controlled violence, which functioned to maintain order in a region without a state.”25 Dementsprechend waren auch die ostsyrischen Clans gut bewaffnet und bereit, ihre Rechte gewaltsam zu verteidigen.26 Die verhältnismäßig große politische Unabhängigkeit der Bergregion führte Badger auf die Rivalität zwischen dem Osmanischen Reich und dem Iran zurück. Entsprechende Versuche der Großmächte, die tribal organisierten Kurden unter ihre Kontrolle zu bringen, hätten eher dazu geführt, dass diese sich mit ihren ostsyrischen Nachbarn zusammengeschlossen hätten, um sich ihre Unterstützung für die Bewahrung der Freiheit der Kurden zu sichern.27 Als oberste politische Autorität der Region nannte Badger den kurdischen Emir von Hakkārī, dem die Ostsyrer untertan seien und der ihre Rechte gewähre: “The Emeer of Hakkari has been for ages the presiding chief, and the predecessors of Noorallah Beg granted to the Nestorians the rights of clanship, which freed them from tribute, and gave them a voice in the election of the Emeer, and in all the councils of the tribes, on condition that they supplied a certain contingent of armed men for the common defence of the state.”28

2 Cf. Badger, Nestorians, 149. 2 23 Badger, Nestorians, 149. 24 Cf. Kieser, Der verpasste Friede, 42. 25 Becker, Revival, 47. 26 Cf. Masters, Christians and Jews, 46. 27 Cf. Badger, Nestorians, 258. 28 Ibid.

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Die einzigen Ausnahmen seien die Dörfer ʽĀšīṯā , Zāwīṯā und Minyānīš gewesen, von denen der Emir einen regulären jährlichen Tribut fordere. Darüber hinaus erhebe der Emir von allen ostsyrischen Christen die ḫarāǧ-Steuer (auf Agrarland erhobene Steuer), wie sie den Christen im gesamten Osmanischen Reich auferlegt werde. Der Emir verzichte allerdings dann auf den Einzug dieser Steuer, wenn er die Unterstützung der ostsyrischen Christen benötige. Wenn er ihrer Hilfe hingegen nicht bedürfe, verlange er von den Ostsyrern jedoch so viel wie möglich, ohne dabei zu großen Druck auszuüben, der dann zu Widerstand führen könne, welcher nur schwer zu unterwerfen sei.29

2  Die osmanische Zentralisierungspolitik als Auslöser der Spannungen zwischen Kurden und ostsyrischen Christen im Emirat Hakkārī Die Geschichte der Beziehungen zwischen den Kurden und den ostsyrischen Christen im 19. und frühen 20. Jahrhundert weist erkennbar Parallelen zum Verhältnis zwischen den Kurden und der größten christlichen Bevölkerungsgruppe in der Region, den Armeniern, auf. Hans-Lukas Kieser benennt vier Phasen dieser armenisch-kurdischen Beziehungen in jenem Zeitraum: 1. die neue Ordnung der Tanẓīmāt (osmanisch: ‫)تنظيمات‬, beginnend mit der Unterwerfung der kurdischen Fürstentümer; 2. das Massaker an den Armeniern im Herbst 1895; 3. die Revolution der Jungtürken im Jahr 1908; 4. der Genozid während des Ersten Weltkriegs, der die Kohabitation definitiv beendete.30 Im Folgenden steht die erste der von Kieser benannten Phasen im Mittelpunkt, weil sich bereits in dieser Zeit zeigte, dass das traditionelle Verhältnis zwischen den ostsyrischen Christen und den Kurden den neuen Rahmenbedingungen nicht gewachsen war. Mit der Regentschaft Sultan Maḥmūds II. (1808–1839) begann die Periode der Tanẓīmāt-Reformen, die angesichts der offenkundigen Rückständigkeit des Osmanischen Reiches im Vergleich zu den europäischen Mächten auf eine umfassende Modernisierung des Staates zielten. Die osmanische Regierung nahm vielfältige Maßnahmen in Angriff, zu denen

9 Cf. Badger, Nestorians, 258–259. 2 30 Cf. Kieser, Réformes ottomanes, 45.

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unter anderem eine Neuordnung des Verhältnisses zwischen Muslimen und Nichtmuslimen gehörte. So heißt es im ersten großen Reformdekret der Tanẓīmāt-Zeit, dem Ḫaṭṭ-ı Şerīf von 1839, gemäß der deutschen Übersetzung von Thomas Scheben: „Damit nun dieser unserer Begünstigungen alle Unsere Untertanen, Mohammedaner und Anhänger der übrigen Religionsgemeinschaften, ohne Ausnahme teilhaftig werden, wurde von Uns eine vollkommene Sicherheit des Lebens, der Ehre und des Vermögens der Bevölkerung aller Unserer wohlbehüteten Länder gemäß den Bestimmungen der Scheriatsgesetze gewährleistet.“31

Diese Aussage wird oftmals im Sinne einer offiziellen Gleichstellung von Muslimen und Nichtmuslimen interpretiert, was aber nicht der SchariaOrdnung entspricht. De facto enthält die zitierte Passage nur eine Erklärung, dass die osmanischen Untertanen der im Ḫaṭṭ-ı Şerīf proklamierten Privilegien unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit teilhaftig werden sollen. Eine explizite Gleichstellung von Muslimen und Nichtmuslimen formulierte erst das zweite große Tanẓīmāt-Reformdekret, der Ḫaṭṭ-ı Hümāyūn von 1856.32 Die zumindest theoretische Beendigung der traditionellen Ungleichheit zwischen Muslimen und Nichtmuslimen war einer der Gründe für die zunehmenden Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften im Osmanischen Reich. Für die hier behandelte Thematik war aber eine weitere der vielfältigen Reformmaßnahmen von noch größerer Bedeutung, nämlich der Versuch, eine zentrale Verwaltung auch in jenen Regionen des Reiches zu etablieren, die zuvor weitgehend autonom von lokalen Machthabern regiert worden waren. Diese Zentralisierungspolitik der Hohen Pforte war durch ihre Bekämpfung traditioneller Machtstrukturen einer der wesentlichen Faktoren für die Zerstörung der kurdisch-ostsyrischen Koexistenz in Ostanatolien. Im Hinblick auf die Auswirkungen der osmanischen Zentralisierungspolitik auf die ostsyrischen Christen und die an ihnen verübten Massaker sind wiederum die Ausführungen des britischen Missionars George Percy Badger, der den Tanẓīmāt-Reformen sehr kritisch gegenüberstand, von

1 Scheben, Verwaltungsreformen, 257. 3 32 Cf. Findley, Tanzimat, 18–19.

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besonderem Interesse.33 So haben die Tanẓīmāt-Reformen nach Meinung Badgers die Situation der Christen in Kurdistan nicht verbessert: “In the more distant provinces bordering on Coordistan, such as Bahdinan and the Tyari, which are now supposed to be entirely under Ottoman rule, the Christians continue to be oppressed as usual without any means of obtaining redress. The poor Nestorians are the chief sufferers here, so that it is to be doubted whether they have profited much by their change of masters.”34

Badger bezieht sich hier offensichtlich auf das Ziel der Tanẓīmāt-Reformen, die Untertanen des Osmanischen Reiches unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit gleichzustellen. Dabei erwähnt er einen anderen Aspekt der Reformpolitik, der darauf zielte, eine effektive Kontrolle der Zentralregierung in Konstantinopel über die Provinzen des Reiches zu etablieren (“change of masters”), nur am Rande. Die Zentralisierung zählte laut Thomas Scheben aber zu den wichtigsten Zielen der osmanischen Reformpolitik im 19. Jahrhundert, weil sie die Grundlage für die tatsächliche Durchsetzung der Reformen darstellte. Die Zerschlagung der alten Machtstrukturen gelang unter der Herrschaft Sultan Maḥmūds II. zwar weitgehend, doch wurde damit ein Machtvakuum geschaffen, das die Zentralgewalt hätte füllen müssen, wozu sie jedoch nicht imstande war. Das Hauptproblem dieser Entwicklung sieht Scheben daher im mangelnden Aufbau einer den neuen Staatsstrukturen angemessenen Verwaltung.35 Die Zentralisierungspolitik der Tanẓīmāt-Zeit hatte jedoch nicht zwangsläufig die Entmachtung aller Familien von Lokalfürsten im Osmanischen Reich zur Folge. Denn derartige Maßnahmen betrafen primär jene Notabeln, die sich der Reformpolitik widersetzten, während andere, die die Linie Maḥmūds II. und seines Nachfolgers ʽAbdülmecīd I. (1839– 1861) akzeptierten oder unterstützen, in die Führungselite des Reiches integriert wurden und beispielsweise zu Provinzgouverneuren aufsteigen konnten. Gerade die Lokalherrscher in den schwer zu kontrollierenden Randgebieten des Osmanischen Reiches, die ein relativ großes Maß an Autonomie genossen, standen aber den Zielen der Reformer im Wege. Sie 3 Cf. Roper, Badger, 142. 3 34 Badger, Nestorians, 364. 35 Cf. Scheben, Verwaltungsreformen, 13–17.

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wurden vielfach mit politischen Mitteln entmachtet, gegen die kurdischen Clans in Ostanatolien wurde jedoch ebenso militärische Gewalt eingesetzt wie in Südostanatolien und Syrien, wo die Osmanen nach dem Rückzug der ägyptischen Truppen ihren Herrschaftsanspruch erst wieder durchsetzen mussten.36 Der Abschluss des Vertrags von Adrianopel (1829), der den russischosmanischen Krieg von 1828/29 beendete und dem Osmanischen Reich erhebliche Gebietsverluste abverlangte, war für Sultan Maḥmūd II.  der Anlass, mit der Niederwerfung der weitgehend unabhängigen Territorien im asiatischen Teil seines Reiches zu beginnen. In den folgenden zwei Jahrzehnten entmachtete die Hohe Pforte die jeweiligen Lokalherrscher und ersetzte sie durch loyale Gouverneure. Von dieser Politik waren unter anderem die autonomen kurdischen Emirate, aber auch die syrisch-christlichen Gruppierungen in Ostanatolien betroffen.37 So stellte der amerikanische Missionar Thomas Laurie (1821–1897) eindeutig fest, dass neben den Kurden auch die ebenfalls weitgehend autonomen ostsyrischen Clans von den Osmanen unterworfen werden sollten:  “Meanwhile, the Turks, who included Kûrdistan within the limits of their empire, were annoyed by the existence of Nestorians and Kûrds, equally independent, within the boundaries of their empire, and they were determined to subdue them.”38 Zur Durchsetzung ihrer Ambitionen griffen die Osmanen auf verschiedene Methoden zurück, wobei sie die Divergenzen zwischen den verschiedenen lokalen Machtzentren ausnutzten. In Bezug auf die tribal organisierten Araber und Kurden im Gebiet des heutigen Irak beschreibt Ebubekir Ceylan diese Maßnahmen, die die Osmanen im 19. Jahrhundert anwendeten: “they varied considerably from granting favors to certain tribes, creating inter-tribal frictions, recognizing a rival chieftain within a given tribe, the use of military force, incorporation of the tribal structures into the provincial political mechanism, and settlement of the tribal confederations”.39

6 Cf. Scheben, Verwaltungsreformen, 63–71. 3 37 Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 159–161. 38 Laurie, Dr. Grant, 105. 39 Ceylan, Ottoman Origins, 135; zu den einzelnen Maßnahmen cf. auch ibid., 135–152.

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Ein wichtiger Protagonist dieser Politik, der dabei aber auch eigene Machtambitionen verfolgte, war İnce Bayraḳdār Meḥmed Pascha, der osmanische Gouverneur von Mosul.40 Seine Ernennung war im Interesse der Hohen Pforte, weil der Pascha eine wichtige Rolle bei der Ausdehnung des Einflusses der Zentralgewalt spielte: “The new governor, in collaboration with Mehmed Reşid Pasha of Sivas, strived to subjugate the Kurdish beys”.41 In der Folge wurden die kurdischen Fürstentümer im Bereich des heutigen Nordiraks nach und nach militärisch unterworfen: 1836 wurde

40 Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 170–172. Mosul war zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine eigenständige Provinz des Osmanischen Reiches, die von 1726 bis 1835 von Statthaltern aus der ortsansässigen Familie Ǧalīlī geleitet wurde. Danach wurden die Gouverneure im Zuge der Zentralisierungspolitik direkt von der Hohen Pforte eingesetzt. Ab 1852 war Mosul dann nur noch ein sancāḳ der Provinz Bagdad (cf. Ceylan, Ottoman Origins, 45–47; Herzog, Osmanische Herrschaft, 40). Der erste, 1835 mit Zustimmung der osmanischen Zentralregierung eingesetzte Gouverneur von Mosul war İnce Bayraḳdār Meḥmed Pascha, ein Protegé des Statthalters von Bagdad, ʽAlī Rıżā Pascha (cf. Herzog, Osmanische Herrschaft, 90). Unsicherheit besteht in der Forschung hinsichtlich der Dauer von İnce Bayraḳdār Meḥmed Paschas Amtszeit, was die Frage aufwirft, ob er zur Zeit der Massaker an den ostsyrischen Christen durch Bedīrḫān Bey politisch verantwortlich war. Nach Christoph Herzog hat İnce Bayraḳdār Meḥmed Pascha das Amt des Gouverneurs noch 1840 innegehabt (cf. ibid., 241 und 282 [Anm. 251]). Laut Sarah D. Shields wurde İnce Bayraḳdār Meḥmed Pascha 1834 als Gouverneur von Mosul eingesetzt und soll dieses Amt dann vier Jahre innegehabt haben. Nach seinem Tod hätten die osmanischen Gouverneure von Mosul ihr Amt dann jeweils nur kurz ausüben können, weil die Hohe Pforte eine lokale Machtakkumulation vermeiden wollte (cf. Shields, Mosul, 29). An anderer Stelle widerspricht Shields allerdings nicht den Angaben Stephen Hemsley Longriggs, nach denen İnce Bayraḳdār Meḥmed Pascha von 1835 bis zu seinem Tod im Jahr 1843 Gouverneur von Mosul gewesen sein soll. Shields nennt hier eine Amtszeit von acht Jahren (cf. ibid., 216–217 [Anm. 12]). In ihrer Übersicht der Gouverneure von Mosul nennt Shields eine Dauer von acht Jahren und zehn Monaten (1835 bis 1844) als Amtszeit İnce Bayraḳdār Meḥmeds (cf. ibid., 194). In einem Schreiben vom 23. März 1844 erwähnt der britische Botschafter in Konstantinopel, Sir Stratford Canning (1786–1880), die Abreise des neu ernannten Paschas von Mosul (cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 221). Da auch Herzog nachweist, dass İnce Bayraḳdār Meḥmed Pascha 1840 noch Gouverneur von Mosul war, ist anzunehmen, dass er tatsächlich bis 1843 oder 1844 dieses Amt bekleidet hat. 41 Ceylan, Ottoman Origins, 47.

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das mächtige Emirat Sōrān (‫ )سوران‬besiegt, 1838 folgte Bahdīnān )‫(بهدينان‬, 1847 Bohtān (‫ )بوتان‬und 1850 schließlich Bābān )‫ (بابان‬.42 Allerdings gelang es dem Kurdenfürsten von Bahdīnān, Ismāʽīl Pascha, seine Unterstützer hinter sich zu versammeln und seine Hauptstadt ʽĀmādiyā (syrisch:  ) zurückzuerobern. Gemäß den herrschenden Traditionen brachte Patriarch Mār Šemʽōn XVII. Abraham (1820–1860) dreitausend ostsyrische Kämpfer in Stellung, um einen erneuten Vormarsch İnce Bayraḳdār Meḥmeds auf ʽĀmādiyā zu verhindern. Dieser forderte den Patriarchen jedoch auf, sich nicht an der Wiederherstellung von Ismāʽīl Paschas Position als Emir von Bahdīnān zu beteiligen, weil die ostsyrischen Christen sich damit gegen die osmanische Regierung stellen würden. Der daraufhin von Šemʽōn XVII. eingeleitete Rückzug der ostsyrischen Truppen hatte nicht nur die endgültige Einnahme ʽĀmādiyās durch die Osmanen und die Eingliederung Bahdīnāns in die Provinz Mosul zur Folge (1842), sondern auch einen Kurswechsel in der Politik der kurdischen Oberhäupter: Von nun an bekämpften sie die autonomen ostsyrischen Clans, was ganz im Sinne der osmanischen Zentralisierungsbemühungen war.43 Unter den ostsyrischen Christen bestand in dieser Situation offenbar keine Einigkeit. Nūrullāh Bey, der kurdische Emir von Hakkārī, hatte Mār Šemʽōn XVII. gemäß der Darstellung des Missionars Thomas Laurie Frieden angeboten, wenn der Patriarch auf weltliche Machtansprüche verzichten und die Politik den māleks und ihm selbst als Emir überlassen würde. Viele ostsyrische Christen hätten Nūrullāh zugestimmt und Mār Šemʽōn XVII.  beschuldigt, für ihr Elend verantwortlich zu sein, weil er das Angebot des Emirs nicht angenommen habe. Der Patriarch habe die ostsyrischen „Stämme“ aufgefordert, gegen Nūrullāh vorzugehen, doch dieser Aufruf sei ohne Konsequenzen geblieben. Aufgrund dieser inneren Zerstrittenheit sei eine gemeinsame Verteidigung der Ostsyrer unmöglich gewesen. Stattdessen habe jedes Dorf nur auf seine eigenen Belange geachtet und seine Nachbarn ihrem Schicksal überlassen.44

2 Cf. Ceylan, Ottoman Origins, 48–53. 4 43 Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 183–186. 44 Cf. Laurie, Dr. Grant, 344–345.

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Dies hing offensichtlich auch mit einer Auseinandersetzung innerhalb der kurdischen Herrscherfamilie von Hakkārī zusammen, in die der ostsyrische Patriarch ebenfalls verwickelt war. Während Nūrullāh Bey sich genötigt fühlte, die osmanische Oberhoheit anzuerkennen, wollte sein Kontrahent Süleymān Bey die Unabhängigkeit des Emirats wahren und wurde dabei vom ostsyrischen Patriarchen unterstützt.45 Davon berichteten bereits die Missionare im 19.  Jahrhundert. So habe Nūrullāh Bey laut George Percy Badger 1839 im Auftrag der osmanischen Regierung vom Pascha von Erzurūm eine Bestätigung in seinem Amt erhalten, wofür Nūrullāh jedoch seine Unabhängigkeit habe aufgeben müssen und die osmanische Oberhoheit über sein Emirat habe akzeptieren müssen. Da er sich nun im Notfall der Unterstützung durch die Osmanen sicher wähnte, habe Nūrullāh die Machtbefugnisse eines Fürsten überschritten: Er habe jetzt von allen ostsyrischen Christen ohne Unterschied die ḫarāǧ-Steuer eingefordert, den Einfluss des Patriarchen einzuschränken und die māleks auf seine Seite zu ziehen versucht, indem er ihnen den Teil der kirchlichen Einnahmen überschrieben habe, der eigentlich dem Patriarchen zugestanden habe.46 Die Erkenntnis der modernen Forschung, dass die Hohe Pforte die verschiedenen Potentaten in der Region gegeneinander auszuspielen versuchte, wird für das Emirat Hakkārī durch die Ausführungen Badgers bestätigt. Demnach waren aufgrund ihrer Einbindung in das System auch die ostsyrischen Christen von dieser Entwicklung betroffen: “But there is every reason to believe that the Porte, in thus extending for a time the powers of the Coordish chiefs, entertained the design of finally subjecting them to Ottoman rule. The stratagem had so far succeeded in central Coordistan, that the power of the mountaineers was weakened by the dissensions which

45 Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 182. Es kam offenbar immer wieder zu derartigen Auseinandersetzungen innerhalb der Herrscherfamilien in den kurdischen Fürstentümern, in die mitunter auch Repräsentanten der osmanischen Regierung involviert waren. Das Primogenitur-Prinzip scheint zwar das Ideal dargestellt zu haben, wer sich in der Erbfolge aber tatsächlich durchsetzen konnte, hing vor allem von der Unterstützung durch die Clans, die osmanische Regierung und die benachbarten mīrs ab. Teilweise wurde das Gebiet eines Fürstentums auch aufgeteilt (cf. Yalçın-Heckmann, Tribe and Kinship, 49–55). 46 Cf. Badger, Nestorians, 261–262.

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soon sprang up among them. In furtherance of this political scheme, the Turkish government in 1841 divided the authority, which until then was almost entirely exercised by Noorallah Beg, between two individuals, giving to the latter the district of Bash-Kala, and to his nephew, Suleiman Beg, that of Julamerk. New intrigues were now secretly set on foot by the rival chiefs, and the latter so far succeeded that an attempt was made about this time by the Nestorians to raise him to the dignity of Emeer, and to depose Noorallah Beg.”47

Badger gibt dann einen Bericht von zwei ostsyrischen Priestern wieder, nach dem die Eingriffe Nūrullāh Beys in die Rechte der Christen einige māleks dazu veranlasst habe, sich gegen den Emir zu stellen. Das Resultat ihrer Besprechungen mit Patriarch Mār Šemʽōn XVII. sei gewesen, dass von ostsyrischer Seite die Absetzung Nūrullāhs angestrebt wurde, an dessen Stelle dann mit kurdischer Unterstützung Süleymān zum neuen Emir gewählt werden sollte. Im Distrikt Barwār hätten die ostsyrischen Christen dagegen ihre Loyalität gegenüber Nūrullāh Bey bekundet. Nach Badger waren die ostsyrischen Anführer insgesamt in Unterstützer ihres Patriarchen und Anhänger Nūrullāhs gespalten.48 Der amerikanische Missionar Thomas Laurie führte die Unterstützung Mār Šemʽōns XVII. für Süleymān darauf zurück, dass der Patriarch mit Süleymāns Vater, dem Vorgänger Nūrullāhs als Emir, befreundet war. Deshalb habe Šemʽōn sich auf die Seite des Sohnes seines Freundes gestellt, als Nūrullāh zu dessen Nachfolger als Emir von Hakkārī gewählt wurde.49

3 Die Massaker an den ostsyrischen Christen in Hakkārī durch Bedīrḫān Bey Für Badger stand fest, dass Bedīrḫān Bey (ca. 1808–1870), der Emir von Bohtān (syrisch:  ),50 das mächtigste Mitglied der kurdischen Allianz war. Seine Beschreibung der Intentionen Bedīrḫāns ist zwar polemisch, deutet aber zumindest an, dass es dem Emir von Bohtān nicht einfach um ein Bündnis gegen die ostsyrischen Clans ging, sondern dass damit

7 Badger, Nestorians, 262. 4 48 Cf. ibid., 262–264. 49 Cf. Laurie, Dr. Grant, 104–105. 50 Zur syrischen Schreibweise cf. Maclean, Dictionary, 26.

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offenbar auch der Erhalt der Unabhängigkeit gegenüber der Hohen Pforte verbunden war: “An innate hatred of Christianity, combined with a restless anxiety to prevent as far as possible the extension of Osmanli rule in Coordistan, made this bold and bigoted chieftain a ready confederate against the Nestorians. Had it not been for his powerful co-operation, there is every reason to believe that the attack upon the Tyari would not have been made, or if attempted, would have been successfully met and repulsed by the hardy mountain Christians.”51

Die Rolle Bedīrḫān Beys ist in diesem Zusammenhang näher zu betrachten, weil er für die Geschichte der ostsyrischen Christen im 19. Jahrhundert von großer Bedeutung ist.52 Bedīrḫān kam 1821 in Bohtān an die Macht und setzte seine Herrschaft in dem Fürstentum auch gegen andere kurdische Führer durch. Gegenüber der osmanischen Regierung demonstrierte er Selbstständigkeit, als er sich weigerte, Kontingente für den Krieg gegen Russland in den Jahren 1828/29 zur Verfügung zu stellen.53 Bedīrḫān Bey hatte zunächst dem seit 1834 andauernden Feldzug von Reşīd Meḥmed Pascha gegen die kurdischen Fürstentümer Widerstand geleistet, musste sich 1838 aber geschlagen geben. Bohtān wurde von der osmanischen Regierung nun dem Pascha von Diyarbakır unterstellt. Bedīrḫān Bey verhielt sich in dieser Zeit loyal zu den osmanischen Behörden, konnte in seinem Bereich aber faktisch weitgehend autonom regieren. 1842 ordnete die Hohe Pforte jedoch Cezīre (Cīzre), einen Teil von Bedīrḫāns Einflussgebiet, dem Paschalik Mosul zu, sodass der Emir fortan den Paschas von Diyarbakır und Mosul Abgaben zu entrichten hatte. Gegen diese Ausweitung der Kompetenzen des Paschas von Mosul setzte sich Bedīrḫān Bey durch Interventionen bei den Osmanen zur Wehr. Außerdem bildete sich 1842 eine Föderation kurdischer

1 Badger, Nestorians, 266. 5 52 Der Zugang zu dieser historischen Figur ist schwierig, weil Bedīrḫān Bey in den Quellen und den späteren Traditionen unterschiedlich dargestellt wird: Während er von kurdischer Seite zum Nationalhelden stilisiert wurde, der für die Unabhängigkeit Kurdistans gekämpft habe, erscheint er in christlichen Quellen in der Regel als grausamer Christenmörder und fanatischer Muslim. Da jedoch keine dieser Positionen dem Handeln des Emirs gerecht wird, ist es umso notwendiger, Bedīrḫān Beys Agieren in den historischen Kontext einzuordnen. 53 Cf. van Bruinessen, Agha, Scheich und Staat, 239.

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Anführer um ihn, zu deren bedeutendsten Mitgliedern Ḫān Maḥmūd von Vān, Nūrullāh Bey von Hakkārī, ʽAbdulsamed Bey von Barwār54 und Ismāʽīl Pascha von ʽĀmādiyā gehörten.55 Zu dieser Förderation merkte Badger an, dass die Aufforderung Bedīrḫān Beys, seines Generals Zeynel Bey und Ismāʽīl Paschas Ende 1842 an die kurdischen Führer im Distrikt Barwār, sich bei ihrem Versuch, die osmanische Oberhoheit abzuschütteln, zu beteiligen, zugleich an Mār Šemʽōn XVII. ergangen sei. Der Patriarch habe aber umgehend einen Bericht über dieses kurdische Bündnis an İnce Bayraḳdār Meḥmed Pascha weitergeleitet, in dem er jegliche Beteiligung an diesem Bündnis bestritten und seine Loyalität gegenüber dem Sultan erklärt habe.56 Offensichtlich wurde anfangs also versucht, den ostsyrischen Patriarchen in die kurdische Föderation gegen die osmanischen Zentralisierungsbestrebungen einzubinden. Der Patriarch sah sich daraufhin zwischen den Fronten und entschied sich für die osmanische Seite, was ihn erst dann aus kurdischer Sicht zum Gegner machte. Die wichtigsten ostsyrischen Clans unterstanden zu dieser Zeit aber nicht Bedīrḫān Bey, sondern dem Emir von Hakkārī, Nūrullāh Bey. Mit 54 In Barwār lebten laut Badger etwa 200 ostsyrische Familien in 15 Dörfern. Die Zahl der ostsyrischen Christen in diesem Distrikt nehme jedoch stark ab – „owing to the tyranny of the Coords and the cruelties practised upon them by Abd-ool-Samid the Emeer“ (Badger, Nestorians, 211). 55 Cf. Gökçe, Bedir Khan Bey, 81–86. Die Versuche der osmanischen Gouverneure, Teile Bohtāns unter ihre Kontrolle zu bringen, sind als Reaktionen auf die relativ erfolgreiche Politik Bedīrḫāns zu verstehen. Im Krieg des Osmanischen Reiches gegen dessen ägyptischen Vasallen Muḥammad ʽAlī Pascha (1805–1848) hatte er auf der Seite der Hohen Pforte gestanden und kehrte nach der Schlacht von Nizīb (24. Juni 1839) in sein Fürstentum zurück, das vom Krieg schwer getroffen worden war. Aufgrund des dort entstandenen Machtvakuums konnte Bedīrḫān Bey zur unbestrittenen Autorität der Region aufsteigen, indem er mehrere Fürsten unter seiner Oberhoheit vereinigte. Außerdem gelang es ihm, die Lebensbedingungen in seinem Herrschaftsbereich im Vergleich zu den umliegenden Provinzen signifikant zu verbessern und für eine relativ große Sicherheit seiner Untertanen zu sorgen. Deshalb migrierten viele Menschen aus den umliegenden Provinzen in Bedīrḫāns Herrschaftsgebiet, dem daraufhin vom Gouverneur von Mosul vorgeworfen wurde, seine Provinz entvölkern zu wollen (cf. ibid., 77–81). 56 Cf. Badger, Nestorians, 188.

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Unterstützung von Patriarch Mār Šemʽōn XVII. stellte der mālek von Dīz 1841 die Autorität Nūrullāhs jedoch offen infrage und überfiel einige Dörfer. Nūrullāh ging daraufhin seinerseits militärisch gegen die Dīz vor und ließ unter anderem die Residenz des ostsyrischen Patriarchen zerstören. Dennoch gelang es ihm nicht aus eigenem Vermögen, die ostsyrischen Clans unter seine Kontrolle zu bringen. Deshalb ersuchte Nūrullāh den mächtigen Bedīrḫān Bey um Unterstützung, was zum Feldzug der beiden Kurdenfürsten gegen die Ostsyrer im Jahr 1843 führte.57 Zur Verschärfung der Situation scheinen auch die amerikanischen und britischen Missionare beigetragen zu haben, die ihre Arbeit in der Zeit begannen, als die traditionellen Beziehungen zwischen den Bevölkerungsgruppen in der Region zerbrachen. Insbesondere der amerikanische Missionsarzt Asahel Grant (1807–1844), der von 1835 bis 1844 in Kurdistan wirkte, war auch in politische Angelegenheiten verwickelt, wie etwa der Bitte des ostsyrischen Patriarchen, dass der Pascha von Erzurūm einen Stellvertreter ernennen solle, der das Siedlungsgebiet der ostsyrischen Christen anstelle der Kurden regieren solle.58 Insbesondere die Missionsstation von Asahel Grant, die dieser mit der Erlaubnis von Nūrullāh Bey oberhalb des Dorfes ʽĀšīṯā errichten ließ, löste unter den Kurden Gerüchte aus: Nach Ansicht vieler Kurden handelte es sich dabei um einen festungsartigen Bau, der für die Kooperation der einheimischen Christen mit ausländischen Missionaren und den Einfluss fremder Mächte in Kurdistan stehe.59 Nach der Darstellung des American Board of Commissioners for Foreign Missions wurde Grants Gebäude aber lediglich an einer Stelle errichtet, wo früher einmal eine Festung gestanden hätte, weshalb der Ort immer noch als „Festung“ bezeichnet werde. Die Missionsstation sei erst von den Kurden zu einer Festung ausgebaut worden, als diese sie nach Bedīrḫāns Invasion in das Ṭyārī-Gebiet besetzt hatten.60 Bereits Badger erwähnte die Auffassung, dass die Präsenz von Europäern bei den ostsyrischen Christen zur Eifersucht bei den Kurden beigetragen habe, da die Kurden die von der osmanischen Regierung eingeführten 7 Cf. Gökçe, Bedir Khan Bey, 87–88. 5 58 Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 205–207. 59 Cf. ibid., 179–181; Gökçe, Bedir Khan Bey, 89–93. 60 Cf. Kieser, Zwischen Ararat und Euphrat, 122.

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Reformen als Resultat westlichen Einflusses verstehen würden. Doch könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Anwesenheit von Ausländern große Auswirkungen auf die Beschleunigung der Krise im Jahr 1843 gehabt habe:61 “Unsettled feuds of long standing were still rife and open betwixt the Coords and Christians of central Coordistan, and the growing power of the former, fostered as it now was by the countenance and support of the bigoted Emeer of Buhtân, made them more and more impatient that a people whom they looked upon as infidels should share with them the government of the mountains.”62

Badger ist wohl insofern zuzustimmen, als die Präsenz ausländischer Missionare sicher nicht der primäre Auslöser für die Gewalt gegen die ostsyrischen Christen war. Die westlichen Missionen müssen jedoch als ein verstärkender Faktor gewertet werden, weil vor allem die Christen von ihnen profitierten, während die muslimischen Kurden ins Hintertreffen gerieten. Der Feldzug der kurdischen Föderation unter der Führung Bedīrḫān Beys gegen die Ostsyrer begann im Juni 1843. Der Vorstoß richtete sich zunächst gegen das Gebiet von Dīz, wo sich der ostsyrische Patriarch nach der Zerstörung seiner Residenz in Qūdšānīs (1841) aufhielt.63 Mār Šemʽōn XVII. musste wie viele andere ostsyrische Christen vor den heranrückenden Kurden fliehen. Der Patriarch erreichte am 27. Juli 1843 das sichere Mosul.64 Nachdem Dīz verwüstet und ein Massaker an der ostsyrischen Bevölkerung verübt worden war, wandten sich die Kurden gegen das Gebiet der Ṭyārī, wo die ostsyrischen Christen das gleiche Schicksal erlitten. Dabei wurde von kurdischer Seite nicht zwischen Kämpfern und Zivilbevölkerung unterschieden.65 In diesem Rahmen wurde auch religiöse Propaganda eingesetzt: Scheich Ṭaha von Nehrī ermunterte die Kurden, gegen die ostsyrischen Christen vorzugehen, vermutlich, weil er das Vordringen europäischer Missionare fürchtete sowie aufgrund seiner

1 Cf. Badger, Nestorians, 189. 6 62 Ibid., 189–190. 63 Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 196–199. 64 So berichtete es der britische Missionar George Percy Badger: cf. Badger, Nestorians, 271. 65 Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 199–200.

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Abneigung gegen die Ostsyrer, deren Patriarch sich gegen den Emir von Hakkārī gestellt hatte.66 Von dieser ersten Attacke gegen die ostsyrischen Christen war ʽĀšīṯā, jenes Dorf, bei dem Asahel Grant seine Missionsstation errichtet hatte, zunächst ausgenommen. Dass das Tal von ʽĀšīṯā nicht angegriffen wurde, führte der Missionar Thomas Laurie auf die Zusage Bedīrḫāns gegenüber Grant zurück, die amerikanische Mission zu verschonen.67 Dies kann allerdings auch mit dem Verhalten von zwei ostsyrischen Geistlichen aus der Region, dem Diakon Hinno und dem Priester Jinno, zusammenhängen, die sich auf die Seite von Nūrullāh Bey und Bedīrḫān Bey stellten, wie Laurie ebenfalls berichtete.68 Infolge einer erneuten militärischen Konfrontation sollte dann aber auch die Umgebung von ʽĀšīṯā verwüstet werden. Bedīrḫān Bey zog sich nach der kurdischen Offensive im Sommer 1843 nach Cezīre zurück. Zuvor hatte er Zeynel Bey mit etwa 400 Soldaten als Gouverneur in ʽĀšīṯā stationiert. Nach dem Abzug Bedīrḫāns reorganisierten sich die in die Berge geflohenen Kämpfer der Ṭyārī, wobei sie von einigen Kurden aus der Gegend unterstützt wurden. Ende September griffen sie Zeynel Bey an. Bei dieser Attacke sollen mehr als 70 kurdische Kämpfer getötet worden sein. Zeynel Bey zog sich daraufhin mit seinen Soldaten in jenes festungsartige Gebäude oberhalb von ʽĀšīṯā zurück, das der amerikanische Missionar Asahel Grant hatte errichten lassen. Er konnte der Belagerung durch die Ostsyrer standhalten, bis Bedīrḫān Beys Truppen eintrafen, um eine exemplarische Bestrafung der ostsyrischen Christen zu vollziehen. Dieser zweite Feldzug Bedīrḫān Beys gegen die Ostsyrer verlief sehr blutig: Viele Christen wurden getötet und ihre Frauen und Kinder verschleppt. Die Widerstandskraft der Ṭyārī war nach der Einschätzung von

66 Cf. McDowall, A Modern History, 52. Austen Henry Layard nennt die Scheiche “the chief cause of the massacre of the unfortunate Christians” und Ṭaha als jenen unter ihnen, der Bedīrḫān Bey dazu gedrängt habe, seinen religiösen Eifer durch das Vergießen des Blutes der ostsyrischen Christen unter Beweis zu stellen (cf. Layard, Nineveh, 193; Layard, Popular Account, 162). 67 Cf. Laurie, Dr. Grant, 356. 68 Cf. ibid., 360; cf. auch McDowall, A Modern History, 46 (mit Anm. 12).

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Hasan Gökçe 1843 gänzlich gebrochen worden; ihr Gebiet wurde fortan von Bedīrḫān Bey kontrolliert.69 Gemeinsam mit dem ehemaligen britischen Vizekonsul Henry Ross bereiste Austen Henry Layard (1817–1894) 1846/47 die Region, in der die Massaker stattgefunden hatten. Nach Layards Schätzung sind fast 10.000 ostsyrische Christen den Kurden zum Opfer gefallen.70 Abgesehen von Hirmis Aboona, der diese Zahl für zu gering hält,71 folgt die Forschung der von Layard genannten Opferzahl,72 manchmal auch mit dem Hinweis auf eine geringere zeitgenössische Schätzung von 7.000 Todesopfern.73 In jedem Fall ist von „insgesamt mehrere[n]‌Tausende[n] von Opfern“74 auszugehen. Laut David Wilmshurst, der ebenfalls die Zahl von 10.000 Getöteten anführt, ist die ostsyrische Bevölkerung in den von den Massakern betroffenen Gebieten auf insgesamt etwa 50.000 Menschen zu beziffern.75

69 Cf. Gökçe, Bedir Khan Bey, 88–89; zum Massaker von ʽĀšīṯā cf. auch Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 208–210. Über die Ereignisse in ʽĀšīṯā berichtete auch Badger, Nestorians, 276–277. 70 Cf. Layard, Nineveh, 153 (Anm. *); Layard, Popular Account, 122 (Anm. *). 71 Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 212. 72 Cf. Arfa, Kurds, 23; Coakley, Church of the East, 40; Hellot-Bellier, Chroniques de massacres, 9; Merten, Untereinander, 170. 73 Cf. Gaunt, Inter-Religious Violence, 256 (“an estimated seven to ten thousand were killed”); Gaunt, Relations, 255 (selbe Formulierung); Tamcke, Genozid Assyrern/Nestorianern, 107 und 117 (Anm. 24). In der Anmerkung nennt Tamcke auch die geringere Schätzung von 7.000 Opfern, die auf die Einleitung zu einem in der Zeitschrift des American Board of Commissioners for Foreign Missions auszugsweise wiedergegebenen Brief von Edward Breath (1808–1861), einem Drucker der amerikanischen Mission in Urmia, zurückgeht. Dort heißt es: “The number killed in the two campaigns was said to be about seven thousand; but this estimate may be too high.” (Breath, Letter, 407). Falls diese Aussage von Breath selbst stammt, ist dazu allerdings anzumerken, dass Breath in seinen Berichten überwiegend ein positives Bild von Bedīrḫān Bey zeichnete, auch hinsichtlich der Lage der ostsyrischen Christen unter dessen Herrschaft (cf. Kieser, Der verpasste Friede, 66; Kieser, Zwischen Ararat und Euphrat, 123). 74 Kieser, Der verpasste Friede, 66. 75 Cf. Wilmshurst, Ecclesiastical Organisation, 33; Wilmshurst, Martyred Church, 374. Wilmshurst gibt nicht an, woher er die Zahl von insgesamt 50.000 von den Massakern betroffenen ostsyrischen Christen hat. Möglicherweise stützt er sich auf den Missionar Thomas Laurie, der diese Zahl erwähnt (cf. Laurie, Dr. Grant, 364–365).

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Das Territorium der Tḥūmā war von den Massakern des Jahres 1843 im Ṭyārī-Gebiet kaum betroffen gewesen, was offensichtlich darauf zurückzuführen ist, dass die Tḥūmā sich mit Bedīrḫān Bey verbündet hatten.76 Layard zitierte dazu ein ostsyrisches Dorfoberhaupt aus dem Ṭyārī-Gebiet, das er vor Bedīrḫāns Vorstoß gegen die Tḥūmā getroffen hatte: “[…] when Nur-Ullah Bey joined Bedar Khan Bey in the great massacre, the people of Tkhoma marched with the Kurds against us; but could they do otherwise? – for they feared the chief of Hakkiari. They are our brothers, and we should forgive them; for the Scriptures tell us to forgive even our enemies.”77

Demnach scheint das Bündnis der Tḥūmā mit den Kurden in der Hoffnung zustande gekommen zu sein, dadurch verschont zu bleiben. Im Jahr 1843 war dies der Fall, dauerhaft bot es den Tḥūmā jedoch keinen Schutz: “In the autumn of 1846, Tehoma shared the fate it had helped to inflict on Tyary”, berichtete Thomas Laurie.78 Als einziges verbliebenes unabhängiges ostsyrisches Gebiet wurde Tḥūmā im November 1846 zum Ziel einer weiteren Attacke Bedīrḫān Beys. Die weitere Ausdehnung von dessen Einflussbereich war zwar nicht im Interesse der Hohen Pforte, sie sah in dem Vorgehen des Kurdenemirs aber die Chance, die letzte autonome ostsyrische Enklave auszuschalten. Bedīrḫān gab dieses Mal die Devise aus, keine Gefangenen zu machen. Auch gegen die Tḥūmā gingen die Kurden sehr grausam vor:  Es wurden Massaker an der Bevölkerung verübt und das Land verwüstet.79 Austen Henry Layard schätzte, dass fast die Hälfte der Bevölkerung im Tḥūmā-Gebiet Bedīrḫān zum Opfer gefallen sei, wobei die Region kurz darauf ein weiteres Mal von Nūrullāh Bey heimgesucht wurde.80 Die Massaker an den ostsyrischen Christen in Hakkārī durch Bedīrḫān Bey in den Jahren 1843 und 1846 lagen im Interesse der osmanischen Regierung in Konstantinopel.81 Sie nutzte die Differenzen zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen zur Umsetzung ihrer Zentralisierungspolitik,

6 Cf. McDowall, A Modern History, 47. 7 77 Layard, Nineveh, 169; Layard, Popular Account, 139. 78 Laurie, Dr. Grant, 364. 79 Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 239–247. 80 Cf. Layard, Nineveh, 201–202; Layard, Popular Account, 169–170. 81 Cf. Kieser, Der verpasste Friede, 67; McDowall, A Modern History, 46–47.

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für die autonome regionale Machtzentren ausgeschaltet werden mussten. Schon Badger vermutete diese Strategie hinter dem Verhalten der osmanischen Regierung: “For my own part, I  am fully convinced that the Turks, sensible of their own weakness, had all along abstained from seriously remonstrating against the proceedings of Bedr Khan Beg, and that being anxious to extend their rule throughout central Coordistan, they regarded with secret complacency, the late dissensions among the Coords and Nestorians, – dissensions which their own policy had fomented, – foreseeing that these would lead eventually to the weakening of the mountain tribes, and pave the way to the establishment of the Sultan’s authority where as yet it was recognised only in name.”82

Mit diesem Statement hat Badger die Strategie der osmanischen Regierung auf den Punkt gebracht. In der modernen Forschung weist Adam H. Becker jedenfalls darauf hin, dass sich die Massaker des Jahres 1843 deutlich von dem Ausmaß an Gewalt unterschieden, das in den kurdischostsyrischen Beziehungen vorher üblich gewesen war, und im Zusammenhang mit dem Ende der traditionellen politischen Ordnung standen: “The massacres of 1843 were spurred on by the Ottoman attempt to impose external political authority over the region and thus were not instances of traditional violence but rather disruptions caused by the breakdown of the prior political order.”83

Ausschlaggebend für die Ereignisse waren somit die osmanische Zentralisierungspolitik und die mit ihr einhergehende Zerstörung der traditionellen Machtstrukturen. Nach 1846 waren die ostsyrischen Christen als eigenständiger Machtfaktor in der Hakkārī-Region ausgeschaltet. Auch die meisten ehemals autonomen Kurdenfürstentümer waren in den 1830er und 1840er Jahren unterworfen worden. Lediglich in Hakkārī und Bohtān regierten noch unabhängige Kurdenfürsten, deren Schicksal nach den Massakern an den ostsyrischen Christen aber ebenfalls besiegelt war. Die europäischen Großmächte wurden durch die Berichte von Missionaren und Diplomaten über die Massaker Bedīrḫān Beys an den ostsyrischen Christen informiert. Der Emir von Bohtān unterschätzte zunächst offenbar den Druck, der daraufhin von westlicher Seite – allen voran von

2 Badger, Nestorians, 368–369. 8 83 Becker, Revival, 51.

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Großbritannien – auf die osmanische Regierung und auf ihn selbst ausgeübt wurde.84 Angesichts des Drucks von außen verließen 1847 alle kurdischen Anführer, die sich zwischen 1843 und 1846 um Bedīrḫān Bey geschart hatten, die Allianz. Die von Bedīrḫān geleitete kurdische Föderation zerbrach, als die Kurden ihren gemeinsamen Feind, die ostsyrischen Stämme, ausgeschaltet hatten und von der osmanischen Regierung bedrängt wurden.85 Der gegen ihn aufgebotenen osmanischen Streitmacht hatte Bedīrḫān Bey nichts entgegenzusetzen, sodass er im Juli 1847 kapitulierte.86 Er wurde nach Kreta ins Exil geschickt und starb 1870 in Damaskus.87 Nūrullāh Bey beteiligte sich offenbar an der Unterwerfung Bedīrḫān Beys, mit dem er zuvor verbündet gewesen war. Die osmanische Regierung vertraute Nūrullāh anscheinend aber nicht und verfolgte überdies das Ziel der Gründung der Provinz Kurdistan,88 weshalb Truppen nach Hakkārī entsandt wurden. Nūrullāh floh daraufhin in den Iran, kehrte nach Verhandlungen mit der Hohen Pforte aber 1849 nach Hakkārī, genauer in den Distrikt Şemdīnlī (‫)شمدينلى‬, wo der Scheich Ṭaha I. aus der Familie Sādatē Nehrī für seine Sicherheit garantierte, zurück. Nūrullāh wurde dann zunächst nach Istanbul deportiert und schließlich nach Kreta.89

84 Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 215–237, 247–254 und 258–260; Gökçe, Bedir Khan Bey, 93–100. 85 Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 264–265. 86 Cf. ibid., 271–276; Gökçe, Bedir Khan Bey, 100–103. 87 Cf. Gökçe, Bedir Khan Bey, 104–105. Von Bedīrḫān Beys Expansion waren nicht nur die Ostsyrer im Hakkārī-Gebiet, sondern auch die westsyrischen Christen im ܽ betroffen. Hier ließ Bedīrḫān 1844 den Maphrian ܺ ‫)ܛܘܪ ܰܥ‬ Ṭūr ʽAbdīn (syrisch: ‫ܒܕܝܢ‬ ܳ ܰ ܳ (‫ܡܦܪܝܢܐ‬, höchster Repräsentant der Syrisch-Orthodoxen Kirche im Ṭūr ʽAbdīn) und einen weiteren Bischof ermorden, weil der Maphrian sich 1843 auf die Seite der osmanischen Regierung und damit gegen Bedīrḫān gestellt haben soll (cf. Talay, Politische und gesellschaftliche Entwicklungen, 353–355; cf. auch Merten, Untereinander, 174–180). 88 Nach dem Ende der autonomen kurdischen Fürstentümer errichtete die osmanische Regierung an ihrer Stelle 1846 die Provinz Kurdistan, um die direkte Verwaltung des Territoriums durch die Zentralregierung durchzusetzen. Die Provinz hatte bis 1867 Bestand, als sie im Zuge einer Provinzverwaltungsreform aufgelöst wurde (cf. Özoğlu, Kurdish Notables, 60–63). 89 Cf. Yalçın-Heckmann, Tribe and Kinship, 59–61.

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4 Das Ende des Modus vivendi zwischen den Bevölkerungsgruppen in Kurdistan nach den Massakern der 1840er Jahre Durch die militärische Beendigung der Unabhängigkeit der kurdischen Fürstentümer wurde der Modus vivendi zwischen den Bevölkerungsgruppen in Kurdistan zerstört. Schon der britische Missionar William Ainger Wigram (1872–1953), von 1902 bis 1912 Mitglied der „Assyrischen Mission“ des Erzbischofs von Canterbury und zuletzt deren Leiter, war zu der Erkenntnis gelangt, dass sich das Verhältnis zwischen ostsyrischen Christen und Kurden bzw. Muslimen infolge der Massaker durch Bedīrḫān Bey erheblich verschlechtert habe. Die ostsyrischen Christen seien in den 1840er Jahren so sehr geschwächt worden, dass sie sich nicht mehr wie in den vorangegangenen Jahrhunderten gegen die Kurden hätten wehren können. Außerdem seien die Muslime nun von der osmanischen Regierung gegenüber den Christen bevorzugt worden.90 Die neuen osmanischen Gouverneure hatten außerhalb ihrer Residenzstädte kaum Einfluss, weshalb „das traditionelle muslimisch-christliche Machtgefälle, das [durch die Tanẓīmāt-Reformen – J.  J.] hätte abgelöst werden sollen, zu einem prekären Spannungsverhältnis wurde“.91 Auf dem Land waren die Aġās und Scheiche nun die vorherrschenden Autoritäten, die an die Stelle der früheren Kurdenfürsten traten. Diese neue politische Rolle der Scheiche trug zum Anstieg der interreligiösen Spannungen bei.92 Der Distrikt Şemdīnlī in der Hakkārī-Region ist ein Beispiel für den Aufstieg neuer politischer Kräfte nach der Entmachtung der kurdischen Fürsten. In den europäischen und amerikanischen Berichten aus dem 19. Jahrhundert wird diese Region in der Regel als Shemsdin oder Shamsdin bezeichnet, was dem Namen der dortigen ostsyrischen Metropolie

0 Cf. Wigram, Assyrians, 174–175. 9 91 Kieser, Der verpasste Friede, 43. 92 Cf. Gaunt, Inter-Religious Violence, 257; Gaunt, Relations, 257; ausführlicher: McDowall, A Modern History, 49–53. Für das Ende des 19. Jahrhunderts bestätigt der amerikanische Missionar Frederick Coan die Vereinigung religiöser und politischer Zuständigkeiten in den Händen der Scheiche (cf. Coan, Missionary Life, 56).

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( , Šamsdīn) entspricht.93 Die Geschicke von Şemdīnlī wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Familie Sādatē Nehrī bestimmt. Aus dieser Familie stammte Scheich ʽUbeydullāh, der zum mächtigsten Protagonisten im osmanisch-iranischen Grenzgebiet aufstieg. ʽUbeydullāh akzeptierte die Repräsentanten der Zentralregierung in seinem Einflussbereich nicht und strebte stattdessen einen autonomen Status an, wozu er erst eine Revolte im Osmanischen Reich anführte und nach deren Scheitern in den Iran einfiel. Als nach den Iranern schließlich auch die Osmanen militärisch gegen ʽUbeydullāh vorgingen, wurde dieser nach Mekka exiliert, wo er 1883 starb.94 Die von ʽUbeydullāh angeführte Truppe umfasste auch ein ostsyrisches Kontingent unter dem Befehl eines Bischofs, obwohl der Patriarch seine Zustimmung dazu verweigert hatte. Der Scheich versuchte sich zwar als Beschützer der Christen darzustellen, konnte aber Übergriffe gegen die christliche Bevölkerung ebenso wenig verhindern wie eine Verschlechterung des christlich-muslimischen Verhältnisses infolge der neuen kurdischen Bewegung.95 Angesichts der Bestrebungen von Sultan ʽAbdülḥamīd II. (1876–1909), die Kurden für den osmanischen Staat zu gewinnen, konnte die Familie Sādatē Nehrī ihren Einfluss in der Region jedoch auch nach dem Sturz ʽUbeydullāhs bewahren. Gemäß den Berichten westlicher Missionare sollen die ostsyrischen Christen dabei vor allem unter der Herrschaft von Scheich Muḥammad Ṣiddīḳ (gest. 1911) sehr gelitten haben, was wohl auch damit zusammenhing, dass dieser mit anderen Scheichen um Einfluss konkurrierte und seine Macht durch Landkäufe und Pachterhebungen auszuweiten versuchte.96 Zu solchen Versuchen wie jenem Muḥammad Ṣiddīḳs, sein Einflussgebiet zu vergrößern, war es seit dem Erlass des osmanischen Landgesetzes im Jahr 1858 immer wieder gekommen. Das Gesetz war im Zuge der Tanẓīmāt-Reformen von Sultan ʽAbdülmecīd I. eingeführt worden. Da es

93 Cf. Fiey, Oriens Christianus novus, 132; Wilmshurst, Ecclesiastical Organisation, 279–281. Zu der Region cf. auch van Bruinessen, Shamdīnān, 282–283. 94 Cf. McDowall, A Modern History, 53–59; Özoğlu, Kurdish Notables, 74–77; YalçınHeckmann, Tribe and Kinship, 63–64. Die verschiedenen Faktoren der Rebellion von Scheich ʽUbeydullāh beleuchtet Ates, In the Name of the Caliph, 735–798 95 Cf. Gaunt, Inter-Religious Violence, 258; Gaunt, Relations, 257. 96 Cf. Yalçın-Heckmann, Tribe and Kinship, 64–65.

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ab dem Ende des 17. Jahrhunderts immer mehr lokalen Größen gelungen war, umfangreiche Landflächen unter ihre Kontrolle zu bringen und de facto zu ihrem Grundbesitz zu machen,97 strebte das neue Gesetz wieder eine stärkere staatliche Kontrolle über die Landvergabe an: Nach europäischem Vorbild sollte gewährleistet werden, dass sich das zu bewirtschaftende Land im Besitz von Einzelpersonen befand. Wer das Land bestellte, sollte gemäß dem Gesetz auch darüber verfügen. In der Praxis ließen sich in Kurdistan jedoch in erster Linie die Aġās und Scheiche große Landflächen auf ihren Namen registrieren. Somit bedienten sich die Notabeln des Gesetzes, um ihren Grundbesitz zu sichern oder auszuweiten, auf dem die Bauern dann für sie arbeiten mussten.98 Gleichwohl ist bei Generalisierungen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Kurden und ostsyrischen Christen nach den Massakern Bedīrḫān Beys Vorsicht geboten. Dies ergibt sich nicht nur daraus, dass sich ostsyrische Kämpfer am Aufstand Scheich ʽUbeydullāhs beteiligten, sondern wird auch durch einen ethnologischen Aufsatz des Orientalisten Otto Blau (1828–1879) aus dem Jahr 1858 verdeutlicht.99 Nachdem Blau 1852 als Diplomat zur preußischen Gesandtschaft nach Konstantinopel gekommen war, unternahm er 1857 infolge des Abschlusses des ersten Handelsvertrags zwischen Preußen und dem Iran eine Reise nach Persien, auf die sein im Folgenden analysierter Bericht zurückgeht.100 Blaus Aufsatz ist von dem Bestreben gekennzeichnet, einige kurdische Gruppen ethnologisch zu beschreiben, deren jeweilige „nationale“ Identität er durch die politischen Rahmenbedingungen gefährdet sah.101 Bei den Šakāk

7 Cf. Matuz, Osmanische Reich, 204. 9 98 Cf. van Bruinessen, Agha, Scheich und Staat, 244–246. Angesichts des derzeitigen Forschungsstandes kann daraus aber nicht auf einen generellen Trend für das gesamte Osmanische Reich geschlossen werden. In vielen anderen Regionen ließen zahlreiche Kleinbauern Land auf ihren Namen registrieren. Außerdem setzte durch das Landgesetz an sich in Kurdistan keine gänzlich neue Entwicklung ein, vielmehr nutzten die Notabeln das Gesetz für eine Legalisierung der Verhältnisse (cf. Quataert, Age of Reforms, 856–861). 99 Cf. Blau, Stämme des nordöstlichen Kurdistan. 100 Zur Biographie Blaus cf. den Nachruf von Ernst, Nachruf Otto Blau. 101 Blaus Bericht weist Spuren des nationalistischen Denkens seiner Zeit auf, besonders wenn er sich für die Erhaltung der vermeintlichen ethnischen

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(‫)شكاک‬102 bestehe zwar „die alte Stammverfassung noch in ungetrübterer Form“103 als bei den anderen tribal organisierten Kurden, doch seien sie zwischen der „Uebermacht der unabhängigen Kurden des Emirs von Rowandûz“104 und dem Urmia-See eingezwängt, was die Wanderungen der Nomaden einschränke und zunehmend dazu führe, dass sie sesshaft würden. Blau schildert die Kurden vorwiegend als räuberische und unzivilisierte Menschen, macht aber bei den Šakāk eine gewisse Ausnahme, und weist dabei auch auf ihre anscheinend relativ guten Beziehungen zur christlichen Bevölkerung der Region hin: Homogenität von Völkern ausspricht. Cf. z. B. Blau, Stämme des nordöstlichen Kurdistan, 596: „So sinken alle diese Stämme, die einen durch Verwilderung und Entsittlichung, wie die Dschelali und Melanly, die anderen durch gezwungene Ansiedlung und Verschmelzung mit anderen Nationalitäten, wie die Haideranly und Schakaki, seit der Lostrennung von ihren Stammverwandten mehr und mehr zur Stufe einer unterjochten, ihrer Nationalität entkleideten, ihrer Selbstständigkeit beraubten Mischbevölkerung herab, und es kann nicht fehlen, dass das von der türkischen Regierung den Kurden gegenüber befolgte System mehr und mehr dahin wirken wird, sie ganz zu absorbieren, da hier nicht die Schranke, die sich sonst im Osmanenreiche der Verschmelzung der Racen so schroff entgegenstellt, die Religion, dazwischen tritt.“ 102 Die Šakāk werden häufig mit den Šaḳāḳī verwechselt, die östlich und nordöstlich von Täbris leben (cf. van Bruinessen, Shakāk, 245). Otto Blau schrieb in seinem Aufsatz von den „Schakaki“. Er meinte damit aber offenbar die Šakāk, wie seinen Ausführungen über das Siedlungsgebiet und den Namen zu entnehmen ist: „Südlich von dem District, in dem die Mela hausen, nach dem See von Urumiah zu, an dessen ganzer Westseite entlang und bis in die Nähe des Van-Sees, erstrecken sich die Wohnsitze der Schakaki, einer grossen, rein kurdischen Gruppe. Den Namen schreibe ich so, und nicht, wie man allerdings auch hört, Schakaïk (Sheqoiq der amerikanischen Missionsberichte) oder Schekecht, welches im Volksmunde oft sogar zu Schikeft wird“ (Blau, Stämme des nordöstlichen Kurdistan, 591–592). Blau erklärt, dass die „Schakaki“ früher in der Gegend um Täbris gesiedelt hätten, jetzt aber nicht mehr dort anzutreffen seien, sondern in dem von ihm genannten Gebiet. Daraus ist zu schließen, dass Blau hier nicht die Šaḳāḳī meint, sondern die Šakāk. 103 Blau, Stämme des nordöstlichen Kurdistan, 592. 104 Ibid. Es ist nicht klar, was Blau mit der „Uebermacht der unabhängigen Kurden des Emirs von Rowandûz“ meint. Rawāndūz (im Norden des heutigen Iraks) war die Hauptstadt des kurdischen Emirats Sōrān, dieses wurde aber 1836 von den Osmanen unterworfen.

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„Die Schakaki haben viel von dem bösen Ruf der Wildheit und Raubsucht verloren, der ihnen früher anhaftete. Ich fand sie überall bescheiden, zuthunlich und ungefährlich. In Dilman kamen sie regelmässig zu den Wochenmärkten aus allen umliegenden Gauen oft Tagereisen weit herbei und schlossen sich nicht selten den Carawanen der nestorianischen und armenischen Kaufleute an, die von da nach Van, nach Urumiah und Täbris ziehen. Der Einfluss der amerikanischen Missionsstation hat, wenn auch nur mittelbar durch die sittliche und sociale Hebung des Völkchens der Nestorianer, hier sichtlich eine segensreiche und wohlthätige Wirkung gehabt.“105

Letztlich sind es bei Blau also doch wieder Ausländer, konkret: amerikanische Missionare, die angeblich eine zivilisierende Wirkung auf die einheimische Bevölkerung gehabt haben sollen. Allerdings wurde den Šakāk insgesamt eher nachgesagt, besonders räuberisch zu sein. Ihre Überfälle richteten sich aber wohl weniger gegen Handelskarawanen als vielmehr gegen die sesshafte Bevölkerung in den Ebenen und Tälern, insbesondere gegen die ostsyrischen Christen und gegen Schiiten.106 Wenn die Šakāk selbst an Karawanen beteiligt waren, wie Blau berichtet, erklärt dies, warum sie die Karawanen eher verschonten. Mit Blick auf den weiteren Lauf der Geschichte scheint Blaus Einschätzung aber problematisch, da das Verhalten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen weiterhin von strategischen Erwägungen und dem Streben nach dem eigenen Vorteil bestimmt blieb. Als die Ostsyrer sich während des Ersten Weltkriegs aus Hakkārī zurückzogen und nach Urmia (syrisch:  ) flohen, brachten sie dort die Verhältnisse zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften durcheinander. Die Kurden der Šakāk-Konföderation unter der Führung von Ismāʽīl Āqā Simkō (1887–1930)107 bemühten sich während der zweiten Hälfte des Krieges zunächst um Neutralität. Nachdem aber die russischen Truppen infolge der Oktoberrevolution (1917) aus dem Iran abgezogen worden waren, entwickelte sich ein Konflikt zwischen den Šakāk-Kurden und den ostsyrischen Kriegern aus Hakkārī um das Gebiet westlich des Urmia-Sees, das beide Parteien nicht preisgeben wollten. Da die Ostsyrer in Urmia zunächst die Oberhand gewannen und die iranische Regierung die Lage

05 Blau, Stämme des nordöstlichen Kurdistan, 593. 1 106 Cf. van Bruinessen, Kurdish Warlord, 84. 107 Ich folge in diesem Fall der persischen Schreibweise (‫ )آقا‬des Titels Aġā.

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nicht in den Griff bekam, betraute sie Ismāʽīl Āqā Simkō mit dieser Aufgabe. Simkō lockte Patriarch Mār Šemʽōn XIX. Benjamin (1903–1918) unter dem Vorwand einer Besprechung nach Kohna-Shahar in der Ebene von Salmās (‫)سلماس‬, wo er ihn zusammen mit mehreren Begleitern im März 1918 ermorden ließ.108

5 Christen und Muslime in Ostanatolien in der Ära ʽAbdülḥamīds II. Mit der Regentschaft von Sultan ʽAbdülḥamīd II.  endete die TanẓīmātZeit. ʽAbdülḥamīd war zwar keineswegs ein reformfeindlicher Herrscher, anstelle des „Osmanismus“, dem Bestreben der Tanẓīmāt-Reformer, Muslime wie Nichtmuslime als Staatsbürger gleichzustellen, verfolgte er aber eine Politik des „Panislamismus“, die die Einheit aller Muslime betonte. Diese Politik richtete sich gegen die europäischen Kolonialmächte, in deren Herrschaftsgebieten viele Muslime lebten. Aber auch in seinem eigenen Reich, das immer mehr von außen bedrängt wurde und Gebietsverluste hinnehmen musste, wollte ʽAbdülḥamīd die Autorität der Regierung stärken. Daher widmete er den Muslimen, deren Loyalität er sich sichern wollte, besondere Aufmerksamkeit, während die Christen oftmals als Agenten auswärtiger Interessen betrachtet wurden.109 In Ostanatolien, wo die Tanẓīmāt-Reformer die Macht der weitgehend unabhängigen Kurdenfürsten zu brechen versucht hatten, waren die Kurden nun ein wichtiger Faktor in der Politik ʽAbdülḥamīds: Da sie mehrheitlich sunnitische Muslime waren, wollte er sie für den Staat gewinnen. Angesichts der Nähe der Region zu Russland und dem Iran sowie einer armenischen Bewegung, die – in der Sicht des Sultans – nach Unabhängigkeit strebte, galten die Kurden nun als stabilisierender Faktor für die osmanische Herrschaft. ʽAbdülḥamīds übergeordnetes Ziel blieb die Durchsetzung seiner Herrschaftsansprüche, für die er die Kurden instrumentalisieren wollte.110 Schon im russisch-osmanischen Krieg von 1877/78

108 Cf. Arfa, Kurds, 50–53; van Bruinessen, Kurdish Warlord, 87; cf. dazu auch den Bericht des Missionars Frederick Coan: Coan, Missionary Life, 266–267. 109 Zur Regentschaft ʽAbdülḥamīds II. cf. Fortna, Reign of Abdülhamid II. 110 Cf. Duguid, Politics of Unity.

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setzte die Hohe Pforte kurdische Krieger an der Kaukasusfront ein, wozu diese mit modernen Gewehren ausgestattet wurden. Da die Kurden diese Waffen nach dem Krieg nicht zurückgaben, verfügten sie nun über bessere Gewehre und mehr Kriegserfahrung als die ostsyrischen Christen mit ihren einfachen Jagdgewehren.111 Ein noch augenscheinlicheres Ergebnis dieser Politik war 1890 die Aufstellung der leichten Ḥamīdiye-Kavallerieregimenter (Ḥamīdiye Ḫafīf Süvārī Ālāyları, ab 1909 ʽAşīret Ḫafīf Süvārī Ālāyları). Es handelte sich dabei um nach dem Sultan selbst benannte irreguläre Kavallerieeinheiten, deren Mitglieder von bestimmten kurdischen Clans gestellt wurden. Während auf diese Weise einige Kurden privilegiert wurden, kamen andere aus Sicht der Hohen Pforte nicht für diese Positionen infrage. Somit sollte gemäß dem Prinzip divide et impera eine gemeinsame Position der Kurden gegen die Zentralregierung verhindert werden. Außerdem bestand die Aufgabe der Ḥamīdiye-Regimenter in der Grenzsicherung, um dem Expansionismus Russlands Einhalt zu gebieten. Ferner sollten sie separatistische armenische Bewegungen unterdrücken. De facto entwickelten sich die Ḥamīdiye-Milizen jedoch zu Machtbasen für einzelne kurdische Anführer, um die sesshafte Bevölkerung auszubeuten. Da die Ḥamīdiye dafür nicht juristisch belangt wurden, verlor die Regierung in Konstantinopel immer mehr die Kontrolle, statt sie zu vertiefen.112 Die christliche Bevölkerung hatte besonders stark unter den Übergriffen der Ḥamīdiye zu leiden, was nach Janet Klein eng mit der sogenannten Landfrage zusammenhing: Im 19. Jahrhundert wandelte sich die Weidewirtschaft in Ostanatolien zur Agrarwirtschaft, welche die Sesshaftwerdung der Nomaden bedingte. Diese soziale und ökonomische Veränderung führte zu einem Kampf um Ressourcen, insbesondere um Land und Vieh. Dabei machten 11 Cf. Gaunt, Inter-Religious Violence, 257; Gaunt, Relations, 256. 1 112 Cf. Fenz, Hamidiye-Milizen, 111–123; Klein, Margins of Empire, 20–127 (Kleins Monographie ist die derzeit umfassendste Studie zu den ḤamīdiyeRegimentern). Die Ḥamīdiye-Regimenter waren dem Kommandeur der vierten osmanischen Armee in Erzurūm verantwortlich, nicht den zivilen Behörden. Dieses Amt hatte Ẕekī Pascha, der Schwager von ʽAbdülḥamīd II., inne. Er unterstand direkt der Regierung in Istanbul und nicht dem Provinzgouverneur. Die lokale Verwaltung hatte daher keine Möglichkeiten, die Aktivitäten der Ḥamīdiye einzudämmen (cf. McDowall, A Modern History, 60).

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sich die Oberhäupter von Ḥamīdiye-Clans ihre privilegierte Position zunutze, um sich den Besitz ihrer schwächeren Nachbarn – Christen wie Muslimen – anzueignen. Sie setzten hierzu verschiedene Mittel ein, von denen der unverhohlene Einsatz von Gewalt und Drohungen sowie die Durchführung von Überfällen das meiste Aufsehen erregten.113 Obwohl von dem Vorgehen der Ḥamīdiye-Anführer auch sesshafte Kurden betroffen waren, entwickelte sich zunehmend ein Konflikt zwischen Kurden und Armeniern um die Ressourcen der Region, wenngleich diese Auseinandersetzung nicht auf sämtliche Angehörige der beiden Gruppen verallgemeinert werden darf.114 Neben der armenischen Landbevölkerung waren auch die ostsyrischen Christen im Hakkārī-Gebiet von den Übergriffen der Ḥamīdiye betroffen. Selbiges gilt für die Ostsyrer im iranischen Urmia, wo der Einfluss der Teheraner Regierung ebenfalls gering war.115 Die Berichte europäischer Missionare zeugen von diesen Überfällen auf die ostsyrischen Christen und die daraus resultierende Situation permanenter Unsicherheit. So brachte William Ainger Wigram am Beginn des 20. Jahrhunderts die Folgen der Einrichtung der Ḥamīdiye-Regimenter auf das bis dahin herrschende Verhältnis zwischen kurdischen und ostsyrischen Clans zum Ausdruck: “Still, among the ashirets who carried arms, whether Christian or Moslem, the position was by no means intolerable a generation ago. Besides it was extremely picturesque. The various tribes fought one another freely; and of course the feuds usually, though not always, followed the religious and racial line of division. Still, arms were approximately equal; and the Christians, though outnumbered, had strong positions to defend, and were of good fighting stock, as men of Assyrian blood should be. So, until Abdul Hamid’s day, the parties were fairly matched on the whole; […] Of late years things have changed for the worse in this respect. […] the free distribution of rifles among the Kurds has done away with all the old equality. This was done, when the late Sultan raised the ‘Hamidie’ battalions; partly for the defence of his throne, partly perhaps with the idea of keeping the Christians in subjection. Now when to odds in numbers you add the additional handicap implied in the difference between Mauser and flint-lock, the position becomes impossible; and the balance has since inclined steadily against the Christian tribes.”116

13 Cf. Klein, Margins of Empire, 128–169. 1 114 Cf. ead., Conflict and Collaboration. 115 Cf. Joseph, Modern Assyrians, 124–126. 116 Wigram/Wigram, Cradle of Mankind, 167–168.

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Vor allem aber zählten die Ḥamīdiye zu den Hauptakteuren der Massaker an den Armeniern in den Jahren 1894 bis 1896, die insgesamt etwa 100.000 direkte Todesopfer forderten.117 Während viele Armenier versuchten, sich ihrem Schicksal durch Konversion zum Islam zu entziehen,118 nutzten die kurdischen Ḥamīdiye die Massaker und die anhaltende Einschüchterung in den nachfolgenden Jahren, um sich das Land und den Besitz der betroffenen Armenier zu eigen zu machen.119 Aufgrund der innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen wurde die Gesellschaft Ostanatoliens immer stärker religiös polarisiert. Folglich waren nicht nur die Armenier von den Massakern der Jahre 1894 bis 1896 betroffen, sondern auch syrische Christen.120 Hier lässt sich eine längere Entwicklung feststellen, denn ein Bericht von syrisch-orthodoxer Seite an die osmanische Regierung aus dem Jahr 1878 über Überfälle kurdischer Krieger auf Dörfer bei Midyāt legt laut Emrullah Akgündüz nahe, dass die Spannungen zwischen Armeniern und Muslimen auf die syrisch-muslimischen Beziehungen übergegangen seien, allerdings weniger gewaltsam.121 Gleichwohl setzte der syrisch-orthodoxe Klerus angesichts der zunehmenden Gewalt auf Kooperation mit den osmanischen Behörden, um die Ausschreitungen einzudämmen. Davon zeugt etwa ein Telegramm von Patriarch ʽAbdülmesīḥ II. (1895–1905) aus dem Jahr 1895 an ­Sultan ʽAbd­ülḥamīd II., in dem das Kirchenoberhaupt um den Schutz seiner Gemeinschaft vor der Armenier-Verfolgung bat. Der Sultan soll dieser Bitte in einem daraufhin ausgestellten fermān entsprochen haben.122 Die direkte Betroffenheit von ostsyrischen Christen spiegelt sich in einem osmanischen Bericht wider, in dem erwähnt wird, dass in einem Dorf neben Armeniern auch ostsyrische Christen („Nestorianer“) zum Islam konvertiert seien, um den Massakern zu entgehen.123 17 Cf. Duguid, Politics of Unity, 148–151; Kieser, Der verpasste Friede, 147–152. 1 118 Cf. Deringil, The Armenian Question, bes. 351–371. 119 Cf. Klein, Conflict and Collaboration, 158–161; Klein, Margins of Empire, 143–152. 120 Cf. Kaufhold, Zeitgenössische syrische Berichte. 121 Cf. Akgündüz, Some Notes on the Syriac Christians, 235. 122 Cf. Akgündüz, Some Notes on the Syriac Christians, 235–236; cf. auch Barsoum, History of Tur Abdin, 135–136. 123 Cf. Deringil, Armenian Question, 356.

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In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts waren die ostsyrischen Christen ebenfalls den Übergriffen von Ḥamīdiye-Milizen ausgeliefert. Der Bericht eines britischen Missionars vom Beginn des 20. Jahrhunderts über den ostsyrischen Priester des Dorfes Tōni, der seinen rechten Arm nicht mehr einsetzen könne, nachdem er von einem Kurden angeschossen worden sei,124 scheint überdies mit der Landnahme durch Kurden in dieser Zeit zusammenzuhängen. Tōni wurde ursprünglich von armenischen und ostsyrischen Christen besiedelt, die vom wirtschaftlichen Niedergang infolge der Massaker von 1895/96 betroffen waren. Um Steuerschulden zu tilgen, musste die verarmte Bevölkerung Ackerflächen an die Agrarbank verpfänden, die dann von Kurden erworben wurden. Im Falle des Dorfes Tōni tat sich dabei im Spätsommer 1902 insbesondere ein kurdischer ḤamīdiyeOffizier namens Niʽmat Aġā hervor, gegen den sich der zuständige Gouverneur – trotz einer Intervention des britischen Konsuls – erst 1904 zu einem entschiedenen Vorgehen durchrang. Niʽmat Aġā musste das Dorf daraufhin verlassen.125 Es ist naheliegend, dass die wenige Jahre später von dem britischen Missionar berichtete Verletzung des ostsyrischen Priesters sich während dieses Konflikts zwischen Kurden und christlichen Dorfbewohnern in Tōni ereignete. Insgesamt ist also festzuhalten, dass die unterschiedlichen Versuche der Regierung in Konstantinopel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine effektive Kontrolle über die ostanatolischen Provinzen zu erlangen, nicht die gewünschten Ergebnisse erzielten. Nachdem die Regierung die althergebrachten Machtstrukturen in den 1830er und 1840er Jahren zerschlagen hatte, gelang es ihr nicht, eine flächendeckend funktionierende Verwaltung zu etablieren. Das Resultat war eine zunehmende Gesetzlosigkeit in Ostanatolien, wobei die Konfliktlinien tendenziell zwischen den Religionsgemeinschaften verliefen, wenngleich es auch hier Ausnahmen gab. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den ostsyrischen Christen und den Kurden markieren die Massaker durch Bedīrḫān Bey einen Wendepunkt, der den traditionellen Modus vivendi zwischen den beiden Gruppen beendete. Diese Massaker sind nur vor dem Hintergrund der 24 Cf. Heazell/Margoliouth, Kurds & Christians, 177–178. 1 125 Cf. Wießner, Hayoths Dzor, 50–52; zum Vorgehen Niʽmat Aġās cf. auch Klein, Margins of Empire, 150.

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osmanischen Zentralisierungspolitik in der Tanẓīmāt-Zeit zu verstehen. Die Berichte der Missionare zeigen deutlich, dass im Siedlungsbereich der ostsyrischen Christen Initiativen ergriffen wurden, verschiedene Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen, um letztlich die Autorität der Zentralregierung in der Region durchzusetzen. Derartige Maßnahmen der Osmanen sind während der Tanẓīmāt-Zeit auch aus anderen Gebieten bekannt. Die wachsenden Spannungen zwischen ostsyrischen Christen und Kurden seit dem 19. Jahrhundert dürften dazu beigetragen haben, dass sich während des Ersten Weltkriegs Kurden an den Massakern gegen die ostsyrische Bevölkerung und der Vertreibung der Überlebenden aus ihrer Herkunftsregion beteiligten. Zwar gab es auch hier wieder Kurden, die ostsyrische Christen vor der Verfolgung beschützten, nachdem sich ein Zusammenleben der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen aber immer schwieriger gestaltet hatte, bot sich vielen Kurden die Möglichkeit, sich der Ostsyrer zu entledigen und sich ihren Besitz anzueignen. Eine genauere Untersuchung dieser Vorgänge steht aber noch aus. Vielleicht bietet der vorliegende Beitrag einen Ansatz für weitergehende Studien in diesem Bereich.

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1 Literatur- und Archivlage West- und ostsyrische Christen beziehen sich entweder auf regionale Ereignisse in den osmanischen Provinzen Diyarbakır, Van und Bitlis oder in der iranischen Region Urmia. Zwei der drei ereignisnah veröffentlichten Sammlungen von Berichten über Massaker im Südwesten der Türkei während der Jahre 1914–1916 wurden von Vertretern der syrisch-orthodoxen und -katholischen Kirchen gesammelt und post mortem in Deutschland und den Niederlanden veröffentlicht, wo sich durch Immigration zahlenmäßig große Gemeinschaften von Flüchtlingen gebildet hatten: a) Der aramäische Autor und Gelehrte ʿAbdulmesih Naʿman Qarabashi2 war ein Zeitzeuge des Völkermords. Im Alter von nur 15 Jahren sammelte er die Berichte von Überlebenden der Massaker, die reguläre osmanische Einheiten sowie kurdische Irreguläre im Tur Abdin begangen hatten.3 1 Ich verwende die Formulierung „aramäischsprachige Christen“ als Sammelbegriff für aramäischsprachige Angehörige sämtlicher Konfessionen syrischer Tradition, unterscheide aber im Weiteren zwischen Ost- bzw. Westsyrern oder, entsprechend den Eigenbezeichnungen, zwischen Aramäern und Assyrern. 2 Sein aramäischer Name lautet ᶜbeḏ mšiḥo Naᶜmān Qarabāši. 3 Deutschsprachige Ausgaben von ʿAbed Mschiḥo Na’man Qarabaschis Berichten: Vergossenes Blut (1997); Dmo zliho (1999); Vergossenes Blut (2002).

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b) Eine Sammlung von Berichten, die der Erzpriester Sleman d’Beth Henno [Hannah] aus Arkah unter den Überlebenden in seiner Gemeinde gesammelt hatte, erschien zunächst 1977 auf Aramäisch (Gunḥe d-ṬurʿAbdin) und seit 1987 in zwei deutschen Übersetzungen.4 Eine türkische Übersetzung wurde 1993 in Athen veröffentlicht.5 c) Bereits 1919 erschien eine Sammlung des katholischen Mönchs Ishaq/ Ishoq [Isaac] (Bar) Armalto in arabischer Sprache6, die sich auf Ereignisse in Mardin 1885 sowie 1914–1918 bezieht. d) Eine vierte Sammlung von Augenzeugenberichten syrisch-orthodoxer Kleriker und Laien erschien in den Niederlanden in deutscher Übersetzung unter dem Titel Seyfe und enthält hauptsächlich gereimte Beschreibungen der Massaker.7 Zeitgenössische Berichte über die Ostsyrer „oder die assyrischen Leiden in der Provinz Van und im Iran“ wurden bereits während des 1. Weltkrieges von Ostsyrern und ausländischen Augenzeugen veröffentlicht. Kapitel IV („Aserbaidschan und Hakkari“) des 1916 von Viscount Bryce herausgegebenen britischen „Blaubuchs“8 umfasst Ereignisse, die hauptsächlich im Zusammenhang mit den Assyrern stehen. Als Sekundärliteratur sind vor allem die vier Bände der Dissertation des assyrischen Gelehrten Joseph Yacoub9 zu nennen, die die erste umfassende wissenschaftliche Untersuchung überhaupt darstellt, und aus neuerer Zeit je eine Monographie des schwedischen Historikers David Gaunt10 sowie des australischen Historikers und Menschenrechtlers Racho Donef11; letztere bezieht sich allerdings nicht auf den hier erörterten Zeitraum, sondern die Jahre 1924 und 1925.

Die neuere Ausgabe Henno, Verfolgung. 4 5 Hinno, Farman. 6 Armalet, Calamités. – Eine deutsche Übersetzung wird an der Forschungsstelle für Aramäische Studien der Goethe-Universität Frankfurt/Main erarbeitet. 7 Seyfe: Das Christen-Massaker in der Türkei, 1714–1914, Glane/Losser1981. – Cf. ferner die Buchfassung der Dissertation von Courtois, Forgotten Genocide; als zeitgenössische Veröffentlichung cf. auch Nayeem, Nation, aufrufbar unter http://www.aina.org/books/stnd.htm (acc. 10.08.2017). 8 Bryce, Treatment. 9 Yacoub, Question Assyro-Chaldéenne; cf. auch Yacoub, Assyrian Question. 10 Gaunt, Massacres. 11 Donef Massacres and deportations.

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Der französisch-armenische Historiker Raymond Kévorkian hat dankenswerterweise in seiner monumentalen, auf die Dokumentationen und Recherchen des armenisch-apostolischen Patriarchats zu Konstantinopel gestützten Geschichte des Genozids an den Armeniern auch die Verfolgung aramäischsprachiger Christen dokumentiert.12

2 Die Ereignisse im Iran und im Osmanischen Reich: Ereignishistorische Zusammenfassung und Analyse 2.1 Iran Massaker und andere Verbrechen an einheimischen und in den Iran geflüchteten osmanischen Christen erfolgten vor dem Hintergrund russisch-osmanischer Vormachtkämpfe um den Nordwest-Iran. In der iranischen Provinz Aserbaidschan wurden Christen zwei Mal, am Beginn und Ende des Ersten Weltkriegs, Opfer osmanischer Invasoren in dieser Region. Als die Türken vom Rückzug der russischen Truppen aus dem Iran Ende 1914 erfuhren, besetzten die 36. und 37. Divisionen der osmanischen Armee Nordwest-Iran. Während der folgenden Besatzung massakrierten reguläre und irreguläre osmanische Truppen zusammen mit muslimischen Einheimischen fünf Monate lang ostsyrische und armenische Gemeinden in der Region des Urmia-Sees. Siebzig Dörfer wurden dabei zerstört. In genozidalen Situationen spielt das Verhalten der designierten Oper typischerweise keine Rolle. So berichteten Augenzeugen auch aus dem türkisch besetzten Iran, dass Widerstand oder Ergebung der Christen gleichermaßen tödlich endeten: “In some cases safety was brought by professing Mohammedanism, but many die as martyrs of the faith. In several places the Christians defended themselves, but the massacring was not confined to them. Villages that deliberately gave up their arms and avoided any conflict suffered as much as those that fought”.13

Die wenigen ausländischen Hilfsstationen, bei denen im Herbst 1914 erst an die 25.000 armenische und aramäischsprachige Christen Zuflucht gesucht hatten, später weitere bis zu 50.000 Christen aus der osmanischen 2 Kévorkian, Armenian Genocide. 1 13 Statement by the Rev. William A. Shedd, D.D., of the American (Presbyterian) Mission Station at Urmia, zitiert nach Bryce, Treatment, 102.

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Provinz Van14, waren völlig überfordert. Tausende von Flüchtlingen waren dem Hungertod ausgesetzt oder lebten von der Hand in den Mund. Der Direktor der US-Mission in Urmia, Pfarrer Dr. William A. Shedd, hob hervor, dass die türkischen Truppen an regelrechten Massakern teilgenommen hatten, und nannte genaue Beispiele für seine Anschuldigung. Shedds frühe Berichte über Ereignisse der Jahre 1914–15 wie auch die Aussagen anderer US-amerikanischer Missionsangehöriger erschienen bereits 1916 im britischen „Blaubuch“. Russland hielt seit 1909 die iranischen Städte Täbris, Urmia und Choj besetzt. Als Anfang Oktober 1914 osmanische Streitkräfte Grenzzwischenfälle in der Region provozierten und die muslimische Bevölkerung zu Angriffen auf Urmia ermutigten, vertrieben im November 1914 die russischen Besatzer Kurden und andere sunnitische Muslime aus den Dörfern in der Umgebung Urmias und statteten gleichzeitig Teile der christlichen Bevölkerung mit Waffen aus. “The Turks in response expelled several thousand Christians from adjoining regions in Turkey. These refugees were settled in the villages vacated by the Sunni Moslems who had been expelled.”15 Anschließend nahmen iranische Muslime blutige Rache an den Christen, als sie während der türkischen Besetzung dazu Gelegenheit bekamen. Pfarrer Shedd resümierte in einem Bericht hinsichtlich der ethnisch-religiösen Schuldanteile: “There is no class of Mohammedans that can be exempted from blame. The villagers joined in the looting and shared in the crimes of violence, and Persians of the higher class acquiesced in the outrages and shared in the plunder. The Kurds were in their natural element. The Turks not only gave occasion for all that happened, but were direct participants in the worst of crimes. (On the other hand, individuals of every class deserve credit. (There were many villagers who showed only kindness. The Persian Governor made it possible, by his co-operation, for the American missionaries to do what they did; the Kurds responded to appeals for mercy and, in some cases, returned captive girls unsolicited and did other human service.) A few individual Turkish officers and a number of their soldiers took strong measures to keep order. One such officer saved the city (Urmia; TH) from loot when riot had already begun. There were various causes; jealousy of the greater prosperity of the Christian population was one, and political animosity, race hatred and religious fanaticism all had a part. There was a definite and

4 Statement by the Rev. William A. Shedd, zitiert nach Bryce, Treatment, 104. 1 15 Bryce, Treatment, 100.

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determined purpose and malice in the conduct of Turkish officials. It is certainly safe to say that a part of this outrage and ruin was directly due to the Turks, and that none of it would have taken place except for them.”16

Am 21. Februar 1915 nahmen die türkischen Militärbehörden in Urmia 61 führende Assyrer als Geiseln aus der Französischen Mission und forderten enorme Lösegelder für ihre Freilassung. Allerdings hatte die Mission nur so viel Geld, um die Osmanen zu überzeugen, 20 der Männer zu befreien. Nach grausamsten Folterungen wurden die übrigen 41, darunter der assyrische Bischof von Tergawar, Mar Dencha, am nächsten Tag ermordet, indem ihre Köpfe in aller Öffentlichkeit abgeschnitten wurden. Ein türkischer Vorstoß zur Einnahme der Stadt Choj, der von Cevdet Bey, dem Schwager des Kriegsministers Enver geführt wurde, scheiterte. Vielleicht zur Vergeltung für den Fehlschlag ordnete Cevdet Anfang März 1915  „die kaltblütige Ermordung von etwa 800 Menschen – meist alte Männer, Frauen und Kinder – im Bezirk Salmas (…)“ an.17 Am 25. Februar 1915 stürmten osmanische Truppen das Bezirkszentrum Salmas (Salamas) sowie Gulpaschan, „the largest and wealthiest Syrian village“18 in der Region Urmia. Fast alle Männer aus Gulpaschan wurden gefesselt und auf dem Friedhof abgeschlachtet. In Salmas schützten türkische Zivilisten aus dem Ort 725 armenische und assyrische Flüchtlinge. Trotzdem stürmte der Kommandeur der Division die Häuser, obwohl sich auch Türken darin befanden, und ließ sämtliche Männer in großen Gruppen fesseln und trieb sie auf die Felder zwischen Chusrawa und Haftewan. Die Männer wurden erschossen oder auf andere Weise getötet, nachdem sie Erklärungen unterschrieben hatten, dass ihnen eine „freundliche Behandlung zuteil geworden“19 sei. Allein im Winter 1915 starben 4.000 Assyrer an von türkischen Soldaten eingeschleppten Seuchen, vor allem Typhus, sowie an Hunger und Erschöpfung. Etwa eintausend weitere wurden in den völlig ungeschützten

6 Bryce, Treatment, 104. Hervorhebung v. Tessa Hofmann. 1 17 Walker, Armenia, 205, übers. von Tessa Hofmann; Walker stützt sich hier auf den Bericht des Pfarrers und Missionars zu Urmia, Shedd; cf. Bryce, Treatment, 13. 18 Brief des Pfarrers Robert M. Labaree vom 12. März 1915 an seine Mutter, zitiert nach Bryce, Treatment, 110. 19 Tamcke, Genozid, 108, übers. von Martin Tamcke.

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Dörfern der Urmia-Region getötet. Wie die übrigen nichtmuslimischen Bürger des Osmanischen Reiches wurden auch die Assyrer sowohl im Osmanischen Reich als auch im besetzten Iran zur Zwangsarbeit herangezogen und dann getötet. Assyrische Männer aus Gawar (Provinz Hakkari), die Rollen von Telefondraht über die Grenze tragen mussten, wurden während ihrer Haft in Urmia ohne Nahrung gelassen und auf ihrem Rückweg in das Dorf Ismael Aghas Kala ermordet.20 Siebzig Leichen blieben dort für sechs Monate unbestattet und wurden schließlich von dem amerikanischen Missionar E.T. Allen begraben, der den Vorgang in einem Brief vom 8. November 1915 beschreibt. Derselbe Missionar bestatte auch 40 assyrische Opfer in Tscharbasch, darunter einen Bischof sowie 51 Opfer in Gulpaschan: “These 161 persons, which I buried, have been killed in the most cruel way, by regular Turkish army troops and assisted by the Kurds under their command.”21 In Diliman wurden alle Männer über zwölf Jahren getötet, während die Frauen zum Islam konvertieren mussten und zwangsweise mit muslimischen Männern verheiratet wurden. Die verwaisten und völlig traumatisierten Kinder wurden kurdischen Familien übergeben. Im Jahresbericht 1915 der medizinischen Abteilung von Urmia an die Leitung der ausländischen Missionen der presbyterianischen Kirche der USA heißt es in diesem Zusammenhang: “One of the most terrible things that came to the notice of the Medical Department was the treatment of Syrian women and girls by the Turks, Kurds and local Mohammedans. After the massacre in the village of …, almost all women and girls were outraged, and two little girls, aged eight and ten, died in the hands of Moslem villains. A mother said that not a woman or girl above twelve (and some younger) in the village of … escaped violation. This is the usual report from the villages. One man, who exercised a great deal of authority in the northern part of the Urmia plain, openly boasted of having ruined eleven Christian girls, two of

20 Cf. Urmia: Extracts from the Annual Report (for the Year 1915) Presented by the Medical Department at Urmia to the Board of Foreign Missions of the Presbyterian Church in the U.S.A., in: Bryce, Treatment, 162; cf. ibid. die Zeugenaussage von Überlebenden des Massakers bei Ismael Agha’s Kala im Schreiben von Pfarrer E.T. Allen vom 8. November 1915. Der Ortsname Ismael Aghas Kala (Ismael Aghas Festung) bezieht sich auf eine neue Siedlung für Christen, die vor den Massakern von 1895/96 aus dem Osmanischen Reich geflüchtet waren. Cf. Gaunt, Massacres, 137 u. Fußnote 48. 21 Bryce, Treatment, 163.

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them under seven years of age, and he is now permitted to return to his home in peace and no questions are asked. Several women from eighty to eighty-five years have suffered with the younger women.”22

Anfang 1918 begannen erneut viele Assyrer aus dem Osmanischen Reich zu flüchten. Der charismatische ostsyrische geistige und nationale Führer, der Katholikos-Patriarch Mar Binjamin Schimon XXI., hatte es erreicht, dass sich 3.500 Assyrer im Bezirk Choj niederlassen konnten. Doch bald nach ihrer Ankunft massakrierten kurdische Hilfstruppen der Osmanischen Armee diese Bevölkerung fast vollständig. Allein am 3. März 1918 metzelten osmanisch-kurdische Einheiten 2.270 Assyrer in Choj nieder. Gleichzeitig sammelten die Türken die restlichen Christen des Bezirks Salmas, etwa 800 alte Männer, Frauen und Kinder, und schlachteten sie ab, angeblich im Auftrag von Cevdet, bevor dieser sich wieder vor den vorrückenden Russen zurückzog.23 Patriarch Mar Binjamin Schimon wurde heimtückisch vom kurdischen Stammesführer Simko ermordet, während sich der Patriarch mit diesem traf, um eine gemeinsame Verteidigungslinie für die Entente zu erörtern.

2.2 Osmanisches Reich In dem an den Iran angrenzenden osmanischen Bezirk Hakkari kam es bereits im Oktober und November 1914 zu ersten Massakern an aramäischsprachigen Christen. Am 30. Oktober 1914 wurden 71 Männer aus Gawar verhaftet und in die regionale Hauptstadt von Başkale (auch Bashkallah, Pashqala; kurdisch Elblak, auch Albak) überführt, wo sie getötet wurden. In Reaktion auf wiederholte Massaker an Christen in den Dörfern um Başkale bzw. Albak ab Mitte November 1914 und unter dem Druck der assyrischen Stammesführer (Maliken) erklärte Patriarch Mar Binjamin am 10. Mai 1915 dem Osmanischen Reich förmlich den Krieg, wie ihn auch eine große Stammesversammlung bereits am 18. April 1915 beschlossen hatte.24 Dies rief eine Strafexpedition türkischer Truppen und kurdischer Freiwilliger hervor.

2 Zitiert aus Bryce, Treatment, 161. 2 23 Tamcke, Genozid, 109. 24 Cf. Stafford, Tragedy, 25; ebenso Yonan, Assyrer, 30.

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Im Februar 1915 löste Cevdet „den schlauen und angeblich philo-armenischen Tahsin Hassan“25 als Gouverneur der Provinz Van ab. Im April 1915 umzingelten während der Vernichtung der Gawar-Region und der Tötung ihrer syrischen Bevölkerung kurdische Freischärler das Dorf Tel Mozilt und inhaftierten 475 Männer, die am nächsten Morgen erschossen wurden. Zwischen den Kurden und den osmanischen Beamten entbrannte ein Streit darüber, was mit den zurückgelassenen Frauen und Waisen geschehen solle. Am Ende entschied die Armee, auch diese zu töten. Nachdem er Ende Mai 1915 von den vorrückenden Russen aus der Provinz Van vertrieben worden war, floh Cevdet zusammen mit seinen 8.000 Freischärlern, den „Metzger-Einheiten“ (kasaplar taburu), nach Süden, gefolgt von General Halil (dem Onkel des Kriegsministers Enver) und einem Heer von 18.000 Mann.26 Bei der Ankunft in der Kreisstadt Sa’irt (auch Sahirt, Siirt, Seerd, Srerd) in der osmanischen Provinz Bitlis begingen sie, zusammen mit lokalen kurdischen Stämmen, ein allgemeines Blutbad in Sa’irt und seiner Umgebung, das einen Monat dauerte. In diesem Sandschak oder Bezirk lebten etwa 60.000 Christen (25.000 Armenier, 20.000 Syrisch-Orthodoxe, 15.000 Chaldäer). Rund 70.000 osmanische Ostsyrer flüchteten in den benachbarten Iran, von wo aus ein Teil dieser Menschen durch ihre russischen Verbündeten in den Kaukasus deportiert wurde. Die restlichen flohen unter enormen Verlusten an Menschenleben infolge fortgesetzter kurdischer Angriffe Richtung Hamadan, um Zuflucht bei den Briten zu suchen. Bis Mitte 1918 hatte die britische Armee die Osmanen überredet, ihnen Zugang zu den verbliebenen etwa 30.000 Assyrern aus verschiedenen Teilen des Iran zu gewähren. Die Briten entschlossen sich, diese 30.000 Assyrer aus dem Iran nach Bakuba im Irak zu überführen. Obwohl der Transfer nur 25 Tage dauerte, starben unterwegs mindestens 7.000 Deportierte. 2.000 weitere kamen während der folgenden zwei Jahre in den elenden Lagern von Bakuba um, die von den Briten im Jahre 1920 endgültig geschlossen wurden. Die Mehrheit der Ostsyrer entschied daraufhin, in ihre Heimat in den Bergen Hakkaris zurückzukehren, während die übrigen über den

5 Walker, Armenia, 206, übers. von Tessa Hofmann. 2 26 http://net.lib.byu.edu/~rdh7/wwi/1915/bryce/a04.htm (acc. 10.08.2017).

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Irak zersiedelt wurden. Aber die Rückführung nach Hakkari scheiterte am starken Widerstand der Kurden. Heute lebt kein einziger Gläubiger der Apostolischen Kirche des Ostens mehr in der alten Heimat in der Südost-Türkei. Die materiellen Zeugnisse und Architekturdenkmäler ihrer bedeutenden frühchristlichen Kultur wurden systematisch vernichtet. Die überlebenden Ostsyrer verteilten sich über mehrere Staaten des Nahen und Mittleren Osten, wo ihre Existenz auch gegenwärtig bedroht ist, wie die jüngsten Entwicklungen im Irak beweisen. Die meisten osmanischen Aramäer oder Westsyrer lebten in der Provinz Diyarbakır, regiert im Jahr 1915 von Dr. Mehmet Reşid Şahingiray, einem notorischen Christenhasser. Es gibt mehrere Sammlungen von zeitgenössischen Berichten darüber, was mit den ortsansässigen Christen sowie mit jenen Armeniern geschah, die 1915 in Konstantinopel verhaftet wurden und aus Angora (Ankara) in die Provinz Diyarbakır verlegt worden waren. In seinem sogenannten „Geheim-Bericht“ widmete der deutsche evangelischen Missionar Dr. Johannes Lepsius ein Kapitel der Provinz Diyarbakır, wenn auch nur auf drei Druckseiten.27 Dort lesen wir, dass sich die Bevölkerung – 471.000 Einwohner – zu zwei Dritteln aus Muslimen zusammensetzte, bestehend aus 200.000 Kurden und 63.000 Türken, und zu einem Drittel aus Christen – bestehend aus 105.000 Armenier und „60.000 syrischen Christen (Syrisch-Orthodoxen, Nestorianer und Chaldäer)“.28 Ab Sommer 1914 wurden die männlichen nichtmuslimischen Bürger des Osmanischen Reiches in sogenannte Arbeitsbataillone der osmanischen Streitkräfte rekrutiert, wo sie unbewaffnet unter extrem harten Bedingungen als Lastträger oder beim Straßenbau arbeiten mussten, sodass viele ihrer Erschöpfung erlagen. Am 5. März 1915 wurde der aus Diyarbakır stammende Westsyrer ʿAbdulmasih Naʿman Qarabashi in ein Bataillon eingezogen, das 1.100 Männer umfasste und an der Landstraße von Diyarbakır nach Aleppo arbeitete. Nach seiner Darstellung steigerten sich die Drangsalierungen von Tag zu Tag, mit Bastinaden und anderen

27 Lepsius, Bericht. Spätere Ausgaben erschienen unter dem Titel „Der Todesgang des armenischen Volkes in der Türkey während des Weltkrieges.“ 28 Lepsius, Todesgang, 74.

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Misshandlungen. Die Gewalt eskalierte bis Ende März 1915 in sporadischen Morden von Wehrpflichtigen.29 In der Provinz Diyarbakır und anderswo im Osmanischen Reich war es gängige Praxis, dass die Behörden während des Genozids an den osmanischen Christen deren wertvolle und heilige Bücher sowie Handschriften vernichteten. Eines von vielen Beispielen ist die Zerstörung der Bibliothek des Addai Scher, des chaldäischen Bischofs von Sa’irt, im Juli 1915, die Tausende von Büchern zählte. Die Bibliothek der Kirche des Heiligen Johannes in Mardin wurde gleichfalls beschlagnahmt und die Bücher an Geschäfte in Mardin verteilt oder praktisch ohne Gegenwert verkauft. Ein Lehrer des syrisch-orthodoxen Klosters Deyrulzafaran erwähnt in seinen Memoiren, dass die Regierung bestimmten kurdischen Stämmen quasi einen Freibrief ausstellte, um die Christen anzugreifen. Mor Gabriel, das zweite wichtige syrisch-orthodoxe Kloster im Tur Abdin, wurde im Herbst 1917 von dem kurdischen Räuber Sendi angegriffen, der auch seine Einwohner massakrieren und die Bibliothek vernichten ließ.30 Im Frühjahr 1915 richtete Gouverneur Reşid Bey eine Kommission „zur Erforschung der armenischen Frage“ ein. Ihr stand ein gewisser Bedri Bey vor, der einem möglichen armenischen Widerstand durch die Verhaftung von wirklichen oder mutmaßlichen Mitgliedern der armenischen Partei Daschnakzutjun zuvorzukommen versuchte, 27 Personen insgesamt, darunter ein Geistlicher. Alle 27 Verhafteten wurden gefoltert und anschließend ermordet. Bei solchen Verhaftungen und gruppenweisen Morden waren von Anfang an auch syrische Christen unter den Opfern. Lepsius berichtet: „Zwischen dem 10. und 30. Mai [1915] wurden weitere 1.200 der Angesehensten unter den Armeniern und Syrern aus dem Wilajet [Diyarbakir] verhaftet. Am 30. Mai wurden 674 von ihnen auf 13 Keleks (Flöße, die von aufgeblasenen Schläuchen getragen wurden) geladen, unter dem Vorwande, dass man sie nach Mossul bringen wolle. Den Transport führte der Adjutant des Wali mit etwa 50 Gendarmen. Die Hälfte derselben verteilte sich auf die Boote, während die andere Hälfte am Ufer entlang ritt. Bald nach der Abfahrt nahm man den Leuten alles Geld, ca. 6000 türkische Pfund (110.000 Mark) und die Kleider ab. Dann warf

29 Qarabashi zufolge wurden neun Armenier abgeführt und getötet. Cf. Qarabasch, Dmo zliho, 62, 64–66. 30 Üngör, Persecution, 184.

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man sie sämtlich in den Fluss. Die Gendarmen am Ufer hatten die Aufgabe, alle, die sich etwa durch Schwimmen retten wollten, zu töten. Die Kleider der Ermordeten wurden in Diyarbakir auf dem Markte verkauft.“31

Allen muslimischen Untertanen, die Armenier versteckten, drohte die Todesstrafe. Beamte, die sich weigerten, den Deportationsbefehl der Regierung vom 27. Mai 1915 auszuführen, wurden durch gehorsame Beamte ersetzt: In Mardin wurde der Landrat (mutassarıf), in Midyat32 und Lice die Kreisvorsteher (kaimakam) Beşiri (Sabit Bey) und Nesimi Bey ihres Amtes enthoben und getötet.33 Nach der Entlassung des Landrats von Mardin, so Lepsius, wurden die „ersten 500 und später 300 weitere armenische und syrische Würdenträger nach Diyarbakir geschickt. Die ersten 500 kamen nie in Diyarbakir an; noch hat man etwas über das Schicksal der anderen 300 gehört.“34 Es entging nicht der Aufmerksamkeit des deutschen Vize-Konsuls in Mosul, Walter Holstein, dass sich die Vernichtung in der Provinz Diyarbakır nicht auf die Armenier beschränkte, wie Holstein am 10. Juni 1915 in einer Depesche an die deutsche Botschaft zu Konstantinopel mitteilte.35 Schon drei Tage darauf, am 13. Juni 1915, berichtete der Vize-Konsul, dass sich die Verbrechen zu einer „wahren Christenverfolgung“ ausgeweitet hatten: „Die Niedermetzelung der Armenier im Vilajet Diarbekir wird hier alltäglich bekannter und erzeugt eine wachsende Unruhe unter der hiesigen Bevölkerung, die bei der unverständigen Gewissenlosigkeit und der Schwäche der hiesigen Regierung36 leicht unabsehbare Folgen herbeiführen kann. In den Bezirken

1 Lepsius, Todesgang, 75. 3 32 Telegramm des Vizekonsuls Walter Holstein vom 16. Juli 1915 aus Mosul. PA AA, RAV Konstantinopel, 169, zitiert nach http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-07-15-DE-011 (acc. 10.08.2017). 33 Kieser, Reshid, 265. 34 Lepsius, Todesgang, 76. 35 Cf. Telegramm vom 10. Juni 1915, PA AA, RAV Botschaft Konstantinopel, 169, zitiert nach http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-06-10-DE-011 (acc. 10.08.2017). 36 In der zeitgenössischen deutschen diplomatischen Korrespondenz war mit „Regierung“ meistens die örtliche oder Provinzverwaltung gemeint, im Unterschied zur Zentralregierung in der Hauptstadt Konstantinopel.

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Tessa Hofmann Mardin und Amadia haben sich Zustände zu einer wahren Christenverfolgung ausgewachsen. Daran trägt zweifellos die Regierung die Schuld; Christen sind auch zweifellos hier beinahe vogelfrei; von vielen Fällen sei genannt, dass der hiesige alte und würdige chaldäische Patriarch heute – ich war gerade bei ihm – von einem gewöhnlichen Polizisten mündlich ohne Grundangabe vor das Kriegsgericht citiert wurde. Das ist seitens der Regierung eine kindische Provokation der hiesigen Christenheit. Eine Regierung wie die hiesige, deren Beamte öffentlich mit den gemeinsten Frauenzimmern verkehren und für die Dirnenwünsche ihre Amtstätigkeit beeinflussen, sollte nicht gerade jetzt so provozieren. Falls Centralregierung ihr Programm der Christenverfolgung nicht ändert, werden wir bald überall den hellsten Aufruhr haben. Die Armeniermassacres müssen unbedingt verhindert werden.“37

Einen Monat darauf, am 10. Juli 1915, telegraphierte Holstein aus Mosul: „Der frühere Mutessariff von Mardin, zurzeit hier, mitteilt mir folgendes: Der Vali von Diarbekir, Reschid Bey, wüte unter der Christenheit seines Vilajets wie ein toller Bluthund; er hat vor kurzem auch in Mardin siebenhundert Christen (meistens Armenier), darunter armenischen Bischof in einer Nacht durch aus Diarbekir speziell entsandte Gendarmerie sammeln und in der Nähe der Stadt wie Hammel abschlachten lassen. Reschid Bey fährt fort in seiner Blutarbeit unter Unschuldigen, deren Zahl wie der Mutessariff mir versicherte, heute zweitausend übersteigt. Falls d. Regierung38 nicht sofort ganz energische Maßnahmen gegen Reschid Bey ergreift, wird muselmanische niedere Bevölkerung d. hiesigen Vilajets gleichfalls Christenmetzeleien beginnen. Die Lage hier in dieser Hinsicht wird täglich drohender. Reschid Bey sollte sofort abberufen werden, womit dokumentiert würde, dass die Regierung seine Schandtaten nicht billigt und wodurch allgemeine Erregung hier beschwichtigt werden könnte.“39

Der Vorschlag des Vizekonsuls Holstein führte am 12. Juli 1915 zu einer Protestnote der deutschen Botschaft Konstantinopel gegen die unterschiedslose Christenverfolgung durch den Gouverneur Reşid, die an Innenminister Talaat gerichtet war. Holstein hatte vorgeschlagen, dass

37 PA AA, RAV Botschaft Konstantinopel, 169, http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-06-13-DE-011 (acc. 10.08.2017). 38 Hier ist die osmanische Zentralregierung gemeint. 39 PA AA, RAV Botschaft Konstantinopel, 169, zitiert nach Gust, Völkermord Armeniern, 198; online verfügbar unter http://www.armenocide.net/armenocide/ armgende.nsf/$$AllDocs/1915-07-10-DE-011 (acc. 10.08.2017).

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die Botschaft die Amtsenthebung Reşids fordern solle. Doch der deutsche Protest blieb völlig wirkungslos. Im Gegenteil:  Bereits drei Tage später, am 15. Juli 1915, telegraphierte Holstein, dass das chaldäische Dorf „Feinauruschabur“ [d.i. Faysch Chabur] nahe Dschesire in der Provinz Diyarbakır40 von muslimischen Kurden angegriffen worden sei, die die christliche Bevölkerung abgeschlachtet hätten. Holsteins Schlussfolgerung lautete deshalb: „Solange die Regierung nichts gegen den Vali von Diarbekir unternimmt, werden Massakres fortdauern.“41 Dass die Ereignisse in der Provinz Diyarbakır mehr als nur eine eigenmächtige Initiative eines Provinzgouverneurs bildeten, wird auch aus der Dokumentation des Sleman Henno ersichtlich. Bei der Beschreibung der Ereignisse in Midyat erwähnt er, dass am 22. Juni 1915 der Armeekommandant Rauf Bey folgendermaßen auf Proteste entgegnete:  „All dies geschieht auf Beschluss des Reiches. Wir müssen nach Waffen zu suchen. Falls wir sie finden, werden wir sie beschlagnahmen (…)“.42 Bereits die europäischen und nordamerikanischen Zeitgenossen bezogen sich bei der Bewertung der Verbrechen, die an der aramäischsprachigen Bevölkerung des Osmanischen Reiches und des osmanisch besetzten Iran begangen wurden, auf den Völkermord an den Armeniern, der wegen seiner schnellen und umfassenden Durchführung zur Referenzgröße geworden war. Die Art und Weise, in der die Vernichtung der syrischen Christen durchgeführt wurde, ähnelt in vielen Zügen dem Muster der systematischen Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich: Der Entwaffnung und Tötung der Eliten folgte die Deportation oder Abschlachtung der übrigen Bevölkerung. Nur Kinder unter fünf Jahren wurden verschont, und besonders schöne Frauen. Christliche Geistliche aller Konfessionen lösten offenbar den Blutdurst und die Grausamkeit ihrer Unterdrücker in besonderem Maße aus. Eine Besonderheit bei der Zerstörung der aramäischen Gemeinschaft in der Provinz Diyarbakır und insbesondere im Bezirk von Mardin ist

0 Heute eine Kleinstadt in der nordirakischen Provinz Dohuk. 4 41 PA AA, RAV Botschaft Konstantinopel, 169, zitiert nach http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-07-15-DE-011 (acc. 10.08.2017). 42 Henno, Verfolgung, 77.

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allerdings, dass direkte Tötungen das Hauptvernichtungsmittel bildeten. David Gaunt gelangt zu dem Schluss: “(…) Throughout the broad region, Christian villages were plucked one by one. In these cases, all persons were killed except the few who were taken captive, usually children or young women. In a few villages, the populations were formed into deportation columns, but often they were cut down just outside their own village at the nearest convenient cliff or riverbank. The countryside was turned into one large killing field, with nearly the whole rural Christian population annihilated during the months of June and July. In the towns and cities, the Christian groups were arrested piecemeal.”43

2.3 Ereignisdeutung und Kontextualisierung Die Mehrheit der heutigen Genozidforscher geht von der Annahme aus, dass die Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich eine Folge der Nationalstaatsbildung darstellt, die das Osmanische Reich im frühen 20. Jahrhundert durchlief. Die Frage, welche Rolle in diesem Prozess der Religion zukam, ist dabei meist von nachgeordneter Bedeutung bzw. wird häufig gar nicht erst gestellt. Aber wer so verfährt, klammert möglicherweise nicht nur zentrale Besonderheiten der türkischen Nationalstaatsbildung aus, sondern übersieht auch bis in die Gegenwart wirkmächtige Spezifika des türkischen Nationalismus und der nationalen türkischen Identität. Vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Urmia-Ebene während der türkischen Besatzung 1915 notierte ein US-amerikanischer Missionar am 23. Januar 1915 in sein Tagebuch: “Most of the Kurds have left, but the Syrians are unarmed, and, just as from the beginning, their Moslem neighbours are their greatest enemies. If it isn’t a Djihad (Holy War), it is very near it. It must have been planned beforehand, for there has been concerted action from one end of the [Urmia; TH] plan to the other, though here and there some Moslems have been friendly throughout, have done many kindly deeds and saved many lives.”44

Betrachtet man also die Wahrnehmung sowohl zeitgenössischer europäischer und amerikanischer Beobachter, als auch der von Verfolgungen, wirtschaftspolitischen Repressionen und Boykotten sowie schließlich von Deportationen und Massakern betroffenen christlichen Ethnien im 3 Gaunt, Massacres, 312. 4 44 Bryce, Treatment, 126.

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Osmanischen Reich, dann ergibt sich das Bild einer allgemeinen, von der osmanischen Regierung angestrebten Vernichtung und Ausschaltung nichtmuslimischer ethno-religiöser Gruppen. Der deutsche Botschafter zu Konstantinopel, Hans von Wangenheim, zitiert beispielsweise in seinem Bericht vom 17. Juni 1915 den osmanischen Innenminister mit folgender Vernichtungsabsicht: „Dass die Verbannung der Armenier nicht allein durch militärische Rücksichten motiviert ist, liegt zutage. Der Minister des Innern Talaat Bey hat sich hierüber kürzlich gegenüber dem zur Zeit bei der Kaiserlichen Botschaft beschäftigten Dr. Mordtmann ohne Rückhalt dahin ausgesprochen, dass die Pforte den Weltkrieg dazu benutzen wollte, um mit ihren inneren Feinden – den einheimischen Christen – gründlich aufzuräumen, ohne dabei durch die diplomatische Intervention des Auslandes gestört zu werden; das sei auch im Interesse der mit der Türkei verbündeten Deutschen, da die Türkei auf diese Weise gestärkt würde.“45

Wangenheims amerikanischer Kollege Henry Morgenthau äußerte sich ähnlich in seinen zeitnah 1919 veröffentlichten Memoiren: “The Armenians are not the only subject people in Turkey which have suffered from this policy of making Turkey exclusively the country of the Turks. The story which I have told about the Armenians I could also tell with certain modifications about the Greeks and the Syrians. Indeed the Greeks were the first victims of this nationalizing idea”.46

Der Venezolaner Rafael de Nogales, der im Ersten Weltkrieg als Söldner für die Osmanen kämpfte, wobei er unter anderem die Belagerung des Armenierviertels der Stadt Van im Frühjahr 1915 leitete, gewann 1915 während des anschließenden Rückzugs vor den vorrückenden Russen direkte und umfassende Kenntnis von den Vergeltungsaktionen der regulären und irregulären osmanischen Streitkräfte an den indigenen Christen der Provinzen Van, Bitlis und Diyarbakır. Er spricht gleichwohl in seinen ebenfalls ereignisnah veröffentlichten Erinnerungen von einer vorsätzlichen, staatlich gelenkten Vernichtung der christlichen Bürger des Osmanischen Reiches:

45 PA AA, RAV Botschaft Konstantinopel, R 14086, zitiert nach Gust, Völkermord Armeniern, 170-171; online verfügbar unter http://www.armenocide.net/ armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-06-17-DE-003 (acc. 10.08.2017). Hervorhebung durch Tessa Hofmann. 46 Morgenthau, Ambassador, 323.

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Tessa Hofmann „Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Metzeleien und Deportationen einem fest vorgezeichneten Plan der rückschrittlichen Partei, mit dem Großwesir Talaat Pascha und seinen Zivilbeamten an der Spitze, entsprungen war, um zuerst mit den Armeniern, dann mit den Griechen und den übrigen Christen des türkischen Reiches aufzuräumen. Den Beweis dafür liefern die Metzeleien von Sairt, Dschesiret und den umliegenden Provinzen, bei denen nicht weniger als 200.000 nestorianische Christen, katholische Syrer, Jakobiten usw. umkamen, die mit den Armeniern nichts zu tun hatten und stets treue Untertanen des Sultans gewesen waren.“47

Der an einer deutschen Realschule in Aleppo unterrichtende Lehrer Martin Niepage erklärte in einer schon 1916 an die deutschen Reichstagsabgeordneten verschickten Schrift das Übergreifen der Armenierverfolgungen auf andere christlichen Ethnien – oder präziser formuliert: andere Glaubensnationen – als Folge des bevölkerungspolitischen Programms der Jungtürken. Aus der Perspektive dieses auf ethnische Homogenisierung, sprich Türkisierung abzielenden Vorhabens seien nur die Muslime für assimilierbar befunden worden: „Dem Jungtürken schwebt das europäische Ideal eines einheitlichen Nationalstaates vor. Die nicht-türkischen mohammedanischen Rassen wie Kurden, Perser, Araber usw. hofft er auf dem Verwaltungswege und durch türkischen Schulunterricht unter Berufung auf das gemeinsame mohammedanische Interesse turkifizieren zu können. Die christlichen Nationen – Armenier, Syrer, Griechen – fürchtet er wegen ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Überlegenheit und sieht in ihrer Religion ein Hindernis, sie auf friedlichem Wege turkifizieren zu können. Sie müssen daher ausgerottet oder zwangsislamisiert werden.“48

Alle hier zitierten Zeitzeugen – die Diplomaten Wangenheim und Morgenthau ebenso wie der Militär Nogales und der Lehrer Niepage – gingen von einer nicht nur die Armenier betreffenden Vernichtungsabsicht des jungtürkischen Kriegsregimes aus. Im Fall der griechisch-orthodoxen Bevölkerung lassen sich Vernichtungsdrohungen seit dem Jahr 1909 nachweisen und wurden spätestens nach den osmanischen Verlusten während der Balkankriege 1913 in die Tat umgesetzt, während Kriegsminister Enver noch am 25. Februar 1915 die ermeni milleti, also die armenisch-apostolische „Glaubensnation“, wegen ihrer patriotischen Pflichterfüllung an der Front in einem Schreiben an den armenischen Patriarchen zu Konstantinopel pries.

7 Nogales, Halbmond, 98. 4 48 Niepage, Wort, 11–12.

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Wie hohl dieses Lob für die traditionell als milleti sadıka (loyale Nation) geltenden Armenier zumindest im Jahr 1915 war, zeigt der Umstand, dass derselbe Enver noch am selben Tag die Entwaffnung der meisten armenischen Soldaten und ihre weitere Verwendung als wehrlose Zwangsarbeiter anordnete. Wir haben es hier wie so oft mit einer Diskrepanz zwischen Worten und Handeln des jungtürkischen Regimes zu tun, die sich womöglich aus seinem Ursprung als Geheimorganisation erklärt. Für die Deutung der mit der Vernichtung der aramäischsprachigen Christen verbundenen Ereignisse ist diese Diskrepanz von besonderer Bedeutung. Rache und Vergeltung nicht nur für die Vertreibung und Tötung muslimischer Bevölkerungsgruppen durch Christen, aber auch bevölkerungspolitische Erwägungen bilden den Motor der genozidalen Dynamik während der letzten Dekade osmanischer Herrschaft. Dabei spielte vor allem eine Rolle, dass sich im Verlauf des 19. Jhs. die Zahlenverhältnisse zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen im anatolischen Kerngebiet dank der muslimischen Zuwanderung entscheidend zugunsten der Muslime geändert hatten; Ende des 19. Jhs. war annähernd Gleichstand zwischen beiden Gruppen erreicht, was offenbar bei der muslimischen Elite das Bedürfnis auslöste, eine Entscheidung herbeizuführen (vgl. Tab. 1). Obwohl de facto von diesem Zeitpunkt an die Minorisierung der Nichtmuslime ihren Verlauf nahm, stieg parallel zu den Territorialverlusten, die das Osmanische Reich zunehmend hinnehmen musste, die Wahrnehmung der einheimischen Christen als Bedrohung. Namentlich die Griechen, deren Siedlungsgebiete sich an den Küsten des Schwarzen Meeres und der Ägäis konzentrierten, galten als innere Feinde und wurden im dehumanisierenden Jargon führender Jungtürken spätestens ab Sommer 1914 als Tumore bezeichnet. Die Griechen Kleinasiens definierten sich selbst noch zu diesem Zeitpunkt überwiegend als romies bzw. romiosyni, also als Römer bzw. Byzantiner und übernahmen mithin das tiefe Misstrauen und die Feindseligkeit, die osmanische Herrscher seit der Eroberung der byzantinischen Hauptstadt Konstantinopels den rumlar („Römern“) entgegenbrachten. Zehn Jahre nach der Einnahme Konstantinopels (1453) bauten Mehmet der Eroberer und seine Nachfahren die Armenier als Gegengewicht zur einstigen byzantinischen Elite sowie zur griechischen Orthodoxie auf und statteten das schon von Sultan Mehmet ins Leben gerufene armenischapostolische Patriarchat zu Konstantinopel mit Privilegien aus, zu denen

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auch gehörte, dass alle übrigen vor-chalcedonensischen Kirchen, darunter die syrischen Kirchen, der Oberaufsicht des armenisch-apostolischen Patriarchen zu Konstantinopel unterstellt wurden. An dieser Ordnung änderte sich erst im späten 19. Jahrhundert etwas, als die syrisch-orthodoxe Kirche im Zuge der osmanischen Reformbewegung analog zur armenisch-apostolischen Kirche eine eigene Verfassung sowie das Recht erhielt, ihre Interessen selbst und ohne armenische Vermittlung vor der osmanischen Regierung zu vertreten.49 Der Verlauf der Vernichtung der christlichen Glaubensnationen im Osmanischen Reich widerspiegelt nicht diese politischen und rechtshistorischen Besonderheiten in den Beziehungen der christlichen Konfessionen zum osmanischen Staat, aber es erscheint gleichwohl erforderlich, sich diese Besonderheiten in Erinnerung zu rufen, um die oft gespannten Beziehungen der Kirchen untereinander zu verstehen, die gerade in der Phase ihrer existentiellen Bedrohung nicht wirklich von ökumenischem Geist bzw. Solidarität geprägt sein konnten. Infolgedessen durchlitt jede millet ihr Schicksal allein. Die rum millet-i der Griechisch-Orthodoxen bildete mit 2,7 bis 3 Millionen die größte Glaubensnation im Osmanischen Reich. Sie erlitt bereits seit dem 2.  Balkankrieg 1913 Deportationen und Massaker, zunächst in Ostthrakien, dann in Ionien bzw. Westanatolien, während des Weltkrieges vor allem im Pontosgebiet. Dem Genozid an den kleinasiatischen Griechen fielen in drei verschiedenen Phasen vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg über eine Million Menschen zum Opfer. Dieser fortgesetzte bzw. kumulative Genozid – auf Griechisch „genoktonia en roi“  – wurde während des Weltkrieges zumindest bis 1917 aus außenpolitischen Erwägungen und auf Drängen Deutschlands gebremst und beschränkte sich auf einzelne Regionen; erst in der Phase 1919 bis 1922 nahm er im Zuge der Befreiungsbewegung unter den Nationalisten Mustafa Kemals landesweite Züge an und endete schließlich mit dem Holocaust der christlichen Viertel in der unverteidigten Hafenstadt Smyrna sowie mit der anschließenden Zwangsarbeit 49 Cf. Hage, Art. Jakobitische Kirchen, 479–480; Parry, Six Months, 314 (‘The present [Syriac-Orthodox] Patriarch has obtained, by strenuous exertions, the right to be directly represented at Constantinople, instead of the mere right to appeal through the Gregorian-Armenian Patriarch. He has now a bishop at Constantinople with the right of audience of the Sultan.’); Joseph, MuslimChristian Relations, 29.

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Hunderttausender griechisch-orthodoxer Osmanen, bei denen mindestens 300.000 Männer an Seuchen und Entkräftung zugrunde gingen.50 Im Gegensatz dazu vollzog sich der Genozid an den osmanischen Armeniern seit Ende Mai 1915 beinahe landesweit51 als schnelle Abfolge von Massakern an der männlichen wehrfähigen Bevölkerung sowie Todesmärschen der übrigen Bevölkerung, die allerdings zunächst knapp jeder zweite der insgesamt zwei Millionen Deportierten überlebte. Als das anschließende Hungersterben im mesopotamischen Deportationsgebiet den zuständigen Behörden im Frühjahr 1916 zu langsam vorkam, wurden die dortigen Konzentrationslager sukzessive durch staatlich rekrutierte Totschlägerbanden liquidiert. In nur 19 Monaten starben mithin 1,5 Millionen Armenier, d.h. 60 Prozent der armenisch-osmanischen Vorkriegsbevölkerung bei direkten 50 Cf. Hofmann/Bjørnlund/Meichanetsidis, Genocide Ottoman Greeks; Shirinian, Asia Minor Catastrophe. 51 Ausnahmen bildeten die osmanische Hauptstadt Konstantinopel, die überwiegend von Christen bewohnte zweitgrößte Stadt des Osmanischen Reiches Smyrna sowie die ostthrakische Hauptstadt Adrianopel, wo jeweils mit Rücksicht auf die starke Präsenz von Ausländern keine allgemeine Deportation der Armenier durchgeführt wurde. Immerhin wurden aber aus Smyrna 600 Mitglieder der armenischen Partei Daschnakzutjun deportiert; am 13. November 1916 meldete die deutsche Botschaft den Beginn der „allgemeinen Deportation“ der Armenier aus Smyrna; cf. PA AA, RAV Botschaft Konstantinopel, R 14094, zitiert nach http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/ 1916-11-13-DE-002 (acc. 10.08.2017). Aus Konstantinopel wurden im Sommer und Winter 1915 34.000 amtlich nicht gemeldete Armenier deportiert; es handelte sich vor allem um Angehörige der ärmeren Schichten, die aus den östlichen Provinzen bzw. Westarmenien zugezogen waren. Am 7. Dezember 1915 berichtete der deutsche Botschafter Paul Wolff-Metternich dem Reichskanzler:  „Von vertrauenswürdiger Seite erfahre ich, dass nach Auskunft des hiesigen Polizeipräsidenten, die ich bitte geheim zu halten, auch aus Konstantinopel neuerdings etwa 4000 Armenier nach Anatolien abgeführt worden sind, und dass mit den 80000 noch in Constantinopel lebenden Armeniern allmählich aufgeräumt werden soll, nachdem schon im Sommer etwa 30000 aus Konstantinopel verschickt und andere 30000 geflohen sind. Soll Einhalt geschehen, so sind schärfere Mittel notwendig.“ PA AA, RAV Botschaft Konstantinopel, R 14089, zitiert nach Gust, Völkermord Armeniern, 394–395; online verfügbar unter http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs-de/1915-12-07-DE-001 (acc. 10.08.2017).

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Tötungen und an den Begleitumständen der Todesmärsche sowie in den Deportationsgebieten. Kommen wir nun zu den Spezifika der Vernichtung aramäischsprachiger Christen (vgl. Tab. 2). Die Hauptfrage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, lautet, ob es überhaupt aufseiten der Zentral- oder Provinzregierungen einen gegen die Aramäer gerichteten Vernichtungsvorsatz gab, oder ob die betroffenen Konfessionen, gleichsam als Nebeneffekt, der Vernichtung der beiden größeren Glaubensnationen, namentlich der ermeni millet-i, zum Opfer fielen. Mit anderen Worten: Hätte es die Vernichtung aramäischsprachiger Christen ohne eine Vernichtung der Armenier gegeben? Das würde ich nach den vorliegenden Erkenntnissen und mit Ausnahme des Bezirks Hakkari bezweifeln. Betrachten wir daraufhin die Situationen in Hakkari sowie im übrigen osmanischen Raum: Der von Racho Donef erstellte Anhang zu David Gaunts Monographie (2006) enthält einen Deportationsbefehl des osmanischen Innenministeriums vom 26. Oktober 1914, in dem die Zwangsumsiedlung und anschließende Zersiedlung der Nestorianer aus dem Bezirk Hakkari in die Region um Konya angeordnet wurde.52 Unter der Voraussetzung der Echtheit dieses Dokuments und der Zuverlässigkeit seiner Übersetzung ergeben sich bemerkenswerte Unterschiede zu den „Deportationsmaßregeln“ vom 14./27. Mai 1915. Denn im Unterschied zu dem Befehl vom 26.10.1914, wo dezidiert von Nestorianern die Rede ist, enthalten die späteren Maßregeln des türkischen Kriegsregimes keinerlei Hinweis auf Armenier. Es ist in diesem Dokument lediglich von „verdächtigen Personen“ die Rede.53 Welcher Personengruppe der Verdacht galt, wurde außerhalb Konstantinopels den zuständigen Staatsdienern von eigens aus der Hauptstadt entsandten Deportationsemissären mündlich erläutert. In einem kleinen, 2008 veröffentlichten Artikel wies der deutsch-amerikanische Turkologe und Historiker Hilmar Kaiser darauf hin, dass die am 24.10.1914 angeordnete Deportation der Nestorianer nie stattgefunden

2 Gaunt, Massacres, 446–447. 5 53 Cf. französische Übersetzung der Deportationsmaßregeln in: Lepsius, Deutschland, 78. Lepsius gibt hier die „Maßregeln“ nach folgender Publikation wieder: Aspirations et agissements révolutionaires des Comités Arméniens avant et après la proclamation de la Constitution Ottomane, Constantinople, 1917.

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habe, nachdem die Ortsbehörden dem Innenministerium mitteilten, dass kein Aufstand der Nestorianer drohe. Kaiser zufolge habe sich das Innenministerium davon überzeugen lassen. Der Vorgang erscheint jedoch in mehrfacher Hinsicht überprüfenswert. Denn zum einen zitiert Kaiser für seine Behauptung primäre osmanische Archivalien in ungenauer Weise, sodass anscheinend andere Forscher bisher keine Gelegenheit hatten, den Schriftverkehr zwischen dem Ministerium und den Ortsbehörden zu überprüfen. Noch bedenklicher erscheint mir aber Kaisers implizite Hypothese, wonach die osmanischen Behörden im Weltkrieg nur dann deportierten, falls von einer Bevölkerungsgruppe wirkliche Gefahr ausging. Müssen wir nach dieser Logik im Umkehrschluss annehmen, dass die gesamte armenische Nation im Osmanischen Reich gefährlich war und mithin ihr Schicksal verdient hatte? Dieser Behauptung hat der bereits zitierte Botschafter Hans von Wangenheim am 7. Juli 1915 energisch widersprochen, als er dem Reichskanzler schrieb: „Die Austreibung und Umsiedelung der armenischen Bevölkerung beschränkte sich bis vor etwa 14 Tagen auf die dem östlichen Kriegsschauplatze benachbarten Provinzen und auf einige Bezirke der Provinz Adana; seitdem hat die Pforte beschlossen, diese Maßregel auch auf die Provinzen Trapezunt, Mamuret-ul-Aziz und Siwas auszudehnen, und mit der Ausführung begonnen, obwohl diese Landesteile vorläufig von keiner feindlichen Invasion bedroht sind. Dieser Umstand und die Art, wie die Umsiedelung durchgeführt wird, zeigen, daß die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten.“54

Doch selbst wenn die Deportation der Hakkari-Nestorianer Ende Oktober 1914 nicht stattfand, so fiel die aramäischsprachige Bevölkerung nicht nur in der Provinz Wan, sondern auch in der Nachbarprovinz Bitlis der ungehinderten Vergeltung des Provinzgouverneurs Cevdet sowie Halils, des Befehlshabers des osmanischen Expeditionskorps, im Sommer 1915 zum Opfer. Oberstleutnant Halil und Cevdet, beide eng mit Kriegsminister Enver verwandt bzw. verschwägert, waren sich offenbar zumindest der Duldung der Zentralregierung für die von ihnen angerichteten Blutbäder unter der armenischen und aramäischsprachigen Bevölkerung sicher. 54 PA AA, RAV Botschaft Konstantinopel, R 14086, zitiert nach Gust, Völkermord Armeniern, 185–188; online verfügbar unter http://www.armenocide.net/ armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-07-07-DE-001 (acc. 10.08.2017).

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Deutlicher noch als Kaiser hat der schottische Genozidforscher Donald Bloxham die These aufgestellt, dass 1915 keine allgemeine Absicht zur Vernichtung der osmanischen Christen bestanden habe und begründet dies damit, dass die „Assyrer“, wie er die aramäischsprachigen Christen pauschal umschreibt, allein schon aufgrund ihrer geringen Anzahl keine Bedrohung für den osmanischen Staat dargestellt hätten; er schränkt allerdings ein, dass die prorussische Annäherung des nestorianischen Patriarchen Benjamin Schimun XXI.  die osmanische Zentralregierung stärker herausforderte, als es irgendein Armenier je vermocht hatte.55 Damit aber widerlegt sich Bloxhams Argument von der politisch-militärischen Bedeutungslosigkeit der Nestorianer von selbst. Ohnehin erscheint es als Trugschluss, den Vernichtungsbegründungen von Genozidtätern Rationalität bzw. eine nachvollziehbare Logik zu unterstellen. Überzeugender sind Bloxhams quantifizierende Hinweise: Im Vergleich mit der Vernichtung der Armenier weise die Verfolgung der Assyrer eine geringere Intensität und Systematik auf.56 Empirisch abgesichert ist diese Aussage auf Provinzebene durch die Berechnungen des Leiters der Dominikanermission zu Diyarbakır, Jacques Rhétoré (vgl. Tab. 3). Danach lag die armenisch-apostolische Bevölkerung mit einer Fatalitätsrate von 95 % am höchsten, gefolgt von den unierten Armeniern (92 %) und den Chaldäern (90 %); bei den Syrisch-Orthodoxen, die – abweichend von den Zahlenangaben bei Lepsius – mit einer Gesamtzahl von 84.725 die größte christliche Gruppe in der Provinz gewesen sein sollen, lag die Rate immerhin bei 71 %. Zum Beweis seiner These, wonach es sich in der Provinz Diyarbakır um keine von der jungtürkischen Zentralregierung gewollte allgemeine Christenverfolgung gehandelt habe, führt Bloxham Talats Telegramm an den Gouverneur der Provinz Diyarbakir, Dr. med. Reşid Şahingiray, vom 12. Juli 1915 an. Auch in diesem Fall bleibt aber zu prüfen, ob Talats Anordnung nicht ein Mittel war, um – wie es 1915 und 1916 häufig belegt ist – in erster Linie den verbündeten Deutschen Sand in die Augen zu streuen. Tatsächlich leitete Talat Holsteins neuerliches Telegramm vom 10. Juli 1915 zwei Tage später an Reşid mit der Aufforderung weiter, die Ausweitung der „Strafmaßnahmen“ [tedabir-i inzibatiye] auf andere Christen als die 5 Bloxham, Great Game, 97. 5 56 Ibid.

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Armenier aufzugeben, da dies „schädlich für das Land“ sei.57 Wie unter II) bereits dargelegt, geschah aber de facto rein gar nichts. Reşid blieb im Amt und setzte bis weit in den September 1915 unterschiedslos die Massakrierung und Deportation der armenischen und aramäischsprachigen Bevölkerung in seinem Amtsbereich fort bzw. duldete Übergriffe auf Armenier, Syrisch-Orthodoxe und Chaldäer. Der Schweizer Historiker Hans-Lukas Kieser, dem eine ausführliche biografische Studie zu Reşid Şahingiray zu verdanken ist, behauptet darin, dass sich die unterschiedslose Vernichtung von Syrern und Armeniern auf die Provinz Diyarbakır beschränkte. Auch dies trifft nicht zu. Denn zumindest der US-amerikanische Konsul Leslie L.  Davis berichtete von einem allgemeinem Deportationsbefehl in einer anderen Provinz als Diyarbakır; Davis teilte aus der gleichnamigen Hauptstadt der Provinz Mamuret-ulAziz oder Harput (heute:  Elazıg) mit:  “On Saturday, June 28th, it was publicly announced that all Armenians and Syrians were to leave after five days.”58

3 Zusammenfassung und Schlussfolgerung: Die These, dass es sich beim Genozid an den osmanischen Armeniern um keinen singulären Vorgang handelte, erscheint mit Blick auf die beiden großen christlichen Volksgruppen bzw. Glaubensnationen der Armenier und Griechen unstrittig. Die griechische Autorin Dido Sotiriou erklärte dies in ihrem bekannten Roman „Matomena Chomata“ – „Blutgetränkte Erde“ (1962) wie folgt:  „Die tief in Anatolien verwurzelte christliche Bevölkerung hielt in ihren Händen den Wohlstand und die Schlüssel zu Anatolien. Daher musste sie vernichtet werden.“59 Armenier und Griechen wurden in der letzten Dekade osmanischer Herrschaft nicht nur als Gefahr für die Staatssicherheit wahrgenommen, sondern auch als auszuschaltende Wirtschaftskonkurrenten angesehen. Im Zuge ihrer Vernichtung kamen aber auch bis zu 625.000 aramäischsprachige Christen um. Selbst wenn

7 Kieser, Reshid, 267. 5 58 Davis, Slaughterhouse Province, 144. 59 Σωτηρίου, Διδώ, Ματωμένα Χώματα, zitiert nach der englischen Ausgabe: Sotiriou, Farewell, 138, übers. nach der englischen Ausgabe v. Tessa Hofmann.

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sie nicht ursächlich eine Zielgruppe bildeten, unterschieden sich weder die Mittel, noch die Folgen ihrer Vernichtung. Besondere Schwierigkeiten bei der vergleichenden Erforschung der Spezifika und Varianzen bereitet der Umstand, dass primäre und sekundäre Quellen zu einem großen Teil sehr verstreut sind und darüber hinaus unterschiedlich, teilweise sogar gegensätzlich interpretiert wurden. Die von manchen Forschern aufgestellte Behauptung, dass es keine Deportationsbefehle gegen aramäischsprachige Christen gegeben habe bzw. diese nicht ausgeführt wurden, lässt sich allerdings nicht aufrechterhalten. Zumindest in den Provinzen Diyarbakır und Mamuret-ul-Aziz kam es auch zu Deportationen aramäischsprachiger Christen, da Christen unterschiedslos deportiert wurden.60 Als weitere Forschungsaufgaben ergeben sich nicht nur die Notwendigkeit einer Überprüfung der bisher bekannten und diskutierten Quellen – bei gleichzeitiger Erschließung möglichst neuer Quellen –, sondern vor allem auch ihre Neubewertung. Dabei sollten organisationssoziologische Studien zu den Befehlsstrukturen und Besonderheiten der osmanischen Bürokratie, insbesondere das Wechselverhältnis von Orts-, Regional- und zentralen Behörden stärker als bisher Berücksichtigung finden. Wir müssen uns dabei von der Chronologie und den Narrativen verabschieden, die durch eine nur auf die Betrachtung des Genozids an den

60 Der deutsche Konsul im „Deportationsdrehkreuz“ Aleppo, Walter Rössler, berichtete u.a. am 3. September 1915: „In den östlichen Provinzen sind außer den Armeniern nicht nur Nestorianer, sondern auch Altsyrer (Jakobiten), katholische Syrer (Syrianer) und andere Christen verbannt worden. Schon seit längerer Zeit verlautete hier, dass solche Christen auch getötet worden seien. Ich habe einen hier im Lande geborenen, vermöge seines Berufes mit verschiedenen Bevölkerungsklassen in Berührung kommenden, gut beobachtenden europäischen Bekannten gebeten, mir schriftlich mitzuteilen, was ihm darüber bekannt geworden ist und beehre mich, seine Aufzeichnungen darüber hier beizufügen. Danach gibt es eine ganze Anzahl nicht armenischer christlicher Frauen, die ohne ihre Männer hier angekommen sind. Es ist kaum ein anderer Schluss möglich als dass die Männer getötet worden sind. In einem nachgewiesenen Fall sind die Vermissten griechisch katholisch.“ PA AA, RAV Botschaft Konstantinopel, R 14095, zitiert nach Gust, Völkermord Armeniern, 279–291; online verfügbar unter http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/191509-03-DE-002 (acc. 10.08.2017).

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Armeniern beschränkte Sicht hervorgerufen wurden. Die genozidal ausufernde Politik der Jungtürken radikalisierte sich stufenweise seit dem Militärputsch von 1908, den Parteitagen der Ittihat ve Terakki Cemiyeti von 1910 und 1911 (auf denen die Zer- und Umsiedelung sämtlicher Bevölkerungsgruppen zwecks religiöser und kultureller Homogenisierung – Islamisierung und Türkisierung – des Reiches besprochen und beschlossen wurde), den Balkankriegen 1912/3, in denen in Ostthrakien mit zwei Typen der Deportation „experimentiert“ wurde – Vertreibung über die Landesgrenze nach Griechenland und eigentliche Deportation ins anatolische Landesinnere –, den anschließenden Vorkriegsdeportationen in Ionien 1914 zur „Säuberung“ der Ägäis- und Marmaraküsten, den Einberufungen von Nichtmuslimen in Zwangsarbeiterbataillone sowie den gewalttätigen Razzien und Hausdurchsuchungen vor allem der armenischen Landbevölkerung ab Sommer 1914. Die beiden Weltkriegsgenozide des 20.  Jahrhunderts, wie sie auch der Initiator und Hauptautor der UN-Völkermordkonvention, Raphael ­Lemkin, empirisch seiner Definition von Völkermord zugrunde legte, stellten multiple, komplexe Verbrechen dar. Im osmanischen Fall wurden sie durch den Versuch ethnischer Homogenisierung im Kontext der türkischen Nationalstaatsbildung ausgelöst, mit dem Ziel, die Kontrolle über ein zerfallendes Staatengebilde wieder zu erlangen; weitere Tätermotive bildeten Vergeltung für angeblichen Verrat und traditioneller Religionshass. Im nationalsozialistischen Fall wirkten vor allem rassistische Motive. In beiden Fällen erklärten jedoch die Hauptverantwortlichen, präventiv, zum Schutz und Nutzen der eigenen Volkszugehörigen handeln zu müssen. So schlussfolgerte die den Jungtürken nahestehende Schriftstellerin Halide Edip Adıvar in ihren zeitnah veröffentlichen Memoiren: “(…) the massacres [of the Muslims] did not arouse one quarter of the indignation which the Armenian massacres had done. These facts spoke bitterly in Turkey against Europe, and in the Islamic world of Asia. I believe that the two different measures meted out by Europe to the Moslem Turks and to the Christian peoples in Turkey keenly intensified nationalism in Turkey. They also aroused the feeling that in order to avoid being exterminated the Turks must exterminate others”.61

61 Edip, Memoirs, 333.

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Die Autorin zitiert den damaligen Innenminister Talat mit folgendem Bekenntnis zur genozidalen Skrupellosigkeit: “ ‘Look here, Halidé Hanum. I have a heart as good as yours, and it keeps me awake at night to think of the human suffering. But that is a personal thing, and I am here on this earth to think of my people and not of my sensibilities. If a Macedonian or Armenian leader gets the chance and the excuse he never neglects it. There was an equal number of Turks and Moslems massacred during the Balkan war, yet the world kept a criminal silence. I  have the conviction that as long as a nation does the best for its own interests, and succeeds, the world admires it and thinks it moral. I am ready to die for what I have done, and I know that I shall die for it.’ In 1922 (sic!)62 he was shot by an Armenian in Berlin.”63

Anlagen Tab. 1: Minorisierung von Mehrheiten: Nichtmuslime im Osmanischen Reich/Türkei im Verlauf eines Jahrhunderts (1820er–1920er Jahre). Quelle:  Karpat, Population, 72, zitiert nach Özbudun, Plural Society, 65 Dekade

1820er Jahre 1840er Jahre 1870er Jahre 1890er 1927 (Zensus der Türkischen Republik) 1935 (Zensus) 2012 (Schätzung)

Anteil der Nicht-Muslime an der osmanischen Gesamtbevölkerung (%) 68.0 63,9 57.0 52.5  2.0

Anteil der Muslime an der osmanischen Gesamtbevölkerung (%) 32.0 36,1 43.0 47,5

 0.1  0.1

62 Mehmet Talat wurde am 15.03.1921 im selbst gewählten Exil in Berlin-Charlottenburg von dem armenischen Attentäter Soġomon T’ehlerean erschossen. 63 Edip, Memoirs, 387.

Armenier

aramäischsprachige Christen (Aramäer/Assyrer)

Griechen (Griechisch-Orthodoxe bzw. Angehörige der osmanischen „Rum milet“) Deportation ange- Innenminister Talat, Mai 1915 Übertragungs-Effekt der armeniInnenminister (Talat; Mai 1914, ordnet von: schen Deportationen, besonders in Ionien) d. Provinz Diyarbakır. Kriegsminister (Ismail Enver; Dez. Verantwortung trugen: a) 1916); Dt. Befehlshaber Liman in Provinz Diyarbakır von Sanders (April 1917, Ayvalık/ 1915: Gouverneur Dr. Mehmet Ionien); kemalistische Behörden Reşid Şahingiray; b) in Provinzen (Pontos, Juni 1922; Smyrna, Van u. Bitlis 1915: Cevdet September 1922) Bey; Zentralregierung) c) im Iran 1914/15, 1918: osman. Militärbehörden; Cevdet Bey Genozidäre Gendarmen bzw. Feldpolizei; Reguläre Streitkräfte (in Provinzen Reguläre osman. Streitkräfte und Handlungen durch Paramilitärs; reguläre Streitkräfte Van und Bitlis), Paramilitärs (hoher musl. Irreguläre; (in Provinzen Van und Bitlis); Anteil kurdischer Irregulärer, 1919–1922: paramilitär. Teile d. muslim. Bevölkerung; Teile der musl. Bevölkerung (hohe „Befreiungsstreitkräfte“; Teile der mancherorts reguläre Streitkräfte Beteiligung tribaler Kurden) muslim. Bevölkerung beteiligt Zeitgen. Mets jerern („Großes Sayfo („Schwert“, wegen sphagi („Massaker“) und xerisoBezeichnung der Verbrechen“ bzw. „Großer Massakern und versuchter mos („Entwurzelung“); Megali Verbrechen durch Frevel“) Selbstverteidigung 1915) katastrophi („große Katastrophe“) Opfergruppe als Dauer 19 Monate (Frühjahr 1915 – Okt. 1914 – März 1918 1912/13 – 1922/23 (kumulativ) Herbst 1916)

Opfergruppen

Tab. 2: Der Genozid an den Christen des Osmanischen Reichs 1912–1922 im Vergleich

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Landesweit (Ausnahmen: Konstantinopel/ Istanbul, Adrianopel/Edirne, Smyrna/Izmir)

Systematische Vernichtung der Elite (Elitozid); Zwangsarbeit; Deportation; Massaker

Ort/Region

Vernichtet durch:

Griechen (Griechisch-Orthodoxe bzw. Angehörige der osmanischen „Rum milet“) 1) Landesweit; osman. Provinzen 1) 1912/13: Ost-Thrakien Diyarbakır und Van/Hakkari, fer- 2) 1913–15: Ionien (Westner Bitlis, Mamuret-ul-Aziz, Aleppo Anatolien), Marmaraküste 2) NW Iran (Provinz 3) 1916–17: Pontos Aserbaidschan: Bezirke Urmia, 4) 1919–1922: Landesweit Choj, Salmas) Teilweise Vernichtung der Elite; Teilweise Vernichtung der Elite; Zwangsarbeit; Massaker (in Zwangsarbeit; Deportation; besonders hohem Maße) Massaker

aramäischsprachige Christen (Aramäer/Assyrer)

Opferzahlen armenischer und aramäischsprachiger Christen in der Provinz Diyarbakır nach Berechnung von Jacques Rhétoré (Leiter der franz. Dominikanermission in Diyarbakır seit 1881) Konfession „Anzahl vor der „Verschwundene“ „Nach der Verfolgung Verluste in Prozent Verfolgung“ Übrig gebliebene“ (%) der Bevölkerung Armenisch-Apostolische 60.000 58.000 2.000 95% Unierte Armenier 12.500 11.500 1.000 92% Chaldäer 11.120 10.010 1.100 90% Unierte Syrer 5.600 3.450 2.150 61% Syrisch-Orthodoxe 84.725 60.725 24.000 71% Protestanten 725 500 225 69%

Tab. 3: Courtois, Forgotten Genocide, 198.

Armenier

Opfergruppen

82 Tessa Hofmann

Die Vernichtung der aramäischsprachigen Christen

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Al-qusara fi nakbat an-Nasara – „Das Äußerste in den Katastrophen der Christen“ Abstract: The article is a summary of the book ‘The utmost in the catastrophes of Christians’ by the Syriac Catholic chorepiscope Ishaq Armale. It contains a chronological history of the Christians in Mardin since 3rd century and peaks in the description of the genocide. Attached to the article is an historic commentary on Armale and his book.

Der Verfasser des Buches „Das Äußerste in den Katastrophen der Christen“ ist der syrisch-katholische Chor-Episkopos Ishaq Armale, der 1879 in Mardin geboren wurde und 1952 verstarb. Im Jahre 1895 trat er im Alter von 16 Jahren in das Kloster Scharfe im Libanon ein, in dem er sich mit Begeisterung dem Studium und der Forschung widmete. Er wurde am 24. Januar 1898 im Alter von 19 Jahren zum Diakon und im September desselben Jahres vom Patriarchen, dem Gelehrten Aphrem II. Rahmani, zum Priester geweiht. Dieser ernannte ihn zusätzlich zu seinem Sekretär. Nach Reisen durch Europa und in einige syrische Zentren in der Türkei wurde er im Jahre 1910 damit beauftragt, Mönche des Ephrem-Ordens zu unterrichten. Bei seinen Reisen war er beispielsweise in Rom und hat die wertvollen syrischen Handschriften der Vatikanbibliothek durchforscht. Dabei verfasste er mehr als fünfzig Schriften, die teilweise gedruckt wurden, meist jedoch handschriftlich geblieben sind. In den Schriften, in denen es um dogmatische und historische Auseinandersetzungen mit der syrischorthodoxen Kirche geht, ist er sehr polemisch. Das führte dazu, dass auf einige seiner Schriften mit einer Gegenschrift reagiert wurde. Hier sind beispielsweise der Archidiakon Ni’mar Allah Danno (1884–1951) mit seiner Schrift „Kritische Auseinandersetzung mit dem Chor-Bischof Ishaq Armale“ oder der Patriarch Aphrem Barsaum mit seiner Schrift „Ar-rad’a fi tafnid ar-rag’a“, was übersetzt „Widerlegung der Irrtümer der ‚Rückgängigmachung‘ “ bedeutet, zu nennen. Auch in dem hier besprochenen Buch sind seine Berichte nicht frei von Seitenhieben gegen die syrisch-orthodoxen Geistlichen.

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Das entsprach einer anderen Denkweise übereinander, welche die unterschiedlichen Konfessionen und Traditionen pflegten. Ich bin froh, dass die Christen und diejenigen, die Verantwortung in der Kirche tragen, heute anders im Miteinander auf die dramatischen Herausforderungen unserer Zeit reagieren. Abgesehen davon zeigt das Buch das Elend auf, welches die ganze christliche Bevölkerung aller Ethnien und Konfessionen im damaligen Osmanischen Reich im Jahre 1895 und in den Jahren 1914 bis 1919 erlitt. Es bietet uns eines der seltenen historischen Zeugnisse, die detailliert über das berichten, was den Christen an Grausamkeiten, an Tyrannei, Rechtlosigkeit, Entführungen, Vertreibung, Gefangenschaft, Gemetzel, Tötung und allen Arten von Abscheulichkeiten widerfahren ist. Das Buch, dessen Berichte Mardin und seine Umgebung betreffen, ist in fünf Teile geteilt: Im ersten Teil des Buches beschreibt Armale die Stadt Mardin. Dabei streift er die Geschichte des Christentums ab dem 3. Jahrhundert, um dem Leser zu signalisieren, wie tief die Stadt Mardin im christlichen Glauben verwurzelt war.

Erst danach beginnt er chronologisch auf die Geschichte des Landes einzugehen, beginnend mit dem Einmarsch der Assyrer von 1115 v. Chr. und den von ihnen verübten Grausamkeiten. Weitere Kapitel handeln von den Persern, den Arabern Mesopotamiens in vorislamischer Zeit, von den Muslimen in Mesopotamien, der Ortoqiden- (auch Artuqiden- oder Artukiden-) Dynastie von 1095 bis 1421, dem Qara Qoyunlu-Fürstentum von 1410 bis 1468, dem Aq Qoyunlu-Fürstentum von 1468 bis 1514 und schließlich von den Osmanen ab dem Jahre 1621. In diesem Kapitel berichtet er: „Im Jahre 1630 wurde Ya’qūb zum Wali von Amīd ernannt. Sogleich ließ er das neue Regierungsgebäude im Osten der Stadt bauen. Jedoch die, die ihm auf den Stuhl folgten, waren hart gegenüber den Christen: Sie fügten ihnen Leid zu und verfolgten sie. Deswegen sahen sich die Christen von Assūr, al-Agmadī, Astel, Rašmel, Qabāle, die Sippen der al-Mahallamiyye, ar-Rāšidiyye und al-Machāšniyye gezwungen, ihren christlichen Glauben aufzugeben und Muslime zu werden.“

Auch wenn wir hier keine Details der Unterdrückung erfahren, so kann man doch erahnen, wie hoch der Preis für diejenigen gewesen sein muss, die an ihrem christlichen Glauben festhielten. Spätestens hier erfahren wir, dass die Kirchen der orientalischen Christen aus seiner Sicht Kirchen der Märtyrer sind.

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Ein weiteres Kapitel widmet Armale dem Bezirk Dyārbakir, wobei er eine Kontinuität der grausamen Herrscher von Dyārbakir bis in seine Zeit sieht. Er fährt fort, als Augenzeuge zu berichten: „Wir sahen solche Missetaten mit eigenen Augen, besonders zur Zeit des tyrannischen Wali Rašīd von Dyārbakir, dem der Teufel seine Eier in seinen Kopf legte und wartete, bis er die bösen Banden um sich sammeln konnte. Sodann überfiel er die schuldlosen Christen, führte sie aus der Stadt hinaus, mordete, plünderte und beraubte sie. Für die Durchführung seiner hinterlistigen Ziele wählte er Leute, die seine schlechten Gedanken ausführten, wie Chalīl Adīb, der Vorsitzende des Strafgerichts, al-Ḥāğ Zakī sowie dessen Bruder Badrī, Mamdūḥ, Tawfīq, Hārūn und andere, die noch erwähnt werden. Er sandte sie in das friedliche Mārdīn, wo sie sich wie in einem Zornesausbruch über die Stadt entluden, die Befehle in blutvergießende Taten umsetzten, Jungfrauen schändeten, die Christen aus der Stadt vertrieben, sie auf den Hügeln, Bergen, Feldern und Tälern mordeten.“

Anschließend geht er auf die Geschichte und den Glauben der christlichen Bevölkerung ein, explizit auf Armenier, Syrer, Chaldäer sowie die lateinischen und protestantischen Missionen von Mardin und Umgebung. In dieser Darstellung ist er konfessionell sehr parteiisch. Das gilt ganz besonders, wenn es um die rechtmäßige Nachfolge (Sukzession) geht. Das sechzehnte und letzte Kapitel im ersten Teil dieses Buches ist der Katastrophe des Jahres 1895 gewidmet. Ishaq Armale, der wie erwähnt 1879 geboren wurde, war knapp 16 Jahre alt, als die Pogrome 1895 geschahen, und 36 Jahre alt, als 1915 die zweite noch größere Katastrophe geschah. Er schreibt als Augenzeuge des Völkermordes von 1915 die Berichte als jemand, dessen erste Wunden kaum geheilt sind, als ihm noch viel größere Wunden zugefügt werden. Auf die Ereignisse von 1895 geht er ausführlicher als auf die vorhergehenden geschichtlichen Ereignisse ein und beschreibt das Gemetzel in Diyarbakir. Dabei ist jedoch offensichtlich, dass er die ganze Geschichte der Christenheit seit Jahrhunderten in dieser Region vor Augen hat. Die Zahl der Ermordeten muss sehr hoch gewesen sein, sodass der herbeigeeilte syrisch-orthodoxe Patriarch auf dem Weg zum Wali schier auf Leichen zu treten gezwungen war – so sehr war alles von Toten übersät. Es war nicht nur die Stadt Dyārbakir betroffen, sondern auch die nahe gelegenen Dörfer und Städte:  Von den 300 Einwohnern in as-Sa’diyye überlebten nur drei Männer. Der Rest wurde in der eingeschlossenen Kirche verbrannt. Die alte Stadt Maiperqat wurde von den kirchlichen

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Chronisten bereits im vierten Jahrhundert erwähnt. Aus ihr ging der berühmte heilige Bischof Marūtha hervor, der ca. 421 gestorben ist. Ihre Einwohnerzahl betrug ungefähr 1.000 Personen. Nur 12 Männer und drei Frauen überlebten das Massaker. Die Bewohner der Stadt Qarabāš waren alle Syrer. Die Kurden eilten dorthin, ermordeten sie, nahmen ihre Eigentümer in Besitz und die Frauen in Gefangenschaft. Danach begaben sich die Kurden zum Haus des Priesters ʿAbdul al-Aḥad Assiryānī, der ein erhabener Greis war, verhafteten dessen Kinder und raubten ihm 700 Lire1 sowie 500 Mağīdīyye. Außerdem forderten sie ihn auf, sich zum Islam zu bekennen, was er aber ablehnte. Daraufhin metzelten sie vor seinen Augen seine Kinder, eins nach dem anderen. Dann schnitten sie den Bauch seiner Frau auf und ermordeten sie. Sie wollten auch ihn abschlachten, aber einer von den Kurden forderte, dass er an seiner Qual und seinem Kummer sterben solle. Danach nahmen sie seine Töchter und vergewaltigten sie. Der Priester verfiel dem Wahnsinn. In dem am Ufer des Tigris liegende Dorf Qatarbel, welches durch den Fluss von Dyārbakir getrennt wird, wohnten 300 christliche Familien: Syrer, Protestanten und Armenier. Plötzlich überfielen die Kurden vom Land das Dorf und begannen damit, Häuser und Läden zu plündern. Die Christen konnten, angeführt von dem unermüdlichen Priester ‘Abdul al-Ahad Assiryānī, in die Mār Thomas-Kirche fliehen. Er machte ihnen Mut, ließ sie das heilige Abendmahl nehmen, beichten und erteilte ihnen die Absolution. Die Stämme belagerten die Kirche, bohrten das Dach auf, gossen Kerosin hinein und steckten die Kirche in Brand. Alle, die in der Kirche waren, verbrannten. Diejenigen, die zu fliehen versuchten, wurden von den Soldaten im Rathaus erschossen. Dann verhafteten sie Yūsuf, den Sohn des Mikhaīl aus Mardin, und forderten ihn auf, zum Islam überzutreten. Als er das ablehnte, schnitten sie ihm nacheinander seine Hände, Arme und Füße ab. Zum Schluss enthaupteten sie ihn. So musste er den Märtyrertod erleiden. Jedes Mal, wenn sie ihm ein Glied abschnitten, sagten sie zu ihm, er solle sich zum Islam bekennen und er würde am Leben bleiben. Aber er beachtete ihre Worte nicht. Der junge Syrer Šem’ūn konnte dem Massaker 1 Lira bedeutete im Osmanischen Reich die goldene Währungsmünze, Mağīdīyye die silberne Währungsmünze.

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entkommen, indem er den Tigris schwimmend durchquerte und zum Patriarchen eilte. Dieser schickte ihn mit einer Gruppe von Soldaten zurück, um die Überlebenden, Hinkenden, Gelähmten, vollkommen Nackten und fast Verhungerten zu ihm zu bringen, damit er für sie sorgen konnte. Die Bewohner der anderen Dörfer des Vilâyets Dyārbakir, wie alKaʿbiyye, al-Ğārūḫiyye, Ḫān Āqbuār, Arzʾoġlī, Qōzān, Holān, Qādye, ʿAnša, Șatya, Șāfyā Baṭrakiyye, Qara Kilisa, Qarṭa, Qanqurț sowie dem Verwaltungsbezirk al-ʾAbšīriyye, Lğiyye und Ġarzān erlitten das Gleiche: Die Kurden und Soldaten überfielen sie, töteten sie und nahmen ihre Eigentümer in Besitz. Die Chaldäer und Armenier von ʿAli-Bekār wurden von den Anführern des Dorfes auf trügerische Art überredet, indem diese ihnen versprachen, sie in die Landeshauptstadt zu bringen, um sie dort vor den kurdischen Sippen zu retten. Als die Christen das Dorf verließen, wurden sie alle mit einem einzigen Seil gefesselt und einer nach dem anderen, noch ehe sie die Stadt erreicht hatten, niedergemetzelt. In Sewerak sammelten al-Ḥāğ ʿUṯmān Pāšā und seine Brüder ihr Gefolge um sich, belagerten die Christen und massakrierten sie zwei Tage lang mit Schwert und Dolch. Nur vier Familien konnten dem Massaker entkommen. Die Zahl der Toten betrug mehr als 4.000. Urhoy, Edessa, Urfa, Tal Arman, Banābīl, Qal’et Mara, die Frauenzitadelle, das Za’faran-Kloster und die Bewohner von al-Manssūriyye hatten Glück und konnten von Regierungssoldaten beschützt werden. Nīsibīn und Tūr ‘Abdīn wurden nicht verschont. Am Ende des letzten Kapitels des ersten Teils des Buches widmet sich Ishaq Armale den Nöten und der Angst der Christen in seiner Stadt Mardin im Jahre 1895. Er stützt sich weitgehend auf die Aufzeichnungen von Maqdasī Habīb Dī Ğarwe, teilweise auch auf seine eigene Beobachtungen. Er schildert dabei die Situation zwischen Bangen und Hoffen, denn die muslimische Bevölkerung in Mardin war sich uneinig in ihrem Vorgehen. Die einen hatten das Versprechen gegeben, die Christen zu schützen und wollten ihr Wort halten. Die anderen sahen die Gelegenheit gekommen, zu plündern und zu rauben. Die Stimmung und die politische Schutzlosigkeit, in der sich die Christen befanden, trugen dazu bei, dass die Kurden sich ermutigt sahen, sich an den Christen zu vergreifen. Man kann aus der Schilderung die Angst der Christen erahnen, als ihre Stadt von allen Seiten

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belagert war. Werden die großen Sippen der Stadt ihr Wort halten und standhaft bleiben? Die Christen waren wehrlos und auf den guten Willen der anderen angewiesen. Sie hatten am Ende Glück und der Kelch ging an ihnen vorüber. Im ersten Kapitel des zweiten Teils geht der Autor auf die Ursache des Ersten Weltkrieges und die daraus entstandenen Bündnisse ein. Das zweite Kapitel befasst sich mit dem Bündnis zwischen Deutschland und der Türkei und den daraus resultierenden Verpflichtungen. Schon nach dem ersten Tag der Kriegserklärung begann das Osmanische Reich, die Wehrfähigen in das Heer einzuziehen, das Militär zu mobilisieren, Munition vorzubereiten, um Deutschland zu helfen, und Angriffe auf das Land zurückzuweisen. Deutschland seinerseits gab sich alle Mühe, die Türkei zu stärken, indem es Waffen und Soldaten schickte, die Finanzen der Türkei reformierte und alles versuchte, was in seiner Macht stand, um der Türkei beizustehen, was mehr als ein türkischer Politiker bestätigte. Deutschland sandte sogar eine Elitegruppe von Offizieren, um die Heere der Türken neu zu organisieren und ihre Angelegenheiten zu ordnen. Eine andere deutsche Militärmission kümmerte sich um die türkische Flotte. Des Weiteren sandte Deutschland Fachleute verschiedener Arbeitsgebiete in die Türkei und verlieh Geld an sie. Das dritte Kapitel nennt er Protest gegen Deutschland und Österreich. Darin spricht er über die gegenseitige Sympathie Deutschlands und Österreichs mit der Türkei, um dann die Frage zu stellen, wie Österreich, das katholische Reich, mit Deutschland mitgehen und dem Gemetzel an den Christen zustimmen konnte? Die gleiche Frage könne auch in Bezug auf Deutschland gestellt werden, da es auch ein christliches Reich sei, in dem mehr als 30 Millionen Katholiken lebten. Wie hätten sie wie die Türken Hass und Groll gegen die Christen hegen und ihnen die Anweisung geben können, das Blut der Schuldlosen zu vergießen? Könne Deutschland leugnen, dass sein Vertreter Otto Liman von Sanders in al-Āsetāna (= Istanbul) den Befehl gab, die Christen zu töten, ihnen höllische Qualen zuzufügen und sie auf gemeine Art zu behandeln? Habe Deutschland nicht gewusst, dass die Türkei keinen Schritt tat, niemanden anderen um Rat bat und keinen Beschluss fasste, ohne die Kenntnis, den Rat und die Meinung Deutschlands? Wieso habe sein Ehrgefühl erlaubt, den Türken freie Hand zu lassen, die Christen eigenmächtig und verächtlich von oben herab zu behandeln?

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„Das ist ein Ereignis, das im Laufe der menschlichen Geschichte ohnegleichen ist. Bei meinem Leben, es gibt für die beiden Staaten keine Entschuldigung. Sie haben den Tadel der ganzen Welt, sowie die Verewigung eines schwarzen schrecklichen Flecks in der Tiefe der Geschichte verdient, der im Laufe der Jahrhunderte nicht gelöscht werden kann. Ja, besonders Deutschlands Verhalten ist zu tadeln und Klage gegen Sanders zu erheben, den Vertreter Deutschlands in der Hauptstadt der Türkei, sowie mit lauter Stimme zu protestieren, so dass es die ganze Welt hört und Deutschland anklagt, es nach der Schwere der Schuld bestraft, denn es war in der Lage, alles Böses zu vermeiden, allen Gefahren vorzubeugen und die Übeltäter niederzuschlagen. Stattdessen fühlte Deutschland sich geehrt, die muslimische Gemeinschaft zu verteidigen, rühmte sich seiner Freundschaft mit den Türken. Zu gleicher Zeit, als die Türken die Christen vernichteten, gefangen nahmen, von ihren Reichtümern Besitz ergriffen und sie verbannten, waren die Deutschen dabei, den Muslimen eine Moschee in Deutschland zu bauen.“

Er geht in diesem Kapitel sehr scharf mit der Rolle Deutschlands um. Für Armale ist Deutschland nicht ein bloßer Mitwisser, das die Katastrophe hätte verhindern können, sondern er klagt es auch aktiver Mittäterschaft an.2 Im vierten Kapitel widmet sich Armale dem Angriff der Türken gegen die Christen. Er zitiert einige Beschlüsse der internationalen Versammlung in La Haye (Den Haag), die 1899 einberufen wurde, welche von 22 Delegierten, unter anderem einer türkischen Delegation, unterschrieben wurden. Darin heißt es, dass nur die Soldaten zweier miteinander im Krieg befindlicher Länder als Feinde gelten sollen. Zivilisten dürften nicht in Mitleidenschaft gezogen oder gar in ihrer Freiheit beschränkt werden. Die Frauen seien zu schonen, die Religionen zu respektieren und das Volk zu schützen. Kein Außenstehender dürfe verletzt, gequält, unmenschlich oder grob behandelt werden; persönliche, Eigentums-, Autoren- und Lizenzrechte müssten gewahrt bleiben. Zuwiderhandlungen sollten in allen Ländern bestraft werden. An dieser Stelle fragt er, wie mit der Türkei angesichts dieser Beschlüsse verfahren worden sei.3

Zur Rolle von Liman von Sanders s. Nachwort der Herausgeber. 2 3 Die Haager Landkriegsordnung von 1899 schützt nur die Zivilisten in den vom Feind besetzten Territorien. Zumindest im europäischen Selbstverständnis bestand noch das westfälische Prinzip, das auf den Friedensschluss von 1648 zurückging, auch wenn dies im 19.  Jahrhundert nicht immer respektiert wurde. Staatsrechtlich unterstanden die Aramäer deshalb der Regierung des

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Im fünften und den darauf folgenden Kapiteln geht er auf die Vorbereitung des Landes auf den Ersten Weltkrieg ein. Er beschreibt es sehr lebendig und berichtet von Hetze, von der Angst der eingezogenen Soldaten, von der Planlosigkeit der Regierung bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln für die Soldaten, von der Kriegslast, die die Familien überall im Lande tragen mussten und davon, wie die Christen ganz besonders zu leiden hatten. Ishaq Armale schreibt: „Man kann nicht alle Nöte nennen, denen die Christen anfangs ausgesetzt waren: Kapitalverbrechen und Raub ihrer Reichtümer. Die Verantwortlichen, ja, doch, alle Muslime ohne Ausnahme, hegten seit 1895 Hass und Groll gegen die Christen. Sie verbargen ihre Gefühle, auf eine passende Gelegenheit wartend, um sich an ihnen zu vergreifen. Als sie merkten, dass die Regierung willig war, die Christen zu unterdrücken, freuten sich ihre bösen Seelen. Zum Sommeranfang 1915 begannen sie ihre Bosheit zu zeigen, indem sie die Christen angriffen und alles begingen, was Gott verbietet.“

Im achten Kapitel schreibt Armale: „Am Freitag, den 21. August 1914, wurden wir informiert, dass 1500 Läden und Lagerhäuser in Dyārbakir mit den verschiedensten Waren, die alle den Christen gehörten, in Flammen aufgingen. Alles war durch den Wali und seine Komplizen geplant und durchgeführt. Das Feuer dauerte drei Tage, vom 19. bis 21. August, also drei Tage und drei Nächte, so dass alles in Schutt und Asche endete. Die Christen erlitten dadurch große Verluste. Eine Gruppe von Muslimen und Soldaten konnte von einem beträchtlichen Teil der Vermögenswerte und Waren Besitz ergreifen. Die Christen schrieben an hohe Instanzen der Regierung, verlangten die Bestrafung der Täter, aber ihr Gesuch wurde ignoriert.“

Auch das sind Momentaufnahmen, die Armale in seinem Buch dokumentiert, noch bevor das massenhafte Töten und Vertreiben begann. Er schreibt als Augenzeuge weiter: „Am Mittwoch, den 26. August 1914, sahen wir gegen Sonnenuntergang eine große Menge von Männern und Frauen, ihre Kinder tragend, barfuß, todmüde, von Verānšahar nach Mārdīn kommen. Ihre Zahl betrug mehr als 200 Menschen. Ihr Kaymakām (Statthalter) hatte sie gezwungen, nach Mārdīn zu gehen, um ihre Namen in das Register der Regierung einschreiben zu lassen.“

Osmanischen Reiches, und nach zeitgenössischer Auffassung durfte ein Staat mit seiner eigenen Bevölkerung auch nach seinen eigenen Regeln verfahren. Erst die Genozidkonvention von 1948 hat hier neues Völkerrecht geschaffen.

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Armale zweifelt, dass dieser Kaymakām wirklich keine Zeit gehabt habe, diese Menschen an ihrem Wohnort registrieren zu lassen. Weitere Kapitel tragen Titel wie „Plünderung der Läden und Überfall auf die Kirchen und Häuser“, „Ermordung von Ğalīl Kōke“, „Geschehnisse vom 1.  bis 15. September 1914“, „Verfolgung und Festnahme der wehrpflichtigen Männer und ihre Deportation vom 16. bis 30. September“. Hier ein Absatz aus diesem Kapitel: „Der 19. September war ein schwerer und schlechter Tag, denn die christlichen jungen Männer wurden wie demütige Schafe zum Gerichtshaus getrieben, um ihre Namen ins Register einschreiben lassen. Zur Mittagszeit erging der Befehl, alle Soldaten nach Dyārbakir zu transportieren. Die Mütter, Frauen, Söhne und Töchter weinten herzzerreißend und klagten laut. In den Kolonnen befanden sich auch sehr arme Leute, die barfuß und hungrig dahin zogen und ihre Angehörigen in Armut und miserablem Zustand verlassen mussten. Die Kinder fragten mit schluchzender, weinender Stimme: Vater, Vater! Wohin gehst du, warum verwirfst du mich, wer ernährt mich? – Worte, die ins Herz dringen. Die Zahl der Christen, die nach Amīd geführt werden sollten, betrug 200 Personen. Ungefähr 2000 Verwandte begleiteten die Soldaten bis zur Wasserquelle. Die Rekruten trugen Säcke auf ihren Rücken, die ihre Kleider und ein wenig Nahrung enthielten. Der Himmel war ihre Decke, die Erde das Bett.“

Die nächsten Kapitel sind wie ein Tagebuch geschrieben. Monat für Monat berichtet Armale von der Rechtlosigkeit und der Ohnmacht der Menschen und davon, wie sie der Willkür der Mächtigen ausgeliefert sind. Im 15. Kapitel fasst er die Monate vor dem eigentlichen Völkermord allgemein zusammen: „Neujahrsabend. Es ist ein Abend, der die Augen entzückt, die Gemüter beruhigt. Ein Abend, an dem jeder mit überwältigender Freude erfüllt ist, jeder beglückwünscht den anderen, die Weingläser werden freudig geleert und es werden Hoffnungen für das neue Jahr gehegt.

Die Eltern versammeln sich mit ihren Kindern, erinnern sie, wie sie waren, was sie bis jetzt erreicht haben, reden mit ihnen, wen sie verloren haben, wer neu in die Welt gekommen ist. Und so bereiten sie ihnen Freude, geben ihnen Mut, ihre Tätigkeiten unter der Gnade Gottes fortzusetzen. Die Kinder küssen die Hände ihrer Eltern, erheben die Gebete zu Gott, dass er sie schütze, ihnen gute Gesundheit schenke und sie vor dem Verrat der Feinde rette. O, mein Gott, wie schön ist dieser Anblick. Dann werden die Tische mit den verschiedensten Speisen, Süßigkeiten, Obstsorten, Früchten

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u.a. gedeckt. Und die geordneten farbigen Kerzen sowie Lampen auf dem Tisch scheinen wie die Sterne am Himmel. Die Kinder und Jugendlichen umgeben sie und ihre Gesichter strahlen Freude und Glücksgefühl aus. Dann singen sie die schönen, den Geist berührenden Loblieder auf Gott und danken seiner Erhabenheit, dass sie diesen Abend erleben dürfen. Das war eine Tradition, an die sich die Christen in Mesopotamien in den vergangenen Jahren hielten. Das unselige Jahr 1914 brachten sie jedoch ohne Danksagen hinter sich, da es mit Trauererinnerung verbunden war, und in ihren Gedächtnissen große Verluste bedeutete. Es riss durch die oben geschilderten Ereignisse die alten Wunden wieder auf, sodass sie sie aus ihrem Kopf gar nicht tilgen konnten, da sie Nöte und Schläge erlitten hatten, Ungerechtigkeiten und Untaten erdulden mussten und auf Erleichterung und Frieden vom Allmächtigen warteten. Die Feinde aber hörten nicht auf, sie durch ihre unmenschliche Behandlung in Angst und Schrecken zu versetzen, und zwar in den letzten fünf Monaten des Jahres 1914, bis das laufende Jahr 1915 anbrach. In diesem Jahr wurden sie mannigfaltigen, harten Missetaten ausgesetzt, sodass sie im Laufe der Tage und Monate einem Baum glichen, der sein Laub verlor. Hätten sich die verbrecherischen Feinde doch mit dem, was sie den Christen angetan hatten, begnügt und die Abkommen und Versprechungen gehalten. Aber nein, sie versuchten mit beispielloser Bösartigkeit und Schlechtigkeit, diesen Baum ganz und gar zu entwurzeln und nichts von ihm übrig zu lassen.“ Ab hier beginnt Armale von den Geschehnissen des Völkermordes 1915 zu berichten, zuerst mit dem Monat Juni.4 Auf die Zusammenfassung der restlichen 350 Seiten verzichte ich, da die grausamen Geschehnisse

4 Das ist auch der Grund, warum die NISIBIN – Stiftung für Aramäische Studien den Gedenktag für die Syro-Aramäer Anfang Juni begehen will. In diesem Monat begann in ihren Städten und Dörfern das Morden. Inzwischen haben die syrischorthodoxe Synode und die syrisch-katholische Kirche den Vorschlag der Stiftung für Aramäische Studien berücksichtigt, den wir vor einem Jahr an die SayfoKommission der syrisch-orthodoxen Kirche und an alle Organisationen unseres Volkes geschickt haben. Unsere Absicht war es, uns auf einen Gedenktag zu einigen. Mit dem Beschluss der beiden Kirchen ist es leichter geworden, dass alle aramäisch sprechenden Christen einen gemeinsamen Gedenktag begehen können.

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der Tatsache nach bekannt sind. Hier sollte die Zeit unmittelbar vor dem Völkermord vorgestellt werden, wie sie von Armale geschildert wird. So sollte die Denkweise und die Vorgeschichte gezeigt werden, in welchen die Bereitschaft zu solchen Taten gegen die Christen vorhanden war, und schließlich zu einem umfassenden Vernichtungswillen anwuchs.

Nachwort (Dorothea Weltecke, Boris Barth, Dominik Giesen) Diese von Amil Gorgis dankenswerterweise präzise zusammengefasste Quelle ist ohne Zweifel von besonderem Wert, erlaubt sie doch einen Zugang zu den Erlebnissen, Emotionen und zu den Sichtweisen der Opfer der Massaker. Auch die Art der individuellen Verarbeitung des Völkermordes kann durch die Analyse solcher Quellen erschlossen werden. Die quellenmäßige Erschließung des Völkermordes an den Aramäern steht noch am Anfang. Die sprachlichen Hürden sind erheblich; um so wichtiger sind Amill Gorgis’ Bemühungen um Übersetzung und Vermittlung.5 Hier wird sich nur in der interdisziplinären Zusammenarbeit und in der Kooperation mit den Gemeinschaften, die Berichte in gedruckter aber auch in handschriftlich weitergegebener Form besitzen, ein wissenschaftlicher Fortschritt erzielen lassen. Mit der inhaltlichen und quellenkritischen Analyse der Chroniken und Augenzeugenberichte wurde auch deshalb bisher kaum begonnen.6 Sie bietet aus geschichtswissenschaftlicher Sicht einige Schwierigkeiten, da sie zwar durch einen hohen Grad von Authentizität bestechen, in der Interpretation aber einige Probleme aufwerfen. Dazu gehört die spezifische historische Perspektive der Texte, wie sie zuletzt von Talay beschrieben wurde:7 Die Chronisten des Sayfo betrachten diesen als einen weiteren Schritt in einer kontinuierlichen über Jahrhunderte andauernden religiösen Unterdrückung. Dies ist Teil der Erinnerungskultur der orientalischen Christen wie die Erfahrung des Mordes als Christenverfolgung und vergleichbar mit anderen historischen Deutungen aus der Perspektive von Opfern von Gewalt.

Henno, Verfolgung und Vernichtung; Gorgis, Völkermord Syro-Aramäer et al. 5 6 Einen Überblick bietet zuletzt Talay, Sayfo. 7 Ibid.

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Amill Gorgis

Zu Armales spezifischer Perspektive gehört auch die moralische Deutung von Tätern und Opfern sowie seine bisweilen polemische konfessionelle Haltung. Damit vermittelt er einen unmittelbaren Eindruck vom Erleben der betroffenen Gemeinden. Für die Analyse der Ursachen ist sein Bericht wertvoll, doch wird diese weitere Faktoren und Quellen heranziehen. Eine ausgewogene Darstellung der Beziehungen zwischen den unterschiedlichen religiösen Gruppen in der Geschichte ist dieser Bericht nicht und will er nicht sein. Die Opferzahlen bei Armale erwecken den Eindruck einer hohen Authentizität; wissenschaftlich geprüft wurden sie bisher noch nicht. Ein in der deutschen wissenschaftlichen und öffentlichen Landschaft einerseits brisantes und die Beziehungen zwischen orientalischen Christen und Deutschen andererseits belastendes Element ist die Frage nach der deutschen Beteiligung. Der vorgestellte Text zeigt die in manchen Gruppen fast zur Gewissheit gewordene Annahme, dass Deutsche nicht nur anwesend und kämpfend beteiligt waren, sondern sogar den Befehl zur Christenverfolgung gegeben haben. Sie wird weiter tradiert und ist in den Gemeinden allgemein verbreitet. Mit der Übersetzung der Texte wird auch die historische Forschung erneut damit konfrontiert.8 Ohne Zweifel gab es eine deutsche Mitverantwortung an den Massakern, doch gab es keinen deutschen Befehl, Christen zu töten. Otto Liman von Sanders, dem in Armales Bericht eine führende Rolle zugeschrieben wird, war tatsächlich keine treibende Kraft im Hintergrund.9 Er drohte sogar mit einer militärischen Intervention, falls die Deportationen von Armeniern in Smyrna nicht aufhören würden. Dies geht aus seinem Schreiben vom 12. November 1916 an den Geschäftsträger der Botschaft in Konstantinopel, Wilhelm von Radowitz, hervor: „[…] Weiter füge ich ein Schreiben des Grafen Spee bei, welches er mir gestern in Smyrna übergab. Es betrifft die Armenier-Ausweisungen, die große Unruhe in Smyrna erregten.