Sallust über die römische Weltherrschaft: Ein Geschichtsmodell im Catilina und seine Tradition in der hellenistischen Historiographie 3519074834, 9783519074830

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Sallust über die römische Weltherrschaft: Ein Geschichtsmodell im Catilina und seine Tradition in der hellenistischen Historiographie
 3519074834, 9783519074830

Table of contents :
1. Voraussetzungen
2. Sallust, Cat. 1,5–2,6: imperium transfertur
3. Weltreichgründung und Weltreichbewahrung
a) Der Ruhm der Weltherrschaft
b) Die Sicherung der Weltherrschaft: das Kyros-Modell
4. Die römische Weltherrschaft als Modellfall der hellenistischen Historiographie
5. Die Idealisierung des Modellfalls Rom und ihr Gegenwartsbezug in Sallusts Catilina
Index locorum et nominum
Literaturverzeichnis

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Konrad Heldmann Sallust über die römische Weltherrschaft

Beiträge zur Altertumskunde Herausgegeben von Ernst Heitsch, Ludwig Koenen, Reinhold Merkelbach, Clemens Zintzen Band 34

£ B. G. Teubner Stuttgart

Sallust über die römische Weltherrschaft Ein Geschichtsmodell im Catilina und seine Tradition in der hellenistischen Historiographie

Von Konrad Heldmann

B. G. Teubner Stuttgart 1993

Gedruckt mit Unterstützung des Ministeriums fur Bildung, Wissenschaft, Kultur und Sport des Landes Schleswig-Holstein Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Heldmann, Konrad: Sallust über die römische Weltherrschaft: ein Geschichtsmodell im Catilina und seine Tradition in der hellenistischen Historiographie / von Konrad Heldmann. — Stuttgart: Teubner, 1993 (Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 34) ISBN 3-519-07483-4 NE: GT Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt besonders fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © B. G. Teubner Stuttgart 1993 Printed in Germany Druck und Bindung: Röck, Weinsberg

VORWORT

Die antike Geschichtsschreibung liegt im Schnittpunkt philologischer und historischer Forschungsinteressen. Die unterschiedlichen Prämissen, Fragestellungen und Methoden bringen es mit sich, daß gelegentlich in dem einen Forschungszweig als selbstverständlich gilt, was in dem anderen als durchaus zweifelhaft erscheint. Besonders davon betroffen ist die antike Geschichtsschreibung, insoweit sie sich mit dem Phänomen der römischen Weltherrschaft befaßt. Dabei geht es nicht so sehr um den Dialog, den seit der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. die römischen Sieger sowohl untereinander als auch mit den griechischen Besiegten über Ursachen, Folgen und Bewertung der Weltherrschaft geführt haben und der auch in der Literatur deutliche Spuren hinterlassen hat, sondern um den geistigen Standort der spätrepublikanischen Geschichtsreflexion in der literarischen Tradition und unter dem Einfluß der hellenistischen Historiographie. Daß die um die Mitte des 1. Jahrhunderts bereits kanonisch gewordenen Werke, vor allem das des Polybios, in Rom literarische Maßstäbe gesetzt und auch materiell eine große Wirkung ausgeübt haben, wird kaum bezweifelt, obwohl uns das meiste davon nicht oder nur indirekt erhalten ist. Strittig ist jedoch, ob und in welcher Weise die römische Reflexion und Darstellung der eigenen Geschichte und Gegenwart in der ausgehenden Republik und insbesondere die Geschichtsschreibung Sallusts den hellenistischen Vorgängern auch ideell verpflichtet ist, indem sie sich deren Fragen, Erklärungsmuster und Bewertungen zu eigen macht. Zur Lösung dieses Problems will die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten.

Das Thema geht auf Überlegungen zurück, die ich in den letzten Jahren in mehreren deutschen Universitäten vorgetragen habe. Den Kollegen, die mir die Gelegenheit dazu gegeben und mir durch ihre Diskussionsbeiträge bei der Klärung mancher Frage weitergeholfen haben, sei auch an dieser Stelle gedankt.

Den Herausgebern der Beiträge zur Altertumskunde, insbesondere Clemens Zintzen, danke ich für das freundliche Entgegenkommen, mit dem sie mir die Publikation in ihrer Reihe ermöglicht haben.

Für das Register und die technische Vorbereitung der Druckvorlage sorgten dankenswerterweise Sigrid Brummack und Frank Reitmaier.

Kiel, im September 1992

Κ.

H.

INHALTSÜBERSICHT 1. Voraussetzungen

1

2. Sallust, Cat. 1,5-2,6: Imperium transfertur

15

3. Weltreichgründung und Weltreichbewahrung

27

a) Der Ruhm der Weltherrschaft

27

b) Die Sicherung der Weltherrschaft: das Kyros-Modell

54

4. Die römische Weltherrschaft als Modellfall der hellenistischen Historiographie

70

5. Die Idealisierung des Modellfalls Rom und ihr Gegenwartsbezug in Sallusts Catilina

93

Index locorum et nominum

118

Literaturverzeichnis

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1. Voraussetzungen Sallust ist einer der wenigen herausragenden Autoren der römischen Literatur, die von der Antike bis zur Neuzeit ein im wesentlichen konstantes Ansehen genossen haben. Ihren besonderen Aspekt gewinnt die Intensität und Extensität seiner Wirkung jedoch erst dadurch, daß seine Schriften zu den schwierigsten Texten der römischen Prosaliteratur gehören. Gerade dies ist allerdings den Lesern Sallusts oft kaum bewußt geworden: teils, weil seine Sprache mit ihren kurzen und gelegentlich sehr prägnanten Sätzen eher prätentiös als anspruchsvoll schien, teils aber auch aus inhaltlichen, aus 'weltanschaulichen Gründen'. Dies vor allem deshalb, weil man seit der Zeit der Kirchenväter in Sallusts moralischen Anschauungen, in seinen kompromißlosen Analysen des 'Sittenverfalls' und in der Deutung dieses Phänomens als selbstverschuldete Bedrohung des römischen Staatswesens eigene Überzeugungen klassisch belegt und unwiderleglich bestätigt sehen konnte1. Etwas anderes kommt hinzu. Immer wieder finden sich bei Sallust, vor allem in den Proömien und Exkursen, einzelne Sätze, die dank ihrer ingeniösen Pointierung und spröden Eindringlichkeit so sehr als eigenständige Sentenzen rezipiert werden können, daß ihre argumentative Funktion im jeweiligen Kontext, die oft nur mühsam erkennbar ist, allzu leicht in den Hintergrund gedrängt wird. Das ist einer der Gründe dafür, daß in der Sallustforschung selbst unverfälschte Textzitate oft durchaus nicht die Intention des Autors, sondern die, meist zeitbedingte, Prädisposition des Interpreten belegen2. Aus all

1. Auch Reynolds sieht darin einen besonderen Grund für die exzeptionelle Wirkung Sallusts auf die Nachwelt: quod simplex ilia et tristis quam in scribendo adfectabat morum seueritas posteritati haud ingrata erat (in der Praefatio seiner Sallust-Ausgabe, Oxford 1991, p. V). 2. Die Beispiele für die (meist unbewußte) Vereinnahmung antiker Texte für eigene Wertvorstellungen sind in der Sallustforschung bis heute besonders zahlreich. Zwar lösen derartige Beiträge, sofern sie überhaupt wissenschaftlich ernst genommen werden müssen, in der Regel ein gewisses Unbehagen aus.

2 dem ergibt sich, daß wir in der langen und vielfältigen Wirkungsgeschichte Sallusts mit vielfältigen (gewiß auch fruchtbaren) Mißverständnissen rechnen müssen. Die an sich schon dornige Aufgabe, Sallusts Werke im einzelnen und insgesamt in dem vom Autor intendierten Sinne verstehen zu wollen3, wird dadurch zusätzlich erschwert. Die skizzierte Problematik ist von der Sallustforschung zumindest im Ansatz längst erkannt worden, und seit einigen Jahrzehnten sind zahlreiche Versuche zu ihrer Lösung unternommen worden. Äußeres Indiz dafür ist, daß neben einer unübersehbaren Zahl von Abhandlungen der verschiedensten Provenienz allein dem Catilina in den letzten Jahrzehnten drei ausführliche Kommentare gewidmet worden sind, deren Umfang bis zum Zwanzigfachen des kommentierten Werks reicht, und die alle drei ein recht verschiedenes, wenn nicht gar in sich widersprüchliches Bild von Sallusts Gedankenwelt zeichnen4. Wer aus diesem Labyrinth herausfinden und zur Lösung wenigstens einiger Fragen beitragen möchte, wird die für die SallustErklärung charakteristischen Schwierigkeiten nicht nur prinzipiell anerkennen, sondern vor allem deren Ursachen diagnostizieren müssen. Erst wenn die Problematik exakt umrissen ist,

Aber ihre perspektivischen Verzerrungen scheinen doch oft erst nach einigen Jahrzehnten wirklich evident und im einzelnen verifizierbar zu werden. Besonders deutlich wird dies etwa an der durchaus verdienstvollen Arbeit über die Prologe Sallusts von Franz Egermann (s.u. Anm. 157). 3. Damit ist zwar nicht der naive Versuch gemeint, über eine "historische' Erschließung des Textsinnes die Differenz zwischen Leser und Autor aufzuheben. Gleichwohl sei betont, daß sich in der Geschichtsschreibung das Problem des historischen Verstehens ganz anders stellt als etwa im Epos oder einem Gedicht, wiewohl die römische Geschichtsschreibung alles andere als ein 'Sachbuch' im modernen Sinne sein will. Fernzuhalten ist hier jedenfalls der Begriff Oer implizite Leser', wie W. Iser ihn in seinem gleichnamigen Buch (zuerst München 1972) versteht (vgl. dort S. 10 zum expliziten Leser). 4. Vretska, McGushin und Ramsey; daneben zahlreiche kleinere und Schulkommentare.

3

wird sich auch die adäquate Methode für ihre Lösung bestimmen lassen. Der wohl früheste Hinweis auf unser Problem findet sich in dem Kapitel von Quintilians Institutio oratoria, in dem davor gewarnt wird, Sallusts Werke als Anfängerlektüre im Schulunterricht zu verwenden (2,5,18f.). Quintilians klare Kriterien für die Auswahl der zu einem solchen Zweck geeigneten Autoren, nämlich Verständlichkeit und Qualität, machen gleichzeitig seine spezifische Bewertung Sallusts exemplarisch erkennbar. Bei der Anfängerlektüre werden, so Quintilian, allzu oft die unbedeutenderen Autoren bevorzugt, weil sie als leichter gelten (minores, quia facilior eorum intellectus videbatur), während die Jugend doch von Anfang an nur die besten Autoren (optimi) lesen sollte. Quintilians Ausweg ist die Empfehlung, mit Livius zu beginnen, der unter den auctores optimi der klarste und allgemeinverständlichste sei {candidissimus, maxime expositus). Gewiß stelle eine solche Bevorzugung des Livius nur einen Kompromiß dar, da Sallust der größere Geschichtsschreiber sei (hic historiae maior est auctorf. Aber ein solcher Kompromiß sei unvermeidlich, da Sallust nun einmal so schwer sei, daß nur ein fortgeschrittener Leser von ihm profitieren könne (ad quem tarnen intellegendum iam profectu opus sit). Mit anderen Worten: für Quintilian ist Sallust ein besonders bedeutender, gleichzeitig jedoch ein ausgesprochen voraussetzungsreicher Autor. Worin die Voraussetzungen bestehen, die nach Quintilian für eine sinnvolle Sallustlektüre erforderlich sind, läßt sich demnach negativ wenigstens so weit bestimmen, daß ein noch

5. Quintilians didaktische Empfehlungen an dieser Stelle setzen offensichtlich voraus, daß der Sallustlektüre zumindest tendenziell der Vorzug vor der Liviuslektüre gegeben wurde. Zur Geschichtsschreibung bei Quintilian vgl. jetzt den so überschriebenen Beitrag von W. Ax; dort 145 f. eine plausible Deutung der nur scheinbar widersprüchlichen Bewertung Sallusts und Livius' durch Quintilian.

4 ungeübter Schüler am Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. in der Regel nicht über sie verfügte - dies offenkundig im Unterschied zu einem erwachsenen, fortgeschrittenen Leser. Was aber ist das Kriterium für den 'Fortschritt' des Lesers, und welche Bedingungen müssen erfüllt sein, wenn man Sallust verstehen und seiner Bedeutung gerecht werden will? Quintilian gibt die Antwort darauf implizit in dem Kapitel, in dem er die drei Qualitäten der narratio (insbesondere in der Gerichtsrede) behandelt (Inst. or. 4,2). Die narratio soll, so lautet die Vorschrift der Institutio oratoria, klar, kurz und plausibel sein. Auf Sallust bezieht Quintilian sich dabei, um zu illustrieren, was mit der Forderung nach Kürze (brevitas) intendiert wird. Im Zentrum steht dabei der Gedanke des qualitativ richtigen Maßes: auch wer noch so knapp formuliert, verletzt das Gebot der brevitas, wenn das, was er sagt, inhaltlich überflüssig ist. In Abgrenzung zu anderen Lehrmeinungen, in denen der Begriff der Kürze dazu verwendet werde, eine Untugend zu definieren, nämlich die Verkürzung zu Lasten der Verständlichkeit6 (also als negatives Pendant einer straffen Darstellung), versteht Quintilian unter brevitas die Tugend, nicht mehr zu sagen, als nötig ist (ne plus dicatur quam oporteat, 43). Für die übertriebene Kürze auf Kosten der Klarheit empfiehlt er den Begriff obscuritas1. Im Zweifel möge man lieber etwas ausführlicher sein (und den Überdruß der Richter in Kauf nehmen) als zu knapp, weil man sonst Gefahr laufe, vom Richter gar nicht erst verstanden zu werden (44). Dieses Postulat illustriert Quintilian mit dem Hinweis auf Sallust (45): quare vitandast etiam illa Sallustiana (quamquam in ipso virtutis optinet locum) brevitas et abruptum

6. Die erstrebenswerte Qualität heißt hier circumcisa expositio (= συντομον) im Unterschied zur (übertrieben knappen) brevis expositio. 7. So schon Cicero, De or. 2,326 ff.: eine zu knappe narratio bewirkt obscuritas, und dadurch wird die wichtigste virtus narrationis verfehlt, nämlich ut iucunda et ad persuadendum accomodata sit (326).

5 sermonis genus: quod otiosum fortasse lectorem minus fallat, audientem transvolat, nec, dum repetatur, expectat, cum praesertim lector non fere sit nisi eruditus, iudicem rura plerumque in decunas mittant, de eo pronuntiaturum, quod intellexerit, ut fortasse ubique, in narratione tarnen praecipue media haec tenenda sit via dicendi 'quantum opus est et quantum satis est'. Wir können diesem Passus im wesentlichen zwei Informationen entnehmen. Erstens hat die brevitas überhaupt (also auch die bei Sallust) sowohl einen stilistischen als auch einen inhaltlichen Aspekt. Der inhaltliche Aspekt ist dadurch gegeben, daß ein Text, der der Forderung nach brevitas gerecht werden will, nur so viel an Informationen geben darf, wie für das Verständnis erforderlich ist8. Der stilistische Aspekt, der sich freilich nicht scharf von dem inhaltlichen trennen läßt, liegt in der Art und Weise, wie dieser Textinhalt formuliert wird. Diesen stilistischen Aspekt der brevitas umschreibt Quintilian mit den Begriffen abruptum sermonis genus (45)9 und nimis corripere omnia (44). Damit ist offensichtlich die Komprimiertheit und Sparsamkeit im Ausdruck gemeint, dann aber gewiß auch die davon betroffene gesamte Argumentationsstruktur, also der Verzicht auf eine explizite Verknüpfung von Einzelsätzen und Gedanken zugunsten einer indirekten Gedankenverknüpfung 10 . Folglich ist es ein neuzeitliches Mißverständnis, wenn man Sallusts Argumentationsform als ein archaisches Vorwärtstasten oder gar als ein gewisses gedankliches Unvermögen gedeutet

8. Quintilian verweist ausdrücklich darauf, daß diese Grundregel für die narratio nicht nur bei einer Rede gilt. 9. Seneca hat an den anputatae sententiae Kritik geübt, mit denen manirierte imitatores Sallusts (L. Arruntius) sich dessen abruptum genus sermonis zum Stilideal erkoren (epist. 114,17 ff.)· 10. Zu einer Spezifizierung dieser für Sallusts Stil charakteristischen virtus brevitatis durch Quintilian (10,1,102) vgl. Anm. 13.

6 hat11. Vielmehr haben wir es, wenn wir Quintilian folgen, offensichtlich mit einer bewußten und insoweit artifiziellen Steuerung des Gedankens zu tun, als sie dem Kunstprinzip (virtus) der brevitas gehorcht (quantum opus est et quantum satis est)u. Wahrscheinlich noch wichtiger ist indessen die zweite Information, die in Quintilians Bemerkungen über Sallust enthalten ist. Sie besagt, daß es keinen absoluten Maßstab für die Unterscheidung von brevitas (als virtus) und obscuritas (als Vitium) gibt, sondern daß sie nach dem Kriterium der jeweiligen Rezeptionsbedingungen eines Textes getroffen werden muß. In unserem Falle geht es dabei um die gattungsbedingte Unterscheidung zwischen dem zum Lesen bestimmten Sallusttext und einer zum einmaligen Hören durch die Richter konzipierten, mündlich vorgetragenen Gerichtsrede. Allein die Bestimmung des Textes für diese oder für jene Rezeptionsform entscheidet darüber, ob eine brevitas wie die Sallusts ein Vorzug oder ob sie ein Nachteil, ja ein völliges Verfehlen der textinhärenten und situativ bestimmbaren Intentionen ist.

11. So Büchner, Der Aufbau von Sallusts Bellum Iugurthinum (2 f.) und in seiner Sallust-Monographie. Die Gegenposition ist von Pöschl (Grundwerte 35) und dann v.a., im Widerspruch zu Büchners Iugurtha-Buch, von Leeman vertreten worden (Prologe 492 f.). Büchner ist jedoch bei seiner Auffassung geblieben: die "archaische Struktur" von Sallusts "doppelläufigen" Gedankengängen sei geradezu ein Echtheitskriterium für die Briefe (Sallust 2 46); Leemans Bewertung solcher Strukturen als stilistische Raffinesse könne deshalb nicht richtig sein, weil der Wille Sallusts "nicht so souverän ist, um das Gemeinte in einem eindeutigen ununterbrochenen Gedankengang zu entwickeln" (ibid. 400, Anm. 85). Ein eher formales, aber gerade deshalb um so schwerer wiegendes Unvermögen Sallusts könnte nach Büchner die umstrittene Stelle Cat. 19,6 erklären (ibid 134): "offenbar bemerkt Sallust im Schreiben eine Unterlassungssünde und trägt sie ohne Sorge um unterbrochene Zusammenhänge bedenkenlos nach" (s. dazu u., Anm. 36). 12. In dem berühmten Überblick über die griechische und römische Literatur nennt Quintilian diese Qualität illam immortalem Sallusti velocitatem (10,1,102); das ist das von Lukian geforderte τ ά χ ο ς (s. die nächste Anm.).

7 Quintilian gibt zwei Kriterien an, die für die Unterscheidung dieser beiden Rezeptionsbedingungen konstitutiv sind. Das erste Kriterium betrifft die Art und Weise, in der die Rezeption stattfindet, d.h. die Differenz zwischen dem Rezeptionsakt des Lesens und dem des Hörens. Das spezifische Rezeptionsmerkmal des Lesens ist, insbesondere weil ein lector otiosus vorausgesetzt wird, dadurch gekennzeichnet, daß man innehalten kann, um besonders komprimierte und nicht auf Anhieb verstandene Stellen noch einmal zu lesen (repetit, minus fallitur). In der mündlich vorgetragenen Prozeßrede dagegen geht ein solches abruptum sermonis genus rasch am Hörer vorbei, ohne daß Innehalten und nochmaliges Hören möglich wäre (audientem transvolat, nec, dum repetatur, expectat). Das zweite Kriterium betrifft die Qualität der Rezipienten, konvergiert jedoch insofern mit dem ersten, als die Rezipienten sich je nach Text bzw. je nach Gattung qualitativ voneinander unterscheiden. Der Leser (nicht nur Sallusts), ist ein gebildeter Mann {lector eruditus), während die Richter, mit denen es ein Prozeßredner zu tun hat, einfache Leute vom Lande zu sein pflegen, die natürlich nur das berücksichtigen werden, was sie verstanden haben (iudicem rura plerumque in decurias mittant, de eo pronuntiaturum, quod intellexerit). Es ist evident, daß die Rezipientenqualität eruditio, insofern sie eine für das Textverständnis erforderliche Voraussetzung darstellt, den inhaltlichen Aspekt der brevitas betrifft. Quintilians Bemerkung bedeutet offensichtlich nicht mehr und nicht weniger, als daß Sallust nur gerade so viel zu sagen und auszudrükken pflegt, wie ein gebildeter antiker Leser braucht, um ihm folgen zu können13. Wenn sich jedoch Sallusts Konzentrierung

13. Quintilians Lob der brevitas Sallustiana als virtus basiert auf einem gattungstheoretischen Postulat, dessen Profil durch die Bemerkung verdeutlicht wird, mit der Quintilian den Geschichtsschreibcr Servilius Nonianus dafür tadelt, daß er ihm nicht gerecht geworden sei: minus pressus est quam historiae auctoritas postulat (Quint. 10,1,102). Daher verlangt Lukian (Πως δει 56)

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von Gedanken und Erzählung an dem Niveau und an dem Vorverständnis eines zeitgenössischen lector eruditus orientiert, dann ist nicht nur klar, warum der Anfänger, der sich eine solche eruditio noch nicht erworben hat, seine Lektüre lieber mit Livius als mit Sallust beginnen soll: vor allem ist, wenn diese Grundbedingung für eine sinnvolle Sallustlektüre unerläßlich ist, damit auch genau die Schwierigkeit definiert, die für das neuzeitliche Bemühen um Sallust so charakteristisch ist. Gewiß ist ein solcher Mangel an Vertrautheit mit den Inhalten der von Sallust vorausgesetzten antiken eruditio nicht wirklich quantifizierbar. Aber er dürfte doch für den vorgebildeten erwachsenen Leser von heute in mancherlei Hinsicht ein noch größeres Hindernis bilden als für den bei Quintilian erwähnten Schüler in flavischer Zeit. Hinzu kommt, daß erst infolge dieses Defizits auch Sallusts Stil, das abruptum sermonis genus und das omnia corripere, zu einem relevanten Problem wird. Somit ergibt sich folgendes Fazit. Analog zu dem synchronen Phänomen einer qualitativen Divergenz zwischen verschiedenen Rezipientengruppen, die Quintilian in seiner Institutio oratoria beschreibt, haben wir es zusätzlich mit einer diachron bedingten Divergenz zwischen den Sallustlesern einst und jetzt zu tun, und folglich ist im Zuge eines grundlegenden Wandels der Rezeptionsbedingungen aus der brevitas Sallustiana mindestens streckenweise eine obscuritas geworden14.

vom Geschichtsschreiber τάχος bei der Darbietung des Stoffes. Homeyer ad loc. (S.272) verweist dafür auch auf Polybios 29,12,2 ff. und Strabo 1,1,23. Das Postulat war nicht unumstritten (Homeyer ibid.), konnte freilich in der Praxis auch auf recht unterschiedliche Weise realisiert werden. 14. Dieses Schicksal hatte in der Entstehungszeit von Sallusts Geschichtswerk das des Thukydides bereits erlitten; vgl. Cie. Brut. 287 und vor allem or. 30 f. (ipsae illae contiones ita multas habent obscuras abditasque sententias vix ui inte liegantur). Ein ähnliches Urteil über Sallust schon bei Suet., gramm. et rhet.10. p.109 Reiff: vitetque maxime obscuritatem Sallusti et audaciam in translationibus (also hier wie dort eher auf sprachliche Kürze als auf Komprimierung des Inhalts bezogen).

9 Damit ist uns eine klare Aufgabe gestellt. Sie besteht in der Rekonstruktion des ursprünglichen Erwartungshorizontes, so wie W. Barner dies als eine besonders fruchtbare Möglichkeit beschrieben hat, rezeptionsgeschichtliche Fragestellungen auf die antike Literatur zu applizieren 15 . Dabei geht es generell darum, die jeweilige Epochen-, die Werk-, die Autoren- und die Gattungserwartung zu berücksichtigen. Im Einzelfall werden sich jedoch wesentliche Modifikationen und Akzentverschiebungen dadurch ergeben, daß der Erwartungshorizont eines antiken Werkes durch recht verschiedene Faktoren bestimmt sein kann; ja, man wird eine derartige Differenzierung von Fall zu Fall sogar innerhalb ein und desselben Werkes vornehmen müssen. Bei Sallust wirkt sich der inhaltliche Aspekt der brevitas besonders in den Partien mit geschichtstheoretischer Thematik und weniger in den erzählenden Abschnitten aus, vor allem also in den Proömien und Exkursen. Hier ist bei der knappen Formulierung der Einzelgedanken und bei ihrer äußerst sparsamen Verknüpfung genau das ausgespart, was der lector eruditus selbst einbringen kann und soll: der Autor macht das Vorwissen seines Lesers zum integralen Bestandteil seiner Argumentation. Folglich wird die Rekonstruktion des Erwartungshorizontes in diesem Falle in erster Linie in dem Versuch bestehen, möglichst viel von den zeitgenössischen Bildungsinhalten zurückzugewinnen, damit das Ganze des aus Autoreninformation und Leserwissen zusammengefügten Gedankenganges wieder klar hervortritt. Ein illustratives Beispiel für solche durch die literarische Tradition vorgegebenen Bildungsinhalte ist in der antiken Histo-

15. Insbesondere in: Neuphilologische Rezeptionsforschung und die Möglichkeiten der klassischen Philologie. Poetica 9, 1977, 499-521.

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riographie die sog. metus-hostilis-TheoÜQ16, jene Theorie also, die einerseits den Prozeß des (moralischen) Niedergangs eines Staates und andererseits seinen Aufstieg von unbedeutenden Anfängen zu einer weithin herrschenden Macht mit ein und demselben Phänomen zu erklären versucht: solange der Staat sich von auswärtigen Feinden bedroht sieht, schließen die Bürger sich ohne Eigennutz zu gemeinsamen Handeln zusammen, nach Beseitigung aller Gefahren und jeder Furcht aber widmen sie sich nur noch der Erfüllung ihrer persönlichen Wünsche, ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl. Diese Theorie gehört zu den in der antiken Historiographie so beliebten Erklärungsmodellen, mit deren Hilfe man historische Ereignisse und Entwicklungen sowohl rational zu erklären als auch auf eine konstante Gesetzmäßigkeit zurückzuführen versucht hat. Gerade bei der metus-hostilis-TYiQonQ hat die Forschung aber auch besonders deutlich herausgearbeitet, in welchem Grade solche scheinbar konstanten Erklärungsmodelle variiert werden konnten17. In bezug auf Rom gibt es in den einschlägigen Texten keine Übereinstimmung darüber, wann der metus hostilis beseitigt wurde18. Entsprechend unterschiedlich wird die Frage beantwortet, warum und in welcher Weise der Verfallsprozeß durch die Beseitigung der Furcht initiiert wor-

16. Vgl. dazu insbesondere Bellen, der die Realität solcher Ängste in Rom nachweist (Metus Gallicus - Metus Punicus, 1985; dort auch die ältere Literatur). 17. Vgl. Schur (99) und vor allem K. Bringmann, Weltherrschaft (vorzüglicher Gesamtüberblick); zahlreiche Hinweise auch in der früheren Forschung, z.B. Walbank im Kommentar zu Polyb. 36,9,4. Speziell zur Herkunft der Datierung auf das Jahr 146 vgl. Hackl, Poseidonios und das Jahr 146. 18. Die Geschichte des römischen metus hostilis vom 'Urerlebnis' der Eroberung Roms durch die Gallier im Jahre 387 bis zum Ende des 2. Jahrhunderts hat Bellen nachgezeichnet und von einem "urrömischen Furchtkomplex als fester Größe" gesprochen (46).

11 den sei19 , worin er bestanden habe und wie er abgelaufen sei. Das Modell selbst jedoch hat, und dies vielleicht auch wegen seiner Variabilität, offenbar als allgemein akzeptiert zu gelten, und es ist dem gebildeten Lesepublikum so bekannt 20 , daß es (ggf. mit der gewünschten Variation) nur gerade zitiert und nicht weiter entfaltet zu werden braucht, um sogleich verstanden zu werden. Freilich ist die metus-hostilis-Theone primär zur Konstatierung und Erklärung von Verfallserscheinungen, also gleichsam post festum, herangezogen worden, und sie ist offenbar auch relativ spät zu datieren 21 . Für das Phänomen der römischen Weltherrschaft muß es schon vorher auch andere Erklärungsmodelle gegeben haben, in denen die eigentlich politischen Faktoren stärkere Berücksichtigung fanden. Folglich ist damit zu rechnen, daß in der Literatur auch auf ein historisches Modell, das Roms Weg zur Weltherrschaft auf den Begriff brachte und allgemein geläufig war, nur eben angespielt zu werden brauchte. Wir beschränken uns hier zunächst auf das Caf/7/>ia-Proömium, das sich durch zwei spezifische Charakteristika auszeichnet, und zwar erstens in Relation zu historiographischen Proömien anderer antiker Autoren und zweitens in Relation zu den anderen Proömien Sallusts.

19. Daß die (griechische) Dekadenztheorie mit dem metus hostilis erst sekundär verknüpft ist, hat vor allem Bellen betont (z.B. 46). 20. Die bedeutende Rolle, die das Motiv auch als Argument in den politischen Auseinandersetzungen in Rom gespielt hat, ist in zahlreichen Arbeiten über die Senatsdebatte des Jahres 149 hervorgehoben worden; vgl. v.a. Bringmann, Weltherrschaft (passim). 21. Klingners These, Sallust habe sie (in Verbindung mit dem Epochenjahr 146) von Poseidonios übernommen, ist nicht unbestritten gebliebcn (vgl. Steidle 18 ff.); zu Polybios s.u., S. 92 mit Anm. 205. Der Kerngedanke ist natürlich ein Gemeinplatz der griechischen Ethik (Steidle ibid.; Earl, Political Thought 47 ff.).

12 Das erste Charakteristikum, eine gemeinsame Besonderheit des Catilina- und des Iugurtha-Proömiums innerhalb der antiken Historiographie, ist die Orientierung an der literarischen Praxis epideiktischer Proömien, die Quintilian an einer viel behandelten Stelle hervorgehoben hat22. Die Klassifizierung als epideiktisches Proömium besagt per definitionem, daß die Thematik über das jeweils einzuleitende Einzelwerk, wenn nicht gar über die traditionelle Gattungsthematik der historia, hinausreicht. Dies zwar nicht in der Weise, als ob gar kein inhaltlicher Zusammenhang bestünde, aber doch so, daß das Proömium gedanklich weit ausholt und den großen Rahmen absteckt, in den das Einzelthema des Werkes einzuordnen ist23. Innerhalb von Sallusts Gesamtwerk zeichnet sich das CatilinaProömium dadurch aus, daß es das erste seiner historiographischen Werke einleitet. Daher wird man, gemäß antiker Konvention, von vornherein damit rechnen, daß der Autor die Perspektiven seines Geschichtsbildes umreißt - sei es implizit oder explizit, sei es in knappen Andeutungen oder in ausführlicher Darlegung.

22. Quint. 3,8,8 f. 23. Nach Quint. 3,8,8 f. gibt es offenbar zwei verschiedene Varianten des epideiktischen Proömiums, die sich durch den unterschiedlichen Grad der Entfernung vom konkreten Thema des Werkes bestimmen lassen. Den einen Typus umschreibt er (unter Berufung auf Aristoteles) mit der Formulierung longe a materia duci, den anderen mit ex aliqua rei vicinia. Sallusts Proömium scheint er zum letzteren Typus zu rechnen, der sich durch etwas größere Nähe zum Thema auszeichnet (quos secutus videlicet C. Sallustius). Daß die Worte nihil ad historiam pertinentibus principiis lediglich besagen, daß eine unmittelbare thematische Verbindung zum Werk bzw. zur historia als solcher fehlt, nicht jedoch ein gedanklicher Zusammenhang schlechthin geleugnet werden soll, zeigen auch die Beispiele, die Quintilian zur Erläuterung dieses Typus heranzieht (Isokrates, Helena und Panegyrikos, Gorgias, Olympikos)\ cf. Drexler, Sallustiana 53 f. und (grundsätzlich) Earl, ANRW 12, 848 f. Einen Eindruck von der Vielfalt des Materials vermitteln die Arbeiten von Perrochat (Les modeles grecs, 1949) und Avenarius (1956 und 1957).

13 Die beiden genannten Charakteristika lassen schon je für sich eine deutliche Erweiterung der Thematik erwarten; ihr Zusammenwirken hat zur Folge, daß wir im Catilina-Proömium mit einer besonders großen Vielfalt von Motiven und Gedanken rechnen müssen. Das komplementäre Vorwissen des lector eruditus, das Sallust mit einbezogen hat, kann folglich allen Bereichen entstammen, in denen philosophisches, geschichtstheoretisches und speziell historiographisches Gedankengut enthalten ist, aber auch etwa der forensischen Rede und sogar der Dichtung24. Damit eröffnet sich ein unübersehbares und im wesentlichen nur durch die Zufälligkeiten der Textüberlieferung begrenztes Feld. Einige Aussicht, sich hier zurechtzufinden, besteht jedoch dann, wenn man von den Motiven des Sallusttextes ausgeht, die erkennbar einer vorgegebenen Tradition zugeordnet sind, und sich ferner vor allem auf diejenigen Autoren und Werke konzentriert, deren 'Einfluß' auf Sallust von der Forschung bereits nachgewiesen ist25, also etwa Polybios, Poseidonios und Cicero26. Dabei kann es jedoch im Rahmen der skizzierten

24. Die besondere Bedeutung des Sallustischen Bildungshorizontes gerade für die Proömien hat schon Earl hervorgehoben (ANRW 12, 854): "Sallust was a very different character [sc. from Cicero], Eruditus and disertus he was called [Verweis auf Suet., Fronto, SHAJ. The significance of the terms is literary, denoting wide and recherchö knowledge of earlier literature. Sallust exhibits the influence of Cato and the Greeks - Hellenistic historiography, Demosthenes, Isocrates, Xenophon, Plato and Thucydides". 25. Einen Markstein in der Geschichte der Quellendiskussion stellt die (inzwischen freilich auch darin überholte) Arbeit von Egermann über die Proömien dar. Den vor allem in der älteren Forschung bezweifelten Einfluß des Polybios und vor allem des Poseidonios auf Sallust hat Schur betont (96 ff.). Dabei ist jedoch zu unterscheiden zwischen allgemeineren geschichtsphilosophischen Fragestellungen und der Darstellung bzw. Erklärung konkreter historischer Ereignisse und Zusammenhänge. 26. Den Einfluß Ciceros hat in der neueren Forschung insbesondere Pöschl überzeugend nachgewiesen (zum Anfang von Sallusts Catilina) und gleichzeitig bezweifelt, daß Sallusts philosophische Sentenzen über die Natur des Menschen

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Fragestellung nicht primär um das Problem gehen, die Herkunft bestimmter bei Sallust belegter Gedanken zu ermitteln und ihre Verwandlung in der vorsallustischen Tradition zu rekonstruieren, sondern es soll umgekehrt die historiographische Tradition dazu benutzt werden, den Gedankengang Sallusts in seinen Bestandteilen und in seinem Zusammenhang zu entschlüsseln, wo dies bisher nicht oder nicht befriedigend gelungen ist. Die Resultate, die sich auf diese Weise von Fall zu Fall erzielen lassen, können uns wenigstens schrittweise dem zeitgenössischen gebildeten Leser näher bringen, der die brevitas Sallusts noch als eine virtus zu würdigen vermochte 27 . Wir werden dafür zunächst etwas weiter ausholen müssen, um das für das Verständnis des Proömiums konstitutive historische Erklärungsmodell zu identifizieren. Im Anschluß daran werden wir zu analysieren haben, auf welche Weise und in welcher Absicht Sallust dieses Modell aufgegriffen und modifiziert hat.

direkt aus griechischen Texten entnommen seien. 27. In der gegenwärtigen Sallustforschung spielt, soweit sie ernst genommen zu werden verdient, die allzu eindimensional geführte Quellendiskussion früherer Zeiten keine wesentliche Rolle mehr. Statt dessen haben der Forschungseifer und Sammlerfleiß einiger Gelehrter sich des Sallustischen Werkes bemächtigt, um zu dessen Erläuterung einen thesaurus locorum et sententiarum zu erarbeiten. Die überquellende Fülle von Gelehrsamkeit, die darin zum Ausdruck kommt, ist im Einzelnen immer wieder hilfreich. Der für das Verständnis Sallusts unabdingbare literarhistorische Horizont seines Werkes ist jedoch noch weitgehend unerforscht.

2. Sallust, Cat. 1,5-2,6: imperium transfertur Das Verständnis des Ctf//7wa-Proömiums ist durch die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte in mancherlei Hinsicht erheblich gefördert worden28. Dies gilt vor allem für den grundlegenden Abschnitt Cat. 1,1-4, der das Leitmotiv für Sallusts erstes historiographisches Proömium enthält und der fast abrupt mit den Worten einsetzt: Omnes homines. qui sese student praestare ceteris animalibus, summa ope niti decet, ne vitam silentio transeant veluti pecora, quae natura prona atque ventri oboedientia finxit. Sallust beginnt sein erstes Werk mit einer Maxime, die sich auf den ersten Blick als modifiziertes Zitat eines bekannten Aristotelischen Lehrsatzes zu erkennen gibt29. Durch die Modifikation wird freilich ein pointiertes anthropologisches Postulat daraus, das Sallust in den unmittelbar daran anschließenden Sätzen knapp und klar expliziert (Cat. 1,2-4): es ist dem Menschen aufgrund seines Wesens aufgegeben, mit aller seiner Kraft nach Ruhm zu streben30, und dafür muß er sich seiner geistigen Fähigkeiten bedienen. Bis dahin ist das Verständnis des Textes nicht strittig.

28. Die größten Verdienste darum hat sich zweifellos Leeman erworben; in den für das hier erörterte Thema entscheidenden Fragen kann ich ihm allerdings nicht folgen. 29. Πάντες άνθρωποι του είδέναι όρέγονται φύσει (Aristot. Met. 1,1,1). 30. Ähnlich sentenziös Plin. epist. 3,21,6: quid homini potest dari maius quam gloria et laus et aeternitasl Zur Unverlierbarkeit einer auf virtus begründeten gloria vgl. auch Cie. Arch. 28 f. Im übrigen Knoche, Ruhmesgedanke passim. Das Motiv ist freilich, trotz zahlreicher griechischer Belege für die Abwertung des Ruhmes, keineswegs ungriechisch (gegen Egermann, Proömien 25 und passim, der allerdings recht hat, wenn er (74) bei diesem Motiv die angebliche Abhängigkeit Sallusts von einer griechischen Quelle bestreitet).

16 Die Deutungen des zweiten, darauf folgenden Abschnitts dagegen sind insgesamt und in fast allen Einzelheiten so kontrovers wie nur möglich 31 . Es besteht keine Übereinstimmung über das Thema oder die Themen, die Sallust hier behandelt, und man ist sich nicht einmal darüber einig, wie weit der in 1,5 beginnende Gedankengang reicht32. Einzelerklärungen sind in dem großen Kommentar von Vretska zwar in bemerkenswerter Fülle und eindrucksvoller Gelehrsamkeit zusammengetragen, sie lassen sich jedoch nicht zu einem Gesamtbild zusammenfügen33; einige davon sind nicht nur miteinander schwer vereinbar, sondern stehen im direkten Widerspruch zueinander, so daß sie sich gegenseitig aufzuheben scheinen34. Obgleich derartige Divergenzen bei der Deutung einer für Sallusts Geschichtsbild zentralen Perikope einigermaßen irritieren müssen, liegen sie letztlich doch nur in der Konsequenz einer philologischen Kommentierung, deren Methode darin besteht,

31. Von dieser Feststellung geht auch Ducroux in seinem Aufsatz über das Proömium aus, freilich ohne selbst überzeugende Lösungen vorschlagen zu können. 32. Gegen die meist akzeptierte Zäsur zwischen Cat. 2,6 und 2,7 hat vor allem Büchner Einwände vorgebracht (Sallust 97 f.; vgl. Ducroux 103). Guerrini hat in seinem (insgesamt wenig ergiebigen) Aufsatz über das Catilina-Proömium die Kapitel-Einteilung der frühen Neuzeit als Gliederungsschema benutzt. 33. Besonders symptomatisch für die Willkür, mit der man die Bauteile des Proömiums als Spielmaterial für eine sezierende Analyse benutzt hat, ist die Arbeit von Altheim. Sie geht von der Prämisse aus, daß der Abschnitt Cat. 1-6 ein Eigenleben besitze, das sich durch keine Angleichung dem Gedankengang dienstbar machen lasse (107). Erklärt wird dieses angebliche Eigenleben damit, daß es sich um eine Schilderung von Roms Niedergang am Ende der Königszeit handle, die eigentlich hinter Cat. 6,7 gehöre, wo sie in Sallusts Vorlage, den Historien des Poseidonios, auch gestanden habe. Sallust habe sie dort aber nicht gebrauchen können, weil es für ihn nicht zwei Krisen der römischen Geschichte gegeben habe, sondern nur die eine nach 146, und deshalb habe er den Passus nach vorn ins Proömium hineingenommen. 34. Dies gilt z.B. für die zur Erklärung zitierten Parallelstellen' zum Waffenstreit und zur Kriegsführung, insbesondere aber für die Belege, die die uneinheitliche Deutung der Schlußsentenz 2,6 stützen sollen.

17 Einzelmotive genetisch durch die Bildung von geistes- und literaturgeschichtlichen Motivketten zu erklären, ohne dabei die Einbettung in den Kontext hinreichend zu berücksichtigen und ohne die divergierenden motivgeschichtlich orientierten Deutungsmöglichkeiten gegeneinander abzuwägen35. Um eine kritische Überprüfung der konkurrierenden Deutungen wird man indessen nicht herumkommen, wenn man jene gedankliche Einheit bestimmen will, in der möglichst alle Einzelgedanken als organische Bestandteile dieser einen Konzeption ihren Sinn bekommen36. Sobald dies gelingt, wird sich auch die Funktion des fraglichen Gedankenganges im Gesamtzusammenhang des Proömiums deutlicher erkennen und folglich das Proömium insgesamt besser verstehen lassen. Der Abschnitt, um den es hier geht, reicht, wie sich zeigen wird, von Cat. 1,5 bis 2,6. Da schon das bloße Textverständnis an mehreren Stellen durchaus strittig ist, sei der Analyse eine deutsche Übersetzung vorangestellt, die vorweg und stillschweigend in verschiedenen Punkten Stellung bezieht: "Aber lange Zeit gab es einen großen Streit unter den Menschen darüber, ob das Kriegswesen besser durch körperliche Stärke oder durch geistige Leistung vorankäme. Denn bevor man damit beginnt, ist Überlegung, und sobald man überlegt hat, ist schnelles Handeln notwendig. So ist beides für sich genommen unzureichend und bedarf der Unterstützung des anderen.

35. Auch in der verdienstvollen Arbeit von No vara scheint vielfach die Bestimmung der konkreten Textaussage hinter dem motivgeschichtlichen Interesse zurückzutreten. 36. Die hier postulierte Prämisse einer einheitlichen Konzeption ist in der Sallustforschung kein Allgemeingut. Der (nicht immer ausgesprochene) Gegeneinwand, Sal lust habe in seinem ersten Werk sein literarisches Handwerk noch nicht völlig beherrscht (so vor allem Büchner; s.o., Anm. 11), kann jedoch a priori nicht akzeptiert werden: Sallust war zur Abfassungszeit des Catilina kein Anfänger mehr, sondern stand, nach einer exzellenten Ausbildung und Karriere auch als Redner, im fünften Lebensjahrzehnt. Dilettantismus und Stümpereien sind daher im Catilina ebenso wenig zu erwarten wie kurz danach im lugurtha.

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(2,1) Folglich ließen anfangs die Könige - denn das war auf Erden der erste Name für Herrschaft - in unterschiedlicher Weise teils den Geist üben, andere den Körper: auch damals verlief das Leben noch ohne Begehrlichkeit, ein jeder hatte an dem Eigenen genug Gefallen. Als aber in Asien Kyros, in Griechenland die Lakedämonier und die Athener anfingen, Städte und Völker zu unterwerfen, in der Lust am Herrschen einen Kriegsgrund zu besitzen und den größten Ruhm im größten Herrschaftsgebiet zu sehen, da erst machte man durch Erprobung und Handeln die Erfahrung, daß im Kriege der Geist das meiste vermag. (2,3) Wenn aber die innere Kraft der Könige und Herrscher im Frieden so stark wäre wie im Kriege, dann befänden sich die menschlichen Verhältnisse in einem ausgeglicheneren und gefestigteren Zustand, und man würde nicht das eine hierhin, das andere dorthin treiben und nicht alles in Bewegung und in Verwirrung sehen37. Denn eine Herrschaft läßt sich leicht mit den Tugenden aufrechterhalten, mit denen sie anfangs erworben wurde. Wo jedoch anstelle von Anstrengung Erschlaffung, anstelle von Selbstbeherrschung und Rechtlichkeit Willkür und

37. Bei Sallusts neque aliud alio ferri neque mutari ac misceri omnia dürfte es sich um eine Reminiszenz an das ταραχή και κίνησις des Polybios handeln. Die Formulierung steht dort in dem berühmten Kapitel, in dem Polybios die Frage nach der Qualität der römischen Weltherrschaft stellt und stammt aus genau dem Satz (3,4,12), mit dem er ankündigt, daß die Darstellung der Vorteile und Nachteile dieser Weltherrschaft für die Betroffenen das τέλος seines Werkes sein werde, ein Versprechen, das er schon deshalb vermutlich nie eingelöst hat, weil er die römische Herrschaft ebenso wie Scipio Aemilianus akzeptierte (so Strasburger, Poseidonios 46). Vgl. dazu auch Walbank (Political Morality 2 f.), der wahrscheinlich gemacht hat, daß Polybios mit dem Bicolon ταραχή και κίνησις nur die letzten Jahre der Zeitspanne zwischen Pydna und 146 (etwa seit 150) meint (4): obwohl er selbst sich mit seinem Urteil zurückhalte, sei er offenbar der Ansicht, daß die römische Herrschaftspraxis sich in dieser Zeit geändert habe (7 f.). Mit anderen Worten: die Reflexionen des Polybios beziehen sich auf eine Krise der römischen Weltherrschaft, auf die er nicht mehr ausführlich eingegangen ist.

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Überheblichkeit eingedrungen sind, da ändert sich das Schicksal zugleich mit den Verhaltensweisen. So wird die Herrschaft stets von dem weniger Guten auf den jeweils Besten übertragen." Ein adäquates Verständnis dieses Abschnitts hängt weitgehend davon ab, wie der mehrfach benutzte Begriff imperium und die von ihm abgeleiteten Begriffe gemeint sind. Imperium kann bei Sallust, wie auch sonst im Lateinischen38, sowohl die Machtausübung innerhalb eines Staatswesens bedeuten als auch die Herrschaft über fremde Staaten und unterworfene Völker. Der Begriff imperium hat also, um es in der verkürzenden modernen Terminologie zu formulieren, sowohl eine innenpolitische als auch eine außenpolitische ΒedeutungsVariante. Dem römischen Staatsdenken ist diese Unterscheidung ursprünglich schon deshalb fremd, weil imperium die Entscheidungs- und Machtbefugnis (z.B. eines Konsuls oder Prätors) schlechthin bezeichnet, wobei eine etwaige geographische Begrenzung eines solchen imperium in unseren Begriffen 'außenpolitisch' und 'innenpolitisch' keine Entsprechung findet. Da dies auch zu Sallusts Zeit noch so ist, ist sein Verzicht auf eine begriffliche Differenzierung nur natürlich. Dennoch oder eben deshalb wird der Begriff imperium auch von Sallust und seinen Zeitgenossen für ganz verschiedenartige Vorstellungen verwendet, wie sie ungefähr unserer modernen Unterscheidung zugrundeliegen. Das dokumentiert sich ζ. B. in dem Begriff imperium populi Romani, der in der späten Republik ganz geläufig ist39, aber auch in der Bezeichnung Roms als domicilium imperii (Cie., De or. 1, 105) und wohl überhaupt in der Idee von Roms

38. Vgl. bes. Μ. Αwerbuch, Imperium (1981) und Suerbaum 52 ff. 39. Der Begriff imperium populi Romani ist, wie Suerbaum betont hat, nur auf das Verhältnis zu andern Völkern bezogen (53).

20 Weltherrschaft 40 . Die zahlreichen Hinweise Ciceros und auch Sallusts auf die Wirkung, die von der Praxis römischer Herrschaftsausübung auf die von Rom abhängigen Völker ausgeht, und die Bemerkungen über tatsächliche oder mögliche Reaktionen der Betroffenen auf diese Herrschaftspraxis zwingen den Interpreten geradezu zu der Überlegung, ob im Einzelfall mehr an diese oder mehr an jene Bedeutung gedacht werden muß. Wie relevant eine solche Entscheidung für den Gesamtsinn eines Textes sein kann, läßt sich besonders deutlich am Schluß unseres Abschnitts im Catilina-Proomium erkennen, wo Sallust das historische Gesetz formuliert, daß das imperium stets von dem weniger Guten auf den jeweils Besten übergehe. Nach der üblichen Auffassung muß imperium hier im innenpolitischen Sinne verstanden werden. Demnach spräche Sallust davon, daß die Regierungsgewalt im Staate41 infolge einer historischen Gesetzmäßigkeit immer dem jeweils Besten zufalle. Strittig ist dabei offenbar lediglich, ob dies wirklich in dem allgemeinen Sinne gelten soll, in dem es gesagt scheint, oder ob Sallust dabei eher an bestimmte historische Personen bzw. an eine bestimmte politische Situation gedacht hat, was die Allgemeingültigkeit dieses Gesetzes deutlich relativieren würde. Für eine davon abweichende Deutung hat sich vor einem halben Jahrhundert, wenn auch nur beiläufig, Viktor Pöschl ausgesprochen und den Satz folgendermaßen paraphrasiert: "Das Imperium wird auf eine andere Macht übertragen werden, sobald eine solche in höherem Maße als Rom die moralische

40. Vgl. Sail. hist. fr. 1,1 Μ (res Romana plurumum imperio valuit...). Folglich hat sich die Benutzung der modernen Begriffe 'außenpolitisch' und 'innenpolitisch', trotz der an sich ganz anders gearteten Verhältnisse im antiken Rom, weitgehend durchgesetzt; vgl. z.B. J. Bleicken, Die Verfassung der römischen Republik, Paderborn 3 1982 (UTB 460), S. 221 u.ö. 41. So z.B. Egermann 7; cf. Vretska z.St.

21 Berechtigung hierfür aufweisen kann, m.a.W. das römische Imperium wird früher oder später zu Ende gehen" 42 Dieser Ansatzpunkt hat jedoch in der Forschung kaum Beachtung gefunden, und obwohl Pöschl seine Auffassung später in anderem Zusammenhang noch einmal mit Nachdruck wiederholt hat 43 , ist offenkundig nie der Versuch gemacht worden, den Gedanken konsequent weiter zu verfolgen und zu Ende zu denken 44 . Am deutlichsten wird die communis opinio der modernen Forschung in den Übersetzungen und Paraphrasen, die das imperium transfertur aus Cat. 2,6 als Hinweis auf einen Regierungswechsel deuten: "Ainsi le pouvoir passe sans cesse du moins bon au meilleur"45. So auch Novara, die für die daraus resultierenden Verständnisschwierigkeiten komplizierte Lösungsvorschläge entwickelt. Tiifou zieht sich in seinem umfangreichen Buch über die Proömien des Sallust (das sich auch sonst meist darauf beschränkt, den erreichten Forschungsstand darzulegen) auf eine eher nichtssagende Paraphrase zurück ("La fortuna, changeant avec les moeurs, le pouvoir se modifiera et un homme plus vertuex s en emparera", p. 50). Steidle hat konstatiert (Monographien 16 f.), daß bei Sallust

42. Pöschl, Grundwerte 78 f. 43. V. Pöschl, Die römische Auffassung der Geschichte (Gymnasium 65, 1956, 203); etwa gleichzeitig formuliert er anderswo die Frage, ob Sallusts Bemerkung "das imperium gehe immer a minus bono ad optimum quemque über, nicht geradezu ein Grundmotiv der taciteischen Germania" sei (Tacitus und der Untergang des römischen Reiches, WSt 69, 1956, 317). Er sieht in dem Wechsel des Imperium vom Schlechteren auf den jeweils Besten aber weniger einen Hinweis auf eine akute Gefahr für Rom als eine Zukunftsperspektive. 44. Dies gilt auch für La Penna, dem das Verdienst gebührt, den Satz ohne Vorbehalte im außenpolitischen Sinne verstanden zu haben: "la visione e delineata sotto l'impressione della decadenza deH'imperio persiano, della fine dell'egemonia spartana, della fine dell'egemonia ateniese: tutti questi imperi hanno peccata di ύβρις, perche non hanno saputo infrenare la lubido dominandi" (42). Die Konsequenzen, die sich daraus im Sinne Sallusts für das imperium Romanum ergeben, hat er nicht in Betracht gezogen. 45. So die Übersetzung von HellegouarcTi in der Sallust-Ausgabe von A. Ernout, Paris 1989.

22 die innenpolitischen Verhältnisse bei weitem dominierten (worüber man diskutieren könnte) und dafür (ibid. Anm. 1) auf Cat. 10,6 und 11,5 verwiesen (was kaum richtig ist). Der Grund dafür, daß die Beobachtung Pöschls in der Forschung so wenig Beachtung gefunden hat, dürfte darin liegen, daß er sie beide Male nicht in Arbeiten über den Catilina, sondern mehr beiläufig bei der Interpretation anderer Texte zur Sprache gebracht hat. In der früheren Arbeit haben sich dabei gewisse Inkonsequenzen ergeben, durch die Pöschl seine These selbst partiell wieder entkräftet hat. Er behandelt nämlich Sallusts Hinweis auf ein mögliches Ende Roms durch äußere Gefahren als Parallelstelle zu der discordia-Sentenz in Sallusts MicipsaRede (lug. 10), also als Variante des topischen Gedankens, daß durch Zwietracht das stärkste Reich Überfallen kann (cf. epist. 1,5,2). Indessen ist discordia auch bei Sallust stets ein rein innenpolitisches Phänomen, das im Catilina-Proömium jedoch nirgendwo erwähnt wird. Die vorgebliche Analogie der beiden an sich sehr verschiedenen Gedanken Cat. 2,5 und lug. 10,6 ergibt sich bei Pöschl daraus, daß er in seinem Referat beide in einem entscheidenden Punkt stillschweigend verändert hat. Anstelle der im Catilina genannten Verfallsgründe lubido, desidia und superbia setzt er die Zwietracht aus dem Iugurtha ein, und für das regnum firmum aus dem Iugurtha läßt er die "größten Reiche", also die maxuma imperia aus dem Ca//7ma-Proömium eintreten. Zwar steht auch im Iugurtha das Wort maxumae, aber als Attribut zu res und in der erläuternden Sentenz. Die Antithetik besteht im Iugurtha in den Begriffen Stabilität (firmum) und Zwietracht (discordia) und ist von der des Catilina streng zu trennen46. Zudem verträgt sich die weltgeschichtliche Perspektive von einem künftigen Ende des Imperium Romanum und dem Übergang der Weltherrschaft auf einen Besseren nicht sehr gut mit Pöschls Auffassung, Sallust habe den Gedankengang von Cat. 2 aus besonderer Enttäuschung über das politische Versagen der Feldherren Marius, Sulla, Pompeius und Caesar niedergeschrieben (Grundwerte 46 f.).

46. Auch in der griechischen Historiographie wird diese Unterscheidung mit aller Klarheit durchgeführt (s.u., 90 f.).

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So beherrscht die innenpolitische Deutung das Feld47, und die außenpolitische, also der Bezug der Sentenz auf Rom und sein Imperium, wird allenfalls mit dem Vorbehalt erwogen, daß Sallust sich in seinen eigenen Gedanken verfangen haben48 oder an eine längst vergangene Epoche der römischen Geschichte gedacht haben müsse49. Im einzelnen weichen die Erklärungsversuche des Schlußsatzes und des ganzen Abschnitts jedoch so erheblich voneinander ab und sind insgesamt so unbefriedigend, daß schon deshalb eine gründliche Überprüfung geboten ist. Dabei aber ergibt sich, daß alle Versuche, das von Sallust beschriebene historische Gesetz als einen innenpolitischen Mechanismus zu verstehen, zum Scheitern verurteilt sind. Das gilt insbesondere für die verschiedenen Vorschläge, den Satz als eine aktuelle Anspielung auf bestimmte Personen und auf konkrete Situationen der römischen Geschichte zu interpretieren50. Aber es gilt auch für diejenige innenpolitische Deutung, die man als den Versuch einer staatsphilosophischen Erklärung bezeichnen könnte. Hier wird das Ziel verfolgt, den erklärungs-

47. Vorsichtig abwägend McGushin z.St.; Vretska erwägt zunächst alle Möglichkeiten und entscheidet sich erst am Schluß für die verfassungstheoretische Deutung des optimus quisque, das beliebige Nebeneinanderstellen von inkommensurablen Erklärungen bedeutet jedoch letztlich den Verzicht auf eine plausible Erklärung. 48. So offenbar Drexler, der etwas irritiert feststellt: "ein Satz, dessen Anwendbarkeit auf Rom Sallust klar gewesen sein muß" und der daher für die Beurteilung von Sallusts Pessimismus nicht ohne Bedeutung sei (Sallustiana 54). 49. So Altheim, der in dem Imperium transfertur die chronologische Folge der König- bzw. Hegemoniaireiche des Kyros, Spartas, der römischen Könige und Athens erkennen zu können glaubt (106). 50. Zu Cat. 2,3 vgl. Pöschl, Grundwerte 47 mit Anm. 3; zur Deutung des optimus quisque von 2,6 als Anspielung auf eine bestimmte Person vgl. Wimmel 213: "eine Betrachtung, die man doch wohl auch auf einen Fortschritt in Richtung auf Caesar beziehen muß". Mit der Möglichkeit eines allgemeinen Bezugs von 2,2 auf Rom scheint Pöschl zu rechnen (Grundwerte 111, Anm. 1 zu S. 110). Noch weiter geht (zu 2,1-2) Novara 725 f. Im übrigen vgl. auch Vretska 70 zu 2,5 (gegen Büdingers Bezug von desidia, superbia, lubido auf Lepidus, Antonius, Octavianus).

24 bedürftigen Gedanken in eine auch sonst bekannte antike Tradition einzuordnen und ihn auf diese Weise durch einen hinzugewonnenen geistesgeschichtlichen Kontext verständlich zu machen. Diesen Versuch hat mit stupender Gelehrsamkeit Karl Vretska in seinem großen Kommentarwerk unternommen. Demnach hätte Sallust mit dem Satz Cat. 2,6 den Kreislauf der Verfassungen in einem Staatswesen gemeint; die wichtigste Parallelstelle, die Sallusts Auffassung besonders gut verdeutlichen könne, sei die Theorie des Polybios über den Kreislauf der Staatsverfassungen. Das hier angewendete Erklärungsprinzip ist gewiß methodisch unanfechtbar. Seine Realisierung im Rekurs auf Polybios fuhrt indessen erst recht in die Aporie. Dies wohl schon deshalb, weil das Gesetz vom Verfassungskreislauf nach Meinung des Polybios gerade für Rom und seine Misch Verfassung keine Geltung hat31, so daß man zu der nicht eben wahrscheinlichen Annahme Zuflucht nehmen müßte, Sallust hätte verfassungstheoretische Fragen der griechischen Staatslehre aufgegriffen, um deren Sinn selbständig umzudeuten. Vor allem aber gibt es natürlich weder bei Polybios noch sonst irgendwo einen Verfassungskreislauf mit positiver Tendenz - falls so etwas denn überhaupt denkbar ist und man muß das Polybianische Gesetz schon arg umbiegen, um es als eine Theorie des "Aufstiegs" verstehen zu können. Was aber Sallust betrifft, so stünde eine solche prinzipiell optimistische Beschreibung der inneren Entwicklung Roms in unvereinbarem Gegensatz zu allen sonstigen Erwägungen, die er im Catilina und in seinen übrigen Werken angestellt hat. Da andere Versuche, die Salluststelle mit Hilfe der griechischen Verfassungstheorie zu erklären, aber noch viel weniger überzeugen können, muß der Gedanke an die innenpolitische Bedeutung von Imperium ganz außer Betracht bleiben.

51. So schon Polyb. 6,10,6 ff. über die Mischverfassung Lykurgs (§ 14 über Rom). Daß auch ein Staat mit einer Mischverfassung nicht gegen die Gefahr des Untergangs gefeit ist, begründet Polybios allein mit dem Topos, daß auf Erden alles von Natur Entstandene eines Tages auch von Natur untergehen müsse (6,9, 13). Prägnanter dann 6,57 über die ochlokratische Gefährdung der römischen Verfassung nach Beseitigung des metus hostilis (dazu s.u., S. 92 mit Anm.).

25 Demgegenüber soll hier die These aufgestellt und begründet werden, daß nicht nur in Cat. 2,6, sondern darüber hinaus auch in dem ganzen Abschnitt von 1,5 bis 2,6 ein 'außenpolitischer' Gedanke bestimmend ist. Die die Einheit des Abschnitts konstituierende Frage lautet, wie ein imperiales Staatswesen die zu unterwerfenden und die bereits unterworfenen Völker behandeln soll. Im Falle Roms bedeutet das: es geht um die Behandlung der socii et amici. Erst bei einer konsequent außenpolitischen Deutung wird Sallusts völlig stringente Gedankenführung erkennbar, und gleichzeitig ergibt sich ein sehr viel klarerer Aufbau des ganzen Catilina-Proömiums. Man kann Sallusts Gedankengang dann etwa so wiedergeben: Thema des ersten Abschnitts von 1,1 bis 1,4 ist die Forderung, der Mensch müsse seine Zeitlichkeit durch ihn überdauernden Ruhm überwinden, und dies könne nicht durch den Leib, sondern nur durch den Geist gelingen, weil dieser allein das spezifisch menschliche Mittel sei, dem Ruhmstreben Erfolg und Dauer zu verleihen. Diese Behauptung prüft und belegt Sallust in dem nächsten Abschnitt 1,5 bis 2,6 am Beispiel der Staaten und ihres Verhältnisses zueinander: Ruhmstreben, so erläutert er, bedeutet im Falle eines Staates das Streben nach Vorherrschaft über andere Staaten, und es stellt sich heraus, daß die Voraussetzung für einen dauerhaften Erfolg auch hier ingenium und animi virtus sind. Erst in einem dritten Abschnitt von 2,7 an behandelt Sallust das Ruhmstreben der Individuen. Von hier aus ergibt sich dann ein organischer Übergang zu jenem Teil des Proömiums, in dem Sallust darlegt, daß dem einzelnen Menschen verschiedene Möglichkeiten gegeben seien, seine Zeitlichkeit mit Hilfe des ingenium zu überwinden und sich ewigen Ruhm zu erwerben, daß jedoch die Geschichtsschreibung dazu besonders gut geeignet sei. Das funktionale Verhältnis dieser drei Teile kann man dann so bestimmen, daß der erste Abschnitt ein anthropologisches Theorem entwickelt, während die beiden anderen Abschnitte dazu dienen, dieses Theorem in zwei selbständigen und ein-

26 ander gleichgeordneten Beweisgängen zu überprüfen und zu verdeutlichen, wobei der eine das Verhalten des menschlichen Kollektivs untersucht, das wir Staat zu nennen pflegen, während der andere dem Verhalten des menschlichen Individuums gewidmet ist. Das ist eine klare Thematik und eine klare Komposition. Der wichtigste Beweis dafür, daß diese Analyse tatsächlich im Sinne des zugrunde liegenden Textes richtig ist, kann jedoch erst dann als erbracht gelten, wenn der Gedankengang in dem Abschnitt von 1,5 bis 2,6 auf diese Weise die bislang noch ausstehende schlüssige Erklärung findet.

3. Weltreichgründung und Weltreichbewahrung a) Der Ruhm der Weltherrschaft Das anthropologische Theorem des ersten Proömienabschnitts (Cat. 1,1-4) ist mit den beiden ihm zugeordneten Beweisgängen organisch verbunden durch die Antizipation eines möglichen Gegeneinwands (sed). Dieser Einwand ist in der Feststellung enthalten sed diu magnum inter mortalis certamen fitit, vine corporis an virtute animi res militaris magis procederet (Cat. 1, 5). Mit anderen Worten: während sonst ein allgemeiner Konsens darüber besteht, daß der Mensch sich nur mit Hilfe des Geistes wahren und dauerhaften Ruhm erwerben kann, spielen im Kriegswesen, in der res militaris, auch die körperlichen, d.h. die materiellen Kräfte eine so große Rolle, daß es lange strittig war, was von beiden wichtiger wäre. In der gedanklichen Struktur des Proömiums dient der Begriff res militaris mithin dazu, das allgemeine anthropologische Philosophen! geschichtsphilosophisch zu konkretisieren und zu dem besonderen historischen Paradigma Ruhmstreben der Staaten überzuleiten52. Für diese Funktion ist der Begriff schon deshalb vorzüglich geeignet, weil mit ihm der kritische Grenzfall in den Blick kommt, an dem sich die uneingeschränkte Geltung der These von der Überlegenheit des Geistes in der Geschichte der Menschheit erweisen muß: daß im Kriege das physische und materielle Übergewicht ein bedeutsamer Faktor ist, läßt sich nicht bestreiten. Damit aber wendet Sallust den methodischen Kunstgriff an, den scheinbar schwächsten Punkt

52. Eine konkretere Vorstellung von dem Bereich, für den das Stichwort res militaris steht, geben die Erörterungen des Polybios in dem Exkurs 9, 12-20.

28 einer Theorie an den A n f a n g der Erörterung zu stellen, um daraus ein besonders schlagendes A r g u m e n t zu gewinnen 5 3 . Selbstverständlich ist hier nicht an die homerischen Zweikämpfer gedacht und erst recht nicht an den Streit zwischen dem geistig überlegenen Odysseus mit dem an Tapferkeit stärkeren Aias um die Waffen des Achill (Vretska 47). Dem widerspricht schon die abstrahierende Formulierung res militaris magis procederet, aber auch das diu magnum inter mortalis certamen fuit, das seinen Sinn aus dem Bezug auf die Cat. 2,2 genannten Kriege erhält. Auch die Präzisierung in 1,6 läßt erkennen, daß es sich hier um kriegstaktische Überlegungen handelt und nicht um die Qualitäten von heroischen Zweikämpfern 54 . Was aber speziell den Waffenstreit betrifft, so ist es unzulässig, die Antinomie Tapferkeit Klugheit (Aias - Odysseus) der Antinomie Körperkraft - Klugheit (bzw. vis corporis - virtus animi) gleichzusetzen; man wäre damit gleichsam den rhetorischen Kunststücken des Ovidischen Odysseus aufgesessen und würde dessen höhnische Polemik übernehmen, mit der er im Waffenstreit mit Aias brilliert (Met. 13, 128 ff.). Daß die rhetorische Verdrehung der Ovidischen Fassung tatsächlich sekundär ist, zeigt auch die als Beleg herangezogene Odyssee-Stelle (8,75); ebenso die Verwendung bei Euripides und allen anderen (zitiert bei Vretska, Kommentar 47, mit Anm. 105 f.). Folglich zwingt schon die Variationsbreite der hier verwendeten Topoi, präzise zu bestimmen, welche Qualitäten einander gegenüberstehen oder gegeneinander ausgespielt werden. Bei Sallust steht auf der einen Seite die materielle Stärke, die in den Erscheinungsformen Körperkraft (individuell) oder Militärpotential (kollektiv) auftritt und die im praktischen Handeln durch die Kriegstugend Tapferkeit realisiert werden muß, auf der anderen Seite (ebenfalls individuell oder kollektiv) 'intellektuelle' Qualitäten, die bei den jeweiligen Entschei-

53. Also eine praemunitio, vgl. Steidle, Monographien 9, Anm. 2 und Altheim 109 f. 54. Die Differenzierung zwischen dem allgemeinen Bereich der res militaris und den Taten, die ein Einzelner im Krieg vollbringen kann, ist auch im Hinblick auf die von Pöschl (Grundwerte 29) zur Erläuterung herangezogene Stelle Cie. off. 2, 45-46 zu beachten. Darüber hinaus ist die dort angeblich von Cicero vertretene "Ansicht, daß kriegerische Taten im wesentlichen auf körperlichen Leistungen beruhen" (Pöschl ibid.) durch den Kontext zu relativieren.

29 düngen zur Geltung kommen. Insofern die intellektuellen Qualitäten sich mit bestimmten moralischen Qualitäten überschneiden können (ζ. B. moralische Integrität in der Poltik als Gebot politischer Klugheit), ist die Antinomie jeweils durch genaue Bestimmung des Gegenpols zu kontrollieren und zu definieren. Fortuna (τύχη) kann stets auf beiden Seiten als Alternative zur Leistung auftauchen, fungiert jedoch in der Regel als Gegenpol zur materiellen Stärke.

Die in Cat. 1,5 beschriebene Ungewißheit über die Relevanz der beiden kriegsentscheidenden Faktoren erläutert Sallust mit dem Hinweis, daß sich im militärischen Bereich materielle und geistige Stärke die Waage zu halten scheinen, da ja, eine einfache kriegstaktische Überlegung, zunächst richtig entschieden werden, dann aber zur sofortigen Durchführung der Entscheidung alles Erforderliche gleich verfügbar sein muß: nam et prius quam incipias consulto, et ubi consulueris, mature facto opus est (1,6). Daher ist eine ausreichende materielle Stärke ebenso unverzichtbar wie die geistige Stärke, so daß beide Faktoren einander bedingen und der eine ohne den anderen wirkungslos bleibt: ita utrumque per se indigens alterum alterius auxilio eget (1,7) 55 . Zu Beginn von cap. 2 gibt Sallust so etwas wie eine historische Datierung jener Zeit, in der man noch nicht wußte, ob es im Kriege mehr auf geistige oder mehr auf materielle Stärke ankomme. Diese Datierung erfolgt in zwei Schritten. Zunächst bestimmt Sallust die fragliche Epoche als die Frühzeit der Menschheitsgeschichte, in der die Herrschaftsgewalt noch von Königen ausgeübt wurde: igitur initio reges - nam in terris nomen imperi id primum fuit - divorsi pars ingenium, alii corpus exercebant (2,1).

55. Eine im Hinblick auf Beweisziel und antike Konvention noch sehr zurückhaltende Formulierung, die aber eben dadurch um so unangreifbarer wirkt. Die überkommene Topik (vgl. die Kommentare ad loc.) hätte es auch in diesem Bereich gestattet, den Vorrang von ingenium und animus zu postulieren (vgl. z.B. Thuk. 1,144,4 und Xen., Cyr. 3,3,19).

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Mit dem in Cat. 2.1 erwähnten unterschiedlichen Verhalten der Könige ist selbstverständlich nicht gemeint, daß die reges ihren eigenen Geist oder Körper ausbildeten bzw. daß sie überhaupt erst dadurch Könige wurden (Vretska 52), sondern daß die Könige ihre Führungsaufgabe damals in ganz unterschiedlicher Weise erfüllten, je nachdem ob sie an die Überlegenheit des einen oder des anderen Prinzips glaubten: die einen konzentrierten sich auf die Ausbildung aller verfügbaren geistigen, die anderen auf die aller materiellen Kräfte. Der Gedanke erinnert bis in die Formulierung an eine Stelle im Epitaphios des Gorgias (85 Β 6, V.-S. II 286,2 D; cf. Vretska 49): δισσά άσκήσαντες μάλιστα ών δει, γνώμην και βώμην. Auch dort geht es um ein kollektives Verhalten, nur eben in der attischen Demokratie und nicht in einer monarchischen Frühzeit. Das consulto opus est (im Kriege) ist natürlich ein Topos; Belegstellen in den Kommentaren. Obwohl Sallust mit initio reges ... zu Beginn von Cat. 2,1 eine sehr ungenaue Zeitangabe macht, ergibt sich schon aus dem in 1,5 genannten Beweisziel, daß die Formulierung sich nicht auf die Königszeit schlechthin beziehen kann, sondern nur auf denjenigen Teil von ihr, in dem die Menschen noch wenig Erfahrung mit Kriegen gemacht hatten. Die erforderliche Präzisierung, also der zweite Schritt in der historischen Datierung, erfolgt im nächsten Satz: etiam tum vita hominum sine cupiditate agitabatur: sua quoique satis placebant (2,1). Damit wird der frühen Königszeit konzediert, daß sie eine Epoche ohne Begehrlichkeit, eine Epoche der Selbstgenügsamkeit aller Menschen gewesen sei. Aber obwohl diese Qualität auch ein Kennzeichen der paradiesischen Vorzeit, also des mythischen Goldenen Zeitalters ist56, meint Sallust offensichtlich keine mythische, sondern eine historische Zeit. Er nennt kein einziges der eigentlichen Merkmale, durch die das Goldene Zeitalter in den bekannten Darstellungen lebendige Anschauung gewinnt, und, was noch wichtiger ist, das Motiv sine cupiditate erfüllt bei ihm eine durchaus andere Funktion als im Mythos. Dort erklärt

56. Drexler, Sallustiana 54: "Zuerst eine vita sine cupiditate, offenbar eine Art von aurea aetas"\ differenzierter Vretska 53 f.

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es das Phänomen des 'ewigen' Friedens unter den Menschen, hier definiert es eine Epoche, in der die res militaris zwar schon bekannt, ihr Wesen aber noch nicht wirklich durchschaut war, weil man noch keine Eroberungskriege geführt und die daraus resultierenden Erfahrungen noch nicht gemacht hatte57. Schon der Begriff reges signalisiert eine Abgrenzung von der üblichen Vorstellung vom Goldenen Zeitalter, da Königsherrschaft allgemein als Beginn der staatlichen Entwicklung galt, staatliche Entwicklung aber erst jenseits der Goldenen Zeit zu denken ist58. Vor allem aber verdient das etiam tum Beachtung: wenn das sine cupiditate die Goldene Zeit gleichsam überdauert hat und in die frühe Königszeit hinübergerettet werden konnte, dann ist eben damit die epochale Trennung beider Epochen vorausgesetzt 59 . Die ausführlichere Skizze im Proömium des Pompeius Trogus läßt klarer erkennen, wie man sich den Ablauf vorzustellen hat: Principio rerum gentium nationumque Imperium penes reges erat, quos ad fastigium huius maiestatis non ambitio popularis,

57. Ein locus classicus für die Anschauung, daß beide Motive amor habendi und Kriegführung, die Kriterien sind, nach denen sich eiserne und goldene Zeit voneinander unterscheiden, findet sich bei Vergil, Aen. 8, 324-327. Vielfach steht der amor habendi im Vordergrund, weil sich auf ihn der Krieg (und die Schiffahrt) zurückführen läßt. 58. Das "Königtum' der sapientes im Goldenen Zeitalter unterscheidet sich deutlich von der Königsherrschaft im Sinne der historischen Verfassungslehre (Poseidonios bei Sen. epist. 90,5), obwohl es natürlich Berührungspunkte zwischen einer idealisierten historischen Königszeit und der 'Goldenen Zeit' geben kann (vgl. Schur 78 zu Cat. 6); s.u., S. 58. 59. Mit etiam tum grenzt Sallust auch sonst verschiedene Entwicklungsstufen voneinander ab. So (in bezug auf die römische Geschichte) lug. 63,6 und (besonders aufschlußreich) 103,6 (nam etiam tum largitio multis ignorata erat). Hier wie dort ist das Phänomen gemeint, daß eine Entwicklungsphase zwar im Sinne einer (wie immer gearteten Dekadenz) von der vorangegangenen Zeit geschieden, gleichzeitig aber durch eine gemeinsame Qualität mit ihr verbunden ist, wobei die genannte gemeinsame Qualität als wesentliches Unterscheidungsmerkmal einen Gegensatz beider Epochen zur Gegenwart konstituiert.

32 sed spectata inier bonos moderatio provehebat. Populus nullis legibus tenebatur, arbitria principum pro legibus erant60. Offensichtlich ist auch hier nicht an eine 'goldene' mythische Vorzeit, sondern an eine idealisierte, aber geschichtliche Frühzeit gedacht. Das Charakteristikum dieser Frühzeit ist dasselbe wie bei Sallust: fines imperii tueri magis quam proferre mos erat; intra suam cuique patriam regna finiebantur (1,1,3). Dann die (nach dem Kriterium sine cupiditate) epochale Wende in der Menschheitsgeschichte: primus omnium Ninus, rex Assyriorum, veterem et quasi avitum gentibus morem nova imperii cupiditate mutavit. Hie primus intulit bella finitimis et rüdes adhuc ad resistendum populos terminos usque Libyae perdomuit (1,1,4-5). Hier ist die allgemeinere Formulierung Sallusts - vita hominum sine cupiditate agebatur - deutlicher spezifiziert: im Verhältnis von Staat zu Staat tritt die cupiditas als cupiditas imperii auf, und sie realisiert sich in Eroberungs- bzw 'Besitzkriegen'61, die gegen die Nachbarn zur Vergrößerung des eigenen Machtgebietes (finitimi) geführt werden. Im Begriff finitimi liegt eine Differenzierung, mit der Pompeius Trogus Rücksicht darauf nimmt, daß es nach antiker Überlieferung durchaus auch vor Ninos schon Kriege gegeben hatte. Als Beispiele dafür nennt er die frühen militärischen Vorstöße der Ägypter und Skythen (1,1,6). Aber diese frühen Kriege seien noch frei von Annexionsabsichten gewesen (=sine cupiditate imperii) und, darin liegt sein Beweis für diese Behauptung, sie hätten sich nicht gegen Nachbarstaaten (finitimi), sondern gegen weit entfernt wohnende Völker gerichtet. Wir lassen diese früheren Kriege und deren Motiv zunächst beiseite und fassen den bei Pompeius Trogus explizierten und

60. Der Gedanke, daß die Herrschaft der leges die der reges ablöst, ist topisch (sowohl bei einer Idealisierung wie bei einer Verdammung der Königsherrschaft); vgl. Liv. 2,1,1 und Sen. hist, bei Lact. div. inst. 7,15,14. 61. Zu diesem Terminus vgl. F. G. Maier, Neque quies 12.

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bei Sallust offensichtlich vorausgesetzten Ablauf zusammen: zuerst eine Epoche sine cupiditate {imperii), die in ihren Anfängen noch unerfahren in der Kriegsführung war62, weil Kriege nur ohne Annexionsziele bzw. ohne Herrschaftsansprüche geführt wurden, danach dann die bei Pompeius Trogus mit der Regierungszeit des Ninos beginnende Menschheitsepoche, die sich durch das imperiale Machtstreben der Staaten und durch die damit motivierten Eroberungskriege auszeichnet63. Der Frühzeit, in der die Menschen noch keine Erfahrung mit Eroberungskriegen hatten und in der sie noch nicht wußten, ob im Krieg der Geist oder materielle Stärke mehr vermag, wird bei Sallust durch das postea vero quam (2,2) die Epoche konfrontiert, in der durch Kriege die Erfahrung gemacht wurde, daß es auch hier in erster Linie auf geistige Fähigkeiten ankommt: compertum est in hello plurumum ingenium posse (2,2). Die historische Erfahrung, die zu dieser Erkenntnis geführt haben soll, wird durch die drei Exempla Kyros, Athen und Sparta belegt: so wie es dem älteren Kyros in Asien gelungen sei, vor allem durch ingenium und animi virtus64 seine Eroberungskriege und seine Großmachtpläne zu einem guten Ende zu führen, so hätten die Athener und Spartaner das gleiche in Griechenland erreicht. Die Wahl dieser Exempla erscheint seltsam, wenn man sie auf die sonst übliche Darstellung der Großmachtbildungen im

62. Deshalb nennt Pompeius Trogus die Völker dieser frühen Zeit rüdes adhuc ad resistendum populos (1,1,5). 63. Vgl. Otto Seel in seiner Übersetzung des Pompeius Trogus (Weltgeschichte im Auszug des Justin, Zürich und München 1972): "Für die Geschichtskonzeption des Trogus ist es von Wichtigkeit, daß er eigentliche Geschichte erst mit der Begründung und Veränderung territorialer Herrschaftsbereiche beginnen läßt" (480, Anm. 2, ad loc.). 64. Zwischen ingenium und animi virtus besteht im Ca/.-Proömium keine relevante semantische Differenz. Vgl. dazu u.S. 41 f..

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Osten bezieht, die in unseren Quellen ganz anders aussieht65. Am Anfang pflegt der Assyrer Ninos zu stehen, es folgen die Meder und erst dann die Perser. Vervollständigt wird die Liste durch die Weltreiche der Makedonen und der Römer66. Es wäre indessen abwegig, Sallust zu unterstellen, er hätte entgegen aller Überlieferung die östlichen Großmachtbildungen erst mit den Persern beginnen lassen oder gar suggerieren wollen, daß unmittelbar auf die Menschheitsepoche sine cupiditate gleich die Regierungszeit des Kyros gefolgt sei. Der Hinweis auf Athen und Sparta wäre dann überhaupt nicht mehr zu verstehen67. In Wahrheit geht es Sallust um etwas ganz anderes, nämlich um eine historische Erfahrung, die durch die von ihm gewählten Beispiele in der Tat vorzüglich illustriert wird. Sallust gibt, anders als Pompeius Trogus, keinen eigenen Abriß der frühen Menschheitsgeschichte 68 , sondern er setzt deren

65. Vgl. Vretska 56. Novara äußert Befremden darüber, daß ausgerechnet das Reich Alexanders d. Gr. fehle (724). 66. So schon in der bekannten Reihung des Aemilius Sura bei Veil. Pat. 1,6,6 (hinzuzunehmen der Traum Nebukadnezars im alttestamentlichen Buch Daniel 2, 31 ff.), aber auch, wie wir gesehen haben, bei Pompeius Trogus (cf. dort außerdem 41,1); außerdem ζ. B. Dion. Hal. 1,2,2 f., Diod. 2,1,4 ff. und Appian, praef. 6. Als Quelle gilt Ktesias im frühen 4.Jh., auf den Diodor sich für seine Darstellung mehrfach berufen hat (cf. 2,2,2; 2,32,4 ff.). Polybios hat die topische Reihenfolge in verschiedenen Zusammenhängen verwendet: in 29,21 (ohne die beiden ersten Reiche), um am Wechsel der Weltherrschaft das Walten der Tyche zu demonstrieren, dann aber auch in der berühmten Szene, in der Scipio beim Anblick des zerstörten Karthago die Vergänglichkeit menschlicher Macht beweint (38,22; dort alle fünf Weltreiche und zusätzlich Troja als Analogon zu Karthago). - Als Überblick immer noch nützlich: J.W.Swain, The Theory of the Four Monarchies; vgl. auch R. G. Kratz, Translatio imperii. 67. Die Erklärung Altheims (s. ο., Anm. 49), die von der Prämisse ausgeht, daß außer den drei namentlich genannten Reichen das imperium der römischen Königszeit gemeint sei, hat in der Forschung zu Recht keinen Anklang gefunden. 68. Bei Pompeius Trogus entspricht dieser Abriß der Konzeption seines universalhistorischen Werkes; für ihn vollzieht sich, wie Seel (s.o., Anm. 63) festgestellt hat, Geschichte "als ein fortgesetzter Prozeß der Herrschaftübertragung,

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Kenntnis voraus und behandelt unter dieser Voraussetzung die Frage, worauf der Erfolg eines Staates bei militärischen Unternehmungen und bei der Gründung eines großen Reiches beruht69. Wir werden sehen, inwiefern das Reich des Kyros sowie Athen und Sparta dafür besonders gut geeignet waren. Um die Kriegführung der drei genannten Staaten zu charakterisieren, benutzt Sallust einen dreigliedrigen Ausdruck: coepere (1) urbis atque nationes subigere, (2) lubidinem dominandi causam belli habere, (3) maxuman gloriam in maxumo imperio putare. Damit folgen aufeinander Bericht des Faktums (Unterwerfung von [Stadt-]Staaten und Völkern), objektiver Grund {lubido dominandi) und subjektiver Grund (Gleichsetzung von größtmöglichem Reich und größtmöglichem Ruhm). Anstößig und erklärungsbedürftig ist hier das lubido dominandi. Vor dem Hintergrund des in 2,1 skizzierten Idealzustandes handelt es sich, auch unabhängig von der Wortwahl, gewiß um einen negativ besetzten Begriff. Läßt man jedoch den Maßstab paradiesischer Idealität beiseite, so ergibt sich ein völlig anderes Bild. Erstens fällt auf, daß Sallust mit der Formulierung causam belli habere (einen Kriegsgrund besitzen) einen Tatbestand beschreibt und daß er auf dessen Bewertung verzichtet70; damit wird die lubido dominandi zumindest implizit als Kriegsgrund akzeptiert. Zweitens hat Sallust den Begriff avaritia, sonst stereotyper Kriegsgrund schlechthin, offenbar absichtsvoll

und damit ist das Strukturprinzip des universalhistorischen Ablaufs benannt: es ist das Prinzip der translatio imperii" (Einleitung, S. 63). 69. Der Versuch, 'Vorlagen' für Sallusts 'Änderungen' zu finden (cf. Vretska 55 f.), ist daher nicht nur wegen der Quellenlage aussichtslos, sondern er geht von einem Mißverständnis des Textes aus. 70. Konzediert auch von Vretska 58. Entsprechend ist auch das cupiditas imperii, das bei Pompeius Trogus (1,1,4) die beginnende Epoche der Weltreichgründungen markiert, keineswegs als ein moralisches Verdikt gemeint. Das gleiche gilt für Diodor, der in seiner resümierenden Darstellung den Wunsch des Ninos, ganz Asien zu unterwerfen, mit der Natur des Menschen erklärt: aus Glück und Erfolg entsteht ή του πλείονος επιθυμία (Diod. 2,2,1).

36 vermieden, und zwar nicht nur hier, sondern auch schon in 2,1, wo er das weniger belastete Wort cupiditas71 benutzt72. Die Unterscheidung entspricht der zwischen den beiden Kriegstypen Beutekrieg und Besitz- bzw. Hegemonialkrieg 73 . Dazu paßt es, daß die Sieger ihren Erfolg nicht nur ihrem ingenium verdanken, sondern daß sie ihn periculo atque negotiis errungen haben74; das gibt ihrer Kriegführung einen Anschein von Einsatzbereitschaft ohne Rücksicht auf ihr persönliches Wohlergehen. Drittens jedoch, und das ist das Wichtigste, hat Sallust hier den Begriff lubido dominandi mit genau dem Ruhmstreben in eins gesetzt, das er zu Beginn des Proömiums als die vornehmste Aufgabe des Menschen bezeichnet hatte: das maxumam gloriam in maxumo imperio putare muß es als fraglich erscheinen lassen, ob das lubido dominandi wirklich pejorativ gemeint 75 sein kann, wie man dies prima facie und nach klassi-

71. Die Analogie zu cupiditas imperii bei Trogus ist evident. 72. Daher ist der Hinweis auf einschlägige Stellen, an denen "Gier nach Besitz f...] in der griechischen Staatstheorie Ursachen nicht nur für die Gründung der Großmächte, sondern auch für ihren Untergang" seien (Vretska 58) hier irreführend (erst recht nicht hierher gehört der Topos Cie. inv. 1,32). Das πλεονεκτικότατοι bei Polybios 6,48,8 hat im Kontext eine fundamental verschiedene Bedeutung von jener πλεονεξία, die materielle Habsucht bezeichnet. 73. Nach Maier, Neque quies 12 f. (s. o., S. 32 mit Anm. 61). 74. Diesen Satz auf die materiell unterlegenen Gegner der 'Großmächte' zu beziehen (erwogen von Vretska 59) scheint mir ganz abwegig. 75. So schon Pöschl, Grundwerte I I I , Anm. 1 zu 110 ("Auch C 2,2 zeigt, daß er lubidinem dominandi causam belli habere, maxumam gloriam in maxumo imperio putare (Rom!) nicht billigt"). Dahinter steht bei Pöschl die Auffassung, daß "bei Sallust die Gerechtigkeit der römischen Eroberungen in Frage gestellt" werde, was man daran erkennen könne, daß "er den Feinden Roms das Wort erteilt", sowie an "der Anklage, die Sallust sonst gegen die cupido imperii und die avaritia erhebt" (107). Diese Auffassung findet im Sallusttext keine Stütze. Da jedoch eine differenzierte Auswertung der einschlägigen Belegstellen unter Berücksichtigung ihres Kontexts hier zu weit führen würde, sei nur dies festgehalten: die Gerechtigkeit der römischen Eroberungen hat Sallust selbst nirgends prinzipiell in Frage gestellt, wohl aber bestimmte Erscheinungen der Herrschaftspraxis (insbesondere in der späten Republik) angeprangert. Und

37 sehen Sprachgebrauch annehmen würde76. Im Gegenteil: da der Satz zurückverweist auf das anthropologische Postulat zu Beginn des Proömiums, ergibt sich sogar eine positive Konnotation des Gedankens. Um jedoch die Frage, was Sallust damit im Kontext seines Geschichtsbilds zum Ausdruck bringen will, präziser beantworten zu können, muß erstens der Sprachgebrauch von lubido überprüft und müssen zweitens die Kriterien geklärt werden, mit denen das Streben von Staaten und Völkern nach Ruhm und Vorherrschaft bewertet zu werden pflegt. Während im älteren Latein sowohl das Verb lubet als auch das Substantiv lubido lediglich ein Verlangen nach bzw. die Lust an etwas bezeichnen, ohne daß damit auch das Objekt dieses Verlangens oder dieses selbst bewertet würde, hat sich in der späteren Sprachentwicklung für das Substantiv, nicht jedoch für das Verb, eine gewisse Begriffsverengung dadurch ergeben, daß lubido {libido) vorwiegend ein kritikwürdiges Verlangen bezeichnete. Die ursprüngliche weitere Bedeutung, die in dem verbalen libet weiterlebte, scheint jedoch auch für das Substantiv bewußt geblieben zu sein, so daß sie, zumal bei 'archaisierendem' Sprachgebrauch, leicht reaktiviert werden konnte. Dafür haben wir das Zeugnis des Nonius, der den Begriff so kommentiert: libidinem et adpetitum vel aemulationem etiam honestae rei possumus dicere, ut sit libido omne quod libuerit77. Nonius zitiert dafür eine Stelle aus Sallusts Catilina (7,4), wo sich die lubido ebenso auf decora arma und militares equi

wenn er den Feinden Roms (Jugurtha, Mithridates) das Wort erteilt und sie viel 'Richtiges' vorbringen läßt, so gilt dasselbe ja auch von Catilina, dem er gleichsam die Gelegenheit gibt, für seine verbrecherischen Pläne auch Gründe vorzutragen, die von Sallusts eigenen Einsichten nicht weit entfernt sind. Vgl. Fuchs, Widerstand 45, Anm. 46. 76. Vgl. z.B. Drexler, Sallustiana 54 ("also ingenium ... im Dienste eines Lasters! ") und, ausführlich, Vretska 57 f. 77. Nonius p. 453,16.

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bezieht wie auf scorta und convivia78. Folglich ist die Frage einer etwaigen moralischen Kritik nicht so sehr von einem möglichen Bedeutungsunterschied zwischen lubido und cupido abhängig79, sondern eher davon, ob der damit bezeichnete innere Drang als hinreichend kontrolliert erscheint80 und ob er sich auf etwas Erlaubtes und Zugestandenes oder auf etwas Unerlaubtes und Anstößiges richtet81. Die Kriterien, nach denen dies zu entscheiden ist82, ergeben sich jedoch keineswegs nur aus dem Gegenstand, auf den das Verlangen zielt (objektbezogene Bewertung), sondern auch daraus, wer Verlangen nach diesem Gegenstand empfindet (subjektbezogene Bewertung). Folglich liegt, wenn sich ein Einzelner von einem derartigen lustvollen Verlangen {lubido, cupido, cupiditas) nach Herrschaft (dominandi, imperii) leiten läßt, zweifellos eine verwerfliche Form des Ruhmgedankens

78. Die (von Vretska konzedierte) Verwendung des Begriffs lubido in positivem Sinne in Cat. 7,4 ist jüngst unter Ignorierung des Nonius-Zitates sowie des älteren Sprachgebrauchs bestritten worden ( Latta 1988, 274 m. Anm. 18; offenkundig als Verhaltensweise von Individuen verstanden). 79. Der Einwand, daß lubido noch in dem selben Kapitel (Cat. 2,5) in pejorativer Bedeutung erscheint, bildet kein triftiges Gegenargument. Die Konnotation ergibt sich dort erst sekundär durch den Kontext, nämlich aus der Antinomie der drei Begriffspaare und insbesondere (nach superbia) durch das Binom lubido atque superbia. 80. Einen Beleg dafür, daß die Maßlosigkeit (nimius) nicht a priori im Wortbegriff libido liegt, liefert noch der Auetor ad Her. (3,5): modestiae partibus utemur, si nimias libidines honoris, pecuniae, similium rerum vituperabimus. Das ist die genaue Analogie zu der nimia cupiditas gloriae, die Knoche (21) skizziert hat. 81. Offensichtlich ohne pejorativen Akzent verwendet Sallust den Begriff lubido auch lug. 84,3 (tanta lubido cum Mario eundi plerosque invaserat) und 86,2 (uti lubido erat im Sinne von uti lubebat). 82. Zu cupido mit seinen Bedeutungs- und Verwendungsmöglichkeiten vgl. Neumeister, Geschichtsauffassung 10 ff.

39 vor83, so wie Knoche ihn für Rom skizziert hat84. Das Ideal besteht darin, daß die Einzelnen miteinander darum wetteifern, in selbstlosem Einsatz für das Gemeinwesen mehr als alle anderen zu leisten85, ohne daß einer dem anderen die größere Leistung und den daraus resultierenden größeren Ruhm neidet86. Es wird ad absurdum geführt, wenn der Einzelne sein Ruhmstreben dadurch zu realisieren versucht, daß er diejenige Gemeinschaft seiner Herrschaft unterwirft87, die als die einzige

83. Diesen prinzipiellen Unterschied zwischen der lubido dominandi eines Einzelnen und der eines Staates müßte man auch im Hinblick auf den Einfluß des Thukydides auf Sallust berücksichtigen und die Ausführungen von Scanion entsprechend modifizieren (Influence 54 ff.). Als Paradebeispiel für die lubido dominandi eines Einzelnen wäre Catilina zu nennen: hunc post dominationem L. Sullae lubido maxuma invaserat rei publicae capiundae (Cat. 5,6). Wimmel versteht lubido dominandi pejorativ, nicht jedoch (wegen des Bezuges von imperium semper ad optumum quemque ... transfertur auf Caesar) imperi cupido, das "im Zwielicht bleiben" müsse (213, Anm. 1). 84. Knoche, Ruhmesgedanke passim. Ein illustratives Beispiel dafür, wie schwer es dem modernen Leser und selbst dem Spezialisten fällt, ein nach antiken Kriterien ganz unverdächtiges Ruhmstreben zu akzeptieren, ist Sallusts Bemerkung über Marius tantummodo gloriae avidus (lug. 63,2). Daß dies weder pejorativ noch ambivalent gemeint sein kann, hat Steidle (Monographien 75 f.) richtig gegen Vretska (zitiert bei Steidle) und Büchner (Aufbau 44) betont (vgl. Koestermann, Kommentar 239). Ähnlich, wenn auch etwas zu pauschal, Schur, der vom "löblichen Streben nach gloria honos imperium" spricht (76; vgl. 79 zu Cat. 7,3 und 7,6). Die cupido gloriae wird dort verdächtig, wo sie als unangemessene cupido magistratus (ambitio) in Erscheinung tritt. 85. Zum 'agonistischen' Moment des Ruhmstrebens: Knoche 19. Ein vorzügliches Beispiel dafür Cat. 7,6: sed gloriae maxumum certamen inter ipsos erat ...; nicht im Widerspruch dazu steht die negative Bewertung des Begriffs lug. 41,2 (neque gloriae neque dominationis certamen inter civis erat): hier wird das Ruhmstreben durch den Zusatz certamen dominationis disqualifiziert. 86. Vgl. Liv. 2,40,11-12. 87. Die libido (oder cupiditas) imperii eines Einzelnen kann im Sinne der Formulierung des Auetor ad Her. als Steigerungsform der nimia libido honoris verstanden werden. Die Grenzen zwischen einer cupiditas gloriae, durch die der Einzelne sich auszeichnet, und einer cupiditas imperii, durch die er sich diskreditiert, sind jedoch naturgemäß fließend bzw. durch Übergänge (cupidi-

40 Instanz frei darüber zu entscheiden hat, ob sein Handeln Ruhm erlangt oder nicht88. Das Ruhmstreben eines Staates oder Volkes dagegen kann sich zwar ebenfalls nur agonal realisieren, doch als Instanz, die das Urteil darüber spricht, kommen hier anstelle der homogenen Gemeinschaft eines Staates oder Volkes nur die miterlebenden Zeitgenossen und die Nachwelt in Betracht - also das Urteil der Geschichte, so wie ζ. B. Polybios es zu Beginn seines Werkes über alle früheren Weltreiche" formuliert hat. Die in der Antike relevanten Maßstäbe werden schon darin sichtbar, daß die beliebte Frage, ob der Ruhm eines Staates eher auf seinen kulturellen oder eher auf seinen militärischen Leistungen beruhe, selbst für Athen im Sinne der militärischen bzw. imperialen Leistungen beantwortet worden ist89. Ob die Auffassung Sallusts damit übereinstimmt, sollte in erster Linie durch den Wortlaut des Textes entschieden werden. Angesichts der auch hier wieder äußerst knappen Formulierungen wird man jedoch zur Erläuterung und Ergänzung einschlägige Bele-

tates honoris) verdeckt; daß alle diese cupiditates charakteristisch für die altissimi animi und für die optimi sind, steht gleichwohl (auch für Cicero) außer Frage (Stellen bei Knoche, Ruhmesgedanke 21 f. mit Anm. 66). 88. Die Krisis, die sich aus der Vereinigung von echter virtus und cupido imperi ergibt, hat Sallust in der Gestalt seines Jugurtha personifiziert. Auf der einen Seite steht die Erkenntnis Micipsas, daß sein Reich durch die virtus Jugurthas den größten Ruhm gewinnen könne (lug. 6,2 existumans virtutem lugurthae regno suo gloriae fore), auf der anderen Seite aber die Überzeugung, daß Jugurthas virtus zu einem Machtkampf führen müsse, den dieser notwendigerweise gewinnen werde: terrebat eum natura mortalium avida imperi et praeceps ad explendam animi cupidinem (lug. 6,3). Die Formulierung setzt offenbar voraus, daß Ruhmstreben zur Problematik der condicio humana jenseits der paradiesischen Vorzeit gehört und erinnert an die Sentenz hist. 1,9 Μ. ingenium humanum inquies atque indomitum semper. 89. Vgl. Plutarch, De gloria Atheniensium (Πότερον 'Αθηναίοι κατά πόλεμον ή κατά σ ο φ ί α ν ενδοξότεροι). Ähnlich Cie., Mur. 22 (s.u., S. 45).

41 ge aus der Tradition, der Sallusts Überlegungen verpflichtet sind, hinzuziehen müssen. Der Text des Proömiums enthält keinen Anhaltspunkt dafür, daß Sallust hier etwas mißbilligen wollte. Auch die Feststellung, daß sich das Ruhmstreben der Staaten vorwiegend in der Herrschaft über andere Völker und Staaten konkretisiere, bedeutet weder 'Imperialismus-Kritik' noch Entwertung des Ruhms 90 : gloria ist kein abstrakter Wert, sondern resultiert aus tatsächlicher und nachgewiesener Überlegenheit. Diese Überlegenheit manifestiert sich (bei einem Staat ausschließlich, bei einem Einzelnen vorzugsweise) in militärischen und staatsmännischen Leistungen. Ihr Wesen umschreibt Sallust mit den Begriffen ingenium und virtus animi, und das bedeutet positive Konnotation 91 . Einen semantischen Unterschied zwischen ingenium und virtus animi gibt der Wortlaut des Catilina-PTOöm ium s nicht her. Der Versuch, im Sinne Sallusts ingenium als im Vergleich zu virtus animi minderwertig zu definieren, nämlich als eine Kraft, die das (angeblich fragwürdige) Ruhm- und Herrschaftsstreben der Staaten zum Erfolg führe, der aber die moralischen Qualitäten der virtus animi fehlten (Vretska 60), beruht auf einer petitio principii, die sich eigentlich schon durch die etwas merkwürdige Vorstellung widerlegt, Sallust habe seine eigene Unterscheidung gleich selbst wieder ignoriert92. Die Begriffe animus, ingeni-

90. So Vretska aufgrund seiner Prämisse, das von Sallust mit Ruhmstreben identifizierte Herrschaftsstreben müsse etwas Verwerfliches sein: "Dieser maxuma gloria fehlt als bewirkende Ursache die virtus, der gloria aeterna zusteht" (58). Einen Anhaltspunkt im Text gibt es dafür nicht. 91. La Penna hat den Begriff lubido dominandi entsprechend der gängigen Auffassung pejorativ gedeutet, gleichzeitig aber Vorbehalte dagegen geäußert, weil Sallust einen engen Zusammenhang zwischen lubido dominandi und ingenium herstellt (42, Anm. 72). Auch Altheim hat eingeräumt, daß sich dadurch für sein Verständnis ein gewisser Widerspruch ergibt (105). 92. Demnach hätte Sallust zu Beginn von Cat. 2,3, weil er solch eine semantische Unterscheidung beabsichtigte, eigentlich nicht animi virtus schreiben dürfen: "Eine kleine Unebenheit bleibt auch so noch: denn im nächsten Satz müßte es heißen: quodsi ... in pace ut ingenium eorum in bello" (Vretska 60).

42 um und virtus (am Schluß aufgefächert in einzelne artes) bezeichnen im Sinne der ersten Worte des Catilina-Proömiums stets das eigentlich Menschliche im Gegensatz zum bloß Animalischen, welches durch die Begriffe corpus, vis corporis (vires) und opes ausgedrückt wird, also die konventionelle Antithese, derzufolge der Mensch zwischen Gott und Tier steht: nostra omnis vis in animo et corpore sita est; animi imperio, corporis servitio magis utimur; alterum nobis cum dis, alteram cum beluis commune est (1,2); quo mihi rectius videtur ingeni quam virium opibus gloriam quaerere (1,3; cf. 14: nam divitiarum et formae gloria fluxa ..., virtus clara aeternaque habetur)·, vine corporis an virtute animi res militaris magis procederet (1,5); pars ingenium, alii corpus exercebant (2,1); in bello plurumum ingenium posse (2,3); regum atque imperatorum animi virtus (2,3); nam iis artibus ... labore, continentia, aequitate (2,4 f.). Sallust variiert die Begriffe, insbesondere ingenium und virtus animi (obwohl eine gewisse Differenzierung denkbar wäre) offenbar nur aus stilistischen Gründen. Im übrigen ist daran zu erinnern, daß es kein lateinisches Wort gibt, das gleichzeitig die moralische und die intellektuelle Qualität, durch die sich der Mensch vom Animalischen entfernt und dem Göttlichen nähert, zum Ausdruck bringt. Selbst die griechische Staatsphilosophie hat, sofern sie die Herrschaft eines Staates über Nachbarstaaten prinzipiell ablehnt, gleichzeitig Ausnahmen unter bestimmten Bedingungen zugelassen, deren Erfüllung von den Siegern in der Regel leicht in Anspruch genommen werden konnte. Aristoteles nennt drei solcher Bedingungen, unter denen die Herrschaft über Nachbarstaaten gestattet ist: wenn ein Staat dadurch verhindert, selbst versklavt zu werden; wenn er seine Führerstellung zum Besten der Beherrschten wahrnimmt; wenn er über solche herrscht, die zu Recht als Sklaven behandelt werden 93 .

Da Sallust aber die beiden Begriffe auch lug. 2,4 synonym verwendet, müßte man ihn dort ebenso korrigieren. Richtig ist allerdings wohl, daß animi virtus der eigentliche und prägnantere Begriff ist. Dem entspricht es, wenn es bei Sallust Cat. 53,1 über die Reaktion auf die Rede Catos heißt: consulares omnes itemque senatus magna pars sententiam eius laudant, virtutem animi ad caelum ferunt (zur Verbindung der beiden Textstellen vgl. auch Pöschl 18). 93. Aristot., Polit. 1333b29 - 1334a2.

43 In welchem Grade zur Zeit Sallusts der Wunsch eines Staates oder Volkes, zur Mehrung des eigenen Ruhmes die Herrschaft über andere Völker zu gewinnen, als legitim galt, läßt sich am besten daran ermessen, daß in der Geschichtstheorie ohne weiteres die Frage erörtert werden konnte, welches denn eigentlich der beste Weg zu diesem Ziel sei. Ein solches Imperium ist ein Wert an sich94, der nicht dadurch zur Disposition gestellt wird, daß im historischen Einzelfall die Methoden der Herrschaftspraxis die Frage nach deren Legitimation provozieren kann95. Um dieses Verständnis zu dokumentieren und zu präzisieren, sei aus den einschlägigen Belegen Weniges vorgeführt: etwas eingehender eine Stelle aus der hellenistischen Geschichtsschreibung, dann ganz knapp je eine aus Ciceros Rede für Murena und aus De officiis, eine aus dem Geschichtswerk des Pompeius Trogus sowie schließlich noch zwei Hinweise bei Sallust selbst. Polybios gibt im 6. Buch seiner Historien einen Abriß der spartanischen Verfassung, der als Hintergrund für die Darstellung der römischen fungiert und kritische Bemerkungen zu Spartas Hegemonialstreben enthält (6,48-50). Die Einwände des Polybios dürfen jedoch, wenn man ihn nicht völlig mißverstehen will, gerade nicht auf moralische Kategorien 96 zurückgeführt werden. Denn nach seiner Auffassung hat Lykurgs Gesetzgebungswerk die Spartaner geradezu vorbildlich zur gemeinsamen Verteidigung ihrer Freiheit und ihres Staates erzo-

94. Vgl. Badian 13 f. (deutsche Fassung 30-32): Der militärische Erfolg ist die Grundlage eines Anspruchs auf virtus, das geforderte Ruhmesregister erwirbt man in Kriegen, hegemoniale Politik und patrocinium sind vereinbar. Daß die Gegenüberstellung von imperium im außenpolitischen Sinne und patrocinium keineswegs bedeutet, daß in imperium Vorstellungen von vis und iniuria läge, hat auch Suerbaum betont (55, Anm. 146). 95. Dies gilt auch für den Vorwurf der lubido dominandi in der Anklagerede Jugurthas gegen die Römer lug. 81,1 (s.u. Anm. 113). 96. So Vretska 57 f.

44 gen und lediglich durch seine Inkonsequenz versagt97: Lykurg habe es einerseits unterlassen, den Spartanern das Verlangen nach einer Hegemonie über Griechenland auszutreiben, so daß sie nicht auch nach außen hin wunschlos und selbstgenügsam gewesen seien; andererseits habe er nicht bedacht, daß für das Hegemonialstreben eines Staates, wenn es zum Erfolg führen solle, bestimmte (v.a. strategische) Voraussetzungen unerläßlich seien (6,48-49). Daher sei die Verfassung Lykurgs zwar die beste, wenn ein Gemeinwesen kein anderes Ziel (τέλος) verfolge, als seine Autonomie und Freiheit zu bewahren (6,50,1 -2)98. Wenn ein Staat jedoch nach Höherem strebe und es für schöner und rühmlicher halte, über viele zu herrschen99, dann sei die römische Verfassung der spartanischen weit überlegen (1,64 und 6,50,3-4)100. Folglich hätten die Spartaner bei dem Versuch, Hegemonialmacht in Griechenland zu werden, beinahe ihre eigene Freiheit verloren, während die Römer, als sie sich Italiens bemächtigten, gleich darauf und in kürzester Zeit auch

97. Vgl. Walbank, Kommentar ad loc. (1,734) und ders., Political Morality 2. 98. Die Auffassung stellt gewissermaßen die Kehrseite des bei Sallust Cat. 2,1 (und Pompeius Trogus 1,1,3 f.) skizzierten Modells dar: dort der Hinweis auf historisch frühe Staatswesen, die zwar schon die res militaris, aber noch keine cupiditas imperii gekannt hätten, hier die Feststeilling, daß ein Staat sich cupiditas imperii nur leisten könne, wenn er über eine entsprechende res militaris verfüge. 99. Polyb. 6,50,3: εί δέ τις μειζόνων έφίεται, κάκείνου κάλλιον και σ ε μ ν ό τ ε ρ ο ν ε ί ν α ι ν ο μ ί ζ ε ι το π ο λ λ ώ ν μεν ήγείσθαι, π ο λ λ ώ ν δ ' έπικρατείν και δ ε σ π ό ζ ε ι ν , π ά ν τ α ς δ ' είς α ύ τ ο ν ά π ο β λ έ π ε ι ν και νεύειν προς αύτον... 100. Den Vergleich zwischen dem Dilettantismus des spartanischen Hegemonialstrebens und dem bewunderungswürdigen Erfolg der Römer hat Polybios im übrigen schon in seiner Vorrede gezogen (1,2). Seine Argumentation richtet sich hier nicht gegen irgendeine moralische Kritik an Rom, sondern gegen die These, Rom habe die Weltherrschaft nur der Tyche zu verdanken (1,63).

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die Weltherrschaft gewonnen hätten101, ein Erfolg, der den Römern nicht zuletzt dadurch zugefallen sei, daß sie sich rechtzeitig die strategisch relevanten Ressourcen verfügbar gemacht hätten (6,50,5-6). Der Text des Polybios erlaubt keinen Zweifel daran, daß auch der Autor selbst das (erfolgreiche) Streben eines Staates nach Weltherrschaft für rühmlich, d.h. für bewundernswert hält102. Dieselbe Überzeugung hat Cicero in seiner Rede für Murena formuliert (22-30): die größte Leistung, die man für Rom erbringen kann, besteht in der Erweiterung des Herrschaftsgebietes {in propagandis finibus), und daraus folgt: rei militaris virtus praestat ceteris omnibus, haec nomen populo Romano, haec huic urbi aeternam gloriam peperit, haec orbem terrarum parere huic imperio coegit (22); sit denique in civitate ea prima res, propter quam ipsa est civitas omnium princeps (30). Daß derartige Formulierungen aber keineswegs nur dem rhetorischen Argumentationsziel des Prozeßredners zu verdanken sind, geht daraus hervor, daß sie mit den Überlegungen konvergieren, mit denen Cicero im ersten Buch von De officiis eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen zwei Kategorien von Kriegen begründet: bei den einen geht es um die Rettung und

101. Allenfalls unter diesem Aspekt wird man mit Walbank 734 konzedieren, Polybios kritisiere Spartas aggressive Politik überhaupt -nämlich im Vergleich zu den Römern, an denen sich sein Urteil orientiert: "successfull imperialism is a mark of merit in the more favoured Romans (50,3-4)" (Walbank, Kommentar 734). Entsprechend vernichtend das Schlußurteil Polyb. 6,49,6 über die Verfassung Lykurgs: ihr zu folgen bedeutete für die Spartaner ούχ ότι της των ' Ε λ λ ή ν ω ν ή γ ε μ ο ν ί α ς , ά λ λ * ο ύ δ έ π ρ α γ μ ά τ ω ν ά ν τ ι π ο ι ε ί σ θ α ι τό παράπαν. 102. Diese Auffassung ist letztlich auch die Grundvoraussetzung für die Themenwahl des Polybios, nämlich sein Bestreben, das bewundernswerte Phänomen der römischen Weltherrschaft in einer universalgeschichtlichen Darstellung nachzuvollziehen. Daß es Indiz für herausragende menschliche Qualitäten ist, wenn ein Staat selbst bei friedlichster Gesinnung nach der Hegemonie über andere Staaten strebt, ist seine Überzeugung nicht weniger als die des Sallust (Polyb. 5,106,4-5).

46 die Existenz des Staates (uter esset, off. 1,38), die anderen dagegen werden de imperio und de gloria geführt {cum vero de imperio decertatur belloque quaeritur gloria ..., off. ibid.)103. Die Auffassung des Pompeius Trogus ergibt sich aus dem oben schon einmal benutzten Passus im ersten Kapitel seines Werkes in Verbindung mit einer Stelle aus dem zweiten Buch. Das mit dem Motiv nova imperii cupiditate erklärte Hegemonialstreben der Staaten beginnt, wie wir gesehen haben, bei Trogus zwar erst mit den Eroberungskriegen des Assyrerkönigs, der als erster ein großes Reich geschaffen haben soll (1,1,8). Da aber die Überlieferung auch von früheren Kriegszügen zu berichten wußte, die die Ägypter und Skythen unternommen hatten und die sehr wohl zum militärischen Erfolg, nicht jedoch zur Vergrößerung des Herrschaftsgebietes geführt hatten, mußten diese Kriege anders motiviert gewesen sein. An sich hätte dafür der Hinweis genügt, daß es in der Epoche vor Ninos die cupiditas imperii noch nicht gegeben habe. Pompeius Trogus fügt jedoch noch zwei eher rationale Argumente hinzu. Das erste besteht in dem Hinweis, daß die unterworfenen Kriegsgegner keine Nachbarn, sondern weit entfernte Völker gewesen seien104. Das zweite stammt aus der historischen Erfahrung monarchisch verfaßter Staatswesen und ist auch nur dort anwendbar. Es ist die Überlegung, daß ein Volk zwar für sich selbst Ruhm durch militärische Siege über andere Völker erwirbt, daß aber die daraus resultierende Herrschaft über das eroberte Gebiet dem Monarchen zufallen muß. Folglich kann zwischen der gloria des ganzen Volkes und dem imperium des Monarchen unterschieden werden105: bei Pompeius Trogus verzichten die beiden

103. Zu dieser Stelle ausführlicher u.S. 72 f. 104. Pomp. Trog. 1,1,7: Sed longinqua, non finitima bella gerebant (in Antithese zu den Kriegen des Ninos gesagt). 105. Die Stelle ist ein Indiz dafür, daß für die mehrfach belegte Feststellung, die Römer empfänden besondere Feindschaft gegen alle Königreiche, die libertas-Idee (vgl. Liv. 44,24,2 natura inimica inter se esse liberam civitatem

47 Könige auf das ihnen zugefallene imperium, weil es ihnen nur auf die gloria ihres Volkes ankommt: nec imperium sibi, sed populis suis gloriam quaerebant (1,1,7). Die Differenzierung zwischen dem imperium des Herrschers und der gloria seines Volkes beruht darauf, daß das Volk nicht Träger des imperium ist106, setzt aber gleichzeitig voraus, daß ein solches imperium über andere Völker etwas Erstrebenswertes ist. Daher ist die Gleichsetzung von maximum imperium und maxima gloria selbst hier, wo sie nicht vollständig realisierbar ist, nicht wirklich in Frage gestellt. Den Beweis dafür bietet die ausführlichere Erzählung, die Pompeius Trogus vom Krieg der Skythen gegen den im Anfangskapitel des Werkes erwähnten Ägypterkönig Vezosis gegeben hat und die im zweiten Buch der Epitome Iustins erhalten ist. Die Skythen erscheinen dort als kriegliebendes und wegen seiner Bedürfnislosigkeit bewundernswertes Volk (2,2). Sie werden sehr pointiert als eine enge Volksgemeinschaft geschildert, und erst nachträglich wird erkennbar, daß es bei den Skythen auch ein Königshaus gab (2,4). Kennzeichnend für die Skythen ist, daß sie nach dem Prinzip nihil parare quod amit-

et regem) keine ausreichende Erklärung bietet (vgl. H. Fuchs, Widerstand 16 f.; weitere Stellen in den Anm.). Gerade an den beiden Hauptstellen bei Sallust (lug. 81,1; hist. 4,69,17 f.) liegt die Pointe nicht darin, daß die Römer selbst "die schlechtesten Erfahrungen mit ihren Königen gemacht" hätten (Fuchs 16), sondern es geht ganz prinzipiell darum, daß ein Staat, der das imperium anstrebt, gegen Monarchien besondere Feindschaft empfinden muß. Bei Sallust wendet sich in beiden Fällen ein König an einen anderen König (Jugurthas Ansprache an Bocchus, Mithridates' Brief an den Partherkönig Arsaces). Das tertium comparationis ist die These, daß die meisten Menschen lieber unter einem iustus dominus als in Freiheit lebten: namque pauci libertatem, pars magna iustos dominos volunt (hist. 4,69,18). 106. Anders in Rom: die Vorstellung vom populus Romanus als dem Träger des imperium bleibt auch in der Kaiserzeit noch lange erhalten, weil sich der Prinzipat nicht zur Verwandlung der bisherigen Staatsform in eine Monarchie bekennt.

48 lere timeant leben und ihre Kriege nach der Devise nihil victores praeter gloriam concupiscunt führen (2,3,7)107. Das bedeutet aber keineswegs einen Verzicht auf den Wunsch nach Beherrschung anderer Völker: imperium Asiae ter quaesivere (2,3,1). Und eben dieses imperiale Ziel verfolgten sie auch in ihrem Krieg gegen den Ägypterkönig Vezosis, obwohl sie in diesem Falle nur den Angriffsplänen des Gegners durch größere Schnelligkeit zuvorgekommen waren (2,3,8 ff.). Nachdem sie aber ihr Ziel in Ägypten nicht hatten erreichen können, unterwarfen sie auf dem Rückzug Kleinasien um des titulum imperii willen (2,3,15). Mithin ist auch die Beschreibung der Skythen durch Pompeius Trogus ein Beleg für die Anschauung, daß das höchste Ziel, welches das Handeln eines Volkes bestimmen kann, die gloria ist, und daß diese gloria sich im imperium über andere Völker erfüllt108. Dies gilt expressis verbis sogar für die Zeitspanne vor der Regierungszeit des Ninos109, sofern nicht etwa, wie zu Beginn des Werkes, dessen Großreichgründung in einem geschichtstheoretischen Konstrukt als Periodengrenze zwischen solchen Menschheitsepochen fungiert, die durch das Kriterium der cupiditas imperii voneinander geschieden sind. Schließlich ist noch auf Sallusts Bemerkung im Iugurtha hinzuweisen, die Phönizier hätten Kolonien gegründet, teils um der Überbevölkerung entgegenzuwirken, teils auch nur imperi

107. Also dezidierte Abweichung von dem nach antiker Auffassung durchaus legitimen (wenn auch nicht unbedingt bestimmenden) Kriegsziel, bei den Besiegten Beute zu machen (Beutekrieg) und sie auszurauben. 108. Die Chronologie der in der Menschheitsgeschichte relevanten Kriegsziele würde gemäß antiker Anschauung damit etwa so aussehen: zuerst gloria allein (sine cupiditate imperii), dann eine gloria, die sich in einem maximum imperium manifestierte, schließlich Aufkommen von avaritia (amor habendi) auf Kosten der gloria. 109. Kap. 2,13 endet mit der Angabe, Kleinasien sei den Skythen 1500 Jahre lang tributpflichtig gewesen: pendendi tributi ßnem Ninus, rex Assyriorum, inposuit (2,13,18).

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cupidine, und diese Kolonien seien teils ihrer Sicherheit, teils ihrem Ansehen zugute gekommen (lug. 19,1: pars originibus suis praesidio, aliae decori fuere). Daß für Sallust selbstverständlich auch Roms imperium maximum ein Wert an sich ist, der durch Gegenwartskritik (wie etwa in Cat. 36,4 ff.) nicht in Frage gestellt, sondern bestätigt wird, signalisiert die berühmte Formulierung aus dem Überblick über die epochalen Daten der römischen Geschichte, den er im Proömium seines größten Werks gegeben hat: res Romana plurumum imperio valuit Ser. Sulpicio et M. Marcello consulibus omni Gallia cis Rhenum atque inter mare nostrum et Oceanum, nisi qua paludibus invia fuit, perdomita (hist. fr. 1,11 M)110. Es ergibt sich somit das Fazit, daß der Versuch von Staaten und Völkern, über andere Staaten die Oberhand zu gewinnen und sie dem eigenen Einfluß- und Herrschaftsbereich einzuverleiben (cupido imperii, lubido dominandi), schon lange vor Sallust auf ein natürliches und selbstverständliches Bedürfnis nach Ruhm und Ansehen zurückgeführt wurde und daß das glückliche Gelingen eines solchen Versuchs Anerkennung und Bewunderung eintrug111. Die Kritik setzt erst dort ein, wo der imperiale Anspruch in der politischen Praxis nicht in der ange-

110. Vretska versucht (57), dem (vermeintlichen) Problem durch Hinweis auf den Bedeutungsunterschied zwischen dominandi und imperi beizukommen. Aber abgesehen davon, daß der Wechsel von imperi zu dominandi sich bei Sallust wohl daraus ergab, daß in 2,3 unmittelbar darauf die Formulierung in maxumo imperio folgte, dürfte die semantische Differenz innerhalb des Themas (staatlicher) Weltherrschaft wenig relevant sein. - Zu dominatus bei Cicero rep. 3 s. u., S. 61 mit Anm. 137. Polybios gebraucht für die Herrschaft eines Staates über andere Staaten in 6,50,3 u.ö. das Wort δεσπόζειν (s.o., Anm. 99). 111. Dieses Bedürfnis kommt in Sallusts Iugurtha scheinbar ganz naiv in der Darstellung zum Ausdruck, die er 39,1 von der Reaktion des Volkes auf das militärische Fiasko des Aulus Postumius in Numidien gibt: Sed ubi Romae comperta sunt, metus atque maeror civitatem invasere; pars dolere pro gloria imperi, pars insolita rerum bellicarum timere libertati. - Einen instruktiven Überblick mit weiteren Belegen gibt P.A. Brunt, Laus imperii, bes. 162 ff. (in: The glory of Imperial Expansion).

50 messenen Form realisiert wird 112 (was in der Regel sofort oder auf längere Sicht auch zum Mißerfolg führt), und sie richtet sich dann entweder gegen Dilettantismus beim Hegemonialstreben wie in der Sparta-Darstellung des Polybios, oder sie verurteilt einen 'Imperialismus', der auf moralisch verwerflichen Motiven und niedrigen Trieben beruht, wie dies z.B. in der einschlägigen Romkritik eines Calgacus, Iugurtha oder Mithridates geschieht 113 .

112. Ein aufschlußreicher Sonderfall ist das Annexionsstreben Jugurthas in der Darstellung Sallusts. Die virtus Jugurthas prädestiniert ihn dazu, die gloria des numidischen Reiches zu vermehren (Micipsa über Jugurtha 6,2 und damit konvergierend das Urteils Scipios 8,2-9,2; s.o., Anm. 88). Die Fehlentwicklung ergibt sich einerseits daraus, daß Jugurtha sein persönliches Machtstreben über alle anderen Interessen stellt (Typus des Tyrannen), so daß die unerläßliche Übereinstimmung zwischen der imperiosa civitas und ihrem Führer fehlt: es kommt zum Bürgerkrieg. Verantwortlich für diese Fehlentwicklung aber, und dies ist die andere Seite, sind die Römer, die Jugurtha die Maxime seines Handelns vorgegeben haben (lug. 8,1 Romae venalia omnia esse): dieser Maxime entsprechend annektiert Jugurtha ohne Rücksicht auf Rom das Reich seines Bruders und findet das Romae venalia omnia esse über alle Erwartung hinaus bestätigt (lug. 20,1). Damit sind die Weichen für alles weitere gestellt. 113. Tac., Agr. 30; Sali. lug. 81 und hist. 1,69 Μ (vgl. auch Critognatus bei Caesar, b.G. 7,77). Die konstitutiven Merkmale solcher Herrschaftskritik sind rücksichtsloser Machtmißbrauch aus Habgier, tyrannische Willkür sowie der Hinweis auf die Diskrepanz zwischen hehren Worten und üblen Taten. Das bedeutet natürlich nicht, daß die Vorwürfe, die Caesar, Sallust und Tacitus von den Feinden Roms erheben lassen, als berechtigt aufzufassen wären. Dies ist selbst dort nicht ohne weiteres der Fall, wo unbestreitbare Fakten genannt werden, da überall die Darstellung des historischen Kontextes (einschließlich der Qualifikation des Anklägers und des cui bono seiner Ausführungen) zu Buche schlägt: die Feinde Roms üben eine zwar grundsätzliche, aber für die eigenen politischen Ziele instrumentalisierte Herrschaftskritik. Stellen wie Cie., imp. Gn. Pomp. 65, prov. cons. 6 oder Verr. 2,3,207 (Fuchs 45) dagegen sind als Belege für eine punktuelle Herrschaftskritik zu bewerten und können daher außer Betracht bleiben. [Korrekturzusatz: Selbst für den 'Friedensdichter' Vergil stellt der Krieg gegen auswärtige Feinde entgegen einer auch in der Forschung beliebten Vorstellung kein prinzipielles Problem dar. Dazu jetzt grundlegend: R. F. Glei, Der Vater

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Eine solche moralische Kritik aber, wenn sie denn Argumente geltend machen kann, trifft nicht das Streben der Staaten und Völker nach gloria und imperium an sich, sondern dessen degenerierte Form und steht somit in genauer Analogie zu der Kritik, die Sallust im Ca