Homer und die englische Humanität: Chapmans und Popes Übersetzungskunst im Rahmen der humanistischen Tradition 9783110953930, 9783484420045

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Homer und die englische Humanität: Chapmans und Popes Übersetzungskunst im Rahmen der humanistischen Tradition
 9783110953930, 9783484420045

Table of contents :
Walter F. Schirmer zugeeignet
Inhalt
VORWORT
Erstes Kapitel. DIE ÜBERSETZUNGSKUNST DER RENAISSANCE IN ENGLAND
Zweites Kapitel. DER DICHTER ALS DEUTER UND NACHBILDNER
Drittes Kapitel. HOMERS HELDEN ALS HUMANISTISCHE EXEMPEL
Viertes Kapitel. GESCHICHTE DER NACHWIRKUNG
SCHRIFTTUMSVERZEICHNIS
NAMENSVERZEICHNIS

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BUCHREIHE DER ANGLIA Z E I T S C H R I F T FÜR E N G L I S C H E

PHILOLOGIE

7. B A N D RUDOLF SÜHNEL HOMER UND DIE ENGLISCHE CHAPMAN S U N D POPES

HUMANITÄT

ÜBERSETZUNGSKUNST

IM R A H M E N D E R H U M A N I S T I S C H E N

TRADITION

Homer und die englische Humanität Chapmans und Popes Übersetzungskunst im Rahmen der humanistischen Tradition V O N

RUDOLF SÜHNEL

,Non ut interpres sed ut orator" CICERO

M A X N I E M E Y E R V E R L A G / T Ü B I N G E N 1958

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Alle Rechte vorbehalten C. by Max Niemeyer-Verlag Tübingen 1958 Printed in Germany

Walter F. Schirmer zugeeignet

Inhalt VORWORT

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Erstes Kapitel D I E ÜBERSETZUNGSKUNST D E R RENAISSANCE IN E N G L A N D I. II. III. IV. V.

Der humanistische Impuls Humanismus und heimische Überlieferung Die Funktion klassischer Übersetzungskunst Nicht-epische Ubersetzungen Epische Übersetzungen

7 14 19 26 36

Zweites Kapitel D E R DICHTER ALS D E U T E R U N D NACHBILDNER I. II. III. IV. V.

Chapmans Homer-Apotheose und der Enthusiasmus Das Problem des Epos zwischen Chapman und Pope Popes klassizistisches Credo in seinem Vorwort zur Uias Chapmans bewußte Modifikationen des homerischen Textes Popes bewußte Modifikationen des homerischen Textes

45 56 62 74 85

Drittes Kapitel HOMERS H E L D E N ALS HUMANISTISCHE E X E M P E L I. Renaissance: Ethos und Pathos II. Chapman und die Helden der Ilias III. Chapmans Odysseus: The Senecal Man IV. Pope: Die Ilias-Aristokratie V. Pope: Höfisches Dekorum

101 106 120 139 158

Viertes Kapitel GESCHICHTE D E R NACHWIRKUNG I. Dr. Bentley und Dr. Johnson II. Homer — ein Originalgenie III. Die Romantik: Ott looking into Chapman's Homer IV. Matthew Arnold: Ott Translating Homer V. Der englische Prosa-Homer VI. Der neue Klassizismus

170 175 180 186 197 212

SCHRIFTTUMSVERZEICHNIS

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NAMENSVERZEICHNIS

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VORWORT Der heute gewonnene kritische Abstand vom Historismus hat den Satz des Aristoteles wieder ins Bewußtsein gerückt, Dichtung sei „philosophischer" als die Geschichte. Die zeitüberdauernde poetische Struktur in der zeitgebundenen sprachlichen Substanz findet erneut unsere Aufmerksamkeit. Damit erscheint auch das Problem der Übersetzung in verändertem Licht. Wie die gleiche Melodie von sich ablösenden Generationen auf immer neuen Instrumenten interpretiert und gespielt wird, so ist jede Nachdichtung ein restaurierender Akt an der zeitüberbrückenden poetischen Struktur des Originals. Solche aufs Ganze gehende Reproduktionen sind ein Gegengewicht zur Tendenz, ein nicht mehr unmittelbar verständliches Sprachkunstwerk in spezialwissenschaftliche Teilaspekte auseinanderfallen und dem allgemeinen Kulturbewußtsein entschwinden zu lassen. Am fruchtbarsten ist die Erörterung dieses Problems anhand einer konkreten Übersetzungsaufgabe durch Männer mit zugleich künstlerischem und philologisch-historischem Gewissen. Im nachklassischen Deutschland stammen die besten Beiträge aus der Diskussion um Shakespeare und Dante. In Ländern mit intakter humanistischer Tradition bleibt die Übertragung antiker Autoren das Hauptanliegen. So ist für England seit Jahrhunderten der entscheidende Test, die Königin im Schachspiel, der „ e n g l i s c h e H o m e r " - für die Zeitgenossen von T. E. Lawrence ebenso wie für die von Matthew Arnold, für das Jahrhundert Alexander Popes wie für das Goldene Zeitalter George Chapmans. Chapmans und Popes Meisterleistungen wurden ermöglicht durch die sprachliche Sensibilität eines geistig eminent lebendigen Zeitalters in der Zucht der klassisch-rhetorischen Tradition. Im darauffolgenden Jahrhundert der Wissenschaft wurde das alte Übersetzer-Kunsthandwerk auf dem Prokrustesbett des Kriterions der historischen Treue „gebrochen" zugunsten (wie Matthiessen gezeigt hat) einer begriffsspaltenden KlischeeSprache, aus der das Spiel der Imagination verbannt war. Es sei denn, man erhielt Dispens von der Wissenschaft und kam dem Zeitgeschmack mit Modernisierungen entgegen - unter leichtfertiger Berufung auf eben jene

Vorwort „poetische Freiheit", die für die klassischen Übersetzer nicht nur Alibi, sondern geistiger Lebensraum war. Solche Aktualisierung hoher Dichtung wäre für Chapman und Pope ein Sakrileg gewesen. Ihr Homer war kein Toter; ihre Übersetzungskunst war kein Mesmerismus. Im Gegenteil: der alte epische Dichter wurde noch einmal, wie in Hellas, zum Erzieher einer für Schönheit und Adel grenzenlos aufgeschlossenen Nachwelt. Die ganze vitale und geistige Lebendigkeit ihrer beiden Jahrhunderte brachten Chapman und Pope hingebungsvoll „übertragend" ein in ihre Wiedergabe von Homers heroischer Formenwelt, die sie - als Humanisten - urbildlich-paradigmatisch deuteten, so wie die Griechen den Mythos. Das Ergebnis war nicht historische Mimikry, sondern schläckenlose Neustilisierung auf der Ebene originaler Dichtung,-historische Variation einer normativen Grundform im Sinne der Klassik. EineÜbersetzung sei nicht Kopie sondern M e t e m p s y c h o s e , sagt Wilamowitz. Es ist also eine alte Wahrheit, die neu gesehen wird in den jüngsten literarischen Rettungen von Chapmans und Popes Homer durch Knight, Tillyard und Lord (wozu Allardyce Nicolls soeben erschienene Studienausgabe von Chapmans Homer eine wertvolle Arbeitsgrundlage geschaffen hat; eine entsprechende Ausgabe von Popes Homer ist, wie ich höre, in Vorbereitung). Das Thema der vorliegenden Studie ist weiter gefaßt als die monographischen Stiluntersuchungen von Knight und Lord, und es ist enger gefaßt als Tillyards Geschichte der epischen Form, die der Ilias von Pope das vorletzte Kapitel einräumt. I n d e n e n g l i s c h e n H o m e r Ü b e r s e t z u n g e n s p i e g e l t s i c h , w i e in e i n e m B r e n n p u n k t , d i e K o n t i n u i t ä t d e s e n g l i s c h e n H u m a n i s m u s , der s i e w i e e i n e W e l l e t r ä g t . Diese Tradition, antiken Ursprungs, gehört auch nach ihrer Blütezeit in Renaissance und Klassizismus nicht der Vergangenheit an. Im gegenwärtigen England hält sie, nach wie vor, Perspektiven offen, die „philosophischer" sind als bloß historische. „Philosophisch":-im Sinne des Aristoteles heißt das nicht: unwirklicher, abstrakter, sondern: w a h r e r , s c h ö n e r , b e s s e r . Die erinnernde Pflege humaner Werte, aller geschichtlichen Erfahrung zum Trotz, als eine Funktion der Poesie ist ein griechisches Vermächtnis, das - wie zu zeigen sein wird - nicht zuletzt über die klassischen Homer-Übersetzer das englische Kulturbewußtsein nachhaltig geprägt hat.

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Erstes Kapitel DIE ÜBERSETZUNGSKUNST DER RENAISSANCE IN ENGLAND 1. Der humanistische Impuls That impact of classieal literature on the medieval mtnd which we call the Renaissance. (H. C. Fay)

Die unscheinbare Wissenschaft vom richtigen Sprechen, geübt an der Erklärung der Dichter, war die Grundlage antiker Bildung. Die Römer übernahmen sie von den Griechen; ihren Kulturwert haben Cicero und Quintilian bewußt gemacht. Seitdem haben die Humanisten aller Jahrhunderte dieses antike Vermächtnis, die enge Verbindung von Sprache, Literatur und Menschen-Formung, als eine abendländische Tradition zu erhalten versucht. Mit welchem Erfolg, zeigt die Kette von Renaissancen, die die europäische Geschichte durchzieht. Wenn man den Humanismus historisch vor allem mit dem kulturellen Aufbruch des 15. und 16. Jahrhunderts identifiziert, so deshalb, weil er damals als Auslöser in der literarischen Tradition gespeicherter Potenzen offensichtlicher denn je das geistige Antlitz Europas prägte. Auch da kam er nicht überall gleichzeitig zum Zuge. In den einzelnen Ländern hatte er ein wechselndes Gesicht, und die Nachhaltigkeit seiner Wirkung war verschieden. In den einen blieb er eine schöne Episode, in anderen wirkt sein Impuls stetig fort bis in die Gegenwart. Gemeinsam ist allen Humanisten der griechische Glaube, erst durch geistige Bildung werde der Mensch ganz Mensch. Spezifischer Ausdruck im Geist gegründeten menschlichen Seins aber ist die Sprache. „Das Wort ist das Wesen des Menschen; die Entwicklung des Sinnes für das Wort ist die Entwicklung des Wesens des Menschen"1). Dieses Spracherleben entzündet und entwickelt sich im Umgang mit den Vorbildern sprachlicher Gestaltungskraft, den Werken der klassischen Literatur. Sie ') Ernesto Grassi, Giordano Bruno (Bern, 1947), S. 15. 7

I. Der humanistische Impuls bekunden, welche adlige Größe der vollentfaltete menschliche Geist erreichen kann. Den Bereich wissenschaftlicher Philologie überschreitet der Humanist, indem er seine am antiken Text gewonnene Erkenntnis ausdrücklich zur eigenen Gegenwart in Beziehung setzt und aus der kritischen Auseinandersetzung beider die gültige Norm findet. Ob er diese Norm sprachschöpferisch gestaltet oder theoretisch verficht, sein Ziel ist die Formung des Menschen. Der Humanist ist zugleich Philologe, Kritiker, Pädagoge. Diese Dreiheit ist seine Eigenart, wenn auch der Schwerpunkt individuell, zeitlich und national verschieden gelagert sein mag. In der Renaissance war die Situation des Humanismus die: antike Texte waren in größerer Anzahl und leichter verfügbar geworden. Aber das war nicht allein entscheidend. Viele waren, wie die Ruinen aus dem alten Rom, immer zugänglich gewesen, jedoch entdeckt wurden sie erst jetzt. Vor allem war es der Wiederhinzutritt der g r i e c h i s c h e n Studien, der einen neuen Zugang zur römischen Antike eröffnete. Die scholastisch-spekulative Interpretation trat zurück hinter der philologisch-ästhetischen. Der Schwerpunkt der Studien verlagerte sich vom christlichen Rom auf das vorchristliche. Man entdeckte das echte Römeridiom. Man kritisierte das mittelalterliche L?tein der zeitgenössischen Theologen, Gelehrten, Juristen, Diplomaten. Wie die lateinische Sprache einst in der Schule der Griechen klassisch geworden war, so ließen sich jetzt die Renaissance-Humanisten von den Römern in sprachliche Zucht nehmen. Auch im Mittelalter hatten die antiken Schulautoren der Erlangung formaler Ausdrucksfähigkeit gedient. Aber was man bisher naiv und als Mittel zum Zweck tat, geschah jetzt bewußt und als Selbstzweck. Früher dachte man mittelalterlich und drückte es lateinisch aus; jetzt lernte man an den Klassikern lateinisch denken. Früher sprach man latein; jetzt sprach man r i c h t i g latein. Humanismus ist ein Formideal. Negativ führte das zum Ciceronianismus, positiv zum vorurteilslosen Studium antiker Autoren um ihrer selbst willen. Bisher hatte das antike Kulturgut als Baugestein der mittelalterlichen Welt gedient, in Philosophie, Recht, Medizin, Kunst, Literatur. Jetzt wurde man sich des antiken Menschen und der antiken Kultur als autonomer Gebilde bewußt. Zu dem stofflichen und formalen Interesse an der Antike, das immer schon da war, trat der Sinn für ihr Ethos. Um dieses Ethos willen las man jetzt die alten Texte, zum Zwecke der Verwirklichung humaner Bildung. Wenn in Jakob Burckhardts Darstellung die italienische Renaissance als Gegensatz zum Mittelalter erscheint, so deshalb, weil er keinen Längsschnitt 8

I. Der humanistische Impuls sondern einen Querschnitt gibt. Sein faszinierendes Bild dieser reichen Kultur fordert die Frage nach ihren historischen Voraussetzungen geradezu heraus. Sie ist mit einer dialektischen Antithese sowenig beantwortet wie mit einer Konstruktion, die tausend Jahre überspringt. Der simplen Antithese Renaissance-Mittelalter liegt die noch simplere: Antike-Christentum zugrunde. Die Gleichsetzung von Christentum mit weltfeindlicher Spiritualität und von Antike mit bloßer Weltlichkeit ist schon in frühchristlicher Zeit abwegig, denn die Verweltlichung der römischen Kaiserzeit hatte schon aus sich eine typisch spätantike Spiritualität hervorgebracht, die sich dann um den neuen Glauben kristallisierte. Von dieser Mitte aus erfolgte stufenweise die christianisierende Transformation des gesamten weltlichen und geistigen Erbes des römischen Weltreichs. Je mehr Gebiete in die christliche Synthese einbezogen wurden - nicht ohne heftige Auseinandersetzungen - , desto mehr verringerte sich die Spannung zwischen dem neuen Glauben und der Alten Welt. Der Humanist sah, daß sich beide ergänzten. Denn die Welt, die der Christ in den Dienst Gottes stellte, war erst durch antike Wissenschaft, Recht und Kunst beherrschbar gemacht worden. Als das „das Unveränderlich-Göttliche und das Veränderlich-Menschliche in einem Kosmos geordneter Kulturfunktionen" 2 ) verbindende christlich-lateinische Mittelalter seinerseits korrumpierender Verweltlichung zu erliegen begann, entstanden kirchliche Reformbestrebungen, die eine Regenerierung aus dem Geiste des Urchristentums anstrebten, und, parallel dazu, als Vorläufer der Renaissance im engeren Sinne, politische und kulturelle Erneuerungsbestrebungen, die sich auf das alte Rom beriefen. Beides sind puristische Bewegungen, wie der Humanismus auf sprachlichem Gebiete, aus der Substanz der mittelalterlichen Tradition. Wenn Henry Thode die Renaissance als „Wiedergeburt der verloren gegangenen Frömmigkeit" und Georg Voigt sie als „Wiederbelebung des klassischen Altertums" deuteten, so ist das kein Widerspruch, vor allem nicht in einem Lande, das unmittelbar aus der Fülle seiner christlichen wie antiken Vergangenheit schöpfen konnte, und wo sich Glaubenssicherheit und Weltoffenheit so natürlich ergänzen. Als die Erneuerungsbestrebungen aus Italien in die Länder nördlich der Alpen vordrangen, wirkten sie auch hier in zweierlei Richtung: einerseits aktivierten sie das kulturelle Leben; andrerseits stärkten sie, als notwendiges Korrektiv dazu, alle Tendenzen in Richtung auf eine Festigung des Glau') E. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (München, 1911), S. 10. 9

I. Der humanistische

Impuls

bens. Sie steigerten das physische und intellektuelle Selbstbewußtsein des Einzelnen ebenso wie sein moralisches Verantwortungsgefühl. Jede Einseitigkeit wäre als widernatürlich empfunden worden. Da die cisalpinen Völker in ihrem Verhältnis zur Antike nicht wie Italien ureigenstes Kulturgut auffrischen, sondern nur die Aufnahme antiker Bildung intensivieren konnten, kam den humanistischen Studien erhöhte Bedeutung zu. Auch die Reformatoren waren, wie einst die Urkirche zur Zeit der Kirchenväter, auf die Mithilfe der Humanisten in ihrer Eigenschaft als Philologen, Kritiker, Erzieher angewiesen. Die Verbindung, oft in Personalunion, von Humanismus und reformatorischen Bewegungen (zuerst in, später außerhalb der katholischen Kirche) verkettete beider Schicksale. So erzielte der Humanismus an den Universitäten und in den aufstrebenden Städten zunächst rasche Erfolge. Aber der Frühling versprach mancherorts mehr, als der Sommer hielt. In Deutschland wurde die Reformation zum übermächtigen Sog. Alles wurde für die Erringung des Sieges eingespannt. Auch in den humanistischen Studien sah man nur ein Mittel. Aber in vereinzelten Gelehrtenstuben und Schulen glomm der Funke fort, bis er aus diesen Quellen zwei Jahrhunderte später von Winckelmann, Lessing und Klopstock wieder zur Flamme entfacht wurde. - In Frankreich fielen der Gegenreformation die hochentwickelten griechischen Studien zum Opfer, die den germanischen Ländern zur Weiterentwicklung überlassen blieben. Die Amputation erfolgte zugunsten einer politischen Konzentration auf das römische Erbe. Durch Strenge und Ausschließlichkeit suchte der französische Klassizismus das Vorbild noch zu übertreffen. In England ermöglichte der theologische und politische Kompromiß zwischen konservativen und progressiven Tendenzen einen kontinuierlichen Übergang vom Mittelalter zur Renaissance auch im kulturellen Bereich. Überliefertes und Neues hielten sich die Waage. Durch die Einflüsse aus Italien angeregt, aber nicht überfremdet, verlief die Entwicklung, durch äußere Ereignisse ungeschmälert, innerhalb der Grenzen und nach dem strengen Maß, das sich die den Puritanern nicht nachstehenden Humanisten selbst setzten. Auch hier darf man nicht als Gegensatz deuten, was ein natürlicher Gleichgewichtsakt ist. Das Licht der Renaissance ließ die Fülle und Buntheit einer Welt in Erscheinung treten, die noch tief im Mittelalter wurzelte. Englische Renaissance ist gotische Renaissance. Die Tudor-Architektur zeigt das. In der Literatur äußert es sich in der unruhig bewegten Phantasie, in der Verbindung von erdnahem Realismus mit dem

10

I. Der humanistische

Impuls

Hang zum Irrationalen, im naiven Nebeneinander von Sinnlichem und Übersinnlichem. Der Bereich des Sichtbaren, die „diesseitige" Welt ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dem antik-mittelalterlich konzipierten Kosmos. Abel dieser Ausschnitt gewann an Bedeutung,, er faszinierte die Menschen mehr als zuvor. Je näher und eifriger man ihn studierte, je verwirrender das individuelle Detail der Realien hervortrat, desto dringender wurde die Sicherung von Gesetz und Ordnung, die im Absoluten gegründet waren. Naturwissenschaft war Naturphilosophie. Geisteswissenschaft war Ethik. Philosophie war Theologie. Der Zugang zu ihnen waren die griechischen und lateinischen Studien. Man importierte sie aus Italien. Die englischen Frühhumanisten, deren sittlicher Ernst zu ihren hervorstechendsten Merkmalen gehörte, begnügten sich nicht mit schnellen und oberflächlichen Lösungen. Der seinen ästhetischen Eindrücken erliegende, italienische Lebensformen nachahmende italianate Englishman war Gegenstand ihres Abscheus. Der Ciceronianismus spielte in England eine geringe Rolle. Der englische Formbegriff war nicht romanisch, sondern griechisch. Hinter der Lebensform suchte man das Lebensprinzip, hinter Italien die Antike. Sie wurde als wissenschaftliches, sittliches und philosophisches Ideal gefaßt, das man korrekter als die Italiener im englischen Alltag zu verwirklichen hoffte. Von den antiken Autoren las man mit Vorliebe die frühchristlichen, und von den vorchristlichen diejenigen, die den eigenen christlichen Anschauungen am weitesten entgegenkamen: Stoiker und Neuplatoniker, in der von den Florentinern gedeuteten Form. Nicht in ihrem Glaubensbekenntnis wichen die englischen Humanisten von den Puritanern ab, sondern darin, daß sie in dieses Glaubensbekenntnis die Antike als Helfer mit einbezogen. Mit unverminderter Strenge teilte man den Bibelglauben der Puritaner, aber nicht in gleicher Ausschließlichkeit, und nicht ohne die Notwendigkeit zu betonen, die Spitze der Pyramide brauche als breites Fundament eine christliche Kultur in Analogie zur antiken. Man studierte das Neue Testament; aber man studierte auch die schon von den Kirchenvätern sanktionierten antiken Autoren, die zu ihm hinführten. Ihre Lebensweisheit ermöglicht es, den Aufstieg zu Christus aus eigener geistiger und sittlicher Kraft schon in dieser Welt zu beginnen. Der Akzent verlagert sich vom Logos auf das Ethos, von der scholastischen Spekulation auf den frommen Lebenswandel, vom Priester auf den gelehrten Laien. Auf dem Weg durch die Welt gesellen sich zum Leitbild Christus die Klassiker als praktische Lebensführer, so wie Vergil Dante bis an die Grenze des Paradieses geleitete. Die christliche Frömmigkeit wird 11

IJDtr

humanistische

Impuls

weltlich gestützt durch die antike Wissenschaft, die die Welt erkennen und durchschauen lehrte, und durch die antike Ethik, die lehrte, sich nicht in der Welt und an die Welt zu verlieren. Das humanistische Bild des antiken Menschen ist nicht mehr das eines sinnenverstrickten Heiden, sondern das eines potentiellen Christen, eines Menschen, der bewiesen hat, wie weit man sich aus eigener Kraft der Offenbarung nähern kann. Aus der hohen theologischen Konzeption des Gottesstaates wird die schöne Utopie einer durch den humanisierenden Einfluß jedes Einzelnen praktisch zu verwirklichenden christlich-antiken Kultur. Cromwells puritanisches Commonwealth war nicht eine Lösung im Sinne der Humanisten, die „durch Geist und Rede, nicht durch Macht und Taten herrschen"8) wollen. Cromwells Praxis war eine rigorose Lösung gegen die Welt, nicht eine Lösung in der Welt und mit der Welt und aus ihr selbst heraus bei voller Selbstverantwortung des durch sein Christentum innerlich gebundenen Einzelnen. Wie sein Leben bewiesen hat, war Thomas More nicht minder unbedingt und kompromißlos als Cromwell, aber in seiner staatstheoretischen Schrift, durch die der englische Humanismus Weltgeltung erlangte, zeigen sich mildernde Züge wie antike Toleranz und soziale Sympathie. Die Wirkung des englischen Renaissance-Humanismus bricht mit dem Triumph seines puritanischen Zwillingsbruders so wenig ab wie die Geschichte der gleichen Bewegung in Frankreich mit der Bartholomäusnacht oder in Deutschland mit dem Dreißigjährigen Krieg. Der Triumph des Humanismus ist das 18. Jahrhundert. Erst durch Einbeziehung von Aufklärung und Klassizismus rundet sich das Bild zum sinnvollen Ganzen. Nach Überwindung der Gleichgewichtsstörung durch das puritanische Experiment einerseits und die Restauration der Stuarts andrerseits fand England den Ausgleich durch die Auseinandersetzung mit Frankreich. Wie früher gegenüber Italien absorbierte man nur das, was mit der eigenen Tradition vereinbar war und doch auch weiterführte. Die eigene große Renaissance-Tradition ermöglichte es den englischen Klassizisten, kritisch zu sein gegen den französischen Formalismus; und umgekehrt ermöglichte dieser es ihnen, kritisch zu sein gegen die eigene Vergangenheit. Man erkannte, daß man eigene Mängel an Form nicht durch äußerliche Übernahme einer Form ausgleichen konnte, die als fremde künstlich und unnatürlich sein mußte. Unter Berufung auf die Griechen entwickelt Shaftesbury den •) W. v. Humboldt, Aeschylos'

12

Agamemnon (Leipzig, 1816), S. XXIII.

I. Der humanistische

Impuls

Begriff der inneren Form, die - weder Schema noch Zufallsgebilde - das Individuelle im Einklang mit der Weltordnung, den Mikrokosmos im Brennpunkt des Makrokosmos darstellt. Diese im homerischen Epos realisierte, von Plato gedeutete, in aller klassischen Kunst bezeugte KosmosKonzeption macht die prästabilierte Weltharmonie auch dem bewußt, dem das ursprüngliche sinnlich-übersinnliche Erlebnis verloren ging. Die Aufklärung ist die Realisierung des sittlich-religiös fundierten Kulturidealismus der Renaissance-Humanisten. Der Klassizismus ist ihr ästhetischer Aspekt; sein Ziel ist die kristallklare Urform als Kunst. Erstrebt wird die lichte Höhe der transparenten Universalien, herausgeläutert aus den Schlacken alles Konkreten. Die Naivität und Unmittelbarkeit des Erlebens ist abgeklungen, und die Fähigkeit zum Ordnen aus idealer Distanz an ihre Stelle getreten. Die sittlichen Kategorien, das unbezweifelte Fundament dieses Ordnungssystems, sind die Kodifizierung und Formalisierung eines durch die antik-mittelalterliche Tradition überlieferten, selbstverständlichen religiösen Erbes. Die Bildungskatastrophe des 19. Jahrhunderts ist der Bruch mit dieser Tradition. Das 18. Jahrhundert war noch unhistorisch. Es nahm seine Maßstäbe nicht aus der Zeit. Es hatte Normen. Der Welt machte man keine Konzessionen. Man meisterte sie in graziösem, selbstbeherrschtem Spiel. Man war weltoffen und desillusioniert, aber man war nicht weltlich. Man glaubte nicht an die Welt, sondern an die Kultur. Der mit sittlichem Enthusiasmus gepaarte Kulturidealismus der Aufklärung war grenzenlos und entwaffnete jede Kritik aus puritanischem Lager. Form und Sitte fallen in eins zusammen in diesem Produkt höchster Selbstzucht, einer Abwandlung des chevaleresken Ideals des Mittelalters ins humanistisch antikisierend Maßvolle. In diesem nach dem Idealbild der „klassischen Antike" - einer Konstruktion des 18. Jahrhunderts - errichteten exklusiven Haus der Kultur war jeder sein eigner Bildner und Richter. Das Laienpriestertum der Gebildeten war so hoch gesteigert, daß die auf die Offenbarung sich berufende Kirche als Relikt erschien - als ehrwürdiges Relikt, das man tolerierte, damit es sein sittliches Regiment ausübe über das Volk, das noch außerhalb des Selbsterziehungsprozesses der Aufklärung stand. Aus dem Volk aber kamen revolutionäre Impulse, die den Zuchtmeister einer geradezu rituell gewordenen konventionellen Form ignorierten und zu deren Fürsprecher sich die janusköpfige Romantik machte. Halten wir fest: Es ist irreführend, die englische Renaissance in Analogie zur italienischen und den englischen Klassizismus in Analogie zum französischen zu sehen. Was England aus dem Ausland importierte, hat es sich auf 13

77. Humanismus und heimische Überlieferung dem Wege zu seiner Selbstverwirklichung stets kräftig anverwandelt. Merkmal seiner Entwicklung ist die Kontinuität. Es war die tiefe Verwurzelung im Mittelalter, die die Assimilation des antiken Bildungsideals so fruchtbar machte. Die eigene imponierende Renaissance-Tradition ihrerseits bremste später die englischen Klassizisten, sich einem Formalismus zu verschreiben, der in Frankreich Heimatrecht hatte, in England aber der Modifikation bedurfte. Das tief im nationalen Bewußtsein verankerte Humanitätsideal des 18. Jahrhunderts wiederum verhinderte im England des 19. Jahrhunderts die kritiklose Übernahme naturwissenschaftlicher Denkkategorien in die humanities, die in den klassisch gebliebenen Bildungsstätten Oxford und Cambridge ihre führende Stellung bis heute erhalten haben.

II. Humanismus und heimische Überlieferung Tote Sprachen nennt ihr die Sprachen des Flaccus und Pindar, Und von beiden nur kommt, was in der unsrigen lebt! (Goethe)

J. E. Sandys unterscheidet in seiner Historj of Classical Scholarship vier Perioden. Die erste, vorwiegend italienische, reicht bis etwa 1530 und nimmt sich die Antike zum Vorbild in Sprache und Lebensführung. Die zweite, vorwiegend französische, umfaßt das 16. und 17. Jahrhundert und bringt eine ungeheure Anreicherung an antikem Bildungsgut stöfflichwissensmäßiger Art. Die dritte, vorwiegend englische, mit Schwergewicht im 18. Jahrhundert, verlagert das Interesse auf die griechischen Studien und kultiviert die stilkritische Betrachtung. Die vierte, vorwiegend deutsche, fällt ins 19. Jahrhundert und entwickelt die historische Methode. Uns interessiert, wie die klassische Tradition in der zweiten und dritten Periode die nationale Sprache und Kultur befruchtet dank der Einheit von Wissenschaft und Bildung in der damaligen schönen Literatur. Den italienischen Einfluß während der ersten Periode hat W. F. Schirmer1) in seiner Studie über den englischen Frühhumanismus dahin zusammengefaßt, daß die ästhetisch-formale Haltung in England zunächst nicht Wurzel faßte. Dafür fehlten im gotischen Norden im 15. Jahrhundert die Voraussetzungen einer verfeinerten weltlichen Kultur. Damals lag England noch am Rande der Welt, deren Zentrum seit zweitausend Jahren das *) Der englische Frühhumanismus 14

(Leipzig, 1931).

II. Humanismus und heimische

Überlieferung

Mittelmeer gewesen war. Wenn die englischen Frühhumanisten das Pferd nicht von hinten aufzäumten, so war das natürlich. Als religiöse Führer und praktische Erzieher suchten sie in den klassischen Studien, die damals noch den ganzen Bogen von der Theologie bis zu den Naturwissenschaften umspannten, Muster sittlicher Lebensführung und wissenschaftlicher Weltbewältigung. Man assimilierte, was notwendig und nützlich war, mit dem Ergebnis, daß Englands geistiges Leben so rasch aufblühte, daß es Erasmus als Heimat des Humanismus erschien (Brief an Colet, Oktober 1499). In der Zeit Heinrichs VIII. finden wir denn auch die ersten Vertreter einer bewußten antik-italienischen Formenkunst am Hof, an den Universitäten und in den Schulen. Sie sind noch weitgehend unverbunden mit der nationalen Tradition und machen den kulturellen Niveau-Unterschied, den es auszugleichen galt, äußerlich ablesbar. Der pragmatische Zug der ersten Periode in England charakterisiert auch die z w e i t e . Sie bringt eine Bereicherung mit antikem Bildungsgut, wobei Frankreich in Dichtung und Gelehrsamkeit bis zur Bartholomäusnacht führend war. Das von dort in Form von gelehrten Handbüchern, kommentierten Textausgaben, Übersetzungen und Imitationen nach England einströmende Wissen um die Antike wurde hier mit überraschendem Elan in praktisches Leben umgesetzt. Die neue Kenntnis vom Altertum blieb nicht auf gelehrte Kreise beschränkt, sondern durchdrang die ganze gebildete Welt. Wie tief die nationale Kultur transformiert wurde, spiegelt sich Ende des Jahrhunderts im Goldenen Zeitalter der englischen Literatur, dem Zeitalter Sidneys und Spensers, Marlowes und Shakespeares, Chapmans und Ben Jonsons. In seiner Attacke gegen den Humanismus sieht C. S. Lewis") nur den Zusammenhang zwischen diesem und dem späteren Klassizismus, er leugnet aber einen Zusammenhang mit der elisabethanischen Literaturblüte, die nicht so sehr über die Intentionen der Humanisten hinausgewachsen als ihnen geradezu zuwider gelaufen sei. Das Verdienst der Humanisten um die Erstellung und Erschließung der griechischen und lateinischen Originale sei unanfechtbar, aber was sie sich unter einer literarischen Renaissance vorstellten, enthüllten - nach C. S. Lewis - solche Dinge wie der Gorboduc (1561) und der englische Hexameter. Als die große Dichtung blühte, sei der Humanismus bereits im eigenen Haus von Pedanten erschlagen gewesen. Demgegenüber sieht R. R. Bolgar3) Shakespeare als die reifste Frucht *) Englisb Literature in the Sixteenih Century (Oxford, 1954), S. 18ff. *) The Classical Heritage and its Beneficiaries (Cambridge, 1954), S. 328. 15

II. Humanismus und beimische Überlieferung einer von den Humanisten aktivierten Kultur. Die Frage, wieviel Griechisch oder Lateinisch er nach philologischen Maßstäben beherrscht habe, ist gegenstandslos in einer Zeit, in der die Antike der geistige Sauerteig im Alltag des Elisabethaners war von seiner ersten Schulgrammatik und den zu memorierenden Sprichwortsammlungen an, die nach mittelalterlichem Rezept Vorstellung und Denken des Jugendlichen an der Wurzel prägten. Die klassischen Autoren blieben die Lektüre des Erwachsenen in reich kommentierten Textausgaben oder in einer der zahlreichen volkstümlichen Ubersetzungen der Tudorzeit. Die zeitgenössische Dichtung war nach Stoff, Motiv, Form durch das antike Vorbild bestimmt, nicht minder die Theaterstücke oder die Maskenspiele am Hof. Die christliche Lehre selbst bot sich dar in den Begriffen der stoisch-platonischen Philosophie. In der Mittlerstellung des elisabethanischen Dramas zwischen dem wenig differenzierten geistlichen Drama und der vollentwickelten Form des römischen Dramas, in der Mittlerstellung der elisabethanischen Epik zwischen mittelalterlichem Ritterroman und antikem Epos, in der Mittlerstellung der elisabethanischen Lyrik zwischen complaint und römischer Satire - überall zeigt sich, auf welche Weise der gelehrte Humanismus zu einer nationalen Bewegung wurde: durch befruchtende Verschmelzung mit der noch grenzenlos bildungsfähigen heimischen Tradition. Das geschah nach dem Gesetz, nach dem das christliche Mittelalter das antike Erbe angetreten hatte: im Sinne einer Transformierung und Neubelebung alter Kulturformen. In diesem Filiationsprozeß vertrat der Humanismus ein statisches Prinzip, die zu erfüllende Norm, das Formbewußtsein; die mittelalterliche Tradition stellt das dynamische Prinzip, das Formstreben dar. Das Ergebnis ist nicht ein leere Kopie der alten Form, sondern eine verjüngende Abwandlung. Die Relation zum Vorbild entspricht der von Ahnherrn und Enkel, in dessen Gestalt die charakteristischen Züge wiederkehren, vermehrt um die Kennzeichen, die die Zwischenzeit und die mütterliche Linie eingezeichnet haben. Sinnlos ist es, die eine Tradition gegen die andere auszuspielen und die eine auf Kosten der anderen herauszustreichen. Ein fruchtbarer Ausgleich zwischen beiden Traditionen war ohnehin erst möglich, nachdem sich die jüngere Tradition so weit entwickelt hatte, daß sie die ältere nicht nur als leere Formel oder fremden Schmuck anwendete, sondern als konstruktives Prinzip empfand und aus dem Gefühl der Wahlverwandtschaft den beseelenden Wettkampf aufnehmen konnte. Die mit grenzenlosem Optimismus einsetzende Absorption des gesamten antiken Kulturgutes, wo immer man seiner habhaft werden konnte, erreichte im 16

II. Humanismus und heimische Überlieferung barocken 17. Jahrhundert die Grenzen der Assimilationskraft der heimischen Tradition. Die innere Spannung führte zur äußeren, als die Unaussagbarkeit spezifisch christlicher Gehalte selbst mit den vollkommensten Mitteln klassischer Dichtung bewußt wurde. Das 18. Jahrhundert ist dann ein Jahrhundert der klassischen Selbstbescheidung und Selbstvervollkommnung innerhalb der „Grenzen der Menschheit". Hier treten wir in die d r i t t e Periode ein, die Sandys einZeitalter bewußter Disziplinierung und stilkritischer Unterscheidung, unter Englands Führung, nennt4). Charakteristisch ist die philologische Erschließung griechischer Texte, mit Vorliebe für das attische Griechisch, unter Ausschluß jeder theologischen Fragestellung. Die römische Literatur stand zwar immer noch im Mittelpunkt des Interesses der Gebildeten, aber sie wurde - wie in der italienischen Renaissance - vom Griechischen her gedeutet, unter dem Aspekt des Stils, nicht vom Theologischen her, unter dem Aspekt eines Gehaltes, der von der Form unabhängig wäre. Das Interesse an der Dichtung als schön strukturiertem Sprachkunstwerk überwiegt das an der systematischen Philosophie und gelehrten Historie. Das Blickfeld konzentriert sich auf die augusteische Klassik. Man entdeckt die bisher vernachlässigten Horazischen Oden, sowie Vergil als Vollender des klassischen Stils. Von der Aeneis aus erschien auch die Ilias in neuem Licht. Diese drei sind die Standardlektüre des Jahrhunderts in der Schule wie im Leben der Erwachsenen. Der gesamte Schulunterricht bestand aus wenig anderem. Er lag in der Hand anglikanischer Theologen, für die die wissenschaftliche Edition eines griechischen Textes der aussichtsreichste Weg zur Beförderung im geistlichen Amt war. Eine andere gesellschaftliche Stütze hatten die klassischen Studien in der Ärzteschaft, die hier eine alte Tradition in das kritische Licht wissenschaftlicher Aufklärung führte. Eine dritte Säule war die Aristokratie, die die humanistische Lehre vom Adel des Geistes zur ihrigen machte. Bekannt ist die Anekdote von Pitt, der in einer Unterhausrede während eines Vergilzitats stockte, worauf die Mitglieder des Unterhauses im Chor einfielen und die Stelle zu Ende führten. Im Vorwort zu seinem Essay on the Original Genius of Homer (1769), über dessen epochemachende Wirkung auf seine Zeitgenossen wir aus Goethes Dichtung und Wahrheit wissen, berichtet Robert Wood, wie er als Unterstaatssekretär den ersten Staatsmann des Königreichs, Lord Granville, am Tage vor seinem

') Vgl. auch M . L. Clarke, Greek Studies in England 1700-1830

1945).

2 Sttbncl

(Cambridge,

17

II. Humanismus und heimische

Überlieferung

Tode aufsuchte und wie dieser sich durch Zitierung und Auslegung einer Iliasstelle (XII, 322 f.) auf seine Sterbestunde vorbereitete. In der kultivierten Gesellschaft von Englands augusteischer Zeit war das Amt des Dichters das eines Sittenrichters. Wie das Werk der beliebtesten Vorbilder, der römischen Satiriker, war auch das eigene schmal und bis ins Letzte durchgefeilt, Ausdruck höchster kritischer Selbstzucht. Man schrieb englisch, aber man dachte lateinisch. Unbewußt - denn Gelehrsamkeit und Kunst wurden sorgfältig verborgen - wurde der Muttersprache das Siegel des Klassischen aufgedrückt. In seiner Vergilrede nennt T. S. Eliot die Literatur des frühen 18. Jahrhunderts im allgemeinen und Popes Dichtung im besonderen Englands größte Approximation an das Ideal des Klassischen. Dieses bezeichnet er als den Zusammenklang von „maturity of mind, maturity of manners, maturity of language and perfection of the common style" 6 ). Der Klassizismus ist die Erfüllung der humanistischen Norm, die gelungene Einverleibung antiken Formverstandes in die nationale Tradition. Sein strenges Stilisieren schließt viele Potenzen der nationalen Sprache und Tradition aus. Aber als Zuchtmeister maßloser Vielfalt, ungebändigter Fülle, sei es des Mittelalters, sei es des Barock, gehört es zum Wesen des Klassischen, das Komplexe zu simplifizieren. Literatur für den Humanisten ist nicht „bloße Literatur", ein spezieller Zweig am Baum der Kultur, sondern das formende Prinzip dieser Kultur selbst. Wie die Renaissance und das 18. Jahrhundert zeigen, ist die pietas literata als geistiger Sauerteig des gesamten privaten und öffentlichen Lebens gemeint, der auch die Philosophie, die bildenden Künste, die Wissenschaften und selbst die Religion durchdringt. Dieses Purifizieren ist kein Volkstümlichmachen, sondern ein Stilideal, das man den Griechen abgesehen hatte. Über ein tätiges Ordnungschaffen in der physischen Welt durch Rationalisierung und Aufklärung hinausgehend, ist dieses Lebensideal (im Unterschied zum modernen Journalismus) n o r m a t i v , ethisch. Durch Ausrichtung auf idealtypische Grundformen verwandelt man (um zwei Schlüsselbegriffe der Zeit zu gebrauchen) Natur in Kultur. Dies geschieht auf einer Breite des Daseins, daß der Theologe Albert Schweitzer das 18. Jahrhundert die größte Epoche in der Geschichte der Menschheit nennen konnte8). Wie stark im englischen Klassizismus noch das Gesetz des Puritanismus wirkte, nach dem der Früh») What is a Classic (London, 1945), S. 16. •) Kultur und Ethik (München, 1923), S. 90. 18

III. Die Funktion klassischer

übersetyungskunst

humanismus einst angetreten war, zeigt ein Brief William Pitts d.Ä. an seinen vierzehnjährigen Neffen Thomas Pitt: I rejoice to hear that you have begun Homer's Iliad; and have made so great a progress in Virgil. I hope you taste and love those authors particularly. You cannot read them too much; they are not only the two greatest poets, but they contain the finest lessons for your age to imbibe: lessons of honour, courage, disinterestedness, love of truth, command of temper, gentleness of behaviour, humanity, and in one word, virtue in its true signification. Go on, my dear nephew, and drink as deep as you can of these divine springs: the pleasure of the draught is equal at least to the prodigious advantages of it to the heart and morals').

Der Name Pitts erinnert daran, daß England inzwischen von der Peripherie der Welt in ihr weltpolitisches Zentrum gerückt war. Politisch und kulturell teilte es mit Frankreich die Führerstellung in der Welt. III. Die Funktion klassischer Übersetzungskunst Man lernt etwas tun, indem man tut, was man zu tun lernt. (Aristoteles'

Ethik)

Zweifellos trugen zahlreiche Faktoren dazu bei, die humanistische Aussaat im 16. und 17. Jahrhundert so glänzend aufgehen zu lassen. Umstritten ist die Frage, welchem Faktor der Vorrang gebührt. Wenn die Humanisten geistige Gesichtspunkte den materiellen überordneten, so stimmten sie hierin mit Mittelalter und Antike überein. Quintilian bewundert die Künste der Menschen: die Kunst, Meere zu durchqueren, Gestirnbahnen zu erforschen, das Weltall auszumessen, aber unter dem Gesichtspunkt der Menschenbildung stellt er sie als minores artes an Wert hinter die Kunst der menschlichen Sprache1). Den im 19. Jahrhundert erfolgten Standpunktwechsel verdeutlicht die moderne Soziologie, für die die Literatur nur „Ausdruck" anderer bestimmender Kräfte ist. Sie pflegt auf die im RenaissanceZeitalter sich vom mittelalterlichen Feudalismus emanzipierende städtische Kultur zu verweisen und die humanistische Literatur allenfalls als den Freibrief zu deuten, der ihre Ambitionen historisch legalisierte. Tatsächlich fühlten sich, wie das Mittelalter auch, der italienische Stadtadel, der Hof von Versailles, das englische Großbürgertum unter der Königin Anna je') Correspondence of Chatham (London, 1838), I, 62. *) Institutio Oratoria XII, 11, 10; vgl. E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Bern, 1948), S. 436. 19

III. Die Funktion klassischer Überset%ungskunst weils als wahre Erben des alten Rom, und noch das Republikanertum der französischen und der amerikanischen Revolution deutete sich als Rekonstruktion des antiken Vorbilds. Sind ihre Ideen nur vorgegeben und sekundär, oder sind sie primär bewegende Faktoren ? Die soziologische Umschichtung zu Beginn der Renaissance hat selbst einen sprachlichen Aspekt. Durch die Ablösung von der klerikalen Kultur des lateinischen Mittelalters gewannen die Volkssprachen Auftrieb und Bedeutung. Das Nationalbewußtsein erwachte. Die Nationalstaaten entstanden. Die Kultur aber blieb bis Ende des 18. Jahrhunderts lateinisch-kosmopolitisch. Hinter den nationalen Individuationen stand die Antike als Erzieher der Völker, als Volksbildner. Wie war das in einem so tief bis an die Wurzel greifenden Sinne möglich wie nie vor oder nach dem Zeitalter zwischen Renaissance und Aufklärung ? Durch das Aufleben der Volkssprachen wurde die jahrtausendalte Vorherrschaft des Lateinischen in dem Moment gefährdet, als es sich seines Wertes voll bewußt geworden war. Die hohe, fast überzüchtete Sprach- und Formkultur der Humanisten blühte an einem Ast, der zum Absterben verurteilt war. Der unweigerlich drohenden Inzucht und Sterilität entging sie nur da, wo die „Übertragung" auf die aufnahmebereite volkssprachliche Tradition gelang. Durch die Fusion mit der energischen Vitalität der Volkssprachen pflanzte sich der humanistische Impuls nicht nur fort, sondern brachte er es überhaupt erst zu einer großen kulturschöpferischen Leistung. Es ist nicht entscheidend, ob die Humanisten diesen Weg zur Volkstradition persönlich und bewußt gingen oder nicht. Entscheidend ist der Enthusiasmus, den sie erweckten, und der Einfluß, der von ihnen ausging, indem sie ein Formideal zeigten. Sie wirkten über den Kreis ihrer Schüler, die vielleicht weniger gelehrt, dafür aber in zwei Sprachen, zwei Kulturen heimisch waren: in dem exklusiven Bereich lateinischer Bildung ebenso wie in der Tradition ihres Volkes. Als Hofleute, Diplomaten, Juristen, Ärzte, Lehrer, Schriftsteller, berufsmäßige Ubersetzer standen sie zwischen Theorie und Praxis und schlugen die Brücke zwischen Bildung und Leben. Sie ließen die klassische Tradition aus Hörsaal und Gelehrtenstube und höfischen Zirkeln breit einmünden in die aufnahmebereite volkssprachliche Tradition, die ihrerseits wertvolle, aus religiösen Wurzeln gespeiste Impulse mitbrachte. Shakespeares Universität war die Mermaid Inn. Die moralischen Wochenschriften wurden in den coffee-houses des 18. Jahrhunderts redigiert. Die große Prosa des 17. Jahrhunderts ist die der klassisch gebildeten Prediger. 20

III. Die Funktion klassischer

Überset^ungskunst

Nahtstelle zwischen klassischer und nationaler Tradition sind die großen Übersetzungen des 16. Jahrhunderts. Sie sind die Stelle, wo sich der alte Wein in die neuen Schläuche ergoß, wo Bildung lebendig und Leben gebildet wurde. Sie sind ein nicht minder fruchtbares Feld für die Forschung als die oft allzu ausschließlich befragte zeitgenössische Kritik und poetische Theorie. Was an die Oberfläche des Bewußtseins dringt, ist nur ein Teilausdruck von dem, was sich in tieferen Schichten vollzogen hat. Da die begriffliche Sprache der Poetiken nicht die Elastizität der dichterischen hat, ist sie zudem oft nur ein verzerrender Spiegel. Die Übersetzungsliteratur gewährt einen besseren Einblick in das, was im geistigen Leben der damaligen Zeit geschah und wie es geschah. In der Schule der Humanisten an den antiken Mustern hellhörig geworden für die Würde und Möglichkeiten der Sprache, suchten die Tudor-Übersetzer die in der antiken Literatur latenten Potenzen in der eigenen Sprache zu aktualisieren und die eigene Literatur auf die Höhe des Vorbilds zu heben. Wie ihnen das gelang, sieht man an ihren Übertragungen der Bibel und der antiken Klassiker, die sie zu integrierten Bestandteilen der heimischen Literatur und zu formativen Kräften ersten Ranges in der nationalen Kultur machten. Wie ihre Voraussetzungen und Motive radikal andere waren, als die von Übersetzern unserer Zeit, so auch das Ergebnis: die Tudor-Übertragungen sind Kunstwerke, die an das Herz der Nation rührten und ihre Einbildungskraft entzündeten. Sie stehen der großen Originaldichtung der Zeit nicht nach und übertreffen sie in der Prosa. Sie waren, was Wilamowitz als Ideal einer Übersetzung bezeichnet, Metempsjchose2). Der ursächliche Zusammenhang zwischen der Literaturblüte des 16. Jahrhunderts und seiner Kunst des Übersetzens ist unschwer erkennbar. Renaissance-Bildung war um so weniger abstrakt, je enger sie sich mit der Volkstradition verband. Die durch die kritische Philologenarbeit der Humanisten erschlossenen Texte wurden - so erkennen wir aus den zeitgenössischen Übersetzungen - nicht als gelehrter Wissensstoff nur mit dem Intellekt aufgenommen, sondern sie eröffneten geistige Wirklichkeiten, denen man sich imaginativ mit allen Fasern der Existenz aufschloß.Zwischen Literatur und Leben war keine Wand kritischer Unterscheidung errichtet. Die Wunderwelt der Bibel, der mythologischen Dichtungen, der heroischen Historie verfloß mit der Wunderwelt des noch weitgehend mittelalterlichen Alltags, der abenteuerlichen Zeitereignisse und der jüngsten vaterländischen a)

Wilamowitz, „Was ist übersetzen?" in Reden und Vorträge (Berlin, 1901) S. 8. 21

III. Die Funktion klassischer

Überset^ungskunst

Geschichte. Man trug nicht, wie das 19. Jahrhundert, literarische Bildung ästhetisierend in die Wirklichkeit hinein, nachdem der wissenschaftliche Agnostizismus die Imagination daraus verdrängt hatte; grenzenlos wie die Wirklichkeit war der Glaube an sie, denn er ruhte auf dem Fundament von Dichtung und Religion. Vergangenheit und Gegenwart waren noch durch ein im Religiösen wurzelndes Gefühl einer überwölbenden Einheit verbunden. Aus beiden Quellen schöpfte man ununterschiedlich mit gleicher Intensität des Erlebens. Man las und übersetzte Demosthenes' Reden gegen Philipp II von Makedonien und dachte an Philipp II von Spanien. Man begeisterte sich für Plutarchs Heldenleben und hatte Essex oder Raleigh vor Augen. Die Antike war Vorbild im Leben wie in der Kunst. So wenig wie der elisabethanische Theaterbesucher im Schauspiel, differenzierte man Form und Gehalt, den Dichter und seinen Stoff. Der antike Mensch war der große und bewunderte Vorfahre, der sein Leben in seiner Literatur verewigt hatte, sich zum Ruhm, der Nachwelt zum Gewinn. Man eiferte ihm nach, indem man sich die Zeugnisse seiner Humanität sprachlich einverleibte, um damit ihren Gehalt zu gewinnen. Elisabethanisches Übersetzen ist Nachahmen. Nachahmen aber ist - nach Aristoteles - die ursprünglichste Form jedes Erkennens und Sich-Aneignens. Form ist Geist. In der mittelalterlichen Zauberpraxis glaubte man den Gegner töten zu können, indem man sein Bild vernichtete. Oder man schlug antiken Statuen den Kopf ab, um ihren Geist auszutreiben. Aus dem ehemaligen Feind war in der Renaissance das Vorbild geworden, aber etwas von jener Auffassung wirkt in den Übersetzern noch nach. Geist war für sie etwas Ursprünglicheres als eine intellektuelle Abstraktion, und ein Bild (ein physisches oder sprachliches) war etwas Wesenhafteres als eine leere Form. Philemon Holland, „the translator general of his age", brachte, wie er sich in der Vorrede zu seiner Plinius-Übersetzung äußert, seine Schätze aus dem Reiche der antiken Bildung mit demselben Hochgefühl heim in sein „dear native land" wie der zeitgenössische merchant-adventurer seine Goldbeute und fabelhaften Berichte aus Übersee. Mit dem gleichen Elan, mit dem die Angehörigen der einzelnen Nationen miteinander um den Seeweg nach Indien rangen, wetteiferten sie im 16. Jahrhundert miteinander um den Besitz der Antike, die Franzosen mit den Italienern, die Engländer mit beiden. Die Grundlage der Übersetzungskunst der Renaissance ist der mittelalterliche Glaube an den autoritativen Wert der Überlieferung, innerhalb 22

III. Die Funktion klassischer Überset^ungskunst derer die Humanisten den grundlegenden Anteil der Antike erkannt hatten. Heute ist der Glaube an die humanen Werte der Tradition durch die Autorität der Wissenschaft abgelöst worden. Das Herrschaftsbereich der Wissenschaft aber ist ein viel engeres als das ihres großen Vorgängers, das auch das Gesamtgebiet des Irrationalen und Imaginativen einschloß und regulierte ein Gebiet, in das die moderne Wissenschaft nur langsam nachfolgt. Seit es verbindliche Wahrheit nur noch im engeren wissenschaftlichen Bereich gibt, hat die Dichtung ihre frühere Aussagekraft verloren. Ihr Wert wird nur noch in ihrer „Originalität" gesehen. Die normative Deutung wurde durch die historische abgelöst. Damit ist der Übersetzungskunst im alten Sinne die ethische Grundlage entzogen. Erkennt man h e u t e vor der Autorität der Wissenschaft die Existenzberechtigung einer Übersetzung überhaupt an, dann nur als Mittel zum Zweck: als wörtliche Interpretation, als mechanisch-treue, philologischkorrekte Kopie des historischen Originals. Jede Zutat oder Veränderung ist eine Abweichung von der Wahrheit, sei es, daß der Übersetzer den Text zum leichteren Verständnis glättet, sei es, daß er dichterische Aspirationen hat und für den toten „historischen Stil" einen lebendigen, einen der eigenen Zeit entsprechenden substituiert. Die Zugehörigkeit zu einem der beiden Lager ist durchaus nicht eindeutig: große Philologen wie Wilamowitz und Gilbert Murray stehen im zweiten Lager, während Goethe (in der Theorie) und Robert Browning (in Theorie und Praxis) dem Prinzip der wörtlichen und metrischen Treue huldigten. Browning verlangt von einem AischylosÜbersetzer to be literal at every cost save that of absolute violence to our language . . . I would be tolerant for once — in the case of so immensely famous an original — of even a clumsy attempt to furnish me with the very turn of each phrase in as Greek a fashion as English will bear8).

Hören wir dagegen Edward Fitzgerald, den Verfasser einer der berühmtesten Übersetzungen des 19. Jahrhunderts, der von Omar Khayyam: I suppose very few people have ever taken such pains with Translation as I have, though certainly not to be literal. But at all cost, a thing must live, with a transfusion of one's own worse life if one can't retain the Original's better. Better a live sparrow than a stuffed eagle4). s ) Aus dem Vorwort zu seiner Übersetzung von Aischylos' Agamemnon (London, 1877). *) Letters, in Collected Works (London, 1859) II, 100; zitiert nach Oxford Book oj Greek Verse in Translation, ed. T. F. Higham und C. M. Bowra (Oxford, 1938), S. LXVII.

23

III. Die Funktion klassischer Überset^ungskunst Das moderne Dilemma ist also, ob man das Original in seiner Fremdheit belassen und die Übersetzung zu einem stillosen Zwitterding machen soll, oder ob man es aus seiner historischen Isolierung herausführen und dem eigenen Zeitgeschmack annähern soll. Dieses Dilemma ist im Zeitalter des „unhistorischen" Humanismus unbekannt. Seine Übersetzungen sind weder korrekte Kopien noch bewußte Modernisierungen. Hauptmerkmal der Tudor-Übersetzungen ist ihre Volkstümlichkeit. Dies aber nicht im Sinne einer Popularisierung von Wissenschaft, oder als Notbehelf für die, denen das Original verschlossen ist. Die Volkstümlichkeit gehört, wie die der Shakespeareschen Theaterstücke, zum Wesen, zur Substanz, zum Stil der Tudor-Übersetzungen. Sie ist nicht kalkuliert, sondern ursprünglich. Sie ist nicht Mittel zum Wirken, sondern unreflektierter Kern. Nicht Pseudo-Kunstwerk, sondern Kunstwollen aus eigenem Recht. Hier kommuniziert über die Jahrhunderte hinweg dichterischer Geist mit seinesgleichen. Die Relation zwischen Original und Nachdichtung ist eine echte und spontane. Zweifellos stand die Volkssprache, die der Übersetzer antiker Literatur im 16. Jahrhundert zur Verfügung hatte, auf einer elementareren Entwicklungsstufe als das Original. Aber gerade der Ausgleich dieses Gefälles in einer einzigen Generation ist die Leistung der Tudor-Übersetzer. W. v. Humboldt sagt, daß „auch in den Mundarten sehr roher Völker sich Alles, das Höchste und Tiefste, Stärkste und Zarteste ausdrücken läßt. Allein diese Töne schlummern wie in einem ungespielten Instrument, bis die Nation sie hervorzulocken versteht." 5 ) Diese hervorlockende Wirkung hatte für den gotischen Norden die Berührung mit der Mittelmeerkultur. Sie löste die eigenen Potenzen aus, die wahrlich reich genug waren: das mittelalterliche Mysterienspiel hatte die erhabensten Themen und die tiefste Konzeption einer kultischen Dramatik, und in ihrem Kern stand es der griechischen nicht nach, aber einen Aischylos hatte sie nicht hervorgebracht; erst aus der Verbindung mit der klassischen Tradition, repräsentiert durch die um die Jahrhundertmitte übersetzten zehn Senecadramen, blühte die Tragödie der Shakespeare-Zeit auf. Die gleiche doppelte Wurzel aus morality plaj und römischer Komödie hatte das elisabethanische Lustspiel. Ähnliches gilt für Miltons Epik, die biblische und klassische Tradition verschmolz. Der fruchtbarste Keim fiel in den reichsten Boden. Die großen Übersetzer-Leistungen des 16. Jahrhunderts entstanden nicht ') W. v. Humboldt, a.a.O. S. XVII. 24

III. Die Funktion klassischer Überset^ungskunst da, wo einige humanistische Pedanten den klassischen Stil wörtlich und metrisch genau kopierten; noch entstanden Übersetzungen dadurch, daß man klassische Stücke auf krude Weise denaturierte, wie es die Komödianten mit Shakespeares Stücken im Deutschland des 17. Jahrhunderts taten. In Tudor-England wurde durch das Übersetzen und im Akt des Übersetzens ein reicherer Stil geschaffen. Den Unterschied zwischen sich und dem antiken Vorbild empfand man nicht als einen zeitlichen. Diese Kluft hat erst das historische Bewußtsein aufgerissen. Man empfand den Unterschied als einen qualitativen. Wo wir heute ein „historisches Original" sehen, sah der Elisabethaner ein anspornendes Vorbild. Seine Naivität machte ihn sprachund stilschöpferisch. Unwillkürlich steigerte er seine Muttersprache über sich selbst hinaus, nicht um das Vorbild zu kopieren, sondern um es ihm gleichzutun. Indem er dies tut, erfüllt er als Übersetzer zugleich das oberste Gesetz der Kunst: er transzendiert die Grenzen des Individuellen, Historischen, und realisiert das Schöne. Er verwirklicht, was später D. G. Rossettis Forderung war: "The only true motive for putting poetry into a fresh language must be to endow a fresh nation, as far as possible, with one more possession of beauty." 6 ) Was der Elisabethaner naiv tat, erstrebt der K l a s s i z i s t d e s 18. J a h r h u n d e r t s bewußt. Jener will in seiner Muttersprache Schönes realisieren, dieser „das Schöne". Im gleichen Jahrhundert, in dem das Zeitliche in Gestalt historischen Denkens und historischer Kritik in die Kunsterörterung einbricht, macht der Klassizist die äußerste Anstrengung, alles Zeitbedingte aus der Kunst zu bannen und das Kunstwerk ausschließlich auf die zeitlose Form zu gründen. Die Norm verkörperte, nach wie vor, das seinerseits aus der Verschmelzung mit dem Griechischen hervorgegangene klassische Latein der augusteischen Zeit. Ihm suchte der Klassizist seine Muttersprache so weit anzunähern, als bei einer lebendigen Sprache, die noch im Fluß ist, irgend möglich ist. Aus dem Gefühl heraus, in der Volkssprache in einem vergänglichen Stoff zu bilden, hatte der Renaissance-Humanist, der noch in der lateinischen Sprachtradition stand, das klassische Latein unmittelbar imitiert. Eine zweihundertjährige intensive Selbstdurchdringung mit dem antiken Vorbild ermöglichte nun im Zeitalter des Klassizismus eine Nachahmung der inneren Form, eine Reproduktion des lateinischen Stils in der eigenen Sprache. Die englische Sprache selbst wurde klassisch. Wenn der italienische Renaissance-Humanist die neuentdeckten griechi') Aus dem Vorwort zu The Early Italian Poets (London, 1861). 25

IV. Nicht-epische

Übersetzungen

sehen Autoren in klassisches Latein übersetzte, so tat er das nicht nur, um sie den der griechischen Sprache Unkundigen zugänglich zu machen, sondern nicht minder in dem Gefühl, sie nun erst durch ihre Verwandlung in klassisches Latein eigentlich unsterblich zu machen. Wenn der englische Klassizist die großen Dichter der eigenen Vergangenheit - Chaucer, Shakespeare - neu „übersetzt", so faßt er sein Tun nicht auf als ein Modernisieren, eine Annäherung an den Zeitgeschmack (das wäre ihm als Blasphemie erschienen), sondern im Gegenteil als ein enthistorisierendes Stilisieren: die Dichtung wird gleichsam durch das lateinische Formfilter getrieben, wodurch sie von allem Vergänglichen entschlackt wird und nun erst Dauerhaftigkeit erlangt. Unter dem gleichen Gesichtspunkt wurden im Zeitalter des Klassizismus eine große Anzahl antiker Autoren, die schon in der Tudorzeit übersetzt worden waren, von neuem übersetzt, aber nicht mehr aus spontaner Freude an geistigen Eroberungen, sondern bewußt und ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Form, des Stils. Einerseits wollte man den antiken Vorbildern im englischen Sprachraum in gebührender Form fruchtbringendes Heimatrecht geben; andererseits wollte man der lebendigen englischen Sprache durch diese innige Verschmelzung mit den antiken Form-Mustern die Dauer des Klassischen verleihen. Die Kunst des Übersetzens klassischer Autoren hat daher im Zeitalter des Klassizismus höhere Geltung als Originaldichtung. Auf den Errungenschaften und Leistungen früherer Generationen aufzubauen und ihre Intentionen zu vollenden, hält man für wichtiger als Neuem nachzugeben, gegen das man solange skeptisch ist, bis es sich als notwendige Abwandlung eines bewährten Alten entpuppt. Die aus der literarischen Tradition heraus geläuterte kristallinische Formkunst des Klassizismus ist das künstlerische Spiegelbild der kosmopolitischen Aufklärungsphilosophie, die sich als die Quintessenz der reifen humanen Substanz aller Zeiten, als Destillat des rein Menschlichen auffaßte.

IV. Nicht-epische Übersetzungen A nerv beauty created, an old beauty doubled. (Ezra Pound)

Das Vorgesagte sei an einigen Beispielen unter folgenden Gesichtspunkten illustriert: die künstlerische Qualität der alten Übersetzungen 26

IV. Nicht-epische

Übersetzungen

wurde seither nicht mehr erreicht; ihrer sprachlichen Lebendigkeit entspricht eine Tiefe des empfangenen Impulses, der gegenüber eine bloße Rezeption in das historische Bewußtsein an der Oberfläche bleibt; auch bei Übersetzungen ist Form und Gehalt unlösbar: die innere Aneignung einer fremden Form ist daher nur durch Aktualisierung einer ihr entsprechenden geistigen Potenz möglich. Die hervorragendste Leistung der Übersetzungskunst der englischen Renaissance ist die Authorised Version der B i b e l von 1611. Als Gemeinschaftsarbeit entstanden, die auf einer Reihe von Übersetzungen vor allem des vorangegangenen Jahrhunderts fußte, verweben sich hier die christliche, die volkssprachliche und die antike Tradition harmonisch zu einem sprachlichen Ganzen von repräsentativer Monumentalität. Seit die Bibel in dieser Übersetzung vorliegt, ist ihre Wirkung in der englischen Geschichte vergleichbar der Bedeutung Homers für die Formung des griechischen Menschen. Dem Humanisten ist sie ein Musterbeispiel für seinen Glauben : im Anfang war das Wort. Es formt Menschen und Nationen. Wie die Vulgata des Hieronymus entstand die englische Bibel in einer Zeit, wo Theologie und Humanismus in Personalunion verbunden waren. Der Einfluß der Humanisten zeigt sich in Deutung und Form. Ihre griechischen (und hebräischen) Studien verdrängten die hohe Spekulation der Scholastik und eröffneten einen neuen Zugang zur Bibel, die man - in Analogie zu den antiken Klassikern - philologisch in ihrem schlichten Wortsinn interpretierte und als Grundlage zur Wiederherstellung der urchristlichen Lehre und zu einem frommen Leben in der Nachfolge Christi deutete. Die neue Ehrfurcht vor der Autorität des inspirierten Wortes hielt die Kritiker in Schach. Im puritanischen England nahm niemand Anstoß, wie der am klassischen Latein geschulte Kirchenvater Hieronymus es tat, an der „schlichten, manchmal niedrigen Ausdrucksweise" der Bibel1). Man fand nicht, wie die italienischen und französischen Klassizisten, daß der Stil der Bibel den Geschmack verderbe. Als größtes Prosa-Dokument von Englands „gotischer Renaissance" hält der Stil der Authorised Version die ideale Mitte zwischen den puritanischen Verfechtern der schlichten Volkssprache und denen, die es mit den Lateinern hielten und - wie Donne - Gott den größten Rhetor nannten. Hinfort konnten beide Parteien sich auf die gleiche Quelle berufen, und jede der beiden Traditionen wurde gegen die Einseitigkeit der anderen abgeschirmt. So konnte der Klassizist Pope die 1)

Brief an Paulinus, zit. nach E. R. Curtius, a.a.O. S. 54.

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IV. Nicht-epische

Übersetzungen

französische Kritik an Homers Natürlichkeit und niedrigem Stil mit dem Hinweis auf die Autorität der Bibel entkräften. Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Butcher-Lang und Lang-Leaf-Myers für ihre HomerÜbersetzung in Prosa einen Stil suchten, der wie der homerische streng formal war und doch nicht als künstlich empfunden wurde, wählten sie den Stil der Authorised Version. So stützten klassische und biblische Tradition sich gegenseitig. Las man die Bibel in Analogie zu den antiken Klassikern, so las man die Klassiker in Analogie zur Bibel: ethisch, sinnschwer, mit geheimnisvoller Bedeutung erfüllt, wie es die spätantik-mittelalterliche Tradition gelehrt hatte. Charakteristisch ist die Auswahl der Autoren, die man mit Vorliebe übersetzt. Es überwiegen die Moralphilosophen Cicero, Plutarch, Seneca, und die ethisch gerichteten Historiker Plutarch, Livius, Xenophon (Kyrupädie). Unter dem gleichen, vorwiegend ethischen Gesichtspunkt las und übersetzte man die Dichter, allen voran die „Magier" Ovid und Vergil, die schon die Lieblingsautoren des Mittelalters waren und die man durch allegorische Deutung weiterhin mit christlichen Grundanschauungen in Einklang brachte. Entscheidender als die bewußte Deutung ist die Tatsache der Übersetzungen selbst. Denn im künstlerischen Akt des Übersetzens, und als unmittelbare Folge davon, vollzieht sich im nationalen Bewußtsein ein Umschwung in der Einstellung zur Antike und zur Welt und eine Erweiterung des Gesichtsfelds, dem sich das begriffliche Denken erst nachträglich anpaßte. Indem die klassischen Werke in so großer Zahl, innerhalb so kurzer Zeit, vollständig und leicht zugänglich, in die Volkssprache übertragen und von einem wissensdurstigen, geistig lebendigen Publikum absorbiert wurden, wurde die Antike aus einem Schemen eine konkrete Vorstellung. Eine leere Bildungskonvention wurde aus den Originalen „aufgefüllt" und unmittelbar erlebbar. Die antiken Götter und Heroen, bisher automatisch anzuwendende Formeln aus den Schulbüchern, rhetorische Klischees aus der mittelalterlichen Literatur, nahmen leibliche Gestalt an. Antike Dichtung und Historie verwebten sich in der Phantasie zum Bild einer Kultur, deren Faszination für den Renaissancemenschen darin bestand, daß der Mensch in ihr sich so viel besser kannte, weil der Entwicklung seiner natürlichen Anlagen und Fähigkeiten ein weiterer Spielraum gelassen war als in der mittelalterlichen Welt mit ihrer vorwiegend transzendenten Orientierung. Stellte die christliche Literatur den Menschen vor die Ewigkeit, so beschreibt ihn die antike Literatur auch in typischen und gemeingültigen Situationen in 28

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dieser Welt, wobei sie den inneren Mechanismus der menschlichen Natur, Motive, Kräfte, Gefühle einfach und sinnenfällig darbot. Die antike Ethik ist primär auf den Menschen selbst ausgerichtet, und die Historie schildert Muster der humanitas und menschlichen Verhaltens. In der antiken Mythologie ist dem mittelalterlichen Sinn für das Transzendente Genüge getan; da sie das Übernatürliche so harmonisch mit dem Natürlichen verwebt, schöpft man auch zu diesem mehr Vertrauen. So sind es geradezu die mittelalterlichen Voraussetzungen der Tudor-Übersetzungen, die ihre dichterischen Qualitäten ausmachen: die Unbefangenheit, mit der der Übersetzer dem Original folgt; der Realismus seiner Beschreibung sei es natürlicher sei es übernatürlicher Dinge; die Vitalität, Lebensnähe und Flexibilität der Volkssprache mit ihren verhältnismäßig wenig differenzierten literarischen Konventionen. Diese mußten mit den einzelnen Übersetzungen erst geschaffen werden. Kein bewußter Stilwille drängte sich zwischen Übersetzer und seinen Gegenstand: die Form entwickelte sich aus der vorbehaldosen Hingabe an das Vorbild. Rem tene verba sequentur. Auf diese Weise entwickelte sich der Stil organisch. Am schnellsten in der Prosa. Die elisabethanischen Prosa-Übersetzungen behandelt F. O. Matthiessen in seinem feinsinnigen Buch Translation - An Elizabethan Art*). Es beginnt mit dem Satz: "A study of Elizabethan translation is a study of the means by which the Renaissance came to England." Der Verfasser zeigt, wie aus fremden Autoren durch die Kunst der Übertragung Bestandteile der eigenen Literatur und nationalen Bildung wurden. In bezug auf die englischen Humanisten heißt es: "The scholars had done their work well, but they were not artists. The imagination of the country was still waiting to be stirred." (S. 9). Die auslösende Wirkung kam durch die Übersetzer. Ihr Anliegen war „not a meticulous imitation of the classical style, but the production of a book that would strike into the minds of their countrymen" (S. 6). Matthiessens Vergleiche der alten Übersetzungen mit neueren ergeben, daß die Leistungen der Tudorzeit nicht nur historisch bedeutsam sind durch ihren Einfluß auf die originale Literatur, vor allem auf Shakespeare, sondern daß sie selbst an sprachkünstlerischer Höhe nie wieder erreicht worden sind. Dies bestätigt auch ihr heute noch fortwährender Abdruckin Buchreihen, die nicht ausschließlich wissenschaftlichen Forschungszwecken dienen. Hier war eine Fusion antiken und englischen Geistes in einer Tiefenschicht des Verstehens erreicht, die eine wahrhaft reprodua)

(Cambridge Mass., 1931). 29

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zierende Kraft künstlerischer Aussage ermöglichte. - Greifen wir aus jeder literarischen Gattung jeweils ein repräsentatives und die englische Tradition entscheidend bestimmendes Werk heraus. Castigliones II Cortegiano wurde 1561 durch den englischen Botschafter in Paris, den vollendeten Hofmann seiner Zeit und Vorläufer Sir Philip Sidneys, übersetzt: durch Sir Thomas Hoby. The Courtier war für den Übersetzer nicht ein literarischer Schemen, sondern ein lebendiges Ideal, eine Verbindung mittelalterlich-chevaleresken Geistes mit antiker humanitas, und dieser Glaube teilte sich der lebendigen Aussagekraft seiner Sprache mit, die von der exaktesten Übersetzung des 20. Jahrhunderts mit ausführlichem wissenschaftlichem Apparat nicht entfernt wettgemacht wird, da Qualität durch Quantität nicht ersetzt werden kann. Hoby's The Courtier ist zugleich eine frühe englische Stilübung in einer Lieblingsform des Humanismus, dem platonischen D i a l o g , der später in Dryden und Shaftesbury seine englischen Meister finden sollte. Die urbane Gesprächsform von Drydens Essay of Dramatic Poesj ist nichts Äußerliches, durch eine andere Darbietungsweise Ersetzbares ; sie ist der natürliche Ausdruck einer Sehweise, die sich nicht auf einen einzigen Standpunkt versteift und dadurch notwendig zu jenen Einsichten führt, durch die dieser Essay mit Recht so berühmt geworden ist (durch Lessing auch in Deutschland). Diese Sehweise wurde sich ihrer Eigenart als charakteristisch humanistische Denkform bei Shaftesbury bewußt, dem wir eine Theorie des dialogischen Denkens verdanken. Montaignes Name ist für den Engländer bis heute unlöslich mit dem seines ersten kongenialen Übersetzers Florio verbunden. Mit seiner Übertragung von 1603 - Shakespeare zitiert sie im Sturm - springt die antike Tradition des moralischen E s s a y s nach England über, diesmal durch Vermittlung Frankreichs. Da diese literarische Form eines an antiken Zitaten sich aufrichtenden lebensnahen Philosophierens dem Pragmatismus der englischen Gebildeten so sehr gemäß war, machte Florios auch stilistisch dem französischen Meister kaum nachstehende Übersetzung sofort Schule. Die Geschichte des englischen Essays im 17., seiner Blüte im 18. und seines Nachlebens im 19. Jahrhundert ist eines der reizvollsten Kapitel der englischen Literatur. In der elisabethanischen Übersetzungskunst nahmen die antiken H i s t o r i k e r schon deshalb einen großen Raum ein, weil sie am nächsten an antikes Menschentum heranführen. Die hervorragendsten Leistungen sind Norths Plutarch (Lives of the Noble Grecians and Romans, 1579), in dem 30

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Shakespeares Römerdramen stilistisch vorgeformt sind, und Philemon Hollands Livius (1600), Plinius (1601), Sueton (1605), Ammian (1609), Xenophon (1632). Obwohl bei Holland auch ein Höchstmaß wissenschaftlicher Exaktheit hinzukommt, sind beide Übersetzer unübertroffene Meister der Prosa. Dies ist kein zufälliges Zusammentreffen, sondern ein Erfordernis für den an der Antike geschulten Historiker, der den formlos tatenreihenden Verfasser mittelalterlicher Chroniken ablöst. Richtet sich sein Wahrheitssuchen doch auf die humane Substanz der Geschichte, auf den aktiven Anteil des Menschen an den Ereignissen, auf sein Vermögen zu bewußter politischer Menschenführung. Dies bedarf zur Erfassung in seiner Komplexheit der künstlerischen Intuition und zu entsprechender Darstellung der künstlerischen Aussageform. Die Übersetzer machten das neue staatspolitische Denken der Renaissance zum Gemeingut der jungen Nation, die bei den antiken Historikern in die Schule ging. So entwickelte sich die naive Chronik durch Meisterung immer komplexerer Zusammenhänge zu jener am Epos geschulten Geschichtsschreibung, deren klassische Hochform im 18. Jahrhundert von Gibbon erreicht wird. Underdownes Übersetzung von Heliodors Aithiopika (1559) stellte das klassische Muster eines Barockromans an den Anfang einer neuen Entwicklung in England. Die Entwicklung in den anderen Ländern lief parallel, denn um dieselbe Zeit wurde Heliodor in nicht weniger als zehn andere europäische Kultursprachen (einschließlich des Lateinischen) übersetzt. Eine rasche Auflagenfolge der englischen Ausgabe bezeugt seine Beliebtheit. Shakespeare wußte sich verstanden, wenn er auf den „Egyptian thief" anspielte. Seine Theaterbesucher und die Heliodor-Leser waren die gleichen Leute: grenzenlos aufnahmebereit für Dichtungen, die exotische Stoffe, Reisen, Liebesgeschichten und Abenteuer in einer spannungsreichen und zugleich erbaulichen Handlung verflochten; geistig beweglich und aufgeschlossen auch für eine farbige, bildergesättigte, periodenstolze Sprache, die gelehrten und rhetorischen Zierat nicht verschmäht. Unter den Imitationen, die bald nach dem Erscheinen von Underdownes Übersetzung zu erscheinen begannen, ragt die zweite Fassung von Sir Philip Sidneys Arcadia hervor. Die erste Fassung war ein konventionell erzählter, nach Arkadien verlegter, höfischer Liebesroman nach Sannazaro gewesen. Erhöhte künstlerische und ethische Ambitionen, ausgelöst durch Scaliger und die italienische Kritik, veranlaßten den Autor, den romantischen Stoff von Grund auf umzuarbeiten und ihm sowohl stilistisch als auch strukturell eine antikisierende Form zu geben. Hätte Scaligers Lobpreis des mustergültigen 31

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Heliodor auf so fruchtbaren Boden fallen können, wenn er Sidney nicht anschaulich in Übersetzung vorgelegen hätte ? Hier wird die Rolle, die die Übersetzer neben den Kritikern spielen, deutlich. Das Aufblühen des elisabethanischen T h e a t e r s steht in ursächlichem Zusammenhang mit der Seneca-Renaissance, die durch die Übersetzung seiner Tragödien ausgelöst wurde (Tenne Tragedies, 1559-1581). Ihren künstlerischen Rang und ihre historische Bedeutung würdigt T. S. Eliot in seinem Essay Seneca in Elizabethan Translation (1927), in dem er eine literarische Rettung sowohl Senecas als seiner ersten englischen Übersetzer vornimmt. Er kommt zu dem gleichen Ergebnis wie F. O. Matthiessen in seiner Untersuchung der elisabethanischen Prosa-Übersetzer. Eliot schreibt: "The translations have, as I hope to show, considerable poetic charm and quite adequate accuracy, with occasional flashes of real beauty; their literary value remains greater than that of any later translations of Seneca's tragedies that I have examined, either in English or French." 3 ) Dabei geht Eliot von der Voraussetzung aus, daß Gehalt und Form untrennbar sind: "No author exercised a wider or deeper influence upon the Elizabethan mind or upon the Elizabethan form of tragedy than did Seneca." 3 ) Die Totalität der Rezeption antiker Autoren, das Intaktlassen der ursprünglichen Einheit von Gehalt und Form erkannten wir wiederholt als das Geheimnis elisabethanischer Übersetzungskunst, für die Form-Übertragung gleichzeitig nachahmende Realisierung entsprechender geistiger Substanz bedeutete. Zur Aneignung antiker Prosakunst und Dramatik tritt das Ringen um die verschiedenen Formen antiker L y r i k . Es beginnt mit nachahmender Übersetzung und führt über die klassizistische Imitation zur eigenschöpferischen Emanzipation. Die schwierigeren poetischen Formen erfordern eine längere Kunstübung, die sich oft durch den ganzen Zeitraum der klassischen Bildungstradition bis hin zur Romantik erstreckt. In der Rezeption der Ode, zum Beispiel, waren das 18. und beginnende 19. Jahrhundert nicht minder produktiv als das 17. Die über viele Dichtergenerationen sich erstreckende, zähe, kontinuierliche Tradition ermöglichte der englischen Muse die volle organische Aneignung dieser schwierigen Gattung in der Mannigfaltigkeit ihrer von der Antike entwickelten Spielformen. Als der Romantik die letzte Modulation gelang, war die englische Kultur nicht um eine bloß historische Form, sondern an sich selbst bereichert: durch im dichterischen Wort unverlierbar gewordene Verwirklichung ureigenster Potenz. Schöpferisches a)

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Selected Essays (London8 1951), S. 65.

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Fortschreiten geschieht nicht mit dialektischem Automatismus in einem abstrakten geistesgeschichtlichen Raum, aus dem das Genie seine Inspiration bezöge, um sie in der konkreten Welt „auszudrücken", sondern es erfolgt in der Welt, am Objekt und durch das Objekt: es geschieht in der Kunst in folgerichtiger Arbeit an der Sprache, am Stil, unter dem Gesetz der Gattung, in ehrfürchtiger Fortführung dessen, was frühere Generationen erreicht haben. Nicht alles ist, sagt Wölfflin, zu allen Zeiten möglich. So gelingt die Fusion von englischem Geist und römischer Satire erst auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Situation Englands im Zeitalter Popes, obwohl die Satire seit jeher eine Lieblingsform des Humanismus war, da er durch sie seinem gesellschaftskritisch-erzieherischen Temperament Ausdruck verleihen kann. Dagegen wird die H i r t e n d i c h t u n g schon im elisabethanischen Dichtungsfrühling zur vollen Blüte geführt. In den Six Idyllia out of Theocritus (1588) eines anonymen Übersetzers, einem frühzeitigen Höhepunkt sprachlicher und metrischer Bewältigung spezifisch griechischer Formkunst, verfließt die klassische Idealwelt mit einem Nachklang zauberhafter Romantik aus dem Mittelalter. Im 17. Jahrhundert verband sich mit ihr die christliche Vorstellung vom Urzustand des Menschen vor dem Fall, und die Naturphilosophie des 18. Jahrhunderts übernahm diese Deutung in säkularisierter Form. „Unsrer Muse Beginn sind Hirtenlieder gewesen." Noch der junge Pope begann seine dichterische Laufbahn mit Imitationen vergilischer Eklogen. Die Spielform der bukolischen Totenklage erhielt sich bis Shelleys Adonais, dessen Vorbild Moschus war - in Chapmanns Übertragung. In engem Zusammenhang mit der Bukolik steht die m y t h o l o g i s c h e D i c h t u n g , in der sich der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit mit der größten Kontinuität vollzieht. Ihre unversiegende Quelle seit dem Mittelalter ist Ovid. Seine Popularität erhält erneuten Auftrieb durch Goldings Übertragung der Metamorphosen (1565, 1567), die den Reigen der Übersetzungen seiner anderen Werke, darunter der Elegien durch Marlowe, eröffnet. Shakespeare pflückt von ihr seine „odoriferous flowers of fancy". Golding, ein frommer Mann, der auch Predigten Calvins übertrug, gibt in seiner Vorrede in herkömmlich mittelalterlicher Art einen allegorischen Schlüssel zu den einzelnen Büchern, der die „dark philosophie" des heidnischen Dichters über ihre mosaische Urquelle ^uf ihren unbewußt christlichen Kern zurückführt. Nach dieser Glaubens-Sicherung seiner selbst und 3 Stthncl

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seiner Leser geht er mit keuscher Unbefangenheit und künstlerischer Ehrlichkeit an die Übersetzung, so etwa wie Dürer Akte zeichnete. Bei der Wiedergabe antiker Schönheit verfehlt Golding, wie der deutsche Meister, Glanz und Grazie des Südens. Das war noch eine verschlossene Welt. Goldings puritanisch-germanischem Empfinden ist Ovids weltliche Kunst so wenig geheuer wie die Welt selbst, deren so vollkommener Spiegel sie ist. Aber er verschließt sich ihr nicht, sondern studiert sie mit heiliger Nüchternheit und einem noch durchaus mittelalterlichen Sinn für das Wunderbare. Ovid ist für ihn der „Magier", der das Wesen dieser Welt enthüllt, indem er ihren inneren Mechanismus anschaulich macht - zum Nutzen für jedermann, jung und alt, gelehrt und ungelehrt. Die Kunst ist, wie die Welt überhaupt, nur eine Allegorie. In seiner Defence ofPoetry (1579) schreibt Goldings Zeitgenosse Thomas Lodge, den italienischen Humanisten Campano zitierend: "Mira fabularum vanitas, sedquae si introspiciantur videripossunt non vanae"1), und er fährt fort, durch die artes liberales wären die Alten zu homines liberi geworden, durch Weltkenntnis vermittels der Kunst wären sie zur Welterkenntnis in ihrer Philosophie gelangt (welche Philosophie ihrerseits eine Propädeutik des Christentums ist). Das ist ganz im Sinne Goldings und seiner Zeit. Die Frührenaissance steht am Scheitelpunkt zwischen Mittelalter und Neuzeit. Die Welt ruht noch in einem metaphysischen Raum. Sie ist unheimlich hintergründig und mehr, als sich den Sinnen darbietet. Das Geheimnis hinter der Erscheinungen Flucht ergründet der Dichter als Magier. Diese Vorstellung fließt in Goldings Übersetzung der Metamorphosen ein und gibt ihr ihren einmaligen aesthetischen Reiz. Echter Wunderglaube spiegelt sich in seiner schlichten und luziden Sprache, die nichts von sich selbst weiß und Ovids Fabeln nacherzählt in hingebender Identifizierung mit dem Stoff. Selten war der Stoff des Dichters feiner gewebt und transparenter als in jener Zeit. G. M. Hopkins und Ezra Pound, der wie die Praeraphaeliten den Höhepunkt der Renaissance an ihren frühesten Anfang verlegt, zählen Goldings Übersetzungen zu den schönsten Werken der englischen Literatur6). Christopher Marlowe teilt sich mit Golding in den Ruhm des besten englischen Ovid-Übersetzers. Als Student übertrug er die Amores. Er repräsentiert die auf Golding folgende Generation und geht einen Schritt über ihn hinaus, den Schritt von der Frührenaissance zur Hochrenaissance, *) G. Smith, Elizabethan Critical Essays (Oxford, 1904), I, 65 f. *) Ezra Pound, "Notes on Elizabethan Classicists", in Literary Essays (London, 1954), S. 232ff.

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von der handwerklich-schlichten Treue des Gläubigen zu der schönheitstrunkenen Farben- und Formenpracht einer für England ganz neuartigen sensualistischen Welterfassung. Um diesen „italienischen Atheismus" mit seiner Glorifizierung der Sinne auf Kosten des christlichen Sinns einzudämmen, ließ der Erzbischof von Canterbury 1599 Marlowes Übersetzung öffentlich verbrennen. Sie war nur Vorspiel einer anderen Übersetzung desselben Autors, seines Hero and Leander nach Musäus, die der nicht einmal von Shakespeare wieder erreichte Gipfelpunkt dieser Dichtungsart ist. „Soweit mit dem Wort das Wiedererwachen des Lebens der Sinne fühlbar zu machen war, war es durch solche Dichtung geschehen, die somit die Entsprechung des für die italienische Renaissance so überaus bezeichnenden Kults des nackten Körpers in der Kunst darstellt. ' 6 ). Eine auf Erregung sinnlicher Eindrücke und Empfindungen ausgehende schwelgerische Verwendung griechischer Mythologie als anschaubarer Tableaux idealer Körperlichkeit ist charakteristisch für diesen literarischen Renaissance-Paganismus. Er widerspricht dem antiken Sinn der Mythologie, in der der Mensch sich nicht vergottete, sondern, im Gegenteil, sich seiner Grenzen bewußt war. Indem Hero and Leander ein großartiges Fragment blieb, blieben auch die Grenzen einer rein sensualistischen Weltanschauung verhüllt. Als Chapman Marlowes Fragment anhand der Vorlage von Musäus zu Ende dichtete, tat er es von der Grenze aus, wo die elisabethanische Dichtung in die religiöse des 17.Jahrhunderts übergeht. C. S.Lewis hat als erster Chapmans Beitrag nicht nach seinem Vorgänger, sondern aus eignem Recht gewertet. Er kommt zu dem Ergebnis: "The two parts, Marlowe's and Chapman's, should always be read together. Between them a great story is greatly told; and an important chapter in the history of poetry is unconsciously told too."'). Chapman gibt dem Schönen, ohne von seinem Glanz zu rauben, eine metaphysische Dimension. Auch er war von Ovid ausgegangen, aber in entgegengesetzter Richtung, in Richtung auf den Piatonismus, in dem sich Goldings Puritanismus und Marlowes Sensualismus, wenn nicht harmonisch durchdringen, so doch im Sinne der metaphysischen Schule, dialektisch steigern. Aus der sinnlichen Welt erhebt sich der Mensch zur Anschauung der sittlichen Weltordnung im Bilde des heroischen Menschen. Die Allegorie verlebendigt sich zum Mythos. Am *) W. F. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (München, s1933), S. 91. ') a.a.O. S. 516. 35

V. Epische Übersetzungen Anfang der Suche des 17.Jahrhunderts nach dem Epos steht Chapmans große Homer-Überset2ung. In Milton erstand dann der Dichter, der auf den Schultern Homers diese episch-mythische Welt aus christlichem Glauben erneuerte. Sein Christentum und seine Klassik verhalten sich zueinander nicht im cartesischen Sinne wie Gedanke zur physischen Welt, sondern im platonischen Sinne wie zwei Hälften, die einander suchen, um ein Ganzes zu bilden. Der mythologische „Apparat" des Epos ist nicht eine Fiktion, sondern im platonischen Sinne real; die epische Sprache ist eine rituelle Sprache, die natürlich-übernatürliche d.h. poetische Ausdrucksform einer geistbewegten Welt, die nur der Gläubige überzeugend auszusagen vermag8).

V. Epische Übersetzungen The crowning achievement of Elizabethen Humanism. (Havelock Ellis)

„Würde, Selbstständigkeit, erzieherische Funktion der Poesie sind durch Homer und sein Nachwirken konstituiert"1). Als Ahnherrn ihrer Paideia haben ihn die Griechen selbst gedeutet2). Von Livius Andronicus' OdysseeÜbersetzung bis zu Vergils Aeneis führten die Römer die urgriechische Verbindung von epischer Kunst und humaner Selbstverwirküchung weiter. Die christliche Antike knüpft an Vergil an, und die kontinuierlich weiter verlaufende Tradition findet ihren mittelalterlichen Höhepunkt in Dante. Der byzantinische Homertext in den Händen Petrarcas, der ihn nicht lesen konnte, versinnbildlicht den Beginn des Renaissance-Humanismus, denn 8 ) Aus der geistesgeschichtlichen Perspektive, die das Barockzeitalter und Miltons Gesamtentwicklung bis Paradise Regained überschaut, betont W. F. Schirmer mehr die durchgehende Zwiespältigkeit von Christentum und Klassizismus (Antike, Renaissance und Puritanismus, 1. Kapitel); C. S. Lewis dagegen, der für die epische Form von Paradise Lost eine Lanze brechen will, hebt stärker die Gemeinsamkeit hervor, indem er dem heutigen Leser den mythischen Ursprung der klassisch-epischen Tradition ins Gedächtnis ruft (A Preface to Paradise Lost, London 1942). Aber auch Schirmer spricht von „Neuschaffung der klassischen Mythologie" aus christlichem Gehalt (S. 58), während umgekehrt C. S. Lewis bei Milton Reste eines zu anthropomorphen Klassizismus ä la Vida beklagt, wo versucht wird „to make Heaven too like Olympus" (S. 127). !) E. R. Curtius, a.a.O. S. 44. ») W. Jaeger, Paideia (Berlin, 1934), I, 64f.

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V. Epische Übersetzungen seiner Erschließung diente die Neubelebung der griechischen Studien. Bei den romanischen Völkern erhöhte der wachsende Ruhm Homers den Glanz ihres Ahnherrn Vergil. In England dagegen wurde Vergil zum Wegbereiter Homers. Die Bibel und Homer prägten im 17. und 18. Jahrhundert das Bild des Engländers. In Milton gelang die innigstmögliche gegenseitige Durchdringung. Von da verlief die Linie weiter zu Klopstock, aber erst aus Winckelmanns erneuter Begegnung mit Homer erwuchs Hellas zum erzieherischen Leitbild auch der deutschen Klassik, nicht ohne Mitwirkung der bahnbrechenden englischen Homerstudien des 18. Jahrhunderts, die zum tieferen Verständnis des Dichters seinen kulturhistorischen Wurzelboden an den Tag zu fördern begonnen hatten, ohne die humanistische Fragestellung aufzugeben und die Philologie der Geschichtswissenschaft Untertan zu machen. Auf Grund seiner maximalen quantitativen und qualitativen dichterischen Weltbewältigung galt das Epos für Renaissance und Klassizismus seit Vidas yLrs Poetica (1527) als Krone der Dichtkunst. Polyhistor und Seher in einem, gestaltet der Epiker die Summe menschlichen Wissens um Himmel und Erde zum dichterischen Bilde und enthüllt das Universum als sinnvoll geordnetes Ganzes. Er bringt es auf eine anschauliche Formel wie Einstein inj 20. Jahrhundert auf eine mathematische. Mit welchem Ernst man das Studium der epischen Kunst betrieb, betont W. P. Ker: "From the days of Petrarch and Boccaccio to those of Dr. Johnson, and more especially from the sixteenth century onward, (the heroic poem) was a subject that engaged some of the strongest intellects in the world . . .; it was studied and discussed as fully and with as much thought as any of the problems by which the face of the world was changed in those centuries"3). Dichtung tritt an die Stelle der Philosophie. Das Epos löst die „Summe" der Scholastik ab. In denselben Dezennien, in denen Aristoteles als Metaphysiker und Logiker und als antike Autorität der mittelalterlichen Philosophie zurückgedrängt wird, steht er wieder auf, mit erneuerter Autorität, in Vallas (1498), Pazzis (1536), Robortellis (1548), Segnis (1549), Castelvetros (1570) Ausgaben seiner Poetik, die der Dichtung philosophischen Rang einräumt. Nach Ablösung des Florentiner Piatonismus wird Aristoteles zunehmend so formalisiert, daß selbst Homer geopfert wird und Vergil als alleiniges Muster übrigbleibt. Denn Vergil dichtete, wie Homer gedichtet haben „sollte". ») The Essays of John Dryden, ed. W. P. Ker (Oxford, 1925), I, S. XVI. 37

V. Epische Übersetzungen Als der französisch interpretierte Aristoteles in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach England einwirkte und die theoretische Diskussion um das Epos verhältnismäßig spät auch hier in Gang brachte, da war die englischer Eigenart entsprechende praktische Bemühung um das Epos hier schon ein Jahrhundert alt und die intensive Selbstdurchdringung der englischen Kultur mit der epischen Tradition von Homer bis Camöes, Tasso und Du Bartas bereits abgeschlossen. Dadurch war die Anomalie der deutschen Gottschedzeit vermieden, daß sich Gelehrte über den Kopf der Gebildeten hinweg über Dinge des Geschmacks stritten, von denen im nationalen Bewußtsein konkrete Vorstellungen fehlten; so stammte das Pulver, das Gottsched verschoß, aus Frankreich, das Breitingers aus England. Im Unterschied zu den französischen Kritikern, die bei ihren Urteilen von Regeln ausgingen, die sie aus Aristoteles abgeleitet hatten und nachträglich zu verifizieren suchten, war der Engländer darauf aus, seinen Geschmack empirisch am künstlerischen Objekt zu bilden und aus dem Vergleich zu urteilen. Der Akzent verlagerte sich vom Kritisieren nach vorgefaßten Maßstäben auf das Deuten. Man war unvoreingenommener und der Blick war weniger fixiert. Der Engländer war mit seinem Vergil nicht weniger vertraut als der Franzose, aber - im Gegensatz zu diesem - war ihm Homer eine nicht minder lebendige Vorstellung aus erster Hand. Außerdem hatte man seit Spenser eine eigene epische Tradition. In Miltons Paradise Lost hatte man ein nationales Epos vor Augen, das keine Parodie auf das Ideal war wie so viele „biblische Epen" des 17. Jahrhunderts. Aber auch die zahlreichen fehlgeschlagenen Versuche, die heiß umstritten wurden, schulten das kritische Vermögen. Die großen Epen der Weltliteratur lagen in meisterhaften Übertragungen vor, oft mehrfach und in vielen Auflagen. Beschränken wir uns auf die Nennung vollständiger Übersetzungen, so finden wir den Homer von Chapman (1598-1615), Ogilby (1660-65), Th. Hobbes (1674-75); den Vergil von Gavin Douglas (1512-13, publ. 1553), Phaer-Twyne (1558-73), Ogilby (1649-50), Dryden (1697); den Ariost von Harrington (1591); den Tasso von Fairfax (1600); den Camöes von Fanshawe (1655); auch Sylvesters Du Bartas (1592-99) sei wegen seiner Bedeutung für die englische Literatur erwähnt. Das Anschauungsmaterial war reich. Als Orientierungspunkte der Kritik standen Homer, Vergil und Milton eindeutig im Vordergrund. Auch hier „richtete" man nicht den einen durch den anderen, sondern man ließ sie sich wechselseitig erhellen und erkannte jeden in seiner Eigenart. Man verglich die einzelnen Epen, so wie es Dryden mit den antiken, französischen 38

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und englischen Dramen getan hatte, nach dem Grundsatz des Essay on Dramatic Poesy (1659): "the genius of every age is different". Man verfiel dabei nicht einem historischen Relativismus, sondern sah die einzelnen Werke als nationale Spielarten eines gemeinsamen Ideals. Die kritische Auseinandersetzung mit den exemplarischen Manifestationen dieses Ideals war eine Frage der Kultur, die jedem Bildungswilligen persönlich gestellt war und die nicht in wissenschaftlicher Stellvertretung, als abstrakt übermittelbares Wissen, beantwortet werden konnte.Gelehrsamkeit und Literatur und Bildung waren eins. Mit welcher Ergriffenheit diese Auseinandersetzung erfolgte, das zeigen wieder am besten die großen Übersetzungen. Sie sind, wie wir sahen, praktische Auslegungskunst, heuristisches Prinzip der Selbstverwirklichung im Akt nachbildenden Verstehens. Der Weg zum griechischen Ursprung der epischen Tradition führt über diese selbst. Ihre Hauptvertreter in der Renaissance sind (außer Milton) T a s s o und Camöes. Über ihre englischen Übersetzer urteilt Bowra: "Fortunately both Tasso and Camöes found translators when the epic was still a living art. Sir Edward Fairfax published his Version of Tasso in 1600 and Sir Richard Fanshawe his Version of Camöes in 1655. No modern translator can hope to rival their vigour and vitality" 4 ). Man mag diese Feststellung weniger schlagkräftig finden als die gleichlautenden von Matthiessen, Eliot, Lewis über die anderen Gattungen, da es sich bei den von Bowra erwähnten Epikern um Zeitgenossen handelt. Bowra selbst allerdings legt den Akzent auf die „noch lebende Tradition des Epos". Damit ist gleichzeitig das poetische Gelingen der damaligen Übertragungen auch der a n t i k e n Epiker erklärt, ebenso wie das allgemeine Absinken der Übersetzungskunst nach Erlöschen dieser Tradition in neuerer Zeit. Die Folgerung daraus ist, daß unser „historisches Bewußtsein", dessen Fehlen den alten Übersetzern vorgeworfen wird, die lebende Tradition nicht ersetzen kann. Seit dem Traditionsbruch drohen für das Verstehen klassischer Kunst andere als historische Maßstäbe immer mehr verloren zu gehen. Tatsächlich ist unser Verständnis von Kunstwerken der Vergangenheit weitgehend nur noch das Verständnis ihres äußeren Stils als eines historischen. Selbst wo wir noch Freude an ihnen empfinden, ist es vorwiegend die des Entdeckungen machenden Historikers. Wie weit ist es noch die Freude, der - nach Schiller - die Kunst eigentlich gewidmet ist ? Die aber ist der Lebensnerv in den alten Übersetzungen, die noch in der leben«) From Virgil to Milton (London, 1945), S. V. 39

V. Epische Übersetzungen den Tradition stehen und daher gar nicht historisch sein können. Klassische Kunst sprach über die Zeiten hinweg noch unmittelbar an. Die alten Übersetzungen sind nicht geschmackvoll dargebotene historische Deutung; sie sind im tiefsten und umfassendsten Sinne praktische Deutung: Beantwortung der alten Frage nach dem menschlichen Sein. Der moderne Übersetzer beugt sich vor der Autorität der Wissenschaft, die sich in der Kunstdeutung an das nachweisbar Zeitliche hält, eben an das Historische; die alten Übersetzer apperzipieren das an ihren historischen Vorbildern, was die Zeit transzendiert, was sie klassisch macht. Das vermögen sie nur kraft einer die Zeiten überwölbenden, im Religiösen wurzelnden Tradition. Ist es die Aufgabe des modernen Übersetzers, die historisch interpretierende Wiedergabe seines Textes „genießbar" zu machen, so erwächst dem alten Übersetzer erst aus der Tiefe seiner genießenden Hingabe das volle Verstehen und die Möglichkeit einer wahren Nachbildung. Glaubt jener, klassische Werke genießbar machen zu müssen, indem er sie - modernisiert, so unterwirft dieser sogar moderne Werke traditionellen Maßstäben; er deutet sie als potentielle Klassiker, sub specie aeternitatis. Die Maßstäbe dazu fand er in den exemplarischen Werken der für ihn gültigen und lebendigen Überlieferung. Die Anerkennung von V e r g i l s Vorbildlichkeit erfolgte in England nicht, wie bei den Romanen, auf Kosten Homers. Die leidenschaftliche Erörterung der Frage, wer von beiden der größte aller Dichter sei, konnte hier unvoreingenommen geführt werden, da das Motiv wegfiel, Vergil aus patriotischen Gründen, als Verewiger der Sprache Roms, auf dem Ehrenplatz neu zu bestätigen, den er schon während des Mittelalters als Dichter der anima naturaliter christiana innehatte. Natürlich begünstigte das Übergewicht der lateinischen Sprache auch in England zunächst Vergil. Er ist der erste klassische Dichter, der ins Englische übersetzt wurde, und zwar bereits 1512-13 (veröffentlicht 1553) durch den schottischen Bischof Gavin Douglas. Der mittelschottische Dialekt war der Anerkennung dieses Meisterwerks hinderlich. Über ihm liegt der Nachglanz jener naiv-mittelalterlichen Frömmigkeit, den wir auch in Goldings Metamorphosen bemerkten. Doch trifft dieser Zug bei der Aeneis viel tiefer in das Zentrum des lateinischen Originals als bei Ovid. Deshalb kann C. S. Lewis empfehlen, mit Gavin Douglas' Übertragung den vergilischen Text neu zu lesen und sich auf diese Weise den verschütteten Zugang zu jener pietas wiederzueröfFnen, aus der das Werk lebt5). Dieser Zug fehlt völlig in Drydens klassiC. S. Lewis, Englisb Literature in the Sixteenth Century (Oxford, 1954) S. 81-90. 40

V. Epische Übersetzungen zistischer Aeneis-Übertragung von 1697, die dafür eine Qualität hat, die der von Douglas fehlt: die epische Qualität. Douglas erzählt; Dry den rezitiert. Douglas vermenschlicht (wie Chaucer); Dryden heroisiert. Douglas' Version ist unebenmäßig, vielfach lyrisch; Drydens Version ist ebenmäßig, durchweg dramatisch. "Dryden's Aeneid is remote, dramatic, to be admired; Douglas' is homely, passionate and human. Virgil's poetry is neither remote nor intimate; it has a quality which no modern poet could possibly recreate, yet such is the nature of poetry that the version of the Scot and the Englishman have their own intrinsic value not only as original poems, but also as interpretations of Virgil which have never been surpassed"6). Wenn Dryden seinen Ruhm als Übersetzer der Aeneis mit einem anderen teilen muß, dann mit einem früheren Autor, nicht mit einem späteren. Daß er allen späteren überlegen ist, darüber ist das Urteil einstimmig7). Es war also nicht Mangel an Verständnis und Verehrung Vergils, wenn in England der Ruhm des römischen Epikers schließlich übertroffen wurde von dem größeren Ruhm seines griechischen Vorbilds. In England trat das ein, was der Römerstolz Scaligers als Drohung empfunden und in seiner Poetice (1561) leidenschaftlich abzuwehren versucht hatte. Bei den Romanen galt Homer als Vorstufe zu Vergil; in England wurde Vergil zum Wegbereiter Homers. Ermöglicht wurde dies durch die verschiedene Entwicklung der griechischen Studien : in England entwickelten sie sich in stetiger Mit Lewis' Hochschatzung von Gavin Douglas' Eneados als der besten englischen Vergil-Obersetzung stimmen iiberein Robert Bridges, Ezra Pound, Douglas Bush. e ) Peter Russell, "Gavin Douglas' Aeneid" in: NINE, 5 (London, 1950). ') Stuart Bates: "his merits as a translator of Virgil surpass all those of his fellow translators put together; whatever Modern Translation may add in detail, or alternative, it has not been able to supersede, or even rival, Dryden, book for book" Modern Translation (Oxford, 1936), S. 29; George S. Gordon: "Dryden, as Johnson remarked, is not one of the 'gentle bosoms', and much of the delicacy and desiderium of Virgil escapes him. But his translation remains by almost general consent what Lord Bowen, a rival translator, has called it: 'the noblest and most masculine of all the versions' . . . Dryden's Virgil became at once a substantive part of English literature, one of the Greater English poems, and Virgil entered the eighteenth century an English citizen" Virgil in English Poetry (Oxford, 1931), S. 12; Douglas Bush: "no English critic has shown more sympathetic insight into the mind and art of Virgil than Dryden . . . Dryden's Virgil, with all the inadequacies that have been observed, is in its general texture a splendid achievement" Mythology and Romantic Tradition in English Poetry (Cambridge Mass., 1937), S. 6 und S. 17; weitere Zitate vergleiche William Frost, Dryden and the Art of Translation (New Haven, 1955), S. 4.

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V. Epische Übersetzungen Aufwärtsbewegung vom sechzehnten Jahrhundert an, während in Frankreich ihre einzigartige Anfangsblütezeit nach der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts jäh abgedrosselt wurde. Aus der großen Zeit stammt noch die von der Pleiade begrüßte Ilias-Übersetzung von Hugues Salel (erstes bis zehntes Buch, 1545), die Arthur Hall als erster Homer-Übersetzer seines Landes 1581 ins Englische übertrug. Aus einer großen Anzahl englischer Homerübertragungen ragen eindeutig zwei Versionen heraus, von denen die Nachwelt je nach ihrem Kunstideal bald der einen bald der anderen das höhere Verdienst zugesprochen hat. Aus jeweils den gleichen Epochen wie die beiden vorerwähnten Vergilübersetzungen stammend, repräsentiert die eine die klassische Übersetzungsleistung der Renaissance, die andere die des Klassizismus. In ihnen suchten zwei große Jahrhunderte die eigenen Möglichkeiten bis zum Letzten zu aktivieren in einem sprachlichen Eroberungszug ohnegleichen. Die erste Version ist die aus gläubig hingebender Homerverehrung heraus mit der genialen Spontaneität des Elisabethaners geschaffene Nachdichtung von George C h a p m a n , dem rival-poet Shakespeares, engstem Mitarbeiter Ben Jonsons, dichterischem Nachlaßbearbeiter Marlowes. Hanns W. Eppelsheimer weist darauf hin, welchen „gewaltigen Schritt im dichterischen Verständnis Homers" das 16. Jahrhundert tat, indem jedes der führenden Länder des Abendlandes nördlich der Alpen eine würdige vollständige Übertragung in die Landessprache und in das nationale Versmaß vorlegte: die Deutschen im Knittelvers (Johann Spreng, 1610), die Franzosen im Alexandriner (Jamyn, 1574), die Engländer im vielsilbigen gereimten Verspaar. „Die schönste unter ihnen", schreibt Eppelsheimer weiter, „war die englische des George Chapman (nach einer Probe im Jahre 1598, von 1610 bis 1615 vollständig erschienen): eine so gelungene, durch und durch dichterische Wiedergabe des homerischen Tons in der treuherzig bodenständigen Sprache ihrer Zeit, daß sie nicht nur für eine der großen Übersetzerleistungen der Weltliteratur, sondern auch für ein Stück unvergänglichen englischen Schrifttums gilt" 8 ). Eppelsheimer weist ferner darauf hin, wie „dieses prachtvolle Werk Homer zum ersten Mal in einer der neuen nationalen Kulturen heimisch zu machen begann" in einer Zeit, als die Renaissance-Bewegung, die es hervorgebracht hatte, in anderen Ländern schon zum Stillstand kam außer in England, wo griechische Sprache und 8

) Homer-ein Originalgenie (Fulda, 1948), S. 12; auch in Imprimatur, 8 (1938).

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V. Epische Übersetzungen Literatur „ein wesentliches Element der nationalen Bildung" 9 ) blieb. Ähnlich schreibt Georg Finsler: „Chapmans Übersetzung wirkt wie ein mächtiges selbständiges Gedicht. Schon das schwungvolle Versmaß, das er für die Ilias wählte, die vierzehnsilbigen, zu Reimpaaren geordneten Zeilen sind hinreißend, viel mehr noch der gewaltige, nie erlahmende Schwung der Sprache und die herrliche Begeisterung. Chapman hat den Homer erfaßt wie kein anderer Übersetzer der Welt; der Dichter schenkte den Homer seiner eigenen großen Zeit, die ihn mit Leidenschaft ergriff und der eigenen Literatur einreihte. So hatte er Doppeltes erreicht, in jedem Sinne Großes: er hat den Homer in England heimisch gemacht und zugleich, da et den Stil seiner Zeit schrieb und nicht den Homers nachahmen wollte, sich selbst den Elizabethan Poets beigesellt. Gerade das Bodenständige seiner Poesie macht die Lektüre auch heute noch zu einem wahren Genuß"10). Alexander Pope, von dem die zweite der klassisch gewordenen englischen Homer-Versionen stammt, nennt seinen Vorgänger „an enthusiast in poetry" mit jener Einschränkung, mit dem dieser Begriff von den temperierten Zeitgenossen Shaftesburys gebraucht wurde; vorsichtig abwägend spricht er von dem "daring fiery spirit that animates his translation, which is something like what one might imagine Homer himself would have writ before he arrived at years of discretion"11). Damit hat Pope gleichzeitig seine eigene Position umschrieben, denn als „an age of discretion" sah die Aufklärung sich selbst. T. S. Eliots Definition des Klassischen, das er in Pope verkörpert sieht, als einer Kombination von „maturity of mind, maturity of manners, maturity of language and perfection of the common style"12) ist zugleich die beste Charakterisierung von Popes „augusteischer" ») Ibid. S. 15. ,0) Homer in der Neuheit (Leipzig, 1912), S. 275. Douglas Bush bezeichnet Chapman unter allen Übersetzern als Homers „truest son, a man who has fed on lion's marrow" English Literature in the Earlier Seventeenth Century (Oxford, 1945), S. 62. Der gegen Humanisten so überaus kritische C. S. Lewis nennt Chapmans Homer „this gigantic work" a.a. O. S. 516; Havelock Ellis charakterisiert ihn als „the crowning achievement of Elizabethan Humanism" Chapman with Illustrative Passages (London, 1934) S. 42; George Saintsbury, dieser universale Geist in Dingen literarischen Geschmacks, urteilt: "Chapman is far nearer Homer than any modern translator in any modern language" History of English Prosody (London, 1906-10); schließlich Allardyce Nicoll: „his Iliads are as vital today as they were for Shakespeare and for Keats" Chapman's Homer ed. A. Nicoll (New York, 1956) vol. I, S. XIV. ") Preface to the Iliad (1715). ») What is a Classic (London, 1945), S. 16. 43

V. Epische Übersetzungen Ilias, die - nach Coleridge 18 ) - wie kein anderes Werk Geist, Haltung, Stil und poetische Diktion des achtzehnten Jahrhunderts bestimmte. Die kritische Autorität der Zeit, der nüchtern abwägende Dr. Johnson, bekräftigt dieses Diktum mit den Worten: „that poetical wonder, the translation of the Iliad, a performance which no age or nation can pretend to equal" 14 ). Der Widerhall, den dieses Werk, selbst während es noch im Entstehen war, bei den Zeitgenossen fand, war ein literarisches und gesellschaftliches Ereignis ersten Ranges. „Keine Homer-Übersetzung der Welt hat so viel Aufsehen gemacht"15). E. M. W. Tillyard, der für eine literarische Rettung von Popes Homer eintritt, widmet ihm das vorletzte Kapitel seiner Geschichte der epischen Tradition in England: Pope's Iliad was the great popular neo-classic attempt to embody the epic idea in English verse . . . With Pope's Iliad we have the queer picture of an unnaturally precautious poet spending six of the best years of his youth (from twenty-five to thirty) on his task, mainly in the country but with excursions into urban society, in a mood of quasi-religious fervour though punctuated with outbursts of flippancy and rebellion, aided by scholars, and as the work progressed (it came out by instalments) attended by the awed expectancy of all the culture and aristocracy of England. Indeed it may be just to compare the genesis of Pope's Iliad with that of the Aeneid of Virgil. Propertius, Virgil's contemporary, wrote that something greater than the Iliad was being born: nescioquid mains nascitur I Hade. If we knew as much of the petty details of literary men's lives in the age of Augustus as we do in the age of Queen Anne we might find the analogy very close indeed. True, 'maius' may not be appropriate to the thoughts of Pope's contemporaries; but a version in some ways better, more correct, and more civilised, was not out of the question1"). Popes bis ins Letzte ausgefeilte und durchdachte Nachdichtung, die am Eingang der europäischen Homer-Renaissance des 18. Jahrhunderts steht, ist die klassizistische „Vollendung" des Werks von Chapman, der mit michelangelesker Kraft zuerst die heroischen Formen des alten Epos aus der Überwucherung durch den mittelalterlichen Trojaroman herauslöste. ls)

Biographia Literaria, ed. Shawcross (Oxford, 1907), I, 26 Anm. Lives of the English Poets: „Alexander Pope" (Everyman's Library) II, 222. 16 ) Finsler, a.a.O. S. 326; vgl. Leslie Stephen, English Literature and Society (London, 1947), S. 88. " ) E. M. W. Tillyard, The English Epic and its Background (London, 1954), S. 498f. Eine moderne Interpretation von Popes Ilias-Version gibt D. Knight, Pope and the Heroic Tradition, Yale Studies in English (New Haven, 1951). M)

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Zweites Kapitel DER DICHTER ALS DEUTER UND NACHBILDNER I. Chapmans Homer-Apotheose und der Enthusiasmus Homer, three thousandyears dead, Norv revived. (Chapman)

„The ceaseless flowing river of our tongue" 1 ) ist für Chapman Ausdruck seelischer Lebendigkeit. Ihr Motor ist die Dichtung. Wo der Fluß der Sprache zum Pfuhl stagniert, da sei dichterischer Gesang degeneriert zum monotonen Quaken der Frösche „from standing brains" 1 ). Dies bedeutet Rückfall in die Barbarei. Übersetzen erhält die Sprache flüssig, vor allem das Übersetzen aus dem Griechischen und Hebräischen, das ein Schöpfen aus Ursprünglichem ist und das beste Mittel zum Kultivieren der neueren Sprachen: "all tongues have enriched themselves from their original with good neighbourly borrowing, and as with infusion of fresh air and nourishment of new blood in their still growing bodies, and why may not ours P"1) Sprachbereicherung durch Übersetzen ist nicht nur quantitativ, sondern vor allem qualitativ. Sie ist Infiltration von Geist durch das Wort. Die Sprache ist das spirituelle Prinzip, aus dem der Mensch als Mensch lebt. Chapman verdeutlicht das durch einen Vergleich mit dem Organismus. Die Welt sei ein Baum, der von der Wurzel bis zur Blüte und Frucht von e i n e m Lebenssaft durchdrungen sei, durch die Keimtätigkeit belebt, Früchte tragend und immer neu geboren. Dasselbe Gleichnis findet sich bei Giordano Bruno, der zu Chapmans Studienzeit die schöpferischste Periode seines Lebens in London und Oxford verbrachte (1583-85) 2 ). Von ihm ist es zurückzuführen auf Plotin 3 ). Im Menschen, so fährt Chapman fort, wiederholt sich das Ganze nochmals als in einem Mikrokosmos: •) G. Smith, Elizabethan Critical Essays (Oxford, 1904), II, 305. 2) Deila Causa Lag. I 231. •) En. 111:8:11. vgl. Windelband, Lehrb. d. Gesch. d. Phil. (Tübingen, »1950), S. 315. 45

I. Cbapmans Homer-Apotheose und der Enthusiasmus S o in out tree of man, -whose nervy root Springs in his top, f r o m thence ev'n to his foot There runs a mutual aid through all his parts, All joined in one to serve his queen of arts, In which doth Poesy like the kernel lie Obscured, though her Promethean faculty Can create man, and make ev'n death to live . . .*)

Dichtung ist der verborgene Kern, aus dem der eigentliche Mensch erst geboren und zu sich selbst erweckt wird: „the manly soul", „the truesouled man" im Gegensatz zu „man, beastly given", zum „worldling", zum „mole, son of the earth", Bezeichnungen aus einer charakteristisch humanistischen Vorstellungswelt, die Chapmans ganzes Werk durchziehen. „The manly soul's voice, sacred Poesy" hat eine prometheische menschen-erschaffende Gabe, oft bleibt sie verborgen, wie Sterne hinter den Wolken, „yet they shine ever, and will shine" 6 ). Ihr Licht . . . serves eyes That are not worldly in the least aspect, But truly pure, and aim at heaven direct 6 ).

Die Metaphern von den Leitsternen, dem himmlischen Feuer und dem überirdischen Licht kehren bei Chapman immer wieder. Sie sind typisch neuplatonisch und symbolisieren jenes spirituelle Reich, aus dem ihm die inneren Reserven zuwachsen, des Iliasdichters illusionslosen Blick in die Welt zu teilen, wo . . . genuine f o r m s struggle for birth Under the claws of this foul Panther earth').

Ohne diese religiöse Intensität ist Chapmans Homer-Deutung nicht zu verstehen. Die homerische Dichtung ist für ihn, in der Terminologie des Mystikers, ein Widerschein der verhüllten Zentralsonne, deren überirdischer Glanz das dunkle Chaos der Welt durchdringt: Truth dwells in gulfs, whose deeps hides shapes so rich That Night sits muffled there in clouds of pitch, More dark than Nature made her, and requires, T o clear her tough mists, heaven's great fire of fires, T o w h o m the sun itself is but a beam 8 ).

*) ') •) ') *)

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Epistle Epilog Epistle Epistle Epistle

Dedicatory zur Ilias, ed. H o o p e r , vol. I, S. L X X I . zur Odyssee, ed. H o o p e r , vol. II, S. 273. Dedicatory zur Odyssee, ed. H o o p e r , vol. I, S. L I . to Thomas Harriot (1598). Dedicatory zur Odyssee, ed. H o o p e r , vol. I, S. L I .

I. Chapmans Homer-Apotheose und der Enthusiasmus Von dem mit der Ilias-Lektüre beginnenden Leser setzt Chapman voraus „to be no mere reader", so daß er sich ihm gegenüber als einem „understander" wie mit einem intimen Freund unverhüllt aussprechen könne. Das sei bei denen nicht möglich „that can only read", und die Prosa und Poesie so wenig unterscheiden können wie weltliche und himmlische Dinge9). Lest with foul hands you touch these holy rites, And with prejudicacies too profane, Pass Homer in your other poets' slights, Wash here. . .10)

Der Homerleser wird als Novize angesprochen, der bereit sein muß, sich von der dichterischen Schau wie in einem mystischen Akt überwältigen zu lassen. Er muß vorbereitet sein, mit Giordano Brunos Ausdruck, von der „heroischen Leidenschaft" ergriffen zu werden. "He that knocks at the gates of the Muses, sine Musarum furore, is neither to be admitted entry, nor a touch at their thresholds; his opinion of entry ridiculous, and his presumption impious"11). Der Renaissance-Humanist, der seinen Home, so als Leben schaffendes, Chaos-ordnendes „himmlisches Feuer" deutet, wird in seiner Übertragung den Buchstaben zu Geist zu erwecken wissen. Über seine Übersetzer-Prinzipien hat sich Chapman geäußert in den verschiedenen Prefaces und Letters Dedicatory zu seinem in Teilstücken veröffentlichten Homer, am ausführlichsten im Poem to the Reader, das er der Veröffentlichung der ersten zwölf Bücher der Ilias im Jahre 1609 voranstellte. Chapmans erster Übersetzer-Grundsatz bezieht sich auf „the natural difference of Dialects necessarily to be observed". Die meisten Übersetzer scheitern, weil sie über den Wörtern die Sprache vergessen. Ihnen gelingt nicht der Sprung aus einer Sprache in die andere. Sie vermischen das Unvereinbare. Aus der Verbindung von „fish with fowl, camels with whales" erzeugen sie einen Bastard. Griechisch und Englisch sind grundverschieden: . . . as they in sounds And letters shun one form and unison; So have their sense and elegancy bounds In their distinguished natures, and require Only a judgment to make both consent In sense and elocution . . . la ) ») G. Smith, Eliz- Crit. Essays, II, 295 u. II, 304. Spingarn, Critical Essays of the 17th Century (Oxford, 1908), I, 74. u ) Epistle Dedicatory zur Odyssee, ed Hooper, vol. I, S. L. ") Poem to the Reader (1609), Spingarn a.a.O. I, 77. 10 )

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I. Chapmans Homer-Apotheose

und der Enthusiasmus

Dichtung ist als die „free grace" einer Sprache an diese gebunden und weder ablösbar noch übertragbar. Der Übersetzer muß in seiner Sprache poetische Äquivalente schaffen und daher selbst Dichter sein. Indem er dichterische Werte schafft, die gleichzeitig ein genaues Echo einer früheren Dichtung sind, unterwirft er sich einer zusätzlichen Disziplin, die auf sich zu nehmen zum Ethos klassizistischer Kunstauffassung gehört. Einer Nachdichtung in diesem Sinne haftet in keiner Weise das Stigma des Sekundären an; im Gegenteil, sie zwingt zu äußerster Objektivierung und Selbststeigerung durch Hingabe an das, was vorbildlich in der Überlieferung ist. Hier stimmt der Klassizismus mit der Kunstauffassung der Antike überein, der das Streben nach Originalität völlig fremd war. Romantische Vorurteile führen in die Irre. Chapman ist eifrig bedacht, echte Dichtung von Pseudodichtung zu unterscheiden, „sacred poesy" von den „bold rimes of every apish and impudent braggart", der den Maulwurfshügel seiner persönlichen Eitelkeit mit dem heiligen Musenberg verwechsele13). Höchst verderblich nennt er die Theorie von der dichterischen Freiheit: That most vulgar and foolish receipt of poetical licence being of all knowing men to be exploded (accepting it as if poets had a tale-telling privilege above others), — no artist being so strictly and inextricably confined to the laws of learning, wisdom, and truth as a poet. For were not his fictions composed of the sinews and souls of all those, how could they differ far from, and be combined with, eternity13).

Nach dem Vorgesagten ist es falsch, dem Typ der „wörtlichen" Übersetzung als einzigen anderen Typ den der „freien" Übersetzung entgegenzustellen und Chapmans Homer zu der letzten Art zu rechnen. Chapmans z w e i t e r Übersetzer-Grundsatz im obenerwähnten Poem to the Reader (1609) handelt von „the necessary nearness of Translation to the example". Hier setzt er sich, wie auch im laufenden Kommentar zu den einzelnen Gesängen, mit seinen Vorgängern auseinander, vor allem mit der Ilias-Paraphrase in eleganter lateinischer Prosa von Laurentius Valla (1447) und der freien Ilias-Version in vergilischen Hexametern von Eobanus Hessus (1540). Er erkennt ihre Verdienste nur negativ an, indem er sie laufend kritisiert, und zwar so eingehend, daß er sich von Valla gelegentlich zu Fehlübersetzungen verleiten läßt, wie H. C. Fay nachgewiesen hat. Durchgehend wirft er ihnen zu große Freiheit gegenüber dem homerischen Text vor. Er leugnet nicht, selbst Umschreibungen zu gebrauchen, wozu er sich durch Horaz (Ars Poetica v. 133) autorisiert fühlt, aber er tue es maßvoller und mehr 18 )

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Spingarn a.a.O. S. 68.

I. Chapmans Homer-Apotheose und der Enthusiasmus aus innerer Nötigung, mit dem einzigen Ziel, den homerischen Text voll ausschöpfend in wirkungsvollem Englisch wiederzugeben. Dazu gehören auch gelegentliche Interpolationen seiner „Entdeckungen". Sie illustrieren Chapmans poetische Theorie. Homers Text ist voller „mysteries", deren okkulte Kraft, wie himmlische Entelechien, die Sprache der Prosa alchemistisch umwandelt in faszinierende Poesie. Rational ist ihnen nicht beizukommen, sondern nur durch Erleuchtung. Chapmans d r i t t e r Übersetzer-Grundsatz lautet daher: „with Poesy to open Poesy". Ihre humanistische Gelehrsamkeit habe Laurentius Valla und Eobanus Hessus das tiefste Verständnis der homerischen Dichtung nicht erschlossen: They failed to search his deepe and treasurous heart. The cause was, since they wanted the fit key Of nature in their down-right strength of Art, With Poesy to open Poesy: Which in my Poem of the mysteries Reveal'd in Homer, I will clearly prove").

So hoch Chapman humanistische Gelehrsamkeit schätzt - „the rich crown of old Humanity" im Gegensatz zur Pedanterie eines „walking dictionary"-, wissenschaftliches Bemühen („strength of art") kann das Letzte nicht erschließen. Zu den „Herculean labours" des Übersetzers muß die Erleuchtung und mit ihr der Enthusiasmus hinzukommen. Wiederholt betont Chapman, in wie kurzer Zeit er Teile seiner Homerübersetzung fertiggestellt habe. Damit will er sich nicht nur für Flüchtigkeitsfehler entschuldigen. Vor allem will er damit dokumentieren, daß Homers phönixhafte Auferstehung in englischer Sprache ein Produkt der Eingebung sei. In dem Gedicht The Tears of Peace, or Euthjmiae Raptus, einem seiner persönlichsten und aufschlußreichsten Gedichte, das im gleichen Jahre 1609 entstand, als er die Ilias abschloß, schildert er, wie dem von rastlosem Suchen Erschöpften in einem Trancezustand Homer in einer Vision erscheint. Auf Chapmans Frage gibt dieser sich als Urheber eines mystischen Erlebnisses zu erkennen, das er während seiner Homerübertragung in seinem heimatlichen Hitchin hatte: I am, said he, that spirit Elysian That in thy native ayre, and on the Hill Next Hitchin's left hand, did thy bosom fill With such a flood of soul that thou wert faine (With acclamations of her rapture then) ") Spingarn, a.a.O. S. 78. 1 Suhnel

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I. Chapmans Homer-Apotheose

und der

Enthusiasmus

To vent it to the echoes of the vale; When meditating of me, a sweet gale Brought me upon thee; and thou didst inherit My true sense (for the time then) in my spirit, And I invisible went prompting thee To those fayre greens where thou didst English me. Janet Spens15) schließt aus der Lebendigkeit der Darstellung und aus der Genauigkeit der Ortsbezeichnung auf ein echtes Erlebnis. Auch wiederholte Anspielungen darauf machen es wahrscheinlich, daß Chapman in einem ganz buchstäblichen Sinne, so wie der ihm geistesverwandte Blake nach ihm, an eine persönliche Eingebung glaubte. So erschien er auch anderen, denn Shakespeares Anspielung im 86. Sonett auf jenen Dichter „by spirits taught to write above a mortal pitch" deutete man als auf Chapman gezielt 16 ). Als literarisches Vorbild für Chapmans Gedicht nimmt Janet Spens die Eingangsvision des Corpus Hermeticum an, das Ficino 1471 in einer lateinischen Übersetzung veröffentlicht hatte und das bis 1641 nicht weniger als 21 Auflagen erlebte. Nicht, daß diese Quelle das Motiv bei Chapman erklärt; sie zeigt lediglich, in welcher Tradition er stand. Die Vorstellung der numinosen Inspiration der Poesie ist so alt wie diese selbst. Das Mittelalter übernahm sie von der Antike. Unter ihrer Voraussetzung suchte Boccaccio (klassische) Dichtung und (christliche) Religion zu versöhnen. Hierin folgten ihm die Florentiner Platoniker, christliches, stoisches, gnostisches Gedankengut mischend. Die Rechtfertigung der dichterischen Einbildungskraft vor der Theologie war das Hauptanliegen der Renaissance-Ästhetik. Für Chapman, dessen starke Beeinflussung durch die Florentiner - teilweise durch Spondanus' Vermittlung - Schoell17) nachgewiesen hat, ist der religiöse Ursprung der Dichtung nicht nur eine übernommene Theorie, sondern eine persönliche Glaubensvorstellung. Was Dichtung aussagt, so argumentiert er, übersteigt menschliche Erfahrung und Begriffe, ohne deshalb eine leere Fiktion zu sein. Sie fließt aus einer Quelle, die ein höheres Wissen und Können spendet, als der Mensch je erarbeiten kann: " ) Janet Spens, "Chapman's Ethical Thought"« in Essays and Studies XI (Oxford, 1925), S. 151. " ) Es ist charakteristisch, daß R. W. Emerson, der bedeutendste Vertreter der Inspirationstheorie in neuerer Zeit, gerade Chapman hervorhebt als einen der wenigen Dichter, durch den der Leser "can be filled, taught, renewed. We want the miraculous; the beauty which we can manufacture at no mill — can give no account of." Chapman habe das Geheimnis echter Dichtung gekannt, jener Dichtung which speaks the Spiritual law (Emerson, English Traits, Kapitel XIV.) ") F. L. Schoell, Etudes sur l'humanismt continentals en Angleterre (Paris, 1926). 50

I. Chapmans Homer-Apotheose

und der Enthusiasmus

Since the excellence of it cannot be obtained by the labour and art of man, as all easily confess it, it must needs be acknowledged a divine i n f u s i o n . . . To all science, therefore, I must still, with our learned and ingenious Spondanus, prefer it, as having a perpetual commerce with the divine Majesty embracing and illustrating all his most holy precepts, and enjoying continual discourse with his thrice perfect and most comfortable spirit. And as the contemplative life is most worthily and divinely preferred by Plato to the active, as much as the head to the foot, the eye to the hand, reason to sense, the soul to the body, the end itself to all things directed to the end, quiet to motion, and eternity to time, so much prefer I divine Poesy to worldly wisdom18).

Die Grenzen zwischen Christentum und Antike verfließen. Kontemplation ist zugleich in griechischem Sinne Schau des Vollkommenen und in christlichem Sinne Wahrnehmung der Herrlichkeit Gottes und seiner Schöpfung. Die christliche Trinität ist gleichgesetzt mit der platonischen Trias des Wahren, Guten, Schönen. Sphärenmusik, Engelgesang und dichterische Lobpreisung Gottes gehen ineinander über: "for the glory of God, and the singing of his glories, no man dares deny, man was chiefly made. And what art performs this chief end of man with so much excitation and expression as Poesy?" 19 ) Die Visionen der Propheten und die Bildersprache der Dichter sind aus gleichem Stoff. Der Dichter ist inspirierter Hierophant, der von einer höheren Wirklichkeit kündet: "the most incomparably sacred! It is not of the world indeed, but like truth, hides itself from it. Nor is there any such reality of wisdom's truth in all human excellence as in poets' fictions."20) Der Dichter macht das Mysterium des Glaubens wie hinter Schleiern anschaubar für den Eingeweihten. "Poesy is the flower of the Sun, and disdains to open to the eye of a candle. So kings hide their treasures and counsels from the vulgar, ne evilescant"21. Chapmans gewaltige Fluchkraft gegen die sich als Dichter ausgebenden „dunghill chanticleers", die ihrem hohen Amt zuwider die Welt noch dunkler machen als sie ist, indem sie wie treibende Wolken „obscure the stars, yet bar them but of show" 22 ), Handlanger der „wolf-faced worldlings", die ihre Seele mit Schmutz füttern und schon bei lebendem Leibe zu Staub zerfallen, - diese fluchkräftige Sprache ist nicht leeres Pathos und bloße Humanisten-Oratorik. Hinter der Verneinung steht ein eminent positives 18 )

") i0 ) ai ) aa)

Spingarn a. a. O. S. 68. Ibid. S. 67. Ibid. S. 67. Ibid. S. 68. Epilog zur Odyssee, ed. Hooper, vol. II, S. 273. 51

I. Chapmans Homer-Apotheose und der Enthusiasmus Ideal, das er nicht minder plastisch charakterisiert. Seine strahlende Verkörperung ist „divinely healthful Homer". "Of all books extant in all kinds, Homer is the first and best" 23 ). Er ist das oberste Beispiel jenes „divinusfuror by which the sound and divinely healthful supra hominis naturam erigitur et in Deum transit"24). Als Vergleichs großen nennt er - auch hier in der Nachfolge von Boccaccio und Spondanus - die alttestamentarischen Propheten Moses, David, Salomon, Hiob, Jesaias, Jeremias. Auch in dieser Zusammenstellung lebt gnostisches Gedankengut fort, wonach die Weisheit Griechenlands ein zweites Altes Testament war und zwischen Propheten und heidnischen Dichtern in der Berührung okkulter Wahrheiten eine geheimnisvolle Konsonanz bestand. Dichtung ist Dienerin der Religion, „being but agent of her, and singer of her laws" 25 ), aber sie ist nicht Dienerin der Theologie. Dichtung und Theologie haben den gleichen Gegenstand, aber Dichtung ist die ursprünglichere von beiden. Sie ist nicht in Bilder eingekleidete, volkstümlich gemachte Theologie. Sie kann als solche verwendet werden, aber sie entsteht nicht so. Das ist geradezu der Unterschied der antiken Dichtung von der neueren. Jene ist „body and soul" in ungeschiedener Einheit. In der homerischen Götter- und Heroenwelt drückt sich eine anders nicht aussagbare geheime Urweisheit aus (sapientia veterum). Das Religiöse, Ethische und Ästhetische bilden eine unlösbare Einheit. Zwar hat schon der Formalismus der antiken Rhetorik das alte Ideal ausgehöhlt, aber der Bruch war vollständig, als das christliche Mittelalter den religiösen Gehalt der antiken Dichtung exorzisierte und nur die Formen als Mittel weltlicher Erziehung konservierte. Diesen Formalismus suchte der Renaissance-Platonismus zu überwinden, indem er im Anschluß an Philo die Inspiration der alten griechischen Dichtung durch Rückführung auf die Bibel akzeptabel machte. In dem von Chapman übersetzten Musaios vermutete Boccaccio die griechische Sprachform von Moses. Wirken die homerischen Gedichte durch ihre Sinnfälligkeit als „manly information in the young", so enthüllt sich ihr Kern den Tieferblickenden als „prescription of justice and even Christian piety" 26 ). Das Ethische wird von Chapman weniger rational als mystisch gefaßt: ") Spingarn a.a.O. S. 67. ) Epistle Dedicatory zur Odyssee, ed. Hooper, vol. I, S. L; vgl. auch Anmerkung zu Od. XII Vers 116, Hooper S. 282; noch W. v. Humboldt spricht vom „Gefühl des Überschwankens der Menschheit in die Gottheit, das der Homerleser hat". ") Spingarn a.a.O. S. 80. ") Epistle Dedicatory zur Odyssee, ed. Hooper, vol. II, S. XLIX. u

52

I. Chapmans Homer-Apotheose und der Enthusiasmus ethisches Handeln ist Ausfluß eines überirdischen Impulses. Das Sittliche ist das spirituelle Ordnungsprinzip der Welt. Begrifflicher Allegorismus tritt bei Chapman ganz in den Hintergrund. Er spricht zwar von Homer als der Summe alles Wissens: „not only all learning, government, and wisdom being deduced as from a bottomless fountain from him, but all wit, elegance, disposition and judgment"87), aber die Qualität dieses Universalwissens ist wichtiger als seine bloße Quantität. Homer ist „learning's lightner"28). Sein Werk verhält sich zur gelehrten Enzyklopädie wie die Seele zum Körper, der Plan zum Detail, die Sonne zum Mond; literarisches Gegenstück zu Piatons Timaios, ist es eine im dichterischen Wort festgehaltene Vision der anschaulich ausgegliederten Weltseele. Das wird deutlich in Chapmans paradoxer Umkehrung von Longinus' Vergleich der Odyssee als Alters dich tung mit dem sich in sich selbst zurückziehenden Meer (Über das Erhabene, Kap. IX); Homers epische Welt, nach Chapman, so far exceeds the ocean, with all his court and concourse, that all his sea is only a serviceable stream to it. N o r can it be compared to any one p o w e r to be named in nature, being an entirely well-sorted and digested confluence of all; where the most solid and grave is made as nimble and fluent as the most airy and fiery, the nimble and fluent as firm and well-bounded as the most grave and solid. A n d taking all together, of so tender impression and of such command to the Muse, that they knock heaven with her breath, and discover their foundations as l o w as hell 89 ).

Hier ist der mythische Hintergrund alter Epik in die Vorstellungsweise des Renaissance-Panentheismus übersetzt. Unter den Vorgängern, die Chapmans eifersüchtige Homerliebe als würdig anerkennt und auf die er sich zur Stützung seiner eignen Deutung beruft, ist Plato, der „divine philosopher", am häufigsten zitiert, vor allem wegen seiner Enthusiasmuslehre im Phaidros und im Ion. Während Aristoteles unerwähnt bleibt, ist Longinus als ein Mann „of grave and elegant judgment" mehrfach genannt. Von Plinius d. Ä. findet sich eine Beschreibung Homers als des Dichters, der dem gesamten Altertum sein „living fire" mitgeteilt habe30). Von Silius Italicus, dem die Ilias Latina zugeschrieben wird, ist die scipionische Vision Homers als des inspirierten, weltdurch") Smith a . a . O . II, 2 9 9 (Chapmans Quellen: Pseudo-Plutarch, De Vita et Poesi Homeri II, 1 ; Quintilian X I I : 1 1 : 2 1 ) . M) Epistle Dedicatory zur Ilias, ed. Hooper, vol. I, S. L X I X . 2S) Epistle Dedicatory zur Odyssee, ed. Hooper, vol. I, S. X L V I I I . s0) Nat. Hist. VII 29.

53

I. Chapmans Homer-Apotheose und der Enthusiasmus schauenden Dichters, des größten von allen, zitiert31). Polizian wird mehrfach gerühmt : eine für die Homerdeutung der Florentiner Platoniker typische Stelle aus dem Gedicht Ambra (1485) wird von Chapman übersetzt32): He ( = Homer), at Jove's table set, fills out to us Cups that repair age sad and ruinous, And gives it built of an eternal stand With his all-sinewy Odyssean hand, Shifts time and fate, puts death in life's free state, And life does into ages propagate. He doth in men the Gods' affects inflame, His fuel Virtue blown by Praise and Fame ; And with the high soul's first impression driven Breaks through rude chaos, earth, the seas, and heaven. The nerves of all things hid in nature lie Naked before him; all their harmony Tuned to his accents, that in beasts breathe minds. What fowls, what floods, what earth, what air, what winds, What fires ethereal, what the Gods conclude In all their counsels, his Muse makes indued With varied voices that even rocks have moved83).

Die Tradition der antiken Homer-Apotheosen, die nominell auch im des Griechischen unkundigen lateinischen Mittelalter fortbestand, wurde in der italienischen Renaissance zu neuem Leben erweckt. Chapman verlängerte die Linie - über den französischen Hugenotten Spondanus - bis zu Shakespeares England. In der hochgespannten Erwartung eines auf den einzelnen Leser wie auf die ganze Nation überspringenden machtvollen Impulses, der die menschenformende und kulturbegründende Wirkung Homers in der Antike nunmehr auf englischem Boden wiederholen würde, überreichte Chapman im Jahre 1611 seine vollendete englische Uias dem Leser mit der Aufforderung "Love him, thus received, as born in England"34). Er widmete sie seinem Gönner, dem Prinzen von Wales, mit einem Gedicht, das Coleridge ein Beispiel des „erhabenen Stils" in englischer Sprache nannte. Als abschließende Zusammenfassung von Chapmans grandioser Homerkonzeption diene das zentrale Stück: 81)

Punica lib. 13. Scaliger wird geflissentlich ignoriert, obwohl seine Poetik in gutem Glauben eine Zusammenfassung der Renaissancelehren über die dichterische Eingebung enthält; aber wegen seiner Zurücksetzung Homers ist er für Chapman „a most unworthy critic". 33) Epistle Dedicatory zur Odyssee, ed. Hooper, vol. I, S. XLVII. Spingarn a.a.O. I, 80. 3a)

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I. Chapmans Homer-Apotheose und der Enthusiasmus OI 'tis wondrous much Though nothing priz'd, that the right virtuous touch Of a well written soul to virtue moves; Nor have we souls to purpose, if their loves Of fitting objects be not so inflamed. How much then were this great kingdom's main soul maimed, To want this great inflamer of all powers That move in human souls 1 All realms but yours Are honoured with him, and hold blest that state That have his works to read and contemplate: In which humanity to her height is raised, Which all the world, yet none enough hath praised; Seas, earth, and heaven he did in verse comprise, Outsung the Muses, and did equalize Their king Apollo; being so far from cause Of princes' light thoughts, that their gravest laws May find stuff to be fashioned by his lines. Through all the pomp of kingdom still he shines And graceth all his gracers. Then let lie Your lutes and viols, and more loftily Make the heroics of your Homer sung, To drums and trumpets set his angel's tongue, And with the princely sport of hawks you use, Behold the kingly flight of his high Muse And see how, like the phoenix, she renews Her age and starry feathers in your sun. Thousand of years attending ev'ry one Blowing the holy fire, and throwing in Their seasons, kingdoms, nations, that have been Subverted in them; laws, religions, all Offered to change and greedy funeral; Yet still your Homer, lasting, living, reigning, And proves how firm truth builds in poet's feigning35). Wie weit Chapman Lebensaufgabe und dichterische Existenz mit seinem homerischen Übersetzungswerk identifizierte, geht aus seinem Ausspruch nach Vollendung auch noch der Homerischen Hymnen und der Batrachomyomachie hervor: er habe nun getan „the work that I was born to do" 36 ). Wenn man von einem geradezu religiösen Verhältnis Chapmans zu Homer spricht, so ist das nicht nur als Metapher zu verstehen.

S6)

Epistle Dedicatory zur Ilias, ed. Hooper, vol. I, S. LXVIII. *•) The Translator's Epilogue, ed. Hooper, vol. V, S. 133. 55

IL Das Problem des Epos zwischen Chapman und Pope "It is impossible for any man tvho has not great Genius, strictly to observe the rules; as it isfor any one who has not super-natural assistance to live up to the dictates of reason" (John Dennis)

Im 17. Jahrhundert hatte das Epos unbestritten die oberste Stellung in der Hierarchie der literarischen Gattungen. War man bis dahin unbefangen der halbmittelalterlichen Form des italienischen Romanzo nachgefolgt, so nahm man sich jetzt die antiken Vorbilder zum Muster, in England war Homer vor allem durch Chapman aus einem verehrungswürdigen Namen zu einer plastischen Vorstellung geworden. Gleichzeitig warfen die Kritiker die Autorität des Aristoteles in die Waagschale, dessen epische Theorie auf Homer begründet ist. Der Renaissance-Traum einer eigenschöpferischen Bewältigung dieser Gattung steigerte sich zu einem wahren Fieber. An diesem Wetteifer beteiligte sich auch der puritanische Flügel, denn das heroische Gedicht war seinem Wesen nach die am wenigsten weltliche aller Gattungen, es ragte tief in die übersinnliche Welt hinein und empfing von dort seine innere Motivation. Zu dem dichterischen kam der religiöse Impuls. Der Christ empfand es als Herausforderung, die Krone der Dichtung einem heidnischen Dichter überlassen zu müssen. Hatte man ihm gegenüber doch den Vorzug, an Stelle eines „denaturierten" Götterglaubens die Offenbarung setzen zu können. Aber mit dem christlichen Stoff allein und der Subordination der Dichtung unter die Theologie war das Ziel nicht zu erreichen. Es bedurfte eines Dichters, in dem der dichterische und der religiöse Impuls gleich stark und gleich spontan war, so daß sie praktisch eine Einheit bildeten. Es bedurfte eines Dichters, der sein poetisches Schaffen so ernst nahm, daß er es unmittelbar als Gottesdienst deuten konnte. Ein solcher Dichter war M i l t o n . Auf klassischer Grundlage, aus protestantischem Geist, gelang ihm die nach Dante zweitbedeutendste Verwirklichung des religiösen Epos als christliches Epos. Die künstlerische Voraussetzung von Miltons erfolgreicher epischer Gestaltung christlichen Glaubens ist die Tiefe seines Homerverständnisses, worin ihm keiner seiner Zeitgenossen gleichkam, zumindest in England nicht. In Frankreich wäre Bossuet zu nennen, auch er ein Repräsentant christlicher Strenggläubigkeit. Ihr Glaube eröffnet ihnen einen tieferen Zugang zu Homer als die Theorie den streitbaren Kritikern der Zeit. Milton 56

II. Das Problem des Epos % wischen Chapman und Pope und Bossuet erkennen die homerische Mythologie als feinstes Destillat religiöser Substanz. Epische Dichtung macht die im Sichtbaren verhüllten Kräfte des Unsichtbaren anschaulich und zeigt deren entscheidende Rolle im menschlichen Dasein. Die heroische Formensprache, die aus einem selbstverständlichen Glauben an eine spirituelle Wirklichkeit erwachsen war, kam der Aussage christlicher Glaubensvorstellungen entgegen. Wie auf dem geweihten Fundament und aus den Bausteinen heidnischer Tempel einst christliche Kapellen entstanden, so baute Milton mit der traditionellen Struktur und aus den traditionellen Elementen homerischer Epik sein christliches Epos. Homers episch-breites Lobpreisen alles Lebens zwischen Himmel und Erde bietet der christliche Humanist Milton dar zum noch höheren Ruhme Gottes. Der inversionenreiche, gekeilte Stil von Paradise Lost, der ständig transzendente Assoziationen in ein mehr lateinisches als englisches Satzgefüge einbaut, ist Ausdruck dieser nicht harmonischen sondern höchst spannungsvollen gegenseitigen Durchdringung von klassischem und christlichem Erbe. Sie werden in W. F. Schirmers Worten, „mit der mächtigen Hand Miltons eigenwillig zusammengebogen" 1 ). Ein so hoher Vorwurf erfordert natürlich seine Opfer. Die Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts ist ein Friedhof mißglückter Versuche, nach antikem Rezept ein christliches Epos zu schaffen. Je höher man zielte, desto tiefer fiel man. Das Lager der skeptischen Aufklärer fand genügend Stoff zur Kritik. Thomas H o b b e s war der Bahnbrecher der englischen Aufklärung. In seiner Antwort an D'Avenant ( 1 6 5 1 ) und im Vorwort zu seiner eignen Homer-Übersetzung (1673) schränkt er die Dichtung - wie Bacon vor ihm die Wissenschaft - auf das Bereich des Rational-Faßbaren ein. Der nahtlose Gleichklang von natürlicher und übernatürlicher Welt in der homerischen Epik ermöglichte es, daß Hobbes in der Hochschätzung Homers aus genau entgegengesetztem Blickpunkt mit Milton übereinstimmte. An vernünftiger Substanz, an Erfahrungsfülle, an Klarheit des Ausdrucks und planvoller Ordnung des Ganzen überrage die antike Epik die neuere; niemand aber erreicht Homer. Hobbes übersieht nicht die übersinnlichen Faktoren, die das homerische Epos in der Gestalt der Göttergeschichten enthält und die im Zentrum von Miltons theologischer Sicht standen; aber da sie das Gesetz der natürlichen Welt nicht aufheben, deutet er sie als Konzession an die alte Volksreligion, die historisch entschuldbar, aber in der Literatur eines auf*) „Das Problem des religiösen Epos im 17. Jahrhundert in England" in

Kleine Schriften (Tübingen, 1950), S. 152.

57

II. Das Problem des Epos %yischen Chapman und Pope geklärten Zeitalters nicht mehr am Platze seien. So widerspreche der Musenanruf und der Glaube der Dichter, inspiriert zu sein „wie ein Dudelsack", dem gesunden Menschenverstände. Aber das sei peripher, eine historische Konzession, und an vernünftiger Substanz bleibe bei Homer mehr als bei irgendeinem anderen Dichter. Der über achtzigjährige Philosoph huldigt ihm mit dem Schwanengesang seiner entpoetisierenden Übertragung beider Epen in die Davenantstrophe. Charakteristischerweise werden die homerischen Gleichnisse, an denen sich Chapmans Enthusiasmus mit besonderem Erfolg entzündete, oft weggelassen oder auf prosaisch verdeutlichende Vergleiche reduziert. Die karge Präzision von Hobbes' Stil nahm die antibarocke Haltung des Klassizismus im Extrem vorweg. So wirkte der größte englische Philosoph des Jahrhunderts zugleich Stil- und geschmackbildend, denn seine Übersetzung wurde viel gelesen und mehrfach aufgelegt. Die Autorität der Tradition beginnt im 17. Jahrhundert abgelöst zu werden von der Autorität der Vernunft. Auch diesem Maßstab halten die klassischen Autoren stand: weil Homer vernünftig ist, konnte er zwei Jahrtausende gelesen werden. Vom Rationalismus der französischen Schule unterscheidet sich der englische Vernunftbegriff dadurch, daß er als Quintessenz von Erfahrung aufgefaßt wird. Das ermöglichte die Konzession, ein Rest Extravaganz gehöre zum Wesen der Dichtung, doch müsse sie von der Vernunft in Schranken gehalten werden. Denn die reine Vernunft führt zu Konstruktionen, die der Natur Gewalt antun. Mit dem Vordringen des Naturbegriffs taucht auch der Geniebegriff wieder auf. Er wird nicht mehr aus höherer Eingebung hergeleitet wie in der Renaissance, sondern aus irrationalen Wurzeln der Persönlichkeit. Nicht nach abstrakten Regeln, sondern aus der individuellen und konkreten Situation heraus schafft das Genie maximale Verwirklichungen der Normen des Guten, Wahren, Schönen. Kunstwerke sind nicht ideale Konstruktionen der reinen Vernunft, sondern edle Gebilde, hervorgegangen aus dem Gleichklang von Natur und Vernunft als Ergebnis langer Zucht des Geistes und der Sinne. Für S h a f t e s b u r y irren die Franzosen meist nach der rationalen, die Engländer nach der irrationalen Seite, während die Griechen - allen voran Homer - das schöne Gleichmaß in einmaliger Vollendung zeigen. Aristoteles, von den Franzosen als Gesetzgeber der Dichtung proklamiert, tritt in England wieder hinter Plato zurück, der in der Kunst des philosophischen Dialogs unter Führung der Vernunft die Gegensätze ohne Zwang zum natürlichen Ausgleich zu bringen wußte. Diesem ausgleichenden Standpunkt nähern sich aus sich selbst heraus auch die Wortführer einer über das Vernünftige hinausgehenden Deutung 58

II. Das Problem des Epos %wischen Chapman und Pope der Kunst, vor allem epischer Kunst, in der religiöse Motive in Form des Wunderbaren eine so wichtige und umstrittene Rolle spielen. Paradise Lost erreichte für die Epik, was Shakespeare zu gleicher Zeit für die Kritik des Dramas bewirkte : es ließ die Kunstverständigen nicht über den französischen Regeln zur Ruhe kommen. In seiner Apology for Heroic Poetry and Poetic Licence (1677), dem Vorwort zu seiner Opernfassung von Paradise Lost, rechtfertigt Dr y den die übernatürliche Welt als das sine qua non des Epos, das ein Urbedürfnis des Menschen erfülle, wofür der engherzige Vernünftler mit Blindheit geschlagen sei. Schon früher, im Vorwort zu seinem episierenden Drama The Conquest of Granada (1672), hatte er geschrieben : was „wahrscheinlich" und damit für die Dichtung zulässig sei, das bestimme nicht der Gelehrte, sondern der Glaube des Volkes, das zu allen Zeiten an der Vorstellung einer übersinnlichen Welt festgehalten habe. A n Heroic Poet is not tied to a bare representation of what is true, or exceeding probable : but he may let himself loose to visionary objects and to the representation of such things, as — depending not on sense and therefore not to be comprehended by knowledge — may give him a freer scope f o r imagination 2 ).

Als seinen Gewährsmann zitiert Dryden Longinus, den er den bedeutendsten Kritiker der Antike nach Aristoteles nennt (Boileaus epochemachende Übersetzung erschien 1674 unter dem Titel Traité du sublime ou du merveilleux dans le discours) ; im 27. Kapitel seiner Schrift habe Longinus die wegen ihres grenzenüberschreitenden Reichtums nicht ganz fehlerfreie Kunst des Genies über alle Produkte korrekter Mittelmäßigkeit gestellt. Ähnlich schreibt Dryden noch zwanzig Jahre später : A happy Genius is the gift of Nature : it depends o n the influence of the starr say the astrologers, on the organs of the body say the naturalists ; 'tis the particulas gift of Heaven say the divines, both Christians and Heathens. H o w to improve it many books can teach us ; h o w to obtain it none ; that nothing can be done without it all agree 8 ).

Gesunder Menschenverstand, Fleiß, künstlerische Fertigkeit, von Vorbildern abgeleitete Regeln sind unerläßliche Mittel der dichterischen Selbstvervollkommnung, aber das, was Dichtung zu Dichtung macht, ist damit noch nicht gefaßt. Darin stimmen Edward Phillips, Miltons Enkel und im Hause des Dichters erzogen, und John Dennis - der bedeutendste Kritiker um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert - überein. Phillips schreibt: Dryden, Dramatic Poesy and other Essays (Everyman's Library), S. 90. "Preface of the Translator, with a Parallel of Poetry and Painting", De Arte Graphica (London, 1695), S. X X X I V . 2)

s)

59

II. Das Problem des Epos %wischen Chapman und Pope Wit, ingenuity, and learning in verse, even elegancy itself, though that comes nearest, are one thing, true Native Poetry is another; in which there is a certain Air and Spirit, which perhaps the most learned and judicious in other arts do not perfectly apprehend, much less is it attainable by any study or industry; nay, though all the laws of Heroic Poem, all the laws of Tragedy were exactly observed, yet still this tour entrejeant, this Poetic Energy, if I may so call it, would be required to give life to all the rest, which shines through the roughest most unpolished and antiquated language, and may haply be wanting, in the most polite and reformed.. . 4 )

Ihn sekundiert John Dennis, der gegnerischen Terminologie weitgehende Konzessionen machend: It is impossible for any man who has not great Genius, strictly to observe the rules; as it is for any one who has not super-natural assistance to live up to the dictates of Reason. For people may talk as long as they please, I defy any one to show me a regular Epic Poem or Tragedy which was not writ by a very extraordinary man6).

Dennis geht über Dryden hinaus, wenn er impliziert, daß der Dichter die übernatürliche Welt auch glauben müsse, um sie überzeugend gestalten zu können. Eine kunstvoll-opernhafte Verwendung übersinnlicher Motive mag die Sinne berauschen und Bewunderung hervorrufen, aber sie ergreift nicht das Gefühl so wie ein Vortrag aus religiöser Ergriffenheit: "Admiration can only move and raise the reader, whereas to give him the last pleasure, he must have the last transport"6). Dennis übernimmt die platonische Unterscheidung von zwei Arten der leidenschaftlichen Gefühlserregung: „simple passion" und „enthusiasm"7). Wo sich in der zweiten Art der furor poeticus mit religiösem Pathos verbindet, entsteht erhabene Dichtung. Durch Dennis hält der Begriff des Erhabenen im Gefolge der Longinus-Renaissance seinen Einzug in die englische Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts. In unserem Zusammenhang ist es wichtig, daß Dennis die Überlegenheit antiker Epen, Tragödien und Oden (dieser drei Gattungen der erhabenen Dichtung) über die neuzeitlichen damit begründet, daß sie auf die Religion gegründet waren, während die moderne Dichtung (mit Ausnahme Miltons) profan sei. Seinem bedeutendsten Werk The Advancement and Reformation of Modern Poetry (1701) liegt die These zugrunde, ohne religiöses Pathos sei erhabene Dichtung nicht möglich, wie Homer, Vergil und Milton beweisen. 4) Theatrum Poetarum, or a Compleat Collection of the Poets, Especially the most Eminent, of all Ages (London, 1675), zitiert nach: H. T. Swedenborg, The Theory of the Epic in England 1650-1800 (Berkeley, 1944), S. 48f. «') Critical Works o f f o h n Dennis (Baltimore, 1939) I, 97. •) Ibid. S. 127. ') Ibid. S. 215-16.

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II. Das Problem des Epos %wischen Chapman und Pope Das reiche Gedankengut, das Dryden in genialer Unbekümmertheit über seine Prefaces verstreute, hat Addison nicht vermehrt, aber konsolidiert. Er ist der große Aufklärer schlechthin, der arbiter elegantiae und „regulator of common life" des 18.Jahrhunderts-weit über Englands Grenzen hinaus. Den geistigen Schatz der weltliterarischen Bildung des Klassizismus hat er in das Kleingeld seiner bezaubernden Essays umgesetzt und durch seine moralischen Wochenschriften in Umlauf gebracht. Dryden war 1700 gestorben und „an instructor like Addison was now wanting whose remarks, being superficial, might be easily understood, and being just, might prepare the mind for more attainments"8). So urteilt Dr. Johnson, und er fährt unter Bezug auf die Spectator-Essays über Paradise Lost fort: „by the blandishments of gentleness and facility he has made Milton an universal favourite, with whom readers of every class think it necessary to be pleased"9). Inzwischen selbst klassisch geworden, sind diese Essays so bahnbrechend für Miltons Epos gewesen, wie es Drydens Bekenntnis zu Shakespeare im Essay of Dramatic Poesy war. Fast nicht weniger folgenreich war Addisons Eintreten für die altenglische Volksballade Chevy Chase - einer mutigen praktischen Folgerung aus E. Phillips Begriff der „poetic energy", die sich auch in einer durch die Kultur noch nicht verfeinerten Sprache ausdrücken könne. Im 417. Spectator-Essay wird der Unterschied zwischen Ilias und Aeneis in Parallele gesetzt zu dem Unterschied zwischen einer erhabenen Urlandschaft voller Wälder, Felsen und Abgründe einerseits und einer lieblichen, geordneten Kulturlandschaft mit wohlgewachsenen Bäumen andererseits. Die Polarität Homer-Vergil, Shakespeare-Ben Jonson, Genie-Kunst, NaturKultur, Erhabenheit-Regelgemäßheit, Longinus-Aristoteles ist das Erbe des 17. Jahrhunderts und dient Addison als Orientierungsskala, die er ohne Spitzfindigkeit unparteiisch anwendet, denn das Ideal liegt für ihn - wie für Shaftesbury - in der ausgleichenden Mitte. Den Regeldogmatismus löst Addison ab durch Konsolidierung eines weitherzig ausgewählten Kanons von klassischen (durchaus nicht im engeren Sinne klassizistischen) Standardautoren, die er als Bildungsmächte in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und des gesamten Kulturlebens stellt - mit einer das ganze Jahrhundert prägenden Durchschlagskraft. "Life of Addison" in Lives of the English Poets (Everyman's Library) I, 366. •) Ibid. S. 366. T. S. Eliot kommentiert diese Stelle: "It was still then, apparently, a n o t unlettered period, in which readers of any class could think it necessary to be pleased with Paradise Lost." Use of Poetry and the Use of Criticism (London, 1933), S. 63. s)

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III. Popes Vorwort %ur Ilias Indem Addison konsolidierte, schuf er, wie Dr. Johnson schrieb, die Grundlage „for new attainments". Mit seinem Chevj Chase-Essay bahnte er folgenreich den Weg für die Deutung Homers als Balladensänger und Originalgenie. Aber zunächst waren seine Milton-Essays die Wegbereiter für den drei Jahre später einsetzenden Siegeslauf von Popes Homer. III. Popes klassizistisches Credo in seinem Vorwort zur Ilias And by improving what was writ before, Invention labours less, but judgment more. (Roscommon1)

Die verhüllte Zentralsonne des Neuplatonikers Chapman war zum weithin leuchtenden milden Licht der gesellschaftlichen Aufklärung geworden. Mit seiner ungewöhnlichen Kenntnis des Griechischen war Chapman ein Pionier in der über Europa verstreuten kleinen Schar humanistischer Entdecker homerischer Dichtung. Pope wurde von der Woge seiner Zeit getragen. Er brauchte nicht mehr für seinen Autor zu werben. Auf der Höhe der allgemeinen Erörterung über die epische Tradition, in deren Mittelpunkt Homer stand, war seine Aufgabe, ein autoritatives Urteil abzugeben. Er tat es mit der Souveränität des großen Dichters, theoretisch und praktisch. Mit dem V o r w o r t zu seiner Ilias gab er seinen ohnehin ganz in antiken Vorstellungen lebenden Zeitgenossen eine Deutung dessen, den man als exemplarische Verkörperung dichterischer Genialität und als Ahnherrn der eigenen Kultur zu sehen gelernt hatte; in seiner bis ins Letzte ausgefeilten und durchdachten Ü b e r s e t z u n g gab er ihnen in englischer Sprache ein universales dichterisches Symbol, nach dem sie verlangten. "In making the Iliad the great poetical interpretation of his age" habe Pope, mit den Worten Tillyards, tiefer aus dem Herzen seines Jahrhunderts gesprochen als Milton, dessen Paradise Lost vergleichsweise noch Züge des „private individual attempt" anhafteten 2 ). Der Zwiespalt zwischen Inspiration und Regel, der alle Verlautbarungen des Klassizismus seit Mitte des 17. Jahrhunderts kennzeichnet, zeigt sich bei Pope darin, daß er als T h e o r e t i k e r im Gefolge der platonischen Schule gerade das an Homer preist, was ihm selbst als D i c h t e r im aufgeklärten ») Essay on Translated Verse II, 29 (1684). ") E. M. W. Tillyard, The English Epic andits Background (London, 1954), S. 504, S. 498.

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III.

Popes

Vorwort

%ur Ilias

Zeitalter Newtons verschlossen war. Hatte Dennis die Größe antiker Dichtung mit ihrer Verwurzelung im Religiösen begründet, so hoffte er, mit dieser Erkenntnis die Dichtung seiner Zeit reformieren zu können, denn er war vor allem Kritiker. Aber Pope war nicht nur Kritiker sondern Dichter. Als Dichter entzog er sich dem Dilemma, indem er - übersetzte. Seine Homer-Übersetzung ist ein genialer Kompromiß zwischen seiner Erkenntnis der entfallenen Voraussetzung epischer Dichtung und seinem dichterischen Ehrgeiz, dennoch ein Epos zu schreiben. Indem er Homer in die Sprache seiner Zeit übersetzte, projizierte er sein Zeitalter in die heroische Formenwelt der alten Epik. "In translating Homer he succeeded in translating his age" 3 ). Das war ganz im Zuge seiner Zeit. Für den Deisten greift Gott nicht mehr ein in die Welt, um sie durch Heroen, Dichter und Propheten aus dem Chaos herauszuführen. Aus der Schöpfung hat sich das Geschöpf verselbständigt und ist im Zeitalter der Aufklärung mündig geworden. Die Weltuhr war aufgezogen und lief nun nach festen Gesetzen ab. Das Versiegen des schöpferischen Impulses machte man wett durch größere Korrektheit in der Anwendung der aus der Tradition gewonnenen wertbeständigen Formen. Homer, als „giant wit before the flood", gehört noch der heroischen Vorzeit an, in der der Schöpfungsprozeß noch nicht abgeschlossen war. In der Kulturgeschichte ist er der Entdecker und „prime mover" der Gesetze unserer Welt. Sein Epos ist eine Art literarischer Arche Noah, die alle Urformen geistigen Lebens birgt und der Nachwelt zur Kultivierung übergibt. Addisons Vergleich Homers mit einer Urlandschaft abwandelnd, schreibt Pope: Our author's work is a wild paradise, where if we cannot see all the beauties so distinctly as in an ordered garden, it is only because the number of them is indefinitely greater. It is like a copious nursery which contains the seeds and first productions of every kind, out of which those who followed him have but selected some particular plants, each according to his fancy, to cultivate and beautify4).

Diese „richness of the soil" erklärt Pope aus uranfänglicher Befruchtung, die er mit Begriffen aus der platonischen Überlieferung umschreibt: „poetical fire", „vivtda vis attimi", „frenzy", „fire from heaven". Dies sei die Qualität, die die homerischen Epen als Geniedichtung von aller anderen unter') E. M. W. Tillyard, a.a.O. S. 501. *) Preface to the Iliad; alle in diesem Abschnitt nicht näher gekennzeichneten Zitate entstammen diesem Vorwort. 63

III.

Popes Vorwort

%ur Utas

scheidet; aus der homerischen Quelle fließe sie in alle nachfolgende Literatur ein. "That which Aristotle calls the 'soul of poetry' was first breathed into it by Homer." Wenn die meisten Dichter aus Homer stehlen, so ist das durchaus legal. Je diskreter sie es tun, desto größer ist ihre Kunst, wie Vergil beweist. Nur in wenigen „great geniuses" bricht das originale dichterische Feuer gelegentlich noch unmittelbar durch, allerdings in hektischen Stößen mehr als in jenem breiten Strom, der die homerische Dichtung kennzeichnet: "This Fire is discerned in Virgil, but discerned as through a glass, reflected f r o m Homer, more shining than fierce, but everywhere equal and constant: in Lucan and Statius it bursts out in sudden, short, and interrupted flashes: in Milton it glows like a furnace kept up to an uncommon ardor by the force of art: in Shakespeare it strikes before we are aware, like an accidental fire f r o m heaven: but in Homer, and in him only, it burns everywhere clearly and everywhere irresistably."

Erst nachdem Pope, unter dem Einfluß der von Dennis erneuerten Enthusiasmustheorie, diese Grundqualifikation zur Voraussetzung gemacht hatte, erörterte er das homerische Epos auch nach den zeitüblichen formalen Kategorien, wie sie zuletzt Addison für Milton angewandt hatte und die über Le Bossu auf Aristoteles' Poetik zurückgehen: Homers Fabel klammert Mensch, Natur und übersinnliche Welt zu einer gewaltigen Einheit zusammen; Homers Charaktere überragen an Mannigfaltigkeit und individueller Nuanciertheit die aller epischen und tragischen Dichter nach ihm; Homers Reden lassen alles, was nicht unmittelbar handelnd dargestellt ist, sich in dramatischen Dialogen selbst charakterisieren; Homers Gedankenwelt findet an Erhabenheit nur noch in der Bibel ihresgleichen; Homers Bildersprache, nach Aristoteles das Hauptmerkmal des Genies, ist gekennzeichnet durch eine unübertroffene Reichweite und Vielfalt der Einbildungskraft, „to which all things, in their various views, presented themselves in an instant, and had their impressions taken off to perfection, at a heat"; Homers Sprache begründete die poetische Diktion der Folgezeit; sie brachte die „language of the Gods" auf die Erde, eine mit Geist erfüllte Sprache der „living words", nie aufgebläht sondern stets treffsicher im Ziel, wo immer dieses war, im Himmel oder auf der Erde oder in der Unterwelt; in Homers Versmaß verbindet sich „the finest ear in the world" mit der schmiegsamsten, nuancenreichsten aller Sprachen, die zudem durch eine kunstvolle Mischung der Dialekte noch über sich hinaus gesteigert worden sei. 64

III. Popes Vorwort %ur Ilias Auf jedem dieser Ein2elgebiete ist Homer unübertroffener Meister kraft seiner einmaligen, unerschöpflichen Erfindungsgabe: On whatever side we contemplate Homer, what principally strikes us is his invention. It is that which forms the character of each part of his work; and accordingly we find it to have made his fable more extensive and copious than any other, his manners more lively and strongly marked, his speeches more affecting and transported, his sentiments more warm and sublime, his images and descriptions more full and animated, his expression more raised and daring, and his numbers more rapid and various.

Selbst das, was spätere Kritiker, vor allem in Frankreich, Homer als Fehler ankreideten, sei meist nur ein Exzeß seiner Genialität (das sprechende Pferd, das Hinausgehen über den Vergleichspunkt in den Gleichnissen u. a.). Manches sei auch aus andersartigen Anschauungen und Sitten zu erklären, die sich seither keineswegs nur verbessert hätten. Als weiterer Reiz der homerischen Gedichte käme die Schilderung patriarchalischer Verhältnisse hinzu, die Pope zwar nicht zum Goldenen Zeitalter verklärt wie Madame Dacier, aber doch in heilsamem Gegensatz zum Luxus seiner Zeitgenossen sieht. Aus dieser Haltung heraus tut Pope die Homerkritik von Rapin, Scaliger, Perrault und La Motte als parteiisch mit wenigen Worten ab. Schon im Essay on Criticism hatte er gemahnt, zunächst sich selbst kritisch zu prüfen, ehe man dem „schlafenden Homer" einen Fehler zuspreche. In einer Anmerkung zu II. XVI (Popes Übersetzung v. 1032) gibt Pope zu, über insgesamt fünf Stellen in der Ilias keine Rechenschaft ablegen zu können und sie gegen die Vorwürfe der Kritiker nicht verteidigen zu können6). Hierbei empfindet er Skrupel, daß er wie Sancho Pansa seinen Herrn manchmal für absurd halte. Er entkräftet dieses Eingeständnis auch sofort mit einem ausführlichen Zitat aus Longinus, in dem dieser warnt, das Genie mit gewöhnlichen Maßstäben zu messen: „. . . the true sublime is incapable ofthat purity which we find in compositions of a lower strain . . ," e ) s ) Es handelt sich um Achills sprechendes Pferd in XIX, Nestors allzu lange Rede in XI, Hektors dreimalige Flucht um die Mauern Trojas in XXII, die Unterhaltung zwischen Achill und Aeneas in X X , sowie in XVI die Begleitumstände von Patroklos' Tod, von denen nur die letzte Verwundung durch Hektor als „standesgemäß" anerkannt wird. Hinzu kommt der burleske Teil der Theomachie in XXI, wo Pope in der Anmerkung zu v. 566 seiner Übersetzung an seinem Meister verzweifelt und nicht weiß, ob er ihm Absurdität oder Obskurität vor-' werfen soll. Alle diese Stellen waren in der französischen Kritik des 17. Jahrhunderts heiß umstritten gewesen. 6 ) Letzte Anmerkung zu Ilias X V I

6 Sühncl

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III. Popes Vorwort %ur Ilms Was bleibt angesichts dieser überwältigenden Autorität Homers für den nachfolgenden Dichter zu tun, und wie sieht Pope die Aufgabe seiner Übertragung, die ja klassische und moderne Dichtung in einem sein soll ? Art is only like a prudent steward that lives on managing the riches of Nature . . . As in the most regular gardens, Art can only reduce the beauties of Nature to more regularity, and such a figure, which the common eye may better take in, and is therefore more entertained with.

Wie weit man es in der Nachfolge Homers mit einem subtilen Kunstverstand bringen kann, das zeige Vergil. Den alten Streit, wer von beiden der größere ist, beantwortet Pope - wie schon Dryden im Preface to Fables mit einem Unentschieden, das der ausgleichenden Haltung des englischen Klassizismus gegenüber der Frage „Genie oder Regel ?" entspricht. "Homer was the greater genius, Virgil the better artist. In one we must admire the man, in the other the work." Da die Einwände, die man gegen Homer machte, bei Vergil entfielen, hatten die französischen Kritiker Vergil als überlegen proklamiert. Scaliger war so weit gegangen zu sagen - laut Popes Zitat - „Virgil has not so much imitated Homer, as taught us how Homer ought to have written" 7 ). Demgegenüber weist Pope daraufhin, daß Vergil seine Kunst nur darum zur letzten Vollendung entwickeln konnte, weil er Homer hinter sich hatte. "Invention . . . furnishes Art with all her materials, and without it, Judgment itself can at best but steal wisely". Vergil steht auf den Schultern Homers. Jeder ist groß in seiner Art. Wenn die Größe des zweiten der des Vorgängers verpflichtet ist, so ist damit kein negatives Werturteil impliziert. Für Pope liegt das Ideal nicht auf der einen oder anderen Seite, sondern in der ausgleichenden Mitte, die in Spielformen abwandelbar ist. No author or man ever excelled all the world in more than one faculty; and as Homer has done this in invention, Virgil has in judgment. Not that we are to think Homer wanted judgment, because Virgil had it in a more eminent degree ; or that Virgil wanted invention, because Homer possessed a larger share of it: each of these great authors had more of both than perhaps any man besides, and are only said to have less in comparison with one another.

Auch das Genie hat „judgment", und so liegt auch dem homerischen Epos ein kunstvoller Plan zugrunde, der nur wegen der Fülle oft nicht deutlich ist. Pope rechnet es Le Bossu als hohes Verdienst an, Homers „design" aller Welt offenkundig gemacht zu haben; er stellt dessen Tratte sur le poème épique auszugsweise seiner Odyssee-Übersetzung voran. In ') Popes Odyssey IX, 19, Anmerkung.

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III. Popes Vorwort %ur Ilias welchem Ansehen Le Bossus Schlüssel zu Homer gehalten wurde, zu dessen Lobrednern noch Lessing gehörte, zeigt Mulgrave's Verherrlichung: Had Bossu never writ, the world had still Like Indians view'd this wondrous piece of skill; As something of Divine the work admired, Hoped not to be instructed, but inspired; Till he disclosing sacred mysteries, Has shown where all the mighty magic lyes, Described the seeds, and in what order sown, That have to such a vast proportion grown8).

So sehr Pope die Hochschätzung seiner Zeitgenossen für Le Bossu teilte» so sah er auch seine Grenzen und travestierte ihn in Martinus Scriblerus' Vorwort zur Dunciade und im Receipt to make an Epic Poem. Le Bossus These, daß der epische Künstler von einem moralischen Lehrsatz ausgehe und um ihn herum sein Werk konstruiere, war schon von Addison zurückgewiesen worden9). Auch für Addison gehört es allerdings zur Größe eines Epos, daß sich nachträglich eine Moral daraus deducieren lasse. Nur in diesem einschränkenden Sinne folgt Pope Le Bossu, wonach die Moral der Ilias sei, daß Einigkeit unter den Fürsten den Staat fördere, Zwietracht ihn zugrunde richte. Dieses Thema ist auch für Pope die moralische Quintessenz der homerischen Dichtung, aber nicht ihr Ausgangspunkt. Die Verfahrensweise moderner Dichter, von einer These auszugehen, sei geradezu die Ursache ihrer Unterlegenheit gegenüber den Alten. Dem Denken des 17. Jahrhunderts entsprach die auf Cardanus zurückgehende, durch Milton und Blake berühmt gewordene Vorstellung Gottes als eines Geometers mit Plan und Zirkel, und es Übertrag diese Vorstellung auch auf den Künstler10). Was für das Zeitalter Homers und der Bibel die Eingebung war, das leistet für die neuere Zeit die Philosophie, die jener nicht widerspricht, sondern nur ihren rationalen Kern bewußt macht. An philosophischer Klarheit fühlte sich die Aufklärung der Antike in dem Maße voraus, wie sie ihrer Dichtung nachstand. Der Dichter der Aufklärung geht aus von einer philosophischen oder moralischen Konzeption, die er mit e)

An Essay upon Poetry (London, 1682). ») Spectator, Brief 369. io) "The geometric spirit is not so bound up with geometry that it cannot be disentangled and carried into other fields. A work of Morals', of politics, of criticism, perhaps even of eloquence, will be the finer, other things being equal, if it is written by the hand of the geometer" Fontenelle; zitiert nach: J. H. Randall, The Making of the Modern Mind (New York, 1926), S. 254.

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III. Popes Vorwort \ur Ilias Hilfe traditioneller Stoffe konkretisiert. Den Alten dagegen wuchsenihre Stoffe aus der Eingebung zu, und wenn sie angesichts der Fülle in der Ausführung von der Grundintention abwichen, so deshalb, weil sie dem Schöpfer noch nicht ins Konzept gesehen hatten, dessen sich die Modernen rühmen. Wie Shaftesbury, so schwebt auch Pope als Ideal die Möglichkeit vor, Offenbarung und Philosophie, Genie und Regel, Natur und Kunst, „invention" („wit") und „judgment" zum harmonischen Ausgleich zu führen. Schon im Essay on Criticism hatte er geschrieben: For wit and judgment often are at strife, Though meant each other's aid, like man and wife 11 ).

Unmittelbar hierauf folgt das Longinus-Zitat von dem gebändigten Feuer der himmlischen Muse und im Anschluß daran die berühmte Stelle, wo Pope im Gefolge Drydens und in der Terminologie seiner Zeit von der „nature methodized"12) spricht - ein Ausdruck, der, aus dem Zusammenhang gerissen, oft falsch gedeutet wird. Dahinter steht (neben Aristoteles' Entelechie-Begriff) die klassische Anschauung, wonach im Kunstschönen die Intention der Natur dargestellt ist. „All nature is but art, unknown to thee" heißt es in entsprechender Umkehrung im Essay on Man. Regeln gehören ins Bereich der Wissenschaft. Das Geheimnis der Kunst heißt: sinnbildliches Ebenmaß, nicht aufgepreßt, sondern als Ergebnis methodischer Selbstzucht. In der vordersten Reihe der einübenden Bemühungen um die Verwirklichung dieser Norm stehen die zahllosen Nachdichtungen klassischer Autoren durch Dryden, Pope und ihre Zeitgenossen. Popes Homer ist die repräsentativste Leistung wegen der beiden Namen, die sie koppelt, und aus Gründen der Gattung: denn das Epos ist der universalste dichterische Vorwurf. Was Newton als abstraktes Gesetz formulierte, hat Homer schon längst anschaulich dargestellt: Mensch, Natur, All - die ganze Welt im unerschütterlich in sich ruhenden Gleichgewicht. Was Homer in seiner Genialität naiv, der Eingebung folgend, erzählt, das erzählt der aufgeklärte Übersetzer Pope gewissenhaft und ehrfurchtsvoll nach, in vollem Bewußtsein des rationalen Plans und der Bedeutung jedes Einzelteils für das Ganze. Die homerischen Epen sind, für Pope, nicht als Allegorie konzipiert, aber sie haben sich - dank Le Bossu - als von Anfang bis Ende nahtlos durchgeführte philosophische Allegorien enthüllt. ") V. 82-83. » ) V. 89.

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III. Popes Vorwort

Was

Unter der Decke äußerer Ähnlichkeit unterscheidet sich Popes Homerdeutung von der Chapmans in dem Maße, wie sich ihr philosophisches Weltbild unterscheidet. Für den Neuplatoniker Chapman war das schöpferische Prinzip ein überirdisches; der „Ein-fluß" in die empirische Welt erfolgte durch die Eingebung. Das Dichten ist ein Spiegelbild dieses Prozesses, wobei zwischen Dichter und Nachdichter nicht unterschieden wird, denn aus dem gleichen himmlischen Impuls regenerieren und humanisieren beide durch das Medium der Sprache die Sitten ihrer Nation und Zeit. Wenn Pope seinen Vorgänger „an enthusiast in poetry" nennt, so steckt darin neben einer bedingten Anerkennung auch der Vorwurf der Naivität - ein Vorwurf, der dem antiken Dichter gegenüber entfällt und nur den neueren Nachdichter trifft, war doch die Menschheit in der Zwischenzeit mündig geworden. Im 17. Jahrhundert hatte die vordringende mechanistische Weltansicht den Piatonismus zurückgedrängt. Der Deismus hatte die Nabelschnur zwischen Schöpfer und Schöpfung zerschnitten. Die geistige Welt war zum rationalen Kalkül geschrumpft. Der Dichter, soweit er nicht vor dem Philosophen kapitulierte, lebte von der tradierten Substanz, die er nicht vermehren, sondern nur intensiv kultivieren konnte. Augusteische Übersetzungen haben daher eine andere Funktion als die der elisabethanischen Zeit; sie sind nicht Regeneration aus erneutem Kontakt mit dem schöpferischen Prinzip, sondern ehrfürchtige Bewahrung und intensive Pflege der überlieferten Formen. Der Sinn der Dichtung ist damit vom Metaphysischen verlegt auf das innere Formprinzip in ihr selbst. "It is the first grand duty of an interpreter to give his author entire and unmaimed." Gefordert wird also zunächst äußere Vollständigkeit der Wiedergabe des Originals, denn alles Fragmentarische widerspricht klassizistischem Formempfinden, da jeder Teil erst vom Ganzen seinen Sinn erhält. Gefordert wird auch Vollständigkeit der Wiedergabe aller künstlerischen Mittel, die der originale Dichter gebrauchte. Nur durch Vollständigkeit in diesem Sinne, als Wohlproportioniertheit aller Teile und Zusammenklang aller Mittel, läßt sich für Pope der Geist des Originals, „the fire of the original", einfangen. Er existiert für den Künstler ausschließlich als schöne Form, als „design"; wenn „Geist" außerdem noch eine Existenz für sich hat, so ist das eine Frage, die Pope dem Theologen überantwortet. Kunst ist für ihn weltlich und schließt alle Fragen „consigned to mystery and religion" aus. Pope tadelt an Chapman, daß er mit seinen Interpolationen und conceits 69

III. Popes Vorwort %ur Utas über das Original hinausgegangen sei. Dagegen habe Hobbes, mit seiner Beschränkung auf die Wiedergabe des rationalen Sinns, nach der anderen Seite gefehlt, indem er Gleichnisse und Verse als überflüssig wegließ. Der eine ist zu barock („fustian"), der andere zu prosaisch („mean"). Charakteristisch ist Popes Zusatz: "However, of the two extremes, one could sooner pardon frenzy than frigidity." Könne doch niemand bei der Lektüre Homers „master of himself" bleiben. Und doch ist Homer selbst das beste Vorbild, wie sich ein „fiery spirit" mit „discretion" paart. Seine Ausgewogenheit ist so groß, daß sie selbst die Extreme von Raserei und Nüchternheit nicht ausschließt, sondern sie in rhythmischem Steigen und Fallen spielend bewältigt und ausgleichend sich einordnet. Homers Darstellung bleibe dem Gegenstand - sei er hoch oder niedrig - stets genau angepaßt. Sie ist nie manieriert. Sie ist „dignified" ohne „ostentatious" zu sein, „graceful" ohne „ingenious" zu sein; zugleich ist sie „piain" ohne „sloven" zu sein, und „simple" ohne „bald" zu sein. Diese unangestrengte Spannweite ist das Geheimnis von Homers „noble simplicity"; sie ist die crux des Übersetzers. Ein wertvolles Hilfsmittel bietet sich dem klassizistischen Homer-Übersetzer in der zweitausendjährigen literarischen Überlieferung. Denn in ihr, vorzugsweise in der epischen Tradition, findet er alle jene Stilzüge einzeln kultiviert, die Homers Universalität vereinigte. Auf der Suche nach einer der „noble simplicity" Homers gerecht werdenden Diktion wird der Übersetzer daher eklektisch verfahren. Zunächst wird er sich an die Bibel halten, zumal sie schon mustergültig übersetzt wurde. Keine Dichtung steht ihr zeitlich und wesensmäßig so nahe wie Homer, denn beide wurzeln im patriarchalischen Zeitalter, einem Nachglanz des Goldenen Zeitalters, wo der Mensch seine Inspiration unmittelbar aus der ungefallenen Natur schöpfte. Mag Homers Inspiration auch nicht ganz so „rein" sein wie die der Bibel - die Götterburlesken zeigen das - , so war die dichterische Methode grundsätzlich dieselbe: "The divine spirit made use of no other words but what were intelligible and common to men at that time". Die Einfachheit der Sprache entspricht der Einfachheit der Sitten. So werden durch die Autorität der Bibel Homers vermeintliche „Niedrigkeiten", über die die italienischen und französischen Kritiker so viel gespottet hatten, im Jahrhundert Popes zum Korrektiv für kulturelle Überzüchtung. Was der moderne Homer-Übersetzer von V e r g i l lernen kann, hatte Pope schon angedeutet, als er Homer mit Vergil und Natur mit Kunst kontrastierte. "Art lives on managing the riches of Nature . . . Art can only re70

III. Popts Vorwort %ur Ilias duce the beauties of Nature to more regularity." Vergil ist ein Führer zu jener „correctness", der Pope sich auf Anraten seines Mentors Walsh als einem Evangelium unterwarf. Man muß sich hier von romantischen Vorurteilen frei machen. "Walsh's famous advice to Pope must not be taken too simply; it really means : the great things are done ; the age of mythmaking is over; what remains to be done is to achieve that 'correctness', that nicety of detail, which bolder writers and bolder ages perforce neglect"13. Den unwiederbringlichen Verlust an urzeitlicher Kraft macht der Epigone durch subtilere Formkunst wett. Ein weiteres Vorbild ist Dr y den s Aeneis-Übertragung. Pope bedauert, daß die Eile, unter der Dryden zu arbeiten gezwungen war, ihn verhinderte, seinem Werke die dem Original gemäße Vollendung zu geben, die nach Drydens eigener Äußerung weitere vier Jahre geduldigen Feilens erfordert hätte. Aber auch in der vorliegenden Form nennt sie Pope die beste Übersetzung einer heroischen Dichtung, die er kenne. Wenn Dr. Johnson schrieb : „Pope searched the pages of Dryden for happy combinations of heroic diction" 14 ), so ist das natürlich nicht negativ gemeint, denn Entpersönlichung und Konventionalisierung ist eine Forderung des klassizistischen Stilideals, besonders in der epischen Dichtung. Da Vergil auf Homer fußt, war Drydens Aeneid in erhöhtem Maße eine Fundgrube für Popes Homer, mit dessen vergilischer Stilisierung Pope - wie Dr. Johnson sagte - einen Teil von Vergils Dankesschuld an Homer zurückzahlte. Für den klassizistischen Kult der Tradition, sein Aufbewahren des Vergangenen im Gegenwärtigen, sein Verschmelzen beider durch Stilisierung und Verallgemeinerung ist gerade dieses Beispiel erhellend15). Eine Synthese von Homer und Vergil schwebte dem Klassizismus als konstruktives Ideal vor. Wollte man einen Autor loben, so deutete man sein Werk als eine Approximation an dieses Ideal. So schreibt Andrew Ramsay über F é n e l o n s Télèmaque: "Notre illustre Auteur a donc réuni dans son Poème les plus grandes beautez des Anciens. Il a tout l'enthousiasme et l'abondance d'Homère, tout la magnificence et la régularité de Vergile" 16 ). Pope teilte die Begeisterung seiner Zeitgenossen für dieses Werk und machte dessen genaues Studium für jeden Homer-Übersetzer obligatorisch. ls ) Austin Warren, Rage for Order (Chicago, 1948), S. 39. ") "Alexander Pope" in Lives of the English Poets (Everyman's Library), II, 223. 16) Vgl. den Tod des Euryalus in Aeneis IX (Dryden 581-84) und den Tod von Gorgythio in Ilias VIII (Pope 371-74). Hierzu D. Knight a.a.O. S. 60. 16) Discours de la poésie épique et de VExcellence du Poème de Télèmaque, zitiert nach Tillyard, a.a.O. S. 484.

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III. Popes Vorwort £ur Utas Dieses sittlich-pastorale Epos ist für Pope, trotz seiner Prosaform, die größte Annäherung einer modernen Dichtung an den Geist Homers1'). In der Tat hat keine zeitgenössische Dichtung eine größere innere Verwandtschaft zu Popes Homer als Fenelons Telemaque. Wenn Pope von den Theoretikern L e B o s s u hervorhebt, so deshalb, weil dieser in seiner Deutung Homers „the justest notion of his design and conduct" gäbe. Indem Le Bossu jedes der beiden homerischen Epen nicht nur im einzelnen, sondern vor allem im ganzen als einzige große Allegorie deutete - Illustration einer sittlichen Formel als abstraktem Gegenstück zu Aristoteles' „Fabel" - , tat er dem Verlangen des Klassizismus nach einem klaren organisierenden Prinzip Genüge. In seiner Übersetzung und seinen Anmerkungen ließ sich Pope besonders angelegen sein, jeweils den funktionalen Charakter eines jeden Teils der Dichtung herauszustellen. Aus dem „wild paradise" homerischer Dichtung macht Pope mit behutsamer Hand zwar keinen französischen Park, aber doch einen „englischen Garten". Hier wird Homers „noble simplicity" durch Herausarbeitung der Struktur sinnfällig gemacht. Von Milton schließlich kann der Homer-Übersetzer lernen, wie ein moderner Epiker durch Mischung von Graecismen, Latinismen und archaischen Ausdrücken seiner Sprache einen „venerable antique cast" zu geben vermag, nicht um zu historisieren, sondern um zu stilisieren. Der Klassizist stilisiert durch Einordnung in die literarische Tradition. Der Wunsch, etwas von der historischen Patina des jahrtausendealten Kunstwerks zum Ausdruck zu bringen, ist sekundär gegenüber dem Bestreben, ein in der gesamtabendländischen Tradition gewachsenes Äquivalent zu finden für die Art, wie Homer seinerseits die griechischen Dialekte mischte. Graecismen, Latinismen, Bibel-Englisch waren für die Zeitgenossen Popes Anklänge an Sprachen, mit denen sie aufgewachsen und vertraut waren. Und da ihre Bildung literarisch-kosmopolitisch war, wurden Vorstellungen erweckt, die ohnehin aus der Bibel und den klassischen Literaturen genährt waren. Am Ende von Ilias I, wo Hephaistos erzählt, wie ihn Zeus zornerfüllt vom Olymp auf die Erde hinuntergeschleudert habe, ist die Diktion von Popes Übersetzung unverkennbar beeinflußt von der Stelle in Miltons Paradise Lost (I, 45 und I, 740 ff.)18), die von dem Sturz der rebellierenden Engel handelt - eine Stelle, die ihrerseits auf die obengenannte Homerstelle zurückweist. Auch hier faßt der moderne Homer-Übersetzer ") Ähnlich hatte sich schon Steele im Tatler No. 156 (1710) geäußert. ") siehe hierzu: G. Tillotsen, On the Poetry of Pope (Oxford 2 1950), S. 97.

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III. Popes Vorwort %ur litas sein dichterisches Amt so auf, daß er etwas von der Dankesschuld der Nachfahren an den ,,Giant-Wit before the Floods" gleichsam mit Zinseszins zurückzahlt. Wo die literarische Tradition als ein Nachklang der klassischen Dichtung angesehen wird, ist echoing eine charakteristische Praxis. In der Fülle der gegenseitigen Bezüge, Anspielungen und Rückgriffe, in der immer brillanteren Formulierung der alten Wahrheiten besteht das Wesen der neueren Dichtung. Auch ihr Kosmopolitismus entspricht der Konzeption des 18. Jahrhunderts. Die Dichtung ist der Kristallisationspunkt der seit dem Goldenen Zeitalter im Grunde sich gleich gebliebenen Ideale der Humanität, und die Konstanz des Gehaltes drückt sich aus durch die Konstanz formelhafter Wendungen, common-place Vorstellungen, Topoi. Indem die Dichtung sie konserviert und pflegt, hat sie die Funktion einer bis in die Gegenwart verlängerten Mythologie. Pope setzt sich ausdrücklich ab von den gelehrten Pedanten, die in der Geschichte nur das Trennende und Andersartige erkennen, da sie von der Hülle nicht zum Kern vordringen. Und er setzt sich ab von den Vertretern der Moderne, die sich allem überlegen fühlen, was nicht ihren eignen Begriffen entspricht; sie verfehlen den Geist alter Dichtung, wenn sie diese „in rash paraphrases . . . into the modern manners of expression" übersetzen zu können glauben. Das zwischen den Zeiten die Brücke schlagende Gemeinsame sieht Pope in der ethischen Substanz vorbildlicher Menschlichkeit, die in der schwerelosen Eleganz hochgezüchteter dichterischer Weltaussage ihren einzig adäquaten, überzeugenden, objektiven Ausdruck findet. Nur wenige allerdings verstehen diese Sprache. Hier klingt Chapmans Unterscheidung von den zweierlei Sprachebenen - der prosaischen und der dichterischen - wieder durch, denen zwei Menschenarten entsprechen. Der Übergang von der ersten zur zweiten, bei Chapman ein religiöser Durchbruch im Gefolge eines mystischen Erlebnisses, ist für Pope ein Reifeprozeß als natürliches Ergebnis schöner Bildung, die sich durch den harmonischen Ausgleich von „a taste of poetry" und „competent learning", von Subjekt und Objekt, von Geschmack und Wissen vollzieht. Für Gebildete in diesem Sinne, deren es stets nur wenige geben wird, ist Popes Homer geschrieben. Er weiß, so schließt Pope sein Preface resignierend, "he must hope to please- but a few; those only who have at once a taste of poetry, and competent learning. For to satisfy such as want either, is not in the nature of this undertaking; since a mere modern wit can like nothing that is not modern, and a pedant nothing that is not Greek." 73

IV. Chapmans Modifikationen des homerischen

Textes

Die Zahl der maßgebenden happy few war im achtzehnten Jahrhundert größer als zu anderen Zeiten, und Pope konnte sich rühmen: "I have found more patrons than ever Homer wanted." Das Vorwort schließt mit einer Danksagung an eine heute noch repräsentative Reihe von literarischen und aristokratischen Förderern seines Plans: Addison, Steele, Swift, Garth, Congreve, Rowe, Parnell, Buckingham, Hallifax, Bolingbroke, Wycherley. Um diesen engeren Kreis schließt sich der Ring der 600 Subskribenten aus der gesellschaftlichen Führerschicht der Zeit, die in seltener Einmütigkeit und Aufgeschlossenheit das langsame Reifen eines wahrhaft repräsentativen Kunstwerks, wie es Popes Ilias ist, in sechsjähriger Arbeit ermöglichten.

IV. Chapmans bewußte Modifikationen des homerischen Textes For these ingenious and first sort of men, That do immediately from fove retain Their singing raptures, are by fove as well Inspir'd with choice of what their songs impell, fove's will is free in it, and therefore theirs. (Chapman, Od. I, 5 3 1 - 3 5 )

Zu Umschreibungen ist jeder Übersetzer gezwungen, der nicht am Wort haftet, sondern den Wortsinn ausschöpfen will. Was ist dieser Wortsinn? Während ihn der moderne Philolog historisch zu rekonstruieren versucht und sich streng innerhalb dieser Grenzen hält, deutet ihn der RenaissancePlatoniker als „mystery" gemäß der Stellung der Dichtung zwischen Philosophie und Religion. Durch Anheben des Schleiers, den die Dichtung um die Wahrheit legt, sucht Chapman, aus dem Wissen des Eingeweihten, die „hidden truth" von Homers „sacred writings" gelegentlich direkt auszusagen. Im Prozeß des Umdichtens reflektiert er. Er befragt das Geheimnis der Dichtung, indem er philosophische Proben auf das poetische Exempel macht. Er expliziert, wo Homer impliziert. Und er interpoliert diese Deutungen in den Text mit der inneren Freiheit dessen, der sich so völlig mit Homer identifiziert, daß er seine Ergänzungen dem Meister als oberster Autorität in den Mund legt, so wie es schon die Schüler des Pythagoras und Sokrates mit ihrem autos epha taten. Für Ficino spricht Plato durch den Mund Plotins. In gleichem Sinne fühlt sich Chapman von Homer inspiriert. In beiden Fällen liegt zwischen dem klassischen Vorbild und dem neueren Übersetzer-Kommentator ein Jahrtausend spätantik-mittelalterlicher Tradi74

IV. Chapmans Modifikationen des homerischen Textes tion. Ihr Niederschlag fließt in Chapmans Übersetzung mit ein, obwohl diese auf den originalen Text zurückgeht. Der Renaissance-Übersetzer löscht nicht seine eigene Subjektivität aus, um den Gedankengang des Originals in historischer Treue nur äußerlich nachzuvollziehen, sondern aus der Tiefe einer völligen Identifizierung der eigenen Individualität mit dem Original sucht er dessen Denken und Dichten als solches zu erneuern. Das Ergebnis ist nicht ein „historischer Plato", ein „historischer Homer", sondern eine Plato-Renaissance, eine Homer-Renaissance. Einem Plotin, einem Ficino ist von Seiten der Philosophiegeschichtier ihre Eigenständigkeit weit mehr zugestanden worden als einem Chapman von Seiten der Literarhistoriker. Selbst ein so feinsinniger Interpret wie Douglas Bush spricht von Chapmans Unart „of depositing lumps of alien matter in the text" 1 ), weil er Einzeldeutungen aus den humanistischen Renaissance-Kommentaren in den Text mit eingeschmolzen habe. Dieser Vorwurf wäre stichhaltig, wenn Chapman sich im modernen Sinn als Übersetzer nur eines historischen Textes verstanden hätte. Das ist aber nicht der Fall. Bei einem poetischen Text ist es mit dem objektiven Verstehen noch nicht getan. Über dem humanistischen Gelehrten, der er auch war, stand bei Chapman der Dichter, der die homerischen Epen in seiner Zeit und in seiner Sprache als Dichtung zu erneuern versuchte. Mit naiver Unbekümmertheit modifiziert er daher den historischen Text, sei es daß er inzwischen nötig gewordene Kommentare dadurch überflüssig macht, daß er sie in die von ihm geschaffene „neue Auflage" der alten Dichtung einarbeitet, sei es daß er Anachronismen nicht scheut, indem er griechische Konkreta durch solche der eigenen Vorstellungswelt ersetzt, wodurch die Welt Homers mit devils, angels, peers, dukes, regiments bevölkert wird. Sakrosankt ist ihm die Dichtung nicht als historisches Dokument, sondern als Umschreibung jener „dark philosophy", die nicht ein abstraktes Philosophem ist sondern (ein Glaubensartikel, mit dem der Elisabethaner als Mensch steht oder fällt) platonischer Bereich spiritueller und sittlicher Energien, die der Dichter aktiviert als „great inflamer of all power that moves in human souls". Homer ist - man beachte das Übergewicht ethischer Werte - „president of all learning, virtue, valour, honour and society". Seine Epen sind ein in allen Lebenslagen zu befragender Lebensführer für Herrscher, Soldaten, Diplomaten, für Jung und Alt, für Eheleute, Liebende und Freunde2), eine sokratische Anleitung zum -richtigen Douglas Bush, Mythology and the Renaissance (Minneapolis, 1932), S. 211. 2) G. Smith, a.a.O., II, 306.

Tradition in English

Poetry

75

IV. Chapmans Modifikationen des homerischen

Textes

und guten Leben. Die dichterische Anschauung der Normen löst zugleich die Energien zu ihrer Verwirklichung im Leben aus. Überblicken wir einige charakteristische Modifikationen des homerischen Textes durch Chapman. Wir beschränken uns auf Fälle, zu denen sich Chapman gleichzeitig theoretisch äußert. Aus dem Enthusiasmus des Renaissance-Gelehrten geht Chapman in der Wiedergabe von Beschreibungen in Einzelheiten gelegentlich weiter als Homer selbst, indem er wissenschaftliche Erkenntnisse der nachhomerischen Zeit - etwa auf dem Gebiete der Physiologie in Verbindung mit den zahllosen Verwundungen in den Schlachtenszenen der Ilias3) - schon in Homer „entdeckt" und entsprechend übersetzt, nicht ohne in der Anmerkung verwundert hinzuzusetzen „how excellent an anatomist our Homer was, whose skill in those times, methinks, should be a secret" 4 ). Hier ist der temperamentvolle Dichter mit dem gelehrten Kommentator durchgegangen. Die Rangordnung ist charakteristisch. Die Elisabethaner haben noch die künstlerische Naivität jener mittelalterlichen Maler, auf deren Bildern die Heiligen mit den neuesten Augengläsern ä la mode ausgestattet sind. Ihr gläubiger Realismus umspannt die spirituelle Welt so selbstverständlich wie die materielle Welt. Wie hier die letzten Errungenschaften der technischen Zivilisation der spirituellen Welt als Schmuckstücke dargebracht sind, so baut Chapman die stoische Theorie von Homer als dem Vater aller Wissenschaften in seine Übersetzung ein aus der spontanen Freude des Nachdichters über die möglich gewordene Anbringung eines zusätzlichen Effektes, dem gegenüber ein Anachronismus nichts wog, für Chapman so wenig wie für Shakespeare. Die Wissenschaft ist für Chapman nur Ornament; ihr Rationalismus ist noch nicht in das Mark der Kunst eingedrungen, weder als Antagonist des Glaubens, noch gar als dessen Stellvertreter. Der gleiche ergötzliche Widerspruch, wo der Kommentator nicht weiß, was der Nachdichter tut, findet sich bei einer andersartigen, aber nicht minder typischen Erweiterung des originalen Textes: bei den homerischen Gleichnissen. Ihre liebe- und kunstvolle Ausgestaltung gehört zu einem Höhepunkt Chapmanscher Übersetzungskunst. In Ilias II, 87f. vergleicht Homer die aus ihren Schiffen hervorströmenden und zum Versammlungsplatz eilenden Heerhaufen mit Bienenschwärmen, die unaufhörlich aus ihrem Felsloch hervorströmen und der Frühlingswiese zustreben. Im Kom») P. A. Robin, The Old Physiology in English Literature (London, 1911), S. 15 f. *) Commentarius, Iliads XIV, 432. 76

IV. Chapmans Modifikationen des homerischen Textes mentar hierzu erwähnt Chapman, daß Vergil (Aeneis I, 430) bei der Übernahme dieses Gleichnisses mehr Vergleichspunkte durchgeführt hat und deshalb von Kritikern wie Scaliger in ihren "unmannerly and hateful comparisons" als der überlegenere Künstler gedeutet worden sei. Das weist Chapman scharf zurück, und er läßt auch Spondanus' Einschränkung nicht gelten, daß alle Gleichnisse hinken. Vergil habe nur expliziert, was bei Homer impliziert sei. Homer überlasse die Anwendung des Vergleichs (das Hervorbrechen in Schwärmen, das nicht abreißende Hervorquellen, das Ausschwärmen auf der Wiese) „to his judicial reader's understanding, as he doth in all his other similes; since a man may pervially (or, as he passeth) discern all that is to be understood" 6 ). Chapman fordert den Leser auf, die Probe aufs Exempel zu machen und die Vergilstelle mit der Homerstelle zu vergleichen - „but in my translation"! In seiner Übersetzung aber ist Chapman der bewußteren Technik Vergils gefolgt, was nach der Auseinandersetzung mit Scaliger und Spondanus ganz unwillkürlich geschehen mußte 6 ): . . . as when of frequent bees Swarms rise out of a hollow rock, repairing the degrees Of their egression endlessly, with ever rising new From forth their sweet nest; as their store, still as it faded, grew. And never would cease sending forth her clusters to the spring, They still crowd out so; this flock here, that there, belabouring The loaded flowers; so . . . (v. 71—77)

Die Homerstelle ist durch paradox pointierte Akzentuierung dessen, was Chapman in seinem Kommentar als zweiten Vergleichspunkt angegeben hatte, erweitert. Dieser Deutung ist Georg Finsler gefolgt: „Der Vergleichspunkt ist die Menge der in gedrängten Scharen heranstürmenden Massen" 7 ). Später, im Kommentar zu Ilias XIV, beruft sich Chapman sogar ausdrücklich auf Vergils Vorbild. Befeuert von seiner mächtigen dichterischen Eingebung habe Homer nicht „to every vulgar reader's understanding" geschrieben. Für den „laborious pursuer, if he have not a poetical foot and poesy's quick eye to guide it", bleibe Homer daher stellenweise dunkel. Für Chapman aber liegt die Schönheit der homerischen Gleichnisse klar zu Tage. Wenn er also, als Übersetzer, zugunsten des Lesers expliziert, so erfindet er *) Commentarius, Iliads II, 72. •) Chapmans Erweiterungen sind hier und im folgenden durch KursivdtacV. gekennzeichnet. ') Georg Finsler, Homer (Berlin, 1918), II, 23. Vgl. Hermann Frankel, Die homerischen Gleichnisse (Göttingen, 1921).

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IV.

Chapmans Modifikationen des homerischen Textes

nichts und liest nichts in Homer hinein, sondern er verdeutlicht nur. Er rechtfertigt sein Tun mit der Frage: "What fault is it in me, to furnish and adorn my verse (being his translator) with translating and adding the truth and fulness of his conceit, it being as like to pass my reader as his, and therefore necessary ? If it be no fault in me, but fit, then may I justly be said to better Homer, or not to have all my invention, matter and form from him, though a little I enlarge his form. Virgil, in all places where he is compared and preferred to Homer, doth nothing more9)."

Leitendes Prinzip ist auch hier der künstlerische Effekt, der beeinträchtigt wird, wenn der Reichtum der homerischen Dichtung unbeachtet bleibt, weil der Leser heute schwerfälliger ist als einst der griechische Hörer. Chapman trägt dem Rechnung: nicht durch Rationalisierung (wie es Hobbes später tat); sondern durch barocke Häufung von Explikationen, die all das ausladen, was Homer nur andeutet. Wie sehr Chapman bedacht ist, Homers „dark writing" aufzuhellen, jeden Vers wie ein Orakel auszuschöpfen und keine Zweifel an seiner Vollkommenheit aufkommen zu lassen, zeigt eine dritte Art typischer Interpolationen. Nehmen wir als Beispiel den Einschub von elf Versen zwischen Ilias VI 325 und 326 (Vers 338 bis 348 in der Übersetzung). In Chapmans Anmerkung ist diese Stelle als „paraphrastical" ausdrücklich gekennzeichnet. Hier sucht Chapman psychologisch zu erklären, was bei Homer unmotiviert ist: warum nämlich Hektor seinen Bruder Paris, den er mit Helena in seinem Palast vorfindet statt draußen auf dem Schlachtfeld, wider Erwarten nicht der Feigheit bezichtigt, sondern von seinem Groll gegen die Trojaner spricht. Hier sei eine Voraussetzung gemacht, die wir nicht mehr verstehen, konstatiert Wilamowitz 9 ). Chapman, aus gleichem Empfinden, restauriert die Bruchstelle. In eingeschobenen überbrückenden Versen wird die folgende Rede Hektors als macchiavellistisches Strategem vorgedeutet, wodurch Paris unter Schonung seines Ehrgefühls für den Kampf zurückgewonnen werden soll10): bei Chapman wird Paris' Groll von Hektor mit der ritterlichen Absicht erfunden, um seinem Bruder einen Entschuldigungsgrund für sein Fernbleiben von der Schlacht zuzuspielen. Das Ganze ist ein liebenswertes Stück elisabethanischer Psychologie, von Chapman in der Absicht interpoliert, im Leser nicht den Schatten eines Zweifels an Homer aufkommen zu lassen. Den überkommenen Homertext, mit seinen gelegent8

) Commentarius, Iliads XIV, 343. ) U. v. Wilamowitz, Die Ilms und Homer (Berlin, 1916), S. 309. 10 ) In gleichem Sinne deutet Wilamowitz: „Er vermeidet zu scharfe Worte, denn er will den Säumigen aufrütteln" (ibid. S. 309). 9

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IV. Chapmans Modifikationen des homerischen Textes liehen Bruchstellen, deutet Chapman dichterisch visionär, so wie Winckelmann den Torso im Belvedere. Chapmans Homer schläft nie. Seine wissenschaftliche und künstlerische Unfehlbarkeit ist nur der Podest, auf dem Chapman die Autorität der homerischen Epen als zeitloser und universaler Sittenspiegel errichtet. Wie selbstverständlich ihm als Humanisten die sittliche Fragestellung war (so wie dem modernen Philologen die historische) geht aus einer bewußten Korrektur des homerischen Textes hervor, die Chapman offen zugesteht. Es handelt sich um den Waffentausch der sich im Kampfe als . Söhne alter Gastfreunde erkennenden Diomedes und Glaukos, wobei Glaukos den kürzeren zieht, denn Gold gibt er für Eisen. Während bei Homer Zeus den Geist des Glaukos verwirrt (II. VI, 234), schickt er ihm bei Chapman (VI, 242) eine hochherzige Anwandlung, die durch zwei interpolierte Verse begründet wird mit Glaukos' Gedenken an seinen königlichen Ahnherrn sowie mit dem Impuls der Freundschaft: and then did Jupiter elate The mind of Glaucus, who, to show his rev'rence to the state Of virtue in his grandsire's heart, and gratulate beside The o f f e r of so great a friend, exchanged, in that good pride, Curets of gold for those of brass, that did on Diomed shine, One of a hundred oxen's price, the other but of nine.

Hierzu merkt Chapman an, es sei die einzige Stelle, wo er das Original ändere, um einen schon von antiken Kritikern empfundenen Stein des Anstoßes zu beseitigen und die „loved and noble simplicity" des Jünglings um so strahlender erscheinen zu lassen. Nur ungern gibt Chapman sonst einer Kritik an Homer nach. Ihn schreckt nicht Homers illusionsloser epischer Realismus, denn Chapmans Ubersetzung ist gelegentlich zynisch, wo Homer es nicht ist11). Aber die Möglichkeit, daß man aus dem obengenannten Vers das persönliche Urteil Homers herauslesen könnte, veranlaßt Chapman zur Korrektur. Denn unerschütterlich ist sein Glaube an die sittliche Quelle der Inspiration vor allem des epischen Dichters. Es ist ein Glaube, den er mit seiner Zeit teilt. Von der Ilias, der die bisherigen Beispiele entstammen, unterscheidet sich die später - zwischen 1612 und 1615 - entstandene Odyssee-Übertragung durch das Überhandnehmen dieser Art ethischer Zusätze. Die Odyssee steht Chapmans Herzen näher wegen der vorbildlichen Selbstbewährung ihres u ) There was a certain augur's son, that did for wealth excell, And jet was honest . . . (Iliads XIII, 596-97; bei Homer XIII, 664).

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IV.

Chapmans Modifikationen des homerischen Textes

Helden in den vielerlei Anfechtungen dieser Welt. Im Epos von Odysseus sieht Chapman eine Bibel des Stoizismus, das größte literarische Dokument von „the Mind's inward, constant, and unconquered Empire" 12 ). So werden in Chapmans Odyssee praktische Merkverse gegenüber Homer nicht nur zahlenmäßig erweitert, sondern nach dem Vorbild von Erasmus' Adagia zu einem tragenden Element der Dichtung. Neunundvierzigmal sind sie sogar durch besonderen Druck hervorgehoben, nachdem schon in der Ilias sentenzenhafte Aussagen gelegentlich durch Anführungszeichen besonders markiert worden waren. Natürlich neigt auch das in der Odyssee-Übertragung angewandte heroische Reimpaar, gegenüber dem Balladenvers der Ilias, stärker zu epigrammatischer Zuspitzung. Während Homers Gesang, der von einem Vers zum anderen in unaufhörlichem Fluß fortschreitet, für den Vortrag bestimmt war, ist Chapmans Übersetzung als Buch für den Leser konzipiert, was die Zuhilfenahme optischer Wirkungen und pointierter Formulierungen möglich macht, da ein längeres Verweilen bei einem Vers nicht auf Kosten des Ganzen geht. Ein solcher schon durch das Druckbild charakterisierter Homere moralisé legt den Vergleich mit unseren Bibelausgaben nahe. Hierbei wird man sich erinnern, daß diese Praxis keine Chapmansche Erfindung ist. Mittelalter und Renaissance lasen ihre klassischen Lieblingsautoren Vergil und Ovid in Analogie zur Bibel. Die Bibel aber hatte man ursprünglich in Analogie zu Homer zu lesen gelernt. Denn die Bibelallegorese geht zurück auf die viel ältere Homerallegorese. Diese war aus der Notwendigkeit einer Verteidigung Homers gegen die philosophische Aufklärung erwachsen. Philo übertrug sie auf das Alte Testament, von wo die Kirchenväter sie generell übernahmen. Die humanistisch-reformatorische Verlagerung des Akzents von der Metaphysik auf die Ethik verstärkt den Hang zur Illustrierung und Formulierung von Lehren und Sprüchen zur praktischen Lebensweisheit. Sie werden der Dichtung nicht von außen einverleibt; sie sind die Seele, aus der die Renaissancedichtung lebt. Gleichzeitig ist der Kontakt mit der Sentenzen-Tradition der zum Vorbild genommenen römischen Literatur wiederhergestellt. Chapmans Neigung, in seiner Nachdichtung Maximen herauszukristallisieren, ist für die Renaissancedichtung überhaupt charakteristisch, einschließlich der Form, wo man sie am wenigsten vermutet, dem elisabethanischen Lied. "Song is supposedly the least deliberate of forms, the least interested in the Statement of général truths in général terms. Yet to la

) Epistle Dedicatory zur Odyssee, ed. Hooper, vol. I, S. XLVIII.

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read through Bullen's Lyrics from Elizabethan Song-Books is to reap a harvest of maxims, generalities, and blanket statements, which would do credit to a conduct manuel" 13 . In gleicher Richtung liegt eine andere Art von Chapmans Zusät2en in Form kleiner Exkurse zu einzelnen Wörtern oder Stellen des homerischen Textes. Douglas Bush nennt sie „sermons" 14 ). Betrachten wir als Beispiel die Stelle, wo Nausikaa zum ersten Mal dem schiffbrüchigen Odysseus am Strande begegnet. Die Mägde laufen erschreckt davon, nur Nausikaa ist gefaßt. Sie ruft sie zurück mit dem Hinweis, kein mißgesinnter Mann könne bis zur Insel der göttergeliebten Phäaken vordringen. Aus fünf Versen bei Homer (Od. VI, 199-203) werden vierzehn bei Chapman (VI, 307-320): Give stay both to your feet and fright. Why thus disperse ye for a man's mere sight ? Esteem you him a Cyclop, that long since Made use to prey upon our citizens ? This man no moist man is (nor wat'rish thing, That's ever flitting, ever ravishing AH it can compass; and, like it, doth range In rape of women, never stay'd in change). This man is truly manly, wise, and stayed, In soul more rich the more to sense decay'd, Who nor will do, nor suffer to be done, Acts lewd and abject; nor can such a one Greet the Phaeacians with a mind envious, Dear to the Gods they are, and he is pious . . ."

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Das typisch humanistische Kernstück von den zweierlei Wesen in Menschengestalt, dem lasziven „moist man" und dem adligen „manly man", ist interpoliert. Die Verklammerung ist geschaffen einesteils durch die Konkretisierung vonxwa Su